Manegenkünste: Zirkus als ästhetisches Modell 9783839441480

Die Faszination Zirkus scheint umfänglich und zeitlos - doch die deutschsprachige Forschung war bisher wenig interessier

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German Pages 398 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Manegenkünste – Zirkus als ästhetisches Modell. Einleitung
The Circus as an Aesthetic Model – Research on Circus Arts and Circus Studies in Germany. Introduction
I. ÄSTHETIK DES ZIRKUS/AESTHETICS OF THE CIRCUS
Flights of Fancy. Mannerist Aesthetics in Paul Auster’s Mr Vertigo and Contemporary Circus Contexts
Zwischen schönem Schein und asemiotischer Kunst. Zirkus als ästhetisches Modell
Manegenkünste (be-)schreiben
The Greatest Show on Earth. Die Ästhetik des Superlativs im Zirkus
Bewegte Körper – Ostentative Physis
The Artist and the Scientist in the Circus. A Cross-Disciplinary Approach
II. DISKURSE, DEBATTEN, ARCHIVE/ DISCOURSE, DEBATE, ARCHIVE
The Circus as an Agent of Transculturation
The Fallibility of the Historical Record
Sammeln und Forschen zu Zirkusgeschichte und Zirkusästhetik
Zoos und Zirkusse – Was sie eint und was sie trennt
III. KÖRPERINSZENIERUNGEN/STAGES OF CIRCUS BODIES
From Individual Concentration to Publically Shared Attention. On Experiences of Self, Subjectivity and Others in Contemporary Circus
Learning by our Body Movements. Emersive Health in the Centre National des Arts du Cirque (CNAC)
Schaulust und deformierte Körper. Dunkelzonen des Circensischen
Mobilität und Massen. Zur Artistik außergewöhnlicher Körper zwischen Schaubude, Zirkus und Kino
A Pie in the Face. Approaching Clown Politics
IV. ÄSTHETISCHE TRANSFORMATIONEN/ AESTHETIC TRANSFORMATIONS
Ausbalanciert. Der Traum vom Fliegen in den Zirkusbildern Edgar Degas’ und James Tissots
Der Kampf der Gattungen. Stéphane Mallarmés Un spectacle interrompu
Von Seiltänzern, Tierbändigern und Zauberern. Nietzsches zirzensische Anthropologie und Ästhetik
Komedi und Todessprung. Dargestellte Wirklichkeiten in Heinrich Manns Der Löwe und Henri Quatre
Artistische Ästhetik und/als literarischer Primitivismus in Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders
Den Zirkus lesen. Der Zirkus als Literatur – Literatur als Zirkus
Send in the Clowns! Zur Attraktion einer Zirkusfigur in avantgardistischen Theaterformen
Literary Circus. Toward the Adaption of Novels in the Work of Les Colporteurs
Contemporary Circus Literature. Authenticity and Illusion in Sara Gruen’s Water for Elephants and Erin Morgenstern’s The Night Circus
Authors
Dank
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Manegenkünste: Zirkus als ästhetisches Modell
 9783839441480

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Margarete Fuchs, Anna-Sophie Jürgens, Jörg Schuster (Hg.) Manegenkünste

Edition Kulturwissenschaft | Band 162

Margarete Fuchs (Dr. phil.) ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und lebt in Tübingen. Sie forscht u.a. zu Populärkulturen, insbesondere zum Zirkus, zu Theater- und Performancetheorien und zur Literatur von 1800 bis zur Gegenwart. Sie promovierte und arbeitete an der Universität Marburg. Anna-Sophie Jürgens (Dr. phil.) ist Assistant Professor an der Australian National University in Canberra. Sie promovierte zum Zirkus in der Literatur (Komparatistik, LMU München) und forscht im Bereich Popular Entertainment Studies und Science in Fiction Studies. Jörg Schuster (PD Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Privatdozent an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik-, Literatur-, Kultur- und Mediengeschichte vom 18. bis ins 21. Jahrhundert.

Margarete Fuchs, Anna-Sophie Jürgens, Jörg Schuster (Hg.)

Manegenkünste Zirkus als ästhetisches Modell

Gefördert durch die Baumgart-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jürgen Bürgin Korrektorat & Satz: Angelika Wulff, Witten Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4148-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4148-0 https://doi.org/10.14361/9783839441480 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Manegenkünste – Zirkus als ästhetisches Modell. Einleitung

Margarete Fuchs, Anna-Sophie Jürgens, Jörg Schuster | 9 The Circus as an Aesthetic Model – Research on Circus Arts and Circus Studies in Germany. Introduction

Margarete Fuchs, Anna-Sophie Jürgens, Jörg Schuster | 25

I.

ÄSTHETIK DES ZIRKUS/AESTHETICS OF THE CIRCUS Flights of Fancy. Mannerist Aesthetics in Paul Auster’s Mr Vertigo and Contemporary Circus Contexts

Anna-Sophie Jürgens | 43 Zwischen schönem Schein und asemiotischer Kunst. Zirkus als ästhetisches Modell

Jörg Schuster | 61 Manegenkünste (be-)schreiben

Margarete Fuchs | 77 The Greatest Show on Earth. Die Ästhetik des Superlativs im Zirkus

Katharina Görgen | 95 Bewegte Körper – Ostentative Physis

Tillmann Damrau | 111 The Artist and the Scientist in the Circus. A Cross-Disciplinary Approach

Philippe Goudard, Sandy Sun (Catherine Dagois) | 123

II. DISKURSE , DEBATTEN, ARCHIVE/ DISCOURSE , DEBATE, ARCHIVE The Circus as an Agent of Transculturation

Gillian Arrighi | 135 The Fallibility of the Historical Record

Steve Gossard | 153

Sammeln und Forschen zu Zirkusgeschichte und Zirkusästhetik

Gisela und Dietmar Winkler | 165 Zoos und Zirkusse – Was sie eint und was sie trennt

Manfred Niekisch | 179

III. KÖRPERINSZENIERUNGEN /STAGES OF CIRCUS BODIES From Individual Concentration to Publically Shared Attention. On Experiences of Self, Subjectivity and Others in Contemporary Circus

Camilla Damkjaer | 189 Learning by our Body Movements. Emersive Health in the Centre National des Arts du Cirque (CNAC)

Bernard Andrieu with Haruka Okuy, Cyril Thomas, Raoul Bender, Petrucia da Nobrega | 197 Schaulust und deformierte Körper. Dunkelzonen des Circensischen

Hans Richard Brittnacher | 207 Mobilität und Massen. Zur Artistik außergewöhnlicher Körper zwischen Schaubude, Zirkus und Kino

Urte Helduser | 221 A Pie in the Face. Approaching Clown Politics

Ante Ursić | 235

IV. ÄSTHETISCHE TRANSFORMATIONEN / AESTHETIC TRANSFORMATIONS Ausbalanciert. Der Traum vom Fliegen in den Zirkusbildern Edgar Degas’ und James Tissots

Anne Hemkendreis | 255 Der Kampf der Gattungen. Stéphane Mallarmés Un spectacle interrompu

Cornelia Ortlieb | 273 Von Seiltänzern, Tierbändigern und Zauberern. Nietzsches zirzensische Anthropologie und Ästhetik

Marion Schmaus | 291

Komedi und Todessprung. Dargestellte Wirklichkeiten in Heinrich Manns Der Löwe und Henri Quatre

Verena Thinnes | 305 Artistische Ästhetik und/als literarischer Primitivismus in Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders

Julia Kerscher | 321 Den Zirkus lesen. Der Zirkus als Literatur – Literatur als Zirkus

Jürgen Joachimsthaler † | 337 Send in the Clowns! Zur Attraktion einer Zirkusfigur in avantgardistischen Theaterformen

Philipp Schulte | 351 Literary Circus. Toward the Adaption of Novels in the Work of Les Colporteurs

Franziska Trapp | 361 Contemporary Circus Literature. Authenticity and Illusion in Sara Gruen’s Water for Elephants and Erin Morgenstern’s The Night Circus

Helen Stoddart | 369 Authors | 385 Dank | 393

Manegenkünste – Zirkus als ästhetisches Modell Einleitung M ARGARETE F UCHS , A NNA -S OPHIE J ÜRGENS UND J ÖRG S CHUSTER

E INLEITUNG Ein paar Zuschauerinnen und Zuschauer, Kinder und Erwachsene, sitzen kreisförmig auf Holzkisten oder direkt auf dem Boden; hinter ihnen befinden sich einfache Leinwände – alles wirkt improvisiert. Einige befinden sich gefährlich nah an der Performance, die in der Mitte dieser Manege stattfindet und von zwei immer wieder in das Geschehen involvierten Musikerinnen mit Cello und Geige begleitet wird: Ein etwas rau wirkender Mann in schmutziger Arbeitskleidung, mit schwerer Schürze und groben Schuhen baut aus sperrigen Holzkisten fragile Gebilde, steigt auf sie hinauf, um schließlich sogar eine Metallstange darüber zu legen und darauf zu balancieren. Abb. 1: RUDO (Temporada Alta 2014). Filmstill

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=z8pFkMzU8g0; min. 0:31 (04.01.20)

Es handelt sich um den katalanischen Artisten Manolo Alcántara, der mit seiner gleichnamigen Compagnie im Jahr 2014 die Performance unter dem Titel Rudo (spa-

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nisch: rau, grob, ungehobelt) aufführt.1 Er selbst nennt seine Show »intimate, precarious, risky and tender«.2 Der Gegensatz von Schwere und Leichtigkeit, von Grobheit und Fragilität, von Hinken auf dem Manegenboden und Tanzen auf der Stange, von beinahe lyrischer Musik und sichtbarem Schweiß sowie deutlich hörbaren Geräuschen der Anstrengung, die der Mann von sich gibt, durchzieht die gesamte Show, die einen großen Teil dessen gerade nicht bietet, was man traditionellerweise von einem Zirkusspektakel erwartet: laute Musik (vom Band womöglich), Glitzer, blitzende Pailletten, stickige Luft, immerfort lächelnde Performer, Geruch von Tieren, Sägemehl und Popcorn, Clowns, ein in schrillen Farben leuchtendes Zelt, lautes Kindergeschrei... All das fehlt hier. Doch was ist Zirkus überhaupt, wenn er all das nicht braucht, um Zirkus zu sein? Denn, dass es sich hier um eine Zirkusperformance handelt, scheint allen klar zu sein. Was macht Zirkus zum Zirkus? Wie lassen sich einzelne Nummern, wie ganze Shows analysieren? Und wie lässt sich seine Ästhetik beschreiben? Was meint ein Zirkusperformer wie Manolo Alcántara, wenn er schreibt, seine Balance-Nummer sei »the result of desire and illusion«3? Warum ist Zirkus als Motiv, Topos und Sujet in so vielen Filmen, Krimiserien, literarischen Texten, Theaterstücken und Kinderbüchern beliebt und präsent, auch wenn in regelmäßigen Abständen Schwanengesänge auf den Untergang des traditionellen Zirkus angestimmt werden – während gleichzeitig auf der ganzen Welt innovative Formate des »New Circus« und »Contemporary Circus« zahlreich und vielfältig aus dem Boden sprießen? Solche Fragen und Beobachtungen waren der Ausgangspunkt für eine internationale und interdisziplinäre Tagung, die unter dem Titel Manegenkünste. Zirkus als ästhetisches Modell im November 2016 an der Philipps-Universität Marburg stattfand und die Grundlage dieses Sammelbandes darstellt.

K ULTURRAUMVERDICHTUNG Z IRKUS Kulturhistorisch ist der Zirkus ein bedeutendes Phänomen, weil er sowohl einen Mikrokosmos und Spiegel der gesellschaftlich-historischen Gegenwart darstellt als auch eine perfekt inszenierte Gegenwelt voller Versprechen und Gefahr bietet – ein internationales Phänomen zwischen Kunst, Sport, Kitsch und Kommerz. Einen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Kulturraumverdichtung Zirkus bildet die Tatsache, dass er als Heterotopie im Sinne Michel Foucaults4 eine ideale Projektionsfläche darstellt und zugleich verschiedene Modi von Transgressionsverfahren sichtbar macht. Denn er evoziert Transgressionen, überschreitet in und außerhalb der

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https://vimeo.com/96779122 [13.02.18]. http://www.ciamanoloalcantara.com/en/espectaculos/rudo/ [13.02.18]. Ebd. Vgl. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46; Foucault, Michel: Die Heterotopien – Les hétérotopies – Der utopische Körper – Le corps utopique, Frankfurt a.M. 2005.

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Manege kulturell, politisch und anthropologisch festgeschriebene topologische und semiotische Figurationen wie Räume, Grenzen und Ordnungen. 5 So bewegte sich etwa das ›fahrende Volk‹ des Zirkus, das aufgrund seiner nomadisierenden Nicht-Sesshaftigkeit nicht ›dazu‹ gehörte (so das traditionelle Klischee), stets an den Rändern der Kultur, der Gesellschaft und der Wahrnehmung, in Grenzbereichen der Moral, des Rechts, der Kunst und des Wissens; mit den Worten von Hans Richard Brittnacher handelt es sich um einen »Zustand auf Dauer gestellter Liminalität«.6 Der Zirkus, vor allem der in Zelten tourende und auf Familienstrukturen basierende, ist nicht ohne weiteres zugänglich für Außenstehende und durch die Plötzlichkeit, mit der er auftaucht und verschwindet, scheint er aus der normalen Zeit herausgenommen, dennoch ist er nicht ganz von der herrschenden Ordnung der alltäglichen Räume abgeschnitten. Er ist ein real-existenter, reisender sowie ›insularer‹ Ort mit utopischen Zügen, dessen Bewohnerinnen und Bewohner – das Zirkuspersonal – sich während ihrer Performances abweichend vom Durchschnitt sowie von vertrauten physikalischen, biologischen bzw. sozialen Normen verhalten. Besonders evident ist das in den artistischen Körperkünsten. Hier werden scheinbar mühelos die Grenzen der Gravitation und des Menschenmöglichen überwunden und Körper demonstrativ zur Schau gestellt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer dieser Vorführungen wiederum sehen nicht nur die Zurschaustellung von Körpern (menschlichen und tierischen), sondern aufgrund der spezifischen Form der Zirkusmanege immer zugleich auch die anderen Zuschauenden; sie sind Subjekt und Objekt des zuschauenden Blicks gleichermaßen. In gewisser Weise erscheint der ›traditionelle‹ Zirkus als amimetische Performanz ohne Kulissen, Wände oder Vorhänge, hinter denen etwas verborgen werden könnte. Die Manegenkünste sind kein Nachvollzug fremden Sinns und haben auch keinen eigenen, zumindest laut Bose und Brinkmann;7 und dennoch fordern sie dazu heraus, als Zeichen ›gelesen‹ zu werden, stellen ihr semantisches Potential fast provokativ zur Schau. Welchen ästhetischen Status besitzt dieses Schwanken zwischen semantischem Überschuss und asemantischer Präsenz, zwischen oszillierendem Zeichenspiel und der Verweigerung von Referenz genau? Diese mannigfaltigen Facetten der Manegenkunst eröffnen zugleich eine Perspektive auf die Frage nach medial transformierten Formen des Zirkus ›auf dem Papier‹, d.h. in der Literatur, sowie im Theater, in der Bildenden Kunst und im Film. Rezeptionsästhetisch fasziniert die Kombination von »Rührung und Spannung, feuchte[n] Augen und klopfende[n] Herzen« den »wilden Leser« nach Brittnacher. 8 Das bestäti-

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Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin 2010. Brittnacher, Hans Richard: Leben auf der Grenze – Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst, Göttingen 2012, S. 21. Bose, Günter/Brinkmann, Erich: Circus – Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978. Vgl. zum Gegensatz von Philologen und wildem Leser: »[…] hier der selbstlose Einsatz im Dienst des Werks, dort eine rücksichtslose Einverleibung ohne Ansehen der Besonderheit der einzelnen Texte. Während der Philologe alles Maßlose und Triviale verabscheut, kennt der wilde Leser keine Berührungsängste nach unten« (Brittnacher, Hans Richard: »Ge-

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gen internationale Bestseller wie Water for Elephants von Sara Gruen (2006) oder The Night Circus von Erin Morgenstern (2011). In literaturhistorischer Hinsicht ist aber schon seit dem 19. Jahrhundert eine Hinwendung zu den Manegenkünsten‚ deren nomadisierende Form mitunter als ›heillos‹, nieder und illegitime Kunst bezeichnet wurde, festzustellen (z.B. bei Karl von Holtei und Frank Wedekind), bis vor allem Nietzsche und in seinem Gefolge die literarische Moderne die Artistik als ›neue‹ Reflexionsfigur ästhetischer Souveränität postuliert und damit den Zirkus insgesamt aufwertet. Schließlich wird das Schreiben als solches – etwa bei Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler – als artistischer, riskanter körperlicher Akt markiert, der – mit Thomas Wegmann gesprochen – »ein Gleichgewicht erst herstellen muss und der genau dadurch seine Risiken und Fährnisse, aber auch sein ästhetisches Innovationspotenzial bezieht.«9 Ein Indiz für die ›kulturelle/soziale Energie‹ (Stephen Greenblatt)10 des Zirkus ist nicht zuletzt die produktive Anverwandlung und Transformation im Rahmen der Literatur von Charles Dickens, Frank Wedekind oder Franz Kafka bis zu Stephen King. 11 Zirkus und seine Künste bilden somit ein immenses Reservoir an kulturellen und sozialen Energien, das bislang erstaunlicherweise kaum systematisch erforscht wurde. Bis heute ist Zirkus in Deutschland nicht als eigenständige Kunstform anerkannt, und erst in allerjüngster Zeit wurden erste und vereinzelte Kulturförderungen ermöglicht.12 Auch in wissenschaftshistorischer Perspektive bildet die systematische Erforschung des Zirkus im deutschsprachigen Raum bislang eine Leerstelle, obwohl das Phänomen Zirkus vielfältige Anschlussmöglichkeiten an zahlreiche Disziplinen und deren Fragestellungen bietet.13 Die Manegenkünste eröffnen durch ihre Transgressionen, das Oszillieren zwischen Repräsentation und Präsenz, die Differenzen und Affinitäten von zirzensischen und anderen Künsten, Aspekte der Körpertechnologie und -beherrschung sowie die Interaktion zwischen Tier und Mensch eine Vielzahl interdisziplinärer Perspektiven. So sind für die Theater- und Sport- bzw. Bewegungswissenschaften die zirzensischen Künste aufgrund ihrer performativen und tendenziell zugleich asemiotischen Praktiken von ausgesprochenem Interesse, da es hier um Fra-

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scheiterte Initiationen – Anthropologische Dimensionen der literarischen Phantastik«, in: Clemens Ruthner [Hg.], Nach Todorov – Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006, S. 15-30, hier S. 28.) Wegmann, Thomas: »Artistik – Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste«, in: Zeitschrift für Germanistik 20.3 (2010), S. 536-582, hier S. 580. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Übers. David Cackett, Berlin 1990, S. 24. Zum Zirkus in der Literatur, vgl. z.B. Ritter, Naomi: Art as Spectacle – Images of the Entertainer since Romanticism, Columbia 1989; Basch, Sophie: Romans de Cirque, Paris 2002; Starobinski, Jean: Portrait de l’artiste en saltimbanque – Nouvelle édition revue et corrigée par l’auteur, Paris 2004 (1970); Th. Wegmann: Artistik. Etwa bei der Programmschiene Neuer Circus der Berliner Festspiele seit 2016, vgl. dazu https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/circus/start.php [13.02.18]. Vgl. Jürgens, Anna-Sophie: »Through the Looking Glass: Multi-disciplinary Perspectives in Circus Studies«, in: Gillian Arrighi/Jim Davis (Hg.), The Cambridge Companion to the Circus, Cambridge (Druck in Vorbereitung).

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gen von Risiko, Perfektion und Beherrschung extremer Körpertechniken und -inszenierungen als Formen des Leiblich-Sinnlichen geht, die zwischen Leistungsbezogenheit und schönem Schein in der Schwebe bleiben; in gendertheoretischer Perspektive ist nach der Produktion und Darstellung von Geschlechterkörpern zu fragen. Für die Neurowissenschaften wiederum sind artistische Praktiken im Hinblick auf neuronale und kortikale Strukturen von Interesse, wenn sie z.B. die Veränderung von Hirnformationen durch komplexe motorische Übungen wie Jonglieren untersuchen. Die Relevanz von Fragen der Dressur für die verhaltensbiologische Forschung, aber auch für aktuelle Diskurse wie den Tierschutz wiederum ist unbestritten, wurde bislang aber nicht in interdisziplinärer Perspektive im Hinblick auf das komplexe Phänomen des Zirkus als kultureller Praxis behandelt. Für die im Zentrum des Bands stehenden Literatur-, Kultur- und Kunstwissenschaften dient der Zirkus schließlich als Reflexionsfigur ästhetischer Souveränität und künstlerischen Risikos sowie als gewinnbringendes Modell für literatur- und kulturtheoretische Diskussionen der ästhetischen Performanz, Illusion, Poetizität, Fiktionalität und Intermedialität. Dieses Buch versucht den zahlreichen Facetten des Manegenspiels im gemeinsamen, inter- und transdisziplinären Austausch zu begegnen. Einen ersten Anstoß dazu sollen die Beiträge in diesem Band leisten, sind in ihnen doch Aufsätze aus den Theater-, Kunst-, Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften sowie der Philosophie, aus Performance und englischsprachigen Circus Studies sowie aus der Perspektive von Archiven und Zirkus-Sammlungen versammelt.

Z IELSETZUNG

UND

B EITRÄGE

DIESES

B ANDES

Die vorliegenden Aufsätze widmen sich den ästhetischen Potentialen des Zirkus aus interdisziplinärer Perspektive mit dem Ziel, die kulturelle und ästhetische Produktivität und Relevanz des Manegenspiels herauszustellen. Hierbei schwingt immer die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit mit, das scheinbar triviale, tatsächlich aber hochkomplexe kulturelle Phänomen Zirkus überhaupt zu fassen: Wie können die Erkenntnisse und Methoden der einzelnen Disziplinen und Künste für eine (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsobjekt Zirkus fruchtbar gemacht werden? Und welche Synergieeffekte ergeben sich umgekehrt für die einzelnen Disziplinen in der fächerübergreifenden Auseinandersetzung mit dem Zirkus? Hierzu werden von den Autorinnen und Autoren dieses Buch unterschiedliche methodische bzw. analytische Schwerpunkte und Zugangsweisen in Anschlag gebracht, die miteinander ›ins Gespräch treten‹. So werden etwa die raumzeitliche Dimension des Zirkus und grundsätzliche semiotische Strukturen von dessen Künsten und Darbietungen untersucht, indem Zirkus als multimodales und metakulturelles Zeichensystem verstanden wird, das mit einem dichten Netz von kulturellen Codes und Subcodes spielt. Die kulturwissenschaftlich und -historisch perspektivierten Beiträge dagegen zielen auf die kulturellen Identitäten, die artistische Körper in der Bewegung repräsentieren, sowie auf kulturelle Einschreibungen, Praktiken, auf das Wissen und die Formierungen der Körper der Performerinnen und Performer. Die natur- und sozialwissenschaftliche Perspektive auf den artistischen Körper, auf seine physiologischen und neurobiologischen Grundlagen hat dagegen verstärkt seine phänomenologische Beschreibung im Blick, die teilweise mit medizinischen und sozial-

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wissenschaftlichen Analysen verzahnt werden. Oder sie bewegt sich im Bereich der Epistemologie, Kulturgeschichte und Philosophie des Körpers und der Bewegung und seiner Disziplinierung und legt den Fokus auf die Bewusstseinsmodi in den Praktiken des Zirkus. Diese Phänomene, die viele der Darbietungen in der Zirkusmanege auszeichnen, sind allerdings – wie alle live performances – gekennzeichnet durch ihre Flüchtigkeit und Vergänglichkeit. Dadurch, dass sie nur im Moment erscheinen und erfahrbar sind, werfen sie jedoch – historisch gesehen – auch ganz grundsätzlich das Problem der Beschreibung, Erinnerung und Archivierung auf, sowie die Frage nach den zirkusspezifischen diskursiven Formationen, die die Wahrnehmungs- und Erkenntnisbedingungen bestimmen. Zahlreiche Beiträge wiederum widmen sich der Beobachtung, dass gerade der medial transformierte Zirkus bzw. einzelne Zirkuskünste oder die Artistik selbst häufig als Topos für ästhetisch-poetologische Fragestellungen in Stellung gebracht werden oder die Artistik als soziologische, psychologische oder anthropologische Metapher fungiert. Dies wiederum lässt deutlich werden, wie bekannte und eingeübte Praktiken der kulturellen Selbstverständigung durch einen Medienwechsel zum Gegenstand von ästhetischen Praktiken werden. Durch die Korrespondenz der Beiträge untereinander, ihrer unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen und diversen Perspektiven wird die Vielfalt des Phänomens Zirkus sichtbar und die Notwendigkeit deutlich, sich diesem auf unterschiedliche Weise anzunähern. Teil 1 – Ästhetik des Zirkus Die Fragen und Ansätze kreisen im ersten Teil des Buches um die Ästhetik des Zirkus. Für Anna-Sophie Jürgens bilden die Insignien des Hyperbolischen das Substrat der Manegenkunst. Im Hyperbolischen, dem das Überschreiten der Wahrheit sowie die Überdehnung des Wahrscheinlichen inhärent sind und das sich in zirkusspezifischer Virtuosität, Exotisierung und Täuschung ausdrückt, sind Strukturen angelegt, die in der Literatur erlauben, elementare Fragen individuellen Selbstverständnisses sowie biologischer und kultureller Herkunft zu verhandeln und durch ihre Problematisierung vermeintlicher Wahrheiten und Proportionalität erschüttern. Jürgens versteht den Zirkus folglich als einen paradigmatischen Ort trickreicher Scheinerzeugung und authentischer Extremleistung, der von der Spannung des Widerspruchs lebt und ein Spielfeld vielfältiger Inszenierungen ist. Die Affinitäten zwischen Zirkus und Literatur führt sie auf die seiner Ästhetik des Hyperbolischen inhärenten fiktionalen und narrativen Elemente zurück, auf seine originären, das Erdichten, Erfinden und Fingieren auslotenden Dimensionen, die als Spielarten der Lüge täuschen können und das Manegenspiel attraktiv für literarische Ausgestaltungen und Interpretationen machen. Wie Zirkus im Medium der Literatur als Übungsplatz für Natur-, Selbstund Menschenbeherrschung angelegte Konstellationen der Fremdbestimmung und Selbst(er)findung hervorgekehrt, angemaßte Exotik entlarvt sowie Schwindel nicht von, sondern über etwas gezeigt wird, verfolgt die Autorin am Beispiel von Paul Austers Roman Mr Vertigo, den sie nicht nur in zeitgenössischer Zirkusliteratur, sondern auch im literarischen Manierismus verortet. Jörg Schuster rückt eine für das Phänomen ›Zirkus‹ spezifische Ambivalenz in den Mittelpunkt. Ästhetisch interessant ist der Zirkus, weil er zwischen zwei widersprüchlichen rhetorisch-semiotischen Konzepten changiert: dem glänzend ›schönen

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Schein‹, der hyperbolisch immer mehr oder anderes zu sein vorgibt, als er ist, einerseits und einem der artistischen Darbietung in ihrer Vitalität und Körperlichkeit immanenten asemiotischen Prinzip, nichts anderes zu bedeuten und auf nichts anderes zu verweisen als auf sich selbst, andererseits. Diese ästhetisch-semiotische Spannung ist bereits etwa an der Darstellung von Gauklern und Schaustellern bei Johann Wolfgang von Goethe (Venetianische Epigramme [1790], Novelle [1828]) ablesbar. Als der Zirkus dann Ende des 19. Jahrhunderts zum populären Massenphänomen avanciert, wird diese kulturelle Praxis zu einem ästhetischen Modell für die literarische Moderne. Bei Frank Wedekind wird sie zum zentralen Symbol einer nietzscheanisch geprägten vitalistischen Ästhetik und in Jean Cocteaus kubistischem ›Ballet réaliste‹ Parade (1917) steht der Zirkus für eine Kunst, die der Differenzstruktur, dem Aufschieben des Sinns, wie sie dem künstlichen Zeichen immanent sind, entgehen möchte, indem sie, unter Berufung auf das Einfache und Archaische, auf provozierende und verstörende Weise ›selbstverständlich‹ ist. Bei Rainer Maria Rilke und Franz Kafka wird der Zirkus als ästhetisches Modell schließlich problematisiert, da er das in der industriellen Moderne zunehmend problematisch erscheinende bürgerliche Grundprinzip der Leistung zugleich befolgt und, als schöner ästhetischer Schein, subvertiert. Die Darbietungen der Zirkus- und Varietékünstlerin Thea Alba alias Dorothea Sohm, die in den 1920er bis in die 40er Jahre hinein berühmt war und auf ihren Tourneen im In- und Ausland bejubelt wurde, sind nur auf wenigen Fotos oder in einigen wenigen einschlägigen Zeitschriften dokumentiert. Thea Alba war bekannt als Multitasking-Artistin, als »the woman with ten brains«, wie sie in den zeitgenössischen Medien gefeiert wurde. Bei ihren Performances schrieb sie simultan mit allen zehn Fingern – jedoch jeweils Unterschiedliches. Oder sie konnte zugleich mit beiden Händen, beiden Füßen und dem Mund in jeweils unterschiedlichen Sprachen schreiben. Ausgehend von diesen Performances stellt Margarete Fuchs zunächst die Frage, wie das Schreiben hier als performativer Akt zur Manegen- bzw. Bühnenkunst wird. Denn das, was üblicherweise im Verborgenen geschieht, was nur die notwendige Bedingung für das Kunstprodukt ›Text‹ bzw. ›Literatur‹ ist, das wird hier öffentlich gemacht, wird selbst zur Kunst. Es geht hier dezidiert nicht um das Produkt der Körpertechnik des Schreibens, sondern darum, dass der Körper zum Schauplatz des Schreibakts wird, oder vielmehr: Der Körper selbst ist das Schreibgerät. Doch wie lässt sich diese Performance analytisch fassen, wie lässt sich das Schreiben hier be-schreiben? Da sich die Frage nach Möglichkeiten und Modellen der Beschreibung und Analyse ganz grundsätzlich an Zirkusperformances stellen lässt, werden – ausgehend von den Performances von Thea Alba – verschiedene zirzensische Figurationen und Konzepte vorgeschlagen, die im Sinne von ›ästhetischen Kristallisationspunkten‹ verstanden werden können, da an ihnen zentrale Diskurse und Praktiken des Zirkus miteinander in Relation bzw. Verhandlung treten und sich gegenseitig befragen. Auf diese Weise können präfigurierte Darstellungsmuster, Praktiken und Diskurse sichtbar werden, die das, was als Zirkus wahrgenommen wird, verdichten und ihn somit beschreibbar machen. Der Superlativ ist für Katharina Görgen die Essenz der traditionellen Zirkusästhetik. An zahlreichen historischen Beispielen verfolgt sie, inwiefern die (scheinbar) nicht mehr zu steigernden, nur im Vergleich zu anderen Inszenierungen wirkenden, den letzten Rekord unermüdlich auf Neue zu brechen drohenden Verheißungen und

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Ambitionen verschiedener Zirkusunternehmen das Image des ›traditionellen‹ Zirkus um 1900 prägten – und selbst heute noch prägen. Inszenatorischer Aufwand, allerdings in der Form von der Natur abgepresster Höchstleistungen, steht auch im Fokus von Tillmann Damraus Beitrag. Die Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zwecken und die virtuose Inszenierung des Effekts interessieren den Autor im Besonderen: die Strategien, durch die im Zirkus die unmittelbare Sinnpräsenz der jeweiligen Handlung dank der ästhetischen Ausschlachtung von ›Natur‹ mittels der Überbetonung körperlichen Ausdrucks außer Kraft gesetzt wird. Natur (im weitesten Sinne) erscheint im Zirkus als Bezähmung der ›wilden‹ Natur, als Erschließung natürlicher Ressourcen, als Kultivierung des Körpers – und lässt immer auch Aspekte von Gesellschaftskritik erkennbar werden. In ihrem gemeinsamen Aufsatz definieren Philippe Goudard und die Artistin Sandy Sun das Manegenspiel als ein ›Labor der menschlichen Möglichkeiten‹, indem sie auf Basis sowohl von wissenschaftlichen Studien als auch der Eigenanalyse der Trapezkünstlerin ausgewählte ästhetische, soziale und körperliche Aspekte von Trapeznummern – vor allem das omnipräsente Risiko und Fragen der Balance – als disziplinüberschreitendes Struktur- und Kulturmodell zusammenfassen. Teil 2 – Diskurse, Debatten, Archive Historische Erscheinungsformen der Manegenkünste, ihre Einbindung in jeweils zeitgenössische Debatten und Diskurse, ihre Quellen und Überlieferungsweisen bilden den Interessenschwerpunkt des zweiten Teils, der sich darüber hinaus auch den Problematiken der Archivierung von Zirkusmaterialien widmet. Die kulturhistorische Bedeutung des Zirkus steht v. a. für seine Hochphase – etwa von 1880 bis 1930 – außer Frage und ist bereits Thema zahlreicher (v. a. englischsprachiger) kulturhistorischen Studien, die den Zirkus um 1900 als eine Form der Massenunterhaltung besprechen, die mit monumentalen Inszenierungen, gewaltigen Menagerien und immer neuen Sensationen ihr Publikum weltweit beeindruckte. So wundert es nicht, dass Gillian Arrighi sich der Hochphase des Zirkus (um 1900) in Australien widmet. Von Anfang an, d.h. vor allem im 19. Jahrhundert, waren die durch historische, geographische und klimatische Konditionen spezifisch modellierte Entwicklung und Geschichte des Zirkus substantiell geprägt von europäischen sowie amerikanischen Einflüssen, wobei der Zirkus als ein Bindeglied zwischen den englischsprachigen Kolonien fungierte. Arrighi beleuchtet diese transnationalen Prozesse und ihre Auswirkungen auf australische Zirkuskünstler, die die innovativen amerikanischen Geschäftsmethoden und Produktionsverfahren übernahmen – insbesondere von den drei großen Zirkusunternehmen Cooper and Bailey, W. W. Cole und Sells Brothers, die Australien zwischen 1877 und 1892 besuchten. Wie Arrighi auf der Basis von historischen Unterlagen und neuem Archivmaterial hervorhebt, revolutionierten diese amerikanischen Zirkusse das Manegenspiel des fünften Kontinents nachhaltig, u. a. durch ihre Einführung von Attraktionen wie Aquarien oder dem Congress of Living Wonders, aber auch durch den strategischen Einsatz von Elektrizität und Zügen als Transportmittel. In vielerlei Hinsicht wirkte der Zirkus hier, so verdeutlicht dieser Aufsatz, als Generator für einen kulturellen Wandel. Die essentielle Bedeutung von Originalquellen und Archivmaterial für die Zirkusforschung steht auch im Zentrum von Steve Gossards Beitrag. Gossard verdeut-

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licht, dass zirkushistorische Quellen wie (Auto-)Biographien oder Zeitungsartikel prinzipiell heikel sind, sei es für Autorinnen und Autoren oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, da ›objektive‹ Berichte und Informationen über Zirkusse (v. a. in Zeitungen) nicht selten von Zirkuspersonal selbst verfasst, Publizisten zugespielt oder von Journalisten gegenseitig unter teilweise hochgradig manipulatorischen Eingriffen kopiert wurden, weshalb zu vielen Ereignissen der Zirkushistorie mannigfaltig konkurrierende Narrative existieren, die Fakt und Fiktion auf schwer entwindbare Weise verzahnen. Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Zirkusinteressierte sich mit solchen historischen Materialien in Deutschland überhaupt auseinandersetzen können, verdanken wir nicht zuletzt dem Berliner Zirkusarchiv von Gisela und Dietmar Winkler, das sie in ihrem gemeinsamen Aufsatz vorstellen. Seit über 50 Jahren sammeln und verwalten sie nicht nur Zirkusbücher, -aufsätze und Ephemera, sondern forschen und publizieren, basierend auf ihrer umfangreichen Sammlung, auch selbst zum Beispiel zu historischen Zirkusfamilien und -plakaten. Historische und zeitgenössische kulturelle Verschiebungen und Veränderungen hat der Beitrag von Manfred Niekisch im Blick, wobei er sich weniger Archivierungsthemen als kulturellen Debatten widmet. Denn angesichts heutiger Fragen nach Tier- und Artenschutz und vor dem Hintergrund von tierethischen Diskursen wird die Zurschaustellung von Tieren zunehmend problematisch. Hier setzt der Beitrag an und zeigt zunächst, dass Zirkusse und Zoos teilweise gemeinsame historische Wurzeln haben. Beide präsentieren Tiere und leben von Besuchern. Dennoch sind die Unterschiede heute erheblich und die modernen Ansätze gänzlich unterschiedlich, zumindest was wissenschaftlich geführte Zoos angeht. Der Beitrag arbeitet die Unterschiede heraus und zeigt insbesondere die Rolle wissenschaftlich geführter Zoos auf, hinterfragt dabei jedoch auch, wie zeitgemäß Zoos und Zirkusse überhaupt noch sind. Teil 3 – Körperinszenierungen Der dritte Teil des Buches widmet sich dem Körper im Kontext der Manegenkünste, seinen Inszenierungen und Vermessungen. Der Körper als Speicherort diskursiven Wissens steht bei Camilla Damkjaer im Zentrum der Überlegungen. Sie untersucht die Bewusstseinsmodi in den Praktiken des Zirkus sowie die Relation von wissenschaftlichen und artistischen Methoden. Hierbei geht sie von der Beobachtung aus, dass für einen Großteil der Zirkusdisziplinen unzählige Trainingsstunden benötigt werden, in der das einzelne Individuum nur auf sich selbst konzentriert ist, auf die eigenen physischen Bewegungen und Wahrnehmungsprozesse. Was passiert jedoch, wenn dieses hochkonzentrierte Vorgehen Teil dessen ist, was in der Manege vorgeführt wird? Dieser Beitrag führt also vor, was auf dem Spiel steht, wenn bei einer Zirkusvorführung die fast meditative Konzentration des Trainings bzw. die individuelle Erfahrung des eigenen inneren Wahrnehmungsprozesses im Rahmen einer Performance dem Publikum vorgeführt wird. Die phänomenologisch konturierte Differenzierung zwischen solchen Konzepten wie etwa ›Selbst‹, ›Subjektivität‹ oder eigener und gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit ermöglicht dabei Aussagen darüber, wie das eigene, auf sich selbst bezogene Training paradoxerweise auf eine Performance vor anderen vorbereiten kann.

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Körperdaten, die jenseits der bewussten Wahrnehmung liegen, jedoch auf das (Körper-)Bewusstsein einer Person Einfluss haben und somit auch auf Trainingseinheiten, werden durch die von Bernard Andrieu14 vorgestellte Methode der Emersiologie erfasst und beschreibbar gemacht, die auch ganz konkret ihre Anwendung in der Zirkusausbildung am CNAC (Centre National des Arts du Cirque, Châlons-enChampagne) finden. Dabei unterscheidet er drei Körperlevel. Hierzu zählen erstens das des sich zeigenden Körpers, der durch Repräsentationen und Darstellungen vermittelt wird und es ermöglicht, die Situation, in der sich der Körper befindet, sowie den Körper selbst zu analysieren. Zweitens das des lebenden Körpers, der ein durch unsere Emotionen vermitteltes Gefühl darstellt. Und drittens schließlich den lebendigen Körper, der auf die anderen beiden einwirkt, noch bevor dies zur Bewusstheit gelangt. Mit Hilfe der Emersiologie wird das Auftauchen der Informationen des dritten Levels – also des unsichtbaren, vorbewussten lebendigen Körpers – im Bewusstsein einer Person analysiert. Dies impliziert, dass Aktivitäten des (vorbewussten) lebendigen Körpers (z.B. Herzfrequenz, reflexhafte Bewegungen o.Ä.) am bewussten lebenden Körper auftauchen, jedoch ohne dass sie willentlich kontrolliert werden können. Diese Zeichen werden damit als unbewusste Körpersprache in gewisser Weise lesbar und können im Training von riskanten Situationen gezielt bewusst gemacht und damit beeinflusst werden. Zu den ungewöhnlichsten Darbietungen im Zirkuskontext zählten seit dem späten 19. Jahrhundert sogenannte ›Freakperformer‹, die Hans Richard Brittnacher durch das Prisma des Monströsen betrachtet. Menschen mit außergewöhnlicher Physis – ›Riesen‹, Kleinwüchsige, bärtige Frauen, siamesische Zwillinge oder Menschen, die an Elephantiasis oder Hypertrichosis litten – wurden in Sideshows (die v. a. amerikanische Großzirkusse begleiteten) vorgeführt und scheinen Beispiele einer riskanten Natur darzustellen. Sie scheinen die Ausnahme von all dem zu sein, was der Fall ist. Dabei geraten sie in das Spannungsfeld zwischen Nichtverfügbarkeit und dem Begehren, sie zu verstehen. Die eine, die ›aufgeklärte‹ Perspektive versucht dabei mit Hilfe von Vermessung und Beschreibung dem Grund der Störung auf die Spur zu kommen, die andere, die ›romantische‹ Perspektive, archiviert die Abweichungen dagegen im Thesaurus der Imagination. Beide Perspektiven entpuppen sich dabei jedoch als apotropäische Praktiken zur Abwehr des Fremden. Die Rolle, die der Schaulust in dem Spannungsfeld beider Perspektiven zukommt und ihren Ausdruck im Blickgefüge der Zirkusmanege findet, zeigt der Beitrag an Texten von Goethe und Victor Hugo sowie an Tod Brownings Film Freaks. Dass in allen Beispielen der Tod oder die Stillstellung der abweichenden Kreatur am Ende der Erzählung bzw. des Films steht, unterstreicht einmal mehr das Doppelspiel zirzensischer Ästhetik. Denn auf der einen Seite feiert sie scheinbar das Fremde und Abnorme, auf der anderen Seite entpuppt sich aber genau dies als eine Form ästhetischer Mortifikation. Auch der Beitrag von Urte Helduser ist auf das Feld außerordentlicher Körper gerichtet, nimmt jedoch eine kultur- und diskurshistorische Perspektive ein. Denn dieser Beitrag nähert sich der Zirkuskunst ausgehend von einem kulturhistorischen Ort: dem legendären Vergnügungspark des Wiener Praters. Der ›Wurstlprater‹ ist seit

14 Gemeinsam mit Haruka Okuy (Universität von Kyoto), Cyril Thomas (CNAC), Raoul Bender (CNAC) und Petrucia da Nobrega (UFRNorte, Brasilien).

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dem 19. Jahrhundert Schauplatz verschiedener Schausteller- und Manegenkünste. Einen festen Bestandteil der performativen Künste bilden die Darbietungen außergewöhnlicher Körper, der Abnormitätenschauen und Sideshows des Zirkus. Die Präsentation des anderen Körpers – der Affenfrauen, Haar- und Rumpfmenschen – steht hier im Spannungsfeld von Wissenspopularisierung im Zeichen der Darwinschen Evolutionslehre einerseits und der performativen (Körper-)Künste andererseits. Wenn im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts das Kino auch im Wiener Prater seinen Siegeszug über die alte Schaubudenkultur antritt, betrifft das auch die Präsentation des ›anderen Körpers‹. 1933 läuft in Wien Tod Brownings Zirkusfilm FREAKS. Erscheint hier zunächst das »Kino als (neues) Abnormitätenkabinett« (Arbeiter-Zeitung), so sind mit dem neuen Medium auch neue Formen der Inszenierung und der Diskursivierung des ›anormalen Körpers‹ verbunden. Der Beitrag geht der Inszenierung der Freaks als Artisten im neuen Medium Film nach und fragt nach der Bedeutung der ›bewegten Bilder‹ für die Ästhetik des ›anderen‹ Körpers. Der politischen Dimension des Clowns – eine weitere Inkarnation des ›Ande ren‹ –, geht Ante Ursić nach, genauer: der Variante des dummen August. Diese Figur schließt er mit Batailles Äußerungen zur Formlosigkeit und Kristevas Konzept des Abjekten kurz und verknüpft dies anschließend mit Rancières Überlegungen zur Politik. Auf diese Weise kann er zeigen, wie die August-haften Qualitäten von Formlosigkeit und vom Abjekten von Aktivisten genutzt werden können, um ihren Unmut und ihr Missbehagen an politischen und kulturellen Autoritäten im Akt des Tortenwerfens zu äußern. Denn die Figur des August destabilisiert – wenn auch meistens nur vorübergehend – hegemoniale Ordnungsstrukturen auf eine bedrohliche Weise, indem ihre eigene Formlosigkeit von anderen Besitz ergreift. Dieses Muster wird als ›Clowns Politik‹ verstanden, die gar nicht erst versucht, sich in die Position des Sprechenden/Herrschenden zu bringen; vielmehr will sie gerade dem zur Sprache (im Sinne Rancières als phoné) verhelfen, was bis dahin keine Sprache hatte. ›Clowns Politik‹ macht also auf Ungleichheiten nicht nur aufmerksam, sondern bringt sie zum Ausdruck und kann so eine vernünftige Umverteilung von (Sprach-)Macht in Gang setzen. Darüber hinaus wird die Figur des August im Rahmen von politischen Aktionen aber auch genutzt, um Autoritäten bloßzustellen, um sie lächerlich zu machen oder zu demütigen. Teil 4 – Ästhetische Transformationen Die Beiträge des vierten Teils schließlich widmen sich der Korrelation zwischen dem Zirkus und anderen Künsten wie der Literatur, der Bildenden Kunst und dem Film. Dabei ist der Zirkus keineswegs schlicht als inhaltliches Motiv oder Sujet anzusehen, das in künstlerischen Werken Einzug hält. Die Untersuchung gilt vielmehr komplexen kulturellen Transformationsprozessen; es geht um die Frage, wie die ästhetische und soziale Energie des Zirkus die Künste verändert und inwiefern er in diesem Sinne im Kontext spezifischer kulturgeschichtlicher Situationen als ästhetisches Modell anzusehen ist. Anne Hemkendreis widmet sich aus kunstgeschichtlicher Perspektive den Wahrnehmungserlebnissen und Raumerfahrungen des Fin de Siècle, wie sie der Zirkus und die Malerei vermitteln. Am Beispiel von Edgar Degas und James Tissot untersucht sie, wie Zirkusbilder im späten 19. Jahrhundert die Aufhebung der Gravitation

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als visuelles Erlebnis inszenieren, in dem sich die Grenzen zwischen oben und unten sowie Nähe und Distanz auflösen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass mit dieser Inszenierung ein Offenlegen der technisch-mechanischen Bedingtheit der artistischen Sensation wie auch des Gemäldes selbst einhergeht, sowohl was die gymnastische Übung als auch was die architektonischen Konstruktionen des Zirkusbaus bzw. des Bilds betrifft. Im größeren kulturgeschichtlichen Kontext der Moderne ergibt sich dadurch ein Spannungsfeld zwischen neuen Bewegungsformen (Rotation) und der Abarbeitung an kulturell kodierten Körperbildern (Weiblichkeit) sowie zwischen Real-Konstruiertem und Imagination (Schweben). Auch Cornelia Ortlieb befasst sich mit der Zeit des Fin de Siècle, allerdings nicht im Hinblick auf die Kunst-, sondern auf die Literaturgeschichte. In ihrem Beitrag analysiert sie das Prosagedicht Stéphane Mallarmés Un Spectacle interrompu über eine plötzlich abgebrochene Zirkusvorstellung. Bei näherem Hinsehen erweist sich hier das titelgebende Schauspiel oder Spektakel als eine Aufführung von existentiellem Ausmaß, die sich möglicherweise nur im Inneren von Lesenden und (fiktiven) Betrachtenden abspielt. Gezeigt wird eine Urszene der Kulturgeschichte, die Gegenüberstellung von Mensch und Tier, die aber im Genre der Schaustellung oder des Schauspiels zugleich eine explizite zeitgenössische Signatur trägt. Zugleich stellt der Text radikal die Grundlagen moderner Ästhetik und Poetik in Frage; es handelt sich um eine sehr spezielle Mischung von Schreibweisen eher prosaischer und eher poetischer Herkunft. Stehen auf der einen Seite des ästhetischen Konzepts das publizistische (Gebrauchs-)Genre der Anekdote sowie die zirzensische Populärkultur, so kontrastiert dem auf der anderen Seite höchste poetische Verdichtung. Es handelt sich hier weniger um eine realistische Schilderung, vielmehr nimmt die Evokation des weiß schimmernden menschlichen Künstlers und seines Gegenübers, des gleichermaßen leuchtenden Tiers zentrale Motive der Versdichtung Mallarmés auf und verweist nachdrücklich auf die Grundlage solcher Erscheinungen im Schwarz und Weiß, die Tinte oder Druckfarbe und die weiße Fläche des Papiers. Der zeitlich ebenfalls im späten 19. Jahrhundert angesiedelte Beitrag von Marion Schmaus begibt sich ins Grenzgebiet von Dichtung und Philosophie. In einer eingehenden Analyse insbesondere von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra arbeitet sie heraus, dass hier von einer weitgehend kohärenten Artisten- bzw. Zirkusphilosophie die Rede sein kann. Zumindest in Ansätzen liegen eine Soziologie, eine Physiologie, eine Psychologie sowie eine Genealogie des Artisten vor. Das markanteste Merkmal des Artisten, die Gefahr als Beruf, wird in Zarathustra einleitend mit dem Artistenunfall des Seiltänzers aufgerufen und bleibt für Zarathustras weiteren Weg prägend. Der Roman entwickelt eine zirzensische Anthropologie, in der die Typen des Artisten, des Tierbändigers, des Zauberers und des Possenreißers von Bedeutung sind, woraus generell eine Aufwertung von Außenseiter-Existenzen resultiert. Beide Existenzformen, die des Schaustellers und die des Philosophen, erscheinen im Roman als ganzheitliche Körperkünste. Und auch das für die Zirkuswelt traditionell typische enge Verhältnis von Tier und Mensch wird mittels Zarathustras Lebensgemeinschaft mit seinen Tieren als Idealbild vor Augen geführt, das auf eine Aufwertung des Tieres und auf eine Abwertung des Menschen zielt. Eine Philosophie des Lachens anstrebend, artikuliert sich in der Gestalt des Zarathustra ein philosophischästhetisches Konzept, das seine Medialität reflektiert und auf der Suche nach einer

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angemessenen Form der Aufführungspraxis ist; es handelt sich um eine Philosophie, die sich performativ durch die Akte ihrer Aufführung wandelt. Mit den folgenden Beiträgen wird die literaturgeschichtliche Perspektive auf das frühe 20. Jahrhundert ausgeweitet, wobei immer wieder das Verhältnis von Zirkuskunst und einer wie auch immer gefassten ›Wirklichkeit‹ in den Vordergrund rückt. So setzte sich Heinrich Mann in seinen 20 Romanen, zahlreichen Novellen und Dramen nicht nur intensiv mit dem Theater und dem Theatralitätsbegriff auseinander, wie Verena Thinnes verdeutlicht, sondern auch mit den Manegenkünsten und ihren performativen Techniken und verwandten Phänomenen wie tableaux vivants. Thinnes erörtert dies am Beispiel von Heinrich Manns Novelle Der Löwe und seinem historischen Roman Henri Quatre; zwei Texte, die theatrales Handeln gesellschaftlichen Bereichen und Inszeniertes Unverfügbarem gegenüberstellen und somit die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit thematisieren. Vor dem Hintergrund einer umfassenden Theatralität diskutiert die Autorin ein Panorama an Gaukler- und Kuriositätenpersonal und ihr Spiel mit dem zirzensischen Als-ob, wobei sie zu dem Schluss kommt, dass in Heinrich Manns Texten innerfiktionale Wirklichkeiten über Theater und Zirkus in ihrem performativen Charakter vorgeführt werden: Wirklichkeit wird in theatralen Kategorien reflektiert und performativ erzeugt. Der zwischen Zirkus und Primitivismus, Äquilibristik und Kubismus fluktuierenden Gestalt sowohl einer Artistin als auch eines Textes widmet sich Julia Kerscher in ihrer Untersuchung von Carl Einsteins Text Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. Dabei zeigt sie, dass sich die Erzählung nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch aufgrund verschiedener Textstrategien einer Form von artistischer Ästhetik verschrieben hat, etwa durch die Balance der Form, durch clowneske Widersprüche und Paradoxien und andere textuelle Phänomene. Die formalen Affinitäten zwischen diesen Strategien und der Figur der Seiltänzerin, die zugleich eine Wachspuppe ist, sowie zwischen den kubistischen Gliederpuppen und afrikanischen Skulpturen (›Negerplastiken‹) machen auf diese Weise erstaunliche Äquivalenzen sichtbar: Die Wachspuppe enthüllt sich als das europäisch-großstädtische Pendant der afrikanischen Skulptur und die Manegenkünste der Seiltänzerin als Äquivalent zur afrikanischen Kunst. Die auf diese Weise sichtbar gemachte Entsprechung von europäischer, dilettantischer, zirzensischer Kunst und afrikanischer ›primitiver‹ Kunst um 1900 führt letztlich zu der Frage, ob die artistische Ästhetik des Textes als ein Ausdruck von literarischem Primitivismus verstanden werden kann. Literarische Figuren, die zwischen verschiedenen Kulturen oszillieren und als fremd markiert sind, sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass sie in ein Spiel verschiedenster sprachlicher Codes eingespannt sind, bei dem Zeichen und Bedeutungen in Bewegung geraten und Überschuss produzieren. Verstärkt wird dieses Spiel – so zeigt sich im Beitrag von Jürgen Joachimsthaler –, wenn es mit Motiven und Zeichen des Zirkus in Berührung kommt. Denn der Zirkus stellt sich als ein Ensemble von Zeichen dar, das alles, was es vorstellt, wiederum in ein Zeichen verwandelt, das wiederum seine Zeichenhaftigkeit aber geradezu ausstellt und nur noch auf sich selbst verweist, auf seine ›Bestaunenswürdigkeit‹. Der Sensationsraum wird somit zum Raum des Unerreichbaren, zum Ahnungsraum, zu etwas, das immer über das je konkrete Können individueller artistischer Leistung hinausreicht. Dies stellt den Zirkus in ein Ähnlichkeitsverhältnis zur Literatur, die ebenso Ahnungs- oder Vorstellungsräume aus der bloßen Präsentation von Zeichen

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ermöglicht, weil diese Zeichen dazu tendieren, sich von ihrer referentiellen Bindung zu lösen. Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit von referenzlosem, entgrenztem Überschuss der Zeichen und dem Bewusstsein der eigenen Beschränktheit, der Loslösung von ›realer‹ Bedeutung und gleichzeitiger Rückbindung an Realität verbindet Kunst, Artistik und Literatur gleichermaßen. Dem letztlich selbstreferentiellen Zeichenüberschuss, der im Zirkus produziert wird, geht der Beitrag in verschiedenen literarischen Texten – von Grimmelshausen über Goethe und von Holtei bis zu Bobrowski, Grass und Libera – nach und entfaltet so in vielfältiger Weise die Doppelfunktion des ›Zeichenbeschleunigers‹ Zirkus, dessen Entgrenzung und Beschränkung gleichermaßen. Im Zentrum des Beitrags von Philipp Schulte steht die Figur des Clowns, die seit dem frühen 20. Jahrhundert eine enorme Karriere auf der avantgardistischen Theaterbühne zu verzeichnen hat. Dabei wird der Clown als eine Grenzgängerfigur konturiert, die zwischen Formaten des Unterhaltungs- und Spektakeltheaters und solchen des avantgardistischen, v. a. des postdramatischen Theaters changiert. So steht etwa bei Sergei Eisenstein die schockartige und anarchische Wirkung des Clowns im Zentrum, ausgelöst durch dessen Inkohärenz, die sich sowohl auf der Ebene von Handlung und Narration findet, als auch auf der von Bewegung und Motorik, oder der Psychologie und der Maskerade. Die aus einer Ambivalenz von Vertrautheit und Fremdheit heraus entstehende Wirkung des Clowns ist somit für antinaturalistische Darstellungsweisen (wie etwa bei Tadeusz Kantor oder Robert Wilson) attraktiv. Im sogenannten postdramatischen Theater, bei Forced Entertainment oder Schulz/Marouf, sind dagegen Meta-Clowns zu beobachten, die entweder nur noch auf sich selbst im Sinne eines Zitates verweisen oder mit Zuschreibungen und Erwartungen provokant spielen und damit als Figuren ›von unten‹ im Sinne Bachtins erkennbar werden. Die Relation von Literatur und Zirkusperformances untersucht Franziska Trapp ausgehend von einer spezifischen Inszenierung: der von Antoine Rigot im Jahr 2006 entwickelten Performance Le fil sous la neige, die sich auf die Erzählung Neige von Maxence Fermine bezieht. Die auf den ersten Blick nicht zu erkennende intermediale Bezugnahme wirft die Frage auf, wie die Relation beider Medien aufeinander zu beschreiben ist. Betrachtet werden einerseits die Zeichen des literarischen Mediums, die sich in die Manegenkunst des Seiltanzes einschreiben. Zugleich wird danach gefragt, auf welche Weise andererseits die Performance ihre eigenen medienspezifischen Mittel nutzt, um auf das literarische Medium Bezug zu nehmen. Hierzu werden sowohl metaphorische Ähnlichkeiten, paratextuelle Verweise als auch grundlegende Differenzen zwischen Schreiben und Seiltanz, zwischen der Sprachkunst Literatur und den sprachlosen Künsten des Zirkus herausgearbeitet. Der Prozess der Bedeutungsgenerierung und das literarische Potential von Zirkusperformances entspricht dabei der Bedeutung und Anpassungsfähigkeit von dessen zeichenhaften Komponenten, die nicht zwingend sprachlicher Natur sein müssen, sondern durch zirzensische Mittel evoziert werden. Variationen von Authentizität und Illusion in zeitgenössischer fiktionaler Zirkusliteratur stellt Helen Stoddart in den Mittelpunkt ihres Beitrags, in dem sie die von ihr erkannten zwei dominanten Erscheinungsformen – historische, romantische und realistische Zirkusromane auf der einen Seite und Texte, die sich des Zirkus symbolisch, allegorisch oder metaphorisch bedienen auf der anderen Seite – in Frage stellt. Am Beispiel der Bestseller Water for Elephants (2006) von Sara Gruen und The

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Night Circus (2011) von Erin Morgenstern zeigt Stoddart, dass sowohl das komplexe Verhältnis von historischer Authentizität und kultureller Identität als auch die Entfaltung des Zirkus als poststrukturalistische Allegorie für das Schreiben selbst jene konventionelle Einteilung erschüttert. Ihr Beitrag verdeutlicht, dass Zirkus auch jenseits jeder Kategorisierung existiert.

The Circus as an Aesthetic Model – Research on Circus Arts and Circus Studies in Germany Introduction A NNA -S OPHIE J ÜRGENS ( FREE TRANSLATION ), M ARGARETE F UCHS AND J ÖRG S CHUSTER

»The result of desire and illusion« – this is how a circus artist recently described the origin of his circus act.1 But what did the Catalan performer Manolo Alcántara mean? What is circus? What makes circus so popular across different times and media – for instance in movies and literary texts – as a motif, theme and topos? And why does it continue to live on even though it is constantly declared dead? The first international interdisciplinary conference on circus aesthetics held in Germany (entitled »Manegenkünste«, transl. »Arts of the Ring«) was dedicated to these questions. It took place at the Philipps-University Marburg in 2016, and is the starting point of this volume, which is the very first interdisciplinary book on circus aesthetics published in Germany in the (now) emerging field of Circus Studies. Circus is a powerful cultural phenomenon. It represents a microcosm and a mirror of socio-historical and aesthetic zeitgeist on the one hand, and extraordinarily staged alternative worlds, on the other; worlds that promise danger, thrills and wonder. Since its creation by English equestrian Philip Astley at the end of the 18th century, circus has been an influential international phenomenon straddling art, artistry, sport and commerce. With philosopher Michel Foucault, it can be called a heterotopia: a discursive, cultural and institutional space (or island) with real and utopic characteristics that is somehow ›other‹: contradictory, intense, transforming and transgressive.2 It is a surface for various projections, making visible different modes and facets of transgression. For instance, circus is a vehicle for cultural, political and anthropological transgressions of semiotic and topological figurations, including space,

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http://www.ciamanoloalcantara.com/en/espectaculos/rudo/ [13.02.18]. See Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck et al. (Eds), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, pp. 34-46; Foucault, Michel: Die Heterotopien – Les hétérotopies – Der utopische Körper – Le corps utopique, Frankfurt a.M. 2005.

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boundaries and orders.3 Circus protagonists – nonsedentary, travelling performers – can exist in »a state of permanent liminality«, using the words of literary scholar Hans Richard Brittnacher.4 ›Traditional‹ circuses, especially those touring in tents and building on family structures, are not easily accessible to outsiders. Due to the suddenness with which they appear and disappear, they give the impression of being removed from everyday time; yet they are not completely cut off from everyday life, time and space. Unfolding their unique body techniques, circus artists (acrobats and aerialists in particular) appear to effortlessly overcome limits, and thus embody another manifestation of circus transgression: a playful triumph over the ordinary, the humanly possible and the laws of physics (i.e. gravitation). In ›traditional‹ circuses, however, audiences do not only watch and experience the display of exceptional bodies (human and animal). They also watch other spectators, simultaneously, due to the particular topography of the traditional circus arena. They are both the subject and object of the human gaze. Without walls or curtains, ›traditional‹ circus represents a form of a-mimetic performance. This has been taken further by Bose und Brinkmann,5 who argue that circus arts not only fail to create foreign meaning, but also fail to have their own. And yet they speak to us, calling out for semiotic interpretation – and they almost provocatively display their semantic potential. How can the aesthetic status of such a transgressive oscillation between semantic excess and asemantic presence, between play with and refusal of reference, be defined? This and other aesthetic tensions have been explored by artists and writers for more than two centuries. By the end of the 19th century, the interest in circus and what has been called ›illegitimate‹ popular art forms (i.e. poor, travelling performers) culminated in the revolutionary praise of artistry as the epitome of aesthetic autonomy. International literary icons such as Charles Dickens and important writers of German literature, including Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler and Franz Kafka, explored the circus’ cultural and social energies6 – and the artistic and risky act of ›writing‹ circus. And circus and its aesthetics have not lost their appeal over time.7 Circus as a model for aesthetic interpretation and artistic risk, as a highly productive matrix for theoretical literary and cultural discussions of aesthetic performance, illusion, poeticity, fiction and intermediality, is at the heart of this volume. Circus

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See Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin 2010. Brittnacher, Hans Richard: Leben auf der Grenze – Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst, Göttingen 2012, p. 21. Bose, Günter/Brinkmann, Erich: Circus – Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, transl. David Cackett, Berlin 1990, p. 24. Among others, circus in literature has been investigated by Ritter, Naomi: Art as Spectacle – Images of the Entertainer since Romanticism, Columbia 1989; Basch, Sophie: Romans de Cirque, Paris 2002; and Starobinski, Jean: Portrait de l’artiste en saltimbanque – Nouvelle édition revue et corrigée par l’auteur, Paris 2004 [1970].

T HE C IRCUS

AS AN

A ESTHETIC M ODEL

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arts are interesting from a variety of academic and cultural perspectives due to their transgressive potential, their oscillation between representation and presence, their idiosyncrasies and affinities to other art forms, and many more distinct characteristics.8 The comic archetype of the circus, the clown, may serve as an example. »A fool, jester, or comedian in an entertainment (such as a play), specifically: a grotesquely dressed comedy performer in a circus« – this is how the clown is defined.9 However, clowns are much more than that: they are anthropological constants in all societies, with archaic-mythical origins that lie in Indo-European culture, antique gods, the Commedia dell’arte and a plethora of other sources. Due to the clown archetype’s multiple identities and its association with a multifarious group of fellow tricksters across time and cultures – including jesters, picaros, harlequins, pierrots, pagliacci, Hanswürste, petrushkas – it is difficult to specify its irreducible, generalisable traits. All of these incarnations embody paradoxical characteristics, though, and their contradictory nature – simultaneously maintaining inconsistent, normalcy-opposing traits – is arguably the one form common to all variations of the clown archetype. These phenomena and the cultural background of the circus clown in particular have fascinated scholars from all walks of life, including anthropologists,10 philosophers of art,11 cultural theorists and comedy experts,12 literary scholars13 and theatre scholars. For example, drama and theatre scholars ask how the figure of the clown destabilises – though mostly only temporarily – hegemonic order structures in a comic or threatening way over time (McManus); investigate the impressive career of the political circus clown on the avant-garde stage – where the figure of the clown stands for shocking and anarchic effects, triggered by incoherence (both on the level of action and narration) and unconventional movement and body skills (Schechter); or map the clown’s power as a border crosser between different formats of entertain-

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See Jürgens, Anna-Sophie (accepted for publication 02/03/2019): »Through the Looking Glass: Multi-disciplinary Perspectives in Circus Studies«, in: Gillian Arrighi/Jim Davis (Eds.), The Cambridge Companion to the Circus, Cambridge (forthcoming). Merriam-Webster: »Clown«, www.merriam-webster.com/dictionary/clown [24.07.19]. Keisalo, Marianna: »A semiotics of comedy: Moving figures and shifting grounds of Chapayeka ritual clown performance«, in: HAU: Journal of Ethnographic Theory 6.2 (2016), pp. 101-121. See Carroll, Noel: »Horror and Humor«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 57.2 (1999): pp. 145-160; Carroll, Noel: Beyond Aesthetics: Philosophical Essays, Cambridge 2001. See Peacock, Louise: Slapstick and Comic Performance: Comedy and Pain, Basingstoke 2014; Gordon, Rae Beth: Why the French Love Jerry Lewis: From Cabaret to Early Cinema, Stanford 2001. E.g. Riggan, William: Pícaros, Madmen, Naifs, and Clowns: The Unreliable First-Person Narrator, Norman 1981; Stoddart, Helen: Rings of Desire: Circus History and Representation, Manchester 2000; Jürgens, Anna-Sophie: »Circus as Idée fixe and Hunger: Circomania in Fiction«, in: CLCWeb: Comparative Literature and Culture 18.3 (2016), https:// docs.lib.purdue.edu/clcweb/vol18/iss3/5/ [24.07.19].

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ment, spectacle and (post-dramatic) theatre (Tobias).14 These and other cultural studies carve out the different ways in which not only the circus’ dramatic dynamics but also the delicious art of clowning – an art performed to the very extremes of art – and the clown’s risk-embracing spirit and boldness have acted as an aesthetic paragon for the theatre stage, combining extreme performance with extreme questioning and trespassing of convention.15 Clowning has also been studied from multiple science-oriented perspectives. Clown doctors, whose mission is to reconnect society with joy and optimism through the art and philosophy of professional clowning, refer to and participate in scientific studies exploring the positive effects of humour and laughter on psychological wellbeing and the immune system (the body’s basic health and healing mechanisms) on the one hand, and on social interaction and reduction of preoperative anxiety, and rehab success, on the other. Their aim is to improve the understanding of humour in the global healthcare, educational and humanitarian sectors by producing scientific evidence and developing productive research environments. 16 On the other hand, psychologists, humour and robotics researchers explore the societal benefits of (researching) humour in relation to technology in the conviction that »laughter and amusement might tell us something about the way technology shapes us«.17 Investigating and/or creating robot stand-up comedy and comic humanoid robots,18 recent

14 See e.g. McManus, Donald: No Kidding!: Clown As Protagonist in Twentieth-Century Theatre, Newark 2003; Brincken, Jörg von: Tours de force: Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006; Cosdon, Mark: The Hanlon Brothers: From Daredevil Acrobatics to Spectacle Pantomime, Carbondale 2009; Tobias, Ashley: »The Postmodern Theatre Clown«, in: D. Robb (Ed.), Clowns, Fools and Picaros: Popular Forms in Theatre, Fiction and Film, Amsterdam/New York 2007, pp. 37-56; Schechter, Joel: Durov’s Pig: Clowns, Politics and Theatre, New York 1985. 15 See Jürgens, Anna-Sophie: »Comic in Suspenders: Jim Sharman’s circus worlds in The Rocky Horror (Picture) Show« in: Journal of Australian Studies 42.4 (2018), pp. 507-523; Jürgens, Anna-Sophie: »Fun-de-siècle: Dance, Popular Spectacles and the Circus«, in: Tanz & Archiv 8 (2020), pp. 172-188. 16 See Dionigi, Alberto, Canestrari, Carla: »Clowning in Health Care Settings: The Point of View of Adults«, in: Europe’s Journal of Psychology, 12.3 (2016), pp. 473-488 – and the mission of the red noses (https://www.rednoses.eu/what-we-do/scientific-research/ [04.02.2020]). Cultural historical links between clown performers and medicine – for instance between trailblazing French neurologist and professor of anatomical pathology, Jean-Martin Charcot, and the comic performances of the Hanlon Lees troupe – have been discussed by Gordon (Jerry Lewis, pp. 60-61) and Basch (Romans de cirque, XXX). The latter explains how Charcot himself called the second stage of the major hysterical attack, in which the body contorts in all sorts of acrobatic poses, »clownism« – with reference to the Hanlon Lees troupe (preface, page XXX). 17 Steinert, Steffen: »Technology is a Laughing Matter: Bergson, the Comic and Technology«, in: AI & Society 32 (2017), pp. 201-208, here p. 207. 18 Nijholt, Anton: »Stand-up Comedy and Humor by Robots«, in: Proceedings Sixteenth International Symposium on Social Communication, Centro de Lingüística Aplicada, Santiago de Cuba (2019), pp. 228-234; Katevas, K./Healey, P.G.T./Harris, M.T.: »Robot comedy

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studies aim to contribute to improvements in our relationship with technology and robot sociability. As research proves, humour – and clowning – can help deflate tension between conversational partners, reduce social distance, improve attention, make a partner more attractive and create a positive impact on work performance and health.19 These scholarly perspectives on technology and clowning (broadly defined) probe how similar benefits can be obtained in human-robot interaction (social and affective relations). Studies of this kind map out how the realm of engineering may become integrated in our ways of performing and perceiving clowning and circus in the future; they demonstrate that clowns are both a product and producer of scientific and scholarly curiosity – and of good stories. Zooming in on the clown as a powerful cultural circus phenomenon and productive research subject exemplifies and highlights what this book aims to map out: that circus is a multifaceted cultural force and productive aesthetic combination worthy of being ›pulled out of the shadow‹. This volume sheds a multifaceted light on circus arts through a pluri-disciplinary lens. For the first time in German research, this book brings together perspectives from literary, theatre and cultural studies, art history, history, media studies, philosophy, animal and environmental studies, emersiology (a reflexive science exploring the emersion of sentient life in the consciously experienced body), as well as voices from performers and archivists.

ABOUT

THIS BOOK

This volume investigates the aesthetic productivity and cultural relevance of circus arts and aesthetics and their imaginaries in different media. Its chapters do not only revolve around the cultural and societal legacy of ›traditional‹ circus but also reflect upon how to grasp the complexity of circus arts, their performance and aesthetic styles, and intricate intermedial conditions; phenomena that have barely been explored in German language research. The research questions raised by the authors of this volume do not only include the abovementioned questions about the cultural impact and definition of circus arts, but also: How do the transformative powers of the circus, its aesthetic and social energies, impact on the (other) arts and their sociohistorical discourses? How can the insights and methods of individual circus disciplines be made fruitful for scholarly investigations of circus and circus contexts? What are the synergistic effects between individual disciplines engaging with the circus and its aesthetics across disciplines? The contributors to this book offer different answers and approaches to these questions; they vary in their methodologies and ana-

lab: Experimenting with the Social Dynamics of Live Performance«, in: Frontiers in Psychology 6.1253 (2015); Kishi, T./Endo, N./Nozawa, T./Otani, T./Cosentino, S./Zecca, M./ Hashimoto, K./Takanish, A.: »Bipedal Humanoid Robot that Makes Humans Laugh with Use of the Method of Comedy and Affects their Psychological State Actively«, in: IEEE International Conf. on Robotics & Automation (2014), pp. 1965-1970; cf. Knight, Heather: »Eight Lessons Learned about Nonverbal Interactions through Robot Theater«, in: Third International Conference International Conference on Social Robotics (2011), pp. 42-45. 19 See A. Nijholt: Stand-up Comedy.

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lytical foci. Authors with a background in cultural studies or cultural history, for instance, discuss cultural identities and practices emerging from artistic bodies and circus aesthetics. Chapters exploring circus arts through the lens of science, on the other hand, focus on physiological and neurobiological phenomena; they examine their phenomenological facets and how they are linked to medical and social discourses. Other chapters take epistemology or body philosophy as a point of departure to study modes of consciousness in the practices and aesthetics of circus arts and artists. Others still study the challenge of how to describe, remember and archive circus, examining how circus is perceived and what kind of knowledge it may impart. The editors of this book respect individual stlye and different voices in the writing of these book chapters. Circus performances are ephemeral and transient, like all live performance; they are to be experienced in the moment. This raises intricate problems of description, memory and archiving for a variety of disciplines – history in particular – and includes questions regarding the circus-specific discursive formations that determine(d) (historical) perceptual and cognitive conditions. Last but not least, authors with a humanities background outline how well-known practices of cultural expression and self-understanding through a change of media become the subject of aesthetic practices. Part 1 – Circus Aesthetics In her chapter »Flights of Fancy: Mannerist Aesthetics in Paul Auster’s Mr Vertigo and Contemporary Circus Contexts«, Anna-Sophie Jürgens clarifies how mannerism and narrative reliability relate to hyperbolic circus aesthetics and virtuosity, and, as a result, reframes Paul Auster’s 1994 novel Mr Vertigo within the contexts of contemporary circus fiction. Auster’s protagonist, Walt the Wonder Boy, is able to fly. He is a virtuoso levitator, a performer and showman, and the first-person narrator in Mr Vertigo. In a fictional world peppered with circus references, Walt undertakes his aerial performances for effect, for artistry, with the explicit goal to entertain his audiences. Using Rüdiger Zymner’s definition of mannerism as a transmedial aesthetic phenomenon, Jürgens describes Walt’s strategy, and the narrative itself, as mannerist. Her chapter argues that Auster’s novel is a pivotal text for understanding how the circus’ aesthetics unfold into the narrative of fictional stories, and thus unveils the affinities between fiction, circus and mannerism. Jörg Schuster, too, is interested in the circus’ aesthetic intricacies, and its position between two contradictory rhetorical-semiotic concepts: the glossy ›beautiful appearance‹, which purports to be either much more or much less hyperbolic than it is; and an asemiotic quality immanent in the circus’ vitality and corporeality, which points to nothing but itself. In »Zwischen schönem Schein und asemiotischer Kunst: Zirkus als ästhetisches Modell« (»Between Beautiful Appearance and Asemiotic Art: Circus as an Aesthetic Model«) Schuster discovers this aesthetic-semiotic tension in the depiction of travelling entertainers in literary texts by German writer Johann Wolfgang von Goethe (Venetianische Epigramme [1790], Novelle [1828]), and uncovers how it became a cultural practice and aesthetic model for literary modernity by the end of the 19th century, at the heyday of circus arts. In the works of Frank Wedekind, for instance, a German turn-of-the-century playwright, circus arts appear as a Nietzsche-

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an symbol of vitalistic aesthetics. In Jean Cocteau’s cubist ›Ballet réaliste‹ Parade (1917), these aesthetics bypass the circus’ aesthetic-semiotic tension by linking it to the archaic in provocative and unsettling ways. In the works of Rainer Maria Rilke and Franz Kafka, circus arts as an aesthetic model are problematised, as circus not only adheres to the bourgeois ›achievement principle‹ – which seems increasingly problematic in industrial modernism – but also, simultaneously, subverts it through its beautiful aesthetic appearance. Although the performances of circus and variety artist Thea Alba (aka Dorothea Sohm) were lionised between the 1920s and 1940s, both in Germany and abroad, they are barely documented; exceptions include a few photographs and comments in journals that can only be unearthed through painstaking library research. In contemporary media Alba was known as a multi-tasking artist, as »the woman with ten brains«. This comes as no surprise, because in her performances she wrote simultaneously with all ten fingers – each finger a different text. She was also able to write with both hands, both feet and her mouth in different languages, all at the same time. In »Manegenkünste (be-)schreiben« (»Writing (on) Circus Arts«), Margarete Fuchs explores how, in Alba’s performances, writing becomes a performative act, a popular performance, transforming the condition of text production (writing) into a public stunt featuring ›text‹ and ›literature‹ as the result of a tour de force. Writing thus not only manifests as a body art, but the body also becomes the stage of the act of writing – a writing instrument. How can this performance be understood analytically and how can writing be described in Alba’s acts and similar circus performances? Revolving around these questions, Fuchs introduces different concepts investigating the intersections of circus practices and discourses, and writing. For Katharina Görgen, the superlative is the essence of traditional circus aesthetics. As she elucidates in her chapter »The Greatest Show on Earth: The Aesthetics of the Superlative in the Circus«) by discussing an array of historical examples, acts and pyrotechnical rhetoric, circus came to the fore at a moment in time when humanity was dazzled by (visions of) progress and possibilities. Her analysis of historical material reveals the ways in which the logic of constant improvement, of one-superlative-after-the-other, influenced the concept of circus itself. At the turn of the century, news and troupes could travel fast, hence it was important to continually present acts newer or better than any other circus had come up with in the previous season, in order to keep audiences entertained. This led to a circle of constant intensification. The balloon eventually had to burst, generating both a serious crisis in the circus’ selfdefinition, and the need to develop new dramaturgical concepts – beyond the superlative. In his chapter »Bewegte Körper – Ostentative Physis« (»Moving Bodies – Ostentatious Physique«), Tillman Damrau is interested in the proportionality of means and purposes in circus contexts: in strategies developed and employed in circus acts to override the immediate ›sense‹ of action through the aesthetic exploitation of ›nature‹ by means of overemphasised physical expression. Damrau examines the virtuoso staging of effects in relation to bound and unbound ›nature‹ by exploring the different facets of ›wild‹ and tamed, cultivated and imitated nature. In so doing, the author clarifies how those effects transport and convey aspects of social criticism. A different approach to and definition of circus aesthetics is developed by Sandy Sun (Catherine Dagois) and Philippe Goudard in their co-authored chapter »The Art-

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ist and the Scientist in the Circus: A Cross-Disciplinary Approach«. Their text reflects upon and summarises their observations and research results of the past several years. Sun and Goudard have been presenting this research together since 2009, in several countries, at different international conferences and congresses, and in many of their publications in performing arts, medicine, aesthetics, semiotics and bioengineering of circus performances. In their chapter for »Manegenkünste«, they explore circus as a »laboratory of human possibilities« by discussing imbalance, impermanence and instability as the roots and the heart of circus (and trapeze acts in particular). At the circus, risk is aesthetics, as well as a means of expression and existence, through which artists permanently expose their person and their life to the risk of imbalance. As their chapter outlines, risk and balance can also be understood as a transdisciplinary cultural model. Part 2 – Discourse, Debate, Archive Ideas about the ability of the circus to influence cultural change, either through aesthetic choices, business operations or the use of innovative technology, have yet to be extensively explored in the recent trans-disciplinary field of circus studies. Gillian Arrighi’s chapter »The Circus as an Agent of Transculturation« examines the concept of the circus as an agent of transculturation in Australia at the turn of the 20th century. The mobility that has historically underpinned the circus’ restlessness across geo-political borders and language barriers is, in this chapter, theorised using lenses that accommodate the recent academic turn in global theatre histories, as well as mobility studies – that is, the study of the international transference and exchange of culture that Stephen Greenblatt and others have critically analysed as »cultural mobility«. From the late 1870s through to the early 1890s, several large American circuses travelled to Australia’s east coast cities, presenting shows that disrupted and renewed the older, English circus traditions that had taken root in the Australian colonies in the 1840s. Industrialised circuses from the United States proved immensely popular with late-19th-century Australian audiences and were lucrative for their American producers. Bringing innovative business and production practices with them, they introduced Australian audiences to elements of American popular culture such as the Wild West Show. Arrighi examines the influences exerted upon popular entertainments and popular culture in Australia by these international envoys. Since its founding as a group of British colonies, Australia has always looked first to the United Kingdom for cultural guidance, but this chapter brings to light the complex and lasting legacy that late-19th century circuses from America and elsewhere had on Australian popular entertainments. While many commercial entertainment producers in Australia looked ›back‹ to Britain for the latest trends, this chapter argues that the visiting American circuses of the late-19th century were pivotal transcultural agents in the development of the circus and popular culture more generally in Australia. The significance and validity of official circus history are the focus of Steve Gossard’s chapter »The Fallibility of the Historical Record«. In the course of his research into circus history the author has found a number of conflicts and inconsistencies that shake the core of what had been considered to be true and factual on the basis of the study of historical records. His chapter is the story of some of those con-

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flicts and Gossard’s efforts to deal with them, in particular in relation to the ancient and sensational art of circus leaping. Whereas Gossard highlights the intricacies and possible inaccuracies of historical records and materials, these sources are nonetheless essential for our understanding of circus and its cultural impact. Circus collections play an important role in the study of traditional circus arts. However, as Gisela and Dietmar Winkler explain in their chapter »Sammeln und Forschen zu Zirkusgeschichte und Zirkusästhetik« (»Collecting and Studying Circus History and Aesthetics«), they are still hard to find in public libraries, and difficult to access in Germany. Private collections contribute to the documentation of history and the development of a form of culture, though. The Zirkusarchiv Winkler (Circus Archive Winkler, Berlin), which was developed about 50 years ago, holds the largest collection of circus material in Germany. In their chapter, the authors not only present their archive, but comment on their own research, which has so far resulted in 20 books, and the contribution they have been able to make to the research of students, PhD candidates and journalists. Although revolving around circus history, the perspective of biologist Manfred Niekisch, former director of the Frankfurt Zoological Garden (the second oldest zoo in Germany) and expert in international nature conservation, is different. In »Zoos und Zirkusse. Was sie eint und was sie trennt« (»Zoos and Circuses. What Unites them and what Separates them«) Niekisch explores the historical connections between circuses and zoos, and the (different) forms of entertainment they traditionally represented and offered. He shows that, since the 20th century, scientifically-led zoos have radically evolved from the animal menagerie into animal conservation centres whose primary goal today is the implementation of a holistic approach to nature conservation. As (›traditional‹) circuses still basically maintain the long-standing objective of showing animals just for entertainment, they are nowadays totally separated from the scientific zoo community, according to Niekisch. From his point of view, circuses work on different aspects of amusement that may show artistic values in a broad sense, but the animal part »can only be considered today as a ›living fossil‹ within the entertainment industry. Circuses tend to present their animals as domesticated or trained artists«, involving unnatural behaviour and mixed groups of animals that do not occur together in natural environments (e.g. lions and tigers). Niekisch argues that circuses contribute by no means to species conservation. Zoos, on the contrary, try to maintain the wild character and natural behaviour of their animals. Modern zoos fulfil the requirements and goals established by the so-called Zoo Directive, adopted to promote wild animal species protection and conservation by strengthening the role of zoos in the conservation of biodiversity. In addition, as the author carves out, one of the main tasks of zoos today is the environmental education of the visiting public, while in circuses this aspect is lacking. Part 3 – Stages of Circus Bodies Many circus disciplines require endless hours of often solitary training, in which one is highly focused on one’s own physical and perceptual processes. How can this almost meditative concentration become a form of shared attention in meetings with an audience? The chapter »From Individual Concentration to Publically Shared Attention. On Experiences of Self, Subjectivity and Others in Contemporary Circus« by

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Camilla Damkjaer explores what happens when a performer’s internal concentration becomes part of the material presented in a performance. This is a key question in many performance practices, and within circus arts this is something that has not been sufficiently discussed. More specifically, the strategies that performers use to deal with this paradox have not been described and problematised. Damkjaer’s chapter proposes a close analysis of the way this paradox unfolds from the performer’s perspective. The author’s analysis draws on parallels with the practice of yoga postures, phenomenological understandings of subjectivity, and recent developments in the understanding of the role of the performer in choreography. Likewise taking the performing body as his point of departure, in » Learning by our Body Movements. Emersive Health in the Centre National des Arts du Cirque (CNAC)«, Bernard Andrieu20 discusses emersiological gestures and emersiology as a method for analysing the emergence of invisible living data in performing bodies. Andrieu’s work focuses on what he calls three body levels. They are explored by his research team through the study of moving bodies and the practice of acrobatic feats. These body levels include: the body mediated by our own representations allowing us to interpret or analyse the situation (this is what the individual is able to say about his or her own body); the lived body which is a feeling, mediated by our emotions; and the living body, the deepest level of body understanding, which is present even before we know or realise it. Andrieu investigates the ways the activities of the living body (cardiac frequency, involuntary gestures, stress, reflex, emotional regulation, interaction expression) manifest in the conscious lived body without voluntary control. His chapter discusses how voluntary and conscious actions are based on mental preparation and cognitive representation before the action and gestures are ›conscientised‹. Hans Richard Brittnacher also concentrates on bodies, albeit from a different angle. He explores circus aesthetics through the prism of monstrosity in his chapter »Schaulust und deformierte Körper: Dunkelzonen des Circensischen« (»Curiosity and Deformed Bodies: Dark Areas of the Circus«). According to Brittnacher, socalled ›freaks‹ – people with unusual physical features, e.g. people of gigantic or small stature, bearded women, Siamese twins or people suffering from Hypertrichosis or Elephantiasis – who performed in close proximity of circus tents, are examples of a risky nature. Texts and films that reconstruct or speak of their life stories stage the drama of their biographies as a conflict between unavailability and the desire to understand. The fact that those stories usually end with the death or immobilisation of the protagonist points to the alarming ›duplicity‹ of circus aesthetics, which pretends to celebrate the strange and exceptional as something beautiful, but really participates in a practice of aesthetic mortification. In »Mobilität und Massen. Zur Artistik außergewöhnlicher Körper zwischen Schaubude, Zirkus und Kino« (»Mobility and Masses. On the Acrobatics of Extraordinary Bodies between Show Booth, Circus and Cinema«), Urte Helduser discusses the aesthetics of the circus on a specific geo-historical site famous for its circus and freakshows: the legendary Viennese amusement park Prater. Since the 19th century,

20 With Haruka Okuy (Kyoto University), Cyril Thomas (CNAC), Raoul Bender (CNAC) and Petrucia da Nobrega (UFRNorte, Brasil).

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the Prater has served as a location for circus shows, menageries, ethnological expositions, popular theatre and various performing arts. From 1892, the Zirkus Busch (Circus Busch) had its own building at the Prater park, where theatre performances of classical plays directed by Max Reinhardt took place, until in the 1920s Zirkus Busch was transformed into a motion-picture theatre. Freakshows were crucial to the show business of the Viennese Prater: they were the so-called »Abnormitätenkabinette« and former sideshows of the circus. The presentation of freak performers was characterised by the interplay between the popularisation of evolutionary theory and performative artistry. At the beginning of the 20th century, as Helduser establishes, the emergence of the new film medium fundamentally changed the performance culture of the Viennese Prater. While the traditional freakshow seemed to lose its appeal, freaks became movie stars, which is epitomised in Tod Browning’s 1932 film Freaks, also featuring Vienna. Ante Ursić’s chapter »A Pie in the Face: Approaching Clown Politics« focuses on the red-nosed clown figure known as August. Ursic argues that Bataille’s notion of formlessness and Kristeva’s concept of abjection intriguingly relate to and describe aspects of the August clown. Drawing on Rancière’s ideas about politics, this chapter describes how the qualities of formlessness and abjection exemplified by the August clown can be employed by activists to express discontent with political and cultural authorities by throwing a pie into the face of the opponent, also referred to as pie-ing. According to the author »the August can turn anybody into a clown and anything into a matter out of place«. The deviance of the August clowns seems to be contagious. They do not leave their abject position; rather, they violently destabilise hegemonic orders, even if only momentarily, by exerting formlessness upon the other. Ursic proposes to call this »clown politics«. Contrary to Rancière’s understanding on politics, clown politics does not primarily entail seeking to be recognised by the other as a speaking being and changing one’s abject place by executing logos. However, clown politics do maintain what is most fundamental in Rancière’s ideas on politics: there is always a disagreement between the parties involved, a double wrong in play. Through political action, a fundamental equality is displayed and verified. This equality serves as the ground on which a redistribution of the sensible can occur. The August clown and its politics are employed by political activists and artists to expose authorities to ridicule and humiliation. Even though pie-ing activists do not wear oddly-fitting clothes, a red clown nose and oversized shoes, the chapter suggests that they are heirs of the August. Part 4 – Aesthetic Transformations Anne Hemkendreis investigates circus as a perceptual and spatial experience of the fin-de-siècle entertainment culture of industrialised European metropolises – a phenomenon offering previously unimagined perspectives on many well-known artists of the time. Focusing on Edgar Degas and James Tissot, in »Ausbalanciert. Der Traum vom Fliegen in den Zirkusbildern Edgar Degas’ und James Tissots« (»(Out of) Balance: The Dream of Flying in the Circus Paintings of Edgar Degas and James Tissot«), the author discusses how artists explored both the suspension of gravitation as a transgressive visual experience and its power to dissolve boundaries (for example, the boundary between distance and proximity). Hemkendreis illuminates the artistic

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methods employed to stage and showcase the technical-mechanical conditions of artistic sensation by pointing out the role of architecture and props in circus paintings. In the larger cultural-historical context of modernity, a field of tension is thus uncovered between new forms of movement (rotation), the staging of culturally encoded body images (e.g. femininity), reality and the imaginative (typified, for instance, in the artistic act of hovering). Fin-de-siècle culture is also at the heart of Cornelia Ortlieb’s chapter »Ein Kampf der Gattungen in der Manege: Stéphane Mallarmés Un Spectacle interrompu« (»A Battle of Genres in the Circus Arena: Stéphane Mallarmé’s Un Spectacle interrompu«). Ortlieb analyses a prose poem by French poet and critic Mallarmé revolving around a suddenly interrupted circus performance. Although set in the late-19th century, the performance stages a primordial scene of cultural history: the juxtaposition of humans and animals. However, on closer inspection, the eponymous spectacle proves to be a performance of an existential dimension: it is occurring only inside the reader and (fictional) viewer. As Ortlieb unveils, the poem radically challenges the foundations of modern aesthetics and poetics by its explosive and powerful amalgamation of different modes of writing, of prosaic and poetic styles. In his philosophical novel Also sprach Zarathustra (Thus Spoke Zarathustra), German philosopher Friedrich Nietzsche draws on the imaginary of the circus. The novel’s human panopticon features tightrope walkers, animal tamers and magicians as caricatures and analogies of Zarathustra. They also appear as ›supermen‹ representing and illustrating Nietzsche’s understanding of existentialism and, at the same time, point to the major role of amusement and amusement aesthetics in this philosophy, which Marion Schmaus elucidates in her chapter »Von Seiltänzern, Tierbändigern und Zauberern. Nietzsches zirzensische Anthropologie und Ästhetik« (»On Tightrope Walkers, Animal Tamers and Magicians: Nietzsche’s Circus-Related Anthropology and Aesthetics«). Her analysis of Zarathustra reveals facets of a distinct circus philosophy. At least, Schmaus argues, Nietzsche’s text can be read as a sociological, physiological, psychological and genealogical approach to the artist – and as an appreciation of societal outsiders. Both forms of existence – the showman and the philosopher – appear in the novel as facets of a holistic body art. Schmaus uncovers a philosophical-aesthetic concept, personified by Zarathustra, that articulates its own mediality. It manifests in the search of an appropriate form of (performative) expression, a philosophy that transforms itself performatively through the act of performance. References to arts and artists are also present (equally conspicuously) in the extensive oeuvre of another prominent 20th-century German writer: Heinrich Mann (the brother of Nobel Prize laureate Thomas Mann). In his literary texts, references to popular art forms and circus appear in the form of circus-related protagonists: painters, play writers, theatre and vaudeville actors and actresses, singers and dancers, ventriloquists and equilibrists, a travelling opera ensemble, and even a king. In his novel Henri IV, the king plays ball with a juggler, staging a most impressive and artistic show. As Verena Thinnes points out in »Komedi und Todessprung: Dargestellte Wirklichkeiten in Heinrich Manns Der Löwe und Henri Quatre« (»Comedy and Salto Mortale: The Representation of Reality in Heinrich Mann’s Der Löwe and Henri Quatre«), performing arts and theatre in particular play a crucial role in Mann’s prose – as a topic, setting or metaphor. As the author shows, Mann’s texts explore different

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aesthetic techniques, their interrelations and their relations to ›reality‹ – no matter whether they are situated in a fin-de-siècle context or the fictional world of the 1930s or 1940s. In »Artistische Ästhetik und/als literarischer Primitivismus in Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders« (»Artistic Aesthetics and/as Literary Primitivism in Carl Eisenstein’s Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders«), Julia Kerscher examines a literary text by one of Heinrich Mann’s colleagues, Carl Einstein. Einstein’s 1912 novella Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders is set in a circus context. The text’s female protagonist, Euphemia, is an equilibrist. Equilibrism also manifests in the form of the novella, which, together with a multitude of clownish contradictions and paradoxes, points to a discourse of artistic aesthetics, as Kerscher shows in her analysis. Euphemia, however, is not only an equilibrist, but also a variety-dancer and a wax doll. In her role as a doll, she resembles cubistic mannequins and African sculptures (Einstein himself carved out the affinities between cubism and African art in his famous 1915 study on African sculpture entitled Negerplastik). Therefore the wax doll can be understood as the European, metropolitan equivalent to African sculptures, and her/the equilibrist’s circus art as equivalents to African art. Within the context of art and culture around 1900, European, dilettante, circus art was thus the equivalent to African primitive art, from Kerscher’s perspective, which leads to her central question: Are the text’s artistic aesthetics an expression of literary primitivism? Literature about people belonging to more than one culture is often characterised by a ›hybrid‹ mixture of language codes. Signifiers and semantics begin to dance. Motifs from the circus environment can help intensify this effect: strangers are coming along and presenting ›unknowns‹ in an amazingly new combination. Jürgen Joachimsthaler (†) studies these phenomena in hybrid (primarily) German-language texts of the 20th and 21st centuries in his chapter »Den Zirkus lesen: Der Zirkus als Literatur – Literatur als Zirkus« (»Reading Circus: Circus as Literature – Literature as Circus«). According to the author, circus presents itself as an ensemble of signs that transforms everything that it presents into a sign that, in turn, literally exhibits its sign character, and refers only to itself. A space of sensation, circus thus becomes a space of the unattainable, a space of intuition, something that always reaches beyond individual artistic achievement. This is where the similarities between circus and literature have their origins. Literature like circus is a space of intuition and imagination, presenting mere signs as signs, detached from any point of reference. Art, artistry and literature thus share and offer the experience of simultaneity of a nonreferential, unbounded surplus of signs, and the awareness of (their own) limitations – the detachment from ›real‹ meaning. At the same time, they share a similar connection to reality. Against this background, Joachimsthaler explores circus as a »sign accelerator« in literature written by von Grimmelshausen, Goethe, von Holtei and Bobrowski, Grass and Libera. Philipp Schulte’s chapter »Send in the Clowns! Zur Attraktion einer Zirkusfigur in avantgardistischen Theaterformen« (»Send in the Clowns! On the Appeal of a Circus Protagonist in Avant-garde Theatre«) examines the career of the clown in 20th, century avant-garde theatre – with a particular focus on how they have been staged. His chapter asks: Which roles do clowns play in modern theatre history? Which aesthetic and poetic strategies are connected with their appearance on stage? What is the

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origin of the expectation of their function as border crossers between more affirmative entertainment theatre forms and subversive tendencies and performatives ways of acting? Schulte argues that Sergei Eisenstein, among others, focused on the clownʼs shocking and anarchic effect, triggered by his incoherence both on the level of action and narration; on the clown’s movement and motor skills, psychology and masquerade. According to the author, the effect of the clown emerges from his ambivalent position between familiarity and strangeness, which makes him so attractive for antinaturalistic representations (by Tadeusz Kantor or Robert Wilson, for example). In so-called Postdramatic Theatre and Forced Entertainment, Schulte discovers meta-clowns, who either refer only to themselves in the way of self-quotation, or play provocatively with expectations of the audience. The monodisciplinary performance Le fil sous la neige, created for seven tightrope artists in 2006 by Antoine Rigot, is the first chapter of a trilogy. Like the subsequent pieces of Les Colporteurs, Le fil sous la neige is inspired by literature or, more precisely, by Maxence Fermine’s novel Neige, which tells the story of a young haiku poet and his quest for art through snow-covered mountains. Even though the performance does not directly adapt the plot of the novel, its main meaning-generating procedure can be described as ›covert‹ or indirect intermediality, defined as the participation of (at least) two conventionally distinct media in the signification of an artefact. Only one of the media appears directly with its typical or conventional signifiers and hence may be called the dominant medium, while the other non-dominant medium is indirectly present ›within‹ the first medium. In Le fil sous la neige the natural language and poetry is not overtly present, but evoked by the circensic performance. Franziska Trapp’s chapter »Literary Circus: Towards the Adaptation of Novels in the Work of ›Les Colporteurs‹« focuses on the influence of literature on the performance Le fil sous la neige by asking: In which way is ›literature‹ present as an idea, and signified? Does the presence of the literary medium affect the signifiers of the dominant medium, the circus art? How does the tightrope walk imitate the quality of the literary medium? In what way does the performance refer not only to Neige as a specific work but also to the system of ›language‹ in general? It is tempting to identify in literary representations of the circus two, only occasionally overlapping categories: those in which the circus is treated as both backdrop and subject matter in primarily historical, romantic and/or social realist novels (the circus as a set of things), and those that explore the circus for its symbolic, allegorical or metaphoric potential in context of narratives that are often self-consciously literary (the circus as source of ideas). In her chapter »Contemporary Circus Literature: Authenticity and Illusion in Sara Gruen’s Water for Elephants and Erin Morgenstern’s The Night Circus« Helen Stoddart tests the ongoing validity of this distinction in the context of recent novels. Gruen’s novel is an historical romance that flashes back and forward within the first person narrative voice of an aged former circus vet and is painstaking in its inclusion of authentic period detail and circus vernacular. Morgenstern’s historical fantasy is rich in imaginative flourishes and literary references (from Shakespeare to Angela Carter) and deploys a number of tropes that work to make suggestive connections between circus performance, writing/representation and human presence/transcendence, through which the circus emerges as something at once allusive and illusive. Stoddart deploys theories of authenticity and literary realism to argue that Gruen’s novel, which goes to great lengths not only to be authentic

T HE C IRCUS

AS AN

A ESTHETIC M ODEL

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but to champion authenticity as a cultural value, also simultaneously opens up several fissures in its claim to both. Here, the circus exceeds the level of subject matter in the novel to the point where its aesthetic and cultural identity take on more complex – and, at times, problematic – representational and cultural force. By contrast, Morgenstern’s circus is self-consciously nebulous as it toys with constructing the circus as a poststructuralist allegory for writing itself, even while its literary allusions and structural parallels with the Romance draw it along a generically-conventional narrative arc towards heterosexual coupling. Thus, Stoddart argues, the articulation of circus in both novels resists or subverts in very different ways the aesthetic and generic categories outlined above in ways that are suggestive of the many tensions within circus performances themselves that may in different contexts (or even the same ones) be vividly present, authentic, bogus, stereotypical, subversive, dreamlike, conventional or beyond categorisation. It is equally indicative of the aesthetic challenges that circus, as a form of live art filled with anticipation and danger, has always issued to literature as a form of representational art.

I. Ästhetik des Zirkus/ Aesthetics of the Circus

Flights of Fancy Mannerist Aesthetics in Paul Auster’s Mr Vertigo and Contemporary Circus Contexts A NNA -S OPHIE J ÜRGENS

»If I haven’t taught you to fly by your thirteenth birthday, you can chop off my head with an axe.«1 This is a bold promise, but the head of Master Yehudi in Paul Auster’s 1994 novel Mr Vertigo was never at risk of being severed. Before he turned thirteen, his disciple Walt knew how to leave the ground (of facts) in order to turn somersaults and execute airy caprioles. Relentlessly trained and managed by his witty impresario Yehudi, Walt is not merely an aerial acrobat but a levitator: a performer who rises into the air, apparently defying gravity. He is a showman and the first-person narrator of his life story, the novel Mr Vertigo. Like the French tightrope walker Philippe Petit (who collaborated with Paul Auster on several occasions and toured with Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus in 1975), Walt performs »as if suspended magically in space«.2 The major difference is that, unlike Petit, Walt does not need a rope. There is a tendency, if not a consensus, to rank Mr Vertigo among contemporary chronicles of childhood and maturity, Bildungsromane, and/or parables of American history.3 This chapter argues for a re-evaluation of Auster’s text by reconsidering its relationship to circus and mannerism. As we will see, Walt’s world is imbued with references to fictional and non-fictional circus traditions. Through his aerial performances, Walt strives for supreme virtuosity and produces sensations of marvel and deception. He topples logic and common sense with the explicit objective to entertain. This is a fundamental quality of circus aesthetics and conjuring shows, and also, as this chapter seeks to clarify, a mannerist strategy. The definition of mannerism

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Auster, Paul: Mr Vertigo, London 1995, p. 3. In the following, literary works are quoted in the main text. Auster, Paul: »On the High Wire«, in: idem, The Art of Hunger, New York 1997, p. 251. See Peacock, James: Understanding Paul Auster, Columbia 2010, p. 116; Martin, Brendan: Paul Auster’s Postmodernity, London 2008, p. 24; Brown, Mark: Paul Auster, Manchester 2007, pp. 106-129; Backe, Hans-Joachim: »Der Text als Luftmensch: Mr. Vertigo«, in: Simone Kretschmer-Sauer/Christian A. Bachmann (Eds.), Paul Auster: Beiträge zu Werk und Poetik, Bochum 2012, pp. 33-53, p. 36.

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continues to be a subject of discussion among scholars of different fields; however, mannerism is generally notable for refined virtuoso qualities, intellectual sophistication and artificiality. For German literary scholar Rüdiger Zymner, mannerism is a transmedial aesthetic strategy – and thus also a narrative strategy – that combines (medium-specific) artistry, striving for expression (effect), and pursuit of impact on a recipient.4 In the case of Mr Vertigo, these three aspects, I argue, emerge at both the thematic and narrative level from a complex interplay of artful deception, virtuosity and hyperbolic circus aesthetics. This chapter, which maps literary mannerism in circus contexts, takes a close reading of Mr Vertigo as a starting point for reframing other circus fiction, in particular The Unusual Life of Tristan Smith, a 1994 novel by Peter Carey. Like Mr Vertigo, this and other contemporary novels feature circus-related performers who are the first-person narrators of their life stories and undertake their (narrative) performances for effect, artistry and with the definite goal to entertain their audience, including the reader. In fact, readers of these texts are explicitly invited to question the authenticity and credibility of the fictional life accounts they are presented with. By exploring the interface between narrative reliability, mannerism and circus aesthetics in contemporary fiction, this chapter unveils affinities between circus and fiction, asking exactly where non-fictional circus arts are reflected, where traditional circus dimensions end and fiction begins, and how much of the former is represented in the latter.

T HE ART

OF

(L) LYING

Imaginations of flying or floating humans exist in many cultures, in Christian tradition, in parapsychology and, of course, in show business. Levitation acts have a long history and a close relationship with circus arts and other genres of popular entertainment, such as magic lantern shows, living automatons, ventriloquism and harlequinades. They all oscillate between respectability and fraud, science and deception, ritualised exposé and aesthetic cover-ups.5 In levitation shows, the unbelievable and miraculous are created by performers drawing the attention and focus of their audiences away from the mechanics of the trick. The art of levitation is an art of leading audiences to the belief that they are witnessing something extraordinarily impossible.

4

5

Zymner, Rüdiger: »Manierismus als Artistik: Systematische Aspekte einer ästhetischen Kategorie«, in: Wolfgang Braungart (Ed.), Manier und Manierismus, Tübingen 2000, p. 10. See Cool in Bernhoft, Iian: »›Some Degenerate Entrepreneur Fleeing from a Medicine Show‹: Judge Holden in the Age of P.T. Barnum«, in: They Rode On: »Blood Meridian« and the Tragedy of the American West (Casebook Studies in Cormac McCarthy 2), edited by Rick Wallach, Miami 2013, pp. 65-81, p. 67. Cf. Steinmeyer, Jim: Hiding the Elephant: How Magicians Invented the Impossible and Learned to Disappear, New York 2004, p. 17 and Jürgens, Anna-Sophie/Williamson, Robert C.: »Engineering Circus Enchantment: Automagic Technology and Electrifying Performances in Fiction«, in: Anna-Sophie Jürgens (Ed.), Circus, Science and Technology: Dramatising Innovation, Cham 2020, pp. 159-183.

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Their awareness of being tricked does nothing to undermine their enjoyment of the spectacle; one visits a levitation show in order to be artfully deceived.6 Floating illusions became particularly popular during the first half of the 19th century. They began with the magician Ching Lau Lauro in the 1830s and climaxed in 1846 with Robert-Houdin performing outstanding acts together with his children: »Robert-Houdin’s younger son, Eugène, was seemingly put to sleep while standing on a stool on a trestle, supposedly under the influence of ether, a chemical which at that time was just entering popular consciousness as a miracle drug. Waving an open ether-bottle around his son’s head, Robert-Houdin claimed in his patter that this drug had the amazing property of making patients as light as a balloon. When Eugène fell into his slumber, his legs began to float into the air: his father slowly removed support after support from the child until, dramatically, he remained suspended horizontally.«7

This ingenious illusion illustrates that levitation incorporates both artful beguilement and the staging and mastering of bodies and/or individuals. Indeed, the transformation of his offspring into a »human balloon« provoked angry letters accusing Robert-Houdin of child abuse.8 This particular instance of levitation demonstrates a precarious relationship between father and son as the parent subjects his child to potential danger. Apparently, a number of Robert-Houdin’s most spectacular, popular acts were based on similar »annihilations« of his children,9 who also performed as purported automatons. An equally ambivalent father-son relationship – marked by dressage and ›mechanisation‹, levitation shows, and the Robert-Houdinian ›child abuse‹ – can be found in Paul Auster’s novel Mr Vertigo. Mr Vertigo is the story of Walt and his mentor Yehudi. In true magician’s fashion, the latter wears a tailcoat and silk top hat when the two first meet (3).Yehudi will eventually teach the boy how to levitate »[l]ike a god« (70), but first Walt has to undergo three years of painful exercises, in the course of which he is buried alive for twenty-four hours (»an experience I would not recommend to anyone«, 41). He is flogged and exposed to other »agonies that no living soul should have to endure« (37). As a result, the child becomes »Walt the Wonder Boy«, a world-famous aerial artist performing the art of levitation. According to trainer Yehudi, there is a difference between common floating, »a wonderful skill« à la Robert-Houdin, and the »art of levitation« that has been corrupted by imposters throughout history (68). Tricksters, charlatans and »the lamest, most tawdry magician on the vaudeville circuit« introduced forged floating to show business, to the detriment of »real« levitators (ibid.). »Everyone knew it was a fake«, Yehudi explains, »and the fakery was so widespread that even when confronted with an act of genuine levitation, audiences

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Jürgens, Anna-Sophie: Poetik des Zirkus: Die Ästhetik des Hyperbolischen im Roman, Heidelberg 2016, pp. 82-85. During, Simon: Modern Enchantments: The Culture Power of Secular Magic, Cambridge, Mass. 2002, p. 123f., see also p. 109. Ibid., p. 128. Ibid., p. 29.

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insisted on believing it was a sham« (ibid.). Although Yehudi and Walt are emphatic in underlining the uniqueness and authenticity of their show, the text of Mr Vertigo challenges this claim in its narration in many ways. As I hope to show, in Paul Auster’s novel, virtuosity, circus aesthetics and artful deception coalesce into mannerist strategies, which are common in circus fiction and, in this case, point to the dubiousness of both Walt’s performances and the entire narrative.

C IRCUS AND V IRTUOSITY : W ALT , THE AIR -P UPPET AND C IRCUS M ARIONETTE Lindbergh was an inspiration to me, I freely confess it, but I wanted to do him one better: to do with my body what he’d done with a machine [...].10

A wondrous world of dazzling illusions and crafty (dis)simulations, an authentic space of daring feats and extreme acts, a field of adventure and drama: the sandy arena that lives – and dies – by suspense, contrast and contradiction, and that we know as the circus, is all this and much more. In Mr Vertigo the circus is evoked when audiences at levitation shows and visitors of a nightclub are called clowns (111, 255); when Walt refers to himself as a »clever little clown« and »spastic clown» (36, 151); when Yehudi’s love life is introduced as »a real show, patty-cake, the follies and the circus all rolled into one« (79); and when a sportsman turns »a crummy ball club into a loosey-goosey hillbilly circus« (243). Additionally, Yehudi and Walt’s friend was a performer in her youth: »Her grandfather was Sitting Bull’s brother, and when she was young, she was the top bareback rider in Buffalo Bill’s Wild West Show« (21, 75).11 It is thus not surprising that Walt’s air stunts are called aerial acrobatics and include somersaults, twists and full gainers (168, 110, 131, 89). Walt performs »the way an aerialist advances along a high wire« (81), which is reminiscent of what Paul Auster wrote on high-wire walking, which is for him »not an art of death, but an art of life – and life lived to the very extreme of life« (251, 260). Auster’s quote aptly characterises acrobatic feats undertaken by circus performers that are incommensurate with common human ability (such as juggling a dozen remarkably unrelated objects on a high wire while wearing pointed shoes and turning somersaults). Through feats that do not permit manipulation or pretention, circus artists traditionally overcome pedestrian standards and embody a surplus of achievement and heightened physical detail or, in Auster’s words, »the very extreme of life«.

10 P. Auster: Mr Vertigo, p. 87. 11 Wild West Shows are »a practice derived from the circus« that addresses and undermines »racial stereotypes that have rendered ›the Indian‹ an exotic construct and commodity, and a metaphorical screen for the projection of Western fears and desires« (Schwalm, Tanja: Animal Writing: Magical Realism and the Posthuman Other, University of Canterbury 2009, http://ir.canterbury.ac.nz/handle/10092/4470, p. 17 [04.04.2015]). In this chapter, the word ›circus‹ serves as an umbrella term for the Big Top and circus sideshows (see A.-S. Jürgens: Poetik des Zirkus, pp. 53-59).

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However, the borders between the genuine extreme and the overemphasis of extreme effects, between aggrandisement and downplaying difficulty, are fluent. This is typified by clowns, who in spite of an excess of effort are barely able to master the easiest tasks (such as standing up or sitting down). Their doings often override the sense and purpose of the act(ion). The nobile spezzatura, on the other hand, the semblance of elegant ease, is traditionally personified by acrobats who, while performing the most life-threatening feats, smile cheerily as if nothing was happening. Featuring extravagant characters and providing daring, barely explicable and inimitable acts, circus is thus a world of extremes and of hyperboles – of overstepping the mark in terms of what appears probable and credible.12 The hyperbolic aesthetics of the circus iconically emerge from the rhetorical pyrotechnics of circus advertisements depicting the circus ring as a realm of increased aisthesis. Directly addressing its audience with its promotional material, for instance, the Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus used a climactic, hyperbolic language bursting with superlatives, hypertroph composita, intensive verbs, and luxuriant figurative expressions. It thus promised aerial artists – »whirling wonders« – flying »through the stratosphere with impeccable timing and gravitational grace«, who »[w]ith every revolution […] overwhelm you with death-defying dexterity, and you will question whether you live in the realm of reality – or are witnessing another unimaginable moment at The Greatest Show On Earth« – »an unforgettable experience that will be shared for generations«.13 As Gabriele Brandstetter points out, virtuosity is ostentatiously presented mastery, the brilliantly staged overcoming of challenging difficulties, often entailing erotic and demonic powers, and creating an overwhelming, mysterious impression. Audiences of virtuosic feats can barely believe what they are witnessing.14 In Mr Vertigo, Walt’s performances have exactly this effect: »all in all we knocked them dead. Six or seven women fainted, children screamed, grown men gasped in awe and disbelief. For thirty minutes I kept them spellbound, prancing and tumbling in mid-air, gliding my little body over the surface of a broad and sparkling lake, and then, at the end, pushing myself to a record height of four and a half feet before floating back to the ground and taking a bow. The applause was thunderous, ecstatic. They whooped and cried, they banged pots and pans, they tossed confetti into the air« (121).

Walt is a virtuoso of his body: he plays his body like Paganini his violin, thus bewitching, overwhelming and beguiling his audience.15 The mastering of the body as

12 For a more extensive discussion of hyperbolic circus aesthetics, see A.-S. Jürgens: Poetik des Zirkus, pp. 61-109 and Jürgens, Anna-Sophie: »The Joker, a Neo-modern Clown of Violence«, in: Journal of Graphic Novels and Comics 5.4 (2014): pp. 441-454. 13 Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus/The Greatest Show on Earth: Legends. Program booklet, without pages 2014 (in the following quoted in the main text as RBBB). 14 See Brandstetter, Gabriele: »Die Szene des Virtuosen: Zu einem Topos von Theatralität«, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne 10 (2002): pp. 213-243, p. 214. 15 See the audience’s reaction to Schumann’s Carnaval interpreted by Paganini (Gottschewski, Hermann: »Die Klaviervirtuosität und ihre Krise um 1840: Drei Innenansichten«, in:

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an instrument of heroic artistic deeds creates an aura of superhuman virtuosity around the central performer Walt, who not only creates but, to impress his audience, presents his artistry in a manner that separates it from the commonplace. In so doing, Walt embodies both the definition of virtuosity16 and an actualisation of the soullessly mechanical dimension traditionally associated with virtuoso performers, called the phantasm of the machine by Brandstetter.17 In fictional and non-fictional circus contexts, the idea of the artist as a virtuoso performing machine manifests itself as a trope and discourse: as the phantasm of the animated circus puppet or object. Walt’s development into a levitation virtuoso who ›knocks dead‹ his audience is part of this tradition. But what is the phantasm of the animated circus puppet? In circus contexts the demarcation line between organism and object is traditionally blurred by human and animal ›props‹ used in acts in which the human or animal body is represented as an effect of the artificial. This is exemplified by so-called ›Human Cannonballs‹, fired for instance from a cannon in Frank A. Robbins’ show in the late 19th century, and by trained animals performing with the precision of »a piece of machinery«.18 In 1956, Circus Frankello thus promoted what can be translated as »noble horse-material and cute little dwarf-horses«, and in 2014 Germany’s largest traditional circus, Circus Krone, boasted the rhinoceros Tsavo as belonging to the »animal inventory«.19 The legendary animal trainer Mabel Stark even recalls an act in which a pig was taught to jump into a huge sausage machine while another pulled out a string of pork sausages.20 Unsurprisingly, organic performer-›apparatuses‹, executing their tasks in a marionette-like fashion, also manifest in circus fiction, and not only in contemporary texts. They are prominent for example in one of the most popular circus novels of the 19th century, Les frères Zemganno by Edmond de Goncourt (1879). In this novel, the protagonist’s body is trained to function and perform routines like a machine, almost without the protagonist himself doing anything at all (»comme par la continuation d’une mécanique remontée pour quelque temps, et sans qu’il y eût en rien une participation de son individu«; 215). In another example, Frank Wedekind’s play Der Liebestrank (later renamed Fritz Schwigerling, premiered 1900), a princess is forced by her slaveholder ringmaster, evening after evening, to execute a mysterious »Paphlagonian diver jump« (»paphlagonischen Tauchersprung«; 101). Her life shows how in circus narratives performers become ›material‹: having broken all of her ribs in

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Hans-Georg von Arburg (Ed.), Virtuosität: Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006, p. 100). See G. Brandstetter: Die Szene des Virtuosen, p. 230f. Ibid., p. 230, p. 216. See Daniel, Noel/Jando, Dominique/Linda Granfield: The Circus: 1870s-1950s, Cologne 2010, p. 184f.; Court in Tait, Peta: Wild and Dangerous Performance: Animals, Emotions, Circus, Basingstoke 2012, p. 45, p. 189. Krug, Reinhard, and Gisela and Dietmar Winkler: Zirkus Plakate: Zirkusse in Mitteldeutschland in Spiegel ihrer Plakate von 1949 bis 1990, Norderstedt 2005, p. 92; Circus Krone: Celebration: Krone bleibt Krone. Programme booklet, without pages, 2014 (transl. ASJ). Stark, Mabel/Orr, Gertrude: Hold That Tiger, Caldwell 1938, p. 216.

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Barnum’s trapeze acts, she is dropped from the show and involuntarily turns to work as a belly dancer. Dehumanised, mechanised fictional circus artists can also be found in Carl Zuckmayer’s play Katharina Knie (1928), in which circus acrobats run as shot from a pistol, almost mechanically, with the precision of electrical stringpuppets.21 In the novel La dame du cirque by Guy des Cars (1962) and the play Die Macht der Gewohnheit (»The Force of Habit«) by Thomas Bernhard (1974), male impresarios shape not only the bodies but also the life of their performers by means of dressage for the sake of perfect, virtuoso circus art.22 Paul Auster’s Mr Vertigo is reminiscent of this tradition with Walt depending marionette-like on his trainer, the string-puller Yehudi. Thus, when Master Yehudi meets Walt for the first time, he immediately informs the boy that he is just a »piece of human nothingness« (3) with »sawdust for brains« (4), but he recognises all the same an extremely rare talent for levitation that is worth dragging into the spotlight. Soon, Walt realises: »He’d turned me into a puppet, and the more I struggled to defeat him, the tighter he pulled the strings.« (27) These strings are remarkably elastic, because wherever Walt runs, his master and trainer already awaits him. In Yehudi’s words, »Wherever you turn, that’s where I’m going to be. However far you run, I’ll always be waiting for you at the other end. Master Yehudi is everywhere, Walt, and it isn’t possible to escape him.« (30f.) Guided by »the bastard« inside his head, who sucks »out the juices of [his] brain« (26), Walt enters the stage of higher education, commencing what Yehudi euphemistically refers to as the »fun« part (37), consisting of thirty-three training units culminating in levitation. In the course of this programme, Walt is flogged, buried alive, lowered into a barrel full of vinegar (several times, for six hours at each dousing), exposed to heat and flames inside a circle of fire for one whole night, and thrown from a galloping horse. Other exercises require him to be struck by lightning, and to chop off a joint of one of his fingers (42f.). Walt summarises the dramaturgy of these workouts appropriately: »Each test was more terrible than the one before it« (42). However, Walt follows the instructions of his marionette-charmer blindly and mechanically: »He told me to jump, and I jumped. He told me to stop breathing, and I stopped breathing« (42). Walt’s body is configured, made up, transformed and dressed through this hyperbolic training, and it becomes the product of an ultimate goal: the execution of grand virtuosity within a spectacular act – which is the aim of any circus body.23 In Walt’s case, this leads to supreme virtuosity. Promising more »spiritual uplift to thousands of suffering souls« (124), he starts improvising while performing. In so doing, he develops his trademark – the virtuosic play with invisible props: the »rope-ladder routine, the slide routine, the seesaw routine, the high-wire routine, the countless innovations I was heralded for« (131). Thanks to these »count-

21 »wie aus der Pistole geschossen, fast mechanisch, mit der Präzision elektrischer Gliederpuppen« (Zuckmayer, Carl: Katharina Knie, Frankfurt a.M. 1962, p. 37.) 22 See Jürgens, Anna-Sophie: »Pygmalion im Zirkus: Zum Virtuos-Statuenhaften & Guy de Cars La Dame du Cirque«, in: Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (2012): pp. 137-150. 23 Fagot, Sylvain: Le Cirque: Entre culture du corps et culture du risque, Paris 2010, p. 26f., p. 34.

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less inventions«, Walt’s aerial work transforms into ingenious art, art for the sake of artistry. Walt becomes an »aerial artist«, who believes himself to be a »true creator who performed as much for his own sake as for the sake of others« (131). Walt’s fame culminates as he is celebrated as an abduction victim, a hero, and »mighty-mite of spunk and derring-do, and beyond just being pitied, [he] was loved.« (163) At the zenith of his career, Walt observes: »I wasn’t just a robot anymore, a wind-up baboon who did the same set of tricks for every show« (131), and concludes: »I was the hottest child star since David loaded up his slingshot and let ’er rip.« (173) Walt’s slingshot, alas, turns out to be a boomerang. Just as he is about to become one of the immortals of history, puberty-induced headaches, »life-threatening toaster burns« (234), cause Walt-Look-in-the-Air to land on the ground of hard facts. Strongly resembling the protagonists of other circus texts focusing on the puppetisation and mechanisation of circus performers,24 Walt has to give up on his high-flown ambitions when faced with the unreliability of his body: altitude-dependent pain, a »high-voltage trauma« (234, 192), heralds the end of his career. Nevertheless, even in his post-performance, down-to-earth life, Walt remains under the spell of Yehudi: »Without the master I was no one, and I wasn’t going anywhere« (229), because Yehudi had made him »in his own image« (53) and Walt cannot cut the strings. Towards the end of the novel, Walt, the self-declared ex-»flying machine« (196), assumes Yehudi’s role by identifying a novice levitator, ending Mr Vertigo – the novel he finally ›writes‹ – with the dynamics of a spiral: »Watching Yusef, I now know what the master saw in me, and I know what he meant when he told me I had the gift. This boy has the gift, too. […] In three years, I’d turn him into the next Wonder Boy. He’d start where I left off, and before long he’d go farther than anyone else has ever gone.« (277) Thus, like Yehudi, Walt develops into a Pygmalion-like impresario sculpting his Galatea from empty matter. Ultimately, the master’s marionette is master of a marionette. Paradoxically, and in sharp contrast to the abovementioned circus texts, Walt feels greatest self-fulfilment as his Master’s flying marionette – in a state generally considered as determination. Like Tristan Smith in Peter Carey’s novel The Unusual Life of Tristan Smith, who experiences the best moments and highest impact of his life inside the carapace of a holy circus cyborg, a hollowed circus-puppet (see below), Walt enjoys ›airiness‹, lightness and elevated agility under the sway of Yehudi’s influence (63), although his proportions cannot be called harmonious. Noble proportions, agility and ease form the qualities of an ideal marionette according to German poet and dramatist Heinrich von Kleist. The ideal marionette is gracious, and grace is defined by the suspension of gravity. Thus, while performing virtuoso »antigravitational feats« (70), touching his audience »with [his] grace« (168), Walt acts graciously. He further embodies Kleist’s concept of achieving marionette-like aes-

24 This includes Auf der Galerie (Up in the Gallery; 1919) by Franz Kafka; Haxby’s Circus by Katharine Susannah Prichard (1930); La dame du cirque by Guy des Cars (1962) and Die Macht der Gewohnheit by Thomas Bernhard (1974) (see A.-S. Jürgens: Poetik des Zirkus, pp. 188-202).

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thetic perfection by overcoming self-awareness:25 while performing his most virtuoso feats, Walt’s soul rushes out of his body. He is »no longer conscious« of who he is (277). He feels evaporated and soon ceases being himself (278). In this empty and explicitly marionette-like state, he rises above himself and experiences the highest personal freedom (137). However, as with Kleist’s ironical opposition of romantic and classical conceptions of aesthetics, the art of levitation in Mr Vertigo is potentially founded on deception and financial reward – it requires a commercialised context and a circus-like frame including audiences, stage and costume. It is by means of his performances that Walt pursues the overarching goal of profit. This is why he stops running away from Yehudi: »because he’d promised to turn me into a millionaire« (8f.). Does the Kleistian marionette become a satirical instrument, a means to reveal the artificiality, superlative ambitions, if not hubris, of the show world and its protagonists? Certainly, in Walt’s craving for overcoming humanity and human consciousness (to be superhuman), his craving for recognition and his desire for the transcendent, the miracle and the deceit are as inseparable from one another as his uniquely virtuoso aerial feats are from staged tricks. While on tour, he performs amid a motley assortment of »[c]omics, jugglers, falsetto singers, birdcallers, midget jazz bands, dancing monkeys« (182). Although he despises their work (»loopy stuff«, ibid.) and regards them as charlatans, it is apparent to the reader that he may be one of them. 26 In sum, Walt is the nerve-centre in a pulsating network of identifications and confrontations of virtuosity and circus aesthetics, of popular entertainment constituted by levitation artists, and of the concept of the marionette. He is positioned in between contrasting notions of the unusual and prosaic, of authenticity, originality and potential deception. The reader’s suspicion that Walt’s virtuoso levitation art actually oscillates between veracity and duplicity is further strengthened by Yehudi’s role and strategies as impresario, which are strongly reminiscent of those perfected by P.T. Barnum, and literally embodied by Walt at the end of the novel when he slips into Yehudi’s role.

25 See Kleist, Heinrich von: »Über das Marionettentheater«, in: Helmut Sembdner (Ed.), Sämtliche Werke und Briefe, Munich 2008, 341f.; and Walt in Mr Vertigo: »Something had shifted inside my soul, and I understood that this was who I was now: not Walter Rawley, the kid who turned into Walt the Wonder Boy for one hour a day, but Walt the Wonder Boy through and through, a person who did not exist except when he was in the air. The ground was an illusion, a no-man’s land mined with traps and shadows, and everything that happened down there was false. Only the air was real now, and for twenty-three hours a day I lived as a stranger to myself« (137). No wonder, Yehudi taught him »how to cry at will, and then he taught [him] how to laugh and cry at the same time« (49; see also H. Kleist: Über das Marionettentheater, p. 340, p. 341). 26 See also H.J. Backe: Der Text als Luftmensch, p. 34.

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T HE S TAGING OF AMBIVALENCE IN M R V ERTIGO : Y EHUDI , W ALT ’ S B ARNUMESQUE I MPRESARIO The »most daring manager that ever lived« P.T. Barnum is remembered for promoting celebrated hoaxes and for founding The Greatest Show on Earth (1872),27 which was to become the largest circus in history. Itself an amalgam of museum, menagerie, sideshow, human zoo and circus, Barnum’s superlative, kaleidoscopic travelling show-empire presented automatons, wax figures, mummies and ›savage tribes‹ including ›cannibals‹.28 Barnum also managed the majority of the most emblematic show attractions of his day such as the performer General Tom Thumb and Jenny Lind, the Swedish Nightingale, one of the most highly regarded singers of the 19th century, who triggered international »Lindomania«. Over the years, starting during his lifetime and continuing after his death, deception, hoaxing and humbugging have become words commonly associated with Barnum. For instance, in 1848 Barnum hired the Fox sisters for his American Museum (a precursor of The Greatest Show on Earth). They enjoyed immense success as mediums, communicating with spirits using knocking sounds (»rappings«). They played a crucial role in the explosion of Spiritualism in the late 19th century – until they confessed that their rappings had been a hoax.29 Another paragon of Barnum’s hoaxes, carefully staged as ›real‹, taking on the form of a »living curiosity«, is Joyce Heth, first exhibited as the 161-year-old nanny of George Washington, and later as an automaton made up of whalebone, India-rubber and springs ingeniously put together.30 By merging contemporary notions of realism31 with illusionism in his popular exhibits, and thus shaking up and challenging both aesthetic categories, Barnum transformed artful deception and the pleasure of doubt into (show) business. His art of deception, as James Cook terms it, epitomises the audience’s rejection of the need to choose between illusionism and realism. Many of these aspects and strategies are apparent in Mr Vertigo, especially in the character of Yehudi. Like Barnum, he masterfully explores the power of undecidability, digging into his audiences’ love of experiencing – and paying for – the sensation of wonder and deception.32 By bringing into existence, by managing, promoting and announcing Walt’s virtuoso levitation art, Yehudi Barnumesquely establishes the staging of ambivalence. He advocates definitional challenges through Walt’s art that upset the distinctions between fraud and authenticity, thus challenging the audience. An example is the audience’s reaction to Walt’s air show: »One guy would say it was a fake, the other guy would say maybe it wasn’t, and pretty soon they’d be so pissed

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Saxon, A.H.: P.T. Barnum: The Legend and the Man, New York 1989, p. 241, p. 1. Ibid., p. 308, p. 107. See S. During: Modern Enchantments, p. 153f. Cook, James W.: The Arts of Deception: Playing with Fraud in the Age of Barnum, Cambridge 2001, p. 8. 31 Ibid., p. 121, See also p. 120. 32 Ibid., p. 19, p. 28, p. 78.

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off at each other they’d stop talking.« (234) 33 It does not come as a surprise that Walt is furiously interrogated by an observer about »the damnedest trick« he ever saw – »What’s the gimmick, Walt?« he is asked, »How in the hell do you get yourself off the ground like that?« (148) Thanks to their provocative potential, orchestrated by Barnumesque Yehudi, Walt’s performances not merely trigger infuriated questions, but also Waltomania, »an outbreak of mass hysterics«, with »nine hundred people shouting and jumping« (178), which causes him to prepare a tour of indoor arenas and football stadiums (including Madison Square Garden) with no crowd smaller than fifteen thousand (183). Walt’s performances are tremendously successful because they »contradicted science, overturned logic and common sense, made mincemeat of a hundred theories, and rather than change the rules to accommodate [his] act, the big shots and professors decided [he] was cheating.« (177) In the realm of fiction, this is exactly the kind of public impact and outcry – and aim – of P.T. Barnum’s sensational performing exhibits. In addition, like Barnum, Yehudi knows how to make use of the press by offering opportunities to discuss the issue of falsity. When reporters press him to make a comment, Yehudi’s answer is always the same: »Come to the theater and judge for yourself.« (177) This is strongly reminiscent of Barnum, who is alleged to have declared: »When doctors disagree […] then it was up to ordinary men to decide for themselves.«34 Barnum cunningly understood that the discovery and promotion of how deception had been practiced were as electrifying as the discovery of fraud itself, if not more so. Cleverly promoted by his impresario, Walt in Mr Vertigo targets and challenges the voyeuristic inquisitiveness of his audience with his virtuoso aerial performance art, aiming at provoking their astonishment and doubt. In fact, all along it is the audience who acts as a motivator and a catalyst for his greatest innovations. As Walt explains, »without the eyes of the crowd to spur me on, I doubt that I would have mustered the courage to try half the things I did« (129). Likewise, it is important for Walt that his entourage – his private »audience« as he calls Yehudi’s friends – perceives him as »a clever little clown«, enjoys his jokes and »rambunctious patter« (36, 35). Walt thus demonstrates the desire to perform for an audience, ostentatiously exhibiting himself as principal curiosity, and in so doing acts in a mannerist fashion.

33 Almost a topos, ambivalent or inconclusive reactions of the audience appear in many circus novels. For instance in the 1933 novel The Circus of Dr. Lao by Charles G. Finney, in which members of a circus audience speculate about a freak-performer being »a wild man from Borneo«, a snake, a Russian, »something what looked like a dog kind«, or a bear (22). This phenomenon has prominent forebears in cultural circus history. Examples include popular exhibitions and shows created by P.T. Barnum, as Andrea Stulman Dennett carves out in: Weird and Wonderful: The Dime Museum in America, New York 1997, p. 28. 34 Harris, Neil: Humbug: The Art of P.T. Barnum, Boston 1973, p. 77.

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M ANNERIST S TRATEGIES IN M R V ERTIGO : A T RAPDOOR TOWARDS THE U NLIKELY I’m a fucking legend. The problem is, nobody believes it anymore. (234)

The term mannerism is traditionally applied to a style in European art emerging in the early 16th century that exaggerates such qualities as proportion, balance and ideal beauty by celebrating tension, instability and asymmetry. According to literary scholar Rüdiger Zymner, it can also be used to describe a transhistorical and transdisciplinary strategy that he detects in different arts (e.g., in architecture, sculpture and fiction) and on several intermediate levels (e.g., compositionally). 35 Zymner differentiates between a systematically constructed concept of mannerism and its historical realisations. No matter where, mannerist strategies highlight the artificiality of the respective art – art as artifice. This is why in fiction they act as complements to phenomena such as aestheticism, Brecht’s Verfremdungseffekt and concrete poetry.36 Mannerist strategies appear on the semantic and formal level, and Zymner comprehensively discusses the latter by analysing literary works by Johann Fischerart, Jean Paul and Arno Schmidt. On the semantic level, mannerism manifests, for instance, in extremely refined, overblown or grotesque content, excess in detail, extreme expansion of narrated time, or labyrinthine, decentralised plot constructions. Although he is well aware of much more traditional approaches to this phenomenon, Zymner defines mannerism as a relational entity with many faces and a very specific purpose (»Funktion«), which is to demonstratively present artistry on the level of meaning and/or expression, on the one hand, and to challenge the recipient’s reaction to this artistry, on the other.37 Artistic excellence in the form of virtuosity, and hyperbolic circus aesthetics that overstep the credible, can be called mannerist in a Zymnerian sense, as they strive for expression (effect) and the production of wonderment and surprise in the spectator (impact on a recipient). These phenomena coalesce in Mr Vertigo at the thematic and narrative levels in Walt’s ›artistry‹, which is based upon a set of distinctive techniques: outperforming, (dis)simulation and the exhibition of techne (›craftsmanship‹).38 Zymner’s approach to mannerism in literature is a useful vehicle to better understand how Walt’s virtuosity and hyperbolic circus aesthetics, which are programmatic in transgressing conventions and in deregulating the aptum in favour of strong vividness,39 transcend the credibility of the presented skills – and of the presented narrative.

35 See Zymner, Rüdiger: Manierismus: Zur poetischen Artistik bei Johann Fischerart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn 1995, p. 10, p. 80, p. 63ff., p. 67. 36 R. Zymner: Manierismus als Artistik, p. 70. 37 Ibid., p. 60, p. 10, p. 72. In fiction, this purpose relates to modes of writing (»Schreibweise«); in other media, it relates to their respective modes of expression: in painting to modes of painting, etc. (»Malweise«, ibid.). 38 Ibid. 39 Ueding, Gert: Historisches Wörterbuch der Rhetorik IV, Tübingen 1998, p. 115.

