Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale: Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell 9783839432617

This study evinces the relevance of Lacan's three orders, both within and without the scope of psychoanalytic doctr

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German Pages 292 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Vorangestellt: Der Entwurf einer Trias
Wie Lacan die drei Ordnungen in den Diskurs gebracht hat
Teil 1. Das Symbolische
0) Ernst Cassirer und der Gang der Naturwissenschaften
1) Henri Bergson und der Raum des Operablen
2) Claude Lévi-Strauss’ methodologische Binarität
Zusammenfassung: Eine Traditionslinie des Symbolischen
Zusammenfassung: Bestimmungen des Symbolischen aus erkenntnistheoretischer Perspektive
Teil 2. Das Imaginäre
Cassirers Außersymbolisches
Lacans Außersymbolisches
Uexküll im Spiegelkabinett des Analytikers
Lévi-Strauss und die Erkenntnis durch Systeme
Das Imaginäre II: Aspekte von Intentionalität und Bildlichkeit
Zusammenfassung: Die Figur des Imaginären
Zusammenfassung: Die Bestimmungen des Imaginären und die Rolle des Beobachters
Teil 3. Das Reale
Lacans frühe Referenz: Émile Meyerson
Meyersons Trias: Die Gesetzlichkeit, die Kausalität und: Carnot!
Meyerson II. – Ein funktionales Reales
Die Kategorienlehre von Charles S. Peirce: Eine Überprüfung im logischen Raum der Phänomene
Rest
Literatur
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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale: Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell
 9783839432617

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Frank Wörler Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Editorial »Aus praktischen Gründen haben wir, auch für unsere Publikationen, die Gewohnheit angenommen, eine ärztliche Analyse von den Anwendungen der Analyse zu scheiden. Das ist nicht korrekt. In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet.« (Sigmund Freud, Nachwort zur Laienanalyse, 1926, StA Erg.Bd., 348) Die Reihe Psychoanalyse stellt Anwendungen der Psychoanalyse dar, d.h. Arbeiten, die sich mit den Bildungen des Unbewußten beschäftigen, denen wir in der analytischen Kur, in kulturellen und gesellschaftlichen Erscheinungen, aber auch in den Theorien und Forschungsmethoden der Wissenschaften sowie in den Erfahrungsweisen und Darstellungsformen der Künste begegnen. Psychoanalytische Praxis und Theoriebildung stützen sich nicht allein auf die Erfahrungen der analytischen Kur. Sobald ein Psychoanalytiker aber versucht, sein eigenes Tun zu begreifen, begibt er sich in andere Gegenstandsbereiche und befragt andere Disziplinen und Wissensgebiete und ist damit auf die Arbeiten von Wissenschaftlern und Künstlern angewiesen. Insofern exportieren die Anwendungen der Psychoanalyse nicht lediglich nach Art einer Einbahnstraße die Erkenntnisse einer ›fertigen‹ Psychoanalyse in andere Gebiete, Disziplinen und Bereiche, sondern sie wendet sich auch an diese und wendet diese auf sich zurück. Ohne den eingehenden Blick auf die Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Mythologien, Literatur und bildenden Künste konnte die Psychoanalyse weder erfunden noch von Freud und seinen Schülern ausgebaut werden. Ein Forum dafür war die 1912 gegründete Zeitschrift und Buchreihe »Imago«, die sich der Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur und die Geisteswissenschaften gewidmet hat; später nannte sie sich allgemeiner »Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen«. Die dort erschienenen Arbeiten sollten andere Disziplinen befruchten, der psychoanalytischen Forschung neue Gebiete erschließen, aber auch in jenen anderen Bereichen Modelle und Darstellungsmöglichkeiten für die psychoanalytische Forschung ausfindig machen. In der Hoffung auf ein ähnlich gelagertes Interesse von der anderen Seite her, also in der Hoffnung, daß »Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben« (Freud, Frage der Laienanalyse, StA Erg. Bd., 339), wurde um 1920 sogar eine spezielle Art von Lehranalyse« eingerichtet, denn:

»Wenn die Vertreter der verschiedenen Geisteswissenschaften die Psychoanalyse erlernen sollen, um deren Methoden und Gesichtspunkte auf ihr Material anzuwenden, so reicht es nicht aus, daß sie sich an die Ergebnisse halten, die in der analytischen Literatur niedergelegt sind. Sie werden die Analyse verstehen lernen müssen auf dem einzigen Weg, der dazu offensteht, indem sie sich selbst einer Analyse unterziehen.« (Freud, ebd.) Für Freud war klar, daß die Erforschung des Einzelmenschen eine Frage der Sozialpsychologie ist, denn »im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht« (Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, GW Bd. XIII, 73). Ihn interessierte auch, auf welche Fragen überlieferte und zeitgenössische Kulturphänomene wohl eine Antwort darstellen und wie derartige Kultursymptome sich bilden, oder welcher Illusionen Menschenwesen fähig sind, und auch, welche organisierten (neuen und alten) Bedrohungs- und Heilsphantasmen ihnen von Religion und Massenmedien aufgedrängt werden. Er befaßte sich also einerseits mit den Mechanismen und Funktionen, vermittels derer Kulturelles im Psychismus wirkt, und andererseits mit dem inneren Funktionieren kultureller Gebilde und Prozesse. (Zu letzterem gehören die Motive, die Ökonomien und die Überlieferungswege kultureller Vorgänge, die ja auch Bildungen des Unbewußten sind: kulturelle Zensur, Reaktionsbildungen, Symptombildungen, Regressionen, Sublimierungen usw.) Zugleich erkannte er, daß »manche Äußerungen und Eigenschaften des Über-Ichs [...] leichter bei seinem Verhalten in der Kulturgemeinschaft als beim Einzelnen« zu erkennen sind. Aufgrund der zumeist unbewußten Natur der »Aggressionen des Über-Ichs« seien die zur Gewissensangst »gehörigen seelischen Vorgänge uns von der Seite der Masse vertrauter, dem Bewußtsein zugänglicher [...] als sie es beim Einzelmenschen werden können« (Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930, GW Bd. XIV, 502). Einige wesentliche Elemente seiner Theorie sind für Freud vorzugsweise als »Spiegelung« in kulturellen Erscheinungen beobachtbar. So zeigten manche »der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich« sich viel deutlicher im Bereich der Religionen. Diese Strategie, etwas allein theoretisch Erschlossenes dort erkennbar zu machen, wo es sich wie »auf einer weiteren Bühne wiederholt« (Freud, Nachschrift 1935, GW Bd. XVI, 32), verfolgt Freud auch mit seinem Versuch, »einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker« (so der Untertitel von »Totem und Tabu«) herauszuarbeiten. Freuds wissenschaftliches Projekt einer Erschließung des ›unerkennbaren‹ Unbewußten – Vorgänge, Inhalte, psychische Gebiete und Strukturen – ist die Darstellung dessen, was er das »Reale« nennt. Diesem Realen, das »immer ›unerkennbar‹ bleiben« (Freud, Abriß der Psychoanalyse, 1940,GW Bd. XVII,

126) wird, begegnet der Psychoanalytiker in erster Linie in Gestalt des Symptoms. Er kann in seiner Forschung nicht auf Versuche anderer Wissenschaften und Künste verzichten, das unerkennbare Reale zu erfassen und darzustellen. Freud wird dabei notwendigerweise selbst zu einem psychoanalytischen Kulturforscher und zu einem wissenschaftlichen Dichter, der seine Theorie der Urhorde »unseren Mythus« und die Triebe »unsere Mythologie« nannte. Jacques Lacan hat sich u.a. von der surrealistischen Bewegung inspirieren lassen, und seine Lehre entsteht aus der Verbindung der klinischen Beobachtung, des Studiums des Freudschen Textes, der kritischen Würdigung der zeitgenössischen psychoanalytischen Literatur im Durchgang durch die Philosophie, linguistische Theorien, Ethnologie, Literatur und Mathematik (Topologie). Der Begegnung der Psychoanalyse mit anderen Wissenschaften und Künsten eignet ein Moment der Nicht-Verfügbarkeit, des Nicht-Verfügens, ein Moment, das Verschiebungen und Veränderungen mit sich bringt. Dadurch entstehen auch in der Psychoanalyse Spielräume für neue Konfigurierungen. In diesem Sinne geht es in der Schriftenreihe um den Stoffwechsel zwischen Psychoanalyse, den Wissenschaften und den Künsten. Nicht nur die psychoanalytische Forschung, sondern auch die psychoanalytische Kur ist von Sigmund Freud als »Kulturarbeit« verstanden worden: sie wirke der »Asozialität des Neurotikers«, der »Kulturfeindschaft« der Menschen und insofern der Barbarei entgegen. Die Reihe wird herausgegeben von Karl-Josef Pazzini, Claus Dieter Rath und Marianne Schuller.

Frank Wörler promovierte an der Hochschule für bildende Künste HFBK Hamburg. Er forscht zu französischer Philosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.

Frank Wörler

Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell

Der vorliegende Text wurde 2014 an der HfbK Hamburg als Promotion zum Dr. phil. in art. angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: carölchen / photocase.de Lektorat & Korrektorat: Herbert Rauner Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3261-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3261-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 11

V orangestellt : D er E nt wurf einer T rias Wie Lacan die drei Ordnungen in den Diskurs gebracht hat  | 21

T eil 1 – D as S ymbolische 0) Ernst Cassirer und der Gang der Naturwissenschaften  | 43 1) Henri Bergson und der Raum des Operablen  | 69 2) Claude Lévi-Strauss’ methodologische Binarität  | 81 a) Nicht alles ist symbolisierbar | 82 b) Mytheme und der Code als Code | 84 c) Der flottierende Signifikant | 89

Zusammenfassung: Eine Traditionslinie des Symbolischen  | 91 Zusammenfassung: Bestimmungen des Symbolischen aus erkenntnistheoretischer Perspektive  | 93

T eil 2 – D as I maginäre Cassirers Außersymbolisches  | 97 Lacans Außersymbolisches  | 101 Uexküll im Spiegelkabinett des Analytikers  | 103 Lévi-Strauss und die Erkenntnis durch Systeme  | 127 Das Imaginäre II: Aspekte von Intentionalität und Bildlichkeit  | 131 1) Intentionalität als fundamentale Bestimmung des Imaginären | 132 Einschub: Introjekt – Objekt – Ich: Unschärfen der Lokalisation und die psychoanalytischen Begrifflichkeiten | 140 2) Jean-Paul Sartre: Das noematische Korrelat der Vorstellungskraft | 144 3) Jacques Lacan: Der Register dreien | 154 Exkurs: Maurice Merleau-Ponty: Das Ding vor dem Menschen | 157

Zusammenfassung: Die Figur des Imaginären  | 165 Zusammenfassung: Die Bestimmungen des Imaginären und die Rolle des Beobachters  | 169

T eil 3 – D as R eale Lacans frühe Referenz: Émile Meyerson  | 185 Meyersons Trias: Die Gesetzlichkeit, die Kausalität und: Carnot!  | 189 Meyerson II. – Ein funktionales Reales  | 217 Die Kategorienlehre von Charles S. Peirce: Eine Überprüfung im logischen Raum der Phänomene  | 227 Exkurs: Das Reale und das psychische Trauma | 253

Rest  | 259 1) Die erkenntnistheoretische Position | 259 2) Die Problematik der Verwechslung von Imaginärem und Realem | 263 3) Rekapitulation des Vorgehens und Ausblick | 271

Literatur  | 277

Vorwort

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist ein kleiner Ausschnitt aus dem umfangreichen Theoriegebäude des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan: eine Trias aus den Termini das Symbolische, das Imaginäre und das Reale, bekannt auch als die drei Ordnungen oder die drei Register. Diese drei, die Lacan als fundamentale Register menschlicher Realität einführt, sind ein zentraler Bestandteil der Lehrtätigkeit des Psychoanalytikers. In der Rezeption bezieht man sie vor allem auf entweder intrapsychische – also psychodynamische – oder aber intersubjektive Strukturen. Ob sie auch als allgemeine Erkenntnisregister taugen, ist für die ersten Jahre ihrer Entfaltung durch Lacan ungewiss. Jeder der Begiffe stammt aber, für sich genommen, aus erkenntnistheoretisch relevanten Kontexten, wie der Philosophie oder den Naturwissenschaften. Dieses Buch widmet sich einer epistemologischen Reformulierung der drei Ordnungen, gesetzt als kategoriale Register menschlichen Weltzugangs. Dazu ziehe ich Diskurselemente und Theoriefiguren heran, die auch Lacan bei der ersten öffentlichen Präsentation im Jahre 1953 zur Verfügung standen. In den meisten Fällen folgt die thoeriegeschichtliche Recherche den kargen Hinweisen, die sich aus dem Lacan’schen Werk selbst ergeben oder biographischem Material aus sekundären Quellen. In diesem Sinne zeigen die Ausführungen eine gewisse Treue zum Denken Lacans in den fünfziger Jahren. Andererseits werden die drei Begriffe unter Berücksichtigung ihrer Ursprungsdiskurse in Hinblick auf eine transdisziplinäre erkenntnistheoretische Aussage rekonstruiert. Es zeigt sich, dass die Auswertung der verschiedenen Diskurskontexte der drei Termini bedeutsame Aspekte sowohl für die Psychoanalyse als auch für eine epistemologisch belastbare Trias liefert. Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale in einer jeweils funktional verstandenen Fassung sind geeignet, als kategoriale epistemologische Trias den psychoanalytischen Rahmen zu verlassen. Ein Nebeneffekt dieser Unternehmung ist eine erste Sichtung und die Kommentierung der in Vergessenheit geratenen Epistemologie des Chemikers

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Émile Meyerson für den deutschen Sprachraum. Erkenntnistheoretische Strömungen des angehenden 20. Jahrhunderts, vertreten durch Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss, Henri Bergson, Jean-Paul Sartre und Maurice MerleauPonty werden in Bezug auf einen möglichen triadischen Weltzugang des Menschen analysiert und kontextualisiert. Im Sinne einer Überprüfung wird das Ergebnis abschließend mit der ebenfalls triadisch organisierten Phänomenologie Charles Sanders Peirce’ konfrontiert. Wer ein Buch über das Werk Lacans erwartet, mag enttäuscht werden. An Lacan interessierte Leser dürften aber dennoch von den zahlreichen Referenzen profitieren, die ich etwas detaillierter bespreche als dies im Rahmen einer Lacan-Monographie geschehen könnte. Was in biographischen Schriften nur kurz anklingen kann, soll hier im Einzellfall eine Gestalt erhalten; denn über die oberflächlich bekannten Theoreme hinausgehend finden sich im Denken ihrer Urheber auch Tendenzen und Potentiale, die Lacan bei der Konzeption seiner Version eines Symbolischen, eines Imaginären und eines Realen beeinflusst haben könnten. Diese punktuelle Recherche erschließt einzelne erkenntnistheoretische Positionen, deren Gewicht in ihrer Zeit unbestritten war, die für unsere heutige Zeit jedoch erst wieder neu erschlossen werden müssen, da sie seit langem nicht mehr dem allgemeinen Gedankengut angehören. Beispielsweise ist die Bedeutung Ferdinand de Saussures für Lacans symbolische Ordnung ausführlich kommentiert worden. Dass im Symbolischen aber auch anthropologische und allgemeine methodologisch motivierte Elemente enthalten sind, ist weniger bekannt. Lacan selbst äußert sich in den siebziger Jahren vergleichsweise selbstkritisch zu seinen linguistischen Anfängen.1 Er gibt uns zu verstehen, dass die Saussure’sche Vorlage nicht geeignet war, zu fassen, was er als Symbolisches angedacht hatte. Meine Forschung zielt dementsprechend auf alternative Theorien, die epistemologisch relevante Bestimmungen einer symbolischen Ordnung erschließen – eines Symbolischen, das sich bereits im 19. Jahrhundert zum dominierenden Register der Wissenschaften entwickelt hatte. Die Physiker Heinrich Hertz und Hermann von Helmholtz stehen emblematisch für eine methodisch notwendig gewordene Abstandnahme vom physikalischen »Dingan-sich«. Mit anderen Worten: Die Physik hat nicht mehr die Wirklichkeit zum Gegenstand, sie begnügt sich vielmehr mit Quantifizierungen und Formeln, deren Legitimität schon dann gegeben ist, wenn sie eine zuverlässige Prädiktion von Prozessen und Ergebnissen ermöglichen. Sie operiert mit interope1

»[J]’ai du macher ensuite l’histoire du symbolique, avec cette référence linguistique pour laquelle je n’ai pas trouvé tout ce qui m’aurait arrangé … « Lacan, Jacques, Ornicar No.3, S. 102, zit. nach: Balat, Michel. (1992) Le Musement, de Peirce à Lacan, S. 8. Quelle: http://www.balat.fr/Le-Musement-de-Peirce-a-La can.html, zuletzt aufgerufen am 25.11.2013.

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rablen Symbolen. Der große Philosoph der symbolischen Formen, Ernst Cassirer, rekurriert in seinem gesamten Werk immer wieder auf Helmholtz. Als Kulturphilosoph bekannt geworden, hat sich Cassirer in seinem Frühwerk mit allgemeinen erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt. In Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) beschreibt er, sich auf naturwissenschaftlichem Terrain bewegend, die Überlegenheit eines funktionalen Symbolischen gegenüber substanzbezogener Klassifikationssysteme. Der Einfluss Cassirers auf die anthropologische Gemeinde seiner Zeit und damit auch auf den Exilianden Claude Lévi-Strauss darf als gewiss angesehen werden.2 Wenn Lacan seine drei Ordnungen von Beginn an in direkter Bezugnahme auf Lévi-Strauss präsentiert, so ist damit also nicht nur eine Verbindung zu Saussure hergestellt, sondern auch eine Referenz zu kulturphilosophischen Konzepten benannt. Das Symbolische als spezifisch menschliche Weise, die Welt zu erschließen – und zu erschaffen –, geht über die linguistischen methodologischen Überlegungen Saussures hinaus. Dieser erweiterte Diskurshorizont mag dazu beitragen, Lacans Ausführungen in ihrer Vielschichtigkeit nachzuvollziehen. Indem ich die Traditionslinie Helmholtz - Cassirer ausführlich darstelle, die bekannten Philosopheme Saussures hingegen eher vernachlässige, hoffe ich, einen bislang wenig beachteten Anknüpfungspunkt an wissenschaftstheoretische Positionen bereitstellen zu können. Saussures allgemeine Sprachtheorie kann als methodologische Konzeption aufgefasst werden, die ebenfalls die Abstandnahme von inhaltlicher Begründung anstrebt – wie dies paradigmatisch von Auguste Comte gefordert wurde.3 Auf einen systematischen Vergleich habe ich, zugunsten einer ausführlichen Entwicklung der beiden verbleibenden Lacan’schen Register eines Imaginären und eines Realen, mittels weiterer Gewährsleute, dennoch verzichtet. Neben Jakob von Uexküll, dessen Denkstil es mir wert erschien, mit längeren Zitaten bedacht zu werden, ist es für das Register des Imaginären vor allem der Psychologe Franz Brentano, dessen Darlegungen zur Intentionalität schon früh Lacans explizite Beachtung finden.4 Das Imaginäre als methodologische Figur findet sich wiederholt als argumentatives Mittel, die Kluft zwischen Gegenstand und Objekt, zwischen innen und außen, zwischen Individuellem und Allgemeinem zu schließen; oder wie bei Sartre – im Anschluss an Brentano –, ein Objekt als Gemeintes vor seiner Verdopplung im Raum der Repräsentation zu bewahren. Das Imaginäre ist ein einendes Prinzip. Während es auf der Ebene der Perzeption 2

3 4

Vgl. Katzmair, Harald, (1999) »Soziologie und Sozio-logik symbolischer Formen. Die erkenntnistheoretischen Modelle von Ernst Cassirer, Claude LéviStrauss und Pierre Bourdieu«, S. 5, in: Kaschl, Helga (Red.), IWK. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 54. Jahrgang 1999, Nr. 2-3: Symbol – Struktur – Kultur (...), Zeitschrift, Wien, 1999, S. 2-7. Comte, Auguste, (1844) Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg, 1979. Lacan, Jacques, (1932) Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, Wien, 2002, S. 245.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

im Prozess des Wiedererkennens leicht ausgewiesen werden kann, ist es allerdings auch in höheren kognitiven Prozessen wirksam: Der Epistemologe Émile Meyerson sieht in Formen des Kausalitätsdenkens, im menschlichen Drang zu erklären und im Beharren auf Bekanntes ein wesentliches Denkprinzip, das ich mit dem Lacan’schen Imaginären engführe. Meyerson, der beispielsweise das Atomprinzip wissenschaftshistorisch hinterfragt, will zeigen, dass das Comte’sche Diktum, nur nach Gesetzen und nicht nach Ursachen zu fragen, nirgends in der Wissenschaft eingehalten wurde und wird. In einer konstruktiven Wendung ist es von hier aus möglich, die epistemologische Dimension des Kausalitätsprinzips, des Erklärungsdrangs, mithin des Imaginären als ein jedem Erkenntnisprozess inhärentes Fundamentalprinzip auszuweisen. Meyersons kritische Auseinandersetzung mit dem Comte’schen Erbe mag Lacan angeregt haben, neben das Symbolische, das sich abstrakt – mittels arbiträrer Zeichen – auf Gesetzmäßigkeiten bezieht, weitere Ordnungen zu stellen. Spuren eines fixierenden, inerten, wesentlich nicht-diskursiven Imaginären findet er nicht nur bei Meyerson, sie durchziehen auch die phänomenologische Konzeption Jean-Paul Sartres Buch L’imaginaire. Sartre stellt seinem Imaginären, verstanden als Irreales, ein Reales entgegen: zwei intentionale Arten und Weisen, sich auf ein Objekt zu beziehen, die sich gegenseitig ausschließen. Lacan übernimmt von Sartre den insofern phänomenologischen Aspekt, als das Objekt das selbe bleibt, während die Art der subjektiven Bezugnahme – imaginär, real – wechselt, und damit die Frage des ontologischen Status des Objektes (vor allem des inneren Objekts) zunächst unbeantwortet bleiben kann. Lacan verlässt Sartres Position allerdings in der Auffassung, dass sich Reales und Imaginäres grundsätzlich überlagern können. Ein solcher Standpunkt wird, ebenfalls in phänomenologischer Tradition hergeleitet, von Maurice Merleau-Ponty vorgetragen.5 Lacan dürfte beide Philosophen im Blick gehabt haben, als er Imaginäres und Reales zusammen mit dem Symbolischen zu einer Trias schmiedet. Das Reale ist zunächst als phänomenologischer Begriff im Diskurs präsent. Doch was kann ein solches Register des Realen leisten, vor allem für erkenntnistheoretische Fragestellungen? Wenn sich Imaginäres und Reales als psychologische intentionale Formen überlagern, welche Erkenntnisfunktion kann einer Ordnung des Realen zugewiesen werden? Lacan dürfte gerade in Bezug auf das Reale den Epistemologen Meyerson im Blick gehabt haben. Dass Dylan Evans Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse unter dem Lemma »real/das Reale« Meyerson anführt, hilft indes nur wenig für das Verständnis der Begrifflichkeit. Wie meine Nachforschungen ergeben haben, zitiert Evans 5

Vgl. hierzu das nach Fertigstellung dieser Dissertation erschienene Buch: Carron, Guillaume, (2014) La désillusion créatrice. Merleau-Ponty et l’expérience du réel, Genf, 2014, insb. S. 45-61.

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Meyerson in verkürzter, wenn nicht entstellender Weise. Meyersons Verständnis des Realen ist ein subtil am wissenschaftlichen Diskurs entlang entfaltetes kritisches Denkgebilde. Auf keinen Fall reduziert Meyerson das Reale auf einen ontologischen Terminus, wie er mit Sein oder Existenz fixiert werden könnte. Meyersons Reales ist durchaus epistemologischer Natur. In seinem ersten großen Werk Identité et Réalité (1908) setzt er sich für das Prinzip des Werdens ein und folgt darin Henri Bergsons Kritik an unserer verräumlichenden und quantifizierenden rationalen Denktradition. Das Reale ist nach Meyerson das Gegenteil von Identität und Kausalität, es ist nicht-identisch und irrational.6 Da es eine Erkenntnisform und keine ontologische Form ist, kann es auch im fiktionalen Register, beispielsweise in Literatur oder Theater, nachgewiesen werden. Es steht in einer sehr spezifischen Weise für die Erfahrung von Wirklichkeit. Meyerson wendet sich vielfach gegen die Sonderung von Alltagswahrnehmung und wissenschaftlicher Erkenntnisform. Letzteres gilt auch für den Logiker Charles Sanders Peirce. Mit Peirce überprüfe ich abschließend die Bestimmungen, die ich für ein Symbolisches, ein Imaginäres und ein Reales zusammengetragen habe. Es gibt aus den letzten Jahren hervorragende Untersuchungen, die das Verhältnis Lacan - Peirce zum Inhalt haben.7 Es handelt sich um sehr weitreichende Vergleiche und Engführungen, die mindestens die gesamte Theorie Lacans in den Blick nehmen, wo sie nicht sogar versuchen, auch der Peirce’schen Philosophie im Ganzen zu entsprechen. Folgerichtig behandeln sie weite Bereiche der Peirce’schen Semiotik und der Lacan’schen »Psychosemiologie«8. Für eine möglichst anschlussfähige, allgemeine epistemologische Auslegung der drei Register wäre es jedoch nachteilig, psychoanalytische Begriffe wie das Begehren oder das Unbewusste in die Diskussion aufzunehmen. Die methodische Grundlegung einer Beschränkung auf die drei Ordnungen ist deshalb auch für das abschließende Kapitel wünschenswert, weshalb ich der Lacan’schen Trias als isoliertem Diskursausschnitt ein ebenso isoliertes Theoriefragment Peirce’ gegenüberstelle: dem basalen Geschehen im phaneron. Es stehen sich damit zwei Begriffstriaden gegenüber, deren Anspruch es ist, prinzipielles Erkenntnisgeschehen zu strukturieren. Doch sind sie übereinzubringen? 6

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Auf die Bedeutung Meyersons für Lacan weist auch Frédéric Fruteau de Laclos in seinem – ebenfalls nach Fertigstellung dieses Buches erschienen – MeyersonPortrait hin. Naheliegenderweise liest Fruteau de Laclos Lacan als Psychologen und nicht – wie in dieser Arbeit projektitert – als Epistemologen. Vgl.: Fruteau de Laclos, Frédéric, (2014) Émile Meyerson, Paris, 2014, S. 147-158. Namentlich von: Michel Balat, Birgit Nordtug, Nina Ort, Anne Peters. Die zahlreichen bibliographischen Angaben erfolgen an entsprechender Stelle. Ort, Nina, (1997) Objektkonstitution als Zeichenprozeß. Jacques Lacans Psychosemiologie und Systemtheorie. Quelle Internet: http://nina.ort.userweb.mwn.de/ Objektkonstitution.pdf , zuletzt aufgerufen am: 25.09.2013.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Eine Engführung der Peirce’schen Begriffe von Erstheit, Zweitheit und Drittheit mit Imaginärem, Realem und Symbolischen ist möglich. Die vorangegangene umfangreiche Kontextualisierung hilft nun bei der Beantwortung der Frage, ob das Reale ein Erstes sei und das Imaginäre einer dualen Beziehung entspräche. Die vielleicht überraschende Antwort lautet: nein. In einem funktionalen – und nicht ontologischen – Setting ist das Imaginäre die Eins und das Reale der Widerstand. Beide Ordnungen, und hierin dürfte Einigkeit bestehen, sind der wesentlich dreiwertigen Struktur des Symbolischen äußerlich, wenngleich das Symbolische jene Form ist, mit welcher wir uns die beiden anderen sogleich aneignen wollen. Eine solche epistemologische Trias, verstanden als Synergon funktionaler Erkenntnisregister, wäre geeignet, in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen strittige Fragen zu sondieren. Ohne originäre psychoanalytische Begrifflichkeiten mitzutransportieren, ist die Applikation in natur- wie geisteswissenschaftlichen Feldern denkbar. Sie ist insbesondere geeignet, in komplexen Forschungsbereichen, wie beispielsweise der Hirnforschung, epistemische Strukturen sichtbar zu machen, da die drei Prinzipien sowohl für physikalische, technologische und psychologische Prozesse, wie auch für das Erste-Person-Erleben der Probanden anwendbar sind. In Hinblick auf die historische Situierung einer solchen Trias dürfte gelten, dass sie in unterschiedlichsten Disziplinen regelmäßig auftretende epistemologische Figuren zusammenfasst, deren schematische Überlagerung zu der allgemeinen Fassung führt, die ich hier vorlege. Weitere Studien könnten, beispielsweise in einer an Meyerson angelehnten Terminologie, aktuelle lokale Wissenschaftstheorien auf Korrelationen, Tendenzen und Abweichungen hin befragen. Andererseits könnten auch die bereits angeklungenen Denktraditionen auf gemeinsame Quellen hin untersucht werden, und klammernde Theoreme noch deutlicher herausgearbeitet werden. So stellt sich die Frage, ob es neben Hegel nicht auch scholastische Philosophien waren, die Lacan und Peirce so nahe zusammenrücken ließen. Ich hoffe, mit diesem Buch einen gewissen Grundstock gelegt zu haben, solche Fragen weiter voranzubringen. Wenn es auch keine Abhandlung über Lacans Lehre darstellt, so hoffe ich weiterhin, dass die vielfältigen Kontextualisierungen dazu beitragen, bislang unbeachtete Aspekte der vielschichtigen Hinterlassenschaft dieses inspirierenden Denkers sichtbar werden zu lassen. Dass diese Arbeit dabei nicht strikt historisch sondern argumentativ vorgeht, war eine methodische Entscheidung, die mit der unvermeidlichen und prinzipiellen Unvollständigkeit einer solchen Aufsummierung einherging. Mir war es zudem wichtig, die verhandelten Autoren gewissermaßen zu Atem kommen zu lassen; dass sich auch ihre persönlichen Stile zu denken und zu schreiben entfalten können, dass ihre Anliegen und ihre Besorgnisse spürbar werden. Wenngleich alles Schriftliche dem Symbolischen zuzuweisen ist, hoffe ich

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doch, dass Manches durchscheint, insistiert, stört, was Menschen, die nach Erkenntnis streben, auch außerhalb der Sprache zu verorten wissen. Reales und Imaginäres sollten, wiewohl sie wesentlich nicht-diskursiv sind, keine Felder sein, deren Bearbeitung man den Demagogen überlassen darf. Andererseits sind es gerade die neuesten Wissenschaftszweige, die aus sich heraus grundsätzliche epistemologische Fragen aufwerfen und die fundamentalen Begrifflichkeiten, wie sie beispielsweise von Brentano, Meyerson oder Merleau-Ponty formuliert wurden, wieder zu Aktualität verhelfen. Hamburg im Februar 2015

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Vorangestellt: Der Entwurf einer Trias

Wie Lacan die drei Ordnungen in den Diskurs gebracht hat

Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale sind als die »drei Ordnungen« Lacans bekannt geworden. Als Trias betiteln sie einen Vortrag, den Jacques Lacan im Jahr 1953 hält. 1976 befindet der Psychoanalytiker rückblickend: »J’ai énoncé le symbolique, l’imaginaire et le réel en 53, en intitulant une conférance inaugurale de ces trois noms, devenus en somme par moi ce que Frege appelle nom propre.« (65)1 Über rund 20 Jahre hinweg hat Lacan das Konzept von drei Registern in verschiedenster Weise erläutert und für die psychoanalytische Theoriebildung nutzbar gemacht; gewissermaßen beginnt mit der Proklamation der Trias seine eigentliche Lehrtätigkeit.2 Nimmt man die Texte zur Hand, die diesen Augenblick umgeben, so zeigt sich tatsächlich, dass die drei Termini, die Lacan bereits vorher benutzt hat, mit dem 8. Juli 1953 eine Zuspitzung erfahren – einerseits in der Tatsache, dass sie als Trias vorgestellt werden, was sie in ein gewisses kategoriales Gefüge einsetzt, andererseits in der Konsistenz ihrer jeweiligen Begrifflichkeit, die nun deutlicher eine eigenständige Bedeutung erhält.

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Lacan, Jacques, in einem unpublizierten Seminar, Sitzung vom 16. Nov. 1976, zit. nach: Julien, Philippe, (1985) Pour lire Jacques Lacan, Paris, 1990, S. 65. (Anmerkung zur Zitationsweise: Die Jahreszahl in der Klammer hinter dem Namen des Autors gibt das Datum des originalsprachlichen Erscheinungsjahres der Erstausgabe oder das Datum des öffentlichen Vortrags (oder ggf. der brief lichen Korrespondenz) wieder. Dies gilt einheitlich für die vollständigen Literaturangaben bei Erstnennung, für die verkürzte Nennung und für das Literaturverzeichnis. Die geklammerte Ziffer hinter dem Zitat benennt die Seite(n) in der zitierten Quelle.) Die lange Vorrede, mit denen Lacan in den Écrits seine älteren Texte versieht, legt darüber hinaus nahe, dass alles Frühere nun aus der Perspektive der Trias zu interpretieren sei. Vgl. Lacan, Jacques, (1966d) »Von dem, was uns vorausging«, in: ders., Schriften III, Weinheim, Berlin, 1994, S.7-15. So findet sich auf Seite 13 eine Ergänzung zum zunächst binär konzipierten Spiegelstadium, das nun auch triadisch dargestellt wird. (Zu dieser kompletten Version des Spiegelgeschehens vgl. auch: Lacan, Jacques, (1960-1961) Das Seminar, Buch VIII (1960-1961). Die Übertragung, Wien, 2008, S. 431.)

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Dem zeitlichen Moment von Lacans Inauguralvortrag indes wohnt eine weit geringere theoretische Notwendigkeit inne als dies, ob der großen systematischen Bedeutung für das Lacan’sche Werk, anzunehmen wäre. Ein Faktor für die außerordentliche Pointierung und Schärfung der drei Begriffe liegt nicht zuletzt in gewissen vereinspolitischen Umständen jener Tage: Im Zuge einer Spaltung innerhalb der französischen psychoanalytischen Organisation verließ Lacan zusammen mit anderen die international anerkannte Vereinigung.3 Der Vortrag über die drei Register war die erste fachliche Veranstaltung der abtrünnigen Gruppe. Infolge dessen lag Lacan und seinen Mitstreitern einiges daran, sich mit einem vielversprechenden Programm zu positionieren – nicht zuletzt, um eine möglichst große Anzahl geeigneter Kandidaten für das eigene Ausbildungsprogramm anzuwerben. Lacan beginnt seinen Vortrag, nach einer knappen Einleitung durch den Kollegen Daniel Lagache, wie folgt:4 »Meine lieben Freunde, wie Sie sehen können, habe ich für diese erste sogenannte wissenschaftliche Mitteilung unserer neuen Gesellschaft einen Titel gewählt, dem es an Ehrgeiz nicht mangelt. Gleichwohl möchte ich mich zunächst einmal dafür entschuldigen und Sie bitten, diese Mitteilung zugleich als ein Resumee von Gesichtspunkten, welche diejenigen, die hier meine Schüler sind, gut kennen, mit denen sie seit zwei Jahren durch meine Lehre vertraut gemacht wurden, und als eine Art Vorrede oder Einführung in eine bestimmte Ausrichtung des Studiums der Psychoanalyse anzusehen.« (13) 5

Lacan lässt nicht uneingeschränkt gelten, dass es sich bei seinem Vortrag um eine wissenschaftliche Mitteilung handeln könnte – eine typische Haltung für die Folgezeit, die in seinen frühen Werken noch fehlte.6 Weiterhin entschul3

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Eine detaillierte Zeittafel der Ereignisse des Jahres 1953 findet sich in: Macey, David, (1988) Lacan in Contexts, London, New York, 1988, S. 225-230. Der große Wurf oder Entwurf dreier Register, der diese erste Spaltung begleitet, wiederholt sich sinngemäß im Augenblick der zweiten Spaltung der französischen Vereinigung 1963: Es handelt sich um das Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Wieder erhält die Theoriebildung Lacans einen produktiven Schub und veranlasst ihn, Begriffe zu schärfen und zu systematisieren. Vgl. Lacan, Jacques, (1964) Das Seminar, Buch XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin, 1987. »Tatsächlich stand Lacans herausragende Stellung in der SFP [der neu gegründeten Psychoanalytiker-Vereinigung, F.W.] von Anfang an fest, obwohl Lagache und nicht er deren Gründer war. Lacan fungierte 1953 lediglich als Schatzmeister. Aber wieder war ein Drittel der Studenten bei ihm in Lehranalyse, und er war es auch, der im Juli 1953 die Eröffnungsveranstaltung der SFP im großen Amphitheater des Krankenhauses Sainte-Anne einleitete.« (Bowie, Malcolm, (1991) Lacan, Göttingen, 1997, S. 117.) Lacan, Jacques, (1953a) »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale«, in: ders., Namen-des-Vaters, Wien, 2006. So suchte er zunächst nach erkenntnistheoretisch belastbaren Fundamenten in der Psychoanalyse. Vgl. hierzu auch: Wörler, Frank, (2014) »Das Über-Ich und

Vorangestellt: Der Entwur f einer Trias

digt er sich für die summarische Darstellung, die nun folgen soll, die seinen Schülern aber wohl verständlich sein würde. Rundum bedient sich Lacan einer Rhetorik, die neugierig machen soll. Doch war die Trias, die der Titel so programmatisch anführt, wirklich in den zwei vorangehenden Jahren, in denen Lacan ein undokumentiertes Seminar im kleinen Rahmen gehalten hat, schon als solche fixiert worden? Es gibt Anhaltspunkte, dass dem nicht so war. Noch wenige Monate zuvor präsentierte sich Lacan mit einem quarternären Konzept, das als vierte Komponente, die das Freud’sche ödipale Dreieck ergänzen sollte, den Tod anführte.7 In dem mit »Der individuelle Mythos des Neurotikers« betitelten Vortrag führt er aus: »Das in den Sackgassen, den Unlösbarkeiten der Lebenssituation der Neurotiker so grundlegende quarternäre System ist von einer Struktur, die von der traditionell gegebenen ziemlich verschieden ist – das inzestuöse Begehren nach der Mutter, die Untersagung des Vaters, ihre Sperreffekte und rundherum das mehr oder weniger luxurierende Wuchern von Symptomen. […] In einem Wort, das gesamte Ödipus-Schema ist zu kritisieren. […] Es gibt stets eine extrem eindeutige Zwietracht zwischen dem, was vom Subjekt auf der Ebene des Realen wahrgenommen wird, und der symbolischen Funktion. […] Der folgende Schritt, der uns verstehen lässt, worum es sich in der quaternären Struktur handelt, ist die zweite große Entdeckung der Psychoanalyse, die nicht weniger wichtig ist als die symbolische Funktion des Ödipus – die narzisstische Beziehung. Die narzisstische Beziehung zu seinesgleichen ist die Grunderfahrung der imaginären Entwicklung des menschlichen Seins. Als Erfahrung des Ichs ist ihre Funktion entscheidend in der Konstitution des Subjekts.« (36ff ) 8

Lacan hält das ödipale Schema für inadäquat, die (seit Freud veränderte?) familiäre Situation seiner Zeit richtig zu fassen. Als symbolische Funktion sieht er die gesellschaftlichen Kräfte, die das Szenario determinieren, und – Freud folgend – insbesondere den Vater. Dieser jedoch »müsste [laut ödipalem Schema, F.W.] in seiner ganzen Fülle den in seiner Funktion kristallisierten symbolischen Wert repräsentieren« (37). Lacan meint nun, dass der Vater dies nicht

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seine methodologische Funktion. Lacans Interpretation der Freud’schen Topik« in: Lenhart, Peter et al (Hrsg.), Wo ist das Über-Ich und was macht es dort?, Berlin, 2014, S. 52-68. Vgl. auch: Roudinesco, Elisabeth, (1993) Jacques Lacan. Bericht über ein Leben. Geschichte eines Denksystems, Köln, 1996, S. 323f. Lacan, Jacques, (1952) »Der individuelle Mythos des Neurotikers« in: ders., Der individuelle Mythos des Neurotikers oder Dichtung und Wahrheit in der Neurose, Wien, 2008, S. 9-41. Anmerkung: Die Datierung »1952« folgt den Angaben des Herausgebers (vgl. ebd., S. 7). Roudinesco hingegen setzt das Datum des Vortrags fest auf den 4. März 1953 und in direkten Zusammenhang mit der Spaltung und der daraus folgenden theoretischen Positionierungsbemühungen Lacans. (Vgl. Roudinesco, (1993) Lacan, S. 322.)

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

leisten kann. Real, also in Wirklichkeit, ist er nicht in der Lage, die von Freud beschriebene Rolle des symbolischen Vaters zu erfüllen und ein den Ödipus übersteigender Konflikt entsteht bereits hier. Die, einige Monate später proklamierte, »Rückkehr zu den Freudschen Texten« (13)9 bedeutet, so wird schon jetzt klar, keinesfalls eine unkritische Rückkehr zu den Theorien Freuds. Interessanterweise fungiert »das Reale« in diesem Text als nicht weiter problematisierte Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, deren Wurzeln doch gerade im Sozialen liegen und die vorrangig symbolische Werte umfassen müsste. Der Begriff des Realen ist hier noch inkonsistent in Bezug auf seine spätere Ausarbeitung als spezifisches Register. Lacan fährt mit der Benennung des imaginären Aspekts fort: »Zunächst sieht sich das Subjekt in einem anderen, der weiter entwickelt ist als es, vollkommener als es. Insbesondere sieht es sein eigenes Bild im Spiegel in einer Epoche, in der es fähig ist, es als ein Ganzes zu erfassen, während es selbst sich nicht als solches empfindet, sondern in dem ursprünglichen Durcheinander sämtlicher motorischer und affektiver Funktionen der ersten sechs Monate nach der Geburt lebt.« (38) 10

Diese kondensierte Beschreibung des sogenannten Spiegelstadiums verweist auf die im stärksten Sinne identifikatorische Relation, die das Kleinkind zunächst am Beispiel der Beziehung zu Seinesgleichen erfährt, um sie auf die intrasubjektive Beziehung zu sich selbst zu übertragen. Angesprochen ist hier die narzisstische Konstitution des Ich, wie sie von Freud entworfen wurde.11 Lacan führt aus: »Das Subjekt hat so stets eine antizipierte Beziehung auf seine eigene Realisierung, die es selbst auf die Ebene eines tiefen Ungenügens zurückwirft und bei ihm von einem Riss, einer ursprünglichen Zerrissenheit, einer Geworfenheit zeugt, um den Heidegger’schen Terminus aufzunehmen. Darin ist es, in allen seinen imaginären 9 10 11

Lacan, (1953a) Das Symbolische. Gemeint ist jene Rückkehr »die seit zwei Jahren Gegenstand meiner Lehre gewesen ist«. (ebd., S. 13.) Lacan, (1952) Mythos. Vgl. Freud, Sigmund, (1914) »Zur Einführung in den Narzißmus«, in: ders., Studienausgabe, Band III, Frankfurt/M., 2000, S. 35-68. Lacan fasst zusammen: »Eine dem Ich vergleichbare Einheit beseht nicht von Anfang*, ist nicht von Beginn an im Individuum präsent und das Ich* muß entwickelt werden*. Die autoerotischen Triebe dagegen sind von Anfang an da. [...] Das Urbild*, das eine dem Ich vergleichbare Einheit ist, konstituiert sich in einem bestimmten Augenblick der Geschichte des Subjekts, von dem an das Ich seine Funktionen zu übernehmen beginnt. Will heißen, daß das menschliche Ich sich auf dem Grund der imaginären Beziehung konstituiert.« (Lacan, Jacques, (1953-1954) Das Seminar, Buch 1 (1953-1954). Freuds technische Schriften, Weinheim, Berlin, 1990, S. 149f. Der Asterisk bedeutet hier und im weiteren: deutsch im Original.)

Vorangestellt: Der Entwur f einer Trias Beziehungen, eine Erfahrung des Todes, die sich manifestiert. […] Das vierte Element, welches ist es? Nun, ich werde es heute Abend bezeichnen, indem ich Ihnen sage, dass es der Tod ist.« (38f )

Lacans Umgang mit den drei Begriffen Imaginäres, Symbolisches und Reales ist in diesem Vortrag, der dem Inauguralvortrag am 8. Juli 1953 vorangeht, vergleichsweise unspezifisch. Die Hinzunahme des Todes als viertes Element, das sowohl auf Aléxandre Kojèves Hegel-Interpretation12 wie auch auf Martin Heidegger13 Bezug nimmt, kann als ernste Bemühung verstanden werden, möglichst viele Bezüge der Psychoanalyse zu zeitaktuellen philosophischen Diskursen herzustellen, schwächt jedoch die kategoriale Stellung der Trias, sollte sie zu diesem Zeitpunkt wirklich schon ausformuliert gewesen sein. Unter dem Druck der institutionellen Spaltung wird Lacan sein methodologisches Konzept von nun an verdichten, die drei Ordnungen als solche befestigen und im gleichen Zug mittels seiner Freud-Rekurse legitimieren: Die herausragende »vollständige[] Erfassung der menschlichen Realität« (13)14 durch Freud präsentiert er jetzt als »die wesentlichen Register der menschlichen Realität […], das Symbolische, das Imaginäre und das Reale« (15). Mit der demonstrativen Rückkehr zum Gründungsvater der Psychoanalyse15 verlässt Lacan das ursprüngliche Projekt, eine hinreichende wissenschaftliche oder zumindest epistemologische Legitimation für seine Theorien aufzuweisen. Der neue Angang ist hermeneutisch in dem Sinne als er im anreichernden Kommentar der Schriften Freuds besteht.16 Also wird Lacan seine drei frisch formierten Register bei Freud ausweisen müssen – eine vor allem interpretatorische Aufgabe, da Freud selbst die Termini im angedachten Sinne nie benutzt hat. In Freuds zweiter Topik sieht Lacan dennoch eine Differenzierung von Imaginärem und Symbolischem thematisiert. Mit dem Erscheinen des Ichs und des Es, »[u]m diese Zeit herum, 1920« (33), lassen sich die »symbolische Beziehung« (33) und die »imaginäre Funktion des Ichs« (34) indirekt in Freuds Werk aufweisen. Doch mehr als ein 12 13 14 15

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Vgl. Lacan, (1952) Mythos, S. 40. Vgl. Lacan, (1952) Mythos, S. 38. Lacan, (1953a) Das Symbolische. »Le retour à Freud c’est quelque chose que j’ai pris comme une espèce de drapeau.« (Lacan im Gespräch mit Michel Foucault am 22. Februar 1969, Quelle: Littoral, Z., Nr. 9, La discursivité, zit. nach: Julien, (1985) Lire, S. 13.) Ich denke, dieses vieldeutige Bekenntnis kann durchaus im Zusammenhang mit der institutionellen Spaltung verstanden werden: dann würden sich seine Getreuen wie auf einem Schlachtfeld um die Sigismund-Fahne geschart haben. »Daran erweist sich die Methode von Kommentaren als fruchtbar[:] Einen Text kommentieren ist wie eine Analyse machen.« (Lacan, Jacques, (1953-1954) Das Seminar, Buch 1 (1953-1954). Freuds technische Schriften, Weinheim, Berlin, 1990, S. 97.) Sich in einem solchen Sinne auf Freud zu beziehen, »bedeutet eine Rückkehr zu den Quellen und verdient nur kaum den Titel Wissenschaft.« (ebd., S. 8)

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Appercu wird im inauguralen Vortrag der drei Register in diesem Zusammenhang nicht geliefert. Lacan schränkt ein: »In Wahrheit sind diese Termini nur Annäherungen« (34), und meint damit wohl auch die Vokabeln »Bild« (34) und »Realität« (34), die ebenfalls unterbestimmt bleiben. »Ich werde heute nicht in die Theorie des Ichs eintreten, außer um Ihnen zu sagen, daß man […] unbedingt die imaginäre Funktion des Ichs als Einheit des seiner selbst entfremdeten Subjekts unterscheiden muß.« (34) Etwas allgemeiner kann sich Lacan auf Freuds Forschungen beziehen, wenn er das Imaginäre als eine vor allem »den sexuellen Registern« (20) zuzurechnende Ordnung beschreibt. Hier ist ein »Metabolismus der Bilder« (21) zu beobachten, wenn der Psychoanalytiker neurotische Symptome untersucht. »Dazu hat [Freud, F.W.] das Wort ›Libido‹ gedient.« (21) Das Symbolische hat Freud im Diktum, dass der »Traum ein Rebus« (27) sei, benannt. Damit verweist Lacan auf die große Bedeutung der Sprache für die psychoanalytische Praxis. »Zwischen dem imaginären Verhältnis und dem symbolischen Verhältnis liegt all die Distanz, die es in der Schuld gibt. Deshalb wird, wie die Erfahrung uns zeigt, die Schuld stets der Angst vorgezogen.« (38)

Schuld und Angst sind, von Freud ausführlich beschriebene, zentrale Symptome der Neurose. Lacans Auslegung der Psychoanalyse besagt nun: Die Vermittlung einer dritten Instanz bricht das imaginäre »narzißtische Verhältnis« (39) und ermöglicht eine symbolische Vermittlung im Sinne der psychoanalytischen Therapie. Lacan versäumt nicht, auch in diesem Vortrag vom Tod zu sprechen und stellt diesmal dessen initiale Bedeutung für das symbolische Register heraus. »Der Grabhügel oder irgendein anderes Grabzeichen verdient sehr treffend den Namen ›Symbol‹.« (42) Von dieser anthropologischen Figur ausgehend, deutet Lacan an, dass Freuds Todestrieb auf ein »gewisses Reales« (42) hinweist. Mindestens so auffällig wie seine Rückkehr zu Freud – und genauso prägend für die kommenden Jahre – ist Lacans Bestreben, in seine Theorie Elemente der strukturalistischen Anthropologie Lévi-Strauss’ einzubinden.17 Bereits der oben zitierte Vortrag »Der individuelle Mythos des Neurotikers« verweist direkt auf einen Text des Ethnologen, in welchem letzterer eine methodische Ähnlichkeit zwischen schamanistischer Heilkunst und Psychoana-

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Die bedeutsame Verbindung zwischen der Rückkehr zu Freud und der Integration strukturalistischer Anthropologie ist detailreich herausgerabeitet in: Zafiropoulos, Markos, (2003) Lacan et Lévi-Strauss ou le retour à Freud (1951-1957), Paris, 2008.

Vorangestellt: Der Entwur f einer Trias

lyse beschreibt. »Die Wirksamkeit der Symbole«18 ist es, die in beiden Verfahren die Heilung erwirkt. Lévi-Strauss bedient sich linguistischer Termini, um die Prozesse zu analysieren. Die reine Sprachtheorie wird jedoch auf »konkrete Tätigkeiten« (220)19 erweitert, »denn einmal handelt es sich um die Manipulation von Ideen, dann um die von Organen, wobei die gemeinsame Bedingung bleibt, daß diese Manipulation mit Hilfe von Symbolen vor sich gehen muß, das heißt mit Hilfe von signifiktiven Äquivalenten des Signifikats […].« (220)

Während der Analytiker auf die Psyche des Patienten einwirkt, ist die Heilkunst des Schamanen auch auf körperliche Beschwerden ausgerichtet. Lévi-Strauss selbst sieht keinen Grund, die »verschiedenen Ebenen des Lebewesens« (222), Soma und Psyche, nicht als »formal homologe[] Strukturen« (222) aufzufassen, die der Wirksamkeit der Symbole gleichermaßen zugänglich sind. Während für uns heute hierbei vor allem die (inzwischen etablierte) medizinische Disziplin der Psychosomatik anklingt, markiert die Position Lévi-Strauss’ eine folgenreiche methodologische Verschiebung: Die symbolische Funktion hat sich von einer rein sprachwissenschaftlichen Anwendungsmöglichkeit gelöst. Sie ist im anthropologischen Denken vor allem universelles Strukturprinzip.20 Auch für Lacan darf das theoretische Potential dieser Ablösung von der Linguistik nicht unterschätzt werden, wenn er die von Ferdinand de Saussure geprägten Begriffe Signifikant und Signifikat gebraucht.21 Lacan knüpft auch in seinem Inauguralvortrag »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale« wiederholt an die anthropologischen Konzepte sei18

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Vgl. Lévi-Strauss, Claude, (1949a) »Die Wirksamkeit der Symbole« in: ders., (1958) Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M., 1972, S.204-225. Zur Referenzierung durch Lacan siehe auch die Hinweise von Jacques-Alain Miller in: Lacan, (1952) Mythos, S. 93. Lévi-Strauss, (1949a) Wirksamkeit. Nebenbei definiert Lévi-Strauss in diesem Text den Begriff des Unbewussten als die »Gesamtheit dieser Strukturen« (Lévi-Strauss, (1949a) Wirksamkeit, S. 223) und grenzt ihn gegen das Unterbewusstsein, verstanden als Individualgeschehen, ab. »Das Unbewußte hört auf, der unnennbare Zuf luchtsort der individuellen Besonderheiten zu sein, der Aufenthaltsort einer einzigartigen Geschichte, die aus jedem von uns ein unersetzliches Wesen macht. Es beschränkt sich auf einen Ausdruck, mit dem wir eine Funktion bezeichnen: die symbolische Funktion, die zwar spezifisch menschlich ist, die sich aber bei allen Menschen nach denselben Gesetzen vollzieht; die sich in Wahrheit auf die Gesamtheit dieser Gesetze zurückführen läßt.« (ebd.) Dieser Begriff des Unbewussten ist auch maßgeblich für Lacans Terminologie. Dosse, François, (1991) Geschichte des Strukturalismus. Band 1: Das Feld des Zeichens, 1945-1966, Hamburg, 1996, S. 50; Zafiropoulos, Markos, (2003) Lacan et Lévi-Strauss ou le retour à Freud (1951-1957), Paris, 2008, S. 188f; Saussure, Ferdinand, (1906-1911) Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin, 1967.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

nes hoch geschätzten Kollegen an. Ausgehend von einer rein imaginären Relation zweier Individuen, wie beispielsweise der zwischen dem Kleinkind und seiner Mutter, führt das Symbolische eine vermittelnde Ebene ein. Doch gilt: »Dieses vermittelnde Wort ist nicht schlicht und einfach vermittelnd auf dieser elementaren Ebene. Es erlaubt, zwischen zwei Menschen die grundlegende aggressive Beziehung in der Spiegelung des Ebenbildes zu transzendieren. Es muß eben noch etwas anderes sein, denn wenn man darauf ref lektiert, sieht man, daß es nicht nur diese Vermittlung konstituiert, sondern ebenso, daß es die Realität selbst konstituiert.« (36) 22

Die Sprache als System bildet die symbolische Ordnung. Lacan hebt darauf ab, dass diese in der Unterbrechung der primären imaginären Bindungen eines Kleinkindes einerseits zwar ihre ontogenetische Wirkung erzielt, indem sie Transzendenz ermöglicht, dass sie darüber hinaus jedoch auch die Lebenswelt des Menschen konstituiert. Die Realität des Menschen ist demnach vornehmlich eine symbolische. In Rekurs auf Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft23 verweist er darauf, dass die Sprachsysteme die gesellschaftlichen Strukturen in hohem Maße determinieren. Obgleich sich die Analysen LéviStrauss’ auf elementare Sozialsysteme beziehen, die in Europa so nicht mehr vorkommen, besteht Lacan auf der strukturierenden Funktion des Symbolischen. »Aufgrund dieser Tatsache neigen wir dazu, Termini wie Vater, Mutter, Sohn usw. mit realen Beziehungen zu verwechseln.« (36)24 Das Symbolische ist für Lacan eine »Dreierrelation« (38) – womit Lacan dem ödipalen Dreieck näher steht25 als den strukturalistischen zweiwertigen Systemen Lévi-Strauss26. Er erklärt dies folgendermaßen: »Das verleiht jener durch die Lehre bestätigten und durch die Erfahrung bewiesenen Tatsache, daß nichts letztlich sich interpretieren läßt […] außer vermittels der ödipalen Realisierung, ihren Wert. Das heißt, daß jede Zweierbeziehung stets mehr oder weniger vom Stil des Imaginären geprägt ist. Damit eine Beziehung ihren symbolischen Wert erhält, muß es die Vermittlung durch eine dritte Person geben, die gegenüber dem Subjekt das transzendente Element realisiert, dank welchem sein Verhältnis zum Objekt in einer gewissen Distanz unterhalten werden kann.« (38) 22 23 24 25

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Lacan, (1953a) Das Symbolische. Lévi-Strauss, Claude, (1949) Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M., 1993. Lacan, (1953a) Das Symbolische. Bei aller Kritik an Freuds Ödipus scheint es langfristig vor allem der Rückgriff Freuds auf mythische Metaerzähliungen zu sein, den Lacan ablehnt: Als strukurales Prinzip findet sich die Triangulierung bei ihm wieder. Vgl. bspw.: Lévi-Strauss, Claude, (1958) Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M., 1972, S. 84, 100f, 309.

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Lacan kombiniert Elemente der strukturalistischen Anthropologie (hier: symbolischer Wert) – mit Elementen der psychoanalytischen Lehre (hier: ödipale Realisierung). In Rückgriff auf seine eigene Theorie einer frühkindlichen imaginären Beziehung, die auf Identifizierung auf baut, gelingt es ihm, über die Struktur der Psyche genauso eine Aussage zu treffen wie über diejenige der Gesellschaft. Im Begriff der Symbolisierung fasst er nun das typisch menschliche Phänomen, Repräsentationen zu schaffen, die über die Abwesenheit hinweghelfen. Lacans anthropologisches Beispiel hierfür ist der »Grabhügel« (42). Die zentrale Stellung des Symbolischen für die kulturellen Formen menschlichen Daseins liegt nicht nur im hohen organisatorischen Potential von Zeichenstrukturen, sondern auch im Umstand, dass eine Verweisstruktur, die über das Aktualgeschehen hinausgeht, artifizielle kulturelle Elemente überhaupt erst ermöglicht. Für Lacan ist darüber hinaus nur analysierbar, was symbolisch ist.27 Auch imaginäre Elemente müssen die Transformation ins Symbolische vollzogen haben, um in der Analyse verhandelbar zu sein. In diesem zentralen Postulat Lacans ist eine radikale Kritik an der Objektbeziehungstheorie seiner Tage formuliert.28 Es handelt sich bei der Betonung des Symbolischen also um eine Zuspitzung, die Lacan auch vor dem Hintergrund der institutionellen Auseinandersetzungen vollzieht. Die herausragende Stellung des Symbolischen für die analytische Praxis verbindet sich mit der anthropologischen Funktion von Symbolik und Sprache für die Entstehung von Kultur. Trotzdem beharrt Lacan auf einer Trias, die dem Symbolischen ein Reales und ein Imaginäres beistellt. Einen möglichen Grund hierfür führt die Lacan-Biographin Elisabeth Roudinesco an: »Entstanden in einer Krise der abendländischen Gesellschaft, kann die Psychoanalyse, so wie Lacan an sie herangeht, niemals zum Instrument einer Anpassung des Menschen an die Gesellschaft werden. Weil sie aus einer in Unordnung geratenen Welt hervorgegangen ist, ist sie dazu verdammt, in der Welt zu leben und die Unordnung der Welt als eine Unordnung des Bewußtseins zu denken. Und das ist auch der Grund, warum Lacan zugleich mit der Aussage dieses Prinzips, daß jedes Subjekt durch seine Zugehörigkeit zu einer symbolischen ›Ordnung‹ determiniert wird, eine weitere These vortrug, derzufolge die Anerkennung dieser Zugehörigkeit für

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Vgl. Lacan, (1953a) Das Symbolische, S. 26 und erläuternd auch: S. 24. Die kritische bis polemische Auseinandersetzung Lacans mit der Objektbeziehungstheorie und der Ich-Psychologie als mainstream der Psychoanalyse bestimmt weite Teile seiner Ausführungen in den fünfziger Jahren. Unter anderem geht es ihm dabei darum, die idealisierende Identifikation des Analysanden mit dem Analytiker in der therapeutischen Praxis zu vermeiden und den instrumentellen, normativierenden Zug der Psychoanalyse zu bekämpfen. Vgl. Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 19, 27, 179 und 258-277; Evans, Dylan, (1996) Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien, 2002, S. 140f, 203f.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale das Subjekt die Quelle einer ursprünglichen Zerrissenheit und einer unausweichlichen Neurose ist. Dieser Errichtung eines strukturalen Systems entsprach die Aufstellung einer Topik, die sich aus den drei Termini des Symbolischen, des Imaginären und des Realen zusammensetzt.« (328)29

Lacan, der sich in den dreißiger und vierziger Jahren mit verschiedenen sprach- und kulturphilosophischen Konzepten vertraut macht,30 hat, so könnte man auch argumentieren, Vorbehalte gegenüber einer hegemonialen Positionierung des Symbolischen. »Symbolization may help us to overcome anxiety and to comprehend our lives, but it also leaves us open to social constraint and dictates.« (6)31 Dass Lacan der symbolischen Ordnung außersymbolische Register beigestellt hat, kann also als ethisches Statement verstanden werden; zumindest verweist es auf ein Menschenbild, das sich mechanistischen Konzepten widersetzt. Nicolas Langlitz schreibt: »Das Imaginäre bewahrt […] die symbolische Ordnung davor, vollständig artikuliert zu werden, sodass die ausgegrenzten Bereiche auch nicht modifiziert oder anerkannt werden können. Es gibt eine Art Komplizenschaft zwischen den Endlosschleifen jener symbolischen Maschine, die das Unbewusste darstellt, und dem genuin menschlichen Imaginären, das verhindert, dass der verdrängte Teil der symbolischen Ordnung Anschluss findet an den anerkannten Bereich, der im Sprechen immer wieder aufs Neue aktualisiert wird. Aber auf der anderen Seite ist das Imaginäre auch notwendig, um sich aus diesen Fesseln zu befreien. Den Antrieb zu handeln gewinnt das Subjekt nicht aus dem Symbolischen, sondern aus dem Bild, das es sich von sich selbst macht.« (204)32

Beim Menschen, so wird hier dargelegt, stehen das Symbolische und das Imaginäre in einem dialektischen Verhältnis. Während das Symbolische nicht nur die soziale Ordnung ist, sondern auch das Unbewusste strukturiert, ist das Imaginäre beim Menschen die eigentlich intrinsische Instanz der Psyche. Damit ist bereits Vieles erklärbar, was Lacan anhand der Krankengeschich-

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Roudinesco, (1993) Lacan. Hier und im Folgenden: Wenn nicht anders angegeben, Hervorhebungen im Original. »[...] Lacan drew not only on Saussure and Jakobson, Hegel, Heidegger and Freud, but also on the linguisitc and rhetorical theories of writers he had consulted in the thirties and forties, Bertrand Russell and I.A.Richards, Ernst Cassirer and Suzanne Langer.« (Chaitin, Gilbert D., (1996) Rhetoric and culture in Lacan, Cambridge, 1996, S. 4.) Chaitin, (1996) Rhetoric. Langlitz, Nicolas, (2005) Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M., 2005.

Vorangestellt: Der Entwur f einer Trias

ten Freuds auch vorführt.33 Symbolisches und Imaginäres interessieren Lacan allerdings nicht nur beim Menschen, auch die Tierverhaltensforschung darf Beispiele liefern, die beiden Register zu erklären. Warum nun, so kann man an dieser Stelle fragen, bedarf es noch eines Realen, und: warum muss nun auch noch die Ethologie herangezogen werden? Die Fülle der im inauguralen Vortrag über die drei Ordnungen eingebrachten Referenzen erweckt den Eindruck, als ob Lacan eine Alternativstruktur, ein zweites System nicht ausreicht. Es genügt ihm nicht, dem Symbolischen ein Imaginäres gegenüber zu stellen und auch nicht, Freud und Lévi-Strauss in ein Spannungsverhältnis zu setzen – der Eindruck einer diskursiven Materialschlacht drängt sich auf. Diesem Urteil entgegen will ich einige Details herausstellen, die spezifisch begründen, warum triadische Setzungen gemacht werden. Zunächst zur Frage nach der Rolle der Ethologie, mit der, neben Psychoanalyse und Anthropologie, eine dritte Disziplin ins Spiel gebracht wird. Mit der Ethologie als Zweig der Biologie nimmt Lacan den Aspekt des Menschen als Lebewesen in den Blick, eine Perspektive, die seit der Evolutionstheorie aus der humanwissenschaftlichen Debatte nicht mehr wegzudenken ist. Anders als Freud, der sich zu Beginn seiner psychologischen Forschungen noch auf eine mechanistische Neurobiologie berufen wollte,34 vermeidet der Bezug auf das Verhalten der Tiere die Schwierigkeit, einen Übergang vom Physischen ins Psychische auszuweisen. Die ethologischen Beobachtungen, die Lacan hier interessieren, stammen aus den Kategorien Balzverhalten und Sozialhierarchie. Lacan trägt vor: »Abseits der noch ungewissen und unwahrscheinlichen Untersuchungen über die neurologischen Relais in den Sexualzyklen, die noch nicht zum Solidesten in ihren Untersuchungen gehören, wird der Nachweis geführt, daß die Zyklen bei den Tieren

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Vgl. beispielsweise: Lacan, Jacques, (1956-1957) Das Seminar, Buch 1V. Die Objektbeziehung. 1956-1957, Wien, 2007, S. 317-356. Dort spricht Lacan von den »hervorragenden Beispiele[n], die die Freudschen Krankengeschichten darstellen. Wie Sie wissen, haben wir im Lauf dieser Jahre den drei sogenannten Beziehungen des Symbolischen, des Imaginären und des Realen einen Sinn zugewiesen, welches drei zutiefst unterschiedliche wesentliche Modi sind […]. Diesen Sinn an der Erfahrung zu verfeinern, dahin geht unser Bemühen, denn einen Begriff kann man nicht besser definieren als dadurch, daß man ihn in Gebrauch nimmt.« (S. 318) Freuds wissenschaftliche Ambitionen drängten ihn zunächst in die Richtung neurologischer Erklärungsversuche; seine therapeutische Praxis brachte ihn immer wieder davon ab und führte ihn letztlich zur Psychoanalyse, die sich dem Unbewussten und einer wenig objektiven, individuellen psychischen Realität widmet. Diese Entwicklung ist modellhaft im »Entwurf von 1895« ablesbar. Vgl. Wörler, Frank, (2010) »Das physikalisch-ökonomische Narrativ in den Anfängen der Psychoanalyse«, in: Bierwirth, Maik et al (Hrsg.), Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation, München, 2010, S. 159-171.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale selbst unter der Abhängigkeit einer gewissen Zahl von Auslösern, Auslösemechanismen stehen, die im wesentlichen der imaginären Ordnung angehören.« (21)35

Das Imaginäre erhält hier einen Wert im objektiv beobachtbaren Verhalten der Tiere. Dies hebt den Terminus von seinem konventionellen Gebrauch im philosophischen Kontext ab: Das Imaginäre, das heißt, die Vorstellungswelt, bezeichnet dort das Gesamt der Einbildungen oder inneren Bilder des Menschen. Es steht einer äußeren, realen Wirklichkeit entgegen. Noch Jean-Paul Sartre konstruiert 1940 auf diesen Begriffen auf bauend eine Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft36. Sartre fasst sein Vorhaben zusammen: »Diese Untersuchung hat zum Ziel, die wichtige ›irrealisierende‹ Funktion des Bewußtseins, die ›Vorstellungskraft‹ zu beschreiben und ihr noematisches Korrelat, das Imaginäre.« (42)37 Anders bei Lacan, für den das Imaginäre ein biologisch funktionaler Aspekt, letztlich auch der äußeren Wahrnehmung, ist: »Selbst die Untersuchungen von Lorenz über die Funktionen des Bildes im Fütterungszyklus zeigen, daß das Imaginäre darin eine ganz genauso hervorstechende Rolle spielt wie in der Ordnung der sexuellen Verhaltensweisen. Beim Menschen stehen wir in der Hauptsache auf dieser Ebene diesem Phänomen gegenüber.« (22f )38

Das Imaginäre erfüllt eine determinierende Funktion, die beispielsweise das Balzverhalten organisiert. Für Tier und Mensch gilt, dass das schematische Wesen des Imaginären »Verschiebungen« (24) ermöglicht, was Lacan anhand des Fetischismus ausführt. Allerdings gilt wiederum für die Psychoanalyse, dass nur der »symbolische[] Wert« (25) der jeweiligen sexuellen Phantasie analysierbar ist. Das Bild selbst bleibt gewissermaßen unzugänglich. Die begriffliche Neufassung des Imaginären, die hier angedeutet und mittels ethologischer Beobachtungen quasi durch die Hintertür eingeführt wird, hat auch Auswirkungen auf das Verständnis des Realen. Während das Reale bislang als modaler Exklusivwert des Imaginären verstanden werden konnte, verliert diese Bestimmung im Lacan’schen Gefüge ihren Sinn. Das Imaginäre ist hier eine Funktion, die in intersubjektiven Prozessen wirksam ist. Das Reale als Wirk-lichkeit verliert seine Spezifik, wenn das Imaginäre eine Wirk-samkeit an den Tag legt, die letztlich zu nicht weniger als der biologischen Reproduktion führt. Seines angestammten Platzes – an dem es für die Existenz sorgte – verlustig, ist das Reale nunmehr unterbestimmt. Es beginnt die lange Reihe der Negativbestimmungen eines unzugänglich gebliebenen Realen, die die La35 36 37 38

Lacan, (1953a) Das Symbolische. Sartre, Jean-Paul, (1940) Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Reinbek, 1971. Sartre, (1940) Imaginäre. Lacan, (1953a) Das Symbolische.

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can-Rezeption dominiert.39 Ein Ziel meiner Arbeit ist es, im dritten Teil positive Bestimmungen eines epistemologisch relevanten Realen beizubringen. An dieser Stelle will ich nur auf zwei Aspekte hinweisen, wie Lacan das Reale im inauguralen Vortrag zu den drei Registern einbringt. Die erste Nennung scheint zunächst recht lapidar hervorgebracht. Lacan trägt vor: »Eine Sache sollte uns gleich zu Anfang nicht entgehen, nämlich daß es in der Analyse einen ganzen Teil Reales bei unseren Subjekten gibt, der uns entgeht.« (15)40 Und er fährt damit fort, dass Sigmund Freud das Reale nicht entgangen sei, obwohl es »außerhalb seines Zugriffs und seiner Reichweite« (15) lag. Diese paradoxe Formulierung unterscheidet logisch zwischen dem praktizierenden Analytiker Freud, der auf der gleichen Erkenntnisstufe steht, wie jeder Fachkollege, und Freud als Übermittler eines Realen, das sich mittels einer Kommentierung seiner kommentierten Fallbeispiele ableiten lässt. Das Reale ist hier ein asymptotischer Wert und nur indirekt und interpretatorisch – hermeneutisch – zugänglich. Lacan kombiniert diese Aussage mit der Erörterung der persönlichen Eignung von Psychoanalytikern. Kein Glied in der interpretatorischen Kette, nicht der Analysand, nicht Freud und auch nicht der Kommentator Freuds ist frei von Neurosen. So betrachtet, stellt sich das erkenntnistheoretische Problem der Subjektivität für die Psychoanalyse in besonderem Maße.41 Ein ganz anderes Reales erscheint in einem weiteren berufsethischen Zusammenhang. Das Reale ist hier normativ verstanden als Wirklichkeit, zu der der in einer imaginären Welt lebende Analysand zurückkehren soll: »Was ist es, was in der Analyse aufs Spiel gesetzt wird? Ist es dieses reale Verhältnis des Subjekts, nämlich seine Realität zu erkennen, einer bestimmten Weise gemäß und gemäß unseren Maßen? Ist es das, womit wir in der Analyse zu tun haben? Gewiß nicht, es ist unbestreitbar etwas anderes.« (17)

Genau betrachtet, verwendet Lacan hier den Ausdruck réalité/Realität, und nicht den philosophischeren Begriff réel/Reales. Eine Differenzierung, die anzeigt, dass das Reale eben nicht die objektive mundane Realität meint, möglicherweise aber die psychische Realität des Anaylsanden meint, in dem Sinne, dass sie dem Analytiker fremd bleiben muss.42 Lacan formuliert hier eine 39

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Als Biographin Lacans hat Elisabeth Roudinesco einen möglichen weiteren Aspekt des Realen im Blick. Ihr zufolge übernahm Lacan »von Bataille dessen Ref lexionen über das Unmögliche und über die Heterologie und zog daraus den Begriff des zunächst als ›Rest‹, dann als ›Unmögliches‹ gedachten Realen.« (Roudinesco, (1993) Lacan, S. 214.) Lacan, (1953a) Das Symbolische. Vgl. Lacan, (1953a) Das Symbolische, S. 16f. »Unter der Kategorie des Realen schließlich wurde das eingeführt, was Freud psychische Realität genannt hatte, das heißt der unbewußte Wunsch und die da-

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Kritik an einer instrumentell verstandenen psychoanalytischen Praxis, die das vermeintlich geläuterte Weltbild des Analytikers als Maß für den Analysanden setzt. Als Begriff noch kaum geschärft, ist das Reale bereits in fachpolitische Scharmützel verstrickt. An anderen Stellen des Inauguralvortrags zeigt sich das Reale als Spielbein, um die Beweglichkeit des Lacan’schen Systems zu demonstrieren. So präsentiert er am Ende eine strukturalistisch inspirierte – und inspirierende – Symbolreihe »rS - rI - iI - iR - iS - sS - SI - SR - rR - rS« (44), in welcher das Reale, dargestellt als kleines »r«, mitunter den bloßen sprachlichen Wert von »Realisierung« (45) annimmt, was nicht gerade zur Klärung beiträgt. In den obigen zwei Beispielen nutzt Lacan den Begriff, um in der Situation der Spaltung heikle Punkte zu thematisieren: Die Frage der Eignung von Kandidaten für die Ausbildung und die ethische Ausrichtung der Disziplin sind aus seiner Sicht wichtige Punkte der Auseinandersetzung. Das in meinen Augen konzeptionell schlüssigste Argument, ein Reales beim vorliegenden Stand der Theoretisierung einzuführen, erscheint in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum: »Serge Leclaire – Sie haben zu uns vom Symbolischen, vom Imaginären gesprochen. Aber da war auch das Reale, von dem Sie nicht gesprochen haben. J.L. – Ich habe dennoch ein wenig davon gesprochen. Das Reale ist entweder die Totalität oder der entschwundene Augenblick. In der analytischen Erfahrung ist es für das Subjekt stets der Zusammenstoß mit etwas, zum Beispiel dem Schweigen des Analytikers.« (51f )

Während der erste Teil der Antwort nochmals auf die approximative Dimension von Erkenntnis verweist, ist der zweite Teil ein nicht zu unterschätzender Hinweis. Das Reale wird hier präsentiert, als etwas, das der Analytiker handhaben kann. Es befindet sich außerhalb der kulturell determinierten symbolischen Ordnung und außerhalb der narzisstisch-identifikatorischen Beschränktheit des Imaginären. Lacan verweist hier auf ein therapeutisches Werkzeug, das geeignet ist, den Patienten von affektiven und argumentativen Routinen zu befreien. Malcolm Bowie zählt in seiner Lacan-Monographie – zwar in Hinblick mit verbundenen Phantasien.« (Roudinesco, (1993) Lacan, S. 328.) In Bezug auf spätere Äußerungen Lacans ist diese Darstellung allerdings irreführend. Die psychische Realität entspricht dann eher einem Feld, das sich zwischen Imaginärem und Symbolischem aufspannt, das Reale hat hierbei die Funktion eines Randes oder einer barre. Vgl. Lacan, Jacques, (1956/1966) »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, in: ders., Schriften II, Weinheim, Berlin, 1991, S. 61-118, hier: S. 86f. Zum Konzept der barre vgl.: Balat, Michel, (2000) Des fondements sémiotiques de la psychanalyse. Peirce après Freud et Lacan, Paris, Montreal, 2000, S. 20.

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auf einen späteren Text, was für die Argumentation hier jedoch unerheblich ist – Momente des Realen auf: »Es ist der Dachziegel, der einem Passanten auf den Kopf fällt, ein Dummkopf, der eine schöpferische Trance vorschnell beendet, oder (mit einem Beispiel Lacans) das Klopfen an der Tür, das einen Traum unterbricht.« (100) 43

Diese Reihe scheint das Reale als das Gesamt derjenigen Ereignisse auszuweisen, die sich zufällig oder unvorhergesehen ereignen. In dieser generalisierten Form ist dies jedoch irreführend, denn es entsteht der Eindruck einer äußeren Handlungsmacht. Die weiteren Ausführungen Bowies klären den Sachverhalt: »Herabfallende Dachziegel sind für die Psychoanalyse nicht ohne Interesse, und der Analytiker muß aus der Richtung der Dummheit in die Phantasien des Analysanden eintreten.« (100) Lacans Register des Realen ist keinesfalls bezogen auf die angeführten Ereignisse als solche, sondern auf ihre Funktion in der »analytischen Erfahrung« (51)44. Das Reale ist also zum Zeitpunkt seiner Einführung auch ein technischer Begriff vor jeder ontologischen Bezugnahme und im epistemologischen Sinne nur insofern aktivierbar, als Lacan durch die Erfahrung des Realen hindurch eine im interpretatorischen Prozess generierte Erkenntnis anstrebt. Zwar kommt es, sagt Lacan, in der Psychoanalyse zu Erscheinungen, die neben einem imaginären und symbolischen Register liegen, und er fragt, »[w]ie kommt es, daß man durch diese imaginäre und symbolische Erfahrung hindurch in ihrer letzten Phase zu einer begrenzten, aber treffenden Erkenntnis der Struktur des Analytikers gelangt?« (52), doch handelt es sich hierbei um spezifisch »psychoanalytische[] Phänomene« (250)45. Der Analytiker kann von dem Realen Gebrauch machen, indem er das Fabulieren des Analysanten wie ein »Dummkopf« (100)46, also wie jemand, der Symbolisches und Imaginäres nicht berechenbar handhabt, unterbricht. Man kann sagen, dass Lacan in seinem Inauguralvortrag die Begriffe des Symbolischen, des Imaginären und des Realen neu arrangiert. Das Symbolische erhält eine sozialanthropologische Bedeutung nach Lévi-Strauss’schem Zuschnitt, das Imaginäre kann im sichtbaren Verhalten indiziert werden und das Reale verliert seine eindeutige Bestimmung als materiell Existentierendes. Zu einer ausführlichen Verhandlung dieser Bildungen kommt es jedoch nicht. Diese behält er den folgenden Seminarsitzungen vor. Lacan legt hingegen viel Wert darauf, zu vermitteln, wie er verstanden werden will. Erstens sieht er sich in einer interpretatorischen Tradition, die Freud mit seiner Autoanalyse initiiert hat. Kommentare zu dessen schriftlicher Hinterlassenschaft sind das 43 44 45 46

Bowie, Malcolm, (1991) Lacan, Göttingen, 1997. Lacan, (1953a) Das Symbolische. Evans, (1996) Wörterbuch. Bowie, (1991), Lacan.

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probate Mittel, wenn es um das Subjekt geht, das sich wesensmäßig der wissenschaftlichen Objektivierung entzieht. Zweitens verfolgt Lacan das Projekt, die Psychoanalyse mit den neuen strukturalistischen Methoden auszustatten. In der Formalisierung, die vom konkreten Inhalt absieht und die die Relationen von Elementen in den Vordergrund stellt, zeigt sich ein Ausweg aus der erkenntnistheoretischen Sackgasse, die sich ergibt, wenn man jeder einzelnen Analyse ihren singulären Wert zugesteht. Ein hohes Abstraktionsniveau erlaubt die Verallgemeinerung, ohne die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen aus den Augen zu verlieren.47 Drittens greift Lacan immer wieder auf die Tierverhaltensforschung zurück, um Vergleiche zum Menschen anzustellen. Dabei verfolgt er das Projekt, aufzuweisen, dass es sich beim Verhalten – dem tierischen und dem menschlichen – um an sich bedeutungslose Akte handelt, die ihren Wert nur im intersubjektiven beziehungsweise sozialen Gebilde erhalten.48 In diesen drei Bezugsfeldern situiert, stellt er die Trias aus Imaginärem, Symbolischem und Realem als fundamentales kategoriales Raster der menschlichen Realität vor. Keines der Felder ist auch nur annähernd geeignet, für sich den Status einer Letztbegründung einzufordern. Alle drei Felder weisen jedoch einen hermeneutischen Aspekt auf. Am augenscheinlichsten ist dies bei der Selbstanalyse Freuds. Eine Analyse analysieren dürfte als das hermeneutische Verfahren schlechthin gelten. Die Strukturanalyse, wie sie Lévi-Strauss vorschlägt, nutzt keine Metasprache, um Inhalte zu gruppieren. In den Inhalten selbst ist die Struktur enthalten, die Inhalte sind die Struktur: Die Struktur ist kein zusätzliches Element, weder auf der Ebene der Untersuchungsgegenstände noch auf der Ebene der Theoretisierung.49 Dergestalt kann gelten, dass keine transzendenten Elemente eingeführt werden. Die Ethologie, wie sie von Lacan eingesetzt wird, zeigt, dass Sinn ein diskursives Verfahren ist.

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Die Freud’sche Methode, die individuellen Krankengeschichten zu verallgemeinern, indem sie auf wenige universelle Mythen zurückgeführt werden, löst sich nur schwer aus den jeweiligen kulturellen Aktualbezügen. Dieses Problem spricht Lacan an, wenn er die Gültigkeit des Ödipus für seine Zeit in Frage stellt. Vgl. Lacan, (1952) Mythos, S. 36ff. Dahingegen besteht die Hoffnung auf Allgemeingültigkeit in den Formalisierungen, wie sie Lévi-Strauss vorführt. Vgl. Roudinesco, (1993) Lacan, S. 324. In Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty: »Das Verhalten besteht also aus Beziehungen, d. h. es ist gedacht und existiert nicht an sich, wie übrigens jedes andere Objekt - das hätte uns die Ref lexion gezeigt.« (Merleau-Ponty, Maurice, (1942) Die Struktur des Verhaltens, Berlin, New York, 1976, S. 143.) In einer methodischen Abgrenzung zum Formalismus stellt Lévi-Strauss fest: »Die Form definiert sich im Gegensatz zu einer Materie, die ihr fremd ist; aber die Struktur hat keinen von ihr unterschiedlichen Inhalt: sie ist der Inhalt selbst, erfaßt in einer logischen Organisation, die als eine Eigenschaft des Realen gilt.« (Lévi-Strauss, Claude, (1973) Strukturale Anthropologie II, Frankfurt/M., 1992, S. 135.)

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Die Interpretation – bekannt als Deutung durch den Analytiker –, die ein wesentlicher Bestandteil der Psychoanalyse ist, bestimmt also den Kontext, in welchem die drei Ordnungen von Lacan eingeführt werden. Daraus können erste Schlüsse gezogen werden: Keine der Ordnungen dürfte geeignet sein, eine ontologische Dimension zu bezeichnen. Auch epistemologische Aussagen, die nun eventuell aus den Registern erwachsen, können keinen anderen Halt oder keine andere Fundierung finden, als in der soziokulturellen Selbstvergewisserung, in der sich die Psychoanalyse fortlaufend befindet. Geklammert werden die polaren Referenzen Ethologie und Selbstanalyse durch das strukturale Verfahren, das als universell genug verstanden wird, alle stofflichen und geistigen Erscheinungsweisen zu umfassen. Doch bezieht sich Lacan überhaupt auf Phänomene außerhalb der Psychoanalyse? Also auf Gegenstände oder Gesetzlichkeiten, in dem Sinne wie sich die Naturwissenschaften auf die Wirklichkeit beziehen? Für die Psychoanalyse scheint doch zu gelten: »Die Freudsche Welt ist keine Welt der Dinge, sie ist keine Welt des Seins, sie ist eine Welt des Begehrens als solchen.« (283)50 Nichtsdestotrotz, neben den vielen situativen und kommentierenden Anwendungen seiner drei »Eigennamen« finden sich auch Hinweise auf deren Charakter. Eine Bestimmung der drei Register, die auch für eine Fassung als Erkenntnistheorie gelten könnte, nennt Lacan in seinem Seminar: »Es sind das nicht drei Felder. Sie haben sehen können, daß bis ins Tierreich hinein sich aufgrund derselben Handlungen, desselben Verhaltens genau diese Funktionen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen unterscheiden lassen, weil sie sich nicht in derselben Bezugsordnung ansiedeln lassen.« (174) 51

Die differenzielle Bestimmung der Register erfolgt aufgrund unterschiedlicher funktionaler Bezugsordnungen. Die Register als Funktionen aufzufassen, lässt eine kategoriale Interpretation zu und eröffnet transdisziplinäre Anwendungsmöglichkeiten. Relationalität könnte darüber hinaus das Kriterium sein, menschliche Welterkenntnis zu strukturieren. Will man Lacans Denken gerecht werden, stellt sich das Problem, dass seine Vorträge und Seminartexte einen hohen Anteil an situativen Elementen haben. Wer die Gelegenheit hat, den Fernsehvortrag »Télévision« zu sehen, wird feststellen, dass seine Rede eine ausgefeilte Inszenierung beinhaltet, dass Pausen, Akzente, selbst ein Räuspern oder ein Verhaspeln den Aussagegehalt nicht unberührt lassen. Darüber hinaus muss gelten, dass sein Publikum bei50 51

Lacan, Jacques, (1954-1955) Das Seminar, Buch II (1954-1955). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin, 1991. Lacan, (1953-1954) Seminar I.

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spielsweise über relevante zeitnahe Buchveröffentlichungen informiert war – zumindest setzte er dies voraus. Eine kleine Anspielung, das Fallenlassen eines Begriffs sollte genügen, um die Gedanken seiner Zuhörer zu lenken, so der elitäre Anspruch Lacans. Dass er kein Autor ist, der Bände schreibend mit einem Denksystem gefüllt hat – es ist schwer, diesem Umstand als jemand, der über ihn schreibt, gerecht zu werden: Will man nachträglich festzurren, was Lacan in lockeren Fadenringen angedacht hat? Andererseits erscheint die Konzeption eines allgemein gefassten triadischen Weltzugangs aussichtsreich. Vielleicht organisiert sich menschliche Welterkenntnis tatsächlich in den Registern eines Imaginären, eines Realen und eines Symbolischen? Oder etwas kritischer formuliert: womöglich lassen sich auch außerhalb der Psychoanalyse wiederkehrende Figuren dieser Register ausweisen. In dieser Situation sehe ich Chancen in einer situativen Verdichtung, einer Momentaufnahme, die versucht, den diskursiven Hintergrund zu rekonstruieren. Ein solches Verfahren beinhaltet nur wenig zwingende Momente, was andererseits die Möglichkeit eröffnet, jeweils singulären Entwicklungsgeschichten einzelner Theoriefiguren nachzuspüren.52 Methodisch bedeutet dies, die Hoffnung auf eine systematische Darstellung aufzugeben und statt dessen argumentativ nachzuvollziehen, was dies sein könnte: ein Weltzugang, kategorial strukturiert durch ein Imaginäres, ein Symbolisches und ein Reales. Mein Vorschlag lautet, die ersten Sätze des ersten (publizierten) Seminars programmatisch zu lesen: »Der Lehrer unterbricht das Schweigen durch gleichgültig was, einen Sarkasmus, einen Fußtritt. So geht auf der Suche nach einem Sinn ein buddhistischer Lehrer vor, entsprechend der Technik des Zen. Es ist Sache der Schüler selbst, die Antwort auf ihre eigenen Fragen zu suchen. Der Lehrer trägt nicht ex cathedra eine abgeschlossene Wissenschaft vor […]. Diese Lehre ist eine Absage an jedes System. […] Freuds Denken hält sich durchweg geöffnet für Überprüfung und Überarbeitung. Ein Irrtum, es auf abgenutzte Worte zu reduzieren. Jeder Begriff besitzt in ihm sein eigenes Leben. Und genau das heißt Dialektik. Einige von diesen Begriffen waren in einem bestimmten Augenblick für Freud unentbehrlich, denn sie enthielten die Antwort auf eine Frage, die er zuvor, in anderer Terminologie, formuliert hatte. Ihre Bedeutung kann also nur erfassen, wer sie in ihren Kontext wieder einsetzt.« (7) 53

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So rekonstruiere ich das Symbolische nicht, wie dies meist getan wird, in der Traditionslinie der Linguistik, sondern in den sich neu orientierenden Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts. Einerseits will ich damit diesem vernachlässigten Aspekt der Lacan’schen Lehre Ausdruck verleihen, andererseits mag ein solcher Angang geeignet sein, den transdisziplinären Austausch mit den Naturwissenschaften zu begünstigen. Lacan, (1953-1954) Seminar I.

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Das Ziel meiner Untersuchung liegt abweichend nicht im psychoanalytischen Feld: Es geht um eine möglichst breit referenzierte Erkenntnistheorie. Dementsprechend ist mein Vorgehen: meine Frage in diesen ihren spezifischen Kontext einzusetzen und damit die Psychoanalyse zu verlassen. Lacans außerfachliche Bezüge sind bis in die fünfziger Jahre hinein noch relativ gut in seinen Texten zu recherchieren. Worum es nun ginge, wäre ein Nachspüren – im Sinne der Aufnahme einer Spur – welcher erkenntnistheoretisch relevante Sinnzusammenhang jeweils ausgewiesen werden kann, um zu positiven Bestimmungen der drei Register zu gelangen. Das bedeutet im Konkreten, die Quellen zu studieren, die Lacan 1953 zugänglich waren und dabei diejenigen zu bevorzugen, deren Spuren in seinem Werk nachvollziehbar bleiben und darüber hinaus diejenigen, die besonders ertragreich zur Klärung der Erkenntnisfrage erscheinen. Meine Arbeitsthese lautet also: Lacan hat mit den Ordnungen eines Symbolischen, eines Imaginären und eines Realen erkenntnistheoretische Fragen im Blick. Alle drei Begriffe bringen ein hohes epistemologisches Gewicht mit, sind zentrale Konzepte in philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen. Als ausbildender Psychoanalytiker nutzt er diese kategorialen Register zur Ausformulierung einer spezifisch psychoanalytischen Theorie, die durchaus auch als lebensphilosophischer und eben auch erkenntnistheoretischer Entwurf verstanden werden kann. Eine Erkenntnistheorie der drei Ordnungen außerhalb der Psychoanalyse als eigenständige Konzeption54 arbeitet er jedoch nicht aus. Eine solche Theorie hätte jedoch ein großes Potential, da sie gewichtige Begriffe auf originäre Weise in Beziehung zueinander setzt. Anhand der Bezüge, die 1953 in Lacans Konzepte eingeflossen sind, lässt sich eine epistemologische Variante der bekannten Trias ergebnisoffen konstruieren. Obwohl diese in Hinblick auf die historische Situation spekulativ bleiben muss, hat sie den Vorzug, das erkenntnistheoretische Potential der drei Register überhaupt in den Blick zu nehmen und für transdisziplinäre Anwendungen zur Diskussion zu stellen. In Hinblick auf die psychoanalytische Forschung liefert das Verfahren darüber hinaus eine kontextuelle Recherche zu den Quellen und Diskursen, die Lacan zu der bekannten Fassung der Trias gebracht haben. Es fällt schwer, die drei Register in Lacans Gesamtwerk als durchgehend konsistente epistemologische Begriffe zu fassen. Selbst wenn man von ihrem okkasionellen Gebrauch vor 1953 absieht, ist ihre Verwendung durchaus si54

Genau genommen ist der Begriff einer »eigenständigen Konzeption« nicht haltbar, da selbstverständlich jede Konzeption in einem Kontext eingebunden ist. Was hier gemeint ist, ist eine Kontextualisierung außerhalb der Psychoanalyse, und im Positiven formuliert: die Berücksichtigung der Traditionslinien und Ursprungsdiskurse – wobei »Ursprungsdiskurse« nur wiederum bedeuten soll: jene Diskurse, aus denen Lacan die Begriffe jeweils entnimmt. (Wo mehrere Linien denkbar sind, interessieren mich vor allem die Diskurse, die im Zusammenhang mit Lacan noch wenig ausgewertet sind.)

