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German Pages 312 Year 2011
Antike als Modell in Nordamerika?
HISTORISCHE ZEITSCHRIFT
Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 55
Oldenbourg Verlag München 2011
Ulrich Niggemann, Kai Ruffing (Hrsg.)
Antike als Modell in Nordamerika? Konstruktion und Verargumentierung 1763-1809
Oldenbourg Verlag München 2011
Bibliograßsche
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Inhalt Grußwort des Dekans. Von Eckart Conze
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Vorwort der Herausgeber. Von Ulrich Niggemann und Kai Ruffing
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Einführung. Von Ulrich Niggemann und Kai Ruffing
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Klassischer Republikanismus in der Frühen Neuzeit. Kritische Nachfragen. Von Wilfried Nippel
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I. Staatskonzeptionen Die unfassbare Republik: Idealstaatsvorstellungen der Römer. Von Bernhard Linke
37
Die Antike in den amerikanischen politischen Debatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Von Werner Heun
65
Antikenbilder im „Federalist'7 )r Anti-Federalist". Von Mathias Hanses
85
Das Bild der Antike bei Benjamin Franklin und John Adams. Von Jürgen Overhoff
111
II. Tugendmodelle Sparta-Diskurse in den frühen USA. Von Volker Losemann
137
„The duty of good citizens toward an injured country" - Zur Rezeption antiker Staats- und Tugendvorstellungen in den revolutionären Associations. Von Marion Stange
149
Cato Uticensis und seine Wahrnehmung in der Antike. Von Kai Ruffing
175
„let Cato's virtues fire". Cato Uticensis und die amerikanische Revolution. Von Thomas Clark
203
„Exemplo aliis esse debetis": Cincinnatus in der antiken Literatur. Von Boris Dunsch
219
Von einer Oppositionsfigur zum staatstragenden Modell: Cincinnatus in der anglo-amerikanischen Publizistik des 18. Jahrhunderts. Von Ulrich Niggemann
249
III. Architektur „noble beyond expression". Die Antike als Vorbild der US-Architektur. Von Torsten Mattern
277
Abkürzungen
305
Autorinnen und Autoren
306
Grußwort des Dekans Von
Eckart Conze Der Bitte der Veranstalter um ein Grußwort des Dekans des Fachbereichs Geschichte und Kulturwissenschaften zur Eröffnung der Tagung über die Antikenrezeption in den USA k o m m e ich gerne nach. Denn diese Tagung verdient in mehrfacher Weise Interesse. Zunächst ist hervorzuheben, dass die Tagung einer Initiative jüngerer Wissenschaftler entsprungen ist, die es verstanden haben, trotz bescheidener materieller Mittel ein anspruchsvolles Programm mit hochkarätigen Referenten zusammenzubringen. Für beide Wissenschaftler liegt das Tagungsthema nicht im allerengsten Bereich ihrer gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte. Es zielt also nicht auf unmittelbare akademische Nutzanwendung beispielsweise im Z u s a m m e n h a n g mit Qualifikationsschriften, so legitim das selbstverständlich wäre. Es gibt hier also ein wissenschaftliches Interesse jenseits der eigenen, der individuellen Arbeit. Herauszustellen ist sodann der epochenübergreifende Ansatz der Tagung. Sicher, der zeitliche Fokus liegt auf dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert. Aber wie lässt sich die Frage der Antikenrezeption in der Neuzeit, hier in der Genesephase der Vereinigten Staaten, denn diskutieren, wenn nicht im Zusammenwirken von Neuzeithistorikem und Altertumswissenschaftlern? Die Tagung wird zeigen, wie viel Neuzeithistoriker und Altertumswissenschaftler einander zu sagen haben und wie fruchtbar ein solcher Dialog sein kann. Das sollte anspornen zu weiteren Initiativen in dieser Richtung. Die Bedeutung des Themas schließlich ist überhaupt nicht zu bestreiten. Und sie ist - gestatten Sie mir diese Bemerkung als Zeithistoriker - nicht nur geschichtswissenschaftlicher Natur, sondern hat wichtige aktuelle und politische Dimensionen. Denn die Antikebezüge - über das Wort „Verargumentierung" stolpere ich zugegebenermaßen noch immer - in der Geschichte der U S A haben seit ihren Gründeijahren nicht abgenommen. In der amerikanischen Eigenwahrnehmung und Eigendeutung, aber auch in Wahrnehmungen und Deutungen von außen, spielt die Antike oder besser: spielen bestimmte Bilder und Vorstellungen der Antike bis heute eine entscheidende Rolle.