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Walt’s Artistry as Theme As a superlative body virtuoso, Walt outperforms all other (levitation) acrobats in his circus-imbued world. He surpasses the expectations of his audiences. At the beginning of his signature performance, for instance, he simulates »a know-nothing, a boob with a stick up [his] ass and pudding for brains« who bumps into invisible objects, encounters one obstacle after another, trips over, bangs against a wall, and falls flat on his face – a clown (166-67). But just when the audience is beginning to get puzzled about that clownesque »picture of human incompetence« (166), he pulls his first aerial stunt, and thus starts sharing »the mystery of [his] godlike powers« (168). He performs all kinds of extraordinary »dramatic flourishes« (170), including an extremely demanding jump whose difficulty he plays down (169-70). Thanks to Yehudi’s explanations, Walt knows the standards of traditional levitation acts (see RobertHoudin’s performance above) and goes beyond them. While leaving the stage and walking in the air right above the heads of his audiences (166-168) he unveils how his show is apparently done: without any hidden ropes or tricks. Walt’s ›trick‹ reminds us of what Neil Harris calls P.T. Barnum’s »operational aesthetics«. Like the notorious impresario Barnum, Walt and Yehudi understand »that the opportunity to debate the issue of falsity«, to let the audience ›discover‹ how deception may be practiced, is »even more exciting than the discovery of fraud itself.«40 In Walt’s case the result is the outbreak of the abovementioned mass hysteria. A Showman after all – Walt’s Narrative Artistry Outperforming and the exhibition of techne are expressions of virtuosity and hyperbolic circus aesthetics alike, and they are integral to the narration of Mr Vertigo. As pointed out above, everything the novel’s protagonist does flows directly from his string-puller impresario, who »had made [him] in his own image« (53). Walt is not only Yehudi’s marionette for life, but acts as a mentor of a junior levitator himself. He even lives together with his master’s former girlfriend, taking over Yehudi’s role in various ways. Against this background, it is significant that at the end of the novel Walt affirms that Yehudi »was a wizard« who got him »to believe in his hocus-pocus and high-flown talk« (278). As Walt, the narrator, turns out to be (like) Yehudi, an expert in artful deceptions, could it be the case that his whole life-story, and therefore the book Mr Vertigo itself, is the »hocus-pocus and high-flown talk« of a wizard? Walt does not merely present his art and himself, but also his writing, as genuine curiosities: »Every word in these thirteen books is true, but I’d bet both my elbows there aren’t a hell of a lot of people who’d swallow that. It’s not that I’m afraid of being called a liar, but I’m too old now to waste my time defending myself against idiots.« (275) Any autobiographical narrator who insists on his writing being honest and authentic draws suspicion to himself,41 which is reinforced by Walt assuring us,

40 N. Harris: Humbug, p. 77. 41 Kratochwill, Kerstin: Elias Canetti: Experte der Lüge. »Erinnerung«, »Verwandlung« und »Kitsch« als komplementäre Prinzipien der Lüge in den autobiografischen Schriften und dem Nachlass, Würzburg 2005, p. 45.

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after highlighting the extraordinarily uniqueness of his art on hundreds of pages, that everybody is able to fly if only she or he tries hard enough (278). Thus, the prospect of narrative reliability, especially at the end of the novel, calls for scepticism. It is completely at odds with Mark Brown’s comment that a story such as Mr Vertigo, which looks back on and records events from the end of a life, typically gives the narrative »a particular quality of authenticity«.42 Instead, doubt is reinforced by Walt, who explicitly discloses to the reader his affection for hyperbole while recounting to some journalists the adventures of his kidnapping: »I suppose the bare facts would have done just as well, but I couldn’t resist the urge to exaggerate.« (154) Why would he act differently in respect to his life story? Walt is a performer, an entertainer, and consequently admits: »after a while I grew giddy from the way those reporters looked at me, hanging on my every word. I was a showman, after all, and blessed with an audience like that one, I didn’t have the heart to let them down« (ibid.). Walt’s sharp tongue tickles his audiences; his »sass and pluck« buoy their spirits and provide »some comic relief« (36). Thus, Walt is not merely a virtuosic levitatoracrobat with an urge to show off and exaggerate, wound up by his audience, deliberately cultivating ambivalence and disbelief. He also tells his life story in a similar manner, in a mannerist fashion, drawing attention to the fact that the manipulation of a (potential) prank is interesting as a technique in its own right.43

F ACETS OF N ARRATIVE M ANNERISM C IRCUS C ONTEXTS

IN OTHER

F ICTIONAL

Remarkably, Mr Vertigo is not the only novel spinning mannerist circus yarn. A congenial literary protagonist is the eponymous hero in Peter Carey’s abovementioned 1994 dystopic circus novel The Unusual Life of Tristan Smith, who, likewise, is a performer in a multilayered circus-imbued world. Tristan Smith not only refers to non-fictional circus history, avant-garde concepts of puppetry and circus aesthetics in relation to virtuosity, but by referring to technically advanced and science-fiction-like ›prostheses‹, it offers an actualisation and reconfiguration of modern notions of the function of the human form in circus and theatre. 44 Carey’s novel presents the first-person narrator’s life story and also, like Mr Vertigo, a kind of performance: »I have no choice but to juggle and tap-dance before you«, confesses the narrator, »begging you please sit in your seats« (6). Due to questionable details about his country’s circus tradition provided by the protagonist, the show ›Tristan Smith‹ frequently calls itself in question. Tristan grows up on an island with a distinctive circus culture, but in a passage in which he introduces an anteced-

42 M.R. Brown: Miss La La’s Teeth, p. 106. 43 Ibid., p. 77. 44 See also Jürgens, Anna-Sophie: »Costumes of Belonging: ›Fitting in‹ Circus Fabrics in the Novels The Unusual Life of Tristan Smith by Peter Carey and The Pilo Family Circus by Will Elliott, and the Costume-cum-body Art of Leigh Bowery«, in: D. Bissell/M. Bruce/H. Keane/A. Tsalapatanis (Eds.), Social Beings, Future Belongings: Reimagining the Social, London 2019, pp. 98-104.

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ent of his mother’s circus-theatre, the legendary Ducrow Circus School, a footnote states: »There is good reason to doubt this.« (6f.) The circus past of one of Tristan’s three fathers also turns out to be a lie: »Wally claimed to have been raised in a touring circus and to have spent his early years as a ›Human Ball‹ being thrown in an act from mother to father«, but actually never performed at all (13, 44). Fabrication litters the text: Tristan’s other father, Vincent, »felt he had invented« him (32), and Tristan’s mother even has »a whole damn country to invent« (53). Space does not allow exploring all the parallels between Tristan and Mr Vertigo; such a task would need a much more extensive study. Instead, I will focus on mannerist facets within the intersections of circus, marionette discourse and virtuosity, which offer us a particularly powerful example of the circus-related dialectics of being and seeming ›mechanised‹ and its role for personal fulfilment. Mirroring the narrative of popular freak show pamphlets, Carey’s novel suggests that the protagonist’s twisted physiology – he is severely disabled, a 106cm »parcel of bad dreams« (43) – was triggered by a shock his pregnant mother suffered facing the tent of a Sirkus, a high-tech propaganda circus by means of which the neighbouring island tries to colonise Tristan’s country. Incognito and undercover, Tristan later travels through that island wearing the hull of a gutted Sirkus-mouse cyborg. Painfully squeezed into the husk of that Sirkus-idol, Tristan – the Trojan rodent – is changed into a prosthetic celebrity, a posthuman super-abled freak who, for the first time in his life, is coveted and (thus) becomes a virtuosic performer presenting »the cartwheels, the tumbling, the juggling with tennis balls or apples«; he »could do things no doctor could ever have predicted« (344, 359). The impact of his performance on his audience is reminiscent of Walt’s: »They stretched their hands out towards the Mouse as if it would bless them with Sirkus jobs, parkside apartments, topsoil ten feet thick, and the Mouse […] struck poses, rolled, tumbled, held its hand across its mouth in a giggle. […] They picked me up and held me in the air making a collective noise, a sort of sighing. They were devotees, worshippers. They wanted to eat Bruder Mouse, to fuck him, smother him.« (317)

This cyborg-mouse draws on the tradition of the fraudulent automaton, the »smaller than life-size automated man« popular in circus contexts (cf. Barnum’s Joyce Heth above).45 However, virtuosically performing inside a self-animated engine-like imitation animal, Tristan also evokes the cultural discourse around the marionette, and one of its expressions in particular: the circus-related Über-marionette. Über-marionettes are, according to avant-garde theatre creator Gordon Craig, the epitome of theatricality because they encapsulate the metaphysical aspect of humans: »the descendants of a great and noble family of Images, images which were indeed made ›in the likeness of God‹«.46 By means of the greatest possible artificiality, through virtuoso »gesture,

45 A.S. Dennett: Weird and Wonderful, p. 113. 46 Gordon, Craig Edward: On the Art of the Theatre, London 1968, p. 40. As an Übermarionette, Tristan Smith embodies modernity’s »[…] attempts to puppetize the human form« (Taxidou, Olga: »Actor or Puppet: The Body in the Theatres of the Avant-Garde«, in: Dietrich Scheunemann (Ed.), Avant-Garde/Neo-Avant-Garde, Amsterdam/New York

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costume, and staging«,47 Tristan becomes such a godlike puppet – but only apparently. Thus, after one week of spontaneous private ecstasy with the plastic Sirkus relic, Tristan’s lover states: »You see the stitching on his suit. Hooray. I see it too.« (407) Her knowledge of the protagonist’s open deception does nothing to dissuade her from the relationship. As with Poe’s purloined letter, the concealment lies in plain sight – the obvious is overlooked: the deception is suppressed by the obvious, and the concealed becomes obvious via deception.48 As a performer and narrator, Tristan strives for effect and impact on his audiences, provokes considerations of the issue of falsehood, and the pleasure of suspicion and disbelief. As an amalgam of several categories of the circus archetype (circus acrobat, clown, freak performer) and marionette, Tristan is a blend of aesthetic traditions – if not an ironic hybridisation of traditionally opposed discourses – and an indication of the impossibility of one isolated and fixed aesthetic and identity. As acrobatic entertainers and performers who make use of tricks and deception, Tristan and Walt embody the two meanings of the word »juggler«. 49 This also applies to Herbert Badgery, the protagonist in Illywhacker, another novel by Peter Carey depicting a circus-suffused world. Herbert lets the reader of ›his‹ life-story know: »I am a terrible liar and I have always been a liar […] my advice is to not waste your time with your red pen, to try to pull apart the strands of lies and truth, but to relax and enjoy the show.« (3) Being not only a liar, but also a performer of circus-like (clown) tricks, he says about himself: »Yes, […] the entertaining arts have always attracted me.« (240) Illywhacker provides manifold forms of circus-related artful deception and pseudology, of thematic and narrative trickery, improbability and paradoxical untruthfulness.50 Despite their respective peculiarities, Mr Vertigo, Tristan Smith and Illywhacker all give rise to reasonable doubts about their protagonists’ credibility as performers and narrators, and consequently uncover the »ontological dubiousness of the entire narrative[s]«.51 In these texts, like in Anthony Burgess 1971 novel MF,

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2005, p. 232). For an extensive discussion of the circus/Sirkus in Tristan Smith and the protagonist’s relation to avant-garde concepts of puppetry, see A.-S. Jürgens: Poetik des Zirkus, pp. 275-316. Adams, Rachel: Sideshow U.S.A: Freaks and the American Cultural Imagination, Chicago 2001, p. 5. Hansen-Löve, Aage A.: »Eine Ästhetik der ›Kalyptik‹: Apollinische Motive bei Vladimir Nabokov«, in: Susi K. Frank (Ed.), Gedächtnis und Phantasma: Festschrift für Renate Lachmann, Munich 2001, pp. 524-555, p. 525. See the definition of »juggler«: »1a: one skilled in keeping several objects in motion in the air at the same time by alternately tossing and catching them / b: one who performs tricks or acts of magic or deftness / 2: one who manipulates especially in order to achieve a desired end.« (Merriam Webster’s online dictionary: www.merriam-webster.com/dictionary/ clown [24.07.19]). For a detailed discussion of circus elements in Illywhacker, see A.-S. Jürgens: Poetik des Zirkus, pp. 317-344. Todd, Richard: »Narrative Trickery and Performative Historiography: Fictional Representation of National Identity in Graham Swift, Peter Carey, and Mordecai Richler«, in: Lois

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Angela Carter’s 1985 novel Nights at the Circus and Will Elliott’s 2006 novel The Pilo Family Circus, circus manifests itself both as a set of forceps dragging deceptive realities into the light and as the imaginative space of multifaceted ambivalent creations. What kind of cultural work do these (narrative) mannerist facets in Mr Vertigo, and other circus texts of its ilk, actually do? In her analysis of body identities and cultural ideas that have been linked to, or emerged from, aerial performances for over 100 years, Peta Tait coined the term of the »chimeric circus body«. Chimeric circus bodies emerged with the new circus in the last decades of the 20th century, with shows that took »artistic inspiration from a cultural idea of circus as identity transgression and grotesque abjection, most apparent in literature and cinema«52. Exaggerating features of traditional circus, its interpretation in different, interrelated media, amalgamated with (parodistic) versions of freakery and outcastness – which historically have barely been explored in the circus arena itself but rather in circus sideshows and other related venues – these shows created imagined representations of circus. Socially a misfit and outcast, Walt represensts such a chimeric 20th-century circus-body-machine in fiction,53 a somatic hyperbole, whose fantastic aerial feats highlight the impossibility of corporeal integrity. Auster’s flying celebrity junkie is a parody of over 150 years of aerial performance history, which is not merely one of imitating and outperforming the physical actions of other aerialists, but also one of pushing beyond the established limits of aerial athleticism.54 Walt’s art belongs in a category of mannerist artistic practice that appropriates and generates identity through the (mechanical) mastery of the performing body, which in Mr Vertigo is both parodied and reinvented by the protagonist’s alternative, chimeric physicality. Mr Vertigo presents a protagonist who is a combination of two circus archetypes, the aerial acrobat and magician, in a fictional world full of circus references but without the Big Top as the setting. Mr Vertigo thus embodies in literature what Matthias Christen recognises as characteristic for late-20th-century circus movies: the melting away of single circus elements (such as clearly distinguishable circus archetypes, specific performance routines, etc.) from the non-fictional institutional circus context into other narratives. Even without this context, circus elements evoke the circus world and extend the dimensions of circus meaning and conception (not infrequently into the metaphorical). Circus thus loses historical precision but gains in effect and meaning. Christen calls this phenomenon the »dissolution of the circus arena«, and points out film productions like the X-Men series as circus films with an upto-date surface.55 Contemporary circus films dissolving tradition transport the transmedial chameleonism of the circus into the 21st century: such is the power of its

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Parkinson Zamora/Wendy B. Faris (Eds.), Magical Realism: Theory, History, Community, Durham 1995, pp. 305-328, p. 312. Tait, Peta: Circus Bodies: Cultural Identity in Aerial Performance, London 2005, p. 123. Ibid, p. 140. Ibid, p. 147. Christen, Matthias: Der Zirkusfilm: Exotismus, Konformität, Transgression, Marburg 2010, p. 91, p. 121, p. 265.

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adaptability and artistic transformation. This also applies to the novels Mr Vertigo and Tristan Smith. In fiction of the last few decades, the circus imaginary seems to serve as a reservoir for circus-related pseudology. It finds its strongest expression in inventions and creations: in the narrator’s staging of the entire narrative as a show, in (dis)simulations and in mannerist self-inventions. This narrative strategy seems adequate to the circus itself, which after all is a cultural phenomenon in which »duping [is] a central part«, and »consequently audiences were always vulnerable as they unwittingly became part of the ›show‹«. 56 The discussion of Mr Vertigo and other circus novels highlights that in literary circus worlds ›realism‹ may be understood as thoroughly flexible, provisional and uncertain. This is why telling – or, in the words of literary scholar Wolfgang Iser, »fictionalising« – one’s circus-life-story may be a bold »act of overstepping«, illustrating how »the lie oversteps the truth, and the literary work oversteps the real world which it incorporates«.57 In this way, the circus and its mannerist aesthetics give rise to fictional contexts which, with inexorable impetus and existential gravity, promise us that »anything is possible at The Greatest Show On Earth!« (RBBB)

56 Davis. Janet M.: The Circus Age: Culture and Society under the American Big Top, Chapel Hil 2002, p. 27. 57 Iser, Wolfgang: »Fictionalizing: The Anthropological Dimension of Literary Fictions«, in: New Literary History 21.4 (1990): pp. 939-955, p. 939.

Zwischen schönem Schein und asemiotischer Kunst Zirkus als ästhetisches Modell J ÖRG S CHUSTER

Die zirzensischen Attraktionen üben eine enorme Faszination auf andere Künste wie Literatur, Bildende Kunst, Musik und Film aus. Die Belege hierzu reichen von Stéphane Mallarmé über Frank Wedekind, Else Lasker-Schüler, Heinrich Mann, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Jean Cocteau bis Hermann Burger, von Edgar Degas über Auguste Renoir, Georges Seurat und Henri Toulouse-Lautrec bis Pablo Picasso, von Igor Strawinsky bis Dmitri Schostakowitsch und von Charlie Chaplin bis Alexander Kluge. Offensichtlich ist der Zirkus als kulturelle Praktik dazu geeignet, literarische Texte, Werke der Bildenden Kunst, Musikstücke und Filme mit ›social‹ oder ›cultural energy‹ aufzuladen.1 In welcher Weise geschieht das? Und inwiefern lässt sich vor diesem Hintergrund von Affinitäten zwischen diesen Künsten und dem Zirkus sprechen? Kommt den Manegenkünsten in der ästhetischen Moderne seit dem späten 19. Jahrhundert dabei gar die Rolle eines ästhetischen Modells zu? Maßgeblich für die Beantwortung dieser Fragen ist eine Ambivalenz, die für das Phänomen ›Zirkus‹ spezifisch zu sein scheint: Als Träger kultureller Energie interessant ist der Zirkus – so lautet die Hypothese, der ich im Folgenden nachgehen möch te –, weil er zwischen zwei widersprüchlichen ästhetisch-performativen Konzepten changiert: dem glänzend ›schönen Schein‹, der hyperbolisch immer mehr oder anderes zu sein vorgibt, als er ist, einerseits und einem der artistischen Darbietung in ihrer

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Den Begriff hat Stephen Greenblatt zum Zweck der historisch-gesellschaftlichen Kontextualisierung literarischer Texte eingeführt (ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Übers. David Cackett, Berlin 1990, S. 24); er ermöglicht es, so überraschende Verknüpfungen wie etwa die Affinität von Shakespeares Dramen zu zeitgenössischen exorzistischen Techniken in den Blick zu nehmen. Durch die genaue Beschreibung auch populärkultureller Praktiken bildet die von Greenblatt und anderen entwickelte Methode des New Historicism ein vielversprechendes Theorieangebot für die Circus Studies. Der vorliegende Aufsatz beschränkt sich darauf, anhand zumeist prominenter literarischer Texte einige Perspektiven aufzuzeigen, die in kulturhistorischer Sicht weiter zu verfolgen wären.

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Vitalität, Körperlichkeit und performativen Präsenz immanenten asemiotischen Prinzip, nichts anderes zu bedeuten und auf nichts anderes zu verweisen als auf sich selbst, andererseits.2 Diese ästhetisch-semiotische Spannung möchte ich insbesondere im Blick auf einige literarische Texte des frühen 20. Jahrhunderts beschreiben, jener Zeit also, in der Zirkusse zu festen Bestandteilen der Populärkultur geworden waren. Die generelle Relevanz, die den Spektakeln der Akrobaten und Schausteller zukommt, lässt sich jedoch schon an Fällen poetologisch reflektierter Werke wie den um ein Jahrhundert zuvor entstandenen Texten Johann Wolfgang von Goethes feststellen. Sie möchte ich zunächst in den Blick nehmen, um anschließend die Übereinstimmungen und Transformationen herauszuarbeiten, die sich in der Ästhetik der Moderne im 20. Jahrhundert beobachten lassen.

»L EBENDIGER R EIZ «: G OETHES G AUKLER UND S CHAUSTELLER Einschlägige Belege für die Nähe zwischen Literatur und artistischer Attraktion sind in Johann Wolfgang von Goethes 1790 entstandenen Venezianischen Epigrammen3 zu finden. »Gaukler und Dichter«, heißt es pointiert im 47. Epigramm, »sind gar nahe verwandt, ziehen sich überall an.«4 Die innerhalb des Gedichtzyklus’ besungene junge Gauklerin Bettine zeichnet sich durch erotische Attraktivität und erstaunliche akrobatische Leistungen aus. Sie verbindet den »tödlichen Sprung[]«5 mit »Lächeln und Lust«,6 womit eine weitere für die artistische Kunst zentrale Spannung, das Miteinander von Todesgefahr und scheinbarer Leichtigkeit in Szene gesetzt wird. Ihre Vorführungen erinnern an den Bereich des Traums, in dem »alles veränderlich schwebt«,7 zudem bestehen Parallelen zwischen der Gauklerkunst und der Bildenden

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Zur Hyperbolik des Zirkus vgl. Jürgens, Anna-Sophie: Poetik des Zirkus. Die Ästhetik des Hyperbolischen im Roman, Heidelberg 2016. Auf den anderen Pol des Spannungsfelds hat bekanntlich bereits Walter Benjamin aufmerksam gemacht: »Wenn der Akrobat von der Kuppel den doppelten Salto mortale macht«, schreibt er, »dann hat die Wirklichkeit das Wort, nicht der Schein«. (Benjamin, Walter: »Ramon Gomez de la Serna, Le cirque. Paris Simon Kra 1927. 214 S.)«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Kritiken und Rezensionen. Bd. 3, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 32006, S. 70-72, hier S. 71. Thomas Wegmann spricht vom Zirkus als einer »strikt bedeutungsfreien und körperbetonten« Kunst (Wegmann, Thomas: »Artistik. Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste«, in: Zeitschrift für Germanistik 20.3 [2010], S. 563-582, hier S. 563); das Artistische bedeute eine Privilegierung des Formalen, Technischen, Gekonnten, Gemachten unabhängig vom Gegenstand, von Semantik und Sinn (vgl. ebd., S. 567). Goethe, Johann Wolfgang: »Venezianische Epigramme«, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Friedmar Apel u. a., Abt. I. Bd. 1: Gedichte 17561799, hg. v. Karl Eibel, Frankfurt a.M. 1987, S. 443-478. Ebd., S. 454. Nr. 44; ebd., S. 453. Nr. 43; ebd., S. 452. Nr. 41; ebd.

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Kunst sowie der Literatur: Wie Breughel verwirrt die Gauklerin »mit seltnen willkürlich verwebten Gestalten […] den schwankenden Blick«, wie »ein Dichter« »erregt« sie »Neugier« und »[V]erwunder[ung]« (Nr. 41).8 Im Vergleich mit der Kunst kommt ihr als Erlebnis auf der italienischen Bildungsreise dabei eine bedeutende Rolle zu: »Müde war ich geworden, nur immer Gemälde zu sehen, Herrliche Schätze der Kunst, wie sie Venedig bewahrt. Denn auch dieser Genuß verlangt Erholung und Muße; Nach lebendigem Reiz suchte mein schmachtender Blick. Gauklerin! da ersah ich in dir das Urbild der Bübchen, Wie sie Johannes Bellin reizend mit Flügeln gemalt«. 9

Die Vertreterin der ›niederen‹ Gaukler-Kunst nimmt gegenüber der ›hohen Kunst‹ somit eine privilegierte Stellung ein, indem sie als ihr Urbild fungiert; sie weist darüber hinaus, in Kontrast mit den auf Dauer ermüdenden Gemälden, auch den Vorzug auf, »lebendigen Reiz« zu besitzen. Damit wird sie zum ästhetischen Vorbild für eine Dichtung, die, wie es bereits im ersten Venezianischen Epigramm programmatisch heißt, »reichlich mit Leben geschmückt« sein soll – ganz im Sinne jenes Projekts einer »Wiedergeburt« im Zeichen von Körperlichkeit, Erotik und Freiheit, wie es Goethe, das für seine ›Sturm und Drang‹-Phase bis hin zum Werther-Roman gültige Paradigma kompliziert verinnerlichter Seelenliebe überwindend, seit seiner ersten Italienischen Reise von 1786-88 verfolgte. Auf ganz andere Weise geht es in der 1828 veröffentlichten Novelle, einem komplexen Alterswerk Goethes, um das Verhältnis zwischen Bild und Kunst auf der einen sowie ›Wirklichkeit‹, Leben und Natur auf der anderen Seite. Im Zentrum stehen – als »unerhörte Begebenheit« im Sinne von Goethes eigener, die Produktion der Novelle begleitenden Novellendefinition10 – zwei Raubtiere, ein Tiger und ein Löwe, die in einer Bude auf einem Jahrmarkt zur Schau gestellt werden. Die Protagonisten, eine junge Fürstin, der Fürst Oheim Friedrich sowie der Stall- und Hofjunker Honorio, die über den Markt reiten, schieben den Besuch der Attraktion zunächst auf: »Wir wollen, sagte die Fürstin, bei unserer Rückkehr doch absteigen und die seltenen Gäste näher betrachten«.11 Vorerst bleibt es bei der akustischen Wahrnehmung (»Die Fütterungsstunde der dort zur Schau stehenden wilden Tiere schien herangekommen; der Löwe ließ seine Wald- und Wüstenstimme aufs kräftigste hören«12) und bei der Betrachtung der spektakulären Reklame:

8 Ebd. 9 Nr. 36; ebd., S. 451. 10 Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Friedmar Apel u. a., Abt. II. Bd. 12, hg. v. Christoph Michel unter Mitarbeit von Hans Gräters, Frankfurt a.M. 1999, S. 221. 11 Goethe, Johann Wolfgang: »Novelle«,, in: ebd., Abt. I. Bd. 8, hg. v. Waltraud Wiethölter in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht, Frankfurt a.M. 1994, S. 531-555, hier S. 540. 12 Ebd., S. 539.

64 | J ÖRG S CHUSTER »Zur Bude näher gelangt durften sie die bunten kolossalen Gemälde nicht übersehen, die mit heftigen Farben und kräftigen Bildern jene fremden Tiere darstellten, welche der friedliche Staatsbürger zu schauen unüberwindliche Lust empfinden sollte. Der grimmig ungeheure Tiger sprang auf einen Mohren los, im Begriff ihn zu zerreißen; ein Löwe stand ernsthaft majestätisch […].«13

Aus der abgeklärt-elitären Perspektive der Protagonisten fällt es leicht, den bewussten Übertreibungs- und Täuschungscharakter zu durchschauen; der Fürst Oheim kommentiert die Werbung mit den Worten: »Es ist wunderbar, […] daß der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. Drinnen liegt der Tiger ganz ruhig in seinem Kerker, und hier muß er grimmig auf einen Mohren losfahren, damit man glaube dergleichen inwendig ebenfalls zu sehen«.14 Das äußerliche, wie der Oheim vermutet: trügerische Zeichen kontrastiert somit der angenommenen Wirklichkeit des Bezeichneten »drinnen«. Allerdings befindet er sich im Irrtum, der vermeintliche hyperbolische Schein erweist sich als Wirklichkeit – der Tiger bricht aus dem Käfig aus, nachdem auf dem Markt ein Brand ausgebrochen ist: »heranspringend, wie sie ihn vor kurzem gemalt gesehen, kam er entgegen«. 15 Das Gemälde ist somit keine Täuschung, sondern stellt jene Wildheit und Todesgefahr dar, die das Raubtier verkörpert. Damit wird gerade nicht die – trügerische – Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem betont, vielmehr tritt das Bild, das Zeichen gewissermaßen ins Leben, die Natur, das Wilde fordern ihre Rechte. Doch damit ist das Spiel von Illusion und Wirklichkeit, Schein und Sein noch nicht zu Ende. Honorio vollbringt eine Bewährungstat, die ihn die Schwelle der Adoleszenz überschreiten lässt und ihm seitens des Erzählers die leicht ironische Bezeichnung als »Ritter«16 einbringt: Er rettet die Fürstin, der sich der Tiger gefährlich zu nähern scheint, indem er ihn erschießt. Fragwürdig wirkt die Rettungstat allerdings schon aus dem Grund, dass sich das Raubtier »nicht mit heftiger Schnelle« bewegt: »der ungleiche Boden, die scharfen Steine schienen seinen Antrieb zu hindern«17 – das scheinbare Naturwesen wirkt in der Natur merkwürdig unbeholfen. Es erscheint sogar zweifelhaft, wer wen angreift: »nur daß Honorio unmittelbar hinter ihm herflog, […] schien seine Kraft aufs neue anzuspornen und zu reizen.« 18 Vor allem aber wird die Tat nachträglich in Frage gestellt, als die Schaustellerfamilie die Szene betritt und versichert, dass das Tier völlig zahm und die – die Familie ihrer Existenzgrundlage beraubende – Tötung somit überflüssig gewesen sei. Damit stellt sich die Frage, ob nicht viel eher der überambitionierte Honorio der Wilde ist, der seine Natur oder »[s]ich selbst« »überwinden« 19 muss, wozu ihn die Schaustellerin menetekelhaft auffordert. Dass nicht die Tiere, sondern die ›zivilisierten‹ Jäger die

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Ebd., S. 539 f. Ebd., S. 540. Ebd., S. 544. Ebd., S. 545. Ebd., S. 544. Ebd., S. 544 f. Ebd., S. 553.

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›Wilden‹ sind, wird bereits am Beginn der Novelle thematisiert, als der Fürst zu einer länger geplanten Jagd aufbricht: »man hatte sich vorgenommen, weit in das Gebirg hineinzudringen, um die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen«20 – und dies, obwohl das Interesse des Fürsten weit weniger der archaischen Jagd als dem modernen Handel gilt, wie er sich in der gerade stattfindenden Messe und damit eben auch in der Menagerie als Form der Präsentation, des Austauschs, der Kommunikation des Verschiedenartigen manifestiert. Im Mittelpunkt steht am Ende der Novelle in auffälliger Weise nicht jener Teil des Personals, der durch die Tötung des Tigers und die Bekämpfung des Brands den Bereich des Zivilisatorischen vertritt, sondern vielmehr die Schaustellerfamilie, die über faszinierend zwischen Natur und Kunst changierende magische Kräfte zu verfügen scheint: Durch Gesang und Flötenspiel zähmen sie den ebenfalls aus dem Käfig ausgebrochenen Löwen. Sie bedienen sich dabei einer »natürliche[n] Sprache«, die man nicht übersetzen kann,21 der Vater redet mit »natürliche[m] Enthusiasmus«,22 der Sohn spielt auf der Flöte eine »Melodie, die keine war, eine Tonfolge ohne Gesetz, und vielleicht eben deswegen so herzergreifend«.23 Er vermag es zudem, die Zeilen des Gesangs »zu anderer Ordnung«24 zu verschieben. Abermals tritt hier somit das Akustische in den Vordergrund. Zugleich ist die Szenerie der Löwenbändigung, obwohl es sich doch um einen Ernstfall im offenen Gelände handelt, deutlich als Spektakel markiert; explizit ist von einer »Arena des Schauspiels«25 die Rede. Das utopische Bild der Versöhnung, der Aufhebung der Dichotomie von Wildnis und Zivilisation, Natur und Künsten, im Sinne jener von der Schaustellerfamilie verkörperten »anderen Ordnung« wird somit, auch durch die Kunsthaftigkeit der Szenerie mit Flöte und Gesang, selbst als schöner Schein gekennzeichnet – es ist die artifizielle Illusion, die Poesie, die die Novelle selbst hervorbringt: Sie etabliert mit der magischmusikalischen Löwenbändigung einen poetischen Sonderraum. In ihm wird der Ausbruch der Raubtiere gerade nicht als sensationelle Neuigkeit dargestellt, wie dies die vom Oheim kritisierten »Bänkelsänger«26 tun würden. Zu solcherlei Kommunikation erhebt die Novelle die Gegenstimme der poetischen Illusion. Anders als das Werbeplakat wiederum wird nicht die Existenz jener Realität behauptet, auf die es zeichenhaft verweist, vielmehr stellt das Ende der Novelle eine Illusion höherer Stufe dar, die sich bewusst als künstlich schöner Schein zu erkennen gibt.27

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Ebd., S. 534. Ebd., S. 547. Ebd., S. 551. Ebd., S. 549 f. Ebd., S. 551. Ebd., S. 553 f. Ebd., S. 540. Vgl. hierzu Gerhard Kaiser (»Zur Aktualität Goethes. Kunst und Gesellschaft in seiner ›Novelle‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 [1985], S. 248-265), der in seiner subtilen Interpretation zum Schluss kommt, die Novelle selbst müsse »inszenieren, damit sie die utopischen Potentiale der Kunst so weit öffnen kann, und sie muß die Inszenierung wiederum einsichtig machen« (S. 264). Helmut Pfotenhauer, der anhand des Löwen-Motivs einen Vergleich zwischen Goethes »Novelle« und Gottfried Kellers Novelle

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K ÜNSTLERISCHE »S ELBSTVERSTÄNDLICHKEIT « – Z IRKUS ALS ASEMIOTISCHES M ODELL IN DER LITERARISCHEN M ODERNE Ende des 19. Jahrhunderts avanciert der Zirkus bekanntlich zum populären Massenphänomen. Es ist vor diesem Hintergrund alles andere als ein Zufall, dass diese kulturelle Praxis zu einem ästhetischen Modell auch für die literarische Moderne um und nach 1900 wird. So wird der Zirkus beim in seiner Bedeutung für die Moderne oft unterschätzten Dramatiker Frank Wedekind zum zentralen Symbol einer nietzscheanisch geprägten vitalistischen Ästhetik. Die zirzensische Attraktion zeichnet sich, wie es in Wedekinds Essay »Zirkusgedanken« 28 heißt, durch »Selbstvergessenheit und Zügellosigkeit«29 aus; sie verkörpert das moderne Lebensprinzip der »Elastizität«,30 eines heroischen, lebensklug rasch und entschlossen auf Umstände reagierenden und dabei zugleich leichten und virtuos-effektvollen Handelns. Die in der artistischen Darbietung sichtbar werdende körperliche Schönheit und Erotik, das im Zirkus dargestellte »lebendige Leben«31 wird der traditionellen Kunst und der überfeinerten Zivilisation entgegengestellt. Besonders im von einem Tierbändiger gesprochenen Prolog zu Wedekinds Erdgeist32 (1895) steht der Zirkus für ein vitalistisches Prinzip, das die emotionalen Extreme »Wollust«33 und »Grauen«34 umfasst. Polemisch wird die Manegenkunst vom zeitgenössischen literarischen Theater – namentlich genannt wird Henrik Ibsen – abgegrenzt: »Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! – Haustiere, die so wohlgesittet fühlen, An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen Und schwelgen in behaglichem Geplärr, Wie jene andern – unten im Parterre: Der eine Held kann keinen Schnaps vertragen, Der andre zweifelt, ob er richtig liebt, Den dritten hört ihr an der Welt verzagen,

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»Pankraz der Schmoller« vornimmt, spricht von einer Bändigung durch »Humanisierung und Ästhetisierung« (ders.: »Erzählte Löwen. Novellen als Schauplatz unseres inneren Afrika«, in: Jörg Robert/Friederike Felicitas Günther [Hg.], Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel, Würzburg 2012, S. 325-334, hier S. 327). Wedekind, Frank: »Zirkusgedanken«, in: Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Bd. 3: Prosa. Erzählungen. Aufsätze. Selbstzeugnisse. Briefe, hg. von Manfred Hahn, Berlin und Weimar 1969, S. 153. Ebd., S. 154. Ebd., S. 156. Wedekind, Frank: »Im Zirkus«, in: ebd., S. 166. Wedekind, Frank: »Der Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen (1913)«, in: Frank Wedekind, Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 3.I, hg. v. Hartmut Vinçon, Darmstadt 1996, S. 401. Ebd., S. 403. Ebd.

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Fünf Akte lang hört ihr ihn sich beklagen, Und niemand, der den Gnadenstoß ihm gibt. Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier, Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.«35

Dem verzärtelt-bornierten Publikumsgeschmack, der am Problematisch-Lebensuntüchtigen interessierten Literatur wird somit das radikal Animalische in seiner Wildheit, Schönheit, Körperlichkeit und Erotik gegenübergestellt; dem entspricht die Forderung, »natürlich [zu] sprechen und nicht unnatürlich«,36 und dem entspricht vor allem eine Poetik, die sich gegen Vermitteltheit und Chiffrierung und für Evidenz und Unmittelbarkeit der Wirkung ausspricht: »Denn erstes Grundgesetz seit frühster Zeit / In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit.«37 Der Zirkus verkörpert hier somit das Ideal einer Kunst, die für sich selbst steht und aus sich heraus ›von selbst verständlich‹ ist. Er dient Wedekind, mit den Worten von Volker Klotz, »als Koordinatensystem, mit dem die Welt vermessen und gedeutet sowie der bürgerliche Lebensstil abgewertet wird. Dem ideologisch streng korsettierten Publikum der Wilhelminischen Staatsbühnen reicht Wedekind die Manege als zugleich verlockendes und verstörendes Orientierungsmuster.«38 Auf ähnliche Weise nimmt im Kontext der literarischen Moderne Hugo von Hofmannsthal eine sprach- und zivilisationskritische Deutung zirzensischer Darbietungen vor, die als nicht-sprachliche Formen der Kunst dem »Ekel vor den Worten« entgehen39 und besser unterhalten »als die gescheiteste Konversation«40. Auch bei Else Lasker-Schüler transzendiert der Zirkus den Bereich des Literarischen: »Dichtungen werden Wahrheiten«41, heißt es im Feuilleton »Im Zirkus Busch«. Der Zirkus erscheint somit als ein Modell, mittels dessen Sprache und Literatur auf die Wirklichkeit, das Leben hin überschritten werden können. Nicht zufällig wählen Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt um 1910 für monumentale Drameninszenierungen Zirkusarenen als Aufführungsorte – so wurde König Ödipus 1910 im Berliner

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Ebd., S. 404; Hervorhebungen immer im Original. Ebd., S. 405. Ebd. Klotz, Volker: Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne und Publikum aufeinander eingehen, insbesondere bei Raimund, Büchner, Wedekind, Horváth, Gatti und im politischen Agitationstheater, Würzburg 21998, S. 140; vgl. Jones, Robert A.: »Frank Wedekind. Circus Fan«, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 61 (1969), S. 139-156. 39 Hofmannsthal, Hugo von: »Eine Monographie (1895)«, in: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Bd. XXXII: Reden und Aufsätze 1, hg. v. Hans Georg Dewitz/Olivia Varwig, u. a., Frankfurt a.M. 2015, S. 158. 40 Hofmannsthal, Hugo von: »Der Schwierige. Lustspiel in drei Akten«, in: ebd., Bd. XII: Dramen 10, hg. v. Martin Stern, Frankfurt a.M. 1993, S. 61. 41 Lasker-Schüler, Else: »Im Zirkus Busch«, in: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 3.1: Prosa 1903-1920, hg. von Norbert Oellers, Frankfurt a.M. 1998, S. 119.

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Zirkus Schumann aufgeführt – und nicht zufällig wendet sich Hofmannsthal um diese Zeit der Pantomime zu. Jean Cocteaus kubistisches »Ballet réaliste« Parade,42 1917 von den Ballets Russes unter Sergei Diaghilew mit Musik von Erik Satie und einem Bühnenbild von Pablo Picasso uraufgeführt, treibt diese Tendenz schließlich auf die Spitze. Es demonstriert auf radikale Weise den asemiotischen, der Zeichenhaftigkeit entgehenden Charakter des Zirkus: Vor dem Zirkuszelt – so die marginale Handlung des Balletts – geben Artisten zu Werbezwecken Kostproben ihres Könnens. Diese Reklameaktion scheitert jedoch: Die Passanten treten gerade nicht ins Zelt ein, um die eigentliche Vorstellung zu sehen, da sie die Werbepräsentation bereits für die Vorführung selbst halten – radikal entgeht hier die akrobatische Vorführung dem zeichenhaften Verweisungscharakter. Damit wird deutlich, was die Berufung auf den Zirkus im Kontext der ästhetischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert bedeutet: Er steht für eine Kunst, die der Differenzstruktur, dem Aufschieben des Sinns, wie sie dem künstlichen Zeichen immanent sind, entgehen möchte, indem er, unter Berufung auf das Einfache und Archaische bis hin zum Sinnlosen – auf oft provozierende und verstörende Weise – ›selbstverständlich‹ oder unverständlich ist.43

S INNLOSE ANSTRENGUNG , K AFKA , R ILKE

EPIPHANISCHE

P RÄSENZ :

Allerdings sind Asemiotik und Selbstverständlichkeit nur die eine Seite dessen, was der Zirkus als ästhetisches Modell im Kontext der literarischen Moderne bedeutet. Mit weiteren Facetten werden wir in Texten wie etwa Franz Kafkas Prosastück »Auf der Galerie« (1919) oder Rainer Maria Rilkes fünfter Duineser Elegie (1922) konfrontiert. Ästhetische Evidenz und Präsenz spielen zwar auch in diesen Texten eine zentrale Rolle, doch sind sie in beiden Fällen Teil eines größeren Problemzusammenhangs, da zudem, Goethes Novelle vergleichbar, der Kontrast zwischen schönem Schein und Wirklichkeit reflektiert wird. Kafkas kurzes Prosastück »Auf der Galerie« besteht aus nur zwei, aufgrund ihrer syntaktischen Komplexität allerdings endlos wirkenden Sätzen,44 die durch einen Absatz voneinander getrennt sind. Der erste Satz ist im Konjunktiv, der zweite im Indikativ verfasst; die gleiche Szenerie einer in der Manege reitenden Zirkusartistin wird zwei Mal auf völlig unterschiedliche Weise geschildert. Der erste Satz stellt den Ritt

42 Cocteau, Jean: »Parade«, in: Jean Cocteau: Romans, poésies, poésie critique, théâtre, cinma, hg. v. Bernard Benech, Paris 1995, S. 1213. 43 Um diesen Befund kreist der Aufsatz von Thomas Wegmann, der der Frage nachgeht, »warum signifikante Teile einer literarischen Moderne, die übercodierte Artefakte überwiegend sitzend produzierte, der strikt bedeutungsfreien wie körperbetonten und vor allem ›illegitimen Kunst‹ von Jongleuren und Dompteuren, Äquilibristen und Parterreakrobaten gesteigerte Aufmerksamkeit zollten« (Th. Wegmann: Artistik, S. 563). 44 Aufgrund dieser syntaktischen Struktur lässt sich ein intertextueller Bezug zu Frank Wedekinds »Zirkusgedanken« (1887) herstellen; vgl. Ritter, Naomi: »Kafka, Wedekind and the circus«, in: Germanic Notes 6 (1975), S. 55-59.

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in extrem verzerrter und übertriebener Form dar. Die Verfremdung wird dadurch erreicht, dass gebräuchliche Beschreibungen des Zirzensischen mit starken Irritationsmomenten verbunden werden: Die Reiterin wirft Küsse und wiegt sich in der Taille, dennoch handelt es sich nicht um eine anmutig-vitale Artistin, sondern um eine »hinfällige, lungensüchtige«45 Frau. Auch viele weitere Details sind pejorativ geschildert: Das Pferd ist »schwankend«46, der Zirkusdirektor »erbarmungslos«47, und das Publikum klatscht »unermüdlich«48 mit »Hände[n], die eigentlich Dampfhämmer sind«. 49 Die der lebendigen Bewegung entgegengesetzte industriell-moderne Technik kommt neben diesem drastischen Bild auch darin zum Ausdruck, dass das »Brausen des Orchesters«50 in einem Atemzug mit dem »Brausen [...] der Ventilatoren«51 genannt wird. Das größte Irritationsmoment besteht aber darin, dass nicht die gedrängte Präsenz einer Aufführung geschildert wird, sondern der Ritt »monatelang ohne Unterbrechung«52 andauert. Hier sind also die Strapazen und die enorme Zeitdauer, wie sie eher für das harte Training ›hinter den Kulissen‹ charakteristisch sind, und die Situation der öffentlichen Aufführung auf paradoxe Weise miteinander verbunden; das Publikum bekommt zu sehen, was es eigentlich nicht sehen soll: mühevolle Ausdauer und Erbarmungslosigkeit. Dadurch ist der Wirkungszweck der Darbietung freilich in sein Gegenteil verkehrt: Das Publikum wird nicht kurzweilig unterhalten, sondern mit der Sinnlosigkeit einer endlos scheinenden Bewegung konfrontiert: Der Ritt setzt sich »in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft […] fort«53 und könnte nur durch das mutige Einschreiten eines Galeriebesuchers beendet werden, der – wie die gesamte Szenerie im Konjunktiv – »Halt«54 riefe. Die paradoxe Verbindung von verzerrter Zeitdauer und Öffentlichkeit, durch die sich die Szenerie auszeichnet, führt somit zu einer weiteren Verkehrung, indem zumindest der eine, singuläre Galeriebesucher vom passiven Zuschauer zum Akteur wird. Der zweite Satz kontrastiert dem ersten völlig, genauer: Er beschränkt sich auf die eine der beiden semantischen Ebenen des ersten Satzes, die fast übertrieben konventionelle, auf jede Verfremdung verzichtende Beschreibung der zirzensischen Attraktion. Hier ist die Kunstreiterin eine hereinfliegende »schöne Dame«55, deren »Kunstfertigkeit kaum [zu] begreifen«56 ist und die »ihr Glück mit dem ganzen Zir-

45 Kafka, Franz: »Auf der Galerie«, in: Franz Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1994, S. 207. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd.

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kus teilen will«,57 der Direktor ist »hingebungsvoll«58 und »vorsorglich«59 – es herrscht der schöne Schein der Zirkuswelt. Dem entspricht die Präsenz einer zeitlich gedrängten, temporeichen Performanz, die auch durch das in etwa zeitdeckende, in raschem Wechsel Einzelbeobachtungen aneinanderreihende Erzählen suggeriert wird. Der Effekt auf den Zuschauer ist in diesem zweiten, affirmativen Satz des Prosastücks denn auch nicht der Wunsch, die endlose Vorführung abzubrechen; allerdings ist die Wirkung auch nicht restlose Begeisterung oder Freude, vielmehr »legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.«60 Der glanzvolle Ritt in der Manege ist zum Weinen schön, er rührt zu Tränen, weil er zu schön ist, um wahr zu sein, schöner Schein ist. Dem imaginierten ›Märchen‹ vom mutigen Jüngling, der die ›gefangene‹ (Zirkus-) Prinzessin rettet, im ersten Teil entspricht der »Traum«61 im zweiten Teil. Durch beides gibt sich die Erzählinstanz des Texts zu erkennen, die im ersten Teil eine irreale Szenerie samt möglicher ›Lösung‹ imaginiert und im zweiten mehr über die Emotionen des Galeriebesuchers weiß als dieser selbst. Was der Zuschauer der Zirkusnummer ›nicht weiß‹ (er weint »ohne es zu wissen«62), aber unbewusst spürt, weiß damit auch der Rezipient, der Leser des Prosastücks: Die kreisende Bewegung der Reiterin verweist – auch syntaktisch durch den in beiden Sätzen des Stücks beibehaltenen endlos-hypotaktischen Stil – zurück auf die gewaltsam-sinnlose Kreisbewegung, die zu Beginn geschildert wurde. Beide Teile, beide Lesarten der zirzensischen Attraktion sind inhaltlich und formal somit eng aufeinander bezogen, der Reiz des Texts besteht aber gerade in der Unentscheidbarkeit der Frage, auf welche Weise sie es sind.63 Zwar liegt es nahe, hier die Antithese von Sein und Schein in Szene gesetzt zu sehen. Doch wo sich

57 58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 208. Ebd., S. 207. Ebd. Ebd., S. 208. Ebd. Ebd. Vgl. Blank, Juliane: »Ein Landarzt. Kleine Erzählungen«, in: Manfred Engel/Bernd Auerochs (Hg.), Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2010, S. 218240 hier S. 226. Das Ineinanderverflochtensein von Wirklichkeit und Schein betont u. a. auch Sylke Kirschnick (dies.: »Versuch, im Bodenlosen Platz zu nehmen. Zirzensische Transgressionen bei Franz Kafka, Else Lasker-Schüler und Thomas Mann«, in: Carsten Gansel [Hg.], Störungen im Raum – Raum der Störungen, Heidelberg 2012, S. 155-182, hier S. 165) in ihrer raumsemantisch orientierten Analyse. Wie sie wendet Norbert Christian Wolf (ders.: »Anklänge und Ansichten, ›High‹ gegen ›Low‹. Intertextuelle und intermediale Bezüge in Kafkas Kurzprosastück ›Auf der Galerie‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 58 (2014), S. 246-280), der eine ausführliche intertextuelle und intermediale Kontextualisierung von »Auf der Galerie« unternimmt, Michel Foucaults Begriff der Heterotopie, des ›anderen Ortes‹, auf die kulturelle Institution Zirkus an kommt im Hinblick auf das Changieren zwischen Realität und Illusion in Kafkas Text zum pointierten Befund, hier werde Heterotopie ins textuelle Verfahren eingeschrieben (vgl. S. 276).

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schon in Goethes Novelle der schöne Schein des Reklameplakats und die Realität als eine nur vermeintliche Antithese erwiesen, sind die Verhältnisse bei Kafka noch komplexer: Die zirzensische Attraktion des zweiten Teils und der an hartes Training erinnernde strapaziöse endlose Ritt des ersten Teils können zwar als Antithesen aufgefasst werden, doch sind sie zudem metonymisch miteinander verbunden; ob sie tatsächlich einen unterschiedlichen Realitätsstatus besitzen, ist auch deshalb unklar, weil diese aufgrund ihrer verfremdeten Darstellung kaum weniger irreal wirkt als jene aufgrund ihres schönen Glanzes. Wurde bei Goethe die anfängliche ›schaustellerische‹ Antithese von Sein und Schein auf eine neue Ebene gehoben durch die am Schluss von der Novelle selbst inszenierte poetische Versöhnungs-Illusion, so bleibt sie bei Kafka in der Schwebe. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass durch Kafkas verfremdende Darstellung zwei Aspekte reflektiert werden, die für die zirzensische Attraktion zentral sind: das Moment der Zeit und die Instanz des Publikums. Indem auch diese beiden Aspekte miteinander in Konflikt geraten, wird das Problem des Artistischen radikalisiert und: es wird zur generellen Chiffre von Künstlertum und menschlicher Existenz. Dies wird deutlich, wenn man zwei weitere Texte Kafkas hinzuzieht, in denen es um zirzensische Attraktionen geht, die Erzählungen Erstes Leid64 und Ein Hungerkünstler.65 Beide handeln von der Verabsolutierung der artistischen Übung. Der Trapezkünstler in »Erstes Leid«, »ein außerordentlicher, unersetzlicher Künstler«, 66 zeichnet sich durch ein radikales »Streben nach Vervollkommnung« 67 aus. Dem ersten Teil von »Auf der Galerie« vergleichbar, ist sein Ziel, sich »in dauernder Übung«68 zu halten, um »seine Kunst in ihrer Vollkommenheit bewahren«69 zu können. Aus diesem Grund bleibt er »Tag und Nacht auf dem Trapeze« 70, die Reisen zwischen den Gastspielorten verbringt er im Gepäcknetz. Der Preis ist völlige soziale Isolation: »Freilich, sein menschlicher Verkehr war eingeschränkt«. 71 Im Fall des »Hungerkünstlers« kommt zum Aspekt der auf Dauer gestellten Übung wiederum die Instanz des Publikums hinzu, die nun explizit problematisiert wird. Wie der Trapezkünstler leidet er darunter, seine Kunst nicht so vollkommen, und das heißt auch hier wiederum: nicht so ausdauernd auszuüben, wie es ihm vorschwebt. Er muss sein Hungern, das er gerne noch weiter fortsetzen würde, jeweils nach 40 Tagen abbrechen, da dann das Interesse des Publikums erlahmt. Gemessen an der Absolutheit

64 Kafka, Franz: »Erstes Leid«, in: Franz Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1994, S. 249-252. 65 Kafka, Franz: »Ein Hungerkünstler«, in: Franz Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt a.M. 1994, S. 261-273. 66 F. Kafka: Erstes Leid, S. 249. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd.; vgl. Engel, Manfred: »Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten«, in: Manfred Engel/ Bernd Auerochs (Hg.), Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2010, S. 318-329.

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seines Anspruchs ist nur er allein »der von seinem Hungern völlig befriedigte Zuschauer«72 – so wie der Trapezkünstler die Absolutheit seiner Kunst gerade auch weitgehend unter Ausschluss des Publikums praktiziert. Die konsequente Folge daraus ist im Fall des Hungerkünstlers, der um seiner selbst willen das Hungern auf die Spitze treiben möchte, seine Selbstauslöschung. Die beiden bereits für »Auf der Galerie« auf irritierende Weise zentralen Aspekte der Zeitdauer und der Öffentlichkeit geraten hier auf tragische Weise in Konflikt. Von den zwei Formen von Präsenz, die für die zirzensische Attraktion konstitutiv sind, verwirklicht er auf verhängnisvolle Weise nur die eine: Seine Kunst ist in dem Sinne präsent, dass sie nicht scheinhaft ist, nicht zeichenhaft auf etwas anderes als sich selbst verweist – sie ist so asemiotisch, wie sie existentiell ist.73 Sie ist aber nicht präsent im zeitlichen Sinne einer punktuellen Attraktion; genau dies kostet ihn zunächst das Interesse des Publikums und dann das Leben. Eine Attraktion, die kein Publikum braucht, ist ein Selbstwiderspruch, und asemiotische Präsenz, die zur existentiellen Absolutheit radikalisiert wird, endet in der Selbstauslöschung. Dieses Zusammenspiel von Selbstbezüglichkeit und Selbstzerstörung hat Gerhard Neumann treffend auf den Punkt gebracht. Ihm zufolge stellt der Text »Der Hungerkünstler« »die Frage […] nach dem Kunstwert dieses autistischen Spielmodells, nämlich Zeichen als Nicht-Zeichen sozial noch etablieren, die Selbst-Aufzehrung des Zeichens als kulturelles Ritual noch zur Schau stellen zu wollen. Es ist die Frage nach Kafkas Kunst-Begriff.«74

72 Kafka, Franz: Ein Hungerkünstler, S. 264. 73 Vgl. Bauer-Wabenegg, Walter: »Monster und Maschinen, Artisten und Technik in Franz Kafkas Werk«, in: Wolf Kittler/Gerhard Neumann (Hg.), Franz Kafka: Schriftverkehr, Freiburg 1990, S. 316-382. Auf die Differenz zwischen Präsenz und Repräsentation hat in kulturtheoretischer Hinsicht insbesondere Hans Ulrich Gumbrecht hingewiesen. Während es in Kulturen der Repräsentation, des Subjekts, des Bewusstseins immer um die Darstellung mittels auf Signifikate zu beziehender Signifikanten, um das Entschlüsseln der Bedeutung von Zeichen gehe und somit die materielle Oberfläche eines weltlichen Objekts ihre Geltung verliere, sobald es als Zeichen dechiffriert sei, stehe in Kulturen der Präsenz die Materialität, der Körper und mit ihnen das Prinzip des Nicht-Darstellenden, NichtHermeneutischen im Zentrum; an die Stelle des zu entziffernden Sinns träten – etwa im Sport – Phänomene wie Eleganz, Grazie, Intensität, aber auch – als Gegenwärtigmachen von Abwesendem – Magie und Epiphanie (vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz, hg. von Jürgen Klein, Berlin 22016, insbesondere S. 216-219, S. 265-268 und S. 289). Es geht somit um eine Hinwendung zu dem, »[…] was sich durch Interpretation, […] durch Zuschreibung von Bedeutung oder Sinn […] nicht einlösen läßt« (Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Berlin 2004, S. 9). Im Hinblick auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit den – von Gumbrecht nicht thematisierten – zirzensischen Attraktionen ist in diesem Zusammenhang sein Verweis auf die Cultural Studies zu betonen, die kulturelle Phänomene beschreiben, anstatt ihnen einen Sinn zuzuordnen (vgl. ebd., S. 29). 74 Neumann, Gerhard: »Hungerkünstler und Menschenfresser. Zum Verhältnis von Kunst und kulturellem Ritual im Werk Franz Kafkas«, in: Wolf Kittler/Gerhard Neumann (Hg.), Franz Kafka: Schriftverkehr, Freiburg 1990, S. 399-432, hier S. 420.

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Ganz ähnlich verhält es sich mit der Darstellung der Artisten in Rainer Maria Rilkes intermedial auf Pablo Picassos Les Saltimbanques (1905) bezogener fünfter Duineser Elegie (1922). Vom ersten Vers an ist klar, dass die dort dargestellten nichtsesshaften Artisten als Allegorie der prekären menschlichen Existenz im Allgemeinen fungieren: »Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig / Flüchtigern noch als wir selbst.«75 Wie bei Kafka erscheint die artistische Übung durch ihre hier durch Reihungsverfahren, Lautmalerei und Binnenreim plastisch dargestellte ständige Wiederholung als eine extreme Form der sinnlos-leer vergehenden Zeit: Ein »niemals zufriedener Wille […] wringt sie, biegt sie, schlingt sie und schwingt sie, wirft sie und fängt sie zurück; wie aus geölter, glatterer Luft kommen sie nieder auf dem verzehrten, von ihrem ewigen Aufsprung dünneren Teppich, diesem verlorenen Teppich im Weltall.«76

Auf pejorative Weise wirkt diese Performanz scheinhaft, sie zeichnet sich durch sinnlose, zu keinem produktiven Resultat führende reine Virtuosität aus; das künstlerische Produkt ist eine »Scheinfrucht«,77 die Artisten geben sich »scheinlächelnd[]«.78 Allerdings wird diese Darstellung auf doppelte Weise transzendiert. Erstens interessiert sich Rilke, ganz ähnlich wie Kafka, für die Kehrseite der artistischen Übung, ihr Misslingen im Stadium des Trainings, der Vorbereitung. Er fragt nach der Situation, in der die Akrobaten es »noch lange nicht konnten«79 und »die Gewichte« nicht scheinhaft leicht, sondern noch »schwer« waren. 80 Anders als Kafka kontrastiert Rilke jedoch nicht die mühsam-leere Zeit des Übens mit der glanzvollen Darbietung, ihn interessiert vielmehr der eine ekstatische Punkt, an dem das eine in das andere umschlägt:81

75 Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 2: Gedichte 1910 bis 1926, hg. v. Manfred Engel/Ulrich Fülleborn, Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 214; vgl. Mattenklott, Gert: »Rainer Maria Rilke: Die fünfte Duineser Elegie. Hinweise zum Verständnis«, in: Vera Hauschild (Red.): Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, S. 201-213. 76 R.M. Rilke: Werke. Bd. 2, S. 214. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 216. 80 Ebd. 81 Hierin kommt jene für Rilke seit den Neuen Gedichten zentrale Poetik der »Figur« zum Ausdruck, in der der kontingente Zeitverlauf poetisch in einem emphatischen Punkt aufgehoben wird; vgl. hierzu die immer noch grundlegende Untersuchung von Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes, Pfullingen 1961.

74 | J ÖRG S CHUSTER »Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig unbegreiflich verwandelt –, umspringt in jenes leere Zuviel. Wo die vielstellige Rechnung zahlenlos aufgeht.«82

Dieser ekstatische Moment wird zweitens in eine metaphysische Situation des Jenseits transformiert, in dem diejenigen Menschen, »die’s hier / bis zum Können nie bringen, ihre kühnen / hohen Figuren des Herzschwungs« 83 vorführen. An die Stelle existentieller Leere tritt in dieser Umkehrung die emotionale Fülle, die sich auf irreale Weise in einer idealen artistischen Darbietung ausdrückt. Von entscheidender Bedeutung ist dabei in literatur- und kulturhistorischer Hinsicht, vergleicht man Goethes Novelle mit den knapp 100 Jahre später entstandenen Texten Kafkas und Rilkes, das Moment der Zeitlichkeit. Steht bei Goethe am Ende die von der Novelle selbst inszenierte poetische Illusion einer Versöhnung von Natur und Kunst, so ist dieser illusionäre Charakter in der Moderne durch die zeitliche Punktualität radikalisiert. Es handelt sich um das ästhetische Modell der ebenso illusionären wie flüchtigen, nur für einen Moment erlebbaren Epiphanie. 84 Bei Rilke besteht sie im einen Augenblick des Umschlags vom Nicht-Gelingen ins Gelingen; bei Kafka ist die Präsenz des glänzenden Scheins für den Galeriebesucher zum Weinen schön, während seine Kehrseite, die auf Dauer gestellte strapaziöse artistische Leistung im ersten Teil von »Auf der Galerie« eine verstörende Attraktion bildet und für den Hungerkünstler tödlich wirkt. Gerade weil epiphanische Präsenz in der Moderne sich durch die zwei Momente der zeitlichen Punktualität und der Asemiotik, der angestrebten Überwindung von Zeichenhaftigkeit, auszeichnet, bildet der Zirkus ein geeignetes Modell. Bei Kafka wie bei Rilke fungiert die zirzensische Attraktion somit nicht – jedenfalls: nicht nur – als Modell für eine asemiotische Ästhetik der Präsenz, der Evidenz, der Selbstverständlichkeit. Bei beiden wird vielmehr der schöne Schein der Manegenkünste als ein äußerst ambivalentes Phänomen reflektiert. Allerdings – und darin besteht die Übereinstimmung im Kontext der literarischen Moderne (auch bei Wede-

82 Ebd. 83 Ebd., S. 217. 84 Vgl. grundlegend Theodore Ziolkowski: »James Joyces Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 594-616; vgl. ferner Schneider, Sabine: Verheißung der Bilder. Das andere Medium der Literatur um 1900, Tübingen 2006; Schneider, Sabine: »Klaffende Augen, starre Blicke. Krisen und Epiphanien des Sehens als Medium der Sprachreflexion bei Hofmannsthal und Rilke«, in: Mauro Ponzi (Hg.), Klassische Moderne. Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2010, S. 167179; Böhler, Michael: »Das Authentische in der Literatur und der platonische Schatten. Poetik der Epiphanie bei Hugo von Hofmannsthal und James Joyce«, in: Michael Rössner (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012, S. 119-142.

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kind, Hofmannsthal und Cocteau) – bedeutet ›Schein‹ auch hier nicht das Konzept eines Zeichens, das (in trügerischer Weise) auf etwas anderes verweisen würde. Der Verweisungscharakter der zirzensischen Attraktion ist höchst paradox: Die artistische Darbietung verweist nicht zeichenhaft auf etwas ganz anderes, sie verweist lediglich auf ihre eigene Genese, auf die vom Zuschauer nur geahnte Anstrengung, die es kostet, das Kunststück einzuüben; sie verweist darauf jedoch gerade, indem sie es versteckt. Genau dies ist – in aller Bescheidenheit und in aller Emphase – ein Grundprinzip der ästhetischen Moderne: reine Artistik, schöner Schein, der seine Gemachtheit, die Leistung, die erforderlich ist, um ihn hervorzubringen, glänzend verbirgt. Ihre Faszination erlangt diese Artistik, indem sie das in der industriellen Moderne zunehmend problematisch erscheinende bürgerliche Grundprinzip der Leistung zugleich befolgt und, als schöner ästhetischer Schein, subvertiert. 85

85 Den Zusammenhang zwischen zirzensischer Artistik und moderner Ästhetik hat in ähnlicher Weise bekanntlich schon Theodor W. Adorno reflektiert: »So kommt der Begriff des Artisten nach Hause. Das Kunststück ist keine Vorform von Kunst und keine Aberration oder Entartung sondern ihr Geheimnis, das sie verschweigt, um es am Ende preiszugeben. Thomas Manns provokatorischer Satz von der Kunst als höherem Jux spielte darauf an. Technologische wie ästhetische Analyse werden fruchtbar daran, daß sie des tour de force an den Werken innewerden. Auf dem obersten Formniveau wiederholt sich der verachtete Zirkusakt: die Schwerkraft besiegen; und die offene Absurdität des Zirkus: wozu all die Anstrengung, ist eigentlich schon der ästhetische Rätselcharakter.« Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003, S. 277.

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Was ist schon am Schreiben spektakulär? Der gekrümmte Körper, der nach unten gerichtete Blick, die auf die geschwungenen Linien gerichtete Aufmerksamkeit – all dies bietet sich wenig an, um spektakulär in Szene gesetzt zu werden und als aufmerksamkeitsheischende Show Interesse zu erwecken. Schreibszenen scheinen nur dann aufsehenerregend zu sein, wenn sie ihren Niederschlag in einer bildlichen Darstellung oder als Reflexionsmoment bspw. in der Literatur oder im Film Eingang finden. Aber Schreiben als Performance vor einem Publikum? Genau dies tat die Zirkus- und Varietékünstlerin Dorothea Sohm geb. Gaßmann, alias Thea Alba, »the woman with ten brains«,1 eine Multitasking-Artistin (1902-1982). Sie war in den 1920er bis in die 40er Jahre recht berühmt. Abb. 1: Dorothea Sohm geb. Gaßmann, alias Thea Alba

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So wird sie in zahlreichen Zeitungsartikeln angekündigt und betitelt, z.B. in: Rochester Democrat and Chronicle, Sonntag, 7. Oktober 1923, S. 5. Oder Honolulu Star-Bulletin, Dienstag, 21. Oktober 1930, S. 14. The Evening News, Harrisburg, Penns., Samstag, 3. Mai 1924, S. 20.

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Abb. 2, 3, 4 und 5: Thea Albas Performances und ihre Übungsbücher

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Ihre Kunst bestand darin, mit zehn Fingern gleichzeitig zu schreiben, wobei aber jeder Finger etwas anderes schrieb. Darüber hinaus konnte sie zugleich mit beiden Händen, beiden Füßen und dem Mund in jeweils unterschiedlichen Sprachen schreiben. Aus diesen Fähigkeiten entwickelte sie Performances, mit denen sie durch ganz Europa und die USA tourte (Abb. 1, 2 und 5). Dass solche Fähigkeiten nicht ausschließlich auf Begabung beruhen, sondern die Ergebnisse intensiven Trainings und reichlicher Übung sind, wird in Thea Albas noch erhaltenen Übungsbüchern ersichtlich (Abb. 3-4). Das Training als Arbeit am »gelehrig[en] Körper« 2 wird hier insofern sichtbar, als deutliche Unterschiede zu erkennen sind zwischen der ›privaten‹ Handschrift der persönlichen Notizen, die recht unregelmäßig, beinahe krakelig daherkommen, und den wohlgeformten, sehr gleichmäßigen Schriftzügen ihrer Performances. In einem Brief an Hans Tenno3 Ende Januar 1965 formuliert sie selbst die Notwendigkeit des Trainings: »Üben muss ja wohl jeder Künstler, der in Form sein muss. Meine Privatschrift ist, wie man so sagt, eine Klaue und schwer leserlich; aber die Schrift auf der großen Tafel erfordert […] eine gewisse Schönschrift […]. Dass ich dies in Ihrem Falle besonders üben muss, wird Ihnen ohne Weiteres klar sein.« 4 Hier meint ›in Form zu sein‹ nicht nur die Beherrschung eines bestimmten körperlichen Bewegungsrepertoires, sondern kann auch auf das Schriftbild selbst bezogen werden, das ›in Form‹, also gut lesbar sein muss. Das körperliche Training, die Übung ist in diesem Fall eine spezifische Form der Schreibübung. Hier wird das kollektive Wissen von den Bewegungsmustern des Schreibvorgangs auf die einzelnen Finger bzw. anderen Gliedmaßen transferiert, teilweise sogar unterstützt durch speziell angefertigtes Werkzeug, auf das später noch eingegangen werden soll. Die Übung ist damit eine rationale Tätigkeit, die durch beständige Wiederholung automatisiert und damit dem Bewusstsein in gewisser Weise entzogen wird. Durch diese Einübung des Werkzeug-Gebrauchs wird der Körper sukzessive für bestimmte Bewegungen zugerüstet.5 Genauso erfordern auch andere Bühnen- und Manegenkünste intensive Einübung und regelmäßiges Training. Jedoch irritiert Thea Albas Kunst, ihre Schreibkunst, nicht nur aufgrund ihrer erstaunlichen Fähigkeiten, sondern weil hier eine Verschiebung stattfindet. Denn üblicherweise wird unter ›Schreibkunst‹ das Produkt des Schreibprozesses verstanden, entweder ein besonders ›schön‹ formulierter Text oder bemerkenswert aufwändig gestaltete Handschriften wie die Kalligraphie, oder wie die beispielsweise in den mittelalterlichen Klöstern verfassten kunstvoll gestalteten Handschriften. Doch für beide Weisen der Schreibkunst gilt, dass das Schreib- bzw. Herstellungsverfahren selbst üblicherweise dem öffentlichen Raum entzogen ist und im Verborgenen geschieht – etwa in den Schreibstuben der Klöster. Der Rückzug gilt als

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Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, S. 175. Hans Tenno war in der sehr frühen Bundesrepublik einer der führenden Varieté-Agenten. Thea Alba-Albrecht: Brief an Hans Tenno, Düsseldorf vom 20. Januar 1965. Digital archiviert auf www.artistenarchiv-marburg.de. Vgl. hierzu: Uhlig, Franziska: »Das Gedächtnis der Hand«, in: Bettina Bannasch/Günter Butzer (Hg.), Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, Berlin/New York 2007, S. 185-203.

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die notwendige Vorbedingung für das Kunstprodukt ›Text‹. Hier nun aber, bei Thea Alba, wird dieser Vorgang in Szene gesetzt, wird selbst zur Kunst, während das Ergebnis des Vorgangs eher zweitrangig zu sein scheint.6 Es geht hier dezidiert nicht um das Produkt der Körpertechnik des Schreibens, sondern der Körper wird schreibend in Szene gesetzt. Hier hat man es tatsächlich mit Schreib-Kunst zu tun, wobei jedoch eine Verschiebung zu beobachten ist: anstatt dass Schrift als Bedeutungsträger funktioniert, ist es hier der Körper selbst. Der Körper als Schreibkörper. Als Schreibgerät. Wie aber ist die Verschränkung von Schreiben, Schrift und Performance zu ›beschreiben‹?

Z IRKUS

LESEN

Die Frage nach der Schrift in der Manege bzw. auf der Bühne zielt ganz offensichtlich auf das Problem der Lesbarkeit – nicht nur der ›lesbaren‹, schönen, eingeübten Schrift, sondern auf die Frage nach der Lektüre der Performance selbst. Diese Frage schließt wiederum an das Problem an, wie – ganz grundsätzlich – Manegenkünste bzw. Zirkuskünste ›gelesen‹ werden können. Wie können Manegenkünste beschrieben, wie analysiert werden? Und wie können die Manegenkünste in ihren diskursiven Zusammenhängen analytisch fruchtbar gemacht werden? Angestrebt wird also ein funktionaler Begriff von Zirkus bzw. des Wissens über den Zirkus, der durch die Analyse und Reflexion der Diskurse und (sozialen, politischen, ästhetischen) Praktiken, die die Wahrnehmung und den kommunikativen und ästhetischen Gebrauch des Phänomens Zirkus lenken, ermöglicht wird.7 Neben den schon etablierten methodischen bzw. analytischen Zugangsweisen – wie semiotischen, kulturwissenschaftlich-diskursanalytischen, körpertheoretischen und kulturhistorischen Ansätzen – wird hier einerseits die Verknüpfung von kulturpoetischen und performativen Methoden als fruchtbare Zugangsweise vorgeschlagen, andererseits werden einzelne circensische Figurationen herausgegriffen, um an ihnen die Ästhetik und Beschreibbarkeit dessen, was als Zirkus wahrgenommen wird, sichtbar zu machen. Insofern Zirkus als ein Reservoir kultureller Energie angesehen wird (i.S. Stephen Greenblatts8), bieten kulturpoetische Konzepte ein theoretisch-methodisches Instrument,9 um das Phänomen ›Zirkus‹ – auch in seinen unterschiedlichen medialen Formaten und Repräsentationen (etwa in Performances, Literatur, bildender Kunst, Tanz, Film, Plakaten, Programmheften, Kinderbüchern etc.) – in seinen Kontexten genau

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Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=vIOxS-nOf3Q oder https://www.youtube.com/ watch?v=QjWYy5Im138 [beide: 12.07.19]. Vgl. Rieger, Stefan/Schahadat, Schamma/Weinberg, Manfred (Hg.): Interkulturalität. Zwischen Inszenierung und Archiv, Tübingen 1999, S. 13-14. Vgl. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Übers. David Cackett, Berlin 1990, S. 24. Hierzu ausführlicher der Beitrag von Jörg Schuster in diesem Band. Vgl. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005.

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zu analysieren. Denn es geht bei allen Analysen immer um die Frage, in welcher Relation das je Einzelne, Besondere zum Überindividuellen einer Kultur, eines kulturellen Phänomens oder einer sozialen Struktur steht bzw. dazu vermittelt ist. Dieser letztlich semantisch ausgerichteten Herangehensweise einer kulturpoetischen Fragestellung entziehen sich jedoch Fragen bspw. nach dem Emergenten, nach Flüchtigkeit und Präsenz. Deshalb wird die kulturpoetische Herangehensweise notwendig ergänzt mit Performativitäts-Konzepten10 und entsprechenden Analysemethoden, die sowohl das Praxis-Modell kulturwissenschaftlicher Forschung berücksichtigen als auch Hilfsmittel bereitstellen, die dasjenige in den Fokus rücken, was sich der semantischen Ausrichtung der kulturpoetischen Fragestellungen entzieht. Damit ergänzen sich zwei Beschreibungs- und Analysemodelle für kulturelle Phänomene.11 Es ist also wichtig, eine mindestens doppelte Perspektivierung zu entwickeln, in der sich die Offenheit kulturwissenschaftlicher Fragestellungen sowie die Reflexion und konzentrierte Analyse performativer, ästhetischer und historischer Phänomene und Formen gegenseitig befruchten und woraus das entsteht und womöglich erst hervorgebracht wird, was mit dem Begriff des Zirkus bezeichnet wird. Dieses diskursive Zirkus-Wissen findet sich in unterschiedlichen Materialien und Quellen: einerseits natürlich in den Live-Performances unterschiedlichster Zirkusund Aufführungsformate sowie in den Materialien der umfangreichen, bislang noch kaum beforschten Zirkusarchive und -sammlungen (etwa in Berlin oder Marburg), in denen sich zahlreiche circensische Quellen und Medien finden (etwa Programmhefte, Plakate, Zeitschriften, Trainingsbücher, Fotoalben, Kostüme, Berichte), die u. a. Selbstbeschreibungsmodelle des Zirkus und seiner Künste liefern können. Andererseits findet sich diskursives Zirkus-Wissen auch auf zahllose Weise medial transformiert, etwa in der Literatur, im Film oder in der bildenden Kunst. Speziell dieses medial transformierte Wissen bildet zugleich ein Reservoir an Stereotypen und kollektiven Phantasien über den Zirkus, mit denen bspw. Differenzen markiert, Identitäten oder Wünsche thematisiert, konstruiert und bewertet werden. Solche interdiskursiven Analysen ermöglichen es dann, Zirkus auch als Trope zu untersuchen, also das figurative Potential zu mobilisieren, das sich semiotisch, semantisch und pragmatisch fruchtbar machen lässt. Zugleich zeigt dieses Material nicht nur präfigurierte Darstellungsmuster, sondern es inszeniert diese neu,12 wodurch sie vermittelt, aber auch beund umgewertet werden können. Darstellungen des Zirkus und der Manegenkünste müssen also immer sowohl kontextuell als auch als konkrete Inszenierung betrachtet werden, um sie dann mit schon bestehenden Modellen, Fragestellungen, Erkenntnissen und methodischen Konzepten kurzzuschließen, damit Zirkus beschreibbar wird.

10 Vgl. Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2015, darin v.a. die Beiträge von Fischer-Lichte, Krämer und Schumacher. 11 Wie eine Ergänzung oder gar Verknüpfung beider tatsächlich theoretisch und methodisch zu leisten ist, schlägt bspw. Elisabeth Strowick vor. Vgl. Strowick, Elisabeth: Sprechende Körper. Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik, München 2009. 12 Vgl. Link, Jürgen: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, in: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hg. v. Harro Müller/Jürgen Fohrmann, Frankfurt a.M. 1988.

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ÄSTHETISCHE K RISTALLISATIONSPUNKTE Hierzu werden im Folgenden einige Figurationen und Konzepte vorgeschlagen und erläutert, die aufgrund ihrer vielfältigen Anschlussmöglichkeiten heuristisch besonders ergiebig sind. Sie werden in gewisser Weise zu ›ästhetischen Kristallisationspunkten‹, an denen zentrale Diskurse und Praktiken von Zirkus miteinander in Relation bzw. Verhandlung treten und sich gegenseitig erhellen und befragen. An diesen Kristallisationspunkten können dann präfigurierte Darstellungsmuster, Praktiken und Diskurse sichtbar werden, die das, was als Zirkus wahrgenommen wird, verdichten und ihn somit auch überhaupt erst beschreibbar machen. Sie fordern aber gleichwohl dazu heraus, darüber nachzudenken, wo ihre Grenzen liegen und auch, inwiefern sie ergänzt und erweitert werden müssen. Es sind Kristallisationspunkte, die aufgrund ihrer größtenteils systematisch-anthropologischen Qualität für Analyseverfahren als Ausgangspunkte dienen können. a) Risiko Risiko in unterschiedlichen Formen ist zentraler Teil vieler Zirkusperformances. Es gilt, diese auf mehreren Ebenen zu analysieren: sowohl auf Seiten der Performer_innen, als auch in kulturhistorischer Perspektive und schließlich im Hinblick auf die Wirkung riskanter Darbietungen auf die Zuschauenden. Risiko ist in unterschiedlichen Formen Teil vieler Zirkusperformances und ist – um der Show willen – nur bis zu einem gewissen Grad inszeniert. Denn die Artist_innen und Tierperformer_innen sind immer in der Gefahr, sich körperlich zu verletzen, abzustürzen, Keulen, Bälle, Reifen u.ä. zu verlieren, so dass eine Performance misslingt, die Performenden womöglich körperlich Schaden nehmen. In den meisten Fällen ist dieses Risiko in Form der Gefährdung der Balance gegeben oder in der (scheinbaren) Überwindung der Schwerkraft: etwa beim Seiltanz oder der Trapezkunst, bei menschlichen Pyramiden, Stelzenlauf oder dem russischen Barren usw. Aus kulturhistorischer Perspektive ist das Risiko, das in die meisten Zirkusperformances eingeschrieben ist, einer der Gründe, warum diese Künste bis heute nicht im Kanon der ›hohen Künste‹, der bürgerlich etablierten Kunstformen zu finden sind.13 Denn schon zu Beginn des modernen Zirkus gelten Bewegungskünste – besonders der Tanz, aber auch Theater – v. a. als Strategien der Selbstinszenierung, sie dienen zur Machtsicherung, sind also Körperpolitik, da sämtliche Aktionen und Handlungen in öffentlichen Räumen sich nach choreographischen Mustern richten. Diese haben die umfassende Berechenbarkeit des Körperausdrucks zum Ziel. 14 Riskante Zirkuskünste widersetzen sich aber der Berechenbarkeit, der Steuerung und politischen Verwertbarkeit und können damit bedrohlich für politische Ordnungen sein. Bei den Zuschauenden wiederum ruft das gezeigte Risiko spezifische, nicht kontrollierbare Reaktionen hervor, es löst – trotz der räumlichen Distanz – vorüberge-

13 Vgl. hierzu Peter, Birgit: Zirkus. Geschichte und Historiographie marginalisierter artistischer Praxis. (Manuskript), Wien 2013. 14 Blamberger, Günter: »Von der Faszination riskanter Bewegungen. Anmerkungen zu Kleists Sportbetrachtungen«, in: Kleist-Jahrbuch 2007, S. 38-45.

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hende Modifikationen auf physiologischer, affektiver, energetischer und motorischer Ebene aus und lässt eine Mischung aus Faszination, Nervosität und Ablehnung empfinden.15 Das bei den Zuschauern vorherrschende Empfinden der Angstlust, der Philobatismus,16 ist eine auf Risiko und Gefahr bezogene Mischung aus Begehren und Furcht, die zugleich Vergnügen bereitet. Diese ästhetische Erfahrung, die mit schwer kalkulierbaren Wagnissen und Risiken einhergeht, 17 evoziert starke Gefühle, stellt jedoch kaum Anleitungen oder Hilfen zu ihrer Verarbeitung bereit.18 Einschlägige Theoriebildungen zu einer Ästhetik des Nicht-Kommensurablen – etwa Benjamins ›Chock‹-Ästhetik oder Bohrers Überlegungen zu Gewalt und Schrecken in der Kunst u. a. –, zumeist gespeist aus den vielfältigen Ästhetiken des Erhabenen des 18. Jahrhunderts, beziehen sich jedoch grundsätzlich auf inszenierte Risiken und Schrecken, die oftmals eine Auflehnung gegen etablierte ästhetische und gesellschaftliche Ordnungen darstellen. Die in den Manegenkünsten vorgeführten Risiken sind jedoch nicht inszeniert, (wobei natürlich auch eine gewisse übertriebene Inszenierung des riskanten Aspekts einer Darbietung mit zur Show gehört), sondern viele Performances sind wirklich riskant. Dabei werden Körper als Erzeuger und Empfänger von Spannung und Erregung genutzt, und zwar nicht im Sinne eines Abenteuers, sondern in der riskanten Zurschaustellung.19 Da performative Handlungen – und dazu zählen solche riskanten Darbietungen – nicht mit den Kategorien wahr/falsch beurteilt werden können, sondern laut John Austin mit glücken/misslingen,20 ist das Risiko genau durch die Spannung zwischen diesen beiden Begriffen gekennzeichnet: die Arbeit an der Grenze glückt oder man stürzt ab. Diese Möglichkeit des Misslingens lässt die unmittelbare Gegenwart auf eine spezifische Weise erfahren und einsehen, die als eine Art »körperliche Erkenntnis«21 beschrieben werden kann. Eine derartige Kunst, die aus dem realen Risiko und der Gefahr des Misslingens ihr ästhetisches Potential bezieht, ist nur schwerlich mit herkömmlichen Theorien zu fassen. Ihre Analyse berücksichtigt ebenso Fragen der Ästhetik von Leiblichkeit wie etwa solche der Medizin, der Psychologie und der Wirtschaftswissenschaft, um da-

15 Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012. 16 Balint, Michael: Angstlust und Regression. Mit einer Studie von Enid Balint. Aus d. Engl. übers. v. Konrad Wolff unter Mitarb. v. Alexander Mitscherlich u. Michael Balint, Stuttgart 21988. Vgl. dazu ausführlich: Wegmann, Thomas: »Artistik. Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste«, in: Zeitschrift für Germanistik 20.3 (2010), S. 563-582. 17 Liessmann, Konrad Paul: Ästhetische Empfindungen. Eine Einführung, Stuttgart/Wien 2009; besonders das Kap.: »Reiz und Rührung«, S. 37-54. 18 Vgl. dazu den Begriff der Schwellenerfahrung bei Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken, Nebenwirkungen, München 2006. 19 Alkemeyer, Thomas/Boschert, Bernhard u. a.: »Aufs Spiel gesetzte Körper. Eine Einführung in die Thematik«, in: dies. (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003, S. 7-18. 20 Vgl. Austin, John: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 21972. 21 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis: auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979.

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raus Überlegungen und Ansätze für eine Ästhetik des Risikos zu entwickeln, die – anders als bei Lehmann u. a.22 – auf real körperliche, nicht-inszenierte Risiken im Ästhetischen zielt. b) Gleichgewicht Die Balance ist ein gefährdeter Moment, ein Oszillieren zwischen dem Schweben und der Schwerkraft. Sie bildet damit ein fragiles Gleichgewicht zwischen zwei Ordnungen, ein Ideal, das es anzustreben gilt, das aber nur für Augenblicke erreicht werden kann. Es mag an dieser Flüchtigkeit der Balance liegen, aber ebenso am Reiz der Gefährdung, weshalb die existentielle Erfahrung, die Gefahr des Absturzes in den Abgrund, gar ins Bodenlose immer wieder beschworen und mit Figuren konfrontiert wird, die das Ideal des Gleichgewichts, also der ›Schönheit in Bewegung‹, wie Lessing es nennt, in Szene setzen und die häufig auch in der Zirkusmanege anzutreffen sind: Seiltänzer, Trapezkünstlerinnen oder menschliche Pyramiden etc. 23 Konzepte des Ausgleichens und Aufwiegens, Balancierens und Kompensierens, aber auch die vielfältige Artikulation einer tiefsitzenden Angst vor dem Verlust des Gleichgewichts gehören ins Basisrepertoire kultureller Reflexion.24 Die Denkfigur des Ausgleichs verbindet zahlreiche Felder miteinander, etwa der Theologie, Naturphilosophie, Ökologie, Physik, Anthropologie, Politik, Ökonomie, Recht, Medizin, Ethik oder Ästhetik. Es ist ein Konzept, das in vielfältiger Weise schon durchbuchstabiert wurde, jedoch bislang kaum in seiner körperlich- bzw. physikalisch-ästhetischen Dimension, diesseits aller Metaphorisierung. Einzig in den Sport- und Bewegungswissenschaften finden sich Ansätze,25 die jedoch zumeist die physikalisch-neurobiologische Dimension stark machen. Wie also sind Praktiken der Balance, die das Gleichgewichthalten als künstlerischen Akt vorführen, ästhetisch zu beschreiben? Welche raumsemantischen, physikalischen und körpertheoretischen Beschreibungsverfahren sind hilfreich, um derartige Praktiken, die eine Vielzahl der Manegenkünste ausmachen, differenziert zu fassen?

22 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: »Ästhetik des Risikos. Notizen zu Theater und Tabu«, in: ders.: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 22002, S. 114-125. 23 Hierzu auch: Ritter, Naomi: »Art and Androgyny. The Aerialist«, in: Peta Tait/Katie Lavers (Hg.), The Routledge Circus Studies Reader, London/New York 2016, S. 136-152, besonders S. 139f. 24 Vgl. hierzu: Zumbusch, Cornelia/Goebel, Eckart (Hg.): Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften. Reihe: Studien aus dem Warburg-Haus, Berlin/New York 2020. 25 Vgl. Grub, Elisabeth Johanna/Wydra, Georg/Köller, Volker: »Zur Erfassung körperlichen Gleichgewichts«, in: Heiko Wagner (Hg.), NeuroMotion, Aufmerksamkeit, Automatisierung, Adaptation. 9. Gemeinsames Symposium der Sektionen Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft in Münster, Münster 2012, S. 18. Oder in Mechling, Heinz (Hg.), Handbuch Bewegungswissenschaft – Bewegungslehre, Schorndorf 2003.

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c) Transgressionsverfahren Die Kulturraumverdichtung Zirkus stellt einen Heterotopos dar, 26 der eine hervorragende Projektionsfläche bildet, auf der verschiedene Modi von Transgressionsverfahren sichtbar werden. So markiert etwa das ›fahrende Volk‹ des Zirkus, das aufgrund seiner Nicht-Sesshaftigkeit nicht ›dazu‹ gehört, durch seine Bewegungen Grenzzonen. Entsprechend der Klischees bewegt es sich grundsätzlich an den Rändern bzw. auf der Schwelle: auf derjenigen von Recht, Moral, Kunst, Wissen, Wahrnehmung und Kultur überhaupt. Dadurch werden Transgressionen evoziert, kulturell, politisch und anthropologisch festgeschriebene topologische und semiotische Figurationen wie Räume, Grenzen und Ordnungen überschritten.27 Auf einer anderen Ebene gilt das für die artistischen Körperkünste, die scheinbar mühelos die Grenzen der Gravitation und des Menschenmöglichen überwinden und Körpertechniken zur Schau stellen. Somit wird sichtbar, dass im Zirkus die üblicherweise geltenden Regeln, Normen und kulturellen Codes zumindest scheinbar überschritten und subvertiert werden – und das rein performativ, ohne mediale Transformationsprozesse. Die semiotische Aufladung solcher Transgressionsverfahren speist sich daraus, dass durch die Überschreitungen von einem anderen ›Ort‹ her auf diejenige Sphäre verwiesen wird, deren Grenzen überschritten oder subvertiert wurden, die Transgressionen sind also selbst Zeichen dessen, was sie überschritten haben. Zugleich sind derartige Transgressionen in ihrer Verweisungsstruktur eine semiotische und kommunikative Herausforderung, da sie nur von jener Sphäre her als Transgressionen zu beschreiben sind, der sie nicht mehr angehören.28 Insofern der Ort des Zirkus und die Manegenkünste in ihren raumsemantischen Strukturen betrachtet werden, können solche Transgressionsverfahren auch an den Begriff der Liminalität angeschlossen werden. Denn statt starrer Grenzen und deren Überschreitung, statt eines damit verbundenen binären hier-dort-Gefüges kann das Konzept eines flexiblen Schwellenraums hilfreich sein – wie etwa bei Benjamin,29

26 Vgl. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46; Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M. 2005. 27 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin 2010. 28 Foucault, Michel: »Zum Begriff der Übertretung«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 69-89. Von Foucault ausgehend vgl.: Lindner, Joachim/Ort, ClausMichael: »Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert«, in: dies. (Hg.), Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, S. 3-80. Und auch: Mergenthaler, Volker: Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion, Zur Ästhetik der Transgression (1897-1936), Tübingen 2005. 29 Vgl. Benjamin, Walter: »Das Passagen-Werk«, in: Gesammelte Schriften. Bd. V in zwei Teilbänden, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem, Frankfurt a.M. 1982.

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Turner,30 Lotman31 oder Bhabha32 – um damit die circensischen Modi des Darüberhinaus beschreibbar zu machen und zu reflektieren. 33 d) Flüchtigkeit/Emergenz Der Zirkus und seine Künste bieten die Möglichkeit, einige jener Aspekte kultureller Welten in den Blick zu nehmen, die sich den traditionellen Praktiken der Sinn- und Bedeutungszuschreibung entziehen, die Phänomene von Präsenz und Emergenz. Damit sind jene Aspekte gemeint, die auf die Erfahrung der Wahrnehmung des Irritierenden, Überschießenden, Abweichenden zielen, darauf, dass sich etwas »als mehr und als anders, als es ist«,34 zeigt, sich dabei jedoch nicht in der Erfahrung eines grundsätzlich Anderen auflöst. Diese von Waldenfels mit Begriff des Hyperphänomens beschrieben Erfahrung wird – im Rückgriff auf Isers Konzept der Emergenz 35 – von Gumbrecht als sog. Präsenzerfahrung verstärkt an den real-sinnlichen Leib zurückgebunden36 und rekurriert auf Phänomene, die auf das Nicht-Darstellende und Nicht-Hermeneutische zielen. Diese fallen nicht unter das Paradigma Signifikant/ Signifikat und entziehen sich damit interpretierenden Zugriffen, sind aber dennoch in ihrer räumlichen Orientiertheit und Dingheit zu fassen, wie es die bedeutungslosen Performances in der Manege vorführen. Diese Phänomene, die viele der Darbietungen in der Zirkusmanege auszeichnen, sind zudem gekennzeichnet durch ihre Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, dadurch dass sie nur im Moment erscheinen und erfahrbar sind, daher auch – und das teilen sie mit Performances ganz grundsätzlich – immer das Problem der Beschreibung, Erinnerung und Archivierung aufwerfen, sowie die Frage nach den diskursiven Formationen, die die Wahrnehmungs- und Erkenntnisbedingungen bestimmen. e) Selbstreflexivität Normative Urteile, die den Wertungsdiskurs bestimmen, organisieren durch Ausschlusspraktiken immer auch das Feld der Objekte der Beobachtung. Derartige Wertungsdiskurse bilden eine Art ›blinden Fleck‹ im jeweiligen wissenschaftlichen Diskurs.37 Nur von einer Metaperspektive aus oder von einer Position am Rand bzw.

30 Vgl. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. u. a.O. 2005. 31 Vgl. J. Lotman: Die Innenwelt des Denkens. 32 Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Mit e. Vorw. v. Elisabeth Bronfen, Tübingen 2011. 33 Vgl. zum Hyperbolischen des Zirkus: Jürgens, Anna-Sophie Jürgens: Poetik des Zirkus. Die Ästhetik des Hyperbolischen im Roman, Heidelberg 2016. 34 Waldenfels, Bernhard: Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012. 35 Vgl. Iser, Wolfgang: Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays, Konstanz 2013. 36 Vgl. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Präsenz, Berlin 2012. 37 Vgl. bspw. Maase, Kaspar: »Geschmack und Qualität. Probleme der Wertung populärer Kultur in Alltag und Wissenschaft«, in: ders. (Hg.), Macher – Medien – Publika. Beiträge der Europäischen Ethnologie zu Geschmack und Vergnügen, Würzburg 2014, S. 50-65.

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außerhalb dieses Diskurses kann das Problem der Wertung und Exklusion in den Blick genommen werden. Eine solche Position kommt dem Zirkus und seinen Künsten als »niedere Kunst« von jeher zu.38 Damit bieten der Zirkus und seine medialen Inszenierungen einen hervorragenden Ort, um von den Rändern aus ästhetische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse der Wertung, aber auch der Limitationen und Transgressionen sowie die jeweiligen Selbstverortungen und -reflexionen im Feld der spezifischen Diskurse in den Blick zu nehmen und aufzuzeigen.

P ERFORMANCE

SCHREIBEN :

T HEA ALBA

In Thea Albas Performance reflektieren sich die Ebenen von Schrift, Gestik, Schreiben, Körper und Kunst gegenseitig und werfen die Frage auf, »[i]n welchem Verhältnis […] Schrift und Körper zueinander [stehen], wenn Schreiben eine Aktion ist, die vom Körper ausgeht, gewissermaßen an ihn gebunden bleibt und seine Spuren bewahrt?«39 Wenn der Fokus, was bei einer solchen Performance wie der von Thea Alba durchaus naheliegt, auf den Körper gerichtet wird, kann in Anlehnung an Michel Foucault die Tätigkeit des Schreibens als eine Form der Disziplinierung angesehen werden. Denn Schreiben zwingt die schreibende Person »zum Einnehmen einer bestimmten Körperhaltung, zum möglichst geschickten Umgang mit Schreibgeräten sowie zur Organisation der Gedankenführung […] (insofern eine solche angestrebt wird)«.40 Rüdiger Campe geht noch einen Schritt weiter und bestimmt – ausgehend von Roland Barthes Begriff der écriture – die einzelnen, miteinander verschränkten Ebenen der Tätigkeit des Schreibens, die ›Schreibszene‹ genauer, indem er »eine heuristische Unterscheidung zwischen den Bereichen (1) Sprachlichkeit/Semiotik, (2) Instrumentalität/Technologie und (3) Körperlichkeit/Gestik« trifft. 41 Auf dieser Grundlage ist es möglich, Schreiben (im Sinne Roland Barthes) als einen Prozess zu betrachten, eine Praktik, bei der es möglich ist, die körperlich-gestischen sowie instrumentell-materiellen Anteile des Schreibaktes vom Aufgeschriebenen selbst, also dem Produkt des Geschriebenen zu unterscheiden.42 Die Schreibszene ist damit ein kom-

38

39 40 41 42

Oder: Rippl, Gabriele (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart 2013. Oder: Genz, Julia: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. Drei Theorien und ihre Anwendung auf die Literatur, München 2011. Vgl. Bose, Günter/Brinkmann, Erich: Circus – Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978. Und Wegmann, Thomas: »Artistik. Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste«, in: Zeitschrift für Germanistik 20.3 (2010), S. 536-582. Lubkoll, Christine/Öhlschläger, Claudia: »Einleitung«, in: dies. et al. (Hg.), Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität, Freiburg/Br. 2015, S. 9-21, hier S. 10. Zanetti, Sandro: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 7-34, hier S. 8. Ch. Lubkoll/C. Öhlschläger: Einleitung, S. 12. Vgl. ebd.

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plexes sowie auch störanfälliges Beziehungsgefüge von Sprache, Instrumentalität und Körper bzw. Geste. Bei The Alba rückt die Ebene der Semiotik fast in den Hintergrund, im Zentrum stehen Körperlichkeit und Instrumentalität. Auf den wenigen Bildern, die von den Performances von Thea Alba existieren, wird ihr Körper und dessen Vermögen als bedeutungsreiche Besonderheit inszeniert, als wundersames Ding einerseits, das gerade im Kontext von Zirkus und Varieté jedoch zugleich in die Nähe von Freak- und Missbildungsdiskursen gerückt wird.43 Auf der anderen Seite wird – nicht zuletzt durch das aufwändige Kostüm – eine Form von Erotik oder Sexiness ausgestellt, die, indem sie sich mit den Diskursen um Freaks und abnorme Körper kreuzt, Weiblichkeit als betrachtungswürdiges, begehrenswertes und zugleich abnormes Wesen in Szene setzt. Das ›Produkt‹ des Schreibens wird damit zum Nebenschauplatz der Performance, der weibliche Körper aber, der im Zentrum steht, ist der abnorme Körper, der etwas produziert, wobei die Bedeutung des Produkts letztlich egal zu sein scheint. Damit wird Thea Albas Performance einerseits verknüpft mit dem Diskurs der schreibenden Frau, deren Produkte nicht relevant zu sein scheinen, die nicht gelesen und nicht wahrgenommen werden.44 Und andererseits schließt ihre Performance an die Tradition des Kopisten45 an: Dieser schreibt zwar, aber nicht als origineller Schreibender, sondern seine Tätigkeit ist ausschließlich das Nach-Schreiben. Schreiben wird damit als bloßes Handwerk ausgewiesen, stellt aber zugleich die Frage nach Autorschaft, Original und Abschrift sowie Fehlerhaftigkeit, ähnlich wie es bei écriture automatique und spiritistischen Schreib-Séancen der Fall ist, wobei bei Letzteren der Status einer Performance eine nicht unerhebliche Rolle spielt.46 »Gerade in theatralen Inszenierungen wird nicht zuletzt die Grenze zwischen einer semantisch orientierten

43 Vgl. die Beiträge von Urte Helduser und Hans Richard Brittnacher in diesem Band. Aber auch aus der Vielzahl der Publikationen zum Freak- und Missbildungsdiskurs: bspw. Pflug, Isabel: »Verkörperung von ›Abnormalität‹: Die Freak Show als cultural performance des 19. Jahrhunderts. The importance of being ›normal‹«, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Verkörperung, Tübingen/Basel 2001 (= Theatralität, herausgegeben von Erika Fischer-Lichte. Bd. 2), S. 282-293. Ebenso: Bischoff, Ulrich: »Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei«, in: Jörn Merkert (Hg.), Zirkus, Circus, Cirque, Berlin 1978, S. 178-193. Sowie: Tervooren, Anja: »Freak-Shows und Körperinszenierungen. Kulturelle Konstruktionen von Behinderung«, in: Behindertenpädagogik 41 (2002), S. 173-184. 44 Vgl. Rinnert, Andrea: Körper, Weiblichkeit, Autorschaft. Eine Inspektion feministischer Literaturtheorien, Königstein/Ts. 2001. Oder: Gnüg, Hiltrud (Hg.): Frauen – Literatur – Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart u. a. 21999. 45 Vgl. etwa Löffler, Jörg: Die Fehler der Kopisten. Autorschaft und Abschrift von der Romantik bis zur Postmoderne, Heidelberg 2016. Oder: Schubert, Martin J. (Hg.): Der Schreiber im Mittelalter. (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 7.2), Berlin 2002. 46 Vgl. hierzu u. a. Kammer, Stephan: »Ereignis. Beobachtung. Die Schreibszenen des Spiritismus und die Medialität des Schreibens«, in: Giuriato, Davide (Hg.), »›Schreiben heißt: sich selber lesen, Schreibszenen als Selbstlektüren‹«, München 2008, S. 39-66. Aber auch: Pytlik, Priska: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn 2005.

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und einer autoreferentiellen Dimension der Schrift (Scriptura/Pictura/Ornament) zur Darstellung gebracht.«47 Mit der Maschinenmetaphorik, die dem Kopieren und fast schon automatisierten Schreiben anhaftet, verschiebt sich der Fokus bei Thea Albas Performance auf die Ebene der Instrumentalität. 48 Denn Thea Alba sitzt auf einigen Bildern in einem speziellen Stuhl, um mit Händen und Füßen gleichzeitig schreiben zu können. Diese Haltung irritiert die Erwartung an Zirkus- und Varietéperformances, bei denen – zumindest bei weiblichen Körpern – eine gewisse Anmut der Bewegungen und der Körperhaltung erwartet wird. 49 Hier nun, bei dieser Körperhaltung, auf diesem speziellen Stuhl, wird die scheinbar fehlende Grazie besonders deutlich – trotz des aufwändigen Kostüms –, eine Grazie, die – gemäß den Rollenerwartungen – den weiblichen bewegten Körpern auf der Varietébühne oder in der Manege zu eigen zu sein hat. Egal wie groß die körperliche Herausforderung und Anstrengung der entsprechenden Performance ist – sie muss anmutig und scheinbar mühelos ausgeführt werden (bei männlichen Performern muss zwar auch die scheinbare Mühelosigkeit und verblüffende Leichtigkeit gewährleistet sein, aber bei ihnen tritt jedoch die Anmut hinter die Forderung nach der Demonstration von Kraft und Stärke zurück). 50 Hier bei Thea Albas Performance sticht jedoch das Gestell ins Auge, auf das der Körper der Frau angewiesen ist, wenn sie mit Händen und Füßen gleichzeitig schreiben will. Es ist eine Apparatur, die die besondere Art und Weise des Schreibens überhaupt erst ermöglicht, zugleich aber auch Schriftproduktion und Körper in einen (medialen) Abstand bringt. Dieser Stuhl erinnert an einen gynäkologischen Stuhl. Expliziter lässt sich fast nicht der Körper der Frau auf der Bühne ausstellen: als Körper zur Betrachtung, als Objekt des Schauens, als Objekt der Untersuchung und zugleich als eingeschränkter, deformierter Körper, der auf Prothesen und Hilfsmittel angewiesen ist. Hier wird ein Perspektivismus reinszeniert, der den weiblichen Körper als gegeben wahrnimmt, um gesehen zu werden.

47 Zanetti, Sandro (Hg.): »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik, Berlin 2012, S. 14. 48 Zur Maschinenmetaphorik vgl. Richter, Steffen: »Natur-Maschine-Mensch. Auf dem Weg zu einer Poetik für das Anthropozän«, in: Zeitschrift für Germanistik 1 (2018), S. 89-101. Ebenso: Grewe-Volpp, Christa/Evi Zemanek (Hg.), Mensch – Maschine – Tier. Entwürfe post-humaner Interaktionen, (Beiheft Philologie im Netz 10 [2016]). (http://web.fuberlin.de/phin/beiheft10/b10i.htm; [25.06.19]). Oder Vallant, Christoph: Hybride, Klone und Chimären. Zur Transzendierung der Körper-, Art- und Gattungsgrenzen. Ein Buch über den Menschen hinaus, Würzburg 2008. 49 Vgl. Davis, Janet M.: »Respectable female nudity«, in: Peta Tait/Katie Lavers (Hg.), The Routledge Circus Studies Reader, London/New York 2016, S. 173-197. 50 Eine Ausnahme bilden hier die weiblichen Herkulesse. Vgl. dazu: Haerdle, Stephanie: Amazonen der Arena. Zirkusartistinnen und Dompteusen, Berlin 2007, S. 29-57.

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H ISTORISIERUNG

UND I DEOLOGISIERUNG

Zirkus im modernen Sinne, Philip Astleys Zirkus, etabliert sich in der zweiten Hälfte der europäischen Aufklärung, also zu dem Zeitpunkt, als die moralische, intellektuelle und emotionale Erziehung des Bürgertums vor allem den darstellenden Künsten zugeschrieben wurde, die Theaterwanderbühnen aus ihrer ›Schmuddelecke‹ heraus und zusammen mit den Hoftheatern zu gesellschaftspolitischer Wirksamkeit den Siegeszug antraten, in der Hierarchie der Künste den Aufstieg an die Spitze begannen und zu einem besonders wichtigen Instrument der Aufklärung und der Geschmacksbildung wurden.51 Innerhalb des Feldes der performativen Bildungs- sowie Vergnügungs- und Unterhaltungskulturen setzen jedoch recht bald schon Differenzierungs- und Ausschlussprozesse ein, die u. a. darauf zielen, Zirkus aus den zeitgenössischen Kunstund Kulturdiskursen auszuschließen.52 Diese Strategien sind Ausdruck eines Prozesses, in dem Vorurteile gegen das Theater neu adressiert werden konnten, historische Theaterfeindlichkeit fand mit dem Zirkus einen neuen Ort, an dem anstößige, als grotesk oder kurios gewertete Körperpraktiken gezeigt wurden. Trotz der vielfältigen Bemühungen und Strategien der Exklusion aus dem bürgerlichen Kanon hochkultureller Künste wird Zirkus dennoch ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten und bedeutsamsten Unterhaltungsphänomene, v. a. in den expandierenden Großstädten, obgleich diese ja nicht arm an konkurrierenden Angeboten zur Freizeitgestaltung sind. Mit Hilfe spezifischer Distinktionsmerkmale im Verhältnis zur Vielfalt an Angeboten gelingt es Zirkus, letztlich auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine wichtige Funktion einzunehmen. Spätestens jedoch ab den 1910er Jahren setzt ein rascher Attraktions- und Popularitätsverlust ein, dessen Ursachen noch nicht ausreichend erforscht sind. Während der Zeit des Nationalsozialismus kommt Zirkus eine äußerst ambivalente Funktion zu: einerseits werden jüdische Zirkusunternehmen und -familien völlig enteignet, verfolgt und ermordet (v. a. die Unternehmen Lorch, Strassburger und Blumenfeld, aber auch zahlreiche jüdische Artistinnen und Artisten 53 – insofern sie sich nicht bei anderen Zirkusunternehmen verstecken und unter falscher Identität auf-

51 Vgl. Birgit Peter: »Zirkus und Geschmack«, in: Matthias Grotkopp, Hermann Kappelhoff, Benjamin Wihstutz (Hg.), Geschmack und Öffentlichkeit, Zürich/Berlin 2019. 52 Diese Ausschlussprozesse und Formierungen wurden bislang wenig erforscht. Eine Ausnahme bildet dabei die Arbeit von Birgit Peter, die diese Formierungsprozesse als Geschmacksbildungsprozesse im Sinne einer Ordnungsstrategie und als Gesellschaftskonstituens – in Anlehnung an Bourdieu – beschreibt. 53 Bislang sind nur vereinzelte Namen von deportierten und ermordeten Artistinnen und Artisten bekannt. Vgl. dazu auch Günther, Ernst/Winkler, Dietmar: Zirkusgeschichte. Ein Abriss der Geschichte des deutschen Zirkus, Berlin 1986, v.a. S. 153. Und Peter, Birgit: Zirkus. Geschichte und Historiographie marginalisierter artistischer Praxis. (Manuskript), Wien 2013, S. 196-206.

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treten konnten54) und das »fahrende Volk« gilt grundsätzlich als verdächtig, weil es sich nicht in eine aggressive Blut-und-Boden-Ideologie einpassen lässt. Andererseits werden artistische Körperpraktiken und circensische Künste in das nationalsozialistische Reglement und die entsprechende politische Ideologie eingebunden: 55 Der Großzirkus als Wanderunternehmen wird zum Musterinstitut erklärt, wird zum Narrativ für nationalsozialistischen Expansionsdrang, Artistinnen und Artisten werden zu Vorbildern stilisiert, besonders deren Eigenschaften von Disziplin, Tollkühnheit, Todesverachtung und Draufgängertum. Sie bieten damit Identifikationsmodelle und Rollenmuster für eine faschistische Identität an. Auch Thea Albas Performance lässt sich vor dem Hintergrund präfaschistischer Rassentheoreme lesen: Thea Alba, die weiße Göttin, trägt Weißsein (whiteness) schon im Namen, sie schreibt mit weißer Kreide auf dunklem Grund, trägt die Namen ferner Städte oder auch fremde Schriftzeichen, die in die Performance integriert sind, darauf ein,56 was sich als Sinnbild nationalsozialistischen und rassistischen Expansions- und Herrschaftsgebaren lesen lässt. Dies würde insofern passen, als Thea Alba – nachweisbar ab Oktober 1940 – Teil der Artistengruppe Alba-Albrecht wurde, die wiederum der Kompensations- und Kriegsmaschinerie der Nationalsozialisten zugehörte, da sie in die Organisation ›Kraft durch Freude‹ überführt und integriert wurde. Dabei absolvierte sie auch Truppenbesuche – v. a. in Skandinavien – und wurde mit Begeisterung empfangen, ein Tankbuch zeugt davon.57 In ihm finden sich kleine, zumeist jeweils einseitige Danksagungen, oft in Reimform und mit selbstgemalten Bildern verziert, die die Wirkung auf die Truppen dokumentieren und zugleich die Integration von Thea Albas Performances in die nationalsozialistische Ideologie sichtbar machen. (Abb. 6-8)

54 Siehe Prior, Ingeborg: Der Clown und die Zirkusreiterin. Eine Liebe in finsterer Zeit, München/Zürich 1999 – bspw. konnten sich Alice und Gerda Danner im Zirkus Althoff verstecken, Irene Danner wurde dort als Italienerin ausgegeben und trat als Clownesse auf. 55 Ideologischer Vorreiter ist hier v.a. Dembeck, Hermann: Manege frei! Mit Zeichnungen von Heinz Rammelt, Berlin 1937. Aber auch Hahnke, Gustav: Bunte Zirkuswelt. Erlebtes und Erlauschtes. Feldpostausgabe, Berlin 1944 (= Die Neue Lese). Vgl. zu dieser ideologischen Vereinnahmung ausführlich: B. Peter: Zirkus, S. 217-233. 56 Vgl. die Performance von Trisha Brown (1936-2017): It’s a Draw/Live Feed (2008) im Walker Art Center, Minneapolis (Minnesota). Sie ist nahezu spiegelverkehrt: schon der Name: »braun« statt »weiß«, und statt mit weißer Kreide auf dunklem Grund, schreibt/ tanzt sie mit dunkler Farbe auf hellem Grund. 57 Tankbuch ist hier im Sinne eines Wortspiels gemeint, es changiert zwischen ›danken‹ und ›tanken‹ im Sinne von ›Kraft, Freude tanken‹. Dieses Tankbuch befindet sich im Marburger Circus-, Varieté- und Artistenarchiv und digital archiviert unter: http://artistenarchivmarburg.de/wp-inhalt/uploads/2016/03/Alba_Albrecht_low.pdf [12.07.19].

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Abb. 6-8: Tankbuch

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Auch nach 1945 sinkt die Popularität von Zirkus weiter. Trotz der Gegenbewegung des »cirque nouveau« oder des »Neuen Zirkus« u.ä. hat Zirkus im Verhältnis zu anderen populärkulturellen Unterhaltungsangeboten in den letzten Jahrzehnten immer stärker an Bedeutung eingebüßt. Zugleich gewinnt Zirkus rasch und bis heute anhaltend einen hohen nostalgischen Wert, der sich sowohl in entsprechenden Selbstinszenierungen als auch in medial transformierten Zirkusdarstellungen finden lässt. 58 Dennoch – oder gerade trotz des Bedeutungsverlustes – muss Zirkus nicht nur in allen relevanten Eigenaspekten und seine Ästhetik erfasst, sondern auch gesamtkulturell und historisch verortet werden. Es dürfen also nicht nur die von Zirkus affizierten Erzeugnisse der sog. Hochkultur analysiert werden, sondern ebenso seine Beziehungen zu anderen kulturellen Segmenten, um damit auch die gesellschaftspolitische Bedeutung von Zirkus sichtbar zu machen. Und nicht zuletzt ist dies auch immer ein Versuch, Zirkus zu (be-)schreiben, die scheinbar bedeutungsfreien Zeichen der Manegenkünste in bedeutungstragende Schriftzeichen zu verwandeln – ein Kunststück, wie es so ähnlich sonst nur der Zauberer in der Manege vollbringt.

B ILDNACHWEIS Sämtliche Bilder stammen mit freundlicher Genehmigung aus dem Circus-, Varietéund Artistenarchiv Marburg: http://artistenarchiv-marburg.de/digitalisierte-dokumen te/.

58 Vgl. etwa die Popularität von Zirkus als zentrales Sujet in aktueller Kinder- und Jugendliteratur.

The Greatest Show on Earth Die Ästhetik des Superlativs im Zirkus K ATHARINA G ÖRGEN »Those perceptions have combined to create the cultural myth of the circus: dazzling and fantastic, a living cabinet of wonders, a theatre of the impropable and even the impossible, an escape from reality – not only the escape afforded by a few hours of diversion, but escape from the circumscribed reality of oneʼs daily life.«1

Dieser außergewöhnliche Ort, an welchem Dinge jenseits des Vorstellbaren geschehen, dieser Zirkus, wie ihn Linda Simon in der Einleitung ihrer Publikation A History of the Circus. The Greatest Shows on Earth beschreibt, ist aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden. Wer heute etwas Magisches erleben oder Höchstleistungen sehen will, der denkt nicht mehr an den Zirkus. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der Niedergang des Zirkus auch durch seine einstigen Höhenflüge bedingt ist, dass die Selbstverpflichtung zum Superlativ, besagter »Greatest Show on Earth«, einem historischen Zeitgeist entspricht, in welchem der Zirkus erfolgreich wurde und Unterhaltungsstandards setzte, ihn aber langfristig vor eine unlösbare Aufgabe stellte. Der Superlativ, so meine These, ist gleichzeitig Leitprinzip und Fluch des traditionellen Zirkus. Dabei geht es mir in diesem Aufsatz keinesfalls darum, eine alternative Geschichtsschreibung des Zirkus zu wagen. Vielmehr möchte ich versuchen, auch artistisch ästhetische Faktoren als Gründe für den Niedergang des Zirkus in die Debatte einzubringen. Dabei liegt es mir fern zu behaupten, dass es sich beim Zirkus ausschließlich um eine historische Form handelt, die heute keinerlei Relevanz mehr hat. Dies widerlegen Erfolgsgeschichten wie die des Cirque du Soleil, Roncalli oder Flic Flac. Auch in Film und Literatur wird der Zirkus gerne aufgegriffen, wie etwa in den Blockbustern WASSER FÜR DIE ELEFANTEN (WATER FOR ELEPHANTS [USA 2011, R: Francis Lawrence]) oder THE GREATEST SHOWMAN [USA 2017, R: Michael Gracey]). Nichtsdestotrotz hat der Zirkus spätestens seit dem Ende des zweiten Welt-

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Simon, Linda: A History of the Circus. The greatest Shows on earth, London 2014, S. 16.

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krieges in der Unterhaltungsindustrie an Bedeutung verloren und die Geschichte vom Zirkussterben wird in regelmäßigen Abständen wieder diskutiert.2 Auf den so genannten traditionellen Zirkus beziehen sich meine Ausführungen vor allem deshalb, weil es sich um eine historiographische Idee handelt. Dass sowohl einige ›neue‹ Zirkusse sich bewusst an die Ästhetik eines traditionellen Zirkus anpassen, während andere die Logik des Superlativs fortsetzen, bleibt in meinen Überlegungen ebenso außen vor wie die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Trennung von traditionellem und zeitgenössischem Zirkus, die an anderer Stelle beantwortet werden muss. Auch soll keinesfalls der Eindruck entstehen, dass es sich bei der Zirkusgeschichte um die kongruente Geschichte einer homogenen Zirkuskultur handelt. Zu keiner Zeit gab es den Zirkus im Singular, so wie es nie das Theater oder den Film gegeben hat. Existiert haben immer eine Vielzahl von Traditionen parallel, was im weiteren Verlauf nicht ausreichend berücksichtigt werden kann, weshalb es weiterer Untersuchungen in Bezug auf die Logik des Superlativs bedarf. Ein Versuch, sich der historischen Form des Zirkus anzunähern, ist über dessen Beschreibung, bzw. Definition. Das Lexikon der Kunst beschreibt die »Darstellungsund Verfremdungstechniken als Montage der Attraktionen, Sensationen« und die Zirkuskunst als solche folgendermaßen: »Sie hat ihre eigene Fabel und Dramaturgie, ist oft ein Triumph über das ›Unmögliche‹, Triumph von Körper und Verstand.« 3 Die ›Attraktionen‹ und ›Sensationen‹ sprechen die gleiche Sprache wie der Superlativ, während der zweite Teil der Definition bereits das Problem umreißt. Denn aus dieser die Kunstform Zirkus konstituierenden Idee ergibt sich die Frage, welche Möglichkeiten bleiben, wenn eine Leistungsgrenze erreicht ist und neue Rekorde ausbleiben? Womit kann noch unterhalten werden, wenn neue Superlative keine Option mehr sind? Günter Bose und Erich Brinkmann stellen die von mir hier behauptete Problematik in ihrem Standardwerk Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst folgendermaßen dar: »Montage der Attraktion ist das, was der Zirkus sein soll. Der Körper des Artisten reicht dafür kaum noch aus. In den Rekord- und Todesnummern beweist er sich zum letzten Mal. Der dreifache Salto ist das Maximum. Den vierfachen will jetzt einer zeigen. Gezeigt hat er ihn noch nicht.«4

Den Superlativ als Unterhaltungskategorie zu definieren, wie ich es in diesem Aufsatz versuchen möchte, birgt einige Gefahren. Zum einen kann berechtigter Weise argumentiert werden, dass es sich bei dem Superlativ nicht um eine ästhetisch performative Kategorie handelt. Der Superlativ als solcher kann nicht zur Aufführung

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Siehe hierzu zum Beispiel: Wagner, Katharina: »Ohne Netz und doppelten Boden«, aktualisiert in: FAZ online vom 27.05.2009, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/zirkus sterben-ohne-netz-und-doppelten-boden-1801500.html [03.08.19]. Alscher, Ludger: Lexikon der Kunst in fünf Bänden. Bd. V, T-Z, Westberlin 1984, S. 729. Bose, Günter/Brinkmann, Erich: Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978, S. 141.

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gebracht werden, er existiert nur im Vergleich zu anderen Inszenierungen. Zum anderen macht die historische Quellenlage eine Aussage zum Superlativ fast unmöglich. Nachzuweisen wer als erster eine bestimmte Nummer, einen bestimmten Trick oder eine neue Variation eben dieses Tricks aufführte, ist für eine Unterhaltungsform, die bereits international existierte und gleichzeitig in der Forschung wenig dokumentiert wurde, fast unmöglich. Erschwerend hinzu kommt, dass der Superlativ jenseits von messbaren Einheiten auch eine subjektiv individuelle Kategorie sein kann. Unabhängig davon, ob in einer anderen Stadt oder in einem anderen Zirkus »Besseres« geboten wird, kann eine Darbietung für den einzelnen Zuschauer, abhängig von Wohnort, Alter, sozialem und finanziellem Status, einen Superlativ darstellen. Während ein einfacher Drahtseilakt für Kinder, die im ruralen Umfeld aufwachsen, eine nie dagewesene Sensation sein kann, muss für das Großstadtpublikum der gleichen Zeit das Seil vielleicht schon zwischen zwei Kirchtürmen gespannt sein, um noch einen Sensationswert zu haben. Das Versprechen des »besten Drahtseilakts« kann mit sehr unterschiedlichen Nummern für unterschiedliche Publikumsgruppen eingelöst werden. Der altersbedingt begrenzte Erfahrungshorizont von Kindern mag auch einer der Gründe dafür sein, dass der Zirkus heute häufig als Familienunterhaltung wahrgenommen wird, da sich Kinder von anderen Dingen bezaubern lassen und anderes als Höchstleistung erleben als ältere Menschen dies tun. Als Zielpublikum bieten sich Kinder jedoch nur begrenzt an, da sie über keine oder nur eine geringe Kaufkraft verfügen. Der begleitende Erwachsene muss daher ebenfalls für das Programm begeistert werden können, was wiederum eine andere Art der Darbietung erfordert. Theoretisch denkbar wäre es daher, dass ein Programm, welches in der Großstadt Premiere feierte, danach im ruralen Umfeld aufgeführt wird, um so die Haltbarkeit des Superlativs durch den Wechsel des Publikums zu verlängern. Da kostspielige Spitzennummern von den großen Zirkussen jedoch häufig nur für eine kurze Zeitspanne gekauft wurden, ließ sich die Spirale des Superlativs so nicht beenden. Da der Wechsel des Publikums nur kurzfristig eine Lösung darstellt, setzte sich die zweite Möglichkeit, die Steigerung einer Nummer als Prinzip durch. Gesucht wurde permanent der neue Superlativ einer Disziplin, einer Saison oder eines Stars der Manege. Wo sich der Superlativ oder dessen Verwendung zweifelsfrei nachweisen lässt, ist in den zahlreichen Programmheften, auf Ankündigungen und Plakaten. Damit verbleibt der Superlativ in der Kategorie des Sprachgebrauchs, aus der er kommt und in welche er sich logischer einfügt, als in die zirzensische Manege. Es ist höchst bedauerlich, dass die Ankündigungen, Überleitungen und Vorstellungen der so genannten Ringmaster – es handelte sich hierbei häufig um den Direktor des Zirkus, weshalb man im deutschsprachigen Raum auch von den Zwischennummern oder Ankündigungen des Zirkusdirektors sprechen kann – kaum überliefert sind. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass auch im historischen Kontext geschah, was heute noch zu beobachten ist: die einzelnen Nummern oder Artist_innen werden durch den Ringmaster im Superlativ angekündigt oder gerühmt. Der weltbeste Athlet, die schönste Dompteuse, der unsterbliche Clown – diese Formulierungen dürften Zirkusgänger_innen auch heute noch bekannt sein. Es geht hier weniger um den Superlativ als sichtbare Bestleistung, wie sie zum Beispiel bei Paralleldarbietungen der gleichen Nummer in einem amerikanischen Dreimanegenzirkus denkbar gewesen wäre, es

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geht um den Superlativ als Strategie. Indem ich eine Nummer als aktuelle Höchstleistung in einer bestimmten Disziplin beschreibe, kreiere ich einen Bezug zu anderen Inszenierungen, eine Vergleichbarkeit, die der Zuschauer einfordern kann und die die gezeigte Darbietung in einen größeren Kontext stellt, nämlich den des Zirkus an und für sich. Die Zirkusdarbietungen einer Zeit werden somit zu einem Referenzsystem, in welchem sich einzelne Nummern platzieren lassen. Indem eine Nummer als die beste, komplizierteste oder herausragendste angekündigt wird, wird sie automatisch aufgewertet im Vergleich zu allem sonst noch Existierenden. Doch aus diesem Erlebnis des Einzigartigen entwickelt sich auch eine Anspruchshaltung der Zuschauerinnen und Zuschauer. Paula Busch beschreibt diese Atmosphäre des wachsenden Anspruchs, die den Zirkus zu ihren Zeiten immer stärker herausforderte, in ihren Erinnerungen: »In diesem sich immer schneller wandelnden Panorama standen die Großzirkusbesitzer einem zunehmend verwöhnter, kritischer werdenden Publikum gegenüber, bauten riesige Zirkuskomplexe und statteten sie innen luxuriös aus, umgaben sie mit Marställen von hunderten von Pferden, machten sich zu Schrittmachern neuer technischen Möglichkeiten, und im Kampf um die Gunst des Publikums, im wütenden Gefecht mit der Konkurrenz suchten sie das Nonplusultra zu erreichen, durch das Herzstück ihrer Programme: durch die Zirkuspantomime.«5

Die Zirkuspantomime, das Glanzstück von Paula Busch, ist an dieser Stelle weniger von Belang als das von ihr beschriebene drängende Gefühl, sich von der Konkurrenz durch Spektakuläres abzusetzen. Den Erfolg ihres Vaters führt die Zirkusdame darauf zurück, dass er »mit dem Scharfblick eines Adlers sogleich erkannte, wo auf dem internationalen Markt Menschen oder Dinge den Keim zu Größerem, zur Einmaligkeit in sich trugen«6. Es ist anzunehmen, dass zu den Hochzeiten des europäischen Zirkus, während derer die Großunternehmen mit festen Häusern in den Städten vertreten waren, diese die besten Nummern für sich beanspruchen konnten und kleinere Unternehmen nicht konkurrenzfähig waren. Jewgeni Kusnezow beschreibt dieses Machtgefälle innerhalb der Zirkuswelt für die Disziplin der Parterreakrobatik, die sich in den Wanderzirkussen entwickelte, um dort den Mangel hochkarätiger Pferdenummern auszugleichen. »Nur die besten Ergebnisse dieses Entwicklungsprozesses fanden Eingang in die Zirkusse der Metropole.«7 Und doch eröffnete auch für kleinere Zirkusse die Steigerungslogik eine Möglichkeit, Publikum zu gewinnen. Da viele Reisezirkusse jedes Jahr die gleichen Orte besuchten, mussten sie damit rechnen, dass zumindest ein Teil ihres Publikums deckungsgleich mit dem des Vorjahres war. Marline Otte führt hierzu die Erinnerungen von Gerda Blumenfeld an. »The circus managment hoped thereby to establish a crowd of regular customers in various cities and thus minimize their economic risk.« 8

5 6 7 8

Busch, Paula: Das Spiel meines Lebens. Erinnerungen, Nördlingen 1992, S. 67. Ebd., S. 127. Kusnezow, Jewgeni: Der Zirkus der Welt, Berlin 1970, S. 41. Otte, Marline: Jewish Identities in German popular Entertainmant, 1890-1933, New York 2006, S. 71-72.

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Das erlaubte sowohl das Überleben von Publikumslieblingen – häufig dressierten Tieren mit einer veritablen Fangemeinde – wie auch eine Variation des Programms in einem jährlichen Zyklus. Die Formulierung Variation schließt zumindest theoretisch die Variante einer Nummer ein, die eventuell einen niedrigeren Standard hat als die vorausgegangene. Dies scheint aber im Zirkus keine Option gewesen zu sein. Variationen waren entweder Variationen im Sinne von Veränderungen einer gleichbleibend guten Nummer oder eine Verbesserung besagter Nummer. Nur so konnte das Publikum jedes Jahr erneut in den Zirkus gelockt werden. Für die festen Zirkusse stellte das wechselnde Programm ein weit dringlicheres Problem dar als in den ruralen Gegenden, in welchen der Zirkus per se eine Abwechslung und eventuell sogar eine Attraktion darstellte. Bei einem Fassungsvermögen von mehreren tausend Sitzplätzen der großen Zirkusgebäude war es zwangsläufig notwendig, das Publikum in einer höheren Frequenz als der jährlichen in den Zirkusbau zu locken, um rentabel bleiben zu können. Schnelle Programmwechsel entwickelten sich in der Hochphase der Zirkusbauten zum Prinzip. Jewegeni Kusnezow schreibt, dass Renz den täglichen Programmwechsel zum Prinzip erhoben habe. 9 Auch hier gilt die Devise, dem Publikum anderes oder besseres bieten zu müssen, um es zu halten, auch hier schwingt also der Superlativ in der Programmplanung mit. Jennifer Lemmer Posey beschreibt ein vergleichbares Phänomen für die amerikanischen Zirkus »Specs«: »While the processional format was effective, the larger circusses focused on increasing the size and scope of their specs as a way to distinguish themselves from their competitors.«10 Als der königlich niederländische Circus Oscar Carré 1879 einen Zirkusbau in Köln eröffnete, fanden sich auf den Ankündigungen keine direkten Superlative. Weder wurde die spektakulärste Pferdenummer versprochen noch die größte Sensation angekündigt. Was aber bereits zu finden ist, sind die zahlreichen und für den Zirkus typischen Adjektive. Der potentielle Zuschauer und die potentielle Zuschauerin werden darüber informiert, dass »Mlle Robinson mit ihren graciösen Tänzen und Sprüngen zu Pferde«, »der Clown Mr. Blennow mit seinen vorzüglich dressierten Hunden«, »die Könige der Hippologie, die berühmten 12 Trakehner Hengste«, »Mr. Charles Ducos in seinen außergewöhnlichen Jongleurkünsten zu Pferde« sowie das »Debut des in seinen Leistungen unübertroffenen Jockeys Mr A. Wells« zu sehen sein werden. Neben diesen Ankündigungen finden sich auch solche, die eher die technischen Details in der Vordergrund rücken und ohne Adjektive beschrieben werden. Ohne dass Carré in dieser Saison Superlative einsetzt, lässt sich am Einsatz der Adjektive bereits ablesen, welche Bedeutung Werbung für den Zirkus hatte. Zudem verweisen sowohl die »Könige der Hippologie« auf eine Hierarchie, welche im Zeichen eines Superlativs stehen könnte, wie auch die Ankündigung des »in seinen Leistungen unübertroffenen Jockeys Mr. A. Wells«. Auch wenn die Formulierung noch vornehme Zurückhaltung dem Superlativ vorzieht, geht die Grundaussage, dass hier eine einzigartige Nummer, die zudem derzeit die beste ihrer Art ist, gezeigt wird, be-

9 J. Kusnezow: Der Zirkus der Welt, S. 75. 10 Lemmer Posey, Jennifer: »The American Circus Spectacle«, in: Susan Weber/Kenneth L. Ames/Matthew Wittmann (Hg.), The American Circus, New York/New Haven/London 2012, 309-329, hier S. 313.

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reits stark in diese Richtung. Auch die Ankündigung, dass der Direktor persönlich in der zweiten Hälfte seine zwölf Hengste das Kommando debout ausführen lassen wird, belegt diese Tendenz. Das Kommando debout, welches die Tiere auffordert, sich auf ihre Hinterbeine zu erheben und diese Position zu halten, stellte lange den Höhepunkt einer Pferde-Dressurnummer dar. Die Schwierigkeit der Nummer liegt mehr in der Haltung des Pferdes als in der Anzahl der Tiere. Ein debout mit acht Pferden unterscheidet sich im Schwierigkeitsgrad von einem debout mit neun Pferden nur unwesentlich. Neun Pferde nebeneinander sehen jedoch beeindruckender aus als acht. Somit deutet die Angabe der Zahl zwölf auf eine Praxis des Superlativs im Zirkus hin. Im Jahr 1879 reisten Zirkusse ebenso wie Nachrichten. Es ist daher nicht auszuschließen, dass beim Kölner Publikum nicht nur eine gewisse Erwartungshaltung, sondern auch Vorwissen existierte. Hat das Publikum durch Nachrichten Kunde davon, dass in anderen Zirkussen das debout bereits mit mehreren Pferden zur Aufführung gebracht wurde, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass ein debout mit einem Pferd hinter den Möglichkeiten der Zeit zurück ist. Nummern existieren somit nicht mehr nur im Moment ihrer Aufführung und vermögen zu begeistern oder auch nicht, Nummern werden Teil eines internationalen Zirkuswesens, was eine permanente Vergleichbarkeit ermöglicht und den Superlativ verlangt. Auf dem wesentlich späteren Plakat des amerikanischen Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus aus dem Jahr 1920 wird dem Publikum nicht weniger versprochen als mit »dainty« Miss Leitzel the »Worldʼs most marvelous Lady Gymnast«11 (Abb. 1). Der amerikanische Unterhaltungsriese setzt hier den Superlativ in Kombination mit dem Adjektiv »marvelous« ein, welches nicht objektiv messbar ist. Während es demnach unmöglich ist zu beweisen, dass die Zuschauer_innen »the most marvelous« Akrobatin sehen, zeigt sich auch hier wieder die Logik des Superlativs. Ein Plakat zu einem unproblematisch messbaren Superlativ findet sich in dem Band Menschen Tiere Sensationen. Zirkusplakate 1880-1930. Geworben wird hier für die »dicksten und schwersten Mädchen von Holland«12 (Abb. 2). Gezeigt werden Elsa, Elvira und Berta nebeneinander sitzend, während zu ihren Füßen ihre Gewichtsangabe zu finden ist. Mit Spitzenhäubchen und Holzschuhen werden sie für den Zuschauer als Holländerinnen markiert, was sie zu einer ausländischen Attraktion macht und diesem oder einem anderen Zirkus gleichzeitig erlaubt, die schwersten Vertreterinnen einer anderen Volksgruppe parallel zu zeigen, ohne dass einer der beiden auf den Superlativ verzichten müsste.

11 Rennert, Jack: 100 ans dʼaffiches du cirque, Paris 1974, S. 63. 12 Heanlein, Carl-Albrecht/Till, Wolfgang: Menschen Tiere Sensationen. Zirkusplakate 18801930, Hannover 1978, S. 144.