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tuativ geprägt. Dies sehe ich jedoch nicht als Schwachpunkt seiner Theorie. Vielmehr setzt Lacan damit um, was er in den ersten Sätzen seines Seminars anklingen lässt: »Der Lehrer trägt nicht ex cathedra eine abgeschlossene Wissenschaft vor […]. Diese Lehre ist eine Absage an jedes System.« (7)55 Die vielen Zwischentöne, die durch das gegenseitige Ausspielen vermeintlich gesicherter wissenschaftlicher Positionen zu hören sind – was insbesondere aus den sich immer wieder entziehenden Signifikanten eines Realen resultiert –, stellen den Reichtum der Lacan’schen Hinterlassenschaft dar. Diese ereignisreiche Musik auf drei Akkorde herunterbrechen zu wollen, halte ich für ein freudloses Unterfangen. Trotzdem erachte ich das Konzept eines triadischen kategorialen Weltzugangs für unendlich inspirierend. Deshalb will ich nun mit der ergebnisoffenen Konstruktion einer solchen Trias beginnen, die Fäden aufnehmend, die Lacan in den Händen gehalten haben mag, als er am 8. Juli 1953 hinter das Katheder tritt. In einem wenig später gehaltenen Vortrag mit dem Titel »Über das Symbol und über seine religiöse Funktion«56 rekurriert Lacan zweimal in prägnanter Weise auf den Begriff des Symbols. Zunächst erinnert er daran, »dass eine der offiziellen, konkreten Definionen des Wortes Symbol in der griechischen Sprache auf die zerbrochene Scherbe verweist, deren Vereinigung genau das bildet, wonach wir auf der Suche sind, den relationalen Wert des Symbols.« (45)57 Er zeigt damit an, dass das Symbol einen gesellschaftlichen Wert annehmen kann. Immer noch bleibt natürlich die Frage, wie von einem solchen Symbol zu einer symbolischen Ordnung als menschliches Register zu gelangen ist. Lacans etwas lakonisch ausfallende Antwort lautet: »Das Symbol existiert innerhalb seiner Welt von Symbolen. Es könnte ganz allein nicht existieren. Es gibt nicht ein Symbol. Das Symbol besteht als solches nur im Innern eines Systems.« (60) An genau dieser Stelle, da Synchronizität und Relationalität des Symbolischen benannt werden und damit ein erkenntnistheoretisch neu gefasstes System sichtbar wird, verlassen wir Lacan – nicht für immer – und beginnen die Recherche im Getümmel der naturwissenschaftlichen Umwälzungen, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgezeichnet haben.

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Lacan, (1953-1954) Seminar I. Lacan, Jacques, (1954) »Über das Symbol und über seine religiöse Funktion«, in: ders., Der individuelle Mythos des Neurotikers oder Dichtung und Wahrheit in der Neurose, Wien, 2008, S. 43-79. Lacan, (1954) Symbol.

Teil 1 Das Symbolische

0) Ernst Cassirer und der Gang der Naturwissenschaften

Damit der Begriff eines, des Symbolischen im kategorialen Sinne möglich wurde, musste eine Universalisierung des Symbol-Begriffs vorausgehen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde das Symbol eher als ein Spezialfall der Repräsentation angesehen:1 Insbesondere galt es, auf etwas zu verweisen, das außerhalb eines symbolischen Zugangs auch außerhalb des menschlichen Erkenntnis- bzw. Vorstellungsbereiches bleiben müsste. Einen letzten Ausläufer dieses emphatischen Verständnisses – emphatisch, auch wenn es nicht mehr, wie im Mittelalter, auf Gott abzielt – kann man bei Herbert Spencer finden, bezeichnenderweise in einem Kapitel mit der Überschrift: »Letzte religiöse Ideen«. Die Kugelgestalt der Erde zu erfassen, ist die Aufgabe, die, so Spencers Beispiel, nur symbolisch lösbar ist. Man halte sich vor Augen, dass die faszinierenden Funktionen eines beliebigen »Rein-und-Raus-Zoomens« wie mit google-earth damals noch nicht verfügbar waren. Noch nicht einmal eine Fotografie der Erde, aus dem Orbit übermittelt, war in jener Zeit zur Hand. Ein räumlicher Begriff blieb reine Spekulation – oder genauer, so Spencer, das Ergebnis einer symbolischen Vorstellung: »Wenn wir am Meeresstrande bemerken, wie die Rumpfe entfernter Schiffe unter dem Horizont verborgen und wie von noch weiter entfernten Schiffen nur die obersten Segel sichtbar sind, so können wir mit ziemlicher Deutlichkeit die unbedeutende Krümmung jenes Theils der Meeresoberf läche erkennen, welcher vor uns liegt. Wenn wir aber versuchen, mit unserer Einbildungskraft diese gekrümmte Oberf läche, wie sie in Wirklichkeit besteht, weiter zu verfolgen, wie sie sich langsam herum-

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Wichtige Etappen des Symbolbegriffs in der Philosophiegeschichte sind nachgezeichnet in: Tomberg, Markus, (2001) Studien zur Bedeutung des Symbolbegriffs. Platon, Aristoteles, Kant, Schelling, Cassirer, Mead, Ricoeur, Würzburg, 2001.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale biegt, bis alle ihre Meridiane sich in einem, achttausend Miles unter unseren Füßen liegenden Punkte treffen, werden wir vollständig verwirrt.« (22) 2

Und obwohl es »über unsere Kraft« (22) geht, die Erde als ganzes vorzustellen, »sprechen wir so, als ob wir eine Idee von der Erde hätten, – als ob wir an sie in derselben Weise denken könnten, wie wir an kleinere Gegenstände denken.« (23) Doch wir haben keine »im eigentlichen Sinne sogenannte Vorstellung« (23) von der Erde, sondern verbinden zwei Erfahrungen: Erstens diejenige der Masse unter unseren Füßen, deren Ausmaß unvorstellbar bleibt, und zweitens denken wir »an einen Körper, einer irdischen Kugel ähnlich« (23). Die Verbindung der beiden Ideen, welche zur Folge hat, dass wir die Erde, auf der wir stehen, in Kugelgestalt akzeptieren können, nennt Spencer »symbolische Vorstellung« (23). Das vorgebrachte Beispiel ist vom Autor möglicherweise nicht so emphatisch gemeint gewesen und vielleicht nur wegen seiner Anschaulichkeit herangezogen worden, doch steht es exemplarisch für die Bedeutung des Symbols als Stellvertreter für Unanschauliches, wie Gott, ewige Ideen, poetische Bilder oder Transzendentalien, wie sie bislang vorherrschte. Im 19. Jahrhundert hingegen wird, insbesondere durch die methodologischen Reflexionen in den Naturwissenschaften, die Bedeutung neu gefasst. Das Symbolische wird zum einen mehr und mehr im Zusammenhang mit dem Problem der Repräsentation empirischer Daten herangezogen, zum anderen verweist es verstärkt auf die abstrakten Formeln und Funktionen mathematischer Physik. Spencer, der sich an der Schwelle zur neuen Fassung des Begriffs befindet, diskutiert im Fortgang seiner Einführung in den »letzte[n] religiösen Ideen« (22) die Verwendung im wissenschaftlichen Bereich mit einer gewissen Skepsis. So sieht er in Verallgemeinerungen und Klassifizierungen die Gefahr, dass »die aus einigen wenigen typischen Vertretern in Verbindung mit dem Begriff der Vervielfältigung gebildete Vorstellung immer mehr und mehr zu einem bloßen Symbol wird.« (24) Die Symbolisierung sei in vielen Fällen unabdingbar und ein notwendiger Schritt in zahlreichen Problemstellungen, doch stellt Spencer die Forderung auf, den Symbolisierungsprozess transparent und dem Gegenstand adäquat zu halten. Weiterhin bestehe die Gefahr, Symbolisches für existent zu halten: »Wir öffnen damit das Thor Vorstellungen, welche behaupten, bekannte Dinge darzustellen, welche aber in Wirklichkeit Dinge vertreten, welche in keinerlei Weise erkannt werden können.« (26) Heute würde man hierfür den Begriff der Reifizierung ansetzen. Gerade dieses letzte Zitat aus Spencers Werk zeigt nochmals auf, dass hier das Symbol

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Spencer, Herbert, (1860-62) Grundsätze einer synthetischen Auffassung der Dinge, Stuttgart, 1901.

Teil 1: Das Symbolische

immer noch im Bereich des degradierten Spezialfalls bleibt, der Autor sich auf einer epistemologischen Schwelle befindet, was den Begriffsumfang betrifft. Insgesamt scheint zudem die Problemstellung der Repräsentation eines Naturphänomens im angeführten Beispiel eher auf der Seite der Vorstellung zu liegen, als dass sie auf eine Semiologie avant la lettre verweisen würde. In diesem Sinne spricht Spencer von einer »symbolischen Vorstellung« (22). Er bewegt sich auf der Ebene möglichst richtiger und wahrer Vorstellungen empirischer Erfahrungen. Nur dort, wo die Empirie das Wahrnehmungsvermögen des Menschen übersteigt oder entschieden an Evidenz verliert, sei es das Mittel der Wahl, symbolische Operationen zuzulassen. Es ist interessant, dass auch auf dem stärker von Kant geprägten Festland die symbolische Dimension der Naturwissenschaften im engen Zusammenhang zunächst mit dem Bildbegriff thematisiert wird. So schreibt Heinrich von Hertz in seiner Einleitung in Die Prinzipien der Mechanik: »Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können. Als Grundlage für die Lösung jener Aufgabe der Erkenntnis benutzen wir unter allen Umständen vorangegangene Erfahrungen, gewonnen durch zufällige Beobachtungen oder durch absichtlichen Versuch. Das Verfahren aber, dessen wir uns zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen und damit zur Erlangung der erstrebten Voraussicht stets bedienen, ist dieses: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste.« (1)3

Diese gewissen Übereinstimmungen sind durchaus aufzuweisen, so der Fortgang der Diskussion. Im Zusammenhang mit dem Symbolbegriff fällt auf, dass Hertz wie auch Spencer zwar die Notwendigkeit der Unabhängigkeit der Denkvorgänge in eigenen Strukturen bei möglichst hoher Vereinbarkeit mit dem Naturgeschehen in den Blick nimmt, dabei aber jedem Phänomen ein inneres Pendant zuweist, das ein je diskretes und analoges Abbild ist. Der im obigen Zitat gefallene Terminus Symbol wird von Hertz im weiteren Verlauf auch weitgehend durch den Ausdruck Bild ersetzt. In diesem Repräsentationsverhältnis gibt es eine Analogie zwischen Denknotwendigkeit und Naturnotwendigkeit. Wer oder was diese stiftet, bleibt freilich dahingestellt. Im wis3

Hertz, Heinrich, (1894) Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig, 1894.

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senschaftlichen Modus, der sich über die Verifizierbarkeit und die Voraussage eines Ergebnisses legitimiert, darf angenommen werden, dass es sich nicht um eine prästabilierte Harmonie handelt, sondern eher das Ergebnis eines methodologisch ausgewiesenen Prozesses ist – eine Annahme, die noch zu überprüfen sein wird. Hertz geht einen Schritt weiter und führt an, dass eine Darstellung der Mechanik ebenfalls Hilfsbezeichnungen mit einschließen kann. Als Beispiel führt er den Begriff der Kraft an. Hilfsbegriffe, mathematische Ableitungen und Zusammenführungen jedoch sind Abstraktionen, die über die bildliche Analogie hinausgehen.4 Der Bildbegriff umfasst also nicht nur Repräsentationen sondern auch die konstruktiven, mitunter intrinsischen Vorstellungen des Geistes. Hertz wird in diesem Punkt sehr deutlich: »[J]eder denkende Geist hat als solcher Bedürfnisse, welche der Naturforscher metaphysische zu nennen gewohnt ist. […] Freilich können wir von der Natur nicht a priori Einfachheit fordern, noch auch urteilen, was in ihrem Sinne einfach sei. Aber den Bildern, welche wir uns von ihr machen, können wir als unsern eigenen Schöpfungen Vorschriften machen. Wir urteilen nun mit Recht, daß, wenn unsere Bilder den Dingen gut angepaßt sind, daß dann die wirklichen Beziehungen der Dinge durch einfache Beziehungen zwischen den Bildern müssen wiedergegeben werden.« (28)

Der Umstand, dass Hertz im weiteren Textverlauf drei kardinale Bilder der Welt der Mechanik ausmacht, die jeweils Vor- und Nachteile aufweisen und über deren Relevanz noch zu entscheiden wäre,5 verweist auf ein konstruktivistisches Moment in den physikalischen Begriffen. Es ist bemerkenswert, wie unproblematisch sich für den Physiker die Termini Symbol und Bild in einem Begriff vereinen, der wesentlich einer »Natur« (48) entgegensteht. Dass der Natur »keine Vorschriften« gemacht werden können, hält Hertz nicht davon ab, Anforderungen an die Physik als Wissenschaftsdisziplin zu stellen. Die Darstellungen der Physik, ihre Bilder beziehungsweise Symbole, sind also abgelöst von der reinen Empirie zu betrachten.6 Es sind Elemente, die hinsichtlich der Trefflichkeit ihrer Voraussagen bewertet werden. Aber auch ihre Anschaulichkeit, ihre lebensweltliche Plausibilität spielt eine Rolle, denn es geht darum, dass sie »den Dingen gut angepasst sind« (28)7. Die Selbstverständlichkeit des kartesischen Dualismus zwischen res extensa und res cogitans dominiert den 4 5 6

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Vgl. Hertz, (1894) Mechanik, S. 19. Vgl. Hertz, (1894) Mechanik, S. 48f. »Die Grundbegriffe der Naturwissenschaft erscheinen jetzt nicht mehr als Kopien und Nachbilder eines unmittelbar dinglich Gegebenen; sondern sie werden als konstruktive Entwürfe des physikalischen Denkens eingeführt [...]«. (Cassirer, Ernst, (1929) Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg, 2010, S. 23.) Hertz, (1894) Mechanik.

Teil 1: Das Symbolische

Gedankengang des Hertz’schen Textes, der noch keine spezifische Begrifflichkeit des Symbolischen herausbildet. Lediglich die kausale Unabhängigkeit der Denknotwendigkeiten von den Naturnotwendigkeiten kann angenommen werden: ist deren Kohärenz doch erst das Produkt des wissenschaftlichen Handelns.8 Eine solche Unabhängigkeit ist jedoch ein notwendiger Schritt in Richtung einer symbolischen Grundlegung der Wissenschaften. Bevor nun Heinrich Hertz’ Zeitgenosse und Physikerkollege Hermann von Helmholtz zu Wort kommt, um das Symbolische weiter zu spezifizieren, noch eine Anmerkung zum jeweiligen Kontext der bislang angeführten Zitate. Hertz präsentiert seine Überlegungen zu den »inneren Scheinbildern« (1) in einer Einleitung zu einem umfassenden Werk über Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt. Es kursieren in jener Zeit konkurrierende Modelle, bestimmte Phänomene der Physik abzubilden. Hertz muss sich für eines entscheiden und diese Wahl rechtfertigen, wenngleich jedes Modell seine Vor- und Nachteile hat. Mit dem Verweis auf die grundsätzliche Konstruiertheit von Theorie schafft er sich Raum für eine freiere Darstellung. Bei Helmholtz taucht die Reflexion auf das Symbolische in einem ebenfalls beachtenswerten Zusammenhang auf. Sie erscheint in einem Handbuch der physiologischen Optik9 und folgt einer Erörterung der unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen von Tönen und Farben. Helmholtz zeigt zunächst, dass es physikalische Eigenschaften gibt, die beiden Phänomenen gemeinsam zugerechnet werden: so der Schwingungscharakter und das Vorhandensein eines wahrnehmbaren Spektrums, welches nur einen Ausschnitt aus den messbaren Wellenlängen ausmacht. Nun verhält es sich so, dass der menschliche »Nervenapparat« (586)10 völlig unterschiedlich auf physikalisch gleiche Phänomene reagiert, wie zum Beispiel beim Zusammenwirken zweier Schwingungen. Während zwei Farben sich mischen, werden zwei unterschiedliche Töne (die sich ja ebenfalls als zwei Frequenzen messen lassen) als getrennte wahrgenommen. Mit anderen Worten kann das, was wir mittels verschiedener Sinne erfahren, nicht mit den messbaren Eigenschaften der zugrunde liegenden physikalischen Ereignisse korrespondierenden. Denn sonst müssten sich auch die wahrgenommenenen Wellenphänomene der Akustik und des Visuellen zumindest annähernd oder strukturell gleich verhalten. Da sie dies nicht tun, zieht Helmholtz den Schluss, dass alles, was der Mensch an Wahrnehmungen hat, Zeichencharakter besitzt. Er entwickelt diesen Gedanken wie folgt:

8 9 10

Vgl. Hertz, (1894) Mechanik, S. 1. Helmholtz, Hermann von, (1856-1866) Handbuch der physiologischen Optik, Hamburg, Leipzig, 1896. Helmholtz, (1856-1866) Handbuch.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »Unsere Empfindungen sind eben Wirkungen, welche durch äußere Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparats ab, auf den gewirkt wird [gemeint sind hier Auge und Ohr, F.W.] Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigenthümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht giebt, kann sie als ein Zeichen derselben gelten, aber nicht als ein Abbild. Denn vom Bilde verlangt man irgend eine Art der Gleichheit mit dem abgebildeten Gegensande, von einer Statue Gleichheit der Form, von einer Zeichnung Gleichheit der perspectivischen Projection im Gesichtsfelde, von einem Gemälde auch noch Gleichheit der Farben. Ein Zeichen aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist. Die Beziehung zwischen beiden beschränkt sich darauf, daß das gleiche Object, unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen.« (586)

Den erkenntnistheoretischen Schritt, der hier vollzogen wird, interpretiere ich als Arbitrarität einer inneren Repräsentation gegenüber seinem äußeren Gegenstand. Es mag verwundern, hier den Begriff der Arbitrarität angewandt zu sehen, doch geht man genauer auf den Autor zurück, der gemeinhin mit dem Ausdruck verbunden wird, Ferdinand de Saussure, so sieht man, dass auch für diesen (im Gegensatz zu Lacan) gilt: »Die Beziehung zwischen beiden beschränkt sich darauf, daß das gleiche Object, unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen.« (586)11 11

Die Analogie zu Saussures Semiologie besteht in der doppelten Funktion der Beziehung Signifikant (gemeint ist hier das Lautbild) und Signifikat (gemeint ist hier die Vorstellung) als einerseits arbiträr, andererseits differenziell gebildete Relation. Die Ungleichheit der Lautbilder untereinander und die Ungleichheit der Vorstellungen untereinander sind strukturelle Voraussetzungen. Dergestalt entstehen relativ stabile symbolische Systeme, die dazu führen, »daß tatsächlich gerade die Beliebigkeit des Zeichens die Sprache vor jedem Bestreben, das auf eine Umgestaltung ausgeht, bewahrt.« (Saussure, Ferdinand, (1906-1911) Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin, 1967, S. 85.) Später bei Lacan spielen Verschiebungen zwischen Signifikanten- und Signifikatsebene eine größere Rolle. Allerdings versteht Lacan unter Signifikanten nicht mehr die Lautbilder, die begriff liche Verschiebung ist also eine komplexe. »Indem er sich von Jakobson leiten läßt, übernimmt Lévi-Strauss zugleich den Saussureschen Einschnitt. Wenn er zum Beispiel Saussures berühmte Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat aufgreift, paßt er sie dem Feld der Anthropologie an und weist dem Signifikanten die Stelle der Struktur und dem Signifikat die der Bedeutung zu, während es bei Saussure um die Entgegensetzung von Laut und Begriff geht.« (Dosse, François, (1991) Geschichte des Strukturalismus. Band 1: Das Feld des Zeichens, 1945-1966, Hamburg, 1996, S. 50) Lacan übernimmt diese Begriffsverschiebung und nimmt weitere Modifikationen vor. Vgl. auch die nächste Fußnote sowie: Zafiropoulos, Markos, (2003) Lacan et Lévi-Strauss ou le retour à Freud (1951-1957), Paris, 2008, S. 188f et passim.

Teil 1: Das Symbolische

Da, wie bei Saussure, Zeichen und bezeichneter Gegenstand konventionell verkoppelt sind (erst Lacan wird die »barre« einführen und damit den frei flottierenden Signifikanten12), kann Helmholtz ohne die Annahme eines eigenen symbolischen Registers und ohne weitere semiologische Überlegungen anstellen zu müssen, Naturgesetze mittels Zeichen abbilden: »Wenn also unsere Sinnesempfindungen in ihrer Qualität auch nur Zeichen sind, deren besondere Art ganz von unserer Organisation abhängt, so sind sie doch nicht als leerer Schein zu verwerfen, sondern sie sind eben Zeichen von Etwas, sei es von etwas Bestehendem oder Geschehendem, und was das Wichtigste ist, das Gesetz dieses Geschehens können sie uns abbilden.« (586)

Im Weiteren sieht Helmholtz die Art und Weise, wie sich Visuelles und Akustisches für uns unterscheiden, nicht nur in der Beschaffenheit unserer Sinnesorgane begründet. Denn die Frage ist berechtigt, woher ein solches Wissen über Sinnesorgane als Quasi-Ursache einer transzendentalen Synthesis der Apperzeption stammen könnte.13 Freilich kann ich mir die Ohren zuhalten, um nichts zu hören, die Augen, um nichts zu sehen, eine kausale Verbindung zwischen einem Ding-an-sich und den Formen der Anschauung kann mittels der Bauform der Sinnesorgane jedoch nicht so leicht hergestellt werden. Lediglich Korrelationen können festgestellt werden. Sie sagen nichts über das subjektive Erleben aus und sie schließen nicht die Kluft zwischen gemessenen physikalischen Größen und Wahrnehmungsphänomen. Weiter führt im angeführten Zitat hingegen der Gedanke der unterschiedslosen Operationalität aller Sinnesdaten als Zeichen. Da der unmittelbare Bezug auf eine Substanz damit völlig aufgegeben wird, ergibt sich eine Gewichtung hin zur Beziehung selbst und ihrer jeweiligen Strukturen. Helmholtz schreibt:

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»Notons alors tout de suite que le résultat du raid en question – s’il nous est permis d’employer encore une telle formule – est non pas la dyade signifiant/signifié (qui est d’ailleurs présentée en situation exactement inverse chez Saussure), mais la barre qui les sépare. De fait Lacan introduit à l’origine que celle-ci jouera un rôle décisif dans la suite puisque, loin de reprendre à son compte le signe comme le revers et l’avers d’une pièce, Lacan va considérer deux f lux séparés par une barre.« (Balat, Michel, (2000) Des fondements sémiotiques de la psychanalyse. Peirce après Freud et Lacan, Paris, Montreal, 2000, S. 20) Im Hintergrund steht folgende Überlegung: Würde eine Umgestaltung oder Verzerrung allen Wahrgenommenens durch meine Sinnesorgane angenommen, so würden auch diese selbst entsprechend verzerrt wahrgenommen. Die Sinnesorgane könnten gar kein reines Datum ihrer selbst liefern. Deshalb ist Kants in der Theorie der transzendentalen Apperzeption entwickelter Ansatz schlüssiger. Der Rekurs auf die menschliche Anatomie und Physiologie wäre insofern stets einem naiven Realismus geschuldet.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »Der populären Meinung gegenüber, welche auf Treue und Glauben die volle Wahrheit der Bilder annimmt, die uns unsere Sinne von den Dingen liefern, mag dieser Rest von Ähnlichkeit, den wir anerkennen [indem wir Zeichen statt Abbilder gelten lassen, F.W.], sehr geringfügig erscheinen. In Wahrheit ist er es nicht; denn damit kann noch eine Sache von der allergrößten Tragweite geleistet werden, nämlich die Abbildung der Gesetzmäßigkeit in den Vorgängen der wirklichen Welt. Jedes Naturgesetz sagt aus, daß auf Vorbedingungen, die in gewisser Beziehung gleich sind, immer Folgen eintreten, die in gewisser anderer Beziehung gleich sind. Da Gleiches in unserer Empfindungswelt durch gleiche Zeichen angezeigt wird, so wird der naturgesetzlichen Folge gleicher Wirkungen auf gleiche Ursachen auch eine ebenso regelmäßige Folge im Gebiete unserer Empfindungen entsprechen.« (586)

Die Abbildung der »Gesetzmäßigkeit« ist demnach das Ziel: nicht mehr die Abbildung des Gegenstandes oder des Geschehens selbst. Damit erfasst Helmholtz die symbolische Ordnung in ihrer Bestimmung als relationales und regelhaftes Gefüge. Bedeutung liegt nicht im Zeichen selbst und noch weniger in einem Bezeichneten als substanziellem Ding, sondern entsteht im Aufweis von Gesetzmäßigkeit oder anders formuliert: symbolische Bedeutung ist Gesetzmäßigkeit. »Was wir unzweideutig und als Thatsache ohne hypothetische Unterschiebung finden können, ist das Gesetzliche in der Erscheinung.« (591) Selbst wenn wir bleibende Substanz hypostasieren, so kann auch dies nur sekundär und in Abhängigkeit von Relationen geschehen. »Wir nennen, was ohne Abhängigkeit von Anderem gleich bleibt in allem Wechsel der Zeit: die Substanz; wir nennen das gleichbleibende Verhältniß zwischen veränderlichen Großen: das sie verbindende Gesetz. Was wir direct wahrnehmen, ist nur das Letztere. Der Begriff der Substanz kann nur durch erschöpfende Prüfung gewonnen werden und bleibt immer problematisch, insofern weitere Prüfung vorbehalten wird.« (591)14 Der primären Stellung der Form bzw. Struktur auf Seiten des Subjekts, d.h. des Gesetzes, entspricht die primäre Stellung der Wirkung in der Wirklichkeit. »Wir haben in unserer Sprache eine sehr glückliche Bezeichnung für dieses, was hinter dem Wechsel der Erscheinungen stehend auf uns einwirkt, nämlich das Wirkliche. Hierin ist nur das Wirken ausgesagt; es fehlt die Nebenbeziehung auf das Bestehen als Substanz, welche der Begriff des Reellen, d.h. des Sachlichen einschließt.« (592)15 Helmholtz legt in diesem zweiten Gedankenschritt nahe, dass es sich bei Gesetzlichkeit und Wirklichkeit um ähnliche Formen handelt. Es sind, will man diesen Begriff einführen, durchgängig relationale Gefüge. So kann die 14 15

Hervorhebungen im Original. Vgl. zur Begriffsverwendung auch Cassirer: »Wirklichkeit, […] diese[r] Inbegriff möglicher Wirksam­k eiten« (Cassirer, Ernst, (1929) Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg, 2010, S. 212).

Teil 1: Das Symbolische

Annahme von Kausalität als »transcendentale[m] Gesetz« (594) zu zwar nur vorläufigen, jedoch handhabbaren Erkenntnissen über die Welt führen. Dieser hypothetische Charakter des Symbolischen deutet eine Entkopplung vom »Object« (586) als Erkenntnisgegenstand an, die weit über die Verabschiedung des »Abbild[s]« (586) hinausgeht. Schlussendlich kann mittels einer Radikalisierung dieses Gedankens eine Annäherung an Lacan vollzogen werden: nämlich eine barre einzuführen und den Signifikanten von seinem Signifikat zu entkoppeln. Dem widerspricht das Festhalten Helmholtz’ am physikalischen Charakter der »Wirklichkeit«. Problematisch ist dies, wo es den Übergang von Welt und Apperzeption kaschiert. In einer Passage, die die Beschaffenheit der »Naturobjecte« (588) als vor allem in ihren Wechselwirkungen erfahrbar beschreibt, was ganz im Sinne einer symbolisch aufgefassten Welt Sinn macht, sieht er auch die (phänomenalen) Erscheinungen im Kant’schen Sinne als Resultat solcher Wechselwirkungen: »Was zunächst die Eigenschaften der Objecte der Außenwelt betrifft, so zeigt eine leichte Überlegung, daß alle Eigenschaften, die wir ihnen zuschreiben können, nur Wirkungen bezeichnen, welche sie entweder auf unsere Sinne oder auf andere Natur­ objecte ausüben.« (588)

Wirkungen »auf unsere Sinne« sind dann immer noch Ursache für unsere Wahrnehmungen. Doch genau diese Kausalität ist – wie jede Kausalität – hypothetisch.16 Helmholtz schafft es einerseits in einem Rekurs auf Kant, die strukturelle Opposition von res extensa und res cogitans zu überwinden, indem er symbolische, relationale Formen auf beiden Seiten in Wirk-lichkeit und Gesetzlichkeit findet17, andererseits behält er die Scheidung aufrecht, indem er von Sinnesorganen ausgeht, die er in ihrer räumlichen Dimension, etwa in ihrer optischen Funktionalität, physikalisch beschreibt. Als Physiologe ist die Beschreibung von Sinnesorganen freilich sein Ausgangspunkt gewesen; umso erstaunlicher sind seine Gedankengänge, die genau die Einheit von physiologischer Funktion – also dem äußerlich Messbaren – und transzendentaler Synthesis der Apperzeption – also dem subjektiv Deduzierbaren – indirekt durchaus in Frage stellen. So lässt er beispielsweise Erfahrungswerte und insgesamt den Kant’schen Apparat der Einbildungskraft an der Gestaltung der Wahrnehmungsphänomene teilhaben, obwohl diese wohl kaum in einem Sinnesorgan anzutreffen sein dürften. Eine Harmonisierung der verschiedenen Ansprüche von transzendentalphilosophischer und physiologischer Seite erreicht er durch 16 17

Seit David Humes folgenreichen Darlegungen ist zumindest die Kausalität zwischen Dingen fragwürdig geblieben. Erst Ernst Cassirer wird diese Trennung auf lösen.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

die Betonung des Beziehungs- vor dem Substanzcharakter. So verlieren die konkrete Bauform und Funktion der Sinnesorgane den zwingenden Begründungszusammenhang zwischen Wirkursache und wahrgenommenen Phänomen und fügen sich in einen funktionalen Erklärungszusammenhang ein. Mit der Abkehr vom Substanzbegriff und der Hinwendung zum Symbolischen, respektive Relationalen, atrikuliert Helmholtz Denkvoraussetzungen für die in den Folgejahren aufkommende neue Physik. Als wichtige Bestimmung der symbolischen Ordnung tritt hier deutlich zutage, dass das Symbolische mit einem gewissen Konzept von Gesetzlichkeit gleichgesetzt wird. Insbesondere bezogen auf die Frage der Kontingenz aller Einzelerscheinungen wird dem Symbolischen schlussendlich die Fähigkeit zugesprochen, auf Seiten des Subjekts das konstruieren zu können, was mit seiner Einführung als wesentliches Prinzip auf Seiten der zu erkennenden Welt aufgegeben wurde: nämlich die Substanz oder zumindest die Objektkonstanz.18 Ist der Charakter des Bleibenden also Effekt von Gesetzlichkeit? Greift das Symbolische auch in die Dimension von Allgemeinbegriffen, Klassen und Gattungsdenken? Ernst Cassirers Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff 19 wird sich diesen Fragen widmen und sie weiter ausdifferenzieren. Doch bevor nun aufgezeigt wird, wie Cassirers Philosophie die physikalischen und physiologischen Konzepte des 19. Jahrhunderts in ein kulturumfassendes erkenntnistheoretisches Konzept gießt, lohnt es sich, den Helmholtz’schen Zeichenbegriff nochmals genauer zu beleuchten. Helmholtz argumentiert, dass die Empfindungen, die wir als mit der Außenwelt korrespondierende Daten von unseren Sinnesorganen erhalten, keine Abbilder der äußeren Welt sind.20 Nicht nur die physiologischen und anatomischen Eigenschaften des jeweiligen Sensoriums determinieren die Wahrnehmung, die von Kant eingeführte Apperzeption führt ebenso zu einer Syntheseleistung. Hierbei werden Raum und auch Zeit als notwendige transzendentale Formen dem jeweiligen Wahrnehmungsinhalt beigegeben. Anstelle eines Abbildes, wie es noch Hertz anführte, spricht Helmholtz von »Zeichen« (586). Eine entscheidende Bestimmung dieser ist das Fehlen von Ähnlichkeitsbeziehungen. Die Gesetzlichkeit der Erscheinungen und die Operationalität im (wissenschaftlichen) Urteilsakt sind Charakteristika, die das Hemholtz’sche »Zeichen« als Element einer symbolischen Ordnung auch im Sinne Lacans ausweisen.

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19 20

Dies gilt für die erreichte Etappe der Argumentation. Im Zuge der weiteren Ausdifferenzierung (Teil 2 und 3 dieses Buches) wird das Symbolische diese Bestimmung an das Imaginäre abtreten. Cassirer, Ernst, (1910) Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin, 1910. Vgl. Helmholtz, (1856-1866) Handbuch, S. 586.

Teil 1: Das Symbolische

Doch wie verhält es sich mit dem Begriff der Vorstellung? Oder anders gefragt: wo ließe sich ein fassliches Verständnis von Welt verorten? Ein Zeichen würde in Konzepten des 20. Jahrhunderts (mindestens) Signifikant und Signifikat beinhalten,21 wobei der signifikante Aspekt Bestimmungen von Operationalität, Arbitrarität und Verweisstruktur aufnähme, das Signifikat jedoch für die Bedeutung einstünde. Doch wohin entschwindet diese? Geht es nicht auch Helmholtz um ein Verständnis der Welt, um das Erfassen von Bedeutung und Wahrheit? Wie gezeigt wurde, betont er zunächst das Phänomen von Gesetzmäßigkeit im relationalen Sinne gegenüber einer statischen Weltbetrachtung.22 »Wir nennen unsere Vorstellungen von der Außenwelt wahr, wenn sie uns genügende Anweisung über die Folgen unserer Handlungen der Außenwelt gegenüber geben und uns richtige Schlüsse über die zu erwartenden Veränderungen derselben ziehen lassen. Diese Art der Wahrheit kommt den richtig gebildeten Vorstellungen eines erwachsenen gesunden Menschen bis auf seltene Ausnahmsfälle jedenfalls zu. Nur solche synthetische Urtheile, die durch mögliche Beobachtung jetzt oder künftig bestätigt werden können, sei es in innerer oder äußerer Anschauung, haben auf diese Bezeichnung Anspruch.« (590)

Die Voraussagbarkeit als Kriterium einer wahren Ansicht könnte grundsätzlich hinreichend mittels relationaler Gesetze sichergestellt werden, ein Wissen um die Dinge selbst wäre dabei obsolet. In diesem Sinne schreibt Helmholtz: »Unsere Aufgabe, die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen zu begreifen, beschränkt sich also zunächst darauf, zu begreifen, wie die Übereinstimmung zwischen unseren Wahrnehmungen und der richtigen Voraussicht ihrer durch Willensimpulse herzustellenden Veränderungen zu gewinnen sei.« (591) Trotzdem greift er im obigen Zitat den Begriff der Vorstellung auf. Im Kontrast zur verhaltenspsychologischen Empirie voraussagbarer Effekte eines handelnden Subjekts wird der Vorstellungsbegriff normativ eingeführt. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass der Inhalt der Vorstellung nur subjektiv zugänglich ist, Vorstellungen keine objektivierbare Größe darstellen. Eine »richtig gebildete[] Vorstellung[]« (590) könnte als irreales Durchgangsstadium gelten, beziehungsweise als funktionale Black Box. Der dazugehörige philosophische Diskurs ist bekannt: »Die Frage zu stellen, ob der Zinnober wirklich roth sei, wie wir ihn sehen, oder ob dies nur eine sinnliche Täuschung sei, ist […] sinnlos. Die Empfindung von Roth ist die normale Reaction normal gebildeter Augen für das von Zinnober ref lectirte Licht.

21 22

Vgl. Eco, Umberto, (1973) Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M., 1977, S. 30f.. Vgl. Helmholtz, (1856-1866) Handbuch, S. 591.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale Ein Rothblinder wird den Zinnober schwarz oder dunkelgraugelb sehen; auch dies ist die richtige Reaction für sein besonders geartetes Auge. Er muß nur wissen, daß sein Auge eben anders geartet ist, als das anderer Menschen . An sich ist die eine Empfindung nicht richtiger und nicht falscher als die andere, wenn auch die Rothsehenden eine große Majorität für sich haben. […] Überhaupt ist das vom Zinnober zurückgeworfene Licht an sich durchaus nicht roth zu nennen, es ist nur für bestimmte Arten von Augen roth.« (589)

Über diese klassische philosophische Problematik subjektiver Sinneswahrnehmungen hinaus könnte trotzdem nach einem Ort der Vorstellung, dem Schauplatz des Imaginären gefragt werden. Die Terminologie von Heinrich Hertz hatte schließlich einen Bildbegriff eingeführt, der in seinen Bestimmungen als symbolische, arbiträre und operationale Dimension durchaus mit Helmholtzens Zeichentheorie übereinzubringen wäre. Doch worin bestehen die wissenschaftlichen Bilder oder Zeichen, mit denen der Physiker umgeht? Entgegen der sinnlichen Wahrnehmung der Farbe Rot besteht das physikalische Bild aus einer bestimmten Wellenlänge. »Das ist eine Aussage, die wir unabhängig von der besonderen Natur unseres Auges machen können, bei der es sich dann aber auch nur um Beziehungen zwischen der Substanz und den verschiedenen Ätherwellensystemen handelt.« (590) In diesem Gefüge bekommt das Symbolische seinen vollen Sinn durch seinen relationalen Charakter. Es kann als privilegierter Zugang zur Außenwelt gelten, wenn ich auf Meßwerte zurückgreifen kann. Sind doch direkte Beobachtungen immer gefärbt von Vorurteilen. »Daher muß [...] zugegeben werden, daß auch in dem, was dem Erwachsenen als unmittelbare sinnliche Anschauung erscheint, noch eine Menge von einzelnen Momenten stecken, die in der That Product der Erfahrung sind, obgleich es vorläufig schwer ist, hier die Grenze zu ziehen.« (610) Trotzdem gilt auch für die wie weit auch immer messtechnisch objektivierte empirische Beobachtung das Kant’sche Diktum. Helmholtz schreibt in seinem Handbuch: »Daß es eine Contradiction in adjecto sei, das Reelle oder Kants ›Ding an sich‹ in positiven Bestimmungen vorstellen zu wollen, ohne es doch in die Form unseres Vorstellens aufzunehmen, brauche ich wohl nicht auseinanderzusetzen. […] Was wir aber erreichen können, ist die Kenntniß der gesetzlichen Ordnung im Reiche des Wirklichen, diese freilich nur dargestellt in dem Zeichensystem unserer Sinneseindrücke.« (593)

Die Wirk-lichkeit spielt sich zwischen den Substanzen ab, ihr mentales Korrelat ist die Gesetzlichkeit. Gesetze, wie das der Kausalität, sind jedoch immer

Teil 1: Das Symbolische

nur hypothetisch.23 Helmholtz sieht im »Causalgesetz […] ein a priori gegebenes, ein transcendentales Gesetz« (594), für dessen »Anwendbarkeit […] wir […] keine weitere Bürgschaft [haben], als seinen Erfolg.« (594) Was stiftet nun den Bezug dieser inneren Überzeugungen von einer Regelmäßigkeit des äußeren Geschehens zu den jeweiligen Sinneswahrnehmungen? Der Physiker verweist auf ein: »Vertraue und handle!« (594), doch kann man im Begriff der Struktur einen übergreifenden Modus finden, der den kartesianischen Dualismus überwindet. Ernst Cassirer wird von symbolischen Formen sprechen, die ebenfalls die Frage nach Innen- und Außenwelt obsolet werden lassen.24 An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass jede Alternative zu Helmoltz’ Abstinenz (»Daß unser Denken und Wahrnehmen in Bezug auf Erkenntniß des Wirklichen mehr als dieses Ziel erreiche, muß ich verneinen« (594)25) ein gerüttelt Maß an Konstruktivismus notwendigerweise einschließen muss. Die Reflexion über die Erkennbarkeit von Welt führt also zu zwei möglichen Positionen: die einer hypothetischen Vorläufigkeit und die des Konstruktivismus. Beide Aspekte will ich als Perspektiven des Symbolischen festhalten. Helmholtz’ »Lehre von den Gesichtswahrnehmungen« (576), so der Titel des Buchabschnitts, aus dem die obigen Zitate stammen, verfolgt ein fest umgrenztes Ziel: »Wir werden also in dem vorliegenden Abschnitte zu untersuchen haben, an welche besonderen Eigenthümlichkeiten der Netzhautbilder, der Muskelgefühle u.s.w. sich die Wahrnehmung einer bestimmten Lage des gesehenen Objects in Bezug auf Richtung und Entfernung anknüpft, von welchen Besonderheiten der Bilder die Wahrnehmung einer nach drei Richtungen ausgedehnten körperlichen Form des Objects abhängt, unter welchen Umständen es, mit beiden Augen gesehen, einfach oder doppelt erscheint u.s.w. Unser Zweck ist also hierbei wesentlich nur das Empfindungsmaterial, welches zur Bildung von Vorstellungen Veranlassung giebt, in denjenigen Beziehungen zu untersuchen, welche für die daraus hergeleiteten Wahrnehmungen wichtig sind. Dieses Geschäft kann ganz nach naturwissenschaftlichen Methoden ausgeführt werden.« (576)

Das heißt, der Diskussionsrahmen zielt auf die Voraussetzungen für eine Erfassung einer räumlich erfahrenen Welt. Im Verlauf des §26. Von den Wahrnehmungen im Allgemeinen (576-613) entspinnen sich die oben zitierten erkenntnistheoretischen Ausführungen, die weit über den zuerst eng umgrenzten Gegenstand hinausgehen. Ich halte diese Denkbewegung für folgenreich, hat sie doch zum Ergebnis, dass das Visuelle, das zweifellos den Grundrahmen 23 24 25

Vgl. Helmholtz, (1856-1866) Handbuch, S. 593. Eine abweichende und differenziertere Fassung des Kausalitätsbegriffes erörtere ich in Teil 3. Vgl. Cassirer, (1929) Symb. Formen III, S. 365. Helmholtz, (1856-1866) Handbuch.

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der Überlegungen darstellt, nicht in der Vorstellung, respektive im Imaginären auf den Begriff kommt, sondern in Begrifflichkeiten des Zeichens, der Relation, der Wirk-samkeit, der Gesetzlichkeit und des Symbols mündet. Das Register des Visuellen erschließt auch den perspektivisch gestaffelten Raum. Ganz in diesem Sinne kann der französische Neukantianer Charles Renouvier angeführt werden, der postuliert: »Der Raum ist [...] ›[...] l’intuition, qui fait pour ainsi dire prendre corps a l’extériorité fondamentale, à l’extériorité d’une conscience pour une autre conscience, et en est le symbole‹.« 26

Raum und Symbol stehen, so wird hier ausgesagt, in einer engen Beziehung. Oder wie Ernst Cassirer schreibt: »In der Geschichte des wissenschaftlichen und spekulativen Denkens ist das Problem der Wirklichkeit seit jeher unlöslich mit dem Problem des Raumes verknüpft.« (380)27 Wirklichkeit ist auch hier zu verstehen als das Wirken von Gesetzen. Gesetzlichkeit wiederum ist eine Bestimmung des Symbolischen. Von hier aus kann die Frage formuliert werden, warum ausgerechnet der visuell durchmessene Raum, respektive die ausgedehnten Objekte, als Inbegriff des Objektiven – also des nicht-Subjektiven – gelten. Ist es dieser Raum, den die menschlichen Subjekte miteinander, untereinander teilen und sich deshalb über einen Gegenstand austauschen können, der darin enthalten ist? Der Austausch, die Kommunikation und die Sprache, die objektiviert, hätten daran ihren Anteil.28 Cassirer verweist auf Demokrit, der feststellt, dass »die Farben und Töne, die Gerüche und Geschmäcke einen eigentümlichen Erkenntnischarakter erhalten, kraft dessen sie aus der wissenschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ausscheiden.« (364)29 Insbesondere das Raumkonzept, am deutlichsten repräsentiert in der angewandten (euklidischen) Geometrie und der newtonschen Physik, stellt symbolisierbare Objekte, und – nach Helmholtz – auch Objekte qua Symbolisation bereit. Doch Cassirer zielt über den SubjektObjekt-Dualismus hinaus: 26

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Eisler, Rudolf, (1904) Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Berlin, 1929, digitale Quelle: Internet: http://www.textlog.de/4985.html, zuletzt aufgerufen: 15.09.2013. Das Zitat ist ausgewiesen mit: Renouvier, Charles, Nouv. Monadol. p. 102. Cassirer, Ernst, (1910) Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin, 1910. Im Sinne Bergsons, der feststellt, dass »auch die Intuition eines homogenen Raums bereits ein erster Schritt zum Gemeinschaftsleben ist.« (Bergson, Henri, (1889) Zeit und Freiheit, Hamburg, 2006, S. 104) Denn es »besteht eine innige Korrelation zwischen dem Vermögen, ein homogenes Medium wie den Raum vorzustellen, und dem Vermögen, in allgemeinen Vorstellungen zu denken.« (ebd., S. 123) Cassirer, (1910) Substanzbegriff.

Teil 1: Das Symbolische »Sind einmal die ›Dinge‹ und der ›Geist‹ begriff lich geschieden, so treten sie alsbald auch in zwei getrennte räumliche Sphären, in eine Innen- und Außenwelt auseinander, zwischen denen es keine verständliche kausale Vermittlung gibt.« (359)

Dieses Manko der Metaphysik umgeht der wissenschaftliche Fortschritt und fragt »nicht länger, welche Trennung im Absoluten den Gegensätzen des ›Innen‹ und ›Außen‹, der ›Vorstellung‹ und des ›Gegenstands‹ zugrunde liegt, sondern lediglich, aus welchen Gesichtspunkten und welcher Notwendigkeit heraus das Wissen selbst zu diesen Scheidungen gelangt.« (360)

Cassirer setzt den kartesischen Dualismus nicht unkritisch voraus. Im Gegenteil zielt die gesamte Philosophie der symbolischen Formen auf ein Zurücklassen dieser ontologischen Bürde. »Erkenntnis und Gegenstand stehen sich nicht mehr gleich räumlichen Objekten, als ein ›Hüben‹ und ›Drüben‹, als ein ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹ gegenüber. Vielmehr sind alle derartigen Bezeichnungen, die jahrhundertelang die Fassung und Formulierung des Erkenntnisproblems beherrscht haben, als schlechthin inadäquat, als bloße Metaphern erkannt. Der Gegenstand ist weder draußen noch drinnen, weder jenseits noch diesseits - denn das Verhältnis zu ihm ist keine ontisch-reale, sondern eine symbolische Relation.« (365)30

Was Cassirer hier im Jahre 1929 auf den Punkt bringt, soll anhand seiner Argumentation in dem frühen Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff erläutert werden. Zunächst sind in einem naiven Standpunkt »unmittelbare[r] Erfahrung« (360)31 Subjektives und Objektives noch keine Gegensätze. Es gibt Objekte und zugleich allgemein das Dasein alles Gegebenen; so sind etwa auch Erinnerungen zunächst in der besonderen Form des Vergangenen gegeben.32 Dieser Standpunkt bedeutet eine vorläufige Nicht-Unterscheidung zwischen intrapschischen und extrapsychischen Phänomenen. Erst die Anstrengung, Beobachtungen nach ihren typischen und klassifikatorischen Werten zu sondieren, mit dem Ziel allgemeiner und konstanter Begrifflichkeiten, entzweit das Geschehen. Es ist das wissenschaftliche Denken, das die »Gewinnung letzter Invarianten« (362) vorantreibt. Flüchtiges wird in das Register des »Subjektiven« (362) abgedrängt, »[o]bjektiv heißen uns zuletzt diejenigen Elemente der Erfahrung, auf denen ihr unwandelbarer Bestand beruht, die sich 30 31 32

Cassirer, (1929) Symb. Formen III. Cassirer, (1910) Substanzbegriff. Vgl. Cassirer, (1910) Substanzbegriff, S. 360f.

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also in allem Wechsel des Hier und Jetzt erhalten« (362). Cassirer betont, dass es sich hier um eine »relative« (362) Grenzziehung handelt. Tatsächlich wird die gegenwärtige Phase im historischen Erkenntnisprozess tendenziell für objektiv gehalten, während anachronistische Anschauungen posthum als subjektive Störfaktoren gewertet werden. Auf diese Weise korrigiert sich das Wissen fortlaufend und es ist die »Funktion« (363) der Objektivierung, die die Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität ständig verschiebt. Cassirer präzisiert: »Der räumliche Ausdruck der Grenzscheidung, die Zerlegung des Seins in eine Innen- und Außenwelt ist daher schon darum unzureichend und irreführend, weil er dieses Grundverhältnis verdunkelt; weil er an die Stelle einer lebendigen Wechselbeziehung […] eine fertige und absolut abgeschlossene Sonderung der Dinge setzt. Der Gegensatz, um den es sich handelt, ist nicht räumlicher, sondern gleichsam dynamischer Natur: er bezeichnet die verschiedene Kraft, mit welcher Erfahrungsurteile der steten Nachprüfung durch Theorie und Beobachtung standhalten, ohne in ihrem Inhalt dadurch geändert zu werden.« (363)

Cassirer entwickelt auf diese Weise, ohne diesen Begriff selbst einzuführen, eine fallibilistische Wissenschaftstheorie, doch will ich das Augenmerk auf einen anderen Aspekt richten: Bislang kann das kartesische Grundraster von Innen und Außen als unangetastet gelten. Hertz wie auch Helmholtz haben sich nicht aus diesem Raster hinausbewegt. In Anbetracht der physiologischen Ansätze Helmholtz’ zeigte sich eine Schwierigkeit, die apperzeptiven Elemente der Wahrnehmung entweder transzendentalen Formen bzw. geistiger Syntheseleistung oder aber den physiologischen Bedingungen der Sinnesorgane zuzuweisen – Organe, die schlussendlich im ausgedehnten Raum angenommen werden. Cassirer nun überwindet dieses Problem in folgendem Gedankengang: Objektivität ist bestimmt durch Objektkonstanz, durch Identität – man könnte mit Helmholtz noch hinzufügen: durch Gesetzlichkeit. Diese liegt jedoch nicht im vorgeblichen Faktum einer spekulativen oder metaphysischen Substanz im Ding selbst. Vielmehr sind, soweit Konstanz und Identität für uns erkennbar sind, just sie das Resultat von Erfahrung. Als solche gefasst, unterliegen sie selbstverständlich dynamischen Aspekten des Erkenntnisprozesses. Die funktionale Korrelation der Begriffspaare Objektivität - Subjektivität und Ding - Vorstellung, betrifft auch die Scheidung Außenwelt - Innenwelt. Dies hat kategoriale Konsequenzen für die gesamte Realitätsdebatte und ist grundlegend für das Verständnis, wie es möglich sein soll, dass ausschließlich symbolische Formen als Register des Weltzugangs konzipiert werden können. Cassirer führt aus:

Teil 1: Das Symbolische »Der Gegensatz ist nicht mehr zweigliedrig, sondern mehrgliedrig, sofern – wie sich gezeigt hat – ein und derselbe Erfahrungsinhalt subjektiv und objektiv heißen kann, je nachdem er relativ zu verschiedenen logischen Bezugspunkten genommen wird. Die sinnliche Wahrnehmung bedeutet, der Halluzination und dem Traume gegenüber, den eigentlichen Typus des Objektiven, während sie, an dem Schema der exakten Physik gemessen, zu einem Phänomen werden, zu einem Phänomen werden kann, das keine selbständige Eigenschaft der ›Dinge‹ mehr, sondern nur einen subjektiven Zustand des Beobachters ausdrückt.« (365)

Diese relationale Auffassung von Objektivität hat auch vor den neuen Gesetzmäßigkeiten der Quantenphysik Bestand. Dort nämlich werden Kausalitätsverhältnisse ihrer bislang prägenden Linearität, im Sinne von Ursache - Wirkung, beraubt. Die wesentliche Figur, in der Cassirer bereits 1910 den Funktionsbegriff gegen den Substanzbegriff in Stellung gebracht hat, wird besonders aussagekräftig, wenn man die späte Schrift Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik von 1936 zur Hand nimmt: Cassirer kann nun problemlos formulieren: »Es gibt ›Gegenständlichkeit‹ oder objektive ›Wirklichkeit‹, weil und sofern es Gesetzlichkeit gibt – nicht umgekehrt« (279)33, denn der »Gesetzesbegriff wird jetzt dem Gegenstandsbegriff vorgeordnet, während er ihm früher nachgeordnet und untergeordnet war.« (278) Besonders folgenreich ist die Betonung des Funktionsbegriffs für die Annahme einer inneren, einer geistigen Repräsentation von Dingen. Denn »[w] ie das ›Ding an sich‹ in die bloße ›Vorstellung‹ übergeht, wie das absolute Dasein sich in das absolute Wissen wandelt, bleibt […] ein unergründliches Problem: aber mit dieser Frage haben wir es in der kritisch geklärten Fassung des Gegensatzes des Subjektiven und Objektiven auch nirgends zu tun.« (367)34 Die objektive Erkenntnis von einem Gegenstand begründet sich dementsprechend nicht im Ausschluss einer subjektiven synthetischen Leistung, vielmehr in einer »immer strengere[n] Organisation der Erfahrung« (368). »Die Frage nach der Objektivität der Erfahrung überhaupt beruht im Grunde auf einer logischen Illusion, von der die Geschichte der Metaphysik auch sonst mannigfache Beispiele liefert. Sie steht prinzipiell auf derselben Stufe, wie etwa die Frage nach dem absoluten Ort der Welt: denn wie in dieser ein Verhältnis, das nur für die einzelnen Teile des Universums in ihrer wechselseitigen Beziehung Geltung hat, fälschlich auf das Universum als ganzes übertragen wird, so wird hier ein begriff licher Gegensatz, der bestimmt ist, die einzelnen Phasen der empirischen Erkenntnis

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Cassirer, Ernst, (1936) »Determinismus und Indeterminismus in der Modernen Physik«, in: ders., Zur modernen Physik, Darmstadt, 1977, S. 127-376. Cassirer, (1910) Substanzbegriff.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale zu unterscheiden, auf die gedachte Allheit dieser Phasen und ihre Aufeinanderfolge angewandt.« (369)

Cassirer begründet Objektivität und Subjektivität aus den Erfordernissen des Erkenntnisprozesses heraus.35 Demnach ist die sinnliche Erfahrung selbst zunächst keine Bestimmung von Objektivität, denn der Wert der Wahrnehmung im Sinne von Allgemeingültigkeit oder Wahrheit richtet sich nach den tatsächlichen Bezügen: Kommt die individuelle sinnliche Erfahrung den Charakteristika von Konstanz und Identität sehr nahe, ist sie, funktional gesehen, objektiv. Widerspricht sie jedoch der Gesetzlichkeit, ist sie auf diese Weise auch nicht wirklich. Wirklichkeit und Gesetzmäßigkeit sind die Garanten für Objektivität, nicht der Akt der Vorstellung und Urteilsbildung selbst. Wobei, wie oben bereits zitiert wurde, gilt: »Es gibt ›Gegenständlichkeit‹ oder objektive ›Wirklichkeit‹, weil und sofern es Gesetzlichkeit gibt – nicht umgekehrt«. (279)36 Es ist die Ansammlung von relationalen Bestimmungen – vielleicht auch: Attributen –, die die Objektivität festigt. »Nicht die sinnliche Lebhaftigkeit des Eindrucks, sondern dieser innere Beziehungsreichtum ist es, was ihm das Kennzeichen wahrhafter Objektivität aufprägt.« (373)37 Derart vom Substanzdenken gelöst, spielt das Sein keine Rolle mehr im Erkenntnisvorgang. Es ist die synchrone Anordnung – um diesen Begriff aus der Linguistik hier einzuführen –, die Referenz auf das Gesamt der symbolischen Ordnung, welche den Realitätshinweis gibt. Cassirer führt aus: »So wenig daher aus dem bloßen Begriff der Erkenntnis sich die Notwendigkeit ableiten läßt, ein Sein zu setzen, das außerhalb jeder Beziehung zur Erkenntnis steht: so notwendig enthält dieser Begriff eben jene Forderung der Verknüpfung, auf die die kritische Analyse des Realitätsproblems hinführt. Der Inhalt der Erfahrung ist uns ›objektiv‹ geworden, sobald wir begriffen haben, wie jegliches Element in ihm sich zum Ganzen webt.« (377)

Wirklichkeit ist demnach ein Beziehungsgefüge. Sie schließt den Erkenntnisprozess ein, indem die Wirkungen der synthetischen Leistungen in der Apperzeption ebenfalls wirklich sind – im Sinne von: dass sie Beziehungen bedeuten, die auf die umfassende symbolische Ordnung verweisen. Die funktionalen Prinzipien gelten unterschiedslos für die ausgedehnten und die geistigen Dinge. Eine derartige symbolische Ordnung wird von Cassirer als funktional und prozessual beschrieben.

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Vgl. Cassirer, (1910) Substanzbegriff, S. 360. Cassirer, (1936) Determinismus. Cassirer, (1910) Substanzbegriff.

Teil 1: Das Symbolische

Zeichen weisen »Ähnlichkeit« (375) mit dem Bezeichneten auf, doch ist diese nicht als Abbildfunktion zu verstehen, sondern nur durch eine »logische Gemeinsamkeit« (378) gestiftet. Um den Ton Cassirers zu verschärfen: außerhalb der Zeichenfunktion ist nichts anzutreffen. Interessant ist bei diesem Gedanken, dass nicht nur die Objektivität bestimmt wird – und zwar als am Erkenntnisinteresse orientierte asymptotische Annäherung an allgemeingültige Prinzipien, deren Regelhaftigkeit vorausgesetzt wird –, sondern implizit auch die Subjektivität. Letztere besitzt im Umkehrschluss einen irregulären Charakter, der sich womöglich in Folge verliert, weil neue Erkenntnisse gewonnen wurden,38 der sich jedoch zunächst in einer singulären Erfahrung äußert. Subjektiv könnten demnach auch alle Phänomene sein, die keiner Symbolisierung zugänglich sind, mindestens jedoch alle Phänomene, die schlecht symbolisiert sind. Diese pejorative Auffassung des Subjektiven bei Cassirer bietet Angriffsfläche für Kritik. So stellt sich die Frage, ob die normativen Elemente, die der Objektivierungsprozess mit sich führt, ausreichend gekennzeichnet sind. Zunächst ist die subjektive Wahrnehmung und Erfahrung Ausgangspunkt jedes wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Qua Induktion können überhaupt erst Merkmale und Bestimmungen von Dingen gesammelt und zu einer ersten Regel zusammengesetzt werden. Doch in der weiteren Verhandlung spielen Größen wie »Wertordnung[en]« (379), »Leitbegriffe« (379) und »Urteilszusammenhänge[]« (379) eine formbildende Rolle. Mit Blick auf den Wissenschaftsbetrieb ist es ein Leichtes, mit jüngeren Autoren hier Einfallstore für normative oder ideologische Einflüsse zu vermuten.39 In Hinblick auf Cassirers Gesamtwerk jedoch verschiebt sich die Problematik nochmals. Formen des Symbolischen sind für Cassirer Produkte dynamischer kultureller Entwicklungen. Als solche erheben sie gar nicht den Anspruch auf Letztbegründung. Schlussendlich ist dies konsequent, soll das wissenschaftliche Denken nicht zur Religion erhoben werden. Was bleibt, ist die Ausgrenzung der subjektiven Erfahrung aus der Welt der Erkenntnis, und beiläufig aus der Welt schlechthin, denn die symbolischen Formen sind die umfassenden Formen des Weltzugangs. Selbst mythisches Denken dürfte dabei, folgt man den Darstellungen Cassirers, keine Ausnahme machen: Auch die dem Mythos zugewiesene Ausdrucksfunktion dient der Erklärung im Sinne einer Regelhaftigkeit (die sich freilich nicht reflektiert, wie

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Oder umgekehrt, wie Cassirer anführt, wird aus einer zunächst objektiven Erkenntnis nachträglich ein subjektiv entstelltes und nicht mehr gültiges Wissen. (Vgl. Cassirer, (1910) Substanzbegriff, S. 362f.) Vgl. bspw.: Canguilhem, Georges, (1963-1966/1972) Das Normale und das Pathologische, Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1977; Devereux, Georges, (1967) Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1976.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

in der Wissenschaft).40 Nur Gesetzlichkeit ist Wirklichkeit, so lautet das Credo des Kulturphilosophen. Doch reißt hier nicht eine Kluft auf, zwischen den kulturellen – also Cassirers symbolischen – Formen und der subjektiven Erfahrung? Und ist diese Kluft nicht sogar immanentes Moment der hier vorgetragenen naturwissenschaftlich geprägten Erkenntnistheorie, da sie alles unter das Moment der Erkennbarkeit überhaupt stellt und die Existenz von universellen Prinzipien stillschweigend voraussetzt? Andererseits kann in einer phänomenologischen Haltung gefragt werden, ob denn jemals etwas erkannt wurde, was nicht symbolisiert gewesen ist, oder zumindest im Nachhinein in das System der Zeichen eingereiht wurde. An diesem Punkt tritt für Cassirer das Konzept eines ent-gegen-stehenden Gegenstandes hinter das Bild (respektive Zeichen) eines Gegenstandes zurück, dessen Konstanz nicht einer innersten Substanzialität, sondern einer ganzen Reihe von Erfahrungswerten geschuldet ist, die diese Konstanz eben erst konstruiert: »Einen Inhalt erkennen, heißt ihn zum Objekt umprägen, indem wir ihn aus dem bloßen Stadium der Gegebenheit herausheben und ihm eine bestimmte logische Konstanz und Notwendigkeit verleihen. Wir erkennen somit nicht ›die Gegenstände‹ – als wären sie schon zuvor und unabhängig als Gegenstände bestimmt und gegeben –, sondern wir erkennen gegenständlich, indem wir innerhalb des gleichförmigen Ablaufs der Erfahrungsinhalte bestimmte Abgrenzungen schaffen und bestimmte dauernde Elemente und Verknüpfungszusammenhänge fixieren.« (403) 41

Bezeichnend in der Argumentation Cassirers ist hierbei wieder das Phänomen der Räumlichkeit. Die Wahrnehmung von Gegenständen im Raum unterliegt einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, wie bereits die physiologischen Untersuchungen von Helmholtz gezeigt haben. Cassirer präzisiert: »Nicht wie diese Form [der Räumlichkeit, F.W.] an und für sich entsteht, sondern lediglich, wie sie sich in der empirischen Erkenntnis näher bestimmt und spezialisiert, kann gefragt werden. Was der Erklärung bedarf, ist nicht der Umstand, wie wir vom Inneren zum Äußeren gelangen – denn das schlechthin ›Innere‹ ist selbst eine bloße Fiktion – sondern wie wir dazu geführt werden, gewisse Inhalte der ursprünglichen Außenwelt nach und nach als ›in uns‹ befindlich anzusehen, d.h. sie nicht

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»Der Regen, der Donner, der Blitz, die Wolken, der Hagel, der Winter haben je ihr eigenes totemistisches Abzeichen, durch das sie einer bestimmten Gattung zugewiesen sind. […] Keineswegs handelt es sich darum, daß in irgendeinem bloß konventionellen und nominalistischen Sinn sachlich disparaten Gegenständen ein bestimmtes ›Zeichen‹ angeheftet wird [...]« (Cassirer, Ernst, (19211931) Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg, 2009, S. 22). Cassirer, (1910) Substanzbegriff.

Teil 1: Das Symbolische nur überhaupt räumlich zu bestimmen, sondern sie in eine notwendige Korrelation mit unseren körperlichen Organen, mit bestimmten Teilen unserer Netzhaut oder unseres Gehirns zu setzen.« (382)

Konsequent bleibt Cassirer dabei, »innen« und »außen« als erkenntnisrelevante Bestimmungen nicht gelten zu lassen. Demgemäß ist Räumlichkeit nichts rein Äußeres, denn die Gegenstände erscheinen dort unter Beteiligung einer ganzen Reihe von Bedingungen innerer Natur. Mit anderen Worten: es ist einem Großaufgebot synthetischer Prozesse zu verdanken, dass etwas im Raum erscheint und mit diesem Etwas der Raum schließlich selbst. »Wenn wir fragen, was unter einem nach drei Dimensionen ausgedehnten Körper zu verstehen ist, so werden wir – wie Helmholtz gelegentlich ausführt – psychologisch in der Tat zunächst auf nichts anderes geführt, als auf eine Reihe einzelner Gesichtsbilder, die sich gegenseitig ablösen. Die genauere Analyse zeigt indessen, daß der bloße Ablauf all dieser Bilder, so viel wir ihrer auch immer annehmen mögen, für sich allein niemals die Vorstellung eines körperlichen Objekts zu ergeben vermöchte, wenn nicht der Gedanke einer Regel hinzuträte, durch welche jedem einzelnen eine bestimmte Ordnung und Stellung im Gesamtkomplex zugewiesen wird.« (383)

Für Cassirer ist die Syntheseleistung, aus der Erfahrung verschiedener Betrachtungswinkel ein Objekt voluminös denken zu können, vielleicht bereits eine kulturelle Leistung im Sinne seiner Philosophie der symbolischen Formen – und in der Tat wäre es eine unlösbare Aufgabe, eine Scheidelinie zwischen dem wahrgenommenen Datum und dessen kultureller Interpretation zu ziehen.42 In der weiteren Argumentation wird Sein als »fester Kern« (386)43 ausgewiesen, und zwar wie wir oben gesehen haben mit den Charakteristika des Regelhaften, Relationalen und Wirksamen. Darum gruppieren sich mehr oder weniger flüchtige Inhalte, deren Variation selbst wiederum regelgerecht sein muss, um sich einzufügen. Abweichungen geraten in einen Induktionsprozess. In einer dialektischen Figur formuliert Cassirer: »Jetzt ist es daher das Veränderliche selbst, das unter einem neuen Interesse der Erkenntnis zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird. Diese Erkenntnis des ›Subjektiven‹ bedeutet somit in Wahrheit eine Objektivierung höherer Stufe, die in einem Material, das zunächst als schlechthin unbestimmt bei Seite gelassen wurde, noch ein Moment der Bestimmbarkeit entdeckt. Das Gegebene gliedert sich jetzt

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Vgl. auch Cassirers Begriff der »symbolischen Prägnanz«: Cassirer, Symb.Formen III, S. 230ff. Cassirer, (1910) Substanzbegriff.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale in weitere und engere Objektivitätskreise, die deutlich voneinader abgehoben und nach bestimmten Gesichtspunkten abgestuft sind. […] Auf diese Weise schaffen wir bestimmte, begriff lich ausgezeichnete Zentren, um die sich die Phänomene ordnen und gliedern. [… D]as anfängliche Flächenbild gewinnt gleichsam Vordergrund und Hintergund.« (386f )

Beschrieben werden hier die Selektionsprozesse, in denen die synthetischen Formen der Apperzeption sicherlich einbegriffen sind, die sich darin aber nicht erschöpfen. Mir scheint im letzten Satz des Zitats, neben des direkten Bezugs auf die Wahrnehmung der res extensa als dreidimensionale Gegebenheit, eine metaphorische Ebene mitzuklingen, die nicht ohne Konsequenzen ist. »Vordergrund und Hintergrund«, »Zentren« und »Objektivitätskreise« sind hierarchische Ordnungselemente. Die Selektion von Daten gehört wesentlich zum Handwerkszeug der Naturwissenschaften. Cassirer hat einen klaren Begriff davon, nach welchen Kriterien Wirklichkeit in diesem Sinne entsteht: Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit liegen dabei auf der ersten Ebene. Identität und Konstanz sind sekundäre Effekte der beiden ersten Charakteristika. Die relationale Organisation von Erkenntnis korreliert mit einer relativen Wirklichkeit, denn das »Ganze, das wir suchen und auf welches der Begriff sich richtet, darf nicht im Sinne eines absoluten Seins außerhalb jeder möglichen Erfahrung gedacht werden; es ist nichts anderes als der geordnete Inbegriff dieser möglichen Erfahrungen selbst.« (387) An dieser Stelle sei nochmals auf den Zeichenbegriff hingewiesen, wie er von Helmholtz eingeführt und von Cassirer übernommen wurde. Er ist in seiner Entstehung ein Nebenprodukt eines Handbuchs für physiologische Optik. In einer doppelten Abkunft verweist er einerseits auf die Wahrnehmungslehre Kants, andererseits speist er sich aus der schwierigen Situation, aus der Beschaffenheit der Sinnesorgane Folgerungen für die subjektiven Wahrnehmungsphänomene abzuleiten. Das Problem bei letzterem ist, dass die menschlichen Organe selbst nur in eben dem Raum vorgefunden werden können, den sie doch erst erschließen sollen. Die Konstruiertheit der Eigenschaften des Raumes ergibt sich, aus physiologischer Perspektive, aus den hochkomplexen Prozessen des stereoskopischen Sehens, der Beteiligung von Muskeln und mittels aktiver Bewegung des Sehenden. In Helmholtzens Ausführungen verschränken sich zwei korrelierende Gedanken: 1) da die im Sehen ablaufenden Prozesse nach einer kognitiven Abstraktionsleistung verlangen, nimmt Helmholtz Abstand vom Abbild (im Sinne von Vorstellung) und führt den Zeichenbegriff ein; und 2) die wissenschaftliche Reflexion selbst muss Abstand von einem naiven Weltbezug nehmen, weil sie sich mit Wellenlängen, statt mit Farben oder Tönen, mit chemischen Formeln, statt mit Geschmack, konfrontiert sieht. Der physikalische Raum beginnt bereits hier, sich von der Alltagserfahrung zu lösen, ein Prozess, der

Teil 1: Das Symbolische

mit der Relativitätstheorie und der Quantenphysik seinen Höhepunkt erfahren wird. Wie ein Blick in die Geschichte des Symbolbegriffs nahelegt und wie bei Spencer noch zu spüren war, galt die Abstraktionsleistung des Symbols bislang vor Allem dem Nicht-Alltäglichen.44 Dies wird sich unter dem Einfluss der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts ändern. Das Symbolische – und die kulturphilosophen Ausführungen Cassirers werden diesen Punkt sehr ausführlich darlegen – ist keine poetische oder religiöse Größe mehr, sondern vielmehr das Organisationsprinzip schlechthin, durch welches sich der Mensch mit der Welt verbindet. Es umfasst alle kulturellen Formen: – man könnte sagen posthum – inklusive der vorwissenschaftlichen mythischen Formen.45 Cassirers Konklusion in Substanzbegriff und Funktionsbegriff fällt folgendermaßen aus: »Die Vorstellung des ›objektiven‹ Raumes ist danach nicht ein Werk der ›Projektion‹, sondern der ›Selektion‹: sie beruht auf einer begriff lichen Auswahl, die wir im Bereich unserer Sinneswahrnehmungen, insbesondere im Gebiet der Gesichts- und Tasteindrücke, vollziehen. Wir halten in der homogenen Masse dieser Eindrücke nur jene Inhalte fest, die den ›normalen‹ physiologischen Bedingungen entsprechen, während wir andere, die unter außergewöhnlichen Bedingungen entstehen und die daher nicht die gleiche Wiederholbarkeit wie jene ersteren besitzen, mehr und mehr zurückdrängen.« (387f )

Raum ist demnach Effekt begrifflicher Bildungen. Cassirer gelingt es, die Dualismen von innen - außen, von subjektiv - objektiv aus ihrer oppositionellen Starrheit zu lösen. Symbolische Formen bestehen über die angestammten Grenzlinien hinweg. In einem übergeordneten Sinne hat der Raum konventionsstiftenden Charakter. Als objektivierender Raum ist er dynamisch, prozessual, wesentlich gesellschaftlich verhandelbar. Er enthält das Gesamt der 44

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Zum Beispiel bei Goethe (in einem Brief an Schiller): »Woher denn also diese scheinbare Sentimentalität, die mir um so auffallender ist, weil ich seit langer Zeit in meinem Wesen gar keine Spur, außer der poetischen Simmung, empfunden habe. […] Ich habe daher die Gegenstände, die einen solchen Effekt hervorbringen, genau betrachtet und zu meiner Verwunderung bemerkt daß sie eigentlich symbolisch sind. Das heißt, wie ich kaum zu sagen brauche, es sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen.« (Goethe, Wilhelm von, (1797) »An Schiller. Frankfurt am 16. Aug. 1797«, in: ders., Goethes Briefe. 12. Band, Weimar, 1893, S. 243-247, hier: S. 243f.) Eine geraffte Darstellung der mythischen Formen findet sich in: Paetzold, Heinz, (1994) Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt, 1994, S. 1-20.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Verweisstrukturen, er ist relational und Ort des Symbolischen. In diesem Sinne ist er auch der Ort der Sprache. Gegenstände birgt er als Effekte von Erkenntnis und nicht als Dinge-an-sich. Doch wie im letzten Zitat klar formuliert ist: Selektion bestimmt sein Erscheinungsbild, die Mannigfaltigkeit der Eindrücke zieht an ihm vorbei. In diesem Szenario sind Vorstellung und Begriff gleichgesetzt.46 Weiterhin wird die Frage nach einer arbiträren oder aber gestifteten Beziehung des Zeichens zu seinem Inhalt obsolet. Wenn alles Erkennen symbolischen Formen geschuldet ist, die nicht auf die Elemente, sondern auf die Relationen zielen, fallen erkennbare Realität und erkennbare Gesetzlichkeit in Eins: »Die Gesetzlichkeit des Realen besagt zuletzt nichts mehr und nichts anderes als die Realität der Gesetze: und diese besteht in der unveränderlichen Gültigkeit, die sie für alle Erfahrung, abgesehen von allen besonderen einschränkenden Bedingungen besitzen. […] Die Gegenstände der Physik, in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang, sind daher nicht sowohl ›Zeichen von etwas Objektivem‹, als sie vielmehr objektive Zeichen sind, die bestimmten begriff lichen Bedingungen und Forderungen genügen.« (405)

Cassirers Philosophie der symbolischen Formen kann deshalb als umfassende kulturphilosophische Konzeption gelten, in der der kartesische Dualismus aufgehoben ist.47 In einer diskursiven Art und Weise sind menschliche Wahrnehmung, menschliche Vorstellung und menschliches Urteilen unterschiedslos symbolisch organisiert. Induktive Erkenntnisprozesse sind von Beginn an im Zeichengefüge situiert. Relationen sind primär und lassen Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien erkennen, Dinge und Vorstellungen sind sekundär und Effekte der Wirklichkeit – ein Begriff, in dem das Wirken stark mitgedacht wird. Cassirer weist nicht nur die transzendentale Bedingtheit von Erkenntnis aus, wie Kant, sondern erweitert dessen Konzept um eine prinzipielle kulturelle Konstruiertheit derselben. Die Erweiterung auf Formen des Mythischen und eine generelle Degradationslehre des Referenten sind schlüssig, doch kann sich die Epistemologie darauf beschränken, ihre Grenzen auszumessen? Können alle Erkenntnisformen unter ein funktionales Strukturprinzip gefasst werden? Cassirers Philosophie umfasst ein mächtiges Werk, ist fein gewebt und differenziert in genauen Analysen viele Formen des Weltzugangs. Diese systematische Kontinuität bedeutet aber auch, dass jede Exteriorität (oder auch: 46 47

Vgl. Cassirer, (1910) Substanzbegriff, S. 388f. Andermatt hebt die »Übereinstimmung zwischen der Begriffsbestimmung von ›Substanzbegriff und Funktionsberiff‹ und der ›Philosophie der symbolischen Formen‹« hervor. (Andermatt, Alois, (2007) Semiotik und das Erbe der Transzendentalphilosophie. Die semiotischen Theorien von Ernst Cassirer und Charles Sanders Peirce im Vergleich, Würzburg, 2007, S. 18)

Teil 1: Das Symbolische

Alterität) ausgeschlossen werden muss. Die Frage, die deshalb zu stellen ist, lautet: Gibt es Formen der Erfahrung oder der Analyse, die notwendigerweise nicht im Symbolischen aufgehen? Ich werde im Folgenden 1) einen philosophischen Ansatz vorstellen, der den Geltungsumfang des Symbolischen herabsetzt und 2) eine ethnologische Theorie beibringen, die innerhalb des Symbolischen eine Differenz einführt.

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1) Henri Bergson und der Raum des Operablen

Wir haben mit Cassirer ein Konzept betrachtet, das Kants a priori von Zeit und Raum überspannt und mitunter überwindet, indem es symbolische Formen annimmt, die auf Funktionsbegriffen aufsetzen und die Substanzbegriffe hinter sich lassen. Eine radikale Kritik am neokantianisch-naturwissenschaftlich orientierten Zeitbegriff leistet Henri Bergson in seiner Schrift Zeit und Freiheit 48. Aus dieser Neuauslegung zeitlicher Bewusstseinsphänomene ergeben sich völlig andere Bestimmungen für den Raum, die im Zusammenhang mit dem Symbolischen von Interesse sind. Zunächst legt Bergson dar, dass sich das alltägliche Zeitphänomen in zwei Aspekte auflösen lässt: in eine Dauer, in der das Bewusstsein mannigfaltige singuläre Qualitäten erfährt – aber auch die Erfahrung von Bewegung und Veränderung wahrnehmen kann –, und in eine Zeit, deren Erscheinungsweise paradoxerweise auf räumliche Bestimmungen zurückzuführen ist. Diese beiden Zeitbegriffe zu unterscheiden, ist das wesentliche Anliegen Bergsons früher Schrift. Die Grenzlinie von res extensa und res cogitans wird erneut in Frage gestellt. Bergsons Argumentation verläuft folgendermaßen: Psychisches Erleben und die äußere räumliche Welt zusammenzubringen gelingt vorzugsweise in jener Alltagsbeobachtung, in der ein Wille – gesetzt als psychisches Element – mit einer Körperbewegung – gesetzt als physisches Element – zusammen erfahren wird. Bergson kritisiert die Psychophysik seiner Zeit49, die hieraus eine Quantifizierbarkeit unmittelbarer Bewusstseinserfahrungen ableiten möchte. Kraft werde dort als Potential aufgefasst, deren Wächter der Wille sei. Daraus resultiert eine fragwürdige Verknüpfung von Physiologie und Psyche, deren besondere Problematik darin liegt, dass damit Empfindungen ihren ausschließlich qualitativen Charakter verlieren. 48 49

Bergson, Henri, (1889) Zeit und Freiheit, Hamburg, 2006. Namentlich bezieht er sich auf: Wundt, Helmholtz, Bain, Lotze, J. St. Mill, James und Fechner. Vgl. Bergson, (1889) Zeit, S. 23ff.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »Wenn man genauer zusieht, wird man sogar sehen, daß diese ziemlich grobe Auffassung der Willensanstrengung bei unserm Glauben an intensive Größen eine bedeutende Rolle spielt. Da die Muskelkraft, die sich im Raum entfaltet und in meßbaren Erscheinungen kundgibt, uns den Eindruck macht, als habe sie vor ihrer Kundgebung bereits existiert, nur mit geringerem Volumen und sozusagen in komprimiertem Zustand, so finden wir weiter kein Bedenken darin, dies Volumen immer kleiner werden zu lassen, und wir glauben schließlich zu begreifen, wie ein rein psychischer Zustand, der keinen Raum einnimmt, dennoch eine Größe haben könne. Die Wissenschaft hat übrigens die Neigung, die Täuschung des gemeinen Verstands in diesem Punkte zu bekräftigen.« (23)

Dieser Wissenschaft hält Bergson entgegen, dass die Quantifizierung von Gefühlsintensitäten eine nachträgliche Konstruktion unter Einbeziehung räumlicher Vorstellungen sei. Begünstigt wird diese Einschätzung durch eine phänomenale Koppelung affektiver Regungen und körperlicher Veränderungen. In Rückgriff auf Herbert Spencer setzt Bergson Emotion (z.B. den Schrecken) und Körperausdruck (z.B. das Herzklopfen) in Eins.50 Eine explizit kausale Verknüpfung – d.h. die Annahme, die Körperfunktion sei ein Effekt der Emotion – scheint er hier bewusst zu vermeiden. Jedoch gelangt der Eindruck von Intensität erst durch eine Projektion nach außen zum Bewusstsein. Erst die Verräumlichung, das heißt der körperliche Anteil (möglicherweise auch die Propriozeption, die Selbstwahrnehmung des Körpers), schafft Anhaltspunkte für eine Objektivierung. »Wenn man sagt, die Liebe, das Begehren, der Haß nehmen an Heftigkeit zu, so heißt das soviel als: sie projizieren sich nach außen, strahlen nach der Oberf läche aus, den inneren Elementen substituieren sich peripherische Empfindungen: aber, ob nun diese Gefühle oberf lächlich oder tief, heftig oder ref lektiert sind, ihre Intensität besteht jedenfalls immer in der Mannigfaltigkeit der einfachen Zustände, die das Bewußtsein verworren darin zu entdecken vermag.« (30)

Erst ein sekundärer Akt, an dem wesentlich die Vorstellung beteiligt ist, lässt uns »die Qualität in Quantität, die Intensität in Größe« (38) umdeuten, was in einem zumeist nicht bewussten Prozess dazu führt, dass singuläre Erfahrungen objektivierbar werden. Mit anderen Worten: Bergson konstatiert, dass die res cogitans beim primären Wahrnehmen keine Quantitäten kennt. Am Beispiel von Fechners Versuchen, (physische) Quantitäten und (psychische) Empfindungen direkt in ein arithmetisches Verhältnis zu setzen, zeigt er, dass graduelle Wahrnehmungen ein künstliches Konstrukt sind. Jede Psychophysik

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Vgl. Bergson, (1889) Zeit, S. 29.

Teil 1: Das Symbolische

beinhaltet einen Zirkelschluss, der Postulat und Experiment wechselseitig voraussetzt.51 Bergson fasst zusammen: »Es gibt eben keinen Berührungspunkt zwischen dem Unausgedehnten und dem Ausgedehnten, zwischen Qualität und Quantität. Eines läßt sich zwar durch das andere auslegen, eines zum Äquivalent des andern machen; doch früher oder später, zu Anfang oder am Ende, wird man anerkennen müssen, daß diese Gleichsetzung rein konventionellen Charakters ist. […] Da wir eigentlich mehr sprechen als denken, da auch die äußeren Gegenstände, die uns allen gemeinsam sind, für uns mehr bedeuten als die von uns erlebten subjektiven Zustände, haben wir allen Grund, diese Zustände zu objektivieren, indem wir soweit wie möglich die Vorstellung ihrer äußeren Ursache in sie hineintragen.« (57)

Eine gewisse kulturelle Prägung, mithin eine zweckdienliche Gewohnheit, ist Voraussetzung für die Unterordnung des Qualitativen unter das Quantitative. Wesentlichen Anteil an der Objektivierung des Erlebens überhaupt hat die Zahl. Bergson legt nahe, dass das Zählen und auch die Rechenoperationen im Raum stattfinden.52 Dass zählbare Elemente distinkt auseinandertreten, ist bereits eine Verräumlichung. Ein Auseinandertreten in der Zeit, d.h. als Folge, ist zwar denkbar, sie zu denken, so Bergson, erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als »symbolische Vorstellungsweise […], bei der notwendig der Raum eine Rolle spielt« (68). Zahl, Materie und Raum bilden damit ein operatives Feld und folgen einer kulturhistorischen Form. Damit ist implizit ausgesagt, dass diese Form keinen Anspruch auf Universalität erheben kann.53 Es ist die uns bereits bekannte Form des Symbolischen, die Bergson hier entwickelt (und kritisiert). Sie steht der »reinen Dauer« (71) als Form des Bewusstseins gegenüber. »Die reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unsrer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen.« (77)

Diese Dauer meint eine wesentlich subjektive Position, die nicht einmal in sich selbst topologisch (oder topisch) strukturiert ist, wie dies zum Beispiel Charak51 52 53

Vgl. Bergson, (1889) Zeit, S. 52-57. Vgl. Bergson, (1889) Zeit, S. 60-70. Zeit ist räumlich vorgestellte Dauer, womit eine zentrale Kritik an Kants Formen a priori Raum und Zeit formuliert ist. Als Folge hieraus muss gelten, dass Kant, da er die innere Form der Dauer nicht erkannt hat, dem instrumentellen Objektivierungsverlangen der Naturwissenschaften erlegen ist. Mit Bergson könnte auch gesagt werden: damit hat er eine Philosophie entwickelt, die hauptsächlich auf einer Projektion ins symbolische Außen beruht.

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teristikum eines Zeichens wäre, das eine Binnenstruktur aufweist. Qualitäten sind hier reine Qualitäten, die nicht durch ein quantitatives Differenzgeschehen ihre Wesentlichkeit erhalten. Um von hier aus zur begrifflichen Scheidung und mithin zur Objektivierung zu gelangen, bedarf es des Raumes als etwas, »was uns gestattet, mehrere identische und simultane Empfindungen voneinander zu unterscheiden« (73f). Ähnlich wie in Freuds Unbewusstem gilt für die Anordnung der Qualitäten die gleichgültige Juxtaposition. Auch ohne Bergsons explikativen Beispielen im Einzelnen nachzugehen, erweist es sich als schlüssig, dass jede Differenz, im Sinne von Auseinandertreten, einen Aspekt von Räumlichkeit enthält: Auch eine (zählbare) Reihe ist räumlich geordnet. Gleiches gilt für den Gattungsbegriff, was bei grafischen Stammbäumen und den Deszendenztafeln der Biologie sofort ins Auge fällt. Entscheidend in Bergsons Gedankengang ist die Homogenität des Raumes, die formbildend und zentral gegen die übergangslose, radikale Heterogenität der Qualitäten gesetzt ist. Diese Homogenität verleiht dem Raum die Bestimmung als Medium. »Die Konzeption von einem leeren und homogenen Medium […] scheint eine Art Reaktion gegen jene Heterogenität vorauszusetzen, die unserer Erfahrung zu tiefst zugrunde liegt.« (75) An dieser Stelle möchte ich an Spencers Beispiel erinnern, mit dem er das Symbol als Abstraktionsmittel zur Erzeugung von – möglicherweise falscher, so Spencer – Anschaulichkeit erklärt: die Erde als Kugel, zu finden im Kapitel »Letzte religiöse Ideen«. Die Kugel ist die räumliche Gestalt par excellence, Ausdehnung in ihrer Reinform. Bei Helmholtz habe ich auf den Kontext hingewiesen, in welchem er das Paradigma einer symbolischen Form der naturwissenschaftlichen Methode einführt: Es handelt sich um ein Handbuch zur physiologischen Optik. Darin spielt die Diskussion des Raumeindrucks eine zentrale Rolle. Helmholtz erklärt innerhalb eines physikalischen Rahmens die Wahrnehmungsbedingungen des Menschen und führt diese mit Kants Transzendentalphilosophie eng. In einer gegenläufigen Bewegung diskutiert Bergson nun in Zeit und Freiheit einen philosophischen Raumbegriff, den er dann auf eine physiologische Theorie Lotzes anwendet: Lotzes Lokalzeichentheorie besagt, dass der Ort des Auftreffens von Reizen auf den menschlichen Körper entscheidend für die kognitive Lokalisation des reizauslösenden Objekts im Raum ist. Ein Lichtreiz beispielsweise trifft auf eine bestimmte Stelle der Netzhaut. Aus der Lokalisation dieses Reizes auf dem eigenen Körper ergibt sich notwendig die projektive Situierung der abstrahlenden Lichtquelle im Außenraum. Eine Ortsveränderung der Lichtquelle ergibt einen Stimulus an einer anderen Stelle auf der Retina und so fort. Bergson sieht hierin eine Brücke zu Kants Raumbegriff, der eine von seinen Inhalten unabhängige Existenz hat.

Teil 1: Das Symbolische »Was aus den Ideen Lotzes und Bains sowie aus dem von Wundt anscheinend zwischen diesen versuchten Ausgleich hervorgeht, ist, daß die Empfindungen, durch die wir zur Bildung des Raumbegriffs gelangen, selbst unausgedehnt und schlechthin qualitativ sind: die Ausdehnung wäre erst ein Resultat ihrer Synthese, wie das Wasser das der Verbindung zweier Gase. Die empiristischen oder genetischen Erklärungen haben also doch das Raumproblem an eben dem Punkte aufgenommen, wo es Kant hatte liegen lassen: Kant hat den Raum von seinem Inhalt gelöst; die Empiristen untersuchen, wie dieser Inhalt, der so durch unser Denken vom Raum isoliert wurde, dahin gelangen kann, in diesem wieder eine Stelle zu finden […].« (72f )

Bergson kritisiert »die Empiristen« dahingehend, dass sie den geistigen Anteil dieses Prozesses, ich würde sagen: der Konstruktion des Raumes, übersehen. Selbst wenn, wie von diesen Autoren vorgebracht, die Räumlichkeit aus einer »Verbindung der Empfindungen untereinander« (73) hervorgehe, wäre noch die Synthese, die diese Verbindung leistet, ein geistiger Akt. Wenn schon die Annahme einer »Mannigfaltigkeit der Atome« (73) in einem Raum gelten soll, so »bedarf es einer Tätigkeit des Geistes, die sie alle mit einem Male umfaßt und nebeneinander stellt: dieser Akt sui generis ist dem ziemlich ähnlich, was Kant eine apriorische Form der Sinnlichkeit genannt hat.« (73) Der Raum bleibt also ein Produkt des Geistes, könnte man hier anschließen. Er ist eine »Konzeption von einem leeren homogenen Medium« (73) und »eine Realität ohne Qualität« (74). Er ordnet die Simultanität von gleichförmigen Empfindungen unabhängig von qualitativen Bestimmungen. Bergson verneint nicht die Bedeutung der Lokalzeichen für die Apperzeption. Denn auch die Lokalisierung von Sinneszellen erfolgt ja im homogenen Raum. Die aktive Leistung, die im Situierungsprozess, in der Verräumlichung von Wahrnehmungsdaten zu sehen ist, schließt nicht aus, dass in den Qualitäten selbst ein »Grund enthalten sein muß, demzufolge sie im Raum diese oder jene bestimmte Stelle einnehmen. Man hätte somit zwischen der Perzeption der Ausdehnung und der Konzeption des Raumes zu unterscheiden« (74). Ist mit einer solchen Aussage der mühsam konstruierte Raumbegriff nicht wieder völlig seiner Bestimmung beraubt? Entspricht die Raumvorstellung nun doch wieder einer vorkantischen Ästhetik? Ja und nein. Bergson gibt in diesem Gedankengang den Gegenständen zwar ihre eigenständige Ausdehnung zurück, er verneint aber jede daraus ableitbare Notwendigkeit, dass es die Dinge seien, die den Raum vorgäben. Eine »Perzeption der Ausdehnung« (74) ist vielmehr wesentlich den singulären Qualitäten zuzuschreiben, die den Gegenpol zum operationalen Feld der Quantitäten darstellen. Interessanterweise ist diese Perzeption gewissermaßen vor-räumlich, wenn Raum als homogener Raum begriffen wird. Weltzugang, so wird auch an dieser Stelle deutlich, ist für Bergson nicht allein räumlich organisiert. Vielmehr beruht die räumliche Dominanz, wie wir oben gesehen haben, auf kulturellen und zweckmäßigen Verfügungen.