Das beginnt mit den, das will ich gern gestehen, oft recht platten Vergleichen zwischen Römischem Reich und amerikanischem Imperium, Vergleiche freilich, in denen national wie international immer wieder die hegemoniale Rolle der USA verhandelt wurde und noch verhandelt wird. Es fuhrt aber doch weiter zur Ebene der politischen Symbolik und der politischen Repräsentation, Bereiche, in denen die Antike nicht schlicht rezipiert, sondern vielmehr bis heute in komplexen Prozessen und zu unterschiedlichen Zeiten j e unterschiedlich kulturell angeeignet, ja anverwandelt wird. Und gerade weil die Antikebezüge in der Frühphase der Vereinigten Staaten so klar auf der Hand liegen, ist auch j e d e aktuelle politische Bezugnahme auf Gründung und Geschichte der USA implizit, zum Teil sogar explizit, eine Auseinandersetzung mit der Antike, ihren Denktraditionen, ihren Vorstellungsmustem und ihrer Geschichte. Das Thema, das hier behandelt wird, ist politisch wie wissenschaftlich hoch aktuell. Daher danke ich den beiden Tagungsorganisatoren für ihre Initiative, danke ihnen und ihren Mitarbeitern für die Mühe bei Organisation und Durchfuhrung der Tagung und wünsche der Konferenz einen fruchtbaren Verlauf und einen guten Abschluss. Marburg, 12. N o v e m b e r 2009
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Eckart Conze
Vorwort Von
Ulrich Niggemann und Kai Ruffing Die hier versammelten Beiträge dokumentieren eine Tagung, die am 12. und 13. November 2009 an der Philipps-Universität Marburg durchgeführt wurde. Dabei war es uns als den Organisatoren der Tagung ein besonderes Anliegen, Altertumswissenschaftler und Neuzeithistoriker zum Dialog zusammenzubringen, denn die Rezeptionsgeschichte der Antike im Amerika des 18. Jahrhunderts ist ihrer Natur nach ein Phänomen, das multilateral und interdisziplinär in seinen verschiedenen Facetten und aus den jeweils fachspezifischen Perspektiven heraus zu erforschen ist. Solche gemeinsamen Unternehmungen zwischen Altertumswissenschaftlern und Neuzeithistorikem sind innerhalb einer immer stärker sich ausdifferenzierenden Geschichtswissenschaft nicht mehr unbedingt eine Selbstverständlichkeit, auch wenn es in den letzten Jahren wieder einige erfreuliche Entwicklungen in diese Richtung gegeben hat. Dabei ist die Rezeption von Antike in Amerika nur eines von vielen Forschungsfeldem, in denen Vertreter beider Fachrichtungen voneinander lernen und profitieren können. Zahlreiche Gespräche beim Mittagessen in der Marburger Mensa haben uns - einem Althistoriker und einem Frühneuzeitler - diesen Umstand klar vor Augen treten lassen. Und so entstand die Grundidee, über die Rezeptionsgeschichte miteinander ins Gespräch zu kommen und auf diese Weise auch eine Marburger Tradition wiederaufzugreifen, hatte doch der 2008 verstorbene Althistoriker Karl Christ wesentlich dazu beigetragen, Forschungen zur neuzeitlichen Rezeption der Antike in den Fokus der Geschichtswissenschaft zu rücken. Zugleich wurde jedoch auch deutlich, dass es galt, den Rezeptionsbegriff selbst kritisch zu hinterfragen und durch ein dynamischeres, den Prozesscharakter politischer Argumentation betonendes Konzept zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen. „Konstruktion" und „Verargumentierung" rückten dabei in den Vordergrund und sollen hier als Ansätze zur Diskussion gestellt werden. Dass die Tagung und damit auch die Beiträge dieses Bandes auf einen relativ kleinen Kreis von Forscherinnen und Forschern beschränkt blieben und dass - bis auf eine Ausnahme - keine Kollegen aus den U S A einbezogen werden konnten, hat vor allem praktische Gründe: Nervus rerum eines solchen Projektes ist wie bei vielen anderen Dingen auch - der finanzielle