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Abb. 1: Miss Leitzel

Abb. 2: Die dicksten und schwersten Mädchen von Holland

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Abb. 3: Herta

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Der Circus Sarrasani geht in den 1920er Jahren noch einen Schritt weiter. Auf seinem Plakat verspricht er »eine Prämie von 50.000 Mark demjenigen, der ein zweites Kind im gleichen Gewicht und gleichen Alter nachweisen kann« 13. Das eigene »Ausstellungsobjekt« Herta (Abb. 3), gegen das alle ihre eigenen Kinder messen lassen können, wiegt mit 15 Jahren 500 Pfund. Herta, die zwischen 1923 und 1926 für Sarrasani mehrere Tourneen machte, kann dem Bereich der Kuriositätenkabinette zugeordnet werden, die eine Zeit lang auch in Europa als Zusatzattraktion mit dem Zirkus reisten. Hier wurde das Publikum mit »Abnormitäten« wie behaarten Frauen, oder siamesischen Zwillingen gelockt, die in die Kategorie »Nie Gesehenes« fallen, oder – wie im Falle von Herta – der des Superlativs. Übergewichtige Menschen stellen an und für sich keine Attraktion dar, für die ein potentielles Publikum zu zahlen bereit ist, die dicksten Mädchen Hollands hingegen schon. Der Superlativ macht sie vermarktbar. Alle angeführten Beispiele zeigen, dass der Superlativ als Verheißung ebenso wie als Werbestrategie für den Zirkus von Vorteil war. Der Zirkus mit seinen ausgefeilten PR-Strategien wie dem Plakatieren vor Ankunft des Unternehmens in der Stadt, lebte vom Versprechen des Außergewöhnlichen. Die bunten Farben, die sich für die meisten traditionellen Zirkusse durchsetzten, sprechen die gleiche Sprache wie der Superlativ. Sie künden schreiend von den Attraktionen, dem Einzigartigen, das es hier zu sehen gibt und das den Zirkus von anderen populären Unterhaltungsformen wie dem Theater unterscheidet. In seinen Anfängen erreicht der Zirkus die Sensation des Neuen, des nie da Gewesenen durch die Integration neuer Entwicklungen und neuer Disziplinen. Sehr schnell wurden die frühen Pferdedarbietungen durch andere, neu entstehende Disziplinen ergänzt. Dabei zeigte der Zirkus ein erstaunliches Gespür für alles, was zu begeistern vermochte, alles, was dem Zeitgeist des Aufbruchs, der neuen Welt, dem menschlich Machbaren entspricht. Eine dieser Disziplinen, die den Weg in die Manege findet, ist die Dressur. Sobald Unternehmer wie Hagenbeck in der Lage waren, wilde, exotische Tiere zu importieren und ihr Überleben in Europa zu garantieren, wurden die Tierdressuren zur Zirkusdisziplin und Teil des Repertoires. Zwar waren dressierte Tiere bereits vor der Erfindung des Zirkus fester Bestandteil von Jahrmärkten und dergleichen, die Tierdressur im Zirkus erreichte jedoch eine völlig neue Qualität in Bezug auf die gezeigten Tierarten und die Dressuren selbst. Während es auf den Jahrmärkten noch als herausragende Nummer galt, den Bärenkäfig zur Fütterung zu betreten, demonstrieren die Raubtiernummern im Zirkus die Überlegenheit des Menschen über die Natur, zeigen die gezähmte Bestie als der Krone der Schöpfung unterlegen und von ihr domestiziert. Mit der Erfindung des Rundkäfigs 1891 steigt die Popularität der Nummern weiter, da nun der zirkuläre Aufführungsraum ideal genutzt werden kann. Doch auch in diesem Fall ist die Begeisterung des Publikums für die Präsentation vor allem exotischer Tiere im Zirkus Segen und Fluch gleichermaßen. Denn während die Ankündigung einer Raubtierdressur in den ersten Jahren noch mehr Publikum angezogen haben dürfte, kann dem Publikum nicht langfristig die gleiche Darbietung gezeigt werden.

13 J. Rennert: 100 ans dʼaffiches du cirque, S. 91.

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Veränderung, Variation und vor allem die Steigerung der Nummer werden zu einer Verpflichtung, um das Publikum, das den Zirkus mit Sensation verbindet, zu halten. Am Beispiel der Raubtierdressur lässt sich diese Spirale des Superlativs gut nachzeichnen. Nachdem in der ersten Saison eine Dressur mit Raubkatze eine Sensation war, musste in der nächsten Saison bereits etwas Neues gezeigt werden. Eine Steigerung der Darbietung konnte sowohl im Schwierigkeitsgrad der Dressur liegen wie auch in der Anzahl der Tiere. Die Logik des Superlativs könnte demnach die eingangs erwähnten zwölf Trakehner Hengste des Oscar Carré erklären. Denn auch wenn für die meisten Zuschauer_innen der Unterschied zwischen zehn und elf Pferden kaum bemerkbar sein dürfte, bzw. die Erfahrung des Zirkusbesuches nicht wesentlich verändern dürfte, besteht für den Zirkus hier die Möglichkeit, sich von früheren Darbietungen und der Konkurrenz abzusetzen. Im Falle der Raubtierdressur boten sich neben dem stetigen Anwachsen der Zahl der gezeigten Raubtiere noch weitere Steigerungsmöglichkeiten. Durch das Hinzufügen anderer Tiere lässt sich die Nummer verändern. Aus dieser Option kann sowohl eine Nummer mit gemischten Wildkatzen hervorgehen, wie auch die Zusammenstellung von Tieren, die in einem natürlichen Umfeld niemals gemeinsam erlebt werden könnten. Eine Koexistenz ist in diesem Fall auf das Talent des Dompteurs oder der Dompteuse zurückzuführen, die beide Kreaturen in dem Grad beherrscht, dass sie ihre Instinkte im Ring nicht ausleben. Eines der berühmtesten Beispiele einer derartigen Dressur ist der auf einem Pferd reitende Löwe. Dem Zeitgeist entsprechend scheint auch diese Nummer zu beweisen, dass nichts den Menschen aufhalten kann. Der Zirkus erlaubt dem Publikum, sich als Krone der Schöpfung zu erleben, ermöglicht dies durch unglaubliche Höchstleistungen in den diversen Disziplinen, welche den Menschen und seine zu diesem Zeitpunkt noch unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten ins Zentrum stellen. Damit befasst der Zirkus sich in seinen Inszenierungen mit dem Potential des modernen Menschen, der Hilfsmittel für sich einzusetzen weiß, wissenschaftliche Erkenntnisse nutzt, um »unterlegene Rassen« ebenso wie die Natur zu unterwerfen. Das wohl markanteste Beispiel hierfür sind die Völkerschauen, die auch im Zirkus zu finden waren: »Für den ›kleinen Mann‹ war es sicherlich eine aufregende Sache, wenn er beispielsweise einer Lappländerin beim Stillen ihres Babys zusehen konnte. [...] Es besteht freilich kein Zweifel, daß diese Schaustellung die nationalistische oder zumindest europäische Überheblichkeit unterstrichen, wurden doch die fremdartigen Völker von einem Teil der Besucher als minderwertige Kategorie von Menschen empfunden.«14

Der Zirkus zeigt dem begeisterten Publikum aber nicht nur exotischen Alltag aus fernen Welten, sondern auch, wie die Wissenschaft für völlig neue Disziplinen genutzt werden kann. Erfindungen jedweder Art finden Eingang in das Zirkusrepertoire und beweisen den Einfallsreichtum und das Fortschrittsstreben des Menschen. Inbegriff hierfür ist die so genannte Sensationsartistik:

14 Eberstaller, Gerhard: Circus, Wien/München/Zürich 1976, S. 120.

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Abb. 4: Tilly Bébé

»Die Sensationsartistik, die ihren Ursprung in Amerika hat, entsteht um 1900. Neuste technische Konstruktionen und exakte mathematische und physikalische Berechnungen (zu Trägheitsgesetz, Hebegesetz, Gesetz der Zentrifugalkraft, Gesetz des freien Fluges) liegen diesen Nummern zugrunde, die das Publikum aufpeitschen und so erfolgreich werden, dass sie in keinem großen Zirkus fehlen dürfen. Typisch ist der Einsatz neuer Erfindungen; neben dem Fahrrad sind dies vor allem das Automobil, aber auch Flugmaschinen aller Art oder auch Roll- und Schlittschuhe. Mit welcher Apparatur und welcher Maschine auch immer: Hohe Geschwindigkeit ist ein wesentliches Element der sensationellen Todesartistik. Tempo, Raserei und Rekord,

106 | KATHARINA GÖRGEN die Reizworte der Jahrhundertwende bis weit in die Zwanzigerjahre hinein, werden von den Todesnummern aufgegriffen«.15

Die Raubtierdressur kann auch in anderer Hinsicht »gesteigert« werden. In der Logik des 19. und 20. Jahrhunderts, in welcher Frauen als das schwache Geschlecht galten, stellte die gleiche Dressur präsentiert von einer Frau eine Steigerung zu der Präsentation durch einen Mann dar. Ein »zartes Frauenwesen«, das sich den Bestien furchtlos stellt und riskiert, von den Tieren vor Publikum zerfleischt zu werden, stellt eine größere Sensation dar als ein Mann in der gleichen Gefahr. Eine Frau im Raubtierkäfig ist damit der Superlativ eines Mannes im Raubtierkäfig. Stephanie Haerdle schreibt in Bezug auf Dompteusen im Kontext von Jahrmärkten: »Oft gehen die Frauen gerade dann in den Käfig, wenn der Reiz der Vorstellung erhöht oder ein Konkurrent ausgebootet werden sollte. Denn Frauen im Raubtierkäfig übten von Anfang an eine besondere Anziehungskraft auf die Zuschauer aus.«16 Da aber auch die Novität des Geschlechterwechsels nicht unendlich zu fesseln vermag, entwickelten bedeutende Dompteusen Figuren, die sie voneinander unterschieden und damit jede weibliche Dompteuse wieder zu etwas sensationell Neuem machten. Im Idealfall bedeutete die geschaffene Bühnenfigur einen weiteren Superlativ, wie dies im Falle von Tilly Bébé zu beobachten ist. In der deutschen Zeitschrift Der Artist aus dem Jahr 1904 ziert die Artistin das Titelbild (Abb. 4). Der Leser wird darüber informiert, dass die Künstlerin, die mit bürgerlichem Namen Mathilde Raupp hieß, in Brüssel im Sommerpalast auftreten wird. Von größerer Bedeutung als der Aufführungsort ist die Beschreibung »la plus jeune dompteuse du monde«17. Tilly Bébé, die eine zierliche Figur hatte, betonte diese durch ihre Bühnenkostüme, um den kindlichen Eindruck, den sie durch ihre Statur erweckte, weiter zu stärken. Unabhängig von ihrem Alter – sie war bei ihrem ersten Auftritt in der Manege 18 Jahre alt – suggerierte sie durch ihren Künstlernamen und ihre Inszenierung den Eindruck eines schutzlosen und unschuldigen Wesens, das sich furchtlos den mächtigsten Vertretern der wilden Natur entgegenstellt. Zu ihren berühmtesten Nummern gehörte es, ihren Kopf in den aufgerissenen Rachen einer Raubkatze zu legen und eines ihrer Tiere am Ende des Auftritts auf den Schultern aus dem Ring zu tragen. Die erstgenannte Nummer arbeitet mit dem Superlativ der jüngsten Dompteuse, die hier ihr Leben noch offensichtlicher aufs Spiel setzt. Missglückt die Dressur, verliert ein junges Mädchen, dessen Leben noch vor ihm liegen sollte, eben dieses in der Manege. Die zweite Nummer, das Tragen des schweren Tieres gehört in eine andere Superlativordnung, die den Zirkus eine Zeit lang beherrschte: Die stärkste Frau der Welt. So warb beispielsweise der Circus Busch mit »Athleta, der stärksten und elegantesten Athletin der Jetztzeit« 18. Das ehemals als schwach apostrophierte Geschlecht hob vor einem begeisterten Publikum

15 Vgl. Haerdle, Stephanie: Amazonen der Arena. Zirkusartistinnen und Dompteusen, Berlin 2010 [2007], S. 151-152. 16 Ebd., S. 60. 17 Der Artist 22.1000 (10. 04.1904), S. 1. 18 S. Haerdle: Amazonen der Arena, S. 41.

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Gegenstände wie Möbel und Autos in die Luft, stemmte Männer, Tische und Männer auf Tischen und schuf einen Superlativ nach dem anderen.19 In den Anfangsjahren des Zirkus gehörte die Suche nach Disziplinen, die das Publikum zu bezaubern wussten, und nach Inszenierungs- und Werbestrategien, die den Zirkus von anderen Unterhaltungsformen abzusetzen in der Lage waren, zur Entstehungsphase einer neuen Kunstform, die ihre Form und ihr Publikum noch etablieren musste. Eingebettet in ein Zeitalter, in welchem eine Erfindung die nächste jagte und der Mensch von vormals unbekannten exotischen Orten Dinge, Menschen, Tiere und Inspirationen bezog, entwickelte sich der Zirkus zu einem Ort, an welchem all dies zusammenfloss. Exotik, Technik, »wissenschaftliche Neuheiten« und die Überwindung alter Vorstellungen, wie der des schwachen Weibes, wurden zum integralen Bestandteil. Die Verfügbarkeit von Neuem und die Experimentierfreude des Zirkus, der täglich Tausende zu begeistern hatte, um rentabel zu sein, führten in der Kombination zu einem immer schnelleren Programmwechsel, der nur neue Sensationen erlaubte. Aus der anfänglichen Verheißung, alles integrieren zu können, entwickelte sich die Verpflichtung, immer neue Superlative zu liefern. Als Konsequenz daraus wurden Massennummern, die erlaubten, die Anzahl der Statist_innen als Superlativ zu bewerben, immer populärer und die großen Zirkusse sahen sich gezwungen, auch in immer größere Tiergruppen zu investieren, um konkurrenzfähig zu bleiben. Dadurch stiegen die Kosten, die es einzuspielen galt, immer weiter. Aus der Verheißung des Superlativs war eine Falle geworden. Dies zeigt sich auch in den berühmten »Todesnummern«, die beispielsweise aus einem Looping auf dem Fahrrad bestanden. Diese extrem gefährlichen Nummern vermochten die Gier nach Sensation des Publikums für eine Zeit zu stillen, forderten aber auch zahllose Todesopfer. Doch die Logik des Superlativs, die der Zirkus selbst geschaffen und zu einem seiner Markenzeichen gemacht hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits zu stark und die Konkurrenz neuer Unterhaltungsformen zu groß, um sich umkehren zu lassen. Das wohl markanteste Beispiel für die Logik des Superlativs im Zirkus ist der amerikanische Zirkus Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus. Das Unterhaltungsgroßunternehmen, das aus mehreren Fusionen erwachsen war, bewarb seine Shows mit dem weltberühmten Slogan »The Greatest Show on Earth«. Die NichtMessbarkeit dieses Superlativs ändert nichts an der Selbstverpflichtung, die noch immer den Superlativ impliziert. Nicht für eine einzelne Nummer, sondern für die Zirkusshow als solche. Kusnezow sieht in diesem Zirkus den Grund, dass sich der »Stil der großen Zahlen« endgültig etabliert. 20 Zu welch bizarren Blüten das Ringen um den Superlativ führte, zeigt auch der berühmte »Reklamekrieg« zwischen Sarrasani und Krone, in welchem die beiden um den ersten Platz in der Zirkuswelt konkurrierten: »Fast alles drehte sich um schiere Quantität und die Frage, welcher von beiden Zirkussen sich der ›größte Europas‹ nennen dürfe. Zu allem Überfluss trugen die beiden Zirkuskapitäne den

19 Vgl. ebd. 20 J. Kusnezow: Der Zirkus der Welt, S. 169-170.

108 | KATHARINA GÖRGEN Kampf auch juristisch aus. All das hatte am Ende Unsummen verschlungen und hätte beide Unternehmen über kurz oder lang ruiniert. Im Jahre 1929 kam es zu einem Gentlemenʼs Agreement. Im Hamburger Nobelhotel Atlantik trafen Hans Stosch-Sarrasani sen. und Carl Krone zu einem vierstündigen Gespräch zusammen. Im Ergebnis durfte Carl Krone sein Unternehmen als den ›größten Zirkus Europas‹ bezeichnen und Hans Stosch-Sarrasani sen. das seine als ›die größte Schau zweier Welten‹«. 21

Im Jahr 2016 tourten die beiden Shows »Circus extreme« und »Out of this world« mit dem Untertitel »light years beyond the expected«. Vor allem die Werbestrategie für letztgenannte Show zeigt, dass der Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus noch immer in den traditionellen Zirkuswerbestrategien brillierte. Nicht nur hat man es hier verstanden, einen intergalaktischen Superlativ für die Selbstbeschreibung zu finden, mit den Lichtjahren spielt man auch auf aktuell erfolgreiche Sci-Fi Serien und Filme wie die STAR WARS- und STAR TREK-Serien an, die einem jüngeren Publikum vielleicht näher liegen als der Zirkus, diesen aber mit ihren Helden verbinden. Um ein anspruchsvolles Publikum zu erreichen, lässt die neue Werbestrategie die Erde hinter sich und greift – ganz der Logik des Superlativs entsprechend – nach den Sternen. Umso aussagekräftiger ist es, dass auch das Unternehmen Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus seinen Betrieb im Jahr 2017 einstellen musste. Nach 146 Jahren aktiver Zirkuskunst verabschiedete sich das Unternehmen im Mai vor einem begeisterten Publikum mit dem Versprechen »Weʼll see you down the road.«22 Damit hat auch einer der letzten Giganten der Zirkusgeschichte, dessen weltberühmter Slogan so vieles versprach, aufgegeben. Abb. 5: Motto des Circus Probst

»The Greatest Show on Earth«, dieses zeitlose Versprechen verführt zu der Annahme, die Anwendung des Superlativs verlange keinerlei Kompetenzen. Ein Blick auf die Werbestrategie des Circus Probst beweist jedoch das Gegenteil. Mit »unter den Guten einer der Besten«23 (Abb. 5) versucht sich das Unternehmen an dem alten

21 Kirschnick, Sylke: Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus, Darmstadt 2012, S. 185. 22 https://www.ringling.com/ [01.09.17]. 23 Siehe hierzu die Homepage des Circus Probst: https://www.circus-probst.de/uberuns [21.12.18].

T HE G REATEST S HOW

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Prinzip, kombiniert es aber entweder mit Bescheidenheit oder mit Wahrheitsliebe. Dadurch scheitert es gleich zweimal am traditionsreichen Superlativ. Die Frage, die diese Selbstbeschreibung aufwirft, ist jedoch eine andere: Kann der Zirkus auch heute noch Superlative bieten und wenn nicht, kann er jenseits des Superlativs überleben und attraktiv bleiben? Die Logik des Superlativs bringt mit sich, dass es bei jedem Trick nur einen Superlativ pro Saison geben kann, wodurch jede andere Nummer bereits mit dem unattraktiven Siegel des Zweitbesten beworben werden müsste. Am Anfang des 20. Jahrhunderts und somit in einer Zeit, die wie keine andere als Zeitalter der Innovation, der Entdeckung von Freizeit für Bürger und vor allem der Neuheiten gilt, verschrieb sich der Zirkus dem Versprechen auf Leistungssteigerung. Ebenso wie der Leistungssport, der durch zahlreiche Dopingfälle in eine Glaubwürdigkeitskrise gerutscht ist und der ebenfalls den Körper als Arbeitsgrundlage hat, befindet sich der Zirkus heute in einer tiefen Krise. Es stellt sich die Frage, ob der menschliche Körper überhaupt noch in der Lage ist, sich weiter zu steigern, oder ob eine Grenze erreicht ist. Den Zirkus trifft dieser Entwicklungsstopp umso mehr, als er selbst den Superlativ zum Prinzip erhoben hat. Die Analyse des Superlativs als zunehmend verbindliches ästhetisches Prinzip des Zirkusʼ soll keinesfalls suggerieren, dass hier der einzige Grund für den Niedergang dieser Kunstform zu finden ist. Selbstverständlich spielen Entwicklungen wie die in den meisten Ländern ausbleibende staatliche Förderung, das Verbot von Raubtierdressuren in vielen Ländern, die Veränderung urbaner Strukturen und das Entstehen von Unterhaltungsalternativen wie Kino, Fernsehen und Internet eine bedeutende Rolle. Vor allem Letztgenanntes stellt eine doppelte Herausforderung dar, akzeptiert man den Superlativ als eines der Leitprinzipien des Zirkus. Denn neben der Rezipierbarkeit des Fernsehens oder Internets im Eigenheim für einen geringen Kostenfaktor ermöglichen technische Neuerungen wie das Internet eine sofortige internationale Vergleichbarkeit. Während ich im Zirkus Probst einer Zebradressur zusehe, kann ich parallel auf meinem Smartphone andere Zebradressuren googeln und mich – sollte ich etwas Spektakuläreres finden – um mein einzigartiges Erlebnis betrogen fühlen. Erschwerend kommt hinzu, dass Neues im Zirkus zu präsentieren im digitalen Zeitalter eine völlig neue Herausforderung ist. Neue Zirkusse wie der Cirque du Soleil oder der Horror Zirkus vermeiden den Superlativ in ihren Ankündigungen und versuchen zunehmend, sich durch themenzentrierte Inszenierungen von der Konkurrenz abzusetzen. Der Superlativ und sein Versprechen, das mit dem Zirkus durch den jahrelangen Gebrauch noch immer verbunden wird, haben eine Erwartungshaltung und ein Leistungssteigerungsprinzip genährt, das typisch für den Zeitgeist der Hochphase der Zirkuskunst war, heute aber nicht mehr einlösbar ist. Wie stark der Superlativ in den Köpfen vieler mit dem Zirkus verbunden ist, zeigt sich auch in der Todesanzeige des Clowns Oleg Popov in der Zeitschrift der Spiegel. Als »der beste Clown der Welt«24 wird Oleg Popov beschrieben und sein Lebenswerk damit mit einem weiteren Zirkussuperlativ gewürdigt.

24 http://www.spiegel.de/panorama/leute/clown-oleg-popow-der-russische-charlie-chaplin-isttot-a-1119470.html [01.09.17].

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Sein Tod, ebenso wie das Ende von Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus, der den Superlativ zum Leitspruch erhoben hat, verweisen auf das Ende einer Ära. Will der Zirkus nicht mit seinem selbstgewählten Prinzip des Superlativs untergehen, muss er neue Wege gehen. Das Entstehen des »zeitgenössischen Zirkus«, der sich weniger über messbare Höchstleistungen, sondern vielmehr über eine neue Ästhetik, eine thematische Ausrichtung und eine Dramaturgie jenseits der Steigerung definiert, scheint hier einen Ausweg zu bieten, um den unabwendbaren, endgültigen, ja absolut finalen Tod der Kunstform Zirkus zu verhindern.

B ILDNACHWEIS Abb. 1: Miss Leitzel. © Ringeling Brothers Abb. 2: Die dicksten und schwersten Mädchen von Holland. Quelle: Haenlein, CarlAlbrecht/Till, Wolfgang (Hrsg.): Menschen Tiere Sensationen. Zirkusplakate 1880-1930, Hannover 1978, S. 144. Abb. 3: Herta. © Circus Sarrasani Abb. 4: Tilly Bébé. Quelle: Der Artist (1904), Titelbild. Abb. 5: The Greatest Show on Earth. © Circus Probst.

Bewegte Körper – Ostentative Physis T ILLMANN D AMRAU [...] er ist die einzige ehrliche, bis auf den Grund ehrliche Darbietung, die die Kunst kennt [...]1

I. Lange Zeit wurde der Zirkus bei den niederen Künsten eingereiht, sofern er überhaupt zu diesen gezählt wurde.2 Das Odium eines wenig tiefsinnigen, vor allem der Schaulust und Sensationsgier gewidmeten Unterhaltungsformats, ist er, ähnlich wie das Varieté, kaum je losgeworden. Auch dann nicht, als feste Häuser und inszenatorischer Aufwand ihn zum repräsentativen Ort für die bürgerliche Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung gemacht hatten. Die Meinung, dass der Zirkus im Grunde nichts von Belang zu sagen hätte und in seinen Darbietungen um Höheres beziehungsweise Tieferes sich nicht bemühe und eigentlich doch oberflächlich bleibe, konvergiert mit dem Vorwurf, dass der Zirkus Teil der Machinationen einer Kulturindustrie sei und lediglich die Dressur und Unterwerfung der Natur vorführe. Im Zirkus, mit seinen raffinierten und technisch immer anspruchsvolleren Darbietungen, werde demnach ein durch die Industrialisierung errichtetes Regime über die Körper und deren Taktung durch die Maschinen fortgesetzt. Im Sinne der »Dialektik der Aufklärung«3 kehre sich schließlich auch im Zirkus die unreflektierte Emanzipation vom Naturzwang als Bezwingung der Natur gegen den Menschen, er werde nun selbst Material und als Körper abstrakt. Alexander Kluge formuliert dies recht deutlich im Abschnitt »Die fünf Sinne – Sinnlichkeit des Zusammenhangs« seines 1975 erschienen Buchs Gelegenheitsarbeit einer Sklavin: Zur realistischen Methode. Für Alexander Kluge ist der Zirkus unsinnlich, abstrakt, ein von den Idealen der französischen Revolution inspirierter Alb-

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Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe. Bd. 5, Frankfurt a.M. 1985, S. 422. Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Bd. 7: Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1970, S. 126, 240 u. 427; und: Bose, Günter/Brinkmann, Erich: Circus: Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978; Kusnezow, Jewgeni: Der Zirkus der Welt, Berlin 1970, S. 288 ff. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 2010.

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traum, worin »der omnipotente, neue Mensch Elefanten auf einem Fuß balancieren läßt, in der Zirkuskuppel fliegen könne, [...] Löwen Männchen machen usf. Die konsequente Umkehrung aller natürlichen Eigenschaften im Interesse der Darstellung der Machbarkeit von Gegennatur«.4 Diese Sichtweise konfrontiert eine zwar ungezähmte und bisweilen auch wild gefährliche, jedoch intakte Natur mit einem instrumentellen, bloß an Machbarkeiten orientierten Zugriff auf diese. Für Dirk Baecker gehört dieses Narrativ zum Kernbestand unserer Kultur, welche, wie er ausführt, allerdings mit einem doppelten Naturbegriff operiert.5 Dieser umfasst einerseits die rousseauistische Verklärung des Naturzustands als eines normativen, weil zivilisatorisch noch unverdorbenen Glückszustands, andererseits aber auch jene, durch den Naturrechtler Samuel von Pufendorf vertretene Position, wonach das kreatürliche Glück am Ende durch die hegende Zivilisierung der ›rohen‹ Natur erreicht werde. In diesem doppelten Verständnis von Natur figuriert diese einerseits als die intakte, wohl eingerichtete Schöpfung, als Ausweis der retrospektiv festgestellten Zweckmäßigkeit des Naturzustandes, andererseits aber auch als unwirtlicher Ort, wo es »nicht selbstverständlich ist, dass der Mensch existieren kann.«6 Ein Ort, der nur durch die Bezähmung der wilden Natur und die Erschließung natürlicher Ressourcen ein für den Menschen wohnlicher Ort wird. Ein Ort jedoch, wo das Überleben von der unausgesetzten Anstrengung zu ebenjener Zähmung, Kultivierung, Erschließung und Entwicklung der Natur und der natürlichen Ressourcen abhängt. Für Alexander Kluge und dessen von der Kritischen Theorie inspirierten Position geht der Zirkus, genau wie die Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat, darin nun aber zu weit. Der Zirkus mit seinen Dressurakten und den der Natur abgepressten Höchstleistungen wird selbst zum Inbild einer von der Industriegesellschaft dressierten und ausgepressten Natur.

II. Ein anderer Blick auf den Zirkus jedoch sieht vor allem die staunen machende Ausnahme, die Überschreitung des Gewöhnlichen, das Wunderbare, insbesondere die Überbietung des Vorstellbaren durch Leistung. Daran lassen sich sogar Aspekte von Gesellschaftskritik ausmachen. Für Bose und Brinkmann wird der Artist, speziell dessen Körper, geradezu zum subversiven Agenten. Wohl wird die Physis entsprechend der Logik der fortschreitenden Industrialisierung »abstrakt, zur Kraft, zur Arbeitskraft. Im Zirkus aber bricht sich die halb-technische Figur des Leibes an der Zwecklosigkeit des Tuns.«7 Während jeder Vorstellung, in »den Darbietungen, die

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Kluge, Alexander: »Die fünf Sinne: Sinnlichkeit des Zusammenhangs«, in: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin: zur realistischen Methode, Frankfurt a.M. 1975, S. 212–214, hier S. 213. Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2003, S. 44, 64 u. 113 ff.; und: Baecker, Dirk: Beobachter unter sich, Berlin 2013, S. 202 f. Blumenberg, Hans: »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M. 2014, S. 406-431, hier S. 414. G. Bose/E. Brinkmann: Circus, S. 115.

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Arbeit nicht sein sollen, wird die Physis gefeiert; die Existenz der Maschine zurückgenommen, indem sie sich im Menschen wiederholt [...]. Der Vorgang ist einer der Vertauschung«.8 Die artistische »Produktion, die der Abstraktheit nicht unterliegen will, hat doppelten Charakter. Sie ist Protest im Namen der erfüllten Arbeit vergangener Zeit, wie auch der Versuch, in der Verausgabung die Gegenwart mit der Zukunft zu schlagen«.9 Der Körper, die Physis, negiert die Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zwecken durch sinnlose Höchstleitungen, durch die souveräne Demonstration der eigenen Potenz, die nicht mehr angekränkelt ist von der Fokussierung aufs eigene Befinden. Der sich zweckfrei verausgabende Maschinenkörper, die rasante Körpermaschine wird zum Wechsel auf eine bessere Zukunft. Walter Benjamin formuliert dazu: »Im Zirkus muß ja selbst dem Borniertesten aufgehen, um wie viel näher am Wesentlichen, wenn man will am Wunder, gewisse physische Leistungen stehen als die Phänomene der Innerlichkeit.«10 Früher, noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, schreibt Théodore de Banville eingedenk der unglaublichen Darbietungen der Artistenbrüder Hanlon Lees: »Entre lʼadjectif possible et lʼadjectif impossible le mime a fait son choix; il a choisi lʼadjectif impossible.«11 Die Angehörigen der legendären Akrobatentruppe der Hanlon Lees12 sind für ihn Alliierte und Komplizen der Poeten, ja, überbieten diese sogar, weil sie die Sphäre des dichterischen Wortes bereits verlassen und sich der Realität zugewandt haben, wo sie den Konventionen und der Schwerkraft trotzen und zu Poeten des Körpers geworden sind.13 Es ist eine neuartige Bezauberung, die nicht vor allem von der Rhetorik der Inszenierungen herrührt, von den Phantasieuniformen, den Historizismen und Erotizismen, dem Aufgebot technischer Neuerungen – vom Synkretismus der zirzensischen Theatralität, der »Einheit der Vielfalt« 14 und dem Bemühen um Showeffekte, sondern von einer zwecklos gewordenen, intransitiven Rationalität und Intensität des Physischen, einer körperlichen Leistungsfähigkeit, die gerade dadurch ins Phantastische ausgreift, dass sie sich zu sinnfreien Höhen aufschwingt. Diese Poesie der Körper präsentiert eine Natur, die mittels technischer Kniffe verbessert, überboten, ja erst zu neuen Möglichkeiten entfesselt wird. Es ist diese in den artistischen Darbietungen erreichte gänzliche Äußerlichkeit der Körper, die, wie es Hans Ulrich Gumbrecht für den Sport reklamiert, »überhaupt nichts ausdrückt«15, sondern als pure Setzung verblüfft. Der artistische Körper hat sich der

8 Ebd., S. 118. 9 Ebd., S. 119. 10 Benjamin, Walter: »Ramon Gomez de la Serna, Le cirque. (Paris Simon Kra 1927. 214 S.)«, in: Kritiken und Rezensionen. Bd. 3: Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 2006, S. 70-72, hier S. 70. 11 Banville, Théodore de: »Les Frères Hanlon Lees«, in: Peter J. Edwards/Peter S. Hambly (Hg.), Critique littéraire, artistique et musicale choisie. Bd. 2: Textes de littérature moderne et contemporaine 67, Paris 2003, S. 429-436, hier S. 431. 12 Vgl. Günther, Ernst/Winkler, Dietmar: Zirkusgeschichte. Ein Abriss der Geschichte des deutschen Zirkus, Berlin 1986, S. 62. 13 Th. Banville: Les Frères Hanlon Lees, S. 430 ff. 14 J. Kusnezow: Der Zirkus der Welt, S. 4. 15 Gumbrecht, Hans Ulrich: Lob des Sports, Frankfurt a.M. 2005, S. 45.

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Theatralität und dem Zwang zum Sinn entwunden. Wir haben es hier mit einer Entfiktionalisierung, einem »Übergang von Sinn zu Sinnhaftigkeit« 16 zu tun, in dem sich »Sinnhaftigkeit mit dem sinnlichen Moment«17 verbindet. In dem Abschnitt der Aisthesis,18 den Jacques Rancière unter der Überschrift »Die Akrobaten des Unmöglichen«19 vor allem den Brüdern Hanlon Lees gewidmet hat, wird dieses Motiv einer sich verselbständigenden, rasanten Physis weiter präzisiert als »Trennung der Tat von jeder Motivation«20, die Handlungen werden von den Beweggründen abgelöst. Sie sind nicht mehr Ausdruck von Gefühls- und Motivlagen, sind nicht mehr einer Innerlichkeit zuzurechnen. Die besondere Kraft der Vorführungen besteht eben nicht darin, »die Stelle des Wortes einzunehmen, um die Gedanken und Emotionen auszudrücken. Sie besteht darin, mit der Kausallogik der Handlungen und mit der Semiologie der Ausdrücke der Leidenschaften zu brechen«.21 Für Rancière führt in der Kunst der Moderne diese »Emanzipation von der vereinfachenden Logik der Handlung«22 zu einem »ästhetischen Bruch [...] als Übergang von einem Regime der Repräsentation zu einem Regime der Anwesenheit oder der Präsentation«.23 Die Darbietungen der Akrobaten sind demnach genau wie die Werke der modernen Kunst geprägt von der Spannung zwischen »Wahrnehmung und Erfahrung«24, zwischen Präsentation und Repräsentation, von der spannungsvollen Verbindung aus Sinnlichkeit und Signifikanz, von Wahrnehmung – in all ihrer Unmittelbarkeit, Suggestivität und Evidenz – mit Narration. Die Überlegungen von Jacques Rancière korrespondieren mit jenen, die Roland Barthes zum ›Realitätseffekt‹ (»l’effet de réel«) 25 sowie zum »entgegenkommenden« und zum »stumpfen Sinn« (»le sens obvie«, »le sens obtus«) 26 entwickelt hat. Konstituierend für den ›Realitätseffekt‹ ist für Barthes ebenfalls die Entkopplung von Beschreibungen oder Details, zum Beispiel einer Erzählung, eines Fotos oder einer Filmszene, von den Erfordernissen der Handlung oder der Darstellung, also von dem, was mir erzählt oder mitgeteilt werden soll. Diese Details wirken daher einerseits

16 Steiner, George: Von realer Gegenwart, München 2010, S. 14. 17 Fellmann, Ferdinand: Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 5. 18 Rancière, Jacques: Aisthesis. Vierzehn Szenen, Wien 2013. 19 Rancière, Jacques: »Die Akrobaten des Unmöglichen«, in: ebd., S. 109-127. 20 Ebd., S. 115. 21 Ebd., S. 116. 22 Rancière, Jacques: »Das nachdenkliche Bild«, in: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 125-151, hier S. 140. 23 Ebd. 24 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: »Wahrnehmung versus Erfahrung, oder die schnellen Bilder und ihre Interpretationsresistenz«, in: ders., Präsenz, Berlin 2012, S. 240-260. 25 Barthes, Roland: »L’effet de réel«, in: Communications 11.1 (1968), S. 84-89, http://www.persee.fr/web/revues/home/prescript/article/comm_0588-8018_1968_num_11 _1_1158 [08.08.17]. Vgl. auch: Barthes, Roland: »Der Wirklichkeitseffekt«, in: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M. 2015, S. 164-172. Und: Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a.M. 2008, S. 126-137. 26 Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 2013.

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funktionslos und deshalb unmotiviert, fast zufällig, andererseits scheinen sie gerade deshalb für den ›Realismus‹ der Werke zu bürgen, weil sie sich eben der ›Logik der Handlung‹ entziehen und für ihr Verständnis und ihren Fortgang nicht unmittelbar nötig wären, aber, als scheinbare Indizes des Realen, Präsenz und damit Glaubhaftigkeit produzieren. Sie stehen für einen Widerstand des Realen (in seiner medialen Gegebenheit selbstverständlich) – »la résistance du ›réel‹ (sous sa forme écrite, bien entendu)«27 – gegen eine Durchrationalisierung der Narration und werden gerade dadurch ›sprechend‹. Der ›Realitätseffekt‹ beruht somit darauf, dass die Beschreibungen, die Details einer Erzählung, eines Fotos oder eines Films das konkrete Reale als Kategorie – »[...] c’est la catégorie du ›réel‹ (et non ses contenus contingents) [...]«28 – nicht mehr nur zu repräsentieren, sondern zu präsentieren scheinen und behaupten: »So ist es gewesen!« oder, eindringlicher noch: »So ist es!« Mag dieser ›Realismus‹, dieser ›Realitätseffekt‹, für gewöhnlich auch ein Medieneffekt sein, im Falle des Zirkus gilt dies jedoch nicht. Im Zirkus sind die Körper der Artisten beeindruckend gegenwärtig. Das gilt selbstverständlich um Beispiel auch für Sportveranstaltungen und Theateraufführungen. Die Fotografie, der Film, das Fernsehen, viele Computerspiele und die Virtual Reality der immersiven Simulationen dagegen zehren von der Realität einer durch den eigenen Körper vermittelten Erfahrung der Wirklichkeit anderer Körper, die von diesen Medienformaten aufgerufen wird, welche allesamt behaupten, das Reale durch Aufzeichnung oder Direktübertragung präsent zu machen oder dessen Präsenz artifiziell zu simulieren.29 Ähnliches gilt laut Roland Barthes auch für den »stumpfen Sinn«. Jenen »dritten Sinn«, den Barthes im Zusammenhang der Analyse des Films IWAN DER SCHRECKLICHE von Sergeij M. Eisenstein identifiziert und der zum Sinn der les- und entschlüsselbaren Zeichenvorkommnisse auf der »informativen« und der »symbolischen Ebene« noch hinzukommt.30 Diesen Sinn, den die »informative« und die »symbolische Ebene« unserer Lektüre anbieten, nennt Roland Barthes den »entgegenkommenden Sinn«. Jenen ominösen »dritten Sinn« aber nennt er den »stumpfen Sinn«, weil er, anders als der meinem Verständnis entgegenkommende Sinn der Informationen und Symbole, durch Lektüre nicht erschlossen werden kann. Dieser stumpfe Sinn ist vielmehr eine »Schramme quer durch den Sinn«31, eine »nicht-negierende Verspottung des Ausdrucks«32. Der stumpfe Sinn »untergräbt nicht den Inhalt, sondern die gesamte Praxis des Sinns. Als neue, seltene, gegen eine Mehrheitspraxis (die der Bedeutung) behauptete Praxis erscheint der stumpfe Sinn unweigerlich wie ein Luxus, eine Aufwendung ohne Gegenleistung«.33 Genau wie der ›Realitätseffekt‹ ist der stumpfe Sinn nicht der Rationalität und Effizienz von Lesbarkeit und Informations-

27 R. Barthes: L’effet de réel, S 87. 28 Ebd. S. 88.Vgl. auch: »bedeutet wird dann die Kategorie des ›Wirklichen‹ (und nicht ihre kontingenten Inhalte) [...]« R. Barthes: Der Wirklichkeitseffekt, S. 171. 29 Vgl. hierzu auch: Diederichsen, Diedrich: Körpertreffer, Berlin 2017. 30 Barthes, Roland: »Der dritte Sinn«, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays, Frankfurt a.M. 2013, S. 47-66, hier vor allem S. 53 ff. 31 Ebd., S. 61. 32 Ebd., S. 56. 33 Ebd., S. 61.

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übermittlung verpflichtet. »Der stumpfe Sinn ist nicht in der Sprache (nicht einmal in der der Symbole): Zieht man ihn ab, so bleiben die Kommunikation und die Bedeutung vorhanden, sie zirkulieren und funktionieren«.34 Ohne Zweifel ist dieser »dritte Sinn« ein zirzensischer Sinn, »analytisch gesehen, haftet ihm etwas Lächerliches an; weil er diese Unendlichkeit der Sprache erschließt, mag er gegenüber der analytischen Vernunft borniert erscheinen; er gehört zur Familie der Wortspiele, der Possen, der nutzlosen Verausgabungen; von moralischen oder ästhetischen Kategorien (dem Trivialen, dem Belanglosen, dem Unechten und dem Pastiche) unberührt, steht er auf der Seite des Karnevals. Stumpf passt also gut«.35

Doch was macht dann diesen stumpfen Sinn aus? »Wie soll man beschreiben, was nichts darstellt?«36 Was ist »die Bedeutung dieser Bedeutungslosigkeit« 37 – »la signification de cette insignifiance?«38 Der stumpfe Sinn statuiert »Signifikanz«39 – Sinnhaftigkeit und nicht eine bestimmte Lesart. Die amimetische Phänomenalität des Präsentierten meint oder bedeutet zunächst nicht etwas, sie ist zuallererst etwas. Der stumpfe Sinn bewerkstelligt den »Übergang von der Sprache zur Signifikanz«,40 »from meaning to meaningfulness«.41 Wiederholt wählt Barthes dafür das Wort »Luxus«42 oder er schreibt von »Glanz«43, um dieses Überschüssige, schwer Fassbare zu charakterisieren, das jeweils als ›stumpfer Sinn‹ oder auch als ›Realitätseffekt‹ den Fokus von der Darstellung, der Repräsentation, zur Präsentation verschiebt. Im Zirkus nun ist der artistische Körper zwar noch eingebettet in die zirzensische Narration, in die Rhetorik der Show, das Faszinierende am artistischen Körper jedoch ist vor allem das von ihm präsentierte Reale einer anscheinend zweckfreien Höchstleistung, deren luxuriöse Außergewöhnlichkeit einhergeht mit einer Evidenz des Faktischen, die Fragen nach dem ›Sinn‹ durch die demonstrative Operationalität der Physis zurückweist. Die amimetische Performativität der ostentativen Physis artistischer Körper produziert in der Zirkusvorstellung einen ›Realitätseffekt‹, hier durch die Betonung der eigenen Faktizität, wodurch sie zugleich stumpf wird gegen die Zumutung einer bruchlosen Einpassung in das Sinngefüge der Show. Der artistisch bewegte Körper produziert (›macht‹) Sinn, das heißt ›Signifikanz‹, paradoxerweise da, wo er sich von Sinnzuschreibungen immer wieder freimacht. Damit erschließt er aber auch

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Ebd., S. 58. Ebd., S. 50. Ebd., S. 60. R. Barthes: Der Wirklichkeitseffekt, S. 166. Ders.: L’effet de réel, S. 85. Ders.: Der dritte Sinn, S. 49 u. 63. Ebd., S. 63. Steiner, George: Real Presences, Chicago, IL 1991, S. 4. R. Barthes: Der dritte Sinn, S. 61; und: ders.: Der Wirklichkeitseffekt, S. 165; und: ders.: L’effet de réel, S. 84. 43 Ders.: Die Vorbereitung des Romans, S. 131.

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ein »Sinnfeld«44, das heißt eine Fülle, die seine jeweilige Kontextualisierung relativiert und beweglich hält. »Wenn sich die Aufmerksamkeit aus ihrer Fokussierung auf die Phänomenalität des Wahrgenommenen löst, kann diese als ein Signifikant erscheinen, dem sich die unterschiedlichsten Bedeutungen beilegen lassen: Assoziationen jeglicher Art, also Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle, Gedanken etc. Dabei ist fraglich, ob derartige Assoziationen sich nach bestimmten Regeln ergeben, also vorhersagbar sind. [...] Die Wahrnehmung oszilliert hier zwischen Konzentration auf das Phänomen in seiner Selbstbezüglichkeit und dem Auftauchen von Assoziationsketten.«45

Auch aus der Perspektive der Semiotik präsentieren die artistischen Körper zunächst sich selbst und damit eine Art Nicht-Sinn. »Nur als Resultat von Nicht-Sinn kann die artistische Produktion leben, nur diese Leere erlaubt die Signifikation, die man ihr zuspricht.«46 Der artistische Körper ist nicht Ausdruck und erzählt auch keine Geschichte. »Its semiotic specificity comes from the fact that the displayed ›message‹ does not refer to other actions, as is the case in miming when a story is told through gestures.«47 Die Körper stellen nicht mehr vor allem etwas dar oder führen etwas auf, sie sprechen auch nicht für sich selbst, sie sind nun in erster Linie einfach da, irritierend gegenwärtig und ermöglichen dadurch die von Gumbrecht so genannte »Epiphanie von Körpern (als Substanz)«.48 Damit meint Gumbrecht jenes affektintensive, jähe Gewahrwerden von Physis als »verkörperte Form«, 49 das er mit Bezug auf den Sport beschreibt. Gleichwohl Gumbrecht seine posthermeneutische Begrifflichkeit an der Beschreibung des Sports erprobt, lässt sie sich durchaus auch auf den Zirkus übertragen, zumal der Sport großen Einfluss auf die Entwicklung des Zirkus – insbesondere der Artistik – hatte.50 Festzuhalten bleibt allerdings ein entscheidender Unterschied zwischen Sport und Zirkus: Im Zirkus fehlt der Wettkampf und damit

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Ders.: Der dritte Sinn, S. 50. Fischer-Lichte, Erika: Performativität, Bielefeld 2013, S. 66. G. Bose/E. Brinkmann: Circus, S. 105. Bouissac, Paul: Circus Performances As Texts. A Matter Of Poetic Competence, in: Poetics 5/2 (1976), S. 101-118, hier S. 107, http://linkinghub.elsevier.com/retrieve/pii/0304422X7 6900036 [20.09.16]. 48 H.U. Gumbrecht: Lob des Sports, S. 121. Gumbrecht verweist in diesem Zusammenhang auf den Formbegriff von Niklas Luhmann, der Form als Einheit von Selbstreferenz und Fremdreferenz versteht. Form ist demnach alles, was für unser Wahrnehmen und Verstehen als Entität von allem anderen unterschieden ist. »Wir wissen intuitiv, was eine ›Form‹ ist, nämlich das, was uns die Wahrnehmung eines Phänomens in seiner Abgegrenztheit und Besonderheit ermöglicht«, ebd. S. 125. Ein Beispiel ist die bekannte Unterscheidung von Figur und Grund im Bereich visueller Wahrnehmung. 49 Ebd., S. 126. 50 G. Bose/E. Brinkmann: Circus, S. 125. J. Kusnezow: Der Zirkus der Welt, S. 111 ff., 121 u. 132. Schmitt, Christine: Artistenkostüme. Zur Entwicklung der Zirkus- und Varietégarderobe im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 197.

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verbundene Leistungsmessung mit Hilfe von Toren, Punkten, Zeiten und Weiten, 51 was die Zwecklosigkeit der zirzensischen Leistungen und deren ganz eigene Überschüssigkeit besonders hervorkehrt. Als Epiphanie bezeichnet Gumbrecht ein Ereignis, das als Auseinandertreten von Sinnzuschreibungen und einer affektintensiven Gegenwärtigkeit – Gumbrecht führt dafür den Begriff der »Präsenz« ein – ästhetisch erlebt wird. Das Besondere dieser Affektintensität ist die »Unmöglichkeit, die Konstitution semantischer Formen vom Empfinden des eigenen Körpers abzusetzen.«52 Ästhetisches Erleben ist demnach ausgezeichnet durch ein fortwährendes Hin und Her zwischen Sinn und Nicht-Sinn, der aber kein abweisbarer Unsinn ist, sondern die Wahrnehmung leiblicher Resonanz, ein Mitschwingen gewissermaßen. »Es ist also die Wahrnehmung, die zwischen Zeichenhaftigkeit und Phänomenalität, Konstitution von Bedeutung und somatischer Erfahrung oszillierend hin- und hergleitend einen performativen Prozess erst als einen solchen erscheinen lässt bzw. zu einem solchen macht.«53 Gumbrecht vergleicht diese Epiphanien mit dem Phänomen des Blitzes und nennt überraschende und gelungene Spielzüge in verschiedenen Mannschaftssportarten sowie musikalische Aufführungen als Beispiele. Epiphanien sind für ihn aber auch jene Momente, in denen uns Literatur und Gemälde unvermittelt anrühren. 54 Dabei meint ästhetisches Erleben bei Gumbrecht sehr allgemein »Gefühle von Intensität [...], die wir in den von uns bewohnten historisch und kulturell spezifischen Alltagswelten nicht finden können«.55 Ein solches, von uns ästhetisch erlebtes Ereignis hat eine besondere zeitliche und räumliche Dimension. Es scheint aus dem Nichts geradezu über uns zu kommen und ist im Augenblick seines Erscheinens bereits wieder verschwunden. Seine Instantaneität geht einher mit raumgreifender Gegenwärtigkeit. Ästhetischem Erleben eignet demnach immer etwas Unausweichliches, seine Intensität wird im Wortsinne als Ergriffenheit erlebt. Das Überraschende, ja, Unvermittelte des als Epiphanie ästhetisch erlebten Ereignisses instantaner Identifizierung von Form und das Oszillieren von Sinnzuschreibung und affektintensiver Gegenwärtigkeit wird als willkommene Distanzierung von den Wahrnehmungsroutinen des Alltags rezipiert, die sich speziell im Zirkus (und im Sport) eben vor allem dem Erleben von Resonanzphänomenen verdankt, die der medienvermittelten oder physischen Kopräsenz von Leiblichkeit bedürfen. Peta Tait formuliert zum Schwingen der artistischen Körper: »This suggests kinetic pleasure from a fleshed perceptual awareness that defies the weight of a lived body and the density of its habitual identity patterning. […] The effect of fleshed visceral

51 G. Bose/E. Brinkmann: Circus, S. 125. 52 Gumbrecht, Hans Ulrich: »Rhythmus und Sinn«, in: ders., Präsenz, Berlin 2012, S. 223239, hier S. 232. 53 E. Fischer-Lichte: Performativität, S. 67. 54 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2010, S. 131 ff.; Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz, Berlin 2012, S. 334 ff. 55 H.U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 120. Vgl. auch: H.U. Gumbrecht: Präsenz, S. 334 »dass wir als ästhetische Erfahrung bezeichnen, was immer uns Gefühle von Intensität bietet, die wir in unseren jeweiligen historischen und kulturellen Alltagswelten nicht finden.«

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reactions to performance functionally provides a reminder of the experiences of a lived body. […] Hence the pleasure of watching motion is in part always indicative of an awareness of the body’s unfolding dynamic liveness. Aerial motion and emotion produce sensory encounters; a spectator fleshes culturally identifiable motion, emotionally. […] The aerial body mimics the sensory motion of and within lived bodies in performances of delight, joy, exhilaration and elation. Aerial bodies in action seem ecstatic in their fleshed liveness.«56

Das ästhetische Erleben des artistischen Körpers als Epiphanie steht in ständiger Spannung zu dem Wissen und der Erfahrung, dass eine Zirkusnummer immer eine Anordnung, nach Effekt und Risiko kalkulierter Handlungen und Abläufe im rhetorischen Kontext Zirkus ist. Handlungen, die außerdem ständig wiederholt werden, teils in mehreren Vorstellungen an einem Tag. 57 Wenngleich der Zirkus ganz unbestreitbar ein kulturell formierter Ort eigener Rhetoriken ist, so wird doch dem artistischen Körper gerne eine besondere Kraft zugeschrieben, diese Rhetoriken in Frage zu stellen und durch die »Produktion von Präsenz« zu durchbrechen, »Aerial performance produces bodies moving in and out of mindful reflective spaces.« 58 Mit dem Beiklang des Utopischen spricht Hans Ulrich Gumbrecht von »Epiphanien, die es bewirken, daß wir zumindest für Momente nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit dem Körper davon träumen, es ersehnen und uns vielleicht sogar daran erinnern, wie vortrefflich es wäre, in unserem Leben im gleichen Rhythmus zu schwingen wie die Dinge dieser Welt«,59 »to be in synch with the things of the world«60.

III. Zurück zu unserem doppelten Naturbegriff; hier die zwar wilde, ungezähmte aber intakte Natur, dort die unwirtliche, vielfach feindliche Natur, der wir Menschen uns zu erwehren haben und die es zu zähmen und zu nutzen gilt. Hans Blumenberg folgend, lässt sich dieser doppelte Naturbegriff, dieses Kontrastieren von Kultur und Natur, dem der Gegensatz von unberührter Natur und Technik bereits eingezogen ist, als eine Folge der ideengeschichtlichen Entwicklung des Begriffs der Mimesis fassen – jenes für die Künste fast zwei Jahrtausende so zentralen Topos von der ›Nachahmung der Natur‹ durchs Menschenwerk.61 Ohne Blumenbergs Ausführungen hier detailliert nachvollziehen zu können, möchte ich die für meine Zwecke wichtigen Aspekte kurz referieren. Für Aristoteles

56 Tait, Peta: Circus Bodies: Cultural Identity In Aerial Performance, Abingdon/New York 2005, S. 151 f. 57 E. Günther/D. Winkler: Zirkusgeschichte, S. 116 f.; P. Bouissac: Circus Performances As Texts, S. 107. 58 P. Tait: Circus Bodies, S. 147. 59 H.U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 139. 60 H.U. Gumbrecht: Präsenz, S. 351. 61 Blumenberg, Hans: »Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M. 2004, S. 9-46.

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ist die Natur noch vollständig, Menschenwerk kann ihr nichts hinzufügen. Auch »wer ein Haus baut, tut nur genau das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen »wachsen« ließe«.62 Künstler und Handwerker bringen demnach nichts hervor, was in der Natur nicht bereits angelegt wäre. Sie sind nicht im eigentlichen Sinne schöpferisch, ihre Arbeit ist Teil eines Naturprozesses. Die Kunsttheorie der Renaissance erneuert die an die Kunst gerichtete Forderung der ›Nachahmung der Natur‹ noch einmal.63 Das Naturstudium wird wieder als zentrale Voraussetzung künstlerischer Arbeit benannt. Die Künstler sollen sich nicht ihren Phantasiegebilden überlassen oder traditionelle Darstellungsweisen bloß übernehmen, sie sollen stattdessen ihr Können vor dem Objekt schulen. Parallel dazu wird das Eigenschöpferische zunehmend betont, die Überbietung der Natur in den Hervorbringungen der Kunst. Speziell hinsichtlich der Schönheit wird Natur als defizitär wahrgenommen. Das Studium der Natur dient jetzt mehr und mehr der Konstruktion und Erfindung. Albrecht Dürer zum Beispiel ist fasziniert von der Aussicht, dass nicht nur das Personal der Bilder, sondern ›die Schönheit‹ gar, mit Hilfe von Geometrie und Proportionsregeln konstruiert werden könne. »Als Dreißigjähriger war er berauscht von der Aussicht in das ›neue Königreich‹ der Kunsttheorie […] und glaubte, die eine große Schönheit mit Zirkel und Richtscheit bestimmen zu können«.64 ›Nachahmung der Natur‹ bedeutet nun mehr und mehr nach dem zu suchen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«65 und die durch das Naturstudium gewonnenen Erkenntnisse zur Erweiterung oder gar Substituierung der Natur durch das Künstliche zu nutzen. »Das menschliche Schaffen sieht seinen Wirkungsraum durch das Gegebene benommen« 66 und strebt nach Erweiterung seiner Möglichkeiten. Nachahmung heißt nun nicht die Schöpfung, sondern den Schöpfer nachzuahmen, selbst schöpferisch zu werden. Schon Albrecht Dürer sieht den Künstler als »ein geleichformig Geschopf noch Gott«.67 Die Selbstbescheidung mit der Nachahmung des Bestandes wird als Zumutung empfunden. Unterm Diktum von der ›Nachahmung der Natur‹ teilte sich der Naturbegriff auf, zum einen in den gegebenen, ursprünglichen, allerdings oft widrigen Bestand der Natur und zum anderen in das, was durch Kenntnisse und Technik mit diesem Bestand zum Wohle des Menschen zu bewerkstelligen wäre. Die Natur wird nun mehr und mehr zum bloßen Material, zum Rohstofflieferanten. Diesem Verständnis nach sind die Produkte der Technik, wie der selbstgeschnitzte Löffel des »Laien« aus den drei Dialogen des Nikolaus von Cues aus dem Jahr 1450, nun keine Nachahmungen der

62 Ebd., S. 9 f. Vgl. Aristoteles: Physik: Vorlesung über Natur. Griechisch-Deutsch, hg. v. Hans Günter Zekl, Hamburg 1987, S. 89. (Physik II, 8; 199a 19-28) 63 Vgl. Panofsky, Erwin: Idea, Berlin 1960. 64 Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie, Frankfurt a.M. 1990, S. 510. 65 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust, hg. v. Erich Trunz, München 2007, S. 20, Vers 382 f. 66 H. Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, S. 16 f. 67 Lange, Konrad von/Franz Louis Fuhse (Hg.): Dürers schriftlicher Nachlass, auf Grund der Originalhandschriften und theilweise neu entdeckter alter Abschriften, Halle an der Saale 1893, S. 297 f.

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Natur mehr. Der Löffel ist von der Natur nicht vorgesehen, sondern eine autonome Hervorbringung des Menschen.68 Dies verführt Hans Blumenberg zu der Spekulation, ob das erste Propellerflugzeug, die ›Kitty Hawk‹ der Gebrüder Wright, deren Propellerantrieb an die Stelle der Nachahmung des Vogelflugs ein neues, technisches Prinzip gesetzt hatte, nicht auch möglich gewesen wäre, »hätte nie ein Vogel die Lüfte belebt«.69»Das Fazit der neuzeitlichen Geistesgeschichte« – so Blumenberg – »ist der Antagonismus von Konstruktion und Organismus, von Kunst und Natur, von Gestaltungswillen und Gestaltungsgegebenheit, von Arbeit und Bestand.«70 Die ideengeschichtliche Transformation des Topos von ›Nachahmung der Natur‹ und die daraus folgende Entgegensetzung von Natur und Kultur, Natur und Technik sowie die damit einhergehende Umwandlung von Natur in Material, Rohstoff, waren mit dem neuzeitlichen Eintritt des Menschen in ein technisches Weltverhältnis jedoch bereits angelegt, so Blumenberg in dem Aufsatz »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«71 zu Edmund Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Entscheidend für diesen technisch bestimmten Weltzugang ist dessen operative Ausrichtung. Erkenntnis zielt nun von vornherein auf Operationalisierung, erkenntnisleitend ist die Umformung, Neuformung und Substituierung von Natur, die nun vor allem Material und Rohstoff ist. Die Richtigkeit von Erkenntnis weist sich aus durch die Funktionalität ihrer möglichen Anwendungen. Sinnvoll ist, was machbar ist und funktioniert. Weiterzumachen wird wichtiger als die Frage nach dem Sinn des Tuns, weil sich dieses Tun im Methodischen seiner Anlage und durch seine Ergebnisse bereits gerechtfertigt findet. Die Evidenz der Funktionalität des Faktischen erübrigt die Frage nach dem Sinn, Kontingenzen werden akzeptiert. Der Zirkus ist unschwer als Erbe dieser Entwicklung auszumachen. Am Zirkus, insbesondere an den bewegten Körpern der Luftakrobatik, die häufig für den Zirkus insgesamt steht,72 ist dieser doppelte Naturbegriff ablesbar: einerseits die Zurichtung der Natur durch das Regime von Kalkül und Training, des Sinns und der Rhetorik, andererseits die Überschüssigkeit des Lebendigen, Glanz, Luxus, Epiphanien, (Natur-)Wunder. Charakteristisch für die Zirkusartistik ist der demonstrativ riskante Zugriff auf die dem Menschen eigenen Potenziale.73 Die artistischen Leistungen sind nicht durch eine Rationalität der Zwecke, sondern durch die ästhetische Setzung intransitiver ›Epiphanien von Körpern‹ gerechtfertigt. Das Künstliche präsentiert sich als evolutionäre Möglichkeit der Natur und die artistische Höchstleistung als Möglichkeit menschlicher Physis, welche wiederum in einem Resonanzverhältnis steht zu den Körpern der im Publikum sitzenden Menschen. »This suggests kinetic pleasure from

68 H. Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, S. 13 ff. 69 Ebd., S. 15. 70 Ebd., S. 16. 71 Blumenberg, Hans: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, in: Schriften zur Technik, Berlin 2015, S. 163-202, hier S. 182. 72 P. Tait: Circus Bodies, S. 5. 73 Vgl. E. Günther/D. Winkler: Zirkusgeschichte, S. 116 f.

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a fleshed perceptual awareness that defies the weight of a lived body and the density of its habitual identity patterning.«74 Die amimetische Performativität der ostentativen Physis technoider artistischer Körper bewirkt also im Zirkus einen besonderen ›Realitätseffekt‹, der in unserer leiblichen Ko-Präsenz gründet und einen ›stumpfen Sinn‹ generiert, welcher als transitorisches Formereignis einer ›Epiphanie von Körpern‹ wahrgenommen und erlebt wird. Der operationelle Verzicht auf Sinn, Bedeutung, den die ostentative Physis der artistischen Körper realisiert, konstituiert ein eigenes Verhältnis zu dem historisch verfestigten Gegensatz von Natur einerseits sowie Kultur und Technik andererseits – alle drei sind nun Topoi einer äquilibristischen Rhetorik, Positionen in einem Spiel, das sich mehr auf Ökologie als auf Beherrschung verwiesen sieht. Im Zirkus begegnen wir dem artistischen Körper auf zweierlei Weise: einerseits als Bestandteil der Show, von deren Rhetorik, Narrativen und Abläufen sowie andererseits als ostentative Physis, die ›überhaupt nichts ausdrückt‹ und deren operationelle Präsenz Alltagserfahrung in einer kontrastreichen Verklammerung von Faktizität und Fiktionalität distanziert. Der artistische Körper schillert, oszilliert, er ist ein zwischen Sinn, Unsinn und Nicht-Sinn, zwischen Ausdruck, Expression und Sensation oszillierender Körper. Die in der leiblichen Ko-Präsenz erlebte Wirklichkeit der ostentativen Physis des artistischen Körpers suspendiert Erfahrungswirklichkeit durch die verbal kaum fassbare, stupende Präsenz des Unglaublichen. Dabei ist es gerade die sinnlose Funktionalität der ostentativen Physis, die ein Möglichkeitsfeld eröffnet, das nicht nur ein Sinnfeld ist, sondern vor allem auch ein operatives Feld der Verfertigung von Wirklichkeit, live vor Publikum.

74 P. Tait: Circus Bodies, S. 151.

The Artist and the Scientist in the Circus A Cross-Disciplinary Approach P HILIPPE G OUDARD , S ANDY S UN (C ATHERINE D AGOIS )

Nowadays, circus actors perform across the five continents. Their mainly gestural art reaches past national borders and blends into all cultures. At the same time, their refined artistic discipline and rigid organisation constitute a closed world. The circus revival since the 1970s has undoubtedly provided access to this usually-closed world, where legends and secrets prevail. People of all backgrounds, including researchers, could thus approach circus as a field of scientific studies. Our present article is both a witness and an outcome of such developments. Recently, academic research has been breaking new ground by considering circus as an object of scientific study while circus artists have been proposing relevant analyses of their path and process of creation. These two approaches together offer an unprecedented multidisciplinary approach of the field. This chapter focuses on selective aspects of the risk in the preparation, construction and presentation of a highlevel, aerial, acrobatic circus act and on its aesthetic, sanitary and social consequences. Mixing the artist’s narrative and autoevaluation on the one hand, and the medical and aesthetical study of the performances on the other, we try to highlight the role of risk and imbalance in gestural practices and process, and to understand the nature of the circus arts and dramaturgy. In conclusion, we will propose a hypothesis about circus as a cultural model as well as a laboratory of human possibilities.

1. H OW TO R EACH AND C ONSERVE H IGH -L EVEL V IRTUOSITY IN A T RAPEZE ACT (S ANDY S UN ) The main objective of this paper is to present some observations and reflexions that arise from my experience as a trapeze artist and choreographer from 1978 to 2005. After reaching high-level virtuosity that resulted in winning a Gold Medal 1, an unlucky fall caused a fracture of my vertebral column and cranial trauma. Thereafter, I was able to reach my previous skill-level with the aid of a mental reset and personal readaptation on the apparatus.

1

Médaille d’Or Festival Mondial du Cirque de demain Paris au Trapèze fixe (1980).

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I studied mime and clownery at the Covent Garden School of London in 1975. Next, I went to a professional mime and circus school in Paris (School of Carre Silvia Monfort-Alexis Gruss) from 1976 to 1980. At the same time, I wrote poems and texts and presented them in ›café-théâtres‹. In 1978 I signed a contract as a trapeze artist in the Cirque Jean Richard. I was partner in the Sylver Stars number. Throughout these experiences, I discovered the circus life and gained an understanding of how violent, vital and full of energy this world is. Training in circus means that one’s body is alive at 200 percent. It was a unique form of schooling; it included 12 shows and seven cities per week, without a single day off throughout the whole seven-month tour. I liked the act, but preferred to build up my own, so I went back to the Alexis Grussʼ Circus School. I was my own teacher and pupil and trained many hours per day on the trapeze: I trained seven hours per day, four of which were on the trapeze. That training changed my body deeply. My focus was not on having big muscles (I guided my rehearsals in that direction); I did not want to look like a ›little boxer‹. My aim was to keep the body of a woman. I wanted to portray femininity and inner strength to the audience. I intended to present my act to the Festival Mondial du Cirque de Demain in the Cirque Alexis Grussʼ big top in Paris, and I was eager to participate in this event. This was – and still is – the most important competition for young virtuosos in the circus world. Many artists from other countries take part. I was passionate to see other new exercises and learn from them. I also was keen to show what I had rehearsed on my tiny practice trapeze to my first audience. The last thing to do was to find a stage name. I wanted something with energy, light and gold, and I chose: Sandy Sun. In the end, that very name was the one announced by the jury as winner of the Gold Medal. Mental strength is a very important skill in this field. For example, when you learn the fixed trapeze technique, your trapeze is close to the floor. Just by jumping from the floor I could grab it. The first time I did my act in public the trapeze was 29 feet high and there was no safety net! What is more, I only had one rehearsal at that height before performing in front of an audience. In order to succeed I trained myself to quickly adapt to risk. The construction of my trapeze act consisted of a succession of difficult figures and postures (attitudes), which I executed at great height, without a safety net. My act lasted for seven and a half minutes. During that time, I risked my life four times: Une pointe, Une pointe pied a la tête, Neck hanging and One Heel hanging. During the first rehearsal in the morning I was practicing on my own. Before I started, my instinct was on alert because unconsciously I felt I was on my way to open unknown perspectives for my art. I also knew that it would be very hard for the body to work on a steel bar. So, I had to have a dialogue with that body. Being a Gemini, I decided half of me would be the coach and the other half the student. The teacher would have to push, to help, while the student would have to trust, to believe, to find internal strength. My technique for taming my body was very logical. I started by analysing each movement. Starting with this command of the basics, I was able to increase the complexity little by little. First, I warmed up all muscles and tendons with mime and dance exercises based on breathing, rhythm, concentration, look and direction. I did them standing up and on the floor for 15 minutes. After finishing my act my heart

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was beating at 40 beats per minute, like an Olympic champion. When I worked in a travelling circus, with 12 shows per week, no day off, my heart had 46 pulsations per minute. After, I ran for another quarter of an hour. Subsequently, I began warming up on the trapeze with the same goals as on the floor. In addition, the fixed trapeze technique requires you to train your muscles to resist gravity. During my training I focused my attention on directing my gaze, which is of great importance in trapeze art. After three hours of training, I relaxed with controlled breathing. At noon I took floor stretching-lessons under the supervision of a coach for 90 minutes. My idea was to reduce the effect of the harsh treatment that I was imposing on myself. In the afternoon I rehearsed fixed and balancing trapeze in the circus school with the other trainees. Overall, my aim was to control a risky situation with a focus on virtuosity. My criteria of achievement were flying, amplitude, rhythm and precision. ›Hanging by the heels with straight legs‹ appears to represent those criteria particularly well: victory and joy are given to the audience. When the audience saw this position, they clapped like mad. Whether the pose was traditional or old fashioned, or not, remained undisclosed to the public, which conveyed the impression that I went beyond the limits, and the audience responded to that impression. After the great joy about the gold medal I was a bit disappointed. Of course, I had galas and television interviews, but I would have liked a nice circus season. I knew I needed good working conditions to perform my risky act. I remained enthusiastic and carried on with my training. In 1981, I was a Price-winner of the Fondation de la Vocation Marcel BleusteinBlanchet. Then, for the spring time show, I worked in the Cirque dʼHiver Bouglione in Paris. In 1982, I signed a contract with the Italian Circus Nando Orfei. It was there that I discovered a Fellinian universe with a blazing and sometimes cruel, poetry. You are ›attached‹ to the act and the prop, but, I like the show. This circus accommodated about 1600 spectators; the audience is close to you. It is very warm in the viewing seats... but itʼs very warm above too! So, it is dangerous. After a fall of 7.50 meters, I suffered a fracture of the dorsal vertebral column and a cranial trauma. Now, I am going to elaborate on the personal meaning I gave to my accident. I have always had a very high ambition for the disciplines I was practising, which is why I did that special figure in the first part of my act. I did not realise that usually that kind of movement takes place at the end of the act as an apotheosis. In traditional acts, the most risky or spectacular trick ends the act. For me the most important was to give the most impressive moves straight away. Although I caught the trapeze the bar was set too high, both literally and metaphorically! Once someone from the public who saw my number told me ›When youʼre doing your most dangerous tricks, I watch my shoes.‹ This reaction left me stunned because, of course, this was not the aim I had. I made great effort for the public, and I wanted them to watch the culmination of that effort. After the trapeze accident I was extremely lucky that I was not paralysed.
I suppose what is above us was seeing my act as well. After all, all this happened in the sky! And they surely found me naïve to believe that I could fight death with amazing and beautiful tricks. The accident served as a warning, but I also got a marvellous

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second chance. This unfortunate landing allowed me to do a spiritual take off... I got the lesson. In the circus world my act was recognised as being on an international level. After my fall, I was not sure I would be able to regain my former level of expertise; I was not especially interested in doing so either. I just wanted to restart the body training on the trapeze from the very beginning and see how it went. I started my reeducation on the little trapeze I have in my flat. Under the advice of Professor RoyCamille, a well-known orthopaedist in Paris, I trained less intensively than before and restarted with the basics. Once again, I acquired all the tricks and figures I was able to do before the fall, but I felt I could not have twice the luck. Doing so, I felt I would have had to lie to the public. Indeed, my act changed and became a continuous movement from the beginning to the end. Before the accident, in the first version, I was mainly working in a space limited by ropes and the bar. For the second act, after my self-reeducation and readaptation, I explored more possibilities, with the ropes, on the bar and under the bar. The circle has always interested me, because you cannot hide any angle of your body. You cannot escape; you are exposed completely and entirely committed to the public, in a 360° constraint. In the new act, rather than telling a narrative, I was sharing much smaller stories, feelings, eroticism, politics and history. I was working on each image very precisely, like a sculpture in movement, a kinetic work of art. However, since I was not working with a mirror, my movements were coming from my internal perception. As a consequence of the new figures and choreographic writing, a contemporary style and sense around a traditional apparatus emerged. My act became a dance on trapeze: a trapeze dance. I presented my act in »New Circus« companies such as Archaos and Le Cirque Intérieur, and at many circus festivals in London, the Netherlands and France. There were also tours in cabarets and circuses, in particular in Germany; I performed in Circus Roncalli, in the Tiger Palast. I began to teach Masterʼs degree classes, at the circus high school in Montreal, at the National Center for the Circus Arts in France and at the Academy Fratellini, for the danseurs of the Cie Maguy Marin. My accident allowed me to clear new perspectives for my art and to renovate it radically. This new act shaped a very personal style for myself, and marked the aesthetic break with traditional acts. I invented a new choreographic territory for the trapeze. As an artist, I am a sender and the audience is a receptor. Messages between us are shared: death, erotism, seduction and horror from the artist to the spectators, and applause, fear and admiration from the audience to the artist. Those messages are transmitted through forms and codes: feats, figures, postures and movements, choreography, suits, musique and the culture of the circus in its entirety. My history shows that one and the same artist is able to travel from the traditional circus to the New Circus, and to contribute to the elaboration of new figures as well as choreographic trapeze writing– for the creation of a contemporary style around a classic apparatus. Upon doing therapy after the fall, my work in psychoanalysis on the depth of my personality worked as a protection. It gave me strength and vitality, which saved me during the fall and after, for rebuilding a new act.

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2. T HE C IRCUS ACTOR : T OWARD (P HILIPPE G OUDARD )

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S CIENTIFIC APPROACH

As Sandy Sun has written above, the context of professional everyday practice in the circus includes: composition, writing and staging, specific features of pronounced biological, sanitary and aesthetic constraints, besides the various economic, professional and production factors. That is why studying circus and its actors require a particular approach. Rather than being a field for the application of theories on aesthetics or motor control elaborated elsewhere, the research on circus skills (acrobatics, juggling, etc.) undertaken in situ can, or rather should, offer a perfect place for these theories to be discussed, confronted and developed.2 Actually, such in situ observations have begun about fifty years ago in France, which enables us to offer a set of scientific-research results specific to the circus and its actors. Based on personal practice and observation since 1974, and developed in various French universities between 1988 and 2013, these results relate to circus skills and higher professional education in the circus arts. Such a conceptual and practical corpus offers the basis and opens up the prospective for a specific scientific approach to the circus arts. For example, based on the observation that circus actors use physical, neurophysiologic, symbolic and linguistic processes that bring a coherent meaning to their exchanges with the spectators, experimentation of invariant properties and cognitive processes that are specific to the circus can be posited. Given the history and the conditions of current circuses, we can presumably identify some universally-shared elements for circus actors and spectators. Are there any important invariants to be found in the circus? Could scientists bring them to light? In France, such a methodical, systematic, scientific study of the circus was made possible thanks to the work of three prominent professors within their respective fields: Claude Lévi-Strauss, the father of modern anthropology, who held the chair of Social Anthropology at the Collège de France; Michel Boura, a Professor of physiology at the Faculty of Medicine in Nancy; and Gérard Lieber, a Professor of Theatre Studies at the University of Montpellier. They facilitated circus studies that proved crucial to the scientific approach and all the results of such studies became avenues for research in the cognitive sciences. These studies shared a specificity: they investigated the circus and its actors with an interdisciplinary vision instead of focusing on one ability at a time. They assumed the existence of invariants that were common to the various circus processes that they thoroughly explored and experimented with. Paul Bouissac, a pioneer in the field who was strongly encouraged by Claude Lévi-Strauss to carry out his studies, was the first to apply a scientific approach to the circus, which he frequented and practiced – he founded and managed the Gérard Debord Animal Circus between 1964 and 1966. Among his numerous publications, Circus & Culture is a collection of articles and papers dating from 1966 to 1974 in which he lays the foundations for the linguistic and cultural specificity of circus art

2

Bardy, Benoît/Isableu, Brice: »De l’intérêt de la complexité des habiletés dans les arts du cirque«, in: Philippe Goudard/Denys Barrault (Eds.), Médecine du cirque, Montpellier 2004, p. 114.

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and groups disciplines around cardinal notions including equilibrium and disequilibrium, abstraction and discontinuity, among others.3 In La mesure des gestes, Paul Bouissac offers prolegomena for a semiotics of the circus that was based on description, symbolism and measurement, linking the circus to cognitive science for the first time, and establishing a connection between the syntagmatic model and a cybernetic and mathematical model of gestures.4 From 1988 onwards, I had the opportunity to carry out some research under the supervision of Michel Boura in Nancy at the physiological laboratory of physical activities in the Faculty of Medicine and the Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (INSERM), having practiced circus myself since 1974, as an actor (first as a trapeze artist, then as a clown) and producer. The focus of this research consisted primarily in energy studies and the incidence of pathology in the various circus disciplines taught at the French Centre for Higher Education in the Circus Arts (Centre National des Arts du Cirque). I was soon joined by Philippe Perrin, today a Professor of Science and Techniques of Physical and Sports Activities in Nancy (INSERM and Faculty of Sport) – his works on human equilibration are an authority – and Denys Barrault, a sports medicine doctor, then chief physician at the Institut National des Sports et de l’Education Physique (INSEP) in Paris and team physician for the French gymnastics, diving and judo Olympic Teams. Circus medicine in general and our results in particular are deeply indebted to their work. The method of calculation of workload that we established in 1989 5 then enabled us to highlight the fact that a specific relation between the workload and the onset of the pathology exists, that practicing circus art professionally without getting injured is impossible, and that joints, as body parts contributing to maintaining equilibrium, are the most affected. Moreover, our 1989 study revealed that the onset of pathology coincides with the aggravating influence of a number of factors, the first of which is the practice of circus art itself, through the circus actors’ performances, the working conditions, the social and economic factors and current behaviours – that is, a unique culture of effort. The pathology affecting circus actors therefore results from their quest for imbalance in practicing the discipline as much as from their lifestyle; in the art as much as in the profession. These initial results were followed by systematic studies on circus artists’ health diseases, their prevention and treatment, as well as the neuromotor specificities of circus practices.6

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Bouissac, Paul: Circus and Culture. A Semiotic Approach, Bloomington/London 1976. Bouissac, Paul: La mesure des gestes. Essai sur les problèmes méthodologiques de la description et de la transcription des comportements acrobatiques, MA diss., Lettres, Paris 1970; and ibid.: La mesure des gestes. Prolégomènes à la sémiotique gestuelle, The Hague/Paris 1973. Goudard, Philippe: Bilan et perspectives de l’apport médical dans l’apprentissage et la pratique des arts du cirque en France, MA diss., Médecine, Université de Nancy I 1989; Goudard, Philippe/Perrin, Pilippe/Boura, Michel: »Intérêt du calcul de la charge de travail pendant l’apprentissage des arts du cirque«, in: Cinésiologie 31.143 (1992), pp. 141-150. Perrin, Philippe: »L’équilibration dans les sports acrobatiques«, in: Ph. Goudard/D. Barrault (Eds.), Médecine du cirque, Montpellier 2004, pp. 19-27; Isableu, Brice/Bardy, Benoît: »Contrôle de la distribution des masses: Modélisation et perspectives au cirque«, in:

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Our previous research also produced other questions. First of all: what does the circus actor’s art involve? That question elicited several answers.7 The circus actor – in each of the disciplines of acrobatics, juggling, training and clowning – moves from a steady state (static or dynamic) to a deliberate imbalance that he compensates by a figure or a posture, before recovering a steady state. This self-destabilisation on the part of the actors is achieved through the most clever, complex and risky of actions, to the degree of endangering their own life. Thus, risk is at the heart of the circus actor’s activities. Alternating between postures (anti-gravity invariant schemes) and figures (the sequences of movements) connects steady and unsteady states to some references. 8 These references are the objects, apparatuses or animals acting as performance markers, on the one hand, and on the other hand, as the cognitive, postural, spatial and behavioural referents, which work upon the circus actor as much as on the spectators. These alternations between postures and figures can be considered as syntagmas, elements of a language that are specific to the circus, to which the notion of imbalance is central. The momentum, impulses, landings and rotations in the three planes – sagittal, frontal, horizontal – produce trajectories that are operated and adjusted by the artist in accordance with the space in which he performs and his apparatus (topocinèse), as well as with his own perceptions (morphocinèse). The circus actor therefore operates ballistic objects (juggled objects, animals, etc.), possibly including himself, ensuring »airborne rotation… the continuity of gestural sequence… as well as a full participation against the unbalancing effects of gravity, the quest for the highest difficulty, risk taking«, and then piloting the trajectory of his own body (as an acrobat) or behaviour (as a clown). 9 Postures, figures and trajectories are therefore the elements of a language that is specific to circus arts. ›If circus is a language, how does it communicate with us?‹ This question made us consider the circus as an art of abstraction, as well as an art of incarnation. As an abstraction, its trajectories and forms have a physical effect on the spectator. 10 As an

Ph. Goudard/D. Barrault (Eds.), Médecine du cirque, pp. 29-34; Barrault, Denys: »Les pertes de figure en acrobatie«, in: Ph. Goudard/M.P. Barberet (Eds.), Ecrits sur le sable, Montpellier 1994, pp. 143-152; Lestienne, Francis/Liverneaux, Philippe A./Thullier, F.: »Perception de l’espace: Rôle du mouvement céphalique dans l’orientation du regard«, in: ibid., pp. 167-179; Holtz, N.: »La jonglerie des chiffres«, in: ibid., pp. 181-187. 7 Goudard, Philippe: Le cirque entre l'élan et la chute. Une esthétique du risqué, Les Matelles 2010. 8 Perrin, Pilippe/Lestienne, Francis/Goudard, Philippe: »L’équilibre du funambule«, in: Ph. Goudard/M.P. Barberet (Eds.), Ecrits sur le sable, Montpellier 1994, pp. 129-134. 9 Pozzo, Thierry/Studeny, C.: Théorie et pratique des sports acrobatiques, Paris 1996, pp. 27, 19. 10 »You could still feel the human motion underlying the abstraction«. Kaiser, Paul: »Steps (l'arte della collaborazione)«, in: La scena digitale. Nuovi media per la danza, a cura di Armando Menicacci ed Emanuele Quinz, Venezia, Marsilio 2001, pp. 143-161, quote by Hagendoorn, Ivar: »Dance, choreography and the brain«, in: Francesca Bacci/David P. Melcher (Eds.), Art and the senses, Oxford 2010, p. 515. »It is quite remarkable how little information is needed to detect a human body in motion.« Hagendoorn, in: ibid.

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incarnation, the show mobilises his representations, or whatever the signs transmitted by the actors-emitters to spectators-receivers arouse in him. For instance, a flying trapeze act mobilises our experience of gravity, verticality, height and anticipation of trajectories, but also our personal history, our representations or culture of risk, of solidarity, of life and death, of failure and the surpassing-of-self. Surrendered to gravity, the acrobat meets our dream of cutting loose from its pull. Thanks to his cognitive system, the spectator at the circus can thus fly while remaining seated, survive the fall and triumph over the risk by way of delegation. Finally, the question ›What does the circus speak to us about?‹ is the main theme of the studies I have been carrying out since 1995 through the programme Cirque: histoire, imaginaires, pratiques. Noting that for thousands of years, in many cultures, the circus has belonged to a broader entity – shows with a central playing area, which exhibit some common components (the public surrounding the show, seasonal periodicity, performances, real or symbolic games with death…) – we tackled the antique and archaic origins of the circus. We have discovered that the actions engaged by circus actors are related to the notions of cycle, risk and crisis, where the rituals of wandering, of sacrifice, of summons and the conjuring of death have shifted from the religious calendar to ›secular‹ tours organised in accordance with the profit afforded by the shows. Disequilibrium, impermanence and instability are at the root and heart of the circus and the disciplines that it is composed of: acrobatics, juggling, animal training and clowning. At the circus, risk is an aesthetics. As an art of movement and gesture, it combines trajectories just like music fashions sounds or image fashions forms and colours. Circus actors’ living and performing conditions are as important as their shows in the universal fascination they hold when, through their acts, they display ›chaos organised for sensual pleasure‹.11 Between the impetus and the fall, the circus actor practices an art and adopts modalities of existence in which he is constantly at risk of disequilibrium, impermanence and instability. 12 Finally, by focusing on the spectators’ reception, from 1990 to 1993 we were able to carry out experiments on the sounds produced by circus actors and objects, and their reception by the spectators and the artists’ performances.13 As early as 1968, Paul Bouissac had published Volumes sonores et volumes gestuels dans un numéro d’acrobatie. Pour une expression mathématique des gestes.14 The similarities between his assumptions and research and our own (carried out decades later), corrobo-

11 Jando, Dominique: »Les numéros de cirque: Un chaos organisé pour le plaisir des sens«, in: Noël Daniel, The circus, 1870-1950, Cologne 2008, p. 346. 12 Goudard, Philippe: Arts du cirque, arts du risque, instabilité et déséquilibre dans et hors la piste, MA diss. Arts du spectacle, Montpellier 2005; Lille 2008. 13 Goudard, Philippe: »Captation et traitement du son des numéros de cirque: une expérience au Centre National des Arts du Cirque (1991-1993)«, in: Yvan Nommick and Philippe Goudard (Eds.), Musique et cirque, une relation féconde, Colloque Université Montpellier 3 and RIRRA 21 2013; forthcoming. 14 Bouissac, Paul: »Volumes sonores et volumes gestuels dans un numéro d’acrobatie. Pour une expression mathématique des gestes«, in: Langages 3.10 (1968), pp. 128-131.

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rate results obtained using different tools – linguistics, semiotics, cultural studies on the one hand, physiology and theatre studies on the other. The circus actor constantly interacts with space, with spectators, with his own perceptions, as much as with circus culture and history. Where is the show? On the stage? In the brain? Magnetic resonance imaging (MRI) reports events a hundred times slower than brain conduction. What happens between two elements detected by MRI? Hence, where is brain plasticity located? Where is the spectator’s reception? The cognitive understanding of a circus performer’s complex activities is fuelled by such questions. It should build on »a consideration of the immediate context and the effects of biological and cultural history on cognition and action«.15 It should also take into account the composite specificity of the circus – a scientific study of the circus must perforce address many disciplines. The actual questions are: What do the circus actors bring into play? What constitutes their relationship with the world? How are their representations of the world constructed? Or else: What is imagination? And how do we, as spectators, mobilise our own imagination in front of their works? Neuroscience, human equilibration, motor control, mirror neurons, linguistics, semiotics, the modelling of movements, robotics, recording techniques for gesture, sounds or brain processes, the study of notations that are specific to each circus discipline, of sensory-motor stereotypes and invariants, of functional and cultural analogies, of information processing and human behaviour, and their possible applications in circus medicine, disease prevention and therapies, the creation and circulation of shows, vocational training schemes, technical, artistic and industrial innovation… The paths opened by the results of specific scientific works on the circus lead to an unlimited field of research for cognitive science and technologies when applied to circus actors, disciplines and spectators.16 And other questions arise: What is the artist’s motivation for creation and production of risky artistic shows? Why does the artist choose risk as the heart of the circus actor’s activities? In the previous texts we have approached the performance of the circus in a practical and scientific way. It has been made clear that the artist – questing for the highest difficulty and risk-taking – is performing the most complex and perilous acrobatic moves and is at considerable risk of being harmed. The harm occurs by the aggravating influence of a number of factors. Therefore care and cure in the frame of Occupational Safety and Health for the artists is an interdisciplinary issue that asks for a holistic approach. The art of risk, disequilibrium and impermanence practiced by the circus actor elicits a particular meaning from his performance. It relates us to what Jean Genet calls ›the million-years-old genealogical certainty‹.17 Francisco Varela, the proponent of the theory of enactivism, closes one of his books thus: ›If the keystone of cogni-

15 Varela, Francisco: Invitation aux sciences cognitives, Paris 1996, p. 199 [translated by author]. 16 Goudard, Philippe: »Etre auteur de cirque en 2052«, SACD, Paris. http://www.ca.blog. sacd.fr/index.php/author/philippe-goudard/ [accessed October 2013]. 17 Genet, Jean: Le funambule, Paris, 1958; Genet, Jean: »Nouvelle édition«, in: idem, Œuvres complètes de Jean Genet, t. V, Paris 1979, p. 56.

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tion is its faculty of allowing meaning to emerge, then information is not predefined as an intrinsic order, but matches the regularities emerging from cognitive activities themselves… Representation does not play a key role anymore, but emergence does. So the basic idea is that cognitive faculties are inextricably linked to the history of what is being experienced, just like a previously non-existent path appears while walking.‹18 It is indeed in the path journeyed by circus artists that the reality they would share with us will then appear.

18 Francisco J. Varela: Invitation aux sciences cognitives, Paris 1996, pp. 111, 112, 122.

II. Diskurse, Debatten, Archive/ Discourse, Debate, Archive

The Circus as an Agent of Transculturation G ILLIAN A RRIGHI

Ideas about the ability of the circus to influence cultural change or introduce new trends, either through business operations, aesthetic choices, or the use of innovative technologies, have yet to be extensively explored in the recent interdisciplinary field of circus studies. This chapter conceptualises the circus as an agent of transculturation in Australia at the turn of the 20th century, arguing that circus trends from elsewhere, and visiting circuses from other regions of the world, were pivotal transcultural agents in the development of the circus and popular culture more generally in Australia. The mobility that has historically underpinned the circus’ restlessness across geo-political borders and language barriers is, in this chapter, theorised using lenses that accommodate the recent academic turn in global theatre histories,1 scholarship that acknowledges the circus’ intrinsic alignment with the narratives of modernity,2 and the theoretical apparatus proposed by Greenblatt et al.,3 customarily referred to as mobility studies, that seeks to understand the »physical, infrastructural, and institutional« processes through which culture is transmitted across space and time.4 From the late 1870s through to the early 1890s several large international circuses travelled to Australia’s east coast cities. Industrialised circuses from the United States proved popular with late 19th-century Australian audiences and lucrative for their American producers. Bringing innovative business and modernising production practices with them, they introduced Australian audiences to mechanised travel via the island continent’s expanding railway networks (Cooper and Bailey’s Circus, 1877), electricity as a source of illumination (W. W. Cole’s Circus, 1881), and ex-

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4

Cf. Balme, Christopher B.: »The Bandmann Circuit. Theatrical Networks in the First Age of Globalization«, in: Theatre Research International 40.1 (2015), pp. 19-36. Arrighi, Gillian: »The Circus and Modernity. A Commitment to ›the Newer‹ and ›the Newest‹«, in: Early Popular Visual Culture 10.2 (2012), pp. 169-185. Greenblatt, Stephen: »A Mobility Studies Manifesto«, in: Stephen Greenblatt, with Ines G. Županov/Reinhard Meyer-Kalkus/Heike Paul/Pál Nyíri/Friederike Pannewick (Eds.), Cultural Mobility. A Manifesto, Cambridge 2009, pp. 250-253. Ibid., p. 250.

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travagant menageries of exotic animals (Sells’ Brothers, 1891).5 This chapter briefly examines the influences exerted upon popular entertainments and popular culture in Australia by these and other internationally mobile cultural envoys. The motivating cultural phenomenon principally considered in this chapter is the Wild West Show, first introduced to Australia by the touring circus of Harmston and Son in 1890. In different ways, these circus producers disrupted the predominantly English circus traditions that had taken root in the Australian colonies in the 1840s. 6 While many commercial entertainment producers in Australia at the turn of the 20th century looked ›back‹ to Britain for the latest trends, this chapter brings to light the complex and lasting legacy of the American Wild West Show, a popular form that was frequently adopted by circus companies. Initially thriving in Australia in the early 1890s at the hands of numerous producers of melodrama and spectacle entertainments, it was immediately popular. It caught the late 19th-century Australian fascination for horses, trick riding, clever equestrianism, and displays of skills required to manage horses and cattle on the frontier. The spectacular Wild West Show of the late 19th century was imitated by Australian circus producers and sowed the seeds for later Western-themed circuses. These eventually gave way to smaller ›Western‹ shows, produced and performed by Australians, hybridised with Australian bush lore, and woven together with the emerging stockman culture of roughriding, buck jumping and bullock riding. From our contemporary position of cultural hindsight, it is obvious how the Wild West Show’s narratives of race conflict and white subjugation of first-nation people chimed with white Australia’s vexed relationship with the continent’s Indigenous people, but this thread of national congruence was not adopted by Australian producers of western or frontier themed popular entertainments.

V ISITING AMERICAN C IRCUSES Even before the 1870 establishment of a regular trans-Pacific sea route between San Francisco (the West Coast end of the transcontinental rail line from New York) to Sydney (on Australia’s east coast), the Australian colonies were already a destination for travelling circuses seeking enthusiastic audiences and financial gain. Prior to the mail steamship service that from 1870 joined San Francisco with Sydney, the Australian colonies had been visited by intrepid circus troupes that brought their individual aesthetic versions of contemporary circus to Australian audiences. Cooke, Zoyara and Wilson’s Circus visited Australia from the United States in 1866-1867. Unsurprisingly, equestrianism was central to this troupe’s programmes, but the most interesting records of their visit are the unusual performances by one of its stars, equestrienne Ella Zoyara, who lent her name to the circus’ title. Ella Zoyara the female

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Cf. Arrighi, Gillian: »Synthesising Circus Aesthetics and Science. Australian Circus and Variety Theatre at the Turn of the twentieth Century«, in: Early Visual Popular Culture 17.1 (2019), pp. 1-19. According to St Leon, early performances of circus-style acts appeared in the Australian colonies from 1833. Cf. St Leon, Mark: Circus. The Australian story, Melbourne 2011, p. 20.

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equestrienne was in fact a cross-gender presentation by the male performer Omar Kingsley, trained from youth to delicately represent a female circus character on horseback7. As I have explained elsewhere: »[T]he Ella Zoyara character was so delicately and expertly realised that ›she‹ gathered male admirers in many places over a considerable period of time. Even when the subterfuge was publicly revealed, many of ›her‹ followers refused to accept the deception. A tract written by a devotee [named Tom Cringle] and published in Melbourne in 1866, Ella Zoyara, the beautiful; the fairy of the magic ring, argued against suggestions that Zoyara was a male and the sincerity of the tract attests to the stubborn devotion of Kingsley’s male fans«.8

Cross-dressing subsequently occurred in circuses of the late 19th and early 20th centuries and commentators on this minor vogue cite Cooke, Zoyara and Wilson as the innovative source of this gender deception.9 A decade after Cooke, Zoyara and Wilson left Australia, Cooper and Bailey’s circus visited Australia in 1877-78, introducing Australian producers of large-scale popular entertainments to a revolutionising industrial innovation: the transport of people, animals and impedimenta via the railway system. Cooper and Bailey’s use of the Australian continent’s swiftly developing rail network recognised it was an efficient means to reach audiences who were widely dispersed across vast distances.10 Several years later, the American W. W. Cole’s Circus and Menagerie was the first show in Australia to operate electrically driven light sources for its ring acts, but reception of Cole’s electric lights was mixed, with some press reports responding to it as a novelty for its own sake, and others observing the quality of the light was too bright compared to the familiar light from gas sources.11 While Cole’s early demonstration of light from electricity presaged future practice, it would be twenty years before Australia’s leading circus of the era, the FitzGerald Brothers’ Circus, installed electricity into their permanent circus building in Melbourne in 1901.12 The decade of the 1890s saw more international circuses travel to Australia, staging other influential ideas and innovations, some of which caught on with Australian producers. Arriving in late 1891, Sells Brothers’ Circus was promoted as the biggest entertainment organisation ever brought to Australia and was the first to introduce Australian audiences to the American circus style of three rings, circumscribed with a track for elaborate parades and races of various kinds. However, the particular characteristic of the Sells organisation that set it apart from other visiting international circuses of this era was its extensive menagerie of exotic animals. Long before zoos

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Cf. Senelick, Laurence: The Changing Room. Sex, drag and theatre, London 2000 and Davis, Janet M: The Circus Age. Culture and Society Under the American Big Top, Chapel Hill 2002. 8 Arrighi, Gillian: The FitzGerald Brothers Circus. Spectacle, identity and nationhood at the Australian circus, Melbourne 2015, p. 169. 9 Cf. ibid., pp. 169-171. 10 Cf. G. Arrighi: Synthesising Circus Aesthetics and Science. 11 Cf. ibid. 12 Cf. G. Arrighi: The Circus and Modernity.

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were established in Australia’s major cities, American Gilded Age Circuses brought ›living wonders‹ of the natural world to Australian audiences. Their fascinating cages of live exotic animals, and their impressive performing elephants, hippopotami and big cats, were a metonym for human progress, exploration, and enlightened understanding of the natural world and man’s dominion over it. Australian circus entrepreneurs aspired to become successful enough to be able to acquire a menagerie of exotic animals and performing animals; they aspired to be like the Gilded Age circuses of W. W. Cole, Cooper and Bailey, and Sells Brothers. Not insignificantly, these Gilded Age circuses were received as confident envoys from another frontier nation – from another New World – from a place that was more socially similar to Australia than Australia was to Britain. American circus proprietors brought narratives that championed individualism; they demonstrated that business success could be achieved through hard work, imagination and enterprise, irrespective of one’s class. These qualities matched the evolving narrative of Australian national identity and the ›rags to riches trope‹ was as strong in 19th-century Australian circus lore as it is in American circus lore.

F RANK F ILLIS ’ S S OUTH AFRICAN CIRCUS Frank Fillis’s South African Circus toured Australia and New Zealand for almost two years (1892-94) with a company that included 170 people, 95 horses and ponies, four lions, one performing tiger and five elephants.13 He transmitted a particular style and quality of show to the settler societies of Australasia and his legacy to circus entertainments in Australia reverberated into the early years of the 20th century. Fillis had arrived in Cape Town from London in 1880 and within three years he was the proprietor of his own company, Fillis’s Circus. During the twenty-five years following his arrival in Cape Town he garnered a reputation in Australia and New Zealand, and colonial societies in India, the Straits Settlements, and Java, as a circus producer of refined taste, an elite trainer of horses and other animals, a rider whose elegance and skill drew forth comments that he was »centaur-like« and »the emperor of equestrians.«14 Described as a »national institution«15 and »the greatest showman South Africa ever had«,16 he was also known as a producer of large-scale arenic pantomimes including the epic military spectacle Savage South Africa (London 1899) and The Boer War (St Louis World’s Fair 1904). Although English by birth and

13 »Fillis’s Circus: A Chat With the Manager«, in: The Express and Telegraph (Adelaide), 27.02.1893, p. 3. https://trove.nla.gov.au/newspaper/article/208381833?searchTerm=Fillis %27s%20Circus%3A%20A%20Chat%20With%20the%20Manager&searchLimits= [08.04.19]. 14 See for example the South Australian Express (Adelaide), 27.02.1893, the Sydney Morning Herald, 21.11.1893 (review) and the Illustrated Sydney News, 27.01.1893. Similar comments about Fillis were frequently published in the colonial press during his stay in Australia. 15 Van de Merwe, Floris: Frank Fillis. The story of a circus legend, Stellenbosch 2007, p. ix. 16 Ibid., p. 1.

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training, Fillis came to be identified as South African. In Australia and New Zealand, he was received not as a cultural emissary from Britain and the Imperial centre, but as a fellow colonial from South Africa, from another periphery and frontier of Empire. In 1899, twenty years after departing England, Fillis was similarly received in London as a South African showman. His staging of battles from the recent Matabele Wars (which had led to the annexation of Rhodesia), and the accompanying ethnographic people show – named Savage South Africa, that was installed at Earl’s Court – transmitted images of Southern Africa to audiences at the Imperial centre and claimed authenticity from the outer regions of Empire. It was an authenticity that was not wholly welcome in London in 1899, several months prior to the declaration of war with the Boer people of the Transvaal and Orange Free State. In 1893 Fillis spoke of his reticence to undertake a tour of Australia and New Zealand as he thought the effects of a severe financial depression, combined with the recent visits of several huge American circuses, might have stripped the country of its superfluous cash and the public’s inclination to attend yet another circus. Contrary to his misgiving about the timing of the tour, his circus was enthusiastically received in the country’s two most populous cities, Sydney and Melbourne. A twelve-week season in Sydney, followed by nine weeks in Melbourne, generated enough goodwill in the colonial press to ensure Fillis’ popular reception throughout Australasia over the ensuing eighteen months. The arrival of the South African circus, hard on the heels of the huge circuses and Wild West Shows discussed earlier in this chapter, proved, curiously, to Fillis’ advantage. In contrast to recent American-style three ring circuses, Fillis presented his show in the reductive single ring of English circus style; at Fillis’, the customary circus brass band was replaced with an elegant twenty-five member string orchestra; and Fillis prided himself on the comfort he afforded his audience with a »well-trained corps of ushers«17 and »capacious chairs with backs«.18 In Australia the circus-going public were astute judges of skilled horsemanship, quality horseflesh was highly esteemed, and Fillis’ principally horsey programme consequently struck a popular chord with audiences. In addition to introducing elegance and class to the circus site, Fillis brought new entertainment experiences to Australia. In a break with the characteristically macho tenor of the lion-taming act, he introduced Jasia Scherazade, the first female lion trainer to be presented to Australian audiences (although this was a relatively late introduction to a trend in big cat performance that European audiences had been exposed to for a long time). Jasia’s appearances with Fillis’ lions were, however, cut short in Sydney after only a week when the Premier of New South Wales, Sir George Dibbs, censored her act on the grounds

17 »Fillis’s Great Circus«, in: Express and Telegraph (Adelaide), 20.03.1893, p. 4, https://tro ve.nla.gov.au/newspaper/article/208383623?searchTerm=%22Fillis%27s%20Great%20Cir cus%22&searchLimits=requestHandler=%2FheadingSearch|||l-advstate=South+Australia [30.05.19]. 18 »Fillis’s Circus«, in: South Australian Register, 18.03.1893, p. 7, https://trove.nla.gov.au /newspaper/article/197863651?searchTerm=%22Fillis%E2%80%99s%20Circus%22&sear chLimits=exactPhrase=Fillis%E2%80%99s+Circus|||anyWords|||notWords|||requestHandler =%2FheadingSearch|||dateFrom|||dateTo|||l-advstate=South+Australia|||sortby [30.05.19].

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that it was morally unacceptable for a woman to place herself in physical danger.19 A public outcry in Sydney’s press ensued but instead of causing the reinstatement of Jasia Scherazade to Fillis’ programme, the NSW Premier also shut down Fillis’ male lion tamer, Captain Russell. To ameliorate the erasure of his show’s spectacular climax, Fillis exercised his facility for extravagant spectacle by producing a Water Pantomime for the Christmas season of 1892. The arena was turned into a tank, steam pumps delivered 50,000 gallons of water into the tank in only 4 ½ minutes, an island and a bridge were set up in the ›lake‹, and in the comic burlesque that followed, 80odd people took to the water in canoes, steam launches and skiffs.20 Analysis of programming by the FitzGerald Brothers’ Circus during the 1890s, when at the height of their popularity, reveals a clear influence from Frank Fillis. A series of elegant equestrian acts produced by Fillis were subsequently emulated by the FitzGeralds and retained on their programs, including an exhibition of haut école equestrianism by a female rider that echoed the riding routine of Fillis’ wife Eliza. 21 Several months after Fillis presented his lion taming act to Sydney audiences, the FitzGeralds produced their own lion act in the same style; and over time, other acts first introduced to Australia by Fillis were adopted and adapted by the FitzGeralds, including acts with educated elephants, lions and tigers; a monkey and pony steeplechase; the Water Pantomime scenario; and a military drama titled Dying to Save The Colours.22 Not surprisingly, given the era and society, some of Fillis’ most popular acts in Australia were infused with imperial narratives. It was not just exotic animals and clever performers that Fillis brought with him; he also brought associations with recent colonial events in South Africa. The oppositions of culture-vs-nature, and civilisation-vs-wildness, so much a part of the imperial story, were articulated, for example, in the popular lion taming displays by Fillis’ male lion tamer, Captain Russell. Russell described his lions as »treacherous«; the term »Captain« in his stage name conjured ideas of military dominance, and his costume, which also quoted military elements, strengthened the stage persona of masculine colonial hero.23 Likewise, the heroic drama Dying to Save the Colours was underpinned with the same oppositions (culture-vs-nature and civilisation-vs-wildness). Performed by human and horse ›actors‹ this equestrian drama did not recount a glorious victory by British troops. Instead, it sentimentalised a British loss. The military drama narrated an episode from the Zulu War of 1879, the battle of Isandhwhala, when two lieutenants of the 24th Regiment carried the regimental colours out of the reach of Zulu warriors. Both men died on the battlefield and their heroism was widely reported and glorified in the immediate aftermath of the battle. Frank Fillis acted the heroic role in the drama with

19 Cf. Arrighi, Gillian: »Political Animals. Engagements with Imperial and Gender Discourses in late-colonial Australian Circuses«, in: Theatre Journal 60.4 (2008), pp. 609-629. 20 Cf. ibid. and G. Arrighi: The FitzGerald Brothers Circus. 21 Australian journalists were enraptured by Elizas’ elegance and equine management skills and proposed her popularity was due to the fact that while Australia had many skilled circus riders, the haute école style was rarely seen, and never exhibited by women. 22 Cf. ibid. 23 Cf. ibid., pp. 70-71.

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his horse Kismet. One Australian journalist thought the drama »appeal[ed] to the sympathy and patriotism of every Britisher«24 and noted that Fillis was »greatly assisted by his very clever horse which, with its master, has won high praise in all the colonies in this particular act«.25 Dying to Save the Colours had a long life in Australia. In the months following the end of the Boer War, the FitzGerald Brothers’ Circus produced their version of the patriotic hippodrama but their version of the story was enriched by the experience of Australia’s first substantial war engagement on foreign soil. The story required little alteration to adapt to the more recent conflict in South Africa; it narrated an attack by natives on a handful of British soldiers and the heroic efforts of the last British survivor to get away with the Union Jack that he had rescued from a fallen comrade. The soldier’s horse saved his life and so became the hero of the dramatic scene. Apart from introducing new sorts of acts – thereby enabling local managements insight into how to produce and stage those acts – Fillis also brought less-tangible benefits to Australian show business, for example, a sense of colonial pride. As mentioned earlier, he was not received in Australia as an emissary from the dominant cultures of either the United States or Britain. His South African-based company traversed geo-political borders, confident that its productions were elite and up-to-date; and the quality and confidence of Fillis’ productions were a salutary example to other colonial circus producers about their own potential, their own identity, and the validity and worthiness of their productions to the global market of circus entertainment. It is probably no coincidence that Australian circus producers began touring their home-grown shows to the wider global market after Fillis’ tour of 1893.

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AUSTRALIA

A version of the spectacular Wild West Show was first presented to Australian audiences by the international circus of Harmston and Son at Melbourne’s Exhibition Building in late 1890. Founded in England by William Batty Harmston in 1880, the circus experienced financial difficulties in the mid-1880s. Speculating on richer financial prospects outside of Britain, Harmston had brought his circus to Asia by 1889 »and remained a fixture of popular entertainment in Asia until 1938, playing India, Sri Lanka, China, Singapore, the Philippines, Malaysia, Vietnam, Indonesia, and other parts of the region«,26 including several Australian tours during the 1890s. It seems somewhat curious that the frontier-themed American incarnation of the circus form, the Wild West Show, was introduced to Australia (another colonial and

24 In the 1890s Australia was comprised of six independent settler colonies, each ruled by the British Crown. Most of the white settlers in the Australian colonies emanated from the British Isles. Australia became a federated nation of states in 1901. 25 »Mr F. E. Fillis. An Interesting Interview«, in: The Express and Telegraph (Adelaide), 18.05.1893, p. 6: https://trove.nla.gov.au/newspaper/article/208383478?searchTerm=Mr% 20F.%20E.%20Fillis%3A%20An%20Interesting%20Interview&searchLimits= [08.04.19]. 26 Cohen, Matthew Isaac: The Komedie Stamboel: Popular Theater in Colonial Indonesia, 1891-1903, Athens (OH), 2006, p. 18.

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frontier society) by Harmston’s British circus, following their brief period of peripatetic wanderings through Asia. Such an international trajectory of transference supports the concept of the late 19th-century circus as an agent of transculturation within the period ascribed by historians as the first phase of globalisation: 1850-1914. In the course of Harmston’s late-1890 visit to Melbourne, the circus set up its tents in the city’s main thoroughfare, Swanston Street, where it was well-serviced by trams and proximity to Flinders Street rail station. Concurrently, Harmston’s operated spectacular entertainments in the capacious grounds of the Exhibition Building where a hippodrome track was put in place. Chariot races, horse races and balloon ascents were enacted, as well as Wild West themed displays of frontier skills: sharp shooting, lassoing and wild bullock and bucking horse riding. The concept of America’s ›Manifest Destiny‹ – that is, the philosophy that emerged mid-century and propelled imperial westward expansion – was sustained by the presence of Little Big Horn, »the only real American Indian now in Australia« who, despite being an exhibit from a conquered first-nation race, nevertheless performed his War Dance.27 The American Wild West Show would subsequently be imitated by Australian circus producers and then transformed through adaptive processes that maintained Australians’ partiality for elite equestrian skills and ranching enterprise. A press report from Harmston’s tour to the northern colony of Queensland reveals that in addition to the eclectic programme items featuring acrobatic and aerial acts, Japanese circus performers, balancing acts, equestrian acts, high jumping, zany musicians, and a comic donkey, audiences were most interested in a section of the program title Life on the Plain: »This depicted many of the events in the life of a Texas cowboy, from some of their amusements right through to the summary hanging of a horse thief to an attack by and a rescue from Indians. About eight of the company engaged in this, and some of them showed great dexterity with the lasso by catching both men and horses, and all of them seemed ›at home‹ in the saddle. Texas Jack took a prominent part in this portion of the programme [which included buck jumping].«28

Intrinsically related to the frontier career and theatrical personality of William F. ›Buffalo‹ Bill Cody (1846-1917), the first spectacular Wild West Show was staged in 1883 in Omaha, Nebraska, by Cody and his partner in the venture, Dr W. F. (Doc)

27 »Dramatic Notes«, in: The Lorgnette, 22 November 1890, p. 5. On the Wild West Show and ›Manifest Destiny‹ cf. Margelssen, Scott/Nees, Heidi L.: »›Real Live‹ Indian: Sitting Bull’s Performance of Self in Buffalo Bill’s Wild West«, in: Popular Entertainment Studies 2.1 (2011), p. 23. 28 This was not the original John »Texas Jack« Omohundro (1846-1880), referred to later in this chapter. »Harmston’s Wild West Show and Circus«, in: Queensland Times, 17.02.1891, p. 3: https://trove.nla.gov.au/newspaper/article/123049025?searchTerm=Harm ston%E2%80%99s%20Wild%20West%20Show%20and%20Circus&searchLimits= [08.04.19].

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Carver (1840-1927).29 During more than thirty years, from 1883 to roughly 1915, the content of Buffalo Bill’s Wild West Exhibition remained constant: »cowboys performed feats of skill and daring, Indians attacked peaceful settlers, and great battle scenes depicted the bravery of the conquering U.S. Cavalry in the face of brutal savagery«.30 Skilled horsemanship was the primary feature of Cody’s Congress of Rough Riders which, from 1893, extended to include exhibitions of horsemanship from different parts of the globe, including Mongolia, South America, the Arabic nations and Central Asia. Part arena spectacle, part ethnographic people show, part narrative restaging of historic events in the subjugation of the Indians of the western states, the status of the Wild West Show as America’s »National Entertainment«31 was underpinned by Cody’s prestigious reputation as a buffalo hunter, army scout, Indian fighter, and hero of the frontier wars. Recent scholarly investigations of Cody’s claims about his early life and frontier exploits point to his skill in self-promotion and self-fashioning,32 but he was not the source of the original myths of his daring deeds and heroism. A dime novel written by Ned Buntline (pseudonym for Edward Judson Snr, 1821-1886) titled Buffalo Bill: The King of Border Men was serialised in the New York Weekly, beginning in late-1869. As Warren explains, Buntline’s dime novel: »was a romance of Cody’s life […] The plot, in which Buffalo Bill and Wild Bill rescue Will Cody’s mother and sisters from white renegades and their Indian allies, bore little resemblance to any of Cody’s experiences. It did, however, express popular anxieties about frontier renegades, which permeated urban and frontier communities alike and which formed much of the backdrop to Cody’s rise to prominence as a trustworthy, loyal white scout for the troubled army«.33

Several years later Buntline’s dime novel was adapted by the playwright Fred G. Maeder and produced at New York’s working-class Bowery Theatre in February 1872. Later that year, Cody agreed to play himself in a new melodrama written by Buntline that was produced and staged in Chicago. This was the beginning of a short theatrical partnership with another army scout, John ›Texas Jack‹ Omohundro. Following Buntline’s rough and under-rehearsed premier of The Scouts of the Prairie, the show continued to tour to popular audiences during the following decade, with Omohundro parting from Cody in 1874, and Cody’s theatrical company assuming the name of the Buffalo Bill Combination. Warren explains: »Consistently he played the

29 In addition to skills as an exhibition-level sharp shooter, Carver was also a dentist, hence his title of ›Doctor‹. 30 Clark, Susan F.: »The Menace of the Wilds West Shows«, in: Ray B. Browne/Michael T. Marsden (Eds.), The Cultures of Celebrations, Bowling Green (OH) 1994, p. 145. 31 Ibid. 32 Cf. Blackstone, Sarah J.: Buckskins, Bullets, and Business. A History of Buffalo Bill’s Wild West, New York 1986 and Kasson, Joy S.: Buffalo Bill’s Wild West. Celebrity, memory, and popular history, New York 2000 and Warren, Louis S.: Buffalo Bill’s America. William Cody and the Wild West Show, New York 2005. 33 L. S. Warren: Buffalo Bill’s America, p. 113.

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role of Buffalo Bill in frontier melodramas where the unifying theme was the liberation of a virtuous woman from savage captivity and her restoration to her home and family«.34 Cody’s theatrical instinct and entrepreneurial talent were thus cultivated and honed years before he launched the first Wild West outdoor spectacular in Omaha in 1883. Cody’s tours of Europe and England 1887-92 led, in Kasson’s words, to his »meteoric rise to superstar status« and made him »a worldwide celebrity«.35 Australian circus historian Mark St Leon points to the correlation between Cody’s triumphant tours of England and the Continent and the Australian Wirth Brothers’ organisation of »their own Wild West show before Buffalo Bill or any of his contemporaries could reach Australia«,36 (although it is somewhat ironic that the visiting Harmston’s Circus which originated from England, not the United States, was the first producer of a Wild West Show in Australia). Harry Wirth sourced the Indians, cowboys, Mexicans, scouts and vacqueros with the assistance of Jack Sutton, an American who had worked as a roughrider and lassoer with Barnum and Bailey in the 1880s.37 Wirth’s Wild West Show opened in Auckland on 20 September 1890; when their Hippodrome and Wild West Show opened two months later in Adelaide, the colonial capital of South Australia, the press noted the significance of »both races [Native American Indians and white people] acting in amity together, and providing an evening’s amusement for our pleasure seekers«.38 Recognising the poignancy of the latest news about the recent death of Sitting Bull, a Hunkpapa Lakota leader (which was reported in the same issue of the newspaper), the press thought the concurrence of this sad event with the Wild West Show lent »confirmation to the realism of the fight which has been proceeding for so many years between the Indian and the white settler, whether it be the American soldier or the cowboy«.39 The currency of the Wild West Show and its spectacular dramatisation of frontier conflicts was central to its immense popularity, but its international reputation was also a testament to Cody’s astute ability to read dominant political views and contemporary opinions.40 Amidst the plethora of human skills demonstrating mastery over horses and other beasts, and presentations of the events and paraphernalia of life and death on the western plains, there was an essential set of symbolic representations at the core of the Wild West Show which demonstrated the triumph of western civilisation over primitive nature and peoples, and the right of colonial expansionism to subjugate everything that stood in its way. As Kasson points out, these ideas, meshed with personal heroism

34 Ibid., p. 157. 35 J.S. Kasson: Buffalo Bill’s Wild West, p. 65. 36 M. St Leon: Circus. The Australian Story, p. 178 and Wirth, George: Round the World with a Circus. Memories of Trials, Triumphs and Tribulations, Melbourne 1925. 37 Cf. G. Arrighi: The FitzGerald Brothers Circus, p. 48. 38 »Wirth Bros.’ Wild West Show«, in: The Express and Telegraph (Adelaide), 18.12. 1890, p. 4, https://trove.nla.gov.au/newspaper/article/208397395?searchTerm=Wirth%20Bros. %27%20Wild%20West%20Show&searchLimits= [08.04.19]. 39 Ibid. 40 Cf. Clark, Susan F.: »The Menace of the Wilds West Shows«, in: Ray B. Browne/Michael T. Marsden (Eds.), The Cultures of Celebrations, Bowling Green (OH) 1994, p. 145.

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and show-business glitz, »were as attractive overseas as at home«.41 But even as the genre was at its height, around 1890, the enemy had, as Warren observes, »largely retreated to the reservations […] and [their] ultimate defeat now looked more inevitable than ever«.42 Remarkably, parallels between Australia’s frontier race conflicts and massacres of the island continent’s indigenous population went unremarked during the apex of Wild West style entertainments in Australia, during the years 189092. Yet the correspondence was very strong for those who may have wanted to see it; as historian Richard Waterhouse43 has proposed, during the later years of the 19th century colonial Australians believed the pending destruction of the Aboriginal race was irreversible. Central to Wild West exhibitions was the depiction of warfare and violence. Circus scholar Peta Tait has recently examined the ways that the warlike fighting represented in Wirth’s Wild West Show leeched into everyday life and the communities outside the show’s entourage. In an extension of their performances, »the American cowboys and Native American performers were constantly in trouble for fighting each other or the townspeople« and in various incidents »crowd control remained a constant concern« with violence erupting sporadically between audiences and Wirths’ performers.44 Understanding of this type of slippage in the framing of perceptively dangerous and authentic circus-style entertainments, and of the porosity in the border between onstage activity and the audience experience, is usefully provided through Stoddart’s analysis of the aesthetics of the circus.45 In Rings of Desire she cites Erving Goffman’s argument about the frames of performance, whereby spectators »distinguish between ›play frames‹, in which they already recognize what they see as either ›not true‹ or ›nonexistent‹ (sic), and those elements of performance which they experience in the social world which have not been transformed into art or fantasy«.46 According to Stoddart, dangerous or otherwise confrontational performances can disrupt an audience’s recognition of the ›play frame‹ 47 and impact their perception of the separation between circus acts that present »the performer’s proximity to human extinction« and quotidian existence beyond the circus ring.48 As Stoddart remarks, »Goffman’s model is useful then partly because it draws attention to the ambiguous relationship circus maintains with the concepts of ›illusion‹ and ›reality‹ as it seeks, at different times, to embrace both«.49

41 J.S. Kasson: Buffalo Bill’s Wild West, p. 65. 42 L.S. Warren: Buffalo Bill’s America, p. 149. 43 Cf. Waterhouse, Richard: »Australian Legends: Representations of the Bush, 1813-1913«, in: Australian Historical Studies 31.115 (2000), pp. 201-221. 44 Cf. Tait, Peta: Fighting Nature. Travelling Menageries, Animal Acts and War Shows, Sydney 2016, pp. 162-163. 45 Stoddart, Helen: Rings of Desire. Circus History and Representation, Manchester 2000, pp. 79-114. 46 Goffman, Erving: Frame Analysis, Garden City (N.Y.) 1974, p. 157 cited in H. Stoddart: Rings of Desire, p. 80. 47 Cf. H. Stoddart: Rings of Desire. 48 Cf. ibid. 49 Ibid., pp. 80-81.

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American Cowboy and Indian shows appeared throughout the colonial capitals of eastern Australia during 1890-92. In addition to the Wirth Brothers’ Wild West Show, the American Dr W. F. (Doc) Carver, the former associate of William F. ›Buffalo‹ Bill Cody, brought an ethnographic people show to Australia’s east coast cities titled Wild America. An enclosed Indian village was installed first in Melbourne’s Friendly Society’s Gardens (December 1890)50 and then in Sydney’s Moore Park (February 1891),51 peopled by a group of American Indians described as ›Sioux‹. In addition to presentations of the social dynamics and daily occupations of an Indian village, the paying public witnessed exhibitions of Carver’s legendary shooting skills, the capturing and riding of ›wild‹ bullocks using lasso and ropes, buck-jumping, bareback horse riding, and dramatised conflicts such as the attack on a settler’s cabin by marauding Indians and the ensuing fight to the death between the Native Americans and a band of cowboys. Australians had witnessed another ›people‹ show several years earlier when a Japanese Village was installed first in the Exhibition Building in Sydney, then Melbourne, in 1886. An initiative of the Japanese Government, working in partnership with Australian entrepreneurs, the show was of Japanese nationals performing daily rituals derived from their culture, artisans producing arts and crafts through traditional processes, and several circus-style performances each day. Intended to benefit long-term commercial interests between the two nations, and therefore an initiative we now term ›cultural diplomacy‹, it was the evening circus shows that regularly attracted audiences of seven to eight thousand people.52 At the close of Wild America in Sydney, Carver teamed up with Australian theatre producer, Alfred Dampier, to produce a spectacular melodrama titled The Scout at Melbourne’s Alexandra Theatre.53 Reputed to own the largest stage in Australia, the Alexandra was recognised as the home of Australian melodrama, due to Dampier’s spectacular, and in some cases, sensational productions that embodied an »explosion in national sentiment«.54 The two forms – spectacular melodrama and circus – were the two most popular entertainments of the era in both Australia and America. It was an alignment of opportunistic interests for both Dampier and Carver and ensured that audiences for both forms (melodrama and circus) would be channelled to the Alexandra. Over a period of twelve nights, 31,075 people attended, and the show sustained strong patronage across the remainder of the run.55 The Scout’s popular success was followed by a second western-themed spectacle melodrama by the same production team, titled The Trapper.56

50 Wild America (Melbourne) entry, https://www.ausstage.edu.au/pages/event/82172 [01.02.19]. 51 Wild America (Sydney) entry, https://www.ausstage.edu.au/pages/event/82181 [01.02.19]. 52 Cf. Arrighi, Gillian: »Harry Lyons is ›Here, There and Everywhere‹. Australia’s late-19thcentury global entertainment broker«, in: Australasian Drama Studies 72 (2018), pp. 1-30. 53 The Scout entry, https://www.ausstage.edu.au/pages/event/69880 [01.02.19]. 54 Williams, Margaret: Australia On the Popular Stage 1829-1929, Melbourne 1983, p. 182. 55 Kingston, Beverley: Glad, Confident Morning. The Oxford History of Australia. Vol. 3, Melbourne 1989, p. 223 n. 149. 56 The Trapper entry, https://www.ausstage.edu.au/pages/event/82165 [01.02.19].

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Within the space of a few short months, Australian audiences were exposed to several full-blown examples of the Wild West Show; an ethnographic people show featuring Native American Indians and depictions of race conflict in America’s western regions; and western-themed melodramas of the type that first set William F. ›Buffalo‹ Bill Cody on his extraordinary trajectory from dime-novel hero to international showman and celebrity. Australia had long been a destination for large touring shows, agents ›on the ground‹ were accustomed to working alongside visiting producers on matters of logistics and publicity,57 and Australians expected to see international shows they read about in newspapers to eventually reach the populous eastcoast cities of Sydney and Melbourne. Paul Bouissac’s insightful assessment of the 19th-century circus as a »crucible« for contemporary anxieties concerning change and otherness, provides a useful ground for enriching our understanding of why the Wild West Show and its dramaturgical variants were popular with Australian audiences throughout 1890-92: »During the nineteenth century, a time of intensive industrial, political, and cultural expansion which exalted individual heroism and the conquest of exotic frontiers, the circus provided a rich ›crucible‹ in which both the anxiety of change and otherness, and the exhilaration of novelty and liberty combined to form a sort of magnet for artistic imagination«. 58

After ›Doc‹ Carver packed up his extensive Wild America troupe and returned to the United States, and the Wirth Brothers’ Circus departed Australia in 1893 on a sevenyear journey through South Africa, South America and England, remnants of the Wild West Show appeared periodically in other Australian circuses, dependent primarily upon the availability of those with the requisite knowledge, skills and understanding to manage the production of discrete narrative scenes within a circus’ overall programming. Following his engagement with Wirth’s Wild West Show, Jack Sutton remained in Australia, taking employment with the FitzGerald Brothers’ Circus in 1892 and producing an item titled ›scenes of frontier life‹ for their Melbourne programme. As I have argued elsewhere,59 Sutton’s depictions seem to ›go against the grain‹ of the political bias, underlined with nationalist and isolationist ideologies, that was promoted by the up-and-coming FitzGerald Brothers’ Australian Circus. Caught between international influences, popular local taste for circusian entertainments, and the desire to differentiate their productions through their embrace of Australian colonial identity, the FitzGeralds’ engagement of Sutton exemplified: »an improvisatory struggle to localise a performance genre that was an outgrowth of cultural traditions in other, older lands […] the FitzGeralds were working within the traditions of an established genre whilst seeking to create an Australian expression of the circus form. Their

57 Cf. G. Arrighi: Harry Lyons is ›Here, There and Everywhere‹. 58 Bouissac, Paul: Circus as Multimodal Discourse. Performance, meaning and ritual, London 2014, p. 159. 59 G. Arrighi: The FitzGerald Brothers Circus, p. 48.

148 | GILLIAN A RRIGHI oscillation between nationalist and internationalist inclinations can be analysed as an expression of the complexities of late colonial citizenship«.60

Articulated as »the paradox of being colonial«,61 this pattern is one of alternation between fascination with and rejection of the dominant culture elsewhere. Arguably, the ›colonial paradox‹ exerted conflicting pressures on identity formation in Australian society well into the 20th century. A year later, Sutton again produced a westernthemed narrative package for the FitzGeralds’ 1893 Sydney programme, but this time comedy and burlesque had replaced the life and death depictions of Wirth’s Wild West Show of several years earlier. The processes of transformation and transculturation were under way.

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At London’s Crystal Palace on a Saturday afternoon in the late-Spring of 1911, Sir Newton J. Moore, K.C.M.G.62 – the Agent-General for the state of Western Australia to London – officially opened Wild Australia, a performative event and installation that was the Australian contribution to the Festival of Empire. Convened to celebrate the coronation of King George V, the Festival of Empire brought together cultural exhibitions, products and sporting competitors from the British domains of Canada, South Africa, New Zealand, Australia and New Foundland. It was an international exhibition on a small scale that meshed well-established World Fair templates of production and reception with sport, manufactures and cultural exhibits. Consideration of the broader context of the production of Wild Australia in the late-Edwardian era reveals how popular entertainments with a nationalist agency were being coopted by political agents as tools for cultural diplomacy – that is, the international exchange of art, ideas, and cultural practices for the sake of improved understanding between nations. The installation and programmed performance items of Wild Australia were described as representing a stockyard at an Australian cattle station in the ›NeverNever‹ country.63 At the time of the production of Wild Australia, pastoralism and cattle grazing on vast stations (or ranches) constituted the primary use of Outback regions by white inhabitants of these otherwise sparsely inhabited areas, where the

60 Ibid., p. 53. 61 Lawson, Sylvia: The Archibald Paradox. A strange case of authorship, Melbourne 1983, p. ix. 62 K.C.M.G. is Knight Commander of the Order of St Michael and St George, a British chivalric order founded in 1818 by George, the Prince Regent of Britain, later King George IV. Moore had recently resigned as Premier of Western Australia after holding that office for over four years (May 1906-September 1910). 63 ›The Never-Never‹ is an Australian term, in use from the mid-19th century onwards, to indicate the remote interior regions of the continent, beyond the settled areas, otherwise referred to as the Outback.

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natural environment was conducive to the raising of cattle. Horses were the natural form of human transport in these regions; human mastery of horses was central to life in the Outback and this inter-species dependency was transposed to the various acts under the umbrella of Wild Australia. According to the Morning Advertiser (London) of 22 May 1911, Wild Australia and its various programmed performances were »designed to depict, realistically, scenes from every day life of Australian boys and girls who spend their lives so largely in the saddle in their wild solitudes«.64 While child performers appeared in the show, it was the dare-devil riding of spectacularly bucking horses by male riders that was a primary feature of the production. Rather than authentically reflecting the daily activities of workers on a remote Australian cattle ranch, the structure of the outdoor arena programme owed its genealogy to circus programmes as well as the demonstrations of skill and playing of dramatic frontier scenes germane to the Wild West Shows. Commencing with a Grand Entry of the entire company to the accompaniment of a military band – an opening that mirrored the customary opening of circus shows – the programme featured extravagant demonstrations of whip cracking and boomerang throwing, exhibition rifle shooting by Bonita Dreshler (who was also a rough rider), a lassoing act demonstrating stockmen’s skills in roping galloping horses and cattle, a snake and crocodile handling act by Cleopatra Dreshler, as well as expert demonstrations of sheep shearing and wood chopping. Extraordinary animals were either displayed (»Cornstalk«, the »largest« camel ever bred in Australia was exhibited next to »Tiny Tim«, »he smallest horse of the Antipodes«) or presented doing clever tricks (»Swell« and »Noble« were two high-jumping ponies, »Kangaroo« was »the smallest buckjumper in the world«, and the donkey named »Barney« was exhibited within a comedic scenario).65 A dramatic scene titled The Horse Thief was a transposition of a regular item in the Wild West Shows, while the dramatic scene titled Sticking Up the Gold Escort was another transference from the Wild West Shows. It substituted the dramatic depiction of a robbery of an American stage coach with an Australianised version, where outlaw bushrangers: »stop the Gold Coach, carrying passengers and precious metal. The driver is shot dead, and after the passengers have been robbed, the Safe blown up, the Outlaws make off. Stockmen and troopers get on their trail and after a desperate fight for the Stolen Gold is recovered (Wild Australia programme).«66

Cowboys, outlaws, lawmen and cavalry troupes from America’s western states were surrogated in Wild Australia’s dramatic scenes with the quintessentially Australian characters of stockmen (cowboys), bushrangers (outlaws) and troopers (lawmen). Depictions of warfare and war-like hostilities between a colonising army and firstnation people did not transfer to Wild Australia and other frontier-themed Australian popular entertainments. Instead, the figure of the outlaw bushranger had emerged in

64 McConville, Ray: Thorpe McConville’s Wild Australia. History of a famous showman and the riders who rode with him, Myrtleford, VIC 1997, p. 10. 65 Ibid., p. 11. 66 Ibid.

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the popular imaginary and become ensconced in nationalist mythologies,67 and Australia’s national fascination with the outlaw bushranger was also central to the Grand Finale of Wild Australia. Titled The Kelly Gang, the scene depicted the final shootout between Australia’s most famous outlaw and gang leader, Ned Kelly, his gang members and the police. Wounded and captured by police in 1880 at Glenrowan in the colony of Victoria, Kelly was the only survivor from his side of the skirmish and was subsequently imprisoned, tried, convicted and hanged in Melbourne, despite strong public support for him to be spared the death penalty. Press reports about Wild Australia prominently featured the show’s skilled equestrians. Remaining on the back of a wildly bucking horse, otherwise known as buckjumping, had become an established frontier-themed popular entertainment in Australia since the 1890s and several well-established troupes of specialist buckjumpers were employed to form the core of the Wild Australia ensemble. Martini’s buckjumping show supplied bucking horses that were not ›wild‹ but were instead accustomed to the performance ring; specialised equestrian gear; and experienced Australian riders. A second Australian troupe, known as the Australian Buckjumpers (that was touring India under the direction of dramatic company proprietor Phillip Lytton), was also employed for the Wild Australia contingent at the Crystal Palace. While it is straightforward to index the similarities and transpositions between the Wild West Shows and Wild Australia, the differences enable us to identify how the trans-global circus form and the Wild West Show in particular was quickly adapted by Australian producers seeking to promote nationalist identities and mythologies. One of the visually striking features of Wild Australia was the dress code of the male riders. Uniformly clad in skin-tight white riding breeches, white concertina leggings, slim-line calf-length brown leather boots, white shirts, neckties and brown felt hats, the riders’ outfits exuded simplicity and elegance and were thus markedly different to the highly theatrical dress of Wild West Show performers. Saddles and riding gear were similarly pared back, consisting of small, relatively flat polo saddles without knee pads, therefore allowing the rider maximum freedom of movement. Horses appeared without a mouth bit and frequently without halters on their heads. Whilst the dramaturgy sought to convey ideas of ranch life in the Australian Outback, the high visibility of young female performers was another major departure from the dominantly male Wild West troupes. Solo and featured performance slots by the Dreshler sisters – Bonita the crack rifle shot and Cleo the snake and crocodile handler – by Marion Waite (a skilled exponent of extravagant stock whip demonstrations), Agnes Hyland (a young horse breaker and equestrienne), and the ten-year-old girl, Little Elna (who endeared herself to audiences with her brave horse handling and hurdle jumping), reflected more generally the early 20th-century circus’ proposals about strong, clever, independent young women. Wild Australia played for six months at the Crystal Palace; some of the specialty act performers remained in Britain, touring variety theatres and music halls under the

67 Alfred Dampier of the Alexandra Theatre, referred to earlier in this chapter, was the coauthor (with Garnet Walch) of the spectacular melodrama Robbery Under Arms. Derived from the bush ranger novel by Rolf Boldrewood (1888), the story has been adapted for numerous stage, film and television versions.

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nominal title of Wild Australia. Thorpe McConville, a star rider with the show, subsequently took work in the United States with the 101 Ranch, a large touring rodeo show presenting »bronc riding, roping, bulldogging [steer wrestling], Indian dancing and many other western events«.68 By the time McConville joined this entertainment organisation, the 101 Ranch was also making silent movies in the nascent ›Western‹ genre. Returning to Australia in 1913, McConville established his own Wild Australia travelling show which continued until 1950. Performing within a temporary arena with canvas side walls, and eventually under a Big Top, the show integrated circus acts into Thorpe McConville’s Wild Australia Rodeo Circus. Other buck jumping and rodeo shows toured Australia during these decades, and Australian-produced Wild West Circuses flourished on the continent’s touring routes. It is now nearly 130 years since Harmston’s and Wirths’ circuses introduced the Wild West Show to Australia. Rodeo events are immensely popular with rural audiences outside of Australia’s major cities, an institutionalised feature of ›bush‹ culture that is officially under the auspice of the Australian Professional Rodeo Association, established in 1944.69 Bush festivals and arena shows dramatising one of Australia’s favourite bush poems, The Man from Snowy River by Andrew ›Banjo‹ Paterson are periodically produced on a grand scale, resonating with the dramatisations of heroic frontier exploits presented by numerous circuses and Wild West Dramatic companies of the late 19th century. Space does not permit a fuller examination of the cultural legacy of late 19th-century circuses visiting Australia, but what this chapter has outlined is the principal coefficients of the transference of the Wild West Show to Australia, and its subsequent adoption and adaptation to Australian culture. This chapter has thus explored the concept of the circus as an agent of transculturation. Commencing with the premise that some historic instances of circus can be regarded as agents of transculturation, this chapter has brought to light the influence of the American Wild West Show on circus production and popular entertainments more broadly in Australia during the late 19th century. It has shown that colonial narratives and re-enactments from America’s Western frontier were immediately popular with Australian colonial audiences and that Australian-based circuses swiftly integrated Wild West-themed performances into their programmes. One of the characteristics of the circus genre is its potential for rapid change and adjustment; largely free from the constraints of the spoken word circus is able to respond more quickly than the theatre to prevailing shifts in popular taste and cultural interest. The period under consideration in this chapter is significant in Australian history as the period of political transformation when the collection of independent colonies under the imperial rule of Britain became a federated nation of states. This chapter has revealed that following the adoption of Wild West-themed productions in Australia they were then adapted by local producers and by 1911 the imported American Wild West Show had been transformed into a vernacular Australian production that staged the symbols, ideas, and mythologised narratives associated with ranch life on the Australian frontier. The export of Wild Australia to the imperial centre of the British Empire in 1911 should be regarded as a confident demonstration of emerging national Australian identity,

68 R. McConville: Thorpe McConville’s Wild Australia, p. 26. 69 APRA: http://www.prorodeo.com.au/index.cfm [01.02.19].

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and also as a demonstration of the ways that the historic circus was constantly adapting as it crossed geo-political borders and was co-opted for further international transference and exchange of culture.