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Nicht alle Lebewesen, so ein spekulativer Exkurs Bergsons in die Biologie, haben diese Dominanz, das heißt das Konstrukt eines homogenen und medialen Außenraums, entwickelt. Es birgt einen gewissen Witz, dass die in seinen Beispielen angeführten Tiere sich – wohl deshalb – besonders gut im Raum orientieren können. Zunächst fragt er sich, »ob das Tier die äußere Welt ganz wie wir wahrnimmt, und besonders ob es ihre Exteriorität genauso vorstellt wie wir.« (74) Denn, viele Tiere können sich über hunderte von Kilometern zielstrebig an einen früheren Wohnort zurückbegeben, selbst wenn sie einen ihnen völlig unbekannten Weg dabei zurücklegen. Der Raum ist für sie offensichtlich stärker strukturiert als für den Menschen. »Das liefe nun darauf hinaus, daß für das Tier der Raum nicht so homogen ist wie für uns, und daß die Raumbestimmungen oder Richtungen für es nicht eine rein geometrische Form besitzen. Jede von ihnen würde ihm mit einer Nuance, mit ihrer eigentümlichen Qualität erscheinen.« (75) Bergson hält qualitative Aspekte, die der Raum aufweisen könnte, für äußerst plausibel.54 Er sieht nicht ein, »weshalb zwei konkrete Richtungen in der unmittelbaren Apperzeption nicht ebenso markiert sein sollten wie zwei Farben.« (75) Das hier vorgestellte alternative Raumempfinden beinhaltet eigene qualitative Ausdifferenzierungen. Es wäre ein heterogener Raum voller Markierungen und vielleicht auch Brüche. Tiere, so Bergson, nehmen diese wahr. Diese besondere Fähigkeit wird kontrastiert von der eigentümlichen Fähigkeit des Menschen, »einen qualitätslosen Raum zu perzipieren oder zu denken.« (75) Und diese Form ermöglicht nun abstraktes Denken. Sie ist jeder Abstraktionsleistung vorgängig, was heißt, dass sie wesensverschieden zu einer qualitativen Raumerfassung ist. Dieser homogene Raum ist medial und ermöglicht »klare und deutliche Unterscheidungen und eine Art Exteriorität der Begriffe oder ihrer Symbole gegeneinander« (75). Wie oben dargelegt wurde, bilden Zahl, Raum und Materie einen Komplex, der insbesondere dem naturwissenschaftlichen Denken entspricht. Bergson bezieht in Zeit und Freiheit eine erkenntnistheoretisch markante Position: »Wir werden sagen müssen, daß wir zwei verschiedenartige Realitäten kennen, deren eine heterogen ist, die der sinnlichen Qualitäten, und deren andere homogen, nämlich der Raum ist. Diese letztere, die der menschliche Verstand klar begreift, erlaubt uns, genaue Unterscheidungen zu vollziehen, zu zählen, zu abstrahieren und vielleicht auch zu sprechen.« (75) 54

»Die Möglichkeit einer derartigen Wahrnehmung wird begreif lich, wenn man bedenkt, daß wir selbst unsere rechte von unserer linken Seite vermittelst eines natürlichen Gefühls unterscheiden und daß diese beiden Bestimmungen unserer eigenen Ausgedehntheit uns also wohl eine Qualitätsdifferenz darbieten; eben deshalb scheitern wir daran, sie zu definieren.« (Bergson, (1989) Zeit, S. 75.)

Teil 1: Das Symbolische

Der mediale, der homogene Raum ist kulturstiftend. Er ist ein »erster Schritt zum Gemeinschaftsleben« (104). Man könnte also sagen, Dinge erscheinen dem reflektierenden Menschen, aufgrund seiner Bevorzugung des homogenen Raumes, in der Regel nicht als das Mannigfaltige und qualitativ reiche Singuläre, das sie in einem qualitativen, vorsprachlichen Raum wären. Vorsprachlich müsste nach dieser Konstruktion gefasst werden als synonym mit: vorräumlich. Die Verräumlichung ermöglicht Objektivierung und Kommunikation. Der homogene Raum ist ein objektivierender, operationaler und damit symbolischer Raum. Er ermöglicht eine vom Subjekt »deutlich unterschiedene äußere Welt […], die ein allen bewußten Wesen Gemeinsames wäre.« (104) In einem Zug mit diesem Konzept präsentiert Bergson eine Kulturkritik, die darin mündet, dass das »wirkliche, konkrete Ich« hinter die »symbolische Vorstellung von ihm« (105)55 zurückgetreten sei. Mit dem Begriff der Dauer versucht er in die Symbolisierung, die das Philosophieren immer ist, einzubinden, was sich jenseits des spatialen Diskurses befindet. Es gilt, nach Bergson, anzuerkennen, dass die Realität der Zahl, der Materie, des Raums – und der ins räumliche projizierten Zeit – nicht die einzige Wirklichkeit ist. Die Ordnung des Symbolischen birgt Schwierigkeiten – philosophische wie lebensweltliche –, sieht man in ihr, wie Kant, die alleingültige Realität. Doch nicht nur Kant hat die Philosophie als ein wissenschaftliches Projekt behandelt. Die naturwissenschaftliche Haltung Kants um eine kulturwissenschaftliche anzureichern, war, wie oben erörtert, die Unternehmung Ernst Cassirers.56 Hat Bergson in Zeit und Freiheit nun Cassirers Philosophie der symbolischen Formen rund dreißig Jahre vor deren dreibändigem Erscheinen bereits als wissenschaftliche Verengung menschlichen Daseins in ihre Schranken gewiesen? Cassirer zumindest bezieht zu Bergsons Kritik am rein quantiativen Denken in der Philosophie der symbolischen Formen, Band III Stellung. Zunächst weist Cassirer Bergsons Kritik nicht kategorisch ab, sondern liefert eine Skizze des zugrundeliegenden Gedankengangs: Die wissenschaftliche Erfahrung hat notwendigerweise methodologische Grenzen, sie ist darin »wie in ehernen Mauern« (40)57 eingeschlossen. »Wir erfassen das Wirkliche nicht, wenn wir versuchen, es schrittweise, auf den mühseligen Umwegen des diskursiven Denkens, zu erreichen; vielmehr gilt es, sich unmittelbar in seinen Mittelpunkt zu versetzen.« (40f) Der »Schematismus des Raumes« 55 56

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Hervorhebung: F.W. »Wirklichkeit ist uns Menschen nur unter je spezifischen Perspektiven gegeben, die sich zu relativ konstanten symbolischen Formen auskristallisiert und historisch verfeinert haben. Nur der Inbegriff der Perspektiven sagt uns, was Wirklichkeit letztlich ist. Wir können diesen Inbegriff der Perspektiven nicht einfach apriorisch unterstellen oder als Summe bilden.« (Paetzold, (1994) Realität, S. 39.) Cassirer, (1929) Symb. Formen III.

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spielt hierbei eine distanzierende Rolle und entfernt uns letztlich vom Sein des Gegenstandes, welches nur in einer »reine[n] Innenschau« (41) erkennbar wäre. Die räumliche Symbolik der Wissenschaften bedeutet einen instrumentellen Zugriff, denn sie behandelt das Wirkliche »im Sinne des Handelns« (41), was zwar unumgänglich ist, aber nicht auf »reine[] Erkenntnis« (41) zielt. Cassirer fasst zusammen: »So wird die Lehre Bergsons zu der vielleicht radikalsten Absage gegen den Wert und gegen das Recht aller symbolischen Formung, die jemals in der Geschichte der Metaphysik hervorgetreten ist.« (42)

Cassirer weist die Kritik Bergsons nicht rundweg ab. Er sieht in der Frage nach dem Unmittelbaren eine »Dialektik« und einen »Widerstreit« (46), und somit einen ergebnisoffenen kritischen Diskursbeitrag. Trotzdem gibt es aus der Sicht des Kulturphilosophen konzeptuelle Probleme in Zeit und Freiheit. Cassirers erster Kritikpunkt an Bergson ist dessen Naturalismus. Schließlich, so die Argumentation, ist dieser »selber der Welt des räumlichen Daseins und der räumlichen Bewegung entlehnt« (44). Mit anderen Worten: indem Bergson eine klare Scheidung zwischen der bei ihm negativ konnotierten Objektivität und dem unmittelbaren Erfahren von Qualitäten58 einführt, entnimmt er das Differenzierungskriterium einer Vorstellung, die wiederum eine gewisse Denktradition hat, namentlich der Naturalismus des 19. Jahrhunderts. Damit ist ausgesagt, dass das Konstatieren einer nicht verräumlichenden Intuition selbst ein Differenzprodukt darstellt und damit dem Symbolischen nicht entkommen ist – sondern vielmehr dieses zum Gründungsmoment hat. Meiner Ansicht nach ist dieser Punkt, bezieht man ihn selektiv auf Zeit und Freiheit – eine Einschränkung, die hier weniger der Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten als vielmehr systematischen Überlegungen folgt –, nicht stichhaltig. Bergsons Frühwerk argumentiert zunächst nicht gegen die negativen Effekte des Denkens in Quantitäten und Verräumlichung, sondern entwickelt diese Elemente als notwendige Bedingungen der Möglichkeit objektiven Denkens. Am Ende seiner Überlegungen stehen Bestimmungen für sämtliche Formen des Symbolischen – Ausführungen, denen sich Cassirer mit Einschränkungen ja auch nicht entzieht. Die Form des Raumes entnimmt Bergson nun nicht »naturalistischem« Gedankengut. Anhand dieser Form jedoch entwickelt er im Positiven das symbolische Feld. Der Form des Raumes setzt er die Dauer entgegen – und nicht die Zeit, wie Kant. Den gängigen Zeitbegriff aus Raum und Dauer abzuleiten ist eine originelle Setzung Bergsons,

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Ich greife auf die Termini von Zeit und Freiheit zurück, um die Zusammenhänge deutlich zu machen.

Teil 1: Das Symbolische

der sich hiermit in einem ersten Akt nicht auf naturalistische Traditionen stützt. Bergson selbst bedauert, dass Philosophie nicht ohne Symbolisierungen statt haben kann. Er sieht dieses Dilemma deutlich. Jedoch ginge es darum, in einer sekundären Bewegung, dem Phänomen der Dauer zumindest innerhalb des Diskurses zu entsprechen. Für die Diskussion des Symbolischen und besonders die Frage, ob es darüber hinaus etwas zu vermerken gibt, sei es ein Reales oder ein Imaginäres oder eben eine Dauer, ist die Debatte über die Genese von Formbegriffen äußerst relevant. In der Auseinandersetzung Cassirers mit Bergson zeigt sich deutlich die Schwierigkeit, aus einer symbolischen Position heraus – die der Diskurs immer ist – Erkenntnismöglichkeiten außerhalb des Symbolischen auszuweisen. Werden diese begrifflich gefasst, so müssen ihre Bestimmungen zwangsläufig aus dem Feld der Sprache stammen. Damit untersteht jeder derartige Versuch dem Generalverdacht, in seinem Erkenntnisgehalt selbst dem Symbolischen zu entstammen. Als Indiz wird hierfür gerne herangezogen, dass das – dann zumeist metaphorische – Material aus diesem oder jenem Wissensgebiet stamme, Termini hier und da bereits aufgetaucht sind.59 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Bergsons spätere Werke in diesem Punkt wohl mehr Angriffspunkte geboten haben, was Cassirers Argumentation erklären kann. Betrachtet man die nächste Replik Cassirers, in der es um das Ich als in der Dauer begriffenes Subjekt geht, so ist die Argumentation eingangs ähnlich: Das Ich lässt sich nur bestimmen, wenn es objektiviert wird. »Der bloßen Dingwelt gegenüber mag sich das reine Ich, um sich in seiner ursprünglichen Lebendigkeit und Beweglichkeit zu erfassen und um sich in ihr zu behaupten, gewissermaßen in seine absolute Einsamkeit und Innerlichkeit zurückziehen.« (44) Es muss sich aller Vereinnahmung aktiv und unausgesetzt entgegenstellen. »Aber die Welt des ›objektiven Geistes‹ zeigt niemals und nirgends diesen Charakter der bloßen Schranke.« (44) Das Ich findet sich selbst und bestimmt sich selbst im Objektiven. Cassirer hält hoch, dass eine solche Selbsterkenntnis von hohem Wert ist; er spricht von einer mittelbaren »Sichtigkeit« (45), die er einer vorgeblichen unmittelbaren »Wirklichkeit« (45) gegenüberstellt und der dialektischen Funktion, die im Objektivierungsprozess beinhaltet ist. In Zeit und Freiheit formuliert Bergson einen vergleichbaren Gedanken: Der homogene Raum ist ein »erster Schritt zum Gemeinschaftsleben« (104)60. Im Sinne einer Aufklärung fährt er fort: »Die Tendenz, derzufolge wir uns 59

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Cassirer selbst steht vor einem ähnlichen Problem bei der Herleitung der Ausdrucksfunktion und des Mythos als Erkenntnisform. Schlussendlich nutzt er beispielhaftes empirisches Material von Anthropologen, um den Begriff kenntlich zu machen – auch dies dürfte, philosophisch gesehen, einen Behelf darstellen. Bergson, (1889) Zeit.

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diese Exteriorität der Dinge und diese Homogeneität ihres Mediums deutlich vor Augen stellen, ist dieselbe, die uns auch zum Leben in der Gemeinschaft und zur sprachlichen Verständigung drängt.« (104) Allerdings, so weiter, führt diese Versprachlichung alsbald zu Stagnation und Entfremdung. Dadurch entsteht ein »zweites Ich, das das erste überdeckt, ein Ich, dessen Existenz wohlunterschiedene Momente aufweist, dessen Zustände sich voneinander abheben und ohne weiteres auf Worte bringen lassen.« (104) Das gleiche Phänomen, das für Cassirer ein Akt von Realisation und Reflexion ist, ist bei Bergson Persönlichkeitsspaltung und Komplikation. Ich denke, es ist beides zusammen, allerdings lässt sich daraus für keinen der Kontrahenten ein Strick drehen. In der Folge wird es Freud sein, der Bergsons pessimistischen Ansatz ausbauen wird. Jedenfalls ist mit der Annahme eines gespaltenen Ichs Cassirers Konklusion ungültig, wenn dieser sein funktionales, vom Substanzbegriff befreites Konzept symbolischer Formen ankündigt: »Die Richtung auf die Äußerlichkeit nicht der Dinge, sondern der Formen und Symbole gibt den Weg an, auf welchem die reine Subjektivität sich erst selber findet.« (46)61 Denn ob diese Dialektik gelingen könnte, mag bezweifelt werden, hat doch Cassirer schon genug Probleme, Bergsons Kritik produktiv in sein funktionales, vom Substanz- und Gattunsbegriff Abstand nehmendes Denkgebäude zu integrieren. Er schreibt: »Bergsons Symbolkritik gründet sich darauf, daß er alle symbolische Formung nicht nur als einen Prozeß der Vermittlung, sondern auch als einen Prozeß der Verdinglichung betrachtet.« (42) Cassirers Argument kann immerhin nachvollzogen werden: Bergson hatte noch nicht die symbolischen Formen in der Fassung Cassirers als relationale Gefüge gekannt, sondern sieht in ihnen eine unheilvolle Reifizierung. Deshalb kommt er zu einem Dualismus von Ratio und Unmittelbarkeit. Derweil will auch Cassirer die subjektive Intuition in sein System einbinden. Er versucht sie auf eine zunächst ähnliche Weise im Begriff des Mythos zu fassen. Aber selbst Religion, Mystik und Kunst sind für ihn als symbolische, das heißt kulturell determinierte, Formen zu beschreiben.62 Was dabei völlig aus dem Blick gerät, ist die Frage nach der Möglichkeit außersymbolischer Erfahrungen und dem damit annehmbaren anderen Weltzugang. Und diese erkenntnistheoretische Grundsatzfrage, die von Bergson in jedem Fall positiv beantwortet wurde, kann auch nochmals an Cassirer gerichtet werden, indem man sich dessen Bestimmungen des Symbolischen abermals vergegenwärtigt.

61 62

Cassirer, (1929) Symb. Formen III. Selbst im mythischen Denken bleibt der ästhetische Grundsatz der Transzendentalphilosophie erhalten. Es gilt, »dass es die Wahrnehmung als un- oder vorlogischen Akt überhaupt nicht geben kann.« (Andermatt, (2007) Semiotik, S.24, vgl. auch: S. 32.) Ähnlich wie bei Lévi-Strauss gilt hier das Primat des Kulturellen.

Teil 1: Das Symbolische

Anhand des Frühwerks Substanzbegriff und Funktionsbegriff hatte ich herausgestellt, dass Cassirer das Symbolische radikal relational denkt. Es ist das Gefüge der Elemente zueinander, das funktional ist. Zuordnungen von Innerlichkeit und Äußerlichkeit sind hierbei von untergeordnetem Interesse, Differenzierung erfolgt gemäß des Reihenbegriffs, der auch das Verständnis der Zahl begründet.63 Bestimmungen lassen sich im Raster des Gattungsbegriffs nur schlecht niederschreiben. Dadurch, dass es die Relationen sind, die dem Symbolischen seine Form geben, kann extrapoliert werden, dass ein Außersymbolisches, Cassirers Logik folgend, ein Nicht-relationales wäre. Es wäre etwas, das sich nicht-bezieht-auf. Dass sich nicht alles symbolisieren lässt, dass etwas Unerschließbares in allen kulturellen Formen angenommen werden muss, ist ein Gedanke, der vom Ethnologen64 Claude Lévi-Strauss vorgebracht wird. Von Lévi-Strauss stammt auch die Rede von einem absoluten Objekt beziehungsweise einem wahren System. Es bietet sich an, diese Konzepte genauer zu betrachten, um weitere Bestimmungen, respektive Grenzen des Symbolischen einzuholen. Wie ich zunächst zeigen werde, ist auch bei Lévi-Strauss der Symbolbegriff ein relationaler.65

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Anhand des Zahlenbegriffs ließe sich ein zentraler Konf likt zwischen Bergson und Cassirer entwickeln, der die Frage des Kulturoptimismus Cassirers und des Kulturpessimismus Bergsons philosophisch zurücktreten ließe. Ohne hier ins Detail gehen zu können, kann gesagt werden, dass Cassirers Begriff der Zahl eben nicht auf die Verräumlichung zurückgreift. Insofern entwickelt er tatsächlich einen Symbolbegriff, der Bergsons Angriffen widersteht. Andererseits scheint es uns heute ein unbestrittenes Faktum, dass, wie Cassirer Bergson als falsche Ansicht vorwirft, symbolische Formen zu aller Leidwesen allerorts Verdinglichung erfahren. Ich verwende hier und im folgenden mitunter die Bezeichnung Ethnologie wo Lévi-Strauss selbst in Anlehnung an Boas den Begriff Anthropologie verwendet hat, was für ihn einen gewissen Bruch mit der französischen Tradition markiert. Der Ausdruck Anthropologie ist im deutschen Sprachraum u.a. mit den Theorien von Arnold Gehlen oder Helmuth Plessner anders belegt, was zu Missverständnissen führen kann. Zu den historischen und theoretischen Verbindungslinien zwischen Cassirer und Lévi-Strauss siehe: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 54. Jahrgang 1999, Nr. 2-3 mit dem Titel: Symbol – Struktur – Kultur, Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften nach Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu, Z., Wien 1999.

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2) Claude Lévi-Strauss’ methodologische Binarität

Ernst Cassirers Begriff einer symbolischen Form taucht in dieser Terminologie bei Lévi-Strauss nicht auf. In einem Aufsatz mit dem Titel »Die Struktur und die Form«66 grenzt letzterer sein analytisches Instrumentarium von formalistischen Herangehensweisen (hier in Bezug auf Märchen) entschieden ab. Er schreibt: »Die Form definiert sich im Gegensatz zu einer Materie, die ihr fremd ist; aber die Struktur hat keinen von ihr unterschiedenen Inhalt: sie ist der Inhalt selbst, erfaßt in einer logischen Organisation, die als eine Eigenschaft des Realen gilt.« (135) 67

Weiter befindet er: »Der Formalismus vernichtet seinen Gegenstand.« (154) Denn für diesen gilt, »allein die Form ist intelligibel und der Inhalt nur ein Rest ohne signifikanten Wert.« Hingegen aber: »Für den Strukturalismus existiert dieser Gegensatz nicht: es gibt nicht auf der einen Seite das Abstrakte und auf der anderen das Konkrete. Form und Inhalt sind gleicher Natur, sie unterstehen beide ein und derselben Analyse.« (153) Wenn Form und Inhalt gleicher Natur sind, so bedeutet dies die Verhandlung beider Aspekte auf einer einzigen symbolischen Ebene. Hierin deckt sich das Konzept jedoch vollständig mit der Annahme symbolischer Formen im Sinne Cassirers, sodass die Kritik am Formbegriff nicht auf Cassirers Philosophie anwendbar ist. Vielmehr gibt es eine bis ins Detail gehende Similarität in vielen Bestimmungen des Symbolischen. So stellt Lévi-Strauss an den Arbeiten Marcel Mauss’ heraus, dass dieser den Funktionsbegriff »nach dem Begriff der Algebra« (29)68 fasst. Dies ent66 67 68

Lévi-Strauss, Claude, (1973) Strukturale Anthropologie II, Frankfurt/M., 1992, S. 135-168. Lévi-Strauss, (1973) Anthropologie II. Lévi-Strauss, Claude, (1950) »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in: Mauss, Marcel, Soziologie und Anthropologie 1. Theorie der Magie. Soziale Morphologie, Frankfurt/M., 1989, S. 7 – 41.

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spricht weitgehend der Anknüpfung Cassirers an den mathematischen Reihenbegriff. »Ähnlich wie die moderne Sprachwissenschaft geht Lévi-Strauss von dem Postulat aus, daß es keine anderen als konstruierte Tatsachen gibt, in der Anthropologie wie in den Naturwissenschaften« (55)69, und nähert sich damit dem Kulturalismus Cassirers an. Mit den Worten von François Dosse »läßt sich der Unterbau dieses strukturalistischen Programms als insofern von der Kantschen Philosophie geprägt ansehen, als diese danach strebt, alle sozialen Systeme an prinzipielle Kategorien zu knüpfen, die als noumenale Kategorien funktionieren.« (60)

Für das gesamte strukturalistische Programm gilt, dass sich die Aufmerksamkeit »von den Termini der Beziehung vorrangig auf die Beziehung zwischen diesen Termini selbst« (51) verschiebt. Dem relationalen Charakter des Symbolischen bei Cassirer Gewicht gebend, ist hierin die wesentliche Achse zu erkennen, die es erlaubt, mit Lévi-Strauss über Cassirer hinauszugehen.

a)

N icht alles ist symbolisierbar

Während Cassirer eine mythische Formengruppe von sprachlich-repräsentativen und wissenschaftlichen Formen absetzt, legt Lévi-Strauss das Gewicht auf eine binäre Differenzierung. In Adaption der Saussure’schen Semiotik fasst er einen Bereich der Bedeutung, der Inhaltlichkeit zusammen und stellt diesem eine Ebene der sprachlichen und sozialen Struktur gegenüber. Die Übertragung der Terminologie Saussures geschieht dabei folgendermaßen: Dem Signifikat entspricht die Bedeutung, dem Signifikant die Struktur.70 Signifikant und Signifikat sind gleichursprünglich zu denken. »Die Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen können. Die Dinge haben nicht allmählich beginnen können, etwas zu bedeuten. im Gefolge einer Transformation, deren Erforschung nicht Aufgabe der Sozialwissenschaften ist, sondern der Biologie und der Psychologie, hat sich ein Übergang von einem Stadium, in welchem nichts eine Bedeutung hatte, zu einem anderen vollzogen, in welchem alles Bedeutung trug.« (38) 71

Lévi-Strauss betont, dass es nicht die Dinge sind, die nach ihrem sukzessivem Erkennen durch den Menschen zu immer neuen Begriffen führen. Vielmehr 69 70 71

Dosse, François, (1991) Geschichte des Strukturalismus. Band 1: Das Feld des Zeichens, 1945-1966, Hamburg, 1996. Vgl. Dosse, (1991) Geschichte 1, S. 50. Lévi-Strauss, (1950) Einleitung.

Teil 1: Das Symbolische

ist alles bereits bedeutsam, noch ehe es in einer Figur der progressiven Ausdifferenzierung erkannt wird. Die Kategorien von Signifikant und Signifikat sind »gleichzeitig und ineinander verschränkt als zwei komplementäre Blöcke« (38) konstituiert. Dies zur Denkvoraussetzung genommen, dreht Lévi-Strauss das Verhältnis zwischen Saussures Signifikat (s) und Signifikant (S) um. Nicht das Signifikat determiniert den Signifikanten, sondern der »Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt es« (26).72 Die physische und die soziale Realität in einer Kultur sind indes nicht kommensurabel. So entsteht eine Form von Unbewusstem.73 Eine Folge davon ist, »daß keine Gesellschaft jemals ganz und vollständig symbolisch ist.« (15)74 Es scheint, dass für Lévi-Strauss ein Nicht-Symbolisches anzunehmen ist – was doch im deutlichen Widerspruch zum soeben angeklungenen Dogma steht, dass das symbolische Universum mit einem Schlag vollständig gegeben ist, sobald Sprache (als synchrones System) erworben ist. Denn, wenn Signifikant und Signifikat gleichursprünglich sind, ist auch nichts Bedeutendes denkbar, das nicht einem Signifikant zugeordnet wäre. Und mehr noch: jedes Bedeutende scheint im Sprachsystem von Signifikanten überdeterminiert! Mit Rückgriff auf die Psychoanalyse überwindet Lévi-Strauss das Paradoxon, indem er das Unbewusste nicht der Kategorie der Signifikate zuordnet, sondern als strukturelles Phänomen setzt. In Abgrenzung zum Begriff des Unbewussten bei Carl Gustav Jung, im Sinne eines Speichers an kollektiven bedeutenden Inhalten, schreibt er: »In Wirklichkeit handelt es sich nicht darum, eine äußerliche Gegebenheit in Symbole zu übersetzen, sondern Sachverhalte auf ihre Natur eines symbolischen Systems zurückzuführen, dem sie sich einzig entziehen, um sich unkommunizierbar zu machen.« (25f ) 75

Der hier beschriebene Vorgang, in dem Sachverhalte eine eigenartige Subjektivität beziehungsweise Selbsttätigkeit aufweisen, könnte in Termini von Verdrängung oder aber Verwerfung gefasst werden. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass der Ausgangspunkt des Konflikts tatsächlich im Physischen gesetzt wurde, in jener »anderen – stummen – Form der Notwendigkeiten des Lebendigen.« (41). Diese paradoxe Anordnung eines Affektes, der sich außerhalb des zugänglichen sprachlichen Raumes befindet, jedoch nicht be72 73 74 75

Oder wie Lacan in Übernahme dieses Konzeptes dann formalisieren wird: S/s. Vgl. hierzu: Zafiropoulos, (2003) Lacan, S. 189 et passim. Vgl. Lévi-Strauss, (1950) Einleitung, S. 15, 24. Lévi-Strauss, (1950) Einleitung. Wiederum Lacan wird diesen Begriff von Unbewusstem weiterführen. Auf die Differenz zwischen dem Begriff des Unbewussten bei Freud und bei LéviStrauss sei hier ausdrücklich hingewiesen! Vgl. hierzu: Dosse, (1991) Geschichte 1, S. 178.

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ziehungslos zu diesem steht, ist im Begriff des psychischen Traumas gefasst worden.76 In einer abgeschwächten Form kann man ihn mit Freud auch im Witz und im Lapsus wiederentdecken. Er taucht auf als Hiatus und in Persona durch die Ausgegrenzten, Ausgestoßenen der Gesellschaften. Claude LéviStrauss nimmt hiermit etwas in den Blick, das insofern über die symbolischen Formen hinausweist, als es den signifikanten Fehler nicht als aktual Defizitäres, sondern als unhintergehbare Dynamik des Symbolischen, als soziale Konstruktion selbst begreift.

b)

M y theme und der C ode als C ode

Dass der Signifikant dem Signifikat vorgeordnet sein soll, ist zunächst kontraintuitiv. Für Claude Lévi-Strauss ist diese linguistische Anleihe, die er seinen ethnologischen Anforderungen anpasst, vor allem Erkenntnismittel: Logisch-mathematische Formalisierungen versprechen, beispielsweise aus einer ungeordneten Menge widersprüchlichster Mythen, verallgemeinerbare Aussagen zu generieren, also wissenschaftlich klare Ergebnisse zu liefern. Bis zum Kantianer Helmholtz lässt sich die Denkfigur zurückverfolgen, dass es die Wissenschaften mit Zeichensystemen zu tun haben und weniger mit Dingen (um im Rahmen der obigen Darstellung zu bleiben). Außerdem ist die Objektivierung wesentlich an das Symbolische geknüpft (worauf unter anderem Bergson Wert legte). Auf den Punkt bringt dies Harald Katzmair, wenn er schreibt: »Diese triviale Aussage, der das linguistische Modell zugrunde liegt, dass die Bedeutung eines Signifikanten ein Effekt seiner singulären Position im differentiellen System aller anderen Signifikanten ist, schließt jedoch einen Grundsatz mit ein: Wenn für sich alleine ein Signifikant nichts bedeutet, so ist für sich genommen ein ›Einzelnes‹ niemals symbolisch. Es existiert keine symbolische Autonomie des Einzelnen. Gleich wie in der Menge der natürlichen Zahlen die Bedeutung jeder einzelnen Zahl die Existenz der gesamten (unendlichen) Anzahlreihe voraussetzt, setzt das Einzelne in der Bedeutung als ›Einzelnes‹ - um symbolische Relevanz zu erlangen – eine kollektive Ordnung voraus.« (2) 77

Mathematische – oder allgemein: wissenschaftliche – Operabilität hat die unendliche Reihe zur Voraussetzung. Aus der Linguistik stammt der Befund, 76 77

Vgl. Hirsch, Mathias, (2011) Trauma, Gießen, 2011, S. 31- 61 et passim. Katzmair, Harald, (1999) »Soziologie und Sozio-logik symbolischer Formen. Die erkenntnistheoretischen Modelle von Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu«, in: Kaschl, Helga (Red.), IWK. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 54. Jahrgang 1999, Nr. 2-3: Symbol – Struktur – Kultur (...), Zeitschrift, Wien, 1999, S. 2-7.

Teil 1: Das Symbolische

dass auch hier gilt: »die Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen können.« (38)78 Lévi-Strauss hebt diesen Grundsatz auf die Ebene anthropologischer Überlegungen, wenn er schreibt, dass »der Mensch von seinem Ursprung her über eine Gesamtheit von Signifikanten verfügt, das [sic] er nur mit Mühe einem, wenn auch gegebenen, so doch noch nicht erkannten Signifikat zuordnen kann.« (39) Die Betonung der relationalen Beschaffenheit der Sprache, also das synchronische Element, lässt das Symbolische tendenziell stärker als autonome Struktur erscheinen, als dies bei einer genealogischen Theorie möglich wäre. Wäre die Sprache nur Effekt einer historischen Erschließung der Realität durch den Menschen, so hätte sie kaum mehr Gehalt, als die gegebenen Dinge von sich verrieten, ja es haftete gar etwas Defizitäres, Kontingentes an Lexik und Grammatik. Wenn jedoch Welt und Sprache, Signifikat und Signifikant in einem Akt auseinandertreten, lässt dies hoffen, ein sehr umfassendes Wissen mittels der Signifikanten gewinnen zu können. Man kann dies einen Glaubensakt nennen oder aber als methodologische Strategie akzeptieren. Wohlgemerkt geht diese Strategie Lévi-Strauss’ weit über die Überlegungen von Helmholtz hinaus. Denn es sind zweierlei Dinge, ob ich mir Rechenschaft über die Repräsentationsfunktion in meiner Wissenschaft ablege (wie dies Helmholtz vorschlägt) oder aber im symbolischen Geschehen selbst etwas entziffern möchte, das einen eigenen Erkenntnisgehalt aufweist: eine Struktur. Dieser letzte Ansatz ist es, womit Lévi-Strauss grundsätzlich die bisherigen Bestimmungen des Symbolischen (respektive jene Cassirers) übersteigt und möglicherweise einen inneren Bruch im Symbolischen markiert. Lévi-Strauss beschreibt, dass es einen »Überfluß von Signifikanten gibt im Verhältnis zu den Signifikaten, welche es besetzen kann. In seinem Bemühen, die Welt zu verstehen, verfügt der Mensch also immer über einen Überschuß an Sinn (den er auf die Dinge nach Gesetzen des symbolischen Denkens verteilt, deren Erforschung Aufgabe der Ethnologen und Linguisten ist).« (39) Da also die Signifikanten nicht fix an ihren Objekten festgemacht sein können, was aus der Annahme eines Überflusses logisch hervorgeht, können eigene Gesetze des symbolischen Denkens angenommen werden. Wiederum gilt hier die bereits von Cassirer formulierte Kritik an der Substanz und die Bevorzugung der Funktion sowie des relationalen Auf baues des Symbolischen – hier noch mal in den Worten Lévi-Strauss’: »Der Irrtum der traditionellen Soziologie wie auch der traditionellen Sprachwissenschaft liegt darin, die Glieder und nicht die Beziehungen zwischen den Gliedern betrachtet zu haben.« (61)79 Die zu erforschende Gesetzmäßigkeit ist nun aber auf der Seite des Signifikanten angesiedelt. Es geht also nicht mehr nur um die Relation von Elementen zuein78 79

Lévi-Strauss, (1950) Einleitung. Lévi-Strauss, Claude, (1958) Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M., 1972.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

ander, sondern um die Relation der spezifisch symbolischen Anteile dieser Elemente. Dieses sprachwissenschaftlich gestützte Verfahren arbeitet ausdrücklich mit der »Komplementarität zwischen Signifikant und Signifikat« (164)80, wobei die Gesetzmäßigkeiten »nicht auf der Ebene des Vokabulars, sondern auf der der Phoneme« (165) zu suchen sind. In zahlreichen ethnologischen Untersuchungen zeigt Lévi-Strauss, dass die Struktur beziehungsweise die Gesetzmäßigkeit nicht in den Relationen des Gemeinten zueinander besteht, »sondern die Bedeutung immer eine Bedeutung der Position ist« (51)81. So gibt es in den institutionalisierten Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener Kulturen zwar unterschiedlichste Ausprägungen von Heiratsregeln aber nur eine begrenzte Zahl symbolischer Funktionen. Ein Beispiel soll das Vorgehen erläutern: »Eine wirklich elementare Verwandtschaftsstruktur – ein Verwandtschaftsatom, wenn man so sagen darf – besteht aus einem Mann, seiner Frau, einem Kind und einem Vertreter der Gruppe, von der der Mann die Frau empfangen hat. […] Versuchen wir, auf dieser Grundlage alle Kombinationen der möglichen Verhaltensweisen innerhalb der Elementarstruktur aufzustellen, wobei (nur für die Beweisführung) zugegeben werden mag, daß die Beziehungen zwischen Individuen durch zwei Merkmale definiert werden können: ein positives und ein negatives. Man wird feststellen, daß bestimmte Kombinationen empirisch nachweisbaren Situationen entsprechen, die die Ethnographen in dieser oder jener Gesellschaft tatsächlich beobachtet haben. Sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau positiv und die zwischen Bruder und Schwester negativ, kann man zwei korrelative Verhaltensweisen nachweisen: eine positive zwischen Vater und Sohn, eine negative zwischen dem Onkel mütterlicherseits und dem Neffen. Bekannt ist auch eine symmetrische Struktur, wo alle Zeichen umgekehrt sind.« (85f ) 82

Die Erkenntnismöglichkeit des strukturalistischen Ansatzes ist eine höchstmögliche Formalisierung allgemeiner Regeln als induktives Vorgehen und die Anwendung dieser Regeln auf den konkreten Fall, klassischerweise deduktiv. Dabei sind es eben nicht Onkel und Neffe, die isoliert betrachtet werden, sondern das logische Verhältnis von Onkel/Neffe beispielsweise zu Vater/Sohn. Diese Relationen sind Relationen von Relationen zueinander. Über sie erfährt der Ethnologe etwas über Strukturen, die im Einzelnen jedoch gesellschaftlich (bewusst) überhaupt nicht funktional sind, geschweige denn symbolisiert. Erst das vergleichende Studium von Kulturen ermöglicht es, solche Formen überhaupt zu entdecken. 80 81 82

Lévi-Strauss, Claude, (1973) Strukturale Anthropologie II, Frankfurt/M., 1992. Dosse, Geschichte 1. Zitiert wird hier: Jean Poullion im persönlichen Gespräch. Lévi-Strauss, (1958) Anthropologie I.

Teil 1: Das Symbolische

Grundsätzlich möglich wird das Verfahren durch die Annahme paralleler Strukturen, wie »Benennungssystem und Haltungssystem« (51), so dass es zu distinkten Ebenen kommt, die dann zueinander in Beziehung gesetzt werden können.83 Ein Benennungssystem wäre im obigen Zitat die Ebene der familiären Position, also Onkel, Vater etc., ein Haltungssystem dementsprechend das dort als binär angegebene positive oder negative Verhältnis. Über das Haltungssystem schreibt Lévi-Strauss: »Wir ahnen die Rolle […], die darin besteht, den Zusammenhang und das Gleichgewicht der Gruppe zu sichern, aber wir begreifen nicht die Natur der zwischen den verschiedenen Haltungen existierenden Verbindungen und erfassen ihre Notwendigkeit nicht.« (51) Womöglich bleibt der symbolische Zugriff hier prinzipiell versagt. Wenn das Haltungssystem dem Register der Affekte (und damit zumindest vorläufig einem imaginären Register) zugeschlagen wird, kann hierin ein Hinweis gesehen werden, dass die Affektbeziehung möglicherweise außerhalb des Symbolischen anzusiedeln ist. Demnach ist eine Voraussetzung von strukturalistischer Erkenntnis eine alternative oder supplementäre zweite Struktur. Neben der Untersuchung von Verwandtschaftsstrukturen widmet sich Lévi-Strauss ausführlich den Mythen verschiedener Kulturen, ebenfalls mit vergleichender Methodik. »Diese Denkformen können nicht mehr als prälogisch beschrieben werden. Sie sind von einer anderen Logik, aber nur in dem Maße, wie das abendländische Denken lange durch eine zu enge Logik beherrscht gewesen ist.« (82)84 Für ihn ist der Mythos eine »Metasprache« (83), er entspricht einem Code, der durch Übersetzungen nicht gestört wird, also durch konkrete Sprache hindurchgeht. »Die Poesie ist eine Form der Sprache, die nur unter großen Schwierigkeiten in eine andere Sprache übersetzt werden kann, und jede Übersetzung bringt zahlreiche Deformationen mit sich. Dagegen bleibt der Wert des Mythos als Mythos trotz der schlimmsten Übersetzung bestehen. […] Der Mythos ist Sprache; aber eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag.« (230f ) 85

Daraus folgt, dass das »Vokabular weniger wichtig als die Struktur« (224) ist. Lévi-Strauss nimmt es in Angriff, letztere freizulegen, »die Triebfedern des ›wahren‹ Systems freizulegen. Das heißt über die Grenzen des Bewußtseins hinauszuführen.« (84)86 Im Konkreten hieße dies, universelle Erzählungen herauszuarbeiten, sogenannte Mytheme, die »aus einem Spiel von binären 83 84 85 86

Eine ähnliche Denkfigur findet sich im Begriffspaar Funktionswert - Ausdruckswert. Vgl. Lévi-Strauss, (1958) Anthropologie I, S. 251f. Lévi-Strauss, (1973) Anthropologie II. Lévi-Strauss, (1958) Anthropologie I. Lévi-Strauss, (1973) Anthropologie II.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

oder ternären Gegensätzen resultieren« (166). »Wenn man einen Neologismus der Bautechnik verwenden will, könnte man sagen, daß die Mytheme im Unterschied zu den Wörtern ›vorgespannt‹ sind.« (167) In dieser Vorspannung mag etwas liegen, was vielleicht auch eine »tiefere[] Realität[]« (26)87 hervorzubringen verspricht, ein im Grunde idealistisches Projekt.88 Sprache wird also überwunden in der Metasprache des Mythos, der eine Geschichte im Konkreten beschreibt. Im Mythem zeigt sich eine Struktur, die mithin nicht allein Struktur des Symbolischen als rein sprachlicher Ordnung ist. Erst Interferenzen mit anderen Ebenen führen zu den formalen Ergebnissen der vergleichenden ethnologischen Untersuchungen. So können zumindest die Hinweise auf eine Vorspannung, auf eine Metasprache 89, auf die Differenzierung zwischen »Benennungs- und Haltungssystem« verstanden werden. Diese Extrapolation der empirischen Daten – die vielleicht eine tiefere Realität birgt, einen Verweis auf ein Reales – kommt meiner Ansicht nach im »absoluten Objekt« (230)90 auf ihren Begriff. »Wollen wir uns über die spezifischen Merkmale des mythischen Denkens Rechenschaft geben, so müssen wir verifizieren, daß der Mythos gleichzeitig in der Sprache und jenseits der Sprache ist. Auch diese neue Schwierigkeit ist dem Sprachforscher nicht fremd: umfaßt die Sprache selbst nicht verschiedene Ebenen? Saussure hat, als er zwischen Sprache und Gesprochenem unterschied, gezeigt, daß die Sprache zwei komplementäre Aspekte hat: […] die Sprache gehört ins Gebiet einer umkehrbaren Zeit, und das Gesprochene in das einer nicht umkehrbaren. Wenn es also möglich ist, diese beiden Ebenen in der Sprache voneinander zu trennen, so besagt das nicht, daß wir nicht noch eine dritte definieren könnten.« (229)

Lévi-Strauss rekurriert hier auf die als Synchronie und Diachronie bekannt gewordenen Konzepte Saussures. »Diese doppelte, zugleich historische und ahistorische Struktur erklärt, daß der Mythos sowohl in das Gebiet des gesprochenen Wortes gehört (und als solcher analysiert werden kann) wie in das der Sprache (in der er formuliert wird)[...]« (230). Diese strukturelle Differenz von Statik und Dynamik wird hier zur Aufforderung, eine dritte Ebene anzunehmen: »[…] und dabei auf einer dritten Ebene denselben Charakter eines absoluten Objekts hat.« (230) Ich sehe im Begriff eines absoluten Objekts einen Hinweis auf die Ordnung des Realen. Lévi-Strauss fügt an, dass diese dritte Ebene »auch sprachlicher Natur« (230) ist, sich aber dennoch unterscheidet und zumindest »sich vom Sprachuntergrund ablöst« sowie »komplexer« (231) ist. Ich 87 88 89 90

Lévi-Strauss, (1950) Einleitung. Vgl. Dosse, Geschichte 1, S. 61. Die funktional den Phonemen der Sprachwissenschaften entspricht. Vgl. LéviStrauss, (1958) Anthropologie I, S. 231) Lévi-Strauss, (1958) Anthropologie I.

Teil 1: Das Symbolische

halte dagegen, dass der Ort eines absoluten Objekts wesensmäßig außerhalb der Benennungen und des Benennbaren liegt, und ein solcher Begriff, wie er im Übrigen auch von Charles Sanders Peirce verwendet wird,91 auch wenn LéviStrauss selbst zurückhaltend bleibt. Vorläufig könnte gelten, dass das absolute Objekt das Reale einer Wissenschaft ist, welche sich asymptotisch an dieses annähert. Ich denke, Lévi-Strauss’ Bemühungen um ein wahres System, eine tiefere Realität dürften, sofern sie aus dem Symbolischen ausbrechen, auch in eine solche Richtung interpretierbar sein.

c)

D er flot tierende S ignifik ant

Lévi-Strauss nutzt, wie bereits gezeigt, für seine ethnologischen Untersuchungen Saussure’s sprachwissenschaftliches Konzept einer Differenzierung zwischen Signifikant und Signifikat. Im Zuge seiner Forschungen beobachtet er das Phänomen sinnleerer Signifikanten, die verschiedene Positionen im sozialen Gefüge repräsentieren können (mana, wakan und orenda), ohne selbst einen positiven Sinn mitzubringen. Er sieht darin »den bewußten Ausdruck einer semantischen Funktion, deren Rolle darin besteht, die Tätigkeit des symbolischen Denkens trotz des ihm eigentümlichen Widerspruchs zu ermöglichen.« (40)92 Dieser Widerspruch entsteht aufgrund einer prinzipiellen »Inadäquation« (39), die aus dem signifikanten Überfluss resultiert. Diese »flottierenden Signifikanten« (39) sind »Symbol im Reinzustand und deswegen in der Lage, einen wie immer gearteten symbolischen Inhalt aufzunehmen. In diesem für jede Kosmologie konstitutiven System von Symbolen wäre es einfach ein symbolischer Nullwert« (40). Auch für die Industriegesellschaften gilt es, einen »Ausgleich[] des Signifikanten mit dem Signifikat« (39) herzustellen; es handelt sich also um eine prinzipielle Konfliktsituation, die aus der Trennung der beiden Ebenen resultiert, die nie völlig zur Deckung kommen können.93 Für eine Untersuchung der Ordnung des Symbolischen heißt dies, dass eine vollständige Symbolisierung undenkbar ist. Dies hat sogar eine funktionale Begründung, denn nur ein unvollständiges System ermöglicht die Beweglichkeit des Denkens, nur wenn es Lücken gibt, setzt sich der Strom der Signifikanten fort. Je nachdem, was ich unter einem Signifikat verstehe, erachte ich dies als Teil des Symbolischen oder aber als ein Außen im Sinne eines Zeichen-Referenten, also als 91

92 93

Vgl.: Nordtug, Birgit, (2004) »Subjectivitiy as an unlimited Semiosis: Lacan and Peirce« in: (Z) Studies in Philosophy and Education, Volume 23, Issue 2-3, March 2004, S. 93-100. Lévi-Strauss, (1950) Einleitung. Sie wäre nur für »den göttlichen Verstand auf lösbar« (Lévi-Strauss, (1950) Einleitung, S. 39).

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

indexialische Beziehung. Ohne diesen Punkt hier zu entscheiden, ist grundsätzlich festzuhalten: Ein reines homogenes Symbolisches, das nicht mindestens eine weitere Struktur mit eigenen Gesetzen – als ein mögliches Beispiel sei hier »die Natur« genannt – als Gegenspieler oder Binnenstruktur kennt, wäre völlig statisch. Die uns bekannte Dynamik im historischen Erkenntnisprozess ließe sich nicht daraus erklären. Flottierende Signifikanten können als Indiz für eine solche wie auch immer geartete andere Ordnung gelten. Dieser Hinweis behält seine Gültigkeit, auch wenn jede Bestimmung dieses Außens epistemologisch zunächst völlig spekulativ bleibt. Die strukturalistische Ethnologie nähert sich dieser anthropologischen Fundamentalebene mittels einer aufs höchste Maß zugespitzten Abstraktion und Mathematisierung. Abschließend kann gesagt werden: Neben der Zahlenreihe gehört auch die unbestimmte Variable zu den Modellformen des Symbolischen.

Zusammenfassung: Eine Traditionslinie des Symbolischen

Im vorangehenden Kapitel habe ich Bestimmungen des Symbolischen eingeholt und als Autoren Physiker, Philosophen und Ethnologen herangezogen, um eine mögliche Diskurslinie nachzuzeichnen, die ihren Ausgangspunkt in den Anforderungen der empirischen Wissenschaften nimmt, um schließlich bei anthropologischen Fragestellungen zu münden. Die Bereitschaft zu höherer Abstraktion mittels einer Zeichentheorie, wie sie bei Helmholtz deutlich wird, ist eine Voraussetzung für die großen Paradigmenwechsel in der Physik, die mit der Relativitätstheorie und Quantenmechanik statthaben werden. Mit diesem Schritt nähert sich die Naturwissenschaft aber auch sprach- bzw. kulturtheoretischen Reflexionen an und beide fusionieren in einer gemeinsamen epistemologischen Theorie. So fasst Cassirer schließlich alle bekannten Erscheinungsweisen der bezeichnenden Darstellung, des Mythos und der Wissenschaft unter dem Begriffskomplex der symbolischen Formen zusammen. Diese sind Formen der Erkenntnis von Welt, die an konkrete kulturelle Voraussetzungen geknüpft sind. Mitunter offenbaren sich diese sehr unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Voraussetzungen wiederum in den Arbeiten der Ethnographie, die das Material für Lévi-Strauss’ Entwicklung des Strukturbegriffs liefern. Eine solche Metaebene verweist aber auf ein Differenzgeschehen, in welchem die symbolische Ordnung nur ein autonomes Element darstellt, das mit einer weiteren, notwendigerweise anders strukturierten Form oder Gesetzlichkeit interferiert. Eine rein symbolische Welt wäre statisch und es wäre je schon alles bezeichnet. Dialektik wäre nicht möglich. Nur dass die symbolische Welt mit irgend einem Außerhalb konfrontiert ist, kann erklären, dass es ungenügende Bezeichnungen sowie flottierende Signifikanten gibt. Mit Bergson – und im ebenso kulturpessimistischem Duktus: mit Freud – kann dieser Gedanke variiert werden, indem die andere Struktur in der Natur des Menschen selbst verortet wird. Bergson sieht das Phänomen der Dauer des empfindenden Bewusstseins als vernachlässigte Struktur im abendländischen Denken. Das Symbolische ist zwar sehr nützlich im gesellschaftlichen

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Alltag, indem es den homogenen Raum des Menschen strukturiert, doch es umfasst nicht dessen gesamten Weltzugang. Bergson behauptet eine dem Symbolischen vorgeordnete Erkenntnisform; Lévi-Strauss legt eine im Symbolischen wirksame, jedoch nicht von dort herrührende Alterität zugrunde, wenn er Struktur von Affekt abgrenzt. Es gibt also Hinweise auf Register, die logisch notwendig außerhalb des Symbolischen angesiedelt sind, setzt man die Richtigkeit der phänomenalen Beobachtung beider Autoren voraus. Es lohnt also in Hinblick auf eine begriffliche Abgrenzung vom Symbolischen, dessen Bestimmungen, wie sie aus der oben dargelegten Traditionslinie hervorgehen, zusammenzufassen.

Zusammenfassung: Bestimmungen des Symbolischen aus erkenntnistheoretischer Perspektive

Der vorangegangene Kursus ist erkenntnistheoretischen Zusammenhängen bei der Konzeption der Begriffsgruppe Symbol – symbolische Form – das Symbolische gefolgt. Dabei wurde deutlich, dass es sich, obgleich von verschiedenen Autoren in verschiedenen Kontexten benutzt, beim Symbolischen um einen Begriff mit deutlichen positiven Bestimmungen handelt. Da es in den Kernaussagen Übereinstimmungen gibt, kann gelten, dass keine Äquivokationen diskutiert wurden, wo Differenzen zwischen den Positionen einzelner Autoren zu verzeichnen sind. Die zentrale Bestimmung des Symbolischen ist der relationale Charakter. Beziehungen bestehen wesentlich zwischen den Elementen des Symbolischen. Die Beziehungsstruktur zu Außersymbolischem, sofern dies überhaupt gedacht wird, fällt unterschiedlich aus: Sie reicht von einer reinen Abbildfunktion, über eine größtmögliche Übereinstimmung qua Gesetzlichkeit, über Mythen und flottierende Signifikanten bis hin zu einer nachgereichten, ordnenden Größe instrumentellen Zuschnitts. In anthropologischen Entwürfen wiederum ist das Symbolische den Phänomenen vorgängig, unter der Prämisse der Zeichentheorie entstehen Signifikant und Signifikat in ein und demselben Akt. Generell gilt, dass die Konzeption eines symbolischen Registers die konventionelle Innen-Außen-Grenze, sowie korrespondierend das Subjekt-Objekt-Verhältnis, vernachlässigt, wenn nicht auflöst. Besonders deutlich wird dies im Werk Cassirers, der, transzendentalphilosophisch motiviert, in seiner Philosophie der symbolischen Formen jeden Weltzugang jenseits symbolischer Formen ausschließt. Erkenntnis begreift sich hier als Relation, betrifft und bedeutet nur Beziehung. Diese Beziehungen gilt es (für die Philosophie, für die Wissenschaft) als Beziehungen zu untersuchen. Es wird damit ein hohes Maß an Operabilität erreicht, was bei Cassirer durch die Abstandnahme vom klassischen Substanzbegriff und die Annäherung an einen mathematischen Reihenbegriff vorbereitet ist.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Weitere Bestimmungen des Symbolischen sind: Bereits die bewussten Wahrnehmungen haben Zeichencharakter und sind keine Abbilder eines vom beobachtenden Menschen unabhängigen Außen. Zeichen teilen sich in Signifikant und Signifikat, wobei für den Signifikanten Arbitrarität gegenüber dem Signifikat charakteristisch ist. Zur Welt der Zeichen gehört wesentlich Gesetzmäßigkeit beziehungsweise Gesetzlichkeit. Wo eine Außenwelt angenommen wird, korrespondiert dem Begriff der Gesetzlichkeit des Symbolischen der Begriff der Wirklichkeit des Außen. Gesetze sind in jedem Fall hypothetisch und kulturell determiniert. Raumkonzepte folgen symbolischen Anforderungen, Raum ist ein Effekt des Symbolischen. Der Vorgang der Objektivierung ist im symbolischen Raum angesiedelt, mit Einschränkungen und unter Vorbehalt94 können damit ontologische Annahmen ersetzt werden: Das Sein der Dinge wäre dann eine symbolische Operation. Einzeldinge, rein subjektives Erleben oder auch das Ereignis als solches erscheinen zunächst nicht im Symbolischen, können aber im Zuge eines kollektiven Erkenntnisprozesses darin Eingang finden. Auch reine Qualitäten sind schwer in ein derart bestimmtes Symbolisches zu integrieren, da die relationale Struktur des Symbolischen eher quantitativen Formen gerecht wird. Das Symbolische ist tendenziell normativ, auch im pejorativen Sinne, da es Ausschluss generiert. Jede menschliche Kultur basiert auf den Leistungen des Symbolischen. Es ist mit einer kategorialen Schwierigkeit belegt, positive Aussagen über eine nicht symbolische Ordnung zu generieren, da die Beschreibung solcher Phänomene im symbolischen Register erfolgen muss.

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Eine Ausdifferenzierung erfolgt in Teil 3 mit Émile Meyersons Epistemologie.

Teil 2 Das Imaginäre

Cassirers Außersymbolisches

Es ist Cassirer selbst, der in seinem späten, im amerikanischen Exil verfassten Buch Versuch über den Menschen1 eine Türe öffnet, ein Nicht- oder Vor-Symbolisches positiv zu bestimmen. Dieser Ausgang ist zunächst ein anthropologischer. Er ist im Kapitel »Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen: Das Symbol« niedergeschrieben. Cassirer beginnt das Kapitel mit dem Satz: »Der Biologe Johannes von Uexküll hat ein Buch geschrieben, in dem er die Grundgedanken der Biologie einer kritischen Prüfung unterzieht.« (47)2 Cassirer geht ohne Umschweife auf die bekannte Umwelttheorie Uexkülls ein: Dort ist die Wirklichkeit »nicht ein einziges, homogenes Ding; sie ist unendlich vielfältig und gliedert sich in so viele verschiedene Schemata und Muster, wie es unterschiedliche Organismen gibt.« (47) Uexkülls Theorie geht von einem so genannten Funktionskreis aus, der als Kreis ein System beschreibt, das jede Spezies mit ihrer je spezifischen Umwelt bildet. Es handelt sich um einen Ansatz, den lebenden Organismen, verstanden als wissenschaftliche Objekte, möglichst genau zu entsprechen, indem die jeweilige Umwelt als tierspezifisches Interaktionsfeld funktional mit einbezogen wird. Auch der Mensch nun, als biologisches und lebendiges Wesen, haust in einer Umwelt. Cassirer fragt sich: »Läßt sich das von Uexküll entworfene Schema auch auf die Beschreibung und Bestimmung der menschlichen Welt anwenden? Offensichtlich stellt diese Welt keine Ausnahme von den biologischen Grundprinzipien dar, die das Leben aller anderen Organismen beherrschen.« (49)

Wie bereits zur Sprache kam, ist der anthropologische Erklärungsansatz einer – als kommunikativem, mitunter objektivem Raum – bedeutsamen Menschenwelt mit dem Gedanken verbunden, dass sich diese Welt als differentielle in 1 2

Cassirer, Ernst, (1944) Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg, 1996. Cassirer, (1944) Versuch.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

einem Akt entfaltet. Die Kontinuität des Biologischen, als Deszendenz und als Lebensvollzug, kann davon jedoch nicht berührt sein. Die biologische Linie ist nicht durch einen Akt unterbrochen, ja noch nicht einmal berührt worden, wenn das Symbolische plötzlich auftaucht. Zwei unvereinbare Prinzipien treffen in Cassirers Konzeption aufeinander, wenn er fortfährt: »Aber in der Menschenwelt stoßen wir auf ein neues Merkmal, welches das eigentliche Kennzeichen menschlichen Lebens zu sein scheint. Der ›Funktionskreis‹ ist beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert; er hat sich auch qualitativ gewandelt.« (49)

Die nun angeführte evolutionstheoretische Begründung, der Mensch habe eine neue »Methode entdeckt, sich an seine Umgebung anzupassen« (49), sollte nicht über eine Vokabel hinweggehen lassen, die in der Darstellung Cassirers zentral ist: Etwas ist im menschlichen Funktionskreis völlig anders organisiert als beim Tier, und diese Wandlung ist »qualitativ«. Mit diesem Chiasmus zwischen je schon symbolischem, unvordenkbarem Kulturwesen und der Kontinuität des Biologischen setzt Cassirer zwei Qualitäten als funktionale Register. Indem er die Terminologie Uexkülls aufnimmt, die sich modellhaft auf den quasi-innerlichen und den quasi-äußerlichen Halbkreis des Funktionskreises bezieht, schreibt er: »Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ›Symbolnetz‹ oder Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung verwandelt sein gesamtes Dasein. Verglichen mit den anderen Wesen, lebt der Mensch nicht nur in einer reicheren, umfassenderen Wirklichkeit; er lebt sozusagen in einer neuen Dimension der Wirklichkeit.« (49)

Diese Dimension ist fraglos die symbolische Ordnung, deren Bestimmungen bereits ausgearbeitet wurden. Müssen anhand dieses spekulativen Befundes nun weitere Merkmale hinzugefügt werden oder ergeben sich Widersprüche zu den bereits aufgestellten Charakteristika des Symbolischen? Zunächst sieht es nicht so aus. Lediglich scheint ein historischer Moment als entwicklungsgeschichtliche Facette hinzuzutreten. Doch ob diese Annahme gelten soll oder nicht, das Symbolische bleibt unberührt von solchen außersystemischen Geschehnissen. Von großer Bedeutung hingegen ist die Behauptung jenes Etwas, zu dem das »Symbolsystem« (49) hinzutritt: der Funktionskreis. Wie können das Merknetz und das Wirknetz in Hinblick auf den Menschen bestimmt werden? Möglicherweise werden sie durch das neu hinzugekommene Symbolnetz anders organisiert sein als dies beim Tier angenommen wird. Insbesondere kann nach ihrer möglichen Erscheinungsweise als menschlicher Erfahrung

Teil 2: Das Imaginäre

beziehungsweise Organisationsweise, als Register oder Ordnung, um die Lacan’schen Termini zu benutzen, gefragt werden. Ist in diesem Register ein alternativer Weltzugang außerhalb des Symbolischen angelegt? Der biologische und anthropologische Zugang, den Cassirer in seinem späten Werk eröffnet, ist ein erster Hinweis und Anhaltspunkt für ein Außersymbolisches. Dieses ist gefasst als die Behauptung eines Funktionskreises, der sich in ein Merknetz und ein Wirknetz teilen lässt. Ein Modell, das in der Biologie zur Bestimmung des Lebendigen dient und in das Cassirer ein Symbolnetz einfügt, womit er den Einsatz menschlicher Kultur erklärt. Doch lässt sich umgekehrt – aus dieser Kultur heraus – eine Aussage über diese Nährlösung machen, in welcher Cassirer das Symbolnetz entstehen lässt? Und welcher Art sind unsere Beziehungen, die wir mit jener biologischen Welt unterhalten? Es ist also nach Bestimmungen zu suchen, die geeignet sind, ein nicht-symbolisches Register positiv auszuweisen. Als qualitativ differenzierbarer Zugang zur Welt hätte es womöglich epistemologische Bedeutung.

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Lacans Außersymbolisches

Cassirer hat in Versuch über den Menschen eine Tür aufgestoßen, die zunächst den Eingang des Menschen in die symbolische Ordnung darstellt. Doch was liegt davor? Dieser Fragestellung soll hier mit Jacques Lacan weiter nachgeforscht werden soll. Den Rekurs auf Uexkülls Umwelttheorie in Hinblick auf die Psychoanalyse vertiefend, verweist auch Lacan auf das biologische Konzept, dass eine jede Tiergattung in einer je spezifischen Umwelt lebt.3 Gemäß dieser Theorie ist die Annahme einer von allen Spezies gemeinsam bewohnten Welt für die Biologie nicht dienlich, weshalb gilt: »In der Welt des Regenwurms gibt es nur Regenwurmdinge, in der Welt der Libelle gibt es nur Libellendinge usw.« (45)4 Diese gattungsspezifischen Welten enthalten alle Elemente – und nur die Elemente –, die das jeweilige Tier zur Arterhaltung benötigt. Dementsprechend ist das Tier, so Lacan, »einer einförmigen Umwelt* angepaßt. Es gibt bei ihm bestimmte vorgeprägte Korrespondenzen zwischen seiner imaginären Struktur und dem, was es in seiner Umwelt* interessiert, das heißt was für die Fortpf lanzung der Individuen wichtig ist, die ihrerseits eine Funktion der typischen Fortpf lanzung der Gattung sind.« (162f ) 5

Lacan beschreibt darauf auf bauend einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Tier und der Gattung Mensch. Beim Tier gibt es »vorgeprägte Korrespondenzen« (162), beim Menschen jedoch eine »ursprüngliche noetische Möglichkeit« (163), eine Art Abstandnahme von der rein biologischen Funktion. Dieses abweichende »pattern« (163) nun ist durch eine zweifache Spiegelbeziehung zum Anderen gestiftet und diese Beziehung wiederum verweist implizit auf 3

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»Die Ordnung des Begehrens ist [...] ein wesentlicher Bezug, den das animalische Wesen mit seiner Umwelt* unterhält. Sie sehen also, daß diese Konzeption zweipolig ist – auf der einen Seite das libidinöse Subjekt, auf der anderen die Welt.« (Lacan, Jacques, (1953-1954) Das Seminar, Buch 1 (1953-1954). Freuds technische Schriften, Weinheim, Berlin, 1990, S. 148.) Uexküll, Jakob von, (1909) Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin, 1921. Lacan, Jacques, (1953-1954) Das Seminar, Buch 1 (1953-1954). Freuds technische Schriften, Weinheim, Berlin, 1990.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

das Symbolnetz Ernst Cassirers. Denn: die Argumentation der beiden Theoretiker folgt dem gleichen Schema und beruft sich auf die gleiche Umwelttheorie. Nach Uexküll lebt das Tier in seiner je spezifischen Umwelt, beim Menschen tritt ein qualitativer Sprung auf, indem zum Imaginären des Tieres ein Symbolisches hinzukommt. Lacan jedenfalls bezeichnet das, was das System Tier–Umwelt bestimmt, als »imaginäre[] Struktur« (163). Dabei ist die Terminologie nicht ganz konsequent, denn nach Uexküll erfolgt keine Selektion aus einer Zahl von Möglichkeiten (»was es in seiner Umwelt* interessiert« (163)), die dann das System schließen würde, sondern der Organismus ist als Ganzer je schon als in einer spezifischen Umwelt einbegriffen zu denken. Demnach umschließt auch die imaginäre Struktur notwendigerweise die artspezifischen Umweltdinge. Lacan scheint diese radikale Position abzuschwächen und nach einem Naturbegriff Kant’scher Prägung aufzufassen, wenn er sagt: »Dies Bild ist identisch für die Gesamtheit der Mechanismen des Subjekts und gibt seiner Umwelt* seine Form, sofern es Mensch ist und nicht Pferd.« (162) Im Anschluss an die Formulierung Uexkülls ist damit in jedem Fall gesagt: In der Welt des Pferdes gibt es nur Pferdedinge, in der Welt des Menschen gibt es nur Menschendinge. Dies behält in Bezug auf die psychoanalytische Theorie eines primären Narzissmus, der auf der Ebene des Imaginären verbleibt, auch bei Lacan seine Gültigkeit. In Bezug auf einen sogenannten sekundären Narzissmus entsteht darüber hinaus, gemäß der Lacan’schen Subjekttheorie, die Ebene des Symbolischen. Diese ermöglicht die Verortung des menschlichen Subjekts im Sozialen und im Raum. Ihr korrespondiert der Begriff des »IchIdeal[s]*« (163), wohingegen der Terminus eines Ideal-Ichs auf die imaginäre Ebene verweist. In beiden Registern setzt eine, jeweils unterschiedlich strukturierte, Spiegelfunktion das Subjekt außerhalb des geschlossenen Funktionskreises. Diese Dezentrierung bewirkt die »noetische Möglichkeit« (163) und schafft Platz für das Entstehen von Kultur.6 Wichtig für die Frage nach dem von Lacan postulierten Register eines Imaginären scheint mir dessen biologische Abkunft zu sein: der Rückgriff auf die Umwelttheorie, eine Strategie, die Lacan offensichtlich mit Cassirer teilt. Was macht es für beide Denker so attraktiv, bei der Konzeption eines Vor-Symbolischen (Cassirer) oder Imaginären (Lacan) ausgerechnet auf Uexküll zu rekurrieren, und damit auf ein Modell, das vor allem erkenntnistheoretischen, methodischen Überlegungen geschuldet ist? Lassen sich von Uexkülls Lehre ausgehend Bestimmungen des Imaginären erschließen?

6

Lacans Subjekttheorie wurde an anderer Stelle ausführlich besprochen, weshalb ich hier nur auf die entsprechende Literatur verweise: Braun, Christoph, (2010), Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin, 2010, S. 28-60 et passim.

Uexküll im Spiegelkabinett des Analytikers

Amoeba Terricola. Es lebt in feuchtem Moose und auf moderigem Grund ein winziges Tierlein, kaum sichtbar dem Auge des Menschen, aber dennoch ein Riese in seiner kleinen Welt. Als Landbewohner führt es den Namen terricola. Wegen seiner rauhen Oberf läche wird es auch verrucosa genannt. Langsam wälzt es sich daher, nach vorne zu einen breiten Lappen mit glattem Saum bildende, während an seinem verschrumpfelten Hinterende die Runzeln deutlich zutage treten. Es gleicht in seiner Form und seinen Bewegungen einem verunreinigten Tropfen, der langsam den Rand eines Tellers hinabrollt. Vorne befindet sich die klare Flüssigkeit, während die Verunreinigung als dicker Wulst nachgeschleppt wird. Lange Zeit hindurch hat man als Ursache dieser Bewegung eine Verminderung der Oberf lächenspannung am Vorderende angenommen, weil die künstlichen Schaumkügelchen von Bütschli und die Chloroformtropfen von Rhumbler sich mittels solcher Schwankungen ihrer Oberf lächenspannung bewegen. Dann kam Jennings und zeigte, daß alle Fremdkörper, die an der Oberf läche von Amoeba terricola kleben, sich rund um die wandernde Amöbe herumbewegen. Und zwar wandern sie auf der Oberseite von hinten nach vorne und auf der Unterseite von vorne nach hinten. Daraus durfte man schließen, daß die Amöbe einem kontraktilen Sacke gleicht, der um sich selbst rollt. Im Inneren des Sackes, der vom Ektoplasma gebildet wird, zeigt das Endoplasma gleichfalls strömende Bewegungen.« (27f ) 7

In der von Uexküll beschriebenen Amöbe lassen sich eine Vielzahl von Strömungen ausmachen. Der Einzeller hat Eigenschaften eines flüssigen Tropfens und die anzunehmende Abgrenzung des Organismus zur Außenwelt lohnt einer genaueren Betrachtung. So verändert das Tier die Konsistenz seiner Außenschichten, d.h. des Ektoplasmas, aber auch der inneren Substanz, des Endoplasmas und erreicht hierdurch Fortbewegung, Nahrungsaufnahme und Ausscheidung. »Nur das Ektoplasma hält die Beziehungen der Amöbe zu [sic] Umgebung aufrecht.« (30) Das Tier, das selbst wie ein Tröpfchen beschaffen 7

Uexküll, (1909) Umwelt.

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ist und das sich in einer feuchten Umgebung aufhält, bildet eine mehr oder weniger trennende funktionale Schicht aus, die jedoch kein Organ ist, denn sie ist weiterhin veränderliche Masse: Protoplasma und kein ausdifferenziertes Soma. Uexküll beschreibt an dieser logischen Grenze, die das Ektoplasma auch darstellt, eine reziproke Funktion: »Nur das Ektoplasma bestimmt das, was als Umwelt der Amöbe bezeichnet werden kann.« (30) Die Grenzschicht bestimmt das Außen. Und im Gegenzug: »Die ganze biologische Aufgabe, die Wirkungen der Umwelt aufzunehmen und in entsprechende Bewegungen zu verwandeln, liegt dem Ektoplasma ob.« (30) Das heißt, die Grenzschicht bestimmt das Innen der Amöbe.8 Zwar ist der Einzeller ein räumlich begrenztes Lebewesen, doch fällt eine irgendwie mediale Beschaffenheit von Umwelt und Innenwelt ins Auge. Uexkülls Strategie, vom einfachen Organismus zu höheren Formen fortzuschreiten, zwingt zum Aufgeben des konventionellen Standpunkts, der die Integrität oder Substanz des Tieres intuitiv in den Vordergrund stellen würde. Bei der Amöbe hebt er die Wesensähnlichkeit des Innen und des Außen heraus und die aktive Funktion einer Plasmaschicht, die Innen und Außen mit ihren jeweiligen Eigenschaften spezifiziert und in Beziehung setzt. Zwar ist dieses Ektoplasma auch eine Haut im üblichen Sinne, die das Tier schützt und zusammenhält, zwar wird auch Nahrung über diese Grenze hinweg aufgenommen und Fäzie ausgestoßen, doch gibt es bei der Amöbe für höhere Organismen undenkbare Besonderheiten: So kann es vorkommen, dass das Tierchen einen Teil seines Körpers verliert und anschließend problemlos wieder in sich einverleibt. »Während bei höheren Tieren alles darauf ankommt, zu verhindern, daß sie sich selbst auffressen, hat das bei den Amöben gar nichts zu sagen, da bei ihnen durch die Autophagie keine Struktur zerstört wird.« (32) Artgenossen werden indes nicht assimiliert. Auch bei der Nahrungsaufnahme kommt es immer wieder zu Zwischenfällen: »Rhumbler berichtet, daß Amoeba terricola häufig Oszillarienfäden in sich aufnimmt, ohne eine sichtbare Bewegung auszuführen. Die langen Algenfäden, die bedeutend länger sind als die Amöbe, werden dabei im Innern des Tieres langsam aufgerollt.« (30)

Offensichtlich handelt es sich bei den so entstehenden Wickeln um labile Gebilde, denn trifft Sonnenlicht auf das Tier, verliert sich diese Struktur schlagartig:

8

Hier mag man sich an das Oberf lächen-Ich Freuds erinnert fühlen.

Teil 2: Das Imaginäre »Die Tiere hören sofort mit dem Zusammenrollen der Algenfäden in ihrem Inneren auf und die Fäden schnurren wieder auseinander, um wie Borsten überall aus dem Amöbenkörper hervorzuschauen.« (31)

Die Nahrungsaufnahme verdient generell eine genauere Betrachtung. Uexküll beschreibt den Prozess wie folgt: »Chemische Reize, die von Nahrungsmitteln ausgehen, wirken deutlich auf die Amöbe ein, denn nur sie sind imstande, das Ektoplasma zum Erweichen zu bringen, wodurch eine vorübergehende Mundöffnung geschaffen wird. Auch vermag Amoeba terricola spezifische Reize auszuwählen, denn die Oszillarienfäden werden ganz sicher von anderen Gegenständen unterschieden.« (31)

Einerseits kann angenommen werden, dass chemische Reize direkt das Erweichen der Außenschicht bewirken. In dieser Perspektive reagiert das Ektoplasma chemisch-mechanisch. Andererseits selektiert die Amöbe ihre Nahrung aktiv. Erneut sind also aktive und passive Positionen uneindeutig dem Tier oder seiner Umwelt zugewiesen. Eine gewisse Gleichwertigkeit beider Sphären in den beschriebenen Funktionsweisen lassen die Umrisse eines Systems erkennen, in welchem Wesensmerkmale und Funktionen nicht allein vom Tier ausgehen. Gleichzeitig ist der Organismus auch nicht völlig von seiner Umwelt determiniert oder ein nur empfangendes und von dem Millieu allein geprägtes Gebilde. Die Amöbe mit ihrer Eigenschaft und Fähigkeit, biologische Funktionen, wie beispielsweise die eines Mundes oder die Verdauung, nach Bedarf an jedem beliebigen Ort der Zelle zu entwickeln, wird als Einheit mit ihrer Umwelt beschrieben. Es gibt ein Ektoplasma, das über Innen und Außen entscheidet. Dies scheint zunächst eine banale Aussage. Beobachtet man allerdings die prinzipielle Durchlässigkeit für Nahrungsmittel und Stoffwechselprodukte, so ist zwischen dem Innen und dem Außen eine mediale Gemeinsamkeit notwendige Grundlage für die Passage etwa der Algenfäden in das Tier hinein, aber womöglich auch wieder hinaus und offensichtlich nicht selten: halb drinnen, halb draußen. Es scheint mir wichtig, auf diese Grenzfläche hinzuweisen, diesen Hautsack, der auch die höheren Tiere insofern bestimmt, als wir Menschen ihre vertraute Gestalt darin erkennen. Der besondere Fall der Amöbe zeigt auf einer chemisch-mechanischen Ebene, wie die Umwelt von dieser Schicht determiniert wird. Über die Beschaffenheit des Ektoplasmas wird in gegenläufiger Richtung auch das Verhalten des Tierchens vorgeformt. Bei der Übertragung dieser Bestimmungen des Ektoplasmas auf höhere Organismen sollte immer bedacht werden, dass das Tier für Uexküll keine substanzielle Masse ist, die über die Haut und deren (Sinnes-)Organe mit einer allgemeinen Umwelt kon-

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frontiert ist, sondern dass es eine das Tier bestimmende Funktion gibt, die das System Tier–Umwelt darstellt. Das Ektoplasma verschwindet bei höheren Organismen hinter dem funktionalen Aspekt. Was bleibt, ist ein Funktionskreis als Modell des (logischen) Ektoplasmas. Das sujet ist das Gesamt von Innenwelt und Umwelt. Das Ektoplasma kann in letzter Konsequenz als logische Struktur verstanden werden, deren Lokalisation aus funktionaler Sicht vernachlässigt werden kann, sodass die hautähnliche Grenzschicht als Horizont erscheint, vor welchem der Metabolismus stattfindet. Eine solche Interpretation folgt philosophischen Figuren, in welchen die Annahme eines Empfindungs- und Handlungssubjekts, das objekthaften Entitäten gegenübersteht, aufgegeben wird, zugunsten einer Phänomenologie, die zwar Pole benennt, sich aber wesentlich auf die Ausgestaltung der Beziehung konzentriert. Die Grenzschicht, das Ektoplasma, ist für die biologische Funktion keine Barriere, sondern Struktur. Tatsächlich greift der Einzeller weit über seine Umhüllung hinaus, genauso wie er Elemente seiner Umwelt in sich hineinlässt. Als Grenze erscheint sie allein dem Betrachter, der dabei sein Erkenntnisinteresse – »was ist das für ein lebendiges Tröpfchen?« – mit einbringt. Man könnte anführen, dass eine Verallgemeinerung von Beobachtungen bei Amöben auf mehrzellige Organismen unzulässig sei. Uexküll beharrt jedoch auf der prinzipiellen Gültigkeit jener strukturellen Verhältnisse, wie er sie im Funktionskreis formalisiert. Es handelt sich um ein »allgemeines Schema […], das die Beziehungen eines jeden Tieres zur Welt darstellt« (45). Im Schema eines geschlossenen Kreises visualisiert er Funktionselemente einer »Einheit, die jedes Tier mit seiner Welt bildet« (45):

Teil 2: Das Imaginäre

Abbildung: Funktionskreis.

Zeichnung nachempfunden. Vgl.: Uexküll, (1909) Umwelt, zweite Aufl. 1929, S. 45.

Die Umwelt ist »nur von Dingen erfüllt […], die diesem speziellen Tier allein angehören. In der Welt des Regenwurmes gibt es nur Regenwurmdinge, in der Welt der Libelle gibt es nur Libellendinge usw.« (45) In diesen spezifischen Tierwelten wiederum gibt es nicht nur einen Funktionskreis, sondern eine Vielzahl. Uexküll benennt diese mit »Beutekreis, Feindeskreis, Geschlechtskreis, Kreis des Mediums« (46). Im Medium ist die Umwelt im gewöhnlichen Sinne gemeint, beispielsweise Strömungen des Wassers oder aber Hindernisse an Land. Auch wenn es mehrere Kreise gibt, ist die handlungsbestimmende Funkion immer die gleiche, nämlich »das Objekt aus der Umwelt zu entfernen« (47). Dies kann durch Auffressen, durch Flucht, Mobilität oder, wie im Geschlechtskreis, durch Heraufsetzung einer inneren Reizschwelle, was dann ebenfalls eine gewisse »Ausschaltung des Objekts« (47) bewirkt, erfolgen. Dass es eine Vielzahl an Kreisen gibt, entspricht der banalen Beobachtung, dass es verschiedene Bezüge des Tieres zu seiner Umwelt gibt. Dass eine »Merkwelt«9 und eine »Wirkungswelt« (45) nebeneinder stehen sollen, ist dagegen eine ungewöhnliche methodologische Setzung. Diese Welten sind, so kann man dem Schema entnehmen, jeweils zwischen Merknetz und Receptor sowie Wirknetz und Effektor gespannt. Nimmt man die Darstellung ernst, heißt dies, dass die beiden Welten keine äußeren sind. Sie spielen sich in keinem Medium (oder räumlichen Kompendium) ab. Trotzdem schreibt Uexküll, dass es sich um zwei »Teile« (45) der Umwelt handelt. Der Begriff von Welt und damit Umwelt kann dementsprechend nicht bedeuten, dass es sich hier um ein von äußeren Dingen gebildetes Gesamtes handelt. Diese Welt hat nichts im 9

Der Begriff von Merkwelt geht auf das Bemerken von etwas zurück und hat deshalb nichts mit einer Gedächtnisleistung zu tun.

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menschlichen Sinne Weltliches. Sie ist außerdem kein homogener Raum, wie mit Bergson gesagt werden könnte. Trotzdem gibt es Objekte, die ein je konkretes »Gegengefüge« (46) darstellen. Nach Uexküll ist dieses lebendige oder tote Ding im »Bauplan« (46) des Subjekts aufgenommen, für welches es selbst die Einheit aus Merkmalträger und Wirkungsträger ist. Das Erstaunliche an der Skizze, die Uexküll vorlegt, ist, dass im konventionellen Verständnis eine Grenzlinie eine linke und eine rechte Seite voneinander trennen würde, an welchen dann spezifische Organe angeordnet wären. Hier aber schrumpft das Außen zu einem Gegengefüge zusammen, welches von einer (in der Skizze) räumlichen Dominanz von Welten eingeklammert wird. So kann man auch das Ektoplasma, so mein Vorschlag, hier als Horizont eingesetzt sehen: als perspektivische Funktion, die das Verhältnis in beide Richtungen tierspezifisch strukturiert. Gewissermaßen ist die Natur des Lebewesens hierin abgebildet. So besteht die »Aufgabe der Rezeptoren […] nicht nur darin, bestimmte Reize aufzunehmen, sondern auch darin, alle übrigen abzublenden« (46). Was Uexküll hier als rezeptive Filter beschreibt, stellen die Wahrnehmungsbedingungen des Lebewesens dar, die gleichzeitig seine Handlungsoptionen determinieren. In der Innenwelt des Organismus ist ein mehr oder weniger komplexes Nervensystem, das »Merknetz« (46), anzunehmen, das aus den – beim Empfangen gefilterten – Reizen ein »Merkmal« (46) synthetisiert. »Im Tier werden […] [die Reize, F.W.] im Merknetz verbunden, greifen dann auf das Wirknetz über.« (46) Von hier aus läuft der Funktionskreis als »geschlossener Mechanismus« (48) wie oben beschrieben ab. Die Einpassung der verschiedenartigsten Lebenwesen in ihre Umwelt ist dem Modell zufolge in unzähligen Formen ausdifferenziert. Uexküll beschreibt viele Organismen in ihren Spezialisierungen: »Sipunculus ist ein Wurm von der Größe und Form einer mittleren Zigarre, der am Grunde des Meeres lebt. Seine Hauptaufgabe besteht darin, löcher in den Sand zu stoßen, in denen er weiterkriechen kann. Es weist die gleichen Leistungen auf wie eine Tunnelbohrmaschine. Dieser Hauptaufgabe seines Lebens sind alle muskulösen und nervösen Einrichtungen untergeordnet. Sie beherrscht ihn dermaßen, daß er selbst aufgeschnitten und auf die Präparierschale gespießt mit den Stoßbewegungen unbekümmert noch stundenlang fortfährt.« (116f )

Nimmt man diese Beziehung zur Umwelt im Sinne Lacans an, so kann in den bisher beschriebenen Strukturen ein Vorläufer, eine unterste Schicht, des Imaginären verstanden werden. Für den Psychoanalytiker wäre der Wurm, der mit dem Stoßen nicht aufhören kann, sicherlich ein gutes Beispiel für die fixierende, das Verhalten grundlegend prägende Funktionsweise des Imaginären. Folgt man den Gedanken Cassirers und Lacans kann als Bestimmung für

Teil 2: Das Imaginäre

ein Imaginäres oder zunächst Vor-Symbolisches eine artspezifische biologische Einpassung festgestellt werden. Dabei sind Objekte nicht rein äußerlich, sondern im »Bauplan des Tiersubjekts mit aufgenommen« (46). Deshalb ist für das Subjekt ein (im konventionellen Sinne des Wortes) objektives Erkennen von Gegenständen nicht möglich. Uexkülls Logik folgend ist ohnehin von keinem gemeinsam bewohnten homogenen Raum auszugehen, in welchem sich Objekte aufhielten. Welt im Sinne des Imaginären ist kein ausgedehnter Raum. Welt umfasst hier je spezifische Funktionskreise. Selbstredend kann ein biologisches Subjekt für ein anderes Lebewesen ein Gegengefüge darstellen, doch auch unter diesem Betrachtungswinkel gilt, dass die beteiligten Tiere, beispielsweise Jäger und Beute, zwar interagieren, aber nicht dieselbe Welt teilen. Eine Perspektive, die als eine Monadologie der Gattungen bezeichnet werden könnte und ganz im Stile monadologischer Konzepte eines den Welten äußerlichen Gesamtbauplans bedarf: Uexküll kommt dementsprechend nicht umhin, »das Vorhandensein einer allgemeinen Planmäßigkeit in der Natur, die Subjekte und Objekte gleichmäßig umfaßt« (46), zum Behelf zu nehmen. Es zeigen sich bereits in diesem Punkt erste Bestimmungen einer Ordnung, die sich von einem Symbolischen abgrenzt. Relationen zu Objekten scheinen in Kernfunktionen zusammenzuschrumpfen, in objektspezifischen Merknetzen. Jedem Merkmalträger entspricht ein Rezeptor, jedem Wirkungsträger ein Effektor. Doch Uexküll liefert ein weiteres Konzept, das in der Diskussion des Imaginären eine besondere Rolle spielen könnte: Es handelt sich auf den ersten Blick um eine Art Spiegelstadium der höheren Tiere, in Uexkülls Worten: um die Gegenwelt. In einem gesonderten Kapitel von Innenwelt und Umwelt der Tiere, betitelt mit »Die Gegenwelt« (165), entfaltet Uexküll eine Spekulation über den Bau des Nervensystems höherer Tiere. Eine innere Repräsentation des äußeren Raumes erweitert deren Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten gegenüber solchen Tieren, die über kein neuronales Abbildungsinstrumetarium verfügen und bei welchen die Rezeptoren mehr oder weniger direkt die Effektoren steuern. Etwas schiebt sich zwischen Innen und Außen, so ließe sich sagen. Eine oberflächliche Lektüre könnte direkte Parallelen zu Lacans Funktion des Spiegelstadiums erkennen lassen, in dem Sinne, dass die Gegenwelt das Pendant zum Imaginären sei. Doch eine solche Darstellung würde weder Lacans Konzeption des Spiegelstadiums gerecht, zumindest nicht, wie er sie als Subjektkonstitutionsgeschehen seit den fünfziger Jahren entwickelt, noch erfasst sie die Ausdifferenzierung des Geschehens in Uexkülls Ausführungen.

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Bevor ich genauer analysiere, welche Funktionselemente zwischen Rezeptor und Effektor beschrieben werden, will ich mithilfe des Umweltbegriffs die epistemologische Position Uexkülls klären. Dazu soll der Terminus Gegenwelt zunächst und vorläufig als innere Repräsentation der Außenwelt gelten. Uexküll schreibt: »Wenn wir die Fähigkeit besäßen, die Gehirne der Tiere vor unser geistiges Auge zu halten, wie wir ein Glasprisma vor unserer leibliches Auge zu halten vermögen, so würde uns unsere Umwelt ebenso verändert erscheinen. Nichts Anmutigeres und Interessanteres dürfte es geben, als solch ein Blick auf die Welt durch das Medium der verschiedenen Gegenwelten.« (169)

Der hier implizit formulierten Wunschvorstellung, die subjektive Gewahrwerdung von Umwelt in menschlicher Erfahrung könne der Erfahrung tierischer Gegenwelten korrespondieren, beziehungsweise, eine Aneinanderreihung der formenden Elemente – gemäß der angeführten Analogie: Auge / Prisma – könne einen Durchblick quasi durch das Tier auf dessen Umwelt gestatten, wird sogleich eine kategorische Absage erteilt. »[S]chwierige Versuchsreihen« (169) sind notwendig, um eine Rekonstruktion »wahrscheinliche[r]« (169) Gegenwelten zu ermöglichen. Die Rekonstruktion bedarf, so Uexkülls vorgelegte Argumentation, des Axioms, dass »die Natur und das Tier, nicht wie es den Anschein hat, zwei getrennte Dinge sind, sondern daß sie zusammen einen höheren Organismus bilden« (169). Die Umwelt des Tieres gehört zum Tier dazu. Wie bereits erläutert, ist der Begriff der Umwelt am schlüssigsten funktional zu verstehen, während der Versuch einer Ontologisierung vage bleiben muss. Am ehesten läge die Umwelt wohl zwischen Innenwelt und Gegengefüge, was den Wert der Konzeption Uexkülls jedoch herabsetzen würde, ist doch die Universalität des Schemas der radikalen funktionalen Darstellung in eben dem Funktionskreis begründet. Der Begriff der Umwelt bereitet weitere Schwierigkeiten, denn im allgemeinen Sprachgebrauch würde man sagen: der Biologe sieht ein Tier in seiner Umwelt – und gemeint wäre dann die Umgebung, wie er sie um das Tier ausmacht und beschreiben kann. Im strikten Sinne ist diese Umwelt jedoch nicht die Umwelt des betrachteten Lebewesens, sondern die Umwelt des betrachtenden Lebewesens: des forschenden Menschen. In den Worten Uexkülls: »Die Umgebung, die wir um das Tier ausgebreitet sehen, ist selbstverständlich ein anderes Ding als die der Tiere; aber dafür ist sie auch nicht ihre Umwelt sondern unsere.« (169) Trotzdem kann ein näherungsweiser Begriff der Umwelten verschiedener Spezies erarbeitet werden, so Uexküll, indem man die innere »Organisation« (169) der Reizverarbeitung analysiert. Auf diese Weise kann eine Umwelt abstrakt extrapoliert werden, ohne dass wir jedoch jenes fiktive Prisma erhielten,

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welches ein Einfühlen in das Tier ermöglichte. Der Blick des Menschen kann sich weder seiner eigenen Dependenzen entledigen, noch die Organe des Tieres assimilieren. Er kann jedoch durch Erforschungder Funktionsweisen dieser Organe erkennen, welche Objekte und Medien um das Tier herum mit großer Wahrscheinlichkeit in dessen Umwelt funktional sind, indem sie relevante Gegengefüge darstellen. Daraus folgt: »Man kann sich wohl die von uns gesehene Umgebung des Tieres wegdenken und sich ein Tier isoliert vorstellen. Man kann sich aber nicht eine Umwelt isoliert von seinem Tier denken, denn sie ist nur als eine Projektion seiner Gegenwelt richtig zu verstehen.« (169) Damit ist nun zweierlei entscheidendes ausgesagt: Erstens hat der Mensch eine eigene gattungsspezifische Umwelt, wie die Tiere auch. Zweitens gibt es keine gemeinsame Umwelt, nicht einmal im Sinne eines Mediums. Es gibt bei Uexküll keinen Raum, der von allen Lebewesen und Dingen gemeinsam bewohnt würde. Oder abgeschwächt formuliert: Für die Biologie ist die Annahme eines solchen – möglicherweise euklidischen – Raumes aus epistemologischen Erwägungen heraus untauglich. Mit dieser Theorie ist außerdem implizit ausgesagt, dass selbst zwei Tiere einer Gattung keine gemeinsame Umwelt im strikten Sinne haben. Wie im Falle zweier Sexualpartner deutlich wird, erscheint das Objekt als Gegengefüge, Effektoren und Rezeptoren sind unterschiedlich ausdifferenziert, eine Reziprozität ist nicht gegeben. Auch zwei um eine Beute konkurrierende Jäger leben aktual nicht in der gleichen Umwelt – in dem Sinne, dass der eine Jäger in einer Welt lebt, in der das Tier erfolgreich gefressen wurde, der andere jedoch seine Reizschwelle nicht herabgesetzt sieht und weitere Beutetiere wahrnimmt, die in der Welt des ersteren nun ausgeblendet sind. Ohne das Konzept einer Gegenwelt geklärt haben zu müssen, kann bereits festgehalten werden, dass die Umwelt grundsätzlich von allen funktionalen Beschaffenheiten des jeweiligen Tieres abhängt. »Denn nicht ist es die Natur, wie man zu sagen pflegt, welche die Tiere zur Anpassung zwingt, sondern es formen im Gegenteil die Tiere sich ihre Natur nach ihren speziellen Bedürfnissen.« (169) Neben dem Begriff Umwelt erfährt auch der Naturbegriff eine Schärfung, indem er synonym eingesetzt wird. Der Biologe Uexküll denkt vom einzelnen Organismus aus, um die Natur zu verstehen. Geklammert wird dieses Denken von der Annahme einer außerhalb der biologischen Kenntnis liegenden – quasi metabiologischen – Natur.10 Dies vorweggeschickt, lohnt es sich, die Argumentationsweise nachzuvollziehen, mit der Uexküll Einzeller, mehrzellige Lebewesen bis hin zu Säugetieren als Organismen mit unterschiedlich komplexer Organisationsweise in eine aufsteigende Reihe stellt. Bei den niederen Tieren gibt es gewissermaßen hard-patches, das heißt Rezeptoren sind direkt mit Effektoren verbunden. Für 10

Vgl. Uexküll, (1909) Umwelt, S. 46.

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jedes Muster, respektive Gegengefüge oder Objekt, ist eine unveränderliche Gruppierung oder Ausdifferenzierung zuständig. Der Bau gibt die Funktion auf direkte Weise vor.11 Bei höheren Tieren beginnt der »rezeptorische Apparat […] sich immer mehr und mehr zu entfalten« (166). In diesem Nervensystem nun findet eine »Verwertung [statt], die eine ganz andere und reichere wird« (166). Bei der Amöbe konnte gelten, dass ein Nahrungsmittel seine Assimilation dadurch auslöst, dass eine chemische Reaktion an der Berührungsstelle mit dem Ektoplasma ein Erweichen des letzteren bewirkt. Hierdurch gelangt beispielsweise die Alge in das Tierchen. Nun haben wir es mit Tieren zu tun, bei welchen die Reizaufnahme – Beutetier in Reichweite! – nicht zu einer unmittelbaren Reaktion an dieser Stelle der Randschicht des Organismus führt. Bei einer Katze öffnet sich nicht die Haut an der Stelle, wo eine Maus diese berührt. Das Gewahrwerden der Beute einerseits ist bestimmten, lokalisierten Sinnesorganen überlassen, die notwendige motorische Reaktion ist komplex und weitgehend zentral gesteuert. Das von mir gewählte Beispiel der Katze wirkt bizarr, verdeutlicht aber die Bandbreite von Organismen, die Uexküll mit seiner Theorie abzudecken angetreten ist. In Umwelt und Innenwelt der Tiere widmet sich der Biologe ausführlich jenen Lebensformen, die den Übergang vom Einzeller zum komplexeren Lebewesen in kleinen Schritten verdeutlichen können. Er schließt mit dem Beispiel der Libelle. Bis dorthin hat der Leser Uexkülls eine Vielzahl von Existenzen angetroffen, die durchaus bizarr sind und wenig mit dem gemein haben, was dem Fachfremden als Tier zunächst in den Sinn kommt. Der Geltungsbereich des Modells ist weit gesteckt und nur durch dessen ausdrücklich funktionalen Charakter, der die Funktionselemente in ihrer Ausgestaltung unbestimmt lässt, realisierbar. Höhere mehrzellige Organismen besitzen ein Nervensystem. Es gibt aber auch Funktionskreise, die, wie die Amöbe, ohne Nervenzellen auskommen. Welche Funktion hat also dieses System komplexer Nervenverbindungen, wie und wo fügt es sich in die Umwelt und Innenwelt des Tieres ein? Uexkülls Ansatz lautet: »Alle Rezeptoren haben, wie wir wissen, die gleiche Aufgabe: die Reize der Außenwelt in Erregungen zu verwandeln. Es tritt also im Nervensystem der Reiz selbst nicht wirklich auf, sondern an seine Stelle tritt ein ganz anderer Prozeß, der mit dem Geschehen der Umwelt gar nichts zu tun hat. Er kann nur als Zeichen dafür dienen, daß sich in der Umwelt ein Reiz befindet, der den Rezeptor getroffen hat. Über die Qualität des Reizes sagt er nichts aus. Es werden die Reize der Außenwelt samt und sonders in eine nervöse Zeichensprache übersetzt. Merkwürdigerweise tritt für alle Arten von äußeren Reizen immer wieder das gleiche Zeichen auf […].« (166) 11

Vgl. Uexküll, (1909) Umwelt, S. 166.