Spielraum. Dieser war sehr begrenzt. Umso mehr danken wir der Marburger Universitätsstiftung und dem Ursula Kuhlmann Fonds für die freundliche Unterstützung, ohne die die Durchfuhrung der Tagung nicht möglich gewesen wäre. Insbesondere danken wir auch dem damaligen Dekan des Fachbereichs Geschichte und Kulturwissenschaften, Herrn Prof. Dr. Eckart Conze, für die befürwortende Weiterleitung des Projektantrags an die Universitätsstiftung, unter Zurückstellung eigener Vorhaben. Sehr herzlich danken wir dem Herausgeber der Historischen Zeitschrift, Herrn Prof. Dr. Lothar Gall, für die A u f n a h m e des Tagungsbandes in die Beihefte der Historischen Zeitschrift. In der Redaktion haben uns Herr Prof. Dr. Jürgen Müller und Dr. Eckhardt Treichel mit Rat und Tat zur Seite gestanden und die Endbearbeitung des Manuskripts übernommen. Frau Dr. Kerstin Droß-Krüpe danken wir für die zuverlässige und tatkräftige Mithilfe bei der Vorbereitung der Beiträge für die Drucklegung, und für die freundliche Betreuung beim Oldenbourg-Verlag gilt namentlich Frau Sabine Walther unser Dank. Zu danken haben wir aber auch den Helferinnen und Helfern bei der Durchführung der Tagung: Ingrid Brusius-Eigl, Dr. Kerstin Droß-Krüpe, Dr. Florian Krüpe, Mag. Michaela Oberhuber, Kerstin Weiand, Yvonne Wagner, Sabrina H o h m a n n und Christian Mühling. Und schließlich danken wir all denen, die es auf sich g e n o m m e n haben, einzelne Sektionen der Tagung zu moderieren: Prof. Dr. Horst Dippel, Dr. Boris Dunsch, Prof. Dr. Holger Th. Graf, Prof. Dr. Wolfgang Krieger und Prof. Dr. Wilhelm Ernst Winterhager. Marburg, den 4. Februar 2011
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Ulrich Niggemann/Kai Ruffing
Einfuhrung Von
Ulrich Niggemann und Kai Ruffing Rekurse auf die klassische Antike sind in der gesamten Frühen Neuzeit keine Seltenheit, doch fällt ihre Häufigkeit gerade im Nordamerika der Revolutionsepoche und in den frühen USA besonders ins Auge. Die Autoren der „Federalist Papers" etwa argumentierten ebenso wie ihre antiföderalistischen Gegner mit Fallbeispielen aus der griechischen und römischen Antike, Widerstand gegen das britische Mutterland wurde mit Verweisen auf antike Tyrannen gerechtfertigt, und George Washington wurde schon zu Lebzeiten mit antiken Figuren wie Cincinnatus gleichgesetzt. Städte und Personen erhielten römische oder griechische Namen - man denke zum Beispiel an Alexandria in Virginia oder an die zahlreichen Orte mit Namen Athens, etwa in Georgia oder N e w York. Auch die Architektur bediente sich der antiken Formensprache - hinzuweisen wäre etwa auf das State Capitol von Virginia in Richmond, das einem römischen Tempel in Nîmes, der Maison Carrée, nachempfunden ist. Hinzu kommen zahlreiche lateinische Inschriften und Symbole wie das Rutenbündel. Eine der beiden Kammern des amerikanischen Parlaments erhielt die Bezeichnung „Senat", und das Parlamentsgebäude selbst wurde auf dem Capitol Hill errichtet. 