The Fallibility of the Historical Record S TEVE G OSSARD

P RELIMINARY N OTE In the course of my research into circus history over the years I have found a number of conflicts and inconsistencies that seem to compromise the historical record. I have become aware that these conflicts make an interesting and challenging story in-andof themselves for historians like myself. This is the story of some of those conflicts and my efforts to deal with them. The main focus of my research began with the circus history of Bloomington, Illinois, USA, since the claim had been made that the »flying return« trapeze act was invented there.1 This was the source of my research for my book, A Reckless Era of Performance, the Evolution of Trapeze, a self-published desktop publication written and revised between 1991 and 2014. Likewise, I became interested in the ancient and sensational art of circus »leaping« while researching the great performing athlete, Frank A. Gardner (fig. 1). He was the subject of my article »Frank Gardner and the Great Leapers« published in Bandwagon magazine.2 Some references in the following chapter – »The Fallibility of the Historical Record« – are unique, drawn from personal experiences and are not published in any other form (reference my presentation to the Circus Historical Society of America at Baraboo, Wisconsin, USA 2013 on Del Grahamʼs training facility in Thousand Oaks, California). As I was giving this presentation in Marburg events were developing in the U.S. that make me think that it is more important than ever today that we should consider objectively and intelligently what is truth.

1 2

Noble, Clyde V.: »The Home of The Man on the Flying Trapeze«, in: The White tops 3.910 (Sep.-Oct. 1950), pp. 5-6 and 12-13. Gossard, Steve: »Frank Gardner and the Great Leapers«, in: Bandwagon 34.4 (July-August 1990), pp. 12-25.

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Fig. 1: Frank Gardner

T RUTH

AND

D ENIAL

A prehistoric man sat on a rock with a companion when it started to rain. »Do you like the rain?« said his friend. »Of course I like the rain«, the man said. »I created it.« »What?« said his companion, »but that can’t be true.« »Sure it is«, the man said. »There was no rain before I was born.« »But surely there was!« »Prove it«, the man said. »Well, I can’t, but I can remember before you were born, and it did rain. You could not have invented the rain. It can’t be true.« »But it will be true,« the prehistoric man said, »if I can convince everyone else.« This is how truth was defined before the written word, and there are those who would like to still define it that way if they could. The importance of the study of history carries with it the responsibility of accuracy. The importance of history lies in the relationship between the historical record and what we know as the truth. The written word has an inherent mark of authority. It often carries more authority than the sensations we experience in real time. We are often more inclined to doubt our own sensations and memories while accepting the written word. It seems to be an infallible, irrefutable, documented witness to the truth. But to what extent must, and can, we rely on it? There is a definite question of ethics involved. In America lately there has been a movement to discredit both history and religion for political reasons. Religious leaders are admonished not to interfere in politics when they address moral issues. Many people believe that if there is no proof, there is no sin, no crime, and no guilt. At times it seems that our values have all been turned inside out. Fellowship is defined by greed and self-interest. Peace and life are defined by war and violence. Trust is granted to those most dishonest, and in the name of freedom we build walls. It seems

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that the more we progress technologically the more we regress as social animals. The historical record is fair game for spin doctors who seek to distort the truth. Yet in spite of it all, there must be truth and consequences. Concepts such as honesty and integrity are real, whether they can be supported by the historical record or not. There must be accountability. All of this places a heavy burden on the historian. This paper is about the many ways and reasons that truth can be manipulated, misinterpreted or distorted in the historical record. One pitfall of historical research is that the historical record is subject to so much human error and misinterpretation; so much so, in fact, that people have questioned whether what we think of as ›historical fact‹ actually exists or not. The reliability of eye-witness accounts is often inaccurate, and although we generally think of the historical record as ›historical fact‹, anyone is apt to make a case to challenge literally anything and offer up his own interpretation as ›proof positive‹. What we have in any case is a chronicle of people’s perceptions, and in many cases, biased conceptions, of what was recorded in the past. We are also left with people’s historic denials. Most people understand the concept of denial. Anyone can literally deny anything in the face of overwhelming evidence. There are people who deny evolution, for example; global warming, the Holocaust, pollution and gun-related violence. I even know someone – a very intelligent person, mind you – that denied that the Gulf Oil Spill ever happened. »We live on the Gulf, and we didn’t see it!« she said. Let’s say your rabid dog bites me, and I get rabies. The logical conclusion is that your dog has given me rabies. Yet in spite of logic, there are a number of ways that you can still deny this. You can doubt the witnesses who saw your dog bite me; accuse them of lying, question their reliability and competence, claim that it was some other dog who bit me. You can doubt science – the old anti-academic argument; doubt that rabies are spread by dog bites, argue that my rabies was contacted in some other way. Although at first such arguments really insult intelligence, a persuasive appeal can leave us doubting what we know as reality.

C IRCUS T RUTHS

AND

D ENIALS

Such conflicts relating to accuracy and denial are common in circus history as well. For example, in the winter of 1881-1882 the Leon and Dockrill Circus performed in Havana, Cuba hosting a great batoute leaping contest. Competitive leaping was a hot topic at the time, with a number of great athletes concurrently claiming to be the »champion« double-somersault leaper; stating that they had leapt farther and higher than anyone else from the batoute spring board.3 What was unusual about this contest was that the management of the Leon and Dockrill Circus actually interrupted every performance during one week to take measurements to determine the winner. The two main contestants were Frank A. Gardner and William Batcheller, whose bitter 4 rivalry was a matter of public controversy.

3 4

S. Gossard: Frank Gardner and the Great Leapers. For details on the history of leaping and the rivalry between Gardner and Batcheller see: Ibid.

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When the contest ended both men were astonished, on returning to the United States, to find that the other was advertising that he had won the contest. Examining their advertisements in the New York Clipper magazine, we find that both men had affidavits signed by the entire circus company stating that he had won. In other words, the same people had signed both documents bearing witness that both men had won the same contest! Gardner’s document carried, perhaps, the greater authority, for it included the signatures of the management of the circus as well, but historians today do not consider either of these contestants to be the greatest leaper in histo5 ry. That distinction goes to John Worland, who was able to complete a triple somersault from the springboard more than once without breaking his neck; while Gardner and Batcheller only did doubles. In 1950 a retired trapeze artist named Clyde Noble published a brief history of the circus activity in Bloomington, Illinois, USA, in which he claimed that the Flying 6 Return trapeze act had been invented by a Bloomington man named Fred Miltmore. Yet the circus people in Saginaw, Michigan, also claimed that the Flying Return Act was invented there by a trapeze artist named William Hulme.7 Research discloses that the Flying Return could not have been invented by either man, as it was first performed in London, England, in the 1870s by a Mexican aerialist named George Edwin Algar (calling himself the »Marquis de Gonza«) (fig. 2). Gonza stated in 1873 that he was in the process of inventing a new performance that would be »superlative to any yet introduced […] since the glories attained by the heroes of Caesarian Rome« and that it would be »the subject of justifiable magniloquence beside millions of firesides for generations to come, but indelibly transfused into the chronicles of the enlightened world«.8 By 1875 he was advertising that he had perfected this grand invention »that would shame Hercules and his Twelve Labours and Mercury with his Winged Heels«.9 In 1877 a description of the act was published which left no doubt that he had invented the flying return act; »presently, as he hangs head-downwards, swinging to and fro, catches his companions in their daring flights through space, how the Venus, Azella, midway in her passage, turns somersaults, is caught by Gonza, and again catches her trapeze bar…«. 10 But alas, Gonza’s faith in the printed word did not guarantee him the personal immortality that he expected. While the flying return act is still with us today, Gonza was soon forgotten in his own time.

5

»New York, New York«, in: The New York Clipper 14.01.1882, p. 715; 04.02.1882, p. 763. 6 C. V. Noble: The Home of the Man on the Flying Trapeze, p. 5. 7 See the Melzora Family scrapbook, courtesy of Melzer Thomas. 8 The Era, London, England, Oct. 12, 1873, p. 14. 9 The Era, London, England, Nov. 21, 1875, p. 13. 10 The Era, London, England, Oct. 5, 1873; Nov. 21, 1875; Aug. 12, 1877; see Gossard, Steve: A Reckless Era. The Evolution of Trapeze, desktop publication, 1991, 1994, 2014 for details concerning the invention of the flying return act.

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Fig. 2: Gonza and Azella c. 1877

ACCURACY , C LASSIC F ORMS , R ECORDINGS And so we are left with the question: is the historical record at all accurate? Much of the historical record in modern times is found in personal or published sources, publications of various sorts: newspapers, magazines, history books and first-hand accounts. Of these, we know, the authors may have prejudices of their own. There may be cover-ups suppressing the facts, spin doctors distorting the truth, everything from deliberate distortions to outright lies. In the early days of any invention the chroniclers usually do not have the vocabulary to even describe the object or event. For example, today virtually everyone conjures up a mental picture when the word »trapeze« is mentioned, but it took a number of years before the public understood this term. In the late 19th century the term »batoute leaping« became recognised and universally-accepted as a circus event, but the practice fell out of favour at the turn of the century and the word »batoute« is virtually unknown today. 11 Most people who have been quoted in the newspapers at one time or another know how inaccurate published sources can be. Once, after submitting an article to a local magazine, I was astonished to find that the article was so heavily edited that I

11 S. Gossard: Frank Gardner and the Great Leapers, pp. 12-25 for a comprehensive survey of American leapers and the competitive art of batoute leaping.

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could barely recognise it as my own. In fact, the article even had the wrong byline, and the author’s name was listed as someone I had never heard of. Far from being upset by this, I was glad, because it was so full of errors that I would not want my name associated with it. For that matter, much of the published material in the Circus Historical Record is passed down to us in the form of circus advertising; either described or illustrated, and this, as we well know, is inspired by the profit motive, and is subject to gross exaggeration. Directly opposing this principle is the effect that the published record has on the performance itself. Any art form undergoes a common evolution. It begins as a freelance innovation; is refined, defined, and becomes more sophisticated as it evolves. It becomes a »legitimate« art form when it is recorded in some way. An art in its »classic« form is subsequently standardised and becomes a formula for success. It is apt to enter a phase of stagnation in which any change to the formula is considered to be a perversion of its »perfect« form. Eventually, if the art lasts long enough, it may pass into a new phase of innovation once again, and be rejuvenated with a greater degree of complexity than before. This evolution of an art form can be seen in the flying return act. It was invented in the 1870s; reporters began to describe it in print as distinct from every other performance, and eventually it was given its name. The dimensions of the rigging and the general process were refined to a standard form in the early 20th century. After that a series of standard tricks was developed which was generally accepted, and even required, of every self-respecting flying return act in the business. Although performers experimented with many new tricks over the years, the basic format of the performance did not change at all since its inception over a hundred years before. Then, in the 1980s a Korean flying act introduced the addition of a few new features into the rigging; the Russian Swing, the stationary cradle, and a second standing catcher standing in a stationary cradle over the catch bar; altering the dimensions of the rigging to accommodate the new apparatus. I first saw a video of this unnamed Korean flying act in 1985. The Koreans are generally accepted by most professional flyers as the inventors of this particular type of act. One of the foremost practitioners of this act has been the Flying Rodleighs of South Africa. The Russian troupe, The Flying Cranes, introduced an apparatus with entirely different dimensions that enabled them to present a flying act that incorporated long leaps to the catcher in an elegant display like an aerial dance. These new riggings made for a surprising variety of new tricks possible with the leap from the pedestal board to the catcher. 12 So, the evolution of a performance art form is often arrested when it is recorded in some way (in this case, when the reporters began to describe it in print). The written record takes on a physical reality of its own. When the act has been defined, it is not likely to develop further for some time. At the same time, it becomes disseminated to a wide audience and gains its greatest exposure. Once the art advances beyond the phase of freelance innovation, inventions begin to be thought of as the intellectual property of the inventors, and the profit motive takes over. Somewhere between innovation for its own sake and patents (or copyrights) for profit, is the inventors’ sim-

12 Cf. S. Gossard: A Reckless Era.

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ple desire for acknowledgement. Such has been the evolution of trapeze since its introduction in the 1850s. Before there is a vocabulary for defining or describing a performance there is a pictorial description. Thomas Hanlon’s performance of the so-called »L’Eschelle Perilleuse« (Hanlon’s spelling) (fig. 3), a somersault from the ladder-like apparatus to a vertical rope, was described both in words and with illustrations.13 We can take it for granted that these were more-or-less accurate descriptions of Hanlon’s performance since it corroborates the description of Hanlon’s act that was published in the New York Times when Hanlon performed at Niblo’s Garden in New York: »the performer, after going through a variety of gyrations on a swing, attached to the ceiling of the proscenium, suddenly throws himself from it, and after flying twenty or thirty feet through the air clutches a rope on the other side [...].«14 Yet a nearly identical illustration which appeared in Vanity Fair some time later pictured the great American statesman, Stephen A. Douglas, making the »l’Eschelle Perilleuse« leap as well (fig. 4).15 Of course we are not expected to believe that the portly statesman actually took the leap as described; the illustration was obviously an allusion to make a political point. The suggestion that Douglas was taking a reckless political gamble was underscored by the fact that Thomas Hanlon had taken two near-fatal falls in attempting this feat, which eventually led to his suicide. Illustrations such as this served a separate purpose. They were never intended to be taken literally. Yet we should not assume that this in any way diminishes the credibility of Hanlon’s feat. The »l’Eschelle Perilleuse« was a reality. Eye-witness accounts are also subject to perceptual error and lapses in interpretation. In 2013 I gave a presentation at the Circus Historical Society Convention in Baraboo, Wisconsin, USA about a flyer named Del Graham (fig. 5), who owned a circus arts training facility in Thousand Oaks, California in the 1960s. Graham had established the facility mainly to train aerialists to do stunts for television and movies, and a number of well-known television and movie stars spent time there learning or honing their circus skills. I had made efforts to locate people who had trained with Graham at Thousand Oaks, but had found only one person who had participated; an old showman named Rodney Mackenzie, who had vast experience as an aerialist, side show promoter, tattoo and banner artist, etc. Mackenzie had lived at various times at what he called, Del Graham’s »compound«, and he wrote me several long letters describing the training facilities in detail. What’s more, he provided the most incredible descriptions of the drunken parties and lurid sexual activities that he claimed had taken place there. Nearly every night at the compound was a wild orgy, and the morning found naked bodies lying about beside the Olympic-sized swimming pool in various states of unconscious dissipation. A week before I was to give the presentation I received a phone call from a lady named Fleur Dowell (fig. 6). She had read about my presentation in the Bandwagon magazine (the journal of the Circus Historical Society of America), and wondered

13 French publication: L’Illustration. Journal Universel (02.06.1869); American publication: Frank Leslie’s Magazine (28.01.1860). 14 New York Times 1 (07.01.1860), p. 5. 15 Illustration from the author’s collection is from Vanity Fair magazine, date unknown.

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how it was going to be presented. Dowell had been one of Del Graham’s proteges at the Thousand Oaks place, and wanted to offer her participation. Fig. 3: Thomas Hanlon »L’Eschelle Perilleuse« (28.01.1860)

Fig. 4: Stephen A. Douglas making a daring leap (Vanity Fair, date unknown)

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Fig. 5 (left): Del and Babs Graham, Dorothy and Carl Durbin, Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus, c. 1955; Fig. 6 (right): Fleur Dowell

She had, in fact, lived at Graham’s place with her two young sons while doing stunts for movies, television programmes and commercials in the 1960s. I was happy to have someone to corroborate Mackenzie’s stories, but when I sent her a copy of my presentation she was incensed by the references to sex, drunkenness and wild parties. She saw none of these activities, she said. In fact, she did not recall Rod Mackenzie at all. »The training compound was clearly visible from the highway«, she said, »and if people had been running naked about the place the police would have closed them down on the spot.« She gave me a detailed list of other inaccuracies about Mackenzie’s description of Graham’s training centre. What was more, neither Dowell nor Mackenzie knew one another, nor could they recall ever having seen one another on the premises, even though they had both lived on the site for several years. Dowell drove through the night from her home in Tennessee up to Wisconsin in order to be present at my presentation. She wanted to set the record straight. Mackenzie, living on the West Coast, could not be there. And so, Fleur Dowell participated in the discussion, and it was one of the most lively and interesting sessions that I have ever presented. Since that time I have found two sources that had been to Del Graham’s facility in the ʼ60s. Neither could entirely confirm nor deny either account of the activities of debauchery as Mackenzie described it, yet their accounts suggest that they were aware that Graham’s place had a reputation for such things. My conclusion is that the memory is not only made up of objective experiences, but is also coloured by interpretation and imagination; fashioned by the way we want to believe things were. In his mind Rod Mackenzie exaggerated the more sensational aspects of

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Graham’s place, while Fleur Dowell did not want to think that she had brought her two young boys to such a place as Mackenzie was describing. The truth of such accounts, of course, is most often something in between.

C ONCLUSION So how could Clyde Noble have come to believe that the Flying Return Act was invented in Bloomington, Illinois? How could Frank Gardner and William Batcheller both participate in a leaping contest and come away believing that they each had won? How could Rod Mackenzie and Fleur Dowell both live at the Thousand Oaks facility and perceive it so differently? A good friend of mine (let’s call him Julio), is certainly one of the greatest trapeze flyers of all time. He is not only one of the greatest performing athletes in history, but likely the greatest showman that has ever swung off the pedestal board. In conversation the last time I saw him, Julio told me, »You know, I think, in my career, I must have done at least a million triple somersaults, don’t you think?« The question caught me off guard, but it didn’t take much to do the math. A million is a thousand thousands. If you did three triple somersaults a day you would have just over a thousand triples in one year. To do a million would take how many years? Julio was so excited to tell me this that I didn’t have the heart to burst his bubble. I just said, »I don’t know, Julio. A million is an awfully big number. It is a thousand thousands.« He said, »I know. I’ve been doing them for so long, you know, I think I have probably done it.« Like Clyde Noble, Frank Gardner, William Batcheller, Rod Mackenzie and Fleur Dowell, my friend, Julio’s clear conception of reality was filtered through the lens of his will to believe. This is what the will to believe can do to our recall and judgement, and the historical record is made up of such conceptions. My conclusion: As stated from the beginning, anyone is apt to make a case to challenge literally anything and offer his or her own interpretation as »proof positive« even if their logic is faulty. But if we are to learn anything at all from history we must believe someone. We must exercise objective, intelligent judgement in all cases, yet judgement that is compassionate and inspired. It is essential that we give credit where credit is due, and yet evaluate every bit of information as either being credible or incredible, according to what we know of the source, and our own values and past experiences.

L IST

OF

F IGURES

Fig. 1: Frank Gardner © W.W. Cole Circus poster featuring Frank A. Gardner, courtesy of Circus World Museum, Baraboo, Wisconsin, U.S.A. Fig. 2: Gonza and Azella c. 1877. Authors Collection. Fig. 3: Thomas Hanlon »L’Eschelle Perilleuse« (Frank Leslie’s Magazine [28.01.1860]). Fig. 4: Stephen A. Douglas making a daring leap (Vanity Fair, date unknown). Authors Collection.

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Fig. 5: Del and Babs Graham, Dorothy and Carl Durbin, Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus, c. 1955. © Courtesy of Milner Library, Illinois State University, Normal, Illinois Fig. 6: Fleur Dowell. © Fleur Dowell.

Sammeln und Forschen zu Zirkusgeschichte und Zirkusästhetik G ISELA W INKLER /D IETMAR W INKLER

Sammler sind glückliche Menschen, heißt es. Daran muss etwas Wahres sein, denn warum sonst sollten so viele Leute sich leidenschaftlich dem Sammeln widmen? Bei dem einen sind es Teddybären, bei einem anderen alte Schaustellergeschäfte und komplette Kaufmannsläden; viele sammeln Briefmarken – wobei wir das insofern praktisch finden, als Briefmarken so schön klein sind und wenig Platz benötigen. Da sieht es beim Sammeln von Zirkusmaterialien schon anders aus: Alle Zirkussammler klagen über Platzmangel. Und doch gibt es überall in der Welt Menschen, die sich so stark für den Zirkus, die Geschichte der Artistik interessieren, dass sie Programmhefte, Bücher, Plakate, Fotos, Videos, Werbematerialien – kurz alles, was mit dieser Thematik zu tun hat – kaufen, tauschen und aufbewahren; eben sammeln. Viele Zirkusfreunde sind in Vereinigungen organisiert, in Deutschland ist das die Gesellschaft der Circusfreunde e.V. mit rund 2000 Mitgliedern. Natürlich sind nicht alle dieser Zirkusfreunde auch Sammler und unter letzteren sind es weitaus die meisten, die nur zur eigenen Freude einiges aufheben wie Programmhefte von Shows, die sie gesehen haben, oder Bücher, die sie besonders interessieren. Einige hingegen widmen sich dem Sammeln von Artistikmaterialien mit so großer Leidenschaft und Systematik, dass sie Sammlungen zusammentragen, die für verschiedene Zwecke genutzt werden können. Eine dieser Sammlungen ist das Zirkusarchiv Winkler in Berlin, das ich hier vorstellen möchte.

E INE S AMMLUNG ENTSTEHT UND ÜBER DIE J AHRZEHNTE HINWEG

ERWEITERT SICH

Begonnen hat es damit, dass Dietmar Winkler die Programmhefte jener Zirkusse, die in seinem erzgebirgischen Heimatort gastierten, aufbewahrte. Wahrscheinlich haben viele Sammler so angefangen, indem sie etwas, das sie besonders interessierte, nicht weggeworfen, sondern aufgehoben haben. Bald kamen zu den Programmheften Plakate hinzu, Zirkusbücher, Fotos – eben alles, was mit dem Thema Zirkus zu tun hatte.

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Abb. 1: Anschlagzettel von Astley’s Royal Amphitheatre aus dem Jahr 1831

S AMMELN UND F ORSCHEN ZU ZIRKUSGESCHICHTE UND ZIRKUSÄSTHETIK | 167

Abb. 2: Programmheft des Circus Sarrasani 1907

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Es entwickelte sich die Bekanntschaft mit anderen Sammlern und der Austausch – auch auf internationaler Ebene. In der DDR gab es keine Vereinigung der Zirkusfreunde, aber einen Arbeitskreis Artistik; mit der Zugehörigkeit zu ihm wurde das Privileg erworben, sonst untersagte Druckmaterialien aus dem westlichen Ausland beziehen zu dürfen. Damit verbunden war aber auch die Forderung, sich ernsthaft mit der Thematik zu beschäftigen, was durch Dokumentationen nachzuweisen war. Später wurde aus dem Hobby sogar der Beruf: Von 1982 bis zum Ende des Staatszirkus der DDR war Dietmar Winkler dessen Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit. Durch die Tätigkeit als Lektorin im Henschelverlag Berlin begann Gisela Winkler sich für den Zirkus und seine Geschichte zu interessieren und baute im Verlag das Fachgebiet Artistik auf. Der Beginn der Sammeltätigkeit liegt nun über sechs Jahrzehnte zurück und sie hat in diesem Zeitraum zu einem Archiv geführt, das heute wahrscheinlich das größte private Zirkusarchiv im deutschsprachigen Raum darstellt. Der Buchbestand umfasst ca. 9.500 Titel, hinzu kommen rund 2.000 Zeitschriften aus 20 Ländern, überwiegend in kompletten Jahrgängen, aber natürlich auch in Einzelausgaben. Mit etwa 10.000 Programmheften sind Zirkusse aus rund 50 Ländern vertreten. Wichtige Bestandteile des Archivs sind selbstverständlich die umfangreiche Fotosammlung, die Video- und Audiokassetten, Zeitungsausschnitte und Plakate, letztere aus Platzgründen hauptsächlich nur zu Zirkussen der DDR. Eine Kollektion von Modellfahrzeugen, Spielen und Spielzeug ergänzt die Printmaterialien. Sie hat zwar keinen praktischen Nutzen für die Forschungsarbeit und ist lediglich für Ausstellungen interessant – macht aber Spaß. Ähnlich verhält es sich mit den zusammengetragenen Kinderbüchern, die oft sowohl durch den Inhalt als auch die Illustrationen einfach schön sind. Und nachdem wir 1983 gemeinsam mit dem Kunstwissenschaftler Prof. Roland Berger den Kunstband Zirkusbilder herausgegeben hatten, begannen wir auch Grafiken zu diesem Gebiet zu sammeln, von denen viele heute unsere Wohnungswände bedecken und an denen wir uns immer wieder erfreuen. Die oben genannten Zahlen waren relativ einfach zu ermitteln, weil wir den weitaus größten Teil des Archivbestands im Computer erfasst haben, wobei die Bücher in einer umfangreichen Datenbank aufgelistet sind. Ein Zugriff auf die Materialien ist somit problemlos möglich – was einen Suchvorgang in der Bibliothek nicht ausschließt, da die Regale überquellen und eine strenge Ordnung damit regelmäßig gefährdet ist. Eine schnelle Zugriffsmöglichkeit ist jedoch die Voraussetzung für jede Forschungsarbeit. Für die Erfassung arbeiten wir mit dem Programm Access und einer eigenen Systematik, die es erlaubt, Recherchen auch nach inhaltlichen Kriterien durchzuführen. Auf unserer Homepage (https://www.circusarchiv.de) veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen eine Literaturinformation mit Annotationen zu Neuerscheinungen bzw. Neuzugängen in unserer Bibliothek. Diese Mitteilungen helfen anderen Sammlern und dienen also der Werbung für diese Literatur.

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Z IRKUSKOLLEKTIONEN

IN

D EUTSCHLAND

Die Freude am Sammeln ist natürlich der Hauptantrieb für diese Leidenschaft. Aber wenn man Dokumente zu einem Kunstgebiet wie dem Zirkus zusammenträgt, sollten sie auch – zumindest wenn die Kollektion einen größeren Umfang erreicht hat – für die Forschung und für Publikationen genutzt werden. In Deutschland gibt es eine ganze Reihe von Zirkusfreunden, die umfangreiche Sammlungen aufgebaut haben, manchmal auch zu Spezialgebieten, und sie für Ausstellungen, Vorträge, die Beratung von Journalisten und Studenten oder als Basis für das Verfassen von Artikeln und Büchern nutzen. Erwähnen möchten wir hier Sammler wie Hermann Sagemüller in Nördlingen, Ernst Günther in Dresden, Peter Bräuning in Schwerin: Ernst Günther schreibt über Zirkus- und Varietéthemen und ist Fachmann für den Zirkus Sarrasani; Peter Bräuning hat eine sehr umfangreiche Datenbank zu Artisten und Unternehmen aufgebaut. Bei Hermann Sagemüller möchten wir neben seiner Zeitschriftenbibliografie vor allem auf seine regelmäßig erscheinende Quellensammlung CircusArchäologie1 verweisen, in der er Zeitungsartikel bis Ende des 19. Jahrhunderts zusammenstellt – eine wahre Fundgrube für Zirkushistoriker. Der Roncalli-Direktor Bernhard Paul hat in Köln eine große Kollektion zusammengetragen, darunter viele Plakate (nach eigenen Angaben die weltgrößte Sammlung von Friedländer-Plakaten), Kostüme, Requisiten, den Nachlass von Grock, aber auch alte Kaufmannsläden und Karussells. Seinen Plan eines eigenen Museums hat er bisher leider nicht realisieren können, das Vorhaben nimmt aber Gestalt an. Auch die öffentlich zugänglichen Zirkus- und Artistikmuseen sind aus privaten Sammlungen entstanden. Noch immer gelten Artistik und Zirkus in Deutschland als kulturell zu wenig wertvoll, als dass sich staatliche Einrichtungen wie Hochschulen, Museen, Archive damit wirklich beschäftigen würden. Veranstaltungen wie »Manegenkünste« 2016 in Marburg oder die Konferenzen »Semiotics of the Circus« 2015 und »Circus and Space« 2017 in Münster stellen leider eher Ausnahmen dar, sind aber desto höher zu bewerten und haben hoffentlich einen gewissen Aufforderungscharakter für weitere derartige Tagungen. Das erste deutsche Zirkusmuseum entstand 1974 in Preetz in Holstein. Es wurde von dem Journalisten Friedel Zscharschuch aufgebaut. Später wurde es in die Trägerschaft eines Fördervereins überführt und gehört heute zum Zirkusmuseum in Magdeburg, dessen Grundstock die private Sammlung von Gerhard Mette bildet. Das Berliner Märkische Museum (heute Stiftung Stadtmuseum Berlin) erwarb im Laufe der Jahre verschiedene private Sammlungen, u. a. von Markschieß van Trix, Alfred Lehmann, Richard Weigel, die bedeutendste war dabei die von Fritz Dillenberg, Gründungspräsident und langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft der Circusfreunde in Deutschland. Die Sammlung documenta artistica ist heute ein gut aufbereiteter, wohl verwahrter Bestandteil der theaterhistorischen Abteilung des Stadtmuseums in Berlin und auf Anmeldung hin zugänglich. Leider verfügt sie nicht mehr über eigene Ausstellungsräume und die Schätze dieser Sammlung sind nur im Rahmen seltener Sonderausstellungen zu bewundern. Außerdem gibt es seit langem keine Ankäufe und damit keine Fortführung der Sammlung mehr. Ähnlich verhält es sich mit der

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Sagemüller, Hermann: Circus-Archäologie, Nördlingen 1993 ff.

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reichhaltigen Zirkussammlung im Münchner Stadtmuseum, die u. a. eine große Kollektion von Friedländer-Plakaten umfasst. Abb. 3: Plakat für den Zauberkünstler Chung Ling Soo, um 1910

In Marburg war es vor allem Rudolf Geller, der damalige Vorsitzende der 1976 gegründeten Kulturhistorischen Gesellschaft für Circus und Varietékunst e. V., der ein Circus-, Varieté- und Artistenarchiv aufbaute, das heute in der Trägerschaft dieses Vereins für Forschungszwecke und für alle Interessierten nach Anmeldung offensteht. Das Internationale Artistenmuseum in Deutschland von Roland Weise, 1997 in Klosterfelde bei Berlin eröffnet, existiert leider seit dem Tod seines Gründers 2013 nicht mehr. Ein spezielles Gebiet innerhalb der Artistik stellt die Zauberkunst dar. Die professionellen Zauberkünstler, Amateure und Zauberkunstfreunde sind im Magischen Zirkel von Deutschland e.V. organisiert und international überaus gut vernetzt. Unter ihnen gibt es zahlreiche Sammler, die bedeutende Kollektionen aufgebaut haben, Ausstellungen gestalten und Publikationen verfassen sowohl zur Historie der Magie, Biografien sowie Trickanleitungen. Es existieren zudem privat geführte Zaubermuseen, so das Zaubermuseum Jens-Uwe Günzel in Tannenberg, das Zaubermuseum Markus Lenzen in Saarbrücken, das Zauberschloss in Dresden-Schönfeld und das Magicum in Berlin.

S AMMELN UND F ORSCHEN ZU ZIRKUSGESCHICHTE UND ZIRKUSÄSTHETIK | 171

S AMMLUNGEN UND IHRE Z UKUNFT Das private Eigentum an solchen Sammlungen und Archiven birgt natürlich die Problematik, dass sie an die jeweiligen Eigentümer gebunden sind. Sie werden mit einem großen Aufwand an Zeit, Energie und nicht zuletzt finanziellen Mitteln aufgebaut – aber es besteht immer die Gefahr, dass Nachkommen nicht an einer solchen Sammlung interessiert sind und diese eines Tages entweder auf dem Müll landet oder zumindest verstreut wird. Eine Schenkung an Museen oder Universitäten – so sie denn überhaupt daran Interesse haben – sichert zwar den Weiterbestand, bedeutet aber natürlich auch eine erhebliche finanzielle Einbuße. Oft wurden ganze Vermögen in eine solche Sammlung gesteckt, von der Zeit und Kraft ganz zu schweigen. Die meisten Museen oder Universitäten verfügen nicht über die Mittel für einen Ankauf solcher Sammlungen. Dieses Dilemma wäre wohl nur zu lösen, wenn in Deutschland die Artistik und der Zirkus als Kulturgüter anerkannt würden und somit einen anderen Stellenwert erhielten. Es ist eine wichtige Aufgabe für Vereinigungen wie die European Circus Association (ECA) oder die Fédération Mondiale du Cirque, eine solche Anerkennung und damit Sicherung der kulturhistorischen Forschungen zu befördern. Fast alle privaten Sammler sind mittlerweile im Rentenalter und eine zufriedenstellende Lösung, um die Sammlungen zu erhalten und damit kostbare Schätze der Zirkus- und Varietégeschichte zu bewahren, wird immer dringlicher. Im benachbarten Ausland, den Niederlanden, gibt es dafür ein rühmliches Vorbild: An der Universität Amsterdam gibt es eine Abteilung »Spezielle Sammlungen«, zu der Zirkuskollektionen verschiedener Sammler gehören, darunter die berühmte Hartman-Kollektion, die von dem Sammler und früheren Herausgeber der holländischen Fachzeitschrift De Piste, K.T. Hartman, 1963 der Universitätsbibliothek übergeben wurde und den Grundstock der heutigen Zirkussammlung bildete. 2 Ganz besonders erwähnenswert dabei ist, dass mit der Digitalisierung dieser Bestände begonnen wurde, beispielsweise ist die umfangreiche Plakatsammlung von Jaap Best bereits im Internet zugänglich.3 Hermann Linssen, der neben vielen Fotos eine unglaubliche Anzahl von Materialien zu Zirkussen und Artisten zusammengetragen hat, indem er über viele Jahre hinweg die alten Fachzeitschriften ausgewertet hat, berichtete uns, dass er bereits einen Teil seiner Sammlung der Amsterdamer Universität übergeben hat und seine Dokumente ebenfalls digitalisiert werden. Auch in den USA sind verschiedene Zirkussammlungen in Universitätsbibliotheken aufgenommen worden4 und in Australien hat der Zirkushistoriker Mark St Leon seine Sammlung der National Library in Canberra und der State Library of New South Wales übereignet. Dass der Zirkus als bewahrenswerte Kulturform nicht überall so stiefmütterlich behandelt wird wie in Deutschland, zeigen so großartige Zirkusmuseen wie beispielsweise das Ringling Museum of Art in Sarasota, das Zirkusmuseum in St. Petersburg, das Centro Educativo di Documentazione dell Arti Circensi in Italien, das

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http://bijzonderecollecties.uva.nl/en/shared-content/collection-domains/performing-arts. html [25.07.19]. https://circusmuseum.nl/collection/ [07.02.2020]. Siehe den Beitrag des Kurators Steve Gossard der Circus Collections an der Milner Library der Illinois State University.

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Circus- und Clownmuseum in Wien und mehrere Zirkusmuseen in Frankreich, darunter die überaus bedeutende Sammlung von Alain Frère. Die Fédération Mondiale du Cirque bemüht sich seit Jahren darum, den Bestand an Zirkusmaterialien und -dokumenten zu sichern, die bestehenden öffentlichen und privaten Sammlungen zu erfassen und zu vernetzen und den Zirkusbereich in die internetbasierte World Digital Library aufzunehmen. Das Preservation Project der Fédération startete 2009 unter Leitung von Dr. Rodney Huey und es gab seitdem verschiedene Zusammenkünfte, u. a. 2010 in Wiesbaden, sowie Planungen für eine internationale Zusammenarbeit, die Veröffentlichung von Publikationen auf der Website der Fédération und eine Digitalisierung der Bestände. Das bisher einzige greifbare Ergebnis ist ein mehrsprachiges Fachwörterbuch, International Guide to the Circus5, das von einem internationalen Autorenteam zusammengestellt wurde, sich allerdings auf nur 100 Begriffe beschränkt. Auf der Website der Fédération findet sich eine Auflistung von Zirkusmuseen und -sammlungen. Beim Problem der Digitalisierung scheint es dagegen bisher keine Fortschritte zu geben, das dürfte sowohl eine Frage der Finanzierung, der Technik, als auch der Urheberrechte sein. Trotzdem sind natürlich die Aktivitäten der Fédération sehr zu begrüßen und es ist nur zu wünschen, dass sie fortgeführt werden. Zu den wichtigsten Quellen für die Forschung zur Zirkusgeschichte gehören die Fachzeitschriften: Der Artist ist komplett auf Mikrofilm nur in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf vorhanden; die Zeitschrift der Internationalen Artistenloge »Das Programm« liegt relativ geschlossen in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln vor. Die Zeitschrift des Varieté-, Theater- und Circus-Direktorenverbandes e.V. Das Organ und die Internationale Artistenzeitung sind nur lückenhaft oder überhaupt nicht zu finden. Selbst die Deutsche Nationalbibliothek verfügt über keine geschlossenen Bestände dieser Zeitschriften. Eine Digitalisierung des Artist und des Programm wäre eine unabdingbare Voraussetzung für die Zirkusforschung, wenn sie denn als wichtig angesehen werden würde.

S INN UND Z WECK EINER Z IRKUSSAMMLUNG Nach dieser Bestandsaufnahme käme nun die Frage, wozu eine Sammlung von Zirkusmaterialien dienen kann und soll. Das Grundmotiv ist natürlich erst einmal, durch das Bewahren von Zeugnissen die Geschichte und Entwicklung einer Kulturform zu dokumentieren. Mit Ausstellungen in Museen kann diese Kulturgeschichte Besuchern nahegebracht und vermittelt werden. Aber auch Archive haben ihre spezielle Aufgabenstellung. Unsere private Sammlung füllt heute mehrere Räume des Hauses, in dem einst der deutsche Filmerfinder Max Skladanowsky wohnte – er war der Artistik verbunden, denn sein 1895 im Varieté Wintergarten weltweit erster öffentlich vorgeführter Film bestand aus Artistiknummern und sein Bruder Eugen war Clown u. a. im Circus Renz.

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Fédération Mondiale du Cirque (Hg.): International Guide to the Circus, Monaco 2012, erweiterte Nachauflage 2015.

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Abb. 4: Chronik des Circus Renz von Alwill Raeder

Im Gegensatz zu einem Museum mit vorzugsweise gegenständlichen Ausstellungsstücken ist unser Archiv auf Printmaterialien und audiovisuelle Medien, wie Fotos und Filme sowie Tonträger, konzentriert. Kostüme, Requisiten und auch Plakate benötigen mehr Raum als uns zur Verfügung steht. Unsere Zielrichtung ist weniger die Bestückung von Ausstellungen, obwohl wir natürlich bei diversen Sonderausstellungen mit Exponaten helfen konnten. Wir sehen den Sinn unseres Archivs vor allem in der Forschung, der eigenen und der Unterstützung bei Forschungsvorhaben anderer. Vor allem Studenten und Dokto-

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randen sind häufig Gast in unserem Archiv, oft nachdem sie festgestellt haben, dass Zirkusliteratur in öffentlichen Bibliotheken so gut wie nicht vorhanden ist, von Periodika ganz zu schweigen. Wir unterstützen die Studenten sowie Journalisten und Publizisten gern mit unseren Archivmaterialien und beraten sie. Als »Entgelt« erbitten wir dann die Zusendung der jeweiligen Arbeiten, so dass wir mittlerweile über einen beachtlichen Bestand an Diplomarbeiten und Dissertationen verfügen, die wir wiederum für weitere Forschungsarbeiten zur Verfügung stellen können.6 Leider gibt es kein zentrales Register, dem man die Existenz solcher Arbeiten – mit Ausnahme der Dissertationen – an den vielen Universitäten und Forschungseinrichtungen entnehmen könnte, so dass viele interessante Untersuchungen, wenn sie nicht veröffentlicht werden, unbekannt bleiben. Seit einigen Jahren entsteht eine Vielzahl von Arbeiten vorrangig zur Zirkuspädagogik und jeder Student glaubt, sein spezielles Thema sei noch nie behandelt worden. Statt auf den Erkenntnissen anderer Absolventen aufbauen und sie weiterentwickeln zu können, beginnen alle in der Regel von vorn. Indem wir möglichst viele solcher Arbeiten in unserem Archiv versammeln, können wir den Studenten eine wertvolle Unterstützung geben. Aktive Artisten können sich in unserem Archiv vor allem anhand der Fotosammlung über ihr Fachgebiet orientieren und gegebenenfalls Anregungen für Tricks und die Gestaltung einer Darbietung erhalten. Aber natürlich versuchen wir auch immer, anderen Sammlern mit Informationen und Material behilflich zu sein – ebenso wie wir sie gegebenenfalls um Hilfe bitten. Diese Zusammenarbeit unter den Sammlern ist ganz wichtig und funktioniert in der Regel sehr gut. Eine breitere Vernetzung wäre allerdings wünschenswert, denn bis jetzt ist vieles von Zufällen abhängig. Diese Netzwerkarbeit sollte auf internationaler Ebene befördert werden, denn Forschungen zur Artistikgeschichte sind selten auf nationale Grenzen beschränkt – Zirkus war und ist eine internationale und interkulturelle Kunst. Die Bemühungen der Fédération Mondiale du Cirque gehen dankenswerterweise in diese Richtung. In Deutschland gibt es seit kurzem ein Netzwerk Zirkus7, das als eine Art Dachverband der Zirkusse, Varietés, Artisten, Ausbildungsstätten, Kinderzirkusse und anderen auf diesem Gebiet Tätigen fungieren und sie zum Dialog über die Entwicklung des Zirkus bringen will. Zu seinen Zielstellungen gehört die Unterstützung von wissenschaftlicher Arbeit.

F ORSCHUNGEN UND P UBLIKATIONEN ZUR Z IRKUSGESCHICHTE Unsere eigene Forschung zur Zirkusgeschichte lässt sich am besten anhand der Publikationen dokumentieren, die wir erarbeitet haben. Seit dem 1974 erschienenen ersten Buch, der Anthologie Die große Raubtierschau und den folgenden Anthologiebänden Allez hopp durch die Welt, Das große Hokuspokus und Menschen zwischen Himmel und Erde, sind es mittlerweile über 20 Titel, darunter eine deutsche Zirkus-

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Insgesamt sind es bisher rund 150 Diplom-, Bachelor- und Masterarbeiten sowie Dissertationen, darunter eine größere Anzahl von Arbeiten zur Zirkuspädagogik. http://netzwerk-zirkus.de/ [07.02.2020].

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geschichte, ein Buch Zirkusbilder zum Zirkus in der Kunst, Bücher zur Geschichte des Berliner Circus Busch, zum Ende des Staatszirkus, zu Zirkusplakaten in der DDR, ein Wörterbuch der Artistik, die Geschichte des Circus Blumenfeld, des Circus Kapitän Schneider und des Circus Gleich.8 Besondere Beachtung fand das 2009 erschienene Buch zur Geschichte des Zirkus in der DDR.9 Das mit insgesamt 1300 Seiten umfangreichste ist die zweibändige Geschichte der Artistik, die 2015 unter dem Titel »Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden« erschienen ist.10 Von der Gesellschaft der Circusfreunde wurden wir für unsere publizistische Arbeit mit dem Saltarino-Preis ausgezeichnet. Natürlich kann man sich einfach fünf Bücher vornehmen und daraus ein sechstes fabrizieren. Wenn es einigermaßen gut gemacht und vielleicht noch ansprechend illustriert ist, kann es durchaus Erfolg haben. Für die Forschung bringt dieses Verfahren allerdings wenig Gewinn. Um wirklich Neues zutage zu fördern, muss man die Originalquellen aufspüren. Eine solche »Detektivarbeit« war in besonderem Maße bei dem Buch über die Geschichte der jüdischen Zirkusfamilie Blumenfeld erforderlich. Über die Arbeit an diesem Buch möchte ich etwas ausführlicher berichten, weil sie exemplarisch auch für andere unserer Veröffentlichungen steht. Die Idee zu diesem Buch kam auf, als wir bei Recherchen im Zusammenhang mit dem Buch über den DDR-Zirkus auf die Ereignisse um den Blumenfeld-Bau in Magdeburg stießen. Hinzu kam, dass ein guter Bekannter, Martin Schaaff, der das BuschArchiv Berlin betreute und 2015 im hohen Alter von 105 Jahren verstorben ist, uns häufig von seiner Freundschaft zu Victoria Blumenfeld, Direktorin des letzten Circus Blumenfeld, erzählt hatte. Es gab einige Angaben zu dieser Familie in der »Circus Zeitung«, der Zeitschrift der Gesellschaft der Circusfreunde in Deutschland, verfasst von Rudolf Geller, und in einigen wenigen Publikationen. Sie erwiesen sich aber bald als recht widersprüchlich und unzuverlässig. So begann Dietmar Winkler, um erst einmal an verlässliche Daten zu kommen, einen ausgedehnten Schriftverkehr mit

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Winkler, Gisela/Winkler, Dietmar: Die große Raubtierschau, Berlin 1974, 1978, 1981, 1986; dies.: Allez hopp durch die Welt, Berlin 1977, 1981, 1982, 1985; dies.: Das große Hokuspokus, Berlin 1981, 1982, 1985; dies.: Menschen zwischen Himmel und Erde, Berlin 1988; Winkler, Dietmar: Zirkusbilder (mit Roland Berger), Berlin 1983, unter dem Titel Künstler, Clowns und Akrobaten, Stuttgart 1983; Winkler, Dietmar: Zirkusgeschichte. Ein Abriß der Geschichte des deutschen Zirkus (mit Ernst Günther), Berlin 1986; Winkler, Gisela: Circus Busch. Geschichte einer Manege in Berlin, Berlin 1998; Winkler, Dietmar: Wie beerdigt man einen Zirkus? Das langsame Sterben des Staatszirkus der DDR, Norderstedt 2001; Krug, Reinhard/Winkler, Gisela/Winkler, Dietmar: Zirkusplakate. Zirkusse in Mitteldeutschland, Norderstedt 2005; Winkler, Gisela: Von Abfaller bis Zwölferzug. Ein Wörterbuch der Artistik, Berlin 2010; Winkler, Gisela/Winkler, Dietmar: Die Blumenfelds. Schicksale einer jüdischen Zirkusfamilie, Gransee 2012; Winkler, Dietmar: ›Kapitän‹ Alfred Schneider, Gransee 2014; ders.: Julius Gleich und sein ›Riesencircus‹, Gransee 2017, ders.: Circus Jacob Busch – Der Zirkus unter Wasser, Gransee 2020. 9 Winkler, Dietmar: Zirkus in der DDR. Im Spagat zwischen Nische und Weltgeltung, Berlin 2009. 10 Winkler, Gisela: Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden. Bd. 1: Die Geschichte der Artistik und des Zirkus. Bd. 2: Die Künste der Artistik, Gransee 2015.

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Archiven, Standesämtern, Kirchen und anderen Einrichtungen buchstäblich in ganz Europa. Da viele Angehörige dieser jüdischen Zirkusfamilie Opfer des Holocaust geworden sind, mussten Archive und Unterlagen zur Judenverfolgung durchforstet werden. Spannend wurde es immer, wenn durch ein aufgefundenes Dokument ein Puzzlestück gefunden wurde, das plötzlich Zusammenhänge erhellte. Das Dokument der Namensumbenennung von Levy in Blumenfeld beispielsweise widerlegte die bis dahin immer wieder kolportierte Geschichte, wie die Familie zu ihrem Namen gekommen war, und erhellte die zeithistorischen Bezugsrahmen, den gesellschaftlichen Kontext. Es wurde in den Quellen berichtet, dass der Stammvater Levy Hirsch bei der Geburt seines ersten Sohnes Emanuel 1811 mit Blick auf eine blühende Wiese beschlossen habe, den Namen Blumenfeld anzunehmen. Tatsächlich ging die Festlegung des Familiennamens Blumenfeld auf eine Verfügung der Königlichen Regierung zu Köln von 1845 zurück, die anordnete, dass zur Gleichstellung der Juden diese erbliche Familiennamen anzunehmen hatten. Was ursprünglich als kleines Bändchen auf der Grundlage vorhandener Quellen gedacht war, wuchs sich in jahrelanger detektivischer Forschungsarbeit zu einem umfangreichen Band aus, der selbst die Nachkommen der Familie verblüffte, weil sie bis dahin weder die Verwandtschaftsverhältnisse der überaus weitverzweigten Familie überblickt hatten, noch von der Existenz der vielen verschiedenen BlumenfeldZirkusse wussten. Aus den wechselvollen Schicksalen der Familienmitglieder und ihrer Zirkusse ergab sich schließlich ein Bild der Zirkusentwicklung in Deutschland über mehr als 100 Jahre hinweg und insbesondere natürlich der Bedeutung, die jüdische Artisten dabei gespielt hatten. Durch die intensiven Forschungen zu dieser Familiengeschichte ist es gelungen, nicht nur diesen ehedem sehr bedeutenden Zirkusnamen vor dem Vergessen zu bewahren, sondern auch die Stellung jüdischer Zirkusunternehmen in der deutschen Artistikgeschichte zu erhellen. Hatte es bei den Blumenfelds Recherchen und Schriftwechsel gebraucht, die meterweise Ordner füllten – ähnlich war es übrigens bei dem Buch über den Löwendompteur und Zirkusdirektor Kapitän Alfred Schneider und dem Buch über den Circus Gleich – so konnte bei anderen Publikationen stärker auf die im Archiv vorhandenen Unterlagen zurückgegriffen werden. Die bereits erwähnte zweibändige Artistikgeschichte zu verfassen war nur möglich, weil im Archiv so viele einschlägige Bücher sowie Zeitschriften vorhanden sind. Natürlich sind für Forschungsarbeiten solche Quellen erforderlich, hier kommt es aber vor allem darauf an, durch eingehendes Studium möglichst zahlreicher Publikationen zur jeweiligen Thematik die Verlässlichkeit dieser Literatur zu überprüfen und neben dieser Literaturexegese viele weitere Quellen heranzuziehen. Für die Forschungsarbeit wertvoll ist vor allem das Zurückgreifen auf Originalquellen, seien es Dokumente oder Artikel und Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften. Mit umfangreicheren Beiträgen von drei Schriftstellern – Paula Busch, Signor Saltarino und Karl Döring – aus Fachzeitschriften von 1890 bis 1930 wurde ein Band »Über Zirkuskunst« gestaltet, der ihre Auseinandersetzung mit Zirkusproblemen ihrer Zeit dokumentiert.11 Natürlich gibt es für eine solche Publikation nur einen kleinen Kreis von Interessenten, aber es erschien uns doch loh-

11 Winkler, Gisela/Winkler, Dietmar: Über Zirkuskunst. Was Zirkusliteraten vor 100 Jahren schrieben, Gransee 2013.

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nend, solche zirkushistorischen Dokumente zusammenzustellen und damit der weiteren Forschung zugänglich zu machen. Abb. 5: Titel des Buches Fahrend Volk von Signor Saltarino, 1895

Eine Selbstverständlichkeit bei jedem dieser Sachbücher sollten genaue Quellenangaben und ein umfassendes Literaturverzeichnis sein. Damit ist für jeden Leser nachvollziehbar, auf welchen Quellen die Angaben beruhen und welche Literatur für weitere Forschungsarbeiten sinnvoll ist. Ein verlässlich recherchiertes Buch ist ja auch immer Grundlage für weitergehende Forschungen: Es kann Anregungen geben, zur

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Auseinandersetzung herausfordern und Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit der Thematik sein. Die Zirkuskunst ist ein noch weitgehend unerforschtes Feld, insbesondere die Ästhetik dieser Kunstform. Wir verstehen uns selbst eher als Zirkushistoriker denn als Theoretiker, aber natürlich versuchen wir uns mit den Besonderheiten, mit der Ästhetik der Zirkuskunst in ihren unterschiedlichen Formen und historischen Entwicklungsphasen auseinanderzusetzen. Im zweiten Band der Artistikgeschichte beispielsweise ist ein Kapitel der Frage des Kunstcharakters des Zirkus gewidmet, ein anderes den historischen und künstlerischen Beziehungen zwischen Theater und Artistik. Wichtig ist unseres Erachtens, wenn man sich tiefergehend mit der Thematik beschäftigt, sowohl in die Sammlung als auch in die Forschung alle tangierenden Bereiche einzubeziehen, also nicht nur den klassischen Zirkus zu betrachten, sondern auch die Erscheinungen des Neuen Zirkus, die Querverbindungen zur Varietégeschichte, zum Theater und anderen Formen der Kunst. Der Zirkus als »Einheit der Vielfalt«, wie der russische Zirkuswissenschaftler Jewgeni Kusnezow es formulierte,12 vereinigt in sich neben der reinen Artistik Elemente vieler Künste: des Theaters, Tanzes, der Musik, der Kunst und zunehmend auch der modernen Medien – genauso wie er sich als Sujet in anderen Künsten und in der Literatur wiederfindet. Gerade diese Querverbindungen sind oft für die Forschung besonders interessant, wie die Beiträge dieser Tagung beweisen. Noch ist zumindest im deutschsprachigen Raum die Ästhetik der Zirkuskunst ein sehr vernachlässigtes Gebiet, teilweise wird dem Zirkus der Kunstcharakter völlig abgesprochen bzw. auf die Formen des Neuen Zirkus mit seinen theatermäßigen Elementen begrenzt. Noch immer wird der Zirkus offiziell nicht als Kultur anerkannt, sondern dem Gewerbe zugeordnet. Umso begrüßenswerter ist diese Veranstaltung der Universität Marburg, die sich der Thematik weitgehend von eher ungewöhnlicher Seite aus nähert – der Literaturwissenschaft neben der Kunst- und Kulturwissenschaft –, während die Tagungen in Münster 2015 und 2017 im Zeichen der Semiotik standen. Die Theaterwissenschaft, deren Verbindung zum Zirkus naheliegend ist, hat bisher diese »Verwandtschaft« weitestgehend ignoriert, erst in letzter Zeit beginnen Studenten und Doktoranden sich damit zu beschäftigen – und die weitaus meisten von ihnen melden sich dann irgendwann in unserem Archiv. Wir freuen uns, wenn der von uns betriebene zeitliche und finanzielle Aufwand für die Sammlung damit seinen Nutzen über unsere eigenen Arbeiten hinaus hat. Der Zirkus ist eine Kunst, deren Geschichte und Besonderheiten bewahrenswert sind – durch die engagierten, leidenschaftlichen Sammler in aller Welt, deren Sammlungen Grundlage für Forschungen sind.

B ILDNACHWEIS Alle Abbildungen zeigen Sammelobjekte des Zirkusarchivs Winkler.

12 Jewgeni Kusnezow: Der Zirkus der Welt, Berlin 1970. S. 7.

Zoos und Zirkusse Was sie eint und was sie trennt M ANFRED N IEKISCH

1. D IE

GEMEINSAMEN

W URZELN VON Z IRKUS

UND

Z OO

Die gemeinsamen Wurzeln von Zirkus und Zoo reichen weit zurück – schließlich stammt das Wort ›Circus‹ aus der römischen Antike. Dort fanden unter anderem Wagenrennen statt. Da diese Art von Zirkus aber nichts gemein hat mit dem heutigen Verständnis vom Zirkus und dessen moderner Realität als Unterhaltungsshow mit Akrobaten, Clowns, Musik und Tierdressuren, kann man den Beginn des modernen Zirkusses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verorten. 1 Entsprechendes gilt für den Begriff des Zoos.2 Haltungen von Wildtieren sind bereits etwa 3000 v. Chr. aus Ägypten beschrieben. Sie entwickelten sich über die Jahrtausende hin zu herrschaftlichen Tiersammlungen und schließlich Menagerien, in denen die Zurschaustellung ein wesentliches Element wurde. Über lange Zeiträume dienten solche Tierhaltungen der Demonstration von Reichtum und Macht und das Wichtige war der Besitz der Tiere. Deren Unterbringung erfolgte ganz überwiegend nach praktischen Überlegungen ohne Kenntnis und Rücksicht auf ihre Bedürfnisse. Im Unterschied zu den fest installierten höfischen Menagerien gab es auch wandernde Tierschauen, die teilweise nicht nur Tiere für das Publikum zeigten, sondern auch in Dressuren vorführten.

1

2

Vgl. hierfür Bose, Günter/Brinkmann, Erich: Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978 und Günther, Ernst/Winkler, Dietmar: Zirkusgeschichte. Ein Abriss der Geschichte des deutschen Zirkus, Berlin 1986 sowie Stoddart, Helen: Rings of Desire. Circus History and Representation, Manchester 2000. Vgl. hierfür Maschietti, Gabriele/Muti, Marina/Passerin d’Entréves, Pietro: Serragli e menagerie in Piemonte nell’Ottocento sotto la Real Casa Savoia, Turin 1988, Hediger, Heini: Zoologische Gärten – Gestern, Heute, Morgen, Bern 1977, Rieke-Müller, Annelore: »Fürstliche Menagerien, Wandermenagerien, Zoologische Gärten«, in: Sabine Nessel/ Heide Schlüpmann (Hg.), Zoo und Kino. Mit Beiträgen zu Bernhard und Michael Grzimeks Film- und Fernseharbeit, Frankfurt/M./Basel 2012, S. 12-28 und Knauer, Friedrich: Der Zoologische Garten, Leipzig 1914.

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Erst Mitte des 18. Jahrhunderts trat das Interesse hinzu, diese Tiere auch zu erforschen. Um Forschung realisieren zu können, war es notwendig, vom Jagd-, Sammelund Ausstellungsbetrieb zu einer einigermaßen tiergerechten Haltung zu kommen. Dies konnten wandernde Tiershows keinesfalls leisten. Dazu kam das stärker werdende Verlangen, der breiteren Öffentlichkeit die Besichtigung der herrschaftlichen Tiersammlungen zu ermöglichen. Die älteste bestehende Einrichtung dieser Art ist der Tiergarten Schönbrunn in Wien. Er wurde 1752 zunächst als höfische Menagerie mit privatem Charakter von Franz I. Stephan begründet. 1778 wurde er dann für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Heute gilt er als der älteste Zoo der Welt im modernen Sinn. Die Ménagerie du Jardin des Plantes in Paris entstand 1793 nach der Auflösung der königlichen Menagerie von Versailles und ihre konzeptionelle Neuausrichtung ist natürlich im Zusammenhang mit der französischen Revolution zu sehen. Diese Menagerie war von Anfang an für die Öffentlichkeit zugänglich und wurde auch von Beginn an genutzt, um Wildtiere wissenschaftlich zu erforschen. Tierdressuren kamen in diesen Schaueinrichtungen zwar vor, sie bildeten aber nie die Hauptaktivität der Menagerien und Zoos. Spätestens mit der Einrichtung von stationären Tierschauen und dem Erwachen des Gedankens der Forschung an Tieren trennen sich die Entwicklungslinien von Zoos und Zirkussen, weil sich die Zielsetzungen nun ganz anders gestalteten. 1828 wurde dann erstmals das Wort Zoo verwendet, und zwar für den Zoo in London. Zoo, Zoologischer Garten, Tierpark und Tiergarten sind Begriffe, die synonym verwendet werden.

2. W AS

IST EIN

Z OO ?

Nun sind aber auch Zoos keine homogene Gemeinschaft, noch nicht einmal in einem klar umgrenzten Rechtsraum wie der Bundesrepublik Deutschland. Das Bundesnaturschutzgesetz definiert in § 42: »(1) 1 Zoos sind dauerhafte Einrichtungen, in denen lebende Tiere wild lebender Arten zwecks Zurschaustellung während eines Zeitraumes von mindestens sieben Tagen im Jahr gehalten werden. 2 Nicht als Zoo gelten: 1. Zirkusse, 2. Tierhandlungen und 3. Gehege zur Haltung von nicht mehr als fünf Arten von Schalenwild, das im Bundesjagdgesetz aufgeführt ist, oder Einrichtungen, in denen nicht mehr als 20 Tiere anderer wild lebender Arten gehalten werden.«

Die weiteren Regelungen sind so allgemein gehalten, dass sie eine Vielzahl von Zoos ganz unterschiedlicher Ausprägung und Ausrichtung zulassen. Gemeinsam ist allen Zoos, dass dort Vorführungen von dressierten Tieren nicht das zentrale Tätigkeitsfeld bilden. Gleichwohl gehörten Dressurvorführungen beispielsweise von Elefanten lange Zeit zur Publikumsattraktion, so auch im Zoo Frankfurt, und werden heute noch in einzelnen Zoos praktiziert. Sie dienten und dienen, wo sie noch durchgeführt werden,

Z OOS UND ZIRKUSSE | 181

aber ganz wesentlich der Beschäftigung der Tiere und dem Training für tiermedizinische Zwecke. Sie sind im Zoo nicht Hauptzweck oder gar Selbstzweck. In Deutschland gibt es etwa 300 Einrichtungen, die man im Rahmen des Gesetzes als Zoos bezeichnen kann. Von diesen sind aber nur rund 70 im Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) zusammengeschlossen. Voraussetzung für die Aufnahme in den VdZ ist, dass der Zoo wissenschaftlich geführt ist. Dies ist dann der Fall, wenn ihm ein_e Leiter_in mit einer akademischen Ausbildung, in der Regel ein Biologe oder ein Tierarzt, vorsteht und wenn er sich an wissenschaftlichen Maßstäben der Zoologie, Tiergartenbiologie, Erhaltungszucht und Zoopädagogik orientiert und diese umsetzt. Die im VdZ zusammengeschlossenen Zoos bekennen sich im Wesentlichenzu vier Grundaufgaben: Naturschutz, Bildung, Forschung, und Erholung. In dem Leitbild, das sich der Verband gegeben hat, liest sich dies so: »Der Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) ist die führende Vereinigung wissenschaftlich geleiteter Zoologischer Gärten mit Wirkungsschwerpunkt im deutschsprachigen Raum. Unser gesellschaftlicher Auftrag liegt im Erhalt der biologischen Vielfalt. Diesen Auftrag erfüllen wir durch die Haltung und Zucht gefährdeter Tierarten sowie durch das Engagement im Natur-, Arten-, Umwelt- und Tierschutz, die Bildung für nachhaltige Entwicklung, die Förderung der Forschung und die Schaffung von naturnahen Erholungsräumen. Als kompetenter Ansprechpartner in allen zoo- und wildtierrelevanten Themenfeldern beraten wir Entscheidungsträger aus Politik, Administration und weiteren gesellschaftlichen Gruppen. Wir inspirieren unsere Besucher und informieren die Öffentlichkeit und die Medien über die vielfältigen Aufgaben und Aktivitäten der Zoos. Wir bilden Partnerschaften und Netzwerke mit denen, die vergleichbare Ziele verfolgen. Unsere Mitgliederzoos zeichnen sich aus als wertvolle Freizeit- und Kultureinrichtungen mit hoher gesellschaftspolitischer und touristischer Relevanz. Auf Grundlage von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, praktischen Erfahrungswerten und den Leitlinien internationaler Fachverbände setzen wir hohe Standards in der Zootierhaltung. Wir sind ein unabhängiger, gemeinnütziger und professionell agierender Verband, dessen Arbeit auf nationalen und internationalen Konventionen und Gesetzen beruht. Wir handeln transparent, verantwortungsbewusst, werteorientiert und mit hohem ethischen Maßstab.«3

Der VdZ und seine Mitglieder sind wichtige Partner im Weltverband der Zoologischen Gärten WAZA (World Association of Zoos and Aquariums), der rund 280 Zoos und Aquarien weltweit umfasst. Schon die Zahlenverhältnisse führen vor Augen, dass wissenschaftlich geführte Zoos innerhalb der Zoowelt eine Minderheit bilden. Von den sicher mehreren tausend Zoos der Erde erfüllt nur ein Bruchteil die Kriterien für die Aufnahme in den Weltzooverband WAZA. Auch der Europäische Verband der Zoos und Aquarien (European Association of Zoos and Aquaria, EAZA) hat strenge Aufnahmekriterien, die denen von WAZA und VdZ sehr ähnlich sind. Mit seinen über 300 Mitgliedseinrichtungen erfasst er ebenfalls bei weitem nicht alle

3

https://www.vdz-zoos.org/de/verband/leitbild [14.07.18].

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Zoos Europas. Die VdZ-Zoos sind so gut wie alle auch Mitglieder von EAZA und WAZA. WAZA und seine Mitglieder agieren auf der Grundlage zweier wichtiger Dokumente. Dies ist einmal die 2015 völlig überarbeitete Naturschutzstrategie, welche in der deutschen Fassung den Titel trägt Zeichen setzen für den Naturschutz. Die WeltZoo- und Aquarium-Naturschutzstrategie4. Zum anderen ist es die neu geschaffene Tierschutz-Strategie Verantwortung für Wildtiere. Die Welt-Zoo- und AquariumTierschutzstrategie5 aus dem gleichen Jahr. Sie definieren Selbstverständnis und Aufgabengebiete der wissenschaftlich geführten Zoos und Aquarien. Da in den meisten Teilen der Welt nicht gesetzlich geregelt ist, was ein Zoo ist, und dort, wo Gesetze oder Richtlinien dazu bestehen, wie in Deutschland und der Europäischen Union, viel Spielraum besteht, trifft die allgemeine Bezeichnung »Zoo« auf ganz unterschiedliche Einrichtungen zu und beinhaltet per se praktisch keine Qualitätsnormen. Die Rechtsformen reichen von privaten bis zu öffentlichen Trägern und von gemeinnützigen bis zu rein kommerziellen Einrichtungen. Angesichts dieser Vielfalt sollen für die Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Zoo und Zirkus die Standards für Zoos herangezogen werden, wie sie in Deutschland und in der Europäischen Union rechtlich geregelt sind und von den Mitgliedern der Zooverbände VdZ, EAZA und WAZA gelebt werden. Es handelt sich hierbei um die wissenschaftlich geführten, »guten« 6 Zoos.

3. W ENIGE G EMEINSAMKEITEN VON Z OO

UND

Z IRKUS

Es versteht sich von selbst, dass bei einer Betrachtung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Zoo und Zirkus nur die Anteile des Zirkusses in Betracht zu ziehen sind, die mit dem Einsatz von Tieren einher gehen. Die Haltung von Tieren und ihre Präsentation für Besucher sind die hier zu untersuchende Teilmenge, die für beide Einrichtungen zutreffend ist. Es lassen sich durchaus Elemente identifizieren, welche Zoos und Zirkussen gemeinsam zu eigen sind. Die Besucher kommen in ihrer Freizeit, um sich zu erholen. Sie zahlen Eintritt in eine Einrichtung, die Teil des kulturellen Lebens bildet. Beide Einrichtungen trainieren Tiere und präsentieren sie Besuchern. Letzteres kann aber nur formal als Gemeinsamkeit verstanden werden, denn gerade in Art, Inhalt und Intention von Training und Präsentation der Tiere bestehen so erhebliche Unterschiede, dass man sagen kann, dass die Gemeinsamkeiten von Zoo und Zirkus sich heute auf zwei Grundgedanken reduzieren: Beide präsentieren Tiere und beide sind für Besucher da.

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Barongi, Rick et al. (Hg.): Committing to Conservation. The World Zoo and Aquarium Conservation Strategy, Gland 2015. Mellor, David J./Hunt, Susan/Gusset, Markus (Hg.): Caring for Wildlife. The World Zoo and Aquarium Animal Welfare Strategy, Gland 2015. WAZA: »Was ist ein guter Zoo?«, in: P. Dollinger/K. Robin/F. Weber (Hg.), WAZA Meetings – Verhandlungsberichte Rigi-Symposium, Goldau-Rigi, 28.02.-01.03.2008, World Association of Zoos and Aquariums, Bern 2008.

Z OOS UND ZIRKUSSE | 183

4. D IE U NTERSCHIEDE Zirkusse dienen allein der Unterhaltung des Publikums. Zoos hingegen widmen sich zudem der Forschung, der Umweltbildung und dem Arten- und Naturschutz. Keiner dieser Bereiche wird vom Zirkus wahrgenommen. Zwar gibt es durchaus Forschung an Zirkustieren, diese wird aber von externen Wissenschaftlern wahrgenommen und von den Zirkussen nicht als ihre eigene, originäre Aufgabe verstanden oder gar praktiziert. Besonders kritisch ist zu sehen, dass Zirkusse im Bereich der Umweltbildung nicht nur kein Aufgabenfeld haben, sondern dass sie ganz im Gegenteil mit ihren Tierdressuren ein teilweise völlig falsches Bild von den Tieren vermitteln. Dies gilt in ganz besonderem Maße für Wildtiere. Was in den Vorstellungen von Tigern, Löwen, Bären, gemischten Raubtiergruppen, Affen oder auch Elefanten gezeigt wird, vermittelt keinerlei Eindruck davon, wie diese Tiere sich natürlich verhalten (würden), geschweige denn werden Informationen vermittelt über die Lebensweise, die Gefährdung im Freiland und so weiter. Dies kann zunächst wertfrei festgestellt werden, da Zirkusse eben keinen Bildungsauftrag haben oder wahrnehmen, sondern das Publikum nur unterhalten wollen. Zoos hingegen versuchen, den Besuchern die Tiere möglichst so zu präsentieren, dass man einen Eindruck vom natürlichen Verhalten und vom Lebensraum bekommt und der Wildtiercharakter erhalten bleibt. Das natürliche Verhalten, welches zu zeigen in den Zoos angestrebt wird, steht im Zirkus der in der Dressur gezeigten Dominanz des Menschen über das Tier gegenüber. Im Zirkus geht es ja gerade darum, nicht das natürliche Verhalten, sondern einstudierte Kunststücke und unnatürliches Verhalten vorzuführen. Dass die Präsentation und Bewahrung des natürlichen Verhaltens in Zoos bei beschränkten Finanzmitteln und begrenzten räumlichen Möglichkeiten sowie der Notwendigkeit, mit den Tieren umgehen zu können, nicht immer vollumfänglich möglich ist, gehört zur Realität, doch zielen alle Bestrebungen darauf ab. Die Gehegebeschilderung und andere Materialien bieten den Besuchern Informationsangebote von direkt tier- und artbezogenen Fakten bis hin zu Möglichkeiten, wie Besucher zum Schutz der Arten im Freiland beitragen können. Den gezeigten Tieren kommt hier die Funktion von Botschaftern für die wildlebenden Artgenossen zu. Die Bedeutung der Zoopädagogik ist in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen und hat sich zu einer wirklichen Wissenschaft entwickelt. 7 Zoos engagieren sich auch zunehmend außerhalb ihrer Mauern im Artenschutz, indem sie selbst solche Projekte durchführen oder Projekte von anderen Zoos und Nichtregierungsorganisationen beispielsweise finanziell oder durch Entsendung von Personal unterstützen. 8 Von Zirkussen sind derartige Initiativen nicht bekannt geworden. Ein weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld der Zoos ist die Zucht der gehaltenen Arten und insbesondere gefährdeter Arten.9 In aufwändigen Zuchtprogrammen mit je einem zentralen ZuchtbuchKoordinator für die einzelnen Arten wird angestrebt, innerartlich eine möglichst gro-

7 8 9

Vgl. hierfür Gansloßer, Udo (Hg.), Zoopädagogik, Fürth 2002. Vgl. hierfür Zimmermann, Alexandra et al. (Hg.): Zoos in the 21st Century. Catalysts for Conservation? Conservation Biology 15, Cambridge 2007. Vgl. hierfür Conde, Dalia Amor et al.: »An Emerging Role of Zoos to Conserve Biodiversity«, in: Science Magazine 331 (2011), S. 1390-1391.

184 | M ANFRED NIEKISCH

ße genetische Vielfalt zu erhalten und jedenfalls Inzucht beziehungsweise Zucht mit verwandten Individuen zu vermeiden. Dazu gehören auch eine genaue Buchführung mit Registrierung aller Individuen und deren systematischer Austausch zwischen Zoos. Dies impliziert, dass im Zoo gezeigte Tiere nicht unbedingt dem Zoo gehören, in dem sie stehen, sondern von anderen Zoos im Rahmen eines Zuchtprogrammes entliehen sind. Daneben werden manche Arten auch gar nicht dem Publikum gezeigt, sondern die Zucht erfolgt ausschließlich im Interesse der Arterhaltung hinter den Kulissen. Tiergeburten in Zirkussen werden hingegen nicht bzw. nicht systematisch angestrebt und erbringen, selbst wenn sie erfolgen, keinen Beitrag zur Erhaltung der Arten und Unterarten. Dressur, starke räumliche Einengung, ständige Ortswechsel und das Ausbleiben von Nachzuchten beschränken – im Unterschied zur Situation in Zoos – das Ausleben des natürlichen Verhaltensspektrums der Zirkustiere erheblich, wenn sie es nicht sogar völlig verhindern. Erheblich unterschiedlich und bezeichnend sind auch die Vorgaben, was den Platz angeht, welcher Tieren zur Verfügung gestellt werden muss. So schreibt das Säugetiergutachten10 vor, dass für Tiger im Zoo ein Innengehege mit mindestens 20 m² pro Tier vorhanden sein muss sowie ein Außengehege mit mindestens 200 m² für ein Tier oder Paar. Es muss unterteilbar sein in Einzelgehege von pro Tier mindestens 100 m². Diese müssen aber untereinander verbindbar sein. Die Zirkustierleitlinie11 sieht dagegen ein Innengehege von nur 12 m² für ein bis zwei Tiere sowie 4 m² für jedes weitere Tier vor sowie ein Außengehege von 50 m² für ein bis drei Tiere, dazu 5 m² für jedes weitere Tier. Was die Elefantenhaltung angeht, gibt das Säugetiergutachten vor, dass eine Ankettung von Elefanten im Zoo grundsätzlich unterbleiben soll. Sie ist zu pflegerischen Zwecken für maximal drei Stunden pro Tag zulässig. Ganz anders ist dies im Zirkus, wo nach der Leitlinie die Kettenhaltung auf die Nachtzeit, die Vorbereitungsphase für die Probe und die Pflegezeiten zu beschränken ist.

5. D IE S INNFRAGE Zoos haben die Aufgabe, Menschen mit Tieren in Verbindung zu bringen. Menschen sollen Tiere möglichst naturnah erleben können und dabei nicht nur etwas über Tiere lernen, sondern, so der Anspruch eines modernen Naturschutz-Zoos, auch informiert und bewegt werden, sich für den Schutz bedrohter Arten einzusetzen. Damit muss sich jeder wissenschaftliche geführte Zoo drei Grundfragen stellen. 12 Die erste lautet, und sie ist wohl die älteste: Welche Tiere sollen gehalten werden? Damit eng ver-

10 BMEL – Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Gutachten über die Mindestanforderungen an die Haltung von Säugetieren, Berlin/Bonn 2014. 11 BMEL – Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Leitlinien für die Haltung, Ausbildung und Nutzung von Tieren in Zirkusbetrieben oder ähnlichen Einrichtungen, Berlin/Bonn 2000. 12 Vgl. hierfür Niekisch, Manfred: »Was trennt den Menschen vom Tier – Glas und Gitter?« in: Sabine Nessel/Heide Schlüpmann (Hg.), Zoo und Kino. Mit Beiträgen zu Bernhard und Michael Grzimeks Film- und Fernseharbeit, Frankfurt/M./Basel 2012, S. 206-220.

Z OOS UND ZIRKUSSE | 185

bunden ist die zweite Grundfrage: Wie sollen diese Tiere gehalten und dem Besucher präsentiert werden? Zunehmend wichtiger wird die dritte und modernste Frage: Zu welchem Zweck, mit welcher Absicht sollen diese Tiere gehalten werden? Anders gestellt könnte diese Frage auch lauten: Was soll mit der Haltung der Tiere erreicht werden? Zucht als Beitrag zum Arterhalt bzw. Aufbau einer stabilen Zoo-Population, Forschung, Wissensvermittlung an die Besucher über Lebensweise und Gefährdung, Demonstration von Evolution und Anpassung oder der Vielfalt des Lebens auf der Erde, Hinweise, was jeder Einzelne zum Schutz beitragen kann – die Begründungen können sehr vielfältig sein, laufen letztendlich aber immer darauf hinaus, dass Wildtiere in Zoos Botschafter sein sollen für ihre wild lebenden Artgenossen. Die wichtigste Botschaft lautet letztendlich, dass Tierarten und ihre Lebensgemeinschaften, dass die biologische Vielfalt der Erde Grundlage auch des menschlichen Lebens und Wirtschaftens ist. Vieles, was in Film und Fernsehen über Tiere und ihre Lebensräume gezeigt werden kann, ist im Zoo nicht erlebbar. Die Unterwasserwelt der Wale, die großen Tierwanderungen der Serengeti, der Vogelzug, die Jagd eines Löwenrudels auf ein Zebra lassen sich nur vor Ort oder im Film beobachten. Zoos können und wollen keinen Ersatz dafür bieten. Sie bieten aber die Chance zur originalen Begegnung, zum Tiererlebnis aus nächster Nähe für jedermann. Jeder Zoobesucher soll den Besuch genießen, sich entspannen, aber auch ein angemessenes Informationsangebot vorfinden. Die Haltung von Tieren im Zoo ist also kein Selbstzweck. Zeitgemäße Zoos sind damit über ihre Funktion als Schaueinrichtung weit hinausgewachsen. Ein Zoo, der seinen Bildungs-, Forschungs- und Naturschutzauftrag nicht ernst nimmt, wäre nur ein Vergnügungspark. Wildtiere zeigen, nur zum Vergnügen? Das ist für moderne Zoos keine ausreichende Legitimation. Zirkusse dagegen wollen, wie gesagt, mit Tierdressuren nur unterhalten. Dies ist als legitim zu bezeichnen, sofern es für das Wohl der Tiere keine Einschränkung bedeutet. Dressuren mit Hunden und anderen Haustieren sind hier durchaus vorstellbar. Bei Wildtieren bleiben erhebliche Zweifel beziehungsweise liegen Untersuchungen vor, welche nachweisen, dass Wildtierarten nicht für die Zirkushaltung geeignet sind. Zirkusse haben eine Zukunft, sofern sie, tierethisch einwandfrei, ihren Besuchern Freude bereiten. Sie bleiben dabei jedoch reine Vergnügungsveranstaltungen. Angesichts der zunehmenden Umweltprobleme und der Entfremdung der Menschen von der Natur wird dagegen die Bedeutung der wissenschaftlich geführten Zoos als Möglichkeit, Tiere hautnah zu erleben und dabei zu lernen, weiter zunehmen.

III.

Körperinszenierungen/ Stages of Circus Bodies

From Individual Concentration to Publically Shared Attention On Experiences of Self, Subjectivity and Others in Contemporary Circus C AMILLA D AMKJAER

T RAINING ALONE – P ERFORMING

FOR

O THERS

As a circus practitioner, I have spent far more hours training alone than in front of an audience. Nevertheless, the work of a circus artist is often discussed and understood on the basis of the public situation of performance. However, these situations – training alone for hours and hours or being in front of an audience for seven minutes – are so different that one might even wonder: How come that this meditative concentrated training, where the internal sensations of the body are totally in focus, passes so well into the public situation of performance? How come that these, often solitary, practices can become so prone to spectacle? This is a paradox that I am struggling with in my personal practice, often wondering if it makes sense for a circus practitioner to have so much emphasis on meditative concentration as I have in my individual training. This paradox is also linked to various value systems, boiling down to questions such as: Do I really care about the audience, or do I prefer to perform for the invisible spirits of my own stream of consciousness? This paradox has become more pronounced for me as I have come to understand hand-balancing as what I call ›somatic circus‹. By that I mean an approach to circus that focuses on the capacity to attune one’s perception to the nuances of balancing that cross many different senses; that is: a practice of sensory awareness. And, yet, I do not think that this paradox is unique to my approach to hand-balancing and circus. In order to hopefully understand this paradox better, I would like to explore the following questions: What is meditation, and does it make sense to see the situation of training circus as meditative? What happens when that meditative concentration is transferred to the stage? Which experiences of self and subjectivity are involved, and how does the relation between self and other change in these different situations?

190 | C AMILLA D AMKJAER

M EDITATIVE P RACTICES First, I must acknowledge that I am using a metaphor when I speak of certain elements of circus training as ›meditative‹. There is a certain risk that we use the word meditative loosely, and that it may have nothing whatsoever to do with specific practices of meditation. So, what do we mean by meditation, and does circus training actually share any characteristics with practices of meditation to the extent that we might think of circus training as ›meditative‹? Meditation may be understood as a set of practices where the focus is to observe oneʼs own consciousness with the purpose of obtaining a certain state of mind. However, these practices differ widely. Meditative practices have existed in many different cultural contexts, often closely linked to specific religious or metaphysical ideas. When we refer to meditation today, we are often referring to certain practices that may have been linked to religious ideas but have been secularised and developed into specific techniques that can be practiced for the purpose of relaxing mind and body. This is the way meditation is used within what has come to be understood as ›mindfulness‹. Personally, I will be referring mostly to the meditative aspects of the different practices included in the yoga tradition. Within the yoga tradition, many different techniques are used with the purpose of stilling the mind or stopping the movements as consciousness – as it is often said with a reference to the Yoga Sutras of Patanjali.1 Within the yoga tradition, many different means are used towards this purpose: living according to certain ethical rules, practicing contemplative techniques and doing breathing exercises, to mention just some. Also, »asanas« – or specific bodily positions – are used as one of the first steps towards the goal of calming the mind. Some of these figures may even be extremely acrobatic – though there is evidence that this is a recent invention within the yoga tradition2 – and therefore the yoga tradition might be a reasonable point of comparison if we want to discuss the possible meditative characteristics of circus techniques.

M EDITATIVE C ONCENTRATION

IN

C IRCUS T RAINING

Circus techniques might not have the deliberate purpose of practicing specific states of consciousness, as we rather consider them a means of artistic expression to be shared in a performance situation. However, specific states of consciousness or modes of attention – resembling those obtained through meditation techniques – may be one of the ›bi-products‹ of circus training. So, the question is which elements of circus practice lead to these specific meditative bi-products? Simon Krohn, a yoga practitioner and writer, summarises two of the main techniques used within yoga and mindfulness as follows: On the one hand, there are techniques where one uses focused attention, focusing on a particular point, for in-

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Krohn, Simon: Nærmere noget – Filosofien bag yoga, Copenhagen 2013, p. 86. Alter, Joseph S.: Yoga in Modern India – The Body Between Science and Philosophy, Princeton 2004; Singleton, Mark: Yoga Body – The Origins of Modern Posture Practice, Oxford 2010.

F ROM I NDIVIDUAL C ONCENTRATION TO P UBLICALLY S HARED A TTENTION | 191

stance how the breath moves in the body. On the other hand, there are techniques where one uses open awareness, for instance paying attention to everything that comes to oneʼs sense of hearing.3 Though these are not necessarily described as such when yoga ›asanas‹ are taught, one can say that both of these are at stake when practicing yoga postures. Actually, the challenge is to practice both of them at once – both keeping focused attention on for instance breath and particular points of vision and staying aware of a multitude of different sensations created by the anatomically complex figures. This is similar to what happens when practicing circus techniques, for instance hand-balancing. Here each figure or movement often has a particular technical focus – whether it be the particular position of the shoulder, or where to hold the tension and where to release it – and at the same time one needs to be aware of signals from the whole body in order to constantly adjust to changes in the position. Not surprisingly, circus techniques contain a concentrated focus on particular technical details. But does it contain that other aspect that characterises many meditative practices, too, the fact that one is simultaneously observing oneʼs own consciousness? As Krohn points out, in order observe how and whether we keep the intended focus, we need to use another aspect of our consciousness: our capacity for meta-cognition.4 I would like to suggest that something similar happens in circus techniques – at least I am quite convinced that it happens in hand-balancing. While hand-balancing, the focus is constantly on different technical aspects and on different sources of perception – proprioceptive, tactile and visual. But at the same time, one is observing how that very attention is shifting from one aspect to another as the shifts in balance make it necessary to adjust the position. Thus, I would argue that circus training – at least hand-balancing training – contains meditative aspects – not only because it asks us to focus on particular bodily sensations or because it involves repetition and sometimes in solitary situations, but because it combines focused attention, open-awareness and the use of meta-cognition.

T RANSFERRING THAT C ONCENTRATION TO T HE S TAGE ? If the circus artist’s attention in a training situation is mostly directed towards internal sensations stemming from the immediate physical surroundings (whether it be the floor, the air, the apparatus or other elements), the performance situation includes additional elements of information that the circus artist needs to deal with. Not only has the circus technique become part of an artistic whole where the artist may need to focus also on other layers of the performance – such as specific choreographic or dramaturgical principles. Furthermore, other people are present, and some of these have that particular role of what we know as an audience. So, what happens to the modes of attention that the circus practitioner has developed within training when entering this situation?

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S. Krohn: Nærmere noget, pp. 65-68. Ibid., pp. 88-90.

192 | C AMILLA D AMKJAER

Recently, within the field of choreography at least, techniques of performing have come to be understood as techniques of attention. For instance, Chrysa Parkinson describes the dancerʼs work as »experiential authorship« in an ongoing research project with the title Documenting Experiential Authorship.5 What one does when performing is not only producing externally visible actions but focusing attention in particular ways, and these uses of attention create different phenomena that the audience can then observe. This shift in understanding of the performerʼs work and techniques is – I think – linked to various changes within the field of dance and performance, including the way the dancer is no longer understood as simply a producer of movement; the way choreography has been expanded to no longer simply be the composition of movement; and the introduction of somatic practices into dance training. I think this shift in emphasis can help us understand what is at stake in the performance situation also when the performer is working with circus techniques. One of the things that is often said about watching circus is that the audience is totally focused on the way the artist is trying to achieve the task. What the audience is watching is thus not only someone trying to do something, but someone absorbed in something, and someone paying attention to something in specific ways. What we are watching is this ›consciousness at work‹. However, in which way does this working consciousness relate to the audience, and in which ways does the circus artist actually perceive the audience? To focus on, or be absorbed in something, is one thing. To do so while being watched is slightly different. At least it adds yet another layer to the levels of attention already active, namely the awareness of being watched. This awareness is linked to certain perceptions of the audience, sometimes at the centre of and sometimes at the periphery of the performer’s attention. For instance, while balancing on oneʼs hands, one may see glimpses of the audience through peripheral vision, or hear the sounds that the audience is producing. But what does one do with this sensation of being watched – pretend that the audience is not there, or acknowledge these layers of sensation? No matter what choice one makes, this will be part of the ›consciousness at work‹ that the audience is observing. There are obviously as many ways of dealing with this as there are circus artists. But we could understand this, for instance, by focusing on the expansion of the circus artist’s open awareness, also used in training, to take in the audience and the additional information. Furthermore, the circus artist activates meta-cognitive layers of consciousness that survey how these different layers shift from moment to moment. For instance, when performing hand-balancing, it is not enough to be focused on one particular aspect, such as a technical priority within the discipline. One also needs to be prepared to do whatever is necessary to adjust to changes and fluctuations in perception. That is: a meta-cognitive awareness is necessary in order to notice and deal with changing elements that might otherwise disturb the process and eventually make you fall. The required concentration thus constantly demands that one works at several layers at once. If training hand-balancing is, in a certain way, training how to

5

Parkinson, Chrysa: Documenting Experiential Authorship, 2017, http://www.uniarts.se/ english/research-and-development-work/research-projects/documenting%20-experientialauthorship [25.06.2017].

F ROM I NDIVIDUAL C ONCENTRATION TO P UBLICALLY S HARED A TTENTION | 193

keep focused in a situation of multi-layered consciousness, then this capacity is put to a test when performing. But rather than demanding a totally different form of consciousness, the performance situation expands the layers of consciousness already active when training. This may not rime with all theories of how to deal with performing, but it is possible to find parallel descriptions for instance in relation to techniques of clowning. Though the clown is totally absorbed in the work, this does not mean that the metacognitive awareness is put on hold. On the contrary, while fulfilling other tasks (such as doing a specific routine), the clown constantly has to be aware of what is happening in the room and be ready to react to it. I believe that something similar is at stake in the circus performerʼs awareness – or at least, that this is one possible way to deal with the performance situation.

E XPERIENCES

OF

S ELF , S UBJECTIVITY

AND

O THERS

Another way to try to understand this relation between the meditative concentration when training and the kinds of awareness one is engaged in when performing, is to describe the experiences of self, subjectivity and others in these different situations. The concepts of ›self‹ and ›subjectivity‹ are used with different meanings, implications and values in different kinds of philosophy and different fields of study, starting from such questions as: What is a self or a subject? How is it created? And: Does it really exist? However, here I will limit myself to some aspects of recent discussions on subjectivity as they have been developed within phenomenology, and how they might be useful in order to understand what is stake in the transition from training to performing. At a first glance, it may seem as if circus practitioners are focused on themselves, when they are training on their own. However, if we look more closely at the experience of self and subjectivity in performance and training, maybe one is not necessarily more focused on oneself even in the absence of other. From a phenomenological perspective, we need to distinguish at least between experiential subjectivity, our sense of self and the social/psychological/narrative self. According to the phenomenological scholar Dan Zahavi, the most fundamental aspect of subjectivity is the fact that we experience the world from a subjective, firstpersonal perspective, in the sense that we are aware that our experience belongs to me, and not to someone else. It is »a question of the experienceʼs first-personal mode of givenness«.6 Generally, we also have some sense of something that we perceive of as a self that belongs to us and that has certain characteristics though they might evolve over time. This is what Albahari calls »sense of me-ness«.7 Furthermore, we can confirm this sense of self through the way we narrate ourselves and make sense of our experience to others, and this self would be the layers of self that are »empha-

6 7

Zahavi, Dan: Self & Other – Exploring Subjectivity, Empathy and Shame, Oxford 2014, p. 49. Albahari, Miri: »Nirvana and Ownerless Consciousness«, in: Siderits, Mark/Thompson, Evan/Zahavi Dan (Eds.), Self, No Self?: Perspectives from Analytical, Phenomenological, and Indian Traditions, Oxford 2011, p. 85.

194 | C AMILLA D AMKJAER

sizing both the temporal and the social dimension of selfhood« as Zahavi describes it.8 This ›self‹ may not exist as a given, static entity, but is a social and psychological layer of selfhood. In the training situation, I would argue, we are not more occupied with this social self, than when we are in the presence of others – though this may of course be very individual and might also shift depending on the situation. Instead, we are occupied with how to focus on specific perceptual and sensorial parameters through subjective consciousness. In order to do so, we might even have to let go of other layers of self or our sense of self, in order to be able to focus on particular kinds of sensation. Thus, training alone is not about cultivating oneʼs self as a social being or focusing oneʼs own psychological needs, but about setting up a situation where intra-bodily situations can be observed from a first-personal perspective. Training circus – we could say – is a situation where experiential subjectivity is practiced, and where we might even observe this first-personal perspective, that is: how sensation appears to my first-personal consciousness. Thus, there is not necessarily anything particularly ›self-focused‹ to practicing circus techniques, even if this moment is not shared with others. The next question is of course what happens to this focus on experiential subjectivity, when the circus technique is practiced in front of others. Does that shift the focus towards the more social levels of the self? Does the gaze of the others create a different kind of self-awareness? Of course, these are levels that can shift at any moment – especially if elements such as shame, fear of failure etc. enter the situation. But as a starting point, I would argue that the artist is primarily operating on the level of experiential subjectivity during the performance situation. The performer is focusing on inner sensations, external stimuli including the presence of the audience, as well as his/her own meta-cognitive observation of this situation from a first-personal perspective. However, this does still not answer the question of how the performer perceives the audience. But at this point, we may look to the phenomenological discussions of what constitutes situations where we experience other people as either ›you‹, ›they‹ or ›we‹. If we leave the ›you‹-situation aside here, what does it require for the performer and the audience to experience each other as a ›we‹, rather than from a third person perspective? According to Zahavi,9 experiencing something as a ›we‹, happens for instance in a situation where two or more people experience the same thing together, and where the fact of experiencing it together changes the quality of the situation. As the audience most often takes the performer as the object of observation (and thus focuses on the performer from a third-personal perspective), this might actually happen very rarely within performance. But maybe it could happen in a situation where both performers and audience members focus on the same sensations, from different perspectives, but with a sense of doing that together as a ›we‹. A starting point to make this situation possible – though it may be rare – might be to create a situation where the performer allows others to share the same object of attention, and the quality of attention with which it is addressed. This is what I would call ›pub-

8 9

D. Zahavi: Self and Other, p. 54. D. Zahavi: Self and Other, p. 214.

F ROM I NDIVIDUAL C ONCENTRATION TO P UBLICALLY S HARED A TTENTION | 195

lically shared attention‹. And my hypothesis is that this would require a kind of ›open awareness‹, where the awareness of the performer becomes transparent to the audience, so that the audience comes to see the conscious activity of the performer and what it is focused on. If this is so, then practicing open awareness while training alone might actually be a part of the preparation of how to possibly invite others into a situation of publically shared attention.

S HARING M ODES

OF

A TTENTION

Within the circus environment, performance is generally thought of as that which is shown to an audience, as actions that are made visible to the audience. However, circus performance also consists of layers that are ›invisible‹ to the immediate gaze and yet concretely palpable. The performerʼs mode of consciousness when performing is one of these layers. In this way, performing circus is not only about showing something, but about sharing a mode of attention, and letting the audience take part of a consciousness at work. This is not unique to circus as such, but the circus disciplines provide specific conditions in which this happens. If we want to develop circus performance, these layers also need to be understood in more detail and taken into account in the methods used when training and performing. Despite the differences, there seems to be certain similarities between the meditative training situation and the more spectacular performance situation. The training situation might actually be the key to understand the expanded situation of performance. In both cases the performerʼs consciousness is focused on intra-bodily perception, exterior information and using their metacognitive awareness to observe how these layers shift. The exterior perceptual stimuli that the performer needs to take into account are expanded in the performance situation, but the very mechanisms are maybe not radically changed. This might be one way of explaining why training on your own paradoxically might help prepare you for performing for others.

Learning by our Body Movements Emersive Health in the Centre National des Arts du Cirque (CNAC) B ERNARD A NDRIEU H ARUKA O KUY /C YRIL T HOMAS /R AOUL B ENDER / P ETRUCIA DA N OBREGA

WITH

Life shows us that our state, as it is perceived and lived, is but a moment within a more continual, animating dynamic. Learning from oneʼs body involves describing the living map of our relationship to the cosmos, to others, and to the elements as a means of understanding the activity, mutability and energy of our own bodies. The obstacle of experience, hypostatised by the solipsistic examination of self-awareness, is that it tends to prove the way in which life gives us knowledge of itself through emersions. Thus, lived experience limits life’s knowledge to what our accounts of feeling and consciousness tell us. This begs the question: Are our conscious narratives what live our lives, or are they only what consciousness understands of emersions? Bodily cues emerge in consciousness without our voluntary control. We interpret internal bodily sensations (pressure from the urethra, bowel aches, cardiac acceleration, reddening, cooling or heating, erection...) as indications given in the language of the living body.1 Assuming the internal teleology of Kant, we can argue that the living body sends signs up to our consciousness without our total ability to establish their lexicon. Emersiology comes from this ontological ›gap‹ between the living body and our perception of the lived body: • • •

1

Consciousness does not see the activity of the living body until it is aware of the activity’s emersion. The delay in the bodily perception of the living body’s activity defines a phenomenology of lived experience. The living body is active before we are aware of it (it hurts before we feel its pain).

Cf. Andrieu, Bernard/Parry, Jim/Porrovecchio, Alessandro, et al. (Eds.): Body ecology and Emersives Leisures, London 2018.

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Emersiology was developed as a new method for analysing the emergence of the invisible data of the living body in a person’s awareness. The implicit activities of the living body (cardiac frequency, involuntary gestures, stress, reflex, emotional regulation, interaction expression) emerge in the consciousness of the lived body without our voluntary control. It also prompts unconscious body language and is evidence of the body’s ecological activation and production of new living data.2 Despite this gap we can submit ourselves in a top-down manner to the commands of what would be the living language of our body through experiences such as trance, orgasm, bodily abandonment, vertigo or immersive art. Either we can pay attention to our inner emersive contents at the very moment they awaken but before our consciousness can represent them, or we can maintain the gap between what emerges from our consciousness in order to allow for the ›living‹ in our lived experiences such as in the creative spontaneity of Pollock’s gestures, in automatic writing, or in danced trances. The body attitude does not give us clues about the language of the living body. Instead of renouncing the phenomenological language that is able to describe the subtleties of our original experiences, we should admit that what becomes visible to our conscious minds is only a translation of the living body’s activity that began well before our awareness of it. While accepting lived phenomenon as living reality can be enough to fill knowledge with self-awareness, all of our attention seeks to identify and appropriate the totality of the signs that appear in our consciousness, even though they are indications of the living body’s activities that merely emerge within our consciousness. One objective of the National Center for Circus Arts (CNAC) research programme that started in 2013 was to produce a didactic film of this type of analysis that can be transferred to other disciplines. The work consists in a multi-level reading to achieve a dynamic and embodied understanding of conscious and unconscious situations of motor skills. Seeing what our living bodies can do without, and before, us reveals less about parasitic gestures that need to be eliminated and far more about a premotor ecology of the living body that precedes consciousness of our lived body by about 450 milliseconds. Without this spontaneous ecologisation, both reflexive and embodying the techniques of gesture, a circus artist would not trust his body sufficiently to act.

AN ANALYSIS

OF

E MERSIVE G ESTURES

IN

C IRCUS T RAINING

The research we have conducted at CNAC since 2012 focuses on the learning of gestures in circus training. As in the case of Honorata Jakubowska’s research3 about the learning by incorporation of body technics, the reference is on the transmission of

2

3

Meyer, Christian/Wedelstaedt, Ulrich von: Moving Bodies in Interaction – Interacting Bodies in Motion: Intercorporeality, interkinesthesia, and enaction in sports, Amsterdam 2017. Jakubowska, Honorata: Skill Transmission, Sport and Tacit Knowledge: A Sociological Perspective, London/New York 2017.

L EARNING

BY OUR

B ODY M OVEMENTS

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tacit knowledge,4 so we hypothesised that when a subject is filmed and then watches those films in the third-person he will be confronted by himself.5 Body techniques are the result of interactive mechanisms between the body and the world. Our motor selection programme collects environmental information, adjusts our response and then launches motor execution.6 According to the emersiologic model7 we put forward the following proposition: emersive gestures should be seen as embodied manifestations of a subjective emotional state. From a top-down perspective, gestures result from the subject’s intentionality within a conscious cognitive drive; for example, a teacher’s use of a voluntary gesture to actualise a pedagogical intention or goal. Conversely, from a bottom-up and ecologically-grounded perspective, gestures both emerge directly from the individual-situation coupling and induce an awareness of that coupling. In the case of our research at CNAC, an increase in emersive gestures represented the physical manifestation of the circus performer’s experience of emotional discomfort before they were even fully aware of it. As such, this study provides evidence furthering the complementarity of these two perspectives: instead of attempting to discover whether the cognitive or the emersive impulse occurs first, the results of this study imply that the two signals are crossed in the activation of an emotional episode. The techniques used in this study raised questions about how learning gestures for circus acts involves conditions in the living body and in the lived body. While recording with a GoPro camera on the body itself did not make the artist feel as if they were living the subject’s perception, it did give them a first-person view of the subject’s position, showing them the action as the subject’s body attempted to accomplish it. Thus, it sustained that bodily action through our empathy, which increased reflexivity.

O BSERVATIONS

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The distinction between voluntary, conscious acts and unintentional, unconscious acts was immediately visible in observations of the body’s reaction time. An example is the description, followed by a drawing, of Vassiliki R. (Fall Jarret, 32eme Class): »There is no moment for me that I could define as unconscious.« Why? »The area that I called transition between the ›head‹, the cerebral and the body has nothing to do with me being. There is, in my opinion, only a relay between the head and what I could call the brain-body. Even if my head loses its reflexive grip the body that takes the information al-

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Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, Chicago/London 1966. For details about methods, cf. Andrieu, Bernard: Apprendre de son corps. Une methode émersive au CNAC, Rouen 2017. (Engl.: Learning from my body. Emersive Method in CNAC, Rouen 2018). Durand, Marc/Hauw, Denis/Poizat, Germain (Eds.): L’apprentissage des techniques corporelles, Paris 2015. Andrieu, Bernard/Burel, Nicolas: »La communication directe du corps vivant. Une émersiologie en première personne«, in: Hermès 68 (2014), pp. 46-52.

200 | BERNARD A NDRIEU lows me to carry my body. I have a form of cohabitation with him that allows me to let him take action in hand.« (04.04.2019) »At this moment another relay appears: that between the time of the rigging and the time of the body. I would designate the one as unconscious. Indeed, my body was aware of the time and the blow of the apparatus only in the zone of brain consciousness and transition. After that, my body lets itself be carried by information previously given by the zone of brain consciousness. I would not regain consciousness of consciousness of time that when I would not regain consciousness of time until I again made contact with the rope.« (Ibid.)

Fig. 1: Brain Consciousness in the Body Movement. Drawing by Vassiliki R. (Fall Jarret, 32th Class)

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Movements become automatic through the many repetitions in training sessions. Through the progressive incorporation of body techniques, the threshold of attention and vigilance in the course of action can be lowered to unconsciousness as trust in the body grows. Attention can then be focused on just one part of the body because the rest of it carries out the necessary movements in the course of action. Everincreasing skill is the objective of repetitive training by placing »the foot on the top of the ball so that you can hold the figure for a longer time« (Lucas Struna, Indian pole): the bent knee favours »the search for balance in the ankle and a catch with the right leg and shoulders.« Lucas Struna, a student in CNAC, details this focus: »When I climb with my feet, I stare (it depends on how confident I feel) at both hands on the ball or on the placement of the dominant foot on the ball.« Recognition is tactile »between the metatarsals and the top of the movement« (personal notes). We are able to use a subjective perspective to direct cognitive attention to the signs of bodily activity; watching ourselves in a video image gives us a subjective perception that puts us in a state of cognitive re-situ as we verbalise what we have achieved by describing and commenting on the recorded action. The GoPro camera’s first-person point-of-view provides additional information about the body through its production of non-intentionally filmed images. Wearing a camera directly on the body can show new images, unexplored environments, and postures that are in the heart of the action, such as: •





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The unconscious movements in the body pattern that are activated to restore balance, react to a change, catch one’s breath, and avoid an obstacle. Joseph Ledoux8 was able to show how the primary emotions produce a motor response that was between 80 milliseconds and 180 milliseconds faster than those that are corticalised. Uncontrolled movements, reflexes, gestures of urgency and emotional expressions of things like fear are visible in the video images. The automatic but habitual gestures that are incorporated through the body techniques and repeated exercises used in training. These automatisms seem to be subject to a bodily intentionality; the body seems to perform them without realising it. For example, Juan confirms that he has automated the impulses needed to make a cartwheel to the point where he only pays attention to placing his hands on the ground.9 The voluntary and conscious gestures that are based on the mental preparation and cognitive representation that occur before an action. These conscious gestures are the result of focusing attention for a short moment during the action.10

Ledoux, Joseph: The emotional brain. The mysterious underpinnings of emotional life, London 2003. 9 Colombetti, Giovanna: The Feeling Body: Affective Science Meets the Enactive Mind, Cambridge 2014. 10 Vanderhaeghen, Claude: »Psychobiologie de lʼattention, temps de réaction et potentiels évoqués«, in: Lʼannée psychologique 82.2 (1982), pp. 473-495.

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T HE S ENSATION

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Thus, the images produced by the cameras on circus performers’ bodies show us micro-gestures, hesitations, changes of direction, motor adjustments and adaptations to novelties that occur before the lived body’s perception realises them within its cognitive experience. The living body’s premotor ecology, to which our consciousness no longer pays attention, is rendered visible by instruments of measurement and reflexive visualisation. The sensation of the living body’s vitality emerges without the artists being able to make an exact representation of it: Nora Bouhlala Chacón, on the rope, tells us »I have the sensation of a potential energy that’s not available, I’m capable of doing it but I can’t put enough force into it. For the figures, strength and slowness can be modified because if it’s slow it’s easier to make it conscious, it gives me a good understanding of the path.« She describes the link between the reflex activity and the feeling of sensation: »I realised there’s a reflex to grab the rope even though I know I’m falling into the mattress and won’t get hurt. I think it’s a way of saying: OK, I didn’t fail 100% here.« Fear is more an emotional movement than a reflex, and it contributes to getting into action. Nora Bouhlala Chacón clarifies: »The fear of heights is paralysing. My body doesn’t react, no reflex, no unconscious movement. I don’t let go without thinking about it beforehand and thinking about what I feel and what I’ll do. So much so that I feel like I have no more strength, even if I can feel that my arms and hands are getting tired of holding the rope.« (Interview Nora Bouhlala Chacón by Bernard Andrieu © CNAC)

Fear should be both an indicator of the living body’s activity and the means to measure the commitment to bodily action. In an interview on 2 September 2012, trapeze artist Elise Bjerkelund Reine told us that the feeling of fear does not stop her from complete body commitment: »You can’t be too afraid on the trapeze. If you start to have doubts, you fall. You have to build confidence through understanding the movements and the importance of the gaze. And always believe 100% in the person who’s got the safety lanyard.« Jonas Leclere has been working on the straps by letting himself fall after a series of windings requiring all his strength and then suddenly unwinding as the drop unfolds. The interviewer asks him: »The moment of falling by unwinding the strap, what happens inside you? Are you aware that it’s starting, concentration, letting go, losing consciousness, measures of time, precise attention to the stopping point?« It seems that blind confidence in sensations does not abolish consciousness during the fall, but directs it to the important times and places to take charge of oneself: »For the falls and the unfolding, these are moments of pleasure. So that I can have this pleasure, I have to be well-prepared beforehand, I have to prepare the movement, have confidence in my catch and be sure that everything will hold and will go as planned. Then I can really let go while still staying alert. If I relax during these falls, it’s the shoulders that take it first and that can be radical sometimes, especially when you’re just on one arm, then vigilance is even more important. In my discipline, I get my bearings from myself and the straps and have an almost blind trust in my sensations, so I’m not disturbed by the spotlights on stage and, when I change locations, my time of adaptation is very fast. I stay conscious all along the drop, I think it’s too

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short to have time to get out of myself and as I’ve just said, I have to be very vigilant for reception and stopping points.« (Interview Jonas Leclere by Bernard Andrieu © CNAC)

The living body draws unconscious maps for the subject, like body memory of transitions and paths to complete a figure. Chloé Mazet (rope): »Body memory is very important, to remember the path I need to take on the manipulations on the rope.« A balance is built between confidence in the equipment and confidence in the living body, as Nora Bouhlala Chacón (rope) tells us: »At first I thought I wasn’t thinking about what I was doing. I even thought that in the dynamic figures, where I had to leave the rope for brief moments, I couldn’t see the rope. And in fact in the past few months I’ve realised that I know where the rope is at all times but I also see it in my head and after I have it, I have it in my hands.« (Interview Nora Bouhlala Chacón by Bernard Andrieu © CNAC)

I NFRACORPORALITY

AND

AWARENESS

Between bodies, communication does not imply simultaneity and transparency for consciousness. The information produced by the living body during its greening in the world is not fully available in the consciousness of the experienced body. There is a delayed consciousness of the lived body on the activity of the living body. As part of our body course, circus scientists from the 29th Class were asked to analyse the three-bodyʼs perceived infracorporality by writing and sketching a specific sequence of their learning in a narrative in three layers: the unconscious level of activity of the living body, the techniques of the body that produce habitus in the sense of Marcel Mauss, and finally an activity of consciousness. a) Memory of Injury Ramos Hernandez Angel Paul (29th Class) recounts his wound and the role of his memory in changing his state of consciousness at the time of resuming his art: »Our bodies do not lie. They record our troubles, our conflicts, our sufferings. When we live an emotion in the present, there is always a resonance with a past emotion. The experience can be totally different but the emotion felt will be the same. There is always a trace, a memory that allows the recognition of the quality of emotion. The mind always acts in this way, it will initiate a process of recognition through memory and comparison. Our body technics will find in its base to give the similar experience (or not) and the emotion being linked to it to reactivate it.« (Interview Ramos Hernandez Angel Paul by Bernard Andrieu © CNAC)

Thus the injury is an interruption in the process of incorporating techniques by breaking the course of learning. Added to the physical wound is the moral suffering by the feeling of failure which seems to remain permanent in the body memory: this remanence of the wound beyond a physical healing explains the psychological difficulties in repeating the same paths that led to the injury. Ramos Hernandez Angel Paul established a logical sequence that could lead to the accident: Habits + Acquired = Au-

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tomatism = Accident = Injury. The exercise overload of the living body involves both physical and psychological trauma. But the psychological part takes precedence (with fear, blockage and loss of self-confidence) until the body is inhibited. The psychic dimension is also noted in the modeling below with strong words like obsession, frustration and exhaustion. b) The Incorporation Inbal Ben Haim, in a text entitled »Whole body, broken body. Analysis of a process of injury and healing in a circus artist« describes the three levels of bodily experience – which she calls »incorporality« – and the relation between these three levels: 1. »Physical and mental overload is the first identified cause in a psycho-somatic

reading of a living body, which is a result of a sum of three factors: physical fatigue during the Creation without sufficient physical preparation, sickness during the week of aesthetic creation, and work on the rope without sufficient warm-up. Despite the information from their living body that made them foresee that they would not succeed, they have a mental overload, physical instability in the absence of housing and personal stress in the face of creation, which complete the production conditions of the injury. Strange noises and feeling of tearing in the shoulder, »does not allow [them] to immediately understand that I hurt myself.« 2. Adaptation and »Surgical intervention in my body«: before giving birth nine months after the injury, the injury prevents her from practicing on the rope but promotes a new consciousness in the use of the body. The technique of the body must therefore be adapted by a »reflexive learning of another way of working with my body« using the legs, the hocks, the toes, the pelvis or the left shoulder differently. The use of somatic practice, sophrology and Body-Mind Centering® in dance, »allowed me an immersion in sensations and awareness of my physical and mental state«. Recovering the fun will have been essential in this moment. After the operation, despite the confrontation with a »total weakness«, there is an increase in the degree of consciousness through »a great attention paid to the body – nutrition, physical exercises, sleep«. A recomposition of the internal body pattern is achieved by new »habits and reflexes to protect the area of trauma« accentuating the body-mind dissociation by the experience of great pain. 3. After seven months of rehabilitation, consciousness becomes necessary for the »decisions of voluntary actions that are strange to my body after such a long pause«, hence progressive physical tests. The mental preparation is increased but the internal representation is »distorted from the body, I feel that my shoulder is not connected to the body, I have a representation of the weak and incapable body«. There is a discontinuity between the living of the body and the awareness of the body: »There is a gap between the representation of the body« before the wound »and the memory of the exercises I could make and of the body« after the injury. Work continues today to recreate a link between the body, the mental image of the body and the internal sensations. Thus incorporality – which makes the link between the three levels of the body without reducing them – produces a reorganisation of the body consciousness.« (Text of Inbal Ben Haim © CNAC)

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c) Minimise the Effect of Reflexes If the living body acts in us in spite of ourselves, how can we then reduce the reflexive activity to reacquire our usual patterns of gestures and techniques? The difficulty for Seve Bernard in the backstretch to the trampoline is the trigger of the reflex, especially the first time: »The first time, there is the uneasiness of the unknown, deeply anchored, that I must overcome and therefore first listen to my living body. I know that it can manifest itself in an innate reflex that could be dangerous to me, for example ›refusal‹ in the middle of execution, that famous ›no‹ that is so frequent the first times, where the body, impressed, stops, to give the indication that it should produce, and gives the sensation of a cut, of a global black in which one loses oneself.« (Interview Seve Bernard © CNAC)

Here the description relates to the movement of protection of the body determined by its brain to trigger a response, a level of activation that must be distinguished from concentration. Seve distinguishes here the attention of concentration because it is exercised in a »more specific and precise space«. This attention can create »new forms of apprehension« especially when failures have been both positive and negative. Antonin Bailles, 29th Class, analyses the role of the unconscious – which can be both positive and negative – by forbidding change: »The unconscious is predominant in this phase, combined with the technique of the body (often unconscious itself, also). If consciousness was too present, fear would change the rotation in a harmful way. The loss of visual cues often leads to non-circassian, innate protective reflexes that cut off the desired movement. From there, a regular practice of acrobatics on the ground or on the trampoline is necessary to keep the inner ear primed and to minimise the effect of unconscious reflexes of protection.« (Interview Antonin Bailles © CNAC)

Thus minimising reflexes is also based on the acceptance and understanding of the logic of the living body beyond the representations: »we must then find the ways to unlock the innate protective reflexes, psychology, fear and relearn the right technique that will fit into our habitus durably, thanks to a (conscious) concentration on precise, controllable elements.«

C ONCLUSION The methodology from enaction to emersion that is developed here can be used to compare our past activity and feelings with those of our present. As a health benchmark, this awareness can be used to adapt our work rhythms and to understand the difficulties of learning. In other words, in analysing how enaction leads to emersive gestures, we can produce a personal self-health programme that allows us to use activities to anticipate and manage stress, and to better know ourselves and our bodies through a focus on the internal activity of the living body rather than the perception of the lived body. In this way, our perception of self-health would be represented by a personal scale of indicators produced by collecting the living body’s data. The

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deepening opens the consciousness of the body to dimensions hitherto hidden from the living. Without attention, the living is known to us only through lived perception. What emerges from the living into the lived experience manifests the depth of the living. This one is intense. The flow is for Heraclitus according to a universal mobilism: »We descend and we do not descend in the same river« (Fragment 49). Perhaps the body lived by the consciousness is only an extract of the living body which includes and contains it. An emersion becomes conscious by the awakening of the living body activated by its greening in the middle that it crosses and penetrates it. This extraction is the result of the emergence. What is alive from the inside crosses the threshold of consciousness to make itself conscious of us, that is, of the subject. Not only is the consciousness behind what is activated by the living body, but the contact of the living is transformed by the crossing of the threshold of vitality lived, a form of past participle while the living participates in the present of the ecological activity of the body. When I feel pain, I feel the pain but my life is already suffering for a long time producing an activity to adapt to the new conditions of homeostatic imbalance. Or, rather, the consciousness of pain is slower because it is only a visible emersion and experienced a rapid reconfiguration of the living to its new conditions of existence. This vivacity of the living finds its vitality in what Bergson calls the vital impetus that it gives to his body to make new information emerge to the consciousness of information. Deepening promotes this contact with the vivacity of our living through breathing, the examination of body parts, the appreciation of vitality and mood variations. By allowing the living to come into contact with the experience, even the slow one, must the consciousness be only awake and not possessive in wanting to retain or contain? To accept what is coming, sometimes in a sudden, lively and unprecedented way, as a sign of vitality and not of passivity, as the result of the activity of the living in us, as an indicator of life.

F IGURE Fig. 1: Brain Consciousness in the Body Movement. Drawing by Vassiliki R. © CNAC).

Schaulust und deformierte Körper Dunkelzonen des Circensischen H ANS R ICHARD B RITTNACHER

I. B IBLIOTHEK ODER Z IRKUS : 1796-1932 Menschen mit physischen Anomalien, Riesen- oder Kleinwüchsige, Hermaphroditen und siamesische Zwillinge, an Hypertrichosis oder an Elephantiasis Leidende, Gehandicapte, Stigmatisierte oder Marginalisierte, Menschen, die Kapriolen in der Manege vollführen oder sich abseits der Manege in Schaukäfigen bestaunen lassen, galten in Zeiten vor der Einführung minimaler Standards sprachlicher political correctness als Freaks oder Monster – womit ihnen über ihre äußerliche Auffälligkeit hinaus eine grundlegende Andersartigkeit zugesprochen wurde: Denn Monster sind die Ausnahme von allem, was der Fall ist.1 Thomas Macho hat in seinen Studien zur Genealogie des Monströsen auf zwei Paradigmen hingewiesen, denen Wahrnehmung und Darstellung deformierter Körper

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Nachdem das Monstrum als sujet der Kulturwissenschaft lange ein randständiges Dasein geführt hat, ist mittlerweile, angeregt vor allem wohl durch Foucaults Vorlesungen zu den »Anormalen« eine ganze Reihe von Ansätzen entstanden, die sich in zahlreichen Monographien und Sammelbänden niedergeschlagen hat. Vgl. Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankfurt a.M. 2003; vgl. auch Fiedler, Leslie A.: Freaks. Myths and Images of the Secret Self, Harmondsworth 1981; vgl. weiter Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt a.M. 1994, S. 181-222; Hagner, Michael: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995; Geisenhanslüke, Achim/Mein, Georg: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009; Borgards, Roland/Holm, Christiane/Oesterle, Günter: Monster. Zur ästhetischen Verfassung eines Grenzbewohners, Würzburg 2010; Ochsner, Beate: DeMONSTRAtion: Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, Heidelberg 2010; Stammberger, Birgit: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011; Kyora, Sabine/Schwagmeier, Uwe: How to make a Monster. Konstruktionen des Monströsen, Würzburg 2011; Helduser, Urte: Imaginationen des Monströsen: Wissen, Literatur und Poetik der »Missgeburt« 1600-1835, Göttingen 2016.

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ihre besonderen Perspektiven verdanken: Bibliothek oder Zirkus, Wissenschaft oder Schaulust.2 Die Monster, denen der Betrachter im Zirkus, auf dem Jahrmarkt oder in sog. Side- bzw. Freakshows begegnen konnte, die Frauen mit Bart, die Zwerge und Kolosse, hat Monestier »oubliés de Dieu« genannt.3 Zwar leben sie unter uns, aber nur um den Preis ihrer Unsichtbarkeit. Nur an den Rändern der Gesellschaft ließen sie sich – und ihre spektakulären Begabungen – kurz und gegen Entgelt sehen, um dann wieder als schwarzer Fleck in der bunten Welt der Fahrenden aus dem Blick zu geraten. In Laboren, Krankensälen, in Asylen und Hospizen, in den Sammlungen anatomischer Präparate in Krankenhäusern und naturkundlichen Museen begegnen wir ganz anderen monströsen Gestalten, auf die das grelle Licht der Schaukästen fällt. Präpariert und musealisiert gewähren sie an exklusiven Orten exklusiven Betrachtern, dem an Anomalien interessierten Gelehrten und Mediziner, Einblick in die Brisanz der Natur und in die Störanfälligkeit integrativer Konzepte. Beiden Perspektiven entsprechen spezifische Narrationen: eine eher aufgeklärte und eine eher romantische. Die Narration im Geiste der Aufklärung stimmt das Lob der Wissenschaft an, beschreibt, vermisst und klassifiziert den Grad der Abweichung und fragt mit prognostischen, philanthropischen oder pragmatischen Interessen nach seinem Grund. Optimistisch kann diese Narration genannt werden, weil die Parameter ihrer Fragen eine zeitliche und kausale Ordnung statuieren, innerhalb derer auch das Monstrum nicht länger die große Ausnahme ist, sondern ein exemplarischer Fall – und sei es für die Störung der Ordnung. Während das aufgeklärte, wissenschaftliche Dispositiv dem Grund der Störung auf die Spur zu kommen sucht und damit tendenziell an der Beseitigung des Monsters arbeitet, hält das romantische Dispositiv ihm die Treue. Romantische Erzählungen zeigen sich fasziniert von der Extravaganz des Monströsen, beklagen elegisch das Schicksal des Besonderen in einer mediokren Welt, der sie wegen ihres ostentativen Desinteresses an spektakulären Abweichungen von der Norm eine trostlose Zukunft prophezeien. Während die wissenschaftliche Anschauung mit ›klinischem Blick‹ das Monströse in den Fächern und Regalen der naturwissenschaftlichen Asservatenkammern verstaut, archiviert die romantische Phantasie sie im Thesaurus ihrer Imagination. Das im Labor oder Sektionssaal vermessene und abgelegte Monster gewinnt in der romantischen Erzählung sein Leben zurück. Statt nur ein Fall im wissenschaftlichen Masternarrativ von der rätselhaften Anomalie zu sein, darf es im romantischen Dispositiv selbst seine Geschichte erzählen. Ein Beispiel für die produktive literarische Verschränkung der beiden Perspektiven liefert Mary Shelleys Frankenstein or the Modern Prometheus (1818). In diesem Roman erzählt der Schweizer Forscher Frankenstein von seiner Arbeit in den Beinkammern des Friedhofs und im Labor, um dem Geheimnis des Lebens und der Willkürherrschaft des Todes auf die Spur zu kommen und beiden ins Handwerk zu pfuschen. Sein Produkt, der robuste, aus Leichenteilen zusammengenähte, überlegene Mensch, der doch als Segen für die Menschheit gedacht war, aber alle, sogar seinen Schöpfer, in Angst und Schrecken versetzt, erhält im Mittelteil des Romans das

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Macho, Thomas: »Ursprünge des Monströsen«, in: Kirstin Breitenfellner/Charlotte KohnLey (Hg.), Wie ein Monster entsteht. Zur Konstruktion des anderen in Rassismus und Antisemitismus, Bodenheim 1998, S. 11-42. Monestier, Martin: Les Monstres. Le Fabuleux univers des »oubliés de Dieu«, Paris 1981.

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Wort, um selbst die bewegende education sentimentale eines unsterblichen Monsters unter sterblichen Menschen zu erzählen.4 Beide Praktiken, die wissenschaftliche wie die romantische, reagieren auf die Unerträglichkeit des Monströsen, seine skandalöse Fremdheit. Die Erfahrung des schockierenden Andersseins fördert eine apotropäische Praxis, die sich das Fremde vom Leibe zu halten sucht, indem sie es (wissenschaftlich) zähmt oder (literarisch) in Zucht nimmt. Nur selten lassen sich der wissenschaftliche und der emphatische Blick, die aufgeklärte und die romantische Disposition klar voneinander trennen – in der Regel treten sie gemeinsam auf, etwa als sich der amerikanische Zirkusimpresario Phineas Taylor Barnum rühmte, dass man in seinem American Museum, im Zirkus, in Tiergehege, Freakshow und Manege, »die lückenlose Kette des Seins, von den niederen Tierarten, über alle missing links bis hin zum Artisten mit außerordentlichen Fähigkeiten betrachten könne.«5 Unstrittig dürfte nach den anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte der Befund sein, dass der Begriff des Monsters oder Freaks vor allem dazu dient, den Begriff der Normativität qua negationem zu befestigen. Freilich ist auch diese Erkenntnis nicht geschützt gegen die plötzliche und unheimliche Einsicht einer riskanten Ähnlichkeit. Daher können die Blicke, die aus dem Zuschauerraum auf die Geschöpfe im Gehege oder in der Manege geworfen werden, auch töten. Im Folgenden wird an drei Beispielen aus Literatur und Film ein Blick auf die eliminatorische Energie der Schaulust geworfen.

II. 1796: M IGNON (J OHANN W OLFGANG W ILHELM M EISTERS L EHRJAHRE )

VON

G OETHE :

Ein – von seinem Autor wohl kaum intendiertes – Beispiel für die Erfahrung und Zähmung des Monströsen hat Johann Wolfgang von Goethe mit der Gestalt Mignon in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796) geliefert. In seinen Notizheften hatte Goethe zu der kleinen, knabenhaften Mignon, einer der farbigsten Figuren in seinem Erzählwerk, eine die Irritation dieser Figur charakterisierende Bestimmung festgehalten: »Wahnsinn des Missverhältnisses.«6 Dem Autor war, wie er verärgert über eine Äußerung der Mme de Staël dem Kanzler von Müller bekannte, Mignon so wichtig, dass er ihretwegen einen ganzen Roman geschrieben hat. 7 Zwar gilt dieser Roman als Prototyp des Bildungsromans, aber an Mignon ist alles so dissonant und diskrepant, dass sie in der Sozietät vom Turm, die für eine zwar geistvolle, aber zu-

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Vgl. dazu H.R. Brittnacher: Ästhetik des Horrors, v.a. S. 267-325. Bischoff, Ulrich: »Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei«, in: Jörn Merkert (Hg.), Zirkus. Circus. Cirque, Ausstellungskatalog, Berlin 1978, S. 178-193, hier S. 192. Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. 21: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Lesarten, Weimar 1898, S. 332 »Goethe im Gespräch mit Kanzler von Müller, 29. Mai 1814«, in: Ernst Beutler (Hg.), Goethe-Werke. Gedenkausgabe, Bd. 22, Zürich 1949, S. 723.

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letzt blutleere Welt der Moderne einsteht, keinen dauerhaften Platz finden kann: 8 Das »Rätsel« (WML 98),9 wie Mignon von anderen genannt wird, sogar von denen, die selbst einen so unkonventionellen Lebensstil pflegen wie die leichtsinnige Philine, hat nicht einmal einen richtigen Namen – sie ist, was sie genannt wird: »Mignon«, d.h. klein, eine Liebhaberei, die Zuneigung mit Gefälligkeiten entgilt.10 Mignon steht zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen, eine »junge, schwarzköpfige, düstere Gestalt« (WML 92). Inmitten der entzauberten Welt der Moderne, deren Überlegenheit für den Roman außer Zweifel steht, erhält mit Mignon noch einmal das Geheimnis einen letzten Auftritt. Wilhelms »Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustand dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie auf zwölf oder dreizehn Jahre; ihr Körper war gut gebaut, nur dass ihre Glieder einen stärkeren Wuchs versprachen oder einen zurückgehaltenen ankündigten« (WML 98). Verwirrender noch als die Mischung aus Liebreiz und dunklem Zauber ist die sexuelle Uneindeutigkeit Mignons: Wilhelm »sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder ein Mädchen erklären sollte« (WML 91). Die irritierende geschlechtliche Neutralität Mignons wird noch verstärkt durch die Neigung, nur Knabenkleidung zu tragen und wie Jungen zu springen und zu klettern. Den Theaterschauspielern um Melina, die sich für etwas Besseres als die Gaukler halten, und erst recht dem kaltherzigen Spötter Jarno erscheint Mignon als Zigeunerin und als »albernes, zwitterhaftes Geschöpf« (WML 193). Mignon ist nicht nur geschlechtlich unentschieden, sie steht auch zwischen einer südlichen Kunstwelt und einer nördlichen Mythologie, ein Wesen von rastloser Beweglichkeit, zuweilen rasend-tänzerisch wie eine Mänade und dann doch wieder von einer so zerbrechlichen Physis, dass sie, kaum bekannt geworden mit dem Aufkeimen der Liebe, jung stirbt. Lange Jahre hat sie, das Produkt eines Geschwisterinzests und von Fahrenden entführtes Kind, als Artistin in einer Seiltänzergruppe gelebt. Als die Truppe in der Stadt gastiert, in der Wilhelm sich mit seinen Schauspielern aufhält, wird er Zeuge der brutalen Dressur des Artistenkindes: »Mit Entsetzen erblickte er, als er sich durchs Volk drängte, den Herrn der Seiltänzergesellschaft, der das interessante Kind bei den Haaren aus dem Haus zu schleppen bemüht war und mit seinem Peitschenstiel unbarmherzig auf den kleinen Körper losschlug.« (WML 103)

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Zu dieser kritischen Lektüre von Goethes sogenanntem Bildungsroman vgl. u. a. Schlaffer, Heinz: »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen«, in: Jahrbuch der Goethe Gesellschaft 95 (1978), S. 212-226; Schlechta, Karl: Goethes Wilhelm Meister, Frankfurt a.M. 1953; Brittnacher, Hans Richard: »Mythos und Devianz in Wilhelm Meisters Lehrjahren«, in: Leviathan 14 (1986), S. 96-109. 9 Ich zitiere Goethes Roman mit der vorangestellten Sigle WML nach der Ausgabe: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hg. ErichTrunz, Bd. 7, München 1973. 10 Als Mignons wurden die Liebhaber der französischen Könige bezeichnet – im Gegensatz zum protegé ist beim mignon auch die Idee sexueller Dienstleistungen präsent. Vgl. Le Roux, Nicolas: La faveur du roi. Mignons et courtisans au temps des derniers Valois (vers 1547-vers 1589). Champ Vallon/Seysse 2001. Im Weimarer Gossip wurde auch der von vielen beneidete und beargwöhnte Goethe gelegentlich als Mignon des Herzogs von Weimar bezeichnet.

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Durch sein beherztes Dazwischentreten kann Wilhelm die brutale Züchtigung unterbinden und kauft dem fahrenden Mann kurzerhand das sonderbare, orientalisch kostümierte Kind ab. Zu ihrem neuen Herrn fasst die wie eine Sklavin freigekaufte Mignon ein inniges Verhältnis, sie trägt von nun an ihre Kleidung – vorzugsweise Knabenkleidung – nur noch in seinen Farben, sie schläft an der Schwelle zu seiner Kammer und bittet ihn inständig, sie nie zu verlassen. Ihr sonst so gehemmtes, verschlossenes Wesen entlädt sich mitunter in fast ekstatischen Gefühlsausbrüchen und einem Strom von Tränen. Als eine besondere Ehre darf Wilhelm es empfinden, dass sie ihm den Eiertanz vorführt, dessen Aufführung sie ihrem Patron verweigert hat. Es ist eine seltsame Darbietung, die wenig tänzerische Anmut, aber viel befremdliche Archaik zeigt: Zu den Klängen eines Fandango und zum Schlagen der Kastagnetten tanzt sie mit verbundenen Augen zwischen den auf dem Boden ausgelegten Eiern: »Behende, leicht, rasch, genau führte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daß man jeden Augenblick dachte, sie müsse eins zertreten. […] Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm zeigte sie sich.« (WML 115f.) Obwohl es Wilhelm schwerfällt, sich von dem anhänglichen Wesen zu trennen, gibt er das herzkranke Mädchen in bester erzieherischer Absicht an die Mitglieder der Sozietät von Turm, die sich mit großem Eifer, aber wenig Erfolg des widerspenstigen Kindes annehmen. Als großer therapeutischer Fortschritt erscheint ihnen, dass Mignon die Kleidung gewechselt hat: »Sie geht nunmehr in Frauenkleidern, vor denen sie sonst einen so großen Abscheu zu haben schien.« (WML 514) Was der Erfolg einer Erziehung in heteronormativer Absicht zu bestätigen scheint, zeigt freilich einen ironischen Gegensinn: Mignon, das Zwitterwesen, das weder Junge noch Mädchen ist, scheidet schließlich in einer Gestalt aus dem Leben, die als einzige zu Goethes Zeit eine wohl akzeptable Form des Zwittertums verkörpert, als Engel. Ihr berühmtes Lied »So laßt mich scheinen, bis ich werde« (WML 515f.), das sie in einer Art Sonntagsschule, die Natalie mit den Bauernkindern der Umgebung abhält, im Engelskostüm mit Flügeln an den Schultern, singt, hat für die befremdliche Andersheit dieser Figur zu guter Letzt ein versöhnliches Bild gefunden: Friedrich Wilhelm von Schadow hat es gemalt – an die Stelle des Hermaphroditismus eines Zirkuskindes in seidenem Westchen und buntem Flitter ist zuletzt die ätherische Erscheinung eines Engels getreten, der schon nicht mehr von dieser Welt ist. 11 Damit ist die Prozedur der Normalisierung eines ›zwitterhaften Geschöpfes‹ noch nicht abgeschlossen. Nachdem sie gestorben ist, wird sie, deren charakteristisches Merkmal doch die Unverfügbarkeit war – verfügbar wollte sie nur dem einen sein, der sie nicht wollte – schließlich allen dauerhaft verfügbar. In einem Kunstgriff von grotesker Befremdlichkeit entschließt sich der Erzähler, ihre sterbliche Hülle mumifizieren zu lassen: »Eine balsamische Masse ist durch alle Adern gedrungen und färbt nun an Stelle des Blutes die so früh verblichenen Wangen.« (WML 577) Durchgeführt wird die Prozedur vom Abbé, einem geschwätzigen Räsoneur, dem die zu Tode therapierte Mignon gerade gelegen kommt, dem Rätsel des Lebens einen Platz in der

11 Vgl. ausführlicher zur Bedeutung Mignons in Goethes Roman: H.R. Brittnacher: Mythos und Devianz, S. 98-102.

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Totenkammer der Anomalien zuzuweisen. Das einbalsamierte Schaustück, endlich und unwiderruflich verfügbar, präsentiert er den Anwesenden, ihrem Beschützer Wilhelm, ihrer Erzieherin Natalie und dem Marchese, ihrem leiblichen Oheim, mit Worten, die gewiss nicht zufällig an einen Zirkusdirektor erinnern, der seine nächste Attraktion anpreist: »Treten Sie näher, meine Freunde, und sehen Sie das Wunder der Kunst und Sorgfalt.« (WML 577) Der Abbé überführt die Irritation angesichts der unverfügbaren Fremdheit von Mignons Körper, ihr Geheimnis, das sich als Störung, Widersezlichkeit und Desorientierung zur Geltung brachte, in die gelassene Anschauung eines toten, dauerhaft der Betrachtung preisgegebenen Objekts. Das Monströse erhält so als Erinnerung an ein überwundenes Stadium der rätselhaften Anthropologie seinen Platz.