Teil 2: Das Imaginäre

Mit dem Nervensystem scheint die mechanistische Sichtweise – wenn nicht auf funktionaler, so doch auf physiologischer Ebene – überstiegen. Vielleicht ist es möglich, hier von funktionalen soft-patches zu sprechen, denn es findet ein Übersetzungsvorgang statt. Diese Übersetzbarkeit von Reizen verleitet den Biologen zu der Setzung, es mit Zeichen zu tun zu haben. In jedem Fall erweist sich der Übergang in das Feld der Information als tragfähig, handelt es sich doch um ein Modell und keine materialistische Beschreibung.12 Im Sinne des Strukturalismus kann das Modell sogar noch gestärkt werden, weil eine Struktur denkbar wäre, die sich nicht auf die physis beschränken muss. »Die Definition eines Codes ist es, in einen anderen Code übersetzbar zu sein: diese ihn definierende Eigenschaft nennt man ›Struktur‹.« (121)13 Ungeachtet der Frage, ob sich aus dem Bau des Nervensystems, wie er Uexküll bekannt war, überhaupt gesicherte Schlüsse auf die funktionalen Elemente ziehen lassen, kann sein Konzept der Gegenwelt als ein mögliches Modell gelten. Und dieses Modell ist hier von epistemologischem Interesse, da es Parallelen zu jenem topologischen Entwurf aufweist, mit welchem Jacques Lacan das Imaginäre vom Symbolischen abgrenzt.14 Uexküll schreibt also, es gibt bei höheren Tieren ein »Nervennetz« (167)15, das zwischen die Rezeptoren und Effektoren getreten ist. In diesem Netz werden Zeichen verarbeitet, die von den urspünglich einwirkenden Qualitäten entkoppelt sind. Diese Figur haben wir bereits bei Cassirer beschrieben gesehen: »Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ›Symbolnetz‹ oder Symbolsystem bezeichnen können.« (49)16 Bei Cassirer ist das Symbolnetz allein auf den Menschen bezogen. Bei Uexküll hingegen ist das postulierte Netz auch bei den höheren Tieren funktionales Element. Weiterhin fällt auf, dass nun die Stelle, an welcher etwas eingefügt wird – zwischen Merknetz und Wirknetz – in beiden Aussagen die gleiche ist, jedoch einmal von Zeichen, ein andermal von Symbolen die Rede ist. Weder Zeichen noch Symbole indes stellen hier physiologische Gegenstände dar, der abstrakte Charakter ist in beider Forscher Schriften offensichtlich. Ein Streit um den richtigen Terminus weist lediglich darauf hin, dass Cassirer mit sei12

13 14 15 16

Ob Uexküll mit dieser Terminologie nicht doch von seinen Grundsätzen, eine mechanistische Beschreibung des Tieres zu liefern, untreu wird, er diesen mitunter anthropomorphen Schritt unbewusst geht, steht zur Debatte. Wiederum deutlich wird an dieser Stelle jedoch, dass die Neurophysiologie, die das Funktionieren des Gehirns in seiner Komplexität nur schematisch einholen kann, vor der gleichen Problematik steht. Die Fragen, die Uexküll auf dem Kenntnisstand seiner Zeit angeht, sind bis heute virulent und nicht beantwortet. Descombes, Vincent, (1979) Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt/M., 1981. Vgl. Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 97-107 und insbesondere S. 160-166. Uexküll, (1909) Umwelt. Cassirer, (1944) Versuch.

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nem Symbolbegriff argumentativ einen anderen Zweck verfolgt als Uexküll. Lacan wiederum hat dieses Kapitel sehr genau in seinem zweiten Entwurf des Spiegelstadiums (1953/54) berücksichtigt. Ihm geht es um die Ausdifferenzierung zwischen der (angenommenen) Fähigkeit, aus verschiedenen Reizen einen Gegenstand zu synthetisieren und der (angenommenen) Fähigkeit zu räumlicher Repräsentation. Die Voraussetzung zur sinnlichen Synthese eines Gegenstandes, mithin der Ding-Repräsentation, und zur räumlichen Repräsentation ist die neuronale Operabilität der Reize, sodass beispielsweise mechanische und chemische Sinneseindrücke zu einem Gegenstand zusammengefasst werden können. Der Reiz wird »in eine nervöse Zeichensprache« (166)17 übersetzt, die die Qualität nicht mehr transportiert. Die notwendige Differenzierung der verschiedenen Umweltreize ist durch den Transport in unterschiedlichen »zentripedalen Bahnen« (166) sichergestellt. »Reizkombinationen [werden] in isolierten Netzen (Merknetze)« (167) zusammengefasst. »Man könnte solche Reizkombinationen kurzerhand als Gegenstände ansprechen und dementsprechend das Nervensystem eines Tieres, das auf verschiedene Reizkombinationen verschieden reagiert, für fähig halten, Gegenstände zu unterscheiden.« (167) »[Diese] Schemata sind kein Produkt der Umwelt, sondern einzelne, durch den Organisationsplan gegebene Werkzeuge des Gehirnes, die immer bereitliegen, um auf passende Reize der Außenwelt in Tätigkeit zu treten.« (169) Sie sind wesentlich an der Gestaltung der Umwelt des Tieres beteiligt. »Denn nicht ist es die Natur, wie man zu sagen pflegt, welche die Tiere zur Anpassung zwingt, sondern es formen im Gegenteil die Tiere sich ihre Natur nach ihren speziellen Bedürfnissen.« (169) Nervöse Schemata bestimmen, welche Gegenstände in der Welt des jeweiligen Tieres erscheinen. Hiermit lässt sich das Bild des Funktionskreises ergänzen, indem ein Grund genannt ist, warum auch bei höheren Tieren nur bestimmte Objekte als Gegengefüge in Aktion treten. Beim Einzeller konnten die möglichen Objekte direkt aus den biochemischen Zusammenhängen abgeleitet werden. Höhere Tiere erkennen neuronal konditionierte »Erregungskombinationen« (167). Diese Muster oder Schemata prägen nun die Umwelt des Tieres, so Uexkülls Entwurf. Immer noch gilt, dass eine (im geläufigen Sinne des Wortes) objektive Welt für kein Lebewesen – und auch nicht für den Menschen – verfügbar ist. Die Begründung dafür findet Uexküll in den unterschiedlichen Bauformen der verschiedenen Spezies. In von niederen zu komplexeren Organismen aufsteigender Betrachtung weicht er von der Integrität des Funktionskreises nicht ab. Er extrapoliert die mechanische Funktion von der Amöbe auf die Libelle. Ein methodologische Entscheidung, die dem üblichen Denken entgegenläuft, nämlich schlussendlich menschliches Empfinden und Han17

Uexküll, (1909) Umwelt.

Teil 2: Das Imaginäre

deln auf die kleinsten Organismen herunterzubrechen – ein aus seinen Augen unentschuldbarer Anthropomorphismus. Die in der Annahme erkenntnissteuernder Schemata implizite Funktionsebene schreibe ich dem Imaginären zu. Als Bestimmung des Imaginären ist abzuleiten, dass es aus unveränderlichen Komplexen besteht, die geeignet sind, den Sinnzusammenhang eines Funktionskreises herzustellen. Sie determinieren den Organismus und seine Umwelt, stellen dieses Gefüge her und stabilisieren es, wodurch letztlich erst das Lebewesen als solches Konstanz erlangt. Beziehungen zur Umwelt unterliegen dem Imaginären, indem es die Einheit, die der Organismus mit seiner Umwelt bildet, artspezifisch konfiguriert. Dass es in der Welt des Eichhörnchens nur Eichhörnchendinge gibt, ist das Resultat des Imaginären. Nun lässt es Uexküll nicht dabei bewenden, das Prinzip von Funktionskreisen auch in komplexeren Tieren physiologisch nachzuweisen, indem er Nervennetze einbezieht. In einer zweiten Argumentationsbewegung stellt er die Hypothese auf, dass auch eine räumliche Repräsentation der Umwelt angenommen werden muss: »Je mehr ich mich […] mit der Frage beschäftigte: Welche mechanische Einrichtungen muß ein Nervensystem besitzen, damit es verschiedene Gegenstände seiner Umwelt verschieden behandelt, um so mehr kam ich zur Überzeugung, daß einfache Erregungskombinationen dazu nicht ausreichen. Ein jeder Gegenstand ist vor allem charakterisiert durch seine räumliche Ausdehnung.« (167)

Physiologisch stellt sich Uexküll Bündel von Nervenfasern vor, die, wenn ihre inneren Enden auf einer Fläche ausgebreitet würden, auf dieser Ebene ein Abbild der räumlichen Außenwelt lieferten.18 Im Resultat kann dieses Abbild alle möglichen Arten von Verzerrungen aufweisen, ohne dass deswegen das Funktionsprinzip leiden würde. »Die Hauptssache ist, daß die Unterscheidungen der räumlichen Umgrenzungen der Gegenstände durch die höheren Zentralnervensysteme und Hirne eine feste räumliche Verteilung der Nervenbahnen verlangt.« (168) Dieses Modell einer tierischen »Gegenwelt« (168) kombiniert Uexküll nun mit jenem Modell, in welchem verschiedene Reizarten in qualitätslose und operable Impulse übersetzt werden. »Man kann behaupten, die höheren Gehirne kennen die Umwelt nicht bloß durch eine Zeichensprache, sondern sie spiegeln ein Stück Wirklichkeit in der räumlichen Beziehung ihrer Teile wieder.« (168) Die Spiegelmetapher ist naheliegend, wenngleich deren konventioneller Gebrauch von Uexküll selbst kritisch gesehen wird und er deshalb den Begriff einer Gegenwelt vorschlägt. Diese Gegenwelt hat Auswirkungen auf die 18

Vgl. Uexküll, (1909) Umwelt, S. 168.

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Konstruktion des mutmaßlichen Reflexbogens: »Das Tier flieht nicht mehr vor den Reizen, die der Feind ihm zusendet, sondern vor einem Spiegelbilde des Feindes, das in einer Spiegelwelt entsteht.« (168) Das mechanistische Prinzip bleibt intakt. Im Unterschied zur Amöbe ist beim komplexeren Tier jedoch die direkte biochemische Ansteuerung der Motorik durch den Außenreiz durch ein Nervensystem unterbrochen. Wohlgemerkt geht das mechanistische Prinzip des Funktionskreises dadurch nicht verloren. Was in den Nerven jedoch hinzutritt sind Schemata, die Reizkombinationen repräsentieren und die Außenwelt strukturieren. So gesehen dürfte nach Uexküll auf der ausgebreiteten Fläche der Nervenenden lediglich erscheinen, was von einem inneren Schema determiniert ist: »In der Gegenwelt sind die Gegenstände der Umwelt durch Schemata vertreten […]. Die Schemata sind kein Produkt der Umwelt, sondern einzelne, durch den Organisationsplan gegebene Werkzeuge des Gehirnes, die immer bereitliegen, um auf passende Reize der Außenwelt in Tätigkeit zu treten. Ihre Anzahl und ihre Auswahl läßt sich nicht aus der Umgebung des Tieres, die wir sehen erschließen. […] Wenn die Schemata auch räumliche Spiegelbilder der Gegenstände darstellen, so ist dennoch die Form und die Zahl dieser Bilder Eigentümlichkeit des Spiegels und nicht des Gespiegelten.« (168f )

Uexküll fügt die zwei zentralen Hypothesen, erstens die Existenz innerer Schemata und zweitens die Repräsentation des Außenraumes, zusammen.19 Beide Funktionen verortet er im Nervennetz. Dieses stellt ein zusätzliches modellhaft mechanisches Element im Funktionskreis dar. Es ist dem Biologen ein Anliegen, den sehr unterschiedlichen Realisationsgrad der Funktionen bei exemplarisch ausgewählten Spezies aufzuzeigen. Er spricht jedoch in keinem Fall von einer vollständigen Repräsentation des Äußeren in einem inneren Apparat. Nicht nur, dass die Umwelt lediglich durch ein mehrstufiges Filter wahrgenommen wird – angenommen in der strukturierenden Funktion des Ektoplasmas und in den Schemata –, die Welten der Wahrnehmung und der Aktion bleiben vielmehr stets getrennt. Das Tier sieht nicht sich selbst als handelndes Subjekt und das Gegengefüge als Objekt in einer Welt. Dies geht aus der Zusammenfassung hervor, die Uexküll am Ende seines Buches vorlegt:

19

In Ableitung aus Tierbeobachtungen zeichnet Uexküll verschiedene Grade von Durchmessung des Außenraumes nach. Manchen Tieren spricht er zu, dass sie den Raum als kontinuierlichen abbilden können, bei anderen kommt, dank der Bogengänge, die Erfahrung von drei Dimensionen hinzu. Vgl. Uexküll, (1909) Umwelt, S. 169-182.

Teil 2: Das Imaginäre »4. Die Dinge in der Umwelt des Tieres erscheinen dem außenstehenden Beobachter als einheitliche Objekte, während nur unzusammenhängende Eigenschaften der Dinge einerseits in die Merkwelt, andererseits in die Wirkungswelt des Tieres eintreten. […] 9. Das Gegengefüge des Objektes ist im Bauplan des Subjektes mit enthalten, obgleich es niemals in direkte Beziehung zu dem Körper des Subjektes tritt. 20 [...] 15. Jedes Tier trägt seine Umwelt wie ein undurchdringliches Gehäuse sein Lebtag mit sich herum. 16. Das gleiche gilt für die Erscheinungswelt des Beobachters, auch diese schließt ihn, da sie seine Umwelt darstellt, völlig vom Universum ab. [...] 18. Einen allgemeinen absoluten Raum und eine allgemeine absolute Zeit, die alle Lebewesen umschließen, gibt es nicht. 19. Die Erscheinungswelt eines jeden Menschen gleicht ebenfalls einem festen Gehäuse, das ihn von seiner Geburt bis zum Tode dauernd umschließt.« (218f )

Uexküll hält sich nicht zurück, die modellhaften Annahmen, die er für Organismen aller Komplexitätsstufen entwickelt hat, auch auf den Menschen anzuwenden. Als Beobachter ist dieser befangen und ebensowenig in Kenntnis über ein reales Universum gesetzt, wie das Tier, das er in seiner spezifischen Umwelt zu begreifen sucht. Vom Ektoplasma bis zu neuronalen Abbildungsapparaten reicht die Palette der Organisationen, die hierfür verantwortlich sind. Im Sinne des Funktionskreises tritt die konkrete physiologische Ausgestaltung zurück. Allerdings dürften die Formen von Repräsentation bei niederen Tieren und Menschen nicht ohne Brüche zu denken sein. Die Unterscheidung von Zeichen und Symbol und das Konzept des homogenen Raumes, wie es bei Ernst Cassirer und Henri Bergson bereits zur Diskussion stand, bieten sich an, diese Brüche zu konzeptualisieren. Zunächst seien jedoch einige Bestimmungen des Imaginären festgehalten, wie sie aus Uexkülls Zusammenfassung resultieren: Das Imaginäre umschließt den Menschen wie ein »feste[s] Gehäuse« (219). Es organisiert die 20

Anm. F.W.: Die Annahme eines Bauplans, also ein transzendentes Element, verweist auf etwas, das außerhalb des imaginären Schemas liegt. Letztlich wird der Bauplan vom Beobachter beigesteuert – eine symbolische Operation. Der darin gestiftete Sinnzusammenhang ist die transitive Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Innerhalb des imaginären Registers jedoch ist dieses Ref lexionsmoment nicht gegeben. Es gibt hier auch keine Beziehung. Beziehung kann sich selbst nicht erkennen und nur durch einen Blick von Außen ausgemacht werden. Inwiefern beim Tier angenommen werden kann, dass – ähnlich Lacans Spiegelstadium – diese Funktion durch die räumliche Repräsentationsebene gegeben ist, bleibt fraglich.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Elemente, die seine Welt umfasst. Der Mensch kann nur erkennen, was er schematisch erkennen kann. Das Imaginäre ist nicht diskursiv und stellt keine Beziehungen her. Es organisiert Objekte als Wesenheiten, belässt diese Wesenheiten dabei aber in einer nicht-reflexiven Einheit. Die dafür verantwortlichen Schemata können nur annäherungsweise beziehungsweise modellhaft aus einer Position außerhalb des imaginär geschlossenen Funktionskreises heraus deduziert werden, genauso wie ein Biologe die Umwelt des Tieres aus dessen Bauform und Verhalten deduziert. Innenwelt und Umwelt sind im Imaginären nicht spezifiziert; ebensowenig eine aus solchen Entitäten hervorgehende Beziehung. All diese Konzepte stehen zwar mit dem Imaginären im Zusammenhang, sind aber Beobachtungen, die nur aus einer dem Imaginären exklusiven Position heraus getätigt werden können. Ernst Cassirer sieht im Symbolnetz ein Wesensmerkmal des Menschen. Ist das Symbolnetz nun auf der gleichen kategorialen Ebene wie das Nervennetz Uexkülls mit seinen Zeichen anzunehmen? Grundsätzlich spricht nichts dagegen, denn beide Gedankengänge sind Modelle und beziehen sich auf Funktionen, weshalb zumindest ein Vergleich möglich ist. Der charakteristische Unterschied zwischen Tier und Menschen nun kann mit den Begriffen von Zeichen und Symbol verdeutlicht werden. Ohne dass man bereits eine Erklärung hat, wodurch es beim Menschen zum Sonderfall Symbolnetz kommt, beim Tier nur zu einem Zeichennetz, verweist das Symbolische kategorial auf eine durch arbiträre Elemente gestiftete Beziehungsebene, die, wie anhand Uexkülls Analyse der Umwelt und Innenwelt der Tiere deutlich wurde, im Zeichenhaften der Neuronen (für das Tier) nicht vorhanden ist. Die in »Zeichen« übersetzten Sinnesreize sind im Imaginären organisiert und münden in fixe Schemata in einem mechanistischen Funktionskreis. Bei den Uexküll’schen Zeichen handelt es sich deshalb genau genommen um Anzeichen (im Sinne Husserls). Hingegen ist das menschliche Symbolische, wie es als Symbolnetz bei Cassirer thematisiert wird, geprägt vom Motiv der Abstraktion (im Sinne einer Abstandnahme vom Einzelding) und der Interoperabilität zwischen den Zeichen. Dieses Symbolische ist aber auch die Sphäre der Raumvorstellung. Henri Bergson hat den Gedanken entwickelt, dass nur dem Menschen der homogene Raum zu eigen ist. Für Tiere ist der Raum gestaltet, in der Art, wie Menschen beispielsweise Farben auf einer Fläche wahrnehmen können. Im homogenen Raum sieht Bergson die Voraussetzungen für alle kulturelle Leistungen. Uexkülls Konzept einer Gegenwelt könnte problemlos für beide Lebensformen das übergeordnete biologische Modell liefern, was freilich nur teilweise dienlich ist, denn wie und warum beim Menschen die Gegenwelt sich nun homogen formt, beim Tier aber gestaltet ist, bleibt ebenso unerklärt, wie der Bruch, der zwischen einem Zeichennetz und einem Symbolnetz angenommen werden muss. Genauso wie sich in den Physiognomien mancher Tiergattungen und Menschen nicht wirklich qualitative Unterschiede auffinden

Teil 2: Das Imaginäre

lassen, die die kulturelle Entwicklung des Menschen begründen könnten, so ist es auch auf funktionaler Ebene eine bislang unentdeckte Verschiebung, die Raum und Zeichen, das Symbolische und das Imaginäre bei Tier und Mensch jeweils unterschiedlich strukturiert. Lacan kommt auf dieses unerklärte Faktum zurück. Seine Hypothese ist, dass es die Funktion des Spiegel-Anderen ist, die den Funktionskreis der Tiere übersteigt: »Es gibt bei ihm [dem Tier, FW] bestimmte vorgeprägte Korrespondenzen zwischen seiner imaginären Struktur und dem, was es in seiner Umwelt* interessiert, das heißt was für die Fortpf lanzung der Individuen wichtig ist, die ihrerseits eine Funktion der typischen Fortpf lanzung der Gattung 21 sind. Beim Menschen dagegen stellt die Ref lexion im Spiegel eine ursprüngliche noetische Möglichkeit dar und führt einen zweiten Narzißmus ein. Sein grundlegendes pattern ist sogleich die Beziehung zum andern.« (162f ) 22

Lacan konzipiert ein Zwei-Spiegel-Schema als Ersatz oder zumindest als Ergänzung zu Freuds Topiken.23 Wie beim Funktionskreis handelt es sich auch hierbei um ein Funktionsmodell, auch wenn bei Lacan optische Prinzipien zur Darstellung kommen.

21

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Man beachte den weit ausholenden biologischen Kontext, mit dem Lacan diese Schlüsselstelle vorbereitet. So spricht er auch die Weismann-Barriere an, die besagt, dass Keimbahn und Soma unterschiedliche Lebenschicksale haben: Während dem Soma der Tod gewiss ist, haben die Keimzellen gewissermaßen ein ewiges Leben. Vgl. Lacans Diskussion in Bezug auf Sexual- und Lebenstrieb: Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 156. Lacan, (1953-1954) Seminar I. Vgl. Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 160.

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Abbildung: »Zwei Spiegel-Schema«.

Zeichnung nachempfunden. Vgl.: Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 162. 24

Lacans Augenmerk richtet sich auf die Beziehung zum Anderen, sie ist »[s]ein grundlegendes pattern« (163), wie er sagt. Ein Erklärungsmodell, das als psychoanalytischer Angelpunkt gelten muss. Doch gerade unter Aussparung dieser Figur birgt das Schema die Möglichkeit, die soeben beleuchteten Uexküll’schen Funktionen im Lacan’schen Diskurs kenntlich zu machen.25 Die psychoanalytische Konstruktion des Anderen mag für die vorliegende Untersuchung lediglich markieren, dass die aus der Ethologie stammenden Befunde in ein menschliches Register überführt worden sind.26 24

25 26

Ich frage mich, ob das umschließende Oval, das hier sonst wenig Erklärungswert hat, eine Anspielung auf eine Grafik von Saussure sein könnte, in welcher im oberen Ovalabschnitt »Vorstellung« steht, darunter, durch eine Linie getrennt »Lautbild«. Immerhin befinden sich auch Vase und Blumen jeweils oberhalb und unterhalb der horizontalen Mitte. Dass Etwas im Anderen erscheint, ist durchaus ein Effekt des Zeichens, gewissermaßen die Funktion des Zeichens überhaupt, was das optische Modell hier schön illustrieren würde. Vgl. Saussure, (1906-1911) Grundfragen, S. 78, 136. Beachte hierzu ebenfalls den Begriff der formalen In-existenz, den ich im nächsten Kapitel erläutern werde. Auch dieser bezieht sich auf die Funktion des Imaginären, d.h. in der Lacan’schen Grafik auf den Hohlspiegel. Zur konventionellen Lesart des Schemas vgl. insbesondere: Braun, (2010) Stellung, S. 34-49. Der Figur des Anderen gehe ich hier nicht nach. Umfassende Studien hierzu sind: Für die Phänomenologie allgemein: Theunissen, Michael, (1964/1977) Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin, New York, 1977. Für die französische Philosophie des 20. Jh.: Descombes, Vincent, (1979) Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt/M., 1981. Aber auch das Ende des philosophischen Konzepts des Anderen gerät langsam in Sichtweite: Vgl. Quessada, Dominique, (2013) L’inséparé. Essai sur un monde sans autre, Paris, 2013.

Teil 2: Das Imaginäre

Das Schema lässt sich in zwei funktionale (Halb-)Kreise zerlegen. Links wird in einem Hohlspiegel ein reales Bild erzeugt. Der Begriff reales Bild muss nicht im Sinne der Register verstanden werden. Es ist zunächst lediglich ein Fachterminus aus der Optik.27 Ein derartiges Bild ist ausgezeichnet durch den begrenzten Blickwinkel, aus welchem es überhaupt erscheint. Es bildet einen Gegenstand ab, der sich in einem Brennpunkt befinden muss, weshalb darüber hinaus keine Umgebung korrekt gespiegelt wird. Im Schema wird es genutzt, um einen Strauss Blumen in einer Vase wiederzufinden, wobei Lacan ausdrücklich darauf hinweist, dass es gleichgültig ist, ob das Gefäß oder der Inhalt das gespiegelte Objekt ist. Diese Einpassung weist keine Lokalisation auf, denn das Bild funktioniert völlig ohne Hintergrund. Es scheint weiterhin unmittelbar aktualisiert zu werden, allein dadurch, dass die Dinge im richtigen Verhältnis zueinander stehen – dann ist dieser Funktionskreis geschlossen. Es liegt nahe, in dieser Funktion ein Pendant zu den Schemata Uexkülls zu sehen. Und auch ohne wieder gänzlich in die Tierbiologie zurückzugehen: auch das Ektoplasma lässt sich in dieser Darstellung wiederfinden. Ein Nahrungsmittel übt auf das Ektoplasma einen chemischen Reiz aus, weshalb dieses aufweicht und den fremden Körper eindringen lässt. Die Blumen stehen in der Vase in dem Augenblick, wenn Funktion statt hat, das heißt, dass die Alge in der Amöbe nicht im direkten Sinne der Blume in der Vase entspricht. Es handelt sich vielmehr um ein Modell, welches die Funktion des Imaginären zur Umwelt verbildlicht. Das Imaginäre besteht aus fixen Schemata, die beim Menschen und im Unterschied zu den Tieren – so die psychoanalytische These Lacans –, durch die Imago des anderen zusammengesetzt sind. Ich würde diesen Punkt aus der psychologischen Theorie vernachlässigen wollen und – allgemeiner mit Uexküll und im erkenntnistheoretischen Interesse – formulieren: Das Imaginäre besteht aus Schemata. Diese sind weitgehend fixiert und stellen eine die Umwelt strukturierende Funktion dar. Als Funktion durchziehen die imaginären Schemata konventionelle Begriffe von Subjekt und Objekt, Innen und Außen, indem sie derartige Scheidungen selbst arttypisch und individuell organisieren. Sie sind wesentlich alokal. Der rechte Spiegel in Lacans Zeichnung liefert ein virtuelles Bild, das die Umgebung mit abbildet und den homogenen Raum erzeugt. In Anlehnung an Uexküll finden wir hierin nun ein anderes Modell für die Gegenwelt. In dieser kommen, wie bekannt, nur Schemata vor und keine Umweltdinge. Beim Menschen entsteht hier das Soziale und Kulturelle, denn im homogenen Raum erst kann ich mich und den Anderen als meinesgleichen erkennen.28 Aber auch 27 28

Vgl. Braun, (2010) Stellung, S. 34f. In der Mythologie Freuds gedacht: In diesem Raum kann die Bruderhorde sich sammeln.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

hier lässt sich eine Bestimmung jenseits von Psychologie und Psychoanalyse aufweisen, die den Vorgang verallgemeinert: Bei der Rekonstruktion des Symbolischen fiel auf, dass letzteres eng mit dem Raumbegriff zusammenhängt. Der Raum ist strukturelle Voraussetzung für jegliche Form von Objektivierung sowie für die besondere symbolische Operationalität. Homogener Raum funktioniert wie ein Medium und ist für die modernen Wissenschaften, wie Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff demonstriert hat, Möglichkeitsbedingung des Operationalen. Das Zwei-Spiegel-Schema enthält in dieser Lesart eine erste Idee, wie Symbolisches und Imaginäres funktional zusammenhängen könnten. Die ausführliche Behandlung der Uexküll’schen Argumentation war wichtig, um in das Denken von Funktion und Modell einzuführen.29 Als epistemologisch relevante Elemente benennt letzteres zwei Funktionsweisen, die menschlichen Weltzugang strukturieren. Deren Verbindung wird auf einem funktionalen biologischen Feld vorgenommen. Die Berücksichtigung des Menschen als biologisches Wesen ist ein wertvoller Zutrag bei der Diskussion von Erkenntnismöglichkeit. Doch gibt es weitere Hinweise auf ein Vor-symbolisches, das heißt ein Imaginäres: Konzepte, die Lacan ausdrücklich dem biologischen Thema überlagert. In einem Rekurs auf die Saussure’sche Linguistik arbeitet Lacan in seinem Seminar über die Psychosen30 die Dominanz des Symbolischen über das Imaginäre aus. Es geschieht dies im Kontext eines historischen methodologisch-politischen Konfliktes, innerhalb welchem Lacan die Extremposition verkörpert, alles Gewicht auf das Symbolische zu legen. Das Imaginäre stellt er in Fragen der therapeutischen Behandlung als überbewertet dar. In unserem Zusammenhang muss dieser Punkt nicht interessieren, Imaginäres und Symbolisches werden in ihren Bestimmungen dadurch nicht berührt, doch muss man die Polemik Lacans im Sinne einer Konfrontation dieser zwei Begrifflichkeiten relativieren. Ferdinand de Saussure entwickelt bekanntlich ein zweiwertiges Sprachmodell. Es enthält eine obere Ebene der Bedeutung, die der Signifikate, und eine untere Ebene der Signifikanten als Zeichenträger. Die wesentliche Aussa29

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Es ist nicht zu übersehen, dass der geschlossene Kreischarakter des Uexküllschen Entwurfs epistemologisch problematisch ist. Uexküll nimmt die Position eines Biologen ein, der den funktionalen und den eschatologischen Zusammenhang aller existierenden Organismen transzendent setzt. Diese Schwierigkeit kann nun mit dem Lacan’schen Schema überwunden werden, da es keinen Kreislauf ausweist und deshalb auf ein Gegengefüge verzichten kann. Gewissermaßen ist der Andere (jenes Sprachwesen mit großem A) das Gegengefüge des Menschen, was die schöne Denkfigur nahelegt, der Mensch sei dem biologischen Determinismus qua Gesellung entraten. Lacan, Jacques, (1955-1956) Das Seminar, Buch III (1955-1956). Die Psychosen, Weinheim, Berlin, 1997.

Teil 2: Das Imaginäre

ge seiner Theorie ist die Nichtableitbarkeit des (akustischen) Zeichens aus dem Bedeuteten. Signifikant und Signifikat sind in einer überlieferten Skizze durch eine gestrichelte Linie getrennt. Bei Lacan findet sich dieses Schema nun auf den Kopf gestellt wieder und die Linie ist ein durchgezogener Strich, im Französischen »barre« genannt. Wie Markos Zafiroporoulos herausarbeitet, erfolgt diese Umkehr und Radikalisierung des Saussure’schen Schemas bereits durch Claude Lévi-Strauss.31 Lacan adaptiert es von dort – bereits mit vertauschten Positionen und einer weiteren anthropologischen Variation: Signifikant ist für Lacan kein Lautbild mehr, sondern ein abstraktes Zeichen, welches sich über seine Struktur definiert. All dies vorangestellt, nun zu den Bestimmungen des Imaginären und des Symbolischen und dem Zueinanderstehen beider. Lacan sagt: »Die Register des Symbolischen und des Imaginären finden sich wieder in den beiden […] Ausdrücken, mit denen er [gemeint ist Saussure, FW] die Struktur der Sprache artikuliert, das heißt das Signifikat und der Signifikant.« (66)32

Lacan teilt das zeichenhafte Wesen der Sprache mit Saussure in eine Ebene der Signifikate, der Bedeutungen, und der Signifikanten, der Bedeutenden. Die Ebenen entsprechen den Registern des Imaginären und des Symbolischen. Das Symbolische im Ganzen der Signifikantenebene zuzuweisen ist indes nicht selbstverständlich. Der Begriff des Symbols ist umfangreicher als der eines bedeutenden Zeichens – und erst recht eines Signifikanten im strukturalistischen Sinne, das heißt eines Etwas, dessen Eigenschaft es ist, kein Anderes zu sein. Wie ist dies nun zu verstehen? Lacan reduziert den Begriff des Symbolischen strikt auf seine relationale Dimension. Das Zeichen differenziert sich in beiden Sphären aus: dem Signifikanten und dem Signifikat. Letzteres setzt Lacan mit dem Imaginären gleich. Dass er hierbei sehr konkret die biologische Herleitung des Begriffs mitdenkt, zeigt sich innerhalb seiner – hier wieder das Symbolische favorisierenden – Argumentation: »Daß die Bedeutung ihrem Wesen nach imaginär ist, daran ist nicht zu zweifeln. Sie ist, wie das Imaginäre, letztlich immer schwindend, denn sie ist streng gebunden an das, was Sie interessiert, das heißt an das, worin Sie sich verfangen haben. Wüßten Sie, daß Hunger und Liebe dasselbe sind, so wären Sie wie alle Tiere, wirklich motiviert. Aber dank der Existenz des Signifikanten reißt Sie Ihre kleine persönliche Bedeutung – die auch ganz hoffnungslos gattungsgebunden ist, menschlich, allzu menschlich – viel weiter fort.« (66)

31 32

Vgl. Zafiropoulos, (2003) Lacan, S. 188f et passim. Lacan, (1955-1956) Seminar III.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Lacan bringt hier weitere Bestimmungen des Imaginären bei: Es ist die Bedeutung. Und es ist eine Form von Intentionalität, die individuell und gattungsgebunden ist – und so möchte ich Lacan das Wort abnehmen: eine Form von Triebgeschehen, die psychoanalysegebunden ist. Ohne dem komplexen Begriff des Triebes allzu große Bedeutung beizumessen, bereitet dessen Wiedererkennen in den Schemata Uexkülls keine Schwierigkeiten. Doch will ich den epistemologischen Aspekt der modellierten Situation herausheben und ausdrücklich mit Uexküll darauf hinweisen, dass alle Relationen zur Umwelt qua Schemata organisiert sind.33 Lacan sagt im obigen Zitat auch aus, dass Tiere eine wirkliche Motivation besitzen, was wir nun mit Uexküll als geschlossenen Funktionskreis wiedererkennen können. Auch beim Menschen gibt es diese Funktion, sofern es Bedeutung gibt. Bedeutung im engsten Sinne spielt sich im imaginären Register ab. Sie ist nicht diskursiv, wie symbolische Operationen, sondern eine Art primärer Relationierung des Menschen zu seiner Umwelt. Umwelt ist hierbei im Uexküll’schen Sinne zu verstehen, als eine Strukturierung und Abgrenzung (Ektoplasma!) gemäß fixer Schemata. Genau betrachtet ist das Imaginäre sowohl das Schema als auch die daraus resultierende Umwelt, die nur als Aktualisierung des Schemas wahrnehmbar wird. Dem obigen Zitat lässt sich weiterhin entnehmen, dass Lacan die Signifikanten als Wirkmacht betrachtet,34 die das Verweilen im Imaginären – in den Bedeutungen – aufhebt. In großen Schritten weitergedacht, gelangt man schließlich an den Punkt, die Abstraktion von inneren Schemata so weit vorangetrieben zu haben, dass man fähig ist, ein Imaginäres mit Bestimmungen zu versehen, die sich aus komplexen Zusammenhängen deduzieren lassen, beispielsweise dem Ektoplasma der Amöbe. Das Imaginäre selbst muss seine Macht weit hintanstellen, damit es im Symbolischen, im Diskurs, in dieser Schrift zum Thema werden kann – so könnte zumindest eine Lacan’sche Lesart aussehen. Die Annahme, dass das menschliche Imaginäre sich auf die Funktionskreise des Tieres – Nahrungskreis, Feindeskreis, Geschlechtskreis, Kreis des Mediums – beschränkt, ergibt sich nicht aus Uexkülls Entwurf. Es ist eine Spekulation, und die Reduktion auf »Hunger und Liebe« (66) bei Lacan als ein Erbe Freuds markierbar. Aus epistemologischer Sicht ist eine diskursive Konkretion von Bedeutung nicht notwendig, wenn man die drei Register als funktionale Kategorien konzipiert. Das Imaginäre könnte dann einen Weltzugang markieren, der schlicht unmittelbare Bedeutung ist. Eines seiner Charakteristika ist die tendenzielle Starrheit und der Ausschluss außerhalb begrenzter 33

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Die psychoanalytische Theorie nimmt zuweilen an, dass die menschliche Relation zur Umwelt zuallererst in sexueller Absicht aufgenommen wird. Uexkülls Organismen unterhalten hingegen mehrere verschiedene Funktionskreise mit ihrer Umwelt. Gewissermaßen als Gottes Wort.

Teil 2: Das Imaginäre

Schemata liegender Erfahrungsmöglichkeiten. Derart Ausgeschlossenes, Unbedeutendes oder Unwahrscheinlichgewordenes könnte vorläufig ein Register des Realen begründen. Weiterhin stellt sich die Frage, ob das Symbolische eine Dimension ist, die auf das Imaginäre zurückgreift, oder ob es eine davon losgelöste Erkenntnissphäre bildet.

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Lévi-Strauss und die Erkenntnis durch Systeme

Jacques Lacan und Claude Lévi-Strauss gehen, auf Saussure zurückgreifend, zunächst beide von einer zweiwertigen Zeichenlogik aus. Dem Hinweis Lacans folgend, dass das Signifikat dem Imaginären, der Signifikant dem Symbolischen zugeordnet ist, soll nun auch bei Lévi-Strauss nach Spuren des Imaginären gesucht und das Verhältnis beider Register in der Ethnologie herausgearbeitet werden. Wie im Kapitel über das Symbolische gezeigt wurde, geht Lévi-Strauss davon aus, dass die menschliche Welt eine je schon zeichenhafte ist. Damit ist aber auch ausgesagt, dass es keine Akte geben kann, die ein (historisch) noch nicht Zeichenhaftes in die Welt der Zeichen aufnähme. Lediglich eine immer adäquatere Anpassung der Symbole an die Wirklichkeit findet statt, insbesondere in der wissenschaftlichen Progression – ein Fortschritt, dessen Wert fraglich bleibt und so räsoniert er: »Vielleicht werden wir eines Tages entdecken, daß im mythischen und im wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und daß der Mensch allezeit gleich gut gedacht hat. Der Fortschritt – falls dieser Begriff dann überhaupt angemessen ist – hätte nicht das Bewußtsein, sondern die Welt als Aktionsraum, in der eine mit konstanten Begabungen ausgestattete Menschheit im Laufe ihrer langen Geschichte mit immer neuen Objekten ringen mußte.« (254)35

Heißt dies nicht, dass auch das Signifikat als solches immer und erst mit dem Signifikanten entsteht? Es gibt, so gesehen – behält man die von Lacan postulierte Entsprechung Imaginäres-Signifikatsebene bei – beim Menschen kein Imaginäres als Vor-Symbolisches im zeitlichen Sinne. Aber woher kommt das Signifikat dann? Francois Dosse schreibt, dass Lévi-Strauss »dem Signifikanten die Stelle der Struktur und dem Signifikat die der Bedeutung« (50)36 zu35 36

Lévi-Strauss, Anthropologie I. Dosse, Geschichte 1.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

weist. Etwas differenzierter wurde dieser Punkt im Kapitel über das Symbolische bereits ausgeführt: Das Begriffspaar »Benennungssystem (système des appellations)« und »Haltungssystem (système des attitudes)« (51)37 meint »zwei verschiedene Wirklichkeitsordnungen« (50). Das Benennungssystem bildet die Verwandtschaftsbeziehungen ab, wie sie als konkrete Ausgestaltung einer bestimmten Kultur sichtbar sind. Das Haltungssystem besteht aus affektiven funktionalen Beziehungen – »psychologischer und sozialer Natur« (51) –, aus »Achtung oder Vertraulichkeit, Recht oder Pflicht, Zuneigung oder Abneigung« (51f). Lévi-Strauss’ Postulat zweier unterschiedlich strukturierter Sphären ist methodologisch begründet. Wie in der strukturalistischen Sprachwissenschaft tauchen auch in der Ethnologie Begriffe auf, deren Kombinatorik, beziehungsweise Funktion, nicht unmittelbar aus den vorgefundenen Elementen selbst hervorgeht, sondern aus Strukturen, in deren Gefüge diese Elemente zur Erscheinung kommen. Lévi-Strauss stellt dies in Begriffen der Sprachwissenschaft dar. Allerdings können die Methoden der Linguistik nicht eins-zueins auf gesellschaftliche Ordnungen übertragen werden. »Man darf […] nicht den sehr tiefen Unterschied übersehen, der zwischen der Tabelle der Phoneme einer Sprache und der Tabelle der Verwandtschaftsbezeichnungen einer Gesellschaft besteht. Im ersteren Falle gibt es hinsichtlich der Funktion keine Zweifel: wir wissen alle, wozu eine Sprache dient: zur Mitteilung. Was der Sprachforscher dagegen lange Zeit nicht gekannt hat, und was allein die Phonologie ihm zu entdecken erlaubte, ist das Mittel, dank dessen die Sprache zu diesem Ergebnis gelangt. Die Funktion war klar; das System blieb unbekannt.« (50)

Lévi-Strauss weist darauf hin, dass in der Sprachwissenschaft lange Zeit nur auf die soziale Funktion und damit auf die Bedeutungsebene geachtet wurde. Das logische Spiel der Zeichen, die Kombinatorik der Grammatik wurde erst sichtbar, wenn von den Inhalten weitgehend abgesehen wurde. Die Soziologie nun kann auf eine andere Entwicklung zurückblicken, denn dort war der Systemcharakter von Verwandtschaftsbezeichnungen von Beginn an augenfällig und Gegenstand der Untersuchungen. »In dieser Hinsicht ist der Soziologe in der umgekehrten Situation: daß die Verwandtschaftsbeziehungen Systeme bilden, wissen wir bereits seit Lewis H. Morgan; dagegen wissen wir immer noch nicht, wie sie verwendet werden. Die Verkennung dieser Ausgangssituation schränkt die meisten Strukturalanalysen der Verwandtschaftssysteme auf reine Tautologien ein. Sie beweisen, was ohnehin klar ist, und lassen außer acht, was unbekannt ist.« (50) 37

Lévi-Strauss, Anthropologie I.

Teil 2: Das Imaginäre

Während also die Verwandtschaftssysteme auf der Ebene der Benenungssysteme leicht zu erfassen sind, erschließen sich transkulturelle Strukturen erst mittels einer Bedeutungsebene, die Lévi-Strauss als Sammlung binärer Attitüden im Haltungssystem aufgehoben sieht. Es liegt nahe, in den formaleren Benennungssystemen die kulturelle Ausgestaltung psychologischer Beziehungsbeziehungsweise Affektmuster zu erkennen. Einer solchen Sichtweise widerspricht Lévi-Strauss jedoch, indem er Fälle anführt, in denen die »Wechselbeziehung« (52) der beiden Systeme kein Kausalitätsverhältnis eindeutig werden lässt. »Das System der Haltungen ist vielmehr eine dynamische Integration des Systems der Benennungen.« (52) Wie in der Frage nach der Ursprünglichkeit des Symbolischen verwehrt sich der Ethnologe auch hier einem genealogischen Verständnis, wonach zuerst eine Sache – respektive eine Beziehungsart oder eine Emotion – vorläge, welches dann von einem erkennenden Subjekt benannt und kultiviert würde. Folgt man den Hinweisen Lacans, aus welchen Theorien er die Ordnung des Imaginären abgeleitet hat, so gelangt man zur mechanistischen Biologie und zur strukturalistischen Anthropologie. Bei Uexküll wie bei Lévi-Strauss spielen methodologische Erwägungen eine Rolle, jene Figuren zu entwickeln, die bei Lacan als Imaginäres eine subjektkonstitutive Funktion einnehmen. Sowohl die Umwelttheorie als auch das Begriffspaar Bennenungs- und Haltungssystem sind aus ihren jeweiligen Gegenständen nicht induzierbar. Vielmehr sind beides Ansätze, vereinheitlichende Erklärungsmöglichkeiten für die große Varianz der wissenschaftlichen Objekte bereitzustellen, ohne die individuelle oder mindestens kultur- beziehungsweise gattungsspezifische Ausgestaltung zu verlieren. Uexküll hat seine Umwelttheorie universell für alle Organismen angenommen: trotzdem lebt jedes Tier in seiner spezifischen Welt. Lévi-Strauss hat universelle Strukturen bei mehreren Kulturen aufweisen können, obwohl in den jeweiligen gesellschaftlichen Ausprägungen die allergrößten Unterschiede auftreten. In diesen Verfahren wird weiterhin eine Ebene sichtbar, die tatsächlich anders funktioniert als das Symbolische. Das Konzept spezifischer Umwelten schließt die Annahme eines alles umschließenden homogenen Raumes kategorial aus. Damit fällt auch die Möglichkeitsbedingung für Quantifizierung, Objektivierung und damit wissenschaftlicher Erschließung. Haltungssysteme wiederum können ausschließlich in der transkulturellen Dimension sichtbar gemacht werden. All dies sind ernste Schwierigkeiten, das imaginäre Register überhaupt diskursiv zu fassen zu bekommen. Andererseits: wenn das Imaginäre ein den Menschen bestimmendes Register sein soll, so muss jenseits transdisziplinärer Spekulationen davon ausgegangen werden, dass es sich auch phänomenologisch erschließen lässt: Gibt es erkennbare Formen, wie wir uns (subjektiv) der Welt zuwenden, die einem imaginären Register entspre-

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

chen? lautet also die Frage. Wie steht es beispielsweise mit unseren Begriffen von Bildlichkeit, Vorstellung und Fiktion?

Das Imaginäre II: Aspekte von Intentionalität und Bildlichkeit

So einflussreich die Theorien von Uexküll und Lévi-Strauss für die Konzeption eines Imaginären bei Lacan sind, so wenig erklären sie die Wortwahl, die Lacan für dieses vor- oder außer-symbolische Register trifft: Das Imaginäre. Im Französischen bedeutet image sowohl Bild – auch im materiellen Sinne, beispielsweise eines Gemäldes – wie auch Vorstellung. »L’imaginaire« wird mit »die Vorstellungswelt« übersetzt, in Abgrenzung von der Wirklichkeit das Gesamt des Imaginierten bezeichnend. Ein französisches Wörterbuch führt hierzu folgenden Eintrag: »IMAGINAIRE. adj. 1° Qui n’existe que dans l’imagination, qui est sans réalité. V. Irréel; fictif, mythique. Contr. Réel. Les étres imaginaires qu’un romancier fait venir d’autres planètes. - Nombre imaginaire (par ex.: √-1). 2° Qui n’est tel que dans sa propre imagination. Un malade imaginaire.« (542)38

Der allgemeine Sprachgebrauch verweist auf das Imaginäre als Gegensatz zum Realen im Sinne einer Fiktion gegenüber der Wirklichkeit. In seinen Rekursen auf die Biologie und die Ethnologie baut Lacan hingegen auf einem fachspezifisch ausgearbeiteten Begriff auf. Als zentraler Verhandlungsort des Imaginären ist in jener Zeit außerdem die Phänomenologie zu nennen. Das Imaginäre ist hier mit dem Konzept der Intentionalität eng verflochten. Lacans Nähe zur Phänomenologie erschließt sich nicht nur von seinen frühen Ambitionen her: auf eine Frage im Anschluss an seinen initialen Vortrag »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale«, die auf den Status des Bildes39 zielt, antwortet Lacan 1953: 38 39

MICRO ROBERT en poche, Tome 1, Paris, 1979. Der Eintrag bezieht sich auf das gebräuchlichere Adjektiv. Im Konkreten geht es um eine Kinderzeichnung. Die editierte Transkription des Vortrags zitiert den Seminarteilnehmer Octave Mannoni: »Eine Anmerkung. Die Zeichnungen sind keine Bilder, sondern Objekte. Das Problem ist herauszu-

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »Einer der zugänglichsten Modi, wodurch man, zumindest in der Phänomenologie der Intention, Zugang zum Imaginären bekommt, ist alles das, was künstliche Reproduktion ist.« (60) 40

In diesem kurzen Statement finden sich gleich zwei essenzielle Hinweise, die es gestatten, das Imaginäre weiter zu bestimmen. 1) Zunächst gilt es, dem Begriff der Intention nachzuspüren. Franz Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt kann als Ausgangspunkt für die phänomenologische Wiederaufnahme dieses scholastischen Terminus gelten.41 Sie enthält Aspekte, die sich mit den bislang diskutierten Facetten des Imaginären plausibel in Verbindung setzen lassen. 2) Der zweite Hinweis zielt auf die künstliche oder auch künstlerische Reproduktion. Gibt es einen Unterschied zwischen Phantasiegestalten, Gemälden oder einem Erinnerungsbild einer abwesenden Person? Das Imaginäre ist hier eine bestimmte Art und Weise, wie sich ein Bewusstsein auf etwas bezieht, eine besondere Intentionalität. Jean-Paul Sartres frühes Werk Das Imaginäre kann für die Zeit, in welcher Lacan seine Antwort gibt, als allgemein bekanntes, richtungsweisendes Buch gelten. 3) Von Sartre ausgehend wird in einem dritten Schritt zu fragen sein, wie sich Lacan von dessen Dualismus absetzt, indem er das Imaginäre nicht mehr einer durch die Wahrnehmung erfahrenen Wirklichkeit (diese nichtend) gegenüberstellt, sondern vielmehr die (nunmehr psychische) Realität als eine phantasmatische generell ausweist. Von hier aus kommt schließlich die problematische Ordnung des Realen in Sichtweite.

1) I ntentionalität als fundamentale B estimmung des I maginären Im ersten Band der Psychologie vom empirischen Standpunkt entwickelt Franz Brentano Grundlagen einer einheitlichen wissenschaftlichen Psychologie. Dabei sieht er von einer Seelensubstanz ab – es handelt sich gewissermaßen um eine Psychologie ohne Psyche42 – und wendet sich ausschließlich psychischen Phänomenen zu. Essenziell für sein Unterfangen ist es, die psychischen Phäno-

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finden, ob das Bild Symbol oder Realität ist. Das ist äußerst schwierig.« (Lacan, (1953a) Das Symbolische, S. 60) Lacan, (1953a) Das Symbolische. In einer Fußnote bemerkt Lacan in seiner Doktorats-Thesis: »Für die Theorie der Intentionalität des Bewußtseins beziehe man sich auf das grundlegende Werk von Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte [...]« (Lacan, Jacques, (1932) Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, Wien, 2002, S. 245.) Vgl. Brentano, Franz, (1874a) Psychologie vom empirischen Standpunkt. Erster Band, Hamburg, 1955, S.16.

Teil 2: Das Imaginäre

mene von physischen Phänomenen abzugrenzen und damit den Gegenstand der – gewissermaßen noch zu begründenden – Wissenschaft von der Seele zu bestimmen. In einem ersten Angang erklärt er: »Ein Beispiel für die psychischen Phänomene bietet jede Vorstellung durch Empfindung oder Phantasie; und ich verstehe hier unter Vorstellung nicht das, was vorgestellt wird, sondern den Akt des Vorstellens. Also das Hören eines Tones, das Sehen eines farbigen Gegenstandes, das Empfinden von warm oder kalt, sowie die ähnlichen Phantasiezustände sind Beispiele, wie ich sie meine; ebenso aber auch das Denken eines allgemeinen Begriffes, wenn anders ein solches wirklich vorkommt. Ferner jedes Urteil, jede Erinnerung, jede Erwartung, jede Folgerung, jede Überzeugung oder Meinung, jeder Zweifel – ist ein psychisches Phänomen. Und wiederum ist ein solches jede Gemütsbewegung, Freude, Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Mut, Verzagen, Zorn, Liebe, Haß, Begierde, Willen, Absicht, Staunen, Bewunderung, Verachtung.« (111f ) 43

Zunächst stellt diese Aufstellung nichts außergewöhnliches dar. Doch der Hinweis, wie Brentano den Begriff der Vorstellung verstanden haben will, bereitet auf eine eigenwillige Differenz vor: Vorstellung ist als Akt zu verstehen und bezeichnet nicht die Vorstellungsinhalte. Diese schlägt Brentano nämlich dem Physischen zu: »Beispiele von physischen Phänomenen dagegen sind eine Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe; ein Akkord, den ich höre; Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie erscheinen.« (112)

Zumindest für die »durch Empfindung« (111) angeregten Vorstellungen ist die Argumentation nachvollziehbar: Das physische Agens ist äußerlich im Raum. Nun durchbricht Brentanos Bestimmung des Psychischen aber die konventionelle Innen-Außen-Scheidung und rechnet auch dem sinnlich Gegebenen »ähnliche« (111) Phantasiegebilde dem Physischen zu.44 Entscheidend ist für ihn weniger der Ort, wo etwas erscheint, wie etwa in der Phantasie, in der Erinnerung, in der unmittelbar wahrgenommenen Wirklichkeit, sondern die Differenz zwischen Akt und Gegenstand. Die Psychologie hat sich dement43 44

Brentano, Franz, (1874a) Psychologie vom empirischen Standpunkt. Erster Band, Hamburg, 1955. Brentano kann hier Rückhalt bei Aristoteles finden: »Auf eine Weise heißt physis somit die jedem der Dinge, die ein Prinzip der Bewegung und Veränderung bergen, primär zugrundeliegende Materie, auf andere Weise die Gestalt und die der Definition entsprechende Form«. (Aristoteles, Phys. II 1, 193a28-41) Die Form, so wird später noch deutlicher, ist es, die in dieser Denktradition vom Geist aufgenommen wird. (Auch bei Descartes lässt sich die Zuordnung von Vorstellungsinhalten zur materiellen Welt noch finden.)

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sprechend mit den Akten der Wahrnehmung45 zu beschäftigen und nicht mit den jeweiligen Inhalten. Dass der Begriff des – heute vor allem mit Körperlichkeit assoziierten – Physischen dabei in die Phantasie ausgedehnt wird, muss wohl hingenommen werden, will man Brentanos Ansatz nachvollziehen. Argumentativ gelingt ihm hierdurch ein entscheidender Wandel: Während üblicherweise das Psychische negativ bestimmt wird, als keine Körperlichkeit besitzend, bestimmt Brentano das Psychische nun positiv und das Physische verbleibt als Rest. In Vertiefung seiner vorangehenden Argumentation stellt Brentano den nur mittelbaren Charakter des Physichen heraus, zumindest wie es dem Menschen gegeben ist: »An und für sich tritt das, was wahrhaft ist, nicht in die Erscheinung, und das was erscheint, ist nicht wahrhaft. Die Wahrheit der physischen Phänomene ist, wie man sich ausdrückt, eine bloß relative Wahrheit.« (28) In einer Haltung, die bereits bei Helmholtz bestimmend war, verweist Brentano auf die Zeichenhaftigkeit der Erkenntnisse der Physik. »Die Phänomene des Lichtes, des Schalles, der Wärme, des Ortes und der örtlichen Bewegung, von welchen er handelt, sind nicht Dinge, die wahrhaft und wirklich bestehen. Sie sind Zeichen von etwas Wirklichem, was durch seine Einwirkung ihre Vorstellung erzeugt.« (28) In diesem Sinne ist eine innere Wahrnehmung im Vorteil gegenüber der äußeren – ein »Vorzug der Psychologie« (29), der auch eine hohe ethische Aufgabe für den Psychologen darstellt. Das Feld des Psychischen stellt also phänomenologisch einen primären Schauplatz dar, so Brentanos Argumentation. Auch die physischen Phänomene sind nicht ohne die Beteiligung psychischer Prozesse erkennbar, denn sie erzeugen durch »Einwirkung ihre Vorstellung« (28), das heißt sie sind als Vorstellung gegeben. Das Physische ist dabei der Inhalt als außerpsychische Entität. In Abweichung von einem intuitiven Begriff des Physischen beschäftigt sich die Naturwissenschaft nicht mit den Gegenständen an sich, sondern mit deren Zeichen, wie sie in einem psychischen Akt auftreten. Darüber hinaus gibt es Vorstellungen zeitlicher, räumlicher46 und kausaler Ordnungen, das heißt auch Kants a priori gelten hier als Vorstellung.47

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Der Begriff der Wahrnehmung sei hier zunächst sehr allgemein verstanden, probeweise im Sinne des Freud’schen Systems W/Bw. Vgl. auch: Brentano, (1874a) Psychologie 1, S. 61. Dort spricht Brentano von einer »inneren Wahrnehmung«. Für Brentano sind Raum und Zeit keine apriorische Formen. Siehe hierzu: Antonelli, Mauro, (2001) Seiendes, Bewußtsein, Intentionalität im Frühwerk von Franz Brentano, Freiburg, München, 2001, S. 249: »Die Begriffe des Raumes und der Zeit sind wie alle anderen Begriffe empirischer Herkunft, denn sie entstehen durch Abstraktion aus entsprechenden Anschauungen. […] Die Sinnesinhalte weisen einen symbolischen Charakter auf, da sie das regelmäßige Ergebnis von konstant wirkenden Ursachen sind, die uns also mittelbar zugänglich werden.« Vgl. Brentano, (1874a) Psychologie 1, S. 114.

Teil 2: Das Imaginäre »Allein jenes Gegenwärtig-sein jedes einzelnen der genannten Dinge ist eben schon ein Vorgestelltsein in unserem Sinne. Und ein solches kommt überall vor, wo etwas im Bewußtsein erscheint: mag es gehaßt oder geliebt oder gleichgültig betrachtet; mag es anerkannt oder verworfen oder, bei völliger Zurückhaltung des Urteils – ich kann mich nicht besser ausdrücken als –, vorgestellt werden. Wie wir das Wort ›vorstellen‹ gebrauchen, ist ›vorgestellt werden‹ so viel wie ›erscheinen‹.« (114)

Brentano postuliert drei Register psychischer Akte: Die Vorstellung, das Urteilen und die Affekte, wobei die letzteren beiden »auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen« (120). Die Vorstellung ist die entscheidende Funktion, die Inhalte zur Erscheinung bringt und ein kognitives Urteilen oder eine emotionale Beziehung in zweiter Instanz erst ermöglicht. Vorstellen ist ein Akt des Sich-auf-etwas-Beziehens in allgemeinster Form. Dabei können klassische Subjekt-Objekt-Zuweisungen zunächst außen vor bleiben. Zwar liegt mit der Vorstellung ein psychischer Akt vor, doch lässt die oben zitierte ausdrückliche Gleichsetzung von Erscheinen und Vorstellen völlig offen, in welchem Maße die Psyche hierbei bestimmend ist. Mit anderen Worten: handelt es sich um einen passiven oder aktiven Vorgang, wenn etwas erscheint? Ebenfalls zu klären bleibt der Status des jeweilig Erscheinenden, das zwar als physisch bestimmt, aber da Brentano den Begriff des Physischen sehr eigenwillig gebraucht, schwer in eine konventionelle Ontologie einzugliedern ist. Wiederum mit anderen Worten: sollte es wirklich aus empirisch-psychologischer Perspektive gleichgültig sein, ob ein Denkinhalt, eine Vorstellung, wahrgenommene Wirklichkeit oder Produkt der Phantasie ist? Die Antwort auf diese Fragen erfolgt indirekt: In einem zweiten Angang48 präzisiert Brentano sein Konzept, indem er auf einen Begriff der mittelalterlichen Scholastik zurückgreift und damit einen Terminus einführt, der für die gesamte phänomenologische Schule zentral werden wird: die Intentionalität. In der Absicht, eine robuste positive Bestimmung psychischer Phänomene beizubringen, schreibt er: »Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu versehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.« (124f ) 49

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In §5, der mit den Worten beginnt: »Welches positive Merkmal werden wir nun anzugeben vermögen?« (Brentano, (1874a) Psychologie 1, S.124) Im Zitat sind die Anmerkungen und Fußnoten weggelassen.

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Der Brentano’schen Trias aus Vorstellung, Urteil und Liebe/Hass50 folgend, ist es die »Beziehung auf einen Inhalt« (124), die in jeweils unterschiedlicher Weise das Psychische charakterisiert. In diesem Sinne hat – etwas verallgemeinernd gesprochen – der Begriff der Intentionalität erneut Eingang in die Philosophie gefunden. Die Ausarbeitung der Frage, wie sich ein Bewusstsein auf ein Etwas bezieht, wird das methodologische Paradigma der Phänomenologie. Brentanos frühe Schrift indes widmet sich zunächst weiter der Feldbestimmung einer empirischen Psychologie: »Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches, und somit können wir die psychischen Phänomene definieren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten.« (125)

Obwohl sich Brentano in Folge mit weiteren Kriterien des Psychischen auseinandersetzt, bleibt dieser Sachverhalt das zentrale Argument. So resümiert er: »Dasjenige Merkmal, welches die psychischen Phänomene unter allen am meisten kennzeichnet, ist wohl ohne Zweifel die intentionale Inexistenz.« (137) Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen Inhalt hat; sie ist aber deshalb nicht zwingend eine Repräsentation eines Gegenstandes. Der Gegenstand wird nicht abgebildet oder verdoppelt. Die Intention zielt auf den Gegenstand selbst und ist als Akt in Bezug auf den Gegenstand zu verstehen. Zum richtigen Verständnis hilft hier, die Vorstellung als primären psychischen Akt in Erinnerung zu rufen: Die Unterbestimmtheit des Physischen, auf das sich das Psychische bezieht, setzt den Fokus auf die Art und Weise wie Physisches uns erscheint. Brentano insistiert auf der Relativität der Vorstellungen, die wir aus der Wahrnehmung gewinnen, doch etwas anderes ist uns nicht zugänglich, und »so werden wir doch nicht fehl gehen, wenn wir ganz allgemein den physischen Phänomenen jede andere als intentionale Existenz absprechen.« (132) Die Argumentation Brentanos folgt auf den ersten Blick einem kritischen Rationalismus, welcher die Erkennbarkeit der Dinge-an-sich abstreitet. Darüber hinaus legt sie »äußere Wahrnehmung« (140) und mentale Gebilde, und damit intentionale Existenz und Inexistenz, in ein gemeinsames Register, nämlich: als dem Bewusstsein vorgestellter Inhalt. Aus epistemologischer Sicht ist dies ein folgenreicher Schritt und eine Voraussetzung aller dynamischen oder approximativen Erkenntnistheorien, wie beispielsweise des Fallibilismus. Um

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Brentano beschreibt diese drei »Grundklassen der psychischen Phänomene« konzis in: Brentano, Franz, (1874-1895) Die Lehre vom richtigen Urteil, Bern, 1956, S. 32-35.

Teil 2: Das Imaginäre

mit vorläufigen Erkenntnissen operieren zu können, bedarf es einer prinzipiellen Gleichförmigkeit von Existentem und Inexistentem51. Die Erkenntnis eines Gegenstandes setzt eine Vorstellung, die Imagination dieses Gegenstandes voraus. Vorstellen wiederum ist der Akt, in dem sich Intentionalität ausdrückt. Innerhalb dieser Begrifflichkeit ist das Imaginäre nicht das Gegenteil der Realität. Alles worauf sich beispielsweise ein Urteil beziehen kann, muss zunächst vorgestellt werden: im Register des Imaginären erscheinen.52 Dass mit dem Begriff der Vorstellung – und hier des Imaginären – nicht die Repräsentation oder eine Verdopplung des Gegenstandes im Geiste gemeint ist, wird deutlich, wenn man der aristotelisch-scholastischen Referenz nachgeht, die Brentano andeutet: »Schon Aristoteles hat von dieser psychischen Einwohnung gesprochen. In seinen Büchern von der Seele sagt er, das Empfundene als Empfundenes sei in dem Empfindenden, der Sinn nehme das Empfundene ohne die Materie auf, das Gedachte sei in dem denkenden Verstande. […] Thomas von Aquin lehrt, das Gedachte sei intentional in dem Denkenden, der Gegenstand der Liebe in dem Liebenden, das Begehrte in dem Begehrenden, und benützt dies zu theologischen Zwecken.« (125, dort: Fußnote)

Dominik Perler schreibt hierzu: »Ausgangspunkt ist für Brentano nicht eine Theorie, die ein inneres Objekt einem äußeren gegenüber stellt, sondern vielmehr die aristotelische Theorie, derzufolge eine kognitive Relation dadurch zustande kommt, dass der Erkennende das Erkannte – genauer: die Form des Erkannten – ohne Materie in sich aufnimmt und mit ihm identisch wird. Ausgangspunkt ist also eine Assimiliationstheorie, wie sie sich ansatzweise bereits bei Aristoteles findet und wie sie später von Thomas von Aquin ausgearbeitet wurde.« (403) 53

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Während »Inexistenz« im gesamten vorliegenden Kontext die Bedeutung von in-etwas-enthalten-Sein hat, lässt sich die alternative Bedeutung von Nichtvorhandensein konstruktiv mitlesen. Denn: wohl kann es ein Inexistentes in diesem Sinne im Psychischen geben, als Seinendes jedoch wäre ein Nichtseiendes widersprüchlich. Folglich könnte auf die Figur geschlossen werden, dass, wenn etwas nicht-ist, dieses nur intentional sein kann. Das Imaginäre öffnete demnach die Möglichkeit zur Verneinung, die es im Register des Realen (und nach Freud: des Unbewussten) nicht gibt. Der Vollzug des Verneinens wiederum ist nach Brentano ein Urteilsakt. Ein Existenzurteil beispielsweise ist der Vorstellung nachgeschaltet. Es kann sich also nichts zwischen die Vorstellung und ihr Objekt schieben. Vorstellung und Objekt bilden so gesehen eine Einheit. Perler, Dominik, (2002) Theorien der Intentionalität im Mittelalter, Frankfurt/M., 2002.

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Wenn ich oben geschrieben habe, dass die klassische Subjekt-Objekt-Trennung zunächst beiseite gelassen werden kann, so kann man jetzt präzisieren, dass es sich bei Brentanos Vorgestelltem nicht um dem erkennenden Subjekt äußerliche Objekte handelt. Das Objekt ist gewissermaßen in dem Subjekt, welches dieses zum Gegenstand nimmt: es ist in-existent im Subjekt. In diesem Sinne wird objektiv – Brentano weist darauf hin – in der Hochscholastik auch im Sinne von erkannt (also bereits vom erkennenden Wesen verinnerlicht), gebraucht, während subjektiv eben nicht wie im heutigen Sprachgebrauch für ein subjektives Erleben steht, sondern den Gegenstand an sich meint.54 Wie im Kapitel über das Symbolische deutlich wurde, meint dort objektiv ein symbolisiertes, in den Raum, respektive den Raum der Symbole und Sprache, projiziertes Etwas. Dass solches im Rahmen vonBrentanos Betrachtungen zu einer empirischen Psychologie nicht in gleicher Weise gilt, bedeutet, einen anders gefärbten Objektbegriff zuzulassen, der nicht exklusiv auf die erkennbaren Dinge in ihrer von erkennenden Wesen unabhängigen oder zumindest diskursiv ausgehandelten Äußerlichkeit zielt. Für seine Psychologie ist ein Objekt immer das Objekt der Psyche im Sinne von Intentionalität.55 In Anbetracht der Tatsache, dass Sigmund Freuds Konzepte libidinöser Objekte ebenfalls vor allem innere Objekte sind, die sich jedoch aus äußeren Bezugspersonen zusammensetzen, kann von einer direkten Begriffslinie vom frühen Brentano zu Freud gesprochen werden.56 In der psychoanalytischen Theoriebildung findet sich im Begriff der Imago ein fester Platz für dieses Geschehen. Dass also ein Objekt primär ein imaginäres Objekt ist, lässt sich auch auf diesem Diskursfeld aufweisen. 54

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»Sie [die Scholastiker, F.W.] gebrauchen auch den Ausdruck ›gegenständlich (objektive) in etwas sein‹, der, wenn man sich jetzt seiner bedienen wollte, umgekehrt als Bezeichnung einer wirklichen Existenz außerhalb des Geistes genommen werden dürfte. Doch erinnert daran der Ausdruck ›immanent gegenständlich sein‹, den man zuweilen in ähnlichem Sinne gebraucht, und bei welchem offenbar das ›immanent‹ das zu fürchtende Mißverständnis ausschließen soll.« (Brentano, (1874a) Psychologie 1, S. 124, Fußnote) Auch die Psychologismus-Debatte wäre darauf hin zu überprüfen, inwieweit nicht die gegenläufige Homonymie Objekt Ursache grundlegender Missverständnisse war. Zu diesem Thema vgl. auch: Kaiser-el-Safti, Margret, (2011) »Der Psychologismus-Streit in geschichtlicher und systematischer Betrachtung«, in: dies., Loh, Werner, Die Psychologismus-Kontroverse, Göttingen, 2011, S. 9-59. Zur wahrscheinlich folgenreichen persönlichen Bekanntschaft Freuds mit Brentano vgl.: Schellenbacher, Manfred, (2011) Sigmund Freud und Franz Brentano, e-journal Philosophie der Psychologie, März 2011, Quelle Internet: http://www. jp.philo.at/texte/SchellenbacherM1.pdf , zuletzt aufgerufen am 26.05.2013. Auch Lacan verweist auf die Bedeutung Brentanos für Freud und spricht vom »enseignement de Brentano, dont on sait pourtant qu’il rayonnait à Vienne et que Freud même le fréquenta.« (Lacan, Jacques, (1960), »Remarque sur le rapport de Daniel Lagache: ›Psychanalyse et structure de la personnalité‹«, in: ders., Écrits 2, Nouvelle édition, Paris, 1999, S. 124-162, hier: S. 139, die Seitenangaben folgen der Taschenbuchausgabe.)

Teil 2: Das Imaginäre

Nimmt man das Imaginäre und das Symbolische vergleichend in den Blick, kann gesagt werden: Der Objektbegriff selbst steht sich, in den verschiedenen Registern gedacht und aus den verschiedenen Registern abgeleitet, als unvereinbar gegenüber und meint Gegensätzliches. Diese Äquivokation gilt es zu beachten, bezieht man eine durch Brentano und Freud bestimmte Diskursachse intentionaler Objektivität in die Diskussion mit ein. Gerade in der Psychoanalyse wird deutlich, dass ein psychisches Objekt alles andere als objektiv ist. Produktiv wird der Sachverhalt, wenn man den gebräuchlichen Ausdruck »etwas zu objektivieren« im Sinne von Verallgemeinerung betrachtet. Denn die widersprüchliche Doppelbedeutung führt sogleich die Kritik mit, dass man sich beim Objektivieren womöglich lediglich eine Vorstellung macht, die sich nicht anders als subjektiv einstellen kann. – Ja aber, so könnte wiederum entgegnet werden, eine allgemeine Vorstellung. Und in der Tat ist diese Allgemeingültigkeit der entscheidende Schritt in Richtung des Symbolischen, wie es die Erkenntnistheorie der Moderne prägt. Diese Verallgemeinerung aber wäre nach wie vor sekundär, beziehungsweise der Vorstellung nachgestellt (so zumindest bei Brentano). Oder aus einer anderen Perspektive beleuchtet: hatten die Scholastiker nicht umsonst ihre Schwierigkeiten mit den Allgemeinbegriffen, respektive den Universalien.57 Erst die erkenntnistheoretische Ausarbeitung des Symbolischen scheint Begriffe nun stärker dem Diskurs als dem Konkreten zu unterwerfen. Als Beispiel kann das bereits vorgestellte Werk von Cassirer Substanzbegriff und Funktionsbegriff gelten, das den Reihenbegriff in den Vordergrund stellt, jede substanzielle Genealogie der Gattungen aber ablehnt. Die Gattung läge so gesehen noch näher am Imaginären, da sie versucht, der inhärenten Ordnung ihrer Elemente zu folgen. Erst die rein operable symbolische Ordnung kann das Objekt aus seiner intentionalen Verklammerung im erkennenden Bewusstsein lösen und nach außen in den diskursiven Raum projizieren. Im obigen Zitat schreibt Perler, »dass der Erkennende das Erkannte – genauer: die Form des Erkannten – ohne Materie in sich aufnimmt und mit ihm identisch wird« (403)58. Dieses Objekt-Werden eines Etwas durch Aufnahme und Identisch-Werden ist dem Objektbegriff der Naturwissenschaft nicht nur entgegenzusetzen, es kann auch dazu dienen, die Funktion des Imaginären weiter zu bestimmen. Dieses direkte Einfließen aristotelischen Gedankenguts in eine empirische Psychologie war zwar im allgemeinen psychologischen Diskurs schnell wieder versiegt, hat aber in der Theoriebildung der Psychoanalyse um so tiefere Spuren hinterlassen. Als ungeübter Leser stößt man bei57

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Wolfgang Stegmüller sieht im Problem der Allgemeinbegriffe den Kern des Universalienstreits. Siehe: Stegmüller, Wolfgang: Geschichtliches zum Universalienstreit, Quelle Internet: http://www.blutner.de/philos/Texte/steg.html#1a zuletzt aufgerufen am 26.05.2013. Perler, (2002) Intentionalität.

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spielsweise bei Freud immer wieder auf Verständnisschwierigkeiten, was den dortigen Begriff Objekt angeht. Wenn es etwa um ein Liebesobjekt geht, ist zunächst meist unklar, ob es sich um die psychische Repräsentation (das innere Bild) des Geliebten handelt oder vielleicht doch um die Person selbst. Der Objektbegriff aus der Psychologie vom empirischen Standpunkt klärt hier auf, indem er das Objekt als intentionales ausweist, als eines, das im Bewusstsein in-existent ist. Als solches ist es auch kein Abbild eines äußeren Objektes, sondern durch einen psychischen Akt aufgenommen – »ohne Materie« (403), wie Perler ausführt. Dieses Aufnehmen spiegelt sich in psychoanalytischen Begriffen wie Inkorporation wieder, die in Freuds Texten mitunter an Kannibalismus erinnern: eine zunächst groteske Assoziation, die nun aufgeklärt ist. Die Form wird durch Assimilation aufgenommen, nicht die Materie.

Einschub: Introjekt – Objekt – Ich: Unschärfen der Lokalisation und die psychoanalytischen Begrifflichkeiten Das Konzept des Identisch-Werdens ist zentral in der Psychoanalyse verankert: So bilden sich beim Kleinkind ein Ich und ein Über-Ich aus der Identifikation mit den betreuenden Personen. Als assimilierte Charakteristika werden sie zum Charakter und damit bewusstes Ich des Kindes. Der psychoanalytische Fachbegriff hierfür heißt »Introjektion«. Damit ist seither gemeint, dass ein äußeres Objekt assimilierend in die Psyche aufgenommen wird. Was im Diskurs dabei in Vergessenheit geraten ist, ist die geläufige Bedeutung, die »Introjektion« zu Zeiten Freuds hatte. In einem philosophischen Wörterbuch der Epoche findet sich folgender Eintrag: »Introjektion: Hineinlegung, Übertragung (›Projektion‹) des eigenen Ich, Subjektiven, der eigenen Lebendigkeit, Beseeltheit, des eigenen Fühlens und Wollens, des Innenseins auf Objekte der Außenwelt in und mit der Wahrnehmung derselben und in und mit dem Denken derselben nach Kategorien. Die Introjektion beruht psychologisch auf einem Prozess der Assimilation, indem die Wahrnehmung des dem eigenen psychophysischen Ich Analogen die (nicht objektiv wahrgenommene, aber instinktiv reproduzierte) ›Innerlichkeit‹ des Ich (Vorstellung von dessen Fühlen und Streben) mit der Objektwahrnehmung zur Einheit verschmelzen läßt, so daß dieses nun unmittelbar (ohne Schluß) als ein ichartiges Wesen, Gegen-Ich, später als Kraftcentrum erscheint. Die Dinge sind hiernach ›Qualitätenkomlexe‹, ›Introjektionsqualitäten‹. Schon HUME erklärt: ›Man beobachtet oft, daß der Geist große Neigung

Teil 2: Das Imaginäre besitzt, sich selbst in die Gegenstände der Außenwelt zu projizieren‹ (Treat. III, sct. 14, S. 226).« 59

Der hier beschriebene psychische Vorgang meint, dass ein menschliches Subjekt ihm äußerlichen tatsächlichen oder mutmaßlichen Handlungsagenten eine ihm ähnliche Subjektivität zuschreibt. »Ich muss mir im Inneren des Menschen ein Kraftcentrum vorstellen, wenn ich seine Rede verstehen soll.« (245)60 Heute würde man den Ausdruck Projektion für das Geschehen gebrauchen, und derartige Vorgänge, sofern sie sich nicht auf lebendige Dinge beziehen, unter dem Lemma des Animismus abhandeln. Doch die lexikalischen Erläuterungen zur Introjektion zielen auf ein erkenntnistheoretisches Phänomen: Die Art und Weise wie ein innerlicher Agens wahrgenommen wird, stellt die Basis für das Verstehen der Anderen und der Welt in ihrer Kausalität generell dar.61 Diese Beobachtung könnte auch als weiteres Charakteristikum des Imaginären genommen werden. Sie ähnelt in jedem Fall der Funktion der intentionalen Vorstellung, denn die Introjektion erfolgt »ohne Schluß«62 und basiert »auf einem Prozess der Assimilation«63. Der von Brentano eingeführte Begriff der intentionalen Objekte der Vorstellung erlaubt es, den Bedeutungswechsel, den der Begriff durch die Psychoanalyse erfahren hat, nachzuvollziehen. So ist ein psychischer Inhalt (also etwas Physisches, in Brentanos Terminologie) Teil eines psychischen Aktes und bildet in seiner Aktualisierung eine formale Einheit mit diesem. In dieser formalen Identität ist die InnenAußen-Scheidung insofern ausgesetzt, als Objekte stets nur als intentionale Objekte erscheinen und erst ein nachgelagerter Urteilsakt, beispielsweise über Existenz, Wahrheit und dergleichen entscheidet. Im Register der Brentano’schen Vorstellung sind Objekte zunächst in-existent, d.h. existent in einem Vorstellungsakt. Die formale Identität bedeutet auf dieser Ebene vollumfängliche Identität. Erst ein analysierender Beobachter wird entscheiden, ob ein Subjekt seine eigene Funktionsweise nach außen projiziert (das ist der ursprüngliche psychologische Begriff von Introjektion) oder ob »Objekte und diesen Objekten inhärente Qualitäten von ›außen‹ nach ›innen‹ gelangen« (235)64 (das ist der psychoanalytische Begriff von Introjektion). Zunächst erscheint die wechseln59

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Eisler, Rudolf, (1904) Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Berlin, 1929, Quelle Internet: http://www.textlog.de/4058.html, zuletzt aufgerufen am 28.05.2013. Auf die zentrale Stellung, die Hume auch für die gesamte Diskussion der Kausalität hat, sei hier mit Nachdruck hingewiesen. Jerusalem, Wilhelm, (1895) Die Urtheilsfunction, Wien, Leipzig, 1895. Vgl. Jerusalem, (1895) Urtheilsfunction, S. 242-248. Eisler, (1904) Wörterbuch, digitale Quelle ohne Seitenangabe, Lemma: Introjektion. Eisler, (1904) Wörterbuch, digitale Quelle ohne Seitenangabe, Lemma: Introjektion. Laplanche, Jean, Pontalis, Jean-Bertrand, (1967) Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M., 1973.

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de Bedeutung von »Introjektion« diskurshistorisch als ein Umschlag im Begriff, der insofern nicht konsistent bleibt. Im Register des Imaginären selbst allerdings ist eine solche Unterscheidung nicht sinnvoll, beziehungsweise die Lokalisation unscharf, da sich hier die Vorstellung eines Etwas (im aktiven Sinne: Imagination) und das Erscheinen eines Etwas (im passiven Sinne: Manifestation/Wahrnehmung) nicht differenzieren lassen. In diesem Phänomen ist eine zum Begriff des Objektes theoriegeschichtlich korrespondierende Entwicklung aufweisbar. Zunächst konnte oben eine gemeinsame diskursive Struktur in dem Umschlag des Begriffs des Objekts als etwas Mentalem zu etwas Äußerlichem festgestellt werden. Brentano weist auf diese Figur hin65 und löst sie sogleich dahingehend auf, dass er das Objekt als intentionales fasst. Erkenntnistheoretisch ist das Objekt damit Gegenstand eines Bewusstseins und damit wieder nach innen geholt. Während die Psychoanalyse nun den ursprünglichen Begriff der Introjektion als Vorgang, einem äußeren Gegenstand eigene Seelenanteile zuzusprechen, umkehrt, indem sie das Äußerliche jetzt in der Psyche erscheinen lässt, vollzieht sie eine ähnliche Figur, wie sie im Objektbegriff Brentanos aufweisbar ist. Man könnte darauf auf bauend ein positionslogisches Spiel ersinnen, in dem die Plätze von Innen und Außen jeweils für die Figuren Introjektion und Objekt wechselnd besetzt werden: Begreife ich das Objekt als Äußeres, so mag ich Seelenanteile in dieses introjizieren, im bereits von Hume kritisierten Sinne. Dies ist die wissenschaftliche Terminologie Ende des 19. Jahrhunderts. Begreife ich Objekte als innere, so werden diese wohl nur durch eine Introjektion hineingekommen sein.66 Dies ist die Haltung Freuds, die ein durch Brentano vermittelter Aristotelismus sein dürfte. Dieses Gedankenspiel zeigt die Verflochtenheit der Begrifflichkeiten und die direkte Nachfolge der Freud’schen Konzepte in einer (proto-)phänomenologischen Diskurslinie Brentanos. Was bedeutet dies nun epistemologisch? Zunächst: im psychoanalytischphänomenologischen Dirskurs kann gelten, dass allein die psychische Realität Geltung hat. Das heißt, dass die Identifikation mit dem elterlichen Vorbild tatsächliche Identität bedeutet. Somit kann wiederum gelten, »dass der Erkennende das Erkannte – genauer: die Form des Erkannten – ohne Materie in sich aufnimmt und mit ihm identisch wird« (403)67. Da einem erkennenden Bewusstsein nichts anderes gegeben ist, als was es intentional zum Inhalt hat, erscheint hier das Ich, das aus einer Introjektion hervorgegangen ist, als individuelles. Dies wird bei Lacan thematisiert als imaginäre Identität von a und a’ (beziehungsweise im Groben: als imaginäre Identität: von Kind und Mutter). Imaginär kann hier also nicht bedeuten, dass es sich um ein selbst-einsichtiges 65 66 67

Vgl. Brentano, (1874a) Psychologie 1, S. 124, Fußnote. Alle anderen Konzepte folgen einem platonischen Idealismus, entsprechen also kaum dem herrschenden naturwissenschaftlichen Paradigma. Perler, (2002) Intentionalität.

Teil 2: Das Imaginäre

Spiegelgeschehen handelt, sondern um Identität im starken Sinne des Wortes. Nur so ist es plausibel, dass Lacan immer wieder auf die Vertauschbarkeit der subjektkonstitutiven Elemente a und a’ hinweist. Denn eine Differenzierung der beiden Positionen erforderte immer mindestens eines weiteren Elements: des großen Anderen, sei es als beobachtende Person (der Forscher, der Außenstehende allgemein) oder als internalisierte, introjizierte Instanz (Über-Ich). Dies jedoch wäre im Sinne einer Intervention durch einen Beobachter bereits ein Eingriff, der die Differenz erst herstellt, beziehungsweise ein Zutrag des symbolischen Registers.68 Das Beobachten des imaginären Registers aus sich selbst heraus ist nicht möglich, jede differenzierende Beobachtung imaginären Geschehens bedeutet zwingend, dass sie ein Drittes, den Beobachter, hinzufügt: die Identität ist unterbrochen, das symbolische Register wirksam. Außerhalb der psychoanalytischen Ausarbeitung des Komplexes Objekt-Introjektion kann die formale Identität zu einer eigenen imaginären Ontologie weitergedacht werden, um weitere Bestimmungen des Imaginären als erkenntnistheoretisches Register beizubringen. Liest man das psychoanalytische Imaginäre im Sinne von Franz Brentanos Vorstellungsakt, so zeigt sich als wesentliche Bestimmung desselben seine Identitätsfunktion. Während das Symbolische fortlaufend Repräsentationen und Semiosen herausbildet, und somit Relationen herstellt, ist das Imaginäre im strengen Sinne nicht relational. Eine Beziehung würde disparate Elemente voraussetzen. Solche sind in einer Identität, und sei diese innerhalb einer aristotelischen Form realisiert, nicht gegeben. Die oben entfalteten wechselvollen Geschicke von Termen wie Objekt oder Introjektion zeigen eine Unsicherheit oder Unschärfe, will man aktive und passive Positionen herausarbeiten. Auch die Frage von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Psychischem und Physischem führt im funktionalen Feld des Imaginären zu widersprüchlichen Aussagen. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass Begriffe wie Handlungssubjekt, erleidendes Objekt, Projektion und Introjektion im imaginären Register keine sinnvollen Differenzierungen ergeben. Das Grundprinzip der Identität meint hier tatsächliches In-eins-Fallen. Brentanos aristotelisch-scholastische Übernahme der formalen Identität als Funktionsweise der Vorstellung ist der Versuch, einen der Urteilsfunktion oder dem Symbolischen wesensdifferenten Erkenntnisprozess zu markieren.69 Wenngleich dieser Ansatz philosophisch 68 69

Oder, wie ich weiter unten mit George Spencer-Brown noch illustrieren werde: Es führt der Beobachter selbst eine Unterscheidung ein. Dass die Diskussion des Imaginären zu keinem eindeutigen Begriff führt, vielleicht sogar rational scheitert, greift die Schlüssigkeit meiner Argumentation nicht an. Das Imaginäre lässt sich prinzipiell nur anhand von Spuren oder in der Wiederkehr von Strukturen oder Mustern ausmachen. Als irreduzibler Bestandteil von umfassender Erkenntnis bricht es jedoch immer wieder in den symbolisch dominierten Diskurs der Neuzeit ein. Der Rückgriff Brentanos auf

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nicht in dieser Ausformulierung weiterverfolgt wurde, so zeitigte er doch Effekte, die schlussendlich im Begriff des Imaginären der Phänomenologie und im Anschluss daran in Jacques Lacans Trias eines Symbolischen, eines Imaginären und eines Realen nachgezeichnet werden können. Als besonders einflussreich dürfte in dieser Traditionslinie Jean-Paul Sartres Buch L’imaginaire aus dem Jahr 1940 gelten; einer systematischen Darstellung, in phänomenologischem Vokabular abgefasst.70

2) J e an -Paul S artre : D as noematische K orrel at der V orstellungskr af t Das Imaginäre ist für Sartre zunächst alles, was inhaltlich den mentalen Akten der Vorstellungskraft korreliert.71 Essenziell für eine Einordnung dieser Schrift in die vorliegende Diskussion sind zwei Setzungen: a) Das Imaginäre wird von Sartre eindeutig als Gegenbegriff zum Realen, zum Wirklichen verstanden. Dies ist nicht der Fall beim frühen Brentano, der so ausgelegt werden kann, dass die Vorstellung etwas ist, wodurch mir die Wirklichkeit erst und grundlegend zugänglich ist – eine Lesart, für die ich mich hier eingesetzt habe. Bei Brentano ergibt sich über den Begriff der Intentionalität eine funk-

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die Lehre Thomas von Aquin zeigt an, dass Figuren eines Registers des Imaginären aus einer Zeit herbeigeholt werden mussten, in welcher das Symbolische noch nicht so dominant war, wie dies im ausgehenden 19. Jahrhundert der Fall ist. Siehe: Sartre, Jean-Paul, (1940) Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Reinbek, 1971. Diesem Werk ging ein Aufsatz mit dem Titel »Die Imagination« voraus, der 1936 erschienen ist. (Sartre, Jean-Paul, (1936) »Die Imagination«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essys 19311939, Reinbek, 1982.) Dort diskutiert Sartre ihm bekannte Bild-Konzepte und arbeitet aus seiner Sicht problematische Philosopheme heraus. Eine Lösungsmöglichkeit verspricht er sich mit Husserls Ansätzen in den Ideen 1, woraus er einige bildrelevanten Begriffe vorstellt. Als das im Schlusskapitel in Aussicht gestellte Buch kann sicherlich Das Imaginäre gelten, das Husserls Ansätze aufnimmt. Ich habe mich entschieden, die Begriff lichkeiten Husserls auszuklammern, aus Gründen des hier darstellbaren Umfangs. Dies ist möglich, da Sartre eine in sich konsistente Terminologie benutzt. Sein System ist außerdem weitaus konziser und weicht mitunter von Husserls Ansichten ab. Indes können die aus dem Frühwerk Brentanos entnommenen und oben vorgestellten Begriffe als produktiver Zutrag in die Diskussion eingebracht werden. »Diese Untersuchung hat zum Ziel, die wichtige ›irrealisierende‹ Funktion des Bewußtseins, die ›Vostellungskraft‹ zu beschreiben und ihr noematisches Korrelat, das Imaginäre.« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 42.) Wie in der vorangehenden Fußnote angezeigt, vermeide ich im Text die Aufnahme spezifisch Husserl’scher Termini. Dies ist möglich, da bei Sartre in der Tat weite Passagen ohne diese auskommen. Von Interesse dürfte in diesem Zitat außerdem sein, dass der Ausdruck »das Imaginäre« im weiteren Verlauf des Buches kaum noch vorkommt. Sartre schreibt vor allem vom Bild; frz. image.

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tionale Gleichförmigkeit von Wahrnehmungsobjekten und geistigen Produkten. Bei Sartre sind Imagination/Vorstellung und Wahrnehmung unterschiedliche Arten und Weisen, sich intentional auf ein Objekt zu beziehen.72 b) Das Imaginäre umfasst bei Sartre alle mentalen Bilder wie auch reale Malereien, Zeichnungen und die Imitationen der darstellenden Künste. In diesem Aspekt nähert er sich Brentano wieder an, da innen und außen auch für ihn keine relevanten Kategorien darstellen, die die jeweiligen Objektrelationen klären könnten.73 Diesem zweiten Punkt soll zunächst nachgegangen werden. Auf Punkt a) werde ich weiter unten eingehen. Sartres Buch ist in vier Teile gegliedert: Das Gewisse. Das Wahrscheinliche. Die Rolle der Vorstellung im psychischen Leben. Das imaginäre Leben. Um Punkt b) geht es vor allem im zweiten Abschnitt des ersten Teiles mit der Überschrift Die Familie der Vorstellung. Sartres Absicht ist dort, »die Vorstellung als funktionales Verhalten« (61)74 zu entwickeln. Die Bezeichnung »funktionales Verhalten« rückt die Methodik in eine gewisse Nähe zur als empirisch titulierten Psychologie Brentanos: Die dahinterstehende Absicht ist in beiden Fällen, sowohl von einer reinen Introspektion als auch von logischen oder metaphysischen Konstanten ausgehenden Deduktionen, wie sie die Anfänge der Psychologie bestimmt haben, Abstand zu nehmen.75 Darüber hinaus verweist ein »funktionales Verhalten« auf die aktive Rolle der Psyche, die sich so von den Inhalten oder Objekten abgrenzen lässt – dem Bereich, der bei Brentano dem Physischen zugeordnet wird. Der funktionale Charakter der Vorstellung, wie er bei Brentano bereits deutlich wurde, soll nun mit Sartre weiter erörtert werden. Obwohl Sartres Absicht nicht darin besteht, materielle Bilder und innere Bilder ontologisch gleichzusetzen, sieht er eine funktionale Gleichförmigkeit

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Genau genommen gibt es für Sartre drei Ordnungen intentionaler Akte: »Wahrnehmen, Begreifen, Vorstellen, das sind in der Tat die drei Bewußtseinsformen, in denen ein gleiches Objekt uns gegeben sein kann.« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 48.) Es sei an die Trias erinnert, die Brentano aufgestellt hat: Vorstellung, Urteil, Liebe/Hass. Wie sofort deutlich wird, fehlt bei Brentano hier die Sonderung der Wahrnehmung als intentionaler Akt. Tatsächlich muss sie also im Vorstellungsakt begriffen werden. Zur Einordnung der frühen Essays Sartres, die hier herangezogen werden, vgl.: Brauner, Wolfgang, (2004) Das präref lexive Cogito. Sartres Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins im Vergleich mit Fichtes Selbstbewusstseinstheorie in den Jenaer Wisscnschaftslehren, München, 2007, S. 86-89. Die Rückgriffe Sartres auf Husserls Intentionalitätslehre, wie sie Brauner hier spezifiziert, ließen sich umstandslos auch auf Brentanos Intentionalitätslehre beziehen. Der Übersichtlichkeit halber werde ich im Folgenden deshalb die entsprechenden Diskurselemente und Figuren mit Brentano, dessen früher Standpunkt bereits dargelegt wurde, diskutieren und Husserls Standpunkt(e) unberücksichtigt lassen. Sartre, (1940) Imaginäre. Sartre besteht auf einem induktiven Vorgehen: Vgl. hierzu: Sartre, Jean-Paul, (1936) »Die Imagination«, in: ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, Reinbek bei Hamburg, 1982, S. 119, 132f, 161.