1 ' Vgl. hierzu und zu zahlreichen weiteren Beispielen HowardM. Jones, O Strange New World. American Culture: The Formative Years. Westport, Conn. 1982 (zuerst 1952), 227 -230; Meyer Reinhold, Introduction, in: ders. (Ed.), The Ciassick Pages. Classical Reading of Eighteenth-Century Americans. University Park, PA 1975, 1 -27, hier 2; Carl J- Richard, The Founders and the Classics. Greece, Rome, and the American Enlightenment. Cambridge, Mass. 1996; Stephen L. Dyson, Rome in America, in: Richard Hingley (Ed.), Images of Rome. Perceptions of Ancient Rome in Europe and the United States in the Modern Age. (Journal of Roman Archaeology. Supplementary Series, Vol. 44.) Portsmouth, RI 2001, 57-69; Christa Buschendorf, Art. „United States of America", in: DNP 15/3, 2003, Sp. 833-875; Georg Schild, Res Publica Americana. Romrezeption und Verfassungsdenken zur Zeit der Amerikanischen Revolution, in: HZ 284, 2007, 31-58; Dennis Hannemann, Klassische Antike und amerikanische Identitätskonstruktion. Untersuchungen zu Festreden der Revolutionszeit und der frühen Republik 1770-1815. (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 27.) Paderborn u.a. 2008; Alexander Demandt, Die Klassische Antike in Amerika, in: Angelos Chaniotis/Annika Kuhn/Christina Kuhn (Eds.), Applied Classics. Comparisons, Constructs, Controversies. (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, Bd. 46.) Stuttgart 2009, 83-96; und Eran Shalev, Rome Rebom on Westem Shores. Historical Imagination and the Creation of the American Republic. Charlottesville/London 2009.
Z u m Teil s c h o n in den dreißiger Jahren d e s 20. Jahrhunderts, verstärkt dann in den f ü n f z i g e r Jahren b e g a n n sich die i d e e n g e s c h i c h t l i c h e Fors c h u n g systematisch mit d i e s e m P h ä n o m e n zu b e s c h ä f t i g e n . Insbesondere C h a r l e s F. Mullet, Clinton Rossiter und Richard M. G u m m e r e leisteten auf d i e s e m Feld Pionierarbeit. 2 S e i t d e m haben sich zahlreiche Autoren w i e auch T a g u n g e n mit d e m T h e m a b e s c h ä f t i g t . 3 O f f e n k u n d i g h a b e n sich N e u zeithistoriker und A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t l e r g l e i c h e r m a ß e n für die Frage interessiert, i n w i e w e i t das antike Erbe das D e n k e n und H a n d e l n der „Found i n g Fathers", der Vordenker und Architekten der a m e r i k a n i s c h e n Unabh ä n g i g k e i t und der U S - V e r f a s s u n g , beeinflusst hat. D a b e i lassen sich grundsätzlich z w e i unterschiedliche A n s ä t z e feststellen: Insbesondere Althistoriker und A l t p h i l o l o g e n haben den E i n f l u s s der k l a s s i s c h e n Antike und ihrer überlieferten Texte a u f die Gründung der Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a oft als sehr b e d e u t e n d e i n g e s c h ä t z t . 4 D i e s e A u f f a s s u n g wird inz w i s c h e n vermehrt auch v o n Neuzeithistorikern und N e u p h i l o l o g e n geteilt. 5 A l s zentrales A r g u m e n t wird vor a l l e m die k l a s s i s c h - h u m a n i s t i s c h e B i l d u n g der M i t g l i e d e r der p o l i t i s c h e n Klasse der K o l o n i e n in Nordamerika angeführt. In den höheren S c h u l e n habe der Lateinunterricht z u m Standard gehört, und gute Latein-, t e i l w e i s e auch G r i e c h i s c h k e n n t n i s s e seien Z u g a n g s v o r a u s s e t z u n g e n zu den C o l l e g e s g e w e s e n . M ä n n e r w i e John