III. 1867: G WYNPLAINE (V ICTOR H UGO : L' HOMME

QUI RIT )

Das Schicksal, als Kind geraubt und von Schaustellern abgerichtet zu werden, teilt auch Gwynplaine, der Held von Victor Hugos Roman L’homme qui rit (1869).12 Erst spät – auch dies wie bei Mignon – enthüllt sich bei Gwynplaine das Geheimnis seiner (aristokratischen) Herkunft. Sehr viel drastischer noch war indes sein Schicksal: Comprachicos – so nennt Hugo eine geheimnisumwitterte Bande von professionellen Kinderdieben, die bei dynastischen Händeln aktiv werden, um unerwünschte Erben aus dem Weg zu schaffen13 – haben den Jungen nicht nur geraubt, sondern nach einer in arkanen Schriften überlieferten Anweisung das Gesicht zu einer Fratze des im-

12 Ich zitiere den Roman mit der vorangestellten Sigle DLM nach der Ausgabe Victor Hugo: Die lachende Maske, Berlin o.J. Der Roman liegt auch in einer neueren, vollständigen Übersetzung von Rainer G. Schmidt vor: Victor Hugo: Der Mann mit dem Lachen. Aus dem Franz. von R. G. Schmidt, Butjadingen o.J. Nur wegen der leichteren Zugänglichkeit gebe ich der ersten Ausgabe den Vorzug. Goethe hätte sich den Vergleich seines Wilhelm Meister mit Hugos L’Homme qui rit gewiss verbeten: Hugos Interesse an Verstümmelungen und grotesker Körperlichkeit hat schon im Fall des früher erschienenen Notre Dame des Paris (1831) Goethes entschlossene Missbilligung herausgefordert. Er nannte es das »abscheulichste Buch, das je geschrieben wurde« (Eckermann, Johann Peter: »Gespräche mit Goethe. 27. Juni 1831«, in: Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 24, Zürich 1976, S. 760). Dennoch eignen sich die beiden Romane, wenn sie auch zeitlich weit auseinander liegen und literarisch und moralisch unterschiedlicher nicht sein könnten, für eine komparative Analyse und erlauben die Rekonstruktion spezifischer Einstellungen der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft zu monströser Körperlichkeit, die zwischen Irritation, Faszination und Emphase oszillieren. 13 Das Delikt – die Verstümmelung »jussu regis«, auf Befehl des Königs –, hat es durchaus gegeben, aber der professionelle Zusammenschluss der Täter zu einer international operierenden Bruderschaft von Kinderdieben dürfte wohl eine Erfindung Hugos sein. Vgl. Rainer G. Schmidt: »Ges[ch]ichtsklitterung. Stichpunkte zu ›Der Mann mit dem Lachen‹ (= Nachwort)«, in: Victor Hugo, Der Mann mit dem Lachen. Bd. 2, S. 407-422, hier S. 412; vgl. auch Thomas Macho: »Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow«, in: Gert Theile, Anthropometrie, München 2005, S. 155-179, hier S. 175.

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merwährenden Lachens entstellt: »Bussa fissa usque ad aures, genzivis denudatis, nasoque murdridarto, masca eris, et ridebis semper.« (DLM 114)14 Lakonisch resümiert der Erzähler das Gewerbe der Comprachicos: »Man nahm einen Menschen und machte eine Mißgeburt daraus.« (DLM 21) Die Praktiken der Comprachicos waren jenen, die Alexandre Dumas in Die eiserne Maske beschrieben hat,15 in der ein Zwillingsbruder des Sonnenkönigs im Kerker hinter einer eisernen Maske schmachtet, weit überlegen: »Die eiserne Maske läßt sich herunterreißen, die fleischerne nicht.« (DLM 21) Eine Wendung der politischen Ereignisse zwingt die Comprachicos, aus dem Land zu fliehen – um sich aller belastenden Indizien zu entledigen, überlassen sie in einer stürmischen Winternacht ein Kind seinem Schicksal und segeln davon. Gwynplaine überlebt, findet im Schneesturm die Leiche einer erfrorenen Bettlerin, die kurz zuvor entbunden hat, und nimmt sich liebevoll des neugeborenen Mädchens an. Ihren Frieden finden die geplagten Kinder bei dem Gaukler Ursus und seinem Wolf Homo: Der Gaukler trägt den Namen eines Tieres, des Bären, sein Wolf den des Menschen: Homo. Schon die Sprache des Romans macht die Protagonisten zu Monstren, »zum Tiermenschen und zum vermenschlichten Tier«, 16 seine Handlung freilich zeigt, dass monströs nur die Gebräuche der Sesshaften und Wohlhabenden sind, nicht die der Fahrenden, die einander in brüderlicher Kreatürlichkeit beistehen. Denn Ursus widmet sich voller Mitgefühl den beiden Kindern und lässt ihnen eine Ausbildung angedeihen, die ihnen auf der Welt der Jahrmärkte zu einigem Erfolg verhilft. Das Mädchen, das bei den dramatischen Umständen seiner Geburt erblindet ist, wird Dea genannt und wächst zu einer Schönheit heran. Sie, die Blinde, sieht nur die Schönheit von Gwynplaines Seele und verliebt sich in den Gaukler, den seine Grimasse auch angesichts der größten Schrecken zum Lachen verurteilt:17 »Gwynplaine war Gaukler; er ließ sich für Geld sehen und übte eine unvergleichliche Wirkung aus. Traurigkeit heilte er schon, indem er sich zeigte. Leute in Trauer mussten ihn meiden, denn wenn sie ihn sahen, gerieten sie in Verwirrung und konnten nicht anders, sie mussten unziemlich lachen. […] Wer Gwynplaine sah, musste sich die Seiten halten; wenn er sprach, wälzte man sich vor Lachen am Boden. Er war der Gegenpol jeden Kummers.« (DLM 175)

Die Eintracht der so gegensätzlichen Akteure, der zauberhaften Blinden und des verstümmelten Mannes, macht Gwynplaine und Dea zur artistischen Sensation: »Er war

14 Auch im Roman teilt eine Fußnote die Übersetzung mit: »Die Backe wird gespalten bis zu den Ohren, das Zahnfleisch entblößt und die Nase abgeschnitten; dann wirst Du eine Maske sein und immerfort lachen.« DLM 114. 15 Dumas (père), Alexandre: Le Vicomte de Bragelonne ou L’Homme du masque de fer, Bruxelles 1845/46. 16 Fliedner, Andreas: »Nachwort«, in: Victor Hugo, Der lachende Mann. Deutsch von Georg Büchmann, Berlin 2013. Bd. 4, S. 213-231, hier S. 218. 17 Vgl. zum vieldeutigen Archetypus der unfreiwilligen Komik (des Pierrot, der Maske, des Gewaltclowns etc.) die umfassende Monographie zur Ästhetik des Zirkus von Jürgens, Anna-Sophie: Poetik des Zirkus. Die Ästhetik des Hyperbolischen im Roman, Heidelberg 2016, v.a. S. 228 ff.

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das Grauen, sie war die Anmut.« (DLM 183) Das Nebeneinander des Schreckens und der Schönheit illustriert jene »harmonie des contraires«, die Hugo in seiner großen poetologischen Schrift, dem Préface zu seinem Drama Cromwell (1827), als Ausweis wahrer romantischer Imagination gefordert hatte. Aber Hugo rechtfertigt nicht allein eine groteske Ästhetik, die ihren Erfolg dem Reiz des Gegensätzlichen verdankt, sondern weist mit diesem »Liebespaar der komplementären Körperbehinderungen« 18 bereits weit voraus in ein Zeitalter, das die Ästhetik eines beschädigten Lebens erst zu entdecken beginnt.19 Zusammen mit ihrem Pflegevater Ursus, einem philosophisch gebildeten Gaukler und Überlebensvirtuosen, dem treuen Wolf Homo und zwei Landstreicherinnen, die »halb wild und scheu geblieben waren […] und miteinander ihre Zigeunersprache« (DLM 214) pflegten, leben Dea und Gwynplaine das Leben der Fahrenden – in der Parallelwelt des Jahrmarkts genießen sie Bürgerecht. Als »missgestaltetes Wesen« (DLM 257) meidet Gwynplaine die Öffentlichkeit und sucht die Anonymität: »Selten kam es vor, dass Gwynplaine im Freien herumstreifte, nur in ganz verlassenen Straßen und einsamen Gegenden. In Städten ging er nur nachts aus, und dann trug er einen breitrandigen, tief herabgeschlagenen Hut, damit sein Gesicht sich auf der Straße nicht abnutzte. Mit unbedecktem Gesicht sah man ihn nur auf dem Theater.« (DLM 214)

Nur inmitten anderer »displaced persons«20 können Dea und Gwynplaine ungefährdet leben – und in der Greenbox, ihrem Theater, zur Gaudi des Publikums ein Spektakel inszenieren, das ihre eigene Geschichte nachstellt: Die im Wald verirrte Unschuld begegnet einem Ungeheuer – ein Stoff, der nicht zufällig auch an das Märchen La Belle et la Bête und damit an eine märchenhafte, unvordenkliche Eintracht aller Geschöpfe erinnert: Dea, die auf der Bühne ihrer Rolle gemäß »innerlich zitterte ob ihrer Verlassenheit«, stößt in finsterer Nacht auf ihren verunstalteten Helfer und findet damit Trost in ihrer Einsamkeit: »Ihr ganzes Herz schmolz dahin in unsagbarer Liebe. Sie fühlte sich außer Gefahr, sie hatte den Retter gefunden. Für die Zuschauer war Gwynplaine der Gerettete und Dea die Retterin. […] Dea [...] betete den Engel an, während das Volk das Ungetüm betrachtete […].« (DLM 202) Der Kontrast von Grauen und Schönheit und die Aufrichtigkeit der Liebe beider begründet den immensen Erfolg ihres Auftritts: »Man fühlte, dass sie ihr Ungetüm liebte.« (DLM 201) Während die vermeintlich rohe Volksseele doch sensibel genug ist, das Glück in der grotesken Idylle zu begreifen, vermag die Herablassung der besseren Kreise nur den so vergeblichen wie erheiternden Versuch des Hässlichen zu erkennen, am Schönen teilzuhaben. Nichts charakterisiert in Hugos Augen mehr den verdorbenen Charakter der englischen Aristokratie als ihre »Vorliebe für das Missgestaltete« (DLM 185) und damit für »Vorführungen auf Straßen und Plätzen, für Gauklerbühnen und Buden mit seltsamen Tieren, für Seiltänzer, Spaßmacher, Hanswürste und Narren, für

18 Meißner, Tobias O.: »Unregelmäßigkeit statt Ebenmaß. Ein Vorwort«, in: Victor Hugo, Der lachende Mann. Deutsch von Georg Büchmann, S. 7-13, hier S. 9. 19 Jäger, Lorenz: Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps, Springe 2014, v. a. S. 55-59. 20 A. Fliedner: Nachwort, S. 221.

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Possenspiele und Jahrmarktswunder« (DLM 143). Die Aristokratie nimmt bei ihren Ausflügen in die Hefe des Volkes nicht etwa Anteil an den Schicksalen der Unterprivilegierten, ihre »Reptilienseelen« (DLM 149) amüsieren sich vielmehr über deren vergebliches Streben nach Normalität. Alles in Hugos Roman ist monströs, nur nicht die vermeintlichen Monster: In Wahrheit sind sie die schönen Seelen, während die »grotesken Rituale des Parlamentarismus«21 genauso wie »die aristokratischen Vorstellungen von ›fun‹ mit ihrem naiven Vergnügen am Leiden der Schwächeren«22 ein Abbild wahrer Monstrosität, einer umfassenden menschlichen Verkommenheit liefern, die »in den entstellten Zügen des lachenden Mannes seine exemplarische Gestalt gewinnt«.23 Von Gwynplaine zum Joker, dem Gegenspieler Batmans in den Comics von Bobe Cane und Bill Finger, ist es nur ein kleiner Schritt:24 er wird die Richtung des Lachens umkehren. Im Joker lacht der Clown über eine Gesellschaft, die sich bislang auf seine Kosten amüsierte. Wegen einer Jahre später an Land gespülten Flaschenpost, in der die Comprachicos einst, den Untergang im Sturm vor Augen, ihre Verbrechen gestanden und niedergeschrieben haben, wird Gwynplaine als Aristokrat rehabilitiert und wieder »in alle Güter und Würden des Lords Fermain Clancharlie, fälschlich Gwynplaine genannt« (DLM 298), eingesetzt. Doch die Nobilitierung reißt Gwynplaine aus dem einzigen Milieu, in dem zu leben ihm möglich war. Die gnadenlose Welt des englischen Hofes kann ihn nur als Monster sehen, macht sich seinen Anblick als satanische oder mythologische Reverenz erträglich, als »Abbild des großen Höllenlachens« (DLM 354) oder als »Angesicht des Prometheus, entstellt durch die Schnabelhiebe des Geiers« (DLM 390). Dass einer der ihren, aus ihren Kreisen verstoßen, ihnen nun mit seiner aus dem eigenen Fleisch geschnittenen Maske die eigene moralische Entstellung vor Augen führt, ist für sie so unerträglich, dass sie ihn erneut verstoßen. Gwynplaines Philippika gegen die Herzlosigkeit der besseren Kreise vor dem englischen Parlament führt angesichts seines Antlitzes, »hinter dem das Grinsen sich bäumte wie ein wildes Pferd, das ausbrechen will« (DLM 391), zu einem gewaltigen Heiterkeitsausbruch: »Man hätte sich in die Greenbox versetzt geglaubt. Nur mit dem Unterschied, dass in der Greenbox das Gelächter Gwynplaine feierte, und hier vernichtete es ihn. Lächerlich sein tötet.« (DLM 398) Gwynplaine kann dem Unrecht, das an ihm begangen wurde, nicht entkommen. Das Lachen, das doch ein Bild »der angeblichen Zufriedenheit der Völker unter ihren Bedrückern« (DLM 417) sein soll, ihm schon als Kind ins Gesicht geschnitten von eben diesen Bedrückern, triumphiert bis zuletzt über ihn. So gesehen ist Gwynplaine der literarische Archetypus einer modernen Imago: des tragischen Clowns. Äußerlich ist er zu einem Lachen verurteilt, während seine Seele leidet. Gwynplaine beendet

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Ebd., S. 219. Ebd. Ebd. Es war im Übrigen die Darstellung Gwynplaines durch Conradt Veidt in der amerikanischen Verfilmung des Romans The Man Who Laughs (1928) von Paul Leni, die als Vorlage für den Joker bezeugt ist. Vgl. T. O. Meißner, Unregelmäßigkeit statt Ebenmaß, S. 8.

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aus freiem Entschluss sein Leben auf dem stürmischen Meer und trotzt mit seiner Selbstauslöschung der Musealisierung. An Mignon und damit an den unversöhnlichen Gegensatz von Poesie und Prosa, von Zauber und Nutzen, erinnert zuletzt noch ein Präparat. Gwynplaine hingegen hat sich mit einem Akt der Selbstauslöschung jeder erbaulichen Erinnerung verweigert. Nur die Literatur hält den Schatten fest, den er geworfen hat, und erinnert an seine Anklage einer mörderischen sozialen Rücksichtslosigkeit, die den, der anders ist, allenfalls im Zirkus in Frieden lässt.

IV. 1932: F REAKS (T OD B ROWNING : F REAKS ) FREAKS (1932), der Film, den der Regisseur Tod Browning, der durch Auftritte als Schlangenmensch im Zirkus intime Kenntnisse des Milieus besaß, in nur 36 Drehtagen fertigstellte, demonstriert die Elastizität des Begriffs Normalität:25 Hauptdarsteller sind zwei Kleinwüchsige, Hans und Frieda, die neben Arm- und Beinlosen, Hermaphroditen, Transsexuellen, Riesen, einer bärtigen Frau, siamesischen Zwillingen und Attraktionen wie dem ›Skelettmann‹ und den ›Nadelköpfen‹ in der Sideshow eines Zirkus ihr Auskommen fristen. Es sind geistig und körperlich Behinderte, deren erstaunliche Fähigkeiten und Geschicklichkeit den Begriff der Behinderung relativieren und die Grenzen zwischen freakig und normal dekonstruieren; auch die Geschlechterordnung erscheint bei ihnen durchlässig, etwa in Gestalt der bärtigen Frau oder mit Blick auf die Verbindung der beiden siamesischen Zwillinge, die ein »Einswerden« außerhalb der Idee einer sexuellen Verbindung verkörpern. Ihnen stehen die »Normalen« gegenüber, einerseits die schöne Zirkusdame Vivian und der Clown Phroso, die sich den Freaks in kollegialer Solidarität verbunden fühlen, andererseits aber auch Hercules, der Kraftprotz, und Cleopatra, die Trapezkünstlerin, deren hämisches und boshaftes Verhalten den anthropologischen Hochmut der sog. Normalen dokumentiert. Obwohl mit der gleichfalls kleinwüchsigen Frieda verlobt, hat sich der naive Hans von der Reizen Cleopatras blenden lassen und wirbt mit aufwändigen Geschenken um ihre Gunst. Als Cleopatra erfährt, dass Hans durch eine Erbschaft vermögend wurde, willigt sie sogar in eine Heirat ein, zeigt aber bei der ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft, in dem die Freaks das Hochgefühl ihrer Gleichwertigkeit feiern, ihr wahres Gesicht und bestreitet ihnen das Recht auf Ebenbürtigkeit. Gemeinsam mit Hercules versucht sie Hans zu vergiften, um ihn zu beerben – Hans aber überlebt. Die Beleidigung der Freaks und der Mordversuch an Hans – den die Freaks in einer radikalen Auslegung von Mt. 45,40 als einen Anschlag begreifen, der ihnen allen gilt – lässt die Artisten kollektiv Rache nehmen. Sie verstümmeln die hochmütige Cleopatra, bis auch sie zum Freak wird und zuletzt selbst der Schaulust der Zuschauer ausgesetzt ist: Sie, die vormals schöne Trapezkünstlerin, der »Pfau der Lüfte«, en-

25 Vgl. dazu Dellmann, Sarah: Widerspenstige Körper. Körper, Kino, Sprache und Subversion in Tod Brownings ›Freaks‹ und Filmen mit Lon Chaney, Marburg 2009.

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det als flatterndes, krähendes Federvieh in einem Käfig. 26 Dieses schreckliche Ende der Cleopatra steht, wie im analytischen Drama, am Beginn des Films, der daraufhin erzählt, wie es dazu hat kommen können. Die Handlung taucht in den Alltag und die Feierkultur der Freaks ein und gibt Gelegenheit, die Normalität der vermeintlich Abweichenden näher kennenzulernen. Die Chefin der Freakshow, Madame Tetrallini, bezeichnet ihre Schützlinge in einer rührenden Szene, in der sich die ihr anbefohlenen Freaks wie ängstliche Kinder an sie klammern, als »Gotteskinder« – dieser Terminus, der in übertragener Bedeutung auch auf unehelich Geborene und Waisenkinder Anwendung findet, legitimiert das protektive Verhalten der Patronin, weil es an die Unterdrückung erinnert, der ihre wehrlosen Schützlinge, Geschöpfe Gottes wie alle anderen Menschen auch, ausgesetzt sind. Der Film schildert das Leben der Freaks am Rande eines Zirkus wie ein Karneval der Unterprivilegierten – mit all seinen Charakteristika der sozialen Umcodierung, der derben Komik, der Unzerstörbarkeit des Lebens, dem Ausstellen der Körpers und seiner Extremitäten27 – und lässt dabei aber aus dem Auge geraten, dass Manegenspiel und »Freakshows dem Karneval recht antithetisch gegenüber[stehen], indem sie die Trennung zwischen Betrachter und Performer sowie dessen Inszenierung betonen«.28 Der Film hingegen unterläuft, weil er aus der Innenperspektive der Freaks erzählt, diesen kulturell sedimentierten Erwartungshorizont. Traditionell dient die ostentative Exposition abweichender, befremdlicher Körper der Bekräftigung der Überlegenheit eines integralen Körperkonzepts.29 Unter dem Gesichtspunkt der Schaulust als einem dominierenden Interesse seit dem 18. Jahrhundert war die Entwicklung vom Tiergehege über die Völkerschauen in Tiergehegen bis zur Freakoder Sideshow im Zirkus folgerichtig. Die Monster und Freaks auszustellen und vorzuführen, noch mehr aber sie sprachlich zu beleidigen und sozial zu schikanieren, dient dazu, ihnen den Rang des Humanen abzusprechen – und die in ihnen präsente riskante Anthropologie durch physische Aggression und verbale Herabsetzung auf Abstand zu halten. Der eigenwilligen Kameraarbeit des Films gelingt es jedoch, die von der Filmhandlung behauptete Gleichrangigkeit von Freaks und Normalen auch visuell umzusetzen und bekannte Proportionen zu relativieren: Die Kameraführung lässt den Freaks die gleiche Bildhaftigkeit wie den anderen Figuren zukommen, indem sie auf der Höhe der Freaks steht und damit nicht von oben auf sie herabschaut. So wirkt die große, schöne Cleopatra oft kleiner als der kleinwüchsige Hans – nicht im direkten Vergleich, sondern durch die Aufnahmetechnik, wenn Cleopatra im Wohnwagen des

26 Die Schlussszene war ursprünglich anders geplant. In einer ersten Fassung hört man Hercules, wie er nach der Bestrafung durch die Freaks im Sopran singt. Dieses Ende verschreckte die Besucher bei Testvorführungen jedoch so sehr, dass es geändert wurde. Trotzdem wurde der Film in diversen Bundesstaaten und Städten der USA verboten. In manchen davon gilt dieses Verbot bis heute. 27 Zur Ästhetik von Karneval und Volkskultur vgl. Bachtin, Michael: »Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur«, in: Michael Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1985, S. 47-60. 28 A.-S. Jürgens: Poetik des Zirkus, S. 59. 29 Vgl. H.R. Brittnacher: Ästhetik des Horrors, S. 183 f.

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kleinen Hans als »zu groß«, also deplatziert, gezeigt wird, während die kleinwüchsige Frieda vor einem Pony die richtige Größe zu haben scheint. Die stupende Geschicklichkeit der Freaks, etwa die Fähigkeit des Rumpfmenschen Prince Randian, sich eine Zigarette zu drehen, und die Nonchalance, mit der Johnny Eck, der Mann ohne Unterleib, rauchend und plaudernd im Smoking Jacket an einer Dinnerparty teilnimmt, relativiert nachhaltig den Hochmut der Normalen. Ein Standpunkt, von dem aus es möglich wäre, Normalität diskriminierend zu definieren, wird von FREAKS, den der deutsche Verleih unter dem Titel MISSGESTALTETE in die Kinos brachte, dezidiert bestritten. Unter dem Gesichtspunkt dieses kämpferischen Egalitarismus erscheint die Welt des Zirkus als Ort der Schaulust, der Schikane und des Verbrechens, gegen deren mentale Voraussetzungen ein militantes Verhalten berechtigt erscheint. Deutlich wird dies, als die Freaks ihren Racheplan durchführen, und mit dem Messer zwischen den Zähnen durch den Schlamm unter ihren Wohnwagen kriechen, um ihr blutiges Werk durchzuführen. Das schauerliche Bild vom Aufruhr der Unterwelt liefert ein aus der Mythologie und dem Horrorfilm bekanntes Szenario, wenn die Toten aus dem Schlamm ihrer Gräber heraus nach dem Leben der Sterblichen trachten – eine Szene, der eine aufgebrachte Natur mit Dunkelheit, Regen, Blitz und Donner die akustische und visuelle Kulisse liefert. So gesehen erscheint FREAKS tatsächlich als ein traditioneller Horrorfilm, als der er in die Filmgeschichte eingegangen und noch heute im Handel vertrieben wird – obwohl er nichts weniger ist, sondern ein Melodram in dezidiert aufklärender Absicht. Das ostentative Interesse an der Normalität der Abweichenden, der humorvolle Umgang mit dem Phänomen der Behinderung legt deutlich den Schwerpunkt auf eine filmische Botschaft der Toleranz. In FREAKS werden fast alle Zirkusartisten, deren Profession es ist, Höchstleistungen zu vollbringen, als Normabweicher präsentiert – wären sie es nicht, hätte sie im Zirkus, dem Schauplatz der Sensation, keine Daseinsberechtigung. Den Zirkus betritt man in der festen Erwartung, Abnormes zu sehen. Nur weil sie bestimmte Fähigkeiten und Gelenkigkeiten, bestimmte Muskeln und Bewegungsabläufe entwickelt haben, zu denen andere Menschen nicht fähig sind, können sie tun, was sie dem schaulustigen Publikum vorführen – nicht anders als die Freaks auch: Der Unterschied zwischen Freaks und Artisten ist bestenfalls graduell. Artisten trainieren ihre Körper, um etwas scheinbar Unmögliches, das Außergewöhnliche möglich zu machen; Freaks trainieren ihre Körper, um etwas ihnen scheinbar Unmögliches, Normalität, zu ermöglichen. Unübersehbar ist die Orientierung von FREAKSHOW, der vierten Staffel der amerikanischen Horrorserie AMERICAN HORROR STORY, an Tod Brownings Klassiker. Hier empfiehlt sich die Bärtige Frau, eine bewährte Kraft in der Freakshow von Elsa Mars, als Kennerin des Gewerbes und seiner Voraussetzungen: »Kein Freak tritt je zu Halloween auf, das weiß doch jeder Idiot.« Mit diesen Worten weist sie die naiven siamesischen Zwillinge, die Neuzugänge des Unternehmens, zurecht. Halloween gehört den Normalen, die verrückt spielen, nicht den Freaks, die so gerne normal sein wollen. Gleichwohl bleibt ein Widerspruch: Zwar will Brownings FREAKS unübersehbar die Zuschauer für Menschen mit Behinderung sensibilisieren. Da aber Cleopatras Strafe als Horroreffekt inszeniert ist, der gleich zu Beginn wieder auf die etablierte Kameraführung, den Blick von oben, zurückgreift, und da der Film auf den Anblick

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der von Rachegedanken besessenen Schlammkreaturen nicht verzichten will, bekräftigt die Inszenierung den Schrecken der Andersheit, den sie doch relativieren wollte. * Die von der Aufklärung hochgemut projektierte Idee der Gleichheit aller Menschen hat kaum die Frauen, noch weniger Andersfarbige oder gleichgeschlechtlich Liebende erreichen können – angesichts der »existentiellen Außenseiter« muss das Projekt Aufklärung als gescheitert gelten.30 Um wieviel mehr noch gilt dieses Scheitern in der Wahrnehmung von und im Umgang mit körperlich Beschädigten, Missgebildeten und physisch Stigmatisierten? Sie stehen, ob sie wollen oder nicht, ein für eine »Radikalität des Fremden«,31 eine extreme Variante von Andersheit, die sich prohibitiv zu jeder Idee identifikatorischer Teilhabe verhält. So wie die »oubliés de Dieu« will keiner sein, keiner will wie sie von Gott vergessen, wie sie von den Menschen verachtet werden. Drei ›Texte‹ aus unterschiedlichen Sprachen und Kulturen haben im Abstand von jeweils über einem halben Jahrhundert die eigene Einstellung zur radikalen Fremdheit abweichender Körperlichkeit verhandelt: ein kanonischer deutscher Roman der Sattelzeit um 1800, ein eher obsoleter französischer Roman aus der späten Romantik und schließlich ein amerikanischer Film aus den Pioniertagen des Kinos. Die Texte stehen unmissverständlich auf der Seite ihrer beschädigten Helden, sie teilen keineswegs die Haltung der Mehrheitsgesellschaft, sei diese nun aufgeschlossen, philanthropisch und um Integration bemüht wie im Falle von Goethes Roman, misstrauisch und hämisch, aber auch gutmütig und jovial wie im Falle von Hugos Roman, oder offen sadistisch und utilitaristisch wie in Brownings Film. Die drei Werke zeigen nicht so sehr unterschiedliche, mal geringfügige, mal extreme Formen körperlicher Devianz, es geht ihnen vielmehr um grundverschiedene Muster der Wahrnehmung und der Einhegung des Fremden: Goethes Roman formuliert bedauernd das Eingeständnis, das Abweichende nicht integrieren zu können, seiner aber in ästhetischer Erinnerung, als eines Objektes der Schaulust, gedenken zu wollen. Hugos Roman bezweifelt an einem Fall extremer, sogar grotesker Abweichung kategorisch die Möglichkeit gelingender Integration. Das einsichtige Bekenntnis des Fremden zu der eigenen Monstrosität privilegiert eine Praxis ästhetischer Duldung: solange der grinsende Unhold nichts weiter sein will als eine Attraktion des Jahrmarkts, darf er sich der Beifallstürme des Pöbels sicher sein. Begehrt er aber Akzeptanz und Integration, kippt die gutmütige Jovialität in verächtliche, sogar eliminatorische Aggressivität. Die Freaks in Brownings Film haben unter den Bedingungen des Marktes, an den sie sich im Interesse ihres Überlebens prostituieren müssen, die Illusionen der Symbiose längst verloren, nicht aber die, dass auch unter ihnen – wollen sie nicht zu den vorzivilisatorischen Barbaren werden, die man in ihnen vermutet – die Regeln des sozialen Lebens und wechselseitiger Anerkennung zu gelten haben. Gegen die überhebliche Aggression der Mehrheit können sie daher, unter strikter Einhaltung der Normen, die von der Mehrheit für die Mehrheit erlassen wurden, eine überlegene

30 So die grundlegende These von Hans Mayer: Aussenseiter, Frankfurt a.M. 1975. 31 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 2006, S. 57.

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Auslegung des Gebots der solidarischen Gesellschaft demonstrieren. Dies freilich funktioniert nur bei wechselseitigem Respektieren unaufhebbarer Grenzen – Fremdheit ist »eine Wunde, die nicht völlig vernarbt« 32 und den von ostentativer körperlicher Andersheit Betroffenen das Überleben nur in den Dunkelzonen von Museum, Jahrmarkt und Zirkus gewährleistet.

32 Bernhard Waldenfels: Topografie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 1997, S. 42.

Mobilität und Massen Zur Artistik außergewöhnlicher Körper zwischen Schaubude, Zirkus und Kino U RTE H ELDUSER

Eine Schlüsselszene von Sergej Eisensteins Filmklassiker PANZERKREUZER POTEMKIN aus dem Jahr 1925 ist die Treppenszene, eine der berühmtesten Masseninszenierungen des frühen Films. Zu sehen ist, wie sich auf der monumentalen Hafentreppe von Odessa zunächst Bürger der Stadt versammeln, um das im Hafen landende Schiff und seine revolutionären Matrosen zu begrüßen, bis die Menschenmenge plötzlich von Soldaten hinabgetrieben und beschossen wird und eine Panik ausbricht. Die visuelle Faszination der Szene beruht auf der Erzeugung von (Massen-) Bewegung, der Inszenierung des Stroms der flüchtenden Menschenmenge aus alten und jungen Menschen, Müttern mit Kindern auf dem Arm, Invaliden auf Krücken, Gestürzten, deren Leiber die Treppe herabrollen, von anderen mitgerissen oder übertrampelt werden. Die Dynamik wird ganz wesentlich durch das Montageverfahren erzeugt, mit dem Eisenstein einerseits die Abwärtsbewegung des von den Soldaten angetriebenen Menschenstroms zeigt, und gleichzeitig immer wieder einzelne Figuren oder Gegenstände heraushebt, die diese Abwärtsbewegung entweder beschleunigen oder sich ihr entgegenstellen. Eindrücklich ist das Bild des Kinderwagens, der die Treppe hinunterzurollen droht und auch schließlich rollt, nachdem die den Wagen schiebende Mutter niedergeschossen worden ist. In dieser Montage tritt eine Gestalt hervor, die die Treppe von Odessa zur Zirkusmanege werden lässt: Aus der Menschenmenge springt plötzlich ein Rumpfmensch, ein Junge ohne Beine, heraus. Zwischen den Beinen der Menschen hervorhüpfend erobert er sich einen freien Platz, um sich Sicht auf das Schiff zu verschaffen. Mit seiner Mütze in der Hand winkt er den landenden Matrosen zu. 1 Als die Soldaten zu schießen beginnen und die Menschenmenge die Treppenstufen herunterflüchtet, sieht man ihn noch einmal, wie er abwechselnd Hände und Rumpfkörper abstützend vorwärts hüpft und auf diese Weise blitzschnell und quer durch das Bild die Treppe überwindet, um dann wieder zu verschwinden. Wenige Sekunden später taucht er in einer neuen Einstellung wieder auf, inzwischen hat er die Seiteneinfas-

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PANZERKREUZER POTEMKIN (UdSSR 1925, R: Sergej Eisenstein).

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sung der Treppe erreicht, die er nun zielstrebig herunterspringt, gefolgt von der Menschenmenge im Hintergrund. Auf einem Absatz vollführt er eine Drehung um 180 Grad, um sich nach den anderen umzusehen und dann wieder nach vorne weiter zu hüpfen. Seine Bewegungen demonstrieren extreme Beweglichkeit und Körperbeherrschung, trotz seiner Kleinheit scheint er nicht wie die zahlreichen Kinder und Gebrechlichen Gefahr zu laufen, von den Massen niedergetrampelt zu werden; im Gegenteil, er geht aus der Masse hervor, um ihr dann vorauszueilen, sie anzutreiben und mit sich zu ziehen. Seine Darstellung wirkt beschleunigend. In seiner ungewöhnlichen Körpergestalt und akrobatischen Fortbewegungstechnik erweckt er den Eindruck eines Zirkusartisten. Die in die Filmhandlung montierte artistische Show-Einlage lässt das historische Bauwerk der Treppe von Odessa zur Schausteller-Bühne werden, auf der der Rumpfmensch seine Körperkunst vorführt. Diese die Schaulust in Gang setzende akrobatische Einlage steht in einem Spannungsverhältnis zur Darstellung des grausamen Gemetzels und den Bildern der versehrten, leidenden und toten Körper im weiteren Verlauf der Szene. Repräsentiert die Gestalt des Rumpfmenschen einerseits diese körperliche Versehrung der vor den Soldaten flüchtenden und dabei stolpernden, sich verletzenden und sterbenden Menschen, so wird sein Auftritt andererseits gerade durch eine besondere Vitalität und die Überwindung körperlicher Grenzen zur Attraktion. Der Rumpfmensch scheint dem Geschehen nicht hilflos ausgesetzt, sondern er tummelt sich darin, die Massenflucht wird zum Hintergrund für seinen spektakulären Auftritt, selbst kaum größer als eine Treppenstufe vermag er diese Absatz für Absatz zu überwinden. Eisenstein bedient mit dieser »Attraktionsmontage« 2 eine »visuelle Lust«,3 die konstitutiv für das Kino und seine Ausstellung des anderen Köpers ist. Zugleich verweist die von dem Rumpfmenschen vorgeführte Artistik auf den Zirkus und die mit ihm verbundenen Formen der Zurschaustellung ›anormaler Körper‹, der Akrobaten ebenso wie der ›Freaks‹. Ich möchte im Folgenden solche Formen der artistischen Inszenierung des Freaks in der Populärkultur des frühen 20. Jahrhunderts untersuchen. Im Zentrum steht die Frage, wie die Ästhetik des Zirkus in die Diskurs- und Wissensgeschichte des ›anderen Körpers‹ eingebunden ist. Darüber hinaus geht es um die Verschiebungen dieser Schaukultur im Zuge der Etablierung des neuen Mediums des Films.

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Eisenstein, Sergej M.: »Montage der Attraktionen«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1979, S. 46-57. Zu Eisensteins dramaturgischem Einsatz von Zirkusakrobatik vgl. Fabe, Marilyn: »The Art of Montage. Sergei Eisenstein’s The Battleship Potemkin«, in: dies., Closely Watched Films. An Introduction to the Art of Narrative Film Technique, Oakland 2014, S. 19-36, hier S. 26 sowie Bordwell, David: The Cinema of Eisenstein, London/Cambridge, 22005, zur Funktion der Montage des beinlosen Jungen hier S. 74. Mulvey, Laura: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit und Maskerade, Frankfurt a.M. 1994, S. 48-65.

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Wenn etwa Frank Wedekind sich vom Zirkus eine »Veredlung der Rasse im Sinne der modernen Entwicklungstheorien«4 erhofft, eine Perfektionierung des Körpers im Sinne eines ›Human Enhancements‹, so evoziert er damit das Bild eines Idealkörpers des trainierten Artisten, als dessen Negativfolie die »stiefmütterlich Bedachten«,5 die ›Krüppel‹ und ›Missgestalteten‹ erscheinen, um deren Überwindung es geht. Wie gezeigt werden soll, sind es aber gerade die Freakkörper, die in der Zirkusund Schaubudenkultur des frühen 20. Jahrhunderts zu Protagonisten »anthropotechnischer Selbstverbesserung«6 werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist ein Ort, an dem diese Transformationen beispielhaft deutlich werden, der Wiener Vergnügungspark Prater. Der Prater ist nicht nur seit dem 19. Jahrhundert Schauplatz der Zirkus- und Schaustellerkultur, hier lassen sich auch die Umbrüche dieser Kultur beobachten, die sich durch den Aufstieg des Kinos im frühen 20. Jahrhundert vollziehen.

I. Schon im 19. Jahrhundert ist der Wiener ›Wurstlprater‹ Schauplatz verschiedener Schausteller- und Manegenkünste. Zu seinen Attraktionen gehören diverse Schaubuden, Wandermenagerien und Kasperletheater. 1873 ist der Prater Austragungsort der Weltausstellung, die dem Vergnügungspark nun auch feste Gebäude hinterlässt; 1897 kommt das Riesenrad dazu, das zum Wahrzeichen der Stadt wird. 7 Seit 1892 verfügt der Prater zudem über einen feststehenden Zirkus, den Zirkus Busch. Dieser wird 1920 in ein Kino umfunktioniert. Mit 1700 Zuschauerplätzen wird das Buschkino zum mit Abstand größten Kino Wiens.8 1926 läuft hier als regelrechter ›Kassenschlager‹ PANZERKREUZER POTEMKIN.9 Das Kino entwickelt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Konkurrenz für die alten Schaubudenattraktionen des Wiener Praters, 10 vor allem zu den diversen Dar-

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Wedekind, Frank: »Im Zirkus« [1888], in: ders.: Werke I, München 1996, S. 370-377, hier S. 373. 5 Ebd. 6 Christen, Matthias: Der Zirkusfilm: Exotismus, Konformität, Transgression, Marburg 2010, hier S. 12. 7 Zur Geschichte des Wiener Praters vgl. Girtler, Roland: Wiener Wurstelprater. Die bunte Welt der Schausteller Wiens, Wien 2016; Storch, Ursula: Im Reich der Illusionen: Der Wiener Prater, wie er war, Wien 2016. 8 Dewald, Christian/Schwarz, Werner Michael: »Kino des Übergangs. Zur Archäologie des frühen Kinos im Wiener Prater«, in: dies. (Hg.), Prater Kino Welt. Der Wiener Prater und die Geschichte des Kinos, Wien 2005, S. 11-85, hier S. 24 u. S. 75. 9 Moritz, Verena/Moser, Karin: »›Rotes Kino‹. Die Rezeption der ›Sowjetfilme‹ in Österreich«, in: Karin Moser/Verena Moritz/Hannes Leidinger u. a.: Gegenwelten: Aspekte der österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918-1938, Salzburg 2013, S. 283-306, hier S. 287. 10 Vgl. Scheugl, Hans: Show Freaks und Monster, Sammlung Felix Adanos, Köln 1974, S. 20; Ballhausen, Thomas/Krenn, Günter: »›Dem Schönen ein Heim‹. Physische Abnor-

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bietungen außergewöhnlicher und exotischer Körper, die seit dem 19. Jahrhundert dort zu sehen waren.11 Dazu gehörten neben Völkerschauen und einer eigenen »Liliputanerstadt« Ausstellungen von Riesen, siamesischen Zwillingen‚ ›dicken Damen‹, Skelett- und Haarmenschen. Regelrechte Berühmtheit erlangte die aufgrund ihrer außergewöhnlichen Körperbehaarung als »Affenfrau« vermarktete Julia Pastrana, die zwischen 1858-59 im unweit des Pratergeländes gelegenen Zirkus Renz als Tänzerin auftrat und nach ihrem Tod für lange Zeit als einbalsamierte Leiche in »Präuscher’s Panoptikum« im Prater ausgestellt wurde.12 Die Spektakelfunktion der ›Abnormitäten‹ steht in einer engen Verbindung mit wissenschaftlichen Diskursen der Medizin und Anthropologie und zunehmend auch der darwinschen Evolutionslehre. Wissenschaftler wie der Mediziner Rudolf Virchow arbeiten dem Schaustellergewerbe durch beglaubigende Gutachten zu und beziehen ihrerseits von den Schaustellern ihre Untersuchungsobjekte. 13 Die Freaks sind so Objekte der Wissenspopularisierung, an deren Phänomen Wissenschaft und Unterhaltungskultur zusammentreffen. Dabei beschränkt sich die Repräsentation der »Launen der Natur« nicht nur auf die Belehrung über menschliche Varietäten und Entwicklungsstufen, sondern entwickelt sich im Zuge der Entstehung eugenischer Bewegungen zunehmend auch zu einem biopolitischen Diskurs über menschliche Verbesserung. Gerade im Bereich des Zirkus werden diese biopolitischen Dimensionen bedeutsam. Erscheinen die Freaks hier zunächst im Kontext einer Ästhetik des Zirkus als Gegenfiguren zu den physische Perfektion, Schönheit und Erotik verkörpernden Akrobaten,14 so gerät dieser Gegensatz im Zuge einer sich entfaltenden Artistik der ›außergewöhnlichen Körper‹ in Auflösung. Wie ein Werbeprospekt des 1900 auch im Wiener Prater gastierenden Circus Barnum and Bailey verdeutlicht, kommt es zu einer Differenzierung unterschiedlicher Gruppen von Freaks. Die Ankündigung der »seltsamsten menschlichen Geschöpfe der Erde mit denselben Empfindungen und Leidenschaften wie andere Menschen«,15 ordnet drei Gruppen von Freaks unterschiedliche Präsentationsformen zu: »Während der Zeit Ihrer Ausstellung werden diese Leute abwechselnd vorgeführt und zwar in der Reihenfolge, in welcher sie auf dem Podium sitzen, bei welchen Gelegenheiten ihre Eigenthümlichkeiten und Darstellungen·von Vorlesern beschrieben werden. Ohne Rücksicht auf die-

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mitäten als Attraktionen zwischen Präsentation und Repräsentation«, in: Christian Dewald/Werner Michael Schwarz (Hg.), Prater Kino Welt, Wien 2005, S. 265-278. Zu historischen Abnormitätenschauen als Teil der »Sideshow« des Zirkus vgl. Bischoff, Ulrich: »Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei«, in: Jörn Merkert (Hg.), Zirkus, Circus, Cirque, Berlin 1978, S. 178-193. Vgl. Kaldy-Karo, Robert: »Miss Julia Pastrana. Ein Mensch als internationales Ausstellungsobjekt«, in: Birgit Peter/Robert Kaldy-Karo (Hg.), Artistenleben auf vergessenen Wegen: eine Spurensuche in Wien, Münster 2013, S. 199-214. Vgl. Nowak, Lars: Deformation und Transdifferenz. Freak Show, frühes Kino, Tod Browning, Berlin 2009, S. 133-135. Vgl. M. Christen: Der Zirkusfilm: Exotismus, Konformität, Transgression, S. 135. U. Bischoff: Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei, S. 185.

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se Reihenfolge gruppiren wir diese Personen in drei Klassen: Erstens die, welche NaturAbnormitäten darstellen; zweitens die, welche Kunststücke seltsamer Art ausführen, die ihnen nur wegen ihrer grossen Verschiedenheit von den gewöhnlichen Menschen möglich sind; und drittens die, welche nur aussergewöhnlich geschickte Vorstellungen zu geben vermögen und wegen ihrer Sonderbarkeiten sich für das Podium besser als für die Arena eignen.«16

Unterschieden wird also zwischen der statischen Präsentation der ›einfachen‹ Schauobjekte, und den ›bewegten‹ Darbietungsformen der Artisten.17 Zu der Gruppe der Artisten, die mit ihrem außergewöhnlichen Körper auch eine außergewöhnliche Begabung aufweisen, gehören Rumpfmenschen, wie der beinlose Junge in Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN. Im Inventar der AbnormitätenSchaustellerei bilden Rumpfmenschen das meist männliche ›echte‹ Pendant zur ›Dame ohne Unterleib‹. Während letztere in der Schaubude lediglich statuenartig ausgestellt wird – wobei es ein offenes Geheimnis ist, dass es sich hierbei um ein Phänomen visueller Trickkunst handelt –18 gehören die Rumpfmenschen zu den Artisten, denen eine eigene Bühnenshow gewidmet ist: Sie können durch Körperbeherrschung Kunststücke vollführen, die nicht nur die fehlenden Glieder kompensieren, sondern über ›normale‹ menschliche Fertigkeiten hinausgehen. Einer der berühmtesten Rumpfkünstler ist der im Wiener Prater residierende Nikolai Kobelkoff. Über ihn heißt es in Signor Saltarinos Kulturgeschichte Fahrend Volk: »Welch ein Tausendkünstler der Mann ist! Er schreibt, öffnet und schliesst Flaschen, giesst sich Wasser ein, isst mit Löffel und Gabel, fädelt Nähnadeln ein, geht, läuft und springt ohne Beine, öffnet Uhren, schiesst Pistolen los, und – malt –, malt ganz nette, hübsche Bildchen. Das Merkwürdigste dabei ist aber, dass man bei ihm nie das Gefühl hat, einen Krüppel vor sich zu sehen; er thut alles mit einer Leichtigkeit, Anmut, Zierlichkeit, welche uns jedes beklemmende Gefühl benehmen. Er ist gesund, heiter, liebenswürdig, immer lächelnd, hat die feinsten und besten Manieren – c’est un homme exquis, der Aller Herzen gewinnt. Es giebt Damen, welche ganz vernarrt in ihn sind!«19

Der aus Russland stammende Nikolai Kobelkoff wurde durch Tourneen in Europa und den USA berühmt. Ausgangspunkt seiner Karriere ist aber der Wiener Prater, wo er als junger Mann in den 1870er Jahren erste Auftritte hat und auch seine spätere Frau kennenlernt, mit der er eine Schausteller-Dynastie begründet, die bis in die

16 Ebd. 17 Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen »phenomene« und »artiste« auch Snigurowicz, Diana: »The Phénomène’s Dilemma: Teratology and the Policing of Human Anomalies in Nineteenth- and Early-Twentieth-Century Paris«, in: Shelley Tremain (Hg.), Foucault and the Government of Disability, Ann Arbor, Mich. 2005, S. 172-190. 18 Vgl. Salten, Felix: »Wurstelprater«, in: Siegfried Mattl/Klaus Müller-Richter/Werner Michael Schwarz (Hg.), Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne, Wien 2004, S. 5-123, hier S. 22. 19 Signor Saltarino [= Hermann-Waldemar Otto]: Fahrend Volk. Abnormitäten, Curiositäten und interesssante Vertreter der wandernden Künstlerwelt, Berlin 1978, S. VIII.

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1970er Jahre im Prater ansässig ist und diverse Fahrgeschäfte betreibt. 20 Kobelkoff ist eine Institution des Wiener Praters. Als er im Januar 1933 stirbt, erscheint in der Wiener Arbeiter-Zeitung ein umfassender Nachruf unter dem Titel Ein Patriarch ohnegleichen, in dem Kobelkoff als »einzigartiges Naturschauspiel«, vor allem aber als ›weltberühmter Artist‹ gewürdigt wird. Dabei zeichnet er sich durch seine Vitalität und Körperkraft aus: »[E]r ist ein Athlet. Man legt ihm ein Brett auf die Schulter, dessen andres Ende gestützt wird, und drei Männer können hinaufsteigen«. 21 Kobelkoffs Artistik wird als (Über-)Lebenskunst dargestellt: »[D]ie Handlungen die er brauchte, um mit dem täglichen Leben fertig zu werden, waren ja eine Kunst.«22 Der Nachruf auf Kobelkoff verdeutlicht, dass diese Überlebenskunst nicht zuletzt in der Selbstbehauptung als Künstler im Schaustellergewerbe besteht. Geschildert werden auch die Widerstände, denen Kobelkoffs Autonomieanspruch auf seinem Lebensweg ausgesetzt war. Seine Lebenskunst wird als notwendiges Standhalten gegenüber den Übergriffen der ›Normalgewachsenen‹ gedeutet, so z.B. als eine Gruppe Corpsstudenten, unter denen sich der spätere deutsche Kaiser Wilhelm II. befindet, dem erklärten Nichtraucher Kobelkoff eine Zigarre in den Mund stecken und ihn zum Rauchen zwingen.23 Die erfolgreiche Selbstbehauptung zeigt sich auch im Ankommen in einer bürgerlichen Normalität des »Patriarchen« und Familienvaters. Vor allem die Betonung der Vitalität und Gesundheit Kobelkoffs machen die biopolitische Dimension dieses Bildes des Körperkünstlers Kobelkoff erkennbar. Fester Bestandteil seiner schaustellerischen Präsentation ist die Vermittlung von Vererbungswissen, die Feststellung, dass er Kind ›normalgewachsener‹ Eltern sei und auch seine 14 Geschwister »gerade gewachsen« sowie seine eigenen Kinder »wohlgestaltet« sind. 24 Kobelkoffs unternehmerische Voraussicht zeigt sich vor allem in seinem Gespür für die ästhetischen und medialen Transformationen im Schaustellergewerbe und die Möglichkeiten, die sich für seine Körperkunst daraus ergeben. Seit den 1890er Jahren beschäftigt sich Kobelkoff mit dem Film. Während die ersten Kinofilmvorführungen die Schaubuden des Praters erobern, experimentiert Kobelkoff mit Filmaufnahmen seiner Vorführungen und geht mit seinem Etablissement Cinématographique auf Reisen durch mehrere europäische Länder.

20 Vgl. das Porträt der Schaustellerfamilie im Dokumentarfilm PRATER (D/A 2007, R: Ulrike Ottinger). 21 Ast. [= Alexander Stern], »Ein Patriarch ohnegleichen«, in: Arbeiter-Zeitung vom 25.01.1933, S. 6. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd. 24 Ebd. Vgl. zur Thematisierung von Genealogien von »Missbildungen« in der Repräsentation der »Anomalien« im Wiener Prater auch Baßler, Moritz: »›Einfache Anomalien‹: Zwerge und Riesen in Felix Saltens ›Wurstelprater‹«, in: Siegfried Mattl/Klaus MüllerRichter/Werner Michael Schwarz (Hg.), Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne, Wien 2004, S. 196-211.

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Der ca. einminütige Film KOBELKOFF aus dem Jahr 1900 gehört zu den ältesten erhaltenen Filmdokumenten des Praters.25 Zu sehen ist, wie Kobelkoff mit seinem Armstumpf einen Stift hält und schreibt, ein Glas zum Mund führt, wie er sich aus einer Karaffe Wein einschüttet, mit einem Löffel isst, mit einem Gewehr schießt und mit einem Pinsel auf einer Leinwand malt. Neben diesen mehr oder weniger alltäglichen praktischen Tätigkeiten bietet er aber auch eine Vorführung seines ›außergewöhnlichen Körpers‹ selbst, im Kräftemessen gegen einen Assistenten, der ihn vergeblich hochzuheben versucht, sowie als Höhepunkt in der Vorführung eines Tanzes. Er hüpft, lässt sich auf den Boden fallen, kullert mit seinem Körper und steht wieder auf. Schließlich verbeugt er sich in der Artistenpose mit Kusshand. Gerade die Tanzsequenz zeigt die Artistik des Rumpfmenschen als Mobilisierung des (scheinbar) immobilen, bein- und armlosen Körpers. Sie führt damit Kobelkoffs Autonomieanspruch unmittelbar vor. Zugleich zeigt sich, dass der Film das adäquate Medium für seine Kunst ist: Das bewegte Bild vermittelt die Mobilität des Rumpfkörpers. Mit Kobelkoffs Selbstpräsentation ist eine Verschiebung in der Schaustellung des Freaks verbunden, die auch die diskursive Konstruktion des ›anormalen Körpers‹ betrifft. Es geht nicht mehr um die Schaustellung eines spektakulären ›Fehlers‹ der Natur‹, einer ›Missbildung‹ im Sinne eines ›Stehenbleibens auf einer früheren, tierischen Entwicklungsstufe‹,26 sondern im Gegenteil um die Vorführung der perfektionierten Körperbeherrschung und Überwindung körperlicher Grenzen. Anders als in der traditionellen, die Freaks zu Objekten der Schaulust degradierenden Schau wird der Rumpfmensch Kobelkoff von keinem Impresario vorgeführt, die selbstständige Vorführung markiert den Anspruch Kobelkoffs auf künstlerische Subjektivität. Wie sehr diese Form der Artistik in einen biopolitischen Diskurs eingebunden ist, zeigt sich auch am Beispiel des armlosen Artisten Carl Hermann Unthan. Der Zirkuskünstler Unthan spielt mit den Füßen Geige, er kann schießen und schwimmen, zudem ist er Verfasser einer Autobiographie mit dem Titel Das Pediscript.27 In seinem Porträt Unthans beruft sich Signor Saltarino auf die wissenschaftliche Autorität Rudolf Virchows zur Einordnung der körperlichen Dispositionen und Geschicklichkeit: In wissenschaftlichen Kreisen erfreut sich Unthan grosser Beliebtheit; folgten doch der Einladung des Professors Virchow in Berlin etwa fünfhundert Ärzte und Naturforscher sowie andere Gelehrte, um die Fusskünste des seltenen Artisten in Augenschein zu nehmen. Prof. Virchow

25 Vgl. KOBELKOFF (F 1900, R: o. A.), vgl. dazu die Dokumentation in: Dewald, Christian/Schwarz, Werner Michael (Hg.), Der Wiener Prater im Film. Filmarchiv Austria. DVD, Wien 2005. 26 So die teratologische Bestimmung der »Missbildung« im 19. Jahrhundert, vgl. Helduser, Urte: Imaginationen des Monströsen. Wissen, Literatur und Poetik der »Missgeburt« 16001835, Göttingen 2016, hier S. 45. 27 Unthan, Carl Hermann: Das Pediscript, Stuttgart 1925. Auch Unthan wird vom neuen Medium Film entdeckt: 1913 spielt Unthan in dem auf einen Text von Gerhart Hauptmann zurückgehenden Stummfilm ATLANTIS (DK 1913, R: August Blum) einen Armlosen, 1914 spielte er in DER MANN OHNE ARM – EIN ARTISTENDRAMA (D 1914, R: Fritz Bernhardt).

228 | U RTE H ELDUSER wies bei seinen Untersuchungen Unthans auf die ungemeine Entwickelung der Zehen und deren Fähigkeit zur Spreizung und Beugung hin und betonte, dass hier keineswegs ein atavistischer Rückschlag auf ›Greiffuss‹ tierartiger Urformen des Menschen, sondern einfach eine durch unausgesetzten Gebrauch der Füsse erworbene Geschicklichkeit vorliege. Unterstützt wird dieselbe durch die ausserordentliche Drehungsfähigkeit des Oberschenkels im Hüftgelenk, die in so hohem Grade selbst bei den sogen. Schlangenmenschen noch nicht beobachtet worden ist.28

Unthans Körper stellt mithin keinen evolutionären Rückschritt dar, die Geschicklichkeit seiner Füße muss als Effekt seiner Selbstgestaltung betrachtet werden. Der »Artist, der in seinen Fertigkeiten manchen vollkommen normalen Kollegen in den Schatten stellt«29 wird damit zum Vorbild einer neuen artistischen ›Anthropotechnik‹.30 Unthan tritt besonders als Vorbild für die arm- oder beinlosen Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs auf, denen er Schulungen erteilt. 31 In der Attraktion der Artisten wie Unthan oder Kobelkoff verbindet sich somit die für die Zirkuskunst kennzeichnende Artistik der Überwindung körperlicher ›Normalitäts‹-Grenzen mit der Schaulust am abweichenden Körper. Dabei werden alltägliche bürgerliche Verrichtungen zur Virtuosität und die Artisten auf diese Weise zu (Über-)Lebenskünstlern, die dem Zirkus- und Varieté-Publikum die Möglichkeiten der Selbstgestaltung vor Augen führen. So stellt Rudolf Virchow schon 1891 über die Zirkusartisten mit ihren ›anormalen Körpern‹ fest: »Der Degenschlucker, der Hautmensch, l’homme Protée, die Handstand-Künstlerin [lassen…] erkennen, was auch der Kulturmensch an sich selbst durch Übung und Lokalisation seiner Fähigkeiten zu erringen vermag.«32 Die »Show Freaks«33 sind somit unmittelbar in einen biopolitischen Diskurs involviert, der mit den aufkommenden eugenischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einhergeht.34 Das gilt für die als exotische Atavismen ausgestellten, traditionellen Schaubuden-»Abnormitäten« ebenso wie für die als Protagonisten eines ›Human Enhancements‹ auftretenden Rumpfkünstler Unthan oder Kobelkoff.

28 Signor Saltarino [= H.-W. Otto]: Fahrend Volk. Abnormitäten, Curiositäten und interessante Vertreter der wandernden Künstlerwelt, S. 112. 29 Ebd. 30 Vgl. Sloterdijk, Peter: »Nur Krüppel werden überleben. Unthans Lektion«, in: ders.: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2011, S. 69-99. Kritisch zu Sloterdijks Perspektive auf Unthans »Aufruf zur asketischen […] Selbsterziehung« vgl. Harrasser, Karin: Prothesen: Figuren einer lädierten Moderne, Berlin 2016, S. 15. 31 Dabei wendet Unthan sich gegen die zeitgenössische Prothesenkunst. Vgl. Poore, Carol: Disability in Twentieth-Century German Culture, Ann Arbor, Mich. 2008, hier S. 15. 32 H. Scheugl: Show Freaks und Monster. 33 Ebd. 34 Vgl. exemplarisch für Wien Weindling, Paul: »A City regenerated: Eugenics, Race, and Welfare in Interwar Vienna«, in: Deborah Holmes/Lisa Silverman (Hg.), Interwar Vienna: Culture between Tradition and Modernity, Rochester/New York 2009, S. 81-113.

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II. Eine der spektakulärsten Rumpfkünstler des frühen 20. Jahrhunderts dürfte der aus Südamerika stammende und in den USA als „lebender Torso“ auftretende Prince Randian sein, der vor allem als Gestalt von Tod Brownings Hollywood-Zirkusspielfilm FREAKS (1932) bekannt geworden ist. Im Unterschied zu dem beinlosen Jungen in Eisensteins Film, dem armlosen Carl Unthan und auch dem zumindest über einen ‚Armstummel‘ verfügenden Kobelkoff fehlen Randian jegliche Extremitäten. Berühmt geworden ist Randian vor allem mit einer Szene aus FREAKS, in der er sich selbständig mit dem Mund eine Zigarette anzündet und diese raucht. Die darin zum Ausdruck kommende Differenz zum Nichtraucher Kobelkoff mag die unterschiedlichen Inszenierungsformen der ›anormalen Körper‹ verdeutlichen: Repräsentieren Kobelkoff wie Unthan Körperbeherrschung und Disziplin und können beide gerade dadurch zu Vorbildern ›menschlicher Verbesserung‹ werden, so verfügen die Freaks in Brownings Spielfilm über hedonistisch-triebhafte und sexualisierte Körper und verweisen darin ihre ›normalen‹ Betrachter auf die Gemeinsamkeit mit ihnen. Der als Horrorfilm in die Filmgeschichte eingegangene Film hatte schon bei seinem Erscheinen in den USA 1932 für heftige Reaktionen gesorgt und war nach kurzer Zeit mit einem Bann belegt worden.35 Ab dem Herbst 1932 läuft er auch in verschiedenen europäischen Ländern an (Frankreich, Großbritannien), nicht jedoch in Deutschland. Im März 1933, kurz nach dem Tod des Praterpatriarchen Kobelkoff und der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland, in deren Folge es dort zum Verbot der ›Abnormitätenschauen‹ kommt, 36 hat der Film mit dem deutschen Untertitel DIE GEZEICHNETEN in Wien österreichische Premiere. 37

35 Einen speziellen Bezug zu Österreich weist der Film mit seinen beiden mit den deutschen Namen Hans und Frieda ausgestatteten Kleinwüchsigen auf, Browning dient das im Hinblick auf sein US-amerikanisches Publikum offensichtlich als Mittel der Exotisierung: »Browning [erzählt], daß die meisten Liliputaner aus den Karpathen stammen, wo die herrschenden klimatischen Umstände die endokrinen Drüsen des Körpers so beeinflussen, daß das Wachstum verändert werde. ›In Österreich bevölkern sie ganze Dörfer, wo sie alles Mögliche treiben.‹« Ochsner, Beate: DeMONSTRAtion: Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, Heidelberg 2010, S. 278; vgl. auch Stevenson, Jack: Tod Brownings Freaks. Aus dem Amerikanischen und mit einem Essay von Hans Schmid, München 1997, S. 38. Bei den Darstellern handelt es sich um das aus dem sächsischen Stolpen 1915 in die USA eingewanderte und dort als Schausteller tätige Geschwisterpaar Harry und Daisy Earles. 36 Vgl. C. Poore: Disability in Twentieth-Century German Culture, S. 96f. 37 Die österreichische Uraufführung FREAKS. DIE GEZEICHNETEN fand am 24.3.1933 statt. Gezeigt wurde der Film nicht in den Praterkinos, sondern im »Lux-Ton-Palast« und im »Kreuz-Kino«. Beworben wird er hier auch mit dem auf Friedrich Murnaus NOSFERATU (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau) zurückgehenden Untertitel: »Eine Symphonie des Grauens«, in Kinoanzeigen wird er außerdem als »der interessanteste Film des Jahres […] mit den seltsamsten Abnormitäten der ganzen Welt« angekündigt. Die Annoncen weisen darauf hin, dass »Der Besuch dieses […] Films, der an die Nerven der Zuschauer die höchsten Anforderungen stellt, […] nur gegen Revers möglich« ist. (vgl. die Anzeigen in

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Die Provokation von FREAKS38 besteht darin, dass Browning eine ganze Gruppe ›echter‹ Show Freaks vor die Kamera bringt und zu Hauptdarstellern macht. 39 Die Figuren bilden das typische Personal einer Abnormitätenschau, neben mehreren Rumpfmenschen treten Kleinwüchsige, siamesische Zwillinge, ein Hermaphrodit, ein menschliches Skelett, eine bärtige und eine armlose Frau sowie zwei »Stecknadelkopf«-Mädchen auf. Auch die Wiener Filmkritik sieht darin eine Strategie des als Regisseur von erfolgreichen Horrorfilmen wie DRACULA in Erscheinung getretenen Browning, das überkommene Jahrmarktsspektakel der Abnormitätenkabinette für den Film zu nutzen. Einen Werbeeffekt erkennt man darin, dass die Zuschauer einen »Revers« unterzeichnen müssen, mit dem sie nachweisen, dass sie über das Gezeigte vorab aufgeklärt wurden und den Film freiwillig anschauen. 40 Auch die Horrorszenerie des Films referiert auf die wissenspopularisierende Präsentationsform der ›Abnormitätenschau‹. In einem Vorspanntext, der der Rhetorik der Schaubudenausrufer entspricht, werden die gezeigten Freaks zu Relikten der Vergangenheit erklärt, die perspektivisch durch den medizinischen Fortschritt von ihrem tragischen Schicksal des ›Ungewolltseins‹ befreit werden – wenn auch um den Preis ihrer ›Abschaffung‹: Never again will such a story be filmed, as modern science and teratology is rapidly eliminating such blunders of nature from the world. With humility for the many injustices done to such

der Illustrierten Mein Film 378 (1933), S. II, VII u. S. 15, darin auch ein Bericht über einen Studiobesuch bei den Dreharbeiten zu FREAKS von Ben G. Williams, in: Hollywood, S. 15 sowie eine Besprechung auf S. 12.) In der Neuen Freien Presse bewerben die Kinoanzeigen den Film als »Tagesgespräch von Wien«: Neue Freie Presse vom 01.04.1933, S. 18. Zur Aufnahme des Films in Wien vgl. auch Th. Ballhausen/ G. Krenn: »›Dem Schönen ein Heim‹«, S. 269. 38 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Brittnacher in diesem Band. 39 Exemplarisch für die umfangreiche Forschungsliteratur zu Brownings Film: Fiedler, Leslie: Freaks: Myths and images of the secret self, New York 1978, hier S. 288-299; Hawkins, Joan: »›One of us‹ Tod Browningʼs ›Freaks‹«, in: Rosemarie Garland Thomson (Hg.), Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, New York/London 1996, S. 265-276; Nowak, Lars: Deformation und Transdifferenz. Freak Show, frühes Kino, Tod Browning, Berlin 2011; Günter Helmes: »Spielfilm, Behinderung, Behinderte. Beobachtungen zu einem frühen Klassiker des Genres ›Behindertenfilm‹ und dessen historischen und zeitgenössischen Kontexten. Das Lehrstück ›Freaks‹ (1932) von Tod Browning«, in: Julia Ricart Brede/Günter Helmes (Hg.), Vielfalt und Diversität in Film und Fernsehen, Münster 2017, S. 19-62. 40 »Die Wiener Kinos lassen jeden Besucher an der Kasse einen Revers unterschreiben; man muß versprechen, sich nachher nicht darüber zu beklagen, daß in dem Film hauptsächlich Mißgeburten auftreten. Diese Vorsicht ist natürlich nur ein Reklametrick; aber er scheint zu wirken, das Kino ist bummvoll. Ob der Film wirklich menschliches Mitleid mit den ‚Gezeichneten‹ weckt? Ich glaube es nicht; aber die alte Schaubudenmethode bewährt sich: Grauen wird Geld.« (R., F. [= Fritz Rosenfeld]: »Das Kino als Abnormitätenkabinett«, in: Arbeiter-Zeitung vom 26.03.1933, S. 11)

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people, (they have no power to control their lot) we present the most startling horror story of the Abnormal and the Unwanted.41

Wird mit diesem, die Freakshow-Präsentation zitierenden Prolog zunächst eine zeitgenössische eugenische Phantasie aufgerufen,42 so mündet die Handlung in eine ganze andere biopolitische Perspektive.43 Schauplatz des Geschehens ist ein Wanderzirkus. Der Kleinwüchsige Hans verliebt sich in die schöne Trapezkünstlerin Cleo(patra), die eigentlich ein Verhältnis mit Hercules, dem ›starken Mann‹ des Zirkus hat. Als Cleo erfährt, dass Hans eine reiche Erbschaft gemacht hat, beschließt sie, Hans zu heiraten, um ihn dann umzubringen und zu beerben. Tatsächlich kommt es zur Hochzeit, und Cleo versucht nun ihren Ehemann Hans zu vergiften. Allerdings durchschaut Hans das Vorhaben und schmiedet gemeinsam mit seinen Freakkollegen einen Racheplan. Während der Fahrt des Zirkus in einer stürmischen Regennacht überfallen die Freaks Cleo in ihrem Wagen. Dabei, so eine Besprechung im Wiener Kleinen Blatt, »verwandel[n sich] die harmlosen Zirkusartisten mit einem mal in unheimliche, gruselige Geschöpfe. Sie umlauern das böse Paar auf Schritt und Tritt, umstellen es, und in einem nächtlichen Kampf wird der Mann von ihnen getötet, das böse Weib aber so furchtbar verstümmelt, daß sie von nun an als greuliches Monstrum der Abnormitätenschau gehalten wird.«44

Die einst als »Pfau der Lüfte« bezeichnete Cleo ist zum Schluss zu einem grotesken Mischwesen mit entstelltem Gesicht und Riesen-Hühnerkörper geworden. Als einzigen Laut gibt sie ein Quaken von sich. Der Szenenaufbau des Films folgt in gewisser Weise dem Besuch einer Sideshow: Während das Innere des Zirkuszelts und die Manege fast nicht ins Bild kommen, bildet der Bereich hinter dem Zelt mit den Zirkuswagen, in denen die Künstler untergebracht sind, den Hauptschauplatz. Damit knüpft der Film zunächst an die herkömmliche Schaustellungslogik und nutzt die Showeffekte der ›Abnormitäten‹. Auch hier zeigt sich die Artistik der Freaks in Alltagshandlung, allerdings steht sie hier nicht mehr wie in Kobelkoffs (Film-)Bühne in einem performativen Rahmen der Vorführung als Kunststück, sondern die Kamera scheint die Freaks in ihrem tatsächlichen Alltag zu beobachten,45 der Zwergin Frieda schaut man beim Wäsche aufhängen oder dem Mädchen ohne Arme beim Essen und Trinken mit den Füßen zu. Haben diese Szenen normalisierende Effekte, so gehen sie auch mit Situationskomik einher, z.B. wenn der Verlobte des siamesischen Zwillingsmädchens auf Zweisam-

41 FREAKS (US 1932, R: Tod Browning). 42 Vgl. auch Smith, Angela M.: »Enfreaking the Classic Horror Genre. Freaks«, in: dies., Hideous Progeny: Disability, Eugenics, and Classic Horror Cinema, New York 2011, S. 83-118. 43 Zum Verhältnis von »Monstrationsprinzip« und »Erzählkino« in Brownings Film vgl. B. Ochsner: DeMONSTRAtion, S. 283. 44 J.H. [= Johann Hirsch]: »Mißgeburten im Film. ›Freaks‹ (›Die Gezeichneten‹)«, in: Das kleine Blatt vom 26.03.1933, S. 16. 45 Vgl. M. Christen: Der Zirkusfilm: Exotismus, Konformität, Transgression, S. 140.

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keit mit seiner Braut pocht. Zur menschlichen Normalität der Freaks gehört auch ihre Reproduktion, als besonderes Ereignis im Zirkusalltag feiern die Freaks die Geburt eines Kindes durch die ›bärtige Dame‹. Immer wieder werden die unterschiedlichen Bewegungsformen der außergewöhnlichen Körper inszeniert, etwa der ›Gleichschritt‹ der siamesischen Zwillinge oder die eckigen Bewegungen des ›Skelettmenschen‹. Zudem tritt neben Prince Randian noch ein weiterer Rumpfkünstler in Erscheinung, der als »Junge ohne Unterleib« bekannte Schausteller Johnny Eck, der wie der Rumpfmensch in Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN auf den Armen läuft und dabei scheinbar ebenso mühelos und in großer Geschwindigkeit Treppen überwindet. Die verschiedenen Mobilitäten der Freaks werden vor allem in der Szene des Überfalls eindrucksvoll genutzt, wenn die Freaks sich durch den Schlamm robbend auf den Wagen Cleos zubewegen. Spätestens hier erweist sich ihre vermeintliche disability als ability: Hercules wird von dem kleinwüchsigen Messerwerfer verletzt und kann sich nun nur noch robbend fortbewegen, wobei er natürlich den darin geübten Rumpfmenschen unterlegen ist. Der Horroreffekt dieser Szene beruht auf der Enthüllung der (animalischen) Grausamkeit der zuvor harmlos erscheinenden Freaks. Auf der visuellen Ebene entspricht diese Enthüllung dem Umschlag von einer individuellen Repräsentation zur Inszenierung einer »amorphen Masse«46 der im Schlamm und Regen kriechenden, animalisch-triebhaft anmutenden und sich so scheinbar unaufhaltsam auf die Kamera und damit die Zuschauenden zubewegenden Freakkörper. Mit der Verschmelzung der einzelnen Körper in eine Masse drohen auch die Grenzen von Normalität und Abweichung in Auflösung zu geraten. Diese Bedrohung wird in einer vorangehenden Szene, dem Hochzeitsfest, explizit.47 Auch hierbei handelt es sich um eine Masseninszenierung, die allerdings zunächst weniger dem Horrorsetting entspricht, als vielmehr karnevalistische Züge trägt. Das um die Festtafel versammelte Zirkuspersonal feiert, dass Cleo durch ihre Hochzeit mit dem Zwerg Hans nun zu »one of us« gemacht werde. Cleos Verweigerung gegenüber dieser Integration in die Gruppe und dem damit verbundenen Ritual des Trinkens aus einem gemeinsamen Becher sowie schließlich ihre Verhöhnung der Freaks bedeutet den Umschlag in die Konfrontation und führt dann zum Racheplan der Freaks. Nachdem Cleo sich dem Gemeinschaftsangebot verweigert hat, wird sie mit Gewalt zu einem Freak gemacht. Allerdings gilt es hier genauer zu unterscheiden: Cleo wird nicht einfach zum Freak. Ihr wird darüber hinaus auch etwas genommen, das die ›natürlichen‹ Freaks besitzen, nämlich die Artistik. Die Monstrosifizierung Cleos impliziert vor allem ihre Stillstellung als Zirkuskünstlerin. In ihrer neuen Gestalt ist Cleo nicht nur hässlich, sondern vor allem bewegungslos, d.h. jeder artistischen Möglichkeit beraubt. Aus der Trapezkünstlerin ist ein groteskes gurrendes Vogelwesen geworden. Der Film inszeniert das auch mit den unterschiedlichen Präsentationsformen des Zirkus: Ist Cleo in diesem Film die einzige in der Manege bzw. der Zirkuskuppel spielende Szene ge-

46 Tervooren, Anja: »Freak-Shows und Körperinszenierungen. Kulturelle Konstruktionen von Behinderung«, in: Behindertenpädagogik 41 (2002), S. 173-184, hier A. Tervooren: FreakShows und Körperinszenierungen, S. 179. 47 Vgl. J. Hawkins: One of us.

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widmet, in der sie in den ersten Minuten des Films in einer kurzen Einstellung als Trapezkünstlerin zu sehen ist, so endet der Film mit der entgegengesetzten Präsentationsform: Als Freak ist Cleo nun nicht mehr in der Manege, sondern in einer Sideshow zu sehen, versteckt hinter einem Paravent. Damit wird auch die biopolitische Aussage des Vorspanns vom Verschwinden der Freaks durch medizinischen Fortschritt unterlaufen: An die Stelle der natürlichen Reproduktion der Normalen tritt die Schaffung eines Hybridwesens. Im Gegenzug wird der ›normale‹, bzw. der geradezu das eugenische Ideal von Gesundheit und Stärke repräsentierende Körper Hercules’ seiner Fortpflanzungsfähigkeit beraubt: In der zensierten Schlussszene tritt Hercules als von den Freaks ‚kastrierter‘ Sänger mit Sopranstimme auf.

III. Anders als Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN wird Brownings FREAKS zwar in mehreren Wiener Kinos, nicht jedoch in denen des Praters vorgeführt. Dies mag auch an einer zu großen Nähe des Settings des Films zu den Attraktionen des Praters liegen. Auf diese Nähe verweist Ulrike Ottinger in ihrem 2007 erschienen Dokumentarfilm Prater, in dem sie Szenen aus FREAKS mit Film- und Fotodokumenten aus dem Wiener Prater des frühen 20. Jahrhunderts überblendet und den Prater gleichzeitig als Ort der frühen Kinokultur darstellt. Beide Spielfilme, FREAKS ebenso wie PANZERKREUZER POTEMKIN, verweisen auf diese Transformationen innerhalb der Populärkultur von der Attraktion der Freakshow zu der des Kinos.48 Bei allen ästhetischen Differenzen zwischen Browings FREAKS und Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN liegt eine Gemeinsamkeit der beiden Filme auch in der Inszenierung von Massen und Freak-Artistik. Beide nutzen die Schaulust am anderen Körper und seine außergewöhnlichen Bewegungsformen als dynamisierende und emotionalisierende Attraktions-Elemente. Eisensteins »beinloser Krüppel«49 dient der emotionalen Stimulierung der Zuschauenden, er ist Teil einer nicht in Normalität und Anormalität zu differenzierenden Menschenmenge, er erscheint »[p]lötzlich [...] mitten unter ihnen«, wie Oskar Maurus Fontana in seiner Besprechung des Films in der Wiener Arbeiter-Zeitung bemerkt.50 Diese Integration bei gleichzeitiger Hervorhebung unterscheidet Eisensteins Szene von den Freak-Darbietungen der Schaubude, aber auch von Brownings Film. Wo Brownings Freaks die ›Normalen‹ zu »one of us« machen, wird in Eisensteins Treppenszene der Rumpfmensch Teil der Menge kranker, leidender und imperfekter Kör-

48 Für die Bedeutung der Praterkultur für die Entwicklung des Kinos vom »Attraktionskino« zum »Erzählkino«, vgl. Dewald, Christian/Schwarz, Werner Michael: »Kino des Übergangs. Zur Archäologie des frühen Kinos im Wiener Prater«. Für eine genaue Situierung von Brownings Freaks in dieser Entwicklung vgl. B. Ochsner: DeMONSTRAtion, S. 249286. 49 Fontana, Oskar Maurus: »Panzerkreuzer Potemkin«, in: Arbeiter-Zeitung vom 22.05.1926, S. 7. 50 Ebd.

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per. Gerade diese Ambivalenz repräsentiert die Figur mit ihrem versehrten Körper, der an eine angeborene Behinderung ebenso denken lässt wie an eine (Kriegs-)Verletzung, dazu passt der strahlende, scheinbar von jeder Bedrohung unberührte kindlich-fröhliche Gesichtsausdruck. Der beinlose Akrobat in PANZERKREUZER POTEMKIN ist nur einer von zahlreichen Darstellern mit ›anormalen‹ Körpern in den Filmen Eisensteins. Auch in dem 1925 erschienenen Film STREIK tauchen clowneske Figuren mit einer ungewöhnlichen Akrobatik auf,51 darunter kleinwüchsige-Varietétänzer, die auf einem Tisch tanzen.52 Auf diese Weise werden Elemente des Zirkus und der Kleinkunst von der Manege in den Alltag einer gesellschaftlichen Wirklichkeit überführt.53 Diese Motivebene ist auch mit einem filmischen Verfahren verknüpft. Eisenstein hat sein Prinzip der »Attraktionsmontage« programmatisch auf die Ästhetik des Zirkus bezogen: »Die Attraktion hat nichts mit einem Kunststück oder Trick zu tun. Ein Trick (es wird Zeit, diesem falsch verwendeten Terminus seinen ihm zukommenden Platz zuzuweisen), eine vollendete Leistung innerhalb einer bestimmten Meisterschaft (hauptsächlich der Akrobatik), ist nur eine von vielen Formen der Attraktionen in ihrer entsprechenden Darbietungsweise (oder im Zirkusjargon – der bestimmten Art ›sie zu verkaufen‹)«.54

Während der »Trick« etwas »Absolutes und in sich Vollendetes« bezeichne, beruhe die Attraktion auf »etwas Relativem«. Eisenstein meint damit zunächst die »Reaktion des Zuschauers«,55 ihm geht es um eine Form der Emotionalisierung, die auch der Agitation dienen soll.56 Darüber hinaus lässt sich diese Relationalität auch im Sinne der Einbettung des Artistischen in einen filmischen Handlungskontext verstehen. Mag Eisensteins Klassiker für die Emanzipation des Kinos von seinen Ursprüngen der Schaubude zur Avantgarde-Filmkunst stehen, so verweist der Film mit der artistischen Einlage des Rumpfkünstlers selbst auf diese Geschichte.

51 UdSSR 1925, R: Sergei Michailowitsch Eisenstein. Vgl. dazu OʼMahony, Mike: Eisenstein, London 2008, S. 65. 52 Vgl. D. Bordwell: The Cinema of Eisenstein, S. 52. 53 Dem Rezensenten der Wiener Arbeiter-Zeitung fällt auf, dass die »Kampfszenen auf dem Schiff […] sehr viele merkwürdige, jedoch spannende Akrobatenkünste zeigen«. (o.V.: »Ein revolutionärer Film. Zur Vorführung des »Potemkin«-Films in Wien«, in: ArbeiterZeitung vom 03.06.1926, S. 7). 54 S. M. Eisenstein: Montage der Attraktionen, S. 62. 55 Ebd., S. 61. 56 Für die Treppenszenen von PANZERKREUZER POTEMKIN nutzt Eisenstein zudem einen Akrobaten als Kameramann, der mit einer am Körper festgebundenen Kamera einen Salto vollführte, um so die Perspektive einer kopfüber fallenden Figur einzufangen. Vgl. M. Fabe: The Art of Montage, S. 25.

A Pie in the Face Approaching Clown Politics A NTE U RSIĆ

It is not an easy task to fully circumscribe the clown as a circus and performance figure. Although the predominant associations with clowns are of a simple-minded, foolish, silly, incompetent, childlike, naive and vulgarly base-driven character, the clown figure is actually a complex phenomenon with a rich history, many influences, meanings and functions depending on the historical, social and cultural context in which it is performed. Thus, in an effort to avoid the oversimplification and generalisation that would be necessary to study the entire arc of clown figures, in this essay I will focus on the most common one of Western cultures: the red-nosed clown figure, also known as August. I find that Bataille’s notion of formlessness and Kristeva’s concept of abjection intriguingly relate to and describe aspects of the August. Further, drawing on Rancière’s ideas about politics, I will disclose how the qualities of formlessness and abjection exemplified by the August clown can be employed by activists to express discontent with political and cultural authorities by throwing a pie into the face of the opponent, also referred to as pie-ing. It is difficult to trace the birth of the August clowns as more legends than facts persist about their first appearance on the circus stage, and their ancestral line reaches back to the court fools and jesters. Scholars such as John H. Towsen, Paul Bouissac and Jon Davison agree that the August figure emerged as a clown type during the end of the 19th century in the European circus setting. That said, it is important to note that the August clown is not a homogeneous figure. Many variants of August exist, because each performer has the artistic task to develop a unique version of the August. While the August clown is historical, scholarship on clowns and clowning has so far engaged in finding an ahistorical clown essence. Bouissac argues that the August gives testimony to the »resilience of ritualistic transgressive behavior in centuries of popular culture in Europe«.1 Similarly to Bouissac, Towsen suggests that Western clown culture shows traces of antecedent clown-societies. For Towsen, existing ceremonial clowns who are an intrinsic part of Native American rituals (such as in the Hopi Nation) serve to prove his point. Unfortunately, he reiterates a pro-

1

Bouissac, Paul: The Semiotics of Clowns and Clowning: Rituals and Transgression and the Theory of Laughter, London 2015, p. 142.

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gress-driven account of history from primitive to civilised. Both Bouissac and Towsen suggest that today’s clowns are secularised residues of our primitive past. 2 For both, the medieval, renaissance and modern clowns are hence successors of this »primitive« ritual clown, and even though they have developed from ceremonial to stage clowns, their transgressions still hold a social importance.3 Like Towsen, Davison gives an account of different historical clown types (such as the Shakespearean clown, the Elizabethan clown, different Pierrot and Harlequin types and acrobatic mimes). Davison, offering a somewhat more historiographical approach, argues that it is short sighted to think that any new clown type is an improvement on its antecedent. Rather, he proposes that »clowns occur in different moments in different societies, being shaped by those moments and societies«.4 While serving as an essential resource and providing many insights on different clown types, Davison’s book Clown does little to explain the complex historical conditions under which the August clown emerged as a prevailing performance figure. Davison merely follows French clown historian Tristian Rémy and stipulates that a more liberal-minded Third French Republic served as a breeding ground for this new emerging clown type. 5 While little serious historiographical work on the August clown has been done, legends of August’s origin are manifold. One particularly popular story describes a drunken fellow (hence the red nose) named August, who was so enthralled by the stunts of the equestrians in a circus ring in Berlin that he joined the spectacle. He attempted to ascend the horse; whereupon he fell, tripped, tried again, confused the front and rear of the horse, and so forth. The acrobats and audience were so amused by the foolish August that they just let him carry on. The legend goes that August’s scene was so beguiling that his spontaneous performance was adapted and developed into a recurring circus routine.6 Other accounts of August are similar, although some refer to a man named Tom Belling as the original August. 7 Davison argues that Belling’s performance was not accidental but planned. His drunken, inadequate appearance was meticulously rehearsed and, due to its success, recreated and duplicated by other August performers.8 Furthermore, Davison is suspicious of the fact that Belling invented the August clown. He suggests that Belling was most likely not the first to perform as a comic plant (a performer in disguise as an audience member). Instead, Belling had the privilege to be the first documented August clown. 9 Still, a common theme throughout the various speculations of August’s origin is the reference to a socially underprivileged figure that, in a drunken, intoxicated state unabashedly revealed his incompetence in front of an audience.

2 3 4 5 6 7 8 9

Towsen, John H.: Clowns, New York 1976, pp. 15-16; P. Bouissac: The Semiotics of Clowns and Clowning, p. 176. Cf. J.H. Towsen: Clowns, p. 15; P. Bouissac: The Semiotics of Clowns and Clowning, p. 180. Davison, Jon: Clown: Readings in Theater Practice, Basingstoke 2013, p. 19. Ibid., p. 68-69. Koller, Thomas: Die Schauspielpädagogik Jacques Lecoqs, Frankfurt a.M. 1993, p. 135. J. Davison: Clown, p. 66. Ibid., p. 68. Ibid., p. 68.

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As the August developed, so did the role of the white clown also known as whiteface. A whiteface or white clown serves as the talented and skilled counterpart to August, a »brotherly enemy«. 10 Davison describes the relationship between these two clown figures: »As well as being a parody of the ringmaster, the auguste is also one of us, one of the new circus audience, the masses. ›Next to him, the white-faced clown seems like an aristocrat‹«.11 The aristocratic quality of the white clown is underscored with a neat, tidy, often sequined and properly fitting costume, use of lofty language, and principled, righteous behaviour and mannerisms. Although developed around 1880, this duo still prevails nearly untransformed in the traditional circus arena as well as in modified versions across other realms, always maintaining the primary trait of status difference between the two contrasting characters. The antagonistic relationship between these two clown types has been taken up especially by film. Laurel and Hardy are a prime example of a typical August-white clown relationship. This said, more modern comedies such as the very successful mockumentary THE OFFICE (aired on NBC from 2005 to 2013) work through an elaborate antagonistic relationship between the different characters, which could easily be scrutinised as clown-types. On the other hand, the August character and its variations – such as the tramp character of North America – represent marginalised character positions. August’s marginalisation is accentuated in a similar fashion to the white clown’s aristocracy: through costume choice. Albert Fratellini (1860-1961), regarded as the inventor of a more grotesque version of the August (the so-called counter-August), describes how he bought his costume from an overtly-impoverished person in a pub in London: »The man who spoke to me had bare feet in enormous shoes, full of holes where his toe stuck out. His trousers, too big for him, slumped down over his shoes. These trousers swung down around his waist.« 12 Tramp clown Charlie Chaplin describes that he went to the wardrobe of the production studio to get »baggy pants, big shoes, a cane and a derby hat. I wanted everything in contradiction: the pants baggy, the coat tight, the hat small and the shoes large.« 13 I am not so much interested in the truth-value of these accounts about how these famous clowns acquired their costumes. I am intrigued by the fact that the mismatched, and improvised composition of oddly fitting clothing alludes directly to the social status of the clown character. Furthermore, this marginalised status is indicated in the origins of the word clown. While the Latin word colonus means a farmer or peasant and refers more to social status, the Scandinavian word klunn refers more to behavioural qualities – a clumsy, boorish fellow or a foolish person.14 However, the Oxford Dictionary favours the Scandinavian over the Latin origin. Rather than an »either... or« I like to think of an »and«; I propose that the term clown is compromised by both lineages. Thus, in the title of clown, a particular quality of behaviour and social status are intrinsically evoked which is often enhanced through make-up and costume choice.

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CLOWNS (I 1970, R: Federico Fellini). J. Davison: Clown, p. 70. Fratellini quoted in J. Davison: Clown, p. 96. Charlie Chaplin quoted in J. Davison: Clown, p. 95. OED 2000, https://www.oed.com [25.07.19].

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Consider the unusually large shoes of an August clown as reminiscent of what Bataille describes as the »most human part of the human body«: 15 the big toe and, by extension, the foot. Bataille argues that the human big toe and foot are no longer employed to climb trees, as is the case with other primates. The foot now serves to ground humans onto the earth allowing us to stand erect. He suggests that while other primates are tree-dwellers, humans have become somewhat tree-like thanks to the big toe and foot that bind us to the ground. These body parts are likened to the roots of a tree, which dig into and are exposed to the earth; they are the foundation for human’s erectness. However, while humans are proud of their erectness, they curiously disavow the very body part, which facilitates their upright gait. The base is, so to speak, base. The big toe and foot are associated with filth, dirt and ugliness. While, for Bataille, humans see themselves as pinnacles of evolution, feet and big toes prevent the human from soaring too high because they elicit an »ignominy explicable by the mud in which feet are found«.16 In contrast to the foot, which represents baseness, the head stands for virtue, morality and reasoning. For Bataille, there is a counter-movement intrinsic to the human condition: our head reaches toward the sky, toward »light«, or a perfectly pure »heaven«, while our foot is rooted in »mud and darkness«.17 According to Bataille, the opposition between foot and head resembles the division of the universe into that which moves upwards and that which moves downwards. In a Western worldview, the division is additionally marked by a moral judgement. That which moves upwards is associated with good (the higher order) and that which tends to move downward is bad (the lower order). This tension elicits anger and wrath towards the parts seen as ignoble. Bataille states: »Human life entails, in fact, the rage of seeing oneself as a back and forth movement from the refuse to the ideal, and from the ideal to the refuse – a rage that is easily directed against an organ as base as the foot.« 18 Further, Bataille argues that feet and toes are antithetic to their counterpart hands and fingers; fingers signify »useful action and firm character«, while toes signify »the stupor and base idiocy«. 19 I found that Bataille’s musing on the socio-cultural status of the foot and the big toe strongly reverberates with the August clown and its standing as a performance figure. Stupor and base idiocy seem to quintessentially describe the August. Moreover, analogous with Bataille’s comprehension of feet, August’s unwieldy big shoes confirm the particular place in which they dwell: dirt and (saw)dust. If the foot is an uncomfortable reminder of humans’ closeness to a base materiality of life (which, for Bataille, is ultimately connected to death) from which humans try to distance themselves, then August’s oversized shoes might be considered as a sort of anchor which counters human hubris. Following Bataille, the August clown serves as a figure that reminds us of a shared fragility, vulnerability and fugacity.

15 Bataille, Georges: Visions of Excess: Selected Writings, 1927-1939, Minneapolis 1985, p. 20. 16 Ibid., p. 22. 17 Ibid., p. 20. 18 Ibid., p. 20-21. 19 Ibid., p. 21.

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In contrast to the August, the white clown usually wears nice, tightly-fitting shoes or slippers that seem to melt into their costume, and a cone-shaped hat which is often white, acting as an extension of the head. It is also worth noting that white clowns often play virtuous wind instruments, such as saxophone, clarinet and cross flute. In keeping with Bataille’s distinction between toes and fingers, it is salient to note that the white clown – who occupies a character position of stature, authority, knowledge and law – accentuates these qualities via the dexterous utilisation of hands and fingers. It comes as little surprise that in a classical clown entree, the white clown’s coordinated movements are often juxtaposed with the maladroit being of the August. I suggest that Augusts, with their big feet and crude movements are, at least symbolically, close to the mud, the dirt, the filth. Their big shoes oblige them to walk in a clumsy fashion; each time they lift a leg, their shoe seems to stick to the floor. But rather than being ashamed or leading a sort of vendetta against the lower order, August clowns tend to embrace their position. Indeed, as I will show later, August’s positionality as a creature of the mud generates a particularly performative force. 20 As a performance figure the August clown is the »refuse of the ideal«, by refuting Enlightenmentʼs prioritisation of reason which has produced a hierarchical division between orders and beings.21 Nothing seems to be enlightened about the August. Indeed, the refusal of enlightenment ideals is the quality that engenders an on-going fascination for the August clown. Further, caution is in order when it comes to romanticising the clown as employing a higher mode of humanness, as Lecoq suggests. According to him the clown reveals »the person underneath, stripped bare for all to see«.22 I propose that August entertains a mode of play in a zone that is somewhat expelled, or abjected from what is regarded to be the higher-order of things. Augusts are outside of ordinary rules of conduct, utility of language and codes of expression. Although contemporary August clowns might not readily evoke a reading of homelessness, poverty or social rejection (as their ancestors did), I suggest that qualities of the reject, abject, and filth are ever stuck on the soles of their shoes. August inherently dwells on margins and, likewise, in a condition of formlessness. It is worthwhile to quote Bataille in full here: »A dictionary begins when it no longer gives the meaning of words, but their task. Thus formless is not only an adjective having a given meaning, but a term that serves to bring things down in the world, generally requiring that each thing have its form. What it designates has no right in any sense and gets itself squashed everywhere, like a spider or an earthworm. In fact,

20 The reference to Donna J. Haraway is intended here. She writes: »I am creature of the mud, not the sky« (When Species Meet, Minnesota 2008, p. 2). 21 I connect Bataille’s critique of an »ideal« to a critique on human exceptionalism which is informed by a notion of subjectivity embraced and cultivated by the Enlightenment. Here, reason and intellect are held in highest regards and serve to establish not only a human divide but also a hierarchy within the human itself, coded by factors such as race, gender, sex and ability. This vision of humanity focuses on a self-contained individual that is the sole author/agent of individual fate/fortune. The over-emphasis on rationality is also connected to representational thinking which is predominant in the Western traditions of thought. 22 Lecoq, Jacques: The Moving Body – Teaching Creative Theatre, New York 2002.

240 | A NTE U RSIĆ for academic men to be happy, the universe would have to take shape. All philosophy has no other goal; it is a matter of giving a frock coat what is, a mathematical frock coat. On the other hand, affirming that the universe resembles nothing and is formless amounts to saying that the universe is something like a spider or a spit.«23

August clowns transgress fixed rules, systems and orders; they establish new rules for themselves, creating their own worlds with their own inner-logic and thereupon evoke Bataille’s notion of formlessness.24 August’s counterpart, the white clown, can be understood in juxtaposition as representative of form, for the order of things. The white clown’s role is therefore dependent upon Augusts maintaining their position of formlessness. Fortunately for white clowns, Augusts are not focused toward transgressing their formlessness. They do not make sense, are not articulate, are predictably disorderly and often get squashed by the sensibility of the white clown. Accordingly, from the perspective of white clowns and the social authority they uphold, August is not much more than an earthworm or spider. »I tried all I could to teach him some manners. By hitting him in the head, stepping on his feet, slapping the back of his head« laments the white clown during the topsy-turvy funeral of the August clown in Fellini’s classic movie CLOWNS.25 Social order does not tolerate or see value in deviance. Yet, in keeping with Bataille’s analysis, formlessness is the base matter from which form takes shape. As Bataille describes, form is merely formlessness enwrapped in a mathematical frock coat. The world has been categorised and abstracted, neatly systemised. But there are things

23 G. Bataille: Visions of Excess, p. 31. 24 August clowns play with the order of things, follow the flows of desire, and exist in/through a mode of experimentation. Gregor Wollny (1978-2019), was an extraordinarily gifted clown with whom I had the distinct honor to work with. His work speaks to the ways in which clowns engage with day-to-day objects, transforming and metamorphosing them. In Wollny’s hands the same folding ruler transforms into an umbrella, giraffe, swing, sword, cross, sledge hammer, picture frame, and finally a leashed dog that confuses Wollny’s leg with a tree trunk. In clown play, objects can acquire a life of their own; they behave unruly, are often anthropomorphised and detached from the law of regular meaning making. The French contemporary clown Ludor Citrik in his show »Qui sommes-je?« (»Who are me?« 2012) encounters his alter ego in the mirror. Of course, this evokes the association of the Lacan’s mirror stage. However, he does not recognise an ideal-I. He does not even recognise himself in the mirror. He cries out: »A clown!« but he does not realise that it is his own mirror image that he sees. He then tries to engage with the Other in the mirror. To his horror he discovers that the clown is trapped in the mirror. After this discovery, Ludor Citrik tries to free the Other from his confinement. Ludor Citrik starts to peel at the frame, but his efforts are in vain. Returning back to the imprisoned clown, he also notices the reflection of the audience. »You too are imprisoned?!« he asks, bewildered. He leaves the mirror to get tools in order to free the captives, but only to forget about them as soon as his attention shifts to a different thing. In this example of clown play, the metaphor is taken literally, and thereby conjures up a scene which serves as a profound critique of the process of subjectification. 25 I 1970, R.: Frederico Fellini.

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that cannot be accounted for by a given order and therefore disrupt a given classification. Formlessness speaks to this excess. But what cannot be categorised, what does not make sense within a certain paradigm, might also pose a danger to the established system itself. Hence, this sort of unidentifiable excess is regarded as unruly and despicable. It is considered to be dirt and, in its extreme, even a threat. Spiders and earthworms speak to creaturely lives, which are intimate with dirt and mud. Those vermin crawl into tiny fissures and cracks and are not easily containable; they also outnumber so-called higher forms of life. It is a reasonable leap to jump from this sort of excess to the performative excess of August. August dwells in an abject place as a »refusal of the ideal«, an ideal, which dissociates itself from the base material it is made from. Sawdust and dirt swirl about as Augusts clumsily make their way in and out of the circus pit. Perhaps the clownish situation arises when the spiders and earthworms of the dirt and dust make their way onto the frock coat, revealing its latent formlessness; when the excess which could not be accounted for, which is often explained away as something with less value, asserts itself. Thus, I propose that the August clown is a figure whose fundamental task is to invoke formlessness. The notion of formlessness can be put into a fruitful conversation with abjection, another compelling lens through which the August clown can be approached. Abjection is a crucial concept in Kristeva’s understanding of subject formation. She writes: »I expel myself, I spit myself out, I abject myself within the same motion through which ›I‹ claim to establish myself.«26 According to Kristeva, the I transforms itself into an »I« through a process of abjection, through abnegating everything that one does not want to be part of »I«. At first an infant does not recognise itself as an autonomous self; it is in a state Kristeva refers to as chora – Greek for receptacle. In the chora state, after the infant has left the mother’s womb, it does not yet differentiate between self and other, between subject and object. It is in a pre-symbolic and presubjective (and pre-objective) state.27 This state in which language has not been apprehended is affect-driven; the infant has not yet entered the symbolic order. For Kristeva, the infant begins the process of defining a self, recognising itself as autonomous through a violent »no«.28 Things that were inextricable from the infant in the realm of chora are rejected, such as food, feces and/or the embrace of the caretaker. However, abjection is not just a phase of infant or childhood development, because

26 Kristeva, Julia: Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York 1982, p. 3. 27 From this point of view it makes sense that the August clown has often been thought of as acting a regression. 28 While Kristeva is influenced and informed by psychoanalytic thinking, particularly the work of Jacques Lacan, she maintains a different understanding of concepts like »the other«, »the one« and notions of self. In order to be consistent with her work, I have not capitalized any of these terms. For example, her usage of the term »other« does not refer to the Symbolic dimensions as the term »Other« does in Lacanian theory. Similarly, the term »One«, developed by Luce Irigaray, speaks to the male imaginary, implying an idealised unity, stability, and fixed form over heterogeneity, plurality and difference, but such an understanding does not map onto Kristevaʼs work. Lastly, in the English translation of Kristevaʼs text Power of Horrors, the self is not capitalised.

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abjection is always in process, never ceasing within the subject, as it is the »nothat’s-not-me« that the self is made of. Kristeva’s notion of abject is also provocative because what is abject is not an object – something a subject can be wholly distanced from. The abject is ever-lurking in the fringes of the subject’s identity, as an »alter ego«.29 Furthermore, try as the subject might, s/he can never totally get rid of the abject; it is always poised ready to attack the self. The self-that-becomes through the process of abjection is aware of what has been abjected and whenever it presses back upon the self a visceral reaction is provoked. For example, for Kristeva, most humans are disgusted by their own or other’s emissions of feces, skin dermis and/or pus-filled wounds because they serve as reminders of one’s own decay, life as a living corpse, or process toward death. The subject wants to live, albeit living is simultaneously a perpetual process of dying. The abject is therefore a danger to the homogenous self because the abject permeates the borders that the self assiduously strives to maintain. The abject keeps popping up as a reminder of what the self would prefer to deny: a heterogeneous state of being. Building on her ideas about the formation of the self as an autonomous being, Kristeva’s vision also extends to the social and cultural level: »It is thus not the lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules.«30 Batailleʼs frock coat becomes, in the Kristevaʼs psychoanalytic grammar, the Symbolic, the Law.31 A heterogeneous being undergoes a »series of separation that are oral, corporeal, or even more generally material«.32 Subjectification is a tendency towards homogeneity by abiding more unconsciously than consciously to a given order and a system of belief. However, similar to Bataille, that which has been separated has not been lost forever; it continuously threatens the Symbolic and the subject that identifies whole-heartily with it. The abject takes the place of the earthworm, spider and spit. For Kristeva, the abject finds its expression in the aesthetic realm, such as in poetry, literature, performance and visual arts. While it may be impossible to eliminate the abject, one might control it through sublimation.33 Therefore, I suggest that we consider the August clown character as an executor of formlessness, while applying the above explanation of abjection to the circus setting in which August typically appears. However, even though I have painted a positive notion of the abject, the abject has often been channelled towards the maintenance of conservative values. A short detour into circus history provides insight here. The circus is not only a place where acrobats present extraordinary physical capacities of their skills – as is becoming more and more common in contemporary circus settings. Until the 1940s, circus was also an assembly of another kind of extraordinariness: the body of the freak. In Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, Rosemarie Garland-Thomson draws the conclusion that the freak body was important in generating the normative American citi-

29 30 31 32 33

Ibid., p. 9. Ibid., p. 4. Ibid., p. 112. Ibid., p. 94. Ibid., p. 11.

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zen; she states that the »freak show defined and exhibited the ›abnormal‹«. 34 In seeing the abnormal the audience could define what is normal. Freak shows provided »an opportunity to formulate the self in terms of what was not«. 35 Thus, the boundaries of the normative citizen body were established by the abjection of what was ambiguous, and confused strict categorical distinctions. For example, bearded women transgressed the border of a clear distinction between man and woman; conjoined twins played a trick on one’s imagination of a singular self as an autonomous being incorporated in the confines of their body; people with exceptional hair growth all over their bodies were framed in such a way that the hairiness blurred the distinction between human and animal, etc. One might speculate how the transgressions of the August clown have served as a sort of release valve for the audience. Louise Peacock suggests that the audience obtains great pleasures by witnessing the shenanigans of the August clown, because the August behaves in ways the audience would love to behave themselves, but are restricted from doing so by socio-cultural rules to which they conform.36 However, at the same time, the August clown is a vivid example of a person that is unable to function in the parameters of a society. Even though this sort of gestalt of an anti-I (the abject) is sublimated through the aesthetic figure of the August clown – and hence accepted if encountered in a particular performance setting (circus, theatre, street-performances) – the August still serves as a vivid example of who counts as stupid, idiotic, abnormal, and what sorts of behaviours are regarded to be unruly, transgressing and deviant. While a detailed historiography would exceed the limits of this chapter it might be fruitful to analyse the historical conditions from which the August emerged. Foucault, for example, observes that the emergence of the bio-political regime introduced a process of normalisation to an unknown degree in the 18th and 19th centuries. For Foucault, the compulsory desire for normalisation produced variations of abnormality such as the homosexual, the pervert, the pathological criminal. 37 While the Augustʼs transgression might elicit a sort of jouissance for the audience, we might also consider that, with their deviant behaviour, Augusts have also participated in the construction of the normative citizen by showing how the good, obedient citizen should not behave, designating the behaviour of a fool. »A lazy-ass, a drunk, a trouble maker, a good-for-nothing, he cheated at games, was unfaithful to his friends, a pain in the neck of his landlord and for the electric company.« 38 It thus also makes sense that the August clown is usually in the company of a white clown; audiences are granted the immediacy of narrators who comment on Augusts’ poor behaviour and are capable of policing them should they deviate too far from the norm. I stipulate that the August circus clown occupies a field of mild abjection, because although

34 Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997, p. 58. 35 Ibid., p. 59. 36 Peacock, Louise: Serious Play Modern Clown Performance, Bristol 2009, p. 27. 37 Foucault, Michel: Abnormal – Lectures at the Collége de France 1974-1975, New York 2003, p. 25. 38 CLOWNS (I 1970, R.: Frederico Fellini).

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they transgress social rules, their transgressions are never really dangerous to the public. The materials employed in August’s acts are only representations of abject material. For example, instead of urine Augusts use water, instead of farting they employ a device which reproduces a fart sound, and so forth. Further, the interplay between being attracted to, and repulsed by, August’s aberrant behaviour on stage is reminiscent of the pleasure experienced in reading abject literature and poetry in which the abject is sublimated. As mentioned above, Kristeva states that the abject that is expelled out of the normative discourse cannot be completely repressed. It finds its way through aesthetic practices. The August clown can be understood as a sort of poet as well. In the process of mixing up meaning, order, and playing with sense and non-sense the clown engages in interplay of the symbolic and the semiotic. The symbolic is expressed in the meaning of words, while the semiotic expresses affect. The symbolic realm points to the ›Law of the Father‹, hegemonic order, and homogeneity. In contrast, the semiotic refers to the chora where the I and the other were perceived as indistinguishable. Noëlle McAfee offers the following reading of Kristeva’s use of semiotic: »The semiotic is the more archaic, unconsciously driven, one might say even ravenous mode of signifying. When it seeps out in signification, as it does in avant-garde poetry, it disrupts the more orderly, symbolic efforts of communication.«39 August clowns hardly speak. They express themselves through a physical vocabulary. However, even when August clowns speak, their use of language is accompanied with a pronounced physicality. Here again, the August clown stands in contrast to the white clown who both knows how to speak and uses language eloquently. August clowns’ poor apprehension of language further relegates them to an abject realm, as well as a mode of formlessness, as they are unable to participate in explicit meaning making – that is, putting on a mathematical frock coat. In addition to August clowns’ withdrawal from the utility of language they also seem to withdraw themselves from the use of props that would allow them to participate in any regular order of things. To Augusts, things exceed their prescribed function and are often repurposed. The August has the license to play with things that are inappropriate and allude to dirt or defilement. Mary Douglas argues that dirt is a socio-cultural phenomenon. Something becomes dirt, or is dirt when it somehow breaches or trespasses its assigned place. For example, shoes are not dirt when put on a shoe rack, but become dirt when put on a dinner table (even if the shoes are clean). Hence, Douglas’s famous definition of dirt as »matter out of place«. 40 Douglas’s notion of dirt as »matter out of place« resonates with Kristeva's notion of abject as that which »disturbs identity, system, order« and which disrespects »borders, positions, rules«.41 I suggest that in the moment a clown transgresses the order of things, an impending and exciting danger of defilement occurs.42 This mechanism of transgression

39 McAfee, Noëlle: Julia Kristeva, New York 2004, p. 29. 40 Douglas, Mary: Purity and Danger: An Analysis of Concept of Pollution and Taboo, London 2005, p. 44. 41 Kristeva, Julia: Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York 1982, p. 4. 42 Examples for such defilement are scatological jokes which can be found in abundance in the August repertoire.

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affords a political power to the clown that has a particular quality as it is the case of pie-ing – throwing a pie in somebodyʼs face. By pie-ing, the abject can, at least momentarily, violently destabilise normative order or boundaries; through transgression, the August clown can temporarily turn a victim of any social status into a clown. Pie-ing is an example of an act in which a clown transgresses social propriety at the expense of an audience or cast member. In the circus ring, anybody who gets pied by the August clown – whether they are the statured white clown, an acrobat, or audience member – is violently, albeit temporarily, deprived of their status in the symbolic order. The witnesses of the act of pie-ing might derive pleasure from this social interruption. The higher the status of the one who is pied, the funnier and more enjoyable it is for those witnesses.43 Now, in departure from the circus ring and August clown, I explore how this quintessential intervention of clowning – pie-ing – is expressed in other realms, highlighting how formlessness and abjection can be contagious. In the BATTLE OF THE CENTURY (1927),44 starring Laurel and Hardy, the protagonists start a pie fight, which escalates. The pie fight begins quite banally when a pie vendor slips on a banana peel in the street. Rightly accusing Hardy of purposefully having rigged the banana peel, the pie vendor gets revenge by pie-ing Hardy in the face. Hardy then attempts to pie Laurel, and accidentally lands the pie on a bystander, who then seeks pie revenge through pie-ing yet another person. This pattern is repeated domino style every time somebody gets pied. The scene suggests that it is difficult to resist one’s appetite for sweet revenge. Social propriety vaporises immediately, and anybody struck by a pie is folded into the indistinguishable mass of pied faces. One’s individual features vanish in pie, as do social class distinctions. It is a mode of pure affect, in which people seem to dissolve into one and another, with the pies serving as a binding material, unifying the bodies into one. The separation, between social codes and classes, disappears and blurs the line between self and other. As each pied person looks the same, one can therefore also be the other. Hierarchies

43 The German literature theorist Bernard Greiner distinguishes between ›Komik der Herabsetzung‹ (humour of degrading, my translation) and ›Komik der Heraufsetzung‹ (humour of upgrading, my translation). On the first sight, pie-ing and other clown exploits could be understood as belonging to the former. In this mode the subject who is inferior displays a momentary superiority over somebody who is usually superior; e.g. a child outsmarts an adult. Greiner argues that thinkers such as Hobbes, Kant, Hegel and Bergson theorise this mode of humour. However, I suggest that the August clown exists rather in the comic space of Heraufsetzung. This mode relates to the affirmation of ways of existence, which are repressed in the normative sociocultural realm. Greiner calls this die Bejahung der Kreatürlichkeit (affirmation of the creaturely, 89, my translation). It is a mode that embraces the body, the grotesque, difference and heterogeneity (100). Thinkers associated with his mode are Baudelaire, Nietzsche, Bataille and Bakhtin. See Greiner, Bernard: Die Komödie – Eine Theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation, Tübingen 2006. 44 BATTLE OF THE CENTURY (USA 1927, R: Clyde Bruckmann).

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have dissolved, and in the end, the police officer is even pied as well. 45 No one is spared from the equalising effect of being pied. Thus, everyone becomes formless. 46 Perhaps it is the texture of pie that makes it such an effective vehicle of formlessness. Mary Douglas suggests that there are specific forms of matter that defy a strict classification, that are ambiguous, neither solid nor liquid (e.g. treacle and honey). The stickiness of viscous matter »is like a trap, it clings like a leech, it attacks the boundaries between myself and it«.47 Likely, the pied person experiences a similar sensation; the pie goo sticks to the skin on one’s face, morphing its features, gets in one’s hair, nose, mouth and eyes. If the self is constructed through a constant process of abjection, the pied person is startlingly delivered into a different self-perception, one that is ambiguous, even heterogeneous. This change in self-perception might be a reason why a pied person is so eager to remove the goopy matter from all over the face. Douglas further states that the ambiguous experience is not always unpleasant: »There is a whole gradient on which laughter, revulsion and shock belong at different points of identities«.48 Beyond the pie matter that sticks to the pied’s face, there is also a character image that sticks to the pied via the act of pie-ing. Anybody who is pied is transformed into a clown, a silly, low-status figure, an object of laughter and ridicule.49 Bill Gates was famously pied by the Belgian artist and activist, Noël Godin, the entarteur, when he visited the European Union officials in Belgium in 1998. Other targets of Noël Godin’s pie-ing were French politician Nicolas Sarkozy, French philosopher Bernard Henri Lévy, and director Jean Luc Godard. Even though Godin is usually referenced as the pie-er, he typically has accomplices working closely with him. Because witnesses are crucial for the success of the action of pie-ing, with the goal being to ridicule and humiliate the target publicly, Godin and accomplices usually choose a well-mediated event for their endeavour. Although it would distract from the goal of this essay to comprehensively list all of the activist groups who have employed pie-ing, the following three are some of the better known that deserve spe-

45 Unfortunately the footage has been lost. 46 It seems to me that La Tomanita functions in a similar way. During this event, held every year in Buñol, a town close to Valencia, participants throw excessively tomatoes at each other. La Tomanita has initiated other tomato throwing festivals around the world (e.g. in the USA, Columbia, China). 47 M. Douglas, Purity and Danger, p. 47. 48 Ibid., 46. 49 While pie-ing has been well established in slapstick and August clown entrees, pie-ing as an expression of political discontent emerged in the 1970s. Yippie and founder of High Times Magazine Thomas King Forçade has been the first documented pie-activist. Otto Larsen, the chairman of the Presidentʼs Commission on Obscenity and Pornography, was his victim in a pie-attack in 1970. While one can consider egging, colour-bombing, and tomato-throwing as belonging to the same family of actions of discontent, pie-ing is quite particular. First, the pie-er must get close to his/her victim to ensure a successful attack. Second, the pie-er attacks the face. The aim is to erase the facial feature of the victim. Lastly, with a sense of irony, pie-ers often put a lot of effort in producing a perfect pie for the victim in question. Pie-ers pride themselves for their baking skills.

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cial mention: the Biotic Baking Brigade of San Francisco, Les Entartiste of Montreal and ex-yippie Aron Kay, aka the pieman. However, more than engaging a dialogue about each group individually, I am interested in a political question that arises from the act of pie-ing, which I draw from my reading of Jacques Rancièreʼs notion of politics. I propose that the activist who throws pies is an heir of the August clown, while the pied is an heir of the white clown figure. The former dwells in a space of abjection, while the latter represents symbolic order, law and power. Significantly, the activists are not making any directly discursive political claim – they do not want to change their own status – but seek to trivialise the target with the hope of changing the official public perception of the victim. Rancière’s ideas on politics elucidate the significance of this type of activism. He writes: »At the heart of the politics lies a double wrong, a fundamental conflict, never conducted as such, over the capacity of the speaking being who is without qualification and political capacities.« 50 For Rancière, disagreement resides at the core of politics. Those who are in power, and shape the rules of social order, overlook and further diminish the voice of populations who are impoverished and excluded from access to fundamental rights and resources. In contrast, these populations of »wronged«, excluded people are viewed by those in power as doing wrong to the order of things, established society, and the distribution of the sensible, by claiming their right to partake in what they are excluded from. For Rancière, politics take place when those without count – those who are excluded from logos, who are not allowed to speak – make themselves recognised and therefore have to be recognised as speaking beings. This temporal rupture of policed order, when those in power are forced to recognise that they are face to face with a being of equal capacity and faculties, is called politics. For Rancière the political being is intrinsically intertwined with the speaking being. Although humans are capable of speaking a priori not everybody is assigned to positions of speech. For Rancière, the police regulate the order of the distribution of assigned positions and occupations, who is allowed to do what, who is excluded from occupations even though they share (as all humans do) the same capacity to think, feel, see and speak. Therefore, in Rancière’s understanding, the force of the police has less to do with disciplining, but rather is about »the law, generally implicit, that defines a party’s share or lack of it«.51 The police press on every single individual being in a society. Rancière proposes that there must be a claim by the part without a part, the excluded, to take part by being recognised as a speaking being. Here, he is drawing from the categorisation of Aristotle, declaring that only humans are in possession of the logos – the capacity to speak and demonstrate just and unjust – while animals are only in possession of phôné – only able to demonstrate feelings of pleasure and displeasure.52 Those who are assigned speakable positions do not want to recognise the

50 Rancière, Jacques: Disagreement: Politics and Philosophy, Minneapolis 1999, p. 22. 51 Ibid., p. 29. 52 Rancière, Jacques: Dissensus on Politics and Aesthetics, London 2010, p. 37. Hence, to assign somebody into a place of phôné is connected to the process of animalisation. It

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other (the excluded) as an also-speakable being with logos, because that would require admitting that a fundamental injustice has been done. The solution for those in speakable positions is only to hear phôné, to police the other into a position outside of logos. As Rancière writes: »If there is someone you do not wish to recognize as a political being, you begin by not seeing him as a bearer of signs of policy, by not understanding what he says, by not hearing what issues [come] from his mouth as discourse.«53 Rancière’s notion of politics recalls Kristeva’s notion of abjection. The self abjects parts of itself to become a homogeneous self, but the alter ego is still there, pressing on the boundary of the self. I stipulate that the abjection process also occurs in the formation of contemporary Western societies to form a solid identity in a social order. The »not-us« have to be violently excluded, to keep »us« stable. For example, this phenomenon stands out in the current border politics of both the United States and the European Union. Certain immigrants are not allowed to cross the border because they threaten what is highly valued as a proper citizen-self. Within a nation, parts of the population are swept to the margins because they do not fit within the normative concept of what constitutes an acceptable citizen and therefore cannot (or are not allowed to) be easily assimilated into the confines of the status quo. Nonetheless, these »abject« people continue to cross both visible and invisible borders, constituting an indelible threat to a society’s established distribution of who has a share and what evaluable qualities constitute who has a share. For Kristeva, the abject never ceases, cannot be gotten rid of, is ever-present and threatens the illusion of the homogeneous self. The self needs the abject as a »safeguard«, as »the primers of the culture«.54 I argue that politics, in Rancièrian terms, refers to the moment when the ›primers of culture‹ are redefined. The political moment is when the abject attacks the borders of the self that has abjected it so violently that the illusory homogenous self can no longer repel it and has to negotiate with the abject. The self comprehends the abject as alter ego. Such an encounter might lead to the formation of another, more inclusive, modified self, but does not always. Politics, for Rancière, does not require a change as the outcome. Although change might occur, each configuration of self – each order – excludes certain parts of the whole; some are granted visibility and some are not. It bears certain risks to translate one concept through the other, as they were conceived independently from each other. However, I find that these notions of abjection and politics resonate with one another, making way for a fruitful dialogue between them. Furthermore, I find that Bataille’s concept of formlessness also resonates with Rancière’s ideas. In the short paragraph he wrote on formlessness, Bataille proposes that »academic men« and »philosophy« shape the world, meaning that they order, categorise, and police it. Such academic men celebrate their humanly-bestowed logos. Who and what exists outside of form is relegated formless, without logos. Bataille points out that some modes of being are violently excluded, and have to be excluded

could be understood as a function of what Giorgio Agamben termed »the anthropological machine« in The Open: Man and Animal, Stanford 2004. 53 Ibid., 38. 54 J. Kristeva: Powers of Horror, p. 2.

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from ordered form. The frock coat can only fit the academic man, so to speak; the universe takes shape via the interpretive translation of logos. As I previously suggested, formlessness is reserved for earthworms, dirt, mud and spiders – the lower order of things, the lower social classes, the impoverished, the excluded, the uncounted, to that which only possess phôné. The person who performs the August clown is policed to execute certain qualities that define their character. August performs in a circus pit; wears colourful, oddfitting clothing, a red nose and gigantic shoes. Although I have attempted to give an account of this figure as an example of heterogeneous being, I may have actually further policed August, by assigning the role to a position of abjection and formlessness. That said, what makes August clowns complex, is that they do not make a discursive claim. August clowns embody a »refusal of any ideal«, as they do not seek to change their abject position.55 They remain outside of understandable speech. When they open their mouth only sound is heard. They do not possess logos; they only possess phôné. So then, one asks, how can August clowns take part in politics if their position in discourse requires them to remain formless, abject and ill-inclined to pursue assertion of logos? How can August execute »a set of practices driven by assumptions of equality and every speaking being and by the concern to test this equality«?56 I propose that clown-politics somehow twist Rancière’s notion of politics by emphasising the political potential of phôné rather than logos. I offer two short examples of how. Bernard Henri Lévy is a well-known, controversial contemporary French philosopher. He calls for more patriotism in Europe and pokes reactionary politicians with the fear of an Islamisation of Europe. Lévy was also a fierce supporter of the French intervention that brought down the Gaddafi regime in 2011. Over the past three decades he has been pie-ed several times by Godin and others. In a video, which can be found on YouTube, Lévy is accompanied by cameras and reporters. Suddenly Godin appears in the frame pushing a pie into Lévy’s face. What happens next is significant: Godin, seemingly brought down by a security person, lies on the floor and Lévy threatens him with the following words: »Lève-toi vite, ou je tʼécrase la gueule à coups de talon!« (›Get up fast, or I will smash your face with a heel punch!‹) 57 This aggressive reaction is triggered by a simple pie in the face; Lévy is not otherwise hurt or physically harmed. Having been pied in the face, Lévy reveals another side of himself that until then had been excluded from public view. Godin refuses to have a well-mannered discussion with Lévy, hence he is not performing in logos-key to make his arguments heard. In this temporal rupture, Lévy becomes a clown himself, a fool; the tightly-fitted frock coat opens and spiders and earth-worms crawl out of it. Lévy transforms from a well-mannered philosopher into a raging person. He loses control over the situation and himself. He is dominated by pure negative affect rather

55 I am not suggesting that an entity in a phôné position cannot assert a claim; that would be absurd. What I am suggesting is that a phôné claim can be easily dismissed as not being a claim, because it is rendered as unintelligible by a dominant discourse. 56 J. Rancière, Disagreement, 30. 57 Denisot, Michel (2008): Entartage De Bernard-Henri Lévy En 1985. Vgl. https://www.you tube.com/watch?v=F36OXrrO3Fc [25.07.19].

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than by his conscious, rational philosopher-self that he otherwise perfectly parades in his public appearances. I suggest that those parts of him, that he had abjected from himself, the »no that’s not me«, violently pressed back in on him; his alter ego was exposed. A similar understanding can be applied to the pie-ing of Bill Gates. Here too, the activist protagonists did not confront Gates though rational argumentations on their differing political opinions. They chose instead to expose Gates to ridicule and humiliation. As a symbol of the free market and neoliberalism he was attacked with cream pie delivered onto his face. His facial features were obscured – Gates was no longer recognisable – and it appeared that with the loss of his facial features he lost his capacity to speak as well. If the Symbolic constitutes the Law of the Father, and if Bill Gates can be seen as a symbol of power, money, wealth and profit that violently excludes those who have no part of their share, then it was this symbolism that was attacked by Godin and his fellow activists. To ridicule Gates meant to ridicule capitalism. It made a clown of someone that fundamentally does not want to be seen as a clown. Pie-ing wrongs the subject who has wronged the other by establishing a social order which privileges the wealthy and their quest for what appears to be an insatiable search for profit. The pie activist seems to cry out: »I refuse to speak in an order that has never allowed me to speak. Instead I will turn you into what you see me as: a clown, powerless, dirt, an earthworm, formless.« In both of the above cases, the pie activist clowns twisted Rancière’s notion of politics. Rather than choosing to enter into a hegemonic discourse, departing from the nature and position of abjection (the position of the excluded), they chose to bring the target into the realm of formlessness and abject. In these ruptures, no strata were disarmed or collapsed, and no widespread social change took place. From a Rancièrian perspective, politics do not necessarily need to effect radical change. Still, drawing upon the premise that politics are a »set of practices driven by assumptions of equality«, I propose that the activists postulated equality in their exploits. A pie to the face brings people down, humbles philosophers, politicians and billionaires; these people holding positions of power are momentarily dethroned. They are reminded of their vulnerability, that they can be touched, attacked, reduced, they can be laughed at, they can be seen as dirt. In a pie-fight everybody becomes equal. I also propose that one can see pie-ing as an artistic practice, which, in Rancièrian terms refers to »›ways of doing and making‹ that intervene in the general distribution of ways of doing and making as well as the relationships they maintain to modes of being and forms of visibility«. 58 The Platonic point of view is that each citizen has its proper place in a given social order. Plato divides a society into three primary parts: rulers, auxiliaries and craftsmen. In his writing, Rancière critiques Plato’s myth of the metals, in which, God puts gold into the rulers, silver into the ruler’s auxiliaries, and iron into the artisan, body. 59 Metals bind each individual to a specific order that is innate. Each individual is policed into their occupation and is not permitted to

58 Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics: The Distribution of the Sensible, London 2004, p. 13. 59 Ranciere, Jacques: »Thinking Between Disciplines: An Aesthetics of Knowledge«, in: Parrhesia 1.3 (2006), pp. 3-4.

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transcend it. Rancière elaborates on Plato’s disdain for theatre and suggests that »from the Platonic point of view, the stage, which is simultaneously a locus of public activity and exhibition space for ›fantasies‹ disturbs the clear partition of identities, activities and spaces«.60 The theatre stage is subversive because it expresses the possibility to occupy more than one position in society. In the realm of fiction, an actor can change roles, can be a king and an artisan simultaneously. The stage offers a place where a redistribution of the sensible can occur, a redistribution of who is assigned to positions of hearing, seeing, speaking and feeling in a particular way and who is excluded from such positions. Crucially for Rancière, it follows that what can occur on stage can also be executed in society. As the myth of the metal suggests, it is just a myth. In the circus pit, for example, an audience member, no matter his or her occupation in »real« life, can become a clown in an instant when brought on stage. The stage – this place of fiction that is non-fiction – is the place where politics occur. Thus, politics are a staging of a different reality. Politics occur when a different fiction becomes, even if just for a moment, reality (therefore, we can say that any reality is a political fiction). On the other hand, policing order has no interest in any confusion of the given order of things. For Rancière, this is the reason that police on the street order people to »Move along! There is nothing to see here!« 61 Here, the street is a designated place of circulation not for a spectacle. This analysis can be applied to place in general; each place has its purpose in the distribution of the sensible, and exploits modes of exclusion. Therefore, the activist/artists I have described are redistributing the sensible by reconfiguring the place of their performed action as an ambiguous one. Distinctions are no longer clear: Is one still on the red carpet? Has it become a site of (artistic) crime and harassment? Or a circus arena? If the potentialities open up, the place can be more than one thing. A similar case can be made for targets. The emergence of an opening, albeit produced by force, can be brought in relation to the targets. Lévy and Gates were forced into a sensorial realm that they are typically not assigned to occupy in the general order of things. »Clear partition of identities, activities and spaces« is what artistic practices try to defy.62 They propose instead a heterogeneous and ambiguous place, where »the normal form of experience«63 is broken up in favour of experiencing new modes of being in the distribution of the sensible. In conclusion, I suggest that Augusts do not just dwell in a circus pit to amuse children and adults alike. Instead, I convey a figure that lingers in an abject place and executes formlessness as a vital task. The August is an ambiguous figure. Granted, Augusts’ deviant behaviour can be incorporated by the hegemonic normative narrative by showing how one should not behave and what is not appropriate for a good citizen. Still, Augusts employ a specific mode of politics, able to turn anybody into a

60 J. Rancière: The Politics of Aesthetics, p. 13. 61 J. Rancière: Dissensus on Politics and Aesthetics, p. 37. 62 Rancière distinguishes between the ethical regime of images, the representative regime of art, and the aesthetic regime of art. Here, I am referring to the aesthetic regime of art. See J. Rancière: The Politics of Aesthetics. 63 J. Rancière: Dissensus on Politics and Aesthetics, p. 173.

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clown and anything into »matter out of place« by engaging with it. The deviance of August clowns is contagious. They do not leave their abject position, but, violently destabilise hegemonic orders, if only momentarily, by exerting formlessness upon the other. I propose to call this practice Clown Politics. Clown Politics do not seek to be recognised by the other as a speaking being and to change the abject position by executing logos. They aim to bring the other into a realm phôné instead. Therefore, Clown Politics twist Rancière’s notion of politics. However, Clown Politics do maintain what is most fundamental in Rancière’s ideas: a disagreement between parties involved, a double wrong at play. Through political action, a fundamental equality is expressed and thereupon, a re-distribution of the sensible can occur. The August figure and its politics are employed by political activists and artists to expose authorities to ridicule and humiliation for purposes of humbling those authorities. Pie-ing is a great example of how Clown Politics can be executed outside of the circus setting. Even though pie-ing activists do not wear oddly fitting clothes, a red clown nose, and oversized shoes, they are heirs of the August figure. They draw on August’s capacity to turn anyone into a clown, spider or dirt. Clown Politics offer the possibility to rupture the order of things, and to open a space in a tightly fitted frock coat – at least for a precious moment.

IV. Ästhetische Transformationen/ Aesthetic Transformations

Ausbalanciert Der Traum vom Fliegen in den Zirkusbildern Edgar Degas’ und James Tissots A NNE H EMKENDREIS

In seiner »Rezension zu: Ramon Gomez de la Serna, Le cirque« ließ sich Walter Benjamin zu einer überraschenden Aussage hinreißen: Im Zirkus sei die Wirklichkeit wichtiger als der Schein.1 Dies liege an der realen Gefahr, in die sich Artisten, z.B. beim Salto Mortale, begäben und die auf den Betrachter eine unmittelbar physische Wirkung habe. Das Affektpotenzial eines drohenden Sturzes erfordere die ungeteilte Aufmerksamkeit des Betrachters und mache ihn somit zum Teilhaber an einer in sich geschlossenen imaginären Traumwelt. In eine ebensolche scheinen wir auch als Zuschauer vor dem ungewöhnlichen Gemälde Miss Lala von Edgar Degas gefangen zu sein.2 Und doch tritt zur eindringlichen Betonung der Körperlichkeit die Erfahrung eines absolut analytischen Blicks des Malers, die einander spannungsvoll die Waage halten.

E DGAR D EGAS ʼ ›M ISS L ALA ‹ Degas hat sich mit der Pastellzeichnung der Luftartistin Miss Lala schwergetan. Dies bezeugen zahlreiche Vorstudien zu dem Gemälde sowie die Tatsache, dass der Künstler die Vorstellung mindestens viermal besuchte und dabei vermutlich stets eine etwas veränderte Perspektive auf das Dargebotene eingenommen hat. 3

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Benjamin, Walter: »Rezension zu: Ramon Gomez de la Serna, Le cirque«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, hg. von Hella TiedemannnBartels, Frankfurt a. M. 1972, S. 70-72, hier S. 71. Vgl. Abb. 1. Vgl. Wolk-Simon, Linda/Ireson, Nancy/Omiccioli, Eveline Baseggio/Morgan library & museum: »Degas, Miss La La, and the Cirque Fernando: The Apparatus of Artifice and the Mechanics of Modernity«, in: dies. (Hg.), Degas Miss Lala, and the Cirque Fernando, Morgan Library & Museum, 15. Februar-12. Mai 2013, New York 2013, S. 3-22, hier S. 3.

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Das fertige Bild wurde 1879 auf der vierten Impressionisten-Ausstellung gezeigt. Der Betrachter hat den Eindruck, als säße er auf einem der Ränge, sieht er die Artistin doch, wie es bei einer Aufführung nicht anders möglich wäre, von der schrägen Untersicht. Jedoch betonen zahlreiche Details auch die Konstruiertheit des Dargestellten. Neben dem Eindruck der Situationshaftigkeit, der durch das Gefühl entsteht, den Kopf in den Nacken legen zu müssen um das Geschehen im Zirkus zu sehen, scheint die Artistin wie eingefroren in der Bewegung. Der Moment der Rotation verwandelt sich hier in einen der völligen Bewegungslosigkeit: Der Körper der Artistin schwebt scheinbar im Raum und dient dem Maler so als verharrendes Studienobjekt. Abb. 1: Edgar Degas: Miss Lala (im Cirque Fernando). 1879

Dieser Eindruck ist maßgeblich der Einbindung der weiblichen Figur in den Hintergrund geschuldet. Nur auf den ersten Blick ist die Positionierung der weiblichen Figur in ihrem gold-weißen Kostüm mit ihrer artistischen Disziplin des Zahnhangs begründet; ein Kunststück, bei dem auf ein eigens angefertigtes Mundstück gebissen wird, was dann das gesamte Körpergewicht hält. Schräg durch die Bildmitte verläuft ein Seil, das die Aufhängung durch einen Flaschenzug zeigt. Jedoch ist das Seil, das sich – anders als die nach links versetzte Figur – in der Bildmitte befindet, auffällig locker. Statt am Seil scheint die Artistin darum in ein festes Netz integriert zu sein, das sich im Bildhintergrund findet. Hier ist die Zirkuskuppel mit antikisierten Pilastern zu sehen, die entsprechend einer modernen Bauweise mit Stahlträgern getragen wird. Ähnlich einem aufgespießten Schmetterling in einer naturwissenschaftlichen Sammlung wirkt Miss Lala fest eingefügt in das Fadenkreuz der Zirkuskuppel, wo-

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durch der Eindruck eines möglichen Falls der Artistin abgeschwächt ist. Dadurch ergibt sich ein analytischer Blick auf das Gesehene, der der Haltung des Künstlers zu entsprechen scheint. Der Betrachter kann dem forschenden Blick des Malers folgen, der eine irritierende Nahsicht auf das Geschehen in luftiger Höhe festhält und dabei an der affizierenden Wirkung der Darbietung ebenso interessiert gewesen zu sein scheint wie an ihrer technischen Umsetzung. Um 1900 galt der Zirkus als die am weitesten verbreitete Unterhaltungsform für Massen.4 Unter den drei permanenten Zirkussen in Paris, dem Cirque d’Été, dem Cirque d’Hiver und dem Cirque Fernando (später Medrano nach seinem Besitzer), führte besonders letzterer, der aufgrund seiner attraktiven Eintrittspreise von Künstlern wie Edgar Degas oder später Pablo Picasso frequentierte wurde, zur Wahrnehmung des Zirkus als Kunst- und Unterhaltungsform.5 Der Cirque Fernando eröffnete am 8. Oktober 1873 unter dem Direktor und Pferdereiter Ferdinand Beert seine Tore am Boulevard Rouchechouart und führte ab 1880 Luftartistik fest in seinem Programm.6 Seit dem 15. Juni 1874 besaß er ein festes Gebäude: ein 16-eckiges Polygon, gebaut von Gustave Gridaine, mit einer Weite von 42,3 m, einer Tiefe von 41,5 m und einer Höhe von 21,4 m. Bekannt war er für seinen rot-weißen Zirkusring, der sich auch in den späteren Zeichnungen Henri de Toulouse-Lautrecs findet. Aus einer Einladung an Edmond de Goncourt von 1871 geht hervor, dass Degas Miss Lala (höchstwahrscheinlich gemeinsam mit ihrer Partnerin) auch in seinem Atelier Modell stehen ließ.7 Überliefert ist eine fotografische Aufnahme, die Miss Lala 1878 gemeinsam mit Theophila Stzerker zeigt – welche Degas in einem heute verschollenen Gemälde auf dem Trapez festgehalten haben soll, sowie Werbeplakate, die die außergewöhnliche Stärke Miss Lalas betonen.8 Degas scheint weniger an der spektakulären Kraft Miss Lalas interessiert gewesen zu sein als an dem Verhältnis von Figur und Grund, der Möglichkeit einer Festhaltung von Bewegung und dem Umgang mit dem ungewöhnlichen Eindruck des Schwebens, den die Untersicht für den Zirkusbesucher bereithielt. Diese Vermutung belegen einzelne Vorstudien, in denen Degas den Bildausschnitt und die Haltung der Figur beständig variierte.9 Geöffnete Beine sind in der Artistik ein Mittel zur Verlangsamung der Rotation. Die Variation der Körperhaltung dient also dem Spiel mit unterschiedlichen Tempi, die dramatisch auf den Betrachter wirken können. Der Moment des Überkreuzens der Beine ist der der Beschleunigung der Rotation, was bei der scheinbaren Regungslosigkeit der Figur in Degas’ finaler Zeichnung ver-

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Vgl. Anderberg, Brigitte/Vibolt Knudsen, Vibeke/Statens Museum for Kunst (Copenhagen): Toulouse-Lautrec. The Human Comedy, Statens Museum for Kunst, 17. September 2011-19. Februar 2012, München/London/New York 2011, S. 140. Vgl. Cate, Phillipe Dennis: »Entertainment and Performance. The Chat Noir Cabaret and the World of Art and Entertainment«, in: ders.: Toulouse-Lautrec and la Vie Moderne, Paris 1880-1910, (insgesamt in sechs Museen), New York 2013, S. 101-221, hier S. 201. Vgl. L. Wolk-Simon: Degas, Miss La La, and the Cirque Fernando, S. 3-5. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. hierfür die hoch qualitativen Abbildungen im Ausstellungskatalog: Degas Miss Lala, and the Cirque Fernando, New York 2013. Vgl. Abb. 2.