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in der mentalen Vergegenwärtigung einer abwesenden Person und der Interpretation eines Gemäldes, beispielsweise: »Ich will mir das Gesicht meines Freundes Peter in Erinnerung rufen. Mühsam stelle ich eine bestimmte Vorstellung von Peter her. [… D]as Ganze ist ziemlich vage, […] ich erhebe mich und hole eine Fotografie aus der Schublade. Es handelt sich um eine sehr gute Aufnahme von Peter, ich finde alle Einzelzüge seines Gesichtes wieder, sogar einige, die mir entfallen waren. Aber das Foto hat kein Leben […]. Zum Glück besitze ich eine Karrikatur, die ein geschickter Zeichner von ihm angefertigt hat […]: ich ›erkenne‹ Peter wieder.« (62f ) 76

Sartre sieht in diesem Beispiel »drei Stadien eines gleichen Prozesses, drei Momente eines einzigen Akts.« (63) Das Verbindende ist dabei das Ziel, die abwesende Person zu vergegenwärtigen. Das Objekt der Intention ist immer »dasselbe Objekt« (63), also weder die Karrikatur als solche noch das Papier als materieller Träger, sondern konkret Peter. »Die drei Fälle sind also streng parallel. Es sind drei in der Form gleiche Situationen, in denen aber die Materie variiert. Aus diesen Variationen der Materie ergeben sich natürliche Unterschiede, die wir beschreiben müssen und die sich ohne Zweifel auf die Struktur der Intention erstrecken. Aber ursprünglich haben wir es mit Intentionen derselben Klasse, desselben Typs zu tun, und mit funktional identischen Materien.« (64)

Sartres Argumentation stützt sich auf die Beobachtung, dass das Objekt einer Intention – also im Beispiel: Peter – identisch bleibt, unabhängig von der Art und Weise der intentionalen Beziehung, in welcher es erfasst ist. Im Sinne Sartres könnte man zusammenfassen, dass Peter sich nicht auflöst, wenn man aufhört an ihn zu denken oder aber ein Foto von ihm zerrissen wird. Sartres Ansatz folgt dem Brentanos, insoweit als es keine Verdoppelung des Objektes im Geiste gibt, also auch keine Repräsentation im Sinne eines vom materiellen Gegenstand unabhängigen Bildes. Ein solches wäre, um mit Sartres Worten zu sprechen, eine »Immanenz-Illusion« (64). Während Brentano mit der Intentionalität eine formale Identität, beziehungsweise eine Assimilation der Form des Objektes annimmt, spricht Sartre von »funktional identischen Materien« (64). Letztere erstrecken sich jedoch nicht auf alle wahrgenommenen Gegenstände, sondern nur auf die materiellen Bilder, die er den mentalen Bildern gleichsetzt. Wie oben erwähnt, gibt es für Sartre das Register der Wahrnehmung als ein völlig von dem der Vorstellung getrenntes intentionales Vermögen. Unter 76

Sartre, (1940) Imaginäre.

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Ausklammerung dieser abweichenden Kontextualität und in der Absicht, den Begriff des Imaginären weiter zu charakterisieren, kann das Konzept Brentanos nun präzisiert werden, indem die Vorstellungsinhalte in all ihren bildlichen Formen – also mental oder als Zeichnung, Foto etc.77 – funktional identischen Materien entsprechen. Das heißt dass der im Imaginären relevante Status Bild eine Achse darstellt, die durch mehrere Medien hindurch auf ein (formal) identisches Objekt ausgerichtet sein kann. (Im Konkreten bedeutet dies, dass der Inhalt einer Vorstellung von einer Zeichnung von einem Foto eines Baumes der Baum selbst ist.) Die Bestimmung des Bildes ist gekennzeichnet vom Charakter der formalen Identität. Daraus kann man ableiten, dass eine Abgrenzung eines konkreten Bildes zu einem Zeichen oder sprachlichen Element für die Begriffsbildung wiederum nicht so entscheidend ist wie gemeinhin angenommen wird: Die funktionalen Bestimmungen Identität (Imaginäres) beziehungsweise Relationalität (Symbolisches) sind eben keine Attribute der jeweiligen Entität Bild – das heißt der Zeichnung, der mentalen Vorstellung, des Fotos – sondern Formen unterschiedlicher Intentionalität. »Im Falle des Zeichens haben wir, wie in dem der image [Bild, Vorstellung], eine Intention, die sich auf ein Objekt richtet, eine Materie, die durch sie transformiert wird, ein anvisiertes Objekt, das nicht da ist. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als läge hier dieselbe Funktion vor.« (68)

Schriftzeichen wirken zunächst imaginär, um sehr schnell zu einer anderen intentionalen Wahrnehmungsweise zu führen.78 Diese ist synthetisch: Wie Brentano sieht auch Sartre im Urteil eine weitere intentionale Art und Weise, sich auf ein Objekt zu beziehen.79 Auf dieser Ebene sind externe Elemente wirksam, die auf komplexe Weise auf Weiteres verweisen, beispielsweise auf eine kulturelle »Übereinkunft« (68), aufgrund derer ein Objekt zum »sozialen Objekt« (68) mutiert, Bestimmungen, die das Urteil unmissverständlich in das Register des Symbolischen einordnen. Im Imaginären gilt indes die formale Identität. Sartre befindet: »Die Ähnlichkeit, von der wir sprechen ist also nicht eine Kraft, die darauf aus wäre, die Vorstellung [image mentale] von Peter hervorzurufen. Sondern es ist eine Tendenz, die das Porträt Peters hat, sich als Peter in Person zu geben. Das Porträt wirkt

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Sartre spricht von »Variationen« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 67) der Funktion Bild. Vgl. Sartre, (1940) Imaginäre, S. 67f. »Was das Zeichen angeht, so besteht Klarheit: das bedeutende Bewußtsein als solches ist nicht setzend. Wenn es sich mit einer Affirmation verbindet, so ist diese Affirmation ihm synthetisch zugefügt, und wir haben ein neues Bewußtsein: das Urteil.« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 70.)

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale auf uns – annähernd – wie Peter selbst und veranlaßt uns daher zu der Wahrnehmungssynthese: Peter, wie er leibt und lebt.« (69)

Dieses imaginäre Erscheinen Peters ist für Sartre eine »irrationale und schwer zu formulierende Synthese« (71). Die Beziehung zwischen einem Portrait und der dargestellten Person ist »magisch« (71) und die Verbindung erzeugt eine »Emanation« (71). Nach einem Hinweis auf Praktiken der schwarzen Magie, die sich dieses Phänomens bedient, befindet Sartre, dass es sich bei weitem nicht um eine anachronistische Einstellung handelt: »Die Struktur des Bildes ist bei uns irrational geblieben, und wir haben uns hier wie fast überall darauf beschränkt, rationale Konstruktionen auf vorlogischen Schichten zu errichten.« (71f) Diese vorlogischen Funktionen sind die Charakteristika des Imaginären selbst. Ein Umstand, der nicht daraus resultiert, dass bislang die Logik des Imaginären noch nicht hinreichend erforscht worden wäre, sondern: die vorlogische oder irrationale Struktur ist wesentliche Bestimmung des Imaginären. Im Terminus eines Vor-Logischen schwingt eine Klarstellung des Bezugs der Vorstellung zum Urteilsregister mit: Mit Brentano kann angenommen werden, dass jedem Urteil eine Vorstellung zugrunde liegen muss. Dass Sartre im intentionalen imaginären Akt keine inhärenten synthetischen Funktionen ausmachen kann80 und diese dem Urteilsakt, also dem Symbolischen, vorbehält, verwundert nicht, wenn man sich die Konzeption Brentanos vor Augen hält. Ich habe oben herausgearbeitet, dass die formale Identität der Vorstellung die Einheit mit dem inexistenten Objekt bedeutet. Sartres Formulierung einer magischen Emanation weist in die gleiche Richtung. Es zeigt sich, dass die – mithin naturwissenschaftlichen – Konzepte von Synthese, Logik und Relationalität im Feld des Bildes nicht gelten. Sartre schreibt: »Das Original hat den ontologischen Vorrang. Aber es inkarniert sich, es steigt ins Bild ab.« (71) Die Inkarnation, Verkörperung, Inkorporation, Introjektion des Objektes ist, verstanden als intentionaler Akt der Vorstellung, ontologisch unscharf, so mein Vorschlag einer Zusammenfassung, die von Sartres Ausarbeitung abweicht. Denn die Rede von einem Original ist bei Sartre der Konzeption eines dem Vorstellungsbewusstsein entgegengesetzten Wahrnehmungsbewusstseins geschuldet, eine Eigenheit, die den anderen hier vorgestellten Konzeptionen abgeht. Das Bild, das funktional unterschiedslos ein image mental oder ein Tafelgemälde sein kann, so auch Sartres Darstellung, entzieht sich der funktionalen Binnendifferenzierung, da es tatsächliche Identität auf der Basis intentionaler Inexistenz ist.

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Die Synthese ist »schwer zu formulieren[]« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 71) und bestenfalls in einem sekundären, ref lektierenden Akt zugänglich: »Wir denken im unref lektierten Bewußtsein nicht daran, daß ein Maler dieses Proträt geschaffen hat usw.« (71)

Teil 2: Das Imaginäre »Für dieses [das sekundäre und urteilende, F.W.] ref lexive Bewußtsein sind Peter und das Gemälde zwei, zwei verschiedene Objekte. Im vorstellenden Bewußtsein ist dieses Gemälde jedoch nur eine Art für Peter, mir abwesend zu erscheinen. Das Gemälde gibt also Peter, obgleich er nicht da ist.« (72)

Das Bild selbst wird hier als Agens beschrieben, in dem Sinne, als es Peter (aktiv) gibt. Andererseits verweist Sartre auf den Part des Bewusstseins, »in irgendeiner Weise das Foto zu beleben, ihm sein Leben zu verleihen, um ein Bild daraus zu machen.« (73)81 Diese Unschärfe bei der Festlegung eines Handlungsagenten ist erneut ein Hinweis darauf, dass Aktivität und Passivität im Register des Imaginären inadäquate Differenzierungen sind.82 Auch für die Inhalte des imaginären intentionalen Aktes kann gelten, dass sie nicht als Reihung – wie sie Cassirer für das Symbolische zugrundegelegt –, ja noch nicht einmal als disparate Elemente erscheinen. Deshalb kann Sartre sagen: »[E]s gibt keine imaginäre Welt. [...] Wir detaillieren diese Welt als Vorstellung nicht, wir vergegenwärtigen uns keine Einzelheiten, wir ziehen nicht einmal in Betracht, es zu tun. In diesem Sinne bleiben die Vorstellungen voneinander isoliert, durch ihre wesensmäßige Kargheit getrennt, dem Phänomen der Quasi-Beobachtung unterworfen, im Leeren; sie unterhalten untereinander nur die Beziehungen, die das Bewußtsein in jedem Augenblick begreifen kann, indem es sie konstituiert.« (265f )

Im Imaginären erscheint das Objekt völlig beziehungslos. Es umfasst stets alle Attribute, die es konstituieren, nicht mehr und nicht weniger.83 Imaginäre Objekte unterhalten keine erfassbaren Beziehungen untereinander. Ein eindringendes Erforschen des imaginären Objektes ist nicht möglich, denn es fällt in Eins mit dem es erfassenden Bewusstsein:

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Sartre verweist auf die Spontaneität eines nicht-thetischen Bewusstseins. Vgl. Sartre, (1940) Imaginäre, S. 73. Im Sinne Sartres Husserl-Interpretation gibt das Bild Peter als Noema und das Bewusstsein, das dieses Bild belebt, wäre auf der noetischen Seite des Vorgangs zu verorten. Tatsächlich bietet die Phänomenologie Husserls Binnendifferenzierungen des intentionalen Aktes an. Doch Aktivität und Passivität, Innen und Außen sind in diesem Konzept, das von opponenten Polen ausgeht, gerade nicht gemeint. Die enorme Konkretion, die Sartre am Husserl’schen Werk vollzieht, verdeutlicht diese Problematik: Phänomenologische Begriffe korrelieren nur schlecht mit konventionellen. »Daraus folgt notwendigerweise, daß das Objekt als Vorstellung nie mehr ist als das Bewußtsein, das man davon hat.« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 59) In meiner Lesart soll dies unterschiedslos für objets méntales und alle Arten von Bildern gelten, da ich eine Konstruktion ohne Sartres Wahrnehmungsbewusstsein favorisiere.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »Das Objekt als Vorstellung ist also gleichzeitig mit dem Bewußtsein, das ich von ihm fasse, und es ist durch dieses Bewußtsein exakt bestimmt: es enthält nichts anderes in sich, als das, wovon ich Bewußtsein habe; umgekehrt aber findet alles, wodurch mein Bewußtsein konstituiert wird, sein Korrelat im Objekt. […] Es gibt nicht einen Augenblick der Überraschung […].« (53)

Das Imaginäre schafft gleichsam seine eigenen Möglichkeitsformen. Hierin ähnelt Sartres Figur des Imaginären sowohl der Thom’schen Wahrnehmungslehre – »Jeder Wahrnehmungssinn ist von Natur aus dazu disponiert, die ihm zugeordnete Form aufzunehmen.« (39)84 – als auch der Uexküll’schen Umwelttheorie – »In der Welt des Regenwurms gibt es nur Regenwurmdinge, in der Welt der Libelle gibt es nur Libellendinge usw.« (45)85. Während die Annährungen dieser Theoretiker an das Phänomen einer imaginären Gegenbenheit von Welt deduktiv sind, findet sich ein vielleicht induktives, sicher jedoch phänomenologisches Korrelat bei Sartre, wenn dieser das imaginäre Bewusstsein eines Objektes und das Objekt selbst zugleich erscheinen und aus sich selbst heraus (er-)schöpfen lässt. Sprechen wir dem Regenwurm ein Bewusstsein zu, so ist Sartres Perspektive die dieses regenwurmigen Bewusstseins. So gesehen gibt es ein individuelles, mindestens jedoch gattungsspezifisches Imaginäres. Inwiefern hier auch eine ontologische Dimension angesprochen wird, kann ein scholastisches Konzept illustrieren: »Die Existenzweise, die ein Engel oder eine andere Entität an sich hat, hängt nur von dieser Entität ab. Jene Existenzweise hingegen, die eine Entität in einer kognitiven Relation hat, hängt von dem ab, was diese Relation herstellt und die Entität aufnimmt. Thomas geht nämlich stets von der These aus, dass sich das Aufgenommene nach dem Aufnehmenden richtet. Wird beispielsweise eine Rose kognitiv von einem Engel aufgenommen, richtet sich ihre Existenzart in der kognitiven Relation nach dem Engel. Wird sie von einem Menschen kognitiv aufgenommen, richtet sich ihre Existenzart nach dem Menschen. […] Wird eine Rose von einem Engel erkannt, d.h. kognitiv aufgenommen, hat sie aufgrund der rein immateriellen Existenzweise des Engels eine immaterielle geistige Existenz. Wird eine Rose hingegen von einem Menschen wahrgenommen, so kann sie aufgrund der materiellen Existenzweise des Menschen (genauer: der Wahrnehmungsorgane eines Menschen) keine rein immaterielle geistige Existenz haben. Sie hat dann eine geistige Existenz in etwas Materiellem.« (47f ) 86

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Perler, (2002) Intentionalität. Uexküll, (1909) Umwelt. Perler, (2002) Intentionalität.

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Auf unsere Terminologie gebracht hieße dies: (Imaginäre) Objekte erscheinen immer (in) einem Bewusstsein, sind diesem in-existent. Dieses Bewusstsein bestimmt die intentionale Existenzweise des Objektes. Beim Menschen, so Thomas von Aquin, gibt es beispielsweise eine materielle Komponente. Aus dieser ontologischen Perspektive bekommt Uexkülls Diktum, in der Libellenwelt gäbe es nur Libellendinge, eine Tragweite, die nichts anderes sagt, als dass der intentionale Organismus die Existenzweise der jeweiligen Gegengefüge bestimmt. Wir leben also nicht nur nicht in der gleichen Welt wie die Eichhörnchen, auch die ontologische Beschaffenheit der anderen Welten ist möglicherweise eine andere. So spekulativ und überflüssig die vorgeführte Bewegung, das Imaginäre in verschiedenen Kontexten an die Grenzen seiner Denkbarkeit zu bringen, erscheinen mag, so hilfreich ist es, daraus zu lernen, dass das Imaginäre keinen homogenen Raum – wie das Symbolische – voraussetzt. Figuren des Imaginären lassen sich auf der biochemischen Ebene einer Amöbe genauso wie im Begriff des Signifikats oder der Introjektion nachzeichnen.87 Bildlich gesprochen bedarf es immer eines optischen Apparates, um das Imaginäre in den Blick zu bekommen. Die Extrapolation einer Umwelt aus den biologischen Prozessen des jeweiligen Organismus, wie sie von Uexküll vorgeschlagen wird, kann so verstanden werden. Auch die Existenz von Signifikaten zeigt sich erst aus einem ganz bestimmten, beispielsweise strukturalistischen Blickwinkel heraus, wie mit Lévi-Strauss deutlich wurde. Schlussendlich ist es Sartre – im Anschluss an Husserl –, der die subjektive Sicht des Imaginären phänomenologisch erhellt und ein introspektiv motiviertes Register errichtet. Deshalb war es mir ein Anliegen, wesentliche Bestimmungen seines Imaginären zu präsentieren – wie eingangs erwähnt, zunächst unter Vernachlässigung des Umstands, dass er dieses Register anders fasst als Lacan in seiner Trias. Diesen Punkt gilt es nun zu erhellen. Zu Punkt a): In einem klassischen Sinne verbindet Sartre den Akt der Wahrnehmung mit dem Konzept einer Realität oder Wirklichkeit. Die intentionale Trias bei Sartre lautet: »Wahrnehmen, Begreifen, Vorstellen, das sind in der Tat die drei Bewußtseinsformen, in denen ein gleiches Objekt uns gegeben sein kann.« (48)88 Während vom Begreifen gesagt werden kann, dass es dem Urteilen Brentanos nicht unähnlich sein dürfte, weicht Sartres Konzept ab, wenn er einen Wahrnehmungsakt sondert. »Wir könnten dann mit Husserl sagen, daß die Wahrnehmung der Akt ist, durch den das Bewußtsein sich in Präsenz eines raum-zeitlichen Objekts setzt.« (200) Diese Bezugnahme Husserls auf etwas Gegenwärtiges und Äußerliches kann in gewisser Hinsicht als 87

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All diese theoretischen Figuren sind Erklärungen. Dieser Begriff wird im dritten Teil bei Émile Meyerson eine große Rolle spielen. Erklärungen sind dort, wie die Kausalität, Erkenntnisformen, die auf Identität aufsetzen. Sartre, (1940) Imaginäre.

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erkenntnistheoretischer Rückschritt verstanden werden. Brentanos Interesse galt der einheitlichen Fassung eines psychologischen Feldes als Grundlage einer Wissenschaft der Psyche. Deshalb hat er die Wahrnehmung, die im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit physiologischen und neurologischen Forschungen sehr kontrovers diskutiert wurde, als eigenständigen psychischen Vorgang unbestimmt gelassen. Sartre muss sich an diese methodologischen Vorgaben einer Psychologie vom empirischen Standpunkt nicht halten, vielmehr ist die deskriptive Psychologie Brentanos seither in vielen Facetten zu einer phänomenologischen Philosophie weiterentwickelt worden, nicht zuletzt von Husserl, dessen Version Sartre adaptiert. All diesen Ansätzen ist der Begriff der Intentionalität gemeinsam. Brentanos aristotelisch-scholastischer Rahmen jedoch ist dem Diskurs weitgehend verloren gegangen. Meiner Ansicht nach ist dieser jedoch besonders geeignet, ein, dem Symbolischen tatsächlich funktionell differentes, imaginäres Register zu bestimmen. Sartres Analysen des Bildes ergänzen die Brentano’sche Grundkonzeption der Vorstellung um Phänomene der imaginären Objektbeziehung. In der Traditionslinie von Brentano, Husserl und Sartre erschließt sich allerdings das Imaginäre der Lacan’schen Trias nur unzureichend. Insbesondere der epistemologisch relevante Umstand, dass das Reale Lacans nicht das Reale Sartres wiedergibt, sondern vielmehr eine scharfe Gegenposition dazu aufstellt, lässt eine implizite Traditionslinie von Brentano über Freud vermuten. Bei Lacan konkurriert das Reale nicht mit dem Imaginären. Weltbezug wird bei Lacan (wie auch schon bei Cassirer) hauptsächlich durch das Symbolische gestiftet.89 Bei Sartre steht das Imaginäre im Konkurrenzverhältnis zum Realen.90 Das Reale verbindet er mit der Wahrnehmung. Bei Brentano ist allen psychischen Akten die Vorstellung Voraussetzung, auch wenn hier Wahrnehmungsdaten involviert sind. Der Begriff des Imaginären ist folglich nicht konsistent durchzuhalten. Nichtsdestotrotz liefert Sartres reiche Ausarbeitung des Imaginären sinnvolle Anregungen, das Imaginäre Brentanos auf den Bereich der bildlichen Darstellung – Fotografie, Malerei, Imitation – auszuweiten. Das intentionale Objekt durchzieht all diese Artefakte, da die charakteristische Funktionalität des Imaginären, die formale Identität, durchgehalten werden kann. Der assimilierende Vorgang der Vorstellung liefert in diesem Sinne eine 89 90

Entsprechend der ethno-soziologischen Konzeption Lévi-Strauss’, wie im ersten Teil beschreiben. »Proust hat diese Kluft gezeigt, die das Imaginäre vom Realen trennt, er hat deutlich gemacht, daß man keinen Übergang vom einen zum anderen finden kann und daß das Reale immer vom Zusammenbruch des Imaginären begleitet wird, selbst wenn es keinen Widerspruch zwischen ihnen gibt, weil die Unvereinbarkeit von ihrem Wesen und nicht von ihrem Inhalt her kommt.« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 235) Es gilt: »[D]as Reale und das Imaginäre können von ihrem Wesen her nicht koexistieren.« (236)

Teil 2: Das Imaginäre

Erklärung dafür, warum die Kaskadierung von Medien auf der Ebene des Imaginären keine Rolle spielt. Inwiefern lassen sich darauf auf bauend Bestimmungen des Imaginären erweitern oder eingrenzen? Rekurrierend auf Cassirer und dessen Uexküll-Interpretation, könnte das Imaginäre immer noch als Produkt eines gattungsspezifischen Filters einer an sich unerkennbaren Realität verstanden werden. Diese Lesart des Imaginären scheint mir jedoch nicht konsequent genug ein spezifisches Register auszuweisen. Sie überstiege kaum eine kritische Ästhetik im Kant’schen Sinne mit all ihren Bezüge ins Symbolische. Erst im Begriff der Intentionalität der Vorstellung findet sich eine spezifische Funktion wieder, die beschreibt, wie Dinge erscheinen, ohne sich in den Netzen einer psychophysiologischen Wahrnehmungstheorie zu verfangen. Der funktionale Ansatz lässt vielmehr biologische, neurologische und mechanistische Konzepte als sinnhaft erklärende Modellierungen, als Modelle sichtbar werden, die nicht für die Funktion oder gar als eine Beschreibung von Entitäten selbst genommen werden müssen. Zugleich liefert manches Bild, wie das der Uexküll’schen Amöbe, eine hervorragende Funktionsbeschreibung des intentionalen Aktes: Die gattungsspezifische Beschaffenheit des Ektoplasmas reagiert direkt mit ihrem (Fress- oder Feindes-)Objekt. In diesem biochemischen Prozess gibt es keine Wesensunterschiede zwischen inneren und äußeren Elementen. Trotzdem lässt sich eine Struktur darin ausmachen, die zu bestimmten Aktivitäten führt, deren Zahl begrenzt ist. Hierin, in dieser Einschränkung, ist der kategoriale Unterschied zum Symbolischen auszumachen. Die symbolische Ordnung ist gekennzeichnet von einer prinzipiell freien Kombinatorik ihrer Elemente. Diese ist zwar auch regelhaft, aber die Regel selbst ist beispielsweise iterativen oder regulativen Prozessen unterworfen. Symbolisches wie Imaginäres durchkreuzen also beide die konventionellen Register von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, jedoch auf unterschiedliche Weise: das Symbolische mittels Kompossibilität aller seiner Elemente, das Imaginäre mittels Identität des intentionalen Aktes. Das Symbolische ist das Gesamt der Beziehungsmöglichkeiten. Das Imaginäre besteht aus je singulären Akten. Wie treten diese beiden Register nun in Relation zueinander oder wie verbinden sie sich? In Anschluss an Lévi-Strauss sieht Lacan diese Relation im Verhältnis Signifikant – Signifikat beschrieben. Er folgt einerseits der geläufigen sprachwissenschaftlichen Verwendung dieser Begriffe, im Bedeutungsgehalt jedoch den soziologischen Konzepten des Ethnologen. Das soziologische Konzept enthält jedoch noch nicht die Bestimmung des Imaginären als eigenes epistemologisches Register. Das Vorsymbolische ist bei Lévi-Strauss unterbestimmt und begnügt sich mit einem Hinweis auf einen auch nicht näher ausgearbeiteten Na-

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turalismus.91 Als Konsequenz des Strukturgedankens gibt es bei Lévi-Strauss außerdem kein Reales. Die Neuordnung der bekannten Termini Reales, Imaginäres, Symbolisches vollzieht Lacan in einer Synthese, deren Elementen ich oben versucht habe, Gestalt zu verleihen. Das heißt – vom Realen im Sinne Lacans war noch kaum die Rede.

3) J acques L acan : D er R egister dreien Der Psychoanalytiker Lacan hält es für unmöglich, eine reflektierbare Erfahrung des Realen zu machen. »[D]as Reale oder das, was als solches wahrgenommen wird, ist das, was der Symbolisierung absolut widersteht.« (89)92 Bestenfalls im vorsprachlichen Zustand des Kleinkindes könnte eine solche Dimension als basale Erfahrung angenommen werden. »Doch dieses primitive Reale ist für uns buchstäblich unaussprechlich.« (114f) Allerdings, für ein Reales im Sinne eines bestimmungsbildenden Charakteristikums reicht dies nicht: »Sie können, nach Ihrem Belieben, das imaginär machen, was real ist […]« (105). In einem beispielgebenden klinischen Fall geht Lacan davon aus, dass für das Kind »Reales und Imaginäres äquivalent« (112) sind. Imaginäres und Reales, so kann man schließen, scheiden sich erst mit dem Auftreten eines Beobachters: sei es eines forschenden Subjekts oder einer psychischen Instanz93. Sartre dagegen bestimmt das Reale unter anderem als jene Alltagserfahrung, dass etwas unseren Begriff eines Objektes übersteigt ober überfließt. »[E]s gibt immer und in jedem Augenblick mehr, als wir sehen können; um den Reichtum meiner augenblicklichen Wahrnehmung auszuschöpfen, wäre 91

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Laut Lévi-Strauss steht am Anfang jeder Untersuchung der Naturalismus, von dem sich das strukturalistische Denken in Folge aber abheben muss. »Wenn es also legitim und in gewisser Weise unvermeidbar ist, auf die naturalistische Interpretation zurückzugreifen bei dem Versuch, das Auftauchen des Symboldenkens zu verstehen, muß die Erklärung, wenn jenes einmal gegeben ist, ihre Natur so radikal ändern, daß das neu erschienene Phänomen sich von denen unterscheidet, die ihm vorhergegangen sind und es vorbereitet haben. [...]« (Lévi-Strauss, (1958) Anthropologie 1, S. 67) Es ist Lévi-Strauss anzurechnen, dass er diese fundamentale Problematik des Strukturalismus nicht vertuscht, sondern mit einem pragmatischen Lösungsansatz wirbt. Lévi-Strauss war sich des eingeschränkten Geltungshorizontes strukturalister Aussagen stets bewusst. Lacan, (1953-1954) Seminar I. Gemeint ist das Über-Ich und in der Theorie von Lacan das Erschließen der symbolischen Ordnung. Etwas, was das Kind in dem von Lacan zitierten Fall nicht ausgebildet hat. »Das Kind symbolisiert die Realität, die es umgibt, von diesem Kern, von dieser kleinen pochenden Zelle der Symbolik her […] [Diese Symbolisierungen, F.W.] determinieren eine Ausgangsposition, von der aus das Subjekt Imaginäres und Reales spielen lassen und seine Entwicklung meistern kann.« (Lacan, (1953-1954) Seminar XI)

Teil 2: Das Imaginäre

eine unendliche Zeit erforderlich. Man täusche sich nicht: diese Art des Überfließens ist konstitutiv für die Natur der Objekte selbst.« (51)94 In dieser Bestimmung zeigt sich Sartre dem Lacan’schen Begriff näher als in dem oben bereits zitierten Aufrufen einer raum-zeitlichen Charakteristik im Anschluss an Husserl.95 Lacan rückt das Reale sehr deutlich ab von jeder wahrnehmbaren Wirklichkeit im, dem Ich äußerlichen, Euklidischen Raum, wie sie in unserer Kultur als selbstverständlich gesetzt ist.96 Der Aspekt raum-zeitlicher Orientierung wird von ihm dem Symbolischen zugeschlagen.97 Lacan drückt mit dieser Figur die erkenntnistheoretische Setzung aus, dass die Gegebenheit von Welt zutiefst kulturell strukturiert ist. Mit anderen Worten: dass wir von einem objektiven Außen sprechen und uns darüber mitteilen können, ist nur insofern universell menschlich, als dass der Mensch Kultur überhaupt schafft.98 Der anzunehmende Anteil kontingenter Elemente in jeder Kultur 99 wiederum schließt aus, dass unser naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild Anspruch 94 95

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Sartre, (1940) Imaginäre. Vgl. Sartre, (1940) Imaginäre, S. 200: »Wir könnten dann mit Husserl sagen, daß die Wahrnehmung der Akt ist, durch den das Bewußtsein sich in Präsenz eines raum-zeitlichen Objekts setzt.« Gemeint ist hiermit das Alltagsverständnis eines dreidimensionalen ContainerRaums, das von der vor-Einstein’schen Physik weitgehend gestützt wurde. Vgl. zu den verschiedenen Aspekten des Raumbegriffs: Ott, Michaela, (2010) »Raum – ein heterogenisierender Relationsbegriff«, in: Barck, Karleinz (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Band 5, Stuttgart, 2010, S. 113-149. Im Zwei-Spiegel-Schema (Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 179) ergibt sich das räumliche – im Fachterminus das virtuelle – Bild aus der Ref lektion des Planarspiegels, der für das symbolische Register steht. (Denn er repräsentiert den sekundären, symbolischen Narzissmus. Der Parabolspiegel erzeugt ein reales Bild, gemäß der imaginären Identifikation. Er situiert das Subjekt im Körper, bindet es an die Inervationen an.) Erst die räumliche Dimension lässt das Subjekt als unter seinesgleichen erscheinen. Vgl. auch Lacan, Jacques, (1964) Das Seminar, Buch XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin, 1987, S. 99f. Hier zeigt Lacan, dass perspektivisches Erfassen des Raumes wesentlich geometral und demnach logisch ist. Lacan entspricht hiermit Emile Durkheim, der einem universellen Raumbegriff widerspricht und kulturspezifische Raumunterscheidungen aufweist, »die als ›valeurs affectives differentes […] d’origine sociale‹ den Zusammenhalt einer Zivilisation garantieren. Raum gehört für Durkheim mithin zu den ›représentations essentiellement collectives‹ und gibt, als von religiösen, moralischen und ökonomischen Instiutionen abhängig, über den Zustand eines Kollektivs Aufschluß.« (Ott, (2010) Raum, S. 136. Die Binnenzitate sind ausgewiesen als: Durkheim, Emil, Les Formes élémentaires de la vie religieuse, Paris, 1912, S. 16 und 22) Zum Einf luss Durkheims auf die frühe Theorie Lacans vgl.: Zafiropoulos, Markos, (2001) Lacan et les sciences sociales. Le déclin du père (1938-1953), Paris, 2001. So hat Lévi-Strauss die Kontingenz kultureller Elemente gegenüber einer anthropologisch deduzierbaren Kausalität herausgearbeitet. Es war wohl ein Verdienst seiner Generation, die unüberschaubare Vielfalt menschlicher Organisationsformen als positiven Bestand erstmals anzunehmen und anzuerkennen.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

auf Allgemeingültigkeit erheben könnte. Lacan erweist sich in diesem Punkt, im Vergleich zu Sartre, als Skeptiker. Immerhin ist die Ordnung des Symbolischen durchaus positiv bestimmbar und diese Bestimmungen übernimmt Lacan aus der Diskurslinie Cassirer - Lévi-Strauss. Aus der Denktradition Bergsons wiederum stammt die inhärente Kritik an der Überbetonung dieses Registers,100 so dass deutlich wird, warum Lacan das Symbolische zunächst als wichtigstes Register ausweist, im gleichen Zuge jedoch gleich zwei weitere dazu reicht. Aus den bisherigen Darstellungen geht hervor, dass sich das Reale Sartres nicht vollständig in ein symbolisches Register im Sinne Lacans überführen lässt. (Das Lacan’sche Reale weicht ebenfalls konzeptionell ab, wurde aber bislang noch nicht ausführlich entwickelt.) Bei genauer Betrachtung wird das, was bei Sartre Reales heißt und was dem intuitiven Begriff von Wirklichkeit entspricht, auf alle drei Register herunterzubrechen sein, indem seine verschiedenen Bestimmungen aufgelöst und neu zugewiesen werden.101 Im Symbolischen gehen die raum-zeitlichen Charakteristika auf, wie auch alle logischen Dichotomien, wie Substanz-Akzidenz und Subjekt-Objekt. Im Imaginären versammeln sich die Phänomene der Vorstellung – im Sinne Brentanos – inklusive des unscharfen Erfahrungsbereichs der Täuschungen, Halluzinationen und Identifizierungen; mithin alles, was Inhalt eines psychischen Aktes werden kann, jedoch noch vor einem Urteil oder Affekt diesem Inhalt gegenüber. Im Realen findet sich wieder, was Sartre anspricht, wenn er die unauslotbare Tiefe der Wahrnehmungserfahrung schildert. Eine Figur, die sich auch bei Maurice Merleau-Ponty wiederfindet: und zwar weniger in einer sozialen existenziellen Erfahrung, sondern in einer Konfrontation mit den Dingen als solchen.

100 Die zerstörerische und unterdrückende Kraft des Symbolischen, beispielsweise

im Befehl zu vernichten, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls relevant. Vgl. Chaitin, Gilbert D., (1996) Rhetoric and culture in Lacan, Cambridge, 1996, S. 112. 101 Sartres Organisation der beiden intentionalen Bezugnahmen auf Objekte als real oder imaginär ist indes nicht weniger differenziert ausgearbeitet und reich an plausiblen Schlüssen. Beispielsweise schreibt er: »Jedes Imaginäre erscheint ›auf Welthintergrund‹, aber umgekehrt impliziert jedes Erfassen des Realen als Welt eine verborgene Überschreitung auf das Imaginäre hin. Jedes vorstellende Bewußtsein behält die Welt als genichteten Hintergrund des Imaginären bei und umgekehrt provoziert und motiviert jedes Bewußtsein der Welt ein vorstellendes Bewußtsein als Erfassen des besonderen Sinns der Situation.« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 291)

Teil 2: Das Imaginäre

E xkurs: Maurice Merleau-Ponty: Das Ding vor dem Menschen In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung 102 widmet sich Maurice MerleauPonty auch den Dingen oder dem Ding im philosophischen Sinne. Im Kapitel »Das Ding oder das Reale« geht er auf das Ding ein, »jenseits der anthropologischen Prädikate, da ich zur Welt bin« (372)103. In den vorangehenden Seiten habe ich ausschließlich theoretische Figuren angeführt, die ein Ding-an-sich explizit nicht diskutieren. Mit Merleau-Ponty will ich nun ein Konzept vorstellen, das das Ding als Erkenntnisgegenstand reetabliert. Dabei ist interessant, auf welche Art und Weise dieses Konzept als phänomenologisches Register des Realen Einzug in den post-kantianischen Diskurs hält, welcher jede unmittelbare Erkenntnismöglichkeit von Dingen entschieden ausgeschlossen hat. Diesem Vorhaben folgt Merleau-Ponty zunächst, wenn er schreibt: »Nie ist das Ding von einem es Wahrnehmenden zu trennen, nie kann es wirklich ganz an sich sein, denn all seine Artikulationen sind eben die unserer eigenen Existenz; es ist gesetzt als Ziel unseres Blickes und unserer sinnlichen Erforschung seiner, worin wir es mit Menschlichem bekleiden.« (370)

Die Modifikation, die die klassische Wahrnehmungsphilosophie erfährt, resultiert aus einer besonderen Wechselseitigkeit im Verhältnis zwischen menschlichem Leib und Umwelt. Etwas Fremdes kommuniziert in der Dingwahrnehmung mit dem eigenen Leib. »[Diese] der leiblichen Prüfung zugängliche Struktur« (370) entspricht einem »Partner in einem Gespräch« (370). »Insofern ist jede Wahrnehmung Kommunikation oder Kommunion, Aufnahme und Vollendung einer fremden Intention in uns, oder umgekehrt äußere Vollendung unserer Wahrnehmungsvermögen, und also gleich einer Paarung unseres Leibes mit den Dingen.« (370)

Die Annahme einer »fremden Intention« bedeutet hier nicht, dass das Ding eine Intention hätte, deren Inhalt wir wären. Es handelt sich, so schreibt Merleau-Ponty explizit, um eine fremde Intention in uns. Einerseits bestimmt der Mensch das Wesen des Dinges in dem Sinne, dass »im Äußeren ein Inneres« (370) offenbart wird, »eine Bedeutung, die in die Welt herabsteigt und in ihr zu existieren beginnt« (370), andererseits gilt, dass wir sie nicht »verstehen können, ohne sie mit dem Blick an ihrem Orte aufzusuchen.« (370) Oder wie Lacan es kryptisieren wird: »Alles, was real ist, ist immer und obligatorisch 102 Merleau-Ponty, Maurice, (1945) Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966. 103 Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

auf seinem Platz, selbst wenn man es aus seiner Bahn wirft. Das Reale hat die Eigenschaft, daß es seinen Platz an der Sohle seiner Schuhe mitführt.« (43)104 Das Konzept von Intentionalität als assimilatorische Aufnahme einer Form beibehaltend, kann in der »fremden« Intention eine deskriptive Lösung für das ungelöste Problem in Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt gefunden werden, zwischen fiktiven Bildern und Wahrnehmungsbildern zu unterscheiden. Die fiktiven Vorstellungsinhalte entfalten nicht die Art von Kommunikation, wie sie Merleau-Ponty den Wahrnehmungsinhalten zuspricht: »Unsere Sinne befragen die Dinge und diese antworten ihnen.« (369)105 So existiert das Ding nicht als »nur für den Verstand vorhanden, sondern unmittelbar [als, F.W.] eine der leiblichen Prüfung zugänglichen Struktur« (370). Diese Kontrastierung von Imaginärem und Realem schreibt Merleau-Ponty auf den ersten Blick direkt in die Denktradition Sartres ein, zeigt aber bei genauer Betrachtung essenzielle Verschiebungen, die als Grundlage für die Lacan’sche Trias gelten müssen.106 Man kann Merleau-Pontys Standpunkt als Brücke zwischen den sonst unversöhnlichen Positionen Sartres und Lacan bezüglich des Realen betrachten. Dies ist umso plausibler, als die fundamentalen Charakteristika des Imaginären – wenngleich nicht deren epistemologische Funktion107 – bei allen drei Autoren übereinstimmen: Bei Sartre ist das Imaginäre wesentlich »arm« (51)108. Das »Vorstellungsobjekt ist nie mehr als das Bewußtsein, das man von ihm hat« (51), denn »im Akt selbst, der mir das Objekt als Vorstellung gibt, ist die Kenntnis, was es ist, enthalten. Kein Risiko, kein Warten: eine Gewissheit. Meine Wahrnehmung kann mich täuschen, nicht aber meine Vorstellung.« (52) Für den Spezialfall der irrealen Objekte stellt Sartre deren ambivalentes und flüchtiges Wesen fest. Sie sind mit Angst behaftet, zweideutig und nie unbeschwert. Irreale Objekte, wie ein Kentaur mögen als Sonderfall gelten, es liegt jedoch nahe, solche Eigenschaften für alle Objekte der Imagination gelten

104 Lacan, Jacques, (1956-1957) Das Seminar, Buch 1V. Die Objektbeziehung. 1956-

1957, Wien, 2007.

105 Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie. 106 Insbesondere der widerständige Charakter des Realen jenseits der Menschen-

dinge ist hier anzuführen. »Das Reale bietet sich endloser Erforschung dar, es ist unerschöpf lich. Daher erscheinen uns menschliche Gegenstände, Werkzeuge etwa, als gleichsam der Welt aufgesetzt, indessen die Dinge verwurzelt sind in einem Grunde unmenschlicher Natur.« (Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie, S. 374) 107 Sartres Imaginäres opponiert dem Realen, in dem Sinne, dass es zusammenbricht, sobald das reale Objekt erscheint, während Lacans Imaginäres sich, so die psychoanalytische Erfahrung, regelmäßig mit dem Wahrnehmungsobjekt überlagert, also eine Übertragung produziert. Gleichbedeutend befindet sich das Reale auch bei Merleau-Ponty zum weltlichen Register koexistent. Vgl. auch die vorangegangene Fußnote. 108 Sartre, (1940) Imaginäre.

Teil 2: Das Imaginäre

zu lassen,109 womit man sich einer psychoanalytischen Position angenähert hätte. »In ihnen [den irrealen Objekten, F.W.] gibt es gleichzeitig zuviel und zuwenig. […] [D]iese Phantomobjekte sind doppeldeutig, f lüchtig, gleichzeitig sie selbst und anderes als sie selbst, sie machen sich zu Trägern kontradiktorischer Qualitäten. […] Wir möchten gern sagen, daß diese Doppeldeutigkeit die einzige Tiefe des Objekts als Vorstellung konstituiert. Sie repräsentiert in ihm einen Schein von Undurchsichtigkeit.« (216)

Zunächst scheint diese Tiefe im Widerspruch zur oben behaupteten Verinnerung absoluter Eigenschaften. Eine solche Kontradiktion ließe sich möglicherweise durch den Verweis auf die psychologische Sonderstellung irrealer Objekte beseitigen, doch kann man zu einer allgemein befriedigenden Lösung auch gelangen, indem man die Bezugssysteme beider Aussagen präzisiert: Der Anschein einer Opazität kann – und hierin folgt man streng Sartres Prämissen – nur von einem Subjekt konstatiert werden, welches sich bereits in ein Reflexionsverhältnis zu sich selbst gesetzt hat. Als Bewusstsein von einem spezifischen Objekt (irreal oder nicht) ist es mit diesem korrelativ spezifisch angsterfüllt, erfreut, bedrückt oder beglückt. Der (mögliche) Umschlag, der die Ambivalenz auszeichnet, wird nicht ohne Intention vonstatten gehen, könnte man hinzufügen, denn Sartres Schwierigkeit, hier ohne der Annahme eines Unbewussten auszukommen, erschwert die Klärung der offensichtlich widersprüchlichen Phänomene. Für ihn sind irreale Änderungen »entweder unwirksam oder radikal: man könnte vom Gesetz des Alles oder Nichts sprechen.« (218) »So kann ich nach Belieben – oder fast – das irreale Objekt, das ich will, erzeugen, aber ich kann damit nicht machen, was ich will.« (220). Es zeigt sich eine Eigenständigkeit der Objekte der Vorstellung, die sich nicht willkürlich in einem reflektierenden Akt modifizieren lassen. Ihre einmal gesetzten absoluten Eigenschaften bleiben festgesetzt: unabhängig, ob es sich um irreale oder reale Objekte handelt. Das Agens dieser Setzung ist meines Erachtens nach von Sartre nicht eindeutig eidetisch bestimmt. Der Begriff der Intentionalität hilft kaum weiter, weil eine Affektivität ins Spiel gebracht wird, die die Bereiche Imaginäres und Reales durchkreuzt: »Es wäre widersprüchlich, anzunehmen, daß die Vorstellung sich von außen mit dem Begehren verbinden könnte: das hieße, für dieses eine Art naturgegebener Anonymität voraussetzen, eine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Objekt, auf das es sich fixieren wird. Indessen könnte der affektive Zustand als Bewußtsein nicht ohne ein transzendentes Korrelat bestehen. Jedoch, wenn sich das Gefühl auf 109 Vgl. Sartre, (1940) Imaginäre, S. 221.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale eine augenblicklich wahrgenommene Sache richtet, wirft die Sache ihm wie ein Projektionsschirm das Licht zurück, das es ihr spendet.« (226)

Und an anderer Stelle: »[D]as Begehren ist ein blindes Bemühen, auf der repräsentativen Ebene zu besitzen, was mir auf der affektiven Ebene schon gegeben ist; durch die affektive Synthese hindurch visiert es ein Jenseits an, das es vorempfindet, ohne es erkennen zu können; es richtet sich auf das affektive ›Etwas‹, das ihm gegenwärtig gegeben ist, und erfaßt es als Repräsentanten des Begehrten.« (134)

Das Begehren wird hier beschrieben als eine der Imagination eigene Funktion, die auf ein zufällig präsentes Wahrnehmungsobjekt zielt. Dieses Objekt erscheint in Folge als Projektion des Imaginären. »[J]ede affektive Eigenschaft ist so tief in das Objekt inkorporiert, daß es unmöglich ist zu unterscheiden, was gefühlt und was wahrgenommen ist.« (226) Bei Lacan kann die Denkfigur eines unbeweglichen, armen, nie mit neuen Attributen aufwartenden Imaginären im Aspekt der Fixierung wiedergefunden werden. Lacan verbindet diese Prägungen in der Tradition des Freud’schen Dogmas mit frühkindlichen Erlebnissen und sieht sie besonders wirksam im Wirken des sexuellen Begehrens, jenes explizit imaginären Bereichs, den der Mensch mit dem Tier teilt. »Die Ethologen beweisen am Funktionieren der Paarzeit-Mechanismen die Prävalenz eines Bildes [...] das heißt als Gestalt […]. Die mechanische Schaltung des Sexualtriebs ist also wesentlich auf eine Bilderbeziehung kristallisiert, auf eine Beziehung – ich komme zum Terminus, den Sie erwarten – des Imaginären. [...] Der Libido-Trieb ist auf die Funktion des Imaginären zentriert.« (158) 110

Es wird deutlich, dass insbesondere der Begehrensbegriff das Imaginäre Sartres und Lacans vereint. Dessen bildliche Konzeption ist wesentlich arm und reduzierend. In der gleichen Art, wie bei Sartre die Überlagerung eines vorgefundenen Objektes mit einem Wunschbild die Wahrnehmung dieses Objektes bestimmt, sieht auch Lacan die primäre menschliche Beziehung imaginär strukturiert. Auch Merleau-Pontys Begrifflichkeiten entsprechen den Bestimmungen eines solchen Imaginären: »Dem Imaginären gegenüber genügt fast die bloße Intention, es zu sehen, um mich schon glauben zu lassen, ich sehe es. Das Imaginäre ist ohne Tiefe, antwortet nicht

110 Lacan, (1953-1954) Seminar I.

Teil 2: Das Imaginäre auf unsere Bemühung, unseren Gesichtspunkt abzuwandeln, leiht sich nicht unserer Beobachtung.« (374) 111

Das Imaginäre ist, wie auch das Reale, für Merleau-Ponty vorprädikativ, mithin vor-symbolisch. »Die natürliche Wahrnehmung ist keine Wissenschaft, sie setzt nicht die Dinge, auf die sie bezogen ist, sie entfernt sie nicht, um sie zu beobachten, sie lebt mit ihnen, sie ist die ›Meinung‹ oder der ›Urglaube‹, der uns an die Welt wie an eine Heimat bindet; das Sein des Wahrgenommenen ist ein vorprädikatives Sein, das unsere gesamte Existenz polarisiert.« (372)

Dieses vorprädikative Sein kommt auch den Vorstellungsinhalten Brentanos zu. Wie Merleau-Ponty hier betont, ist diese primäre Funktion nicht ohne Einfluss auf unseren Weltzugang. Im Gegenteil erhält die gesamte Welt eine starke Polarisierung. Dies wiederum erinnert an Uexkülls Umwelttheorie, so dass unterm Strich fundamentale Bestimmungen des Imaginären als durchgehalten gelten können. Insbesondere trifft dies auch auf die Autoren Sartre, Merleau-Ponty und Lacan zu. Nun gilt es, die Unterschiede in der Konzeption des Realen bei den letztgenannten Theoretikern herauszuarbeiten. Sartre vertritt einen klassischen Begriff des Realen, wenn er einerseits die Wahrnehmung den raum-zeitlichen Phänomenen zuspricht und andererseits Wahrnehmung und Wirklichkeit112 korreliert. Bei ihm sind beide Arten von Intentionalität – imaginär und real – exkludierend. Andererseits zeigt er in einer Diskussion des Begehrens, dass sich (Wunsch-)Bilder über – in seinem Sinne – reale Objekte legen können. In diesem Sinne nähert er sich an die Theorien der Projektion und der variablen Objekte in der Psychoanalyse an. Tatsächlich aber entspricht Sartres Gedanke auch hier nicht ganz der Differenz zwischen Imaginärem und Realem, wie Lacan sie ausarbeitet. Bei Lacan ist das Reale nicht eine Wahrnehmungsebene, die von inneren Bildern überlagert würde, oder präziser formuliert: bei Lacan ist die primäre Intention immer imaginär strukturiert, auch wenn keine expliziten Wünsche eine Wahrnehmungsverzerrung hervorrufen. »Es muß also so sein, daß, in Freuds Konzeption, die Funktion des Imaginären nicht die Funktion des Irrealen ist.« (152)113 Daraus lässt sich nun schließen, dass Lacans skeptischer Einwand gegen ein Realitätskonzept Sartre’scher Art lautet, dass Welt immer schon in mehreren Registern zugleich wahrgenommen wird.

111 Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie. 112 Vgl. Sartre, (1940) Imaginäre, S. 48, 199. 113 Lacan, (1953-1954) Seminar I.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Doch wenn gleichsam alles menschlich Zugängliche im Imaginären erscheint – und damit nach Uexküll, in Funktionskreise auflösbar ist – was enthält dann ein Register des Realen? Dieser Frage gilt es nun, entlang der Gedanken Merleau-Pontys, weiter nachzugehen. Zunächst folgt der Phänomenologe den Thesen Sartres in L’imaginaire. »Das Bild ist, wie das Ding, etwas, das zu sehen, nicht zu definieren ist, [also nicht symbolisch ist, F.W.] doch freilich, wenn es gleichsam eine kleine Welt ist, die in der anderen sich öffnet, so eignet ihm doch nicht die gleiche Solidität.« (374)114 Imaginäres und Reales sind vorsymbolisch und beide Sphären sind der polarisierenden Wirkung des Leibes (so Merleau-Pontys eigene Begrifflichkeit) ausgesetzt. Wie auch Sartre – und im Unterschied zu Brentano – nutzt Merleau-Ponty den Wahrnehmungsbegriff, der es weiterhin schwer macht, die Begriffe imaginär und real eindeutig zu bestimmen. »Ein Ding ist also in der Wahrnehmung nicht wirklich gegeben, sondern von uns innerlich übernommen, rekonstituiert und erlebt, insofern es einer Welt zugehört, deren Grundstrukturen wir in uns selbst tragen und von der es nur eine der möglichen Konkretionen darstellt.« (377)

Fundamentale Strukturen sind es, die Reales, im Sinne Merleau-Pontys, polarisieren, präfigurieren, oder wie er hier schreibt: rekonstituieren. Die Annahme starker Polarisierung der Wahrnehmungsdaten oder generell des Erscheinens von Welt, habe ich bislang – und in Anlehnung an Lacans Trias – als Charakteristikum des Imaginären herausgearbeitet. Die Rede von »Grundstrukturen [, die] wir in uns selbst tragen« (377) wirkt geradezu wie eine Paraphrasierung des Uexküll’schen Funktionskreises. Merleau-Pontys Begriff des Realen verbleibt in diesem Punkt auf dem Stand Sartres und einer intuitiven Weltauffassung. Für beide gilt: »Das Reale bietet sich endloser Erforschung dar, es ist unerschöpflich.« (374) Merleau-Ponty treibt den Gedanken jedoch weiter und fährt fort: »Daher erscheinen uns menschliche Gegenstände, Werkzeuge etwa, als gleichsam der Welt aufgesetzt, indessen die Dinge verwurzelt sind in einem Grunde unmenschlicher Natur.« (374) Die Erfahrung, es läget in den Dingen etwas wesentlich Uneinholbares, Unerkennbares zugrunde, verleiht ihnen eine Eigentümlichkeit außerhalb des anthropologischen Zugriffs und damit womöglich auch außerhalb des epistemologischen Zugriffs. »Das Ding ist für unsere Existenz weit mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol. In ihm erkennen wir nicht uns selbst, und eben dies macht das Ding zum Ding.« (374f) Es hat etwas wesentlich Fremdes an sich, das womöglich nicht durch unser Sein polarisiert ist, wofür unser anthropomorphes Raster nicht passt.

114 Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie.

Teil 2: Das Imaginäre

Genau hier kündigt sich eine Bestimmung an, die für Lacans Konzept des Realen prägend sein wird. Wenn Merleau-Ponty schreibt, dass »das Eigene des Realen [ist], in einem jeden seiner Momente eine Unendlichkeit von Beziehungen zusammenzuschließen« (374), so verweist dies bereits auf die Annahme einer Wirklichkeitsdimension, die nicht anthropomorph gestaltet sein kann. Denn ein dem menschlichen Vermögen entsprechendes Reales hätte kaum diesen überfließenden und unauslotbaren Charakter einer »unübersteigliche[n] Fülle« (373). Ausgehend von einer vorprädikativen Wahrnehmung – die Merleau-Ponty dem Realen zuschlägt und die gemäß meiner bisherigen Darstellungen eher dem Imaginären entspricht – entwickelt Merleau-Ponty den Gedanken eines Dinges »›vor‹ dem Menschen. Das Ding jenseits der anthropologischen Prädikate« (372): »Ein wahrgenommenes Ding, so sagten wir, sei nicht denkbar ohne einen es Wahrnehmenden. Und doch präsentiert sich das Ding auch dem noch, der es wahrnimmt, als Ding an sich, und stellt so das Problem eines echten An-sich-für-uns. Für gewöhnlich werden wir darauf nicht aufmerksam, da im Zusammenhange unserer Beschäftigungen die Wahrnehmung sich gerade so weit der Dinge annimmt, als ihre vertraute Gegenwart reicht, nicht so weit, um zu entdecken, was sie Unmenschliches bergen. Doch das Ding ignoriert uns und ruht in sich. Wir sehen es, sobald wir unsere Beschäftigungen unterbrechen und dem Ding eine metaphysische, uninteressierte Aufmerksamkeit zuwenden. Alsbald zeigt es sich feindlich und fremd, ist nicht mehr unser Gesprächspartner, sondern ein entschlossen schweigendes Anderes, ein Selbst, das sich uns entzieht so wie die Intimität eines fremden Bewußtseins.« (372f )

Das von Kant verworfene Ding-an-sich kehrt hier als Unheimliches zurück. »[F]eindlich und fremd« (373) verweigert es den Dialog. Es ist zutiefst unmenschlich. Es entzieht sich dem anthropomorphen Raster. Ein Gedanke, der nicht ohne Widerspruch ist: In Merleau-Pontys Text ist die Wahrnehmung der Dinge einerseits bestimmt durch eben dieses Raster, diesen Pol, andererseits gibt es auch einen Pol, der von allem Menschlichen ausgeschlossen ist, der alles Menschliche ausschließt. Man mag einer solchen Dialektik folgen. Andererseits lässt sich die Situation jedoch eindeutig auflösen, wenn man die bereits gefundenen Bestimmungen des Imaginären hier appliziert. Dann ergibt sich das Bild, dass alles, was Merleau-Ponty dem anthropomorphen, vorprädikativen »Urglaube[n]« (372) zuschlägt, dem imaginären Register entspricht, und alles, was dem Menschen wesensfremd ist und sich nur in Zuständen der ungegenständlichen Meditation zeigt (»uninteressierte Aufmerksamkeit« (373)), dem realen Register angehört. Was schon für Imaginäres und Symbolisches galt, kann nun auch für das Imaginäre und das Reale gelten: es handelt sich um unterschiedliche Arten von Intentionalität, die sich auf ein Objekt richten.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

In diesem Sinne behält Merleau-Ponty die Sartre’schen Termini bei, in der Diskussion dieser führt er jedoch weitere Differenzierungen und Charakteristika ein, die bei Lacan in Folge bestimmend sein werden.115 Das Reale gerät mehr und mehr in die Rolle des Unerkennbaren. Bevor das Reale nun gänzlich in den Fokus meiner Darstellungen gerät, ist es Zeit, die zusammengetragenen und tragenden Bestimmungen des Imaginären zusammenzufassen.

115 Genau genommen gilt auch hier, dass sich die Termini Reales und Imaginäres

nicht konsistent durchhalten lassen. Vielmehr verteilen sich einzelne Phänomene in einer neuen Anordnung auf die drei Register. Nichtsdestotrotz: die Analysen Merleau-Pontys dürften Lacan nicht wenig inspiriert haben. So gibt es bei Merleau-Ponty nicht nur einen hinführenden Gedanken zum Symbolischen als drittes Register: »Das menschliche Leben definiert sich durch sein Vermögen, in objektivem Denken sich selbst zu verneinen […]. Menschliches Leben ›versteht‹ nicht nur diese oder jene bestimmte Umwelt, sondern eine Unendlichkeit möglicher Umwelten [...]« (Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie, S. 377f ). Sondern es gibt auch bei Merleau-Ponty den Entwurf einer Trias: »In Wirklichkeit muß man Materie, Leben und Geist als drei verschiedene Ordnungen von Bedeutungen verstehen.« (Merleau-Ponty, Maurice, (1942) Die Struktur des Verhaltens, Berlin, New York, 1976, S. 154f )

Zusammenfassung: Die Figur des Imaginären

Zunächst ergibt sich aus der besonderen Funktionalität des Imaginären, dass es insbesondere in spekulativen oder projektiven Figuren fassbar wird. Diese Figuren – man könnte sie auch Philosopheme nennen – erscheinen zunächst in heterogenen wissenschaftlichen Kontexten, wie der Biologie, der Psychologie, der Anthropologie, der existenzialistischen und der wahrnehmungsorientierten Phänomenologie.116 Sie erfüllen dort unterschiedliche methodologische Ansprüche. Für Cassirer dient die Figur eines Vorsymbolischen der spekulativen Konstruktion eines qualitativen evolutionären Sprungs. Uexküll kann eine mechanistische morphologische Kontinuität vom niedrigsten Einzeller zum höchsten kognitiv begabten Organismus konstruieren, indem er das Imaginäre in den Funktionskreis zwischen Lebewesen und Umwelt schaltet. LéviStrauss erschafft sich im Begriffspaar von Haltungs- und Bedeutungssystemen ein strukturalistisches ethnologisches Werkzeug. Brentano findet in der Vorstellung, als Akt verstanden, einen Parameter, das Feld der Psychologie abzugrenzen. Sartre schließlich sieht im geistigen Bild die Möglichkeit der Nichtung des Realen. Abweichend, aber nicht bezugslos, entwickelt Lacan eine fiktive Genese des menschlichen Subjekts im Imaginären des Spiegelstadiums. Merleau-Ponty benutzt das Imaginäre in seiner Beschreibung des Verhältnisses von Leib und Ding. Die Aufstellung dieser Referenzen zeigt eine willkürlich erscheinende Vielfalt, was die Kontextualisierung angeht. Doch über die einenden Bestimmungen und das grundsätzliche, in Variationen auftretende, gemeinsame Schema lässt sich die Diskurslinie des Imaginären rekonstruieren. Summierend lässt sich feststellen, dass die Figur des Imaginären jeweils als methodologisches Element in die respektive Theorie eingefügt ist. Sie scheint dort etwas zu

116 Lacan nähert sich dem Imaginären darüber hinaus über die Ethologie. Vgl. La-

can, (1953a) Das Symbolische, S. 20.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

füllen – nämlich eine argumentative Lücke.117 Doch wird der jeweilige Platz imaginär, im Sinne von fiktiv, gefüllt? Oder verweist das Imaginäre auf ein Element, das jeder Theorie angehören muss, damit sie funktioniert? Meine Haltung hierzu ist, die jeweiligen Theorien mit ihren unterschiedlichen Erfordernissen ernst zu nehmen. Wenn es regelmäßig notwendig wird, die Figur des Imaginären aufzurufen, so muss darin ein übergeordneter Sachverhalt angenommen werden. Offensichtlich gibt es in den symbolischen Systemen – insbesondere den (natur-)wissenschaftlichen Systemen – Vorgänge, die aus dem Symbolischen heraus verweisen. Dabei gilt: die Darstellung dieser Elemente ist im Allgemeinen schwach. Meist scheinen die Argumente, die auf ein Imaginäres verweisen, wenig zwingend. Es handelt sich um Hypothesen oder Hilfsbegriffe in den Naturwissenschaften beziehungsweise um das Register des potentiell Fiktionalen in der Psychologie. Erst die Phänomenologie verschafft einen halbwegs hinreichenden Begründungszusammenhang für ein Imaginäres, nimmt allerdings auch wieder Zuflucht zu einem Wahrnehmungsbegriff.118 Dass die Figur der Imaginären nicht streng logisch auflösbar ist, halte ich indes nicht für eine Schwäche des Konzepts. Es zeugt von der fundamental anderen Beschaffenheit dieses Registers – im Vergleich mit dem Symbolischen –, dass es zwischen den Fingern zerrinnt, sobald man es versucht zu fassen, das heißt zu symbolisieren. Trotzdem können für das Imaginäre positive Bestimmungen angeführt werden – eine Zusammenfassung folgt weiter unten. Zunächst ist weiterhin auffällig, dass in einigen der Theorien eine Art gefügtes Universum, eine prästabilierte Ordnung vorausgesetzt wird, damit das Imaginäre seine Funktion erfüllen kann. So herrscht bei Uexküll eine »allgemeine[] Planmäßigkeit in der Natur, die Subjekte und Objekte gleichmäßig umfaßt« (46)119. Bei Lévi-Strauss tritt ein Naturalismus in die Funktion der Letztbegründung. Im Zusammenhang mit dem Vorsymbolischen sei es »unvermeidbar […], auf die naturalistische Interpretation zurückzugreifen« (67)120. Brentanos Rückgriff auf die mittelalterliche Scholastik verweist per se in ein Universum, in dem die göttliche Fügung gilt. Etwas spezifischer kann im Sinne Thomas’ von Aquin gesagt werden: »In jedem Wahrnehmungssinn muss es

117 Im dritten Teil zeige ich mit Meyerson, dass jede begreif bare Erklärung stets ein

solches imaginäres Theorieelement enthalten muss.

118 Und koppelt damit unkritisch den Begriff einer Außenwelt als Wirklichkeit mit

dem Wahrnehmungsgeschehen. Nur Brentanos Begriff der Vorstellung in seiner frühen Schrift Psychologie vom empirischen Standpunkt zeigt sich mit einer gewissen Eindeutigkeit und Reinheit in seinen Bestimmungen ohne auf das Wahrnehmungskonzept zurückzugreifen. 119 Uexküll, (1909) Umwelt. 120 Lévi-Strauss, (1958) Anthropologie 1.

Teil 2: Das Imaginäre

eine gewisse proportionale Entsprechung oder eine natürliche Disposition für das Wahrzunehmende geben.« (39)121 Diese transzendenten Positionierungen haben in der Philosophiegeschichte eine lange Tradition als metaphysische Letztbegründungen, verweisen aber letztlich auf eine gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich des dem Imaginären zugrunde liegenden Funktionsmechanismus. Sartre hat dies wohl am deutlichsten formuliert, wenn er in der Funktion des Bildes eine »irrationale und schwer zu formulierende Synthese« (71)122 erkennt. Doch die Ratlosigkeit entsteht erst dann, wenn das Imaginäre eingereiht werden soll in ein Konzept von Welt, das dem Symbolischen und seinen relationalen Formen die alleinige Geltung zuspricht. Das Imaginäre weist auf eine andere Art von Funktionalität, die zwar, wie Brentano erkannt hat, auch dem Symbolischen zugrunde liegen muss, aber dadurch nicht ihre Bestimmung findet. Der schlichte Verweis auf die Plausibilität eines Außersymbolischen soll hier nicht genügen. Insbesondere wenn es im Folgenden darum gehen wird, eine weitere nichtsymbolische Dimension menschlichen Erkenntnisgeschehens – die Ordnung des Realen – zu erschließen, ergibt sich zwingend, nun die Bestimmungen des Imaginären zusammenzuführen.

121 Perler, (2002) Intentionalität. 122 Sartre, (1940) Imaginäre.

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Zusammenfassung: Die Bestimmungen des Imaginären und die Rolle des Beobachters

Für das Symbolische habe ich den relationalen und operationalen Charakter herausgearbeitet, was wiederum die Wesensgleichheit seiner Elemente voraussetzt. Das Symbolische ist Austragungsort kultureller Kontingenz. Wissen organisiert sich vorzugsweise in diesem Register. Regeln und Allgemeinbegriffe ordnen ein Feld, dessen Koordinaten Lexik und Grammatik heißen könnten. Die Substitution von Elementen ermöglicht unbegrenzte Semiosen, deren Strukturen wesentlich reziprok sind. Die erkenntnistheoretischen Aussagen, die im Symbolischen möglich sind, bestehen in der Artikulation von Beziehungen und deren Formalisierungen. Das Imaginäre hat eine prinzipiell andere Struktur. Zwar wird in den hier vorgestellten Konzepten auch eine Art Relation gestiftet, doch ist diese keinesfalls reziprok. Die beteiligten Elemente sind nicht wesens- und auch nicht funktionsgleich. Im Anschluss an Lacan wird oftmals (auch in nichtpsychoanalytischen Zusammenhängen) kolportiert, dass das Imaginäre eine zweiwertige Form besitzt (im Gegensatz zur dreiwertigen Struktur des Symbolischen).123 Dies ist insofern richtig, als eine Differenzierung zwischen psychischem Akt und Inhalt vorgenommen werden kann. Doch keinesfalls stehen sich im Imaginären zwei gleichartige Entitäten gegenüber. Amöbe und Umwelt sind keine funktional austauschbaren Elemente. Zwar kann die Amöbe für ein anderes Tier Umwelt sein, doch – und dies ist zentral am Beitrag Uexkülls – wäre es nicht mehr die gleiche Umwelt, ja nicht die gleiche Welt, in der eine solche neue Anordnung der Elemente erkennbar sein könnte. In der Welt der Amöbe ist die Umwelt immer bestimmt durch ihr Ektoplasma. Der

123 Lacan konstatiert zwar, »daß jede Zweierbeziehung stets mehr oder weniger

vom Stil des Imaginären geprägt ist.« (Lacan, (1953a) Das Symbolische, S, 38) In diesem Zitat ist jedoch nicht ausgesagt, dass das Imaginäre als solches eine Zweierbeziehung ist. Gesagt ist damit lediglich, dass in einer menschlichen Zweierbeziehung Phänomene des Imaginären eine Rolle spielen, was hier vor einem therapeutischen Hintergrund an Gewicht gewinnt.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

biologisch spezifizierte Organismus124 erzeugt sein Außen. In diesem Sinne ist er in einem Funktionskreis mit seinen Gegengefügen verbunden. Dies erklärt, warum Täuschungen möglich sind. Indem im Außen gesetzt wird, was dem Gegengefüge eines aktiven Funktionskreises entspricht, kann ein möglicherweise inadäquates Verhalten in Erscheinung treten. Lacan weist auf diesen Umstand mittels Beispielen aus der Ethologie wiederholt hin und fasst in seinem Seminar zusammen: »Die mechanische Schaltung des Sexualtriebs ist also wesentlich auf eine Bilderbeziehung kristallisiert, auf eine Beziehung – ich komme zum Terminus, den Sie erwarten – des Imaginären. […] Zum Beispiel muß der männliche Stichling, auf dem Bauch oder dem Rücken, schöne Farben angenommen haben, damit der Kopulationstanz mit dem Weibchen beginnen kann. Aber wir können genausogut eine, wenn auch nur grobe, Schnitzerei machen, die genau dieselbe Wirkung auf das Weibchen haben wird, unter der Bedingung, daß sie bestimmte Merkzeichen* trägt. Die sexuellen Verhaltensweisen sind insbesondere köderbar.« (158ff ) 125

Genau genommen kann man ein Tier nicht täuschen. Allein das Tier kann sich täuschen. Die Täuschung setzt voraus, dass es einen respektiven Funktionskreis gibt, der aktiv werden kann.126 Dies gilt auch für den Menschen im Zusammenhang mit der Intentionalität. Die falsche Erkenntnis ist nicht das Erkennen eines Falschen, sondern das Erkennen eines richtigen Objekts, wo dies nicht vorhanden ist.127 Wohlgemerkt gilt dies für das Register des Imaginären. Auch hier bleibt die Beziehung auf der Ebene der Inkorporation wesentlich asymmetrisch. Der Akt, der stattfindet, ist der Einschluss. Die Nähe des Vorgangs zur Logik von George Spencer-Brown128 erlaubt es, die Funktionalität 124 Genau genommen kann von einem Organismus nur aus einer externen Be-

125 126

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obachterperspektive gesprochen werden. Was ein Organismus sei, beruht auf einer Reihe Vorannahmen. Zum Beispiel könnte eine einzelne Körperzelle als solcher angenommen werden, oder aber der aus einem Zellhaufen gebildete Körper, zum Beispiel eines Menschen. Die Biologie folgt hier ihren höchst eigenen gegenstandskonstituierenden Setzungen. Lacan, (1953-1954) Seminar I. Roger Caillois Schriften zur Mimese zeigen aus einer anderen Perspektive, dass, was der Mensch als absichtsvolle Täuschung interpretiert, womöglich anderen Vorgängen geschuldet ist. Vgl: Caillois, Roger, (1934-1960) Méduse & Cie. Mit Die Gottesanbeterin und Mimese und legendäre Psychasthenie, Berlin, 2007. Die Phänomene der Halluzination nehmen in den Schriften von Sartre und Merleau-Ponty deshalb vergleichsweise viel Raum ein, wo doch eigentlich das Erkennen der Wirklichkeit anvisiert ist. Vgl. beispielsweise: Sartre, (1940) Imaginäre, S. 239-254, oder: Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie, S. 159-165, 389-393, Vgl. Spencer-Brown, George, (1969) Laws of Form. Gesetze der Form, Lübeck, 1999. Ich verweise hierzu auf die Arbeit von Nina Ort, die in ihrer Dissertation »Objektkonstitution als Zeichenprozess« unter anderem Wesentliches im Verhältnis Lacan - Spencer-Brown explizit gemacht hat. Da sie dort jedoch die

Teil 2: Das Imaginäre

von Amöbe und Gegengefüge (in der Umwelt, beispielsweise ein Fressobjekt) und die logische Bedeutung des Ektoplasmas herauszuarbeiten: Zunächst kann gesagt werden, dass ein Funktionskreis wirksam ist, wenn etwas das Ektoplasma durchkreuzt. Dies kann ein chemischer Reiz sein, oder Nahrung, die die Zellwand passiert. Dies sei das Bild für die imaginäre Funktion. Gemäß Kapitel 12 der Laws of Form entspricht dann die Zellmembran einem »Kreis in einem ebenen Raum« (60)129. Doch betrachten wir zunächst die Prämissen, die Spencer-Brown für seine Experimente aufstellt. Er schreibt: »Die Konzeption der Form liegt im Verlangen zu unterscheiden. Dieses Verlangen vorausgesetzt, können wir der Form nicht entrinnen, obwohl wir sie auf jede Weise sehen können, die uns gefällt. Das Kalkül der Bezeichnung ist eine Weise, die Form zu betrachten. Wir können das Kalkül durch die Form sehen und die Form im Kalkül – ohne Anleitung und ungehindert durch das Dazwischentreten von Gesetzen, Initialen, Theoremen oder Konsequenzen. Die unten angeführten Experimente veranschaulichen eine der unzähligen Möglichkeiten, das zu tun. Wir wollen anmerken, daß in diesen Experimenten das Zeichen = für die Worte

wird verwechselt mit

stehen mag. Wir wollen auch bemerken, daß die Seiten jeder Unterscheidung, die wir experimentell treffen, zwei Arten des Bezuges besitzen. Der erste oder explizite Bezug ist auf den Wert [den semantischen Gehalt, F.W.] einer Seite, entsprechend seiner Markierung. Der zweite oder implizite Bezug ist auf einen äußeren Beobachter. Das heißt, das Äußere ist die Seite, von der aus eine Unterscheidung der Annahme nach gesehen wird.« (60)

Lacan’sche Subjektkonstitution entfaltet, habe ich mich entschlossen, im Folgenden abweichend die Laws of Form direkt als imaginäre Logik zu interpretieren. Vgl. Ort, Nina, (1997) Objektkonstitution als Zeichenprozeß. Jacques Lacans Psychosemiologie und Systemtheorie. Quelle Internet: http://nina.ort.userweb. mwn.de/Objektkonstitution.pdf , zuletzt aufgerufen am: 25.09.2013. 129 Spencer-Brown, (1969) Laws.

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Diese Axiomatik vorweggeschickt, sehen wir uns ein Experiment Spencer-Browns an, das ich direkt, in seinem mit Grafiken durchsetzten Text, kommentieren werde: (Meine Kommentare sind jeweils der kursiv gesetzte Text.)

Zweites Experiment Zieh einen Kreis in einem ebenen Raum.

Der Biologe macht ein Tierchen aus: »Es gleicht in seiner Form und seinen Bewegungen einem verunreinigten Tropfen, der langsam den Rand eines Tellers hinabrollt [...]« (Uexküll, (1909), Umwelt, S. 27) Laß eine Markierung m das Innere des Kreisumfangs bezeichnen.

Der Biologe sagt: Organismus. Laß keine Markierung das Äußere des Kreisumfangs bezeichnen.

Der Biologe sagt: Milieu. Laß den Wert einer Markierung sich auf den Raum beziehen, in dem diese steht. Das heißt, laß den Wert einer Markierung sich auf den Raum außerhalb der Markierung beziehen. Nun ist der Raum außerhalb des Kreisumfangs unmarkiert.

Teil 2: Das Imaginäre Durch Evaluation gilt daher:

Die Bedeutung des Tierchens liegt in seiner Funktion im Milieu. Da der äußere Raum gleichzeitig die Seite ist, die vom Beobachter markiert wird, kann auch gelten: Die Bedeutung des Tierchens liegt in seiner Stellung im klassifikatorischen System des Biologen. Laß die Markierung m ein Kreis sein [also eine Unterscheidung, F.W.].

Der Biologe anerkennt die spezifische Umwelt des Tierchens, die den ringförmigen Raum ausmacht. Füge die Markierung neuerlich in die Form des Kreises ein.

Ein Organismus ist imaginär in seiner spezifischen Umwelt erfasst. Nunmehr gilt auf Grund der Evaluation

Die imaginäre Relation verschwindet, sobald wieder auf den Außenraum, der vom unterscheidenden Beobachter eingenommen ist, rekurriert wird. Ende des Zitats. (Spencer-Brown, (1969) Laws, S. 61-63)

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Und das ganze Experiment nochmals für die Menschenwelt ausgelegt: Zweites Experiment Zieh einen Kreis in einem ebenen Raum.

Es gibt Vorstellung. Laß eine Markierung m das Innere des Kreisumfangs bezeichnen.

Die Setzung einer Psyche. Laß keine Markierung das Äußere des Kreisumfangs bezeichnen.

Physis, das heißt: Inhalte, wie »eine Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe; ein Akkord, den ich höre; Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie erscheinen« (Brentano, (1874a) Psychologie 1, S. 112) Aus Brentanos psychologischem Blickwinkel ist physis negativ bestimmt.

Teil 2: Das Imaginäre Laß den Wert einer Markierung sich auf den Raum beziehen, in dem diese steht. Das heißt, laß den Wert einer Markierung sich auf den Raum außerhalb der Markierung beziehen. Nun ist der Raum außerhalb des Kreisumfangs unmarkiert. Durch Evaluation gilt daher:

Im Akt der Vorstellung bezieht sich die Psyche intentional auf die Physis. Die Grafik zeigt: im Register des Imaginären wird Physis verwechselt mit dem Außen. Laß die Markierung m ein Kreis sein [also eine Unterscheidung, F.W.].

Um die Physis als solche zu erkennen, wird sie als von der Psyche Unterschiedenes identifiziert … Füge die Markierung neuerlich in die Form des Kreises ein.

… und reinjiziert (re-entry).

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale Nunmehr gilt auf Grund der Evaluation

Die imaginäre Ordnung ist verloren gegangen. Das heißt auch, dass sie für den Menschen oder für den Organismus als Totalität erlebt wird, wo sie kein Reflexionsmoment erfährt. Sobald sie aber reflektiert wird, hat bereits ein Wechsel der Register stattgefunden. Das Imaginäre ist wesentlich nicht-reflexiv. Ende des wiederholten Zitats. (61-63)130 Spencer-Brown erweitert den Problemhorizont um die Rolle des Beobachters: »Ein Beobachter ist ebenfalls eine Markierung, da er den Raum unterscheidet, den er innehat [denn dies ist immer der ›Außenraum‹ des Kreises, F.W.]. Stelle dir in den obigen Experimenten vor, daß die Kreise Formen seien und ihr Umfang Unterscheidungen, die die Räume dieser Formen bilden. Nach dieser Auffassung ist eine in irgendeinem Raum getroffene Unterscheidung eine Markierung, die den Raum unterscheidet. Gleichermaßen und umgekehrt trifft jede Markierung in einem Raum eine Unterscheidung. Nun sehen wir, daß die erste Unterscheidung, die Markierung und der Beobachter nicht nur austauschbar sind, sondern in der Form, identisch.« (66) 131

Am Begriff der formalen Identität habe ich eine wesentliche Bestimmung der Funktion des Imaginären herausgearbeitet. Auf Spencer-Browns Behauptungsblatt zeigt sich nun eine treffende Illustration dieser formalen Identität der beteiligten Elemente. Wenn man im Imaginären also von Relation sprechen kann, so von einer, die mittels »erste[r] Unterscheidung, […] Markierung und […] Beobachter« (66) gebildet wird. Die einzig ausmachbare Relation im Imaginären besitzt immer die gleiche Struktur: Dies ist die Figur der Assimilation im Sinne einer Aktualisierung einer formalen Identität. Etwas ist in etwas anderem in-existent. Dadurch erlangt es den Status einer Vorstellung. Erkennbar ist das Imaginäre als Imaginäres nur für einen externen Beobachter, der hierzu mindestens eine Unterscheidung einführen muss. Bei Brentano ist dies die Differenz zwischen 130 Spencer-Brown, (1969) Laws. Grafiken der Quelle nachempfunden. Kursiver

Text: Anmerkungen F.W..

131 Spencer-Brown, (1969) Laws.

Teil 2: Das Imaginäre

Psychischem und Physischem. Uexküll macht einen Organismus aus – eine Setzung, die insbesondere geeignet ist, die Interessen der Wissenschaft selbst transparent zu machen. (Was bestimme ich als Lebewesen? So besteht ein jeder Mensch beispielsweise auch aus einer Vielzahl Bakterien. Sind diese auch der Mensch?) Uexküll führt aber auch vor, wie das Ektoplasma als sensomotorische Grenzschicht linear in eine mechanistisch konzipierte Gegenwelt neuro­ naler Bauart überführt werden kann: Die Funktionalität des Imaginären bleibt davon unberührt und zeigt sich in der Universalität des Funktionskreises, der bis hin zum Menschen angenommen wird. Spekulativ, und hier kehre ich zu Cassirer und dem Anfang dieses Kapitels zurück, ist die Annahme, dass beim Menschen ein evolutionärer qualitativer Sprung stattfand, der ein Symbolnetz mit all seinen Konsequenzen hervorrief. Lacan tendiert mit Lévi-Strauss dazu, keine genealogischen Vorformen des Symbolischen anzuerkennen. Für beide spielt das Imaginäre eine andere Rolle in der strukturalistischen Anthropologie: Die Annahme soziopsychologischer Grundanforderungen ist implizit in den Konzepten von Signifikant und Signifikat, von Benennungssystem und Haltungssystem enthalten. Dass es über modellhafte Ansätze hinaus erkenntnistheoretische Argumente für die Konzeption eines positiv bestimmbaren Imaginären gibt, machen die phänomenologischen Analysen Sartres deutlich. Insbesondere im Gemälde, der Karrikatur, der Fotografie, also in der »künstlichen Reproduktion« (60)132, zeigt sich eine besondere Art von Bezugnahme auf ein Objekt. Dass ich ein Bild als Bild identifizieren kann, ist eine kulturelle, mithin wohl auch symbolische Leistung. Dass ich im gemalten Portrait Peters Peter erkenne, ist hingegen eine Funktion des Imaginären. Mit Sartre kann man zeigen, dass es für das Imaginäre kein Innen und Außen gibt. Im Fall der Bilder ergibt sich darüber hinaus, dass das Objekt im Imaginären durch die Intention bestimmt wird. Das Imaginäre zielt auf das Objekt, welches eine (fast schon ontologische) Achse durch den Gegenstand, seine Abbildung und seine Vorstellung bildet.133 Das Imaginäre ist theoretisch unendlich kaskadierbar, ohne dass die imaginäre Funktion selbst davon berührt wäre. Es bilden sich keine Semiosen, wie im symbolischen Raum. Während das Symbol sich selbst transparent werden kann, ist das Bild immer nur das Bild. Vorstellung ist immer Vorstellung von 132 Lacan, (1953a) Das Symbolische. 133 Wie dies Perler schon in Hinblick auf Thomas formuliert: »Der Inhalt der [Port-

rait-, F.W.] Fotos ist identisch mit diesen Personen. Natürlich gilt es hinsichtlich ihrer Existenzweise eine Unterscheidung zu treffen. Denn in den Fotos existieren sie nur auf einem Stück Papier, in der realen Welt hingegen existieren sie als Menschen aus Fleisch und Blut. Doch trotz dieser zweifachen Existenzweise sind es die Personen selbst, die wir in den Fotos und in der realen Welt sehen. Man könnte auch sagen, dass wir gleichsam durch die Fotos hindurch die Personen sehen und über sie – nicht nur über papierene Doppelgänger – Aussagen machen.« (Perler, (2002) Intentionalität, S. 86)

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etwas, so könnte man ein bekanntes Paradigma Husserls abwandeln. Sie bildet eine Einheit, in der sich Objekt und Intention realisieren. Das Intentionalitätskonzept, wie es in einem ersten Angang von Brentano in den Diskurs wieder eingeführt wurde, erschließt und umfasst die vielfältigen Beiträge, die ich aus dem Umfeld Lacans zusammengetragen habe. Bei Lacan selbst bestimmt es dessen Begriff des Imaginären, insbesondere in Abgrenzung zu Sartre. Weiterhin erschließt sich aus dem Intentionalitätskonzept eine Präzisierung der Begriffsverwendung. L’imaginaire, le réel, le symbolique also das Imaginäre, das Reale, das Symbolische beziehen sich im gängigen Sprachgebrauch auf die Summe der Inhalte des jeweiligen Registers. Es zeigt sich jedoch, dass die jeweiligen entscheidenden Bestimmungen der drei Register aus wesensdifferenten Funktionalitäten hervorgehen. Die Inhalte, mithin Objekte, sind womöglich sogar in allen Registern die selben – zumindest legt der phänomenologische Ansatz Sartres dies nahe, wenn ein und derselbe Peter als Vorstellung (im Sinne Sartres also imaginär) oder als Wahrnehmung (im Sinne Sartres real) erscheinen kann. Für unsere Terminologie wäre es folglich korrekter und eindeutiger, nicht vom Imaginären sondern immer von der imaginären Ordnung oder dem imaginären Register zu sprechen. Gleiches gilt natürlich auch für die beiden anderen Erkenntnisfunktionen, die die realen und die symbolischen Formen umfassen. Nach Lacan hat diese Begriffsklärung auch für menschliches (und tierisches) Verhalten Gültigkeit: »Es sind das [die drei Register, F.W.] nicht drei Felder. Sie haben sehen können, daß bis ins Tierreich hinein sich aufgrund derselben Handlungen, desselben Verhaltens genau diese Funktionen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen unterscheiden lassen, weil sie sich nicht in derselben Bezugsordnung ansiedeln lassen.« (147) 134

Analog ist aus dem erkenntnistheoretischen Blickwinkel ein und das selbe Objekt oder ein und derselbe Vorgang, funktional unterschieden, das heißt in den verschiedenen Registern ausdifferenzierbar. Der Begriff Bezugsordnung verweist abermals auf die Bestimmungen, die ich zunächst für das Symbolische und nun für das Imaginäre zusammengetragen habe. Die Art der Beziehung variiert: Das Symbolische kennt operable, reziproke Beziehungen zwischen kompossiblen Elementen, die sich in einer Vielzahl symbolischer Formen aktualisie134 Lacan, (1953-1954) Seminar I. Und Lacan fährt fort: »Es gibt mehrere Arten,

diese Begriffe einzuführen. Die meine hat, wie jede dogmatische Darstellung, ihre Grenzen. Aber ihre Brauchbarkeit liegt in ihrem kritischen Charakter, das heißt darin, daß sie an dem Punkt hervortritt, wo die empirische Anstrengung der Forscher auf eine Schwierigkeit im Umgang mit der schon existierenden Theorie stößt. Deshalb ist es wichtig, auf dem Weg der Text-Kommentare vorzugehen.« (147) Einen anderen Weg stellt diese Dissertation dar.

Teil 2: Das Imaginäre

ren. Die Beziehung im Fall des Imaginären ist eine Binnenstruktur wesensverschiedener Elemente. Für sich genommen ist die Funktion des Imaginären reine Identität oder vollziehende Identität (verbildlicht in der Nahrungsaufnahme der Amöbe) im Vorstellungsakt. Es gibt im Imaginären keine Relationen zwischen wesensgleichen Elementen,135 es gibt keine imaginäre Weltlichkeit.136 Das Imaginäre ist arm, reduzierend, da es mit seinem eigenen Erkenntnisakt in Eins fällt. Es gibt kein Außen des Imaginären. Wo ein solches konstatiert wird, tritt ein Beobachter hinzu – Hinweis auf den Wechsel ins symbolische Register. Auch die Binnenstruktur des Imaginären ist im Grunde eine Fiktion oder zumindest das analytische Resultat einer anderen Instanz. Da das Imaginäre quasi von innen gesehen total ist, durchzieht einige der besprochenen Theorien der – mitunter metaphysisch gefasste – Gedanke einer prästabilierten Ordnung zwischen einem Innen und einem Außen. Spencer-Browns Laws of Form und dort insbesondere das Kapitel 12 bieten eine Möglichkeit, die imaginäre Funktion zu veranschaulichen. Damit kann das Imaginäre als Hypothese auf ein Behauptungsblatt gesetzt werden. Der Kreis kann als Ektoplasma gelten, die imaginäre Funktion weise ich dem Inneren des Organismus zu, und folge damit Uexkülls Dogma jener Libelle, die ihre Libellenwelt determiniert. Allerdings bezieht sich – im Sinne eines Wertes – die imaginäre Funktion auf die Libellenwelt, also auf die Gegengefüge außerhalb des Organismus. Diese sind mir als Mensch aber unzugänglich, außer – wie dies in einer konventionellen oder vorphilosophisch-intuitiven Weltsicht auch geschieht – ich nehme an, dass alle Organismen und Dinge die gleiche Welt teilen. Bleiben wir jedoch zunächst bei Uexkülls Weltverständnis. Da mir die Außendinge des Organismus, beispielsweise der Libelle, nur durch Folgerung aus den Verhaltensweisen der Libelle schließen kann, liegen sie für mich logisch im Inneren des Organismus. Also ziehe ich für den Wert »Umwelt« eine weitere Unterscheidung ein. In diesem inneren Kreis liegt nun als Imaginäres die Umwelt des Organismus. Damit ist das Äußere ins Innere gewandert. Es gibt eine zweite Interpretation dieses Einschlusses: Nach SpencerBrown ist die Funktion des Beobachtens selbst eine Unterscheidung. Man kann also sagen, dass die unmarkierte Außenfläche (als Funktion des Beob135 Im Begriffsuniversum von Charles S. Peirce würde dies heißen, dass es im

Imaginären keine »genuin dyadische[n] Relation[en]« (Peirce, Charles Sanders, (1903), Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/M., 1983, S. 99) gibt. Zu Peirce mehr in Teil 3. 136 »[E]s gibt keine imaginäre Welt. […] Wir detaillieren diese Welt als Vorstellung nicht, wir vergegenwärtigen uns keine Einzelheiten […]. In diesem Sinne bleiben die Vorstellungen voneinander isoliert, durch ihre wesensmäßige Kargheit getrennt, […] im Leeren; sie unterhalten untereinander nur die Beziehungen, die das Bewußtsein in jedem Augenblick begreifen kann, indem es sie konstituiert.« (Sartre, (1940) Imaginäre, S. 265f, Wiedergabe hier ohne Hervorhebungen des Autors.)

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achters) als Unterscheidung, das heißt als zweiter Kreis, in die Unterscheidung Organismus introjiziert wird. Damit ist sehr deutlich illustriert, dass auf das Imaginäre eines fremden Organismus immer nur aus der eigenen subjektiven Vorstellung geschlossen werden kann. In Konsequenz bedeutet dies aber, dass das Konzept eines fremden Imaginären in Eins fällt mit meinem eigenen Imaginären. Oder wie Sartre an den künstlichen Reproduktionen, den Fotografien und Gemälden gezeigt hat: ist das Imaginäre kaskadierbar. Die medialen Ebenen löschen sich im Imaginären aus. Im logischen Experiment besteht das Phänomen darin, dass ich im Organismus etwas annehme, das etwas Äußerliches zum Gegenstand hat.137 Das Äußere einer Unterscheidung nach SpencerBrown ist aber die Markierung, die durch den Beobachter produziert wird. In diesem Sinne formuliert Uexküll einen Wunsch, der die imaginäre Funktion – ob fiktiv oder wissenschaftlich – markiert: »Wenn wir die Fähigkeit besäßen, die Gehirne der Tiere vor unser geistiges Auge zu halten, wie wir ein Glasprisma vor unser leibliches Auge zu halten vermögen, so würde uns unsere Umwelt ebenso verändert erscheinen. Nichts Anmutigeres und Interessanteres dürfte es geben, als solch ein Blick auf die Welt durch das Medium der verschiedenen Gegenwelten.« (169) 138

Uexküll widmet ein ganzes Kapitel in Umwelt und Innenwelt der Tiere dem Beobachter. Er fordert, dass »der Forscher seine Stellung als außenstehender Beobachter der Vorgänge genau kennt und nicht verläßt. Es ist uns unmöglich, in das bewußte Seelenleben irgendeines Lebewesens außer uns selbst einen unmittelbaren Einblick zu gewinnen.« (215)

Doch diese Warnung ist ihm schlicht ein methodologisches Wissen um das Problem und kein Verbot. Es scheint ihm das Register des Imaginären sogar außerordentlich wichtig für ein anschauliches Begreifen des Vorgefundenen. Vom Pantoffeltierchen schreibt er: »So ruht Paramaecium in seiner Umwelt sicherer als ein Kind in der Wiege.« (41) Ein schönes Leben, mag man denken, doch schon im nächsten Fall kippt die Lage und das Bewusstsein des Schönen eignet nur dem Menschen: »Wenn man vom Bord des Schiffes aus die schimmernde Fläche des blauen Meeres überschaut und darin die stummen Glocken der Medusen einherschweben sieht in zahllosen Scharen wie wundervolle Blumen eines Zaubergartens, so überkommt uns unwillkürlich das Gefühl des Neides. In all dieser Farbenpracht einherschweben 137 Siehe auch den changierenden Fall der Introjektion weiter oben. 138 Uexküll, (1909) Umwelt.

Teil 2: Das Imaginäre zu dürfen, frei und unbekümmert, von den klingenden Wogen getragen, durch den strahlenden Tag und die glänzende Mondnacht, muß ein herrliches Los sein. Aber die Meduse vernimmt von alledem nichts. Die ganze Welt, die uns umgibt, ist ihr verschlossen. Das einzige, was ihr Innenleben ausfüllt, ist die gleichmäßige Erregung, die, von ihr selbst erzeugt, immer im gleichen Wechsel in ihrem Nervensystem entsteht und vergeht.« (67)

So liefert uns das Lebendige ein Haltungssystem und unsere jeweilige Kultur ein Benennungssystem, um in der Terminologie Lévi-Strauss’ zu sprechen. Kontingenz ist in diesem Falle auf solche Art in den erkenntnistheoretischen Prozess eingeschrieben, als wir aus dem eigenen Imaginären nicht entkommen können. Nach Spencer-Brown kann der Beobachter als Entscheidung nicht eingeholt werden. Die Form des Imaginären durchdringt jedoch fassliche Erkenntnis, so wie auch in der Phänomenologie eine Gegebenheit von Dingen angenommen wird, die immer schon im Imaginären wurzelt. Franz Brentano hat den initialen Gedanken hierzu in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt im Begriff der Vorstellung formuliert. Das Phänomen von Intentionalität, also der Aktualisierung eines introjizierten, inkorporierten, assimilierten In-existenten, ist eng mit der Funktion des Imaginären verbunden. Ein mögliches externes Imaginäres kann nur mit dem eigenen Imaginären verstanden werden, denn sonst bliebe das Tafelgemälde einfach nur eine bunte Leinwand, wohingegen ein ganzer Peter erscheinen kann, sobald meine Intentionalität ihn darauf erkennt. Dieses Erkennen ist eine epistemologisch relevante Komponente. Das Imaginäre hat seinen legitimen Platz neben dem Symbolischen als kategoriales erkenntnistheoretisches Register. Es verbleibt also die Aufgabe, der Anregung Lacans folgend, nach einem dritten Register Ausschau zu halten: nach einer Ordnung, die der Psychoanalytiker als Reales bezeichnet.

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Teil 3 Das Reale

Lacans frühe Referenz: Émile Meyerson

Aus den bisherigen Untersuchungen ergeben sich nur wenig Anhaltspunkte, warum die Konstruktion eines dritten Registers plausibel wäre. Zwar haben die phänomenologischen Arbeiten Sartres und Merleau-Pontys einen Begriff des Realen wieder in die Diskussion gebracht, doch schon das Konzept des Symbolischen, als System verstanden, könnte zunächst alle Phänomene einholen und insbesondere alle wissenschaftlichen Anforderungen einer gesicherten Methodik erfüllen. Mit der Kritik Bergsons am diskontinuierlichen Denken und im Strukturalismus von Lévi-Strauss zeigte sich die Notwendigkeit, oder zumindest der Wunsch, nach einem Außer-Symbolischen. Diesem wurde mit der funktionalen Kategorie des Imaginären zunächst hinreichend entsprochen. Es ist auffällig, dass durch alle präsentierten Theorien hindurch auf die eine oder andere Weise die alltagsweltliche Differenzierung von innerlichem und äußerlichem Geschehen ausgehebelt wurde. Schon dadurch wäre eine gesonderte Ordnung des Wirklichen im trivialen Sinne des Wortes ein Rückschritt. In einem symbolischen System gibt es durchaus Wirkungen, die Intentionalität enthält den Aspekt des Ein-wirkens. Ein gesondertes Wirk-liches als dritte funktionale Kategorie scheint niemand zu brauchen. Auch Lacan geht in den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit im Hospital Sainte-Anne nur sporadisch auf die dritte von ihm postulierte Ordnung ein. Insgesamt scheint am Begriff der Wirklichkeit mehr Ballast zu hängen als er Nutzen bringen könnte. Welche Konzepte könnten Lacan trotzdem zum Postulat eines Realen bewegt haben? In dem Aufsatz Jenseits des Realitätsprinzips 1 von 1936 versucht Lacan eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Psychoanalye. In einem Amalgam aus epistemologischen Gedanken und phänomenologischen Versatzstücken interpretiert er dort Freuds zweite Topik als strukturales Grundraster, das geeignet ist, das psychodynamische Geschehen von der konkreten 1

Lacan, Jacques, (1936b) »Jenseits des ›Realitätsprinzips‹« in: ders., Lacan, Jacques, (1936-1966) Schriften III, Weinheim, Berlin, 1994, S. 15-37.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Inhaltlichkeit der Gedanken und Affekte zu trennen.2 Als Referenz für die Behandlung der Frage von Objektivität führt Lacan den Wissenschaftshistoriker Émile Meyerson an: »Ohne uns auf dem erkenntnistheoretischen Terrain zu verirren, behaupten wir zunächst, daß die physikalische Wissenschaft, so gereinigt sie in ihren modernen Errungenschaften von jeder intuitiven Kategorie erscheinen mag, nicht existiert, ohne auf eine umso auffallendere Art die Struktur der Intelligenz zu verraten, die sie konstruiert hat. Wenn ein Meyerson sie als in allen ihren Prozessen der Form der geistigen Identif izierung unterworfen beweisen konnte, einer für die menschliche Erkenntnis so konstitutiven Form, daß er sie durch Ref lexion in den gewöhnlichen Denkvorgängen wiederfindet, […] zeigen dann diese gewiß idealen Punkte, durch welche die Physik an den Menschen geheftet ist, die aber auch die Pole sind, um die sie sich dreht, nicht die beunruhigendste Homologie zu den Angelpunkten, die, […] eine ref lexive Überlieferung ohne Rekurs an die Erfahrung der menschlichen Erkenntnis zuschreibt?« (31)3

Lacan geht es in diesem Vergleich um den Abgleich von Bild und Realem beim Analysanden – wohlgemerkt zu einer Zeit, da die Trias noch nicht explizit ausgearbeitet war. In einer vorläufigen Formulierung könnte man sagen, dass Meyersons Name hier für die Erforschung der anthropomorphen Strukturen stehen soll, die auch die empirischen Wissenschaften durchziehen. Auch Dylan Evans sieht einen Bezug zu Meyerson und schreibt im Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse: »real / das Reale (réel) Lacans Verwendung des Terminus ›das Reale‹ als Substantiv reicht zurück auf eine seiner frühen Arbeiten von 1936. Der Terminus wurde von einigen Philosophen gerne verwendet und ist Schwerpunkt einer Arbeit von Emile Meyerson (auf die sich Lacan im obgenannten Aufsatz bezieht; Ec, 86). Meyerson definiert das Reale als ›ein ontologisches Absolutes, ein wahrhaftiges Selbst-Sein‹ (Meyerson, 1925, S. 79; zitiert nach Roustand, 1986, S. 61). Mit seinem Gebrauch dieses Terminus folgt Lacan der Tradition eines Zweigs der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts. Doch im Verlauf von Lacans Werk durchläuft das Reale viele Bedeutungsverschiebungen und wird auf zahlreiche verschiedene Arten verwendet.« (250) 4

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Vgl. Wörler, Frank, (2014) »Das Über-Ich und seine methodologische Funktion. Lacans Interpretation der Freud’schen Topik« in: Lenhart, Peter et al (Hrsg.), Wo ist das Über-Ich und was macht es dort?, Berlin, 2014, S. 52-68. Lacan, Jacques, (1936-1966) Schriften III, Weinheim, Berlin, 1994. Evans, Dylan, (1996) Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien, 2002.

Teil 3: Das Reale

Das Reale Lacans folgt, wie die Hinweise auf den Epistemologen Meyerson nahe legen, zum Zeitpunkt seiner ersten Erwähnung einem erkenntnistheoretischen Interesse. Doch woher stammt die Idee einer triadischen Konzeption? Die Notwendigkeit einer dritten Ordnung, neben dem Symbolischen und dem Imaginären, lässt sich nicht aus diesen beiden ableiten. Die Traditionslinie Saussure - Jakobson - Lévi-Strauss geht von einer zweiwertigen Semiotik aus. Die dreiwertige Semilogie Peirce’ ist Lacan zu diesem Zeitpunkt mit einiger Wahrscheinlichkeit noch nicht bekannt.5 Möglicherweise ist aber im Werk Meyersons selbst, so mein Ansatz, eine epistemologisch motivierte Trias vorgezeichnet und figurativ unter anderen Termini angelegt. Beim Studium der Meyerson’schen Texte wird es also hilfreich sein, die bislang eingeholten Bestimmungen des Symbolischen und des Imaginären mit den Begrifflichkeiten des Wissenschaftshistorikers zu korrelieren, um die Herleitung eines kategorialen Realen sichtbar zu machen.

5

Vgl. Balat, Michel, (2000) Des fondements sémiotiques de la psychanalyse. Peirce après Freud et Lacan, Paris, Montreal, 2000, S. 8f.

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Meyersons Trias: Die Gesetzlichkeit, die Kausalität und: Carnot!

Émile Meyersons Wissenschaftsphilosophie ist das Vorhaben, eine kleine Zahl bestimmender Erkenntnisprinzipien mittels einer umfangreichen historischen Analyse aufzuweisen. Diese Grundbegriffe benennt er unter anderem mit Gesetzlichkeit, Kausalität, Ursache, Erklärung und Reales. In Abgrenzung zu Auguste Comte – dessen Interesse ganz der Gesetzlichkeit dient – hält er das Wechselspiel der von ihm spezifizierten Prinzipien 1) für faktisch die Wissenschaft in allen Epochen und bis heute bestimmend und 2) dem menschlichen Erkenntnisprozess unveräußerlich zugehörig. Erkenntnis von Welt beschränkt sich für ihn allerdings nicht auf wissenschaftliche Erkenntnis. Der große Einfluss Bergsons ist unübersehbar.6 Dessen Konzept des Werdens sowie die fundamentale Kritik an der rein naturwissenschaftlichen und damit quantitativen Weltsicht werden von Meyerson weiterentwickelt und argumentativ verfeinert. Von Meyersons Werken ist nur sein erstes, Identité et réalité (1908) in deutscher Übersetzung erschienen (Identität und Wirklichkeit, 1933).7 Die weiteren eminenten Schriften De l’explication dans les sciences (1921)8, La déduction relativiste (1925)9 und Du cheminement de la pensée (1931) sind seit den 1990er Jahren in Frankreich wieder aufgelegt worden, nachdem der Theoretiker lange unbeachtet geblieben war. In Frankreich ist jüngst auch einige Sekundärliteratur zu Meyerson erschienen, was einen Hinweis auf die erneute Aktualität 6

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Frédéric Fruteau de Laclos berichtet gar von einem Manuskript, in dem Meyerson die Fiktion aufstellt, spätere Generationen könnten seine Schriften und die Bergsons für das Werk eines einzigen Autors halten: eine quasi schizophrene Gestalt namens »Bereksohn« - schizophren deshalb, weil Meyerson im Spätwerk einen anderen Weg einschlagen wird, als Bergson. Vgl.: Fruteau de Laclos, Frédéric, (2009) L’Épistémologie d’Émile Meyerson. Une Anthropologie de la Connaissance, Paris, 2009, S. 98-103. Meyerson, Émile, (1908), Identität und Wirklichkeit, Leipzig, 1930. Im folgenden: (1908) Identität. Meyerson, Émile, (1921), De l’explication dans les sciences, Paris, 1927. Im folgenden: (1921) Explication. Meyerson, Émile, (1925), La déduction relativiste, Paris, 1925. Im folgenden: (1925) Déduction.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

des Wissenschaftsphilosophen gibt. Im deutschen Sprachraum allerdings ist er nach seinem Tod 1933 nicht mehr beachtet worden. Obwohl es also wünschenswert wäre, sein Werk hier umfassender vorzustellen, werde ich mich auf die für meine Argumentation entscheidenden Punkte seiner Philosophie beschränken müssen. Um dennoch einen Einblick in das Denken des studierten Chemikers zu erhalten, zitiere ich im folgenden etwas ausführlicher aus dem in Übersetzung verfügbaren Erstwerk. In Identität und Wirklichkeit arbeitet Meyerson die Begriffe Gesetzlichkeit und Kausalität heraus und führt eine scharfe Trennung zwischen den oft synonym gebrauchten Termen ein. Zunächst führt er an den Begriff der Gesetzlichkeit heran. Gesetzlichkeit setzt die »Beobachtung und Verallgemeinerung« (3)10 eines Sachverhaltes voraus. Auguste Comte zitierend bestimmt Meyerson das Ziel des Formulierens von Gesetzen als lebenspraktisches: Es geht um eine handlungsorientierte »Voraussicht« (4). »Der Hund versteht, das ihm zugeworfene Stück Fleisch im Fluge zu erhaschen; Beweis genug, daß er im voraus die Bahn kennt, die der fallende Körper beschreiben wird; ohne Zweifel erscheint sie ihm, genau wie uns, als eine Art, sich zu verhalten, die dem unter bestimmten Bedingungen geworfenen Körper eigentümlich ist; d. h. sie erscheint ihm als Gesetz. Goethe hat es gesagt: ›Im Anfang war die Tat.‹« (4f )

Das menschliche Interesse am Erkennen von Gesetzmäßigkeiten entspringt also dem »Selbsterhaltungstrieb« (8). Zweifellos handelt es sich um ein höchst zweckgebundenes Forschen. Ohne dass Meyerson selbst diesen Zusammenhang herstellen würde, kann gesagt werden, dass ein derartiges Denken – des Menschen, in Fortführung der animalischen Vermögen – mit mechanistischen Neurophysiologien konform geht. So sei an Sigmund Freuds Entwurf einer Psychologie 11 erinnert, der das Denken als entwicklungsgeschichtliche Fortschreibung des Reflexbogens betrachtet. Das Erkennen von Naturgesetzen entspringt auch für Meyerson dem Zwang, sich am Leben zu erhalten.12 Als Beobachtung führt er weiterhin an, dass die Vorstellung eines geordneten Universums jedem wissenschaftlichen Unternehmen zugrunde liegt: »Niemals hat ein Naturforscher, der dieses Namens würdig gewesen wäre, daran gezweifelt, daß die gesamte Natur bis in ihre innersten Fasern der Gesetzmäßigkeit unterliegt.« (7) Das Aufkommen der Wissenschaften nimmt Ausgang im Vor10 11

12

Meyerson, (1908) Identität. Freud, Sigmund, (1895/1950) »Entwurf einer Psychologie«, in: ders, Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt/M., 1987, S. 375-486. Erstveröffentlichung: 1950. Für Freud ist das Denken ein Effekt der »Not des Lebens«: Freud, (1895) Entwurf, S. 390. Vgl. zu diesem vielschichtigen Begriff auch: Kirchhoff, Christine, (2009) Das psychoanalytische Konzept der »Nachträglichkeit«. Zeit, Bedeutung und die Anfänge des Psychischen, Gießen, 2009, S. 39ff.

Teil 3: Das Reale

urteil eines prinzipiell kognitiv erfassbaren Universums. Eine Vorannahme, die sie mitunter aus den Augen verliert: »Die Ordnung erscheint schließlich als eine rein empirische Tatsache, und die von uns formulierten Gesetze wie etwas zur Natur Gehöriges, wie Naturgesetze, die von unserem Verstande unabhängig sind. Wer so denkt, vergißt – was doch alle Handlungen unseres täglichen Lebens beweisen – daß wir von dieser Ordnung, von der Existenz dieser Gesetze im voraus überzeugt waren.« (18f )

Meyerson verweist hier auf die Annahme a priori, dass Regelmäßigkeit und Gesetzlichkeit Eigenschaften der Außenwelt darstellen, deren rationale Entschlüsselung prinzipiell möglich ist. Unter dieser Voraussetzung beginnt die Wissenschaft ihr Werk. Doch ist im empirischen Feld immer mit Abweichungen und Varianzen zu rechnen. Ein Umstand, der eine Erklärung fordert: »Auch vergißt man dabei, wie wir zu diesen Gesetzen gelangt sind. Wir haben einzelne und eigentlich einzigartige Erscheinungen beobachtet und aus ihnen allgemeine und abstrakte Begriffe gebildet, und unsere Gesetze beziehen sich in Wirklichkeit nur auf die letzteren. Das Gesetz, das die Wirkung des Hebels regelt, bezieht sich nur auf den ›mathematischen Hebel‹; wir wissen aber sehr gut, daß wir dergleichen niemals in der Natur antreffen werden. [...] Aber selbst wenn wir behaupten, daß ›der Schwefel‹ die und die Eigenschaften hat, so denken wir dabei nicht an dies oder jenes bestimmte Stück des wohlbekannten gelben Stoffes. Zuweilen beziehen sich unsere Aussagen auf eine Art Mittelwert aus den im Handel vorkommenden Stücken, zuweilen sogar […] auf einen sozusagen idealen Stoff, dem wir uns nur mit Hilfe vielfacher Operationen annähern können; die Eigenschaften eines aufs Geratewohl herausgegriffenen Stückes Schwefel können von denen dieses idealen Stoffes erheblich abweichen.« (19)

Die hier geäußerte Auffassung, dass sich unsere empirisch gefundenen Gesetze lediglich auf abstrakte Begriffe beziehen und nicht auf die »eigentlich einzigartige[n] Erscheinungen« (19), korrespondiert mit einem im Kern semiologischen Konzept, wie es auch von Helmholtz vorgeschlagen wird: Wie im ersten Teil herausgearbeitet wurde, handelt es sich hierbei um das operationale und relationale Funktionsprinzip des Symbolischen. Meyerson schreibt: »Das reine Silber ist also genau wie der mathematische Hebel, das ideale Gas oder der vollkommene Kristall [...], eine von einer Theorie geschaffene Abstraktion.« (20) Das Erkennen des Aktualen als probates Ziel der Wissenschaft tritt immer wieder in Differenz zu den Elementen dieser symbolischen Ordnung, um den Lacan’schen Terminus zu benutzen. Meyerson markiert in drastischen

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Worten die Differenz, die er zwischen Wirklichkeit und den abstrakten Gesetzen feststellt: »In Wirklichkeit gelangen wir nur dadurch zu den Gesetzen, daß wir die Natur sozusagen vergewaltigen, indem wir in mehr oder weniger willkürlicher Weise eine Erscheinung aus dem großen Ganzen herausheben und Einf lüsse ausschalten, welche die Beobachtung fälschen würden. Daher kann auch das Gesetz gar nicht unmittelbar die Wirklichkeit beschreiben.« (20)

Gesetzmäßige Beziehungen bestehen zwischen den symbolischen Elementen, nicht zwischen aktualen Elementen. In einer anschaulichen Passage beschreibt Meyerson seine Erfahrungen als Chemiestudent und Laborassistent: »Die Vorlesungsversuche, durch die man die Gesetze zu erläutern meint, erheben zuweilen den Anspruch, uns diese reine Erscheinung zu zeigen. Es ist bekannt, mit welcher Sorgfalt sie vorbereitet werden müssen, um zu gelingen. Aber selbst dann noch machen sie auf den Zuschauer den Eindruck von etwas durchaus künstlichem, der Professor kommt einem vor wie eine Art Zauberkünstler. Jeder, der jemals in einem Laboratorium gearbeitet hat, erinnert sich, wieviel Mühe es zuerst kostet, die scheinbar so einfachen, in den Lehrbüchern beschriebenen Versuche auszuführen. Mit der Zeit bildet sich jedoch die Übung heraus, man ergreift die Vorsichtsmaßregeln immer weniger bewußt und glaubt am Ende, daß die Verifikationsversuche sich sozusagen von selbst machen, ohne daß wir die Natur zu zwingen brauchten […].« (20f )

Diese Schilderung mag als schwaches Argument gelten, zielt man auf das Verhalten reiner Stoffe innerhalb eines theoretischen Rahmens. Doch tatsächlich ist der Anspruch der Wissenschaft, die Realität zu beschreiben, in dem Maße getrübt, wie dieser reine Stoff nicht »im Handel« (19) vorkommt. Die Wirklichkeit muss erst komplex manipuliert werden, damit das Gesetz sich bestätigt. »Das Gesetz ist eine ideale Konstruktion, die nicht das ausdrückt, was wirklich geschieht, sondern das, was geschehen würde, wenn gewisse Bedingungen erfüllt wären.« (21) Man sei an die erste Annäherung Meyersons an die Gesetzlichkeit erinnert: Wie oben dargestellt, ist ihr Ziel die Nützlichkeit, also eine mögliche Prädiktion tatsächlicher Ereignisse. Im Verlauf seiner dialektischen Argumentation wird dieses Motiv geschwächt durch die Beobachtungen aus dem Alltagsbetrieb des Forschers: Es gibt keinen reinen Schwefel im Handel; die Versuche gestalten sich als umständlich. Zwar haben Helmholtz und, in seiner Nachfolge, Cassirer gezeigt, dass Relationalität und Operabilität des symbolischen Registers die Erkenntnismöglichkeiten enorm steigern. Doch die hierzu notwendigen Abstraktionen vom realen Einzelfall entfernen sich von der Ordnung des Wirklichen, »sie drücken die Ordnung nicht besser aus,

Teil 3: Das Reale

als ein Wort die Sache, die es bezeichnet, denn in beiden Fällen müssen wir uns der Vermittlung unseres Verstandes bedienen.« (21) So zeigt der Begriff des Gesetzes, wie ihn Meyerson einführt, eine starke Affinität zum Symbolischen, wie er im ersten Buchteil herausgearbeitet wurde. Als darüber hinaus führende Bestimmungen können nun genannt werden: die Handlungsorientierung und der idealisierende Charakter, welcher die psychologischen Voraussetzungen ausblendet. In diesem Sinne zielt das Symbolische auf etwas – als Prädiktion –, das es niemals vollständig erreichen kann. Die Abstraktion entfernt sich von den realen Einzelfällen. Meyerson beschreibt diese methodische Dialektik im Sinne einer Epistemologie. Es geht ihm nicht um einen Angriff auf die Wissenschaften, lediglich um eine methodologische Aufklärung, die er mit Material aus der Wissenschaftsgeschichte zu stützen sucht. Gesetzmäßigkeiten aufzustellen und sich darin zu begnügen, ist das Programm des Positivismus nach Auguste Comte. Meyerson hält eine solche Metatheorie für ungenügend, um das tatsächliche wissenschaftliche Geschehen zu beschreiben.13 Seine These ist: Die Wissenschaft nutzt, wie auch der gemeine Menschenverstand, zwei kategoriale Erkenntnisformen: Gesetzmäßigkeit und Kausalität. Den Begriff der Kausalität sieht Meyerson in reinster Form bei Leibniz im Prinzip des bestimmenden oder zureichenden Grundes formuliert: »[I]n der Dynamica heißt es (Satz 5): ›Die gesamte Wirkung kann die volle Ursache oder ihresgleichen reproduzieren.‹ Denselben Gedanken drückt er [Leibniz, F.W.] in seinem Essay de Dynamique folgendermaßen aus: ›Denn wenn diese lebendige Kraft sich jemals vermehren könnte, so gäbe es eine Wirkung, die mächtiger wäre als ihre Ursache, oder auch ein perpetuum mobile, d. h. eine Bewegung, die ihre Ursache und noch etwas mehr reproduzieren könnte, was absurd ist. Könnte aber die Kraft sich vermindern, so würde sie schließlich ganz auf hören; denn da sie niemals zunehmen, dagegen stets abnehmen könnte, so würde sie immer mehr zurückgehen, was der Ordnung der Dinge zweifellos widerspricht.‹ Kurz, das Leibnizsche Prinzip läuft auf die bekannte Formel der Scholastiker hinaus: causa aequat effectum.« (17f ) 14

Die Ursache ist gleich der Wirkung. Weitere Ausdrücke des Prinzips der Kausalität sieht Meyerson in: Platons »Jedes Entstehen ohne Ursache ist unmöglich«, Aristoteles’ »Die Natur tut nichts ohne vernünftigen Grund noch umsonst« und Anaxagoras’ »Nichts entsteht und nichts vergeht«.15 Während das 13 14

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Vgl. Fruteau de Laclos, Frédéric, (2009) Épistémologie, S. 25f. Meyerson, (1908) Identität. Die Leibniz-Zitate weist er folgendermaßen aus: Leibniz, Mathematische Schriften, Ausg. Gerhardt, Halle 1860, Bd. VI, S.439, 219. Meyerson, (1908) Identität, S. 17f. Zitate ausgew. als: Platon, Timäus, 16, 46; Aristoteles, De Coelo, II, 11.

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Gesetz die Abfolge von Änderungen beschreibt, verlangt das Kausalprinzip »Gleichheit zwischen Ursachen und Wirkungen, d. h. daß die ursprünglichen Eigenschaften zusammen mit der Änderung der Bedingungen gleich den geänderten Eigenschaften sein müssen.« (32)16 Die Gründe des Menschen, ein Kausalprinzip a priori zu setzen, entstammen nicht dem Selbsterhaltungstrieb. Die Annahme, dass Objekte in der Zeit überdauern, widerspricht mitunter sogar unserer täglichen Beobachtung, denn »wir haben die sehr deutliche Empfindung, daß unsere eigene Individualität derselben Regel [der unaufhaltsamen Veränderung, F.W.] unterworfen ist.« (32) Während die – von Comte favorisierte – Gesetzmäßigkeit dem Überleben dient und sich den Verhältnissen opportun anpasst, ist das Kausalitätsprinzip ein »auf das Dasein der Gegenstände in der Zeit angewandte Prinzip der Identität.« (35) »Wo wir es zur Geltung bringen, wird die Erscheinung rational unserer Vernunft angemessen; wir begreifen sie und können sie erklären. Jeder von uns fühlt in sich diesen Drang zu erkennen und zu begreifen.« (33)

Also ist es die befriedigende Fasslichkeit im Sinne eines Signifikats, die mittels der Kausalität hergestellt wird. Während die Signifikanten als arbiträr gehandelt werden, als operationale Glieder wesentlich Verschiebungen unterliegen und so ihren Wert erhalten, beruht das Begreifen im Sinne einer ein-gängigen Vorstellung auf der formalen Assimilation. Man könnte der Beobachtung eines »Drang[s] zu erkennen« (33) die Beobachtung der intellektuellen Zufriedenheit hinzufügen, die sich als Aha-Erlebnis nur einstellt, wenn die Ursache gefunden wurde.17 Die so verstandene Kausalität ist scharf von anderen Erkenntnisformen abzugrenzen. Ihre funktionale Erscheinungsform ist Identität, sei es in der Zeit oder im Raum. Diese Identität ist weiterhin eine wichtige Grundlage

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Meyerson, (1908) Identität. Hervorhebung F.W. Lacan spielt noch im Jahre 1964 mit den Begriff lichkeiten Meyersons: Die Ursache ( frz. cause) »unterscheidet sich von dem, was in einer Kette Determination ist, anders gesagt: sie unterscheidet sich vom Gesetz. [...]Wenn wir […] von Ursache sprechen, ist immer Antibegriff liches, Unbestimmtes im Spiel. Die Mondphasen sind die Ursache für die Gezeiten – da ist Leben! Wir wissen sofort, hier ist das Wort ›Ursache‹ gut gewählt. […] Kurz: Ursache ist nur, wo es hapert« (Lacan, Jacques, (1964) Seminar XI, S. 28). Anmerkung: Auch Gaston Bachelard beispielsweise trifft die Unterscheidung Ursache - Determinismus (vgl. Bachelard, Gaston, (1934) Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt/M., 1988, S. 111ff ), doch dass es mit der Kausalität hapert, verweist auf die deutliche Kritik Meyersons an diesem Erkenntnisprinzip (mit all ihren Anklängen an Comte). Bachelard stellt lediglich fest: »Das Kausalitätsprinzip paßt sich den Erfordernissen des objektiven Denkens an, und darin kann es durchaus als die Grundkategorie dieses Denkens gelten.« (ebd.) Auf die Problematik eines Begriffs wie objektives Denken kann hier nur hingewiesen werden.

Teil 3: Das Reale

unserer Logik. Meyerson nennt sie sogar die »wahre Quintessenz der Logik, die Form, in die der Mensch seine Gedanken gießt« (35)18. Die Kausalität steht für die Unveränderlichkeit, Unbeweglichkeit und mathematische Gleichheit und in der Physik beispielsweise für das Trägheitsprinzip, die Erhaltung der Materie und den Energieerhaltungssatz19. Sie garantiert die »Identität der Gegenstände in der Zeit« (38). Auch im Alltagsverständnis ist die Kausalität ein fundamentales Prinzip: »Wollen wir eine Erscheinung erklären, ihre Ursachen erforschen, so suchen wir entweder ihre Präexistenz in der Zeit zu erkennen – das heißt wahrhaft das Postulat der Kausalität anwenden – oder wir suchen die empirische Regel, die ihre zeitliche Änderung beherrscht, was darauf hinausläuft, daß wir - vorläufig und bis wir mehr leisten können – nur das Postulat der Gesetzmäßigkeit anwenden. […] Gesetz oder zeitliche Identität, sie liegen allen unseren Erklärungen auch außerhalb der Naturwissenschaften zu grunde; hier die eine, dort die andere, meistens aber beide vermischt, ohne daß wir uns sozusagen dieser Vermengung bewußt würden.« (38f )

Im Alltag wie in der Wissenschaft sind Erkenntnisse aus beiden Ordnungen – der gesetzlichen und der kausalen – zusammengesetzt. Logisch-hierarchisch betrachtet, schließt das Erforschen der Ursache ( frz. cause) die Erforschung des Gesetzes mit ein. Sie beinhaltet aber zusätzlich die Vorstellung der Identität in der Zeit.20 Kausalität ist, so weist Meyerson in zahlreichen philosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Beispielen nach, faktischer Bestandteil jeder aussagefähigen Theoriebildung. Dabei sind gewisse Theoreme stärker am Kausalitätsprinzip orientiert als andere. Insgesamt ist der Anteil jedoch – so legt Meyerson nahe – allgemein höher, als auf den ersten Blick anzunehmen wäre. »Wir wenden das Kausalitätsprinzip an, wenn wir die Erscheinung zu begreifen suchen. Wir werden also seine Auswirkungen am deutlichsten in demjenigen Teil der Wissenschaft finden, der der Erklärung gewidmet ist.« (41)

Auch auf die Durchsetzungsfähigkeit einzelner Theorien im Diskurs hat der erklärende Anteil im Sinne der Kausalität Einfluss. Theorien setzen sich durch und halten sich, wenn das Kausalitätsprinzip ausreichend bedient ist. Zu den verschiedenen Ausformungen der Atomlehre, die immer wieder auf das Bild des substanziellen und überdauernden Partikels zurückgreifen, befindet Meyerson beispielsweise: 18 19 20

Meyerson, (1908) Identität. Vgl. die diesbezüglichen Kapitel drei bis fünf in: Meyerson, (1908) Identität, S. 108 – 219. Vgl. Meyerson, (1908) Identität, S. 38.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »Die Tatsache, daß das Prinzip der Identität in der Zeit einen integrierenden Bestandteil unserer Vernunft bildet, erklärt die Spontaneität, mit der diese Theorien auftauchen und die erstaunliche Leichtigkeit, mit der sie sich entwickeln.« (97)

Der Wunsch nach Erklärung steht in der Praxis dem empirisch gestützten Prinzip der Gesetzlichkeit, wie es von Comte ausschließlich gefordert wird, entgegen oder aber ergänzt dieses. Dass das erklärende Prinzip der Kausalität im Sinne Meyersons vor ihm noch nicht kritisch diskutiert wurde, mag daran liegen, dass es sich um einen »unbewußte[n] logische[n] Prozeß« (100) handelt. So kann es passieren, dass eine fassliche Erklärung fälschlicherweise als Resultat von erkannten Gesetzen angenommen wird – so wie dies in der Mechanistik zu beobachten ist. Meyerson korrigiert den epistemologischen Irrtum: »Die erklärende Kraft der [mechanistischen, F.W.] Theorien beruht einzig und allein […] auf dem Prinzip der Identität in der Zeit, das sie zur Geltung bringen wollen […]« (99) Das Funktionsprinzip der Identität wurde im zweiten Buchteil über die Ordnung des Imaginären bereits mit der Vorstellung in Verbindung gebracht. Mit Brentano wurde dort eine Psychologie präsentiert, die die Vorstellung – im Sinne von formaler Identität im intentionalen Akt – als jedem Urteil und jeder Gemütsbewegung vorgeordneten Akt setzt. Auch Meyerson hat eine psychologische Erklärung für die Macht des Identitären im Erkenntnisprozess: »Der Begriff der Ursache ist [...] in Wirklichkeit ein doppelter und gehört zum Teil der Welt des Verstandes, zum anderen Teil der des Willens an. Es könnte sogar sein, daß dieser letztere Begriff psychologisch betrachtet der frühere wäre, d.h. daß die Vorstellung von der Verknüpfung ursprünglich aus dem Gefühl entsteht, daß ich imstande bin, nach Belieben eine Wirkung auszuüben; die Identität dann erst nachträglich auf diese ursprüngliche Vorstellung aufgepfropft werden [sic], um angesichts der Unmöglichkeit, den Dingen einen Willen ähnlich dem meinen zuzuschreiben, das Bedürfnis nach Begreif lichkeit zu befriedigen. Mag es nun aber um dieses Problem der metaphysischen Psychologie stehen, wie es wolle, sicher ist, daß in der Wissenschaft der Begriff der aus der Identität abgeleiteten Kausalität [...] der herrschende ist.« (40)

Aus einem strikt analytischen Blickwinkel ist die formale Identität, die im Zusammenhang mit Brentano Bestand hatte, nicht identisch mit Meyersons Identität in der Zeit. Nimmt man Identität jedoch als Funktionsbegriff, so ist dieser in jedem der Fälle eine Möglichkeit, etwas zu benennen, das vom Symbolischen und dessen Funktionsformen in Urteilen und Gesetzen verschieden ist. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Philosophien wiederum – ist die begriffliche Achse des Imaginären erst einmal festgestellt – kann anregen, die dahinter stehende Figur weiter herauszuarbeiten.

Teil 3: Das Reale

Im obigen Zitat, das nicht mehr als eine Spekulation darstellt (denn es heißt dort: »Es könnte sogar sein...«), rekurriert auch Meyerson implizit auf den psychologischen Begriff der Introjektion.21 Wie im ersten Teil über das Imaginäre dargelegt, ist damit gemeint, dass man äußerlichen Erscheinungen, Gegenständen oder Personen ein Innenleben zuspricht, dessen Beschaffenheit man aus der Erfahrung des eigenen inneren Erlebens ableitet. Die Ordnung der Kausalität, mitsamt ihren Korrelaten Ursache und Erklärungskraft, könnte, so Meyersons Vorschlag, ein Substitut der Introjektion sein. Mithin stellt sie eine Überlagerung dar, denn sie ist »aufgepfropft« (40).22 So wie die Psychoanalyse den Begriff der Introjektion invertiert hat, und darin die Übernahme von Objekten ins Ich bezeichnet, ist auch der Prozess der Überlagerung von Kausalität und Introjektion in beide Richtungen denkbar. Dann wäre die kausale Identität vorgängig, deren Konstanzerfahrung anschließend das Ich den Dingen entlehnt und sich aneignet (zur Beruhigung seines höchst prekären Daseins). Ungeachtet einer solchen Fortführung der Meyerson’schen Spekulationen zeichnet sich eine schematische Übereinstimmung der Prozesse des Imaginären und der Funktion der Kausalität ab. Meyerson selbst rückt die erklärende Funktion der Kausalität in die Nähe der Identifikation mit einem Objekt, die wiederum zentral für die Funktion des Imaginären ist und mit der formalen Identität im Sinne der Intentionalität beschrieben werden kann. Seine psychologische Spekulation zeigt, dass die Engführung des oben herausgearbeiteten Begriffs des Imaginären mit seinem Konzept der Kausalität begründet ist. Genau genommen beschreibt er die Fortführung des imaginären Funktionsprinzips, das sich zunächst als Vorstellung vor jedem Urteil äußert und dessen Charakteristika formale Identität, attributive Armut und Intentionalität sind, im Erkenntnisprozess. In gleicher Weise, wie es für die Figur des Imaginären deutlich wurde, lässt sich auch der »Kausaltrieb« (422) nur indirekt aufweisen. Meyersons Weg ist dabei die wissenschaftshistorische Analyse. Indem er Gesetz und Kausalität begrifflich trennt, schafft er eine vergleichbare Situation, wie sie mit der Differenzierung von symbolischer und imaginärer Ordnung vorliegt. Wie es bereits für das Symbolische sichtbar wurde, ist auch Meyersons korrespondierender 21

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Was hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht ausgeführt werden kann, was aber auch nicht gegen die vorgelegte Argumentation spricht: Meyerson differenziert drei Erscheinungsformen von Kausalität: einer wissenschaftlichen, einer theologischen (auf einem freien Willen fußenden) und einer effizienten (gleichsam abduktiven). Vgl. Meyerson, (1908) Identität, S. 39 und 324. Allesamt sind jedoch Variationen der gleichen Figur: der »kausale[n] Tendenz« (220) als anthropologischer Konstante, die Meyerson in der abendländischen Geistesgeschichte aufweist. Auf die Spitze getrieben würde dies bedeuten, dass die psychologische Funktion der Kausalität den Platz des vor-philosophischen Animismus einnimmt. Ein Aspekt, der mit Einschränkungen auch für den Begriff des Imaginären diskussionswürdig wäre.

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Begriff der Gesetzlichkeit relativ einfach zu erschließen. Die Dominanz des Gesetzesbegriffes in der methodischen Reflexion erschwert es weiterhin, die Kausalität auszuweisen, was an die Unzugänglichkeit des imaginären Registers erinnert. Meyerson kritisiert dies deutlich: »Wir haben gesehen, daß wir zuweilen den Begriff des Gesetzes da gebrauchen, wo wir in Wirklichkeit an die Ursache denken. Das ist eine Synekdoche; wir betrachten die Aufstellung einer gesetzmäßigen Beziehung als Vorbereitung derjenigen einer Kausalbeziehung. Nun beruht aber das Kausalprinzip auf dem der Identität, der Grundlage unserer Vernunft. Könnte es also nicht sein, daß unser Glaube an die Ordnung in der Natur daher kommt, daß wir sie im Grunde als der Identität unterworfen ansehen?« (476)

Die Dimension erklärender Kausalität ist für Meyerson ein epistemologisch zu berücksichtigendes Faktum, dessen Ausformungen besonders tragend in den naturwissenschaftlichen Konzepten der Neuzeit werden: Ganze Kapitel widmet er dem Trägheitsprinzip, der Erhaltung von Materie und Energie. Überall spielt der Kausalitätstrieb beim Aufstellen dieser Theoriefiguren eine Rolle. Es wird deutlich, »wie stark sich das Postulat von der Identität der Dinge in der Zeit in der Naturwissenschaft geltend macht« (220). Erst die Theormodynamik und die damit entdeckten Phänomene der Entropie widersprechen der »kausale[n] Tendenz« (220) und verweisen möglicherweise auf eine dritte Ordnung. Doch bevor diese Wende hier Thema werden soll, komme ich nochmals auf Meyersons psychologische Spekulationen zurück und zeige die essenziellen Bezüge zu den in den vorangehenden Kapiteln besprochenen Theoremen auf. Jakob von Uexküll kommt in seinem Buch Innenwelt und Umwelt der Tiere zu weitreichenden Schlüssen, was das Verhältnis des Tieres wie auch des Menschen zu seiner Umwelt angeht. Wir erinnern uns, dass es in der »Umwelt eines jeden Tieres […] nur Dinge [gibt], die diesem Tier ausschließlich angehören.« (218)23 Diese Umwelt trägt es »wie ein undurchdringliches Gehäuse sein Lebtag mit sich herum« (219). Uexküll zieht die Konsequenz, dass es einen »allgemeinen absoluten Raum und eine allgemeine absolute Zeit, die alle Lebewesen umschließen« (219) nicht gibt. Infolgedessen hat auch der Mensch ein festes Gehäuse, »das ihn von seiner Geburt bis zum Tode dauernd umschließt« (219). Dieses Gehäuse stellt die individuelle Erscheinungswelt dar, in der der Mensch lebt – gemeinhin Welt genannt. »In ihr befindet sich der Himmel, der den Horizont umgrenzt mit Sonne, Mond und Sternen als sein ausschließliches Eigentum, ferner der Erdboden mit Menschen, Tieren und Pf lanzen, soweit seine Sinne reichen.« (219) 23

Uexküll, (1909) Umwelt.

Teil 3: Das Reale

Derart in seinen Kosmos eingelassen, empfindet der Mensch intuitiv ein ihm Äußerliches als existent. Dieses erscheint ihm im Register des Imaginären, bevor er, darauf auf bauend, den euklidischen und den sozialen Raum hinzufügt. Man kann sogar präzisieren, dass das Erscheinen der von Uexküll beschriebenen Erscheinungswelt die imaginäre Funktion selbst ist.24 Wie kommt es nun zu einem solchen Welt-bild? ist eine Frage, die mit Meyerson weiterverfolgt werden kann: »Es läßt sich [...] nicht bestreiten, daß wir eine unwiderstehliche Neigung haben, unsere Empfindungen zu hypostasieren, d.h. sie von uns loszulösen und ihnen ein Dasein außerhalb von uns zuzuschreiben.« (380) 25

Der Funktion des Imaginären, der Identität in der Zeit, kommt dabei die Schlüsselrolle zu, die wir nun als Brentanos Funktion der Vorstellung identifizieren können, sofern hier die Objektkonstitution stattfindet.26 Meyerson findet seine Referenz bei Bergson: »So glaubt Bergson, daß »stabile Bilder von der Instabilität des Wirklichen« für uns nötig sind, um die Wirklichkeit praktisch zu erkennen, m. a. W. um Regeln aussprechen zu können, die uns zu handeln gestatten, sind wir genötigt, die Erhaltung gewisser Begriffe vorauszusetzen.« (457)

Die Figur ist hier die gleiche wie bei Brentano, insofern stabile Bilder den Vorstellungen entsprechen: beides images, auf welche Regeln, Urteile, Affekte und Handlungen dann nachgeordnet auf bauen können.27 Mit den Augen Uexkülls gesehen handelt es sich dabei um diejenige Funktion, die als Gehäuse (genau-

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Auch Meyerson bestimmt seine Identitätsfunktion als für Mensch und Tiere gleichermaßen geltendes Prinzip. Thomas R. Kelly schreibt: »In fact he [Meyerson, F.W.] goes so far as to profess belief that the higher animals employ the same process of identification in satisfying their curiosity or in neglecting differences so that a genus such as ›edible herb‹ is arrived at by them, ›sans quoi, en effet, il ne parviendrait point à brouter.‹« (Kelly, Thomas Raymond, (1937) Explanation and Reality in the Philosophy of Émile Meyerson, Princeton, 1937, S. 12. Das enthaltene Meyerson-Zitat ist ausgewiesen mit: Meyerson, »Le sens commun viset-il la connaissance?« in: Revue de métaphysique et de morale, jan.-mars, 1923, pp. 13-21, hier: p. 14) Meyerson, (1908) Identität. Vgl. Chrudzimski, Arkadiusz, (2001) Intentionalitätstheorie beim frühen Brentano, Dodrecht, Boston, London, 2001, S. 13-26. Besonders prägend scheint mir der Aspekt, dass Urteile (Brentano) und Gesetze (Meyerson), also beides logische Prozesse, auf den sehr basal zu verstehenden Funktionen des Imaginären (hier Identität, dort Vorstellung genannt) nachgeschaltet auf bauen. In Bezug auf Meyerson schreibt Kelly: »[I]dentification is an extremely simple process [...]« (Kelly, (1937), Explanation, S. 12).

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

er: von einem externen Beobachter als Gehäuse hypostasiert) den spezifisch menschlichen Kosmos bildet. Auch Sartres Beobachtung der Starrheit und Fixiertheit (seines(!) Begriffs) des Imaginären kann als limitierendes Gehäuse interpretiert werden, das ein Existenzialist durchbrechen muss, will er zu einer ernstzunehmenden Subjektivität gelangen. Im Sinne der Psychoanalyse wiederum kann gelten, dass der Neurotiker unter der Stabilität seiner unangepassten Bilder leidet. Während Freud sich mit der Bewusstwerdung dieser Bilder als therapeutisches Ziel begnügt, strebt Sartres Existenzialismus die Emanzipation durch Handlung an. Nicht zuletzt entspricht das der Linguistik entlehnte Konzept eines Signifikats, wie es Lévi-Strauss in seinen ethnologischen Analysen benutzt, dem Kausalitätstrieb, indem es strukturelle Konstanten einführt. Etwas zugespitzt formuliert, folgt das Bestreben der strukturalen Anthropologie – hinter den kontingenten kulturellen Formen historisch und örtlich übergreifende, universelle Strukturen aufzuweisen –, dem von Meyerson herausgearbeiteten Wunsch nach Identität.28 Diese von verschiedener Seite zusammengetragenen funktionalen Figuren sind variierende Beschreibungen dafür, wie sich ein menschliches Subjekt in seiner Umwelt einrichtet. Meyerson geht in seiner Spekulation weiter ins Detail und hebt auf die unbewusste Konstruiertheit dieser Umwelt ab: »Der Gang des unbewußten Schlußverfahrens, das wir hier annehmen, wäre also etwa folgender: ich habe einen Komplex von Empfindungen gehabt, den ich ›roter Tisch‹ nenne; ich weiß, daß diese Empfindungen wiederkehren können; um nun meinem Kausaltrieb zu genügen, nehme ich an, daß diese Empfindungen auch in der Zwischenzeit existieren. Da sie aber nach der Voraussetzung nicht in mir existieren, so müssen sie anderswo sein; es muß also ein ›anderswo‹ geben, ein Nicht-Ich, eine Welt außerhalb meines Bewußtseins.« (380) 29

Der inspirierende Punkt an dieser Darstellung liegt darin, dass das Außen schlicht eine Folge des Identitätsdenkens ist. Die Welt als Nicht-Ich ist damit lediglich eine Behelfskonstruktion, die aus einer anderen vorgängigen Erfordernis des menschlichen Denkens die Konsequenz bedeutet: Primär geht es um die Identität in der Zeit oder im Raum, die den roten Tisch irgendwo parken muss, wenn er nicht präsent ist.30 Auch dieser Gedanke lässt sich mit dem 28

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Der Strukturalismus kann deshalb mit Meyerson als reaktionäre Strömung beschrieben werden, die sich der Tendenz, dass wissenschaf ltiche Gegenstände immer unfasslicher oder irrationaler werden, entgegen stellt. Meyerson, (1908) Identität. Oder, wie Meyerson über die Objekte schreibt: ... »daß sie wirklich existieren, daß sie (wenn man so sagen darf ) außerhalb von uns spazieren gehen können.« (Meyerson, (1908) Identität, S. 381)

Teil 3: Das Reale

Konzept der Intentionalität korrelieren: In der Vorstellung ist der rote Tisch intentional enthalten, er ist in-existent, also in-der-Vorstellung-existent. Die Vorstellung, l’imagination, erzeugt die Welt: Es handelt sich um eine Funktion, die Funktion der imaginären Ordnung. Es ist nicht eine objektive Außenwelt, die sich in der Vorstellung widerspiegelt. Meyerson besteht darauf, »daß die Empfindung ursprünglicher ist als die Außenwelt; denn deren Existenz ist ja nur erschlossen« (381) und »daß der gemeine Menschenverstand die Vorstellung eines gegenwärtigen Objekts mit Hilfe von hypostasierten, mehr oder weniger umgeformten Empfindungen bildet und daß folglich die Vorstellung von einem abwesenden Gegenstand aus den gleichen Empfindungen aufgebaut ist, denen man Beständigkeit zuschreibt.« (382)

Objekte sind das Ergebnis des imaginären Prozesses.31 Dies gilt für Gegenstände des Alltags genauso wie für die wissenschaftlichen Dinge. »Auch hier macht sich das Kausalprinzip geltend, das Streben, aus dem Bedürfnis nach Erklärung alle Dinge ohne Veränderung beharren zu sehen; auch wird zur Befriedigung dieses Bedürfnisses dasselbe Verfahren einer Ersetzung der qualitativen Empfindung durch eine quantitative Ursache angewandt.« (382)

In der späteren Schrift La déduction relativiste (1925) verfeinert Meyerson die hier anklingende Psychologie: »Le concept d’un réel situé en dehors de nous, tel que le pose l’ontologie spontanée de la perception, naît de notre effort constant d’expliquer nos sensations. C’est parce que nous ne pouvons concevoir comment elles font pour changer que nous supposons qu’elles dépendent d’une cause plus constante qu’elles, cause que nous sommes dès lors obligés de placer en dehors de notre conscience. Cet objet est donc tout d’abord un ensemble de sensations projetées en dehors du moi, hypostasiées. Mais ces sensations ne sont point uniquement celles que j’éprouve actuellement, tout au contraire cellesci jouent un rôle bien peu important à côté de celles que, par suite de l’opération de ma mémoire principalement, je juge pouvoir éprouver. Un objet n’est pas l’hypostase de la sensation visuelle, tactile, olfactive, etc., momentanée, il est celle de l’ensemble des sensations de toutes sortes que je me rappelle avoir éprouvées dans une foule de circonstances ou que je m’imagine devoir éprouver dans une circonstance donnée. L’on se rend d’ailleurs compte aisément que, dans le concept de l’objet, ces sensations

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Auch beim frühen Brentano lässt sich eine Objekttheorie aus der Intentionalitätslehre entwickeln. Sowohl bei Meyerson wie auch bei Brentano ist das Objekt ein Effekt der imaginären bzw. vorstellenden Funktion. Zu Brentano vgl.: Chrudzimski, (2001) Intentionalitätstheorie, S. 10-49.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale en puissanee prévalent sur les sensations actuelles, au point que, comme le dit M. Bergson, ›percevoir finit par n’être plus que’une occasion de se souvenir‹.« (17) 32

In Rückgriff auf Bergson beschreibt Meyerson den Objektkonstitutionsprozess als Zusammensetzung aus erinnerten Situationen und Bezügen und möglichen Handlungsoptionen. Am allerwenigsten sind dabei die aktuellen Sinneseindrücke ausschlaggebend. Doch sei daran erinnert, dass es sich um ein »unbewußte[s] Schlußverfahren[]« (380)33 handelt, das dem bewussten Denken und Urteilen vorangestellt ist. Erzeugt wird so die erlebte umfassende Wirklichkeit, die Außenwelt beziehungsweise die Alltags-Ontologie unserer Wahrnehmungen, welche, so kann man folgern, dem imaginären Prozess entspringt. Auch wenn in dieser späten Schrift der beschriebene Vorgang psychologisch vielleicht eingängiger ist, halte ich die Radikalität der frühen Gedanken Meyersons – die Objektkonstitution als sekundär aus dem Kausalitätstrieb abzuleiten – für besonders fruchtbar. Im Begriff der Identität sehe ich ein funktionales Prinzip, das sich nicht eindeutig dem Denken, dem Empfinden, dem Kognitiven oder dem Affektiven zuschlagen lässt. Als Funktion ist der Identitätsbegriff eng mit der imaginären Ordnung verbunden. Dieser Zusammenhang verdeutlicht, dass das Imaginäre nicht umstandslos mit dem Affektiven oder dem Visuellen, das Symbolische nicht mit dem Rationalen oder dem bewussten Denken gleichgesetzt werden kann. Hingegen gilt: Vorstellende Intentionalität kann als Identitätsfunktion aufgefasst werden. Zeichenlogisch (in einer binären Semiotik) ist die Identität im Signifikat repräsentiert.34 Das Alltagsdenken und das wissenschaftlich elaborierte Denken: beide sind dem Identitätsstreben des Verstandes unterworfen.35 Es entsteht ein »Weltbild« (383), also ein image der Welt, das wir sodann mit anderen Menschen teilen, was die Beziehungen vereinfacht. »Unter diesem Gesichtspunkt kommt es wenig darauf an, ob unsere Vorstellungen den Dingen mehr oder weniger angemessen sind; da die Irrtümer bei den anderen

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Meyerson, (1925), Déduction. (Das Bergson-Zitat ist ausgewiesen als: H. Bergson, Matiére et mémoire, Paris, 1903, p. 59.) Meyerson, (1908) Identität. In der dreiwertigen Semiologie Peirce’ entspräche die Identität phänomenologisch (bzw. im Phaneron) der Erstheit. Im relationalen Gefüge findet sie sich im Geschehen, das sich zwischen unmittelbarem und absoluten Objekt einstellt, zwischen O’ und O«. Vgl. Nordtug, Birgit, (2004) »Subjectivitiy as an unlimited Semiosis: Lacan and Peirce« in: (Z) Studies in Philosophy and Education, Volume 23, Issue 2-3, March 2004, S. 87-102. Zu repräsentationalen und relationalen Darstellungsweise siehe auch: Schönrich, Gerhard, (1999) Semiotik zur Einführung, Hamburg, 1999. Vgl. Meyerson, (1908) Identität, S. 382f.

Teil 3: Das Reale Menschen die gleichen sind, so eliminieren sie sich, wenn wir mit ihnen verkehren.« (383)

In Rückgriff auf Lévi-Strauss kann auch gelten, dass innerhalb einer Kultur nicht die Signifikate den menschlichen Austausch bestimmen, sondern die kontingenten, aber innerhalb einer Sprache und einer Kultur etablierten Signifikanten. Der Ausdruck Weltbild, den Meyerson anführt, steht demnach für den Umschlagspunkt oder das Scharnier, wo Imaginäres und Symbolisches in Interaktion geraten. Das Bild – image – rührt von der spezifisch menschlichen Konstruktion eines Außen her. Die Welt hingegen gehört bereits dem diskursiven Stil des Symbolischen an. Erst in dieser Welt der Objektivierung im landläufigen Sinne, kann sich das Bild stabilisieren.36 Euripides zitierend, verweist Meyerson auf die Bedeutung der Sprache: »Zwischen den Menschen ist nichts gleich, nichts ähnlich außer den Namen der Dinge« (383). So verbinden sich Kausalität und Gesetz, in unseren Termini Imaginäres und Symbolisches, zu einem Weltbild und beglaubigen sich gegenseitig. Die Konstanz der Dinge als Effekt der Vorstellungsfunktion ist in den meisten Fällen eine Voraussetzung dafür, überhaupt Regeln und damit Vorhersagen aufstellen zu können. Andererseits verständigen sich die Menschen mittels der abstrahierenden Symbole über die Beständigkeit der Gegenstände, was den Glauben an deren Existenz erhöht. »Es ist […] sicher, daß, wenn diese Welt […] erst einmal konstituiert ist, die Voraussicht dadurch erleichtert wird. M. a. W.: die Vorstellungen, die durch das Kausalprinzip (oder, wenn man will, mit seiner Hilfe) geschaffen werden, begünstigen die Anwendung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit im Gebiete des gemeinen Menschenverstandes gerade so wie in dem der Wissenschaft. Da auf der anderen Seite die verallgemeinerte Erfahrung, d. h. die Gesetzmäßigkeit, zur Bildung der Wirklichkeit des gemeinen Menschenverstandes beiträgt, so ergibt sich daraus, daß von Anbeginn unseres Denkens an die beiden Prinzipien der Kausalität und der Gesetzmäßigkeit einander in die Hände arbeiten und daß ihre Wirkungen sich in unentwirrbarer Weise miteinander verschränken, genau wie später in der Wissenschaft.« (384)

Imaginäre und symbolische Funktion produzieren gemeinsam eine Realität. Beide Funktionen sind gleichurspünglich. Eine Verlaufsform der Genese beider Register, eine zeitliche Abfolge schließt Meyerson aus. Denn nicht nur die Effekte der zwei Erkenntnisfunktionen sind »unentwirrbar[]« (384), die beiden Funktionen selbst gehören »von Anbeginn unseres Denkens« (384) zu diesem. 36

Meine Analyse dieser Passage deckt sich mit dem Zwei-Spiegel-Schema Lacans. Der Hohlspiegel repräsentiert das Imaginäre, das Bild, der Planspiegel das Symbolische, die Welt. Vgl. Lacans Darstellung in: Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 162.

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Die selbe Figur trifft man – wie bereits ausgeführt – bei Lévi-Strauss an, der das Entstehen der Signifikanten und der Signifikate ebenfalls gleichursprünglich denkt: »Die Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen können. Die Dinge haben nicht allmählich beginnen können, etwas zu bedeuten.« (38)37 Demnach ist menschliches Erkennen ein Prozess, an dem Imaginäres und Symbolisches gleichermaßen funktional beteiligt sind. Eine Wissenschaft, die gemäß des Comte’schen Diktums nur auf abstrakten Symbolisierungen auf baut, ist, nach Meyerson, nirgends anzutreffen. Spätestens mit dem Beibringen einer fasslichen Erklärung findet das »Kausalitätsprinzip« (41)38 seine Anwendung.39 Für Lacan spannt sich analog zwischen den Polen des Imaginären und des Symbolischen die psychische Realität auf. Das Schema R aus der Schrift »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«40 verdeutlicht dies: Abbildung: »Schema R«

Zeichnung nachempfunden. Vgl.: Lacan, (1956-1966) Schriften II, S. 86.

Ohne auf die Bedeutung der einzelnen Variablen in der Skizze eingehen zu müssen, kann gesagt werden, dass die Großbuchstaben Elemente der symbolischen Ordnung, die Kleinbuchstaben Elemente des imaginären Registers sind. (Die drei in Fraktur gesetzten Buchstaben nicht einbezogen.) Ein »Realitäts37 38 39

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Lévi-Strauss, (1950) Einleitung. Meyerson, (1908) Identität. »Ob der Physiker nun alles auf die Mechanik zurückzuführen sucht oder ob er gemäß neueren Gedankenrichtungen im Gegenteil die elektrischen Erscheinungen als grundlegend ansieht, auf jeden Fall erhebt er damit stillschweigend den Anspruch, die Natur mit Hilfe seiner Theorie zu erklären. Und die offensichtlichste Anomalie, die man bei der Anwendung eines Gesetzes entdecken mag, erscheint als erklärt, sobald die Theorie imstande ist, von ihr Rechenschaft zu geben.« (Meyerson, 1908, S. 49) Lacan, Jacques, (1956/1966) »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, in: ders., Schriften II, Weinheim, Berlin, 1991, S. 61-118.

Teil 3: Das Reale

feld« (87)41 entsteht auch in der psychoanalytischen Theorie nach Lacan durch die Interaktion von imaginärer und symbolischer Funktion (also im Feld, gebildet aus m, i, M und I). Wie nun deutlich wird, handelt es sich hierbei um eine wiederkehrende Denkfigur, die nicht nur bei Lévi-Strauss, sondern auch bei Meyerson ein aus zwei Prinzipien zusammengesetztes Weltganzes beziehungsweise Weltbild meint. Mit Meyerson lassen sich von hier aus inhärente Probleme eines solchen Realitätsfeldes sichtbar machen und erste Hinweise auf ein hiervon unterschiedenes Reales finden. Für eine Reihe physikalischer Theorien fasst er zusammen: »In den vorangehenden Kapiteln haben wir gesehen, wie stark sich das Postulat von der Identität der Dinge in der Zeit in der Naturwissenschaft geltend macht. Aus diesem Postulat erwachsen die atomistischen Theorien in allen ihren Teilen, und dasselbe Postulat veranlaßt uns zu dem Wunsche, daß bestimmte Begriffe, die als Sub­ stanzbegriffe angesehen werden können, im ständigen Wechsel der Erscheinungen erhalten bleiben; diese kausale Tendenz bereitet die Erhaltungsprinzipien vor, legt sie uns nahe und verleiht ihnen, nachdem sie einmal ausgesprochen sind, ein Ansehen, durch das ›sie den Wahrheiten nahe kommen, deren Gegenteil undenkbar ist‹, und das bewirkt, daß sie ›beinahe einen Charakter der Universalität und der metaphysischen Notwendigkeit erhalten‹.« (220) 42

Zunächst stellt das Identitätspostulat eine produktive Einrichtung dar; der Mathematiker strebt »nach dem Begreifen« (234) und erreicht dieses nur über das Kausalitätsprinzip, dessen Identitätsfunktion die Grundlage jeder Gleichung ist. Chemische Gleichungen verdeutlichen dies besonders gut: In ihnen wird die Zeit eliminiert, Ausgangs- und Endprodukte werden auf einer Ebene verhandelt. Damit verliert man jedoch den prozesshaften Charakter des Vorgangs. Meyerson schreibt: »Stellen wir uns nämlich vor, der Prozeß der Identifikation ginge weiter und wir kämen wirklich dazu, den ganzen Vorgang auf die Form einer Gleichung zu bringen, d.h. Antezedens und Konsequens vollständig zu identifizieren; dann hätte alles sich erhalten, alles wäre in seinem Zustand geblieben; das würde bedeuten, daß die Zeit gar keinen Einf luß ausgeübt hat. Freilich wissen wir im Voraus, daß diese vollständige Identifikation unmöglich ist. Aber wenigstens teilweise können wir mit Hilfe unserer Gleichungen bestätigen, daß es sich in der Tat so verhält. Die elementaren Stoffe, die vor dem Vorgang da waren, bestehen auch nachher weiter; in dieser Hin-

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Lacan, (1956-1966) Schriften II. In der Skizze als graue Fläche dargestellt. Meyerson, (1908) Identität. (Das verwendete Zitat ist ausgewiesen mit: H. Fouillée, L’avenir de la métaphysique, Paris 1889, S. 18.)

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale sicht hat keine Änderung stattgefunden. Das Gewicht ist gleichfalls dasselbe geblieben: auch hier hat sich nichts geändert. Endlich ist auch die Energie erhalten geblieben. Kurz, soweit unsere Erklärung reicht, ist nichts geschehen. Und da der Vorgang nur eine Veränderung ist, so wird klar, daß wir ihn in dem Maße zum Verschwinden bringen, wie wir ihn erklären.« (234f )

In beinahe karikierender Geste wird hier das Verfehlen des Kausaldenkens offengelegt. Gleichungen vernachlässigen den Vorgang der Veränderung. Sie behaupten zwar nicht die völlige Identität der Terme beider Seiten – was der Richtung entspräche, die Meyerson hier überzeichnet –, doch bauen sie genau auf dieser übergreifenden Idee auf. Es ist nichts geschehen, alles war schon vorher da; die Zeit und mithin der Prozess verschwinden im Denken in dem Maße, wie die Erklärung vollständig ist. Das »Postulat der Reversibilität« (222), welches dem Identitätsdenken zugrunde liegt, kommt in mathematischen Gleichungen besonders deutlich zum Ausdruck, es ist ein wichtiges Werkzeug des Denkens. »Kurz: in ihrem Bemühen »rational« zu werden, ist die Wissenschaft bestrebt, die Veränderung in der Zeit mehr und mehr zu unterdrücken« (238) – und damit den Aspekt des Werdens. In jeder befriedigenden Erklärung ist das Ergebnis bereits in den Voraussetzungen eindeutig festgeschrieben. Die Wissenschaft hat dann nicht mehr das vorteilhafte Handeln als Ziel, sondern lässt das Handeln obsolet werden, da das Ergebnis je schon festgestanden hat. Allerdings kann ein solches Weltbild nicht der Realität entsprechen, denn sonst wäre die Frage, warum überhaupt etwas passiert, und nicht etwa alles stillsteht, unausweichlich: »Nehmen wir einen Augenblick an, die Wissenschaft könnte wirklich dem Postulat der Kausalität zum Siege verhelfen: dann würden Antezedens und Konsequens, Ursache und Wirkung verschmelzen, ununterscheidbar und gleichzeitig werden. Und auch die Zeit selbst, deren Ablauf keine Veränderung mehr bedingt, ist ununterscheidbar, unvorstellbar, nichtexistent. Das bedeutet die Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ein ewig unwandelbares Weltall. Der Lauf der Welt steht still.« (238f )

Was hier beschrieben wird, ist eine absurde Welt ohne dynamische Beziehungen und Entwicklung. Die Meyerson’sche Kausalität als alleinstehendes Prinzip führt in ein Hardboiled Wonderland.43 Wir erinnern uns: Zu Beginn seines Buches Identität und Wirklichkeit stellt er dar, wie die Gesetzlichkeit die Realität verfehlt, weil sie mit idealen oder zumindest abstrakten Elementen 43

Diesen Punkt hat ein reines Imaginäres mit einem reinen Symbolischen gemeinsam: Auch ein völlig operationales System würde zum Stillstand kommen: In Hinblick auf einen Programmcode ist es gleichgültig, ob das Programm gestartet wird oder nicht.

Teil 3: Das Reale

operiert. Nun zeigt sich, dass das zweite Erkenntnisprinzip, das der Erklärung, beziehungsweise das der Frage nach der hinreichenden Ursache, ebenfalls der Wirklichkeit nicht entsprechen kann. Das absurde Szenario, das in der zitierten Passage entwickelt wird, zeigt anschaulich, dass dem Kausalitätsprinzip etwas Wesentliches abhanden kommt: die Veränderung oder der Prozess selbst. Wissenschaft jedoch – und auch jede Alltagserkenntnis – hat die Wirklichkeit zum Gegenstand, kann sich nicht mit idealen oder imaginären Erklärungen begnügen, auch wenn diese in Kombination mit der Prädiktion qua Gesetzlichkeit oft zu praktikablen Ergebnissen führt. Meyerson sucht also nach Zeugnissen jenes Prozesshaften, welches dem Kausaltrieb so unbequem ist. Er findet einen solchen leisen, aber klugen Umschlag in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in den Anfängen der Thermodynamik. Das achte Kapitel mit dem Titel »Das Carnotsche Prinzip« beginnt er folgendermaßen: »Das Prinzip, das den Namen Sadi Carnots trägt, datiert von dem kostbaren Werkchen, das 1824 unter dem Titel Réf lexions sur la puissance motrice du feu erschienen ist und die einzige wissenschaftliche Veröffentlichung dieses genialen Mannes bildet, der so vorzeitig starb und dessen Leistung dennoch nach dem Zeugnis Lord Kelvins und Lippmanns von keiner anderen während des ganzen XIX. Jahrhunderts übertroffen worden ist. Carnot spricht dies Prinzip sozusagen nur beiläufig aus, ohne es im geringsten hervorzuheben; er scheint es nur deshalb zu schätzen, weil es ihm bei der Aufstellung von Regeln über das Funktionieren von Wärmekraftmaschinen behilf lich ist; denn diese Regeln bilden das einzige sichtbare Ziel seiner Arbeit. Sieht man indessen genauer zu, so bemerkt man, daß er das Prinzip in seiner vollen Allgemeinheit erfaßt hat und daß unter diesem Gesichtspunkt die Nachwelt dem nur noch wenig hinzuzufügen hatte.« (265) 4 4

Eine gut verständliche Formulierung des Carnot’schen Prinzips lautet, dass man Wärme nicht von einem kalten auf einen warmen Körper übergehen lassen kann. Die Wärme hat also eine Richtung, es besteht eine Tendenz. Spätere Konzepte der Thermodynamik wiederholen diesen Gedanken im Begriff der Entropie. Der alltäglichen Erfahrung kann man beispielsweise entnehmen, dass ein Tropfen Tinte, in ein Glas Wasser gegeben, dieses nach einiger Zeit gleichmäßig gefärbt hat und dass es unwahrscheinlich ist, dass die Farbe sich irgendwo im Glas wieder zu einem Tropfen zusammenfindet. Weiterhin ist es unmöglich, verlustfrei Wärme in Kraft und wieder zurück zu verwandeln. Die Thermodynamik nimmt auch heute noch die Stellung einer abgeschlossenen Teildisziplin in der Physik ein. Sie ist nicht umfänglich in die Teilchenphysik aufgegangen, wie dies nach der Entdeckung der Molekularbewegung vielleicht zu erwarten gewesen wäre. 44

Meyerson, (1908) Identität.

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Bringt man zwei unterschiedlich warme Körper in Berührung, gleicht sich ihre Temperatur an. Ein Verhalten, das uns zwar alltäglich erscheint, aber dennoch eine Ausnahmeerscheinung selbst in philosophischer Hinsicht ist: »Betrachten wir einen runden oder roten Körper, so macht seine Qualität ohne Zweifel den Eindruck von etwas, das sich ändern kann, ohne daß die Substanz des Körpers eine Modifikation zu erleiden braucht; nach der scholastischen Ausdrucksweise sind das Akzidenzien. Aber die Akzidenzien enthalten in sich keine Tendenz zur Veränderung. Anders die Wärme; bringt man zwei Körper von verschiedener Temperatur zusammen, so bewahrt nicht jeder seine Qualität, sondern sie wirken sofort aufeinander ein, und jeder ist bestrebt, seine eigene Qualität und die des anderen zu verändern. Es besteht hier also ein Streben nach einer Modifikation des Seienden in der Richtung auf einen künftigen noch nicht verwirklichten Zustand [...].« (272)

Die Vorstellung, dass durch die bloße Berührung eines blauen und eines roten Körpers beide violett werden lässt, ist belustigend. Offensichtlich sind Farbe und Temperatur unterschiedliche Arten von Akzidenz. Doch auch ein Vergleich mit dem Niveauausgleich zweier Wassersäulen, die miteinander verbunden werden und sich innerhalb einer gewissen Zeit auf gleichen Pegelstand bringen, entspricht nicht den Verhältnissen, wie sie beim Temperaturausgleich stattfinden: In den mechanischen Prozessen gibt es eine Pendelbewegung, ein Überschwingen, während die Wärme sich direkt asymptotisch annähert.45 Formal »unterscheidet sich das Carnotsche Prinzip deutlich von den gewöhnlichen Sätzen der Wissenschaft« (274), indem es sich nicht als Gleichung formulieren lässt. Seine Aussage ist nicht reversibel. Die Wissenschaft in ihrem Bemühen um Erklärung bevorzugt allgemein die »Form der Gleichung, bei der die Veränderung sozusagen beseitigt ist.« (275) Meyerson bemerkt hier eine »unbewußte Sorge um die Kausalität oder die Identität in der Zeit« (275). Diese macht es dem neu erkannten Prinzip – obgleich es andererseits eine höchst banale Alltagsbeobachtung ausdrückt – schwer, sich in Reinheit zu erhalten. »[K]aum hatte Clausius das Carnotsche Prinzip fest in der Wissenschaft verankert, so tauchten auch schon Versuche auf, seinen Konsequenzen zu entgehen.« (279) Das Prinzip ist abnorm und schwer verdaulich. Dieser grundlegende Satz der Thermodynamik lässt sich nicht aus den Komponenten Kausalität und Gesetzlichkeit konstruieren. Er widerspricht der Identität in der Zeit und dem rekursiven Charakter der Mechanistik. Wissenschaftliche Gleichungen, so führt Meyerson vor, sind ein Mittel, gerade die Veränderung zu eliminieren und damit Voraussetzung und Effekt in der Ordnung der Kausalität in Eins zu setzen.

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Vgl. Meyerson, (1908) Identität, S. 273f.

Teil 3: Das Reale »Demgegenüber ist das Carnotsche Prinzip ganz offenkundig kein Erhaltungs-, sondern ein Änderungsprinzip. Es behauptet keine Identität, nicht einmal eine scheinbare, sondern eine Verschiedenheit. Wenn ein Zustand gegeben ist, so besagt das Prinzip, daß er sich ändern muß und zwar in einer bestimmten Richtung. Es ist ein Prinzip des Werdens […].« (275)

Diesem Werden – das Prinzip der Verschiedenheit, die Änderung in der Zeit – schreibt Meyerson eine große Bedeutung zu. »Immer und überall ist – im Gegensatz zu dem, was uns die kausale Illusion46 vortäuscht – der Fluß der Dinge an sich wesentlicher und für uns zu kennen wichtiger als ihre Erhaltung.« (295) Was für ihn ein großes Tor der Erkenntnis darstellt, ist »von der Wissenschaft nur mit Widerstreben angenommen worden.« (276) Das Prinzip des Werdens und der implizite Gedanke, »daß das ganze Weltall sich mit der Zeit in einer bestimmten Richtung verändert« (275) war zu Meyersons Zeit indes ein populäres Philosophem, formuliert von Bergson.47 Wichtiger als der Bergsonianismus Meyersons scheinen mir die epistemologischen Konsequenzen seiner Überlegungen, die höher kaum angesetzt werden könnten. So weist Meyerson darauf hin, dass beobachtbare Vorgänge immer mit Energieumwandlung einhergehen, weshalb gilt, dass »das Konsequens dem Antezedens« (298) nie gleichwertig sein kann. Mit anderen Worten gelten die Sätze der Naturwissenschaft nur bedingt, und wären durch das Carnot’sche Prinzip zu ergänzen. »Wenn man uns also sagt, daß die Erhaltungsprinzipe den Ablauf der Welt regeln, so bedarf diese Aussage der Ergänzung. Sie regeln ihn in dem Sinne, daß sie die Veränderung einschränken, sie sagen uns, daß gewisse Beziehungen sich nicht ändern können, was auch eintreten möge. Aber diese Prinzipe sagen uns nichts darüber, welche Änderungen und ob überhaupt solche eintreten werden. ›Überall, wo das Energiegesetz zur Erweiterung unserer Kenntnisse über die elementaren Vorgänge beigetragen hat, waren noch andere Gesetze im Spiel, welche die Tendenzvorstellungen in sich schließen‹, sagt sehr richtig Helm […].« (295) 48

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Die kausale Illusion entstammt der Ordnung des Imaginären, wie oben dargestellt. »L’énoncé de Carnot-Clausius est pour Meyerson le signe qu’on atteint la profondeur toute bergsonienne d’un devenir pur.« (Fruteau de Laclos, (2009) , S.94) Vgl. weiterhin ebd., S. 90-103. Allerdings kann die Idee einer generellen Richtung des Geschehens zwar für Bergson, für Meyerson jedoch nur sehr begrenzt angenommen werden: »Reality […] does not at all move in a corresponding direction, toward greater and greater homogenity. Its process is characterized by the multiplication of diversities, ›irrationals.‹« (Kelly, 1937, S. 1.) Meyerson, (1908), Identität. Das enthaltene Zitat ist ausgewiesen als: HELM, Die Lehre von der Energie, Leipzig 1887, S. 58.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Obgleich Meyerson der Wissenschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung vorhält, erst sehr spät auf das Prinzip der Veränderung, der Nicht-Identität, des Prozesses gestoßen zu sein – selbst bei Heraklit, so führt er an, läuft der Strom schließlich im Kreis49 –, hält er dem wissenschaftlichen Diskurs zugute, dass er aus sich selbst heraus zu diesem Schritt fähig war. »Wir erkennen jetzt deutlich, wie falsch es gewesen wäre, die Wissenschaft für das fortschreitende Verblassen der Wirklichkeit verantwortlich zu machen, das eine Folge der sukzessiven Identifikationen ist. Diese idealistische Theorie tragen wir in uns bereits vor der Entstehung der Wissenschaft, denn mit ihrer Hilfe bauen wir die Wissenschaft auf. […] Wir sind es, die in der Natur die Identität herzustellen suchen, die sie hineintragen, sie ihr unterschieben. Das eben nennen wir die Natur verstehen oder sie erklären. Bis zu einem gewissen Grade läßt die Natur sich das gefallen, aber sie sträubt sich auch dagegen. Die Wirklichkeit setzt sich zur Wehr, sie erlaubt nicht, daß man sie leugne. Das Carnotsche Prinzip ist der Ausdruck des Widerstandes, den die Natur dem Zwange entgegensetzt, den unser Verstand mit dem Kausalprinzip auf sie auszuüben versucht.« (301)

Die Wirklichkeit im Sinne des Realen – eben nicht im Sinne des Ideal-Diskursiven und auch nicht im Sinne des Kausal-Identitären – bahnt sich ihren Weg in den Diskurs und in den Erkenntnishorizont des Menschen. Dieses Weltbild ist von je her aufgespannt zwischen Imaginärem und Symbolischen, wie unter anderem das Schema R von Lacan illustriert. In dieses Realitätsfeld bricht nun das Reale ein. Doch ein Wissen um das Werden, um den Prozess, hat indessen immer bestanden, und war wohl immer schon am unmittelbarsten am eigenen Leib erfahrbar. Allein, so scheint es, erst die neuere Wissenschaft hat eine Anwendung für das Prinzip der Veränderung gefunden, und erst damit wurde das Phänomen epistemologisch zugänglich. Die erste theoretische Berührung mit dem Realen erfolgt im Begriff der Veränderung. »C’est que, si nous voulons la rationalité du réel, si nous la lui supposons au besoin, nous savons bien en même temps, d’un savoir aussi immédiat que profond, que le réel en son fond est changement […]. Dans le second principe de thermodynamique, l’extériorité du réel n’est pas reconnue pour être réduite en étant déduite.« (97) 50

Meyerson hat in den Anfängen der Thermodynamik ein Prinzip gefunden, das der Starrheit des Identitätsdenkens und der darauf auf bauenden abstrakten Gesetzlichkeit funktionell entgegensteht. Jenseits von Imaginärem und Symbolischem liegend, handelt es sich um einen Hinweis auf eine mögliche weitere 49 50

Vgl. Meyerson, (1908), Identität, S. 277. Fruteau de Laclos, (2009) Épistemologie.

Teil 3: Das Reale

Ordnung, des Realen. Dessen Bestimmungen sind hier Verschiedenheit, Änderung und Werden. Da das Carnot’sche Prinzip sich nicht mit den rationalen Mechanismen des Verstandes deduzieren lässt, wie Fruteau de Laclos schreibt, ist seine Äußerlichkeit eine radikale. »Le second principe de thermodynamique est fort ›improbable‹.« (97) Derart unwahrscheinlich findet es dennoch seinen Platz als Erkenntnisprinzip. Es scheint, als wolle Meyerson in dem auf »Das Carnotsche Prinzip« folgenden Kapitel mit dem Titel »Das Irrationale« ein begriffliches Instrumentarium für mögliche weitere nicht-rationale Erkenntnisformen schaffen. Er führt den Begriff der »effiziente[n] Kausalität« (326)51 ein, der als abduktive Schlussform gelten kann. Damit ist eine implizite Forderung verbunden: Die Wissenschaft hat sich mit solchen Operationsweisen dem Realen weiter zu öffnen, um nicht im rational eingeschränkten Realitätsfeld zwischen Identität und Gesetz allein zu operieren. Die Wissenschaft hat also die Mittel an der Hand, sich vom Imaginären, dem »Kausalismus« (385), zu lösen und immer mehr Qualitäten des Realen zu erschließen.52 Sie ist im Stande, die »Ersetzung der qualitativen Empfindung durch eine quantitative Ursache« (382) zu überwinden. In der Praxis jedoch beobachtet Meyerson, wie sich das Substanzdenken immer wieder Raum schafft. »In der Tat fängt der Physiker damit an, daß er so blind wie irgendein Mensch an die Vorstellungen des gemeinen Menschenverstandes glaubt. In der Folge modifiziert er sie, aber in welcher Weise? Nur indem er von einer Wirklichkeit zur anderen weiter geht. Wenn er den Stock in einen Nebelf leck von Atomen aufgelöst hat oder, wenn man will, sogar von Elektronen, so sind diese Atome oder Elektronen für ihn ebenso wirklich, wie es der Stock war; er hat nämlich stets nur ein Substantiv auf ein anderes, einen Gegenstand auf einen anderen zurückgeführt. Wenn es sich nicht gerade um ›Beobachtungsfehler‹ oder um solche Vorgänge handelt, die ausdrücklich als ›subjektiv‹ bezeichnet werden, spielt in den Überlegungen des Physikers das Subjekt gar keine Rolle. In keinem Augenblick wird er bei seinen Deduktionen ein Objekt durch etwas offensichtlich Irreales ersetzen.« (388) 53

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Meyerson, (1908) Identität. Bergsons Kritik an der Quantifizierung der Welt durch die Wissenschaften (siehe erster Teil) zielte gegen die Dominanz der symbolischen Operationalität. Meyersons Kritik weicht bei genauer Betrachtung in so fern ab, als er mit seinem Kausalitätsbegriff das Identitätsdenken der Operationalität hinzufügt. Aus dieser Differenzierung kann geschlossen werden, dass eine auf das Reale aufbauende Operationalität eine epistemologische Alternative zum Rationalismus darstellt. Meyerson scheint im Zusammenhang mit der Teilchenphysik eine solche einzufordern. Vgl. Meyerson, Émile, (1933), Réel et déterminisme dans la physique quantique, Paris, 1933, S. 43f et passim. Meyerson, (1908) Identität.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Der Physiker, so Meyerson, könnte prinzipiell mittels der neuen Physik die alltägliche, anthropomorphe Ontologie überwinden und so zu einem Bild des Realen vorstoßen. Doch in Ignoranz der realen Dimension, die das Imaginäre hinter sich lassen könnte, setzt er die Materie zwar auseinander, aber im gleichen Zuge aus Mikro-Teilchen wieder zusammen. Das Konzept des Teilchens will er nicht aufgeben. Rund hundert Jahre später sieht dies übrigens nicht anders aus. Auch heute hat das Teilchen immer noch Hochkonjunktur und viele Experimente, wie sie beispielsweise am Forschungszentrum CERN durchgeführt werden, zielen auf das Entdecken neuer subatomarer Partikel. Der Tendenz des Diskurses, immer wieder auf die Idealität und Identität zurückzugreifen, resultiert laut Meyerson aus Grundprinzipien unseres Denkens. Das Ergebnis sind anthropomorphe Verzerrungen. Ein Ausweg aus diesem Denken erscheint inmitten des wissenschaftlichen Denkens selbst: Das Carnot’sche Prinzip markiert für Meyerson einen historischen Wendepunkt der menschlichen Erkenntnismöglichkeit. Dabei geht es ihm weniger um die spezifische Position der Thermodynamik – im Gegenteil zeigt er an anderer Stelle auf, wie sehr die kursierende Thermodynamik vom ontologischen Denken infiziert ist54 –, sondern um die bloße Andersartigkeit der Carnot’schen Beobachtung. Immer wieder greift Meyerson in seinen Werken beispielhaft auf diese nicht-identitäre Erkenntnisfunktion zurück. Man kann sagen, das Carnot’sche Prinzip hat einen emblematischen Charakter in den Argumentationen des Chemikers. Es steht für den Einbruch des Realen in den wissenschaftlichen Diskurs. Es mag unbefriedigend erscheinen, ein physikalisches Prinizip von begrenzter Reichweite, das nur in seiner primitivsten Formulierung seinen epistemologischen Wert annimmt – nämlich: es kann keine Wärme von einem kalten auf einen warmen Körper übertragen werden –, als die zentrale Erkenntnis anzunehmen, die Gesetzlichkeit und Kausalität überwindet. Doch Meyerson besteht auf diese Figur, diese Artikulation des Realen. Dazu dürften ihn zwei methodologische Gründe bewegen: Erstens ist es ihm wichtig, ein solches Erkenntnisregister nicht metaphysisch zu entwickeln, sondern es historisch nachzuweisen. Es dürfte in diesem Zusammenhang verzeihlich sein, dass eine frühe Form noch nicht sehr elaboriert ist. Zweitens geht es Meyerson darum, sich einer explication, einer kausalen Argumentation zu enthalten, da diese ihn selbst zurück in die Fänge des Identitätsdenken treiben würde. Meyersons Forschen nach wissenschaftlichen Artikulationen, die dem Realen näher kommen, weil sie sich weniger im Postulat von Ursächlichkeit oder in human-logischen Idealmustern bewegen, erhält durch die umwälzenden Geschehnisse in der Physik seiner Zeit weiteres geeignetes Material. Während Identité et réalité (1908) noch das Feld der konventionellen Physik – und 54

Vgl. Meyerson, (1921) Explication, S. 35-38 und 43f.

Teil 3: Das Reale

vor allem auch die Chemie des 19. Jahrhunderts – historisch bearbeitete, beziehen sich die Werke La déduction relativiste (1925) und Réel et déterminisme … (1933) auf die Relativitätstheorie und die Quantenphysik. Meyerson selbst sieht, wie er 1929 im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Identität und Wirklichkeit schreibt, seine dort formulierten Erkenntnisse nach wie vor als gültig an, ungeachtet etwaiger Widerlegungen der von ihm besprochenen Theorien. »Da […] nicht die Endergebnisse der Wissenschaft als solche in erster Linie in Frage kommen, so sind ja, mag ein Wissen als noch so abgetan gelten, die Folgerungen, die man aus seiner Zergliederung gewonnen hat und die unsere Denkprozesse betreffen, deshalb keineswegs zu nichte geworden.« (XI) 55

Die Analysen Meyersons betreffen also weniger die konkreten Aussageninhalte der wissenschaftlichen Diskurse, sie legen hingegen basale Denkstrukturen des Menschen frei, die in den vorgefundenen Theorien implizit enthalten sind.56 In einem gewissen Sinne handelt es sich dabei um zunächst unbewusste Phänomene, deren Bewusstmachung sich der Wissenschaftshistoriker zum Ziel gesetzt hat. Es geht also um eine Ebene, die über (oder unter, je nach Blickwinkel) derjenigen von Theoremen, also inhaltlichen Figuren und Schemata, anzusiedeln wäre. Auf einer solchen, von Inhalten und deren Formen auf Abstand gebrachten Meta-Ebene finden sich kategoriele Register, Funktionsweisen des Erkennens. Als solche identifiziert Meyerson die Ordnung der Gesetzlichkeit, der Regelhaftigkeit, die der Mensch in einem handlungsorientierten Interesse errichtet. Darüber hinaus haben sowohl Alltagsdenken als auch die Wissenschaften einen hohen Anteil an Erklärungen parat, die nicht der bloßen objektiven Beschreibung von Erfahrbarem dienen. Auguste Comte – gegen den sich Meyerson immer wieder in Position bringt57 – hat bekanntlich gefordert, sich dieser Erklärungsversuche zu enthalten und allein das Gesetz gelten zu lassen. Der wissenschaftliche Betrieb jedoch fährt auch nach Comte fort, Lücken im Verständnis mit kausalen, der Alltagswahrnehmung von Raum und Materialität folgenden Elementen aufzufüllen. Selbst das Meyerson so wichtige Carnot’sche Prinzip sieht er in seinen Diskurseffekten – namentlich im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik – ontologisiert und durch anthropomorphe Elemente geschwächt.58

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58

Meyerson, (1908) Identität. Vgl. Kelly, (1937) Explanation, S. 11. »[P]our Meyerson, la métaphysique n’a rien d’un reste dont il faudrait se débarrasser.« (Fruteau de Laclos, (2009) Épistémologie, S. 26.) »Il espère ainsi montrer l’indépendance théorique de la causalite scientifique à l’égard de la légalité positiviste.« (ebd., S. 27.) Der Hauptangriff Meyersons gegen den Positivismus ist konzis formuliert in: Meyerson, (1921) Explication, S. 43-44. Vgl. Meyerson, (1921) Explication, S. 35f, 43.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

In L’explication dans les sciences (1921) geht er auf das alltägliche und meist nicht bewusste Verhältnis zwischen unseren Gebrauchsgegenständen und der Ontologie ein: »[I]l ne saurait être question des choses que nous percevons le matin en ouvrant les yeux, car cette perception, qui semble passive, est en réalité un résultat de l’activité de notre exprit, et le monde des choses du sens commun constitue très certainement une spéculation métaphysique sur les causes de nos sensations, c’est-à-dire une ontologie.« (32) 59

Im konstruktivistischen Charakter der Wahrnehmung ist eine natürliche Ontologie enthalten. Doch ein Durchdringen zu den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins, ein Auflösen der Wahrnehmung in ihre konstitutiven Elemente, wie es Bergson fordert, könnte den menschlichen Weltzugang möglicherweise verändern. Neben einem anderen Alltagserleben sieht Meyerson auch Chancen, durch die Wissenschaft zu einem derartigen Realen vorzudringen. Zunächst nährt er, Max Planck zitierend, die Hoffnung, dass die neuen Entwicklungen in der Physik dazu führen werden, jene »considérations anthropomorphiques« (34)60 zu überwinden, und schließlich die Einflussnahme durch das »moi« (34): das interferierende Ich des Menschen. Die Tendenz der neuen Physik weist jedoch weiterhin in eine andere Richtung. Die Wissenschaft bezieht sich immer wieder auf Dinge, ein Umstand, der für Meyerson höchst plausibel ist: »[N]on seulement le point de départ de la science est ontologique, puisque c’est le monde des objets du sens commun, mais quand elle abandonne ces conceptions ou quand elle les transforme, ce qu’elle adopte ainsi est aussi ontologique que ce qu’elle abandonne. […] Il est même facile de constater que les êtres hypothiques de la science sont véritablement plus choses que les choses du sens commun. En effet, ce qui constitue la chose, c’est le fait d’être indépendant de la sensation: la chose reste ce qu’elle est, que je la regarde ou non.« (39f )

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Meyerson, (1921) Explication. Lacan verweist mehrfach auf den konstitutiven Moment des Erwachens, der nicht ohne Referenz auf diese Debatte gelesen werden sollte: »Das Erwachen, es kann wohl kaum übersehen werden, daß es zweierlei Sinn hat – daß das Erwachen, das uns in einer konstituierten und vorgestellten Realität wiederherstellt, doppelt verwendet wird. Das Reale müssen wir jenseits des Traums suchen – wir haben es in dem zu suchen, was der Traum verschleiert, verhüllt, uns verborgen hat, in jenem Daneben der Vorstellung, die wir nur aus der Funktion der Vertretung kennen. Eben da ist das Reale, das mehr als alles andere unsere Aktivitäten regiert.« (Lacan, (1964) Seminar XI, S. 66) Meyerson, (1921) Explication.

Teil 3: Das Reale

Meyerson stellt nicht nur die Praxis fest, sich gemäß einer wissenschaftlichen Tradition auf Dinge zu beziehen. Eine konstitutionelle Eigenschaft von Dingen macht die neu konstruierten Gegenstände der Wissenschaft besonders dinglich: nämlich, gerade unabhängig von unserer Empfindung und unserer Präsenz zu bestehen. Im Konzept einer solchen Beständigkeit ist jedoch der Kausaltrieb des Menschen, der Identität postuliert, leicht auszumachen. Planck geht Meyerson nicht weit genug, denn die bloße Abstandnahme von der Alltagswahrnehmung lässt den anthropomorphen Zug des Kausalismus unangetastet: Die Erklärung, die Fasslichkeit, ist nach wie vor vielerorts der bestimmende Erkenntnismodus. Doch kann eine konventionelle Ontologie überhaupt den epistemologischen Ansprüchen des heutigen Wissenschaftlers entsprechen?