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blüfft. Dies wird durch die klare Gliederung des Hintergrundes betont, der in den Vorzeichnungen durch deutliche Straffuren noch dynamischer wirkt. Da die senkrechte Haltung des Torsos und die schräge Anwinkelung von Armen und Beinen in der Endversion jedoch exakt dem Verlauf der Verstrebungen im Hintergrund folgen, wirkt die Artistin wie unverrückbar und unbeweglich in das Fadenkreuz des Hintergrundes eingefügt. Dieser Eindruck verstärkt sich insbesondere bei Berücksichtigung einer Bleistiftzeichnung, in der Miss Lala von einem perspektivischen Gitternetz überspannt wird.10 Die Untersicht ist hier leicht gekippt, sodass Miss Lala wie ein Fisch an einem Haken wirkt, der gerade aus dem Wasser gezogen wird; eine Assoziation, der in der Folge noch näher nachgegangen werden soll. In jedem Fall hat Degas sich für den Mechanismus des Zahnhangs nachweislich interessiert, wie eine detaillierte Zeichnung des Mundstücks belegt.11 Umso überraschender ist dessen Auslassung in der finalen Version des Bildes. Abb. 2: Edgar Degas: Miss Lala (im Cirque Fernando, Studie). 1879

Was in der endgültigen Version des Bildes hingegen große Beachtung fand, sind die Konstruktionsprinzipien der Kuppel. So zog Degas für ihre Darstellung sogar einen technischen Zeichner zu Rate.12 Einen Schwerpunkt setzte der Künstler also auf die Konstruktion der Darstellung, nämlich auf die bautechnischen Verhältnisse der mo-

10 Vgl. Degas Miss Lala, and the Cirque Fernando, New York 2013. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. L. Wolk-Simon: Degas, Miss La La, and the Cirque Fernando, S. 15.

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dernen Zirkuskuppel, die mechanische Bewerkstelligung der künstlerischen Darbietung und die perspektivische Untersicht als künstlerisch-technische Herausforderung. Hieraus entsteht der Eindruck einer Ästhetik des Mechanischen, der das Dargestellte folgt und mit der sich Bernd Stiegler intensiv befasst hat.13 So beobachtet Stiegler im Zeitalter der Industrialisierung eine Durchdringung von Ästhetik und Technik, die die »Optimierung der Bewegungsabläufe« zur Herausbildung eines neuen Menschen zur Aufgabe hatte.14 In diesem Sinne beeinflusste der industrielle Fortschritt die Entwicklung neuer Bewegungsformen wie die der rhythmische Gymnastik, die die physische, aber auch moralische Perfektionierung des Menschen durch einen optimierten Bewegungsablauf zum Ziel hatte.15 Dieser war in der Geschichte der Akrobatik bereits seit der frühen Neuzeit unabdingbarer Bestandteil der anleitenden Traktatliteratur, da körperliche Rotationsbewegungen wie der Salto genauestens eingeübt und möglichst ideal ausgeführt werden mussten, um gefährliche Stürze zu vermeiden. 16 Es lässt sich vermuten, dass der Zirkus, der um 1900 stark von der Gymnastik beeinflusst wurde (und wiederum auf diese Einfluss nahm), gerade im Bereich der Luftartistik als Paradebeispiel für die Herausbildung eines neuen Menschentypus angesehen wurde. Diese These wird verstärkt durch den Rekurs auf die spektakuläre Haltung von Miss Lala im Zahnhang, die Degas im fertigen Gemälde einerseits durch die Darstellung des Seiles betonte, andererseits durch die Verdeckung des Mundstücks jedoch auch abschwächte. Linda Wolk hat auf die ikonographische Nähe der Miss Lala zu himmlischen Figuren aus der barocken Illusionsmalerei verwiesen und dabei insbesondere Jacopo Tintoretto (1518-1594) als ein mögliches Vorbild benannt.17 Tatsächlich lässt Miss Lalas Darstellung aus der Untersicht, ihre Positionierung in einer Kuppel und ihr weiß-goldenes Kostüm diese Assoziation zu. Jedoch verweist das hinabhängende Seil auf die technische Bedingtheit hinter dieser Pose. Insofern lässt sich das Seil als künstlerischer Kommentar interpretieren, der auf die technische Bedingtheit des Erscheinens der weiblichen Figur auf dem Blatt verweist. Denn ähnlich wie gewisse mechanische Vorkehrungen getroffen werden mussten, um die Performance der Miss Lala zu realisieren, musste auch der Künstler spezifische Wahrnehmungsexperimente wie das wiederholte Besuchen der Vorstellung oder den zeichnerischen Entwurf der Zirkuskuppel unternehmen, um sein Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. Zwei Kernaspekte sind somit für Degas’ Darstellung der Miss Lala zentral: Erstens die technische Bedingtheit der Aufführungssituation parallel zur Konzeption eines Bildes und zweitens die spezifische Wahrnehmungssituation im Zirkus, die einer Untersicht oder Rundumsicht entspricht und damit die daraus folgende Anregung zur Entwicklung einer modernen Bildsprache. Degas Zeichnung der

13 Vgl. Stiegler, Bernd: Der montierte Mensch. Eine Figur der Moderne, München/Paderborn 2016. 14 Ebd., S. 16. 15 Ebd., S. 54-56. 16 Vgl. Schmidt, Sandra: Kopfübern und Luftspringen. Bewegung als Wissenschaft und Kunst in der Frühen Neuzeit, München/Paderborn 2008. 17 Vgl. L. Wolk-Simon: Degas, Miss La La, and the Cirque Fernando, S. 18 und die hier zu findenden Abbildungen von Tintoretto.

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Miss Lala zeugt, so die These, von einer Parallele zwischen Malerei und Zirkus, die die Offenlegung der Konstruktionsprinzipien (Zirkusbau), die Wahrnehmung und Darstellung von neuen Bewegungsformen (Rotation) und die Abarbeitung an kulturell kodierten Körperbildern (Weiblichkeit) zur Aufgabe hat. So lässt sich Degas’ Gemälde, ähnlich wie ein Besuch im Zirkus, als Treffen von Realem und Imaginiertem bezeichnen, was sich insbesondere in der Darstellung des weiblichen Artistenkörpers verdichtet.18 Dem Gegensatz zwischen den technischen Bedingungen der Performance und der überweltlichen Erscheinung des Artistinnenkörpers im Zirkus entspricht die Differenz zwischen den kulturell geprägten Seh- und Interpretationsgewohnheiten des Betrachters und der offen dargelegten Konstruktion des Dargestellten auf der Ebene des Bildes. Die Kreation von Scheinwelten des Zirkus wird damit wie in der Malerei auf ihren wahren und – wie sich im folgenden zeigen wird – möglicherweise augenöffnenden Kern hin befragt. Nichola A. Haxell hat darauf verwiesen, dass Frauen im Zirkus um die Jahrhundertwende verschiedene ästhetische Typen verkörpern konnten, die in Literatur und Kunst des Fin de Siècle vorkommen. 19 Zwei Charakteristika seien dabei besonders typisch: erstens die Ausstellung der Frau in der ›Arena‹ und damit ihre Preisgebung gegenüber dem Blick des Zuschauers und zweitens die Abweichung der physischen Verhältnisse des Artistenkörpers von der gesellschaftlichen Norm. 20 Letzteres wird interessanterweise bereits in der Selbstinszenierung von Luftartistinnen deutlich, die sich bei der Anfertigung von Fotoporträts zu Werbezwecken notgedrungen einem weiblichen und gesellschaftlich sanktionierten Idealbild fügen mussten. 21 Dies zeigt sich auch in den historischen Dokumenten, die Miss Lalas Tragen einer fest geschnürten Korsage zu Fototerminen bezeugen, die jedoch während tatsächlicher Aufführungen unmöglich so getragen werden konnten. Diese Form der Selbstinszenierung führt zu einer gewissen Groteske, kann der muskulöse Körper einer Luftartistin doch nie gänzlich einem weiblich-zierlichen Ideal entsprechen. Auch bei Miss Lala bilden die kräftigen Arme und das breite Kreuz einen ungewohnten Kontrast zu ihrer schmal geschnürten Taille. Peta Tait hat sich mit der explosiven Kraft der Abweichung muskulöser Luftartistinnenkörper von der Norm befasst. So habe bereits die öffentliche Darbietung eines weiblichen Körpers in einem knappen und engen Leotard einen auffälligen Kontrast zur damaligen Damenmode mit langen Röcken gebildet. 22 Auch Tait geht davon aus, dass eng geschnürte Kostüme, wie sie auf den Fotografien zu sehen sind, bei Auftritten nicht getragen werden können. Diese Inszenierung diene allein einer nicht bruchlos gelingenden Eingliederung von Artistinnen in die bürgerliche Gesellschaft. Nach

18 Vgl. Ireson, Nancy: »New Arenas: Degasʼ Legacy at the Cirque Fernando«, in: Degas Miss Lala, and the Cirque Fernando, New York 2013, S. 23-38, hier S. 23. 19 Vgl. Haxell, Nichola A.: »Ces Dames du Cirque. A Taxonomy of Male Desire in Nineteenth-Century French Literatur and Art«, in: Modern Language Notes (MLN) 115.4 (2000), S. 783-800, hier S. 784. 20 Vgl. ebd., S. 785. 21 Vgl. Tait, Peta: Circus Bodies. Cultural Identity and Aerial Performances, London/New York 2005, S. 41. 22 Vgl. ebd., S. 20.

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Tait sind drei Kriterien ausschlaggebend für die soziokulturelle Sonderrolle von Luftartistinnen: erstens die Übertretung von Kleidungscodices, zweitens die Nichteinhaltung etablierter Geschlechterrollen und drittens die gesteigerte Mobilität, also das Reisen von Engagement zu Engagement.23 Nach Tait sprengten insbesondere Luftartistinnen, die wie Miss Lala den Akt des Zahnhangs vollführten, jegliche gesellschaftliche Konvention.24 Vor allem Episoden ihrer Performance, in denen sie männliche Kollegen während des Kniehangs am Trapez an Zahnstücken hängend nach oben zog, führten buchstäblich zu einer Verkehrung der gesellschaftlich etablierten Kräfteverhältnisse.25 Anders als Tait sieht Haxell in Degas’ Darstellung der Miss Lala aufgrund der ungewöhnlichen Perspektive und des Motivs des Zahnhangs eine partielle Verweigerung der weiblichen Figur gegenüber dem männlich-begehrenden Blick.26 Ihre bereits erwähnte Nähe zu einem Fisch an der Angel, wie sie in Degas’ Zeichnungen zu erkennen ist, verweise auf eine Animalisierung der Luftartistin, wie sie sich auch in der symbolistischen Literatur finde und welche einer primitiven Form der Erotisierung folge.27 Die Darstellung von Luftartistinnen in der Malerei sei derart hybrid und außergesellschaftlich positioniert, dass sich diese – insbesondere in ihrer physischen Ausstellung – als Projektionsfläche für den Betrachter anbieten würden, in der gesellschaftliche Spannungsmomente der Moderne verhandelt würden. Das Projektionsangebot der Miss Lala hat Marilyn A. Brown konkretisiert, die der ethnischen Herkunft Miss Lalas eingehend nachgegangen ist. 28 Degas’ hellere Gestaltung der von Natur aus dunkelhäutigen Artistin basiere auf einer rassistischen Haltung des Künstlers, der sein Model bürgerlichen Schönheitsvorstellungen unterwerfe, stehe aber zudem im spannungsvollen Rekurs auf die Bilder gehängter Schwarzer, wie sie zur Kolonialzeit durch die französischen Medien kursierten.29 Degas’ Versuch »… to fix his model within his perspective system« interpretiert sie als Versuch, »to classify and control difference through calibrated measurements.« 30 Insbesondere Miss Lalas halb preußische, halb afrikanische Abstammung31 habe aber zu einer uneindeutigen Darstellung der Artistin durch den Künstler und ihr dementsprechendes Herausbrechen aus dem malerisch festgelegten Koordinatennetz geführt. In Miss Lala und ihrem Changieren zwischen Verharren und Bewegung kristallisiere sich das Animalische und Unkontrollierbare, das auch Charles Baudelaires Typus der ›Schwarzen Venus‹ unterliege, mit der Miss Lala beworben wurde.

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Vgl. ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 43. N.A. Haxell: Ces Dames du Cirque, S. 788. Ebd., S. 790. Brown, Marilyn R.: »Miss La La’s Teeth. Reflections on Degas and ›Race‹«, in: The Art Bulletin 89.4 (2007), S. 738-765. 29 Vgl. ebd., S. 750. 30 Vgl. ebd., S. 740. 31 Vgl. ebd., S. 746. Miss Lala hieß eigentlich Olga und wurde geboren am 21. April 1858 in Stettin als Tochter eines afrikanischen Vaters und einer preußischen Mutter.

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Jedoch ist darauf zurückzukommen, dass Degas in seiner Darstellung der Miss Lala einen Moment in der Performance ausgewählt hat, in der die Beine beinahe keusch übereinander geschlagen sind. Auch das Mundstück des Zahnhangs bzw. der Haken der Aufhängung wurde in der finalen Version bewusst dem Blick des Betrachters entzogen. Zudem zeugen die muskulären Arme der Artistin zwar von einer gewissen Körperkraft, jedoch vermitteln die Ungewissheit bezüglich der technischen Bedingtheiten der Darbietung und das engelsgleiche Kostüm eine Überführung der Schwere des Körpers in die Schwerelosigkeit. In der Verwischung der kulturellen Sprengkraft der Miss Lala durch den Rekurs auf ikonographische Vorbilder der Illusionsmalerei und den eindeutigen Entzug des erotischen Moments des Oralen kündigt sich ein gesteigertes Interesse an einer darstellungstheoretischen Fragestellung an, die anhand der luftartistischen Darbietung von Degas exemplifiziert wurde. So geht es um die Frage nach einem Eindruck von Schwerelosigkeit, die ausgehend von der visuellen Erfahrung luftartistischer Darbietungen auch in der Malerei des Realismus erweckt werden sollte.32 Wolfgang von Wangenheim hat darauf verwiesen, dass die Malerei im Gegensatz zur Bildhauerei von den Gesetzen der Schwerkraft prinzipiell befreit sei, da sich ihre dargestellten Begebenheiten nicht im Realraum ereignen.33 Während die Skulptur durch die Evokation von Bewegung (z.B. die Figura Serpentinata) das Gefühl von Leichtigkeit evozieren müsse, könne der Künstler im Bildraum Figuren schlichtweg schwebend malen. Dies trifft zweifelsohne zu, wenn es sich um die Darstellung von himmlischen Szenen oder Prophezeiungen handelt. Für Degas jedoch, der als Maler des modernen Lebens Szenen aus dem zeitgenössischen Bürgertum festhielt, war die Darstellung einer schwebenden Figur durchaus eine künstlerische Herausforderung, wollte er die Überwindung der Schwerkraft und gleichzeitig dem Realismus der Szene treu bleiben. Seine künstlerische Lösung liegt in der unentwirrbaren Ambivalenz zwischen Aufhängung und Schweben, die seine Zeichnungen der Miss Lala bestimmt. So entsteht einerseits der Eindruck des Schwebens durch die feste Einfügung der Figur in das klar gegliederte Koordinatensystem im Bildhintergrund, was durch die Nahsicht des Betrachters bzw. die Enge des Bildausschnitts noch gesteigert wird. Hier werden räumliche Dimensionen obsolet, da die Distanz der weiblichen Figur zum Boden und ihre Entfernung zur Decke unklar werden. Andererseits befindet sich das Seil mittig im Bild und bezeugt so unabweislich die technischen Bedingtheiten der Illusion. Hieraus lässt sich schließen, dass Degas die Quintessenz von Miss Lalas Performance, nämlich die Evokation einer Überwindung der Schwerkraft, insofern mit künstlerischen Mitteln einzufangen suchte, als er eine doppelte Thematisierung des Bildraumes vorschlug. Zum einen legt die Unstimmigkeit zwischen der Nahsicht auf die Figur und ihrer ungeklärten Distanz zu Boden und Decke den Fokus auf die Rän-

32 Vgl. N.A. Haxell: Ces Dames du Cirque, S. 789. 33 Vgl. Wangenheim, Wolfgang von: Ponderation. Über das Verhältnis von Skulptur und Schwerkraft, Berlin 2010, S. 10-11.

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der des Bildes, wodurch dieses in seiner ›Feldhaftigkeit‹ thematisiert wird. 34 Die augenfällige Einschreibung der Figur in die sie umgebende Architektur gegenüber der in ihrer Körperhaltung aufgerufenen Dynamik lenken den Blick hingegen auf die Dreidimensionalität des Bildraums und stellen somit die Frage nach dem Bild als Grund, also seiner bildimmanenten Räumlichkeit. 35 Dabei lassen sich die Ungereimtheiten in der Darstellung nicht bruchlos auf einen Nenner bringen. Das Spektakuläre der Darbietung, die Körperlichkeit der Künstlerin und die Verfasstheit des sie umgebenden Raumes bleiben buchstäblich in der Schwebe. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Degas’ innovative Auseinandersetzung mit dem ungewöhnlichen Motiv luftartistischer Darbietung als einem Phänomen der modernen Unterhaltungskultur zur Erprobung künstlerischer Strategien diente, die die gesellschaftliche Utopie einer Überwindung der Schwerkraft visuell erfahrbar machte. Signifikant ist dabei, dass sowohl die tatsächliche Darbietung der Miss Lala als auch der Eindruck des Fliegens in ihrer Abhängigkeit von (kunst-) technischen Bedingtheiten diskutiert werden. So fungieren als Äquivalent zum Seil – als motivische Rechtfertigung der fliegenden Figur – die Gitterstruktur und die Fenster im Bildhintergrund als Hinweise auf die perspektivische Konstruiertheit des Dargestellten im Kontext eines mimetischen Modells.36 Mit diesem Verfahren steht Edgar Degas in der Kunstgeschichte nicht alleine. Im Folgenden soll ein weiterer Künstler unter die Lupe genommen werden, der im Zirkus und seinen Darbietungsformen den idealen Nährboden für eine kritische Auseinandersetzung mit den künstlerischen Prinzipien der realistischen Malerei fand. Die Rede ist von dem französischen Maler James Tissot, der sich in seinem Heimatland nur einer geteilten Beliebtheit erfreute.

J AMES T ISSOTS S EILTÄNZERIN Aus James Tissots Œuvre sind insgesamt drei Zirkusbilder bekannt, die er für seine geplante Serie über die moderne Pariser Frau – La Femme à Paris (Parisienne) (1883-85) – gemalt hat.37 Die Serie zeigt junge Pariserinnen, oft in üppiger Garderobe, in der Freizeit, beim Besuch der Oper, des Museums oder des Zirkus. Bei letzterem treten sie sogar als Artistinnen auf. Immer sind die Frauen jedoch Ziel des männlichen Blicks und werden in ihrer Rolle als Objekte der Anschauung im öffentlichen Großstadtleben thematisiert. Doch damit nicht genug: Tissot, der von Degas beein-

34 Vgl. Pichler, Wolfram: »Zur Kunstgeschichte des Bildfeldes«, in: Gottfried Boehm/Matteo Burioni (Hg.), Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München/Paderborn 2012, S. 440472. 35 Vgl. ebd., S. 440. 36 Zum Fenster als Modell der Mimesis und dessen kritischer Revision in der modernen Malerei vgl. Müller-Schareck, Maria (Hg.): Fresh Widow. Fensterbilder seit Matisse und Duchamp, Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 31. März-12. August 2012, Ostfildern 2012. 37 Vgl. Marshall, Nancy Rose/Warner, Malcom: James Tissot: Victorian Life /Modern Love, New Haven/London 1999.

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flusst wurde, nutzte die ungewöhnlichen Darbietungen im Zirkus zur Abarbeitung an kulturellen und gesellschaftlichen Fragestellungen, wie der gefährlichen Exotik eines neuen Frauenbildes, der ungewöhnlichen Perspektive auf Artistinnen während ihrer Performance und der daraus resultierenden kompositorischen Herausforderungen für den Maler. Abb. 3: James Tissot: Die Seiltänzerin. o.A. Fotogr.

Diese Komplexität des Sujets wird vor allem in Tissots Darstellung einer Seiltänzerin deutlich, die – da in einer Privatsammlung befindlich und nur in fotografischen Reproduktionen greifbar – weniger bekannt ist als die farbenprächtigen Gemälde L’amateur de Cirque von 1885 und Ces dames des chars aus dem gleichen Jahr.38 Ähnlich wie vor Degas’ Gemälde blickt der Betrachter auf eine weibliche Figur schräg von der Seite in Untersicht, die eine luftartistische Darbietung – in diesem Fall das Laufen auf einem Hochseil – präsentiert. Dabei scheint sie sich im Moment der perfekten Balance zu befinden: mit ihren eleganten Schühchen steht sie auf der Fußspitze, während sie beide Arme in einer fast rechtwinkligen Geste zu den Seiten ausgebreitet hat, woraus der Eindruck einer perfekten Balance entsteht. Den kunstversierten Betrachter mag die weibliche Figur an eine Variante der Justitia erinnern, die ihre eigene Waagschale verinnerlicht hat. Auffällig ist, dass das Gesicht der Figur keinerlei Anstrengung verrät, sondern den Ausdruck des Entzückens trägt, den wohl auch die historischen Zuschauer mit Blick auf ihren – von der Korsage zu einer eroti-

38 Vgl. Abb. 3.

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schen S-Kurve geformten – Körper empfanden. Ihre schimmernde und mit Blumen geschmückte Gestalt hebt sich in jedem Fall deutlich von der dunklen Zuschauermasse unter ihr ab, was von ihren abwehrend, wenn auch graziös nach außen zeigenden Handflächen noch unterstrichen wird. Insgesamt scheint die Artistin einer anderen Sphäre anzugehören, ruht sie doch in ihrer perfekt balancierten Haltung deutlich spürbar in sich, während der Blumenschmuck sie zusätzlich mit dem Blätterdach hinter ihr vereint. Neben der Justitia ist damit auch eine ikonographische Nähe zur Flora bemerkenswert. In der Betrachtung von Tissots Seiltänzerin wird ähnlich wie bei der Zeichnung Miss Lalas deutlich, dass die Ruhe und Unbeweglichkeit der Figur letztlich den Konstruktionsprinzipien des Bildes geschuldet sind. So steht die Artistin leicht von der Bildmitte nach links verrückt, was dazu führt, dass der feste Stamm eines Baumes im Hintergrund genau in die Bildmitte fällt und dadurch den Eindruck der Reglosigkeit und Unverrückbarkeit untermalt. Ebenso ist die Distanz der weiblichen Figur zum Boden für den Betrachter uneinschätzbar, da sie ähnlich einer Monumentalfigur ins Bild kommt und das Pflaster unter ihr vom Bildrand abgeschnitten ist. Dies setzt die Gefahr eines drohenden Sturzes herab und entrückt die weibliche Figur gleichzeitig in eine schwer greifbare Sphäre. Zudem ragen einzelne Zylinder der zuschauenden Herren auch über das Seil hinaus, wodurch der Bildraum dicht und nachgiebig wirkt wie ein Teppich, der die Seiltänzerin im Ernstfall nicht nur hinter-, sondern auch unterfängt. Dieser von der Komposition des Bildes erweckte Eindruck widerspricht der Realität der Darbietung, in der Seiltänzer beständig um das Moment der Balance bemüht sind, die stets momenthaft ist. Überraschend ist, dass viele gemalte Zeugen dieses besonderen Augenblicks in Tissots Bild – unter ihnen auch einige Frauen – der Artistin kaum Beachtung schenken, sondern den Betrachter ansehen oder ins Leere blicken. Das mag an der viel besprochenen ›Ennui‹ der Pariser um 1900 liegen.39 Es kann aber auch sein, dass Tissot hier auf ein Spannungsmoment der Moderne im Bereich der Aufmerksamkeit hinweisen wollte, das sich im Zirkusgeschehen kristallisierte: nämlich das Changieren der absoluten Konzentration der Artistin gegenüber der typischen ziellosen Zerstreuung der zu unterhaltenden Gäste, die in Gemälden der Zeit oft mit vielen anderen Dingen beschäftigt sind als mit der Vorstellung als solcher.40 Während Jonathan Crary das Moment der Zerstreuung durch die Sinnesüberflutung in der Pariser Vergnügungskultur in den Zirkusbildern Georges Seurats als zentrales Thema herausgestellt hat, lässt sich bei Tissot ein Spannungsverhältnis beobachten, das weniger der Malweise des Künstlers als einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Figur und Raum entspringt. 41 In diesem ähnelt sein Vorgehen demjenigen Degas. Schließlich ist die leuchtende Gestalt der weiblichen Figur zu-

39 Bellebaum, Alfred: Langeweile, Überdruß und Lebenssinn: Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung, Opladen 1990. 40 Ein Beispiel von vielen ist die unterschiedliche Wendung der Köpfe in dem Gemälde Die Zirkusparade von Georges Seurat (1888). 41 Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2012, S. 126-224.

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nächst klarer Blickpunkt des Betrachters, während sich bei längerer Ansicht die scheinbar unbewegte Figur in den schillernden Oberflächen des sonnenbeschienenen Blätterdachs und dem Gewirr der Menschen verliert. Gleichzeitig dehnt sich das Moment der Balance scheinbar in die Ewigkeit aus, was an der Architektonik des vegetabilen Hintergrundes und dem allgemeinen Aufbau des Sujets liegt. Auch Degas’ weibliche Figur wirkt aufgrund ihrer Einwebung in den architektonischen Hintergrund in ihrer Rotation wie still gestellt. Beide Figuren ziehen den Blick auf sich und sind doch in einer unbestimmten Distanz entrückt. Margaret Flanders Darby hat Tissots Leidenschaft für den Zirkus mit seiner Vorliebe für die Darstellung glänzender Oberflächen begründet.42 Im Gemälde der Seiltänzerin zeichnen der seidige Glanz des Kostüms, das reflektierende Leuchten des die Figur hinterfangenden Blätterdaches und der Schimmer der neuen elektrischen Lampen das Schillern der Artistin zwischen natürlicher Grazie und künstlichem Produkt aus. Dieses Phänomen teilen nach Flanders Darby die weiblichen Figuren der Serie Parisienne im Allgemeinen, da sie stets von einem Netz aus Ästen, Schiffsmasten, Seilen oder Fensterstreben umgeben werden, was sie in eine gewisse strenge Architektonik einbette. Die Autorin sieht hierin eine Reminiszenz des Künstlers an seine Gewächshäuser in seiner Londoner Villa, in denen exotische Pflanzen gediehen.43 Gewächshäuser waren um 1900 ebenso wie Aquarien ein Novum und wurden erst durch die neue Glas- und Stahlbauweise möglich, deren berühmtestes Beispiel wohl der Kristallpalast der Londoner Weltausstellung von 1900 ist. Neben ihrer Konjunktur im Bereich der Freizeit- und Vergnügungskultur der Metropolen wurden sie jedoch auch zu einem Motiv in Literatur und bildender Kunst und bilden dadurch ein kulturelles Paradigma.44 Dieses besteht in der Rolle der Frau in der Gesellschaft, die – hierauf verweisen auch explizite Darstellungen weiblicher Figuren in Gewächshäusern aus dem Œuvre Tissots45 – mit exotischen Pflanzen verglichen wurden, deren Fremdartigkeit gleichermaßen als bewundernswert und bedrohlich galt. So wurden in zeitgenössischen Journalen Gewächshäuser zwar in ihrer Faszination, aber auch in ihrer möglichen gesundheitsschädigenden Wirkung diskutiert. 46 Die Einholung des Exotischen durch Elemente der modernen Architektur in die europäische Gesellschaft kommt einem Akt der Domestizierung gleich, der auf das Wesen der Frau übertragen wird. Ihre Stigmatisierung der Natur- und Triebhaftigkeit spitzt sich in der Rolle weiblicher Artistinnen zu, da diese in ihrer körperlichen Proportion, erotischen Kostümierung und öffentlichen Sichtbarkeit gesellschaftliche Konventionen und Grenzen sprengten. Diese Parallele eröffnet auch neue Perspektiven auf Degas’ Gemälde, wonach der Zirkus mit der Betonung seiner architektonischen wie auch künstlerischen Konstruktionsprinzipien als ein hermetischer Raum interpretiert werden kann, der dazu dient,

42 Vgl. Flanders Darby, Margaret: »The Conservatory in St. John’s Woods«, in: Katharine Lochnan (Hg.), Seductive Surfaces: The Art of Tissot, New Haven/London 1999, S. 161184, hier S. 161. 43 Vgl. ebd., S. 161. 44 Harter, Ursula: Aquarien in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Heidelberg 2014. 45 Vgl. Gemälde von Tissot: Die japanische Vase von 1870, heute in Privatsammlung. 46 Vgl. M. Flanders Darby: The Conservatory in St. John’s Woods, S. 168.

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die weibliche Figur zu beherrschen, wie auch gleichzeitig ihre freie Entfaltung gewähren zu lassen. In Anlehnung an den aufgestellten Vergleich von Miss Lala mit einem Fisch an der Angel und der davon abgeleiteten Nähe der Zirkuswelt zum Aquarium ließe sich Tissots strahlende Seiltänzerin wiederum mit einer Blume im Gewächshaus analog setzen. Ihr transzendentes Leuchten, ihre Nähe zu etablierten Ikonographien (Flora und Justitia) sowie ihre Einbindung in horizontal (das Seil) und vertikal (der Baumstamm) dominierende Liniengefüge betonen ihre Einbindung in die Gesellschaft, die jedoch – folgt man dieser Hypothese weiter – aufgrund des Wirrwarrs der reflektierenden Blätter im Hintergrund ins Chaos zu kippen droht. Eine biographische Notiz hilft Tissots Faszination für die Zirkuswelt zu erklären. Es ist überliefert, dass Tissot in dem Gemälde vermutlich eine Seiltänzerin dargestellt hat, mit der er während der Entstehung der Serie eine Affäre hatte.47 Die bereits erwähnte Monumentalisierung der Figur könnte also auch Zeichen der privaten Bewunderung sein, die sich über die Untersicht auch auf den Betrachter überträgt. Michael Wentworth hat in diesem Kontext Tissots Gemälden eine Nähe zu Historienbildern zugesprochen, die impressionistischen Bildern und ihrer Beeinflussung durch fotografische Schnappschüsse diametral entgegenstehe. 48 Tatsächlich tritt der Betrachter als Bewunderer der weiblichen Figur und damit in einer gewissen Distanz zu ihr auf, gleichzeitig kann er sich jedoch auch insofern in sie hineinversetzen, als dass er durch den aus dem Bild herausweisenden Blick vieler Zuschauer wie sie zum Objekt der Anschauung wird. Hierdurch generiert der Künstler eine Überschneidung der Figur als Zentrum des dargestellten Spektakels mit dem Bild als Objekt der Betrachtung und dem angeblickten Zuschauer, die alle drei gleichermaßen in ihrer öffentlichen Ausstellung thematisiert werden. Letztlich lässt sich diese Parallelisierung als ein Spannungsmoment von Körper und Oberfläche bezeichnen, das in der Figur und ihrem Kostüm ihren Ausgangspunkt hat. So verdeckt das Kostüm den damaligen Artistinnenkörper und stellt dabei die Frage nach einem darunter befindlichen, anders gearteten und vielleicht natürlicheren weiblichen Körper im visuellen Entzug. Diese Frage nach der Sichtbarkeit und Zugänglichkeit des weiblichen Körpers gegenüber dem öffentlichen Blick setzt sich fort im Hintergrund des Gartens, dessen oberer Teil von lichten Baumkronen dominiert wird, wohingegen der untere Bereich mit den dunklen Zylindern der Herren das großstädtische Leben markiert. Die elegante Ausstattung der Zuschauer potenziert sich in den schillernden Oberflächen des Blätterdachs über ihnen, wodurch Körperlichkeit partiell negiert wird. Das sich innerbildlich zwischen den Figuren entfaltende Spiel aus Anschauung und Angeschautwerden sowie Blicklenkung und Zerstreuung überträgt sich auf den Betrachter, der sowohl eine analytische Distanz als auch ein Gefühl der Involviertheit bezüglich des dargestellten Spektakels empfindet.49 Diese Beobachtung lässt sich durch Tamar Garbs Feststellung anreichern, dass sich in Tissots Werken männlicher und weiblicher Blick deutlich voneinander unter-

47 Vgl. Brooke, David S.: »James Tissot’s Amateur Circus (Les Femmes des sports)«, in: Bulletin. Museum of Fine Arts. Boston Mass. (1969), S. 4-17, hier S. 9. 48 Vgl. Wentworth, Michael: James Tissot, Oxford 1984, S. 162. 49 Vgl. ebd., S. 166.

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scheiden.50 So sei es eine Eigenart des Künstlers, den männlichen Blick als einen forschend-beobachtenden direkt zu zeigen, während der weibliche Blick ein schlüpfriger sei; er verlaufe seitwärts oder bleibe hinter einem Fächer oder Fernglas im Verborgenen.51 Tatsächlich scheinen die Gesichter der Männer ausdrucksstark. Während ungefähr die Hälfte der männlichen Besucher aus dem Bild herausschaut und dabei zumeist den Betrachter anzublicken scheint, beobachtet die andere Hälfte gebannt die Stelle, die für die Balance der Artistin besonders prekär ist, nämlich den Berührungspunkt von ihren zierlichen Füßen mit dem Seil. Dieses Moment erweist sich als besonders heikel, bewegt sich die grazile Artistin doch auf Zehenspitzen auf dem Seil, wodurch ihre Auftrittsfläche minimal ist. Jedoch wirkt sie gleichzeitig wie schwerelos, da die Spannung des Seils an keiner Stelle das Gewicht der weiblichen Figur zu tragen scheint. Hierzu passt der verklärte Gesichtsausdruck der weiblichen Figur, der seitlich in eine unbestimmte Ferne schweift. Während der männliche Blick folglich als ein analytischer, aufnehmender und abwägender ins Bild kommt, ist der der Artistin unfokussiert, scheu und entrückt. Damit erscheint sie wie ein transzendentes oder himmlisches Wesen, dessen Anblick entzückt, dessen unerhörtes Übertreten der Gravitationskräfte jedoch auch zur Untersuchung reizt. In dieser Heterogenität der Blicke auf die weibliche Artistin artikuliert sich ein Theorem der Industrialisierung, das sich in technischen Innovationen der Beschleunigung, der Überwindung der Schwerkraft und der gesteigerten Produktivität manifestiert.52 Der Zirkus um die Jahrhundertwende etablierte mit seiner Ästhetik des Superlativen eine Vergnügungskultur, die diesem Streben nach übermenschlichen Fähigkeiten entsprach.53 Insbesondere die Luftartistik, die von Leotard 1859 mit dem Schwungtrapez erfunden wurde und schnell Verbreitung fand, 54 folgte einem in diesem Kontext zu verortenden Körperkult, der sich speziell in der Entwicklung der rhythmischen Gymnastik ausbildete.55 In diesem Kontext lässt sich der Typus des männlichen Artisten als Steigerung des Gewichte stemmenden Bürgers verstehen, der wiederum ein Vorläufer des heutigen Bodybuilders ist.56 Historische Exemplare der französischen Zeitschrift Culture Physique (gegr. 1904) legen bis heute beredtes Zeugnis über das Verständnis des muskulösen Körperkultes als eine Kunstform ab.

50 Vgl. Garb, Tamar: Bodies of Modernity. Figure and Flesh in Fin-de-Siècle France, London 1998, S. 92. 51 Vgl. ebd., S. 92. 52 Vgl. B. Stiegler: Der montierte Mensch, S. 16. Bei der Seiltänzerin ist der unfokussierte Blick besonders auffällig, da ein fest im Blick behaltenes Ziel unabdinglich für das halten einer Balance ist. 53 Man denke nur an das um die Jahrhundertwende in den USA entstandene Zirkusimperium der Ringling Bros. and Barnum & Bailey (ab 1871). Die Ästhetik des Superlativen im Zirkus wurde auch am Einsatz von Elefanten erforscht. Vgl. Oettermann, Stephan: Die Schaulust am Elefanten. Eine Elephantographia Curiosa, Frankfurt a.M. 1982. 54 Vgl. P. Tait: Circus Bodies, S. 10 f. 55 Wünsche, Konrad: »Die Muskeln, die Sinne, die Reden: Medien im pädagogischen Bezug«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a. M. 1982, S. 97-108. 56 Vgl. T. Garb: Bodies of Modernity, S. 54 f.

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So führten Fotografien antiker Statuen, denen Fotografien trainierter Männer in ähnlicher Pose gegenübergestellt wurden zu einer modernen Form der Antikenrezeption, die den muskulösen und damit als gesund geglaubten männlichen Körper als ein Ideal etablierte. Tissots zweites Zirkusgemälde der gleichen Serie »L’amateur de Cirque« zeigt, dem Betrachter zugewandt auf einem Trapez sitzend, Duke Hubert de la Rochefoucault im Pariser Amateurzirkus Molière.57 Der Duke konnte es sich leisten, dem neuen gesellschaftlichen Körperbild zu entsprechen und seinen Frack gegen einen Leotard (benannt nach dem Erfinder des Schwungtrapez) zu tauschen. 58 Für weibliche Artistinnen konnte ein solches trainiertes Körperbild nicht ungebrochen als Leitbild übernommen werden. Entsprechend stammten Artistinnen um 1900 im Zirkus Molière aus den unteren gesellschaftlichen Schichten.59 Abb. 4: James Tissot: Zirkus der Amateure. 1883-1885

Tissots Artistin hebt diese negative Komponente auf, indem sich ihre zur idealen SKurve geformte Körperlinie in die gesellschaftliche Norm einfügt und die erotische Knappheit ihres geblümten Kostüms durch die ikonographische Nähe der Figur zur Flora legitimiert und sogar überhöht wird. Insofern erweist sich die Artistin als ein

57 Vgl. Abb. 4. 58 Vgl. T. Garb: Bodies of Modernity, S. 101. Hinter Duke Hubert de la Rochefoucault sitzt ein Maler, nämlich Théophile Wagner. Der Clown wird als Alter Ego Tissots interpretiert. 59 Ein Beispiel war die Malerin und Muse Susanne Valadon. Vgl. Rose, June: Mistress of Montmartre. A Life of Suzanne Valadon, London 1998.

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künstlerisches Konstrukt ähnlich den exotischen Orchideen im Gewächshaus des Des Esseintes, des Protagonisten aus Joris Karl Huysmansʼ ungefähr zeitgleich entstandenem Roman A Rebours von 1884.60 In ihr kristallisiert sich die gefährliche Gradwanderung von Tissots Malerei, das alltägliche Leben der Großstadt festzuhalten und andererseits die diesem innewohnenden Wunder durchscheinen zu lassen, die jedoch letztlich seiner technischen Durchdringung geschuldet sind. So ist bezeichnend, dass Tissots Artistin ähnlich hell leuchtet wie die elektrischen Lampen des Gartens. Gleichzeitig wurde in der Bildbetrachtung deutlich, dass der Eindruck der perfekten Balance maßgeblich den künstlerischen Konstruktionsprinzipien des Bildraumes geschuldet ist, der Vertikale und Horizontale betont und dabei auch die vegetabile Sphäre der Baumkronen von der bürgerlichen Menschenmenge trennt. Was der technische Fortschritt zur damaligen Zeit also u. a. mit Zeppelinflügen unternahm und der Zirkus durch die Stählung des Körpers scheinbar verwirklichte, nämlich die Schwerelosigkeit des Menschen, das erprobte Tissot in seinem Medium der Malerei mit künstlerischen Mitteln. Die Überwindung der Gravitation nimmt Gestalt an in der Figur der Artistin. Nicht am Rande der bürgerlichen Gesellschaft, sondern über ihren Köpfen vermittelte sie dem Betrachter die Erfahrung einer außergewöhnlichen Begebenheit im großstädtischen Milieu, das letztlich seine eigene Lebenswelt zeigte.

F AZIT Degas und Tissot vereint in der Wahl des ungewöhnlichen Sujets Zirkus bzw. Zirkusdarbietung das Interesse an der Stillstellung eines Moments innerhalb der Bewegung, das Einfangen der herausfordernden Ansicht von unten und das Abheben der Figur von einem architektonischen oder vegetabilen Hintergrund. Die Herausforderung besteht für beide Künstler darin, das Staunen über neue Wahrnehmungserfahrungen nicht in einem realitätsfernen Sujet, sondern in der alltäglichen bürgerlichen Welt mit ihrer rasanten Modernisierung zu zeigen. Hierzu bedienen sie sich ikonographischer Vorbilder und einer Orientierung an neuen Ausstellungsräumen der Moderne wie dem Aquarium und dem Gewächshaus mit ihrer Glas- und Stahlbauweise. In den so gestalteten Bildräumen wird die weibliche Figur in ihrer Exotik und Entrückung thematisiert, die vom Künstler sowohl in verehrender als auch analytischer Betrachtung ins Bild gesetzt werden. Letztlich wird deutlich, dass der Zauber der Darbietungen auf technischen Innovationen beruht, ebenso wie die Wunder des modernen Lebens von diesen bestimmt werden. Parallel dazu machen auch Degas und Tissot deutlich, dass die Schwerelosigkeit ihrer überweltlich anmutenden Artistinnen künstlerischen Techniken geschuldet ist, die die Erfahrung des Unglaublichen, d.h. die Überwindung des Körpers durch körperliche Leistung, zwischen Realität und Imagination verorten.

60 Huysmans, Joris-Karl: Gegen den Strich, Stuttgart 1992, S. 119. Schon die Gestalt der Pflanzen verdeutlicht ihre gesundheitsschädigende Wirkung.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Edgar Degas: Miss Lala (im Zirkus Fernando). 1879, Pastell, 117 x 77 cm, Courtauld Gallery, London. Quelle: Tait, Peta: Circus Bodies. Cultural Identity and Aerial Performances, London/New York 2005, S. 44. Abb. 2: Edgar Degas: Miss Lala (im Zirkus Fernando, Studie). 1879, Pastell, 61 x 48 cm, London, Tate Gallery. Quelle: Kendall, Richard (Hg): Edgar Degas: Leben und Werk in Bildern und Briefen, München 1988, S. 180. Abb. 3: James Tissot: Die Seiltänzerin. Ohne weitere Angaben. Fotogr. Reproduktion von James Laver, Vulgar Society, London 1936, Pl. XXVIII. Quelle: Brooke, David S.: »James Tissot’s Amateur Circus (Les Femmes des sports)«, in: Bulletin. Museum of Fine Arts. Boston Mass. (1969), S. 4-17 S. 8. Abb. 4: James Tissot: Zirkus der Amateure. 1883-1885, Öl auf Leinwand, 101,6 x 147,3 cm, Juliana Cheney Edwards Collection, Museum of Fine Arts, Boston. Quelle: Brooke, David S.: »James Tissot’s Amateur Circus (Les Femmes des sports)«, in: Bulletin. Museum of Fine Arts. Boston Mass. (1969), S. 5.

Der Kampf der Gattungen Stéphane Mallarmés Un spectacle interrompu C ORNELIA O RTLIEB

Eines der wenigen Prosagedichte des berühmtesten französischen ›Meisters‹ der Poesie, Stéphane Mallarmé, bietet ein eigentümliches und eigenwilliges Szenario einer Aufführung, das eine eingehende Lektüre verdient, auch wenn sich dem ersten Blick auf den Text womöglich weder eine Manege noch deren Kunstformen darbieten. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch das titelgebende Schauspiel oder Spektakel als eine Aufführung von existentiellem Ausmaß, die sich vielleicht allein im Inneren von Lesenden und (fiktiven) Betrachtenden abspielt, zugleich aber denkbar radikal die Grundlagen moderner Ästhetik und Poetik in Frage stellt. 1 Der 1875 erstmals in der Zeitschrift La République des Lettres veröffentlichte Prosatext entwirft in drei Abschnitten das Szenario einer Aufführung von Mensch und Tier im geschlossenen Bühnenraum eines vielleicht varietéartigen Theaters, dessen räumliche Ausstattung nach Art einer Zirkusmanege beschrieben wird. Auf dem Höhepunkt der Darstellung, die aus wenigen sparsamen Bewegungen des männlichen Künstlers und seines Gegenübers, eines Eisbären, besteht, berühren sich beide, aufrecht einander gegenüberstehend, in der Andeutung einer Umarmung oder einer wechselseitigen Aufforderung zum Tanz, bis das Tier offenbar zur Abwehr drohender Gefahr mit einem hingeworfenen Fleischbrocken abgelenkt und das Schauspiel abgebrochen wird. Mit einer solchen dürren Nacherzählung der identifizierbaren Handlungselemente ist die Besonderheit des Textes allerdings nur angedeutet, der vielmehr in der Tradition der französischen Prosadichtung seit Baudelaire als poetische Reflexion einer »Literatur auf zweiter Stufe« (Genette) auch die Bedingung seiner Möglichkeit ausstellt und eine entsprechend eingehende Lektüre seiner poetischen Mittel verlangt.

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Mallarmé, Stéphane: »Un spectacle interrompu«, in: Bertrand Marchal (Hg.), Œuvres complètes. 2 Bde., Paris 1998-2003. Bd. 1, S. 420 ff. Im Folgenden zitiere ich das Gedicht und seine deutsche Übersetzung nach der zweisprachigen Ausgabe Mallarmé, Stéphane: »Un spectacle interrompu«/»Abgebrochene Vorstellung«, in: ders., Gedichte. Zweisprachig, hg., neu übersetzt und kommentiert v. Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Frauke Bünde und Bettina Rommel, Gerlingen 1993, S. 174-180 mit der Sigle MG und der Angabe der Seitenzahl; Modifikationen der Übersetzung zeige ich mit meinen Initialen CO an.

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Stéphane Mallarmés Versgedichte sind insgesamt berühmt oder auch berüchtigt für ihre hermetische Bildsprache und das dichte Netz aus Anspielungen und Verweisen, das sich erst beim gleichzeitigen Sehen, Sprechen und Hören entfaltet, weil Klangeffekte in seinen Texten ebenso bedeutsam sind wie die (typo-)graphischen Besonderheiten der Buchstabenschrift auf der Papier-Seite. Für das Arrangement der Zeichen im Druck hat Mallarmé besonders dezidierte Anweisungen gegeben; namentlich der weiße Raum zwischen den einzelnen schwarzen Zeichen und um sie herum ist bei ihm ebenso sorgfältig kalkuliert wie deren Verteilung und Anordnung. Umso erstaunlicher mag es erscheinen, dass Mallarmé auch sogenannte Poèmes en prose verfasst hat, Gedichte in Prosa, die sich ja gemeinhin gerade nicht durch eine solche minimalistische Darstellung auszeichnen, sondern im Blocksatz als dichte Folge schwarz gedruckter Wörter und Sätzen erscheinen, hier jedoch unterbrochen von zwei Weißräumen, die den Text somit auf den ersten Blick sichtbar in drei Teile gliedern.2 Mit der oft beschworenen prosaischen Wirklichkeit, der solche experimentellen Versuche neuer poetischer Schreibweise seit Charles Baudelaire Rechnung tragen sollen, haben Mallarmés dicht gewobene, bildgesättigte Prosagedichte nicht viel zu tun, vielmehr bieten sie, wie das Beispiel zeigen wird, zitierte Versatzstücke historischer Wirklichkeit in je eigener poetischer Rahmung. In der Serie der insgesamt dreizehn Prosagedichte nimmt der Text zudem eine Sonderstellung ein: Mallarmé hatte nach sechs frühen Experimenten mit dem neuen Schreibformat, die erkennbar nach dem Vorbild von Charles Baudelaires epochaler (Neu-)Erfindung dieser modernen Gattung modelliert und allesamt im Jahr 1864 entstanden sind, erst mehr als zwanzig Jahre später, 1885, eine zweite Folge von sechs Prosagedichten publiziert. 3 In mehrfacher Hinsicht dazwischen steht somit das Schauspiel-Gedicht, das nach einer editorischen Entscheidung Mallarmés von 1897 wiederum einer ganzen Gruppe Anecdotes et poèmes/Anekdoten und Gedichte zuzuordnen wäre.4 Anders als in der neutraleren und semantisch offeneren deutschen Übersetzung des ersten Titelworts mit Geschichten5 ruft die von Mallarmé gewählte Bezeichnung bestimmte Konventionen einer traditionsreichen Gattung auf: Wie auch andere didaktisch angelegte Kurzprosa ist die (literarische) Anekdote in der Regel dreigeteilt

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Vgl. meine früheren Überlegungen im Kapitel »Grammatik und Poesie: Stéphane Mallarmés Inversionen«, in: Cornelia Ortlieb, Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Charles Baudelaire bis Georg Trakl, Stuttgart 2001, S. 76-119, zu »Un spectacle interrompu« besonders S. 76-82. Vgl. zur Chronologie von Entstehung und – in der Regel mehrfacher – Publikation die erste monographische Studie zu St. Mallarmés Prosagedichten, Franklin, Ursula: An Anatomy of Poesis. The Prose Poems of Stéphane Mallarmé, Chapel Hill 1976, S. 9 f. So lautet der Titel für die Gruppe der Prosagedichte in dem 1897 publizierten Band Divagations/Wirre Worte. In seinem Kommentar weist Goebel darauf hin, dass die Abteilung nach Mallarmés Wunsch mit dem Prosagedicht »Le phénomène futur/Das Schaustück der Zukunft« [Die zukünftige Erscheinung, CO] eröffnet werden sollte: »Offenbar hat der Text in den Divagations eine ähnlich richtungsweisende Funktion wie das Mottogedicht ›Salut‹ am Anfang der Poésies.« MG, S. 396. Ebd.

D ER K AMPF

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und bietet nach einer Exposition und dem charakteristischen Beispiel eine Pointe mit mehr oder weniger expliziter ›Moral‹; ein Muster, das hier offensichtlich zitiert und ironisch variiert ist. Nach dem Vorbild Baudelaires wählt auch Mallarmé für diese kleinen Erzählungen in Gedichtform, deren geläufigere Form von prominenten Protagonisten der Realgeschichte handelt, vermeintlich banale Gegenstände und Ereignisse des täglichen Lebens. Ihre literarische Reproduktion oder Simulation mit rhetorischen und poetischen Mitteln, wie etwa der Allegorie oder einer Serie elliptischer Metaphern, lässt sie zugleich fassbarer und unbestimmt werden. So eröffnet beispielsweise die Pfeife eines gleichnamigen Gedichts wie schon bei Baudelaire die halluzinatorische Überwindung von Zeit und Raum, Frisson d’hiver/Winterschauer bietet vorgeblich, wie in Baudelaires berühmtem Spleen-Gedicht, die Sicht auf ein altmodisches Interieur mit vielen ›sprechenden‹ Gegenständen, ein längeres Prosagedicht umkreist eine weiße Seerose, und der längste Text lässt unter anderem Eisenbahnarbeiter in ihren typischen blau-weißen Hemden auftreten. Auffällig ist zudem, wie viele dieser Prosatexte mehr oder weniger explizit von Formen, Formaten und Institutionen der Schaulust handeln. Dazu gehört in Le phénomène futur/Das Schaustück der Zukunft unter anderem die gemeinsame Betrachtung einer skulptural schönen Frau auf einem Podest, die in dem offensichtlich allegorischen Text als Phänomen der Vergangenheit für die Zukunft bewahrt werden soll, der fiktive Gang durch einen Jahrmarkt auf einer gewöhnlichen Vorstadtwiese, die Evokation einer leeren Bretterbude ohne das angekündigte Anschauungsobjekt oder das Lob der Artistenkunst im Gespräch zweier Jungen. Ausgestellt wird dabei jeweils auch der Einsatz poetischer und typographischer Mittel zur Herstellung einer solchen Illusion geschauter Wirklichkeit der Vorführung oder Schaustellung, der Vergnügungskultur und der Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. 6 Dabei verwischt Mallarmé in allen Texten die Hinweise auf reale Aufführungspraktiken verschiedener Medien und Institutionen, so dass – wie schon bei Baudelaire – banale Szenen einer betont armseligen Alltagsrealität mit dem unwirklichen Glanz etwa der Aufführung klassischer Dramen überzogen sein können.7 Entsprechend soll in einem ersten Teil die (zumal) am Anfang des Textes dezidierte und programmatische Rahmung betrachtet werden, um dann sozusagen den Scheinwerfer auf die Manege oder Bühne zu richten und abschließend Mallarmés eigene Entwürfe einer bildlichen Schaustellung von Tiermenschen und Menschentieren vorzuführen.

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Tatsächlich werden die verschiedenen Zuordnungen spätestens um 1900 mit den Völkerschauen uneindeutig, wie schon die Zoos und Schaubuden Orte der Unterhaltung, aber auch des Staunens und der Belehrung sein konnten. Vgl. etwa Rothfels, Nigel (Hg.): Representing Animals, Bloomington 2002. Dies gilt beispielsweise für das kurze Prosagedicht mit dem mehrdeutigen Titel Réminiscence/Erinnerung, in dem ein Junge aus einer Artistenfamilie dem Ich-Erzähler, der sich im ersten Wort des Textes als Waise vorstellt, vom Schau-Wert seiner »komischen Eltern« berichtet, während er ein Brot mit Weichkäse isst. Die mutmaßliche Weiße dieses alltäglichen Gerichts ist assoziiert mit dem »Schnee der Gipfel«, einer Lilie oder, suggestiv und rätselhaft, »[...] andere[m] Weiß, das Flügel ausbildet im Inneren«, wie zuvor die Zelte eines temporären Jahrmarkts zum Ort eines »Dramas« überhöht wurden. MG, S. 180-183.

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I. Mallarmé hat seine Dicht-Kunst im Rahmen einer Auskunft über seine Auffassung symbolistischer Poesie als »evocation« bezeichnet: Einen Gegenstand zu benennen unterdrücke drei Viertel der Freude an Gedichten, die aus dem allmählichen Erraten entspringe, ihn nur anzudeuten (»suggérer«) entspreche dagegen dem Traum. 8 Mit einer solchen Evokation, auch im Deutschen ein gebräuchlicher Latinismus, wörtlich einem Aufrufen oder Herbeirufen von Gegenständen, ist hier vielleicht eher ein Heraufbeschwören gemeint, wie man es Magiern zutrauen würde, die etwas zuvor nicht Vorhandenes mit einem Zauberwort plötzlich erscheinen lassen können – tatsächlich gibt ein Wörterbuch aus dem späten 19. Jahrhundert als erste Bedeutung das »Beschwören von Geistern« an.9 Der Anfang des Prosagedichts über »un spectacle interrompu«, also »ein abgebrochenes Schauspiel«, »eine abgebrochene Schaustellung« oder auch »eine abgebrochene Vorstellung«, klingt entsprechend im weitesten Sinn romantisch, zumal der zweite Satz lautet: »[O]n doit par exemple s’étonner qu’une association entre les rêveurs, y séjournant, n’existe pas, dans toute grande ville, pour subvenir à un journal qui remarque les évènements sous le jour propre au rêve.«10 In einer Revision der klassischen Übersetzung von Carl Fischer übersetzt Gerhard Goebel: »So muß man sich zum Beispiel wundern, daß eine Assoziation der darin wohnhaften Träumer nicht in jeder größeren Stadt existiert, zwecks Subventionierung einer Zeitung, welche die Ereignisse im eigentümlich dem Traum gemäßen Licht darstellt.«11 Carl Fischer hatte noch, konsequent deutsche Vokabeln verwendend, von einer »Vereinigung« gesprochen, die »zusammenkommt, um eine Zeitschrift zu fördern«;12 »subvenir« kann allerdings auch, wie Goebel akzentuiert, noch handfester die finanzielle Unterstützung (Subvention) bezeichnen, und das »journal« ist tatsächlich keine Zeitschrift, sondern eine Tageszeitung, womit auch die im französischen Original nochmals wiederholte Nennung des Tages adäquat akzentuiert ist. Nicht der nächtliche Traum, den die Romantik als Sprache des Unbewussten aufgefasst und zum Modell der Poesie erklärt hat, soll demnach den Stoff für solche täglichen Texte liefern, sondern, paradox, das Tagesgeschehen nach dem Muster des Traums verschriftet und kommerziell publiziert werden, und noch erstaunlicher wird dieses Programm, wenn man wie gewöhnlich beim ersten Satz des Gedichts zu lesen beginnt, dem Ausruf: »Que la civilisation est loin de procurer les jouissances attribuables à cet état!«/»Wie weit ist die Zivilisation doch davon entfernt, die Genüsse

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»Nommer un objet, c’est supprimer les trois-quarts de la jouissance du poème qui est faite de deviner peu à peu: le suggérer, voilà le rêve.« Mallarmé, Stéphane: »Sur l’évolution littéraire«, in: ders., Œuvres complètes, hg. v. Bertrand Marchal. 2 Bde., Paris 1998-2003. Bd. 2, S. 700. 9 Thibaut, M.A.: Dictionnaire: Français-Allemand. Allemand-Français. 2 Bde., Paris 1897, S. 196. 10 MG, S. 174. 11 Ebd. 12 Mallarmé, Stéphane: »Eine abgebrochene Schaustellung«, in: ders., Sämtliche Dichtungen, dt. v. Carl Fischer, München 1995, S. 143.

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zu bieten, die von diesem Gesellschaftszustand erwartbar sind!«13 Carl Fischer hatte, freier und dennoch verständlicher, das französische »état« als »Stufe« übersetzt und entsprechend den zeitgenössischen Diskurs der Entwicklungsbiologie und Gesellschaftstheorie in einem erkennbar post-darwinistischen Zeitalter anklingen lassen.14 Diese epochale Wende der Verortung von Mensch und Tier ist interessanterweise auch bereits in naturwissenschaftlichen, philosophischen und literarischen Texten um 1900 in verschiedenen Hinsichten mit »Magie« oder »Zauber« assoziiert worden.15 In zwei weiteren Sätzen, die den sozialen Kontext der folgenden Erzählung noch einmal anders skizzieren, vervollständigt sich dieses kleine Manifest neuer Schreibweise, zunächst wiederum mit einem elliptischen Ausruf: »Artifice que la réalité, bon à fixer l’intellect moyen entre les mirages d’un fait; mais elle repose par cela même sur quelque universelle entente: voyons donc, s’il n’est pas, dans l’idéal, un aspect nécessaire, évident, simple, qui serve de type.«16 In einer möglichst wörtlichen Übersetzung lässt sich die Pointe etwa so fassen: »Nichts künstlicher als die Realität, geeignet, den mittelmäßigen Verstand zwischen den Trugbildern einer Tatsache zu fesseln; aber sie beruht gerade dadurch auf einer allgemeinen Verständigung, sehen wir also, ob es nicht im Idealfall einen notwendigen, einleuchtenden, einfachen Aspekt gibt, der als Typus dienen kann.«17 Und nach diesem wiederum programmatischen Paradox zur Weltwahrnehmung und zum Status der sogenannten Wirklichkeit folgt, wie angekündigt, die Abrundung des proklamierten neuen Schreibens, in dem sich nun ein sprechendes Ich zwischen lyrischem Ich und Erzähler präsentiert: »Je veux, en vue de moi seul, écrire comme elle frappa mon regard de poëte, telle Anecdote, avant que la fivulguent des reporters par la foule dressé à assigner à chacque chose son caractère commun.«/»Ich will, aus meiner Sicht, schildern, wie sie meinen Dichterblick gefangen hat, diese Begebenheit, bevor die Reporter sie verbreiten, die von der Menge dazu abgerichtet sind, jeder Sache ihre gewöhnlichen Merkmale zuzuschreiben.«18

13 MG, S. 174. 14 »Wie weit entfernt ist die Zivilisation, ihrer Entwicklungsstufe angemessene Unterhaltungen zu bieten!«, Mallarmé: »Eine abgebrochene Schaustellung«, S. 143. Vgl. zum Kontext umfassend Ramponi, Patrick/Willner, Jenny: »Nachdarwinistische Obsessionen. Eine Vorgeschichte der Human-Animal-Studies«, in: Cornelia Ortlieb/Patrick Ramponi/Jenny Willner (Hg.), Das Tier als Medium und Obsession. Zur Politik des Wissens von Mensch und Tier um 1900, Berlin 2015, S. 9-46. 15 Vgl. etwa den Beitrag von Werner Michler: »Zauberer. Weiße Magie in Biologie und Literatur um und nach der Jahrhundertwende (Paul Kammerer, Konrad Lorenz)«, ebd., S. 107130. 16 MG, S. 174. 17 Ebd., CO. Goebel übersetzt mit deutlich anderer Akzentuierung: »Eine künstliche Sache, die Wirklichkeit, nur dazu gut, den Durchschnittverstand zwischen den Trugbildern einer Tatsache festzuhalten; doch beruht sie eben dadurch auf einem allgemeinen Einverständnis: sehen wir also einmal zu, ob es nicht in der Idealität einen notwendigen, sinnfälligen, einfachen Aspekt gibt, der als Typus dienen mag«, ebd., S. 175-177. 18 MG, S. 174-176, CO.

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Diese Sätze müssen schon deshalb vollständig gelesen, übersetzt und zitiert werden, weil die Mallarmé-Forschung sie lange als Beleg für die Aversion des Dichters gegen die Auswüchse moderner Zivilisation gelesen hat, seien es Tageszeitungen, Reporter, oder auch, wie das großgeschriebene Wort »Anecdote« erkennbar zweideutig formuliert, die kleinen Begebenheiten alltäglicher Wirklichkeit in einer reduzierten sprachlichen Form. Dagegen würde Mallarmé sozusagen in der Maske dieses proklamierenden Ichs, das sich selbst als Dichter identifiziert, eine zeitgemäße Poesie beschwören, die alltägliche Geschehnisse in einer Art poetischen Unbestimmtheit nach dem Vorbild des Traums aufhebt. Die im Oxymoron zusammengespannten »mirages d’un fait«/»Trugbilder einer Tatsache« machen so auf die Reihe von Gegensätzen aufmerksam, in denen das Programm dieser neuen Schreibweise formuliert ist, mit einer signifikanten doppelten Vertauschung der üblichen Zuschreibungen von »Realität« und »Täuschung«. Entsprechend sind »Wirklichkeit« und »Traum« nicht in der geläufigen Manier gewöhnlicher Alltagsmenschen mit Wahrheit und Täuschung assoziiert, vielmehr kann die Genitivmetapher der »Realitätstrugbilder« auch als Hinweis auf den unklaren Status von vermeintlich faktisch präsenten Dingen und Ereignissen gelesen werden. In dieser Lesart wäre jedoch die feine Ironie dieser Sätze und der Zitatcharakter dessen, was sie vorgeblich als Neuerung der Poesie verkünden, zu wenig beachtet. Denn die Realität als »artifice«, als etwas künstlich oder künstlerisch Hergestelltes, ist in Frankreich ein Gemeinplatz seit der ihrerseits programmatischen Erfindung des Malers Gustave Courbet, der aus Protest gegen die restriktiven Vorgaben des Pariser Salons 1855 eine eigene Gemäldeausstellung in einem selbst gebauten Pavillon gegenüber dem Salon veranstaltete, über dessen Eingang er ein selbstgeschriebenes Schild mit den epochemachenden zwei Worten: »Du réalisme«/»Vom Realismus« genagelt hat. Mallarmé, 1842 geboren, experimentiert mit der Prosaform für Gedichte zwischen 1864 und 1887, mithin Jahrzehnte oder eine Generation später. Auch Gérard de Nervals Versgedichte und Prosatexte aus den 1840er und 1850er-Jahren schildern Gegenstände und Begebenheiten des täglichen Lebens für ein Zeitungspublikum mit ähnlichen Mitteln, etwa in den reportageartigen und zugleich traumartigpoetischen Episoden seiner Nuits d’octobre/Oktobernächte. Sie führen eine Flanerie durch das nächtliche Paris mit verifizierbaren exakten Ortsangaben zugleich als Serie phantastischer Ereignisse vor und wurden erstmals in fünf Feuilletons der Zeitschrift L’Illustration im Oktober und November 1852 publiziert.19 Nicht eine Utopie bietet somit der Beginn des Gedichttextes, sondern die programmatische Erinnerung an eine zeitgemäße Kunst, die auch zuvor unbekannte Techniken der Simulation von Wahrnehmung und der Perspektivierung nach dem Muster des Traums als literarische Schreibweisen zur Verfügung hat – und die Mittel und Möglichkeiten des Reportagewesens, das man mit der hier verwendeten englischen Berufsbezeichnung bestimmten Journalisten abschauen kann. Unübersetzbar fügt der letzte Satzteil von Mallarmés Exposition diese Aspekte zusammen, wenn die Reporter beschrieben werden als »dressés à assigner à chacque chose son charactère

19 Nerval, Gérard de: »Oktobernächte«, in: ders., Werke, dt. v. Anjuta Aigner-Dünnwald, 2 Bde., hg. v. Norbert Miller/Friedhelm Kemp, München 1986. Bd. 2, S. 455-499.

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commun«/»abgerichtet [...], jeder Sache ihren Gemeinplatz-Charakter zuzuweisen«.20 Im Französischen ist in einer auffälligen Form der Überbietung der Schluss nach den doppelten zischenden s-Lauten als Kaskade alliterierender ch-/sch und c/k-Laute modelliert, die sich auf dem Papier als Wiederholung des Buchstaben c auch optisch auffällig darbietet; vom Gewöhnlichen ist somit schon zu Beginn des Gedichts nur mit außergewöhnlichen poetischen, rhetorischen und (typo-)graphischen Mitteln die Rede. Was fehlt, ist somit eine entsprechende Darbietungsform der Wirklichkeit selbst, die hier, nicht zufällig, wie in Nervals berühmtester Erzählung Sylvie in den Räumen eines Theaters verortet ist, das allerdings zugleich weniger und mehr als ein solcher Bühnenraum zeigt: »Le petit théâtre des PRODIGALITÉS adjoint l’exhibition d’un vivant cousin d’Atta Troll ou de Martin à sa féerie classique la Bête et le Génie«/ »Das kleine Theater der VERSCHWENDUNG fügt die Ausstellung eines lebenden Cousins von Atta Troll oder Martin seinem klassischen Märchen Das Tier und das Génie hinzu« – lautet erst die erste Hälfte des Satzes, der dann noch schildert, wie der Ich-Erzähler mit zwei geschenkten Eintrittskarten allein Platz nimmt und auf den leer gebliebenen Sitz des Freundes einen Hut legt.21 Diese Leere soll dem Text zufolge wiederum sprechend sein, weil sie die allgemeine Abneigung gegen das demonstriert, was die letzten drei Worte als »ce naïf spectacle« bezeichnen, »dieses einfache Schauspiel«, »diese simple Darstellung«.22 Wie man sieht, ist deren Einführung jedoch weder einfach noch naiv im Sinn von unschuldig, kindlich, unbelesen: Der Name des Theaters in Versalien, »VERSCHWENDUNG« fordert zum Nachdenken über seine Implikationen auf, auch die im ansonsten kleingeschriebenen französischen Text ausnahmsweise groß geschriebenen Eigennamen Atta Troll und Martin und der kursivierte Quasi-Titel »Das Tier und der Genius« oder, etymologisch näher am Französischen: »Die Bestie und das Genie«.23 Bevor Lesende somit etwas von einem fiktiven Schauspiel gleichsam vor ihrem inneren Auge zu sehen bekommen, werden sie unmissverständlich mit entsprechenden visuellen Reizen auf diese Möglichkeiten moderner Typographie hingewiesen, die in einem sonst gleichförmigen Text bestimmte Leseanweisungen geben. So zitiert etwa der Name des Theaters, den Goebel kongenial als »WUNDER ÜBER WUNDER« übersetzt, die jahrhundertealte Rhetorik der Schaustellung: Das verwandte französische Substantiv »le prodige« wurde seit jeher zur Bezeichnung von unbekannten und staunenswerten Lebewesen und Objekten verwendet, deren Ausstellung und Vorführung seit der Antike immer wieder neue Konjunkturen erfahren hat.24

20 21 22 23

MG, S. 176 f. MG, S. 176-177, CO. MG, S. 177. Ebd. Das vieldeutige zweite Substantiv, vom lateinischen ingenium abgeleitet, kann im zeitgenössischen Sprachgebrauch allerdings zugleich den Geist, den genialen Menschen, andere übernatürliche Erscheinungen wie Gnome, Sylphe und Nixen oder allgemeiner eine herausragende Naturgabe bezeichnen. 24 Ebd.

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Des weiteren lässt sich Martin unschwer als geläufige Entsprechung des im Deutschen bekannten Meister Petz identifizieren, das gerade nicht ein einzelnes Tier, sondern die gesamte Gattung bezeichnet, und Atta Troll als Eigennamen für einen Bären in einer berühmten gleichnamigen Verserzählung des Exil-Parisers Heinrich Heine. Der 1841 verfasste, mehrfach überarbeitete Text erschien zunächst in Auszügen als Zeitschriftenbeitrag und wurde 1847 in französischer Übersetzung in der Revue des Deux Mondes veröffentlicht.25 Er schildert ein klassisches Dressurstück, den Tanz eines Schwarzbären und seiner »Gattin« zu den Klängen volkstümlicher Musik auf einem Marktplatz, und rückt zudem diese Vorführung in die Nähe der TrommelVorführung eines »Freiligräthsche[n] Mohrenfürst«. Wie Heine in einer »Vorrede« erläutert, hatte aus ihm selbst unerklärlichen Gründen diese Figur »so belustigend« auf ihn gewirkt, dass er trotz aller Hochschätzung des Dichters eine Parodie schreiben musste; der entmachtete, an Europäer verkaufte und zur Aufführung gezwungene fremde Schwarze steht so schon bei Heine neben dem gleichfarbigen Tier.26 Mit den typographischen Markierungen der Namen und Titel sind somit nicht, wie häufig in den Versgedichten Mallarmés, subtile Hinweise für Belesene gegeben, die noch die entlegensten Zitate mit philologischer Detektivarbeit entschlüsseln können, sondern prominente, um nicht zu sagen alltägliche Assoziationen eines gewöhnlichen Betrachters solcher realer oder fiktiver Schauspiele im Paris der 1860er und 70er Jahre.

II. Entsprechend bekommen Lesende, die im Text bleiben, vorgeblich in einem Theater eine fiktive und doch historisch wiedererkennbare Manege präsentiert, in der das titelgebende Schauspiel oder die Schaustellung stattfinden soll, allerdings wiederum sehr eigenwillig gerahmt: »Que se passait-il devant moi? rien, sauf que: de pâleurs évasives et mousseline se réfugiant sur vingt piédestaux en architecture de Bagdad, sortaient un sourire et des bras ouverts à la lourdeur triste de l’ours: tandis que le héros, de ces sylphides évocateur et leur gardien, un clown, dans sa haute nudité d’argent, raillait l’animal par notre supériorité.«/»Was geschah vor meinen Augen? Nichts, nur dies: luftige unstete Blaßheiten von Mousseline flüchteten sich auf zwanzig orientalische Postamente, von wo sie ein Lächeln und ausgebreitete Arme der traurigen Schwerfälligkeit des Bären darboten: indes der Held, dieser Sylphen Beschwörer und Beschützer, ein Clown, in ranker silbriger Nacktheit, das Tier vermöge unserer Überlegenheit neckte.«27

Auch hier bleibt jede Übersetzung hinter dem Original zurück, denn wenn sich dieses Ich nach dem Geschehen vor seinen Augen befragt, ist mit »passer« ein Verb gewählt, das wörtlich das »Vorübergehen« bezeichnet. Seit Charles Baudelaires be-

25 Heine, Heinrich: »Atta Troll«, in: Werke und Briefe in zehn Bänden, 2. Aufl. Berlin, Weimar 1972. Bd. 1, S. 348-352. 26 Heine, Heinrich: »Vorrede«, ebd., S. 343-346, hier: S. 345. 27 MG, S. 176.

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rühmtem Gedicht A une passante/An eine Vorübergehende ist diese Bewegung an die Lebenswelt der neuen modernen Großstadt gebunden, wo auf den Blitzschlag der Liebe auf den ersten Blick zu einer anonymen Passantin deren Verschwinden in der Menge, in einem anderen Raum und in einer anderen Zeit folgt. 28 Die Menge, »la foule«, wird auch im nächsten Satz des abgebrochenen Schauspiels wieder genannt werden, der Erzähler sich als Teil des Publikums zugleich sozusagen mit der subtilen Wendung von Edgar Allan Poes Erzählung The man of the crowd nicht nur als Mann in der Menge, sondern, rätselhaft, als Mann der Menge identifizieren.29 Wenngleich die Frage somit ein solches reales Vorübergehen assoziieren lässt oder aufruft, ist ihre Antwort seltsam ungegenständlich und unfassbar: »Rien«, »Nichts« geschieht, nur, wörtlich übersetzt: »ausweichende Blässen [Bleichheiten] aus Musselin flüchten sich auf zwanzig Podeste im architektonischen Bagdad-Stil, werfen ein Lächeln und offene Arme auf die traurige Schwere des Bären; während der Held, der Evocateur dieser Sylphiden und ihr Wächter, ein Clown, in seiner hohen silbernen Nacktheit das Tier durch unsere Überlegenheit beschämte.«30 Das Zauberwort vom »Evocateur«, dem Hervorrufer oder Beschwörer, das, wie eingangs erwähnt, ein zentrales Element der Poetik Mallarmés bildet, steht hier somit am Ende einer Reihe solcher geglückter Hervorbringungen, denn unnachahmlich und unübersetzbar lässt Mallarmés Prosagedicht die Phänomene, die der Ich-Erzähler sich allmählich materialisieren sieht, zugleich vor dem inneren Auge der Lesenden erst entstehen. Auch diese können in den bewegten weißen Schleiern erst allmählich deren womöglich menschliche Gestalt erahnen, die freilich in ihrer Bezeichnung als Sylphiden, als »Luftgeister«, zugleich dementiert ist, denn der Text gibt sie nur als Folge fließender Bewegungen mit der Stillstellung auf säulenfußartig gestalteten »orientalischen« Podesten zu sehen. Ihre flüchtigen Gesten, das Armeausbreiten und Lächeln, gehören zu den Standards jeder Zirkusaufführung, lassen hier aber, gewis-

28 Dieser Gründungstext der (großstädtischen) Moderne fasst solche neuartigen Wahrnehmungen und Erlebnisse im klassischen Format des Sonetts. Die beiden Terzette bieten im Einklang mit verschiedenen Traditionen dieser streng geregelten Gattung den zitierten Höhepunkt des Geschehens und sein Resümee: »Un éclair... puis la nuit! – Fugitive beauté/ Dont le regard m’a fait soudainement renaître,/Ne te verrai-je plus que dans l’étérnité?// Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!/Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,/O toi que j’eusse aimé, ô toi qui le savais!«/»Ein strahl ... dann nacht! o schöne wesenheit/Die mich mit EINEM blicke neu geboren/·Kommst du erst wieder in der ewigkeit?//Verändert fern zu spät auf stets verloren!/Du bist mir fremd ich ward dir nie genannt/ Dich hätte ich geliebt dich die’s erkannt.« Baudelaire, Charles: »À une passante«, in: Les fleurs du mal/Die Blumen des Bösen. Vollständige zweisprachige Ausgabe, dt. v. Friedhelm Kemp, München 2002, S. 198 f.; Stefan George: »Einer Vorübergehenden«, in: ders., Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1982. Bd.13/14, S. 119. 29 Poe Edgar, Allan: »The Man of the Crowd (1840)«, in: ders., The Fall of the House Usher and Other Writings, London 1986, S. 277-282. Charles Baudelaire hat wiederum diese Erzählung neben vielen anderen Texten Poes 1857 ins Französische übersetzt, vgl. dazu eingehend Karl Philipp Ellerbrock: Ästhetische Differenz. Zur Originalität von Baudelaires Poe-Übersetzungen, Paderborn 2014. 30 MG, S. 177, CO.

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sermaßen eingefroren auf den Sockeln, an Posen antiker und klassizistischer Skulpturen denken. Wenn wiederum der Herrscher über diese Zauberwesen als »silberne Nacktheit« wahrgenommen wird, ist nicht nur metonymisch außer einem Artisten im eng anliegenden glänzenden Trikot der weiße Clown aufgerufen, der als melancholischer Pierrot und alter ego des Künstlers in der französischen Literatur- und Kulturgeschichte zumal im 19. Jahrhundert omnipräsent ist.31 Vielmehr zeigt sich hier die Kunst der Evokation als eine der Verfertigung von Sprachbildern, an dieser Stelle in einer eigentümlichen Mischung aus Metapher und Metonymie. Das helle Glänzen des Kostüms kann zugleich buchstäblich dessen Material bezeichnen, übertragen aber auch seine Kostbarkeit und Flüchtigkeit als Lichteffekt, wie umgekehrt die buchstäbliche Bezeichnung der Gestalt mit dem Gattungsnamen des Clowns ihre indirekte, metonymische Benennung und damit gewissermaßen die Auflösung der bekannten Zirkusfigur in Glanz und Flimmern vorbereitet. Entsprechend unübersetzbar zweideutig ist auch das Adjektiv »haut«, das dieser Gestalt zusätzlich vorangeht. Wörtlich übersetzt als »hoch«, kann es den Standort der Figur in diesem Arrangement bezeichnen, über den ansonsten nichts gesagt ist, figurativ heißt es aber zugleich »hochmütig«, im zeitgenössischen Sprachgebrauch auch »wegwerfend«, passend zum sozusagen hingeworfenen Lächeln der Musselingestalten und zum letzten Wort des Satzes, »supériorité«, wörtlich: »Höherstellung«, metaphorisch: »Überlegenheit«. Verdichtet in den wenigen suggestiven Vokabeln dieser Beschreibung der gleichermaßen alltäglichen wie außerordentlichen Erscheinung, findet sich so zugleich die Geschichte der Abgrenzung von Mensch und Tier in der westlichen Geschichte und Philosophie, die sich auf Gottes Wort selbst berufen kann, wenn mit den Worten des Alten Testaments die (ersten) Menschen sich zu Herrschern über die Tiere machen sollen.32 In der Folge wird man zudem erfahren, dass der Bär selbst »[un] rejeton des sites arctiques« ist, »ein Sproß oder Nachkömmling arktischer Breiten«, ein Eisbär, der womöglich im Scheinwerferlicht ähnlich hell, glänzend, silbern-weiß schimmernd leuchtet wie die blassen Schleier und der silberne Clown. Nur am Rande sei darauf verweisen, dass für diese Kunst des Heraufbeschwörens einmal mehr die Klangeffek-

31 Vgl. Jean Starobinski: Portrait de l’artiste en saltimbanque, Gallimard 1970, dazu Jürgens, Anna-Sophie: »Clowneske Zirkuskunstfiguren«, in: Richard Weihe (Hg.), Über den Clown: Künstlerische und theoretische Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 165-184, hier: S. 166 f. 32 »Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.« Genesis 1, 28. Die historische Dominanz eines solchen »Speziesismus« stellt auch die neuere Tierethik aus: »Die offizielle Linie der westlichen Philosophie betont die Differenz und das Subordinationsverhältnis von Mensch und Tier«, etwa, wenn Aristoteles »eine vermeintliche Analogie zwischen den Subordinationsverhältnissen von Mann und Frau, Herr und Sklave [erörtert]« und auf die Ähnlichkeit in der Verwendung von gezähmten Tieren und Sklaven verweist. Wolf, JeanClaude: Tierethik. Neue Perspektiven für Menschen und Tiere, Freiburg/Schweiz 1992, S. 9.

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te von entscheidender Bedeutung sind: Von der »traurigen Schwere des Bären« zu sprechen, ist offensichtlich nicht dasselbe wie im Französischen »la triste lourdeur de l’ours« zu benennen, mit dem unüberhörbaren Übergang vom unpassend hellen i-Vokal bei »triste«/»traurig«, zur klanglich immer schon ineins gesetzten Schwere des Bären, hier dunkel im identischen u-Binnenreim von »lourdeur« und »l’ours«. Beim Lesen sieht man so vermeintlich Lichteffekte und sich bewegende Gestalten, deren Status als Menschen, Geister oder verkleidete Artisten zweifelhaft bleibt. Mit dem nach nach Farbe und Haltung überaus ähnlichen Tier werden sie schließlich zu einer Art lebendem Bild zusammengefügt.33 Offensichtlich soll in einer Serie einander ablösender Sprach-Bilder, die sich eigentümlich nacheinander zu materialisieren scheinen, zur Aufführung kommen, was vorher ironisch benannt wurde, die »Bestie« und das »Genie«, das im französischen gleichfalls mit dem Wort »prodige« bezeichnet werden kann. Ähnlich ist die zentrale Szene dieser Gegenüberstellung konstruiert, die wiederum zwischen einer Theater-Aufführung als Begegnung von Körpern auf einer Bühne, den Mitteln der Schaustellung, wie man sie von zeitgenössischen Jahrmärkten kennt, und der Manegen-Artistik im engeren Sinn eigentümlich oszilliert. Als Anekdote ausgewiesen, die gattungsgemäß eine erstaunliche Begebenheit nach einem bestimmten Muster berichtet, enthält das Prosagedicht einen entsprechend klar markierten Wendepunkt, der das eigentümlich statisch gewordene Geschehen in der Manege wieder in Bewegung setzt. Der weiße Clown führt eine kleine Pantomime auf, indem er die Faust in die Luft reckt und dann mit den fünf Fingern der geöffneten Hand vorgeblich etwas Unsichtbares einfängt, woraufhin der Bär ihm seinerseits seine Tatze auf die Schulter legt. Das Publikum erstarrt angesichts dieser, wie es heißt, Bedrohung der Ehre der menschlichen Rasse, und der nun folgende Satz kehrt endgültig die Verhältnisse in der Manege um: »L’autre patte s’abbatit, souple, contre un bras longeant le maillot, et l’on vit, couple uni dans un secret rapprochement, comme un homme inférieur, trapu, bon, debout sur l’écartement de deux jambes de poil, étreindre pour y apprendre les pratiques du génie, et son crâne au noir museau ne l’atteignant qu’à la moitié, le buste de son frère brillant et surnaturel: mais qui, lui! exhaussait, la bouche folle de vague, un chef affreux remuant par un fil visible dans l’horreur les dénégations véritables d’ une mouche de papier et d’or«.34

Eine freilich reduzierte wörtliche Übersetzung kann lauten: »Die andre Pfote ließ sich, sacht, auf einem aus dem Trikot ragenden Arm nieder; und wir sahen ihn, einiges Paar in geheimer Annäherung, wie einen minderen Menschen, gut, stehend auf den gespreizten zwei haarigen Beinen, sich ausstrecken um dort die Praktiken des Genies zu erlernen, und sein Schädel mit der spitzen schwarzen Schnauze reichte nur bis zur Hälfte, der

33 Vgl. zur Beliebtheit dieser Darstellungweise und Gattung Norbert Miller: »Mutmaßung über lebende Bilder. Das ›tableau vivant‹ als Anschauungsform des 19. Jahrhunderts«, in: Helga de la Motte-Haber, Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst, Frankfurt a.M. 1972, S. 106-130. 34 MG, S. 178.

284 | C ORNELIA O RTLIEB Brust seines glänzenden und übernatürlichen Bruders: der aber, er, richtete sich weiter auf, den Mund verrückt verzogen, ein abscheulicher Kopf, der an einem unsichtbaren Faden rüttelt, im Schrecken der echten Angriffe einer Fliege aus Papier und Gold«. 35

Das Bild, das dieser lange umständliche Satz entwirft, ist unmittelbar eindringlich: Es zeigt den Bären, der die vermeintlich nach ihm ausgestreckte Hand mit einer eigenen Berührung beantwortet, mit dem Auflegen seiner Tatze oder Pfote auf den Arm des weißen Clowns, als wolle man sich gleich gemeinsam im Tanz bewegen, seinen aufrechten Stand, der ihn aber doch nicht auf die heutzutage vielzitierte ›Augenhöhe‹ bringt, und die Verwandlung des oben stehenden, überlegenen menschlichen Künstlers in eine Marionette, wie sie auch schon angezeigt war im vorhergehenden Satz, in dem von der Geste des »pantin« die Rede war, zu deutsch: einer »Gliederpuppe«. Dabei vermengt der grammatisch mehrdeutige Satz permanent Vokabeln aus verschiedenen Diskursen und Stilhöhen: So werden die Körperteile des Bären zoologisch-biologisch korrekt mit bestimmten Fachwörtern bezeichnet, wenn beispielsweise die Hand des Bären zunächst als »griffe«, als Klaue, eingeführt ist, dann aber zur »patte«, zur Pfote, wird, sozusagen transformiert vom Angriffswerkzeug zum Organ der sachten Berührung, oder für das auffällige Schwarz im weißen Gesicht des Bären die spezifische Bezeichnung für die spitze Schnauze gewählt ist. Dagegen ist das silbern-weiß-glänzende Gegenüber im Moment der Paarbildung zwischen den Gattungen noch »brillant et surnaturel«/»glänzend und übernatürlich«, womit einmal mehr ein Effekt der Lichtführung in der Manege markiert ist. Gerade durch seine starken Affekte in eine leblose Marionette mit dumm verzogenem Mund verwandelt, lässt der transformierte Clown Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater anklingen, der die Anmut der Gliederpuppe in ihrer Gegenüberstellung mit einem Bären feiert. Doch zugleich ist diese ganze mittlere Passage von einem unpassend überhöhten Vokabular durchzogen, das man als Indiz mehr oder weniger feiner Ironie lesen muss, wenn etwa dem Bären selbst eine Art Rede zugeschrieben wird, in der dieser mit ausgesuchter Höflichkeit fragt, was der Sinn dieser Atmosphäre des Glanzes sei, in der man ihn auftreten gelehrt habe, und sein erstarrtes Gegenüber mit »hoher Bruder aus dem Reich der Weisheit« anredet, womit die leere Rhetorik der postulierten Überlegenheit des Menschen wiederholt ausgestellt wird. Indem das neuerdings sprachmächtige ›Wildtier‹ dem anderen ironisch für seine Unterwerfung und Domestikation dankt, erinnert es nicht nur an die Voraussetzungen der Kulturgeschichte von Mensch-Tier-Beziehungen, sondern zugleich an die Fülle der historischen Abgrenzungsvarianten und ihre Resistenz – ein Hauptargument des 18. Jahrhunderts für die Befestigung der Grenze etwa zu den menschenähnlichen Affen war ja ihre Unfähigkeit, zu sprechen oder ihre Verweigerung der Sprache. 36 Die auffällig vorgezeigten

35 MG, S. 179, CO. 36 Derrida hat entsprechend argumentiert, der »Logozentrismus« – im weiten Sinn des griechischen »logos« als Fokussierung auf das Denken, die Sprache, das Wort und den Sinn – sei selbst »zunächst und vor allem eine These über das Tier«, Derrida, Jacques: »Das Tier, welch ein Wort«, in: Mensch und Tier. Eine paradoxe Beziehung, hg. v. d. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Ostfildern-Ruit 2002, S. 191-209, hier S. 199. Vgl. als ein beson-

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Hände der beiden stehenden Figuren und ihre gestische Kommunikation stellen zudem eines der prominenten Differenzkriterien der neueren Tierkunde und Literatur heraus, prominent verhandelt in Kafkas Erzählungen von Mischwesen und, wie Jacques Derridas Kritik hervorgehoben hat, der Philosophie Martin Heideggers. 37

III. Das unterbrochene Schauspiel, das in Mallarmés Prosagedicht gleichen Titels vorgeführt wird, ist, wie schon diese vorläufige Untersuchung gezeigt hat, das Produkt einer sehr speziellen Mischung von Schreibweisen eher prosaischer und eher poetischer Herkunft, das zugleich eben diese Mischung in jedem Satz ausstellt. Auch wenn das Gedicht offensichtlich nach dem Muster der klassisch dreigeteilten Anekdote mit Exposition, Exempel und moralischem Fazit angelegt ist, lässt es sich selbstredend nicht auf einen solchen erzählenden Gebrauchstext reduzieren, wie ihn das zeitgenössische Zeitungswesen massenhaft verbreitet. Mit der gewählten Konstellation einer Aufführung in einem Theater, das zugleich eine Art Zirkusmanege zu beherbergen scheint und eine Urszene der Kulturgeschichte zeigt, die Gegenüberstellung von Mensch und Tier, ist eines der überzeitlich gültigen Sujets der im Text genannten »weltgeschichtlichen Dramen« gewählt, das aber im Genre der Schaustellung oder des Schauspiels zugleich eine explizite zeitgenössische Signatur trägt. 38

ders prominentes Beispiel für die aporetischen Unterscheidungen nach dem Kritierium der Sprachmächtigkeit oder Sprachausübung Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772. Um 1800 wird allerdings mindestens im deutschsprachigen Raum auch vehement und mit bedenkenswerten Argumenten die Überlegenheit des Tiers diskutiert, auch im Anschluss an die bahnbrechende Abhandlung Reimarus, Herrmann Samuel: Allgemeine Betrachtung über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe, Hamburg 1760. Der französische Materialismus tendiert dagegen, wie auch in La Mettries provokanter Abhandlung über den Mensch als Maschine, dazu, Descartes’ Argument vom Tier als seelenlosem Automat fortzuschreiben, vgl. de La Mettrie, Julien Offray: L’homme machine, Leiden 1748 und Ortlieb, Cornelia: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart, München 2010, Kap. II: »Philosophie als Literaturkritik. Jacobi, Herder und Reimarus über die Triebe der Tiere«, S. 29-50. 37 Lehrbücher um 1900 zeigen lexikalisiertes biologisches und zoologisches Wissen, wonach die Maus, der Biber, das Eichhörnchen und viele andere Wirbeltiere Füße haben, während die Vorderextremitäten von Affe und Maulwurf korrekt Hände genannt werden sollen. Die scheinbar neutrale Gegenposition, wonach der Affe keine Hand hat, sondern nur ein »Greiforgan« ist, wie Derrida am Beispiel Martin Heideggers gezeigt hat, eben die dogmatische, die ihre Plausibilität nur durch eine Reihe metaphysischer Annahmen erhält. Derrida, Jacques: »Heideggers Hand (Geschlecht II)«, in: Postmoderne und Dekonstruktion, hg. v. Peter Engelmann, Stuttgart 1990, S. 165-223, hier S. 165 f. Vgl. Ortlieb, Cornelia: »Kafkas Tiere«, in: Norbert Otto Eke/Eva Geulen (Hg.), Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zum Band 126 (2007): Tiere, Texte, Spuren, S. 339-366. 38 MG, S. 179. Der französische Ausdruck ist komplexer und uneindeutiger: »un des drames de l’histoire astrale élisant« (MG, S. 178), wörtlich: »eines der Dramen der auserlesenen

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So ist es am Ende des Exempel-Teils »la foule«/»die Menge«, die »s’effaçait, toute, en l’emblème de sa situation spirituelle magnifiant la scène: dispensateur moderne de l’extase, seul, avec l’impartialité d’une chose élémentaire, le gaz, dans les hauteurs de la salle, continuait un bruit lumineux d’attente«/»sich ganz verwandelt in das Emblem ihrer spirituellen Situation und die Szene verzaubert, während als moderner Spender von Ekstase, nur noch, unparteiisch wie etwas Elementares, das Gas in den Höhen des Raums weitermacht mit einem Geräusch, leuchtend vor Erwartung«.39

Die Beleuchtung geschlossener Innenräume mit Gaslampen war eine Erfindung des mittleren 19. Jahrhunderts, die trotz der Risiken von Brand oder Vergiftung vor allem für prunkvolle Schauräume genutzt wurde und die Aufführungspraktiken dramatisch verändert hat.40 Das archaische Tier wird somit nicht in einem bekannten anachronistischen Dressurakt gezeigt, wie sie seit der Antike mit teils martialischen Methoden gefangenen Wildtieren abverlangt wurden, sondern steht auf einer hell ausgeleuchteten modernen Bühne neben dem menschlichen Darsteller und kann in dieser illuminierten Gemeinschaft an die seit 1789 unhintergehbaren postulierten Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erinnern. Sind solchermaßen zumindest indirekt auch Konzepte und Formen demokratischer Gemeinschaften seit der griechisch-römischen Antike für die moderne französische Gesellschaft aufgerufen, die implizit einen Reflex auf die neuen aristokratischen Verhältnisse des zweiten Kaiserreichs werfen, so wird das fiktive Publikum und sein lesendes Doppel zugleich nachdrücklich daran erinnert, in welchem Stadtraum die andere Welt der Bühnenaufführung konstruiert wird. Denn wenn der Vorhang fällt, nachdem der Bär durch ein hingeworfenes Stück Fleisch wieder auf alle Viere herunter- und in seine ›tierische Natur‹ zurückgezwungen werden konnte, sind, dem Gedichttext zufolge, auf seiner Außenseite tagesaktuelle Preisanzeigen und andere allgemeine Veröffentlichungen zu lesen. Einmal mehr wird so in der Rede vom »journal de tarifs et de lieux communs«/»Tageblatt mit Preisanzeigen und Gemeinplätzen« nach dem Tag und der Tageszeitung das Tagesgeschehen in der paradigmatischen modernen Großstadt zitiert und entsprechend halb ironisch die anfängliche Bemerkung zur Angemessenheit bestimmter Unterhaltungsformen in einer zivilisierten Gesellschaft aufgenommen.41

Sternen-Geschichte«, so dass mit den weiß leuchtenden Lichtpunkten am dunklen Himmel einmal mehr auch die spezifische Medialität und Materialität solcher Erscheinungen herausgestellt ist. 39 MG, S. 178. Goebel übersetzt grammatisch korrekter, aber entsprechend weniger satztreu: »Die Menge schwand hin, zur Gänze, in dem Emblem ihrer Geisteslage, das der Szene Erhabenheit verlieh: neuzeitlicher Spender der Ekstase, strömte allein, mit der Neutralität des Elementaren, das Gas hoch droben im Saal unentwegt ein lichtes Zischen der Erwartung aus.« MG, S. 179 40 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2004. 41 MG, S. 180 f.

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Die Manege erweist sich so als allein sprachlich erzeugtes Bild, das jedoch je nach der Gewichtung der einzelnen Sprachbestandteile ganz unterschiedlich ausfallen kann und zudem permanent als ein zitiertes ausgewiesen ist. Als gleichermaßen literaturhistorisch und poetisch vorgefertigtes Phänomen hat das Szenario offensichtliche Entsprechungen in der Vergnügungskultur der 1870er Jahre in einer modernen Großstadt. Von einer mehr oder weniger realistischen Schilderung solcher Nischen des Unterhaltungsbetriebs unterscheidet sich das Prosagedicht jedoch offensichtlich mindestens in seinem Zentrum: Die Evokation des weiß schimmernden menschlichen Künstlers als Lichtphänomen wie seines entsprechend fast ununterscheidbaren Gegenübers, des gleichermaßen weißen, im Licht leuchtenden Tiers, nimmt zentrale Motive der Versdichtung Mallarmés auf und verweist nachdrücklich auf die Grundlage solcher Erscheinungen im Schwarz und Weiß, die Tinte oder Druckfarbe und die weiße Fläche des Papiers.

IV. Diese Erfindung von Mischformen und Mischwesen lässt sich als radikaler Beitrag Mallarmés zur Ästhetik und Poetik der Moderne lesen. Zirkus und Theater sind entsprechend, wie das Gedicht gezeigt hat, keine »Heterotopien«/»anderen Orte« (Foucault), sondern Räume, in denen ›wir alle‹ als moderne Menge zugleich Betrachter und involvierte Handelnde sind, nicht nur, wenn unsere Zugehörigkeit zu einer Gattung verhandelt wird. Entsprechend holt Mallarmés Zeichenkunst solche anderen Wesen, als die klassisch das Tier, aber auch die Artisten aufgefasst werden können, in eine Alltagswelt zurück, die allerdings alles andere als prosaisch ist, etwa, wenn Mallarmé die von ihm lange umworbene Tänzerin, Schauspielerin und Salondame Méry Laurent mit einer Fülle von Briefen und Billetts ähnlich eigenwillig als Mischwesen porträtiert.42 Dabei adressiert er die unerreichbare Geliebte durchgehend als Pfau und diese Fragmente einer Bildersprache der Liebe variieren kaum: »Lieber Pfau«, »mein lieber Pfau«, »kleiner Pfau« oder auch, erstaunlicherweise, »mein weißer Pfau« lauten die Anreden in den über hundertfünfzig Briefen und Karten, die Mallarmé ihr geschickt hat. Méry Laurent als Pfau ist die königliche, geschmückte Dame als die eine Reihe von Tuschezeichnungen Mallarmés sie schwarz auf weiß festgehalten hat, ein androgynes Mischwesen von eigentümlicher Pracht und Komik. Mit der Zeichnung Méry Laurents als Pfau materialisiert sich auf dem Papier, was zuvor als Metapher reines Sprachbild war – oder vielmehr eine Anrede in Buchstabenschrift. Und eben diese Untrennbarkeit von buchstäblicher und metaphorischer

42 Im Folgenden greife ich, z.T. im Zitat, Überlegungen aus zwei eigenen Aufsätzen über Mallarmés Bilder- und Liebessprache auf: Ortlieb, Cornelia: »Miniaturen und Monogramme. Stéphane Mallarmés Papier-Bilder«, in: Lena Bader/Georges Didi-Hubermann/Johannes Grave (Hg.), Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern. Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache, Berlin, München 2014, S. 113-128, »Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé«, in: Jörg Paulus/Renate Stauf (Hg.), SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2013, S. 307-329.

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Rede im gezeichneten Namen zeigt sich an der eigentümlichen Mischfigur der PfauDame. Ein weiteres kleines Blatt verdichtet in dieser Weise Schrift und Bild, buchstäbliche und metaphorische Rede mit dem Verweis auf sein eigenes Material: In einem undatierten Brief Mallarmés auf festem Papier nimmt eine markante Federzeichnung scherzhaft den drohenden Abriss von Méry Laurents Sommerhaus vorweg, eine Bildlegende erklärt: »Il [le paon] change de maison«; wörtlich »Er [der Pfau] wechselt das Haus«. Der Autor und gelegentliche Zeichner hat sich gleichfalls selbst als ein solches Mischwesen porträtiert, innerhalb eines komplexen physiognomischen Verweissystems, in dem stilisierte Vogelschwingen besonders bedeutsam sind: Mallarmé fügt sie regelmäßig als quasi ikonische Zeichen seiner handschriftlichen Unterschrift hinzu, wie das berühmte Porträt Édouard Manets an mehreren Stellen mit der angedeuteten Vogelschwinge, die ihrerseits einem stilisierten Buchstaben gleicht, und ihrer symmetrischen Umkehrung arbeitet. Im Album Méry Laurents hat sich der Dichter wiederum womöglich selbstironisch als einen anderen Vogel gezeichnet: Ein kleines Distichon an der Stelle einer Bildlegende erklärt, das Tier finde keine Heimat in Talus, offenbar in dem bereits erwähnten Sommerhaus Méry Laurents, in dem Mallarmé selbst unzählige Male zu Gast war: »Ce triste hibou, s’il neige ou bruine/N’a pas aux Talus, trouvé de ruine«: »Diese traurige Eule, ob es schneit oder nieselt, hat in Talus keine Ruine gefunden«, also kein zum Unterschlupf geeignetes Gemäuer.43 In dieser Verbindung von eigenhändiger Zeichnung und Vers ist somit eine andere Kunst der Evokation von Mischwesen am Werk. Das Prosagedicht hat aber bereits eindrucksvoll gezeigt, dass es eben dieser Raum der Kunst, hier der Manegenkunst, ist, in dem Differenzen aufgeführt werden, die tatsächlich der Akt der Wahrnehmung erst hervorbringt. So kann der Zirkus unversehens zum Theater werden, der ältesten Bühne der abendländischen Kultur, auf der das Drama des Menschen immer wieder neu inszeniert wird. In der Moderne, so Mallarmés ironische Pointe, können wir eben diesen Menschen auch als tanzendes Tier sehen, buchstäblich als das »noch nicht festgestellte Tier« (Nietzsche),44 dessen zeitgemäße Ausdrucksform eine höhere Kunst ist, die vermeintlich feste Grenzen der Gattungen in der Literatur und im sogenannten wirklichen Leben immer schon überwunden hat. Indem die ›Moral‹ am Schluss auf der Besonderheit des poetischen Blicks insistiert, beschließt und eröffnet sie mit dem letzten Halbsatz jedoch zugleich die komplexe metapoetische Reflexion der Anecdote: Wie alle anderen nach draußen drängend, versichert sich der Sprecher, einmal mehr nicht »le même genre d’impressions que mes semblables« gehabt zu

43 Vgl. meinen Aufsatz Ortlieb, Cornelia: »Mallarmés japanisches Album«, in: Johannes Grave/Boris Roman Gibhardt (Hg.), Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf Text-Bild-Relationen in den Künsten, Hannover 2018, S. 107-127. 44 »Es gibt bei dem Menschen wie bei jeder andern Tierart einen Überschuß von Mißratnen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, notwendig Leidenden; die gelungnen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, daß der Mensch das noch nicht festgestellte Tier ist, die spärliche Ausnahme.« Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, Drittes Hauptstück: Das religiöse Wesen, Werke in drei Bänden, München 1954. Bd. 2, S. 623.

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haben, »die selbe Gattung von Eindrücken wie die mir Ähnlichen«,45 denn »ma façon de voir, après tout, avait été supérieure, et même la vraie«/»meine Art zu sehen war, alles in allem, die überlegene gewesen, und sogar die wahre.«46 Wenn das Thema der Superiorität, der Überlegenheit innerhalb einer Rangordnung von Lebewesen wie Textgattungen und Sichtweisen hier ein weiteres Mal variiert ist, so muss die Rede von den »semblables« doch vor allem an Charles Baudelaires höhnische Leseranrede in den Fleurs du mal/Blumen des Bösen denken lassen: Der »heuchlerische Leser« (»hypocrite lecteur«) ist ihm Bruder und »semblable«, in unübersetzbarer Mehrdeutigkeit somit in lexikalisierten Bedeutungen »ähnlich«, »gleichartig«, aber auch »Mitmensch«.47 Noch die Pointe von Mallarmés Text, in der man ein wahrnehmungspsychologisches und kunsttheoretisches statement des Sprecher-Ichs wie seines Autors vermuten könnte, ist mithin zitiert und montiert; einmal mehr betont das Ende, auf den Anfang zurückweisend, die Unmöglichkeit einer Rückkehr zu vermeintlich natürlichen ersten Ursprüngen und die Künstlichkeit neuer (Bühnen-)Wirklichkeit, die in den (zitierten) Kunstgriffen des Prosagedichts insgesamt performativ als adäquate Ausdrucksformen einer zeitgemäßen Kunst erwiesen werden. Die Illusionskunst des »Schaustellers Mallarmé«48 wird so am Ende ebenso konsequent als solche vorgeführt: Das Verb »sembler« ist seiner ersten und üblichen Übersetzung nach das gebräuchlichste Wort für »scheinen«/»den Anschein haben« und unterstreicht, dass der dunkle bis schwarze Raum des Publikums erst die flüchtigen weißen Erscheinungen durch eine bestimmte Lichtführung hervortreten lässt. Mit diesem Ende wird jedoch der Blick lesender Betrachtender einmal mehr auf das Schwarz-Weiß des Drucktexts zurückgelenkt, der als eine andere Bühnenfläche den Aufführungen von Klang, Wort und Sprach-Bild zugrunde liegt.

45 MG, S. 180, CO, Hervorhebung CO. Goebels Übersetzung lässt hier den für mich entscheidenden Begriff der Gattung//des Genres fort und wählt den Singular: »den selben Eindruck [...] wie meinesgleichen«. MG, S. 181. 46 Ebd., CO. 47 Baudelaire, Charles: Au lecteur, Les fleurs du mal, Paris 1857, S. 5-7. 48 Im Kommentar zum Prosagedicht »La déclaration foraine/Die Kundgabe auf dem Jahrmarkt«, einem von Méry Laurent initiierten und für eine Mode-Zeitschrift verfassten Text über die Ausstellung einer Mode-Dame von 1885, spricht Goebel zunächst von Mallarmés »Auftritt als Komödiant auf dem von ihm sogenannten (und schon in der ›Réminiscence‹ von 1864 erträumten) ›Jahrmarkt‹, vor einem nicht spezialisierten Publikum, mithin vor der auch von ihm sogenannten ›Menge‹«, betont dann aber, dass »der Dichter selbst […] nicht das zur Schau Gestellte, sondern nur der Schausteller [ist], und zwar der Dame selbst wie auch des Kunst-Stücks, das sie zum Schauspiel macht, indem es sie dazu deklariert«. MG, S. 406, 407. Entsprechend wäre auch die Aufführung von Geschlechterrollen in Mallarmés Prosagedichten als weitere Verhandlung von Gattungen noch eingehender zu untersuchen.

Von Seiltänzern, Tierbändigern und Zauberern Nietzsches zirzensische Anthropologie und Ästhetik M ARION S CHMAUS

1. Z IRKUS In Nietzsches Werk fällt der Begriff Zirkus nur zwei Mal. Im Jahr 1862 berichtet der siebzehnjährige Nietzsche in einem Brief an seine Schwester von einem Zirkusbesuch: »Habe die ersten 3 Tage meiner Ferien in Naumburg logiert, bin im Circus Hinné gewesen.«1 Von weiteren Zirkusbesuchen ist in seiner Biografie nichts bekannt, von einem eifrigen Zirkusbesucher Nietzsche kann im Folgenden also nicht ausgegangen werden. Allerdings gibt es Textstellen im Werk, die auf konkrete Zirkusnummern anspielen, wie die folgende: »Das Leben um der Erkenntniß willen ist vielleicht etwas Tolles: aber doch ein Zeichen von Frohmüthigkeit. Der Mensch dieses Willens ist so lustig anzusehen wie ein Elephant, welcher versucht auf seinem Kopfe zu stehen.«2 Die Elefantendressur wird hier, wie auch im Zarathustra, als Erkenntnismetapher verwendet. Und auf eine weitere Zirkusnummer, das Kunstreiterstück, spielt Nietzsche an in seinem Verriss von David Strauss’ Leben Jesu, dort heißt es gegen Strauss’ Sprachstil gewendet: »Plötzlich sehen wir ›drei Meister, davon jeder folgende sich auf des Vorgängers Schultern stellt‹ (S. 361), ein rechtes Kunstreiterstückchen, das uns Haydn, Mozart und Beethoven zum Besten geben.« 3 Indirekt auf den Zirkus kommt Nietzsche 1888 in einem Brief an seine Mutter zu

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Nietzsche, Friedrich: »Brief an Elisabeth Nietzsche in Dresden vom 7.7.1862«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, 1. Abteilung, 1. Bd.: Briefe von Friedrich Nietzsche Juni 1850-September 1864. Briefe an Friedrich Nietzsche Oktober 1849-September 1864, Berlin, New York, S. 214 f., hier S. 215. Ders.: »Nachgelassene Fragmente (Jul. 1882-1883/84)«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), 7. Abteilung, 1. Bd.: Nachgelassene Fragmente Juli 1882 bis Winter 18831884, Berlin, New York 1977, hier S. 61. Ders.: »Unzeitgemäße Betrachtungen I: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller«, in: ebd.: 3. Abteilung, 1. Bd.: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I-III (1872-1874), Berlin/New York1972, S. 155-240, hier S. 236.

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sprechen, wenn er das »schreckliche Elephanten-Ereigniß von München«4 erwähnt. Die ›Münchener Elefantenpanik‹ vom 31. Juli 1888 ging in Europa schnell durch die Presse, Nietzsche schreibt an seine Mutter bereits am 2. August. Für den ZentenarFestzug in München hatte der Circus Hagenbeck Elefanten gestellt, die durch Dampfmaschinen in Panik versetzt wurden und dann unkontrolliert durch München marschierten – eine Zeitung titelte »Elephant im Hofbräuhaus«5. Der zweite Anlass, an dem Nietzsche tatsächlich das Wort Zirkus gebraucht, ist eine Wagner-Oper: Zum »Circus Walküre«6 heißt es abschätzig: »Alles, was von Wagner’s Musik auch abseits vom Theater populär geworden ist, ist zweifelhaften Geschmacks und verdirbt den Geschmack.«7 So könnte es zunächst als schiere Anmaßung erscheinen, über Nietzsches ›zirzensische‹ Anthropologie und Ästhetik schreiben zu wollen, allerdings weisen die Elefantennummer als Erkenntnismetapher und die Verbindung von Zirkus mit zeitgenössischer Kunst in die Richtung, in der Nietzsche das Metaphern-, Sozial- und Kunstfeld des Zirkus in seinem Werk ausbuchstabiert. Er tut dies vor allem in seinem philosophischen Roman Also sprach Zarathustra. In der dort entwickelten anthropologischen Typenlehre spielen Zirkusakteure wie Seiltänzer, Possenreißer, Narr, Zwerg, Zauberer und Tierbändiger wichtige Rollen, sie erscheinen als Spiegel- und Zerrfiguren Zarathustras, der dadurch selbst in seiner Funktion als Schausteller profiliert wird. Aber der Zirkus stellt nicht allein das Figurenpersonal für den Roman, sondern dieser selbst und die in ihm sich ausdrückende Philosophie sind eine Zurschaustellung. Darauf weist bereits der Titel des von Nietzsche zwischen 1883 und 1885 zunächst in drei Teilen publizierten Romans, der 1892 durch Peter Gast, nach Nietzsches Zusammenbruch, um den vierten Teil erweitert wurde. Der Titel lautet: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Damit wird die Kommunikationssituation zum existenziellen Bestandteil der hier propagierten Philosophie, die eine Abfolge von Redesituationen in ihren Extremen bringt. Phasenweise zieht sich die an den historischen, altpersischen Religionsstifter Zarathustra nur lose angelehnte Figur Zarathustra in die Einsamkeit zurück und redet nur zu sich selbst oder seinen Tieren, Adler und Schlange – ist damit ein Buch für keinen –, dann wieder sucht er die Öffentlichkeit, redet auf dem Marktplatz, vor Anhängern, vor Gegnern und schließlich beim Eselsfest vor Schaustellern wie dem Zauberer oder dem Papst. Der erste Teil des Romans beginnt mit Zarathustras Abstieg aus dem Gebirge zu den Menschen und er endet mit seiner Rückkehr in die Einsamkeit seiner Höhle, die

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Ders.: »Brief an Franziska Nietzsche vom 2.8.1888«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, 3. Abteilung, 6. Bd.: Briefe an Friedrich Nietzsche Januar 1887-Januar 1889, Berlin/New York 1984, S. 380 f., hier S. 381. Vgl. Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen, Leipzig 1967, hier S. 170. Nietzsche, Friedrich: »Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem«, in: Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 6. Abteilung, 3. Bd.: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung – Nachgelassene Schriften (August 1888-Anfang Januar 1889): Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben – Nietzsche contra Wagner, Berlin/New York 1969, S. 3-47, hier S. 22. Ebd.

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weiteren drei Teile wiederholen diese Bewegung zwischen Einsamkeit und Öffentlichkeit, nur die Formen der Öffentlichkeit verändern sich: Redet er im ersten Teil noch mit seinen Gegnern, so verlässt er am Ende des zweiten Teils seine Anhänger/ Freunde, im dritten Teil unterhält er sich nur noch mit sich selbst und seinen Tieren, während er am Ende des vierten Teils, beim Eselsfest, eine seltsame Gesellschaft an Außenseitern in seine Höhle einlädt. Von seinem Bewegungsprofil verbindet der Text Bildungs- und Reiseroman. Er endet mit Zarathustras Aufbruch in eine nicht näher konturierte Zukunft.8 Die Reden und Kapiteltitel sind in ihrem Sprachduktus an die biblische Diktion angelehnt, was sich u. a. an anaphorischen Titeln wie Von den Hinterweltlern, Von den Dichtern, Von den Taranteln zeigt – von den insgesamt 80 Kapiteln beginnen 47 mit ›Von‹ oder ›Vom‹. Weitere Titel beginnen gleichfalls anaphorisch mit Artikeln wie Der Wahrsager, Der Zauberer, Das Eselsfest, ebenso die Liedtitel, z.B. Das Tanzlied und Das trunkene Lied, von denen es fünf gibt. Der Überblick über die Titel des Zarathustra weist auf zweierlei hin, zum einen auf die bereits erwähnte anthropologische Typenlehre, wobei auch Sozial- bzw. Berufstypen genannt werden, die auf den Bereich des Zirkusses verweisen, wie Wahrsager und Zauberer. An ihnen wird aber auch eine weitere Eigentümlichkeit dieses Romans ersichtlich: sein anachronistischer Charakter; er verwendet alte Redeformen, zitiert mit Bibel, Gleichnis und Fabel alte Textformen und bringt mit Zarathustra einen unzeitgemäßen, ›altertümlichen‹ Prediger, dem ebensolche Mit- und Gegenspieler zugesellt sind. So begegnen uns keine Protagonisten aus dem zeitgenössischen Zirkus, sondern solche Artisten, die es schon zuvor als fahrendes Volk gegeben hatte. Das breite Spektrum an einer solch suspekten Klientel, das der Roman aufbietet, lässt sich mit der von Nietzsche entworfenen Standpunkt-Epistemologie des Außenseiters in Verbindung bringen. In einem Fragment aus dem Jahr 1888 wird eine gezielte Auf- und Umwertung solcher Sozialtypen zur Sprache gebracht: »Die Umkehrung der Rangordnung: die frommen Falschmünzer, die Priester werden unter uns zu Tschandala: – sie nehmen die Stellung der Charlatans, der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für Willens-Verderber, für die großen Verleumder und Rachsüchtigen des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen * * Dagegen ist der Tschandala von Ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute – im Grunde alle verrufenen Menschenklassen – wir haben uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die Ehre auf Erden, die ›Vornehmheit‹… wir Alle sind heute die Fürsprecher des Lebens.«9

In diese Absicht, einer Distanzierung von einer gegebenen Sozialordnung durch Umwertung nicht allein von Worten, sondern auch von sozialen Gruppen – in diesem Fall eine Aufwertung über Jahrhunderte hinweg ›verrufener Menschenklassen‹ wie

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Vgl. Schmidt, Rüdiger/Spreckelsen, Cord: Nietzsche für Anfänger. Also sprach Zarathustra, München: dtv 1995, S. 179. Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente (1888-Jan. 1889)«, in: ders.: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 8. Abteilung, 3. Bd.: Nachgelassene Fragmente Anfang 1888-Anfang Januar 1889, Berlin, New York 1972, hier S. 232.

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Artisten, Juden und Spielleuten zu ›Fürsprechern des Lebens‹ –, ist ebenso der Roman Also sprach Zarathustra einzuordnen. Anstatt sich in der Auseinandersetzung mit anderen Religionsstiftern oder Philosophen zu profilieren, wird Zarathustra vordergründig im Gespräch mit Possenreißern, Wahrsagern und Zauberern gezeigt. Dass sich hinter solchen Bezeichnungen dann intertextuell doch die eine oder andere mehr oder weniger satisfaktionsfähige Philosophie verbirgt, ist eine andere Sache. Und dies sollte einerseits nicht den polemischen Gestus dieser anderen Form des Philosophierens von unten bzw. von außen verdecken, die sich mit Spielleuten solidarisiert, und andererseits nicht das Konstruktive dieser Solidarisierung im Blick auf eine Artistenphilosophie.

2. Z IRZENSISCHE ANTHROPOLOGIE 2.1 Physisch-psychologische und sozialhistorische Typenlehre Bevor im Einzelnen Zarathustras Mit- und Gegenspieler betrachtet werden sollen, möchte ich den argumentativen Rahmen von Nietzsches zirzensischer AußenseiterAnthropologie noch etwas ausführlicher beleuchten. Eine Überlegung aus der Fröhlichen Wissenschaft ist hier aufschlussreich, da sie sozial-historische Bedingungen ebenso berücksichtigt wie physisch-psychologische: »Vom Probleme des Schauspielers. […] Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten ›Charakter‹ bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art […]. Ein solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den ›Künstler‹ erzeugt (den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown zunächst, auch den classischen Bedienten, den Gil Blas: denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des ›Genies‹).«10

Die Übergänge zwischen Zirkus und hoher Kunst sind bei Nietzsche also fließend, auch die historischen Raffungen vom mittelalterlich-frühneuzeitlichen Typus des Narren zum Gil Blas und dem Genie des 18. Jahrhunderts sind beachtenswert. Neben 10 Ders.: »Die Fröhliche Wissenschaft, Die Fröhliche Wissenschaft«, in: Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 5. Abteilung, 2. Bd.: Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881-Sommer 1882, Berlin/New York 1973, S. 11-335, hier S. 290 f.

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den wechselseitigen Umwertungsprozessen, der Degradierung des Genies durch seine Verbindung mit dem Hanswurst und der Aufwertung des Clowns zum Künstler, zeichnen sich hier Grundlinien der sogenannten ›Entlarvungspsychologie‹ 11 Nietzsches ab. Diese ist am psychologischen oder physiologischen Fall bzw. am Typus Mensch interessiert, am Psyche und Soma umschließenden ganzen Menschen sowie an der Einheit von Leben und Erkennen. Eine der erkenntnisleitenden Prämissen dieser Psychologie lautet: »[H]inter aller Logik [...] stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben.«12 Es geht darum, die »unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen«13 aufzudecken. Unter dem Blickwinkel der Psychologie verdient Nietzsches Begriff der Person eine nähere Beleuchtung, denn mit diesem ist nicht oder nicht allein das biografisch unverwechselbare Individuum gemeint, sondern als psychologische und soziologische Kategorie wird ›Person‹ mit ›Typus‹ gekoppelt. Die Person kommt hier wieder ihrem begriffsgeschichtlichen Ursprung nahe: ›Persona‹, das ist die Maske, die der Schauspieler in der griechischen Tragödie trug. Das Wort verweist also auf eine Rollenidentität, etwas Aufgesetztes. Die Person ist ein Oberflächenphänomen. Sie ist Ausdruck einer historisch-kollektiven, strukturellen oder auch physiologischen Konstellation. Im Falle der Typen-Reihung Narr-Clown-Künstler verbindet Nietzsche Überlegungen zur sozialen Herkunft, zum Milieu mit Biologisch-Physiologischem sowie mit einem psychologischen Profil, etwa »Anpassungs-Fähigkeiten aller Art«14. Das Fragment aus der Fröhlichen Wissenschaft macht deutlich, dass hier eine Philosophie vorliegt, die sich mit den Herausforderungen des naturwissenschaftlichen Zeitalters, mit Robert Mayers Energieerhaltungssatz, Virchows Zelltheorie, der Psychiatrie der Charcot-Schule, dem Psycholamarckismus und Darwins Abstammungslehre auseinandersetzt. Nicht nur die Verbindung von Instinkt und Charakter im Fragment, sondern auch das Stichwort ›Mimikry‹ verweisen auf Nietzsches Rezeption eines ganz konkreten Textes der Darwin-Schule. Georg Heinrich Schneider, ein Darwin-Schüler aus der zweiten Reihe, hat 1880 mit Der thierische Wille eine experimentell abgesicherte Studie vorgelegt, die sich vornahm, die ›Erklärung thierische[r] Triebe‹ zur ›Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre‹, d.h. einer tierisch-menschlichen Willenslehre, zu machen.15 Triebe sind laut Schneider durch Selektion, Anpassung und Vererbung sedimentierte Gewohnheitshandlungen. So bildet sich das Innenleben gleichsam plastisch aus wiederholten Reaktionsmustern auf

11 Vgl. Schmaus, Marion: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936), Tübingen 2009, S. 311-313. 12 Nietzsche, Friedrich: »Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 6. Abteilung, 2. Bd.: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886-1887), Berlin, New York 1968, S. 1-258, hier S. 11. 13 Ders.: Die Fröhliche Wissenschaft, S. 16. 14 Ebd., S. 290. 15 Schneider, Georg Heinrich: Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre, Leipzig 1880.

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die Umwelt. Er stellt eine evolutionäre Verbindung her zwischen tierischen Reaktionsweisen, etwa dem Schutztrieb durch Mimikry, und menschlichen Reaktionsweisen wie einer Mimikry durch Verkleidung. Nietzsche wird Schneiders Studie in seiner Genealogie der Moral und in seinen Entwicklungsgeschichten von den Trieben zum Willen in Zarathustra produktiv aufnehmen – und es sei nur am Rande bemerkt, dass Schneider auch von Wilhelm Dilthey emphatisch gelesen und in seine Ethik eingearbeitet worden ist.16 Beide, Nietzsche und Dilthey, entwerfen damit eine Lebensphilosophie, die nicht bei einer Anthropologie stehen bleibt, sondern von einer tierisch-menschlichen Lebenseinheit ausgeht. 2.2 Von Tierbändigern: Die Lebenseinheit von Tier und Mensch Für das uns interessierende Diskursfeld des Zirkus bei Nietzsche ist dies nicht unerheblich, denn die in Zarathustra zu findende Präsenz und Funktion von Tieren gehört in diesen Zusammenhang. Von Tierbändigern im einfachen Sinn eines ZirkusDompteurs kann im Hinblick auf diesen Roman nicht gesprochen werden. Sondern das Tierbändigen ist zweifach zu verstehen: Zum einen erscheint Zarathustra als ein Tierbändiger, insofern er sich selbst bändigt, er lernt seine Instinkte und seinen Willen gleichsam ästhetisch zu formen. Der Roman beschreibt in dieser Perspektive Zarathustras Weg der Selbstformung und durchaus einer Selbstformung des Menschen als Tier. Insbesondere die Fabel bzw. das Gleichnis von Kamel, Löwe und Kind im Text ist hier erwähnenswert. Zum anderen ist das Tierbändigen so auszulegen, dass nicht Zarathustra die mit ihm lebenden Tiere Adler und Schlange bändigt, sondern diese ihm zum Vorbild für ein Leben im Einklang mit Trieben und Willen werden. Wobei in beiden Fällen auf die erneut polemische Umwertung von Tier und Mensch in Nietzsches Roman hinzuweisen ist, das Tier ist das Vornehme, Vorbildhafte, an dem sich der Mensch zu orientieren hat. Bei dem Gleichnis vom Kamel, dem Löwen und dem Kind handelt es sich um Zarathustras erste Rede, die gleich nach der Vorrede kommt und die er in einer Stadt hält, die »bunte Kuh« genannt wird. Sie richtet sich an nicht näher konturierte Adressaten, die zunächst mit »euch«, dann mit »meine Brüder« angesprochenen werden. Er spricht: »Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.« 17 Er skizziert darin eine Metamorphose vom ehrfürchtigen Geist des Kamels über den befreienden Geist des Löwen bis zum spielenden Geist des Kindes. Und diese Metamorphose kann durchaus als Vorausblick auf die kommende Romanhandlung verstanden werden, denn das Lachen des Löwen nach dem Eselsfest im vierten Teil läutet die Umwandlung Zarathustras zum spielenden Geist ein, der dann auch ›seine Kinder‹ kommen sieht.18 Die im Roman verwendeten Tierallegorien sind aus My-

16 Vgl. M. Schmaus: Psychosomatik, S. 344-348. 17 Nietzsche, Friedrich: »Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (18831885)«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 6. Abteilung, 1. Bd.: Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1968, hier S. 25– 27. 18 »[M]eine Kinder sind nahe, meine Kinder«; ebd., S. 402.

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thos, Fabel und Märchen bekannt. Das Lasten tragende Kamel ist bereit, um der Wahrheit willen ›Schweres‹ auf sich zu nehmen: u. a. Selbsterniedrigung, »Thorheit« und »Hochmuth«. Der Löwe steht für die ›Freiheit‹ des »ich-will«, die sich gegen das gesellschaftliche »Du-sollst« wendet und mithin das Prinzip der Umwertung in seiner negativen Valenz verkörpert: Er befreit von alten Werten – »[n]eue Werthe schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen«. Für das neue Schaffen bedarf es der weiteren Umwandlung des Löwen zum Kinde, das für »Unschuld«, »Vergessen« und »Spiel« steht: »Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.«19 Die Metamorphose des Geistes und des Körpers ist in dieser Rede nicht allein Gegenstand, sondern sie wird auch performativ vollzogen und eröffnet so das Erzählprinzip des Romans: Als Lasten tragendes Kamel erweist sich der Text, in dem er ein Archiv alter Texte mit sich trägt, hier in dieser Rede vor allem Fabel und Märchen sowie die Bibel; als Löwe zeigt er sich, indem er sich in der satirischen Zitation dieses Alten entledigt und als Kind, insofern es nicht bei der bloßen Negation bleibt, sondern das alte Erzählmaterial neu verwoben wird zu eigenem Ausdruck. Als ein solches Spiel mit Worten wäre Zarathustras Zitation und Neubewertung des JesuWortes »so ihr nicht […] werdet wie die Kinder« (Mt 18,3) zu verstehen, dem hier noch ein ›so ihr nicht werdet wie die Tiere‹ vorgeschaltet wird. Ein ähnliches Verfahren der Bedeutungsverschiebung und Umwertung ist im Falle von Zarathustras tierischer Hausgemeinschaft zu beobachten. In seiner Höhle lebt er mit Adler und Schlange zusammen. Zu ›seiner‹ Schlange als Verkörperung ›seiner Klugheit‹ wird dieses Tier, indem die biblische Konnotation des Bösen negiert, die ebenfalls biblische des Erkenntnistieres allerdings beibehalten und bejaht und mit der antiken Bedeutung der Äskulapschlange, die sich um einen Stab wickelt, verbunden wird. Dadurch treten zur Schlange die Bedeutungen der Heilkraft und über das Moment der ›Verjüngung durch Häutung‹ auch das der Metamorphose hinzu. Können diese Tiere anfänglich noch als Fabeltiere missverstanden werden, die nur eine menschliche Eigenschaft verkörpern, der Adler den Stolz, die Schlange die Klugheit, so wandeln sich in der leitmotivischen Wiederkehr alle drei Protagonisten dieser eigentümlichen Hausgemeinschaft, also Adler, Schlange und Zarathustra, in wechselseitiger Abhängigkeit. Dass Adler und Schlange von Anfang an der Märchenfunktion von Tierhelfern entwachsen sind, zeigt das Ende der Vorrede von Also sprach Zarathustra, wenn sie ihrem Meister sozusagen voraus sind und er sie als »Führer« anspricht: »Mögen mich meine Thiere führen!«20 Ein Tierbändiger ist Zarathustra also nur, insofern er sich als Lasttier bewährt und sich als Raubtier/Löwe, und d.h. in seiner negativen Freiheit, bändigt; während in der häuslichen Interaktion zwischen seinen Tieren und ihm sich das übliche hierarchische Verhältnis einer Tierbändigung verkehrt hat. Der Roman propagiert eine tierisch-menschliche Lebenseinheit und ist, wie es später heißt, auch an einem »Glück der Thiere« 21 interessiert.

19 Ebd., S. 25-27. 20 Ebd., S. 21. 21 Ebd., S. 333.

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2.3 Von Seiltänzern und Possenreißern: Lebens- und Körper-Kunst In der Vorrede zu Also sprach Zarathustra ist schon zuvor vom Übergang TierMensch die Rede, jedoch in negativer Konnotation. So lauten die Sterbeworte des Seiltänzers: »Wenn du die Wahrheit sprichst, sagte er dann, so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verliere. Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen.«22 Worauf Zarathustra antwortet: »Nicht doch, […] du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«23 Die Vorrede berichtet von einem Artistenunfall, der Seiltänzer stürzt während seiner Nummer vor dem Volk auf dem Marktplatz zu Tode, weil ein Possenreißer nach ihm das Seil betritt, ihn überspringt und so den Absturz provoziert. Beide Figuren aus dem Zirkusbereich, Seiltänzer und Possenreißer, sind Spiegel- und Zerrfiguren Zarathustras, anhand derer er Erkenntnisse über sich selbst, seine Mission und sein Publikum erhält. An dem Leichnam des Seiltänzers erfährt er sich zum ersten Mal als Lasttier, dem Kamel gleich, und nimmt den Geist der Schwere auf sich. Aufgetreten war er selbst gleichsam als Ersatz des Seiltänzers, der vom Volk erwartet wurde. Die Szene beginnt folgendermaßen: »Als Zarathustra in die nächste Stadt kam, die an den Wäldern liegt, fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markte: denn es war verheissen worden, dass man einen Seiltänzer sehen solle. Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.« Wenn Zarathustra im Folgenden ausführt: »Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe«, so ist dies im Darwin-Kontext zu verstehen, und trotz archaisierendem Setting und Tonlage konnten sich die Zeitgenossen angesprochen fühlen. Zarathustras Rede stößt beim anwesenden Publikum allerdings nur auf Unverständnis, sodass sein Auftritt rüde gestört und beendet wird: »Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer aus dem Volke: ›Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!‹ Und alles Volk lachte über Zarathustra. Der Seiltänzer aber, welcher glaubte, dass das Wort ihm gälte, machte sich an sein Werk.«24 Dann folgt der bereits skizzierte, vom Possenreißer provozierte Artistenunfall. Alle drei Elemente: Zarathustras Lehre vom Übermenschen, der Seiltanz und das Überspringen des Seiltänzers durch den Possenreißer werden repetitiv und gedanklich ineinandergeschoben. So lässt sich die Handlung des Possenreißers sowohl als Umsetzung von Zarathustras Lehre vom Übermenschen verstehen – denn dieser hatte verkündet: »Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll« –,25 als auch als Reaktion auf die Aufforderung des Volkes, das vom vermeintlichen Seiltänzer Gehörte doch in Aktion umzusetzen. Von seinen beiden Vorgängern im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie das Seil vor ihm betreten haben, lernt Zarathustra etwas und modifiziert seine Lehre in actu. Vom Possenreißer übernimmt er die Einsicht, dass

22 23 24 25

Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 8, 10. Ebd., S. 8.

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der Mensch nicht nur ›überwunden‹, sondern ›übersprungen‹ werden soll: So heißt es im 9. Absatz der Vorrede: »Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen.«26 Dieses vom Possenreißer vorgeführte Prinzip des ›ich-will‹ weist voraus auf das Tiergleichnis und das Raubtierhafte des Löwen. Vom Seiltänzer übernimmt Zarathustra für seine Lehre vom Übermenschen die Bildlichkeit: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.«27 Und er übernimmt ebenso die Einsicht in das Gefahrvolle dieser Artistennummer, das er fortan für sich selbst akzeptiert. Die Vorrede endet mit der Erzählformel: »Also begann Zarathustra’s Untergang«28, die Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft schon in ihrer lateinischen Form ›Incipit tragoedia‹ eingeführt hatte.29 Der Sturz des Seiltänzers leitet so Zarathustras tragischen Fall ein, und erneut ist hier auf die Verbindung von sogenannter niedriger Unterhaltungskunst und hoher, in diesem Fall Tragödienkunst aufmerksam zu machen. Aus der Erfahrung dieser dreiteiligen Aufführung vor dem Volk auf dem Markt insgesamt zieht Zarathustra die Schlüsse, dass er Adressaten und Aufführungspraxis ändern muss: »›Da stehen sie‹, sprach er zu seinem Herzen, ›da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. […] Ein Licht ging mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten!« 30 Diesen Vorsatz wird Zarathustra im ersten Teil des Romans beherzigen und sich Gefährten suchen, zu denen er sprechen wird, allerdings nicht solche, die ihm »folgen« wollen, denn dann wäre er als Religionsstifter, wie sein Vorgänger Zarathustra, missverstanden worden, sondern solche, die »sich selber folgen wollen« 31. Diese Aufforderung zur Autonomie ist ernst zu nehmen, Zarathustra und mit ihm sein Autor Nietzsche sind als Spätaufklärer wahrzunehmen, und Kants ›Habe Mut‹ lässt sich vor dem Hintergrund der gefahrvollen Artistennummer besonders eindringlich reformulieren. Zarathustras Reden werden im Folgenden adressaten- und situationssensitiv: Es wird nicht mehr unterschiedslos für alle gesprochen, sondern er spricht zu einem ausgewählten Kollektiv, den Gefährten – zumeist ein nicht näher konturiertes ›Euch‹ –; er spricht häufig zu sich selbst, was in der leitmotivisch wiederkehrenden Formel: »Und also redete er dann zu seinem Herzen« 32 ausgedrückt wird; er redet mit seinen Tieren und mit ausgewählten Personen, wie dem Bettler, dem Zauberer etc. In dieser Gestalt artikuliert sich eine Philosophie, die ihre Medialität reflektiert und auf der Suche ist nach einer angemessenen Form der Aufführungspraxis, es ist eine Philosophie, die sich performativ durch die Akte ihrer Aufführung verändert und wandelt. Das im Gleichnis der Tiere formulierte Prinzip der Metamorphose ist somit auch dieser Philosophie eigentümlich. Als ein Beispiel konnten wir die Modifikation von Zarathustras Lehre vom Übermenschen in der Marktszene beobachten, die sich vom

26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 21. Ebd., S. 10. Ebd., S. 22. Vgl. F. Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft, S. 251. Ders.: Also sprach Zarathustra, S. 12. Ebd., S. 19. Ebd.