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Meyerson II. – Ein funktionales Reales

Meyerson hat darauf hingewiesen, dass das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten dem schlichten Überleben dienlich ist. Es geht um die Prädiktion und das nützliche Handeln. Auch ein Hund beherrscht es, die Flugbahn eines leckeren Happens vorherzusehen.61 Die Gesetze beziehen sich jedoch auf abstrakte Größen. Sie gehören der symbolischen Ordnung an. Deshalb entgehen ihnen die Diversität des singulären Ereignisses. Weiterhin erschafft sich der Mensch (wie auch das Tier!62) ein Bild von den Dingen und seiner gesamten Welt. Dieses Universum ist ein Effekt des Kausaltriebes, der die Identität der Wahrnehmungsobjekte herstellt. Schlussendlich ist dies, wie Meyersons Beispiel des grasenden Rinds, das nicht jeden einzelnen Halm untersucht, nahelegt, ein Prinzip, das nicht minder praktischen Wert hat. Meyerson führt aber auch an, dass es eine menschliche Tendenz zur Metaphysik gibt, die sich in der Frage nach der Ursache ausdrückt. In der Analyse stimmt er Comte zu, dass nur Gesetze, also reine Beziehungen, frei von metaphysischen Grundannahmen sein könnten. In diesem Zusammenhang führt er den Begriff der Kausalität ein, der sich funktional von Gesetzen unterscheidet. Allerdings sieht Meyerson entgegen Comte für die empirischen Wissenschaften (und das Alltagsgeschehen) kaum eine Möglichkeit, sich der kausalen Tendenz zu entziehen, oder gar ein reines Gesetz aufzustellen. Es ist ein anthropologisches Faktum, dass der Mensch sich die Welt erklärt. Meyersons Kritiken – eine Kritik des Symbolischen und eine Kritik des Imaginären, im Sinne einer Fassung von Möglichkeitsbedingungen –, differenzieren das epistemische Geschehen aus, indem deren funktionale Zentralbegriffe jenseits von Inhaltlichkeit entwickelt werden. Das Carnot’sche Prinzip steht jenseits der beiden Erkenntnisregister. Wie auch einige Aspekte der Quantenphysik und der Relativitätstheorie, die er sich in seinen späten Werken vornimmt, gehört es einer neuen Ordnung an: dem Realen. 61 62

Vgl. Meyerson, (1908) Identität, S. 4f. Vgl. Kelly, (1937) Explanation, S. 12.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Im Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, aus dem am Anfang dieses Kapitels zitiert wurde, zitiert Evans »Meyerson, 1925, S.79; zitiert nach Roustang, 1986, S.61« (250)63 wie folgt: »Meyerson definiert das Reale als ›ein ontologisches Absolutes, ein wahrhaftiges Selbst-Sein‹« (250). Im zweiten Satzteil, der das Zitat darstellt, werden Bestimmungen genannt, die, nicht kontextualisiert, wenig über philosophische Allgemeinplätze hinausgehen. Das Reale wird mit dem Sein gleichgesetzt. Sollte es also sein, dass Meyerson, nachdem seine historischen Analysen seine epistemologischen Kardinalbegriffe immer in konkreten Diskursen aufweisen konnte, plötzlich ein Reales jenseits des Erkenntnisprozesses transzendent setzt? Dies ist schwer vorstellbar, denn hat nicht das Carnot’sche Prinzip, das Meyerson’sche Emblem des Realen, einen anderen Weg vorgezeichnet? Obiges Zitat, das in dem psychoanalytischen Wörterbuch den philosophischen Hauptgedanken Meyersons repräsentieren soll, ist vom Autor mitten aus einer diskursiven Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie entnommen und bezieht sich auf das Reale der Relativitätstheorie in einem bestimmten dort vorgefundenen Diskursausschnitt. Es heißt im Original: »[...] le réel de la théorie relativiste est, très certainement, un absolu ontologique, un véritable être-en-soi, plus absolu et plus ontologique encore que les choses du sens commun et de la physique pré-einsteinienne.« (79)64 Meyerson kommentiert hier eine Tendenz im Diskurs; die Zitation ist wenig geeignet, seinen eigenen philosophischen Standpunkt vorzustellen. Der Irrtum mag daher kommen, dass der Wissenschaftshistoriker über weite Strecken die verschiedenen Positionen zur Relativitätstheorie analysiert. Dabei übernimmt er probeweise die Haltung der einzelnen Physiker, führt sie an ihre Grenze, um sie in ihrer Struktur zu erfassen.65 Aus einer solchen Passage stammt das von Roustang angeführte Zitat. Meyersons subtile Kritik gilt nach wie vor der quantifizierenden Gesetzlichkeit und anthropomorphen Kausalität. Es kann zweifelsfrei gesagt werden, dass er keine Metaphysik betrieben hat. »Meyerson a refusé de suivre Bergson: il ne proposera pas de métaphysique propre, pas de philosophie qui se développerait tout contre les sciences, en trouvant en elles un point de départ autant qu’un contrepoint.« (162) 66

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Evans, (1996) Wörterbuch. Meyerson, (1925) Déduction. »[O]n voit toujours de quoi parlent ses [Meyersons, F.W.] livres, mais on ne sait pas exactement qui parle, et où le texte nous emmène. Meyerson […] rédige ›avec‹ ou ›par‹ d’autres. Il pratique un véritable ›style indirect libre‹.« (Fruteau de Laclos, (2009) Épistemologie, S. 17.) Fruteau de Laclos, (2009) Épistémologie.

Teil 3: Das Reale

Als Kontrapunkt ist die Relativitätstheorie ein ideales Anwendungsfeld für die seit Identität und Wirklichkeit wesentlich unverändert gebliebenen epistemologischen Theorien Meyersons. Der Terminus le réel repräsentiert in seinen Darlegungen zunächst kein konsistentes Konzept, sondern folgt der jeweiligen Auslegung innerhalb einer wissenschaftlichen Figur. An anderer Stelle schreibt er beispielsweise: »Le principe de relativité est, à vrai dire, celui de la non-relativité du réel; il exige que le réel, impliqué par les phénomènes de la nature observés, demeure, à l’égard des modifications envisagées du point de vue et du système de mesure, en une forme immuable, qu’il soit, selon l’expression courante, invariant à l’égard de la transformation de Lorentz.« (68) 67

Wie oben dargestellt, gehört die Identität in der Zeit zum Funktionskreis der Kausalität, also zu einem Erklären, welches die Wirklichkeit wesentlich konstruiert. Hier bahnt Meyerson an, was sich im Zitat, das Evens benutzt, zuspitzt. Als Konklusion der Frage nach dem Realen und dessen Bezüge zur jeweiligen Ontologie der Physiker äußert er: »Il convient d’ailleurs de reconnaître que les relativistes, en leur qualité de savants, ne se sont peut-être pas toujours exprimés au sujet de cette question avec une précision absolue.« (79)68 Meyersons eigene Position ist in vielen solcher Ausführungen – die den größten Teil seiner Werke ausfüllen – nur subtil wahrnehmbar. Wenngleich Meyerson keine Metaphysik entwickelt hat, die sich gegen die Wissenschaft gerichtet hätte, so vermittelt er dennoch eine eigenständige Epistemologie, deren Hauptelemente – Gesetzlichkeit und Kausalität/Erklärung – ich oben vorgestellt habe und deren drittes Element ich weiter unten noch näher erläutern werde. Das Missverständnis, das zu dem Eintrag in Evans, für das Lacan-Studium häufig herangezogene Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse geführt hat, geht bereits auf Roustang zurück, aus dessen Buch Lacan – de l’équivoque à l’impasse 69 Evans zitiert70. François Roustangs Unternehmung besteht darin, Lacan nachzuweisen, dass er mit seinem unablässigen Versuch, der Psychoanalyse ein wissenschaftliches Fundament zu geben, gescheitert ist. Roustang trägt vor, dass Lacan in 67 68

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Meyerson, (1925) Déduction. Meyerson, (1925) Déduction. Was für Meyerson kein Defizit der Wissenschaft selbst darstellt, wie Kelly ausführt: »We must ask science, not the scientist, what is sought.« (Kelly, (1937) Explanation, S.13) Roustang, François, (1986) Lacan de l’équivoque à l’impasse, Paris, 1986. Evans nutzt die englische Übersetzung: Roustang, Francois, The Lacanian Delusion, übers. v. Greg Sims, Oxford, 1990. Evans verschärft das Problem allerdings gravierend, indem er durch die Kürzung des Zitats das ursprüngliche Subjekt des Satzes »Relativitätstheorie« durch »Meyerson« ersetzt.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

der Verknüpfung psychoanalytischer Theorie mit wissenschaftlichen Methoden zwar sehr findig ist, diesen Ansätzen aber die methodologische Konsistenz fehlt, weshalb Lacan sein Ziel nicht erreicht, dieses Verfehlen aber gut zu vertuschen weiß.71 Roustang nimmt die Erwähnung Meyersons in einem frühen Aufsatz Lacans zum Anlass, den Einfluss des Wissenschaftstheoretikers auf die Lacan’sche Psychoanalyse darzulegen. Dies war auch mein Ausgangspunkt zur Erforschung des Realen in einer möglichen triadischen Strukturierung menschlichen Weltzugangs. Roustangs Meyerson-Lektüre ist jedoch irreführend, da sie dort referierte Positionen des Wissenschaftsdiskurses nicht von Meyersons eigenem Standpunkt unterscheidet. Das Reale ist nach Roustangs Interpretation »ce qui est situé en dehors de nous, c’est le substrat des phénomènes. Il est derrière les apparences et indépendant de notre conscience [...]« (65)72. Die Vorstellung, dass Objekte ihre Identität unabhängig von unserem Bewusstsein bewahren, ist jedoch für Meyerson, wie oben ausführlich dargestellt, ein anthropomorpher Effekt des Kausalitätstriebes. Insbesondere täuscht sich Roustang in Bezug auf den vermeintlich rationalen Charakters des Meyerson’schen Realen. Roustang schreibt: »Même si les voies de la déduction ne sont pas les mêmes en mathématiques et en logique, une même présupposition est nécessaire à Hegel et à Einstein, c’est que le réel est rationnel.« (65)

Unmissverständlich wird hier die philosophische Position vorgetragen, das Reale sei rational. Roustang verweist in einer anhängenden Fußnote auf die Seite 198 von La deduction rélativiste, wo Meyerson – erstaunlicherweise – genau diese Position für die Wissenschaften problematisiert: »Car nous voudrions sans doute que le réel fût rationnel ; mais nous sentons en même temps que ce désir est essentiellement chimérique, qu’il ne se peut pas qu’il soit véritablement satisfait. Nous le sentons à un point tel que, tout en tendant nos efforts vers la découverte du rationnel dans le réel, vers la démonstration que le réel est entièrement rationnel, ou qu’inversement la raison, à elle seule, est capable de constituer le réel, aussitôt que nous croyons avoir, peu ou prou, atteint ce but, tout ce que, dans

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Roustangs Position verfehlt, meiner Ansicht nach, den Gewinn, der aus Lacans Theorie gezogen werden kann. Ich bin der Meinung, dass Lacan essenzielle wissenschaftstheoretische Probleme sehr treffend aus einer explizit außer-wissenschaftlichen Position – als solche dient ihm die Psychoanalyse – heraus zu kommentieren wusste. Roustang, (1986) Lacan.

Teil 3: Das Reale le réel, nous avon montré être rationnel est apte à nous paraître ne pas appartenir au réel véritable.« (198f ) 73

Das rationale Erfassen der Wirklichkeit ist ein starker Antrieb in der Wissenschaft wie in der Philosophie. Doch je mehr sich der Verstand dem Realen nähern will, je mehr er erschließt, desto deutlicher zeichnet sich sein kon­ struktives Zutun ab – und das »wahre Reale« scheint verfehlt. Der dahinterstehende Wunsch bleibt strukturbedingt eine unerreichbare Chimäre. Von hier aus ließe sich erneut die Position Helmholtz’ ins Spiel bringen, ließe sich begründen, warum Formen des Symbolischen die einzigen wissenschaftlichen Werkzeuge sind – in unserer Diskussion wäre dies ein zurück zum Start … Doch Meyersons Würfel fallen anders. Verlassen wir also Roustangs rationales Reales74 und widmen wir uns Hamlet und Jesus. Von Roman- und Bühnenstückautoren wird verlangt, so Meyerson, dass ihre erdachten Personen eine konsistente, rational schlüssige Psyche aufweisen sollen.75 Dies kann als Grundvoraussetzung für das klassische fiktionale Schreiben gelten. Doch ein guter Autor wird darüber hinaus darauf achten, dass seine Figuren nicht zu rationell, nicht zu logisch sind. Ein sehr guter Autor wird sogar gezielt außer-logische Aspekte in seine Charaktere integrieren. Gogol, Balzac und Maupassant sind Meister in dieser »art difficile« (199), mit kaum merkbaren Mitteln die unglaublichsten Charaktere zum Leben zu erwecken. Shakespeares Theaterfigur Hamlet »n’est certainement point entièrement intelligible« (200), doch diese Irrationalität trägt dazu bei, dass ihn der Zuschauer als sehr lebendig annimmt. »Ainsi c’est bien, en somme dans le non-déductif, le non-rationnel que nous paraît résider ce que nous concevons, dans cet ordre d’idées, comme étant l’essence intime du réel qui, ici, coîncide avec l’individuel.« (200)

Auf dem künstlerischen Feld des Schreibens und des Theaters begegnet uns das Reale in Gestalt einer Undurchdringlichkeit, Opazität, die mit der Form von Indivitualität einhergeht. Bemerkenswert an diesem Gedanken ist, dass Meyerson kein Problem darin sieht, dass ein solches Reales von einem Romancier frei erfunden sein kann. Dieses Reale ist augenscheinlich weit von jeder

73 74

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Meyerson, (1925) Déduction. Ohne diesen Punkt hier näher ausführen zu können, wiederholt sich Roustangs ungenügende Textauslegung, die für den Begriff des Realen bei Meyerson hier deutlich wurde, wenn Roustang den Lacan’schen Begriff des Realen aufnimmt. Roustang entgeht auch hier der kommentierende Gestus, mit dem grundsätzliche epistemologische Fragen erörtert werden. Weder für Meyerson noch für Lacan gibt es den ausgewiesen wissenschaftlichen Akt schlechthin. Vgl. Meyerson, (1925) Déduction, S. 199f.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

ontologischen Anmutung entfernt. Es ist eine reine Funktionsform in Bezug auf Objekte. Meyersons nächstes Beispiel ist Jesus als historische Person.76 Seit den Kirchenvätern, so seine Darstellung, wurde ein immenser Aufwand betrieben, detailliert darzulegen, dass alle überlieferten Handlungen und Lebensaspekte des Nazareners mit Versen des Alten Testaments übereinstimmen. Es galt nachzuweisen, dass Jesus der erwartete Messias war. Doch in dem Augenblick, wo die Frage nach der historischen, (und in diesem Sinne) realen Person aufkam, wurde es notwendig, gerade abweichende Elemente zu betonen, um die Glaubwürdigkeit des christlichen Messias zu wahren. Jesus durfte von nun an nicht mehr als eine vollständige Deduktion der Prophezeihungen angesehen werden. Man erarbeitete »veritables anomalies« (201), die sein reales Leben verbürgen sollten. »Ainsi, plus nettement encore que chez les littérateurs dont nous avons parlé tout à l’heure, la réalité du personnage est liée ici aux traits qui ne se prêtent point à être déduits a priori, aux trais extra-logiques, individuels.« (202)

Meyerson besteht auf der grundsätzlichen Gleichwertigkeit eines solchen intuitiven Anspruchs des Verstandes – dass das Reale a priori nicht deduzierbar ist – und physikalischen Argumentationen.77 Die Unterscheidung zwischen den Ordnungen kausale Erklärung und relationale Gesetzlichkeit hilft ihm, diesen Punkt zu vertiefen: »Et dès lors, c’est l’attitude des relativistes qui nous montre que ce qui choque notre sentiment intime, ce n’est point la supposition que le phénomène soit prévisible, mais celle selon laquelle il pourrait être entièrement réduit à des éléments rationnels, constitué à l’aide de ces éléments seuls.« (203)

Nicht so sehr die mögliche Prädiktion auf der Basis von Gesetzen widerspricht dem Realen,78 vielmehr ist es die vollständige Rückführung des Realen auf rationale Elemente. Im Begriff der Erklärung findet sich Meyersons Konzept des Kausalitätsdenkens kondensiert. Kausalität jedoch meint die Funktion der 76 77 78

Vgl. Meyerson, (1925) Déduction, S. 200-202. Vgl. Meyerson, (1925) Déduction, S. 203. Dies stellt Meyerson später in Bezug auf die Quantenphysik fest: Die Unterordnung der Gesetzlichkeit unter die Form der Kausalität verliert hier ihren zwingenden Charakter. »Ainsi la supposition d’une parenté intime des deux principes, que nous avions écartés autrefois, devient bien moins malaisée à agréer. On reconnaît aisément que dès lors, l’indéterminé quantique fera figure d’un irrationnel, mais d’un irrationnel d’un genre nouveau, […] puisqu’il se rapportera au légal, lequel pouvait se concevoir, jusqu’à ce jour, comme une caractéristique essentielle du réel lui-même.« (Meyerson, (1933) Réel, S. 44)

Teil 3: Das Reale

Identität. Das heißt, dass die Deduktion, die die Welt rational erklären will und das Reale dabei zerstört,79 vor allem deshalb scheitert, weil sie auf dem Anthropomorphismus des Imaginären aufruht. An dieser Stelle wird klar, dass die Scheidung von Gesetzlichkeit (Symbolischem) und Kausalität (Imaginärem) abseits der Intuition eine besondere Theorieform denkbar werden lässt: nämlich Gesetze des Realen. Diese sind dann keine Naturgesetze, weil der Begriff der Natur auf dem Bild der Welt auf baut. Vielmehr sind solche Gesetzmäßigkeiten ohne Fasslichkeit, sie können abstrakt formuliert werden, niemand kann sich etwas darunter vorstellen, ohne sie antropomorphen Verzerrungen zu unterziehen. Im Alltag, so Meyersons Beobachtung, sind wir daran gewöhnt, Regeln von Vorgängen zu akzeptieren, deren ursächlichen Zusammenhänge wir nicht kennen. In der Wissenschaft passiert es häufig, dass Gesetze zuerst entdeckt werden und im Nachhinein ein Erklärungsprozess die Ereignisse sukzessive einholt.80 Andererseits muss es bereits vor dem Erkennen von Gesetzen ein bildliches Vorverständnis gegeben haben, das sich dann mit den physikalischen Gegebenheiten in Einklang bringen lässt.81 Diese Vorannahme scheint jedoch ungenügend, wenn nicht sogar »très risqué« (207) im Hinblick auf die neuere Physik, da dort irrationale Entdeckungen gemacht werden, und so referiert Meyerson in Rückgriff auf Kant: »Dans le cas qui nous occupe, l’on concevra clairement qu’il s’agit d’un donné qu’il faut nous résigner à accepter comme tel, c’est-à-dire que nous sommes incapables de déduire de notre raison seule, à laquelle il est donc imposé du dehors. Ce qui n’empêche point que nous pouvons le décrire, le déterminer numériquement, et qu’alors il peut servir de base à des déductions par lesquelles nous nous efforcons d’expliquer le réel.« (207f )

Als Gegebenes ist das Reale qualitatitv; uneinholbar durch unseren Verstand. Dessen funktionale Register des Imaginären und Symbolischen zerlegen es, in der Wissenschaft, mittels Gleichungen und Erklärungen in vergangene Ursachen und zukünftige Wirkungen. Doch das Reale selbst wird sich nie in mathematischen Gleichungen auflösen, oder höchsten nur sehr partiell.82 Meyerson sieht es im Verschiedenen widerstehen. Als bekannte Formen solcher Manifestationen des Realen nennt er für die Zeit das Carnot’sche Prinzip und für den Raum die Diskontinuität von Atomen und Quanten. Aus den Darstellungen geht hervor, dass Meyerson das Reale als funktionalen Zugang zur Wirklichkeit betrachtet, der jenseits der Register des 79 80 81 82

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Meyerson, Meyerson, Meyerson, Meyerson,

(1925) (1925) (1925) (1925)

Déduction, Déduction, Déduction, Déduction,

S. S. S. S.

205. 205f. 206. 208.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

Imaginären und des Symbolischen besteht. Am deutlichsten ist der intuitive Umgang mit dem Realen im Alltag, aus dem sich Rezeptionsgewohnheiten ergeben, die sich in Konfrontation mit fiktionalen Charakteren enttarnen lassen. Wenn eine Romanfigur besonders lebendig und real erscheint, so weil sie den für das Reale charaktistischen Zug des Irrationalen an sich hat. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Funktion des Realen nicht erst wirksam ist, wenn die anderen beiden Register versagen. Obwohl sich die Epistemologie mit den Funktionen des Erklärens und des Aufstellens von Beziehungen begnügt und die Wissenschaft den Anspruch hat, in komplizierten Prozeduren aufs Reale zu zielen, ist das Reale das, womit der Mensch unausgesetzt konfrontiert ist. Die Erfahrung des Alterns beispielsweise ist eine alltägliche Manifestation des Realen, sofern es sich dabei um die Erfahrung von Nicht-Identität handelt. In Konsequenz heißt dies, dass die Konzeption eines identitären Ich mit dem Register des Realen in Konflikt steht. Womöglich wird damit nachvollziehbar, warum das Reale, wenn es in den Vordergrund rückt, »feindlich und fremd« (373)83 erscheint, wie Merleau-Ponty es formuliert. Die Schrift La déduction relativiste widmet sich den Paradoxa, die sich aus der Relativitätstheorie ergeben, wenn es darum geht, deren Ergebnisse mit unserer Alltagserfahrung der Wirklichkeit zu korrelieren. Meyerson stellt sich hierbei gegen die Tendenz, zweierlei Wirklichkeiten parallel gelten zu lassen: eine lebensweltliche und eine physikalisch-theoretische. Leicht ist dieses Vorhaben nicht zu bewältigen, denn das Erleben des Menschen untersteht einem Kausalitätsbegehren, öffnet sich also nur schwerfällig den neuen Einsichten in die Zusammenhänge des Kosmos. Darüber hinaus fallen die Physiker selbst immer wieder in Substantivierungen zurück, in identitäre Schemata, wie sie die Wissenschaftstradition seit der Antike bestimmen. Ein Reales muss aber in beiden Feldern der Erkenntnis gleich strukturiert sein, soll es einerseits der Wissenschaft ihren Existenzgrund liefern, andererseits die wissenschaftlichen Grundlagen der Alltagserfahrung stiften. Analysiert man die vielen Volten, die Meyerson durch beide Sphären hindurch zieht, so kommt als konvergenter Punkt die Diskontinuität in den Fokus. In der Alltagserfahrung ist das Reale das Individuelle, das Diverse, die Opazität der Ereignisse, eine Welt jenseits der imaginären Objekt-Bildung und der symbolischen Objektivierung. In den wissenschaftlichen Erkenntnissen zeigt sich das Reale als Abweichung vom Regime des Erklärbaren, welches immer wieder Anleihen am imaginären Universum des Alltags nimmt, ja einen Großteil seiner gesellschaftlichen Akzeptanz aus den praktischen Anwendungen gewinnt.84 Dort wo das wissenschaftliche Reale – für Meyerson 83 84

Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie. Spätestens seit Zündung der ersten Atombombe und der zivilen Nutzung der Kernenergie sind die ruptures der neuen Physik in das Imaginäre der Kulturen

Teil 3: Das Reale

repräsentiert im Carnot’schen Prinzip und den Brüchen mit dem konventionellen Raumkonzept der Relativitätstheorie – sich von den imaginären Verhaftungen befreit, ist es de jure identisch mit dem lebensweltlichen Realen. Dies mag erstaunen, denn die unbegreiflichen physikalischen Formeln, um die es geht, beschreiben in den allerseltensten Fällen Regelmäßigkeiten, die wir in unserer Umwelt wiederfinden. Trotzdem insistiert Meyerson auf einem Realen. Dieses Reale ist ein funktionales Register des Weltzugangs. Es handelt sich um eine Dimension, die bereits von Bergson als Ordnung des Qualitativen vorgezeichnet wurde. Bergson setzt diesem Realen eine räumlich-quantitative – in unseren Termini: symbolische – Realität gegenüber: »Wir werden sagen müssen, daß wir zwei verschiedenartige Realitäten kennen, deren eine heterogen ist, die der sinnlichen Qualitäten, und deren andere homogen, nämlich der Raum ist. Diese letztere, die der menschliche Verstand klar begreift, erlaubt uns, genaue Unterscheidungen zu vollziehen, zu zählen, zu abstrahieren und vielleicht auch zu sprechen.« (75) 85

Wie gezeigt wurde, fügt Meyerson dem symbolischen Weltzugang – den Bergson so vehement als überbewertet kritisiert – einen identitären, kausalen, erklärenden, mithin imaginären Erkenntnisakt bei. Dieses Imaginäre unterscheidet sich nun von der realen Welterfahrung, denn es hat Objekte zum Gegenstand; Objekte, die im Realen nicht anzutreffen sind. Das Reale ist wesentlich heterogen, im Alltag gleichwie in den modernen Wissenschaften. Die Klammer zwischen den abstrakten mathematischen Welten der Physik und den sinnlichen Qualitäten Bergsons bildet die Fassung des Realen als Funktionsprinzip. Es gibt also drei Prinzipien: Das Funktionsprinzip des Symbolischen ist die Beziehung, das Funktionsprinzip des Imaginären die Identität, das Funktionsprinzip des Realen die singuläre Qualität. Deshalb kann gelten, dass die primäre Affizierung des Menschen in Wirklichkeit real ist. Als Objektbeziehung verstanden ist sie imaginär, als Konvention (wie die Konvention jenes lebensweltlichen dreidimensionalen Raumes, in dem ich mich bewege) gefasst, symbolisch. Das Reale als Funktion ist die ungewisse Erwartung, dass sich etwas Opakes ereignet. »Car nous savons fort bien, [...] que le réel est, par essence, opaque, et que toutes les constatations le concernant gardent quelque chose d’imprévisible.« (383)86 Wir beziehen uns auf die Welt im Register des Realen, indem wir die Homogenität des Raumes entkräften und das Werden in der Zeit anerkennen. Das so erschlossene Reale ist nicht das Universum als Ganzes, wie

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eingezogen – ein Hinweis auf die starke Verschränkung der Register und die unkalkulierbare Dynamik des Erkenntnisgeschehens. Bergson, Henri, (1889) Zeit und Freiheit, Hamburg, 2006. Meyerson, (1925) Déduction.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

der menschliche Verstand dies vorstellen kann. Hier schließt sich der Kreis zu Uexkülls epistemologischer Kritik: »Einen allgemeinen absoluten Raum und eine allgemeine absolute Zeit, die alle Lebewesen umschließen, gibt es nicht.« (219)87 Das Reale ist demnach in keinem Falle die erlebte Wirklichkeit als rational gefasste. Akzeptiert man – und sei es nur versuchsweise – diese Position, so bleibt doch wenig plausibel, warum uns so wenig Manifestationen des Realen gegenwärtig werden. Doch in Anbetracht der vorherrschenden sozialen Systeme, die auf Identität – psychologisch: auf die Identität der Seele – und Kausalität – psychologisch: auf den Regelkreis der Schuld – auf bauen, dürfte das aktive Verwerfen des Realen eine wichtige, wenn nicht die wichtigste, Subjektivierungstechnik darstellen.

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Uexküll, (1909) Umwelt.

Die Kategorienlehre von Charles S. Peirce: Eine Überprüfung im logischen Raum der Phänomene

Elemente der Peirce’schen Semiologie sind in verschiedenen Zusammenhängen mit der Lacan’schen psychoanalytischen Theorie verglichen und enggeführt worden.88 Lacan selbst äußert sich zu Peirce zuerst in den sechziger Jahren öffentlich. Er deutet eine große Übereinstimmung mit dessen Konzepten an, wobei unklar bleibt, ob ihm diese beim Entwurf seiner Triade bereits zur Verfügung standen oder aber nachträglich von ihm entdeckt wurden.89 Lacan hat es der Nachwelt überlassen, die zwei Denksysteme in einen Bezug zu setzen und zu diskutieren. Beim Stand der von mir vorgelegten Untersuchung werde ich mich auf einzelne Aspekte der Phänomenologie des amerikanischen Logikers zur An88

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Vgl.: Balat, Michel, (1989) De Peirce et Freud à Lacan, Quelle: http://www.balat.fr/ De-Peirce-et-Freud-a-Lacan.html, zuletzt aufgerufen am 25.11.2013. (Ebenfalls veröffentlicht in: (Z) Revue européenne de sémiotique, n°0, 25 pages, 1989.); Balat, Michel. (1992) Le Musement, de Peirce à Lacan, Quelle: http://www.balat.fr/Le-Musement-de-Peirce-a-Lacan.html, zuletzt aufgerufen am 25.11.2013. (Ebenfalls veröffentlicht in: (Z) Revue internationale de Philosophie, Vol. 46, No. 180, 01/92.); Balat, Michel, (2000) Des fondements sémiotiques de la psychanalyse. Peirce après Freud et Lacan, Paris, Montreal, 2000. (Harmattan); Nordtug, Birgit, (2004) »Subjectivitiy as an unlimited Semiosis: Lacan and Peirce« in: (Z) Studies in Philosophy and Education, Volume 23, Issue 2-3, March 2004, S. 87-102; Ort, Nina, (1997) Objektkonstitution als Zeichenprozeß. Jacques lacans Psychosemiologie und Systemtheorie. Quelle Internet: http://nina.ort.userweb.mwn.de/ Objektkonstitution.pdf , zuletzt aufgerufen am: 25.09.2013; Ort, Nina, (2000) »Das erkenntnistheoretische Spiegelstadium. Oder: Die Unbeobachtbarkeit des Beobachtbaren«, in.: Jahraus, Oliver, Ort, Nina (Hrsg.), Beobachtungen des Unbeobachtbaren. Konzepte radikaler Theoriebildung in den Geisteswissenschaften, Weilerswist, 2000, S. 296-313. Vgl.: Balat, Michel, (2000) Des fondements sémiotiques de la psychanalyse. Peirce après Freud et Lacan, Paris, Montreal, 2000, S. 7ff: Siehe dort auch die entsprechenden Zitate. Folgt man der hier präsentierten Aussage von Jacques Riguet, so hatte Lacan zumindest seit einer Unterhaltung im Jahre 1957 von Peirce wissen müssen.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

reicherung und Überprüfung der bislang gefundenen Bestimmungen einer epistemologischen Trias aus Symbolischem, Imaginärem und Realem beschränken. Insbesondere der Begriff des Realen, der mit Meyersons historisch-analytisch argumentierender Epistemologie einen ersten Aufweis gefunden hat, soll weiter befragt werden. Die mathematisch-logische Methode von Peirce verspricht darüber hinaus die Unsicherheiten der biologistischen und anthropologischen Herleitungen der außersymbolischen Register abzuschwächen – vorausgesetzt es finden sich genügend begriffliche Korrespondenzen. In seiner gesamten Semiologie findet sich zunächst eine ganze Reihe von Triaden: Erstheit, Zweitheit, Drittheit; Erstes, Zweites, Drittes; Ikon, Index, Symbol; Qualizeichen, Sinzeichen, Legizeichen; Rhema, Dicizeichen, Argument. Für die Überprüfung und Erweiterung der Bestimmungen eines Imaginären, eines Realen und eines Symbolischen beschränke ich mich auf die von Peirce als Kategorien bezeichnete phänomenologische Triade aus Erstheit, Zweitheit und Drittheit und lasse die anderen eher semiologischen Termini unberücksichtigt.90 Der Grund hierfür liegt in der basalen Situierung der Kategorien in einer nicht weiter reduzierbaren Erlebnissituation, was im Übrigen dem Anliegen in Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt nahekommt: Ähnlich wie Brentano sich von bestehenden philosophischen Konzepten distanzieren muss, um zu seinen drei »Grundklassen« (32)91 Vorstellung, Liebe/ Hass und Urteil zu gelangen, fordert auch Peirce einen Bruch mit bestehenden Begrifflichkeiten und entwirft zu diesem Zweck einen eigenen epistemologischen Bezugsraum – das Phaneron: »In der Gesamtheit alles dessen, was sich in unserem Geist befindet – diese Gesamtheit nenne ich das Phaneron und dies ist notwendigerweise und mit Absicht ein vager Terminus –, können wir eine Vielfalt von Bestandteilen erkennen, und wir stellen auch fest, daß sie von ganz unterschiedlicher Natur sind. Um diese beiden Bemerkungen der Gefahr des Mißverständnisses zu entheben, wird der Verfasser jetzt einige der Dinge niederschreiben, die sich während der letzten Minuten in seinem Geist vollzogen. Da er ein wenig seiner üblichen Gesundheit entbehrte, war er sich bestimmter Empfindungen im Rumpf seines Körpers bewußt. Doch die köstlich kühle Wärme des Junivormittags, der taumelnde Sonnenschein, der mit den Schatten des grünen Buschwerks vor seinem Fenster spielte, die absolute Stille seines Arbeitszimmers, riefen

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Einen anderen Weg geht Balat, der sowohl bei Lacan als auch bei Peirce vorrangig auf die semiologischen Korrespondenzen eingeht (wie auch Peters und Nordtug). Da ich mich bei Lacan ausschließlich auf die drei Ordnungen beziehe, macht es Sinn, auch von Peirce nur die drei Kategorien heranzuziehen. Eine konzise Darstellung dieser Kategorien findet sich in: Peters, Anne, (2007) Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Žižek, Bielefeld, 2007, S. 103-114. Brentano, Franz, (1874-1895) Die Lehre vom richtigen Urteil, Bern, 1956, S. 32.

Teil 3: Das Reale in ihm Gefühle der Freude und Dankbarkeit hervor. Dann kam ihm die Idee, daß all dies zu eigennützig und zu müßig sei. Zweifellos machte er eine intensive Anstrengung, diese Sätze zu bilden und niederzuschreiben – keine so leichte Aufgabe wie man vielleicht annimmt. […] Wenn wir alles im Geist Enthaltene, ob nun Gefühle, Zwänge oder Anstrengungen, Gewohnheiten oder Gewohnheitsänderungen oder von welcher anderen Art auch immer es sein mag, mit dem Namen Bestandteile des Phaneron bezeichnen, dann können wir ganz offensichtlich feststellen, daß sich beliebige andere Dinge nicht mehr voneinander unterscheiden können als sich Bestandteile des Phanerons voneinander unterscheiden; da wir, was immer wir überhaupt wissen, durch die Bestandteile des Phanerons wissen und da wir nicht irgendwelche Dinge unterscheiden können, wenn wir uns nicht irgendwelche Vorstellungen von ihnen machen.« (51f ) 92

Wie Brentano bestimmt auch Peirce die »Vorstellungen« (52) als elementare Voraussetzung von Erkenntnis. Im Phaneron verortet sich nun Peirce’ Kategorienlehre. Durchaus in Bezug auf Artistoteles93 und Kant94, ist es vor allem Georg Friedrich Wilhelm Hegel, den er als Ideengeber seiner Gedanken anführt, womit auch eine wichtige Traditionslinie triadischer Konzepte benannt ist:95

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Peirce, Charles Sanders, (1903), Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/M., 1983. Die hier vorgelegte Art, eine beispielhafte Situation als Grundlage einer semiologischen Analyse zu nehmen, wird nochmals aufgegriffen von Umberto Eco: »Signor Sigma, so wollen wir annehmen, hat bei einem Aufenthalt in Paris plötzlich Beschwerden im ›Bauch‹. Ich habe einen ungenauen Ausdruck benutzt, weil das, was Herr Sigma empfindet, noch unbestimmt ist. [… usw. usf.]« (Eco, Umberto, (1973) Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M., 1977, S. 9.) Vgl.: Peirce, (1903) Phänomen, S. 53. Vgl.: Houser, Nathan, (1983) »Das semiotische Bewußtsein nach Peirce«, in: Wirth, Uwe (Hrsg.), (2000) Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce, Frankfurt/M., 2000, S. 44-67, hier: S. 44. Es muss eingeschränkt werden, dass Hegels Dialektik einen progressiv-dynamischen Charakter hat, der zwar in Peirces Semiologie aufgeht, indem ein Interpretant wieder ein Repräsentamen in einer neuen Zeichentriade darstellen kann (»Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.«Peirce, (1903) Phänomen, S. 64), der aber auf phänomenologischer Ebene nicht zwingend ist. Peirce distanziert sich denn auch von Hegel mit einer Kritik an dessen Überbetonung der Drittheit, mithin des Symbolischen. Vgl.: Peirce, Charles Sanders, (1865-1903) Semiotische Schriften. Band I, 1865-1903, Frankfurt/M., 2000, S. 437.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »Die Phänomenologie ist jener Zweig der Wissenschaften, der in Hegels Phänomenologie des Geistes behandelt wird (einem Werk, das viel zu fehlerhaft ist, als daß man es irgendjemand anderem als einem reifen Gelehrten empfehlen kann, obwohl es vielleicht das tiefgründigste Werk ist, das jemals geschrieben wurde). In jenem Werk versucht der Autor zu klären, was die Elemente oder, wenn man so will, Gattungen der Elemente sind, die unveränderlich in allem gegenwärtig sind, was in irgendeinem Sinne im Geist enthalten ist.« (54f ) 96

Der Begriff der Gattung, den Peirce hier benutzt, weist eine deutliche Nähe zu dem der Ordnung auf. Die methodologische Stoßrichtung zielt bei Peirce wie bei Lacan in diesem Punkt auf eine möglichst hohe Universalität. Diese wiederum ist in einer möglichst geringen Zahl von Gattungen gegeben.97 Peirce verbindet seinen phänomenologischen Ansatz mit einer triadischen Kategorienlehre, für die er ebenfalls eigene Termini generiert – nicht zuletzt, um sich von Hegels Phänomenologie des Geistes abzusetzen.98 Die drei »universale[n] Kategorien« (55) heißen bei Peirce Erstheit, Zweitheit und Drittheit und können als »reine Idee[n]« (55) nur schwer separiert werden, denn sie treten stets gemeinsam auf. Höhere Ordnungen als die dritte müssen nicht konzipiert werden, da alle komplexeren Verknüpfungen relationenlogisch auf Drittheiten heruntergebrochen werden können,99 was – zumindest bei Peirce – den Bestand der Kategorien oder Gattungen in der Zahl Drei endgültig fixiert. Zur Genese dieser Trias erläutert Nathan Houser:

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Peirce, (1903) Phänomen. Für den entgegengesetzten Weg hatte sich Cassirer entschieden, der drei Bände mit symbolischen Formen zu füllen wusste. Dabei entsagt er jedoch jeglichem (aristothelischen, ontologischen) Gattungsbegriff und bevorzugt einen relationalen Reihenbegriff. (Vgl.: Cassirer, Ernst, (1910) Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin, 1910, S. 5-34 et passim.) Bei Peirce wie bei Lacan bleibt die ontologische Frage unbestimmt. Auf den ersten Blick liegt bei Peirce ein phänomenologisch-logisches Konstrukt vor, bei Lacan ein phänomenologisch-psychologisches. Bei Lacan erscheint die Ontologie geradezu als etwas Privates, dem Lehrdiskurs Entzogenes. Wie beiläufig nutzt er einmal die »Gelegenheit, einem Jemand zu antworten, daß auch ich, natürlich, eine Ontologie habe – warum nicht! – wie jedermann eine hat, naiv oder elaboriert. Mit Sicherheit aber erhebt, was ich in meinem Diskurs nachzuzeichnen versuche […] nicht den Anspruch, das ganze Feld der Erfahrung abzudecken.« (Lacan, Jacques, (1959-1960) Das Seminar, Buch VII (1959-1960). Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin, 1986, S. 78.) Die drei Kategorien bei Hegel sind: An-sich, Für-sich und An-und-für-sich. Vgl.: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, (1807) Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M., 1986. »Es gibt keine Viertheit, die nicht bloß aus Drittheit bestehen würde.« (Peirce, (1903) Phänomen, S. 55.) Vgl. auch: Pape, Helmut, (1990) »Einleitung« zu: Peirce, Charles Sanders, (1903-1906) Semiotische Schriften. Band II, 1903-1906, Frankfurt/M., 2000, S. 7-79, hier: S. 35ff.

Teil 3: Das Reale »Bereits 1867 gelangte Peirce zu einer dreifachen Unterteilung in seiner Logik der Begriffe und nannte die drei Klassen ›Qualität‹, ›Relation‹ und ›Repräsentation‹ (CP 1.555). Als er diese Liste unbefriedigend fand, nannte er seine Unterteilungen ›Qualität‹, ›Reaktion‹ und ›Vermittlung‹. Schließlich nannte Peirce seine Kategorien für die Zwecke einer wissenschaftlichen Terminologie ›Erstheit‹, ›Zweitheit‹ und ›Drittheit‹, indem er ›neue Worte ohne irgendwelche falschen Assoziationen‹ einführte (CP 4-3).« (44f ) 100

Wenngleich Peirce später mit seinen früheren Termini unzufrieden war, so ist doch von Interesse, dass die Erstheit mindestens genealogisch mit der Qualität und die Zweitheit mit der Relation und der Reaktion zu tun hat. Der Begriff der Repräsentation legt eine Verwandtschaft der Drittheit mit dem Symbolischen genauso nahe, wie die Vermittlung direkt auf Lacans Adaption des Ödipus-Komplexes in seinem Inauguralvortrag »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale« bezogen werden kann: »[Das] vermittelnde Wort ist nicht schlicht und einfach vermittelnd auf dieser elementaren Ebene. Es erlaubt, zwischen zwei Menschen die grundlegende aggressive Beziehung in der Spiegelung des Ebenbildes zu transzendieren. Es muß eben noch etwas anderes sein, denn wenn man darauf ref lektiert, sieht man, daß es nicht nur diese Vermittlung konstituiert, sondern ebenso, daß es die Realität selbst konstituiert.« (36) 101

Lacan, der hier über die symbolische Funktion in ihrer onto- und phylogenetischen Bedeutung spricht, verweist auf den die menschliche Wirklichkeit hervorbringenden Aspekt dieses Registers. Obwohl der erste Gedanke, wird auf das Symbolische verwiesen, intuitiv die Abstraktion, Repräsentation oder die Gesetzlichkeit anvisiert, insistiert Lacan auf der Wirkmacht nicht nur der Worte, sondern der symbolischen Funktion allgemein. Es spricht einiges dafür, Lacans Symbolisches und Peirce’ Drittheit begrifflich engzuführen, zumal man die zentralen Termini auch bei Peirce wiederfindet: »Daß solche Ideen wie die des Gesetzes, des Zwecks, des Denkens Drittheit als ihr vorherrschendes Element aufweisen, ist zu offensichtlich, als daß wir uns damit auf halten müßten. Es ist weit lohnender, zum Begriff des Lebens anzumerken, daß

100 Houser, Nathan, (1983) »Das semiotische Bewußtsein nach Peirce«, in: Wirth,

Uwe (Hrsg.), (2000) Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce, Frankfurt/M., 2000, S. 44-67. Die Binnenzitate aus den Collected Papers entsprechen der üblichen Form, die auch ich im folgenden nutzen werde: (CP, gefolgt von der Nummer des Bandes und der Nummer des Abschnitts.) 101 Lacan, (1953a) Das Symbolische.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale Drittheit wesentlich das Hervorrufen von Wirkungen in der Welt des Existenten einschließt – nicht als Quelle von Energie, sondern durch die schrittweise Entwicklung von Gesetzen. Denn man kann ohne Zweifel sagen, daß kein Zeichen als solches wirkt, ohne eine physische Replika oder ein interpretierendes Zeichen hervorzubringen.« (61) 102

Drittheit ist »Medium« (431)103 und »Darstellung« (431) und setzt Elemente des Phaneron in Relation. Es entsteht so ein relationales Universum104. Da nun jede Form von – als solche sichtbarer105 – Relation der Drittheit zugeordnet werden muss, und das »Denken[] [Drittheit] als [sein] vorherrschendes Element« (61)106 aufweist, erhält die Drittheit im Erkenntnisgeschehen einen zentralen Status. Insbesondere, wenn die Gleichsetzung von Form und Ding bei Peirce in Betracht gezogen wird,107 stellt sich die Frage, wie überhaupt auf Erstheit und Zweitheit rekurriert werden soll. Auch in meiner Untersuchung des Symbolischen zeigte sich die Schwierigkeit, aus dem geschlossenen Formenkreis des Symbolischen auszubrechen – oder mit anderen Worten: der Aufweis eines Außersymbolischen war nur über eine figurative Betrachtung möglich, die die zwingende Logik vernach-

102 Peirce, (1903) Phänomen. 103 Peirce, Charles Sanders, (1865-1903) Semiotische Schriften. Band I, 1865-1903,

Frankfurt/M., 2000.

104 »Das Symbol existiert innerhalb seiner Welt von Symbolen. Es könnte ganz al-

lein nicht existieren. Es gibt nicht ein Symbol. Das Symbol besteht als solches nur im Innern eines Systems. […] Das symbolische Universum existiert zuerst, und das reale Universum reiht sich sodann innerhalb ein.« (Lacan, Jacques, (1954) »Über das Symbol und über seine religiöse Funktion«, in: ders., Der individuelle Mythos des Neurotikers oder Dichtung und Wahrheit in der Neurose, Wien, 2008, S. 43-79, hier: S. 60f.) Interessant ist der Ausdruck »innerhalb«: Demnach würde das Symbolische das Reale geradewegs obsolet machen. 105 »Damit eine Beziehung ihren symbolischen Wert erhält, muß es die Vermittlung durch eine dritte Person geben, die gegenüber dem Subjekt das transzendente Element realisiert, dank welchem sein Verhältnis zum Objekt in einer gewissen Distanz unterhalten werden kann.« (Lacan, (1953a) Das Symbolische, S. 38.) 106 Peirce, (1903) Phänomen. 107 Vgl. obiges Zitat, in dem Peirce schreibt, »daß sich beliebige andere Dinge nicht mehr voneinander unterscheiden können als sich Bestandteile des Phanerons voneinander unterscheiden« (Peirce, (1903) Phänomen, S. 52), sowie Helmut Pape: »Wenn wir begriff liche Unterscheidungen bezüglich unserer Erfahrung einführen, so geben die drei Kategorien jene Bestimmungen an, die der Gegenstand unserer Erfahrung mindestens aufweisen muß – auch wenn er noch so unbestimmt und selbstwidersprüchlich ist. Die drei Kategorien haben also eine Doppelnatur: sie beschreiben alle Dimensionen möglicher Gegenstände der Erfahrung und geben dadurch die begriff liche Form des Denkens über alle Gegenstände der Erfahrung an.« (Pape, Helmut, (1990) »Einleitung« zu: Peirce, Charles Sanders, (1903-1906) Semiotische Schriften. Band II, 1903-1906, Frankfurt/M., 2000, S. 33. Hervorhebung im Original.)

Teil 3: Das Reale

lässigte und ihr mitunter widersprach.108 Um so interessanter wird nun sein, wie der amerikanische Logiker Erstheit und Zweitheit einführen und begründen wird. Eine der – über sein Lebenswerk hinweg leicht variierenden – Definitionen der drei Kategorien lautet: »Kategorie Nummer eins ist die Idee dessen, was so beschaffen ist, wie es ist, unabhängig von irgend etwas anderem. Damit ist gesagt, daß sie Gefühlsqualität ist. Kategorie Nummer zwei ist die Idee dessen, was so beschaffen ist, wie es ist, da es ein Zweites für ein Erstes ist, unabhängig von irgend etwas anderem, insbesondere von jedem Gesetz, obgleich es mit einem Gesetz übereinstimmen kann. Damit ist gesagt, daß es sich um Reaktion als ein Element des Phänomens handelt. Kategorie Nummer drei ist die Idee dessen, was so beschaffen ist, wie es ist, da es ein Drittes oder Medium zwischen einem Zweiten und einem Ersten ist. Damit ist gesagt, daß es sich um Darstellung als ein Element des Phänomens handelt.« (431) 109

Erstheit ist bestimmt als eine reine Qualität im Sinne von feeling, dem reinen In-Erscheinung-Treten. Zweitheit ist eine unregulierte Art von Entgegentreten. Und Drittheit ist, wie bereits angeführt, Vermittlung und Medialität in einer Darstellung oder Repräsentation. Dem Gedankengang der vorangehenden Erarbeitung der Lacan’schen Register folgend, wären zunächst die Phänomene der Drittheit näher zu betrachten. Bei aller gebotenen Unschärfe, die Kategorien zu explizieren,110 kann die hier zitierte Definitionstriade genauer betrachtet werden: So finden sich in den ersten beiden Absätzen weitere, über die im dritten Teil angeführten Bestimmungen (Medium und Darstellungsfunk108 Die Figuren des Imaginären sind mitunter in biologistischen oder anthropo-

logischen Spekulationen verborgen. Sie stellen jedoch immer auch eine logische Andersartigkeit gegenüber dem Symbolischen dar. Die Kritik Bergsons am homogenen Raum erwies sich als zentraler Angriff auf eine rein symbolische Welterklärung. 109 Peirce, (1865-1903) Semiotische I. 110 »So erklärt Peirce in einer wenig beachteten, aber wesentlichen Charakterisierung, daß seine drei Kategorien weniger ›klare Begriffe‹ seien als ›Ideen, welche so breit sind, daß man sie eher als Stimmungen oder Färbungen des Denkens betrachten könnte denn als klare Begriffe, die aber eine große Bedeutung für das alles haben‹(CP 1.355)« (Houser, (1983) Bewußtsein, S. 46.) Einen gewissen Widerstand gegen das Verständnis der drei Ordnungen als Begriffe im philosophischen Sinne findet sich auch bei Lacan, der in seinem Spätwerk von seinen »Eigennamen« (Lacan, Jacques, unpubliziertes Seminar, Sitzung vom 16. Nov. 1976, zit. nach: Julien, Philippe, (1985) Pour lire Jacques Lacan, Paris, 1990, S. 65.) in Rekurs auf Frege spricht. Analog dazu schreibt Peirce über sein Phaneron: »Die Phänomenologie untersucht die Kategorien in ihren Formen der Erstheit« (Peirce, (1903) Phänomen, S. 62.) und damit als reine, nicht-diskursive (assertorische) Qualitäten, und weiterhin folgt daraus, »daß Zweitheit und Drittheit Begriffe von etwas Komplexem sind. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß sie komplexe Begriffe sind.« (Peirce, Charles Sanders, (1903-1906) Semiotische Schriften. Band II, 1903-1906, Frankfurt/M., 2000, S. 156.)

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tion) hinausgehende Charakteristika der Kategorie Nummer drei: Im Umkehrschluss ist die Drittheit durch Abhängigkeit und Gesetzlichkeit bestimmt, und damit womöglich auch durch die Abhängigkeit von Gesetzlichkeit. Die Parallelen von Symbolischem und Gesetzlichkeit wurden mit mit Meyerson bereits deutlich. Explizit führt Peirce zur Drittheit aus: »Drittheit finden wir überall dort, wo ein Ding eine Zweitheit zwischen zwei Dingen erzeugt. In allen diesen Fällen wird man finden, daß das Denken eine Rolle spielt. Mit Denken ist etwas Ähnliches wie die Bedeutung eines Wortes gemeint, die »verkörpert« werden kann, d. h. sie kann dies oder das bestimmen, ist jedoch nicht auf irgend etwas Existierendes beschränkt.« (57) 111

Drittheit kann, muss aber nicht, eine Verkörperung oder Existenz finden. Peirce rekurriert im phänomenologischen Ordnungsrahmen der drei Kategorien auf die »Bedeutung« (57) – also die Semantik – und überlässt die genaueren zeichenlogischen Implikationen weiteren differenzierenden Begrifflichkeiten.112 Drittheit entspricht in diesem Sinne einem Symbolischen, das ich als Funktionsprinzip ebenfalls logisch vor jeder expliziten Sprachtheorie angesetzt habe. Es erweist sich nun als zuträglich, den operationalen und relationalen Aspekt des Symbolischen herausgearbeitet zu haben.113 Zumindest erleichtert dieser, mit Peirce den Umfang des Denkens weiter zu fassen – im Sinne allgegenwärtiger Prozesse: »Denken ist nicht notwendig mit einem Gehirn verbunden. Es zeigt sich in der Arbeit der Bienen, der Kristalle und überall in der rein physikalischen Welt. Und man kann genausowenig leugnen, daß es real vorhanden ist, wie daß die Farben, Formen usw. der Objekte wirklich vorhanden sind … Nicht nur, daß Denken in der anorganischen Welt vorkommt, sondern es entwickelt sich auch dort.« (CP 4.551) 114

Der hier vorgestellte Begriff des Denkens ist der eines Funktionsprinzips. Gemäß des Peirce’schen Grundsatzes, »daß sich beliebige andere Dinge nicht mehr voneinander unterscheiden können als sich Bestandteile des Phanerons 111 Peirce, (1903) Phänomen. 112 Zum Begriff der externen Bedeutung im Phaneron vgl.: Pape, (1990) Einlei-

tung, S. 25ff.

113 Oder etwas genauer analysiert: Während der originale Saussure, der zwischen

Lautbild und Gemeintem unterschieden hat, problemlos an Peirce anschließbar wäre, ergäbe sich aus der Lacan’schen Autonomie der Signifikantenkette eine begriff liche Kollision, da die Semantik hier völlig abgekoppelt ist. Andererseits entspricht Lacans Symbolisches durchaus der nun folgenden Darstellung, denn auch für Lacan fußt das Symbolische draußen, beispielsweise im Verhalten der Tiere. Vgl. Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 174. 114 Peirce, Collected Papers, zitiert nach: Houser, (1983) Bewußtsein, S. 64.

Teil 3: Das Reale

voneinander unterscheiden« (52)115, ist damit auch ein Erkenntnisprinzip gegeben. Über das Denken erschließt sich für Peirce Drittheit als Gesetzlichkeit, »die in einem unabänderlichen Verlauf oder einer Determinierung des Wesens der Dinge liegt, so daß ihr noch die unendliche Zukunft sich angleichen wird« (58). Peirce verweist auf die Legitimität und Gültigkeit von Prädiktion in der menschlichen Erfahrungswelt. »Niemand kann bezweifeln, daß wir von Gesetzmäßigkeiten wissen, auf die wir Voraussagen gründen können, die von den tatsächlichen, noch im Schoße der Zukunft liegenden Ereignissen in einem auffälligen, wenn nicht sogar vollständigen Ausmaß erfüllt werden. Solchen Gesetzen Realität abzusprechen, heißt über Worte zu streiten.« (58)

Scheint diese pragmatische Herleitung auch vor jede kritische Epistemologie zurückzufallen, so erweist sich die Konklusion wiederum als pointierte Setzung des Symbolischen als selbstverständliche und selbsttätige prozessuale Form: »Viele Philosophen behaupten, daß sie [die Gesetze, F.W.] ›bloße Symbole‹ seien. Man eliminiere das Wort ›bloße‹, und dies ist wahr. Sie sind Symbole und da Symbole die einzigen Dinge im Universum sind, die von Bedeutung sind, ist das Wort ›bloß‹ geradezu impertinent.« (58)

Erkennen schließt das Erfassen von Bedeutung fraglos ein. Bedeutung stellt sich aber erst in einer abstrahierten Form ein: und zwar in einer Funktion des Symbolischen, so das Argument von Peirce. Auch Meyerson beschreibt die Gesetzlichkeit als natürliche Bestrebung, wie beispielsweise im Verhalten eines Hundes, der ein geworfenes Stück Fleisch im Flug zu fangen weiß, also dessen Flugbahn vorhergesehen haben muss, die ihm »als Gesetz« (5)116 erscheint. Gesetzlichkeit wird bei beiden Denkern unter dem Aspekt des zielführenden Verhaltens eingeführt. Das Symbolische ist vor allem das Nützliche, was mit Peirce auch auf jenen transitiven Charakter zurückgeführt werden kann, den die Drittheit ermöglicht, indem sie zwei Elemente in einen bestimmten Bezug setzt. »Es ist die genuine Drittheit, die dem Denken sein Wesen verleiht, obwohl Drittheit in nichts anderem besteht als daß eine Entität zwei andere Entitäten in eine Zweitheit zueinander bringt.« (58)117 Die Drittheit ist nichts anderes als die je spezifische Relation zwischen zwei Elementen, also nicht die bloße Tatsache zweier Entitäten, sondern das In-Erscheinung-treten 115 Peirce, (1903) Phänomen. 116 Meyerson, (1908) Identität. 117 Peirce, (1903) Phänomen.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

einer Operation, eines Zusammenhangs, einer Gesetzmäßigkeit. Funktional tritt sie in jedem Urteil auf, womöglich aber bereits in jedem Akt des reflektierten Gewahrwerdens, also immer, wenn sich Elemente regelhaft oder zumindest sichtbar relational anordnen beziehungsweise kombinieren. Ernst Cassirers Begriff symbolischer Formen steht der Drittheit insofern nahe, als die gewissermaßen reinste Form von Drittheit die uneinholbaren Mutationen des abstrakten Denkens beschreibt: »Eine bloße Komplikation der dritten Kategorie, die noch keine wesentlich andere Idee einschließt, führt zu der Idee dessen, was so beschaffen ist, wie es ist, aufgrund seiner Relationen zu einer abzählbaren, abzählbar unendlichen oder überabzählbar unendlichen Mächtigkeit oder gar zu irgendeiner Super-Mächtigkeit von Korrelaten, so daß diese Kategorie als solche schon den Begriff der echten Kontinuität liefert, der höher steht als jeder bisher entdeckte Begriff.« (431) 118

Eine ausschließliche Kaskadierung oder Entfaltung von Drittheiten führt zu einer unendlichen Reihe von Verbindungen. Auch Cassirer betont den Funktionsbegriff und stellt die funktionale Reihe vor einen hierarchischen Substanzbegriff. Zu einer unendlichen Bildung von Korrelaten kommt es bei ihm jedoch nicht. Vielmehr sieht er im anthropologischen Aufweis Formen des Symbolischen realisiert, die in transzendentalen Formen fassbar werden. Der Vergleich zeigt, in welcher abstrakten Reinheit Peirce die Drittheit im obigen Zitat setzt, um zu einer mathematischen Bestimmung zu gelangen. Lebensweltlich ist dieser Fall – einer multiplen reinen Drittheit – nicht gegeben (außer vielleicht für Gott), da stets auch »andere Idee[n]« (431) im Phaneron gegeben sind. Peirce sieht die Notwendigkeit, Erstheit, Zweitheit und Drittheit in einer Theorie gleiches Gewicht zuzusprechen. Er kritisiert sogar eine Reihe von Philosophien wegen derer unausgewogenen Berücksichtigung der Kategorien.119 Eine Phänomenologie, die beispielsweise die Drittheit für bestimmend hält, sieht Peirce bei Hegel vorliegen. Denn dort »werden die anderen beiden nur eingeführt, um aufgehoben* zu werden. Alle Kategorien der Liste Hegels, angefangen beim reinen Sein, scheinen mir offenkundig Drittheit einzuschließen, wenn er es auch nicht zu erkennen scheint; so sehr ist er von dieser Kategorie eingenommen.« (437)

118 Peirce, (1865-1903) Semiotische I. 119 Vgl.: Peirce, (1865-1903) Semiotische I, S. 437f. Demnach erklärt Condillac alles

durch Erstheit, Helmholtz durch Zweitheit, Hegel durch Drittheit, die Nominalisten überbetonen Erstheit und Zweitheit, Berkeleys Anhänger Erstheit und Drittheit, Descartes, Spinoza und Kant Zweitheit und Drittheit.

Teil 3: Das Reale

Eine stimmige Philosophie, so legt Peirce uns nahe, berücksichtigt alle drei Kategorien gleichermaßen. Dies bedeutet, wenn man die terminologischen Vorläufer seiner Trias nochmals heranzieht, dass die reine Qualität und die reine Relation im Sinne von Reaktion eine eigene Niederschrift finden müssen. Schwierig genug ist die Realisierung eines solchen Projektes, denn sobald ich analysiere oder aber auch nur darstelle, befinde ich mich im Register der Drittheit und habe das zu Erfassende damit in seiner kategorialen Eigenheit verloren – wenngleich freilich nicht den jeweiligen Gegenstand, der inhaltlich bleibt, was er ist, was wiederum dazu führt, dass ein Wechsel der Kategorien leicht unbemerkt bleiben kann. »Da alle drei stets gegenwärtig sind, ist es unmöglich, eine reine Idee von irgendeiner von ihnen zu haben, die absolut von den anderen unterschieden ist. Ja, selbst so etwas wie ihre ausreichend klare Unterscheidung, kann nur das Ergebnis langen und angestrengten Forschens sein.« (55) 120

Peirce zufolge sind die Kategorien Zwei und Drei nur abgeleitet zugänglich. Ich will versuchen, anhand des eingangs angeführten längeren Zitats zum Phaneron nach bestem Ermessen eine Kategorisierung vorzunehmen. Peirce beginnt: »Da er ein wenig seiner üblichen Gesundheit entbehrte, war er sich bestimmter Empfindungen im Rumpf seines Körpers bewußt.« (51) Die Empfindung eines, nehmen wir an, Magenschmerzes, solange diese noch vage und nicht gedanklich analysiert ist, wäre eine Erstheit. Es handelt sich um eine einzelne Qualität.121 »Doch die köstlich kühle Wärme des Junivormittags, der taumelnde Sonnenschein, der mit den Schatten des grünen Buschwerks vor seinem Fenster spielte, die absolute Stille seines Arbeitszimmers, riefen in ihm Gefühle der Freude und Dankbarkeit hervor.« (51)122 Die hier beschriebene Reaktion des Autors auf den visuellen Zauber entspricht einer Zweitheit, während der Sonnenschein und die Freude darin jeweils Erstheiten sind. »Dann kam ihm die Idee, daß all dies zu eigennützig und zu müßig sei. Zweifellos machte er eine intensive Anstrengung, diese Sätze zu bilden und niederzuschreiben – keine so leichte Aufgabe wie man vielleicht annimmt. [...]« (51) Das Räsonieren, das hier zweifelsfrei zur Kategorie der Drittheit gehört, denn es werden Urteile gefällt, reißt auch in den folgenden Sätzen nicht mehr ab: Die Drittheit ist das Register des philosophischen Diskurses.123 120 121 122 123

Peirce, (1903) Phänomen. Vgl.: Houser, (1983) Bewußtsein, S. 47. Peirce, (1903) Phänomen. Es hat einen gewissen Witz, die kleine Geschichte, die Peirce hier erzählt, analog in den drei Grundklassen Brentanos aufgehen zu lassen: dem Vorstellen, dem Lieben/Hassen und dem Urteilen. (Vgl.: Brentano, Franz, (1874-1895) Urteil, S. 32.) So ist der Magenschmerz sicherlich eine Vorstellung, die Liebe zum Schauspiel vor dem Fenster eine ebensolche und das vorgeführte unnachsichti-

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Meine kleine Analyse scheint auf den ersten Blick keine größeren Probleme aufzuwerfen. Doch ist in der Beschreibung respektive der Niederschrift einer Qualität die Ordnung der Erstheit nicht bereits verlassen? Um dem Leser in manierlicher Weise anzuzeigen, um welche Art der Qualität es sich bei »bestimmte[n] Empfindungen« (51) handelt, bettet Peirce sein Gefühl in eine Erzählung über seinen Gesundheitszustand ein. Wie hätte er auch vom Bauchzwicken anders berichten können? Das Gefühl selbst im Status einer Erstheit kann er ohnehin nicht transportieren. Anne Peters erläutert: »Relationenlogisch betrachtet kann die Kategorie der Erstheit als eine monadische Relation aufgefasst werden. Die Kategorie der Erstheit beschreibt Peirce als Eindeutigkeit, die aber eben nicht beobachtbar ist. Scheibmayr weist folglich darauf hin, dass Erstheit trotz ihrer Eindeutigkeit nicht bestimmt oder gar beobachtet werden kann. ›Denn jedes Erfassen setzt Differenzbildung in der Zweitheit und Darstellung in der Drittheit voraus, womit aber die Erstheit kategorial bereits zweimal verlassen ist.‹« (106) 124

Erstheit ist bestimmt durch Selbst-Identität, und je schon verlassen, sobald ein gedanklicher Zugriff auf sie erfolgt. Mit Spencer-Browns Laws of Form habe ich für das Imaginäre die Rolle des Beobachters herausgestellt: Im Register des Imaginären gibt es ausschließlich Identität. Erst das Hinzutreten eines Beobachters ergibt ein differenzielles Bild – und: eine erste Unterscheidung ist bereits die Notation auf dem Behauptungsblatt.125 Mit Peirce wiederum heißt dies, dass mit der Deskription die Erstheit verlassen wird, Zweitheit und Drittheit hinzukommen. Trotzdem versucht er, mittels »langen und angestrengten Forschens« (55)126 Bestimmungen von Qualitäten zu erschließen:

ge Urteilen über sich selbst eben dieses. Was an dieser spekulativen Engführung Aufsehen erregt, ist die Zweitheit als Affektkategorie: doch sind nicht Lieben und Hassen die Formen der Zweitheit schlechthin? 124 Peters, Anne, (2007) Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Žižek, Bielefeld, 2007. Das Binnenzitat ist ausgewiesen mit: Scheibmayr, W., Niklas Luhmanns Systemtheorie, S. 187. 125 Vgl. hierzu auch die Erläuterungen in: Ort, Nina, (1997) Objektkonstitution als Zeichenprozeß. Jacques lacans Psychosemiologie und Systemtheorie. Quelle Internet: http://nina.ort.userweb.mwn.de/Objektkonstitution.pdf , zuletzt aufgerufen am: 25.09.2013. Unter anderem fasst Ort zusammen: »[E]twas Fundamentales kann nicht analysiert werden, weil es keine Struktur aufweist, das heißt, keine reduziertere Beschreibungsform zuläßt.« (ebd., S. 22) Und: »Eine Beziehung zwischen zwei Elementen kann als Beziehung nicht beobachtet werden, gerade weil die Beziehung das dritte Element ist, das aus der Perspektive der Zweierbeziehung ausgeschlossen bleibt.« (ebd., S. 26) In diesem Sinne lese ich Peirce’ begriff lichen Vorgänger der Zweitheit, die Relation als unbestimmte Relation. 126 Peirce, (1903) Phänomen.

Teil 3: Das Reale »Among phanerons there are certain qualities of feeling, such as the color of magenta, the odor of attar, the sound of a railway whistle, the taste of quinine, the quality of the emotion upon contemplating a fine mathematical demonstration, the quality of feeling of love, etc. I do not mean the sense of actually experiencing these feelings, whether primarily or in any memory or imagination. That is something that involves these qualities as an element of it. But I mean the qualities themselves which, in themselves, are mere may-bes, not necessarily realized.« (CP1.304) 127

Peirce geht hier von reinen Qualitäten aus. Diese erinnern in ihrem Wesen an Brentanos eigenwillige Setzung des Physischen: »Beispiele von physischen Phänomenen […] sind eine Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe; ein Akkord, den ich höre; Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie erscheinen.« (112)128 Für beide Denker gilt, dass die aufgeführten Inhalte der Wahrnehmung, der Erinnerung oder der Einbildung unterschiedslos verhandelt werden, das heißt, dass deren tatsächlicher Aktualitätsstatus keine Rolle spielt: »I mean the qualities themselves which, in themselves, are mere may-bes, not necessarily realized.« (CP1.304) An Brentanos Konzept irritiert, dass er den Begriff des Physischen wählt, der gemeinhin mit der materiellen Wirklichkeit synonym gesetzt wird. Dass beispielsweise auch Phantasiegebilde zum Physischen gehören sollen, ist seine eigenwillige Setzung. In der Terminologie von Peirce spielt dieser Umstand keine Rolle, doch sind hier ebenso alle möglichen Arten von Inhalten des Phanerons versammelt, sofern sie noch nicht in Relation zu etwas anderem stehen.129 Wegen ihrer Verbindungslosigkeit, ihrer wesensbestimmenden Autarkheit sind diese Qualitäten jedoch zu einem rein hypothetischen Status verdammt. »Peirce meinte, daß das Gefühl in dieser Bedeutung kein psychologisches Datum sei, sondern eine hypothetische Entität.« (46)130 Erst der Gedanke, der diese Entität fasst, kann streng genommen als gegeben angenommen werden. Auch das epistemologische Imaginäre hat sich einer präzisen und eindeutigen Darstellung tendenziell entzogen und war vor allem in peripheren

127 Peirce, Charles Sanders, Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Band I.: Prin-

ciples of Philosophy, hrsg. v. Charles Harsthorne and Paul Weiss, Cambridge, 1931. Bei der Zitation aus den Collected Papers folge ich der üblichen Schreibweise: (CP .) Zitation erfolgt gemäß der Internetausgabe: http://www.textlog.de/charles_s_peirce.html, zuletzt aufgerufen am 18.01.2014. 128 Brentano, Franz, (1874a) Psychologie vom empirischen Standpunkt. Erster Band, Hamburg, 1955. 129 »Die Röte ist eindeutig, was sie ist. [...] Sie ist nicht Nichts. Sie ist nicht Existenz. Wir verfügen nicht nur über eine unmittelbare Kenntnis von der Erstheit der Gefühlsqualitäten und Sinnesempfindungen, sondern wir schreiben sie auch den äußeren Dingen zu.« (Peirce, (1903) Phänomen, S. 57.) 130 Houser, (1983) Bewußtsein.

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Denkfiguren aufweisbar.131 In unterschiedlichen Reduktionsstufen spannen sich diese von der hypothetisch-methodologischen Einheit eines biologischen Organismus mit seiner Umwelt (Uexküll) über das irrationale Phänomen des Vorstellungsbewusstseins (Sartre) bis hin zum historisch-epistemologischen Aufweis eines erklärenden Kausalitätstriebs (Meyerson). Wie ich in meiner Zusammenfassung des Imaginären bereits angeführt habe, kokettieren manche dieser Theorien mit einer prästabilierten Harmonie – um den monadischen Charakter des Imaginären zu rechtfertigen.132 Der Zugriff auf das Imaginäre erfolgte im Sinne einer Spurensuche. Es galt, Theoriemustern und Denkfiguren ein mögliches Imaginäres abzuringen. Bezogen auf Lacan, gilt für seine psychoanalytische Praxis ebenfalls die prinzipielle Unerreichbarkeit dieses Registers: »Für das Kind gibt es zunächst das Symbolische und das Reale, im Gegensatz zu dem, was man glaubt. Alles, was wir in der imaginären Ordnung sich zusammensetzen, sich anreichern und diversifizieren sehen, geht von diesen beiden Polen aus. Wenn Sie glauben, das Kind sei dem Imaginären verhafteter als dem Rest, dann haben Sie in gewissem Sinne recht. Das Imaginäre ist da. Aber es ist uns absolut unzugänglich. Es ist uns zugänglich nur von seinen Realisierungen beim Erwachsenen aus.« (276f ) 133

Erst die interpretatorische Leistung der Psychoanalyse eines Erwachsenen, so wird hier gesagt, bringt das Imaginäre des Kindes, das der Erwachsene einmal war, zum Vorschein. Trotzdem sagt Lacan nicht, dass es eine bloße Konstruktion der Analytiker ist. Als Funktion, so könnte man epistemologisch erläutern, ist es wirksam, innerhalb des Diskurses der Analyse zeigt es sich indirekt als logisch notwendiges Element der Symbolisierung. Auch in der Psychoanalyse ist das Imaginäre eine imaginäre »Ursache […] wo es hapert« (28)134, eine Erklärung. Insgesamt lassen sich mit Meyersons Begriff der Erklärung, der mit dem Imaginären korreliert, die gefundenen Figuren des Imaginären kritisieren: Sowohl der Rückgriff auf einen Funktionskreis (mit Uexküll) als auch auf ein 131 Etwas präziser formuliert meine ich damit, dass aus heterogenen Diskursen

einzelne Denkfiguren herausgegriffen werden konnten, die in einzelnen Aspekten Bestimmungen der imaginären Funktion aufwiesen. Die Denkfiguren (in ihrem Stammdiskurs) mussten dabei nicht das Imaginäre selbst verhandeln – Beispiel: Uexkülls Funktionskreis. 132 Nicht zuletzt sieht Meyerson den Identitätsaspekt der Kausalität bei Leibniz am treffendsten formuliert. Vgl.: Meyerson, (1908) Identität, S. 33. 133 Lacan, (1953-1954) Seminar I. 134 Lacan, Jacques, (1964) Das Seminar, Buch XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin, 1987. Lacan nimmt greift das Meyerson’sche Theorem auf: »[Die Ursache/cause] unterscheidet sich vom Gesetz.« (ebd., S. 28)

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Signifikat (mit Lévi-Strauss) sind Erklärungen im Sinne Meyersons. Sie suchen nach einer Ursache, die sich im (Comte’schen) Positiven nicht auffinden lässt. Es handelt sich um Figuren des Imaginären und gleichzeitig um imaginäre Figuren (sowohl genitivus subjectivus wie auch genitivus objectivus). Trotzdem gilt es, meiner Ansicht nach, mit Meyerson und nun auch mit Peirce, die Erkenntnisdimension eines Imaginären nicht zu übersehen: Zumindest ließen sich auf diese Weise sowohl Uexkülls Umwelttheorie, die Kritik Bergsons am spatialen Denken, der konstruktive Ansatz Lévi-Strauss’ mit seiner Unterscheidung zwischen Benennungs- und Haltungssystem, ebenso der Begriff der Vorstellung des frühen Brentano und auch der anthropologische Zug beim späten Cassirer im Aufweis eines Vorsymbolischen zusammenfassen. Die einzelnen Formen des Imaginären erweisen sich deutlich als heterogen, doch verweisen sie auf einen zentralen Punkt: Wie gelangt überhaupt etwas als einzelnes Bezugselement in den Erkenntnisprozess? Derscholastische Begriff der Intentionalität besagt, »dass der Erkennende das Erkannte – genauer: die Form des Erkannten – ohne Materie in sich aufnimmt und mit ihm identisch wird« (403)135. Sieht man vom aristotelischen Kontext und damit von der Differenzierung Materie - Form ab, so verbleibt das Konzept des Identisch-werdens. Die Identitätsfunktion ist allen der hier untersuchten Figuren des Imaginären eigen. Als nicht reduzierbares Element des Erkenntnisvorgangs entzieht sie sich der Analyse, weshalb ihr Aufweis in einer rationalistischen Denktradition nur schwer zu vollziehen ist. Sartre bekennt für seinen Begriff des Imaginären: »Die Struktur des Bildes ist bei uns irrational geblieben, und wir haben uns hier wie fast überall darauf beschränkt, rationale Konstruktionen auf vorlogischen Schichten zu errichten.« (71f)136 Zwischen dem Postulat »vorlogischer Schichten« (71f) und der logischen Gattung einer Erstheit liegen nur dann Welten, wenn Logik mit urteilender Ratio gleichgestellt wird, womit man bereits wieder im Register der Drittheit wäre. Legt man die Untersuchung im Phaneron zugrunde, so ist die Erstheit phänomenal ja kein logisch operatives Element, sondern bloße und hypothetische Qualität, völlig opak für den Beobachter und nicht analysierbar. Peirce steuert unter allen angeführten Theoriefiguren die phänomenologisch reduzierte Variante des Imaginären bei: Das Imaginäre ist per Definition einer Analyse entzogen. Oder aber: das Wissen um die funktionale Ordnung der Erstheit, »kann nur das Ergebnis langen und angestrengten Forschens sein.« (55)137 Die Sichtbarmachung von und die Kritik an Identitätsprinzipien in den Wissenschaftsdiskursen kann darauf auf bauend verstanden werden. Émile Meyerson entwickelt seine Epistemologie als Aufweis von Denkprinzipien. »La 135 Perler, (2002) Intentionalität. 136 Sartre, (1940) Imaginäre. 137 Peirce, (1903) Phänomen.

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philosophie de Meyerson est en son fond plus qu’une philosophie des sciences ou une épistémologie, elle est une philosophie de l’intellect en général.« (16)138 Dass sich sehr basale Elemente des Denkens, wie die Erstheit (Peirce), auch in komplexen diskursiven Figuren, im Identitätsdenken (Meyerson) abbilden, ist nicht unwahrscheinlich. Die spezifischen Eigenschaften des Imaginären haben gezeigt, dass es wesentlich transgressiv ist. Was als Identität der Form benannt und in der Möglichkeit von Objektidentität durch verschiedene Abbildungsmedien hindurch anschaulich wurde, mag durchaus einen Charakter vorstellen, der das Imaginäre – quasi unbemerkt – bis in chemische Gleichungen und wissenschaftliche Berichte vordringen lässt.139 Meyersons wissenschaftshistorische Analysen zeigen, dass derart imaginäre Elemente im Erklären, im Kausalitätsdenken unabweisbar enthalten sind. Der Begriff (oder zumindest die Figur) des Imaginären entfaltet hiermit eine Spannweite, die von logischen Minimalstrukturen über Fragen des Organischen und der Ästhetik bis hin zu wissenschaftstheoretischen Positionen reicht. Der Aufweis einer Kategorie des Realen, in Hinblick auf eine Trias aus Symbolischem, Imaginärem und Realem, nimmt sich bislang vergleichsweise spärlich aus. Nicht nur der frühe Lacan hat kaum positive Bestimmungen dieser Ordnung benannt, auch in meiner Recherche bleibt das Reale lange unauffindbar, um sich dann in der theoriegeschichtlichen Arbeit Meyersons zu zeigen. Besonderes Interesse gilt deshalb der Zweitheit in der Phänomenologie von Charles Sanders Peirce, nachdem die Drittheit mit dem Symbolischen enggeführt werden konnte140 und die Erstheit in wesentlichen Bestimmungen an das von mir rekonstruierte Imaginäre anschließbar ist. Bei Peirce verbleibt also, zumindest innerhalb seiner drei Kategorien, die Zweitheit, um versuchsweise mit dem Realen korreliert zu werden. Es zeigt sich, dass dieses logische Element bei Peirce tatsächlich mit lebensweltlicher Wirklichkeit und in diesem Sinne mit faktischer Realität verbunden ist. Peirce ist gerade im Register der Zweitheit nicht um anschauliche Beispiele verlegen:

138 Fruteau de Laclos, (2009) Épistémologie. 139 Meyerson »was led to recongnize that this principle of explanation, the aim at

identity, was to be found […] throughout the whole of man’s explanatory efforts, from naïve reasonings of daily life to the sophisticated constructions of metaphysics.« (Kelly, Thomas Raymond, (1937) Explanation and Reality in the Philosophy of Émile Meyerson, Princeton, 1937, S. 1.) »Common sense, science, and philosophy all show the same processes at work, the same ways of attaining explanations.« (ebd., S. 12.) 140 Vgl. nochmals: Peirce, (1903) Phänomen, S. 61. Sowohl die Gesetzlichkeit Meyersons als auch die Operationalität des Symbolischen Cassirers finden sich hier wieder.

Teil 3: Das Reale »Wir sprechen von harten Tatsachen. Diese Härte, dieser Zwang der Erfahrung, ist Zweitheit. Eine Tür steht ein wenig offen. Ich versuche sie zu öffnen. Etwas hindert mich daran. Ich presse mich gegen sie und erfahre ein Gefühl der Anstrengung und ein Gefühl des Widerstands. Dies sind keine zwei Bewußtseinsformen, es sind zwei Aspekte eines doppelseitigen Bewußtseins.« (55) 141

Das Entgegenstehen zweier Elemente produziert Zweitheit, einen Widerstand, der gut wahrnehmbar ist, und – so Peirce’ humorvoller Unterton – uns oft genug ärgert. Von den »drei Kategorien ist die Zweitheit am leichtesten verständlich, weil sie das Element ist, das im Auf und Ab des Lebens am deutlichsten hervortritt.« (55) Doch wenn wir über diese Alltagsphänomene räsonieren, ist Vorsicht geboten.142 Schnell ist die Kategorie der Zweitheit verlassen: »Von denjenigen vertrauten Ideen der Logik, in denen das Element der Zweitheit vorherrschend ist, sei zuerst der Begriff der Tatsache erwähnt. Die bequemste Definition einer Tatsache ist die, daß sie ein abstraktes Element des Realen ist, das einer Proposition korrespondiert. Doch führt dies unnötigerweise eine elementare Drittheit ein. Es ist richtig, daß die Realität nicht von der Drittheit dissoziiert werden kann, doch kann sie aus ihr präzisiert werden. Denn Realität ist einfach die Eigenschaft des Unabhängigseins von dem, was hinsichtlich des realen Objekts gedacht wird, so daß Drittheit nur negativ vorkommt.« (60)

Der vollständige Begriff einer Tatsache liegt bereits auf einer Abstraktionsebene und damit innerhalb jener Drittheit, die das Gesamt der erlebten Wirklichkeit konstituiert.143 Eine »präzisiert[e]« (60) Realität im engeren Sinne ist allerdings deduzierbar: als Unabhängigkeit von jener Wirklichkeit, wie sie das Denken erschafft. Übernimmt man von Lacan die Unterscheidung von Realität (für die konstruierte Welt, beziehungsweise die psychische Realität) und Reales (für ein ereignishaftes Erlebniselement), die im obigen Zitat nicht angenommen werden kann (und im Übrigen auch bei Lacan nicht konsistent durchgehalten wird), so zeichnet das Reale aus, dass es keiner Gesetzlichkeit, keinen Denkstrukturen unterworfen ist; dass es wesentlich unabhägngig ist. Peirce sagt: »Kategorie Nummer zwei ist die Idee dessen, was so beschaffen ist, wie es ist, da es ein Zweites für ein Erstes ist, unabhängig von irgend etwas anderem, ins-

141 Peirce, (1903) Phänomen. 142 Peirce spricht in dem Beispiel von nicht mehr als von einem situativen feeling.

Bei Meyerson taucht dieses ebenfalls auf: »Die Vorstellung der Kraft entspringt übrigens aus einer Empfindung, die man als Anstrengung zu bezeichnen pf legt. Aber obgleich diese Wirkung, die ich ausübe und erfahre, als Tatsache feststeht, bleibt sie doch unserem Verstehen unzugänglich.« (Meyerson, (1908) Identität, S. 315.) 143 Jeder Begriff von Wirklichkeit ist ein kultureller und komplexer.

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besondere von jedem Gesetz, obgleich es mit einem Gesetz übereinstimmen kann.« (431)144 Dass den Gesetzen etwas Wesentliches entgeht, dass die Naturgesetze nicht in der Natur liegen, sondern im Denken des Menschen, darauf hat unter anderem Meyerson hingewiesen.145 In ähnlicher Selbstbescheidung hat auch Helmholtz vom reinen Symbolcharakter des naturwissenschaftlichen Wissens gesprochen. Was Meyerson in Identität und Wirklichkeit darüber hinaus für die Wissenschaften einfordert, ist die weitmöglichste Berücksichtigung jener Wirklichkeit, die sich im singulären Aktualgeschehen äußert, die Anerkenntnis, dass »ein unaufhebbarer Widerspruch besteht zwischen unserem Verstand und der Natur oder, was auf dasselbe hinausläuft, der Empfindung; denn der Verstand setzt dort Identität, wo die Empfindung Verschiedenheit verlangt.« (311f)146 Verschiedenheit ist ein Indiz für Wirklichkeit. »Zweitheit gibt es nur, während es sie aktual gibt. Dasselbe kann niemals zweimal passieren. Wie Heraklit sagte, man kann nicht zweimal denselben Fluß überschreiten.« (56)147 Der Verstand widerspricht, so Meyerson, der Verschiedenheit und setzt dort ein Imaginäres, wo ein individuelles Geschehen und damit ein Reales vorliegt. »Wir sind es, die in der Natur die Identität herzustellen suchen, die sie hineintragen, sie ihr unterschieben.« (301)148 Das Reale ist davon unbeeindruckt, es verbleibt »unabhängig von irgend etwas anderem, insbesondere von jedem Gesetz […]« (431)149, womit es vom Imaginären und vom Symbolischen geschieden werden kann, ja diesen vielleicht sogar einen Widerstand entgegenbringt. Wo dies geschieht, wo »Tatsachen« (310)150 gegen die Logik sprechen, schlägt Meyerson den Begriff »Irrational« (311) vor, der besagt, »daß hier eine von uns für sicher gehaltene Tatsache vorliegt, die aber unbegreiflich ist und bleibt, die unserer Vernunft unzugänglich ist, sich auf rein rationale Elemente nicht zurückführen läßt« (311). In der Tradition von Bergson wird hier gefordert, die Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaften nicht durch das Insistieren auf Gesetze und Erklärungen zu beschränken und ein Irrationales zuzulassen. Dagegen sieht Peirce in der Zweitheit primär ein logisch durchaus prozessierbares Phänomen. 144 Peirce, (1865-1903) Semiotische I. 145 »Ein Naturgesetz, das wir nicht kennen, existiert nicht, im strengsten Sinne des

Wortes.« (Meyerson, (1908) Identität, S. 18.)

146 Meyerson, (1908) Identität. 147 Peirce, (1903) Phänomen. In einer Fußnote macht Peirce geltend, dass das Zitat

von Heraklit wahrscheinlich »zu zahm« sei – eine Beobachtung, die sich mit Meyersons Rekurs auf Heraklit deckt, der sinngemäß besagt, dass jener immer noch von einem Wasserkreislauf ausgegangen sei. (Vgl. Meyerson, (1908) Identität, 277.) Beide Denker betonen also, dass die situative Singularität des Realen noch radikaler zu fassen ist, als Heraklit es mit seinem Bild nahelegt. 148 Meyerson, (1908) Identität. 149 Peirce, (1865-1903) Semiotische I. 150 Meyerson, (1908) Identität.

Teil 3: Das Reale »Ein anderer Begriff, in dem Zweitheit überwiegt, ist der Begriff der Existenz, wobei es sich einfach um die Idee einer echten Zweitheit handelt, der keine Einschränkung auferlegt ist. Individualität ist ein anderer Begriff, in dem die Zweitheit das dominierende Element ist, obwohl die Erstheit natürlich davon ein Bestandteil ist.« (60) 151

Die bare Existenz der Zweitheit opponiert der Möglichkeit der Erstheit. Damit ist gemeint, dass es keine rein potentielle Zweitheit gibt. Zweitheit hat immer den Aspekt aktualer Widerständigkeit und Individualität, sie ist mithin unberechenbar und damit mindestens potentiell irrational. »The second category of elements of phenomena comprises the actual facts. The qualities, in so far as they are general, are somewhat vague and potential. But an occurrence is perfectly individual. It happens here and now.« (CP1.419)

Diese Unterscheidung zwischen einer Wirklichkeit als Aktualgeschehen und den Qualitäten lässt sich mit Sartres Bestimmungen des Realen und des Imaginären engführen. Für Sartre ist das imaginäre Objekt »nicht individuiert […]; es wirkt auf nichts, nichts wirkt auf es: es ist ohne Konsequenz im eigentlichen Sinne des Wortes.« (220)152 Das Reale bei Sartre ist beschrieben als »immer neu, immer unvorhersehbar« (237) und entspricht bereits im kategorialen Sinne nicht dem Ersehnten. Und wenngleich die Liebe zu Annie, so Sartres Beispiel, durch Annies Abwesenheit eine »radikale Verarmung erlitten haben« (234) wird, so stellt sich bei der Rückkehr der Geliebten, ihrer realen Präsenz, ein ganz anderes Problem: »Da ist sie nun, aber sie überragt nach allen Seiten meinen Wunsch, ich muß völlig umlernen.« (237) Annie, das Carnot’sche Prinzip Sartres, hält sich nicht an die Identitätsvorstellung, die er ihr zugeschrieben hatte, folgt in ihrem Verhalten nicht der Prädiktion. Womöglich wird Sartre wütend – wie so oft in seinen Beispielen – und ihr vorwerfen, sie verhalte sich irrational, was Annie ihm dann – ganz Faktum der Zweitheit – ordentlich quittieren wird. Pech und Schwefel wird es regnen und als der Philosoph anfängt, daran Gefallen zu finden, wird Annie ihm klar machen, dass es den idealen Sulfur im Realen nirgends gibt.153 Im Affekt nun kann es passieren, dass sich Imaginäres und Reales überlagern, was auch für die Welt der Dinge gilt. Denn »wenn sich das Gefühl auf 151 Peirce, (1903) Phänomen. 152 Sartre, (1940) Imaginäre. Seiner eigenen Terminologie folgend, spricht Sartre

an dieser Stelle von einem irrealen Objekt. (Einer solchen wahrnehmungsorientierten Differenzierung folge ich allerdings nicht, da sie trotz aller phänomenologischen Absicht in Teilen noch an der klassischen Dichotomie von Imaginärem und Realem festhält.) 153 »[D]ie Eigenschaften eines aufs Geratewohl herausgegriffenen Stückes Schwefel können von denen dieses idealen Stoffes erheblich abweichen.« (Meyerson, (1908) Identität, S. 19.)

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eine augenblicklich wahrgenommene Sache richtet, wirft die Sache ihm wie ein Projektionsschirm das Licht zurück, das es ihr spendet.« (226)154 In diesem Sinne wären Erstheit und Zweitheit schwer zu trennen. Doch nicht nur im Affekt besteht ein Zusammenwirken. Genau genommen gibt es eine konstitutive Relation zwischen beiden: Die Aktualisierung von Zweitheit schließt das Vorhandensein von Erstheit logisch ein. Dies wird deutlich, wenn man, mit Hilfe des inzwischen vorliegenden Begriffsapparats, den Vorgang der Realitätskonstruktion in seine Bestandteile zerlegt. Zunächst wurde gesagt, dass das Ganze der Realität vollständig in Drittheiten erfasst wird. Die unabschließbare Semiose, gleichbedeutend mit: das symbolische Universum, enthält einen konstruktivistischen Aspekt, aber schließt auch funktional abweichende Elemente ein: Erstheit und Zweitheit. Erstheiten sind nicht weiter auflösbar, sie entsprechen den Vorstellungen in dem Sinne, dass etwas überhaupt in Erscheinung tritt. Sie können sich auf reale Objekte beziehen, erschaffen diese aber nicht.155 »We perceive objects brought before us; but that which we especially experience – the kind of thing to which the word ›experience‹ is more particularly applied – is an event.« (CP1.336) Das, was die Realität von der Einbildung unterscheidet, ist ihr Ereignischarakter. Peirce führt in diesem Zusammenhang aus, dass der Begriff der Wahrnehmung nicht sonderlich hilfreich ist, die Realität als solche zu bestimmen: Wenn jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden ist, also einen schlechten Tag erlebt, so wird er an allen möglichen Dingen, die ihm begegnen, seine schlechte Laune wahrnehmen. Doch geht die Missstimmung selbstverständlich nicht von den Objekten selbst aus.156 Die klassische Dichotomie Wahrnehmungsbewusstsein - Vorstellungsbewusstsein führt in diesem Beispiel nicht weiter. Es fehlt das verlässliche Kriterium, mittels dessen die aktuale Realität von Gegenständen auszuweisen wäre. Über den Begriff der Zweitheit kann die Frage nach der Wirklichkeit besser angegangen werden:

154 Sartre, (1940) Imaginäre. 155 »Qualities are concerned in facts but they do not make up facts.« (CP1.419) 156 »Some writers insist that all experience consists in sense-perception; and I think

it is probably true that every element of experience is in the first instance applied to an external object. A man who gets up out of the wrong side of the bed, for example, attributes wrongness to almost every object he perceives. That is the way in which he experiences his bad temper. It cannot, however, be said that he perceives the perversity which he wrongly attributes to outward objects.« (CP1.335, Hervorhebung im Original.) Zum Effekt des morgendlichen Aufstehens auf die Alltagsontologie schreibt Meyerson: »En d’autres termes, il ne saurait être question des choses que nous percevons le matin en ouvrant les yeux, car cette perception, qui semble passive, est en réalité un résultat de l’activité de notre esprit, et le monde des choses du sens commun constitue très certainement une spéculation métaphysique sur les causes de nos sensations, c’est-àdire une ontologie.« (Meyerson, Émile, (1921), De l’explication dans les sciences, Paris, 1927, S. 32.)

Teil 3: Das Reale

Der Ereignischarakter stellt sich durch eine Interferenz ein. Zunächst ist eine Vorstellung (Brentano) beziehungsweise Erstheit gegeben, die inhaltlicher Natur ist: eine Qualität, Qualia, feeling. Etwas tritt hinzu, ein Zweites. (In manchen Ausführungen spricht Peirce von »material substances« (CP1.419), doch eine solche Konkretisierung ist unnötig einengend, denn Zweitheit kann sich auch durch eine Änderung in der Zeit herstellen, wie ein weiteres Beispiel zeigen wird.) Diese Zweitheit erzeugt Realität im Sinne von aktual Erfahrenem.157 Realität im Sinne von Aktualgeschehen entsteht aus Differenz und dazu muss ein »oppositional element« (CP1.336) mit einer Qualität interferieren. Ich habe dieses Element oben als ein Zweites benannt. Es handelt sich dabei um einen Terminus, den Peirce in repräsentationslogischen Kontexten benutzt.158 Ein Zweites wäre also das repräsentationslogische Element, das die Zweitheit als relationenlogisches Element herstellt. Man kann den Terminus jedoch auch ganz einfach im gewöhnlichen Sprachgebrauch auffassen, was hier nichts ändert. Zu einem Element kommt ein zweites hinzu, das Zweite. Die Unterscheidung von Zweitheit und Zweitem, so mein Vorschlag, kann dazu verwandt werden, die Begriffsdifferenz von Realität und Realem, wie sie mit Lacan diskutiert wird, aufzuklären. Ich habe mich bereits gegen ein vorschnelles Objekt- oder Substanzdenken in Bezug auf das Zweite ausgesprochen. Es genügt meiner Ansicht nach, das Zweite funktional zu bestimmen: eben als etwas, das zu einer Vorstellung hinzutritt, ihr widersteht, mit ihr reagiert und damit den Ereignischarakter hervorruft. Wenn nun die Zweitheit der noch unbestimmten Realität entspricht, so entspricht dem Zweiten das Reale.159 Daraus folgt: Das Reale ist wirksam in dem, was an Vorstellungen als 157 Man könnte in die zwei Positionen auch die Subjekt-Objekt-Relation einschrei-

ben, doch führt man damit wieder eine Regel in den Charakter der Beziehung ein und verlässt die Zweitheit zugunsten einer symbolischen dreigliedrigen Operation. Die Subjekt-Objekt-Relation ist ein gutes Beispiel für die kulturelle Determiniertheit der Drittheit, die hier vermittelnd eingreift, Gesetzlichkeiten aufweisend und Gesetze anwendend: als kontingente menschliche Realität im umfänglichsten Verständnis. 158 Vgl. Peirce, (1903) Phänomen, S. 60f. Peirce geht so weit, zu sagen, dass jedes Objekt »seinem eigentlichen Sinne nach ein Zweites« (61) ist. Dies ist ein diskutabler Punkt und man könnte sich von diesem ausgehend entschließen, das gesamte bislang aufgebaute Konstrukt einer entsprechenden Verschiebung zu unterziehen. Ich werde diese Auffassung hier jedoch nicht weiter verfolgen. 159 Es gibt in diesem Punkt eine völlige Übereinstimmung mit den Ergebnissen, die Balats semiotische Untersuchung aufdeckt: »Si nous mettons bout à bout, si nous réarticulons les éléments de la pensée du réel selon Lacan à la lumiére des développements peirciens, nous saissons alors une très profonde communauté de conceptions entre la catégorie du réel (Lacan) et celle de second (Peirce).« (Balat, (2000) Fondements, S. 65.) Mit Peters wiederum könnte man zu einer Übereinstimmung kommen, wenn man das Zweite um die Dimension eines dynamischen Objekts erweitert: Das Zweite erhielte dadurch eine höhere Komplexität und würde ebenfalls das Lacan’sche Reale bedeuten. »Es ist der Überschussgehalt der Realität gegenüber der Wirklichkeit. Durch die Kluft zwischen

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

ereignishafte Realität160 erscheint und in der lebensweltlichen, kulturell geprägten Realität repräsentiert ist. Mit Peirce ist das Reale damit als Widerstand oder Reaktion gegenüber einem Imaginären fassbar. Es ist das, was im Widerspruch zu den imaginären Gebilden erscheint, jenen selbstgenügsamen Identitäten, und was außerdem durch die Prädiktion des Symbolischen nicht gedeckt ist. Peirce’ Beispiele haben zuweilen den Charakter, die menschliche Alltagserfahrung von Zweitheit als Störung oder Widerwärtigkeit der Lebens zu präsentieren. Offensichtlich ist das Reale weniger fasslich, wenn alles nach unseren Vorstellungen läuft. Die Intentionalität präformiert den Weltzugang des Menschen. Das Reale tritt zwar im Existenzprozess161 indirekt in Erscheinung, als Isoliertes beziehungsweise als Erstes ist es normalerweise nicht zu fassen. Wo das Reale als Erstheit erscheint, empfinden wir es als fremd und bedrohlich. Es ist dann das Phantom eines Ding-an-sich162, wie hier bei Merleau-Ponty: »Ein wahrgenommenes Ding, so sagten wir, sei nicht denkbar ohne einen es Wahrnehmenden. Und doch präsentiert sich das Ding auch dem noch, der es wahrnimmt, unmittelbarem und dynamischem Objekt bzw. durch den Versuch, diese Kluft zu denken, kommt somit allen beobachtbaren Zeichen ein Überschussgehalt bzw. ein nie aufgehender Rest zu.« (Peters, (2007) Politikverlust, S. 118f ) »Das Reale bleibt als Rest.« (ebd., S. 207.) Vgl. zur Herleitung insbes. auch die Seiten 175f und 197. Zur Diskussion des dynamischen Objekts (als Lacan’sches Reales) und einer Abgrenzung vom absoluten Objekt (als Lacan’sches Ding) vgl. auch: Nordtug, (2004) Subjectivitiy, S. 93-100. In meiner Darstellung problematisiere ich den Objektbegriff nicht, doch sei der Hinweis gegeben, dass sich gerade im Objekt ein Widerspruch zwischen Peirce und der bislang hier (re-)konstruierten Trias auftut. Da die genannten Autoren, die sowohl den semiologischen Begriffsapparat Peirce’ wie auch den Objektbegriff generell berücksichtigen, ebenfalls zur Entsprechung von Zweitem und Realem gelangen, sehe ich mein Vorgehen bestätigt. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Argumentationslinien (epistemologisch oder semiologisch), die zum gleichen Ergebnis führen. 160 Bei Peirce: Existenz. 161 Nach Peirce, der die reine Zweitheit als Existenz bestimmt, würde ich von einem Existenzurteil in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Urteile sind im Register der Drittheit zu verorten. Sie sind in der Regel apodiktisch und nicht assertorisch, wie die hier gemeinte Existenz. 162 Ein Ding-an-sich kann im 20. Jahrhundert nur als Phantom wiederkehren. Merleau-Pontys Kapitelüberschrift lautet: »Das Ding ›vor‹ dem Menschen. Das Ding jenseits der anthropologischen Prädikate, da ich zur Welt bin« (Merleau-Ponty, Maurice, (1945) Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966, S. 372). Wie das Objekt, ist auch das Ding dem Begriff nach eine Vorstellung! Wenn nun Autoren vorschlagen, ein dynamisches Objekt oder ein Ding-an-sich an die Position des Zweiten, also in die Funktion des Realen, einzuschreiben, mag damit, dem Gedanken nach, ein Gleiches gemeint sein: es sind Extrempositionen des Erkennbaren. Je nach philosophischem Aufriss ergeben sich aus solchen Begriffen jedoch unterschiedliche ontologische Implikationen. Im Sinne einer allgemeinen Epistemologie, die möglichst viele Anschlussmomente bietet, verfolge ich eine Darstellung, die in diesem Punkt keine unnötige Festlegung verlangt: Eine solche Begriff lichkeit ist die Funktion.

Teil 3: Das Reale als Ding an sich, und stellt so das Problem eines echten An-sich-für-uns. Für gewöhnlich werden wir darauf nicht aufmerksam, da im Zusammenhange unserer Beschäftigungen die Wahrnehmung sich gerade so weit der Dinge annimmt, als ihre vertraute Gegenwart reicht, nicht so weit, um zu entdecken, was sie Unmenschliches bergen. Doch das Ding ignoriert uns und ruht in sich.« (372) 163

Die Intentionalität – auch im alltäglichsten Sinne – bestimmt den menschlichen Umgang mit den Dingen. In Zuspitzung könnte man mit Uexküll von Funktionskreisen sprechen. Merleau-Ponty weist nun darauf hin, dass, sofern dies überhaupt gelingt, das Gegengefüge auch als etwas eingenständiges, das außerhalb unserer Umwelt liegt, wahrgenommen werden kann: Dort ist das Ding dann höchst selbstgenügsam. Hinter unserer vertrauten assimilierten Formenwelt lauert das Reale mit seiner unauslotbaren Tiefe und Ereignishaftigkeit. »Wir entdecken nunmehr den Kern der Realität selbst: Ein Ding ist Ding, weil es, was immer es uns sagt, dies einzig uns sagt durch die Organisation seiner sinnlichen Aspekte. Das ›Reale‹ ist jener Bereich, in dem jedes Moment nicht allein von allen anderen unablösbar, sondern gleichsam deren Synonym ist, in dem die ›Aspekte‹ in absoluter Äquivalenz einander wechselseitig bedeuten; es ist die unübersteigliche Fülle […]. Das Ding ist jene Seinsart, in welcher die vollständige Definition eines Attributs die des ganzen Subjekts erfordert, und bei der folglich der Sinn sich nicht unterscheidet von der totalen Erscheinung.« (373)

Folgt man nicht der vordergründigen Linie, die mit Merleau-Pontys Hinweis auf den synästhetischen Charakter des Realen vorgezeichnet ist, benennt er hier die begriffliche Scheidung von Einzelnem, Isoliertem (Imaginärem) und Vielheit, Verbundenem (Realem). Die Verbindung, die er andeutet, scheint eine Struktur zu besitzen, denn es geht um »wechselseitig[es] [B]edeuten« (373) im Sinne psychologisch-physiologischer Objektkonstitution – es ist überdeutlich, dass hier bereits die Ebene der Drittheit erreicht ist: Merleau-Pontys Reales entspricht der Realität im konstruktivem vollen Sinne und nicht dem Realen, wie es oben als Zweites definiert wurde. Diesem Realen, diesem widerständigen Zweiten wiederum kommt sein Ding-Begriff sehr nahe. Merleau-Ponty beobachtet: »Daher erscheinen uns menschliche Gegenstände, Werkzeuge etwa, als gleichsam der Welt aufgesetzt, indessen die Dinge verwurzelt sind in einem Grunde unmenschlicher Natur. Das Ding ist für unsere Existenz weit mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol. In ihm erkennen wir nicht uns selbst, und eben dies macht das Ding 163 Merleau-Ponty, (1945) Phänomenologie.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale zum Ding. Wir kennen nicht zuerst die perzeptiven Aspekte des Dinges; nicht ist es durch unsere Sinne, Empfindungen, Perspektiven erst vermittelt, vielmehr gehen wir geradewegs auf das Ding zu, und erst sekundär bemerken wir die Grenzen unserer Erkenntnis und unser selbst als Erkennender.« (374f )

Sich in den Dingen selbst zu finden ist die Funktion des Imaginären. Es geht um Identität oder Assimilation, und sei es nur der Form. Das Ding-an-sich lässt sich, so Merleau-Ponty, nicht in den identifikatorischen Prozess aufnehmen. Es verweist auf eine andere kategoriale Funktion. In phänomenologischer Tradition sieht er im »echten An-sich-für-uns« (372) eine Polarität wirken. Dieser »Abstoßungspol« (374) ist das Zweite, von dem sich das Erste, die Vorstellung abstößt, um die Existenz im Sinne Peirce’ (also den Wahrnehmungscharakter mancher Vorstellungen) zu produzieren. Merleau-Ponty findet mit Hilfe seiner feinsinnigen Analyse das Reale in alltäglichen Erscheinungsformen. Doch nicht immer begegnet der Mensch dem Realen in derart gefasster Weise. Als überfließendes und mit unermesslicher Tiefe ausgestattetes Phänomen wird es, wo es sich zeigt, oft als Schock empfunden. Peirce veranschaulicht: »A whistling locomotive passes at high speed close beside me. As it passes the note of the whistle is suddenly lowered from a well-understood cause. I perceive the whistle, if you will. I have, at any rate, a sensation of it. But I cannot be said to have a sensation of the change of note. I have a sensation of the lower note. But the cognition of the change is of a more intellectual kind. That I experience rather than perceive. It is [the] special field of experience to acquaint us with events, with changes of perception. Now that which particularly characterizes sudden changes of perception is a shock.« (CP1.336)

Peirce unterscheidet in seinem der Alltagserfahrung entnommenem Beispiel zwischen dem kognitiven Auswerten des physikalischen Phänomens (des akustischen Doppler-Effekts) als Änderung und der Wahrnehmung164, die den Tonhöhenwechsel als Schock erfährt. Der Schock besteht in der Abweichung vom Erwarteten und ist ein Phänomen vor jeder symbolischen Repräsentation. Er liegt auf der Ebene der Zweitheit und ist eine besondere Wahrnehmungsweise des Realen: »A shock is a volitional phenomenon. The long whistle of the approaching locomotive, however disagreeable it may be, has set up in me a certain inertia, so that the sudden lowering of the note meets with a certain resistance.« (CP1.336)

164 Sofern dieser Begriff bei Peirce Gültigkeit hat. Er wird den Wahrnehmungsbe-

griff durch den Erfahrungsbegriff ersetzen. Siehe unten.

Teil 3: Das Reale

Dass Peirce dem Schock eine gewisse »inertia« (CP1.336) gegenüberstellt, spricht dafür, dass das Reale vor allem dem Imaginären opponiert. Zwischen diesen beiden Registern entwickelt sich der größte Widerstand. Dies ist von epistemologischem Interesse, da es auch Gründe dafür geben könnte, dass der Schock in erster Linie der Prädiktion des Symbolischen widerspricht – immerhin handelt es sich um eine Abweichung von einer Erwartung. Im Beispiel der pfeifenden Lokomotive scheint die symbolische Verarbeitung des Erlebnisses jedoch weniger Opposition zu erzeugen: Im Gegenteil schreibt Peirce, dass es sich um einen wohlbekannten Effekt handelt, für den es, so kann man anfügen, sogar eine eigene physikalische Formel gibt, die die Geschwindigkeit des Zuges, den Abstand vom Gleis und die Tonhöhe in Relation setzt. Der Schock ist die Abweichung von der Vorstellung, die von einem Gegenstand gebildet wurde. Dies ist im Aktualgeschehen zu verstehen, das heißt die Vorstellung kann in diesem Zusammenhang keine platonische Idee sein, die einer unvollkommenen Realisierung gegenüber stünde. Der Ton beim nahenden Zug hat darüber hinaus keine andere Beschaffenheit als der Ton beim sich entfernenden. Es besteht vielmehr Identität. Für sich genommen muss der Ton vorgestellt sein, es handelt sich um eine Erstheit. Der Widerstand, der die Zweitheit markiert, liegt im Verlassen der dem Imaginären eigenen Selbst-Identität. Der Schock verweist auf ein Zweites, das Reale: »That must be the fact; because if there were no such resistance there could be no shock when the change of note occurs. Now this shock is quite unmistakable. It is more particularly to changes and contrasts of perception that we apply the word ›experience‹. We experience vicissitudes, especially. We cannot experience the vicissitude without experiencing the perception which undergoes the change; but the concept of experience is broader than that of perception, and includes much that is not, strictly speaking, an object of perception.« (CP1.336)

Die Unbeständigkeit, die Veränderung, ist auch in der Epistemologie Meyersons das Charakteristikum des Realen. Das Reale widersetzt sich dem Identitätsdenken und der darauf auf bauenden Kausalitätskonstruktionen.165 Im obigen Zitat schlägt Peirce vor, den Wahrnehmungsbegriff zugunsten eines Begriffs der Erfahrung, experience, fallen zu lassen. Das Reale erscheint so als Funktionsprinzip, das sich nicht auf die Wahrnehmung begrenzen lässt. Die Realität als Erfahrung ist immer gekoppelt an den Widerstand des Realen gegen das Imaginäre. Sie zwingt uns – wie das Carnot’sche Prinzip – umzudenken: 165 »Reality, however, does not at all move […] toward greater and greater homoge-

neity. Its process is characterized by the multiplication of diversities, ›irrationals‹.« (Kelly, (1937) Explanation, S. 1)

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale »It is the compulsion, the absolute constraint upon us to think otherwise than we have been thinking that constitutes experience. Now constraint and compulsion cannot exist without resistance, and resistance is effort opposing change. Therefore there must be an element of effort in experience; and it is this which gives it its peculiar character. But we are so disposed to yield to it as soon as we can detect it, that it is extremely difficult to convince ourselves that we have exerted any resistance at all. It may be said that we hardly know it except through the axiom that there can be no force where there is no resistance or inertia.« (CP1.336)

Schnell scheint das Reale als opponierendes Zweites assimiliert und damit vermeintlich in die Ordnung der Vorstellungen gerückt. Wenn der Widerstandsaspekt nicht wegen außergewöhnlicher Umstände deutlich hervortritt, zeigt sich die Realitätserfahrung scheinbar aus Vorstellungen zusammengesetzt, die aktuale Wirklichkeit mehr oder minder konfliktfrei produzierend. Allerdings gibt es auch Schockmomente in unserer experience, bei denen das Reale als Zweitheit deutlich in Erscheinung tritt. Der Anteil des Realen kann dabei so groß sein, dass dieses eine Art psychisches Eigenleben entwickelt: Ein derartiges Konzept liegt zumindest mit der psychoanalytischen Theorie des psychischen Traumas vor. Für die Epistemologie ist dieses insofern von Interesse, als es, wie schon die Ausflüge Meyersons in die Welt der Romane und Bühnenstücke, verdeutlicht, dass es sich auch beim Realen durchaus um ein Funktionsprinzip handeln kann, ohne dass sein Bedeutungsumfang dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenngleich das Zweite den Realitätscharakter einer Erfahrung erzeugt – wie Peirce im phänomenologischen Raum darstellt –, muss es sich dabei nicht um ein Element handeln, das zwingend einer ontologischen Klärung bedürfte. Das Reale in der Trias aus Imaginärem, Symbolischen und Realen stellt zunächst eine weitere kategoriale Funktion des menschlichen Weltzugangs dar. Als epistemologische Kategorie deckt es sich in seinen Bestimmungen immer noch mit seiner psychoanalytischen Auslegung: »Usually we go through our day without attending to the limits of our consensually validated reality, but now and then we encounter the Real in the form of danger, catastrophe, death. Psychotic loss of boundaries, the breakdown of stable categories of thought, the effects of trauma, all bring the experience of the Real to the forefront.« (4) 166

Der Psychoanalytiker John Muller sieht das Lacan’sche Reale in Schockmomenten in den Vordergrund rücken. Ein Ereignis kann dabei so überwältigend 166 Muller, John P. (1996) Beyond the Psychoanalytic Dyad. Developmental Semiotics

in Freud, Peirce and Lacan, New York, 1996.

Teil 3: Das Reale

sein, dass sein Erleben zunächst wie ausgesetzt scheint, um dann als traumatischer Effekt – oder im psychologischen Sprachgebrauch: als Trauma – in einem zeitlichen Versatz und zumeist wiederholt in einer aktualer Wirklichkeit entsprechenden Intensität erlebt zu werden. Das Reale wäre auch in diesem Fall, wie ansonsten für das Aktualerleben jeglicher Art, die Funktion, die die situative Wirklichkeit herstellt. Der Traumaforscher Werner Bohleber fasst zusammen: »Für Lacan ist das Trauma das Reale« (822)167. Peirce’ Schockmoment, die Bestimmungen eines funktionalen Realen und die besondere Zeitlichkeit des psychoanalytischen Denkens, die hier in einem Punkt konvergieren, erfordern es, den Traumabegriff näher zu erläutern, da dieser einen Aspekt des Realen beleuchtet, der über die Peirce’sche existence hinausgeht.

E xkurs: Das Reale und das psychische Trauma Psychische Traumata wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere im Zusammenhang mit Eisenbahnunglücken kontrovers diskutiert.168 Ärzte sahen sich mit Krankheitssymptomen bei Betroffenen konfrontiert, die selbst keine körperlichen Verletzungen aufwiesen: »The incidents indeed of almost every railway collision are quite sufficient - even if no bodily injury be inf licted - to produce a very serious effect upon the mind, and to be the means of bringing about a state of collapse from fright, and from fright only. The suddenness of the accident, which comes without warning, or with a warning which only reveals the utter helplessness of the traveller, the loud noise, the hopeless confusion, the cries of those who are injured; these in themselves, and more especially if they occur at night or in the dark, are surely adequate to produce a profound impression upon the nervous system, and, even if they cause no marked shock or collapse at the time, to induce a series of nervous disturbances at no distant date. [...] The collapse form severe bodily injury is coincident with the injury itself, or with the immediate results of it, but when the shock ist produced by purely mental causes the manifestations thereof my be delayed. Warded off in the first place by the excitement of the scene, the shock is gathering, in the very delay itself, new force from the fact 167 Bohleber, Werner, (2000) »Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psycho-

analyse«, in: ders., Trauma, Gewalt und kollektivews Gedächtnis, Sonderheft PSYCHE, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, LIV. Jahrgang, Heft 9/10, September/Oktober 2000, Stuttgart, 2000. 168 Eine Position, die auch die psychischen Folgen eines Unfalls auf mechanische Schädigungen des Nervensystems zurückführt, findet sich in einer der frühesten Schriften zu dem Thema: Erichsen, John Eric, (1867) Railway and other Injuries of the Nervous System, Philadelphia, 1867. Vgl. bspw. auch: Bruns, Ludwig, (1901) Die traumatischen Neurosen, Unfallneurosen, Wien, 1901. (Die Daten zur Begriffsgeschichte des Traumas verdanke ich einem Vortrag von Vanessa Lux, »Ererbtes Trauma«, gehalten am 11.11.2011 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin.)

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale that the sources of alarm are continuous, and for the time all prevalent in the patient’s mind.« (147f ) 169

Wesentliche und bis heute gültige Merkmale des psychischen Traumas sind in dieser medizinischen Schrift aus dem Jahr 1883 bereits beschrieben: So das Erleben von Hilflosigkeit in einer physischen oder psychischen Gewaltsituation als traumatisierender Akt, sowie die Latenz der daraus resultierenden Symptome: das Trauma im engeren Sinne.170 In solchen Fällen »geht […] der erste schwere Insult vorüber und nun bleibt eine Reihe von objectiven und subjectiven Störungen nach, welche lange Zeit bestehen können, ja oft sogar nach Jahren nicht verschwinden.« (513)171 Wenngleich es sich beim psychischen Trauma um keine körperliche Verletzung handelt, so ist doch eine erlebte Situation die Ursache der konstatierten Symptome. Alle Traumatheorien zeichnen sich durch diese direkte Kausalitätsbeziehung aus, die eine traumatogene Situation mit einer späteren Stresssymptomatik verbindet.172 Sigmund Freuds frühe Beschäftigung mit neurotischen Patienten, die gemäß der damaligen Gnosologie als Hysteriker bezeichnet wurden, orientiert sich ebenfalls an der Traumatheorie. So schreiben er und Josef Breuer in dem Aufsatz »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (Vorläufige Mitteilung)« 1892: »In Umkehrung des Satzes: cessante causa cessat effectus dürfen wir wohl aus diesen Beobachtungen schließen, der veranlassende Vorgang wirke in irgendeiner Weise noch nach Jahren fort, nicht indirekt durch Vermittlung einer Kette von kausalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewußtsein erinnerter psychischer Schmerz noch in später Zeit die Tränensekretion hervorruft: der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen.« (31) 173

169 Page, Herbert W., (1883) Injuries of the Spine and Spinal Cord (without apparent

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mechanical Lesion) and Nervous Shock (in their surgical and medico-legal Aspects), London, 1883. Ein weiterer, immer wieder vorgetragener Aspekt des psychischen Traumas, der hier bereits formuliert ist, besagt, dass bei gleichzeitiger körperlicher Verletzung sich die Psyche an diese heftet, so dass mit dem Ausheilen der physischen Symptome auch die psychischen verschwinden, womit die rein psychischen Traumata hartnäckiger sind. (Vgl. Page, (1883) Nervous Shock, S. 148.) Strümpell, Adolf, (1889) Lehrbuch der Speciellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, Leipzig, 1889. In bestimmten Fällen kann es sich auch um seine Serie von Erlebnissen handeln oder einen traumatisierenden Dauerzustand. Vgl.: Hirsch, Mathias, (2011) Trauma, Gießen, 2011, S. 9-12. Breuer, Josef, Freud, Sigmund, (1893/1895) Studien über Hysterie, Frankfurt/M., 2007.

Teil 3: Das Reale

Breuer und Freud geben an, dass die traumatogene Situation ein relativ isoliertes Erinnerungsmoment erzeugt; keine vermittelnden »Zwischenglieder[]« (31) stellen einen imaginären oder symbolischen Schritt der Assimilierung oder Interpretation her.174 In seinem – als private Korrespondenz entstande­ nen – Entwurf einer Psychologie von 1895 beschreibt Freud dieses Geschehen als eine Folge übermäßiger Erregung in den Nervenbahnen.175 Freuds neurotische Patienten sind in der Regel jedoch keine Opfer von Zugunfällen, sondern haben allem Anschein nach ihre Neurosen in einem gewöhnlichen bürgerlichen Umfeld erworben. Wollte er seine Traumatheorie ernst nehmen, so bedeutete dies für Freud, ein signifikantes Ausmaß an physischer, psychischer und insbesondere sexueller Gewalt in dem ihn umgebenden sozialen Millieu anzunehmen. Aus heutiger Sicht würde man sicherlich die systematisch entrechteten und unterdrückten Frauen jener Zeit sowie die herrschenden Methoden der Kindererziehung als völlig schlüssige Erklärungszusammenhänge für alle möglichen Traumata akzeptieren. Freud jedoch wendet sich 1897 von seiner euphemistisch »Verführungstheorie« genannten Missbrauchstheorie ab und ersetzt sie durch das Konzept einer konflikthaften frühkindlichen Sexualität.176 Mit dieser Abkehr von einer traumatisierenden Realität ist die Konzeption eines Unbewussten als Ort verdrängter (sexueller) Wünsche und die Hypothese einer psychischen Realität als subjektives Bezugsraster für die therapeutische Arbeit verbunden. Mit anderen Worten: Die Psychoanalyse als eigenständige psychotherapeutische Theorie und Praxis ist, was die Ätiologie anbelangt, als Gegenentwurf zur Traumatheorie geboren. Freud rekurriert nach 1900 nur noch sporadisch auf die weiterhin

174 Die hier verwendeten Begriffe imaginär, symbolisch, Assimilierung und Inter-

pretation stammen nicht von Breuer und Freud, verdeutlichen aber die Zusammenhänge. Der Psychoanalytiker Bohleber erläutert: »Die traumatische Situation und deren Wirkung zerstört die Fähigkeit, sie zu symbolisieren und ihre Bedeutung zu erfassen«.(Bohleber, Werner, (2000) »Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse«, in: ders., Trauma, Gewalt und kollektivews Gedächtnis, Sonderheft PSYCHE, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, LIV. Jahrgang, Heft 9/10, September/Oktober 2000, Stuttgart, 2000, S. 797-839, hier: S. 823.) 175 Freud, Sigmund, (1895/1950) »Entwurf einer Psychologie«, in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt/M., 1987, S. 375-486, insbes.: S. 399f und 444-451. Tatsächlich ist der Entwurf im philosophischen Kontext häufig herangezogen worden, um das zeitliche Traumageschehen zu erörtern, obwohl er innerhalb der Lehre Freuds als exotisches Schriftstück gelten muss. Die Zweizeitigkeit des Geschehens bezieht sich hier auf die menschliche Sexualentwicklung. (Vgl. bspw. Lyotard, Jean-François, (1991) »Emma«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich, Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen offener Epistemologie, Frankfurt/M., 1991, S. 671-708.) 176 Vgl.: Hillebrandt, Ralf, (2004) Das Trauma in der Psychoanalyse. Eine psychologische und politische Kritik an der psychoanalytischen Traumatheorie, Gießen, 2004, S. 59-75.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

kursierenden Traumatheorien.177 In seinen Vorlesungen findet sich dennoch, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, ein Rückgriff auf das Trauma: »Die nächste Analogie zu diesem Verhalten unserer Nervösen bieten Erkrankungen, wie sie gerade jetzt der Krieg in besonderer Häufigkeit entstehen läßt, die sogenannten traumatischen Neurosen. Es hat solche Fälle nach Eisenbahnzusammenstößen und anderen schreckhaften Lebensgefahren natürlich auch vor dem Kriege gegeben. […] Die traumatischen Neurosen geben deutliche Anzeichen dafür, daß ihnen eine Fixierung an den Moment des traumatischen Unfalles zugrunde liegt. In ihren Träumen wiederholen diese Kranken regelmäßig die traumatische Situation; wo hysteriforme Anfälle vorkommen, die eine Analyse zulassen, erfährt man, daß der Anfall einer vollen Versetzung in diese Situation entspricht.« (274) 178

Freud rekurriert in seiner Fallgeschichte auf das traumatische Syndrom, das vor allem durch den Realitätscharakter der Erinnerung an das traumatisierende Ereignis gekennzeichnet ist. Allerdings folgt – und dies ist typisch für den Umgang Freuds mit dem Trauma nach Ausarbeitung der psychodynamischen Theorie – umgehend die Relativierung dieses Ansatzes: »[D]er traumatische Gesichtspunkt wird nicht etwa als irrig aufzugeben sein; er wird sich anderswo einfügen und unterordnen müssen.« (275) Lediglich den »ökonomischen Sinn« (274) des Traumas als überwältigende innere Reizquelle lässt Freud gelten – womit gesagt ist, dass die Wirklichkeit des Gewalterlebnisses mit all ihren gesellschaftlichen und auch politischen Implikationen aus seiner Betrachtung ausgespart bleibt. Inwiefern Freud dabei therapeutischen Evidenzen folgt oder aber Konzessionen an die Gesellschaft macht, kann hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein.179 Sein Kollege Sandor Ferenczi jedenfalls bezieht in diesem Punkt deutlich Position zugunsten einer Kritik der familiären Situation und deren potentiell traumatogenen Beziehungsstrukturen.180 177 Und zwar, neben den bereits und im Folgenden erwähnten Stellen: in einem

Vortrag 1909 in den USA (Freud, Sigmund, (1909) »Über Psychoanalyse«, in: ders.: Gesammelte Werke, Band VIII, Frankfurt/M., 1999, S. 1 – 60, insbes: S. 3 – 16.), in welchem Freud die Forschungen Breuers zu den Ursprüngen der Psychoanalyse zählt; 1920 im häufig kommentierten Aufsatz: Freud, Sigmund, (1920) »Jenseits des Lustprinzips«, in: Studienausgabe, Band III, Frankfurt/M., 2000, S. 217-272, insbes. S. 222 -224 zum Thema der Kriegsneurosen, S. 234239 mit einer biologistischen Parabel; und in: Freud, Sigmund, (1926) »Hemmung, Symptom und Angst«, in: Studienausgabe, Band VI, Frankfurt/M., 2000, S. 233-308, hier insbes. S. 271, 276f, 302-305. 178 Freud, Sigmund, (1916/1917) »18. Vorlesung. Die Fixierung an das Trauma, das Unbewusste«, in: ders., Studienausgabe, Band I, Frankfurt/M., 2000. 179 Vgl. hierzu die kritische Stellungnahme in: Hillebrandt, (2004) Trauma, S. 119-142. 180 Vgl.: Ferenczi, Sandor, (1932) »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft)«, in: ders., Bausteine zur Psychoanalyse, Band III: Arbeiten aus den Jahren 1908-1933, Bern,

Teil 3: Das Reale

Während Freud sich mit Ferenczi überwirft, kann es in diesem Zusammenhang als geschickter Schachzug Lacans angesehen werden, ein Reales in seine Überlegungen einzubeziehen. Denn so hat er ein Theorieelement geschaffen, das grundsätzlich geeignet ist, die evidenten Daten der Traumaforschung einzubeziehen, ohne in einen sichtbaren Widerspruch zu Freuds Psychodynamik zu geraten. Die Position dieses Realen lässt Lacan zunächst im Vagen – irgendwo zwischen ätiologischer und psychischer Realität, zwischen Innen und Außen.181 Jean Laplanche fasst diese spezielle psychoanalytische Version der Traumatheorie zusammen: »Was das psychische Trauma definiert, ist nicht eine allgemeine Eigenschaft des Psychischen, sondern die Tatsache, daß das psychische Trauma von innen kommt. Eine Art Außen-Innen, eine Art ›Pfahl im Fleisch‹ hat sich gebildet oder, könnte man sagen, ein Stachel in der Schale des Ich.« (66) 182

Verinnerlichte traumatische Geschehen, mithin das traumatisierende Objekt, werden in der Traumaforschung auch als Introjekte bezeichnet.183 Es handelt sich hierbei um die paradoxe Gestalt eines äußerlich gebliebenen Fremden in der eigenen Psyche. Dieser kann durch bestimmte Auslöser das Ich von Innen aktual und situativ bedrohen, was sich von der neurotischen Bedrohung durch

1964, S. 511-525. Zum Konf likt mit Freud vgl. wiederum: Hillebrandt, (2004) Trauma, S. 77-89. 181 Einige der am Anfang meiner Dissertation angeführten Erwähnungen des Realen durch Lacan können nun besser verstanden werden: In Bezug auf Freuds Fallanalyse zum Wolfsmann sagt Lacan, »daß es in der Analyse einen ganzen Teil Reales bei unseren Subjekten gibt, der uns entgeht. Er entging deshalb noch lange nicht Freud, wenn er es mit einem jeden seiner Patienten zu tun hatte […]« (Lacan, Jacques, (1953a) »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale«, in: ders., Namen-des-Vaters, Wien, 2006, S. 15.). Traumata sind individueller als das von Freud postulierte Triebgeschehen. Weiterhin kann nun besser verstanden werden, was Lacan auf die Frage von Leclaire antwortet: »Das Reale ist entweder die Totalität oder der entschwundene Augenblick. In der analytischen Erfahrung ist es für das Subjekt stets der Zusammenstoß mit etwas, zum Beispiel dem Schweigen des Analytikers.« (ebd., S. 51f ) Setzt man Trauma und Reales hier gleich, so spricht Lacan im ersten Zitat von der therapeutischen Schwierigkeit, traumatische Elemente herauszuhören. Im zweiten Zitat bezieht er sich auf die besondere Zeitlichkeit des Traumas als »entschwundene[r] Augenblick« (ebd.) und die mögliche Reaktivierung des traumatischen Erlebens im psychoanalytischen Setting. 182 Laplanche, Jean, (1970) Leben und Tod in der Psychoanalyse, Olten und Freiburg i. Br., 1974. 183 Vgl. Hirsch, Mathias, (2002) Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt, Göttingen, 2007, S. 92. Eine graphische Interpretation des Introjekts findet sich in: Hirsch, Mathias, (2011) Trauma, Gießen, 2011, S. 38.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

verdrängte Wünsche durch seinen invariablen Realcharakter grundsätzlich unterscheidet.184 Das Trauma ist ein Erlebnis mit Wirklichkeitscharakter, das, so die psychoanalytische Theorie, »von innen kommt« (66)185. Gemäß der mit Peirce referenzierten Funktion des Realen als Zweites ist das traumatogene Element genau im Zweiten anzunehmen, das aktuale Erleben des Traumas, oft Jahre nach der Gewalterfahrung, ist Zweitheit und wird deshalb als Realität erfahren. Akzeptiert man diese Engführung von Traumatheorie und Peirce, hat dies auch epistemologische Implikationen: Es schließt aus, dass das Reale einen einheitlichen ontologischen Begriff vorstellt. Es ist schlicht die Erfahrung eines Widerstandes, der nicht assimiliert werden kann – Assimilation entspräche der imaginären Funktion –, und der vom Betroffenen auch nicht interpretiert wird, wie es die symbolische Funktion verlangte. Das Reale zeigt sich als solches dort, wo die beiden anderen Register auf die Veränderung nicht adäquat reagieren. Dies kann im wissenschaftlichen Diskurs vorkommen – wie in den Entdeckungen Carnots – oder im Lebenszusammenhang in der Konfrontation mit Gewaltexzessen. In den meisten Fällen allerdings ist das Reale funktional, indem es den ganz alltäglichen Wirklichkeitscharakter des Aktualgeschehens in Momenten des Widerstandes und der Reaktion herstellt. Das Reale als Zweites geht dann in der Zweitheit – existence – auf, wobei es als eigenes Register oft nicht gesehen wird und lediglich als Bestätigung des Imaginären wahrgenommen wird: Meyerson weist auf die Bestrebungen des Denkens hin, alle Erfahrungen auf Identitätsgeschehen herunterzubrechen. »La causalité, on le sait, n’est qu’une forme de l’identité logique, qui est le moule où se coule invariablement toute pensée et qui inspire tous nos efforts en vue de l’intellection du réel.« (41)186

184 Eine Differenzierung, die auch Freud vornahm. Vgl.: Freud, (1920) Jenseits, ins-

bes. S. 244ff.

185 Laplanche, (1970) Leben. 186 Meyerson, Émile, (1933), Réel et déterminisme dans la physique quantique, Paris,

1933.

Rest

Eine systematische Zusammenfassung des Realen, analog der Buchteile 1 und 2, will ich hier nicht geben. Die Konsultationen von Meyerson und Peirce hatten bereits einen summarischen und zusammenführenden Charakter, so dass ich mich hier nur wiederholen könnte. Dies trifft auch für eine Konklusion hinsichtlich der drei Register als triadisches Konstrukt zu. Sowohl die Diskussion der Meyerson’schen Epistemologie beziehungsweise seiner Lehre von den prinzipiellen Formen des Denkens als auch die Peirce’sche Phänomenologie gaben genug Anregungen, die Trias als kategoriales, allen lokalen Epistemologien unterliegendes Fundament zu interpretieren. Einzelne, bislang vielleicht nicht ausreichend beleuchtete Aspekte einer solchen Auslegung des Lacan’schen Gedankens sollen abschließend aber noch einmal aufgegriffen und in schärferes Licht gerückt werden.

1) D ie erkenntnistheore tische P osition Für Lacan ist die Trias ein Theorieelement, das er mit psychoanalytischem Gedankengut und weiteren Einflüssen virtuos kombiniert. Die Entwicklung einer Struktur des Unbewussten nimmt einen großen Teil seiner Darlegungen ein, ebenso sind die Konzepte des Begehrens, des Mangels und der Lücke psychoanalytisch motivierte Theorien. All diese Besonderheiten habe ich zugunsten transdisziplinärer Denkfiguren zurückgelassen. Meine Darstellungen erschließen die drei Register jeweils als Erstheiten. Es ging mir um die Eigennamen, wie Lacan sich ausdrückt.187 Ein anderes Vorgehen würde vielleicht auf die semiologischen Konsequenzen abzielen. Doch daraus entstünde erneut eine Welt symbolischer Formen, endloser Semiosen und eine Dominanz der Drittheit. Peirce hat diese Tendenz kritisiert und Meyerson ihre Insuffizienz demonstriert. Mein Weg musste es also sein, einen Akzent auf das Imaginäre und das Reale zu legen, dort zu verweilen und nicht mit der Drittheit sofort los187 Vgl.: Julien, Philippe, (1985) Pour lire Jacques Lacan, Paris, 1990, S. 65.

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

zumarschieren. In gewisser Weise bleibt damit die Trias selbst im Register des Imaginären und stellt eine inerte Einheit vor – so unbeweglich, dass sie bereits im 15. Jahrhundert aufgefunden werden kann. Bei Nikolaus von Kues, einem Autor, der sowohl Peirce als auch Lacan geläufig gewesen sein dürfte, heißt es: »Wenn nämlich die Einheit größtes und vollkommenstes Erkennen ist, das ohne diese drei wechselseitigen Entsprechungen [nämlich Erkennendes, Erkennbares und Erkennen, F.W.] weder Erkennen noch vollendetes Erkennen sein könnte, so begreift die Einheit nicht richtig, wer die Dreiheit der Einheit nicht erfaßt.« (39) 188

In gleicher Weise wie Peirce ein semiologisches System auf drei Kategorien konstruieren kann, baut Lacan eine psychoanalytische Lehre auf drei Registern auf. Dies lässt hoffen, dass solch basale Begriffe als epistemologische Fundamentalkategorien gesetzt werden können. Auf wesentlich funktionale Bestimmungen reduziert, lassen sie sich transdisziplinär weiterentwickeln. Die in viele Wissenschaftsfelder kaum transportierbaren psychoanalytischlinguistischen Konzepte der Lacan’schen Theorie – Stichwort: das Reale als logisch-enigmatisches Unmögliches, als Bataille’scher Rest189 –, wie auch der Begriff eines spezifischen Unbewussten können ausgeklammert werden, ohne den Gehalt der drei Register zu schmälern. Insbesondere die Engführungen mit Peirce und Meyerson machen das erkenntnistheoretische Potential deutlich, das ein analytisches Werkzeug im Aufweis dreier grundlegender Erkenntnisprinzipien als distinkte Funktionen birgt. Wie Meyerson herausstellt, besteht ein Problem mancher Wissenschaftstheorien im Leugnen der faktischen Insistenz des Erklärungstriebes sowie im Verdecken der realen Ereignishaftigkeit durch idealisierende Gesetze. »Dieser Mißerfolg der Deduktion kann uns nicht überraschen. Wir wissen, daß die Vernunft von Identität zu Identität fortschreitet; sie kann also die Mannigfaltigkeit der Natur nicht aus sich selbst erzeugen.« (425)190 Die Gesetze bauen auf Identität auf. Die Nützlichkeit der Prädiktion und der Wunsch nach Erklärung spielen sich in die Hände. In Lacans Termini übersetzt, übersieht die Wissenschaft, dass sie dem Imaginären nicht entfliehen kann, so sehr sie sich auch um Objektivierung und Symbolisierung bemüht. Die Rückführungen auf bekannte Schemata – wie des Atoms oder der Kraft – finden in den heute üblichen Visualisierungen komplexer Sachverhalte ihren unwiderstehlichen Ausdruck: Erklärung bedarf der Fasslichkeit. Im Begriff des Imaginären, der bei Lacan mit einem visuellen Erlebnis gekoppelt ist, dem Spiegelstadium, ergänzt sich Meyersons Kritik an der Illusion positiver Erkenntnismöglichkeit: Gerade die Popularität von Pow188 Nicolaus (de Cusa), (1440) Die belehrte Unwissenheit, Buch I, Hamburg, 1994. 189 Vgl.: Roudinesco, Elisabeth, (1993) Jacques Lacan. Bericht über ein Leben. Ge-

schichte eines Denksystems, Köln, 1996, S. 328f.

190 Meyerson, (1908) Identität.

Teil 3: Das Reale

er-Point-Präsentationen im heutigen Wissenschaftsbetrieb wäre in diesem Sinne zu überdenken. Der Wunsch, alles Neue in Bekanntes zu überführen – folgt man Meyersons kritischer Observation – lässt sich mittels Lacans Begriff des Imaginären als eigenständige Erkenntnisfigur konzeptualisieren: Wie ich anhand weiterer Quellen und Bezüge herausgearbeitet habe, stellt die Figur des Imaginären selbst eine imaginäre Figur dar. Als solche ist sie bereits in jene Theorien eingeschrieben, die sich anschicken, das menschliche Erkenntnissubjekt selbst als Gegenstand der Erkenntnis zu nehmen, beziehungsweise in den Erkenntnishorizont einzubeziehen. Eine mögliche, daraus hervorgehende Forderung an die Wissenschaften wäre die regelmäßige Überwindung imaginärer (Lacan) beziehungsweise kausal-erklärender (Meyerson) Elemente; eine Position, die seit den dreißiger Jahren von Gaston Bachelard propagiert wird.191 Zu einer Zeit, da Meyersons Denken von Bachelards Kritik widerlegt scheint,192 besteht der Psychoanalytiker Lacan in seinem Inauguralvortrag 1953 trotzdem auf die ungeborchene Wirkkraft des Imaginären. Reduziert man die höchst spekulativen anthropologischen (Lévi-Strauss) und biologischen (Uexküll) Komponenten seiner Position auf ihren eigenen höchst imaginären Charakter, bleibt im Sinne der symbolischen Unerreichbarkeit eines reinen Imaginären ein Bild des Imaginären, das in durchaus unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern als imaginäre Achse erscheint, denknotwendige Identität behauptend: »Die grundlegende, zentrale Struktur unserer Erfahrung gehört eigentlich zur imaginären Ordnung.« (51)193 Peirce verweist auf den notwendigen Ausweis einer solchen Erstheit. Seine Argumentation ist eine formal-logische: Ohne die Möglichkeit, Elemente des Denkens als distinkte aufzufassen, macht auch das Konzept einer Relation keinen Sinn. Von hier aus stellt sich die Frage nach dem Realen relationenlogisch. Aus der Bestimmung, dass das Imaginäre gleichsam Identität ist, ergeht die Forderung nach einer Möglichkeit von Differenz. Denn wie Sartre es formuliert, gibt es »keine imaginäre Welt« (265)194, da die Elemente im Imaginären bezuglos nebeneinander stehen. Das Reale ist indes keine äußere Welt: Bei Peirce 191 »Fast immer gehen wir so von oft sehr malerischen Bildern aus, von der ers-

ten Phänomenologie; wir werden sehen, wie und mit welchen Schwierigkeiten an die Stelle dieser Bilder angemessene geometrische Formen treten. […] Wir werden gleichwohl zu zeigen haben, daß diese Geometrisierung nur ein Übergangsstadium darstellt.« (Bachelard, Gaston, (1938) Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der Erkenntnis, Frankfurt/M., 1978, S. 41.) 192 Vgl. Fruteau de Laclos, (2009) Épistémologie, S. 11. 193 Lacan, Jacques, (1954-1955) Das Seminar, Buch II (1954-1955). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin, 1991. Lacan bezieht sich mit der Wendung »unsere Erfahrung« in der Regel auf die psychoanalytische Erfahrung als ein besonderes Wissen. Doch mag auch für sein Fach gelten, was allgemein gilt. 194 Sartre, (1940) Imaginäre.

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erscheint die Ordnung des realen Widerstandes im Phaneron selbst: Wenn das Pfeiffen der Dampflokomotive unvermittelt die Tonhöhe ändert, so entsteht der Moment der Überraschung nicht im Physischen. Zweitheit ist vielmehr eine Abweichung vom Erwarteten, ein psychisches Produkt. Im gleichen Sinne beschreibt Meyerson die Wirkung unwahrscheinlicher Handlungen von Bühnen- oder Romanfiguren als Merkmal einer glaubhaft realen Person. Eine Abweichung von der gängigen Physik, wie sie für Meyerson das Carnot’sche Prinzip zum Ausdruck bringt, setzt das so gefasste Reale umgehend in Opposition zu den beiden anderen Prinzipien: Es widerspricht der Reziprozität des Kausalitätsdenkens, dem geschlossenen Funktionskreis195, mithin dem Imaginären, und es widerspricht dem Symbolischen, denn für das Symbolische gilt, »that reason cannot deal with otherness, diversity, and drops it out or ignores it. But nature bristles with such diversities, surds for reason, which are always presenting themselves as sheer data, imposing upon reason a compulsion by virtue of their very upsurgence yet eluding all attempts at thoroughgoing rational treatment. That is, they cannot be deduced and exhibited as necessary. They constitute in their totality the sheer ›brute‹ element of fact which is an inherent part of the actual. They remain unrationalized, undeduced, ›irrationals.‹« (30) 196

Andererseits fordert das Reale das Symbolische heraus, über gängige Formalisierungen hinauszugehen und dem Aspekt des Werdens Ausdruck zu geben. Dem Symbolischen kommt nun die logische Position der Darstellung selbst zu. Imaginäres und Reales treten nur dann sichtbar auseinander, wenn ein drittes Element als Äußerliches diese Ent- und Unterscheidung trifft. Aus der Sicht eines reinen Symbolischen sind Imaginäres und Reales gleich hypothetisch.

195 Uexküll hat als Ziel eines jeden funktionalen Kreises die Vernichtung des

Gegengefüges angegeben. (Vgl. Uexküll, (1909) Umwelt, S. 47.) Auf höhere Denkprozesse verlagert, wäre dies keine sinnvolle Strategie, wie Meyerson befindet: »Nun können wir aber zweifellos unseren Kausaltrieb nicht vollständig befriedigen, denn letzten Endes verlangt er ja die Vernichtung des Vorgangs überhaupt.« (Meyerson, (1908) Identität, S. 422.) 196 Kelly, (1937) Explanation.

Teil 3: Das Reale

2) D ie P roblematik der V erwechslung von I maginärem und R e alem Ein grundlegendes Erkenntnisproblem des Imaginären liegt in der Position des Beobachters. Wie ich mit Spencer-Brown illustriert habe, ist das Imaginäre als solches nicht transparent. Auch das Reale entbehrt jeder inhärenten Reflexionsebene. So ist die Selbstvergewisserung ein Prozess, der nur auf der Ebene der Drittheit stattfinden kann. Der Drittheit sind aber lediglich vorstellig: zwei Erste (nämlich ein Imaginäres als Erstes und ein Reales als Erstes), die über eine Zweitheit in eine unbestimmte Relation gesetzt sind. Es ist das Ergebnis einer Beobachtung, beziehungsweise der Funktion des Symbolischen, auszuweisen, was nun Erstheit und was, zu dieser in eine nun bestimmte Unterscheidungsrelation gesetzten, Zweitheit sei. Doch Reales und Imaginäres zu unterscheiden, ist das grundlegende Anliegen jeder Erkenntnistheorie.197 Diese Entscheidung kann nun, gemäß der gefundenen Charakteristika von Imaginärem und Realem, epistemologisch gesichert gefällt werden: Das Imaginäre, die Erstheit, ist funktional Identität, das Reale, das Zweite in jeder Zweitheit, ist funktional Verschiedenheit, Mannigfaltigkeit. Das Reale ist also Realität ohne Imaginäres. Der Entscheidungsprozess ist ein Urteil und damit ein Vorgang im Symbolischen. Akzeptiert man die Darstellung, dass das Reale die Abweichung, die Veränderung, das Irrationale ist, so muss man ebenfalls anerkennen, dass jede kausalistisch gesicherte Erkenntnis imaginär ist. Von hier aus muss sich Helmholtz das Problem gestellt haben, als er seine weitreichenden Konsequenzen aus dem Comte’schen Diktum zog: »Unsere Empfindungen sind eben Wirkungen, welche durch äußere Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparats ab, auf den gewirkt wird [gemeint sind hier Auge und Ohr, F.W.]. Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigenthümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht giebt, kann sie als ein Zeichen derselben gelten, aber nicht als ein Abbild. […] Ein Zeichen aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist.« (586) 198

Das Zeichen, wie Helmholtz es hier versteht, ist die Darstellung, wie sie von Peirce in der Drittheit gesetzt ist. Das Zitat lässt deutlich das Unwohlsein spüren, das die undurchsichtige Kausalitätsbeziehung äußerer Reizeinwirkung mit subjektiver Wahrnehmung beim Autor hervorruft. Die intuitive Annahme, 197 Vgl.: Deleuze, (1973) Strukturalismus, S. 9f. 198 Helmholtz, Hermann von, (1856-1866) Handbuch der physiologischen Optik,

Hamburg, Leipzig, 1896.

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dass sich ein Bild des Äußeren ins Innere unseres Bewusstseins fortpflanzt, dieses in jedem Sinne imaginäre Geschehen, diese Kaskade des Identischen, ist für den Physiologen etwas, »wo es hapert« (28)199. Die Frage, was Erstes und was Zweites ist, tritt zurück, wenn das positivistische Kalkül seine ganze Macht ausspielt, wenn die Prädiktion zum entscheidenden Kriterium des Wissens wird, das »Relative an die Stelle des Absoluten« (91)200 gesetzt wird. Doch die Reduktion des symbolischen Denkens auf Nützlichkeitsaspekte wäre unnötig verengend. Denn schlussendlich ist die Gesetzlichkeit als Drittheit und Symbolisches die einzige Form, in welcher Reflexion möglich ist und die sich selbst transparent sein kann. Das symbolische Universum ist der Ort von rationaler Erkenntnis und Kultur überhaupt. Imaginäres und Reales sind wesentlich nicht rational, obwohl beide für den Denkprozess und insbesondere das fassliche Verstehen notwendig sind. (Auch Lacan hat trotz des dicken Balkens (barre), den er zwischen Signifikant und Signifikat gezogen hat, nicht übersehen, dass die Bedeutung irgendwo und irgendwann fixiert werden muss. Er nannte diese Verbindungen points de captation: »Polsterknöpfe«, damit sich nicht alles ständig verschiebt.201) Was gewissermaßen das Undurchsichtigste ist, ist die Entscheidung, welches der beiden undurchsichtigen Register man nun vor sich hat. Kontraintuitiv jedenfalls sind manche Ergebnisse, die ich auf den vorangehenden Seiten präsentiert habe. So wäre doch zunächst davon auszugehen, dass die materielle Welt auch vor mir bereits existiert hat, weshalb sie mit gutem Grund in den Stand eines Ersten gesetzt werden müsste. Erkenntnistheoretisch ist diese Ansicht jedoch falsch, denn eine Welt vor meiner Geburt ist nichts weiter als eine Vorstellung, die ich haben kann oder auch nicht. Die Sache hat nichts zwingendes, lediglich über eine Extrapolation gewisser Elemente meiner Erfahrung und mittels eines Urteils, das ich im symbolischen Register fälle, kann ich zu einem solchen Schluss kommen. Lacans erkenntniskritischer Beitrag besteht unter anderem darin, die gewöhnliche Auffassung von dem, was real und dem, was imaginär ist, zu unterwandern. Man kann darin eine logische Tendenz der Psychoanalyse nach Freud sehen, wonach nur die psychische Realität, also das, was in der analytischen Sitzung imaginiert wird, zählt: Der Analytiker erklärt zur therapeutischen Wirklichkeit, was die irrationalen Äußerungen des Analysanden ans Licht bringen. Lacan geht jedoch weiter, indem er im Spiegelstadium die Starrheit des Imaginären zum identifikatorischen Konstitutivum für das menschliche Subjekt erklärt. Im Spiegel erblickt das Kind nicht sich oder identifiziert sich etwa mit dem Bild; sondern Lacan erklärt eindeutig, dass 199 Lacan, Jacques, (1964) Seminar XI. 200 Comte, Auguste, (1844) Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg, 1979. 201 Meistens übersetzt als Steppunkte. Vgl.: Lacan, Jacques, (1957) »Das Drängen

des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud« in: ders., (19561966) Schriften II, S. 13-55, hier: S. 27ff.

Teil 3: Das Reale

es vor der im Spiegel zuerst erkannten räumlich-visuellen Identität eines einheitlichen organischen Wesens überhaupt noch kein geformtes Ich gegeben hat.202 Da nun für gewöhnlich angenommen wird, dass ein Kind im Spiegel sich identifiziert – was einem Wiedererkennen gleichkäme – und sich deshalb freut, wurde dieser besondere Zug der Lacan’schen Lehre gelegentlich missverstanden. Dies mag auch ein Grund sein, warum es in der Lacan-Interpretation immer wieder zu der Darstellung kommt, das Reale sei ein Ganzes und Erstes und das Imaginäre stünde für die Verdopplung und Spiegelung. Als prominentes Beispiel für diese Auslegung sei hier Gilles Deleuze in seinem Aufsatz über den Strukturalismus angeführt. Deleuze schreibt: »Wir können das Reale, das Imaginäre und das Symbolische beziffern: 1, 2, 3. Aber vielleicht haben diese Zahlen ebenso einen Kardinal- wie einen Ordinalwert. Denn das Reale ist aus sich heraus nicht von einem gewissen Ideal der Vereinheitlichung oder Totalisierung trennbar: das Reale hat das Bestreben, Eins zu machen, es ist eins in seiner ›Wahrheit‹. Sobald wir zwei in ›Einem‹ sehen, sobald wir verdoppeln, erscheint das Imaginäre persönlich, selbst wenn es sein Wirken im Realen ausübt. Zum Beispiel ist der reale Vater einer oder will es seinem Gesetz nach sein; doch das Bild des Vaters ist immer in sich doppelt, einem Dualgesetz folgend gespalten. Es wird zumindest auf zwei Personen projiziert, von denen die eine die Rolle des Spielvaters, des Clowns-Vaters auf sich nimmt, die andere die des Arbeits- und des Idealvaters: so wie der Prinz von Wales bei Shakespeare, der von einem Vaterbild zum anderen übergeht, von Falstaff zur Krone. Das Imaginäre bestimmt sich durch Spiele umgekehrter Spiegel, Verdoppelungen, Identifikationen und Projektionen, immer nach dem Muster des Doubles.« (12) 203

Deleuze wird seinen Text mit der Erläuterung der Drei und des Symbolischen fortsetzen, worauf auch seine weiteren Analysen des Strukturalismus204 letztlich auf bauen. Doch bis dahin gibt uns das Zitat nochmals auf, die gefundenen Zuordnungen Imaginäres - Eins, Reales - Zwei kritisch zu überprüfen. Betrachten wir zunächst den Autor, der unter den hier vertretenen wohl am sichersten als Strukturalist ausgewiesen werden kann, Claude Lévi-Strauss, so findet sich tatsächlich ein Hinweis auf eine Totalisierung, wie Deleuze sie benennt. In der Diskussion von Benennungs- und Haltungssystem habe ich da202 Vgl.: Lacan, (1952) Mythos, S. 38. 203 Deleuze, Gilles, (1973) Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin, 1992. 204 Indem ich die Bestimmungen des Symbolischen mit Helmholtz und Cassirer

– beides sicherlich keine ausgewiesenen Strukturalisten – rekonstruiert habe, habe ich gezeigt, dass zwar gelten mag, dass der Strukturalismus auf einer gewissen Radikalisierung des Symbolischen aufsetzt, das Symbolische als Erstes in einer triadischen kategorialen Epistemologie jedoch nicht strukturalistisch gedacht werden muss. Der Gedanke entspricht vielmehr der dominanten Wissenschaftstradition des beginnenden 20. Jahrhunderts.

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rauf hingewiesen, dass Lévi-Strauss einen gewissen Naturalismus setzt, wenn es um die Genese des »Symboldenkens« (67)205 geht. Nimmt man dieses ausgesetzte Moment des strukturalistischen Denkens von Lévi-Strauss als Hinweis auf eine hintergründige Totalität, so muss man die Einschätzung umgehend relativieren, wenn man seinen Anspruch sieht, dass »die Erklärung, wenn jenes [das Symboldenken, F.W.] einmal gegeben ist, ihre Natur so radikal ändern [muss], daß das neu erschienene Phänomen sich von denen unterscheidet, die ihm vorhergegangen sind und es vorbereitet haben.« (67) Die Aufgabe des Anthropologen ist also die Re-symbolisierung von übergangsweise als natürlich aufgefassten Prozessen. Mit anderen Worten setzt Lévi-Strauss einen zugrundeliegenenden Naturalismus, um ihn umgehend mittels strukturalistischer Methodik wieder aufzuheben. Für Lacan wiederum ist eine Totalität des Realen überhaupt nicht gegeben. Er sagt vielmehr, in durchaus strukturalistischer Argumentationsweise, dass es die symbolische Ordnung ist, die eine Totalität darstellt: »Die menschliche Ordnung charakterisiert sich dadurch, daß die symbolische Funktion in jedem Moment und auf allen Stufen ihrer Existenz interveniert. […] Um zu begreifen, was in dem eigentlichen Bereich geschieht, der zur menschlichen Ordnung gehört, müssen wir von der Idee ausgehen, daß diese Ordnung eine Totalität konstituiert.« (42) 206

Deleuze schreibt in seinem Strukturalismus-Aufsatz, das Imaginäre erscheine, »sobald wir verdoppeln« (12)207. Damit ist jedoch bereits eine Drittheit eingeführt, die aus Einem Zwei macht: »Sobald wir zwei ein ›Einem‹ sehen« (12)208 heißt es wörtlich. Dementsprechend fällt der Dualismus auch gemäß sozialer 205 Lévi-Strauss, (1958) Anthropologie 1. Vgl. zum Naturalismus Lévi-Stauss’ auch:

Bloch, Maurice, (2009) »Claude Lévi-Strauss obituary. French anthropologist whose analysis of kinship and myth gave rise to structuralism as an intellectual force«, Nachruf in.: (Z) The Guardian, Tuesday 3 November 2009. Archiv: Internet: http://www.guardian.co.uk/science/2009/nov/03/claude-levi-straussobituary, zuletzt aufgerufen am: 11.04.2013. Bloch schreibt dort: »Levi-Strauss’s own structuralism is a personal amalgam of a naturalist approach to the study of human beings and a philosophical attitude derived from this. The strictly scientific aspect was largely the result of the combination of two types of theoretical inf luences. The first has to do with his contact with American cultural anthropology, a relation that is ambiguous since it is so much ›at a distance‹, as was to be his attitude to all other contemporary theoretical inf luences. Secondly, he came into contact with structural linguistics, a behaviouristic amalgam of European and American theories, and particularly the more imaginative work of Roman Jacobson, the Russian theoretician of language who was also at the New School at the time.« 206 Lacan, (1954-1955) Seminar II. 207 Deleuze, (1973) Strukturalismus. 208 Hervorhebung: F.W.

Teil 3: Das Reale

Rollen aus: einem Vater, der mit seinem Kind spielt, und einem Vater, der seine gesellschaftlichen Aufgaben als Erwachsener erfüllt. Es handelt sich hierbei um gleich zwei imaginäre Personen, wobei unklar bleibt, ob nicht auch ein spielender Vater bereits ein imaginärer Vater wäre und dementsprechend ein Idealvater für sich ein imaginärer Vater wäre. Dass Deleuze hier die Väter multipliziert, sehe ich als Hinweis auf eine bereits interpretatorische Sicht auf den Vater im Symbolischen, was den Aspekt des Imaginären nicht gerade herausarbeitet. Das Kind kann immer sagen, ich sehe meinen Vater als dies oder das: Im als jedoch ist bereits eine bestimmte Relation geschaffen, die weder imaginär noch real sein kann, denn sie erfordert Drittheit. Die Operation, die Deleuze hier vornimmt, besagt, dass der reale Vater sich in zwei widersprüchliche Charaktere spaltet, wenn er im Register des Imaginären erscheint. Dies ist jedoch in keiner Weise mit Lacans Lehre übereinzubringen. Hier ist das imaginäre Register eines der primären, ich-bildenden Identifikation. Eine sekundäre überich-bildende Identifikation weist Lacan gesondert aus und ordnet sie dem Register des Symbolischen zu.209 Die Zuweisungen eines Spielvaters und eines Arbeitsvaters erscheinen auf der sekundären Ebene, die bereits von gesellschaftlichen Attributen geprägt ist. Dabei ist es unwichtig, ob es sich um die Identifikation des Kindes mit dem Vater oder die Identifikation des Vaters mit den jeweiligen Idealen handelt: Deleuze verfehlt in jedem Fall die Radikalität des Spiegelstadiums. Lacan spricht von einer »imaginären Reziprozität« (29)210, wenn diese so beschaffen ist, »daß nämlich in jeder Beziehung des Subjekts zum Objekt der Platz des Relatums gleichzeitig vom Subjekt eingenommen wird. So liegt die Identifizierung mit dem Objekt einer jeder Beziehung zu diesem zugrunde.« (29) 211

Die Identifikation ist im starken Sinne des Wortes zu nehmen, vor allen Attributen (als Spiel- oder Arbeitsvater). Im Imaginären konstituiert sich zunächst das Ich. So auch im Spiegelstadium, wo das Kind nicht als Ich ein identisches im Spiegel erblickt, sondern ein Ich erst als Resultat der visuell-sozialen Inter-

209 In Auseinandersetzung mit Melanie Klein sagt Lacan zur primären und sekun-

dären Identifikation: »Man müßte ein anderes Wort als Introjektion finden. […] Es wird, Sie werden das bemerken, praktisch nur in dem Augenblick verwendet, wo es sich um eine symbolische Introjektion handelt. Es wird immer von einer symbolischen Benennung begleitet.« (Lacan, (1953-1954) Seminar 1, S. 110.) 210 Lacan, Jacques, (1956-1957) Das Seminar, Buch 1V. Die Objektbeziehung. 19561957, Wien, 2007. 211 Die Identifizierung der Kinder selbst ist die formale Identität. Die »imaginäre Reziprozität«, von der Lacan spricht, ist streng genommen bereits eine Darstellung dieser im Symbolischen, denn sie wird von einem Beobachter als bestimmte (nämlich reziproke) festgestellt.

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aktion erscheint. Vor (zeitlich verstanden) dem Blick in den Spiegel gibt es demnach streng genommen kein integrales, individuelles Ich: »Zunächst sieht sich das Subjekt in einem anderen, der weiter entwickelt ist als es, vollkommener als es. Insbesondere sieht es sein eigenes Bild im Spiegel in einer Epoche, in der es fähig ist, es als ein Ganzes zu erfassen, während es selbst sich nicht als solches empfindet, sondern in dem ursprünglichen Durcheinander sämtlicher motorischer und affektiver Funktionen der ersten sechs Monate nach der Geburt lebt.« (38) 212

Lacan beschreibt hier, dass das Einheitserlebnis im Spiegel geeignet ist, das Chaos der ersten Lebensmonate zu überwinden. Obwohl der erwachsene Beobachter ein kleines Wesen und dessen Spiegelbild sieht – also zwei –, stellt sich für das Kind nicht die Erfahrung eines Ich und eines Spiegelbilds ein, weil sich das Ich erst durch das Spiegelbild konstituiert. Entscheidend ist für das Imaginäre also die Einheit, nicht das Duale und dessen Multiplikationen in sozialen Rollen. Da Deleuze uns auf der einen knappen Seite, auf der er die drei Ordnungen des Strukturalismus verhandelt, über seine Referenzen und Herleitungen im Unklaren lässt, ist es müßig, weiter darüber zu debattieren. Es mag sein, dass die von ihm vertretene Sicht auf die Lacan’sche Trias auf den ersten Blick durchaus plausibel erscheint und die Deleuze’sche Version dürfte nicht ohne Folgen geblieben sein. Da es mir in meiner Forschung nicht um die richtige Darstellung der Lacan’schen Lehre noch um den Strukturalismus geht, sondern darum, ergebnisoffen die Möglichkeit einer epistemologischen Version der Trias auszuloten, gibt uns Deleuze mit seiner Interpretation schlicht nochmals einen Hinweis auf die prinzipielle Kippfigur, die im Imaginären und Realen angelegt ist. Wie aus der Diskussion der Funktion des Beobachters hervorgeht, ist es eine Frage der Perspektive, Erstes und Zweites zu setzen. Der Beobachter selbst ist bereits eine eingeführte Differenz und kann aus der Szenerie nicht entfernt werden, ohne dass die Szene selbst verschwindet:213 eine Differenz, die übrigens auch normativen Charakter besitzt. In dem im zweiten Buchteil bereits vorgestellten Schema der zwei Spiegel ist ein Auge eingezeichnet. Lacan kommentiert: »Das Auge ist hier, wie sehr oft, das Symbol des Subjekts.« (106)214 212 Lacan, (1952) Mythos. 213 Vgl. Spencer-Brown, (1969) Laws, S. 88-92. »Nur indem wir den Gebrauch die-

ser Prinzipien auf irgendeiner Stufe festhalten oder -legen, schaffen wir es, überhaupt ein Universum in irgendeiner Form aufrechtzuerhalten, und unser Verständnis eines solchen Universums kommt nicht daher, daß wir seine gegenwärtige Erscheinung entdecken, sondern von unserer Erinnerung an das, was wir ursprünglich taten, um es hervorzubringen.« (S. 90) 214 Lacan, (1953-1954) Seminar I.

Teil 3: Das Reale

Wiederholte Abbildung: »Zwei Spiegel-Schema«

Zeichnung nachempfunden. Vgl.: Lacan, (1953-1954) Seminar I, S. 162.

Lacan weist auf den Umstand hin, dass das reale Bild, das der Hohlspiegel in den Raum wirft, nur innerhalb eines bestimmten Winkels und Abstands sichtbar ist. Damit der Blumenstrauß in der Vase richtig platziert ist, ist sogar eine genaue Positionierung nötig – sonst setzt sich das Bild aus Realem und Imaginärem nicht zusammen. »Das soll bedeuten, daß in der Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Realen und in der Konstitution der Welt, wie sie daraus resultiert, alles von der Stellung des Subjekts abhängt. Und die Stellung des Subjekts […] ist wesentlich durch seinen Platz in der symbolischen Welt charakterisiert […]. Dieser Platz ist das, wovon abhängt, ob jemand sich zu Recht oder Unrecht Pedro nennt. Je nachdem, ob dies der Fall ist oder jenes, befindet er sich im Feld des Kegels oder befindet sich nicht darin.« (106f )

Es kommt auf den Standpunkt an, ob ein Subjekt die Welt korrekt wahrnimmt oder eben verrückt ist, so Lacans Darstellung – die schlussendlich auf einer Visualisierung eines optischen Modells beruht und damit das imaginäre Register bedient. Paradoxerweise wirkt in dieser Darstellung das eingezeichnete Auge, das das richtig situierte Subjekt vorstellen soll, wesensfremd und erscheint besonders imaginär. Auf subtile Weise ist das erkennende Subjekt in das Szenario als etwas Strukturfremdes eingesetzt. Ein Bruch, der sich doppelt, wenn man sich selbst als Betrachter des optischen Schemas mit einbezieht. Der (gesellschaftliche) Zwang, das Vorgestellte richtig zu sehen und zu verstehen, gilt auch für Lacans Schüler. In eine derartige Transparenz gesetzt, erweist sich die Lehre Lacans einmal mehr als Aufforderung, selbst die Lösung für die essenziellen Fragen beizubringen. Diese Ethik der Eigenverantwortung hinsichtlich der psychoanalytischen Theoretisierung macht den, immer wieder als sprunghaft empfundenen, Vortrag des maître verständlich: So will er keine abgeschlossene Lehre präsentieren. »Der Lehrer trägt nicht ex cathedra eine

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abgeschlossene Wissenschaft vor […]. Diese Lehre ist eine Absage an jedes System.« (7)215 Die funktionale Auslegung der drei Ordnungen erlaubt indes eine weitgehende Autonomie von den jeweiligen Konstruktionen in Bezug auf die Psychoanalyse – oder einer spezifischen Ontologie. 1964 stellt Lacan fest, »daß auch ich, natürlich, eine Ontologie habe – warum nicht! – wie jedermann eine hat, naiv oder elaboriert.« (78)216 Doch diese Ontologie ist vergleichsweise privat und in seiner Lehre unbedeutend geblieben. In diesem Sinne handelt es sich bei der Trias um eine ausgezeichnet epistemologische Konstruktion Lacans. Sie setzt keine bestimmte Ontologie voraus, wie auch Peirce’ Phänomenologie kategoriale Prozesse beschreibt und keine Aussagen zum Seinsstatus ihrer Elemente liefert. Lacans geschickten Schachzug, das Reale als Traumatisches, als Unmögliches oder als Rest zu setzen, konnte ich mit Peirce und Meyerson in einem epistemologischen Bezugsrahmen befestigen. Für das Reale wurden Bestimmungen im Positiven zusammengetragen. Vom Imaginären bleibt mehr als eine Sammlung von Bestimmungen: ein Schema, eine Gestalt. Durch die außersymbolischen Register wird das Denken mit den logischen Brüchen der Empfindungen konfrontiert. Helmholtz hat auf die Problematik des Wahrnehmens reagiert, indem er den Anspruch, über die Gegenstände der Physik Aussagen treffen zu können, aufgab und in die Gesetzlichkeit des Symbolischen auswich. Meyerson gab daraufhin zu bedenken, dass trotz aller Versuche, positive Wissenschaft zu betreiben, gilt, »que la raison se heurte à la sensation, c’est-à-dire dès qu’il y a perception.« (673)217 Das Symbolische in seinen verschiedenen naturwissenschaftlichen, sprachtheoretischen und anthropologischen Theoretisierungen stößt immer wieder auf Gussformen (moules), in denen Identisches zusammenfließt218 und auf die alltägliche Abweichung im Widerstand des Realen: beides Prinzipien, die eine je eigene Dimension des Weltzugangs repräsentieren. Die fundamentalen Kategorien eines Imaginären, eines Realen und eines Symbolischen können als epistemologisches Modell dienen und über Erkenntnisprozesse der Wissenschaften wie des Alltags aufklären. Lacans Aufriß dreier Register im Jahr 1953 birgt somit ein Potential, das auch außerhalb der Psychoanalyse von Bedeutung sein könnte. Doch letztlich dürfte nach wie vor gelten, was Meyerson anmerkt: »Kein einziger Vorgang ist vollständig erklärbar, auch der unbedeutendste nicht. Wir mögen noch so viel versuchen, den Vorgang auf andere zurückzuführen, ihn durch immer einfachere zu ersetzen; jede solche Zurückführung bedeutet einen Riß in der Identität, bei jeder geben wir einen Fetzen von ihr auf, und schließlich bleiben an 215 216 217 218

Lacan, (1953-1954) Seminar I. Lacan, (1964) Seminar XI. Meyerson, (1921) Explication. Vgl.: Meyerson, (1933) Déterminisme, S. 41.

Teil 3: Das Reale den Endpunkten unserer Erklärung die beiden Rätsel, die übrigens nur verschiedene Aspekte von einem und demselben Rätsel sind: die Empfindung und die transitive Wirkung zurück.« (426) 219

Das Rätsel des In-der-Welt-seins bleibt ungelöst. Was die drei Register dennoch leisten können, ist, vor der Tatsache der unüberbrückbaren Barriere zwischen den Denkuniversen des Geistes und der Materie nicht zu erstarren, sondern die Funktionen auszuloten, die, alltäglich und im wissenschaftlichen Diskurs, beide Sphären völlig selbstverständlich auf ihre je eigene Art und seit je her durchkreuzen. Das Imaginäre durch Assimilation und Identität, das Reale durch Widerstand und Differenz, das Symbolische durch Prädiktion und Gesetzlichkeit. An dieser Stelle will ich keine finalen Schlüsse oder Anwendungen anbieten. Ob mit den drei Ordnungen eine universelle Kategorienlehre vorgelegt ist, mag offen bleiben. Ich hoffe allerdings, dass die zusammengetragenen Bestimmungen geeignet sind, die drei Ordnungen als epistemologisches Werkzeug verfügbar zu machen. Wenn dieses zur Strukturierung epistemologischer Problemfelder beitragen kann, hat diese Studie ihren Zweck erfüllt. Und doch – geht auch ein Moment der Schönheit von den drei Registern aus. In Worte fasst dies für uns Nikolaus von Kues: »Die Einheit ist Dreiheit, denn sie bedeutet Ungeteiltheit, Unterscheidung und Verbindung. Die Ungeteiltheit stammt aus der Einheit, ebenso die Unterscheidung und ebenso die Einheit bzw. Verbindung. Die größte Einheit ist also nichts anderes als Ungeteiltheit, Unterscheidung und Verbindung. Weil sie Ungeteiltheit ist, ist sie Ewigkeit, d. h. ohne Ursprung, als Ewiges von keinem geschieden. Weil sie Unterscheidung ist, stammt sie von der unwandelbaren Ewigkeit. Und weil sie Verbindung, d. h. Einung ist, geht sie aus beiden hervor.« (39) 220

3) R ek apitul ation des V orgehens und A usblick In meinem Exkurs zum Begriff des Symbolischen habe ich mich für die Darstellung einer Traditionslinie entschlossen. Der anthropologisch gestützte Begriff symbolischer Formen erwies sich als Weiterentwicklung naturwissenschaftlicher Wissenschaftstheorie mit neukantianischer Geltungsbeschränkung. Die Operationalität des Symbolischen geht mit der Setzung wesensgleicher Elemente einher. Gesetze beschreiben nicht die Wirklichkeit, sondern beziehen sich auf ein geeignetes Repräsentationssystem, das für jede 219 Meyerson, (1908) Identität. 220 Nicolaus (de Cusa), (1440) Die belehrte Unwissenheit, Buch I, Hamburg, 1994.

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Wissenschaft anders ausfallen kann. An der erfolgreichen Prädiktion realer Ereignisse wird die Gültigkeit von Gesetzen gemessen. Das Symbolische wird häufig im Zusammenhang mit sprachwissenschaftlichen Theorien und insbesondere dem so genannten linguistic turn besprochen. Insbesondere ist auch die Lacan-Rezeption im deutschsprachigen Raum hiervon bestimmt. Dies hat nicht nur inhaltliche, sondern auch historische Gründe. Die ersten Publikationen hierzulande haben vor allem auf die linguistischen Aspekte abgehoben; kardinale Lacan-Interpretationen, wie die von Philippe Julien221, die ein anderes Bild zeichnen, wurden nicht übersetzt. Erst in den letzten Dekaden entwickelt sich auch bei uns die Bereitschaft, Lacans Lehre als diskursoffenen Theoriebaustein in neue Zusammenhänge zu setzen.222 In diesem Sinne schien es mir eine Bereicherung und Öffnung, seinen Begriff des Symbolischen aus den grundlegenden – und immer noch relevanten – Problemstellungen der Wissenschaftstheorie des 19. Jahrhunderts heraus zu entwickeln. Es war mir ein Anliegen, zu zeigen, wie der naturwissenschaftliche Diskurs jener Zeit an philosophischen Konzepten partizipierte, und dass aus diesen erkenntnistheoretischen Grundlegungen jene Theorie des Symbolischen entstand, die die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts überhaupt erst denkbar machte. Relativitätstheorie und Quantenphysik haben nur deshalb das Weltverständnis revolutionieren können, weil die Physik sich bereits im Vorfeld entschlossen hatte, den Anspruch auf unmittelbares Wissen von den Dingen zugunsten eines Formulierens von Gesetzlichkeiten aufzugeben. In dieser historischen Verbindung sehe ich einen möglichen Anknüpfungspunkt für aktuelle epistemologische Fragestellungen über die Fachgrenzen hinweg. Hat man sich auf ein Register des Symbolischen einigen können, erleichtert dies, nach Facetten der beiden anderen Ausschau zu halten. Die Figuren des Imaginären haben mich in ihrer Heterogenität überrascht. Den expliziten und impliziten Referenzen Lacans nachgehend, verbargen sich in diesen Bezügen reiche und weitführende Spekulationen. Uexkülls Umwelttheorie konnte beispielsweise mehr als einen Aspekt des Imaginären entwickeln helfen. Möglicherweise gibt es Einwände gegen eine solche Subsumtion von Diskursmarginalitäten unter einen Begriff. Ich würde dem entgegenhalten, dass das Imaginäre qua Definition schon keine abgrenzbare Form darstellt und die weit auseinander liegenden Zugänge deshalb nur allzu plausibel sind. Bildlich gesprochen sehe ich das Imaginäre wie den Schattenriss, den 221 Julien, Philippe, (1985) Pour lire Jacques Lacan, Paris, 1990. Eine Übersetzung

ins Englische wurde veröffentlicht unter dem Titel: Jacques Lacan’s Return to Freud: The Real, the Symbolic and the Imaginary. 222 Vgl. bspw.: Cremonini, Andreas, (2003) Die Durchquerung des Cogito. Lacan contra Sartre, München, 2003; Ort, Nina, (1997) Objektkonstitution als Zeichenprozeß. Jacques lacans Psychosemiologie und Systemtheorie. Quelle: Internet: http:// nina.ort.userweb.mwn.de/Objektkonstitution.pdf .

Teil 3: Das Reale

mehrere übereinandergelegte Schemen produzieren, wobei jedes einzelne eine eigene Figur hat, der schematische Blick auf alle zusammen jedoch eine Idee von Imaginärem vermittelt: nicht vollständig und auch nicht abschließbar. Den Nutzen, das Prinzip der Identität im Denken des Menschen auszumachen, sei es als Imaginäres der Psychoanalyse, sei es im Konzept von Intentionalität oder als logische Qualia, ist ein ernstzunehmender epistemologischer: Die Analysen Meyersons zeigen das Kritikpotential des Imaginären, hier verstanden als Insistenz des Verstehen-wollens im Rahmen lebensweltlicher Gewissheiten. Als wesentlich Ungewisses steht diesem Prinzip das Reale gegenüber. Und – freilich ohne dass dies für den Begriff von Belang wäre – so war es für mich ein unerwartetes Ereignis, den lexikalisch223 verbrieften Bezug Lacans auf Meyerson in der von Dylan Evans vorgelegten Weise nicht nachvollziehen zu können. Indes stieß ich nicht auf Leere. Was sich dahinter als wesentlich komplexeres Denken erwies, überzeugte mich endgültig von der Möglichkeit einer Trias elementarer Denkfunktionen als wissenschaftstheoretisches Analysewerkzeug. Das Reale ist ebenfalls eine Funktion, eine Art und Weise, wie der Mensch seine Umwelt erschließt. Dass er dabei seine lebensweltlichen Grenzen übersteigt, hinauf- und hinabsteigt in Makro- und Mikrokosmos, verkompliziert die Sachlage, so dass das Reale auch diskursiven Charakter erhält, wovon Meyerson in seinen Büchern lebhaft zu berichten weiß. Lebensweltlich betrachtet, ist das Reale jedoch nach wie vor – so hat Peirce gezeigt – unablässig präsent als Widerstand und, zeitlich betrachtet, als Reaktion. Derart widerständig ist all das, was unser Imaginäres nicht schon in ein Immergleiches aufgelöst hat; was die Prädiktion des Symbolischen uns nicht hat wissen lassen. Als Bestandteil des Alltagserlebens ist das Reale derart präsent, dass es nur dann als solches sichtbar wird, wenn es uns überrascht. In diesem Sinne ist die Debatte um ein Reales als Traumatisches und Angsteinflößendes, mithin die eigene Kultur in-Frage-Stellendes zu verstehen. Wo übermäßige Grausamkeiten jeglichen Glauben an die Selbst-Identität und die Leistungen des menschlichen Verstandes verlieren lässt, bleibt wahrlich nur noch das Reale als Rest. Die gute Nachricht – für dieses Register – dabei ist, dass es keinesfalls nur im Exzess funktional am Wirken ist. Lediglich gilt: wenn die beiden anderen Register nicht mächtig genug sind, dem Ereignis zu entsprechen, bleibt es offensichtlich in Funktion. Ich weiß nicht, was daraus für das Bild des Menschen folgt, jedenfalls ergeben sich aus epistemologischer Sicht weitere Analysemomente in der Figur eines Realen, welches wesentlich irrational ist, und deshalb eben auch, wie Meyerson so anschaulich berichtet, den Bestrebungen des Menschen, alles Organische und Anorganische, den Planeten und darüber hinaus, seinem Erklärungsdrang zu unterwerfen, widersteht. In einer 223 Vgl.: Evans, Dylan, (1996) Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien,

2002.

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fulminanten, geradezu animistischen Anwandlung verschafft sich Meyerson schließlich Luft: »Wir sind es, die in der Natur die Identität herzustellen suchen, die sie hineintragen, sie ihr unterschieben. Das eben nennen wir die Natur verstehen oder sie erklären. Bis zu einem gewissen Grade läßt die Natur sich das gefallen, aber sie sträubt sich auch dagegen. Die Wirklichkeit setzt sich zur Wehr, sie erlaubt nicht, daß man sie leugne. Das Carnotsche Prinzip ist der Ausdruck des Widerstandes, den die Natur dem Zwange entgegensetzt, den unser Verstand mit dem Kausalprinzip auf sie auszuüben versucht.« (301) 224

Unbestritten wandelt die Wissenschaft seit je her auf unzähligen Pfaden zwischen Empirie und Theorie, zwischen Induktion und Deduktion – gelegentlich einen Abstecher der Abduktion wagend. Aus diesem Fortschreiten ergeben sich für die unterschiedlichen Fachdisziplinen verschiedenartige erkenntnistheoretische Herausforderungen. Es scheint, wie in Lacans psychoanalytischer Auslegung der Trias, auch für die Wissenschaften zu gelten, dass das Reale einerseits zwar das Ziel aller Strebungen darstellt, aber gleichzeitig in einem ängstlichen Zurückweichen auf Distanz gehalten wird.225 Schnell wird es überlagert vom Imaginären in Form der Erklärung, im Rückgriff auf Althergebrachtes. Und ebenso schnell wird eine Formel imaginär erweitert, um auch den Ausfall, das Unendliche oder Unvorstellbare zur Regel zu erklären. Besonders deutlich wird dies in den Disziplinen, die den Menschen selbst zum Objekt haben. Heute am augenscheinlichsten repräsentiert durch die Neuro-Wissenschaften, und insbesondere dort, wo diese auf bestehende Wissensbereiche aufsetzen, also beispielsweise der Neuro-Psychologie, Neuro-Soziologie oder Neuro-Psychoanalyse. Oft genug, so scheint es, gibt man sich dort mit dem Wiederfinden allgemein bekannter Fakten (Emotionen, Verhalten, Wahrnehmungsprinzipien) in neuronalen Korrelaten zufrieden. Meiner Einschätzung nach ist die Zahl von Forschungsergebnissen, die bereits bekanntes Fachwissen neurophysiologisch bestätigen, ungleich größer als die von Studien, die zu Schlüssen kommen, welche vom konventionellen Forschungsstandard abweichen. Das Imaginäre – das Wiederfinden von Bekanntem, die Identitätsfunktion – nimmt in diesem Sinne eine bedeutende Position ein. Verstärkt wird dieser Eindruck nicht selten durch verkürzende Schlüsse, die aus dem Faktum gezogen werden, dass menschliche Aktivitäten mit Gehirnaktivitäten plausibel in Relation gesetzt werden können: Wird kolportiert, dass ein Mensch auf eine bestimmte Weise handelt, weil sein Gehirn diese und jene 224 Meyerson, (1908) Identität. 225 Zur psychoanalytischen Figur vgl. insbes.: Lacan, Jacques, (1959-1960) Das Se-

minar, Buch VII (1959-1960). Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin, 1986.

Teil 3: Das Reale

Aktivität aufweist, so erkennt man in diesem Kausalzusammenhang den von Meyerson beschriebenen Drang, empirische Ergebnisse als mechanistisches Geschehen von Ursache und Wirkung erklärbar zu machen. Wie ich gezeigt habe, sind das Festhalten an Bekanntem, an Fasslichem und die Konstruktion von Kausalität Funktionen des Imaginären. Für einen bestimmten Bereich der Gehirnwissenschaft, dem functional neuroimaging kann gelten, dass hier eine Ausrichtung auf das Reale zur Zeit (noch) nicht stattfinden kann – aus Zusammenhängen, die möglicherweise nur technologisch, vielleicht aber auch systematisch bedingt sind.226 Damit ist gemeint, dass nicht nur der visuelle Aspekt dieser Forschung, die Bildgebung, auf das Register des Imaginären verweist, sondern insbesondere und weitaus folgenreicher das Imaginäre im Postulat kausaler Zusammenhänge und der neurophysiologischen Identifizierung bereits andernorts nachgewiesener Phänomene im Erscheinungsbild prägend sind. Das Imaginäre zieht sich – ganz im Sartre’schen Sinne – durch die zahlreichen Ebenen, welche eine wissenschaftliche Disziplin ausmachen, hindurch, eine Kaskade von Bildern formierend.227 Diese steht hier polar gegen eine Außendarstellung, ein Image, wonach bildgebende Verfahren das materielle und in diesem Sinne reale Geschehen menschlicher Aktivitäten in ihren Ursprüngen sichtbar machen sollen: eine erkenntnistheoretische Polarität, die die Wichtigkeit einer Diskussion insbesondere der Begriffe imaginär und real unterstreicht. In ihrem Wesen wäre diese Debatte freilich symbolisch. 226 Selbstverständlich lassen sich distinkte Gehirnfunktionen auch heute schon

lokalisieren und visualisieren. Wo dies jedoch keinen konstruktiven Anteil hat (was einem empirischen Ansatz widerspräche), greifen diese Modelle notwendigerweise auf lebensweltlich (Verhaltenswissenschaften) oder konventionell (Pathologie, Läsionsstudien) gewonnene Vorannahmen zurück. Lediglich der marginale Zweig der resting state Forschung benutzt in einigen Zusammenhängen voraussetzungslose Modelle. Mit anderen Worten: Die extrinsischen Anteile der Gehirnforschung (Verhaltenswissenschaften, kulturelle Modelle von Emotion und Bedeutung, Evolutionstheorie) werden typischerweise eins-zu-eins durch den Forschungsprozess hindurchgereicht und erscheinen am Ende als Teil, wenn nicht als Ergebnis dieser Forschungen. Der Vorgang entspricht der Funktion des Imaginären als Glaubenssatz, der – wie schon bei Descartes – res cogitans und res extensa verbinden muss. Eine Neurowissenschaft, die auf das Reale zielte, müsste in Kauf nehmen, dass die Vorgänge im Gehirn nicht unseren Erwartungen (und unserem Weltbild) entsprechen. Wie jenes historische Beispiel des toten Lachses jedoch gut illustrieren kann, gibt es einen gewissen Plausibilitätszwang, der die heuristischen Möglichkeiten der Methode einschränken. Selbstverständlich gilt ähnliches auch für andere Wissenschaftsgebiete. (Führt man die wissenschaftskritische Diskussion, die historisch insbesondere von Meyerson angeregt wurde, weiter, erhellt dies den argumentativen Rahmen, in welchem der bekennende Meyerson-Schüler Thomas S. Kuhn seine Theorien entwickelt hat.) 227 Der große Fortschritt, den man insbesondere bei der Erforschung der visuellen Zentren im Gehirn gemacht hat, könnte versuchsweise in diese Kaskade eingereiht werden, geht es doch nicht nur um imaginäre Figuren sondern auch um Figuren des Imaginären.

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Was hier nur als Ausblick angelegt ist, soll andeuten, wie sich eine epistemologische Trias aus Symbolischem, Imaginärem und Realem auf aktuelle Fragestellungen anwenden ließe. Wer mit dem gewählten Beispiel des neuro­ imaging vertraut ist, weiß, dass eine adäquate Diskussion der angesprochenen Sachverhalte außerordentlich komplex ist. So ergeben sich Fragen auf technologischer, auf psychologischer und nicht zuletzt auf wissenssoziologischer Ebene. Erwartungshaltungen – der Politik, der Gesellschaft, der wissenschaftlichen Gemeinde – spielen ebenso eine Rolle, wie die statistischen Computer-Algorithmen, mit welchen die unfassbaren Datenmengen der brainscans bearbeitet werden müssen. Wie aber sind »Algorithmen« und »Erwartungshaltungen« in einem einenden epistemologischen Rahmen überhaupt diskutierbar? Mein Vorschlag wäre, zu prüfen, ob nicht Lacans triadisches Modell, wissenschaftlich rekontextualisiert, geeignet ist, Begriffe bereitzustellen, die sowohl soziologisch wie psychologisch als auch physiologisch und technologisch greifen, die deshalb transdisziplinär sind, weil ihre strukturierenden Bestimmungen eine basale Logik formen (siehe Peirce), ihre Prinzipien wissenschaftshistorisch erschließbar sind (siehe Meyerson) und gleichzeitig einer phänomenologischen Reduktion gehorchen (siehe Brentano, Peirce und Merleau-Ponty).

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Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale

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Psychoanalyse Anna Tuschling, Erik Porath (Hg.) Arbeit in der Psychoanalyse Klinische und kulturtheoretische Beiträge 2012, 220 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1577-7

Peter Widmer Der Eigenname und seine Buchstaben Psychoanalytische und andere Untersuchungen 2010, 292 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1620-0

Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution II Zum Problem einer Grenzziehung 2007, 182 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-575-8

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Psychoanalyse Tanja Jankowiak, Karl-Josef Pazzini, Claus-Dieter Rath (Hg.) Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse 2006, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-466-9

Erik Porath Gedächtnis des Unerinnerbaren Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse 2005, 542 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-386-0

Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen (unter Mitarbeit von Jeannie Moser) 2005, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-284-9

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