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noch unspezifischen ›der Mensch soll überwunden werden‹ im 3. Abschnitt wandelt zu Zarathustras Selbstgespräch im 9. Abschnitt der Vorrede: »Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen.«33 Der Philosoph betreibt seine Wissenschaft nicht als reflektierender Betrachter, sondern als Erlebender, als Artist. Ein philosophischer Bildungsroman ist Zarathustra nicht nur darum, weil der Bildungsweg eines Philosophen verfolgt wird, sondern weil der Bildungsweg einer Philosophie verfolgt wird. Nietzsche zeigt dies exemplarisch an zwei Leitphilosophemen Zarathustras, zuerst an der Lehre vom Übermenschen, die die ersten beiden Romanteile bestimmt, die dann abgelöst wird von dem zweiten Philosophem der ewigen Wiederkehr. Deren Dignität ist in der Nietzsche-Forschung bis heute umstritten: Sind sie allein als Selbstausdruck Zarathustras zu erfassen oder können sie von diesem und der Romanform abgelöst werden und als Philosopheme überleben?34 Der Zusammenhang von Erlebnissen und Gedanken, Formulierungen, dass man »durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist«, diese »durchlebt«35 habe, durchziehen Nietzsches Gesamtwerk. Im Zarathustra wird der Erkenntnis- dann konsequent zum Lebensprozess umgewertet, indem Zarathustras Erleben und Durchleben des Ewigen-WiederkunftsGedankens als »höchste[r] Formel der Bejahung« des Daseins die »Grundconception des Werks«36 abgibt. In jedem Fall zeigt der Roman an diesen Gedanken die enge Verbindung von Erkennen und Erleben auf, die auch der Autor Nietzsche gerade für diesen Text in Anspruch genommen hatte. Denn diese Verbindung wird ebenso durch die Dramatisierung einer plötzlichen Erkenntnis, durch Momente der Inspiration, hervorgehoben. Die ›Empfängnis‹ des Zarathustra wird in jedem Schritt, von der Befruchtung im August des Jahres 1881 über die »achtzehn Monate für die Schwangerschaft« 37 – Nietzsche vergleicht sich mit einer Elefantenkuh – bis zur »plötzlichen und unter den unwahrscheinlichsten Verhältnissen eintretenden Niederkunft im Februar 1883« 38, in der Metaphorik von Inspiration und Prokreation stilisiert. Nietzsche schreibt, das Re-

33 Ebd., S. 21. 34 Vgl. Penzo, Giorgio: »Übermensch«, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 342-345; Skirl, Miguel: »Ewige Wiederkunft«, in: ebd., S. 222-230. 35 Nietzsche, Friedrich: »Menschliches, Allzumenschliches«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 4. Abteilung, 1. Bd.: Nachgelassene Fragmente 1876-Winter 1877/7, 2. Bd.: Menschliches, Allzumenschliches, Berlin/New York 1967, S. 5-380, hier S. 370. 36 Ders.: »Ecce homo«, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 6. Abteilung, 3. Bd.: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Nachgelassene Schriften (August 1888-Anfang Januar 1889): Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner, Berlin/New York 1969, S. 253-372, hier S. 333. 37 Ebd., S. 334. 38 Ebd., S. 333.

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sultat, der »Sohn Zarathustra«39, »als Typus [...] überfiel mich ...«40 Dem folgt dann eine kurze Skizze zur »Erfahrung von Inspiration«, die mit dem Begriff der Offenbarung an die religiöse Tradition solcher Erfahrungen anknüpft und das Moment der Notwendigkeit und Unfreiheit in diesem Erlebnis hervorhebt: »[I]ch habe nie eine Wahl gehabt.« Der somatische Zustand solcher Inspiration wird ausgestaltet: »Thränenstrom«, »ein vollkommenes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen«. Was im Weiteren diese Erfahrung kennzeichnet – auch dies eine Reminiszenz an die Mystik –, ist eine gewaltsam sich aufdrängende Gleichnisrede, wobei die »Unfreiwilligkeit des Bildes«41 als Garant für den Realitätsgehalt der Worte gilt. Gedanke und Ausdruck werden also im Zustand der Inspiration empfangen. Zudem sind der Wille und das Erkennen von diätetischen Rahmenbedingungen abhängig. Als ganzheitliche Erfahrung ist die Inspiration auf den richtigen Ort, das richtige Klima und die rechte Zeit angewiesen. Nietzsches praktische Philosophie propagiert so einen Kontextualismus: »[E]in Fehlgriff in Ort und Klima [kann] Jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten [...]: er bekommt sie nie zu Gesicht.«42 Allerdings akzentuiert Nietzsche nicht allein die Inspiration als ein psychosomatisches Geschehen, sondern vor dem Hintergrund der experimentellen Psychologie seiner Zeit jedes Ausdrucksgeschehen: »Das Sich-hineinleben in andere Seelen ist urspr nichts Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion: die ›Sympathie‹ oder was man ›Altruismus‹ nennt, sind bloße Ausgestaltungen jenes zur Geistigkeit gerechneten psycho-motorischen Rapports (induction psycho-motrice meint Ch. Féré). Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurück gelesen werden [...]«43.

Im Zarathustra gibt Nietzsche dieser leibseelischen Ganzheitlichkeit des Erkenntnisund Verstehenszusammenhangs mit dem Diktum von der »grossen Vernunft« des Leibes einen eigenen somatopsychischen Akzent: »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.«44 Unter diesem Vorzeichen lässt sich ein weiteres Moment herausstellen, an dem Zarathustra positiv an die Figur des Seiltänzers anknüpft, und zwar mit dem Motiv des Tanzes als Körperkunst. Der Redner Zarathustra hat für seine Lehre, dass »der

39 Ders.: »Brief an Overbeck« vom 12.7.1884, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abteilung, 1. Bd.: Briefe von Friedrich Nietzsche Januar 1880-Dezember 1884, Berlin, New York 1981, hier S. 511. 40 Ders.: Ecce homo, S. 335. 41 Ebd., S. 337 f. 42 Ebd., S. 280. 43 Ders.: Nachgelassene Fragmente (1888-Jan. 1889), S. 89. 44 Ders.: Also sprach Zarathustra, S. 35 f.

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Mensch ein Seil sei«,45 in der Vorrede noch nicht den adäquaten körperlichen Ausdruck gefunden. Im Fortgang des Romans wird er verschiedene Tanzlieder zum Besten geben, um sich und seinen Zuhörern so die angemessenen körperlichen Ausdrucks- und Rezeptionsformen seiner Philosophie gleichsam einzusingen. Im getanzten Lied stützt sich der Ausdruck nicht allein auf Worte und den Geist, sondern auf den gesamten Körper. Es handelt sich um einen ästhetischen ganzheitlichen Selbstausdruck. Der Tanz ist im Roman die dem zum Kinde sich wandelnden, spielenden und schaffenden Geist adäquate leichtfüßige und anmutige Ausdrucks- und Lebensform. Ganz existenziell tritt Zarathustra also die Nachfolge des Seiltänzers an, dessen körperliche Dressur (Schläge) und gefahrvollen Beruf er für sich akzeptiert und sich bis zum vierten Teil zu einem leichtfüßigen Solotänzer wandelt, der seine Kinder erwartet. Dass im abschließenden Teil die Kinder als ein Zarathustra angemessenes Publikum erwartet werden, verweist neben der Bibelparodie auch auf die Sphäre des Zirkusses.

3. V OM Z AUBERER : ARTISTENÄSTHETIK – P HILOSOPHIE DES Z IRKUS ? So wie der Roman mit der Marktplatzszene in der Vorrede mit einer Situation der Schaustellung eröffnet wird, so wird er im vierten Teil auch mit einer solchen beschlossen. Zarathustra hat dazugelernt, er redet nun nicht mehr auf dem Markt vor allen, sondern er hat am Tag ausgewählte Gäste in seine Höhle eingeladen, die sogenannten ›höheren Menschen‹. In Interaktion mit diesen entspinnt sich dann ein Zirkusabend, dessen wichtigste Merkmale es sind, dass die geladenen Zuschauer, die eigentlich nur konsumieren wollten – Wein, Essen und Weisheit –, selbst zu Attraktionen und Nummern werden. Als Darbietungen sind Zarathustras Reden festzuhalten, Das Lied der Schwermuth des Zauberers sowie das Eselsfest. Zur gemeinsamen Pantomime findet sich am Abend also eine sonderbare Gesellschaft ein: »Denn da sassen sie allesammt bei einander, an denen er des Tags vorübergegangen war: der König zur Rechten und der König zur Linken, der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler, der Schatten, der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel; der hässlichste Mensch aber hatte sich eine Krone aufgesetzt und zwei Purpurgürtel umgeschlungen, – denn er liebte es, gleich allen Hässlichen, sich zu verkleiden und schön zu thun.«46

Mit diesen Protagonisten werden u. a. alle gesellschaftlich relevanten Institutionen aufgerufen und satirisch bloßgestellt, mit den Königen der Staat, mit dem alten Zauberer die Kunst, mit dem Papst die Kirche und mit dem Gewissenhaften des Geistes die Wissenschaft. Der Aufführungsort hat sich gegenüber der Eröffnungsszene auf dem Markt deutlich gewandelt, von einem freien Raum mit größerer Öffentlichkeit zu einem abgeschlossenen Raum mit ausgewähltem Publikum, das dann auch noch abwechselnd Rollen in der Aufführung übernimmt. Zarathustras Höhle im Gebirge

45 Ebd., S. 10. 46 Ebd., S. 342.

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weist dabei durchaus Ähnlichkeiten mit einem Zirkusgebäude oder -zelt auf, das wird vor allem wiederkehrend über olfaktorische Eindrücke vermittelt. Zarathustra muss immer wieder seine Höhle und Gäste verlassen, denn »diese höheren Menschen insgesamt – riechen […] nicht gut«, und »die Luft war hier draußen besser als bei den höheren Menschen«47. Dieses abendliche Fest in der Höhle zitiert und parodiert verschiedene Formen des Festes und der Aufführung. Es ist mit den Kapiteltiteln Das Abendmahl und Das Eselsfest als Bibelparodie zu verstehen, Jesu Tod und Geburt werden so übereinandergelegt. Das Mahl in der Höhle mit anwesendem Esel ist so einerseits Totenfeier für die ›höheren Menschen‹, andererseits erwartete Geburtsfeier für die ›Kinder‹ Zarathustras und insofern Weihnachtsabend. An Platons Symposion, in dem vielstimmig über die Liebe philosophiert wurde, ist ebenfalls zu denken. Und im Weiteren handelt es sich um eine Abrechnung mit Richard Wagners Bühnenweihfestspiel. Zarathustras Höhle im Gebirge ist dabei Analogie und Kontrast zu Wagners grünem Hügel, und im Roman wird insbesondere das Spätwerk, der Parsifal ins Visier genommen.48 Die Bezeichnung »der alte Zauberer« verwendet Nietzsche auch in Briefen und anderen Texten für Richard Wagner, und im Zarathustra wird diese Figur zum zentralen Antipoden des hier gezeichneten Religionsstifters, der alle Religion abschaffen will. Als weitere Begriffe für seine Charakterisierung werden Falschmünzer, Lügner, Betrüger herangezogen. Bei der im vierten Romanteil gezeigten Abendveranstaltung gehört die Nummer des Zauberers, sein Lied der Schwermuth, zum Moment der höchsten Versuchung für Zarathustras lachende Lebenskunst. Der Zauberer stimmt in der Pose eines Wahrheitssuchers einen Abgesang auf die Kunst an, der Zarathustras und in diesem Fall auch Nietzsches eigenen Einwänden gegen seine literarische Philosophie Ausdruck verleiht: »Nur Narr! Nur Dichter! Nur Buntes redend, Aus Narren-Larven bunt herausschreiend, Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken, Auf bunten Regenbogen, Zwischen falschen Himmeln Und falschen Erden, Herumschweifend, herumschwebend, – Nur Narr! Nur Dichter!«49

Dieses Gedicht hatte Nietzsche als Ausdruck seiner Selbstzweifel im Herbst 1884 skizziert50 und es dann Zarathustras Widersacher in den Mund gelegt. Es ist der Geist

47 Ebd., S. 365. 48 Der Zarathustra ist als »Nietzsches ›Anti-Parsifal‹« bezeichnet worden, Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jörg (Hg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. 2 Bde., Frankfurt a.M. 1994, S. 1355. 49 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 368. 50 Vgl. ders.: »Nachgelassende Fragmente (Herbst 1884-Herbst 1885)«, in: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, 7. Abteilung, 3. Bd., Berlin/New York 1974, S. 6.

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der Schwere, der sich hier erneut zu Wort meldet, radikalisiert zu einem Pessimismus und Lebensekel. Der Geist der Schwere wird an diesem Abend konterkariert durch Gegenreden und -lieder, aber vor allen Dingen durch eine Gegenhandlung, wie sie sich in der Pantomime der Eselsanbetung durch die höheren Menschen zeigt. Sie geben nun Zarathustra eine Vorstellung, durch die sie sich als würdige Mit-Schaffende, als »Schalks-Narren allesamt« und »Possenreisser« zeigen. Die Szene endet in einem Happy End des Tanzens: »Es giebt sogar Solche, die erzählen, dass damals der Esel getanzt habe.«51 In Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra und in seinen Aphorismen und Fragmenten zeichnet sich durchaus so etwas wie eine zusammenhängende Artistenrespektive Zirkusphilosophie ab. Zentrale Momente eines in diesem Band diskutierten Zirkus-Dispositivs werden in seinen Texten einer philosophischen Reflexion unterzogen. So liegen in Ansätzen eine Soziologie, eine Physiologie, eine Psychologie sowie eine Genealogie des Artisten vor. Das markanteste Merkmal des Artisten, die Gefahr als Beruf, wird in Zarathustra einleitend mit dem Artistenunfall des Seiltänzers aufgerufen und bleibt für Zarathustras weiteren Weg prägend. Der Roman entwickelt weiterhin eine zirzensische Anthropologie, in der die Typen des Artisten, des Tierbändigers, des Zauberers und des Possenreißers eine Rolle spielen, und die insgesamt eine Aufwertung von Außenseiter-Existenzen vornimmt. Beide Existenzformen, die des Schaustellers und die des Philosophen, erscheinen im Roman als ganzheitliche Körperkünste. Dem für die Zirkuswelt prägenden engen Verhältnis von Tier und Mensch wird mit Zarathustras Lebensgemeinschaft mit seinen Tieren ein Idealbild vor Augen geführt, das auf eine Aufwertung des Tieres und auf eine Abwertung des Menschen zielt. Und schließlich handelt es sich bei Zarathustra insofern um eine Zirkusphilosophie, als hier die medialen Bedingungen der philosophischen und unterhaltenden Zurschaustellung: die Kommunikationssituation, der Adressatenbezug, die räumlichen Gegebenheiten, die Zeit- und Lichtverhältnisse sowie die Interaktion zwischen Künstler und Publikum, reflektiert werden und im Schlusstableau eines tanzenden Esels in eine Philosophie des Lachens münden.

51 Ders.: Also sprach Zarathustra, S. 392.

Komedi und Todessprung Dargestellte Wirklichkeiten in Heinrich Manns Der Löwe und Henri Quatre V ERENA T HINNES

»Wünschen Sie nichts dem Ähnliches!« Mit diesem direkten Ausruf, unverblümt aufmerksamkeitsheischend, in einem engagierten Abwehrgestus und dadurch eine Sensation versprechend, beginnt Heinrich Manns 1894 verfasste Novelle Der Löwe.1 Und natürlich möchten wir als Leser ebenso wie die Zuhörer der Binnenerzählung erfahren, was es denn sei, das wir so oder so ähnlich so dringend meiden sollten, und natürlich erfahren wir es nicht sofort. Zunächst folgt auf die Jahrmarktsrhetorik eine flüchtige Skizze der Binnenerzählsituation: »›Wünschen Sie nichts dem Ähnliches!‹ sagte der alte Herr Franz Ruhnach, als wir nach der Vorstellung in seinem Arbeitszimmer beisammensaßen.« (N I, 111) Dass es sich bei der Vorstellung um eine Theatervorstellung handelt, ist naheliegend, zum einen, weil mit dem »Arbeitszimmer«, dem angesprochenen Alter und später mit dem Zigarrerauchen das Bild einer gewissen bürgerlichen Gesetztheit vermittelt wird, ein Bild, in das sich der Besuch einer Theatervorstellung gut einfügt, zum andern und vor allem, weil das Theater ein von Heinrich Mann nahezu obsessiv eingesetztes Motiv ist. Überaus häufig finden sich in seinen 20 Romanen, ungezählten Novellen und dem knappen Dutzend Dramen Theatermotive und -metaphern. Das Theater einschließlich der Oper mit seinen Personnagen, Schauplätzen und Lebensweisen durchzieht Manns Texte wie ein Leitmotiv und stellt häufig eine Chiffre für die Kunst dar und vor allem für die Beziehung Kunst – ›Realität‹. Dabei bleiben theatrale Darstellungsweisen nicht die einzigen Bezugspunkte: Heinrich Mann greift

1

Erstveröffentlicht wurde die Novelle in einer gegenüber der Handschrift stark gekürzten Fassung in der Zeitschrift Moderne Kunst IX.9 (1895), S. 170-172; insbesondere der Erzählrahmen wurde dort gestrichen. 1898 ließ Mann den Text dann mit mehreren Änderungen gegenüber dem Erstdruck in der Novellensammlung Ein Verbrechen und andere Geschichten wieder abdrucken, Grundlage für die Ausgabe des Aufbau-Verlags, die hier, sofern nicht anders vermerkt, zitiert wird mit der Sigle N I und Seitenangabe im Text. Vgl. Heinrich Mann: Novellen I, Berlin 1978, S. 111-121; Kommentar S. 641-642.

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zusätzlich auf andere darstellende kulturelle Praktiken zurück wie Malerei, 2 Fotografie, Film,3 Ballett, Pantomime, Karneval und wie viele Schriftsteller der Moderne 4 auf eben den Zirkus. Auffällig ist in Heinrich Manns breit gefächertem Portfolio ein ausgeprägter Schwerpunkt auf performativen Techniken, denn auch die vielen Ekphrasen beschreiben häufig stillgestellte Szenen oder tableaux vivants – auf ein Beispiel dafür im Löwen gehe ich unten näher ein. Daran schließen die Fragen, welche Rolle diese performativen Techniken im Medium Literatur spielen, was sie im Einzelnen leisten – sowohl auf histoire- wie auf discours-Ebene, denn eine ausgeprägt szenische Qualität kennzeichnet fast alle Prosa-Texte Manns – und wie sie sich zueinander verhalten. In meinem Beitrag untersuche ich die Relation der beiden performativen Praktiken Theater und Zirkus und gehe dabei auf zwei Texte Manns ein, die das Theatermotiv mit Jahrmarkts-, Gaukler- und Zirkusversatzstücken verschränken.5 Der erste ist die bereits angesprochene »Novellette« Der Löwe – so eine gängige Bezeichnung,6 der andere der in den 1930er Jahren im französischen Exil entstandene zweibändige historische Henri Quatre-Roman.7 In beiden finden sich vor allem literarisch umgesetzte Performative, wie sie in Theater und Zirkus konventionalisiert sind, zusätzlich verschränkt mit ekphrastischen Techniken. Wie viele der fiktionalen Texte Manns verhandeln auch diese die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und einer wie auch immer gefassten ›Wirklichkeit‹. Beide Texte – so sehr sie sich in Entstehungskontext, Umfang, Inhalt und Form unterscheiden – spielen mit Realitäten und deren unterschiedlichen Darstellungsweisen, machen diese zum Thema und zum literarischen Ausdrucksmittel.

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Zu Heinrich Manns Bezugnahmen auf die bildende Kunst vgl. v.a. Bartl, Andrea: »Visuelles Erzählen. Zum Verhältnis von Literatur und bildender Kunst im Werk Heinrich Manns, erläutert am Beispiel der Novelle Pippo Spano«, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 26 (2013), S. 135-154. Vgl. Grisko, Michael: Heinrich Mann und der Film, München 2008. Zu Zirkus und Literatur vgl. bspw. Wegmann, Thomas: »Artistik. Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2010), S. 563-582, sowie Jürgens, Anna-Sophie: Poetik des Zirkus. Die Ästhetik des Hyperbolischen im Roman, Heidelberg 2016, insbes. S. 37. Dies sind nicht die einzigen Texte Manns, in denen Zirkus, fahrendes Volk und Theater aufeinandertreffen. Als weitere Beispiele lassen sich die Novelle Schauspielerin oder der Roman Die Jagd nach Liebe (1903) anführen, in dem eine fahrende »Seiltänzer«-Familie Reflexionsmedium für die Schauspielerin Ute Ende ist, die ihrerseits dem gesellschaftlichen Leitmilieu als Projektionsfläche dient. Vgl. Mann, Heinrich: Die Jagd nach Liebe, Frankfurt a.M. 32006 [1987] [(= Studienausgabe in Einzelbänden), S. 243 u. S. 254-261. Die Bezeichnung verwendet Mann auch selbst, z.B. in einem Brief an Ludwig Ewers vom 30.4.1894. Vgl. Mann, Heinrich: Briefe an Ludwig Ewers, Berlin/Weimar 1980, S. 359. Mann, Heinrich: Die Jugend des Königs Henri Quatre, Frankfurt a.M. 42006 [1935] – hier mit der Sigle H 4.1 und Seitenzahl im Text zitiert. Mann, Heinrich: Die Vollendung des Königs Henri Quatre, Frankfurt a.M. 42009 [1938] – mit H 4.2 und Seitenzahl zitiert.

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1. » ALS OB ER HAB K OMEDI SPIELEN , ABER DOCH WAS G ROßES TUN SOLLEN « – D ER L ÖWE Doch nun zu dem, was wir uns nicht wünschen sollen: Es handelt sich in den Worten des Binnerzählers um »die vollkommene theatralische Illusion«, um »diejenige Illusion, in welcher Wirklichkeit und Kunst unbedingt – und nicht etwa im Sinne einer ungenauen Phrase ineinander übergegriffen haben« (N I, S. 111). Gemeint ist eine Situation, in der die sich ereignende Wirklichkeit von ihrer performativen Gestaltung nicht zu unterscheiden ist. Der Binnenerzähler schildert dafür, wie er als Kind Zuschauer eines Bühnenunfalls wurde, ein auf Ebene des discours hochgradig inszeniertes Ereignis: Ein entkommener Zirkuslöwe tritt in der abendlichen Theatervorstellung auf – von rechts übrigens, aus der ersten Gasse, wie nicht versäumt wird zu berichten – und greift auf offener Bühne die Hauptdarstellerin, Dompteurin und Wandertruppen-Schauspielerin in Personalunion, an, die, wie es heißt, »so hoffnungslos den Untergründen der Kunst verfallen [war], daß sie damals sogar als Tierbändigerin auftrat« (N I, S. 113). Was in der Erzählung also tatsächlich ineinander übergreift, so meine These, sind die beiden Darstellungsdispositive Theater und Zirkus.8 Heinrich Mann selbst weist darauf hin,9 dass es den entkommenen Löwen schon bei Goethe gibt, er kennt also dessen »Löwen-Novelle« – wie Nietzsche Goethes Novelle nennt –, und es ist plausibel anzunehmen, dass er mit seinem Text darauf anspielt. Auch Heinrich Manns Löwen-Novellette nutzt den Hintergrund des jährlichen Marktes. Sie arrangiert davor ein Setting, das von Anfang an Theater- und Zirkusversatzstücke zusammenfügt und so diese merkwürdig artifizielle Konstellation schafft, in der ein Zirkuslöwe sich perfekt in ein Bühnengeschehen einspielt. Während nämlich auf dem Jahrmarkt tagsüber »Gaukler und Tausendkünstler« »einen Kreis von Bewunderern um sich sammelten«, war abends »meist eines der vielen herumziehenden Theater da, die es damals gab« (N I, S. 112). Die Truppe des Jahres, auf die sich die Binnenerzählung bezieht, reist nun mit zwei Zelten, einem Theaterzelt und einer Menagerie, die »[a]ußer einer matten Boa und ein paar gelangweilten Panthern« »einen wirklichen Seehund, der den Küstenbewohnern gar nichts sagte« (N I, S. 113), und eben den Löwen zur Schau stellt. Die eigentliche Attraktion des Jahrmarktes ist aber die »große Frieda«, besagte Dompteurin-Schauspielerin. Diese große Frieda bietet vor allem eine große Fläche für Projektionen, angefangen bei denen des Binnenerzählers, der sich durch sie sowohl an Wilhelm Meisters Schauspieltruppe als auch an die Schauspielerin Wilhelmine aus Paul Heyses Kreisrichter erinnert fühlt. Insbesondere aber wird die Beziehung zwischen der als eher leidenschaftslos geschilderten Frieda und ihrem abgehärmten, sichtlich in Gewaltdressur unterworfenen

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Ich unterscheide hier nicht zwischen Zirkus im engeren Sinn, der die bestimmte historische Erscheinungsweise bezeichnet, die mit Astleys Kunstreitvorführungen ihren Anfang nahm, und Praktiken, die mehr in der Tradition von Schaustellern und Menagerien stehen. Entscheidend ist, dass bestimmte Praktiken – wie auch die »Gaukler und Tausendkünstler« in der Novelle – als dem Darstellungsdispositiv Zirkus zugehörig wahrgenommen werden. Vgl. H. Mann: Brief an Ludwig Ewers, vom 30.4.1894, S. 359.

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Löwen erotisiert und löst bei den norddeutschen Dorfbewohnern allerlei Übertragungen aus: Abb. 1: G. Eberlein: Euterpe mit Panthergruppe, Hoftheater Wiesbaden

»Sie ging mit ihm als Kraftweib, wie mit einem Schwächeren um, wahrscheinlich in der Weise, wie sie mit einem Manne umgegangen wäre. Die Bauern fühlten etwas davon, wenn sie sagten: ›Hei is ganz weg in sei.‹ ›Sei tähmtem mit de Oegen‹, bemerkte ein anderer«. (N I, S. 114)

Der Konnex Frau – wildes Tier ist ein bekannter Topos in der Literatur der Jahrhundertwende, ein Beispiel dafür gibt etwa Wedekinds Lulu (1903), die im Prolog als

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»Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier«10 vorgestellt wird. Auch die Zirkuspraxis dieser Zeit nutzt die Fantasie anregende Frau-Raubtier-Beziehung; ein guter Teil des Erfolgs von Tilly Bebé, der mädchenhaft auftretenden Löwen-Dompteurin, dürfte darauf beruhen.11 Verunsichernde Neuverhandlungen der Geschlechterrollen um die Jahrhundertwende zusammen mit einer Gleichsetzung Frau=Natur/Trieb machen diese Verbindung von Frau und dressiertem bzw. wildem Tier offenbar zu einer bevorzugten Projektionsfolie. Allein in dem Jahrgangsband der »Modernen Kunst«, in dem Manns Novelle erstveröffentlicht ist, finden sich – neben mehreren Zirkusmotiven und zahlreichen Abbildungen von Löwen und weiteren Raubkatzen – sowohl die Abbildung der von einer Wagenlenkerin geführten Panthergruppe auf dem neu errichteten Wiesbadener Hoftheater (vgl. Abb. 1) als auch die einer Manegenszenerie »dressierter Pudel«, dargestellt von Damen in kurzen Höschen mit Stummelschwänzchen und Schlappohrmützen, possierlich über die Stöckchen der Herren hüpfend (vgl. Abb. 2). Abb. 2: A. Ackermark: Dressirte Pudel

Vor diesem Hintergrund ist denn auch die Auflösung der bizarren Bühnensituation in Heinrich Manns Novelle nicht überraschend: Die Frau scheitert an der Löwenbändigung, der ihr sonst unterworfene Löwe greift sie in dieser neuen Situation an und ihr

10 Wedekind, Frank: Lulu. Erdgeist, Die Büchse der Pandora, hg. v. Erhard Weidl, Stuttgart 1989, S. 8. 11 Tilly Bebé wendete allerdings gerade nicht Gewaltdressur-Methoden an. Zu Dompteurinnen vgl. auch Kirschnick, Silke: Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus, Stuttgart 2012, S. 119-140.

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Verehrer, der Mann, muss eingreifen, den Löwen töten und den Helden abgeben. Bis hierhin scheint die Erzählung recht eindeutig lesbar: Die ›Wirklichkeit‹ bricht in die Bühnenhandlung ein in Form einer Raubtiernummer und schafft dadurch die »vollkommene theatralische Illusion« (N I, S. 111). Die Zirkusversatzstücke mit ihrem ›echten‹ Risiko kontrastieren die konsequenzverminderte Scheinwelt des Theaters – was einem häufig formulierten Gedanken entspricht, sei es in Benjamins Diktum, dass im Zirkus »die Wirklichkeit das Wort [habe], [und] nicht der Schein« wie im Theater,12 oder im bereits angesprochenen Lulu-Prolog, in dem der DompteurAnsager Zirkus und Theater entsprechend gegenüberstellt: Der Schauspieler kann sich des Fleisches auf seinen Rippen sicher sein, heißt es da, egal wie hungrig der Kollege ist. Literarisch machbar wäre natürlich ebenso ein Wirklichkeitseinbruch anderer Art – etwa eine Naturkatastrophe, ein herunterbrechender Dachbalken, ein eifersüchtiger Liebhaber oder was sonst denkbar ist, um die ›wirkliche‹ Katastrophe auf offener Bühne herbeizuführen – und nicht unbedingt das Hyperbolische, Sensationelle des Zirkus, dieser Kunstwelt voller Unwahrscheinlichkeiten. Jedoch scheint mir, dass besonders der Zirkus nicht nur die Verbindung von Unverfügbarkeit und Lebensgefahr auf die Bühne der Erzählhandlung transportiert, sondern auch und gerade eine weitere Form von Ausgestelltsein. Der Zirkuslöwe erlaubt es, die Exponiertheit der Theaterbühnensituation eben nicht mit einem vermeintlich ›natürlichen‹ oder ›authentischen‹ Geschehen zu konfrontieren; statt dessen wird ein ausdrücklicher Darstellungsmodus mit einem anderen verflochten, um die »wirkliche Tragödie« (N I, S. 121), nämlich »die vollkommene theatralische Illusion« (N I, S. 111) zu erzählen. Denn es gibt noch einen Störfaktor in der Erzählung. Das Entscheidende nämlich, ob Frieda den Angriff überlebt hat oder nicht, bleibt am Ende unerzählt. Ihr Tod ist zwar anzunehmen, wird aber eben nicht erzählt. Stattdessen schildert der Text die Heldwerdung des Polizei-Sergeanten Matthiessen, und dies unter Hinzuziehung eines weiteren Darstellungsmodus, des Bildlichen. Denn der Wachtmann gibt auf der Bühne, auf der sich die Geschehnisse »wie in einem Guckkasten abspielten« (N I, S. 118), buchstäblich ein Heldenbild ab, er stellt ein Bild von Sankt Georg dem Drachentöter nach, und zwar jenes Bild, das als Relief die Wand seines Wachthäuschens ziert (vgl. N I, S. 115, S. 121). Der Binnenerzähler verliert die entscheidenden Sekunden des Geschehens aus den Augen und als er wieder aufblickt, sieht er »den Löwen mit ausgestreckten Gliedmaßen auf der Seite liegen, auf seiner Flanke stand ein Fuß, es war der des Sergeanten Matthiessen. Das andere Bein war weit zurückgeschoben, so daß sich der Mann steif aufrecht halten konnte, obwohl sich seine Hand nahe am weit aufgesperrten Maul der Bestie befand, in deren Rachen sein Hirschfänger bis ans Heft stak. Sein Kopf sah mit einer gewissen steifen, steinernen Neigung auf das besiegte Tier nieder, die Brust trat mächtig heraus mit einer unnatürlichen Anstrengung der Muskeln. Wo hatte ich diese seltsame Haltung schon gesehen? Ja wahrhaftig, das war ja das Bild Sankt Georgs des Drachentöters auf der Mauer des Wachthauses« (N I, S. 120f).

12 Vgl. Benjamin, Walter: »Ramon Gomez de la Serna, le cirque (1927)«, in: Hella Tiedemann-Bartels (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1972, S. 70-72; hier S. 71.

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Nicht nur intradiegetisch, sondern auch im medialen Kontext wird hier ein Bild aktualisiert: Der zeitgenössische Leser hat unter Umständen ebenfalls schon einmal ein Bild des Heiligen Georg gesehen: Zum 1. April 1895 wurde eine Bismarck-Medaille ausgegeben, deren Revers Bismarck als den Drachen tötenden Ritter Georg zeigt, wie die Zeitschrift Moderne Kunst informiert. Abb. 3: Bismarck-Medaille

Neben diesem latenten, impliziten ikonischen Intertext aus dem engeren Zeitkontext nimmt Manns Novellette deutlich wahrnehmbar auf Goethes Novelle Bezug; die Gemeinsamkeiten reichen über den Retter- und Überwindungsgestus bis hin zum Hirschfänger, der in Goethes Erzählung zwar nicht den Tiger tötet, aber ebenfalls ins Bild gesetzt wird: »Beide Renner erreichten zugleich den Ort, wo die Fürstin am Pferde stand; der Ritter beugte sich herab, schoß und traf mit der zweiten Pistole das Ungeheuer durch den Kopf, daß es sogleich niederstürzte und ausgestreckt in seiner Länge erst recht die Macht und Furchtbarkeit sehen ließ, von der nur noch das Körperliche übriggeblieben dalag. Honorio war vom Pferde gesprungen und kniete schon auf dem Tiere, dämpfte seine letzten Bewegungen und hielt den gezogenen Hirschfänger in der rechten Hand«. 13

13 Goethe, Johann Wolfgang: »Novelle«, in: Werke. Bd. VI: Romane und Novellen. 1. Bd., Hamburg 51963 [1951], S. 491-513; hier S. 502.

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Der Held aus Manns Erzählung, nach seiner Tat einem Herzschlag nahe, antwortet auf die allgemeine Befragung, wie er sie denn fertiggebracht habe: »Ja, das sei so gekommen, ja er wisse selbst nicht. Ihm sei ganz verdreht zumut gewesen, als ob er hab Komedi spielen, aber doch was mächtig Großes tun sollen, nur sei er gar nicht mehr er selbst gewesen, sondern ganz ein anderer«. (N I, S. 121)

Darauf folgt in einem wahrhaft performativen Sprechakt, institutionell abgestützt, die Ernennung zum Helden: »›Ein Held‹, sagte feierlich der Amtsvorsteher«, und mit dem lakonischen Vermerk »kurze Zeit darauf erhielt er die Verdienstmedaille« endet Manns Novellette (N I, S. 121). Die Besonderheit der Erzählung wird an diesem die »wirkliche Tragödie« und das Schicksal der weiblichen Protagonistin ignorierenden Schluss sichtbar: Sie stellt die Prozesse dar, in denen Wirklichkeiten performativ erzeugt werden, und zeigt, wie diese Wirklichkeiten zusammen mit Aktualisierungen aus dem kulturellen Bildgedächtnis auf dem Wege der sozialen Übereinkunft als solche anerkannt werden. Vor allem aber lässt sie diese Vorgänge zusätzlich auf einer Bühne spielen, um sie dort wie unter einem Brennglas bzw. »wie in einem Guckkasten« vorzuführen. In diesem Spiel mit innerfiktionalen Wirklichkeiten und ihren Darstellungsweisen geht es weniger darum, Inszeniertes und Unverfügbares einander gegenüberzustellen, um daran die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit zu ziehen – der ausgebrochene, angreifende Löwe ist der Inbegriff des Unkontrollierten und doch findet die Auflösung dieser eskalierten Situation in einer Performance statt, oder genauer: in der Nachahmung einer Performance, einer ›Als-ob-Komödie‹, also in einem Als-ob des Als-ob. Die Kunst, sei es als Sankt Georg-Wandrelief oder als Idee eines Schauspiels, geht hier der innerfiktionalen Wirklichkeit voraus, die Realität ist das Double der Kunst. Auch Wahrscheinlichkeit oder Authentizität sind sichtlich nicht Kategorien, die diese Grenze markieren könnten. Wenn überhaupt, so könnte dies am ehesten noch das Kriterium der Konsequenz, da in das konsequenzverminderte Theatergeschehen von einem ›echten‹ Zirkuslöwen eingegriffen wird. In diesem Zusammenhang steht der Gedanke, dass Risiko dem Zirkus inhärent ist,14 was schon im oben angesprochenen Diktum Benjamins15 zum Theater zum Ausdruck kommt. Im Theater, so die Idee, wird das Leben nachgespielt, im Zirkus wird es aufs Spiel gesetzt. Andererseits geht aber in der Erzählung gerade die Frage der allerletzten Konsequenz – Leben oder Tod der Protagonistin – auf Kosten der geschilderten Heldenperformance. Was dieser Text meiner Ansicht nach vielmehr leistet als eine Diskussion der

14 Zu diesem Punkt insbesondere von Phillippe Goudard und Camilla Damkjaer unterschiedliche Positionen vertreten. Während Goudard argumentiert, dass Risiko im Wesen des Zirkus liegt, erkundet Damkjaer die Konsequenzen der iterativen und fokussierten Trainingsweisen der Artistik und argumentiert, dass die besondere Wirkung einer Zirkusdarbietung in einer geteilten Aufmerksamkeit von Performern und Zuschauern liegt, einer Form von Aufmerksamkeit, die der in der Meditation erreichten nahekommt. Vgl. die jeweiligen Beiträge im vorliegenden Band. 15 Vgl. Anm. 12.

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Grenze Kunst–Wirklichkeit, ist eine Reflexion der Wahrnehmung von Wirklichkeit in theatralen Kategorien und als performativ erzeugte. Denn die Erzählung legt nicht eindeutig fest, worin denn nun genau die »vollkommene theatralische Illusion« besteht: Ist es die »wirkliche Tragödie«, die auf der Bühne »der erdichteten gefolgt war«, sind es also die Momente, in denen der Löwe »seinen Auftritt« hält, in denen, wie es heißt, »[j]edes, auch das allgemeinste Urteil […] gelähmt« war, und »in seltsamster Weise die Hingabe an den Augenblick und die Illusion« (N I, S. 135) stattfand? D.h. in der Illusion einer Illusion, also in der falschen Annahme der Zuschauer, der auftretende Löwe könnte zur Inszenierung gehören. Aber findet sie nicht ebenso in diesem den beiden Tragödien folgenden kleinen Nachspiel statt, dem Satyrspiel der Heldwerdung, das seinen Darsteller zum ›wirklichen‹ Helden und Verdienstordensträger macht? Oder ist sogar die Wahrnehmung der Als-ob-Komödie des Sergeanten Matthiessen eine »theatralische Illusion«? Man kann also kurzgefasst sagen: Nicht nur die ›Wirklichkeit‹ bricht in die theatralische Illusion ein, sondern auch die Theatralität in die ›Wirklichkeit‹.

2. T HEATRALITÄTSKONZEPTE UND UM 1900

IN DER

G EGENWART

An dieser Stelle möchte ich eine kurze Bemerkung zum Theatralitätsbegriff machen. Die aktuellen Theaterwissenschaften konzipieren einen kulturwissenschaftlich orientierten Theatralitätsbegriff, der einem weiten Gegenstandsbereich und Fragehorizont Rechnung trägt und gleichzeitig differenzierte Anwendungen erlauben soll. Als Minimaldefinition kann Warstats Umschreibung, »wo immer etwas oder jemand bewusst exponiert oder angeschaut wird, erhält Kultur eine theatrale Dimension«, gelten.16 Theatrales Handeln ist nicht mehr nur auf dem Theater, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen, es verweist auf eine zentrale Qualität kultureller Praxis, die ästhetische wie anthropologische Kategorien einschließen kann. 17 So wird das Kunsttheater zum Modell der Kultur, »mit dessen Hilfe sich kulturelle, diskursive und künstlerische Prozesse in verschiedenen Gesellschaftsbereichen analysieren und aufeinander beziehen lassen«.18 Erika Fischer-Lichte konzipiert dafür Theatralität aus den Aspekten der Performance (also der Aufführung mit der körperlichen und stimm-

16 Warstat, Matthias: »Theatralität«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 22014, S. 382-388; hier S. 382. 17 Vgl. ebd., S. 383f. Warstat unterscheidet drei Gruppen von Theatralitätsdefinitionen, je nachdem ob sie Theatralität fassen als anthropologische Kategorie, als ästhetische Kategorie oder als eine Verbindung beider Perspektiven, die entweder Theatralität als eine Relation verschiedener Praxisformen konzipieren oder Theatralität als Perspektive auf Kultur und Kunst fassen. Ein wertend gebrauchter Begriff von Theatralität sowie Konnotationen von Übertreibung, Illusion, Täuschung, die dem alltagssprachlichen Gebrauch oder auch dem anderer Fachdisziplinen (wie z.B. Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft) anhaften, sind gerade dem theaterwissenschafltichen Theatralitätskonzept fremd und widersprechen ihm teilweise. 18 M. Warstat: Theatralität, S. 386.

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lichen Kopräsenz von Zuschauern und Akteuren), der Inszenierung (unter diesen Aspekt fallen die ästhetisierenden Kulturpraktiken, mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird), der Korporalität (bzw. Materialität) und der Wahrnehmung (was der Tatsache Rechnung trägt, dass die Realisierung einer Aufführung erst in der Wahrnehmung eines Publikums stattfindet).19 Ergänzend ist insbesondere in dem vorliegenden Kontext hinzuzufügen, dass nicht nur Theater-, sondern auch zirzensische Aufführungen sich dergestalt konstituieren und dass sie – bis zu einem gewissen Grad – unter in diesen Aspekten beschreibbar sind. Beide Linien, die ästhetische wie die anthropologische, sind in einem Theatralitätsbegriff, der sich überhaupt erst um 1900 ausbildete, schon angelegt. Die umfassenden Theaterreformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit nicht zuletzt dem Ziel einer Emanzipation des Theaters von der Literatur brachten eine Betonung der Aufführung als eigenständiges Kunstwerk und ein Bewusstsein für die Gesamtheit und Gleichwertigkeit aller eine Aufführung konstituierenden Elemente mit sich. Ebenfalls fand eine neue, selbstbewusste Positionierung des Theatralen gegenüber bzw. zum Teil auch vor anderen kulturellen Praktiken statt. So fasst beispielsweise der russische Theatermacher Nikolaj Evreinov den Begriff der Theatralität als eine Art anthropologische Konstante, als einen prä-ästhetischen Grundinstinkt des Menschen. Er sieht darin ein »allgemein kulturerzeugendes Prinzip«, das »allgemein verbindliche Gesetz der schöpferischen Transformation der von uns wahrgenommenen Welt«.20 Theater und andere performative Praktiken begründen nicht etwa unsere Wahrnehmung des Theatralen, sie sind lediglich Ausdruck dieses laut Evreinov präästhetischen Bedürfnisses nach Transformation, denn der »Instinkt der Theatralität« geht diesen Praktiken voraus.21

19 Vgl. bspw. Fischer-Lichte, Erika: »Inszenierung und Theatralität«, in: Willems, Herbert/Jurga, Martin (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 81-90; Fischer-Lichte, Erika, Christian Horn, Sandra Umathum u. Matthias Warstat: Diskurse des Theatralen, Tübingen/Basel 2005; vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Theatralität als kulturelles Modell: Einleitung«, in: dies./Christian Horn/Sandra Umathum/Matthias Warstat (Hg.), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen/Basel 2004 (=Theatralität. Bd. 6), S. 7-26. 20 Evreinov, Nikolaj: Teatrdlasebja [Theater für sich selbst], Teil 1, St. Petersburg 1915. Zit. nach Fischer-Lichte, Erika: »Inszenierung und Theatralität«, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 81-90, hier S. 85. 21 Vgl. auch Lukanitschewa, Swetlana: Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov. Die Entdeckung der Kultur als Performance, Tübingen 2009, S. 155.

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3. H ENRI Q UATRE , T ODESSPRUNG Der frisch geprägte Held des Löwen weiß nicht, wie es dazu kam, dass er sich auf der Bühne wiederfindet. Ein weiterer Heldendarsteller 22 Manns, Henri Quatre, der König des Edikts von Nantes, ist sich seiner Wirkung dagegen jederzeit voll bewusst. Der historische Roman erzählt die Biografie von Heinrich dem Vierten als eine Geschichte voller Darstellungen und Verstellungen, Nachahmungen und Verkehrungen, Inszenierungen und Emergenzen. Der beliebte, als volksnah geltende König erscheint in dem Roman keineswegs als eine Figur, die etwa durch ein besonderes Maß an ›Ursprünglichkeit‹ oder ›Authentizität‹ hervortritt. Ganz im Gegenteil: Von der Erzählinstanz wird mehrfach vorgeführt, wieviel Inszenierung und öffentlichkeitswirksame Maßnahmen dieses Bild der Volksnähe erfordert. Bei aller machtstrategischen Opportunität, die die Verstellungs- und Darstellungstaktiken häufig motiviert, wird jedoch auch immer wieder das lustvoll-spielerische Moment betont. Eingeführt wird die Figur mit einer Szene, in der der vierjährige Junge seine Defizite in Alter und Physis dadurch wettzumachen sucht, dass er seinen älteren Konkurrenten imitierend parodiert und mit ausgesprochenem »Sinn für Wirkung« das rechte Timing für den Abgang findet: »Er war ungemein neugierig auf die Körper der Mädchen. [...] Daher forderte der kleine Knabe den größeren heraus, wer das Mädchen durch den Bach tragen könnte. Dieser war nicht tief, aber er enthielt Strudel und glatte Steine, die fortrollten, wann man sie ungeschickt betrat. Der Mitbewerber glitt denn auch sofort aus, das Mädchen wäre mit hingefallen, hätte nicht Henri sie aufgefangen. Er kannte in diesem Wasser jeden Schritt, er trug sie hinüber mit all seiner Kraft, denn sie war schwerer als er, der nur ein kleiner, magerer Knabe war. Drüben küßte er sie auf den Mund, überrascht ließ sie es geschehen, und er sagte, indes er sich in die Brust warf: »Jetzt bist du durch den Bach getragen vom Prinzen von Béarn.« Das Bauernmädchen sah in sein kleines, leidenschaftliches Gesicht, und dann lachte es, der Ton tat ihm weh bis ins Herz, entmutigte ihn aber nicht. Sie sprang schon ihrem verunglückten Verehrer entgegen, da rief Henri noch: »Aut vincere aut mori!« Es war einer der Sprüche, die sein Erzieher ihn lehrte; er hatte viel davon erhofft. Wieder eine Enttäuschung, die kleinen Bauern machten sich nichts weder aus dem Prinzen noch aus seinem Latein. Siegen und Sterben war ihnen beides gleich unbekannt. So blieb nur noch eins übrig. Er stieg zurück in den Bach und stürzte absichtlich noch etwas tölpelhafter als vorhin der andere. Auch das alberne Gesicht und das Hinken ahmte er dem Tölpel nach, fluchte dabei mit einer ganz ähnlichen Stimme, alles so vorzüglich, daß sie lachen mußten über den Spaßmacher. Sogar das reizende Mädchen hatte er zu lachen gezwungen! Darauf ging er schnell fort. Er war nur ein vierjähriger Knabe, hatte aber schon Sinn für Wirkung«. (H 4.1, 13)23

22 Vgl. Viering, Jürgen: »Nicht ›Held‹, sondern ›Heldendarsteller‹. Zum Schauspieler-Motiv in Heinrich Manns Henri Quatre-Romanen«, in: Heinrich Mann Jahrbuch 19 (2001), S. 2950. 23 Mann, Heinrich: »Die Jugend des Königs Henri Quatre«, in: Peter Paul Schneider (Hg.), Studienausgabe in Einzelbänden, Frankfurt a.M. 42006 [1991] mit H 4.1 und Angabe der Seitenzahl in Klammern; sowie ebenfalls nach dieser Ausgabe Mann, Heinrich: Die Voll-

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»Totus mundus exercet histrionem«, das vielfach wiederholte Montaigne-Zitat ist einer der Leitsätze des Romans24 und auch das Erzählen selbst gibt sich als inszeniert zu erkennen und gestaltet eine bewusste theatrale Überhöhung: Der Schluss des zweiten Bandes – in französischer Sprache, ebenso wie die Moralités des ersten Teils, kurze reflektierende Passagen jeweils zum Abschluss der insgesamt neun Kapitel – besteht aus einem Bühnenmonolog einschließlich klammernder Nebentexte. Der ›Held‹ sitzt nach seinem Tod auf einer Theaterwolke, von wo aus er laut Regieanweisung sichtbar nur für die Dauer eines Blitzes, eine Ansprache hält, bevor sich am Ende die goldene Wolke über ihm schließt – anstelle eines Theatervorhangs. 25 Auch in diesem Text hat vor dem Hintergrund einer umfassenden Theatralität ein breit gefächertes Gaukler- und Kuriositätenpersonal seinen Auftritt: Eine Zwergin zieht zusammen mit Maria von Medici am Königshof ein, ein blinzelnder Riese versucht eine Messerattacke (eine der vielen) auf den König, die ein Narr vereitelt, dem es wiederum nicht gelingt, den Attentäter festzuhalten, weil dieser sich durch einen Bauchredner-Trick befreit. Ein weiterer Messerangriff geht fehl, weil der König just in dem Moment Späße mit einer Närrin treibt (H 4.2, S. 373). Das Messer verletzt nur seine Lippe, sie wird genäht und verpflastert. Das Bild des Königs in seiner Versehrtheit wird ihm kurz darauf von einem »Possenreißer« auf dem Jahrmarkt gespiegelt: »Henri besuchte den Jahrmarkt, da erscheint ihm vor einer der Buden ein Spaßmacher in seiner eigenen Gestalt und dem genauen Aufzug eines gewissen Tages: schwarze Kleidung, Pflaster auf der Lippe. Plötzlich springt in der Armesündermiene ein Funke auf, ganz geschickt gemacht, und der Possenreißer als König, mit heller Stimme redet er Zoten. Das gab mal ein Gelächter. Nichts zu machen offenbar, und Henri wollte auch nicht. Fertigte den Mensch mit Geld ab, ging seiner Wege und wußte wieder etwas deutlicher, warum er die Liebe des Volkes verfehlt und sie nicht gefangen hatte, wie einen Ring beim Ringelspiel« (H 4.2, S. 376f).

Diese Spiegelung und Verkehrung ist symptomatisch: Dem »Possenreißer als König« steht der König als Possenreißer gegenüber. Die Hauptfigur wird von Anfang an und wiederholt als »Spaßmacher«, als »Possenreißer« und als »Narr« bezeichnet. Eine ganze Reihe an Verkehrungsszenen wäre anzuführen (wie etwa ein an einem ›echten‹ Barbier scheiterndes Barbierballett der Höflinge, vgl. H 4.2, S. 406ff). Ich möchte hier nur auf eine Stelle eingehen, die die König-Gaukler-Entdifferenzierung in be-

endung des Königs Henri Quatre, Frankfurt a.M. 42009 [1991] mit H 4.2 und Angabe der Seitenzahl. 24 Vgl. beispielsweise H 4.2, S. 82, 130, 136, 276. Vgl. auch Trapp, Frithjof: »›Totus mundus exercet histrionem‹. Theatralität als analytische Kategorie bei Heinrich Mann«, in: Heinrich Mann Jahrbuch 18 (2000), S. 93-114. Ein zweiter Leitsatz des Romans ist das Bibelzitat »und hätte der Liebe nicht« (1. Korinther 13, 1-3). 25 Nach den Überschriften »Allocution d’Henri Quatrième. Roi de France et de Navarre« folgt kursiv »[…] du haut dʼun nuage qui le démasque pendent lʼespace dʼun éclair, puis se referme sur lui« und nach Ende des Monologs die schließende Szenenanweisung »En guise de rideau, le nuage d’or se referme sur le roi.« (H 4.2, S. 941 u. 944).

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sonderer Weise thematisiert und die genannte Sequenz vorbereitet. Am Tag seiner Salbung und Krönung in der Kathedrale zu Chartres lässt sich Henri Quatre auf ein Ballspiel ein, eine Kunst, die er so vorzüglich beherrscht, dass niemand aus seinem Hofstaat lange mithalten kann. Schließlich wählt der frisch Gekrönte seine Spielpartner aus dem zusehenden Volk. Am Ende kann ein »Seiltänzer und Gauch« als einziger bestehen und beide liefern sich und den Zuschauern eine imponierende Vorstellung. Sie schleudern einander die Bälle zu, »nicht wie Wurfgeschosse, sondern mit einer unnatürlichen Leichtigkeit, als zauberten sie. Flogen von Ort zu Ort wie Merkur, streckten nur die Hand aus, und ungebeten begaben die Bälle sich hinein, nicht einer, sondern drei, vier, fünf, und schienen luftig wie Seifenblasen. Das war eine Augenweide und ungemeine Darbietung«. (H 4.2, S. 261f)

Und aus dem vollen Bewusstsein heraus, dass sie gerade eine Vorstellung geben, gebärden »diese beiden sich bedeutend geisterhafter als sie waren, was sich bald genug herausstellte« (H 4.2, S. 262), das heißt, sie setzen um der Show willen noch eins drauf. Die Passage zeigt bis hierher schon recht gut, wie das Unberechenbare des Spiels und die kontrolliert überhöhte Darbietung ineinandergreifen. Konsequent gesteigert wird diese Verbindung von Inszeniertem und Unverfügbarem dann auch in dieser Erzählung durch eine Art Unfall: Als beide Spieler ins Schwitzen geraten sind und zugleich ihre Jacken ausziehen, wird sichtbar, dass das alte Hemd des Königs zerrissen ist, im Gegensatz zum guten, intakten Hemd des Gauklers. Henri wendet die Situation spontan und mit Humor zu seinen Gunsten, indem er eine kurze improvisierte Ansprache hält, in der er erklärt, dass so ein König aussieht, der seinem Volk die Steuern erlässt, und daraufhin abgeht – im richtigen Moment, mit dem bereits als Kind bewiesenen Sinn für Wirkung. Emergentes und Inszeniertes werden hier virtuos verwoben, das Unvorhergesehene wird gemäß der politischen Intention zum Effekt gewendet und erfolgreich für die eigenen Darstellungszwecke eingesetzt. Damit deutet sich schon eine Semantisierung des zuvor wert- und bedeutungsfreien Ball-Kunststücks an: Der König fängt hier metaphorisch diesen verunglückten, schwer zu kontrollierenden Ball und wendet das Geschehen in einer artistischen Meisterleistung zu seinen politischen Gunsten. Das Ballspiel wird im Roman mehrfach wieder aufgegriffen, aber es wird vor allem zur Metapher für die hochgefährliche Situation der Favoritin des Königs, Gabriele, die letztlich einem Giftanschlag zum Opfer fällt. In der folgenden Passage nimmt sie sich selbst als Spielball der Machtinteressen wahr: »Gabriele ist in ein großes Spiel von Gewalten geraten, ist darin befangen, ohne um das meiste recht zu wissen, fühlt nur: dies Spiel ist nicht geheuer. Die Bälle fliegen für einen zu hohen Einsatz; der könnte wohl sie selbst sein. Die Spieler zielen, fangen und verfehlen; der letzte greift alle Bälle, er trägt den Einsatz fort. Der König spielt so gut, wird er nicht gewinnen? Hat allerdings den bekannten Todessprung getan, womit im voraus vieles entschieden ist. Auch über das Spiel um Gabriele? Sie ist eingeschlafen, unschuldig träumt sie von ihrem Hochzeitskleid.« (H 4.2, S. 403f)

Das zuvor bedeutungsfreie, autonome Kunststück, die Artistik der Balljonglage, wird damit bedeutungstragend und zu einem Sinnbild für gefährliche Machtspiele. Auch

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hier geht also die Kunst der (innerfiktionalen) Wirklichkeit voraus. Ähnliche Verbindungen von scheinbar harmlosem Spiel und Gefahr tauchen in beiden Henri-QuatreTeilen vielfach auf. Vor allem »der bekannte Todessprung« ist im Roman eine wiederholt gebrauchte Bezeichnung für ein hochriskantes Unternehmen, für den Übertritt Henri Quatres zum Katholizismus, wichtigste Voraussetzung für seine endgültige Machtergreifung. Die oben genannte Messerattacke des blinzelnden Riesen findet im Übrigen bei diesem Anlass statt, den der historische Henri Quatre als »le saut périlleux« bezeichnet hat. Der Begriff »le saut périlleux«, wörtlich übersetzt der gewagte, riskante Sprung, bedeutet Salto. In einem Umfeld erbitterter Glaubenskriege ist eine solche Konversion wahrhaftig ein riskantes Kunststück. Auch in diesem Text konnotiert also die Zirkus- und Gauklermotivik Gefahr. Gründe für das literarische Gefahrenpotential der Gaukler- und Zirkuspersonnage mögen in negativen Stereotypen liegen, die militärischen Wurzeln des modernen Zirkus können jedoch ebenso eine Rolle spielen. Hinzu kommt wie schon im Löwen ein Darstellungsaspekt: Über die Zirkus- und Gauklermotive wird eine zusätzliche Exponiertheit erreicht. Der Heldendarsteller Henri Quatre steht am Tag der Krönung ohnehin schon mit seiner Repräsentationsfunktion in der Öffentlichkeit und wird dann im Spektakel des Ballspiels zusätzlich zum Schauobjekt, in ähnlicher Weise wie sich die Löwen-Tragödie und das Heldensatyrspiel der Novelle ausgestellt auf einer Bühne ereignen.

4. D IE

WIRKLICHE

D ARSTELLUNG

Warum also wird der Zirkus und vor allem das Theater und der Zirkus in Heinrich Manns Prosa thematisiert? Zunächst greift Mann wie andere Vertreter der literarischen Moderne das populärkulturelle Phänomen ›Zirkus‹ auf, das sich, vermutlich gerade weil es aus scheinbar nicht semantisierten, fragmentarischen Kunstdarbietungen besteht, die auf die suspekt gewordene Sprache verzichten können, besonders gut eignet für das Generieren und Vermitteln von Bedeutung. Nicht zuletzt angeregt durch Nietzsches Auseinandersetzung mit der Artistik, 26 ist Zirkus eine beliebte Reflexionsfigur für mögliche Lebensweisen unter den Bedingungen der Moderne geworden – paradigmatisch hierfür sind Wedekinds »Zirkusgedanken«. Das Besondere bei den betrachteten Texten Heinrich Manns ist allerdings die Verbindung von Zirkus und Theater. Dieser Konnex ermöglicht es, ein harmloses, konsequenzvermindertes Bühnengeschehen kippen zu lassen und mit wirklichem Risiko zu konnotieren. Die Übergänge werden fließend und erlauben eine sehr vielschichtige Diskussion der Relation Kunst–Wirklichkeit, was eine weitere Funktion der Zirkus-Theater-Verbindung ist. Theater wie Zirkus thematisieren den Wirklichkeitsstatus der in ihrem Rahmen vollzogenen Handlungen. Während das Theater per Konvention sein Spiel mit dem Als-ob treibt, wird im Zirkus mit der Gefahr für Leib und Leben gespielt, und nicht selten wird dort die Dimension des Risikos entweder überhöht oder nicht voll wahrgenommen, so dass beim Zusehen Unsicherheit nicht nur über das Gelingen oder Misslingen einer Übung bleibt, sondern auch über den Grad der damit tatsächlich

26 Vgl. den Beitrag von Marion Schmaus in diesem Band.

K OMEDI

UND

TODESSPRUNG | 319

verbundenen Gefahr. Mit der Überblendung von Theatralem – das Leben wird gespielt – und Zirzensischem – es wird aufs Spiel gesetzt – im Medium Literatur erreicht Heinrich Mann eine mehrfache Spiegelung und Brechung: Das Theater ist schon Heterotopie und Projektionsfläche des gesellschaftlichen Leitmilieus, es schafft oft genug den Ausnahmezustand, wie im Löwen – »des Sergeanten Lebensführung war seit der Ankunft der Schauspieler auf den Kopf gestellt.« (N I, S. 115) – oder beispielsweise auch in der Kleinen Stadt (1909), die durch ein fahrendes Opernensemble vollends in Aufruhr gerät. Theater ist das Mittel der Wahl für Heinrich Mann um darzustellen, in welchen Prozessen soziale Wirklichkeiten konstruiert werden und wie die gesellschaftliche Mitte sich Projektionsflächen sucht für Abgrenzungen und Selbstvergewisserungen. Der Zirkus nun ist noch einmal die gefährliche Anderswelt dieser Anderswelt; er spiegelt diesen Status wie die Zuschreibungsprozesse und wird zu einer Figur der doppelten Reflexion: Die Zirkusversatzstücke verweisen auf die Darstellung als Darstellung. Innerfiktionale Wirklichkeiten werden über Theater und Zirkus in ihrem performativen Charakter vorgeführt. In der Literatur zu Heinrich Mann ist dargelegt worden, welch komplexer, konstruktivistischer Wirklichkeitsbegriff vor allem dem im amerikanischen Exil entstandenen Spätwerk zugrunde liegt,27 und wie diese Romane sich mit dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit und mit verschiedenen Kunstkonzeptionen auseinandersetzen. Kunst verweist dort nicht mehr auf eine beständige und objektive Konzeption von Realität.28 Eine solche Auseinandersetzung Heinrich Manns begann jedoch schon wesentlich früher, wie am Beispiel des Löwen zu sehen, fortgeführt wird sie in Henri Quatre. Im Löwen finden sich komplexe Verschränkungen verschiedener Darstellungsmodi, die auf ein grundlegendes Vermitteltsein der Wirklichkeit über eine Wahrnehmung als Dargestelltes aufmerksam machen: Die als Theateraufführung wahrgenommene Performance eines Wandreliefs (innerhalb einer Bühnensituation, die aber keine Inszenierung mehr ist), das auf eine Heiligenerzählung verweist, ausgelöst durch einen Zirkuslöwen – und das Ganze wird innerhalb einer Erzählung geschildert. Wie viele andere von Manns Texten reflektieren auch die beiden hier betrachteten die Theatralität jeglicher zwischenmenschlichen Interaktion, seien es Begegnungen im intimen Raum oder in einer größeren Öffentlichkeit. Zirkusmotive werden hier als ein Mittel der zusätzlichen Exponiertheit wie Reflektiertheit der ohnehin schon theatralen Situation – der erzählten wie der Erzählsituation – eingesetzt. Sie erlauben es der innerfiktionalen Welt sich noch einmal anders zu präsentieren, ohne ihren grundlegenden Darstellungsgestus aufgeben zu müssen; so geht nicht etwa eine Darstellung in eine ihr gegenüberstehende oder vorangehende Wirklichkeit über, sondern eine Darstellungsweise in eine andere, womit eine Steigerung und Reflexion der Darstellungsqualität erreicht wird. Es ist nun sichtbar geworden, dass in Manns Texten weder dieses Hyperbolische noch eine Inszeniertheit verlässliche Kriterien abgeben, um eine Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit zu ziehen. In dem fiktio-

27 Welscher, Ute: »Sprechen – Spielen – Erinnern. Formen poetologischer Selbstreflexion in Heinrich Manns Exilromanen Empfang bei der Welt und Der Atem«, in: Walter Delabar/ Walter Fähnders (Hg.), Heinrich Mann (1971-1950), Berlin 2005, S. 375-389. 28 Ebd., S. 376f und S. 376.

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nalen Spiel mit Wirklichkeiten und ihren Darstellungsweisen, das diese Texte treiben, bietet weder die Opposition hyperbolisch – authentisch, noch die Gegenüberstellung Inszeniertes – Unverfügbares eine stabile Orientierung und selbst die Frage, wie folgenreich oder konsequenzvermindert eine Handlung ist, ist nur bedingt maßgeblich. Die Geschichten führen eine Kunstkonzeption vor, nach der Kunst nicht nur kein Abbild der Realität ist, sondern dieser oft genug vorangeht. Vielmehr als die Diskussion einer vermeintlich stabilen Gegenüberstellung von Kunst und Wirklichkeit leisten diese Texte eine Reflexion auf die Wahrnehmung von Wirklichkeiten in theatralen Kategorien und als performativ erzeugt. Das Wirkliche ist das Dargestellte.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

UND

B ILDNACHWEIS

Abb. 1: G. Eberlein: Euterpe mit Panthergruppe, Hoftheater Wiesbaden. Quelle: Moderne Kunst IX. 6 (1895), S. 85. Abb. 2: A. Ackermark: Dressirte Pudel. Quelle: Moderne Kunst IX. 13 (1895), S. 197. Abb. 3: Bismarck-Medaille. Quelle: Moderne Kunst IX. 18 (1895), S. 284.

Artistische Ästhetik und/als literarischer Primitivismus in Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders J ULIA K ERSCHER

Die Zeit ›um 1900‹ markiert eine Hochphase des Zirkus; zugleich ist sie eine Hochphase des Primitivismus. Dies ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, kein Zufall; vielmehr besteht um die Jahrhundertwende eine Interdependenz zwischen der Konjunktur des Zirkus und derjenigen des Primitiven. Strukturell betrachtet sind es in erster Linie Zuschreibungen wie Marginalität und Peripherie, 1 die das Zirzensische und das Primitive in derselben topologischen bzw. kulturellen Sphäre verorten. Als so genannte ›niedere‹ Kunstformen stehen die zirzensischen Künste gegenüber der etablierten bürgerlichen Kunst unter dem Verdikt des Dilettantischen; dasselbe gilt unter kolonialistischen, also eurozentrischen Vorzeichen für die an der imperialen Peripherie produzierte primitive Kunst.2 In der Perspektive der Avantgarden erfährt das Vorurteil des kulturell Rück- bzw. geographisch Randständigen der beiden Kunstformen jedoch eine Revision. Mehr noch: Um 1900 tragen affirmative Bezugnahmen auf die zirzensische und/oder die primitive Kunst zur programmatischen Selbstbestimmung und -verortung der Avantgarden bei. Insbesondere aufgrund ihrer kulturellen Funktion, die meisten Elemente der legitimierten bürgerlichen Kunst zu negieren,3 konnten der Zirkus und das Primitive gleichermaßen modellbildend auf das avantgardistische Programm wirken. Teil dieses Programms ist die Aufwertung dessen, was bis dato als dilettantisch disqualifiziert worden war. Zu denken ist beispielsweise an den Ausschluss artistischer Elemente aus dem bürgerlichen Theater

1

2

3

»From its earliest origins, throughout its century-old history, and even in its present role, performers have been and are considered to be of ›low‹ class, from a cultural ›fringe‹ or periphery that presumes a ›center‹, or from cultural ›depths‹ that presume ›heights‹«. Jones, Robert A.: Art and Entertainment. German Literature and the Circus 1890-1933, Heidelberg 1985, S. 19. Vgl. Kerscher, Julia: Autodidaktik, Artistik, Medienpraktik. Erscheinungsweisen des Dilettantismus bei Karl Philipp Moritz, Carl Einstein und Thomas Bernhard, Göttingen 2016, S. 204f, S. 274f. Für das Gebiet von Zirkus und Varieté vgl. R. A. Jones: Art and Entertainment, S. 29.

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beim Übergang von der Wanderbühne zur stehenden Bühne.4 Paradigmatisch vorgeführt wird diese Strategie unter anderem von Carl Einsteins 1906 in Teilen, komplett dann 1912 erschienenem Text Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, der das vermeintlich Unkünstlerische im Titel führt und die vermeintliche kulturelle Peripherie, namentlich den »Zirkus zur aufgehobenen Schwerkraft«, 5 als zentralen Handlungsort wählt. Carl Einstein teilt, so legt bereits der Titel nahe, die später von Walter Benjamin formulierte Überzeugung, im Zirkus müsse »ja selbst dem Borniertesten aufgehen, um wie viel näher am Wesentlichen, wenn man will am Wunder, gewisse physische Leistungen stehen als die Phänomene der Innerlichkeit«. 6 Der Zirkus gilt gemeinhin als eine Form der Schaustellung menschlicher Wunder,7 hier sind die menschliche Physis und das Wunder auf das Engste miteinander verknüpft. In Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders ist es Euphemia, an deren Körper die Behauptung, »Artistik […] [sei] die Somatisierung des Unwahrscheinlichen«,8 illustriert wird: »Die Menschen, die […] in den Zirkus, eine kolossalische Rotunde des Staunens, geflattert waren, saßen zur Masse verkeilt, und man erwartete Miß Euphemia. […] Man bemerkte Euphemia erst, als sie an der Decke aufgezogen war, sie hielt sich mit den Zähnen in einen Strick verbissen. Ließ sich los, und ein Salto mortale war an der Decke geschlagen zum anderen Ende, wo sie mit den Zähnen ein Seil aufriß. […] Miß Euphemia glitt beim dritten Male am Seil ab; sie beschloß aus formalen Gründen, sich das Genick zu brechen. Senkrecht schrien die Leute, einige versuchten, von den Galerien herabzuspringen. Euphemia sah den schwebenden Kronleuchter und ergriff fünfeinhalb Meter über dem Boden das Seil. Die Leute wüteten. Euphemia machte dann mit großer Sicherheit noch einige Salto mortales.«9

Euphemia erscheint im Text jedoch nicht nur als Akrobatin, sondern auch als »eine breite verschwimmende Dame«, die nackt »auf ihrem schwermütigen, weit ausgedehnten Posterieur« sitzt.10 »Sie trug einen ausladenden gelben Federhut, smaragdfarbene Strümpfe, deren Bänder bis zu den Achseln reichten und den Körper mit nicht zu aufregend vibrierenden Arabesken schmückten. Von ihren Seehundhänden

4 5

Vgl. J. Kerscher: Autodidaktik, Artistik, Medienpraktik, S. 193. Einstein, Carl: »Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders«, in: Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny (Hg.), Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908-1918, Berlin 1980, S. 73-114, hier S. 73. 6 Benjamin, Walter: »Rezension zu: Ramon Gomez de la Serna, Le cirque«, in: Hella Tiedemannn-Bartels (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a.M. 1972, S. 70-72, hier S. 70. 7 Bose, Günter/Brinkmann, Erich: Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978, S. 94. 8 Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009, S. 104. 9 C. Einstein: Bebuquin, S. 94. 10 Ebd., S. 73.

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starrten rote Rubinen senkrecht«.11 Ihr Erscheinungsbild weist Euphemia als »Inbegriff der ›pikanten‹ Varietésängerin«12 aus: Diese trug um 1900 meist »riesige, phantasievolle Hutgebilde und jede Menge Schmuck«13 und folgte einer »raffinierten Enthüllungsstrategie«.14 In ihrem Mehrfachstatus als Akrobatin und Varietédame verkörpert Euphemia das zeitgenössische Verständnis einer Artistin. 1904 wird der Begriff wie folgt definiert: »Artist (vom lateinischen ars = die Kunst […]) war früher in Italien und Frankreich nur die Bezeichnung für Bildhauer, Maler und Schauspieler, und erst in den letzten zwanzig Jahren etwa nennt man in Deutschland so die Akrobaten, die Kunstreiter, Gymnastiker, Sänger, Mimiker, kurz alle Angehörigen des Circus und Varietés.«15

An dieser Bestimmung wird erstens ablesbar, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts die unterhaltenden unter die ernsten Künste mischen, und zweitens, dass auch Zirkus und Varieté keine klar unterschiedenen Institutionen sind. Dies konstatiert auch die 1883 erstmals erschienene Zeitschrift Der Artist. Central-Organ der Circus, VarietéBühnen, reisenden Kapellen und Ensembles: »[V]erwischt sind heute die Grenzen zwischen Theater, Varieté und Circus«.16 Genau diese Mischung von ernster und unterhaltender Kunst und die Verwischung der Grenzen von Theater, Varieté und Zirkus bilden den Horizont für Carl Einsteins artistische Ästhetik.

1. ARTISTISCHE ÄSTHETIK IN B EBUQUIN ODER DIE D ILETTANTEN DES W UNDERS Das Setting und das Personal des Bebuquin geben erste Hinweise, Einsteins Text auf Ansätze einer artistischen Ästhetik zu prüfen. Dabei fällt zunächst dessen a-mimetische Verfasstheit auf: Raum, Zeit, Figuren und andere Parameter mehr entsprechen nicht etwaigen realweltlichen Bezugsgrößen, sondern referieren allenfalls textintern auf sich selbst. Diese A-, wenn nicht Anti-Mimetik des Bebuquin kann als sprachkünstlerisches Pendant zu den ebenfalls a-mimetischen sprachlosen Körperkünsten des Zirkus verstanden und somit als Element einer artistischen Ästhetik klassifiziert werden kann.

11 Ebd., S. 73f. 12 Schmitt, Christine: Artistenkostüme. Zur Entwicklung der Zirkus- und Varietégarderobe im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 166. 13 Ebd., S. 169. 14 Ebd., S. 170. 15 Oberbreyer, Max: »Die Entwicklung des Artistenstandes und der Artist«, in: Der Artist 1000 (1904), unpaginiert. 16 Ebd.

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Auf der Strukturebene zeigt sich Einsteins artistische, also aus Zirkus und Varieté gespeiste Ästhetik in der Revuehaftigkeit der Textanordnung.17 Einstein reiht in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders nicht nur Tanz, Chanson, Akrobatik u. a. in aufeinander folgenden Episoden an; er verwendet dabei auch jeweils verschiedene Gestaltungsweisen. Wenn er lange Kapitel auf sehr kurze folgen lässt, dialogischperformative Darstellung, monologisches Sprechen und Erzählerbericht kontrastiert, wenn er philosophische Erörterungen mit Unflätigkeiten durchsetzt,18 lyrischmusikalische Formen verwendet und anderes mehr, 19 dann transformiert er das Prinzip einer Varietédarbietung in eine literarische Darstellungsweise: »›Variatio‹, aus dem das französische ›Varieté‹ abgeleitet ist, heißt: Abwechslung. Eine Varietébühne bringt […] ein vielseitiges und buntgemischtes, abwechslungsreiches Programm verschiedenartiger artistischer Leistungen.«20

Das diskursive Verfahren in Bebuquin korrespondiert offensichtlich den artistischen Inhalten des Texts; es wird sogar metafiktional propagiert, wenn Böhm den Dilettanten Bebuquin auffordert: »Variieren Sie doch einmal, monotoner Kloß[!]«. 21 Der realweltlichen Mischung von Zirkus, Kabarett und Varieté korrespondieren im Hinblick auf die spezifische Integrationsleistung in der artistischen Ästhetik des Texts zahlreiche Zitate und intertextuelle Bezüge. Über Zirkus, Kabarett und andere Unterhaltungskünste schreibt Robert A. Jones: »Within a setting characterized by a remarkable degree of internationalism, of tolerance for borrowing (engendered no doubt by the general mood of innovation and experimentation), of fluidity between form not yet confirmed and hardened into traditions to be defended or broken,

17 Die Revue hat in weiten Teilen der Avantgarde um 1900 als Modell für ästhetische Montage fungiert. Der russische Filmemacher Sergej Eisenstein stellt z.B. fest: »›In jener Zeit war offensichtlich das Music Hall Element der wichtigste Nährboden für die Herausbildung eines montageförmigen Verlaufs künstlerischen Denkens.‹« Zit. n. Schultz, Joachim: »Die Geburt der Avantgarde aus dem Geist der Music-Hall. Zwischen Primitivismus und Populärkultur«, in: ders. (Hg.), Die Geburt der Avantgarde aus dem Geist der Music-Hall und andere Essays, Bayreuth 1999, S. 722, S. 14. 18 Vgl. dazu folgende zeitgenössische Rezension: »[M]ich [widert es] an, wenn Weltanschauliches ausgerechnet in der Bar passieren muß, zwischen Drinks und Koketten. Das ist deshalb nicht snobhaft, und gesunde Sexualkämpferinnen würden nicht unrecht haben, es als ›lemurisch‹ zu bezeichnen; doch die Atmosphäre einer Bar ist so antisinnlich wie antigeistig – und als Nietzsche den ›Zyniker‹ pries, meinte er nicht den Alkoholkopf.« Hiller, Kurt: »Bemerkungen zu Bebuquin«, in: Pan 34 (1913), zit. n. Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny (Hg.): Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908-1918, Berlin 1980, S. 500-503, hier S. 502f. 19 Vgl. z.B. C. Einstein: Bebuquin, Kap. 10 und 11, S. 77-80, hier S. 81 und 105. 20 Gobbers, Emil: Artisten. Zirkus und Varieté in alter und neuer Zeit, Düsseldorf 1949, S. 73f. 21 C. Einstein: Bebuquin, S. 78.

A RTISTISCHE Ä STHETIK

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we find numerous connecting links, reciprocal exchanges, and mutually-shared structural elements among those forms«.22

Was Robert A. Jones hier für den Zirkus feststellt, gilt ähnlich auch für Einsteins literarischen Text: ›Connecting links‹ und ›reciprocal exchanges‹ verbinden Bebuquin mit Nietzsches Biographie, mit der Philosophie Schopenhauers, mit Kants Idealismus sowie mit so unterschiedlichen Denkern bzw. Schreibern wie Platon, Dante Alighieri und Gabriele d’Annunzio.23 Und auch die Konversation der Figuren besitzt Zitatcharakter: Vor allem die Sprechweisen der Bohème werden in zahlreichen Witzen, Wortspielen und Allusionen zitiert und reproduziert. 24 Besonders Böhm macht seinem sprechenden Namen in dieser Hinsicht alle Ehre, wenn er etwa verlangt, »[d]as Naturgesetz soll[e] sich im Alkohol besaufen, bis es merkt, es gibt irrationale Situationen«.25 Des Weiteren ist in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders die herkömmliche abendländische Logik außer Kraft gesetzt. Stets werden Thesen formuliert, um dann konsequent widerlegt bzw. revidiert zu werden. Dieses Verfahren als Erscheinungsweise einer artistischen Ästhetik zu lesen, legt Einstein selbst nahe. In den Politischen Anmerkungen schreibt er: »Geschichtsbildend jedoch ist der Mensch, der mehr gibt als das Equilibre der Antithese, der These und Antithese zugleich verschluckt und über den eigenen Kopf springt.«26 Die Synthetisierung von These und Antithese weist Einstein als das Geschäft des Äquilibristen aus. Das Aushalten der Gleichzeitig und Gleichgültigkeit von These und Antithese wird in der zirzensischen Metapher den Feuerschluckern und denjenigen, die über den eigenen Kopf springen, sprich: den Trapezkünstlern und den Clowns zugeordnet. Das a-logische Verfahren in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders kann vor diesem Hintergrund als ›clownesker Stil‹ beschrieben werden. Nach Siegfried Kracauer gibt es »keine echte Clownerie, die nicht die Bestimmung hätte, die herkömmlichen Weltverhältnisse umzukehren.«27 Clownerie und Avantgarde haben also dieselbe Mission; Avantgarde

22 R. A. Jones: Art and Entertainment, S. 28. 23 Vgl. C. Einstein: Bebuquin, S. 75, S. 77, S. 82, S. 83, S. 88, S. 93. 24 Kramer, Andreas: Die »verfluchte Heredität loswerden«. Studie zu Carl Einsteins Bebuquin, Münster 1990, S. 57. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 25 C. Einstein: Bebuquin, S. 86. 26 Einstein, Carl: »Politische Anmerkungen«, in: Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny (Hg.), Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908-1918, Berlin 1980, S. 124-126, hier S. 124. – Moritz Baßler hat dieses Verfahren auch schon für Einsteins Poetik geltend gemacht. Er stellt fest, dass bei Einstein Thesen in keinem funktionellen Zusammenhang stehen und oft nicht als Thesen, Antithesen oder Synthesen formuliert sind. »Bei Einstein stehen sie gleichwertig nebeneinander als apodiktisch gesetzte Thesen mit absolutem Wahrheitsanspruch, die miteinander nicht einmal in der Weise interagieren, daß sie einen Widerspruch bilden könnten.« Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994, S. 166. 27 Kracauer, Siegfried: »Akrobat – schöön«, in: Inka Mülder-Bach (Hg.), Siegfried Kracauer. Schriften. Bd. 5.3: Aufsätze 1932-1965, Frankfurt a.M. 1990, S. 127-131, hier S. 128.

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ist Clownerie mit sprachlichen Mitteln, ist künstlerische Revolution durch artistische Ästhetik. Avantgarde und Clownerie bzw. Zirkus allgemein gingen bekanntlich auch im bildkünstlerischen Bereich schon früh eine enge Allianz ein. In der Malerei sind nicht selten zirzensische Gegenstände gestaltet worden: Zu denken ist beispielsweise an Pierrot und Harlekin (1888) von Paul Cézanne, an Die Kunstreiterin im Zirkus Fernando (1888) von Henri de Toulouse-Lautrec oder an Der Zirkus (1890/91) von Georges Seurat. An solche Motive knüpft Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders an, wenn Euphemia – zusätzlich zu ihrem Dasein als Akrobatin und als Varietédame – außerdem noch als »die Wachspuppe aus der billigen Erstarrnis« 28 auftritt. In dieser Erscheinungsform wird Euphemias Gesicht beschrieben als »rot geschminkt mit gemalten Brauen«; sie ist eine Puppe, »die seit ihrer Existenz eine Kusshand […] warf.«29 Euphemias geschminktes Gesicht und ihr auf Dauer gestellter Kusshandwurf binden sie auch als starre Puppe (und nicht nur als elastische Akrobatin) in den zirzensischen Zusammenhang ein. Denn das Kusshändewerfen, das für seine Wirksamkeit einer besonderen Lippenröte bedarf, ist um 1900 dezidiert als Zirkusgeste markiert. In zeitgenössischen Quellen ist beispielsweise von »der Parforcereiterin, die […] die Reitpeitsche schwingend und Kusshände werfend kokett hin und hertänzelte«,30 die Rede; und auch später noch ist die »Kunstreiterin, die vom Pferd herab auf den August schaut, der ihr Kusshände nachwirft«,31 Gegenstand von Untersuchungen zum Zirkus. Carl Einstein ließ sich jedoch nicht nur bei den zirzensischen Motiven von der bildenden Kunst inspirieren. Häufig zitiert ist seine Selbstaussage, er wisse »schon sehr lang, dass die Sache, die man ›Kubismus‹ nennt, weit über das Malen hinausgeht.« Daher habe er versucht, die Einsichten des Kubismus für »[s]ein Metier« zu adaptieren. Einer »Umbildung des Sehens« durch die Malerei solle eine »Umbildung des sprachlichen Aequivalents und der Empfindungen« durch die Literatur entsprechen. Konkret meine das: »Geschichten wie, Verlieren der Sprache, oder Auflösung einer Person, oder Veruneinigung des Zeitgefühls. […] Solche Dinge hatte ich im Bebuquin 1906 unsicher und zaghaft begonnen.«32 Die »Auflösung einer Person« in mehrere unterschiedliche figurale Erscheinungsweisen ist am Beispiel Euphemias bereits deutlich geworden. Im nächsten Schritt soll nun gezeigt werden, dass die Akrobatin/Varietédame/Puppe Euphemia aufgrund der Gestaltung ihres Äußeren nach Prinzipien des Kubismus das Scharnier zwischen der bereits vorgestellten artistischen und einer noch genauer zu bestimmenden primitiven Ästhetik bildet.

28 29 30 31 32

C. Einstein: Bebuquin, S. 91. Ebd., S. 74. Richter, Johannes: »Alles durch den Artist«, in: Der Artist 1000 (1904), unpaginiert. G. Bose/E. Brinkmann: Circus, S. 129. Einstein, Carl: »Brief an Daniel Henry Kahnweiler vom Juni 1923«, in: Liliane Meffre (Hg.), Carl Einstein Daniel Henry Kahnweiler. Correspondance 1921-1939, Marseille 1993, S. 138-148, hier S. 139f.

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2. ARTISTISCHE , KUBISTISCHE UND PRIMITIVE K UNST : (W AHL -)V ERWANDTSCHAFTEN UND (W ECHSEL -)W IRKUNGEN Die kubistische Tendenz zur »Auflösung der Person« bezieht sich durchaus konkret auf die Körper der Figuren; in Bebuquin lässt sie sich beispielsweise beim Liebesspiel Euphemias und Böhms beobachten. Im Spiegel sieht Böhm, »wie die Brüste [Euphemias] sich in den feingeschliffenen Edelsteinplatten seines Kopfes zu mannigfachen fremden Formen teilten und blitzten«.33 Und Euphemias »lange Haarsträhnen«34 erzeugen im Spiegel den Eindruck, als enthielte »jedes Haar […] tausend Formen.«35 Euphemia, die später erkennt, »ja nur die Wachspuppe aus der billigen Erstarrnis«36 zu sein, wird hier offensichtlich als kubistisches Kunstwerk inszeniert.37 Tatsächlich hat zur Entstehungszeit des Texts bei der Konzeption und Manufaktur von Wachs- und Schaufensterpuppen eine Orientierung am bildkünstlerischen Kubismus stattgefunden.38 Und nicht nur als Randnotiz sei hinzugefügt, dass Carl Einstein selbst zeitweilig als Schaufensterdekorateur gearbeitet hat. 39 Über die Rezeption solcher, nach kubistischen Prinzipien gestalteter Schaufensterpuppen sind Reaktionen wie die folgende überliefert:

»Here [= in some viewers’ description] the modern mannequin was characterized as an eradication of the ›naturalistic‹ female body, as that body’s translation into ›a mere cubistic chaos of intersecting surfaces‹ and as ›a decorative hieroglyphic‹. Woman’s body, it would seem, qualified as ›decorative‹ to the extent that it had been rendered illegible. This defamiliarization of woman involved not only a reconfiguration of expressive parts of the body (such as face and hands) but also a transformation of surface; the modern mannequin might have ›skin‹ that was ›gilt‹ or silvered over.«40

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C. Einstein: Bebuquin, S. 76. Ebd. Ebd. Ebd., S. 91. Präzisierend muss hinzugefügt werden, dass Euphemia innerfiktional vermutlich kein Bewusstsein dahingehend besitzt, dass ihre Körperkunst sich am Kubismus orientiert. 38 Vgl. Schneider, Sara K.: Vital Mummies. Performance Design for the Show-Window Mannequin, New Haven/London 1995, S. 127. 39 Vgl. Kiefer. Klaus H.: »Äternalistisches Finale oder Bebuquins Aus-Sage. Carl Einsteins Beitrag zur Postmoderne«, in: Neohelicon 21 (1994), S. 13-46, hier S. 34. 40 Gronberg, Tag: »Beware Beautiful Women: The 1920s shopwindow mannequin and a physiognomy of effacement«, in: Art History 20 (1997), S. 375-396, hier S. 379. Die hier angesprochene »reconfiguration of expressive parts of the body« (ebd.) erhebt später z.B. Hans Bellmer zu einem zentralen Gestaltungsprinzip seiner Puppen (vgl. dazu Bellmer, Hans: Die Puppe: Die Puppe. Die Spiele der Puppe. Die Anatomie des Bildes. Vollst., neu eingerichtete Ausgabe, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1976). Das Beispiel Bellmers vom Dadaismus inspirierter Puppen wäre z.B. um Ausführungen zu Sophie Taeuber-Arps kubistischen Puppen zu ergänzen. Taeuber-Arp fertigte »abstrakte Marionetten«, die »aus Kuben,

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Umgekehrt wird der Beginn des Kubismus mit der Präsentation des ersten abstrakten Mannequins 1911 im Rahmen der Pariser Herbstausstellung angesetzt. 41 »The first abstract mannequin is reputed to have been presented to an unenraptured audience at the 1911 Salon d’Automne in Paris. Perhaps inspired by photography, the mannequin was a cubist figure, its surface a refracting myriad of tiny broken mirrors.« 42 Bei dieser kubistisch gestalteten Puppe liegt offensichtlich dieselbe kaleidoskopartige Brechung des Puppenkörpers unter Zuhilfenahme von Spiegeln vor wie in Einsteins Bebuquin bei Euphemias Stilisierung zum Kunstwerk. Vergleichbares gilt auch für die Körper von Artisten: »Für die Kostüme der Zirkus- und Varietékünstler […] [sind] Glitzereffekte typisch, erzeugt durch lichtreflektierende Materialien wie Pailletten, Schmuckstein, [oder] goldene und silberne Fransen«. 43 Die Glitzereffekte der Artistenkostüme erzeugen eine ähnliche Wirkung wie die der spiegelbesetzten Mannequins; so ist in Edmond de Goncourts Artistenroman Les frères Zemganno von 1879 nachzulesen: »Es gab und gibt auf diesen rasend schnell vorüberziehenden Bildern, bei dieser ständigen Bewegung von Menschen unter grellem Gaslicht, in diesem Reich des Flitters, des Rauschgolds, der angeklecksten Gesichter bezaubernde und seltsame Lichteffekte. So läuft zeitweilig über das mit Rüschen besetzte Hemd eines Äquilibristen ein Geriesel von Flimmerplättchen, das es in ein feuersprühendes Kleid verwandelt. In manchen Seidentrikots erscheint ein Bein mit seinen Höhlungen und Wölbungen, mit seinen weißen und violetten Tönen wie das Rot einer Rose, auf die nur von einer Seite Sonnenlicht fällt. Dem Gesicht eines Clowns, auf dem ein heller Lichtschein liegt, verleiht der grellweiße Puder eine Reinheit, die Regelmäßigkeit und fast den scharfen Schnitt eines aus Stein gehauenen Antlitzes.«44

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Kegeln, Kugeln geschaffen […]« waren (Meyer, Raimund: »Dada ist gross Dada ist schön‹. Zur Geschichte von ›Dada Zürich‹«, in: Hans Bolliger/Guido Magnaguagno/ Raimund Meyer (Hg.), Dada in Zürich, Zürich 1985, S. 9-79, hier S. 34.). Vor allem aber steht Taeuber-Arp für das »Zusammenspiel von Dada – Masken – Tanz« (ebd., S. 42), das im hier verfolgten Zusammenhang von Varietétänzerin und Puppe besonders interessant ist. Denn der Dadaismus behauptet von sich, »[…] den Kubismus zum Tanz auf der Bühne gemacht‹« (ebd.) zu haben. Eine Abbildung von Sophie Taeuber »[…] bei einem Tanz mit kubistischem Kostüm, Zürich 1916« zeigt der Band Dada in Zürich auf S. 43. Vgl. Parrot, Nicole: Mannequins. Deutsch v. Helena Zaugg, Bern 1982 [orig. Paris 1981], S. 65. S. K. Schneider: Vital Mummies, S. 127. – Das durchgängig präsente Spiegelmotiv in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders kann vor diesem Hintergrund in meine Lesart einbezogen werden. Dasselbe gilt für Böhms Kopf, »eine silberne Hirnschale mit wundervoll ziselierten Ornamenten, in welche feine, glitzernde Edelsteinplatten eingelassen waren« (C. Einstein: Bebuquin, S. 74f): Das Spiegelmotiv und die silberne, ziselierte Hirnschale sind Elemente einer kubistischen Ästhetik, die den Kunstmensch-Charakter der Figuren, also das Puppenhafte an ihnen, besonders gut zur Anschauung bringen. C. Schmitt: Artistenkostüme, S. 20. De Goncourt, Edmond: Die Brüder Zemganno. Deutsch v. Albert Klöckner, Hamburg 1967, S. 121f.

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An dieser Stelle kann festgehalten werden: In Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders werden die Brüste der Puppe/Artistin Euphemia im Spiegel »zu mannigfachen fremden Formen« fragmentiert und jedes ihrer Haare nimmt »tausend Formen« an. Das Aussehen von Euphemias realweltlichen Pendants, den kubistisch inspirierten Schaufensterpuppen, ist zeitgenössisch als »a mere cubistic chaos of intersecting surfaces« beschrieben worden. Die erste kubistische Puppe von 1911 hatte eine Oberfläche bestehend aus »a refracting myriad of tiny broken mirrors«. Und Artistenkostüme mit ihren Glitzereffekten abstrahieren die menschlichen Bewegungen in Richtung ihrer Denaturalisierung. All diesen Fällen ist gemeinsam, dass am Artistenbzw. am Puppenkörper das realisiert wird, was »Cézanne […] bereits [erkannte], daß allen Körpern gewisse stereometrische Grundformen innewohnen, gleichsam als Elemente alles Plastischen. Er nannte Kegel, Zylinder und Würfel.«45 Mit stereometrischen Grundformen als Konstituenten des Plastischen und einem »bedeutenden Fall plastischen Sehens«,46 nämlich der afrikanischen Plastik, setzt sich Carl Einstein in seiner kunstwissenschaftlichen Schrift Negerplastik auseinander. Dort analysiert er die Raumgestaltung in afrikanischen und ozeanischen Plastiken und stellt fest: »Es bezeichnet die Negerplastiken, daß sie eine starke Verselbständigung der Teile aufweisen«.47 In der primitiven Kunst, so Einstein, fanden die avantgardistischen Künstler die Lösungen für ihre Formprobleme. Im Kontext des Kubismus in der französischen Malerei »entdeckte man notwendig die Negerplastik und erkannte, daß sie isoliert die reinen plastischen Formen gezüchtet hat.«48 An der primitiven Kunst wird anschaulich, dass »jeder Teil […] plastisch verselbständigt und so deformiert sein [muß], daß er die Tiefe absorbiert, indem die Vorstellung, wie er von der entgegengesetzten Seite erschiene, in die frontale, jedoch dreidimensional funktionelle, hereingearbeitet ist.«49 Als Unterschied zwischen der primitiven Kunst und »solcher Kunst, die an ihr sich orientierte und ihr Bewußtsein gewann«, hält Einstein fest: »[W]as hier als Abstraktion erscheint, ist dort unmittelbar gegebene Natur.«50 Negerplastik gilt aufgrund der Analyse kubistischer Formprobleme am Vorbild primitiver Kunst als »metonymes Manifest des Kubismus«.51 Zugleich hat Einsteins

45 Einstein, Carl: »Anmerkungen zur neueren französischen Malerei«, in: Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny (Hg.), Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908-1918, Berlin 1980, S. 117-121, hier S. 119. 46 Einstein, Carl: »Negerplastik. Mit 119 Abbildungen«, in: Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny (Hg.), Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908-1918, Berlin 1980, S. 245-391, hier S. 248. 47 Ebd., S. 252. 48 Ebd., S. 251. 49 Ebd., S. 258. 50 Ebd., S. 251. 51 Kiefer, Klaus H.: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, Tübingen 1994, S. 284. Einstein differenziert die afrikanische und die kubistische Kunst, indem er die eine als naive, die andere als sentimentalische Kunst ausweist: Zeitgleich zum Kubismus in der französischen Malerei »entdeckte man notwendig die Negerplastik und erkannte, daß sie isoliert die reinen plastischen Formen gezüchtet hat. Üblicherweise bezeichnet man die Bemühungen dieser Maler als

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Schrift aber auch Teil am zeitgenössischen Primitivismusdiskurs. Einerseits wird Primitivismus in Negerplastik thematisiert, namentlich in der Rede von der Orientierung und Bewusstseinsgewinnung der kubistischen an der primitiven Kunst. 52 Andererseits übt Negerplastik Primitivismus, indem im Einklang mit dem kubistischen Programm53 die primitive afrikanische respektive ozeanische Kunst zum Vorbild für

Abstraktion, wiewohl sich nicht leugnen läßt, daß nur mit einer ungeheueren Kritik der verirrten Umschreibungen man sich einer unmittelbaren Raumauffassung nähern konnte. Dies jedoch ist wesentlich und scheidet die Negerplastik kräftig von solcher Kunst, die an ihr sich orientierte und ihr Bewußtsein gewann; was hier als Abstraktion erscheint, ist dort unmittelbar gegebene Natur. Die Negerplastik wird sich im formalen Sinn als stärkster Realismus erweisen. Der heutige Künstler agiert nicht nur für die reine Form, er spürt diese noch als Opposition seiner Vorgeschichte und verwebt seinem Streben das allzu Reaktive; seine nötige Kritik verstärkt das Analytische.« (C. Einstein: Negerplastik, S. 251) Klaus H. Kiefer hat Einstein aufgrund seiner Orientierung am Primitiven zum »Winckelmann der Avantgarde« erklärt (K. H. Kiefer: Diskurswandel, S. 141). Moritz Baßler spricht davon, dass »[i]n dieser neuen Geschichtserzählung […] der Kubismus als die sentimentalische Wiederholung der naiven Negerplastik« erscheint (Baßler, Moritz: »Das Bild, die Schrift und die Differenz. Zu Carl Einsteins Negerplastik«, in: Christoph Brecht/Wolfgang Fink (Hg.), »Unvollständig, krank und halb?« Zur Archäologie moderner Identität, Bielefeld 1996, S. 137-153, S. 146.). Jean Starobinski attestiert 1970 dem modernen Künstler Ähnliches: »Er wird aus dem Zirkus und der afrikanischen Kunst das machen, was Vergil aus den Schäfern Arkadiens oder was die Romantiker aus der Poesie Ossians gemacht haben – er wird die verlorene Spontaneität beklagen und seinem Bedauern in ›sentimentalen‹ und verwandelnd-verklärenden Betrachtungen Ausdruck geben.« Starobinski, Jean: Porträt des Künstlers als Gaukler. Drei Essays. Deutsch v. Markus Jacob, Frankfurt a.M. 1985, S. 23. 52 Der Terminus »Primitivismus« beschreibt »die Anregung des Denkens und Schaffens moderner Künstler durch Kunst und Kultur der Naturvölker« (Rubin, William: »Der Primitivismus in der Moderne. Eine Einführung«, in: ders. (Hg.), Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, München 1984, S. 8-92, S. 8.) oder in einer jüngeren Definition: »[…] eine Stilrichtung, […] in deren Zentrum das Selbstverständnis der Künstler steht, von künstlerischen Ausdrucksformen beeinflusst zu sein, die sie in einem positiven Sinn als ›primitiv‹ wahrnehmen.« Blome, Eva: Reinheit und Vermischung. Literarisch-kulturelle Entwürfe von »Rasse« und Sexualität (1900-1930), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 146. Vgl. dazu auch: Meyer-Sickendiek, Burkhard: »Primitivismus. Literarische ›Anti-Kunst‹ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung«, in: Nicola Gess (Hg.), Literarischer Primitivismus, Berlin/Boston 2013, S. 315-333, hier S. 318. 53 Die kunsthistorische Forschung geht mittlerweile davon aus, dass die These, die primitive Kunst habe den Kubismus hervorgebracht, nicht zutreffend ist. Die Wandlungsprozesse in der modernen Kunst seien bereits in vollem Gange gewesen, als avantgardistische Künstler_innen erstmals auf Stammeskunst aufmerksam wurden. »Sie verspürten ein Interesse und fingen an, primitive Kunst zu sammeln, eigentlich weil ihre eigenen Erkundungen solche Objekte plötzlich für ihre eigene Arbeit relevant gemacht hatten. Von Anfang an stellte das Interesse an Stammesskulptur somit eine Wahlverwandtschaft dar.« (W. Rubin: Der Primitivismus, S. 19) Einen möglichen Grund für diese Wahlverwandtschaft sieht William Rubin in dem fundamentalen Wandel, den die avantgardistische Kunst vollzogen hat, näm-

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die moderne europäische Kunst erklärt wird. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Vorbildfunktion liegt in der stereometrischen Formensprache der afrikanischen Plastiken, die den kubistischen Malern ein Modell für die Übersetzung von Drei- in Zweidimensionalität bietet. Maßgeblich für Einsteins Auseinandersetzung mit dem Primitiven ist die Kategorie ›Raum‹; die Zeit will er erklärtermaßen »ausschalten«. Das gilt einerseits für das Kunstwerk als solches: »Um ein abgegrenztes Dasein des Kunstwerks herauszubilden, muß jede zeitliche Funktion ausgeschaltet werden; das heißt ein Umgehen des Kunstwerks, ein Betasten muß verhütet werden. […] Es absorbiert die Zeit, indem es, was wir als Bewegung erleben, in seiner Form integriert.«54 Andererseits ‒ und das ist wesentlich für Einsteins Verständnis des Primitiven ‒ suspendiert er die Kategorie Zeit auch aus der Relation von primitiver und moderner respektive europäischer Kunst. »[M]an unterlasse das Interpolieren bequemer Evolutionen[!]«,55 lautet Einsteins bekannte Forderung in Bezug auf den Umgang mit afrikanischen Plastiken. Die afrikanische Kunst solle nicht als evolutionäres Frühstadium der europäischen Kunst betrachtet werden. Dieser Forderung nachzukommen, bedeutet nichts anderes als eine Synchronisierung bzw. Äquivalentsetzung der primitiven afrikanischen mit der modernen europäischen Kunst. (›Primitiv‹ und ›modern‹ stehen dann also in keiner zeitlichen Sukzession.) Präsentiert Einstein in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders nun eine Figur, die als Wachspuppe dem zeitgenössischen kubistisch inspirierten Modell einer Schaufensterpuppe entspricht, die sich mit Hilfe von Spiegeln selbst zu einem kubistischen Kunstwerk stilisiert und die als Artistin die Glitzereffekte ihrer Garderobe strategisch zum Einsatz bringt, so wird diese Figur in eine unmittelbare, strukturelle Nachbarschaft zu den afrikanischen Plastiken gerückt. Diese Nachbarschaft wird durch die gemeinsame Formensprache im Aussehen der Artistin/Puppe Euphemia, der kubistischen Kunst und der afrikanischen Plastiken hergestellt. Über das Scharnier ›Kubismus‹ werden der Puppen- und der Artistenkörper mit afrikanischen Plastiken, so meine These, analogisiert. Das einheitliche Gestaltungsprinzip rückt die Artistik ‒ neben den ohnehin geteilten Zuschreibungen wie ›Peripherie‹ und ›Marginalität‹ ‒ also auch in eine ästhetische Nähe zur primitiven Kunst. Auf einer Herleitung ästhetischer Verfahren aus der zirzensisch-artistischen Praxis wiederum beruht Einsteins artistische Ästhetik. Mit Blick auf die Faktur von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders lässt sich folglich die Hypothese aufstellen, dass Einsteins artistische Ästhetik als eine Variante des literarischen Primitivismus einzuordnen ist. Diese Überlegung soll nun abschließend geprüft werden.

lich den Übergang von jenen Stilen, die in der optischen Wahrnehmung verwurzelt sind, zu solchen, die sich auf geistige Konzeptionen berufen. Vgl. ebd., S. 20. 54 C. Einstein: Negerplastik, S. 253f. 55 Ebd., S. 247.

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3. ARTISTISCHE ÄSTHETIK ALS LITERARISCHER P RIMITIVISMUS IN B EBUQUIN ODER DIE D ILETTANTEN DES W UNDERS Am Beispiel Euphemias und ihrer Bezüge zu afrikanischen Plastiken ist deutlich geworden, dass für Einsteins Werk ein strukturelles Verständnis von Primitivismus charakteristisch ist. Ein solches Konzept von Primitivismus stützt sich, allgemein gesprochen, auf eine strukturelle Formanalyse, die das Primitive als äußere Eigenschaft bestimmter Objekte extrahiert und es durch Symmetrisierung übertragbar auf andere Gegenstände macht. Demgegenüber steht ‒ als Alternative oder als Ergänzung ‒ ein Verständnis von Primitivismus, das sich auf mentale Eigenschaften bezieht und das Primitive als Denkweise bzw. Modus der Weltwahrnehmung begreift. Die Übertragbarkeit eines solchermaßen verstandenen Primitiven beruht auf Anthropologisierung und kann sich auf unterschiedliche Personengruppen richten. 56 So lassen sich erstens Einsteins Rezeption afrikanischer bzw. ozeanischer Kunst und Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders über den Parameter ›struktureller Primitivismus‹ aufeinander beziehen. Zweitens greift auch das Konzept eines ›anthropologischen Primitivismus‹, da sich um 1900 die Imaginationsfigur des Primitiven nicht nur in Gestalt von kolonisierten Subjekten und Objekten fremder Länder konkretisiert hat, sondern auch in Gestalt von Mitgliedern marginalisierter Gruppen der eigenen Gesellschaft.57 Im speziellen Fall von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders setzt sich das Personal ausschließlich aus Mitgliedern sozial bzw. kulturell marginalisierter Gruppen wie Schauspielerinnen, Hetären, Bohèmiens und Trinkern zusammen; die prominenteste Figur ist die zwischen Artistin, Varietédame und Wachspuppe changierende Euphemia. Sie alle verkörpern in ihrem Äußeren und/oder ihrer Mentalität das Konzept des Primitiven unter den Bedingungen der modernen europäischen Großstadt. Einstein literarisiert die Zirkus- und Varietékünste als die Erscheinungsweisen des Primitiven in moderner, europäischer Gestalt, d.h. er rückt sie von der kulturellen Peripherie ins Zentrum der avantgardistischen Kunst. Dies bedeutet zum einen eine Nobilitierung der Unterhaltungskünste. Zum anderen wird dadurch die Möglichkeit für einen genuin literarischen Primitivismus geschaffen. Ein solcher galt (und gilt) aufgrund entweder der Schriftlosigkeit primitiver Kulturen oder zumindest der Sprachfremdheit, der sich europäische Literaten angesichts der (mündlichen) Litera56 Vgl. Schüttpelz, Erhard: »Zur Definition des literarischen Primitivismus«, in: Nicola Gess (Hg.), Literarischer Primitivismus, Berlin/Boston 2013, S. 13-27, hier S. 19f. Neuere Ansätze berücksichtigen entsprechend, »dass als ›primitiv‹ nicht nur die westafrikanische und ozeanische Stammeskunst, sondern auch andere außereuropäische Kunst verstanden wurde und darüber hinaus auch europäische Volkskunst, Kunst von Kindern und Geisteskranken und mittelalterliche Kunst.« Gess, Nicola: »Literarischer Primitivismus. Chancen und Grenzen eines Begriffs«, in: dies. (Hg.), Literarischer Primitivismus, Berlin/Boston 2013, S. 1-9, hier S. 2. 57 Vgl. Kopp, Kristin/Müller-Richter, Klaus: »Einleitung. Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. Text – Politik – Repräsentation«, in: dies. (Hg.), Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation, Stuttgart/Weimar 2004, S. 5-28, hier S. 12.

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tur aus Afrika oder Ozeanien ausgesetzt sahen, als ein unmögliches Unterfangen. In den bildenden Künsten konnten sich die Primitivisten unmittelbar visuell, im Modus der Anschauung an ihren fremden Vorbildern orientieren und erfolgreich von diesen lernen. Die primitive Literatur dagegen blieb ein Fall für linguistische Spezialisten und war den Schriftstellern höchstens durch Hilfsübersetzungen, und auch dann nur annäherungsweise zugänglich.58 Eine Strategie, dieses Dilemma zu umgehen, bestand für einige am Primitivismus orientierter Literaten um 1900 in der »›Inkorporation‹ der ›primitiven‹ bildenden Künste«, nämlich »Plastik, Malerei, Musik und Tanz in primitivistischer Manier« in die Inhalte ihrer Texte. »Neben den literarischen Ansätzen des Dadaismus, die versuchen, den Klang oraler künstlerischer Erzeugnisse aus Afrika oder Ozeanien nachzuahmen […] oder die sich um die Übersetzung und Verschriftlichung von Gesängen und Erzählungen der schriftlosen Kulturen bemühen, fällt zunächst ein weiterer Weg auf, den die literarischen Primitivisten beschreiten: Sie betreiben eine ›Inkorporation‹ der ›primitiven‹ bildenden Künste auf der semantischen Ebene ihrer Texte – Plastik, Malerei, Musik und Tanz in primitivistischer Manier werden zum Inhalt ihrer Schriften und Teil der Handlung ihrer Erzählungen.«59

Carl Einstein variiert diese Strategie: Er macht nicht afrikanische bzw. ozeanische Plastik, Malerei, Musik oder Tanz zum Inhalt seines literarischen Textes, sondern deren moderne europäische Transformationen: die Wachspuppe mit ihrem geschminkten Gesicht und ihren stereometrischen Körperformen, die sich wahlweise auch als halbnackte Varietédame und animalische Akrobatin zeigt. Dieser ›Inkorporation‹ des Primitiven in die inhaltliche Ebene des Textes korrespondiert eine artistische Ästhetik, ein clownesker Stil. Mit Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders hat Einstein ein Beispiel avantgardistischer Literatur geschaffen, das einen literarischen Primitivismus vorstellt, der seine modernen europäischen Ausgangsbedingungen nicht verschleiert. Einstein verklärt seine Gegenwart im Angesicht des Primitiven nicht in Richtung einer (vermeintlich) besseren Vergangenheit.60 Das heißt: Er löst auch im Bereich der Literatur

58 Vgl. Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), München 2005, S. 361. Als ein Beispiel für literarischen Primitivismus, der auf einer Hilfsübersetzung fußt, nennt Schüttpelz Einsteins Afrikanische Legenden. Vgl. ebd., S. 363. 59 E. Blome: Reinheit und Vermischung, S. 162. 60 Zeitgenossen standen Einsteins Methode durchaus kritisch gegenüber. Es wurde beispielsweise bezweifelt, dass Einstein Recht hatte, wenn er »als selbstverständlich an[nimmt], daß auch für diese, die doch auf fremden Kulturgrundlagen stehen, Analogieschlüsse zulässig sind. Seine Beobachtung, daß sich ›der Europäer der afrikanischen Kunst dermaßen misstrauisch nähert‹ und geneigt ist ›die Tatsache Kunst hier überhaupt zu leugnen‹, hätte zumindest für diese Annahme eine Einschränkung notwendig gemacht.« (Wallerstein, Victor: »Literatur«, in: Sozialistische Monatshefte 21.13 (1915), S. 672-673, zit. n. Baacke, RolfPeter (Hg.): Carl Einstein. Materialien. Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik, Berlin 1990, S. 105-106, hier S. 105.) Einsteins Deutungen könnten folglich »nur als seine persönlichen« (ebd.) gelten. »Er legt seine modern kultivierten Gefühle in fremde, von uns

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seine Forderung, »das Interpolieren bequemer Evolutionen« 61 zu unterlassen, ein. Mit der Transformation des Primitiven nach Maßgabe der Bedingungen der modernen Großstadt, mit der Überblendung der afrikanischen Plastik und der europäischen Puppe, entgeht Einstein jenem Phänomen, das er im Hinblick auf die französische Malerei als »Primitivenrummel« kritisiert: »Vor allen Dingen gibt man sich sehr primitiv«, stellt er fest und beobachtet: »Die Malerei wird zunehmend ideologischer und das Primitive erzwang sich das Plakat.«62 Wenn das Primitive sich das Plakat erzwingt, ist es unweigerlich in den Kontext der Großstadt eingebunden und wird in der Regel für Konsum und Kommerz instrumentalisiert. Einsteins Kritik an der Ideologisierung der Malerei bezeugt also nicht nur die Vereinnahmung der europäischen Moderne durch das Primitive, sondern richtet sich auch gegen die Vereinnahmung des Primitiven durch die europäische Moderne.63 In Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders entfaltet Einstein eine Ästhetik, die diese Entwicklungen transparent macht und den literarischen Primitivismus bereits kritisch reflektiert: Im Einklang mit seiner Absage an eine Interpolation unzulässiger Evolutionen literarisiert Einstein nicht die vermeintlich ›unverdorbenen Wilden‹, sondern Mitglieder marginalisierter Gruppen der eigenen Gesellschaft – allen

weit entfernte Seelen hinein, während alle etwa vorhandenen Phänomene einer untern Stufe der Religiosität vernachlässigt werden.« (Ebd.) Konkret wird an Einsteins Methode kritisiert, dass »ein Ringschluß« vorliege: »Einstein zieht nämlich aus der Negerplastik seinen Begriff von Plastik, ganz im allgemeinen, ab und erhebt ihn […] zum Dogma. Er operiert also aus einer eng begrenzten Materie den allgemeinen Begriff heraus. Dann darf es uns auch nicht wundern, daß dieser sich einzig mit der Materie deckt, der er entnommen wurde […].« (Ebd., S. 105f.) 61 C. Einstein: Negerplastik, S. 247. 62 C. Einstein: Anmerkungen zur neueren französischen Malerei, S. 120. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 63 Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die Verbindung von Zirkus und Exotismus bzw. Kolonialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: »Während der Zirkus unter dem Einfluß des Sports [v.a. des Turnens] sein Repertoire zusehends umstellte und vervielfältigte, wurde ihm infolge der europäischen Kolonialpolitik eine zusätzliche Bereicherung zuteil. Die phantastisch kostümierten Theaterexoten alter Tradition wurden mehr und mehr mit echten Exoten, vor allem nordafrikanischen, indischen, japanischen und chinesischen Artistentruppen, konfrontiert und verschwanden sehr schnell aus den Manegen. […] [D]ie einheimischen Zirkuskünstler […] stellten sich […] auf die neuen Gegebenheiten ein und ahmten in geradezu naturalistischer Manier die authentischen Fremdlinge nach. Ein weiteres Ergebnis der Kolonialisierung war der massenhafte Import exotischer Tiere. Elefanten und Raubkatzendressuren etablierten sich seither als zirzensische Attraktionen.« (C. Schmitt: Artistenkostüme, S. 101.) Diese Entwicklung des Zirkus steht in engem Zusammenhang mit der Etablierung von »Völkerschaustellungen«, bspw. in Carl Hagenbecks Tierpark und den Deutschen Kolonialausstellungen seit 1896. Vgl. dazu weiterführend Mergenthaler, Volker: Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897-1936), Tübingen 2005, S. 19-43.

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voran eine Artistin, die in ihrer zirzensischen Kunst das konserviert, was der moderne Mensch eigentlich gar nicht mehr kann.64

64 Vgl. dazu auch Wegmann, Thomas: »Artistik. Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste«, in: Zeitschrift für Germanistik 20 (2010), S. 563-582, hier S. 581.

Den Zirkus lesen Der Zirkus als Literatur – Literatur als Zirkus J ÜRGEN J OACHIMSTHALER (†)

I. Ein Zirkus ist etwas, das von außen kommt (so soll es zumindest scheinen). Er durchquert ein Dorf, eine Stadt oder, allgemein: ein kulturelles Gefüge und verkörpert innerhalb desselben Fremde und Andersartigkeit – nicht weil er wirklich ›anders‹ wäre, sondern weil er sich in ein Set fest etablierter (und sehr wohl zur jeweiligen Kultur gehöriger) Zeichen hüllt, die in dieser Kultur von außen in sie hineinzureichen scheinen und so in ihr ein Außerhalb ihrer selbst zu repräsentieren versprechen – das, was ihr (nach ihren Vorstellungen von sich selbst) fehlt. Sollte der Zirkus real auch ›nur‹ aus dem Nachbardorf stammen oder gar aus der eigenen Stadt, so sorgen in der jeweiligen Umgebung als exotisch markierte Zeichen wie fremdländisch wirkende Zirkus- und Künstlernamen1 doch für den Aufruf gut eingeübter Fremdheits-Semantik. In Karl von Holteis geradezu semidokumentarisch-enzyklopädisch2 angelegtem Schaustellerroman Die Vagabunden heißt es nicht umsonst paradigmatisch von der Hauptfigur: »Anton ließ sich ins Französische übersetzen [...] und hörte

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Hans Stosch gab sich 1892 den Künstlernamen Giovanni Sarrasani (zur Geschichte des Zirkus Sarrasani vgl. Günther, Ernst: Sarrasani. Geschichte und Geschichten, Berlin 1984), Erich Rudolf Otto Rosenthal wurde berühmt als Billy Jenkins (vgl. Zaremba, Michael: Billy Jenkins. Mensch und Legende; ein Artistenleben, Husum 2000) etc. Ein Nebeneffekt solcher Namensgebungen war, dass viele in der NS-Zeit enteignete Zirkusfamilien nach 1945 nicht entschädigt wurden; »[…] von einem Großteil wisse man schlicht nichts. Das hänge auch mit der Tatsache zusammen, dass ›fremdländische Künstlernamen‹ im Zuge der Gleichschaltung der Nazis ersetzt und Zirkusse umbenannt wurden.« Diehl, Lea: »Artisten unter der Zirkuskuppel, machtlos. Ausstellung ›Circus. Freiheit. Gleichschaltung‹ im Museum Europäischer Kulturen befasst sich mit Zirkuskünstlern im NS«, in: taz vom 04.05.2017 (online: http://www.taz.de/!5403407/ [27.07.19]). In einem Gespräch des Autors mit seinen Figuren im Anhang heißt es mit Blick auf die Handlungszeit (1820er Jahre), es fehle darin »Nichts in der Welt, was jemals für Geld zu sehen und auf Reisen war«, Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Roman in drei Theilen. Bd. III, Breslau 1862 [EA 1852], S. 284.

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von nun an auf: Antoine!«3 Interessanter Weise geschieht dies nicht in Frankreich, dem deutsch-französischen Grenzgebiet (obwohl ein wichtiger Teil des Romans in Paris spielt) oder auch nur im deutschsprachigen Kerngebiet, sondern an der deutschpolnischen Grenze (damals konnte damit nur die Grenze zwischen dem von Preußen und dem von Russland okkupierten Teil Polens gemeint sein – also in einem Kerngebiet polnischer Sprache und Kultur und weitab von Frankreich). In solchem Sinne auch »heißen alle Kunstreiter in vielen Gegenden Nord-Deutschlands [...] ›Spanische Reiter‹, und wenn sie auch aus Buxtehude kämen.«4 Weitere Beispiele bieten dieser Roman und natürlich v. a. die außerfiktionale Wirklichkeit zuhauf. Der Zirkus Sarrasani (eigentlich gut deutsch Stosch) hat seinen Stammsitz in Dresden wie der Zirkus Krone den seinen in München in der Form eines Zeltes erbaut – die Assoziation des nicht Sesshaften, Nomadenhaften und nicht wirklich Zugehörigen wird als Kontrast zur Stadt, dem Ort der Ansässigkeit, gezielt erweckt, sodass selbst der am jeweiligen Ort fest beheimatete Zirkus als exterritorial erscheint. Natürlich weiß zumindest das heimische Publikum das – und genießt es als reizvolles Spiel mit seiner davon angeregten Phantasie. Etwas allgemeiner formuliert: Ein Zirkus besteht aus Zeichen, deren NichtIdentität mit dem Bezeichneten nicht auf Arbitrarität der Zeichengebung beruht, sondern auf einer Identität zugleich behauptenden und offen desavouierenden Vortäuschung derselben, auf (durchschaubarer) Maskerade, konventionalisierter Verkleidung und niemals ironiefreier Mimikry. Großtönende exotische Namen, Phantasieuniformen mit Schnüren und »Litze und Glasperlen, das Ornament als Rohheit und Gebrüll, die Musik als Kolportage«5, Falschgold, Tand und Flitter sind Requisiten, mit deren Hilfe »die nüchternste, niedrigste Prosa sich hinter gleißende Gewänder, fremde Sprachen, drohende Gefahr und Sinnenreiz oft [...] glücklich zu verbergen weiß«.6 Doch geht es dabei nicht um das, was weniger verborgen als zur Befestigung über es hinausweisender Zeichen benutzt wird, sondern um den imaginativen Eigenwert dessen, was evoziert wird; der Wille zur Illusion geht insbesondere auch seitens vieler Rezipienten mit dem Wissen um die Illusionarität der Illusion einher. Man zahlt für sie, zahlt dafür, wissentlich ›getäuscht‹ zu werden, zahlt für die Qualität der ›Täuschung‹. Damit führt der Zirkus sich selbst vor als ein Ensemble von Zeichen und verwandelt alles, was er zeigt, seinerseits in ein Zeichen, das, weil es offen auf seine eigene Zeichenhaftigkeit verweist, zum Zeichen seiner selbst wird: An sich ›normale‹ Tätigkeiten wie reiten, hüpfen oder springen (aber auf dem Seil? aber so hoch droben? unter solchen Umständen? so gefährlich?) werden vorgeführt als Zeugnisse einer Kunst, die nicht mehr und nicht weniger bedeutet als ihre Bestaunenswürdigkeit, das ›mehr‹, das das Virtuosentum über das normal Menschliche hinauszuheben scheint. Hinter der Lockung des in die Fremde, ins Außerhalb projizierten Exzeptionellen verbergen sich zum virtuosen Selbstzweck gewordene menschliche Fähigkeiten, über

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Ebd., Bd. I, S. 201; ein weiteres Beispiel findet sich in ebd. Bd. III, S. 1000. Ebd., Bd. I, S. 228f. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. (Werkausgabe Bd. 4), Frankfurt a.M. 1985 [EA 1935], S. 176. K. von Holtei: Die Vagabunden. Bd. II, S. 18.

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die grundsätzlich selbst zu verfügen für jeden gesunden Rezipienten selbstverständlich, deren vorgeführte Außergewöhnlichkeit aber kaum je zu erreichen ist – der Zirkus scheint festgefügten Lebenswelten gegenüber die Summe ihrer für sie unerreichbaren Möglichkeiten zu verkörpern, verkörpert sie aber nicht wirklich, sondern verweist über sich selbst und seine seinerseits beschränkten Möglichkeiten hinaus in das auch für ihn und seine Artisten Unerreichbare. Bei den von ihm dargebotenen Aufführungen, Spektakeln und Sensationen geht es so nicht nur um die individuelle artistische Leistung, diese dient zugleich als Eröffnung eines Ahnungsraums, der hinausreicht über jedes konkrete Können in ein immer weiter Reichendes – das telos heißt Unendlichkeit, Transzendenz, das Unerreichbare. Nicht ob einer vier oder fünf Meter springt ist wichtig, sondern dass er so springt, dass er dem Rezipienten den Sensations- und Ahnungsraum eines das Gegebene für Sekundenbruchteile sprengenden Weges ins Uneinholbare eröffnet – nicht real, aber dieses doch evoziert, – und entsprechende Assoziationen auslöst. Dieser Evokationseffekt macht den Zirkus als literarisches Motiv interessant, denn Literatur funktioniert ja nicht viel anders: Sie besteht aus Zeichen, die, zumindest in ›reiner‹, autonomer Literatur, dazu tendieren, sich von ihrer referentiellen Bindung zu lösen und stattdessen neuartige Vorstellungsräume im Leser auszulösen, die oft nicht (oder nicht nur) auf dessen Welt zurück-, sondern weit über diese hinausweisen. Zirkus und Literatur bringen eine eigene Vorstellungsgrammatik mit sich, die als »TraumMontage«7, als Vor-Schein unerfüllten Lebens die Zustände sprengend das nur Gegebene transzendiert. Beide breiten um sich ein Imaginationsfeld, eine eigene Aura aus, in der sie sich, wollen sie ihre Kunden ansprechen, bewegen müssen, denn diese suchen eben diese Imagination und bezahlen für sie. Wenn Kunst, Artistik und Literatur etwas bedeuten, dann eben dieses über sie selbst hinauszeigende ›mehr‹; es erlaubt dem Rezipienten sich zu bewegen im Vorstellungsfeld entgrenzter Freiheit − und ruft ihn doch zugleich zurück in das unabstreifbare Bewusstsein seiner eigenen Beschränktheit, die er nie und die er doch jederzeit im Medium der Phantasie verlassen kann. ›Zirkus‹ heißt das System der Zeichen, deren Lektüre dieses ›mehr‹ auslöst, zugleich entkettet von jeder ›realeren‹ Bedeutung und gefesselt an jene Realität, der er sich zu entziehen versucht. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

II. Literatur, die den Zirkus als Motiv aufgreift, hilft oft dabei, um den Zirkus, die Welt der fahrenden Schausteller und Artisten, eine Semantik lockender Fremdheit aufzubauen – und nutzt dieselbe zugleich zur Auszeichnung von Figuren, die, mit ZirkusMotiven versehen, aus der Welt des ›Normalen‹ herausgehoben werden. Grimmelshausen greift im Springinsfeld auf eine offensichtlich bereits funktionierende ältere Semantik zurück; der über mehrere artistische Fähigkeiten verfügende Protagonist stammt aus möglichst fremdartiger, kulturell wie sozial bunt gemischter Schaustellerfamilie – es bedarf eines längeren Zitats, diese Vielfalt vollständig wiederzugeben:

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E. Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 177.

340 | J ÜRGEN J OACHIMSTHALER »Meine Mutter ist eine Griechin auß Peloponeso von hohem altem Geschlecht und grossen Reichthumben: Mein rechter Vatter aber ein Albanesischer Gauckler und Sailtantzer: Und darneben von schlechter Ankunfft und geringen Mitlen gewesen; als dieser mit einem zahmen Löwen und einem Tromedary in der gegend darinn meiner Mutter Eltern gewohnet / herumbzohe / und beydes dise Thier und seine Kunst um Gelt sehen liesse / gefiele besagter meiner Mutter / [...] also wurde meine Mutter aus einer seßhafften vornehmen Damen eine umschweiffende Comædiantin, mein Vatter ein halber Juncker und ich selbst die erste und letzte Frucht diser ersten Ehe; sinte mahl mein Vatter da ich kaum geboren worden / von einem Sail herundersturtzet und den Hals zerbrach / durch welchen laydigen Fall meine Mutter also zeitlich zu einer Wittib wurde. Zu ihren erzörnten Eltern hatte sie das Hertz nit wider heimzukehren / ohne daß sie sich damaln auch über die hundert Meilen von den selbigen im Dalmatia bey einer Compagniæ Comoedianten befande; hingegen war sie schön / jung und reich / und hatte dannenherounder meines Vattern hinderlassenen Cammerathenvil Werber; von dem sie sich freyenliesse / der war eingeborner Sclavonier und der allerfärtigste in der jenigen profession die mein Vatter geübt hatte; dieser zohe mich auff bis ich das elffte Jahr erraichte / und lehrete mich alle principia seiner Kunst; als Trompeten / Trommelschlagen / Geigen / Pfeiffen / beydes auff der Schalmey und Sackpfeiffen / auß der Taschen spilen / durch den Raiff springen und andere seltzame Auffzüg und andere närrische Affen Posturen machen; [...] dabey lernete ich lesen und schreiben; Griechisch reden von meiner Mutter / und Sclavonisch von meinem Vatter; So begriffe ich auch mithin in Steyr / Kernten und andern angräntzenden Teutschen Provintzen um etwas die Teutsche Sprach [...]. Jn solcher meiner blühenden Jugend vagirten wir mehrentheils in Dalmatia, in Sclavonia, Macedonia, Servia, Wossen / Walasay / Sibenbürgen / Reüssen / Polen / Littau / Mährn / Böhmen / Vngarn / Steyr und Kernten herumber [...].«8

Man sieht, wie hier Sprachen, Länder, Kulturen und Milieus möglichst bunt miteinander vermischt werden, um die Figur mit einer Exzeptionalität auszustatten, die sie aus allem ›Normalem‹ heraushebt (ohne dass sie dies vor tiefem Absturz bewahrt). Kern dieser Exzeptionalität ist ein schon im sprechenden Namen der Figur angekündigtes trickreich virtuoses Können, das die simplicianische Welt (und ihre Leser) immer wieder in Erstaunen versetzt. Die eigenartige Konstruktion der Diegese mit Hauptroman und auf diesen verweisenden Nebentexten übernimmt dabei eine ZeigeFunktion, die sich durchaus mit der eines Ausrufers im Zirkus vergleichen ließe. Dass die Lebensgeschichten zugleich als Exempla für die (moralische) Reflexion dienen, schafft einerseits eine Brechts V-Effekt vergleichbare Distanz und lässt sie in ihrer Zeichenhaftigkeit deutlicher hervortreten, wobei es hier freilich andererseits nicht darum geht, Identifikation zu verhindern, sondern sie zuzulassen, um zugleich

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Tromerheim, Philarcho Grosso von [= Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen ]: Der seltzame Springinsfeld/Das ist Kurtzweilige/lusterweckende und recht lächerliche LebensBeschreibung Eines weiland frischen/wolversuchten/und tapffern Soldaten/Nunmehro aber ausgemergelten/abgelebten doch dabey recht verschlagnen Landstörtzers und Bettlers/Samt seiner wunderlichen Gauckeltasche Aus Anordnung des weit und breit bekanten Simplicissimi Verfasset und zu Papier gebracht von Philarcho Grosse von Tromerheim, Paphlagonia 1670, E 3 verso-E 5 recto.

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das reflektieren zu können, womit Identifikation erfolgt: Das Künstlerische (Artistische) selbst wird zum Zeichen seiner selbst, zum Objekt einer zugleich auf sich selbst zurück, durch sich selbst hindurch und über sich selbst hinaus verweisenden Zeige-Funktion.

III. Jedes konkrete artistische Kunststück ist wie jedes ästhetische Kunstwerk nur ein Schritt auf dem Weg zu dem, was es sein könnte. Seine höchste Vollendung entzieht sich ihm, so dass es immer zugleich auf seine beschränkt konkrete Gestalt und den von ihm doch eröffneten Möglichkeitsraum referiert. Die tautologisch wirkende Aussage, autonome Kunst, l’art pour lʼart, der Ästhetizismus sich auf sich selbst konzentrierender Literatur, Musik, Malerei, Artistik etc. bedeute sich selbst, meint genau diese Dialektik. Es ist wohl kein Wunder, dass gerade bei Goethe Kunst und Artistik immer wieder ineinander übergehen (man denke an die Figur der Mignon, an den schon im Vorspiel auf dem Theater betonten Spektakelcharakter, der den Faust auch kennzeichnet, oder an seine Sing- und Repräsentationsspiele für das Weimarer Hoftheater). Von ihm stammt der wohl wirkungsreichste deutschsprachige Schaustellerund Artistentext, die Novelle. Sie trägt die Aporien und Paradoxien der Autonomieästhetik in sich aus – und zwar im narrativen Medium einer Schausteller-Handlung, die zugleich als paradigmatisch, als allgemeingültig gedacht ist. Das Können wird hier ausgelagert in die von Fremdheitszeichen umgebene Dompteursfamilie (»bunt und wunderlich gekleidet«9), deren Sprache den deutschsprachigen Figuren unverständlich ist. Allerdings verzichten Autor und Erzähler hier auf jedes zitierende Hereinholen exotisch ›anderer‹ Zeichen, die nicht ausgeführte Andersartigkeit wird weniger vorgeführt als in deutscher Sprache erklärt. Über deren Sprache heißt es: »Vergebens würde man sie in unsern Mundarten übersetzen wollen; den ungefähren Inhalt dürfen wir nicht verfehlen: ›sie haben dich ermordet, armes Tier!‹« 10 Dabei geht es weniger darum, dass der deutschsprachige Text nicht durch ein fremdsprachiges Zitat beunruhigt wird, sondern darum, dass das Fremde nicht konkretisiert werden soll (handelt es sich um Italiener? um Serben? um Sinti und Roma? oder worum dann?), denn jede konkrete Fremdsprache könnte der ein oder andere Leser verstehen. Es geht um eine Fremdheit an sich, nicht um deren mit dieser oder jener Herkunft begründete reale Gestalt. Das – in deutscher Sprache entworfene – Fremde soll in dieser stets fremd wirken und damit das Künstlerisch-Artistische in einer dem Deutschen in seiner sprachlichen Gemachtheit zugleich entstammenden und doch nicht zugehörigen Sphäre ansiedeln, aus der es in die deutsche Welt der Novelle hereinreicht wie ein Fremdes, das das Eigene aus sich selbst heraus hervorgebracht hat, um

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Goethe, Johann Wolfgang: »Novelle«, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hrsg. v. Karl Richter u. a., Bd. 18.1: Letzte Jahre, hrsg. v. Gisela Henckmann und Dorothea Hölscher-Lohmeyer, München 2006, S. 353-376; hier S. 369. 10 Ebd., S. 368.

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es sich selbst gegenüberzustellen. Es steht für seine Möglichkeiten – und deren kategoriale Unerreichbarkeit. Die Handlung befreit den ansonsten in seinen Rahmen, in sein Zelt und seine Gehege eingesperrten Zirkus aus sich selbst: Aufgrund eines Feuers entweichen die Raubkatzen der Tierbändigerfamilie, eine, ein Tiger, wird von den ansässigen Deutschen erschossen, die andere, ein Löwe, ist kurz davor, dasselbe Schicksal zu ereilen, als die Besitzer hinzukommen und um Gnade für ihr Tier flehen (das ja ihre Existenzgrundlage darstellt). Er wird zur Überraschung der deutschen Figuren gezähmt von ihrem kleinen Sohn durch Musik und (nun aber doch deutschsprachigen) Gesang – ein Triumph der Kunst im mehrfachen Sinne, einmal auf Ebene der Handlung, aber dann auch auf Ebene der sich mit der Novelle selbst vorführenden Kunst selbst. Dieses unerhörte Ereignis wird dabei als exemplarisch für jede Novelle – und damit die Erzählkunst an sich − dargestellt (deshalb auch die Gattungsbezeichnung als Titel). Erzählte und erzählende Artistik verweisen hier gemeinsam in einen Bedeutungsraum, der in seiner Irrealität ethisch und metaphysisch zugleich ist, transzendental und doch, bei genauem Hinsehen nichts anderes bedeutet als die Sich-SelbstPreisung der Kunst, die in dieser ihrer Erzählung von sich selbst mehr zu können verspricht, als sie real vermag. Nicht umsonst endet die Erzählung mit dem (wiederholten) Gesang. Wie aber das Tier in die außerästhetische Wirklichkeit zurückgeholt und dort wieder sicher eingehegt wird, erfahren wir nicht – die Kunst mündet in sich selbst und verweist einmal mehr auf ihre – durch Variation und Wiederholung des Gesangs im Text abgebildete − potenzielle Unendlichkeit. Das letzte – gesungene – Wort der Erzählung lautet denn auch »Melodie«11 und betont noch einmal die Wirkungsmacht der Ästhetik.

IV. Auffällig in der Novelle ist die Fremdheitsmarkierung um die Tierhalterfamilie, weil der Text deren Fremdheit zwar betont, es aber vermeidet, diese auch innertextlich umzusetzen. Mit ihr führt Kunst sich selbst vor, indem sie sich mit einem Exterritorialität behauptenden Rahmen versieht. Mit einem solchen Akt der Verfremdung distanziert das Eigene sich von seinen unerreichten Möglichkeiten, um zumindest imaginativ auf sie zugreifen zu können. Damit verbunden ist ein besonderer Effekt des Artistischen wie des Ästhetischen, das Zur-Schau-Stellen, das Vorzeigen dessen, worum es ihm geht, und das durch Exotisierung – zusätzlich zu allen anderen Wirkungen – besonders sichtbar gemacht wird. Im Bereich der Literatur handelt es sich dabei um eine – bei weitem nicht in allen Texten ausgefüllte – Dimension des Poetischen, die ich die Zirkushaftigkeit der Literatur nennen möchte. Sie gewinnt überall dort Gestalt, wo Literatur sich von ihrem Gegenstand entfernt, um von einem Ort des Staunens aus umso intensiver auf ihn blicken zu können – man denke nur an die Ausrufer und Sprecherfiguren in Büchners Woyzeck, Wedekinds Lulu oder auch Peter Weissʼ Ermordung Jean Paul Marats, die das auf der Bühne gezeigte Geschehen ankündigen wie ein Jahrmarkts- oder Zirkusspektakel. Die im epischen Theater genutz-

11 Ebd., S. 376.

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ten Verfahren des Verfremdens zehren denn auch von Darstellungstechniken des Zirkus, des Kabaretts und der Revue. Erzählerfiguren und Schreibweisen können in Prosa und Versdichtung mit Hilfe von Ankündigungen, clownesker Kommentierung oder auch nur einzelne Motive einrahmender sprachlicher Verfremdung solche Funktion übernehmen, ohne dass Literatur zur Entfaltung dieses Show-Charakters, dieses Vor-Zeigens wirklich auf die Nutzung von Zirkusmotiven (so gern sie darauf zurückgreift) angewiesen wäre. Die Verwendung zirkusanaloger Zeigetechniken reicht schon − und ist wichtiger als der Rückgriff auf auch äußerlich erkennbare ZirkusMotive auf reiner Handlungs- und Inhaltsebene. Im Mikrobereich vermag die Funktion von Fremdheitsmarkierungen (wie etwa auch exotischer Namen) ein kleines Textbeispiel aus August Scholtisʼ phänomenalem, aufgrund des unglücklichen Publikationszeitpunkts kurz vor Hitlers Machtübernahme aber ziemlich untergegangenem Roman Ostwind zu illustrieren. Wir haben an dieser kurzen Stelle (und im gesamten Roman) mit einem zirkushaften Schreiben zu tun, das gleichwohl auf die Verwendung expliziter Zirkus-Motive verzichtet. Der Roman spielt im deutsch-polnischen Grenzgebiet, in Oberschlesien zur Zeit der bewaffneten Kämpfe zwischen Polen und Deutschen um die staatliche Zugehörigkeit der Region nach dem Ersten Weltkrieg, nimmt aber die Perspektive eines durchaus typischen, sozial randständigen Bewohners dieser Region ein, der der in der Region verbreiteten deutsch-polnischen Mischkultur angehört, von der aus dieses nationale Gegeneinander als unsinnig erscheint. Er spricht die für die Region typische deutschpolnische Mischsprache, das sogenannte »Wasserpolnisch«, das Scholtis wieder und wieder für Verfremdungseffekte nutzt. Ein nur scheinbar einfaches, aber äußerst wirksames Beispiel ist eine kurze Figurenäußerung: »Ja-ja... ten Disziplin«.12 Das polnische Demonstrativpronomen »ten«, das zugleich in diesem »wasserpolnisch« gemischtsprachigen Ausspruch die Funktion des deutschen Artikels übernimmt, löst das Wort »Disziplin« aus seinem sprachlichen Kontext wie eine sinnfreie Lautkombination heraus, auf die das Demonstrativpronomen wie mit dem Zeigefinger zeigt, um auf ihre Merkwürdigkeit aufmerksam zu machen. Das deutsche Pflicht-Wort »Disziplin« verliert jede Selbstverständlichkeit und wird in all seiner Merkwürdigkeit durchschaubar. Über dieses eine Beispiel hinaus erfüllen Fremdheitsmarkierungen grundsätzlich die hier sichtbare Funktion: Der mit der Verwendung von Zeichen und Namen aus anderen Codes und Sprachen einhergehende vorübergehende Wechsel der Bezugsebenen zeigt auf diese selbst zurück und führt sie vor, verfremdet sie und macht sie durchschaubar. Die Gegenstände werden in ihrer Zeichenhaftigkeit sichtbar. Nicht umsonst sind Zirkus- und Schaustellermotive gerade in derjenigen Literatur so beliebt, die in Scholtisʼ Tradition mit der Hybridität von Sprachen und Kulturen arbeitet, also bei Autoren wie Günter Grass, Johannes Bobrowski, Siegfried Lenz, Horst Bienek usw. All diese Autoren stammen aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet (warum hat Holtei seine Umbenennung Antons wohl ausgerechnet dort platziert?) und schreiben nach 1945 eine zirkushafte Literatur, in der nicht nationales Gegeneinander inszeniert, sondern kulturelle Vielfalt und gemischte Codes dazu genutzt wer-

12 Scholtis, August: Ostwind. Roman. Mit einem Nachwort von Hans Lipinsky-Gottersdorf, München/Berlin 1986, S. 13.

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den, einen subversiven Blick auf die national scheinbar eindeutigen Sinn- und Bedeutungs-Räume der vergangenen zwei Jahrhunderte zu werfen. Diese lösen sich dadurch in die Zeichen auf, aus denen sie zusammengefügt worden sind und werden in ihrer Konstruiertheit durchsichtig. Herausragendes stilistisches Merkmal dieser Literatur ist ihre Hybridität, d.h. die Mischung mehrerer Sprach- und Symbolsysteme (wie eben bei Scholtis, aber auch in mit exotisierenden Namen arbeitender ZirkusLiteratur), deren fremdartiger Glanz sich über die entsprechenden Texte ergießt und jede kulturelle Eindeutigkeit unterläuft. Signifikanten und Semantik werden zum Tanzen gebracht und verweisen dadurch darauf, dass es mehr gibt als das im jeweiligen kulturellen Feld als selbstverständlich, wo nicht gar alleingültig Erscheinende. Dabei sind nun gerade in solcher mit Hybridität operierender Literatur Motive aus dem Umfeld des Zirkus beliebt.

V. Bekanntestes Beispiel solcher Literatur in Deutschland ist Günter Grassʼ deutschpolnischer Grenzlandroman Die Blechtrommel, der, wie sein Held, Oskar Matzerath, mit zahlreichen Fremdheitsmarkierungen geradezu durchsetzt ist: Grassʼ Roman durchzieht eine nur dem deutschsprachigen Publikum schwer zugängliche, aber immer wieder überdeutlich hervortretende polnische Signifikantenkette auf Ebene des Wortschatzes, der Motive und der Handlung. Oskar Matzerath ist als Masure Deutschen und Polen gegenüber gleichermaßen zugehörig und fremd, er verkörpert eine Mischkultur; seine Andersartigkeit wird durch seine – selbstgewählte! − Kleinwüchsigkeit und etliche seiner grotesken Eigenschaften und Tätigkeiten zusätzlich verstärkt. Als Trommler von eigenen Gnaden übt er eine Aufmerksamkeit erregende Tätigkeit gleich dem Ausrufer, epischen Erzähler und Zirkusdirektor aus, setzt diese aber anarchisch immer nur nach seinem Gutdünken ein. Indem er – sei es mit der Trommel, sei es mit seiner Sprache – betont, was er betonen will, zerlegt er die Selbstverständlichkeiten seines Danziger Milieus gnadenlos in seine Bestandteile, dekonstruiert dieses und deckt dessen innere Verfasstheit und Funktionsweise auf. In seinem Fall überwiegt der subversive Charakter die bisher betrachtete utopische Dimension des auf sich selbst verweisenden Zirkushaften. Diese seine Zirkushaftigkeit wird explizit hervorgehoben dadurch, dass zu Beginn der um ihn angeordneten Handlungsstränge der seinerseits kleinwüchsige Clown (und spätere Zirkusdirektor) Bebra Oskar zu seinesgleichen zählt und ihm wertvolle Ratschläge gibt: »Unsereins darf nie zu den Zuschauern gehören. Unsereins muß auf die Bühne, in die Arena. Unsereins muß vorspielen und die Handlung bestimmen«. 13 Der Zirkus durchquert ein kulturelles Gefüge, ein Milieu und übt Wirkung auf es aus. Subversiv zerlegt er es in seine Bestandteile und macht das kulturelle Sinngefüge in seiner Unselbstverständlichkeit durchsichtig, im Gelingensfalle kann er sogar versuchen, die freigesetzten Signifikanten spielerisch zu neuen Zusammenhängen zu ordnen, die die Kraft in sich tragen, in ein Utopisches hinüber zu weisen – insbesondere wenn sie künstlerischer Art sind und ihre Ästhetizität zum sichtbaren Merkmal

13 Grass, Günter: Die Blechtrommel, Frankfurt a.M. 1963 [EA 1959], S. 92.

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wird. In diesem Sinne bringt Oskar mit seiner Trommel einen Nazi-Aufmarsch zum Swingen, indem er die Menge mit seiner Trommel bezaubert und dazu verführt, aus dem Gleichschritt in das von Oskar gegen die NS-Märsche gesetzte Trommelgeflecht zu fallen: »Es verlor sich das Volk mit ›Jimmy the Tiger‹ in den weiten Anlagen des angrenzenden Steffenparks. Dort bot sich Dschungel, den Jimmy versprochen hatte, Tiger gingen auf Sammetpfötchen, ersatzweise Urwald fürs Volk [...]. Gesetz ging flöten und Ordnungssinn.«14 Auf diese Weise geraten die Menschen ebenso ins Tanzen wie in Grassʼ Büchern immer wieder die Worte und Begriffe, wenn Motive deutscher und polnischer Kultur collageartig durcheinandergewirbelt werden und sich wechselseitig durchdringen und in ihrer Arbitrarität aufdecken. Damit ist eine Grundkonstante von Grassʼ Schreibweise benannt, die immer wieder durchbricht, selbst wenn einmal nicht deutsche und polnische Signifikanten vermischt werden, sondern der Signifikantenmix allein innerhalb der deutschsprachigen Textur verbleibt wie im zirkushaften Vogelscheuchenballett in den Hundejahren: »Hier finden sich die historischen Wendepunkte scheuchifiziert. Verunglimpft und dennoch dynamisch ereignet sich der Reihe nach und Jahreszahlen, Fensterstürze und Friedensschlüsse herbetend, die Geschichte in Scheuchengestalt. Altfränkische Fibel und Wellingtonhut, Stuartkragen und verwegener Kalabreser, Dalmatica und segelnder Zweispitz verkörpern, nach Laugenbad und Mottenfraß, Sternstunden und Schicksalsjahre. Das dreht und verbeugt sich nach Mode. Kontertänze und Walzer, Polonaise und Gavotte verbinden Dezennien. [...] Und all die eindrücklichen, teils starren, teils pantomimischen Bilder: Das Blutbad zu Verden. Der Sieg auf dem Lechfeld. Der Gang nach Canossa. Immerzu reitet Jung-Konradin.«15

Deutsche Geschichte erscheint als in ihre Bestandteile zerlegbare, dekonstruierbare Konstruktion; ihre Bauteile können nun wie in Revue und Zirkus immer wieder beliebig neu zu in jeweils anderer Farbe strahlenden Mustern umgeordnet werden. In der Rättin wird daraus ein sich selbst reflektierender und dekonstruierender Signifikantenkreisel, der auf der Meta-Ebene alle wesentlichen Motive aus Grassʼ ganzem bisherigen Werk erfasst. Seine Schreib-Kunst führt sich damit artistisch als eine vor, die über sich selbst verfügt wie der Akrobat über seinen Körper und sich selbst als ihren vorrangigen Gegenstand vorführt. Ins Utopische verlängert erweist Kunst sich als die Fähigkeit, ihre eigene Welt (und mit dieser sich selbst) zu erschaffen – oder untergehen zu lassen und dabei, wie es in der Rättin auf Handlungsebene tatsächlich geschieht, dem eigenen, selbstgeschaffenen Ende vom exterritorialen Standpunkt der Kunst aus noch zusehen zu können. Alles ist Spiel, selbstbezüglich, offen, Revue, Show, Zirkus.

14 Ebd., S. 98. 15 Grass, Günter: Hundejahre. Roman, Reinbek bei Hamburg 1968, [EA 1963], S. 495f.

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VI. In den Signifikantenstrudeln von Grassʼ Hundejahren taucht immer wieder ein Räuber Bobrowski auf, wobei in dieser antibürgerlichen, gegen kulturelle Gegebenheiten gerichteten Ästhetik »Räuber« romantisch und positiv konnotiert ist. Offen angespielt wird damit auf Johannes Bobrowski, dessen Roman Levins Mühle seinerseits im deutsch-polnischen Grenzgebiet zur Zeit des Kaiserreichs spielt und in Rückgriff auf einen historischen Fall von einem Deutschen namens Bobrowski handelt, der die Mühle seines jüdischen Konkurrenten weggeschwemmt hat und nun den kaiserzeitlichen Nationalismus dazu nutzt, als guter Deutscher der strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen. So willkürlich wie Grassʼ Erzähler in der Rättin mit seinem Signifikantenreigen umgeht, so willkürlich geht Bobrowski hier mit dem historischen Stoff um: Der Erzähler erklärt die – historische − Hauptfigur Bobrowski zu seinem eigenen Vorfahren (was nicht stimmt) und lässt den Prozess um die zerstörte jüdische Mühle mit einem manipulierten Sieg des deutschnationalen Bobrowski enden (während dieser real verurteilt wurde). Doch geht es nicht um historische Wirklichkeit, sondern um den Vorzeigecharakter einer Handlung, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Reflexion historischer deutscher Schuld dienen soll. Die besonderen Qualitäten des Romans liegen ohnehin auf anderer Ebene, auf dem narrativen und sprachlichen Umgang mit der für den Handlungsort typischen kulturellen Vielfalt. Die Sympathien des Erzählers gehören nicht den Deutschen, eher schon den Polen, in erster Linie aber den Außenseitern, Juden, Zigeunern, wandernden Vagabunden, Spiel- und Zirkusleuten, die sich mit dem Juden Levin verbünden. Zu den subversiven Bosheiten der Diegese gehört, dass in dieser von ethnischer und kultureller Mischung gezeichneten Welt die nationale Differenz alles andere als stabil ist und der deutsch sein wollende Großvater des Erzählers immer gegen sein eigenes Unterbewusstsein (in Form seiner von polnischen Mythen und Sagen beherrschten Träume) ankämpfen muss, um sein deutsches Bewusstsein aufrechterhalten zu können. Entscheidend vorangetrieben wird die Handlung durch einen als italienisch sich markierenden polnischen Zirkus (aus nächster Nachbarschaft). Dessen Aufführung wird zu einem Handlungsmittelpunkt, da aus diesem Anlass die streitenden Parteien aufeinander treffen – und sich kurz vermischen, weil niemand dem Zauber der Zirkusmusik widerstehen kann: »der Krolikowski macht ein paar Schrittchen, zur Probe, und jetzt, es ist unerhört, der deutsche Gendarm Krolikowski tanzt diesen Zigeunern entgegen, er breitete die Arme aus: Hei heiheihei«.16 Die nationalen Fronten werden für einen kurzen rauschhaften Moment vom Zirkus überwunden, die Menschen geraten ins Tanzen und vermischen sich (wie bei Grass die Signifikanten seiner Textur). In einer Erzählerreflexion vor Romanende kann trotz des schlechten Ausgangs der Handlung dieses Handlungsmoment der Diegese als kurz nur aufscheinender utopischer Vor-Schein entgegengehalten werden: »Es ist doch da etwas gewesen, das hat es bisher nicht gegeben. Nicht dieses alte Hier-Polen-hier-Deutsche oder HierChristen-hier-Unchristen, etwas ganz anderes, wir haben es doch gesehen, was reden

16 Bobrowski, Johannes: »Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater«, in: ders., Gesammelte Werke in sechs Bänden. Bd. III, hg. v. Eberhard Haufe, Berlin 1987, S. 7-222; hier S. 91.

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wir da noch. Das ist dagewesen, also geht es nicht mehr fort. Davon wird der Weiszmantel wohl singen.«17 Dieser Weiszmantel mit dem polnisch geschriebenen Namen deutscher Herkunft ist seinerseits eine typisch hybride Figur, in dem legendäre weise Sänger der ihrerseits hybriden Kultur der alten Rzeczpospolita nachklingen18, Inkarnation des untergegangenen, heute nur noch untergründig wirkenden kulturellen Wissens, das Bobrowski zirkushaft verdeutlicht und sichtbar macht.

VII. Derartige Virtuosen kultureller Vielfalt gibt es seit einigen Jahrzehnten unter dem Label »interkulturelle Literatur« im deutschen Sprachraum zuhauf. Leicht lässt sich Zirkushaftes in dem Schreiben vieler von ihnen allein deshalb nachweisen, weil sie häufig mit Code-Mischung, sei es auf Ebene der Worte, der grammatischen Strukturen, der Bildlichkeit, der Motivik oder anderer Facetten der Kultursemantik operieren. Dadurch entsteht ein Vor-Zeige-Effekt wie bei Scholtis. Abschließend will ich aus diesem kaum noch überblickbaren Feld einen relativ jungen Text hervorheben, der dazu geeignet ist, die bisher eröffnete Reihe von Beispielen abzurunden (er stellt sich explizit in die Tradition von Grimmelshausen und Grass, der Einfluss von Scholtis ist unübersehbar). In dem in deutscher Sprache verfassten Roman Der Utopek des in Deutschland und Polen lebenden polnischen Komparatisten, Polonisten und Romantik-Forschers Leszek Libera (der auch über deutsche Literatur publiziert hat und sie übersetzt) – hat die groteske Hauptfigur die Funktion, Verfremdungs-, Entlarvungs- und Vor-Zeigeeffekte hervorzurufen. Es handelt sich dabei um einen »Utopek«, eine in Polnisch-Schlesien populäre Märchen- und Sagenfigur, ein Wasserwesen, das aus Ertrunkenen oder abgetriebenen Föten entsteht. In der Romanfiktion werden die Utopeks als Kinder Menschen untergeschoben, die keinen Unterschied zwischen Mensch und Utopek erkennen können, obwohl die Utopeks in Physis und Psyche erheblich von den Menschen abweichen und z.B. mit menschlicher Nahrung nicht klarkommen, so dass ihr Leben unter den Menschen für sie eine Qual darstellt. Dies allein reicht schon hin, die Hauptfigur mit distanziert verfremdender Perspektive auf die Menschenwelt blicken zu lassen. Liberas Roman ist darauf angelegt, diese Effekte möglichst stark hervortreten zu lassen. So versteht dieser Utopek in seiner Kindlichkeit – und im Gegensatz zum Leser – vieles von dem nicht, was um ihn herum vorgeht; dies nutzt Libera für einen satirisch entlarvenden simplicianischen Blick auf dessen Umgebung. Diese aber hat es in sich: Es ist – einmal mehr – ein deutsch-polnisches kulturelles Mischgebiet, diesmal Oberschlesien zu einem besonders heiklen Zeitpunkt. Die Handlung setzt Ende des Zweiten Weltkriegs im Milieu der »wasserpolnischen« Bevölkerung mit ihrer deutsch-polnischen Mischsprache ein. Die Bevölkerung lebte faktisch in beiden Kulturen zugleich (und in einer dritten, aus der Mischung hervorgegangenen), war aber von den Nationalismen beider Seiten seit Ende des 19. Jahrhunderts dazu aufgefordert, sich national zu verein-

17 Ebd., S. 221f. 18 Dzikowska, Elżbieta Katarzyna: »Erinnertes Sarmatien, verlorenes Europa. Johannes Bobrowskis ›Levins Mühle‹ und der polnische Sarmatismus«, in: Convivium 1999, S. 51-63.

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deutigen zu nur-polnisch oder nur-deutsch. Während des »Dritten Reiches« bekannten sich viele unter dem Druck des Regimes zum Deutschtum, nach dem Zweiten Weltkrieg, die Region war an Polen gefallen, Deutsche wurden zwangsausgesiedelt, bekannten sie sich dann zum Polentum. Opportunismus erschien als die beste Überlebensstrategie. Deutsche Propaganda wurde von polnischer abgelöst, war aber in Form von Phrasen, Erinnerungen, Texten, alten Zeitungen etc. noch allgegenwärtig. Der Utopek lebt auf diese Weise in einer kulturellen Umgebung, in der die Signifikanten durcheinander geraten sind, Polnisches und Deutsches für eine gewisse Zeit gleich gegenwärtig ist. Er versteht von all dem nichts und so gehen die nationalen Phrasen beider Seiten in seinem Kopf eine sich selbst − und beide Seiten – entlarvende Mischung ein. Er greift sich widersprechende deutsche und polnische Diskurse gleichzeitig affirmativ auf, ohne deren Widersprüchlichkeit überhaupt zu bemerken: »die deutschen Ordensritter, die böse Räuber waren und Frauen und Kinder töteten [...] also sind von den polnischen und litauischen Untermenschen wie dicke Schweine geschlachtet worden«19. Die Propagandamaschinen beider Seiten werden so in den Leerlauf getrieben und in ihrer Lächerlichkeit vorgeführt, die Signifikanten beider Kultur-Innenräume mischen sich und führen sich gegenseitig vor. Dieser Zirkushaftigkeit des Vor-Führens entspricht, dass gegen Ende des Romans das Motiv des Zirkus auch selbst in den Roman hereingeholt wird. Der Utopek wird gefangengenommen und in einem Zirkus Zielscheibe einer Messerwerferin. Er wird verletzt und muss sein Ohr durch ein Kunstohr ersetzen, das von einer StalinStatuette genommen wird, die wiederum aus einer Statue des westdeutschen Vertriebenenpolitikers Herbert Hupka umgeschmolzen worden war. Der Utopek wird dadurch selbst zu einer Mischung in ihre Zeichenhaftigkeit aufgelöster und dadurch durchschaubarer Ideologeme: »Mit einem menschlichen Ohr, das ich von Stalin geliehen hatte, und in dem auch etwas von Herbert Hupka drin war, lief ich in der Geschichte herum und hörte rechts und links anders«. 20 Doch nicht nur ihn verwandelt der Zirkus, auch das Publikum. War bei Grass und Bobrowski die Suggestivkraft des Zirkus noch gemeinschaftsstiftend und subversiv, wirkt sie hier nur noch auflösend. Der Zirkus befindet sich in einem Wald, der noch voller Minen aus dem Krieg ist, was ein gewöhnliches Gehen nicht erlaubt: »Menschen strömten in kleinen Grüppchen bevorzugt aber einzeln in den Birkenwald hüpften und hoppelten und sprangen von Birke zu Birke, weil immer noch die Gefahr bestand, auf eine deutsche Tellermine zu treten. Aber sie füllte sich nach und nach die Zeltbude, die Musik erklang und die Vorstellung begann.«21

Unfreiwillig verwandeln die Besucher selbst in eine Art von Artisten. Nach der Verletzung des Utopek gerät die Situation außer Kontrolle: »die erschrockene Messerwerferin drehte plötzlich durch und fing an, die restlichen Messer auf die verblödete Menschenmenge zu schleudern. Von Panik ergriffen stürzten die Menschen aus

19 Libera, Leszek: Der Utopek. Roman, Dresden 2011, S. 39. 20 Ebd., S. 202. 21 Ebd., S. 187.

D EN Z IRKUS LESEN

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der Zeltbude und rannten dann kopflos und unvorsichtig davon. Während ich [...] entfesselt wurde [...], gab es mehrere nacheinander folgende Explosionen, die den Birkenwald erschütterten. Tote und Schwerverletzte, zerrissene Körperteile, Gedärmfetzen im Geäst verklumpt Lungen in der Luft.«22

Der Zirkus gerät in dem Moment aus den Fugen, in dem die Artistin nicht mehr in der Lage ist, ihre Fertigkeit vorzuführen und so als ein Zeichen zu dienen, das über ihr konkretes Können hinausverweist auf immer größere Perfektion. Die misslungene Utopie dreht sich um und wendet sich gegen die, die sich ihr als Rezipienten ausgeliefert haben. Die Zuschauer explodieren. Zirkus bedeutet immer auch Gefahr. Viele der von den Artisten gezeigten Kunststücke gewinnen ihre Spektakularität ja daraus, dass sie mit einem sichtbaren Wagnis für Leib und Leben – allerdings der Artisten selbst − verbunden sind. Im Utopek dreht sich dies um und erreicht mit der Explosion der Zuschauer seinen grotesken Höhepunkt. Das Können fällt zurück in seine Begrenztheit, das Versprechen des Zirkus bleibt katastrophal unerfüllt. Die Rezipienten erweisen sich bis hin zu ihrer Selbstauflösung, ihrem Tod, als dem Zirkus (und seinem Scheitern) nicht gewachsen. Sie begegnen in ihm ihrem eigenen Versagen (und dem des ganzen im Utopek gezeigten Milieus) – und damit sich selbst. Ein Zirkus ist etwas, das kommt von innen, aus der jeweiligen Kultur selbst wie ein Traum von einem nur in der Phantasie betretbaren ›Außen‹. Bestehend aus Zeichen, verwandelt er alles in Zeichen, die zu tanzen beginnen (oder gar zu explodieren), bis im dichten Sinngefüge des jeweiligen kulturellen Gefüges vermeintlich Lücken sichtbar werden, die Ausblicke aus der Kultur heraus in ihr Unerreichtes hinein zu eröffnen scheinen. Doch auch diese Lücken sind nur Zeichen, Zeichen von Lücken und eben keine echten Lücken, Sinnesvortäuschungen, die innerhalb der jeweiligen Kultur produziert werden – mit Hilfe des Zeichenbeschleunigers Zirkus. Manchmal verzaubert und tröstet er, erlaubt Träume von Rettung aus beengender Umgebung, manchmal macht er das Eingesperrtsein in die Gegebenheiten nur noch sichtbarer und unerträglicher, hin und wieder mag er sogar tödlich wirken.

22 Ebd., S. 189.

Send in the Clowns! Zur Attraktion einer Zirkusfigur in avantgardistischen Theaterformen P HILIPP S CHULTE

Im Folgenden geht es um den Einsatz der Figur des Clowns in den darstellenden Künsten seit dem frühen 20. Jahrhundert. Schlaglichtartig sollen ein paar ältere, vielleicht paradigmatische, sowie ein paar neuere, vielleicht impulsgebende Positionen des Avantgardetheaters sowie der zeitgenössischen Performance Art vorgestellt werden, Positionen, die sich mit der aus Zirkus und Varieté stammenden Figur des Clowns szenisch auseinandersetzen. Welche Rolle, welche Rollen spielen Clowns in der jüngeren Theatergeschichte? Welche ästhetischen und poetischen Strategien stecken hinter ihrem Einsatz? Woher stammt ihre hier von mir unterstellte spezielle Kompetenz als Grenzgänger zwischen eher affirmativen Unterhaltungstheaterformen und der oft angestrebten subversiven Tendenz von avantgardistischen und performativen Darstellungsweisen? »Clown makes an ideal protagonist of twentieth-century theater because theatrical modernism was preoccupied with breaking the expectations of older genre systems and exposing the mechanisms of art making«, stellt Donald McManus in seiner Publikation No kidding! Clown as Protagonist in 20th-century Theatre1 fest. Meine grundlegende These schließt hieran an: Der Einsatz des Clowns in den darstellenden Künsten unterliegt seit der Moderne einem von früheren Inszenierungsstilen abzusetzenden Wandel, der mit den historischen Theateravantgarden um 1900 ihren Lauf nahm. Im Rahmen dieses Artikels möchte ich vor allem ein Augenmerk auf das von Hans-Thies Lehmann2 so bezeichnete Theater des Postdramatischen und dessen Vor-

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McManus, Donald: No kidding! Clown as Protagonist in 20th-century Theatre, Newark/ London 2003, S. 11. McManus analysiert den Einsatz der Figur des Clowns bei Wsewolod Meyerhold, Bertolt Brecht, Samuel Beckett, Giorgio Strehler und Dario Fo. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Lehmann bezeichnet mit dem von ihm entwickelten Attribut »[…] ›postdramatisch‹ ein Theater, das sich veranlasst sieht, jenseits des Dramas zu operieren« (ebd., S. 30), und zwar als Folge der Einsicht, dass das Dramatische nur einen erkennbar begrenzten Teil der Darstellungsmöglichkeiten szenischer Künste abdeckt.

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läufer legen; zudem werden präzisierend ganz konkrete Inszenierungsformen beleuchtet und vielmehr Regisseure und Performancekünstler anstelle von Autoren betrachtet. Diente der Clown in Produktionen der 1960er bis 1980er Jahre bei Regisseuren wie Robert Wilson oder Tadeusz Kantor noch primär als willkommene Alternative zum psychologisch motivierten Schauspieler im Sinne Stanislawskis – mit einem besonderen, eher technischen Bewegungsrepertoire, die den äußeren Effekt immer durch eine unbekannte Innerlichkeit motivierten Vorgängen vorzog – sowie als Repräsentant einer speziellen, alternativen Zeitlichkeit, so erhält er in jüngeren Arbeiten (z.B. bei der Performancegruppe Forced Entertainment oder dem Choreographenduo Schulz/Marouf) verstärkt die Funktion eines Zitats: als mitunter melancholische, mitunter nostalgische Erinnerung an die historische Darstellungsform des Zirkus, als gescheiterte Figur, als popkulturelle Signatur. 3 Damals wie heute scheint mir in den darstellenden Künsten die Clownsfigur oft aufgrund eines gewissen Potentials für eine schockartige Wirkung auf ihr Publikum interessant zu sein – als Provokation, alternative Entität, die zwar zum Lachen bringen kann, einen aber auch auf geradezu unheimliche Weise zu erschrecken vermag. Die Auswahl der im Folgenden dargestellten künstlerischen Positionen soll exemplarisch eine Bandbreite aufzeigen, mit deren Hilfe ich diese Entwicklung verdeutlichen möchte. Dabei nimmt Eisenstein die Rolle eines ästhetischen Vorreiters der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ein, auf den sich sowohl der Texaner Wilson als auch der Pole Kantor implizit beziehen; mit Forced Entertainment und Schulz/Marouf werden am Ende meiner Ausführungen Arbeiten von Künstlergruppierungen besprochen, denen eine größere Nähe zu den sich im zeitgenössischen Theater seit den 1990ern verbreitenden popkulturellen Strömungen nachgesagt werden kann.

S ERGEI E ISENSTEIN – C LOWNS ALS SCHOCKARTIGE ATTRAKTION Diese Schockwirkung lässt sich vielleicht am besten mit Rückgriff auf Sergei Eisenstein kurz erläutern. Der beschreibt in seinem ersten ästhetischen Manifest »Montage der Attraktionen«4 seine gemeinsam mit Sergei Tretjakow inszenierte Theaterarbeit »Eine Dummheit macht selbst der Gescheiteste« – eine »Agitbuffonade«5 in fünf Akten nach dem gleichnamigen Stück von Alexander Ostrowski von 1868. Die Inszenierung hatte drei Aufführungen. In seiner manifestartigen Aufführungsbeschreibung geht es Eisenstein grundsätzlich um die Etablierung eines von ihm so genannten dynamischen und exzentrischen ›Agit-Attraktionstheaters‹, als Gegentendenz zu einem statischen, milieubeschreibenden ›abbildend-illusionistischen Erzähltheater‹ – er sucht ästhetisch nach engagierter Agitation anstelle von kritischer Beschreibung und

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Zu den gewaltaffinen Vorläufern zeitgenössischer Clownsdarstellungen im 19. Jahrhundert vgl. u. a. von Brincken, Jörg: Tours de Force. Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006. Eisenstein, Sergei: »Montage der Attraktionen«, in: ders. (Hg.), Das dynamische Quadrat, Köln 1988, S. 10-16. Ebd., S. 10, Endnote 3 [S. 326].

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Belehrung. Diese Strömungen innerhalb des Proletkults fasste der Theaterkritiker S. Lewman im Jahr der Uraufführung so zusammen: »Der Proletkult fiel von einem Extrem ins andere. Nachdem er auf Miterleben, Stimmungen und Naturalismus verzichtete, stürzte er sich in die Clownade, Buffonade, Groteske.«6 Es ging Eisenstein also explizit um ein Theater der Wirkung, dessen Vorbild die Darstellungsformen aus Zirkus und Varieté waren, ganz besonders deren stiltypischer Nummerncharakter: Als Theater- wie Filmregisseur versucht er sich an einer »freien[n] Montage von willkürlich ausgewählten, selbständigen […] Einwirkungen (Attraktionen)«7, ohne zwingende narrative Kohärenz, nicht »logisch mit der Handlung verknüpft«8. Damit setzt er auf eine in erster Linie emotionale Wirkung, »nicht im Sinne einer Auffächerung psychologischer Probleme« 9 – einer Wirkung, die »auch außerhalb der gegebenen Handlung existiert und funktioniert.«10 Kurz: »Ein gutes Stück zu machen [heißt] im Grunde […], ein handfestes Music-Hall- oder Zirkusprogramm zu montieren.«11 Die Clownfigur taucht in Eisensteins kurzem Text immer wieder auf, vor allem in einer umfassenden Auflistung der Szenenfolge des »Gescheitesten«, sowohl als Protagonist (z.B. »Drei parallele Clownentrees mit je zwei Sätzen« 12), als auch in Hinweisen wie: »Wenn es keinen direkten Übergang gibt [:] Clownaden am Teppichrand.«13 Denn freilich passt der Clown zu dem von Eisenstein angestrebten Gesamtcharakter: Er verlangt von seinen Darstellern eine »erotische Wirkung« 14 anstelle eines psychologischen Momentes, ausgelöst durch eine »spezifische Mechanik« 15 des Körpers, die er z.B. Charlie Chaplin attestiert.16 Eisensteins Darsteller bilden nicht eine scheinbar ›natürliche‹ Bewegung einer Realität, eines ›lebenden Modells‹ ab, sondern zeichnen sich aus durch ein motorische[s] und assoziative[s] Ansteckungsvermögen«17, das Eisenstein in seinem ein Jahr später erschienenen Nachfolgemanifest »Montage der Filmattraktionen« genauer so beschreibt: »Die Zergliederung der Bewegung in primäre Bestandteile, Nachahmungsprimitiva für den Zuschauer. Ein System von Stoß-, Aufwärts-, Abwärts-, Kreiselbewegungen, Pirouetten usw.,

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

17

Rabočij zritelʼ, Moskau 1923; zit. n. S. Eisenstein: Montage der Attraktionen, S. 10, Endnote 4 [S. 327]. S. Eisenstein: Montage der Attraktionen, S. 13. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 12. Ebd. Dass Eisenstein hierbei vielleicht mit Buster Keaton als Meister des mechanischen Spiels treffsicherer gewesen wäre, lässt Eric Rohmers Vergleich beider Komiker erahnen. Vgl. Rohmer, Eric: »Film, eine Kunst der Raumorganisation«, in: ders. (Hg.), Der Geschmack des Schönen, Frankfurt a.M. 2000, S. 45-60. S. Eisenstein: Montage der Filmattraktionen, S. 32.

354 | P HILIPP S CHULTE damit der Regisseur dem Darsteller die genaue Festlegung der Bewegungsvariante vermittelt und diese sich an neutralen, nicht sujetgebundenen, sondern lediglich produktionsbezogenen, ausdrucksvollen motorischen Einheiten trainiert werden«.18

Der Clown mit seiner aufgeschminkten Maske, seiner jeden emotionalen Ausdruck übersteigernden, fixierten Fratze, die ihn zugleich als eine nicht naturalistisch angelegte Kunstfigur kennzeichnet, ist das optimale Modell für die hier beschriebene Darstellungsweise.19 Eisenstein bedient sich des Clowns – als Vorbild sowie direkt in seinen Inszenierungen – als inkohärenter Figur, die auf momenthaften Aktionen basiert und nicht auf einer psychologisch geprägten Geschichte. Im Sinne seines AgitAttraktionstheaters agieren sie, die Clowns, als Störenfriede, Provokateure, als Nonsens-Artisten und Anarchisten.

T ADEUSZ K ANTOR – DER S CHAUSPIELER ALS KÜNSTLICHES

M ODELL

Ich mache jetzt einen Sprung von etwa fünfzig Jahren in die 1970er und 1980er Jahre und wende mich zwei richtungsweisenden Regisseuren dieser Zeit zu, Tadeusz Kantor sowie Robert Wilson. Kantor, ein zu Unrecht im Westen allmählich in Vergessenheit geratender Ausnahmeregisseur aus Polen – er starb 1990 –, kann als vielleicht wichtigster Impulsgeber eines osteuropäischen Nachkriegstheaters gelten. Auch bei ihm findet sich die Idee einer Schockwirkung, die wir schon bei Eisenstein gefunden haben. In seinem 1975 erschienen Band Teatr Smierci äußert er sich wortgewaltig zu seiner grundsätzlich antirealistischen Schauspielkonzeption: »Wir wollen versuchen, uns dieser faszinierenden Situation innezuwerden: Gegenüber jenen, die auf dieser Seite geblieben waren [den Zuschauern], stand ein ihnen täuschend ähnlicher Mensch, der dennoch (mittels einer geheimnisvollen und genialen ›Operation‹) unendlich weit entfernt, auf schockierende Weise fremd war, wie tot, abgetrennt durch eine unsichtbare, aber deshalb nicht weniger entsetzliche und unvorstellbare Grenze, deren wirklicher Sinn und deren Bedrohung sich uns nur im Traum offenbart. Wie im blendenden Licht eines Blitzes erblickten sie plötzlich ein grelles, tragisch zirkushaftes Bild des Menschen, als ob sie ihn zum ersten Mmal sähen, als ob sie sich selbst erblickten. Das war ganz bestimmt ein, man könnte sagen: metaphysischer Schock«.20

Diese durch eine Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit in der Darstellung erzeugte Schockwirkung strebt nun auch Kantor in seinem Theater an. Neben bestimm-

18 Ebd., S. 33. 19 Damit steht Eisenstein exemplarisch für eine allgemeine Entwicklung in den historischen Theateravantgarden; ein weiteres Beispiel wäre die Ästhetik eines Oskar Schlemmer; vgl. Zimmermann, Friederike: ›Mensch und Kunstfigur‹ – Oskar Schlemmers intermediale Programmatik, Freiburg 2007. 20 Kantor, Tadeusz: Teatr Śmierci, Warschau 1975, S. 8; zit. n. Kłossowicz, Jan: Tadeusz Kantors Theater, Tübingen/Basel 1995, S. 25.

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ten Formen der Kostümierung und des Maskenbilds ist es auch bei ihm vor allem eine bestimmte Bewegungsqualität, die er bei seinen Darsteller_innen sucht, eine »abstrakte Bewegungsstruktur ohne Furcht vor Monotonie und automatischen Tätigkeiten«21, mit »der Scheu eines gebrannten Kindes vor dem parallelen Ausdruck von Formen (Bewegung, Klang, Sprache, Gestalt), der eine banale naturalistische Illustration ist«.22 Auch Kantor dienen also clowneske Figuren als Möglichkeit, nicht einer von ihm als kraftlosen Irrtum verstandenen Nachahmungswut zu verfallen. In einem Manuskript notiert Kantor: »Der Schauspieler: nacktes Bild des Menschen, öffentlich zur Schau gestellt, mit einem Gesicht, elastisch wie Gummi, der Schauspieler: ein Jahrmarktskünstler, ein schamloser Exhibitionist, er simuliert seine Tränen und sein Lachen, das Funktionieren aller menschlichen Organe, die Leidenschaften des Herzens, des Geistes, die Exzesse des Magens und des Penisses, mit einem Körper, der allen Reizen und Gefahren und Überraschungen preisgegeben ist, eine Attrappe des Menschen, ein künstliches Modell seiner Anatomie und seines Geistes, das auf Würde und Prestige verzichtet, am Pranger und zum Gespött zur Schau gestellt, dem Abfall23 haufen und der Ewigkeit nicht fremd«.

R OBERT W ILSON –

DER

Ü BER -C LOWN

Viel technischer und formalistischer mutet da schon Robert Wilsons wiederholter Einsatz clownesker Figuren in seinen in der Regel sehr groß angelegten Inszenierungen seit den 1970er Jahren an. Im Rahmen einer Vorlesung an der Universität in Toronto 1995 beschreibt er seine Verwendung von »ultra-slow motion and shocking tempo changes«24 als Adaptionen von Bewegungsmustern von Clowns und Vaudeville-Komödianten. Unter anderem nennt er die US-amerikanischen Filmclowndarsteller Jack Benny und Richard Skelton als Prototypen für das streng definierte Bewegungsrepertoire, das er von seinen Akteur_innen auf der Bühne verlangt; konkret nennt er hier deren Weise, clowneske Takes bzw. Slow Burns zu machen, also die extrem verlangsamte mimisch-gestische Reaktion auf ein prinzipiell überraschendes Ereignis, wie er auch insgesamt ein alternatives Timing bei Clowns für sehr inspirierend hält.25 Neben der Motorik ist es schließlich auch wieder die Maske und Kostümierung zahlreicher Akteur_innen in Inszenierungen von Wilson, welche subtil clownsartige Züge tragen im Dienste einer antinaturalistischen Verfremdung und Formalisierung (vgl. z.B. Wilsons Arbeiten Faust Part I and II [Berlin 2015], Lecture on Nothing (Bochum 2012) und Shakespeare’s Sonnets [Berlin 2009]). Das erzeugt weniger eine pointierte Komik, als dass es assoziativ eine alternative Zeitlich-

21 Kantor, Tadeusz: Gra aktorów, Manuskript; zit. n. J. Kłossowicz, Tadeusz Kantors Theater, S. 28. 22 Ebd. 23 Zimmermann, Tadeusz: Kondycja aktora, Manuskript; zit. n. J. Kłossowicz, Tadeusz Kantors Theater, S. 28. 24 Zit. n. D. McManus, No kidding!, S. 144. 25 Vgl. ebd.

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keit unterstützt, welche Wilson in vielen seiner Arbeiten erforscht und herstellt. Als Beispiel sei hier auf seine Inszenierung Einstein on the Beach v (1976) verwiesen, welche dieses Thema ja schon durch ihren Titel aufruft. Gleich zu Beginn des fünfeinhalb Stunden langen Stücks äußern zwei Akteurinnen auf der Bühne und ein identisch in weißen Hemden und von Trägern gehaltenen Hosen gekleideter, ins Leere lächelnder Chor mit sehr eingegrenzten, repetitiven Bewegungsmustern verschiedene Zahlwörter in unterschiedlichen Reihenfolgen. Das Ganze wird begleitet von Philip Glassʼ repetitiver elektronischer Orgelmusik. McManus beschreibt den Einsatz von Clownfiguren bei Wilson relativierend: »Despite Wilson’s claim that clown movement is at the core of his theater there is little evidence of clown logic in his productions. This is because all of the movement is choreographed equally. No single character ever stands out as different or in contrast to the rest.«26 Was hier fast defizitär klingt, kann als wichtiges avantgardistisches Merkmal in Wilsons Gesamtwerk beschrieben werden: die Gleichbehandlung aller Darstellungsmittel, die Aufgabe der klassischen Zentrierung des darstellerischen menschlichen Subjekts auf der Bühne, die Übertragung von vermeintlichen Individualmustern auf ein gesamtes Darstellungssystem. Die hier beschriebenen Inszenierungsansätze sind nicht interessiert an einer Psychologie des Clowns – sondern suchen nach einer clownesken Form, die als Alternative zu psychologisierenden Darstellungsweisen eine neue Struktur seiner Inszenierungen begründet, eine mit Seherwartungen brechenden Zeitlichkeit, einem mechanisch wirkenden Bewegungsmaterial.

F ORCED E NTERTAINMENT – DER C LOWN ALS F IGUR DER S PEKTAKELKULTUR Seit 1984 macht die britische Performancegruppe Forced Entertainment die internationalen Performancebühnen unsicher. Der Clown ist eine wiederkehrende Figur in der Arbeit der Gruppe: meistens als heruntergerockter, unsympathischer, auch etwas grausamer und gefährlicher Akteur mit verlaufenem Makeup und schlechtgelaunter Attitude. Der eingangs angedeutete Wandel im Einsatz von Clowns in Avantgardetheater und zeitgenössischer Performance Art lässt sich anhand der Arbeit von Forced Entertainment besonders gut verdeutlichen. Zwar kann der Clownsfigur ein gewisser Schockcharakter zugestanden werden, den gerade auch Eisenstein und Kantor teilweise gesucht zu haben scheinen; doch ging es Künstlern wie eben Eisenstein, Kantor oder Wilson dabei auch in erster Linie formalästhetisch um eine bestimmte alternative Bewegungsqualität und Zeitlichkeit. Dagegen scheinen bei zeitgenössischen Ansätzen wie bei Forced Entertainment wieder verstärkt – und stark verfremdet – sujetbezogene Überlegungen einen Rolle zu spielen: Der Clown taucht hier wieder erkennbar als verkörpertes Zitat aus Zirkusformen seit dem 19. Jahrhundert auf, verweist dadurch zudem – mal nostalgisch, mal melancholisch, mal provokant – auf eine affirmative Spektakelkultur im Anschluss an Guy Debord, 27 zu welcher ak-

26 Ebd. 27 Vgl. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996.

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tuelle Performances sich in der Regel eher kritisch positionieren. Komische Wirkung haben diese Clownsperformer oft nur zu Beginn der Arbeiten der britischen Gruppe; stattdessen erwecken sie früh den Eindruck des Gescheiterten, des unentwegt Scheiternden und des darüber Zornigen. Erzählen diese Clowns beispielsweise Witze, dann erzählen sie sie schlecht und kraftlos, wie überhaupt alles entweder kraftlos oder aggressiv zu sein scheint, was sie auf der Bühne so anstellen. Wenn beispielsweise in der Performance Bloody Mess aus dem Jahre 2004 ein Clown ankündigt, die Geschichte der Welt vom Urknall an zu erzählen oder zwei weitere Clowns in verschmiertem Makeup einen Kampf anfangen, der die ganze Bühnensituation einzunehmen bedroht, dann halten sich Bedrohlichkeit und Komik durchaus die Waage: »When Clowns go bad it’s best to stay out of the way«, 28 so rät dazu der Kulturwissenschaftler Geoff Willcocks. Die Clowns von Forced Entertainment – und damit stehen sie wohl paradigmatisch für ihre Kollegen in den meisten Arbeiten gegenwärtiger Performancekunst – sind Meta-Clowns: Ihre Wirkung – komisch, ja, aber bei weitem nicht nur und bei weitem nicht immer – ziehen sie weniger aus ihrer Clownshaftigkeit denn aus ihrer Differenz zu landläufigen Erwartungen an clowneskes Verhalten.29 Diese Clownsdarsteller verschwinden nicht unter ihrer Maske oder einem Makeup, die Performer verschwinden nicht hinter ihrer Rolle; stattdessen geraten Clownsrolle und damit zusammengehörige Zuschreibungen und all diesem zuwiderlaufende Performerhaltung in einen mitunter aggressiven Widerspruch, bei dem letztere nicht selten die Oberhand gewinnt.30 Je aggressiver sie sich geben, desto stärker ist ihre subversive, sich an einer primär auf Unterhaltung und Sensation ausgelegten Zirkuskultur abarbeitende Wirkung. Zugleich wird diese affirmative Ästhetik niemals komplett diskreditiert; man könnte diese Inszenierungsweise vielmehr als eine Art doppelzüngige Hommage betrachten, die vom Unterhaltungscharakter und der Illusionssehnsucht einer herkömmlichen Zirkusästhetik zitathaft zehrt und sie dennoch kritisch verfremdet und lustvoll pervertiert; sie bedient sich derselben Mittel, übertreibt diese aber maßlos, z.B in Bezug auf das beschriebene aggressive Verhalten – gerade auch dem Publikum gegenüber, oder auch in Bezug auf das Aushalten von Dauer und enervierender Wiederholung immer wieder ähnlicher Vorgänge. Damit sind Forced Entertainment dem klassischen Zirkus vielleicht näher als so mancher professionelle Zirkusbetrieb, der durch Europa tourt: Zirkus wirkt hier als Bachtinsche Volks- und Gegenkultur, deren Lachfiguren alles allzu Offiziöse und Hochkulturelle verlachen und momenthaft eine temporäre Gegenkultur, eine subversive Lachgemeinschaft zu begründen

28 Siehe dazu auch http://www.forcedentertainment.com/notebook-entry/when-clowns-go-bad [06.08.19]. 29 Vgl. D. McManus, No kidding!, S. 11: »If a character in twentieth-century theater looks like a clown and acts like a clown, but does not make us laugh, it is usually because our attention is being channeled in a new direction«. 30 Die nicht selten komische Wirkung, die damit erzielt wird, steht in direktem Verhältnis zur traditionellen Clownfigur im Zirkus und Varieté: Die beeindruckenden Leistungen der virtuosen Artisten werden durch mal verschmitzt-faulen, mal dummen, mal ignoranten, mal ob ihres begrenzten Talents betrübten Clowns konterkariert.

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vermögen.31 Was Forced Entertainment begonnen hat, hat einige jüngere Performancekünstler_innen, vor allem in Großbritannien, inspiriert und zeitgenössische Fortschreibungen erfahren – so zum Beispiel Jeremy Wade.

W ER ZULETZT

LACHT :

S CHULZ /M AROUF

Ich habe hier schlaglichtartig einen Wandel anzudeuten versucht: Das Interesse von Regisseurinnen und Regisseuren avantgardistischer Theaterformen an der Figur des Clowns hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verschoben von einem primär formalen Interesse an clownesker Motilität und Temporalität hin zu einem eher zitathaften und assoziativ-atmosphärischen Interesse, welches sich des Clowns bedient, um melancholisch an einen affirmativen Spektakelcharakter zu erinnern, der zeitgenössischer Kunst abhandengekommen sein könnte. In diesem Zusammenhang lässt sich auch eine kurze Performance aus dem Bereich des zeitgenössischen Tanzes lesen, mit der ich abschließend belegen möchte, dass auch in aktuellsten Arbeiten einer neuen Generation von Performance-Künstlerinnen und -künstlern immer wieder eine Rolle spielt. Die Choreographen Sebastian Schulz und Enad Marouf, Absolventen des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft, haben im Jahr 2009 ihr Stück untitled (Clown Piece) erstmals aufgeführt. Schulzʼ/Maroufs Clown macht noch einmal klar, dass der aktuelle Performances inspirierende popkulturelle Zitateschatz freilich mittlerweile über historische Vaudeville-, Varieté- und Zirkusformen hinausgeht und filmische Vorbilder wie Stephen Kings ES und Batmans Gegenspieler Joker mindestens ebenso sehr in den Blick nehmen. Was ich aber vor allem beschreiben möchte, ist ein Beispiel, dem es vielleicht gelingt, die beiden beschriebenen Tendenzen wieder zusammenzubringen: Eine schwarze Studiobühne, deren Boden mit lauter bunten und hell erleuchteten Luftballons bedeckt ist. In ihnen liegt, zunächst kaum erkennbar, ein Performer; er ist nur von hinten zu sehen, bewegt sich sehr langsam, räkelt sich kaum merklich, seine Konturen sind im Ballongewusel nicht klar auszumachen. Ganz und gar nicht kenntlich, das wird im Laufe von etlichen langen Minuten klar, ist und bleibt: sein Gesicht. An dessen Stelle befindet sich nämlich eine grässlich anmutende Maske eines Clowns, wie man ihn wohl vor allem schon einmal in einem Horrorfilm begegnet sein mag. Erst nach einer unverschämten Weile erhebt sich die Clownsgestalt, fixiert mit ihren toten Augen das Publikum, stolziert langsam auf und ab, zerstört Luftballons, bespritzt es mit einer Wasserblume im Revers. Alles an diesem Clown ist aggressiv und anarchisch – nichts beugt sich konventionellen Seherwartungen; und vor allem nicht Erwartungen an ein kurzweiliges Timing. Schulz und Marouf kreieren für ihre Performance untitled (Clown Piece) eine Figur, die dem subversiv-bedrohlichen Charakter der entsprechenden Figuren bei z.B. Forced Entertainment um nichts nachsteht. Zugleich besinnen sie sich einer der stärksten Waffen clownesker Komik und Wirkungsmacht: ihrem eigenwilligen, eigenen Umgang mit Zeit. In untitled (Clown Piece) wird deutlich, dass es vor allem das

31 Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Volkskultur als Gegenkultur, Tübingen 1972.

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Timing der Clownsfigur sein kann, durch die sie provokant und schockierend wird: unvermittelte Geschwindigkeit, beunruhigende Langsamkeit, Wahrnehmungskonventionen herausfordernde Wiederholungen – dies sind die stärksten formalen Waffen des Clowns, sei es bei Eisenstein, Kantor, Wilson, Forced Entertainment oder Schulz/Marouf. Durch den Verzicht auf jegliche sprachliche Äußerung – und damit zugleich jegliche narrative und psychologische Einbettung, ganz im Sinne Eisensteins – wird in untitled (Clown Piece) jede Aufmerksamkeit auf die Bewegungsabläufe des Gruselclowns gelenkt. Diese sind zwar nicht auf künstliche Weise formalisiert, wie bei Wilson. Und doch nehmen sie sich ihre eigene, subversive Zeit, sind auf anti-naturalistische Weise in die Länge gestreckt, nehmen keinerlei Rücksicht auf die Lust auf Entertainment seitens des Publikums. Schulz/Marouf spielen gleichermaßen mit dem Spektakulären gegen das Spektakuläre, mit der Unterhaltungsfigur gegen ihren konventionellen Unterhaltungswert, und entdecken genau dadurch, ganz wie Forced Entertainment aber über die Darstellungsmittel der Bewegung und Körperlichkeit eine Art Unterhaltung zweiter Ordnung, ein reflektiertes Entertainment, das seinen Reiz vielmehr aus seiner Sprödigkeit und Fremdheit zieht, aus seinem schockartigen Charakter, als aus einer Gefälligkeit, Harmlosigkeit und Kompatibilität. All den beschriebenen Arbeiten neuerer Theater- und Performanceformen, die hier stellvertretend für eine allgemeine Entwicklung in den Darstellenden Künsten seit 1900 stehen sollen, ist gemein, dass der Clown auf unterschiedliche Weise ein Störfaktor ist. So stört er konventionelle Erwartungen an Erzähl- und Darstellungstempo, an Schicklichkeit und psychologisch ausdeutbaren Handlungsmotiven. Wie seine Vorbilder in den Zirkus-Shows, die die sensationellen Tricks der Artistinnen und Artisten durch Tollpatschigkeit und dargestellte Faulheit in Verbrüderung mit dem Publikum relativieren, hinterfragt er das Ideal staunenswerter Virtuosität auf grundlegende Weise. Und wie seine komischen Verwandten in Komödientexten seit der griechischen Antike ist er stets bereit, Illusionsbildung zu unterwandern, das Publikum zu adressieren und den Aufwand, den es die Heldinnen und Helden der Tragödien kostet, ihr kohärentes Selbst zu setzen und zu verteidigen, schamlos zu verlachen.

Literary Circus Toward the Adaption of Novels in the Work of Les Colporteurs F RANZISKA T RAPP »›And why do I need to know about the art of tightrope walking?‹ Soseki put his hand on the young man’s shoulders, as he had done a month before. ›Why? Because to write is to feel your way step by step along a thread of beauty. Along the thread of a poem, or of a story unfolding on a sheet of silk. For the poet like the tightrope walker must go forward, word by word, page after page, along the path of a book.‹«1

T IGHTROPE W ALKING AND THE ACT OF W RITING : M ETAPHORICAL S IMILARITIES AND M EDIAL O PPOSITIONS The similarities between tightrope walking and the act of writing that Soseki, the antagonist in Marxence Fermine’s novel Snow, lists while talking to his student seem to be appropriate from a metaphorical point of view. Looking at it more closely in terms of the media-specific characteristics of the two art forms, tightrope walking and literature appear to be medial antagonists: »[Tightrope-walking] is kinetic, while literature as the written word on the page seems to be static. The first is multi-medial, combining visual and acoustic sense impressions into one combined three-dimensional experience for both the performer and the spectator. The latter seems at first glance to be two-dimensional and mono-medial, leaving the recipient entrapped in one single medium: the written word. He experiences it, while turning the pages, reading along the lines and creating an imaginary world inside his head.« 2

1 2

Fermine, Marxence: Snow. A Novel. Translation by Chris Mulhern, New York/London/ Singapur 1999, chapter 40. Mracsek-Fuchs, Maria: Dance and British Literature: An Intermedial Encounter. TheoryTypology-Case Studies, Leiden 2015, p. 1.

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These differences between circus and literature were already brought to light in the previous articles of this anthology, which discuss the (mostly) speechless art of the circus and how bodily movements can be transformed into speech, writing and literature. This paper reverses the research question of the anthology; instead, it focuses on the influence of literature on circus performances, more precisely, by focusing on the influence of the literary work Snow on the contemporary performance Le fil sous la neige created by the company Les Colporteurs3 in 2006. With this twist comes a change of the object of analysis which is no longer a literary text, but the circus performance itself.4

T HE M ONODISCIPLINARY P ERFORMANCE L E FIL SOUS LA NEIGE The monodisciplinary performance is the first chapter of a trilogy. Like the subsequent pieces Sur la route and Le bal des intouchables, Le fil sous la neige is inspired by literature and deals with the topics of myth, the human condition and relationships, the meaning of life, beauty, pureness and the search for balance. 5 Besides its literary influences, the trilogy contains an autobiographical component. After a serious accident, Antoine Rigot, cofounder of Les Colporteurs, was left paralysed. The three successive performances make the different stages of rehabilitation a subject of discussion. Le fil sous la neige evokes the rediscovery of balance, Sur la route focuses on the reappropriation of the injured body, and Le bal des intouchables deals with the topic of disability. Every performance is based on scenic research. In Le fil sous la neige, the stage set is dominated by seven steel ropes which run parallel, are crossed, isolated, and stacked – between one and three meters above the ground. Seven tightrope artists dance to the live music played by the three musicians of the Wildmimi Antigroove Syndicate.

G ENETIC R ELATIONSHIP

AND

M EDIAL T RANSPOSITION

Even though the performance does not adopt the plot of the novel – which depicts the story of a young haiku poet’s quest for art through snow-covered mountains – Snow played an important role in the creation process. Based on the readings of different sections, the main themes of the novel have been selected for further development. Every artist had to write down his or her associations of the selected subjects, which were then used as a means to write haiku that referred to the main structure of the novel. Those, in turn, were used as starting points for improvisations on the tightrope. As the formation of Le fil sous la neige »is 3 4 5

http://www.lescolporteurs.com/fr/ [27.07.19]. This paper is part of a larger study: Trapp, Franziska: Lektüren des zeitgenössischen Zirkus. Ein Modell zur text-kontext-orientierten Aufführungsanalyse, Berlin 2020. Cf. http://crdp.ac-paris.fr/piece-demontee/pdf/le-fil-sous-la-neige_total.pdf [21.07.19].

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based on a media-specific and obligatory intermedial transformation process«,6 the performance can be classified as medial transposition, which is defined as the »transformation of a given media product or of its substratum into another medium.«7 One might raise the objection that this classification is based on a production-oriented conception of intermediality, which disregards the fact that the proximity to the »original« text has been destroyed by the various work steps of the production process – and I would agree. Even though the degree of similarity between the »original« medium and the newly formed media product is not a decisive criterion within the generic definition of intermediality, the fact that the novel has been used in the production process does not seem to be worth analysing in itself. What is more interesting is how media adaption often includes intermedial reference. The question is: How is the performance Le fil sous la neige constituted in relation to the literary medium? Or, in what way does Le fil sous la neige use its own media-specific means to refer to Snow as a specific individual work, as a specific medial subsystem or as another medium qua system?8

I NTERMEDIAL R EFERENCE – (L ITERARY ) T EXTS AND C IRCUS P ERFORMANCES In the following, the theory of Irina Rajewsky is used as a starting point to develop an adequate tool for the analysis of circensic intermediality. First of all, it has to be asked in what way the intermedial reference is explicitly marked within the circus piece. Immediately noticeable is the connection between novel and circus performance, which is verbalised in the title Le fil sous la neige, or The Rope in the Snow. It not only alludes to the title of the novel Snow but also to a specific scene within the plot of the novel that happens during the poet’s journey through the snow-covered mountains of Japan: Aikita comes upon a strikingly beautiful European woman frozen in a massive chunk of ice. »And what he saw was a woman. As he crouched beneath the overhanging rock, she was there, in front of his eyes. A young woman, naked and fair – a European. Asleep in the ice.«9 This woman turns out to be the beloved wife of the elderly haiku-master of the novel’s protagonist, who died in an accident while performing her art: tightrope walking. In reference to this key scene of the novel, the title evokes the second narrative of the performance: the autobiographical story of Antoine Rigot as he rediscovered his balance after his accident. One might object, claiming that the simple accordance of the noun in both titles is not enough to declare a conjunction between performance and novel. Their connection is reinforced by paratexts, as, for example, the contextual explanations within the program booklets and event announcements of Le fil sous la neige.

6

7 8 9

Rajewsky, Irina: »Intermediality, Intertextuality, and Remediation. A Literary Perspective on Intermediality«, in: Philippe Despoix/Yvonne Spielmann (Eds.), Intermédialités/Intermedialities 6 (2005), pp. 43-64, p. 51. Ibid. Cf. ibid., p. 53. M. Fermine: Snow, chapter 15.

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What other means are used to explicitly mark the intermedial reference? The performance is framed by the use of language. At the beginning and end, the voice of Antoine Rigot is audible offstage, talking about the moment of the accident and his »going back to life.« As circus has a plurimedial character per se, the use of language does not necessarily mark an intermedial reference which »is achieved through intermedial referencing and not ... through a combination of different medial forms of articulation that are each present in their own materiality.« 10 Nevertheless, the connection between the title and the opening and closing frames of the performance suggests an intermedial reception. With the help of this linguistic frame, the performance signals, already its very beginning, not only the connection between novel and performance but also between novel, performance and the autobiographic story of Rigot. This triangle is visualised, in turn, by the appearance of the first tightrope artists on stage. On the tightrope, Agathe unrolls the bandage that paralyses her partner Molly. Within this movement, tightrope and bandage are visually building a parallel which can be – applying the theory of Jakobson to our case that »equivalence in sound projected into the sequence as its constitutive principle inevitably involves semantic equivalence«11 – interpreted on a semiotic level. Furthermore, the skin-coloured bandage makes reference to the naked woman in the ice, who »wasn’t naked, as he had first thought. Her costume had been under the ice so long as to become almost transparent.«12 At this point, I would like to draw attention to the fact that the unrolling of the bandage was not executed by theatrical means but by the turning of Molly on the rope, thus by a »trick« of tightrope walking itself. The triangle between novel, autobiographical story, and performance can be defined as the main meaning generating procedure of Le fil sous la neige.

I NDIVIDUAL R EFERENCE – T HE N OVEL S NOW AND THE C IRCUS P ERFORMANCE In what way does Le fil sous la neige use its own media-specific means to refer to Snow specifically? What at first glance seems to complicate the reception process is the fact that the performance Le fil sous la neige does not adopt the main plot of the story. At this point it might be interesting to ask how a direct adaption would have looked: there would have probably been an accordance between the number of characters within the novel and the number of artists on the rope. The artists would have been assigned to the characters of the novel: by their costume, their mimic, and gestures – by primarily theatrical means, not by the means of the circus, or more precisely: not by the means of the tightrope. The medial reference, in contrast, refers to Snow in a subtler way: It takes up the main discourses thematised in the novel, such as freedom, the energy of love, helplessness, self-improvement, confidence, loneli-

10 I. Rajewsky: Intermediality, Intertextuality, and Remediation, p. 62. 11 Jakobson, Roman: Linguistic and Poetics, p. 15. http://pubman.mpdl.mpg.de/pubman/item /escidoc:2350615/component/escidoc:2350614/Jakobson_1960_Linguistics_poetics.pdf [10.01.20]. 12 M. Fermine: Snow, chapter 43.

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ness, madness, recklessness, obsession, doubt, pain, rejection and tenderness. Furthermore, the performance develops the main metaphor of the novel; the tightrope not only symbolises the writer’s struggle for »balance« in the face of obstacles, but also the general struggle of being human: it functions as a metaphor for the path of life. What happens during the performance is not the simple presentation of tightrope tricks, but the staging of moments of life on the rope, such as the tying of a ponytail during the traverse of the rope. Apart from the staging of everyday moments, human relationships are put in the spotlight. Taking a closer look at a duo of Molly and Julien dancing together, a main occurrence is the exchange of glances between the two, symbolising the establishing of a relationship. What is striking is the fact that this direct eye contact does not have to be reinforced by exaggerated facial expressions (theatrical expressions). The pure eye contact is perceived as something which does not belong to the system of tightrope walking, where the glance usually helps one to concentrate and find balance. The pure exchange of glances is perceived as being significant. In this context, it is important to mention the unique stage setting in which the tightrope dance obtains a spatial multidimensionality. This, in turn, inaugurates new possibilities within the creation of semantic spaces.

R EFERENCE TO A S PECIFIC M EDIA S UBSYSTEM H AIKUS AND THE T IGHTROPE M ETAPHOR Le fil sous la neige not only makes reference to the main topics and metaphors of the novel, but also to its specific structure. Snow consists of 54 chapters, which evoke haiku through their linguistic style and length, the Japanese lyric that the protagonist of the novel seeks to produce in perfection. On this level, the novel can be classified as self-referential. It uses intramedial references, focusing mainly on the form, not the content of the intertexts. Furthermore, haiku are placed at the beginning of some chapters. An analysis of the textual markers and different modes of referencing the novel would be an interesting task, but would go beyond the scope of this paper. What is important with regard to reference in the performance Le fil sous la neige is how it takes on the textual structure of its literary predecessor. First of all, the performance uses different means to reference the specificity of tightrope walking and can thus be classified as self-referential, like the novel. The use of different footwear (e.g., high heels, shoes of tightrope walkers, barefoot, etc.) places the focus on the foot, which spectators view as the most important body part associated with tightrope walking. Furthermore, the moving arms, searching for balance, become the centre of attention, caused by the large number of tightrope walkers on the ropes simultaneously. The movement of the arms resembles birds flapping their wings. This association is picked up by the novel: »She is a tightrope walker. Though she seems like a bird, somehow trapped in the air.«13 Secondly, the style and length of the tightrope sequences are reminiscent of haiku, thereby not only referencing Snow as a specific literary work, but also as a specific medial subsystem. Blyth classifies haiku, defined as 17 syllable epigrammatic

13 Ibid., chapter 26.

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verses, as »the poetry of sensation.«14 »What distinguishes haiku from (other forms of) poetry is this physical material, sensational character.« 15 What is remarkable within this definition is the fact that the haiku is thereby a literary art form that is close to the sensational character of performances. In both haiku and circus performance, »moments« are represented sensually and pictorially. 16 What impact does this have on the intermediality of the performance? In order to answer this question, we have to return to the structure of the novel Snow. By using appropriate images and by adopting the style of haiku, the novel is able to create an »as-if illusion« of tightrope walking and a sense of a performative presence. Thus, Snow can already be classified as »intermedial.« In Le Fil sous la neige we are dealing with a double intermedial reference: The novel Snow refers to tightrope walking, while the performance Le fil sous la neige refers to the novel, which refers to tightrope walking.

S YSTEM R EFERENCE – T HE C IRCUS P ERFORMANCE L E FIL SOUS LA NEIGE AS P OETRY , L ITERATURE OR L ANGUAGE ? Lastly, I would now like to discuss the third possibility of intermedial reference: the so-called system reference. To what extent does Le fil sous la neige evoke broader systems like poetry, literature or language? It might be possible to establish the following metaphorical interpretations: The stage set, dominated by seven steel ropes, installed parallel, crossed, isolated, one above the other on different heights above the ground, forms a kind of »tissue«, which is in its literal meaning »text.« Furthermore, the tightrope-tissue creates associations related to poetry, literature and language, like communication network, constellation of figures, or discourse. It might be possible to go even further by attributing the focus on the feet an »as-if character« of metrical feet. Is it possible to find within the rhythmical traverse of the tightropes an allusion to the system of poetry? – This metaphorical interpretation seems to be a bit too farfetched, as the described features can also be associated with tightrope walking itself. Why is it so difficult to extract references from the broader system of poetry, literature or language within this performance? I already mentioned at the beginning that media adaption often includes intermedial reference to other media systems. It is the structure of the novel Snow which impedes a literary allusion. According to Rajewsky, a necessary prerequisite for the implementation of intermedial reference is the medial difference between the contacting and the contacted system.17 This difference is lost within the transformation of the novel Snow into the circus performance Le fil sous la neige. The meaning-constituting process of Snow is based on the reference to a performative system, which in this case is tightrope walking. In the trans-

14 Blyth, Reginal Horace: A history of haiku. Volume I: From the Beginnings up to Issa, Tokio 1964, p. 3. 15 Ibid. 16 Cf. May, Ekkehard: »Haiku«, in: Dieter Burdorf (Ed.): Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 2007, pp. 300-301. 17 Cf. Rajewsky, Irina: Intermedialität, Tübingen 2002, p. 180.

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ferring of this process to a contemporary circus performance, its media-specific particularity gets lost. In a tightrope performance it is no longer remarkable.

C ONCLUSION – I NTERDEPENDENCES AND ITS R ECEPTION

OF

C IRCUS

This recognition seems sobering at first glance. But what it illustrates is the fact that circus and its cultural reception are interdependent. The metaphor of the tightrope walker as a bon vivant struggling to balance life, or as an artist searching for the right path, has firmly established itself – not only in literature (e.g., texts of Goncourt, Champsaur, Noder, de Banville, Genet, Dreyfus, Nietzsche, Einstein) and the visual arts (e.g., the artworks of Beckmann, Brassai, Calder, Chagall, Degas, Klee, Laurencin, Léger, Macke, Picasso, Renoir or Toulouse-Lautrec)18 but also in everyday conversation. These metaphors in turn are picked up by circus performances, which either adapt and refer to individual literary works (such as Appris par Corps created by Un loup pour l’homme,19 which is based on Michel Tournier’s novel Les meteors and Varekai by Cirque du Soleil,20 which is based on the legend of Ikarus) or by building the main meaning-generating structure on those established metaphors. Looking at the number of circus performances that have adapted individual literary works, a common characteristic is their having less interest in the metamedial function of intermediality, in which the difference between the media involved comes into play. It is more often the discourse thematised in the literary work which is the starting point for the transformation process, and this in turn often already deals with a circus-related topic. In Paper dolls, directed by Kirsten Burger and performed by Jana Korb, the relation of the circus discipline to its literary predecessor, Margaret Atwood’s novel Cat’s eye, is not that obvious. The artistic work functions as a visualisation of the protagonist’s feelings. Here as well, the metamedial function of intermediality is not the focus. I would like to conclude by coming back to the question of generalisability of this article: In what way is the analysis of intermediality informative concerning the question of the specific practices of tightrope walking and circus in general? The previous analysis discloses the meaning generating process and the storytelling potential of circus performances, which is according to Ryan »directly proportional to the importance and versatility of its language component.«21 The »language component« in this case does not have to be realized by a media combination of circus and language, but can also be produced by a linguistic title or the recourse to a story known to the recipient, which then is evoked by circensic means. The performance thus benefits from the narrativity of the original text.

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Cf. http://crdp.ac-paris.fr/piece-demontee/pdf/le-fil-sous-la-neige_total.pdf [21.07.19]. Cie: Un loup pour l’homme. https://www.unlouppourlhomme.com/ [27.07.19]. Cie: Cirque du Soleil. https://www.cirquedusoleil.com [27.07.19]. Ryan, Marie-Laure: »Narration in Various Media«, in: Peter Hühn (Hg.), Handbook of Narratology, Berlin 2009 pp. 263-281, p. 271.

Contemporary Circus Literature Authenticity and Illusion in Sara Gruen’s Water for Elephants and Erin Morgenstern’s The Night Circus H ELEN S TODDART

Midway through Ali Smith’s recent novel Autumn, the central character, Elisabeth, recounts a childhood experience related to the circus which illustrates some of the complex ways in which literature has grappled with representing both circus and its broader cultural resonances: »They walked past the shops, then over to the fields where the inter-school summer sports were held, where the fair went and the circus. Elisabeth had last come to the field just after the circus had left, especially to look at the flat dry place where the circus had had its tent. She liked doing melancholy things like that. But now you couldn’t tell that any of these summer things had happened. There was just an empty field. The sports tracks had faded and gone, the flattened grass, the places that had turned to mud where the crowds had wandered round between the rides and the open-sided trailers full of the driving and shooting games, the ghost circus ring: nothing but grass.«1

Elisabeth’s encounter as it is described here proves in fact to be a non-encounter with a circus which has long-vacated the traditional summer spot it shared with various other seasonal sports events. Any signs of the vivid materiality of their presence (»mud«, »rides« and »trailers«) have been erased by time, leaving »just an empty field« with »nothing but grass«, not even the »ghost« of a ring. Although she is drawn by the desire to frame the absence of the circus through the lens of »melancholy and nostalgia«, she resists both as being »not relevant in the slightest«, preferring instead to erase sentimentality and believe that »Things just happened. Then they were over. Time just passed. Partly it felt unpleasant to think like that: rude even. Partly it felt good. It was kind of a relief«.2 In Smith’s novel, itself the first of a quartet about the seasons, the circus appears here as both a real point of reference which is materially and historically evocative as

1 2

Smith, Ali: Autumn, London 2016. Ibid., p. 116.

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well as a component in a familiar metaphor evoking loss. It represents a highly present, visceral and messy traditional collective family entertainment but one which, through its association with childhood and seasonality, is suffused with a sense of inevitable loss and nostalgia – like the seasonal cycle, it conjures the joy of vivid presence simultaneously with the recognition of inevitable departure. The scene is illustrative for this argument, therefore, because it shows how circus as a narrative subject can sustain both a realist as well as an existential and metaphorical function. Elisabeth evokes both but in the end choses a pragmatically realist approach to time and the ghosts which the circus brings into her consciousness, preferring to resist the sense of nostalgia and existential melancholy that the lost circus brings to mind. It is tempting to place novels about circus into two categories which are both implied in this example: either they provide a realist reference point in a (frequently) historical account of a past era, or circus is mobilised as a metaphor that leads us away from the material detail of the world towards the contemplation of physical transcendence, fantasy, and metaphor. Both the contemporary novels on which I shall focus in this chapter explore the way that, in the context of literary representation, circus is involved in a set of concerns about authenticity, transcendence and representation which have been ongoing since at least the mid-19thcentury. Sara Gruen’s Water For Elephants (2006) is an historical novel that frames its depiction of a fictional, low rent depression-era circus through the eyes of a 93 (or 90, he cannot quite remember) year old retired veterinarian, Jacob Jankowski. He tells the story of how he worked and met his future wife in the Benzini Brothers Circus, occasionally returning to the present day to remind us of the contrasting reality of his current life, lived in the dramatically less glamourous scene of a retirement home where he has largely been abandoned by his family. What is at stake throughout this novel is authenticity: both the authenticity of the account of the historical American circus as it is depicted in this novel, evidenced by its specialist knowledge of, and attention to, realist detail, but also the idea that circus itself represents a space of personal, social and historical authenticity in contrast to a modern world which is, by contrast, dull and shallow. Thus, whereas Gruen’s novel can clearly be identified as an example of historical social realism, Erin Morgenstern’s The Night Circus (2012), with its story of the magical Cirque des Rêves, is a romance in a more distinctly (and self-consciously) Shakespearean sense which embraces the concept of illusion as the central sustaining value of the circus and the narrative. As such it explores the aesthetic and representational overlap between circus and literature through allusion, intertexuality and an extended narrative about circus as a form of writing.

AUTHENTICITY It is striking that many recent examples of realist novels which depict circus are marked by both an historical perspective and, connected to this, conspicuous evidence of authenticating archival research, and even occasionally emersion in circus

C ONTEMPORARY CIRCUS L ITERATURE

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practice itself.3 Other such examples include Robert Hough’s fictionalised biography, The Final Confessions of Mabel Stark (2003), Michael Raleigh’s The Blue Moon Circus (2003), Philippa Gregory’s Meridon (1990) and Cathy Day’s The Circus in Winter (2008). Sometimes this detail is on display in the text itself, for example Jennings’ inclusion of an operating manual on erecting a circus tent, newspaper clippings, excerpts from route books, letters, telegrams and programmes and photographs in The Circus in Winter and the photographs throughout Water for Elephants. But the novels’ paratexts are often important in this respect too. Cathy Day’s acknowledgements page pays tribute to a long list of important circus historians and commentators as well as the Circus World Museum in Baraboo, Wisconsin. Sara Gruen not only presents a range of photographs throughout her text from personal (Ken Harck, Fred D. Pfening, Timothy Tegge) and public (Ringling Circus Museum) archives but also describes in an Author’s Note at the end of the book the extensive process of research »over four and a half months« needed to acquire the »knowledge necessary to do justice to this subject«, which included several trips to the Circus Museum in Baraboo and to the Kansas City Zoo to learn about »Elephant body language and behaviour«.4 She goes on to acknowledge that she »plucked many of this story’s most outrageous details from fact or anecdote (in circus history the line between the two is famously blurred)« including Lovely Lucinda’s funeral parade, details of Rosie’s narrative and the Jamaica Ginger paralysis through which Camel meets his demise.5 Mixing social realism with a sense of historical romance and adventure, these novels closely attend to historical detail to lend representational credibility and authenticity to their fictional accounts of a lived social reality; they constitute a form of realism replete with often specialist or esoteric historical detail, offering narratively persuasive and engaging depictions of circus life, characters and vernacular. Yet, as Gruen indicates, in the context of the circus, such legitimacy (as is at stake here) is always peculiarly reliant on exaggerated or bogus narratives and contrived identities. This is because these are the very materials – the social and historical reality – of the archival documents and photographs within which the circus is recorded and, in these recordings, performs itself. The particular dimensions of the realism of these novels, therefore, is heavily circumscribed by the realities of circus history which are not so much contested as swallowed up by the endemic and historic desire among its many circus practitioners, from Astley onwards, to fictionalise, exaggerate and ›flim flam‹ in a way that perpetually frustrates the earnest historian’s desire to anchor their narratives in »those public sources that are the most reliable«.6 When one of Gruen’s central characters, Au-

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Gary Jennings’ epic series, the Spangle trilogy (The Road Show, The Center Ring and The Grand Promenade, 1987), is probably the most extreme example of this, with the author famously proclaiming that he gathered his material for the books from travels with nine European and North American circuses and 10,000 source documents. MacDonald, Harris (1987): The 10,000 Secrets of the Circus, http://articles.latimes.com/1987-11-01/books/bk17974_1_gary-jennings [03.08.2017]. Gruen, Sara: Water for Elephants, Chapel Hill 2006, p. 333. Cf. ibid., pp. 333-334. Wilmeth, Don. B: »The American Circus«, in: Peta Tait/Katie Lavers (Eds.), The Routledge Circus Studies Reader, London 2016, p. 355.

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gust, says »It’s what the people want from us. It’s what they expect«7 he confirms one of the peculiar paradoxes of realist novels about the circus which attempt to authenticate through historical knowledge and detail an entertainment which is committed to illusion and sleight of hand. In the context of a broader discussion of authenticity and ethics, Charles Guignon refers to the common understanding of authenticity which is summarised in the Oxford English Dictionary as a term used to describe something that »is what it professes to be, or what it is reputed to be, in origin or authorship«.8 Thus it is an essentially retrospective concept which attributes value according to degrees of connection back to an original act, practice, or artefact. Nathaniel Lewis elaborates on this backwardlooking orientation by pointing out that »authenticity is often freighted with the burden of the golden past, a nostalgia for an earlier age that seems, in retrospect, more real«.9 As such its by-product may often be an overinvestment in a tradition of order, as well as the implication of an apparently more selfish or less exciting contemporary. Both of these characterisations of authenticity (of proof of validity and of overinvestment as the past as more ›real‹) inform Gruen’s narrative. The novel’s title refers to Jacob’s feud with McGuinty, a fellow inhabitant of the retirement home he inhabits. For Jacob’s co-occupants the circus is a place which gives rise to excitement and nostalgia about both a form of circus and childhood that no longer exist, but which nonetheless induces in them a level of vivacity which is missing from their lives, which are now characterised by »the monotony of bingo and singalongs and ancient dusty people parked in the hallway in wheelchairs«.10 When they catch sight of the circus »old ladies chatter like schoolgirls«; one asks if the others »remember when the circus travelled by train«, a question that gives rise to the following exchange: »›My father used to take us down to the tracks to watch them unload. Gosh, that was something to see. And then the parade! And the smell of peanuts roasting! – ‹ ›And Cracker Jack!‹ ›And candy apples, and ice cream, and lemonade!‹ ›And the sawdust! It would get in your nose!‹ ›I used to carry water for elephants.‹ Says McGuinty.«

Jacob is infuriated by this last claim, angrily telling McGuinty that he »did not« and despite McGuinty’s further insistence that he did, continues: »›Listen pal, ‹ I say›. For decades I’ve heard old coots like you talking about carrying water for elephants and I’m telling you now, it never happened……. Carried water for the elephants indeed. Have you any idea how much an elephant drinks?‹«11

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S. Gruen: Water for Elephants, p. 104. Guignon, Charles: »Authenticity«, in: Philosophy Compass 3.2 (2008), pp. 277-290. Lewis, Nathaniel: Unsettling the Literary West, Lincoln (NA) 2003, p. 5. S. Gruen: Water for Elephants, p. 13. Ibid., p. 10.

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Over the years, the claim about water for elephants has become a failsafe test which allows Jacob to identify men who are faking the intimacy of their connection to the circus. It is one that the novel returns to several times; Jacob became outraged later in the novel that McGuinty »told someone who worked for the circus that he used to carry water for the elephants and they upgraded his ticket to a ringside seat. Incredible!«12 while, at this point, Jacob has been refused entry. Within the flashback narrative of Jacob’s life in the circus a member of the circus crew ridicules Jacob as he tries to get work with the circus with the question: »You want to carry water for elephants I suppose?«.13 Thus, for Jacob, and anyone who has genuinely spent time inside the circus, no one who either expresses a desire to carry water for the elephants, or claims to have a memory of doing, knows how much water an elephant actually needs to drink and thus immediately betrays their inauthenticity and their status as an outsider in relation to a world which is thereby confirmed as a set of practices – a knowledge and an idiom which are marked as exclusive and hard to access. Lewis (in the context of a study of American Western narratives) picks up on this characteristically ›elusive‹ quality of authenticity which, he argues, is most frequently imagined or located somewhere, or in someone, else as a quality or set of qualities now missing from mainstream American contemporary culture.14 He also points out, however, that postmodernism has thoroughly undermined such terms as authenticity when used to describe people or ways of life, arguing that they »are themselves self-validating cultural markers, promoting not the true, the self, the real or the natural, but, rather, ideologically infused discourses and delusions«.15 Jacob – in repeating with McGuinty the exclusion the circus workers subjected him to – merely perpetuates the circus’ own mythology about the special access to authenticity granted to its insider/participants. For Jacob, McGuinty and the »old ladies« recall a (literally) sweet version of the circus which it sells to outsiders along with its candy apples. Gruen’s narrative, on the other hand, is founded on the construction that Jacob’s narrative will open up a rare access to a world beyond these myths and clichés, one which is the product of ›real‹ experience and knowledge. Beyond the concept of authenticity as a value in relation to things (objects, knowledge, commodities), authenticity has also been deployed in the context of the philosophy of self. Judith Shklar summarises a common and persistent Romantic account of authenticity in which the »true inner self is identified with one’s childhood and family, and regret as well as guilt for having left them behind may render new ways artificial, false, and in some way a betrayal of that original self«.16 It is not difficult to trace echoes of this model in Jacob who suddenly loses his parents in a car crash at the very start of the novel and, as a consequence of this traumatic event, is severed from his Polish speaking heritage. In the retirement home too he has lost both his wife and his sense of identity (»When did I stop being me?«17). But Shklar’s

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Ibid., p. 176. Ibid., p. 67. Cf. N. Lewis: Unsettling the Literary West, p. 5. Ibid., p. 6. Shklar, Judith: Ordinary Vices, Cambridge (MA) 1984, p. 75. S. Gruen: Water for Elephants, p. 111.

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account is also suggestive of the further connections between authenticity and circus in the way that it makes explicit the Romantic association between childhood and an ›original‹, now lost, self. Circus has always had a special connection with, and claim to, childhood and family life; it is an entertainment whose core identity has been linked historically with the indulgence of unmediated and elementary responses (laughter, fear, awe) and with family attendance. As Charles Lindholm asserts, this »association of authenticity with familial intimacy, spontaneous emotional expressivity, and the overturning of all forms of pretense«18 is itself a product of industrial modernity wherein alienation from a sense of self in the workplace becomes a given and reflects Rousseau’s investment in the idea of childhood as a space of innocence and the ›natural self‹. Thus, as a mode of entertainment born of this period of industrialisation, the circus becomes a strange outlet for desires otherwise suppressed or censored within modern civilisation, a sign of which is the fascination within circus acts for practices, animals, or people from ›primitive‹ societies. For Miles Orvell this »tension between imitation and authenticity is a primary category in American culture«.19 It is this tension which explains why the circus trope in much of American art and culture has become such a complex marker of authenticity, grappling as it does with a perpetually elusive self and culture which has been lost to modernity, adulthood, reproduction and commodification, even while the circus industry itself is simultaneously enthralled by all of these. Yet Gruen’s narrative also pulls at the safeguards placed around both Jacob’s sense of authenticity and that of the circus as a whole, and thus simultaneously shows signs of resistance to the ideology of authenticity (of self and culture) outlined above. There is always a sense, for example, that despite being the novel’s guarantor of authenticity, Jacob is perpetually struggling to be accepted by a generally hostile and defensive circus workforce, a situation accentuated by the context of depression-era America in which all resources are scarce – especially jobs. There is also the question of Jacob’s legitimacy as a veterinarian when he leaves Cornell on the eve of his final examinations after his parents’ fatal crash. When August dismisses Jacob’s missing certificate of qualification as »just a piece of paper, and nobody here gives a damn about that«,20 he confirms that the circus distinguishes positively between authenticity and legitimacy, strongly preferring the former since legitimacy is associated with needless paperwork as opposed to the practice-based demonstration of skills. Uncle Al, the circus owner, is depicted as a man who is insecure in his faith in the authenticity of his own circus, displaying a tetchy intolerance of anyone who even mentions the Ringling Brothers, only because, as Marlena confirms, »he wants to be Ringling«.21 He also fetishes authenticity in his acts, searching out »Not made freaks: not men covered from head to toe in tattoos« instead he »craves real freaks. Born freaks«.22 Tellingly, the detour Al takes to Joliet to buy these »freaks« results in his

18 Lindolm, Charles: Culture and Authenticity, Oxford 2008, p. 6. 19 Orvell, Miles: The Real Thing: Imitation and Authenticity in American Culture, 1880-1940, Chapel Hill 1989, p. xv. 20 S. Gruen: Water for Elephants, p. 47. 21 Ibid., p. 96. 22 Ibid., p. 78.

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purchase of Rosie the elephant, because he believes that all »real« circuses must have one. In fact she proves to be the catalyst for the final demise of both Al and his circus and thus becomes a symbol of the pursuit of a desire for authenticity that proves not only to be impossible but fatal. The twist in the narrative about Rosie, however, is that having purchased this defining act, no one, especially not August the animal trainer, can make themselves understood in order to train her to actually perform in the circus. It is only Jacob, initially the circus outsider but a native Polish speaker, who discovers accidentally that Rosie has been trained exclusively in Polish and thus he is able to unlock her potential as a performer. Despite the various levels of protection against and contempt for ›rubes‹ present in the Benzini Brothers Circus, therefore, the narrative makes it clear that not only is their sense and defence of authenticity determined by opportunism – excluding and including according to need or whim – but their symbols of authenticity (Rosie) may be either meaningless or fatally destructive without the help of those identified as outsiders (Jacob). One of the voices who challenges Jacob’s dogged conviction about his sense of exclusive access to the truth about the circus is his nurse Rosemary who persuades him that, although McGuinty »may be wrong in the details«, he’s »not lying«.23 She goes on: »›Sometimes when you get older – and I’m not talking about you, I’m talking generally… things you think on and wish on start to seem real. And then you believe them, and before you know it they’re a part of your history, and if someone challenges you on them and says they’re not true – why, then you get offended. Because you don’t remember the first part. All you know is that you’ve been called a liar. So even if you’re right about the technical details, can you understand why Mr. McGuinty might be upset?‹«.24

Rosemary’s attempt at persuasion alludes heavily to the work of mythologising which, as Barthes argues »is a type of speech chosen by history: it cannot possibly evolve from the ›nature‹ of things«.25 Jacob’s obsession with authenticating »technical details« is set against an alternative understanding in which there is no true »nature of things«, only a process of »thinking on« and »wishing on« the past which consolidates a version of events through continual narration. Rosemary highlights the role of desire in the construction of historical narratives, desire which may fundamentally re-contextualise or re-shape the very facts or »real« with which they are bound. Her critique of the very possibility of an authentic »real« carries important implications for Jacob’s narrative, and (by implication) other novels which seek to merge historical documentation with romance and adventure genres. Jacob’s narrative is structured in a way that begs many questions about the desires which underlie it and some of these questions emerge from an examination of the use of tense in the novel. It is one of the novel’s oddities that, although it is so overtly framed as the circus reminiscences of »one of the ancient dusty people, filed

23 Ibid., p. 176. 24 Ibid., p. 177. 25 Barthes, Roland: Mythologies, London 1972, p. 110.

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away like some worthless tchotchke«,26 it is overwhelmingly narrated in the present tense, with the only episode in the past tense being the brief prologue. The latter narrates a vivid, violent and transformative episode in both Jacob’s life and the history of Benzini Brother Circus in which all the animals escape from the menagerie and Rosie the elephant drives a stake through the head of her violent trainer, August, who is also the abusive husband of the woman with whom Jacob is in love. The events and implications of the episode remain enigmatic until the scene is replayed towards the end of the novel, this time in the present tense and with the benefit of a long contextualising narrative in advance of it. Again, this structural twist appears to illustrate the point that no one who merely attends a circus can fully understand what they see – can anticipate the risks, detect the hidden desires or appreciate the sacrifices involved in putting on a circus show. As the Disaster March starts up (a clear signal within the circus that »something’s gone bad«) the »poor rubes« sit in their seats unawares.27 It is not until the scene is replayed at the end of the novel (with significant overlaps – even direct quotations – but also differences) that the dangerous and abusive dynamic between Marlena and her husband August, and between him and Rosie the elephant is understood. Only then is it revealed that the female and male pronouns in the sentence »She lifted the stake high in the air and brought it down, splitting his head like a watermelon« refer to Rosie (not Marlena) and August, thus providing what becomes the central narrative enigma of the novel.28 The relationship between the prologue and its later replay in the present tense also opens up questions about the terms of the novel’s realism, specifically the plausibility and authenticity of its depiction of the past. If, as a first-person narrator, Jacob is the source of all the memories, it is odd that his narrative cannot explain the difference between the first account of the stampede and the second. In the first account he claims that he »nearly called out in relief« when he saw Marlena, or »maybe I did. I don’t remember«.29 Why should this memory be marked by an acknowledged gap but the rest of the narrative is not? When Jacob gets to the end of his story and is engaged in conversation with Charlie, the present day circus manager, he declares, »Hell, I remember it better than yesterday« and Charlie declares him a »piece of living history«.30 Why then is both his present and his past life so insistently narrated in the same present tense as though they are equal? Why does he reveal at the very end of the narrative (instead of the beginning) that he tells Charlie the whole story as a process of »absolution«?31 How can the past be summoned so vividly in the present tense when, as Jacob says, it’s not so much that he has forgotten »It’s more like I’ve stopped keeping track« in the uninterrupted tedium of a present where there’s no difference between »three weeks or three years or even three decades of mushy peas, tapioca and Depends undergarments«.32 Thus it becomes fundamentally inauthentic,

26 27 28 29 30 31 32

S. Gruen: Water for Elephants, p. 13. Cf. ibid., p. 2. Cf. ibid., p. 4. Ibid., p. 3. Ibid., pp. 324-325. Ibid., p. 327. Ibid., p. 5.

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within the terms of narrative realism, to be able to present the story in such painstaking realist detail. Are the drugs he is forced to take to adjust his aggressive behaviour following the McGuinty outburst the implied source of his renewed ability to trawl the memories of his deep past in such vivid, present-tense detail? No such realist explanations are offered by the text, which means that the narrative is supported by the paradoxical conceit that, on the one hand there is the faulty memory of an old man and his dreams/nightmares in a retirement home, and on the other the present reality of the circus which the novel, through Jacob, is imaginatively accessing. Thus, these fissures in the plausibility of the present-tense narration of the novel are markers of the labour involved in the novel’s determination to depict an authentic past for the American circus, but it is this very labour and the questions to which it gives rise that confirm and reveal the work of desire in this novel: a desire for an elusive past to which the narrative claims a temporary access through a narrator who himself possesses only a temporary and highly-contestable ownership.

L ITERARY C IRCUS There is also a distinct variety of circus novels which defy or set aside this investment in the idea of authenticity and, hardly surprisingly, this goes hand-in-hand with the deployment of aesthetic forms other than social realism, such as magical realism, allegory and fantasy. Often, though not always, they involve a conceptual interrogation of realism’s capacity to articulate or capture the defining and compelling ingredients of circus as both a set of theatrical practices and a site of important cultural discourses about the body, entertainment, and modernity. Perhaps the first of these is Dickens’ Hard Times (1854) which, as Paul Schlicke has meticulously demonstrated,33 is careful to capture ›insider‹ knowledge of 19th-century circus culture. Yet, as I have argued elsewhere,34 the narrative also deploys the circus as a form of strange structuring loss which, through a variety of tropes and metaphors, haunts the enforced labour, education and loveless existences depicted at the heart of the novel. More recent examples of non-social realist novels about circus include Angela Carter’s Nights at the Circus (1984), John Irving’s Son of the Circus (1995), Peter Carey’s The Unusual Life of Tristan Smith (1994) and Katherine Dunn’s freak show novel Geek Love (1989), as well as the numerous ›circuses of horror‹ such as Ray Bradbury’s Something Wicked This Way Comes (1962) and Will Elliott’s The Pilo Family Circus (2007). All of them use a more populist style of fantasy to explore and exploit longstanding anxieties about the circus as a space harbouring nefarious outsiders, exploitation, cruelty and unfettered or unconscious desires which are allowed to take on material form. Although Morgenstern’s is not a circus of horrors, its central circus, Le Cirque des Rêves, is clearly signposted as a space of dream and fantasy. On the first page we are told that it »arrives without warning« and »is simply there when yesterday it was

33 Cf. Schlicke, Paul: Dickens and Popular Entertainment, London 1985, pp. 137-190. 34 Cf. Stoddart, Helen: Rings of Desire, Manchester 2000, pp. 115-146.

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not«,35 thereby setting up a sharp contrast to Gruen’s carefully researched, historically realist circus. As one reviewer puts it, it presents »a narrative so wilfully contrived that contrivance is its raison d’être«.36 It sets aside questions of authenticity in favour of exploring circus’ relationship to fantasy and illusionism, to the idea of transcending presence and material reality (including that of writing itself), and of literary allusion rather than historical documentation. The narrative starts with a form of prologue entitled Anticipation which clearly constructs a parallel between the novel itself and Le Cirque des Rêves, but does so in a way that opens up significant questions about this alignment. The most obvious connection is that both are constituted in black and white, something which is fundamental to most print-based writing, but which is also a highly idiosyncratic – but much repeated – defining characteristic of this circus (the only things which are not black and white in the circus are the redhaired twins, Poppet and Widget, who are born on the circus’ first opening night). The prologue comes to a close with the words: »Now the circus is open / Now you may enter«,37 a performative statement that makes the narrative’s opening more or less simultaneous with that of the circus. In doing so it announces the novel’s ambition to create a very specifically literary circus, and in turn a self-consciously literary narrative which does not simply represent circus but which aims to bring the performative aesthetics of the circus into its mode of address. In the course of the prologue, however, the narrative draws attention to some of the fundamental tensions between the circus and linguistic accounts of it. When promoting the circus »[w]ord of mouth« recommendations are identified as »a more effective method of advertisement than typeset words and exclamation points on paper pamphlets or posters«, while people »stare at the clock that sits just inside the gates that no one can properly describe«38 and indeed think it doubtful whether »such a wonder of sculpture can even be called a clock«.39 So although this is a novel that declares a fundamental aesthetic, representational, and narrative allegiance with the circus, it also opens with a clear admission that one of the defining dimensions of the circus at the heart of the narrative is its resistance to both the printed (»typeset«) word and to oral-linguistic accounts which can only struggle to »properly describe« it. It is this resistance which the novel both explores but also finally evades. The circus’ name could not be more explicit about its dreamlike qualities and these are emphasised throughout the narrative (»Then the circus was gone, vanished as suddenly as it had appeared, like a fleeting dream«40). The correlation made between circus and dream implies that circus, like dream, belongs to a distinct order of signification and that neither can therefore be ›translated‹ by narrative means. Freud famously argues that the highly condensed nature of »dream-content« means that »it is never in

35 Morgenstern, Erin: The Night Circus, London 2012 [2011], p. 2. 36 Messud, Claire: »A Tale of Magic and Illusion«, in: The Guardian from 23.09.2011, https://www.theguardian.com/books/2011/sep/23/night-circus-erin-morgenstern-review [09.02.20]. 37 E. Morgenstern: The Night Circus, p. 6. 38 Ibid., p. 3. 39 Ibid., p. 4. 40 Ibid., p. 112.

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fact possible to be sure that a dream has been completely interpreted«:41 dream meaning resists interpretation because it cannot be rendered through a form of signification (linguistic) through which it was not constituted. The dream analogy further reinforces the perpetually elusive qualities of the circus: its inaccessible and highly symbolic content forms a core of meaning which many cultures obsessively revisit yet can never fully or finally explain.

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AND

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Whereas Water for Elephants showcases the documentary archival sources from which it is derived, The Night Circus is rich in literary allusions. Literary tropes pervade the novel, as do fictionalised literary accounts of the circus written by Friedrick Thiessen. Thiessen is also a character in the novel who builds »clockwork tributes« 42 to the circus, one of which contains »tiny books«.43 The frequent literary references, mostly Shakespearean, not only reinforce the dreamlike quality of Le Cirque des Rêves but of literature more broadly. They also provide an intertextual framework and a degree of meta-textual reflection on the relationship between literature, circus, dreaming and representation. The first of these is a quotation from Oscar Wilde’s essay »The Critic as Artist« about a »dreamer« being the »one who can only find his way by moonlight«.44 It is followed by the first sentence of chapter one which introduces the magician father of the other central character, Celia Bowen, through his stage name »Prospero the Enchanter«,45 the Shakespearean resonances of which are cultivated throughout the novel. When Prospero disappears, but makes ghostly »visitations« to his daughter, she is provoked to quote Hamlet to him (»there are more things in heaven and earth Horatio than are dreamt of in your philosophy« 46) and the end of the narrative is ushered in with Prospero’s words from Act IV of The Tempest (»We are such stuff as dreams are made on«). The accumulation of references to literature that explicitly evoke literature’s capacity (especially when it is combined with live performance) both to talk about and conjure dreamlike states is allied in the novel with its own internal fictional literature about the circus in the form of Friedrick Thiessen’s circus reviews – one of which, entitled »Nights at the Circus« printed in a London newspaper, allows for an indirect reference to Angela Carter’s novel.47 Excerpts of these reviews are used to preface each of the five sections – or rather acts – of the narrative, with the final section, Divination, seeing him reflect on his role:

41 Freud, Sigmund: »The Dream Work«, in: James Strachey/Angela Richards (Ed.), Introductory Lectures on Psychoanalysis, London 1963 [1913], p. 206. 42 E. Morgenstern: The Night Circus, p. 154. 43 Ibid., p. 367. 44 Ibid., p. 7. 45 Ibid., p. 9. 46 Ibid., p. 407. 47 Cf. ibid., p. 176.

380 | H ELEN STODDART »not as a writer so much as someone who provides a gateway, a tangential route for readers to reach the circus. To visit the circus again, if only in their minds, when they are unable to attend it physically. I relay it through printed words on crumpled newsprint, words that they can read again and again, returning to the circus whenever they wish, regardless of the time of day or physical location. Transporting them at will. When put that way, it sounds rather like magic, doesn’t it?«48

The implication is that whereas the magic of Le Cirque des Rêves is that it enacts a fantastical transcendence of materiality in its capacity to appear, disappear, shrink and expand time, space and matter. Writing about the circus merely provides a series of signposts, a »tangential route« back to thinking about the circus »again« through codified signs on printed pages which are represented here in their degenerated/deteriorated state as »crumpled newsprint«. What is most striking about this characterisation of the relationship between literary account and imagined circus is that the former is framed (here and elsewhere) as a magical attempt to return to the latter (»only in their minds when they are unable to attend it physically« 49). Just as Widget explains to Poppet that magic is »lessened« by being written down in »fancy books«, its power being »removed [...] bit by bit«,50 literature cannot bring the magical effects of the circus into being, it can only offer a retrospective account of what has been in the past and exists only in literature’s ghostly, dreamlike evocations. The effect is to identify literature’s desire for circus as an art form that is perpetually lost to it. As a live art form circus is always deferred into literature’s anticipated and impossible future; as a trope within literature, circus is thus marked by loss (of dreams, live presence, real danger and magic) and a retreat into retrospection, a mood which is also captured in the literary allusions which are scattered throughout the novel. Yet Marco, the male half of the central couple whose love and life together is the central stake of the novel, produces a set of books which has a much more foundational relationship to Le Cirque des Rêves, hidden from all, except from Chandresh (Marco’s employer and Thiessen’s murderer) and Celia Bowen. During a period of writers’ block Chandresh discovers the »old and dusty« 51 books in a drawer. They are halfway between document and art with their »exquisitely detailed drawing of a tree covered in symbols and markings« on the cover and its pages of »densely inscribed« letters that »recall the shape of Egyptian hieroglyphs« and »the contortionist’s tattoo« and are shown to be subject to Marco’s magical powers when he makes them instantly disappear from Chandresh’s disapproving eye.52 Although Marco describes the volumes as his »records for the circus« which go back to its »inception«,53 it is clear that they have a much more talismanic and symbolic value, containing as they do both »the names of each and every person involved with the circus« and an accom-

48 49 50 51 52 53

Ibid., p. 276. Ibid., p. 217. Ibid. Ibid., p. 311. Ibid., p. 313. Ibid., pp. 12-13.

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panying set of »locks of hair«.54 In fact Marco has made a copy of one ›particular volume‹ which he claims is the ›safeguard‹ for the whole circus because it ›binds everyone in the circus‹ and was committed to the first lighting of the perpetual bonfire that sustains the life of the circus.55 These facts are revealed in a scene in which Celia enters Marco’s room, furious at Thiessen’s death (murdered by Chandresh) and covered in his blood. Marco is positioned with a bottle of ink which initially spills across the papers of one of his volumes, but then her fury appears to shatter the bottle, »raining ink over the papers and Marco’s white shirtsleeves«.56 At the centre of this scene are two potentially volatile substances which represent the essential and constituent material forces that are at stake both in this narrative and in this ongoing discussion about circus: blood (as the symbol not only of life force but also the risk of death) and ink (as the symbol of representational inscription). The narrative is driving towards reconciling these symbols in the final romantic unification of Marco and Celia. Yet Marco’s volumes only ignite the circus into life once they disappear into its fire (writing becomes a generative energy only as it disappears and fire is a destructive energy synonymous with historical circus tragedy) and Celia experiences Thiessen’s blood as a devastating reminder of the limits of her magic. Although she demonstrates that she can heal wounds, she cannot return life to bodies once life has ebbed away, just as the circus itself cannot extend its existence beyond the expenditure of its live moment which disappears even as it arrives. It is important to note here that it is the writer’s blood which is spilt – and it is the man who tries to »relay« the circus through »printed words« who is sacrificed. In this sense, this scene succinctly articulates the crisis in the relationship between literature and any live art, but perhaps most especially circus in which the risk to life itself is so frequently at stake in its performances. It presents a volatile and impossible confrontation between a desperate and Romantic desire to inscribe, invent, document and record in order to generate and sustain a circus of the imagination to be perpetuated into the future, and an anxiety about the constant material and cultural fragility of the live circus performance, the transcendence of which through preservation in literary representation results in the spilling of unrecoverable life blood. The novel is not, however, a poststructuralist allegory but a fantasy romance so, unlike Angela Carter’s novel, it does not open up these questions about writing, presence and inscription in any critical or self-reflective way, but rather performs a series of fantastical unifications and substitutions in order to bring about the final romantic unification of Celia and Marco. The circus’ black and white colours connect it both to writing and to the game of chess being played through Marco and Celia by their respective parents/guardians, and is finally absorbed into both a romantic resolution and a symbol for a relative system of signs, as black defines white – and vice versa – »the other person becomes how you define your life«.57 One of the substitutions occurs with Thiessen’s death which appears to be a trigger for the entrance of Bailey (in the following chapter) to leave home to join Le Cirque des Rêves. Bailey (surely a

54 55 56 57

Ibid., p. 311. Cf. ibid., p. 370. Ibid., p. 368. Ibid., p. 438.

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reference to the famous American circus proprietor), is a young boy in love with Poppet and desperate to escape a future his father has mapped out for him as a Massachusetts farmer. He steps into both Celia’s and Thiessen’s roles as the latter dies and the former becomes fully absorbed into her final transcendent position. Celia talks about Thiessen’s importance as the person who »showed me the circus in a way I had not been able to see it before […] how it looked from the outside«;58 Bailey too is from the outside world but finds himself finally its »caretaker« who will »anchor it« to the world, saving it from perpetual suspension and ensuring its future existence59 both by keeping the bonfire lit and also being »tied very tightly to the circus itself«60 at all times. As this episode suggests, Bailey comes to occupy a much more intimate, insider role in the existence of the circus than Thiessen, a destiny which is powerfully signalled when Isobel (Marco’s previous lover) reads his Tarot cards and describes it as »like reading for the circus, and that has only happened to me once before, when I read for Celia«.61 Thus Bailey becomes the lynchpin in the narrative’s resolution in that he combines Thiessen’s ability to ground or »anchor« the circus in the world, and yet also (despite not having any magical power himself) to embody Celia’s convergence with the circus itself (»you carry this circus within yourself« 62) and hence her ability to control and maintain it, protecting those within it now that she is »tired of holding together things that cannot be held«.63Celia’s ambition to disaggregate circus from the »challenge« set up by the two father figures (Prospero and the man in the grey suit) – which involved using it as a giant chessboard on which either Marco or Celia (but not both) could triumph – is to »make the circus independent« not only from this egotistical challenge but also to wrest it from the past since the two father figures seek to cast their determining influence over the lovers and the circus forever. Thus, as Marco, Celia and Bailey cast off their fathers’ control over their futures, Le Cirque des Rêves symbolises a release from the idea of a future that has already been written, or at least one which has been significantly determined. »The irony of this is that this release into an open future of possibility takes place in the narrative’s closing scenes, just as what has been clearly coded as a narrative of heterosexual romance is coming to its predetermined end with the unification of Celia and Marco as a couple. Thus the narrative (self-consciously literary in its account of the gap between signification and signified) creates an interpretative tension between the symbolic weight of the elements of the narrative’s content and the conventional structure of its narrative drive, which are shaped by the terms of its genre as a fantasy romance. Again there is a parallel here with Carter’s Nights at the Circus which also ends with the coupling through marriage of Fevvers and Walser and with the release from an oppressive patriarchal past towards an anticipation of a future of possibilities not yet dreamt of. Yet Carter’s novel is told through a narrative lens which telegraphs its

58 59 60 61 62 63

Ibid., pp. 370-371. Cf. ibid., pp. 341, 449, 457. Ibid., p. 459. Ibid., p. 427. Ibid., p. 441. Ibid., p. 373.

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own meta-critical awareness of the problems of writing desire, history and time; indeed as Christina Britzolakis argues, it continually performs this awareness«.64

Although The Night Circus creates a last ditch investment in an unknown future beyond its own pages, it is precisely because this ending is so dependent on the conventions and allowances of the fantasy genre that it raises questions about the apparent happy ending in the novel’s plot and thus speaks to the ongoing issues of deferment and loss with which I have argued the circus in literature has so frequently become bound. In their freeing Le Cirque des Rêves from the patriarchs’ challenge, Celia and Marco are clearly signalled as attempting to fulfil Chandresh’s previously unrealised desire to create a »transcendent« circus which will »destroy the presumptions and preconceived ideas of what a circus is and make it something else entirely«, but also something that will »undoubtedly take on a life of its own«.65 Nevertheless, the cost of this transcendence is physical presence (realism) since leaving the world and entering the circus means that although »[n]either of them are dead«, they are literally »marvelous«, discernible only indirectly through sound (of footprints) and smell (of perfume).66 Celia and Marco are not really there – only marvellously evoked through imagination and, in this sense, they »are the circus«.67 In a novel in which two of the central characters, Marco and Poppet, are committed to the belief that »[n]othing is impossible«,68 another, Tara, dies almost immediately after she declares she »is not particularly fond of impossible things«.69 Thus the Circus in this novel becomes a figure for the impossible – a transcendent construction that only exists in the pages of a fantasy novel because the circus cannot be captured by narrative; it becomes a metaphor for deferment itself – something always beyond, unifying, marvellous, in a tent just beyond the one you’re in.

C ONCLUSION These two 21st-century novels about the circus are a very long way from each other in terms of their generic and aesthetic identities. Where Gruen’s Water for Elephants is painstakingly researched and plotted in order to present an historically realist account of the circus in depression-era America, Morgenstern’s text is a fantasy narrative which magically strides across space and time. I have argued here that Water for Elephants goes to remarkable lengths not only to be authentic but also to champion authenticity as a cultural value; yet in doing so it opens up several fissures in its claim to both. Gruen’s circus exceeds the level of subject matter in the novel to the point where its aesthetic and cultural identity take on more complex and, at times,

64 Cf., Britzolakis, Christina: »Angela Carter’s Fetishism«, in: Textual Practice 9.3 (1995), pp. 459-476. 65 E. Morgenstern: The Night Circus, p. 74. 66 Cf. ibid., p. 479. 67 Ibid. 68 Ibid., pp. 44, 254. 69 Ibid., p. 190.

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problematic representational and cultural force by revealing the work of mythology within the portrait of circus culture (and culture’s relationship to circus), specifically the mythology of the circus’ special access to cultural and personal authenticity. By contrast, Morgenstern’s circus is self-consciously nebulous as it toys with constructing the circus as a poststructuralist allegory for writing itself, even while its literary allusions and structural parallels with the Romance draw it along a generically conventional narrative arc towards heterosexual coupling. Thus, in very different ways, the articulation of circus in both novels resists or subverts the aesthetic and generic categories outlined above in ways that are suggestive of the many tensions within circus performances themselves which may in different contexts (or even the same ones) be vividly present, authentic, bogus, stereotypical, subversive, dreamlike, conventional or beyond categorisation. It is equally indicative of the aesthetic challenge that circus, as a form of live art filled with anticipation and danger, has always issued to literature as a form of representational art, a challenge so astutely captured in Ali Smith’s Autumn in its depiction of a circus that is always already somewhere else, leaving only its beautiful, ghostly traces.

Authors

Bernard Andrieu is a philosopher and Full Professor in the Faculty of Sport at the University of Paris, and Director of URP 3625 I3SP Institute of Sport and Health Sciences in Paris. Since 2013 he has been developing research projects at the Centre National des Arts du Cirque (CNAC, France). His research focuses on how the living body emerges in the perception of the lived body. Andrieu’s many publications include Body Ecology and Emersive Leisures (2018, Routledge, ed.) and Learning from Your Body: Learning from your Living Body (2017, PURH/CNAC). Gillian Arrighi is Associate Professor in the School of Creative Industries, University of Newcastle, Australia. Her research interests are popular entertainments, acting theory and practice and child actors. Her many refereed journal articles and book chapters appear in scholarly publications such as Theatre Journal, Australasian Drama Studies, New Theatre Quarterly, Early Visual Popular Culture, Theatre Research International and Theatre Dance and Performance Training, and in edited collections. She is editor of the peer-reviewed journal Popular Entertainment Studies (now in its eleventh year of publication), editor of a focus issue on circus for the journal Early Popular Visual Culture (2017) and author of the monograph The FitzGerald Brothers’ Circus: Spectacle, identity and nationhood at the Australian circus (Australian Scholarly Publishing, 2015). Her most recent publishing project is the Cambridge Companion to the Circus, co-edited with Prof. Jim Davis (University of Warwick), due to be published in 2020. Hans Richard Brittnacher is a Professor in Literary Studies and taught at the Institute for German Philology at Freie Universität Berlin (FU) until 2018. He received his doctorate in 1992 on ›Phantastic‹ literature at the Free University Berlin, and habilitated in 2002 on victim discourses in the literature of the fin de siècle at the FU Berlin. His main areas of research include: intermediality of the ›Phantastic‹, the imago of the gypsy in literature and the arts, literary and cultural history of the Goethe Age and the fin de siècle, literature and religion. His last publications include: Leben auf der Grenze: Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst (Göttingen 2012), Phantastik: Ein intermediales Handbuch (ed. with M. May; Stuttgart 2013) and Seenöte, Schiffbrüche, feindliche Wasserwelten: Maritime Schreibweisen der Gefährdung und des Untergangs (ed. with Achim Küpper; Göttingen 2018).

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Camilla Damkjaer is Associate Professor in Performing Arts, Department of Performing Arts, Stockholm University of the Arts. Her research concerns the performing arts, movement practices, philosophies of the body and first-person methodologies of research. Her research focuses on the analysis of the phenomenal and socially constructed experiences of circus, dance and yoga. Theoretically, her work draws together, among other things, phenomenology, Deleuzian scholarship and feminist and post-colonial theory. She is also particularly concerned with the historical, discursive and geo-political implications involved in performing arts and bodily practices. Her PhD thesis focused on the role of movement in Gilles Deleuze’s thinking, and her work includes the publication Homemade Academic Circus: Idiosyncratically Embodied Explorations into Artistic Research and Circus Performance (2016). Tillmann Damrau is an artist. He studied at the Academy of Fine Arts, Munich, Germany. He has had teaching assignments, given lectures and taught workshops at universities in Germany and abroad. In 2007/08 and 2014/15 he was a Visiting Professor at the Institute of Fine Arts of the Philipps University of Marburg, Germany. Since 2016 he has been a Full Professor at the Department of Art and Material Culture of TU Dortmund University, Germany. Margarete Fuchs studied Philosophy and German Literature at Tübingen University, Germany. From 2008 to 2018 she served as Lecturer at Marburg University. There she earned her PhD with a study on The Moving View: The Gaze in the Modern German Literature (Freiburg 2014). Her research focuses on performance studies, Drama and Theatre and Popular Cultures. Katharina Görgen studied Film and Theatre Studies in Mainz and Paris. It was during her year in France that she discovered the French contemporary circus. In her thesis she looked at the differences and similarities between the ›traditional‹ and the ›contemporary‹ circus, and she never missed a circus show while writing her PhD on Bollywood films. As a Lecturer at the University of Cologne she offered classes on circus, and as part of the university’s cooperation with the JNU New Delhi she had the chance to teach circus history in India and got to know the reality of Indian circuses. Currently she works as a Senior Consultant for the Department of Education and Discourse at the Goethe-Institut. Steve Gossard holds a Bachelor’s Degree in Art from Illinois State University (1976) and a Master’s Degree in Art History from ISU (1982). In 1984 he was asked by the Museums Department at Illinois State University to curate an exhibit from the circus collection at Milner Library. His goal from the beginning was to give the circus professionals the credit that they deserved. In 1991 he first published A Reckless Era of Aerial Performance: the Evolution of Trapeze. That same year he was invited to take the position of Curator of Circus Collections at Milner Library at Illinois State University, a job which he held until recently. He has published twelve articles in Bandwagon magazine, and several shorter works in White Tops magazine and Circus Report. He has also written a fictional manuscript which has yet to be published.

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Philippe Goudard is an artist and scientist. As a scientist, he is a Full Professor (Pr Dr) in Performing Arts (MD and PhD in Performing Arts), he practices medicine for artists, and as a researcher, he leads the research programme »Circus: History, Aesthetics, Practices« at University Paul-Valéry Montpellier 3 in France. As an artist, he is the author, producer and actor of about forty original contemporary circus shows developed since the 1970s after his debut as aerialist at Cirque à l’Ancienne Gruss in Paris. He is also working as a theatre actor and director. Urte Helduser is a Lecturer in the Department of German Language and Literature, Cologne University. She held guest professorships at the Philipps University of Marburg (2019/20) and Leibniz University Hannover (2016-18), Germany. In 2014 she habilitated at Marburg University after obtaining her PhD at Kassel University in 2003. Her fields of research include: ›literature and science studies‹, aesthetics, drama and theatre, feuilleton, Austrian Literature, disability studies. Her publications include: Imaginations of the Unborn, Heidelberg 2018 (ed. with Burkhard Dohm), Imaginationen des Monströsen: Wissen, Literatur und Poetik der Missgeburt 16001835, Göttingen 2016, »Monster und Freaks«, in: Der Deutschunterricht 5 (2010); and Geschlechterprogramme: Konzepte der literarischen Moderne, Köln 2005. Anne Hemkendreis earned her PhD in 2013 with a thesis on the monochrome interior scenes of the Danish painter Vilhelm Hammershøi at the Leuphana University in Lüneburg, Germany. In questioning artistic strategies to visualise privacy and inwardness, she used methods taken from the field of iconography and image theory. After working as a Postdoctoral Fellow and Research Assistant, she decided to take the opportunity to become a full-time performer in the world of circus for about three years. Today she passionately teaches and writes on the intermingling of techniques in movement and the history of technology. Furthermore, she developed a new research project which deals with the visualisation and reception of snow in arts from the romantic times until today. Following her deep interest in Northern arts and taking scientific approaches into account, the anthropological, ecological and national meaning of snow as a natural – as well as cultural – phenomena are addressed. After obtaining a scholarship at the Klassik Stiftung in Weimar, Anne Hemkendreis is now working as a Fellow and Research Assistant at the Alfried Krupp Institute for Advanced Study in Greifswald and at the »SFB 948« at Freiburg University, Germany. Jürgen Joachimsthaler (1964-2018) had held the chair for Modern and Contemporary German Literature and Literary Theory at the Philipps University of Marburg, Germany, since 2014. His main areas of research included literature and literary life from the 18th to 21st centuries, in particular Romanticism, classical modernism, post-war literature, contemporary German literature and the interculturality of German literature in contact with the literature of East Central Europe. He is the author of the three-volume Habilitation Text-Margins: The cultural diversity in Central Europe as a problem of representation of German literature, Heidelberg 2011. Anna-Sophie Jürgens is an Assistant Professor at the Australian National Centre for the Public Awareness of Science of the Australian National University. She works in the fields of Popular Entertainment Studies and Science in Fiction Studies. She has

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published on comic performance and science/technology in culture, science in fiction, and the history of (violent) clowns and mad scientists across numerous academic journals. Her recent books include Circus, Science and Technology: Dramatising Innovation (edited; Palgrave Macmillan 2020) and Poetik des Zirkus (Winter 2016). She is guest editor of two special themed journal issues published in 2020 with the Journal of Science & Popular Culture and Comedy Studies. Julia Kerscher studied German Literature, Comparative Literature and Comparative Religion at Tübingen University, Germany. From 2012 to 2013 she served as Lecturer at the German Department of Tübingen University, from 2013 to 2016 as Lecturer at the Cultural Studies Department of Schwäbisch Gmünd University of Education, and from 2016 to 2018 as Scientific Assistant at the German Department of Tübingen University. She published her dissertation on Autodidaktik, Artistik, Medienpraktik. Erscheinungsweisen des Dilettantismus bei Karl Philipp Moritz, Carl Einstein und Thomas Bernhard in 2016. Manfred Niekisch is a biologist and ecologist. He got his PhD from Bonn University. From 2008 until 2017 he was the Director of the Frankfurt Zoological Garden, Germany. In 1998 he became Professor of International Nature Conservation at the University of Greifswald and later at Frankfurt University. From 1983 on he worked as Director for Species Conservation in WWF Germany and from 1989 to 1998 as CEO for OroVerde –- The Tropical Forest Foundation. He held several honorary positions such as President of the Society for Tropical Ecology and is Vice-President of Frankfurt Zoological Society and Global Nature Fund. He is also Advisor to National Geographic. He served as Councillor of IUCN for the maximum possible two terms. In 2017 he was appointed for the third time to the German Advisory Council on the Environment (SRU) by the German government. His main interest lays in the conservation of biodiversity and especially in its importance for local human populations. Cornelia Ortlieb is Professor for New German Literature focusing on Classical Modernism at Freie Universität Berlin. From 2014 to 2019 she was Professor of Comparative Literature at Friedrich-Alexander University Erlangen-Nürnberg, and from 2011 to 2014 Professor for General and Comparative Literature at the Ludwig Maximilian University of Munich, Germany. Her research focuses on German and European Literature of the 18th to 21st centuries, with research projects on Multilinguism of Literature, Artifacts of the Avantgardes 1885-2015 and Drama and Theatre of the Weimar Republic. Trapeze artist Sandy Sun is the creator of »Trapeze danse«, amalgamating contemporary choreography, virtuosity and classic trapeze art. She won the gold medal at the Festival Mondial du Cirque de Demain and a prize from the Fondation Marcel Bleustein-Blanchet pour la vocation. A virtuoso soloist in the greatest circuses and European cabarets and a teacher at professional circus high schools, she conveys her art through master classes, research and teaching. She is a graduate with the Diplôme d’Etat de Professeur de cirque, lecturer at university, associated artist in the research programme »Circus: History, Aesthetics, Practicies« at Montpellier 3 University in

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France, and she is regularly invited to present at international conferences and to publish in international networks. She is touring with a story-telling show »Trapeze, existence-ciel« in France, Belgium, Canada and Brazil. Marion Schmaus studied German, Philosophy and Sociology at the Universities of Munich and Tübingen, during which time she completed dramaturgy-internships at the Frankfurt and Stuttgart Opera. During her doctorate, she went on a research stay at the University of California, Berkeley. In 1999 she completed her doctorate at the University of Tübingen with a study on The poetic construction of the self. Borderlines between early romanticism and modernity: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault (Niemeyer 2000) and habilitated there in 2006 with the study Psychosomatics. Literary, philosophical and medical stories about the emergence of a discourse (1778-1936) (Niemeyer 2009). After working at the universities of Tübingen and Frankfurt, she held the professorship for Modern German Literary Studies with a focus on ethics at the University of Augsburg from 2009-2012, before being appointed to her current professorship for New German Literature at the University of Marburg in 2012. Her areas of work include the interrelation between literature and philosophy, intermediality and fairy tale research. Philipp Schulte is Professor for Theories of Scenography and Performance at the Norwegian Theatre Academy (Fredrikstad) and Managing Director of the Hessian Theatre Academy (Frankfurt/M.). He studied Applied Theatre Studies in Gießen (Germany) and Bergen (Norway), where he finished his dissertation on the topic Identity as an Experiment: Ego-Performances in contemporary theatre. After his doctorate he worked for eight years as a Research Assistant in Gießen. Since 2012, he has led international festival campus and academy formats (Ruhrtriennale, Theaterformen Hannover/Braunschweig, KunstFestSpiele Herrenhausen). As a freelance author and dramaturge he has worked for the Zaungäste (Frankfurt a.M.), Mamoru Iriguchi (Edinburgh), Andreas Bachmair (Amsterdam), Mathias Max Herrmann (Hannover) and the inclusive performance collective I can be your translator (Dortmund), among others. He has published numerous essays and books. Schulte teaches theatre theory at various universities and art schools in Germany and Norway. Jörg Schuster is a Lecturer at the Department of German Literature, Goethe University Frankfurt. He has had guest professorships at Goethe University Frankfurt (2014/15, 2016-2017) and Carl von Ossietzky University Oldenburg (2017-2019). He was a Junior Fellow at Alfried Krupp Institute for Advanced Study in Greifswald (2011-2012), habilitated at the University of Marburg in 2012, and obtained his PhD at the University of Tübingen in 2001. He is Co-Editor of the diaries of Count Harry Kessler. His fields of research include German literature and aesthetics from the 18th to the 21st centuries. Selected publications include: Poetologie der Distanz: Die ›klassische‹ deutsche Elegie 1750-1800, Freiburg i. Br. 2002, »Kunstleben«: Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes, Paderborn 2014 and Die vergessene Moderne: Deutsche Literatur 1930-1960, Stuttgart 2016.

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Helen Stoddart is Senior Lecturer in English Literature at the University of Glasgow where she works on modern and contemporary literature and film. She is the author of Rings of Desire: Circus History and Representation (Manchester University Press 2000) and Angela Carter’s Nights at the Circus (Routledge 2007) and has contributed to Peta Tait and Katie Lavers’ The Routledge Circus Studies Reader (2016). Verena Thinnes is doing her doctor’s degree on theatre and theatricality of Heinrich Mann’s prose at Marburg University. Her further research interests are: 20th century literature, narratology, new economic criticism, and the intersection of textuality and performativity. She studied culture and economics at the universities of Mannheim and Istanbul and German language and literature at Heidelberg University. Before her academic career, Verena Thinnes used to work as an actress for several years. Franziska Trapp is a postdoctoral researcher at the University of Münster and the Université Libre de Bruxelles. She is the founder of the Zirkus | Wissenschaft research project and organiser of international conferences including Semiotics of the Circus (2015) and UpSideDown – Circus and Space (2017). Trapp is at the forefront of circus studies in Germany. In the past, Trapp has worked for various circus productions such as the Festival Mondial du Cirque de Demain and Cirque Bouffon and successfully completed the Certificate en dramaturgie circassienne (CNAC and ESAC). She was awarded third place as Germany’s Best Junior Research Talent of 2019 (Academics/Die Zeit). Ante Ursić is a circus practitioner and PhD candidate at the University of California, Davis. His dissertation investigates human-animal relationships in contemporary circus. He is especially interested in the aesthetic-political sphere and explores how that relates to different understandings of animality. As a circus artist, he was awarded a gold medal from the festival SOLyCIRCO and a special prize from the festival Cirque du Demain. He has successfully produced projects of his own and in collaboration. He performed with established companies such as Cirque du Soleil (Totem), Tiger Lillies Circus, Balagan and Circus Roncalli. Ursić holds a Bachelor of Dance, Context, Choreography with distinction from Inter-University Center of Dance, Berlin, and a distinguished Master’s degree in Performance Studies from New York University. His research has been supported by the German Academic Exchange Programme, the Social Science Research Council and the Andrew W. Mellon Foundation, among others. Gisela Winkler is the co-founder of the Zirkusarchiv Winkler (Circus Archive Winkler), Berlin. She studied German and English language and literature at the University of Rostock, and graduated with a degree in German Studies in 1967. She worked as an editor at the publishing house ›Zeit im Bild‹ in Dresden, and from 1969 at the Henschel publishing house ›Kunst und Gesellschaft Berlin‹, where she was head of the editorial office for popular entertainment from 1975 to 1993. In 1994/95 she obtained a research scholarship for womenʼs studies from the Berlin Senate. From 1996 to 2001 she was project manager at the Childrenʼs and Youth Circus Cabuwazi, and from 2001 to 2019 she did freelance work there for public relations and documenta-

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tion. Since 2013 she has been a member of the board of the ›Circus macht stark‹ sponsorship project and since 2019 a member of the project team. Dietmar Winkler is the co-founder of the Zirkusarchiv Winkler (Circus Archive Winkler), Berlin. From 1969 to 1981 he held management positions in central institutions of Deutsche Post, engaged in distance learning in business administration at the Dresden University of Transportation, and earned a degree in Engineering Economics in 1976. From 1982 to 1990 he was head of the press office of the GDR State Circus, then press spokesman of the Berlin Circus Union GmbH until 1999. He worked as a specialist journalist and publicist, with constant collaboration on the trade journal for showmen and market traders »Der Komet«. For about 60 years he has been building and running the private circus archive Winkler. He has individually and collectively published numerous books and magazine articles on circus history, current circus and variety shows as well as circus education.

Dank

Der Sammelband Manegenkünste: Zirkus als ästhetisches Modell vereint eine Vielzahl wissenschaftlicher Beiträge von einschlägig ausgewiesenen Autorinnen und Autoren, die sich den hochkomplexen und von der deutschsprachigen Forschung bisher wenig beachteten Manegenkünsten widmen. Die Aufsätze des Bandes diskutieren die ästhetische und kulturelle Produktivität und Relevanz von Zirkus sowie die kulturelle(n) Identität(en), die er verkörpert. Sie bringen das performative, poetische, selbstreflexive und transgressive Potential des kulturellen Phänomens Zirkus ans Licht, wobei sich die Kulturraumverdichtung Manege als überaus produktiver Gegenstand für eine disziplinübergreifende Forschung erweist. Die Texte basieren auf Vorträgen, die auf der Konferenz »Manegenkünste« vom 17. bis 19. November 2016 an der Philipps-Universität Marburg vorgestellt wurden. Die Konferenz wurde durch eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und mit der freundlichen Unterstützung durch den Ursula-Kuhlmann-Fonds ermöglicht. Ergänzt werden die Beiträge durch Perspektiven von internationalen Vertreterinnen und Vertretern der Zirkusforschung. Ihnen allen danken die Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes an erster Stelle nachdrücklich, insbesondere für die intensive Arbeit an den jeweiligen Texten. Für die Drucklegung des Bandes sei der Baumgart-Stiftung sehr herzlich gedankt, die mit ihrer freigiebigen und freundlichen Unterstützung grundlegend zur Realisierung des Sammelbandes beigetragen hat. Ein ganz besonders großer Dank richtet sich zudem an Dr. Dieter und Christa Glatzle, deren ungemeine Großzügigkeit das ganze Buchprojekt letztlich ermöglichte. Ein Dankeschön geht an Katharina Benz, Oldenburg, Katrin Lüdeke, Oldenburg/ Hamburg, Anthea Schulze-Bünte, Frankfurt am Main, Melanie Schmidt, Frankfurt am Main (Redaktionsarbeit). Und nicht zuletzt geht ein nachdrückliches Dankeschön an Angelika Wulff (Satz & Korrektorat), Dr. Rebecca Hendershott (Lektorat der englischen Texte) und Jürgen Bürgin (Titelfoto). Sie alle tragen essentiell dazu bei, den Weg für eine international und interdisziplinär ausgerichtete Zirkusforschungsforschung im deutschsprachigen Raum zu ebnen. Marburg und Canberra, Juli 2020 Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Dank

Der Sammelband Manegenkünste: Zirkus als ästhetisches Modell vereint eine Vielzahl wissenschaftlicher Beiträge von einschlägig ausgewiesenen Autorinnen und Autoren, die sich den hochkomplexen und von der deutschsprachigen Forschung bisher wenig beachteten Manegenkünsten widmen. Die Aufsätze des Bandes diskutieren die ästhetische und kulturelle Produktivität und Relevanz von Zirkus sowie die kulturelle(n) Identität(en), die er verkörpert. Sie bringen das performative, poetische, selbstreflexive und transgressive Potential des kulturellen Phänomens Zirkus ans Licht, wobei sich die Kulturraumverdichtung Manege als überaus produktiver Gegenstand für eine disziplinübergreifende Forschung erweist. Die Texte basieren auf Vorträgen, die auf der Konferenz »Manegenkünste« vom 17. bis 19. November 2016 an der Philipps-Universität Marburg vorgestellt wurden. Die Konferenz wurde durch eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und mit der freundlichen Unterstützung durch den Ursula-Kuhlmann-Fonds ermöglicht. Ergänzt werden die Beiträge durch Perspektiven von internationalen Vertreterinnen und Vertretern der Zirkusforschung. Ihnen allen danken die Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes an erster Stelle nachdrücklich, insbesondere für die intensive Arbeit an den jeweiligen Texten. Für die Drucklegung des Bandes sei der Baumgart-Stiftung sehr herzlich gedankt, die mit ihrer freigiebigen und freundlichen Unterstützung grundlegend zur Realisierung des Sammelbandes beigetragen hat. Ein ganz besonders großer Dank richtet sich zudem an Dr. Dieter und Christa Glatzle, deren ungemeine Großzügigkeit das ganze Buchprojekt letztlich ermöglichte. Ein Dankeschön geht an Katharina Benz, Oldenburg, Katrin Lüdeke, Oldenburg/ Hamburg, Anthea Schulze-Bünte, Frankfurt am Main, Melanie Schmidt, Frankfurt am Main (Redaktionsarbeit). Und nicht zuletzt geht ein nachdrückliches Dankeschön an Angelika Wulff (Satz & Korrektorat), Dr. Rebecca Hendershott (Lektorat der englischen Texte) und Jürgen Bürgin (Titelfoto). Sie alle tragen essentiell dazu bei, den Weg für eine international und interdisziplinär ausgerichtete Zirkusforschungsforschung im deutschsprachigen Raum zu ebnen. Marburg und Canberra, Juli 2020 Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3

Birgit Althans, Kathrin Audehm (Hg.)

Kultur und Bildung – kulturelle Bildung? Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2019 2019, 144 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4463-0 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4463-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de