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Charles F. Mullet, Classical Influences on the American Revolution, in: CJ 35, 1939, 92-104; Clinton Rossiter, Seedtime of the Republic. The Origin of the American Tradition of Political Liberty. 6. Aufl. New York 1953; Richard M. Gummere, The Classical Ancestry of the United States Constitution, in: American Quarterly 14, 1961, 3-18; ders.. The American Colonial Mind and the Classical Tradition. Essays in Comparative Culture. Cambridge, Mass. 1963. Vgl. als Überblick über die Forschung Meyer Reinhold, Survey of the Scholarship on Classical Traditions in Early America, in: ders., Classica Americana. The Greek and Roman Heritage in the United States. Detroit, Mich. 1984, 280-324, und Buschendorf, United States of America (wie Anm. 1), Sp. 833-875, hier v. a. Sp. 839 f. 3
Als Beispiel für einen einflussreichen Tagungsband sei angeführt: John W. Eadie( Ed.), Classical Traditions in Early America. Ann Arbor, Mich. 1976. Nicht speziell auf Amerika bezogen war die Tagung am Forschungszentrum Europäische Aufklärung in Potsdam vom 2.-4. März 2006; vgl. Veit Elm/Günther Lottes/Vanessa de Senarclens (Hrsg.), Die Antike der Moderne: Vom Umgang mit der Antike im Europa des 18. Jahrhunderts. (Aufklärung und Moderne, Bd. 18.) Hannover 2009. Epochenübergreifend beschäftigte sich die Tagung „Applied Classics" im Juni 2005 in Bad Honnef mit der Anwendung der „Classics"; vgl. Chaniotis/KuhnJKuhn (Eds.), Applied Classics (wie Anm. 1). 4
Diese Beobachtung zur Forschungsdiskussion bereits bei Reinhold, Survey (wie Anm. 2), 285 f. Vgl. zur anhaltenden Kontroverse um den Einfluss der Antike auch Robert A. Ferguson, Reading the Early Republic. Cambridge, Mass. 2006, 172. s Etwa Richard, Founders (wie Anm. I); Hannemann, Antike (wie Anm. 1).
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Adams, Thomas Jefferson und zahlreiche andere hätten daher über eine hervorragende Kenntnis nicht nur der lateinischen Sprache, sondern auch der klassischen Autoren verfugt. Diese Kenntnisse und der selbstverständliche Umgang mit ihnen seien in ihre politischen Vorstellungen eingeflossen und hätten ihr konkretes Handeln geprägt. 6 Freilich unterscheidet Meyer Reinhold, der sich in einer Reihe von Aufsätzen mit der Frage der Antikenrezeption in Nordamerika befasst hat, zwischen einem „Golden Age" der klassischen Bildung bis etwa 1790 und einem „Silver Age" bald nach der Gründung der USA, in dem der Rekurs auf Griechenland und Rom zunehmend als obsolet angesehen worden sei. 7 In der Frühneuzeitforschung hatte sich dagegen zunächst eine andere Interpretationslinie durchgesetzt, die erst in jüngerer Zeit hinterfragt und ausdifferenziert wird. Es war besonders Bernard Bailyn, der 1967 mit einer Studie zu den Ursprüngen der Ideen der Amerikanischen Revolution für Aufsehen sorgte. Bailyn dekonstruierte das bis dahin gültige Paradigma, das die Wurzeln der Revolution von 1776 in den Ideen John Lockes und der Aufklärung gesehen, mithin eine Tradition des Liberalismus als die eigentliche Triebfeder der Gründung der USA ausgemacht hatte. 8 Bailyn richtete dagegen sein Augenmerk eher auf die Einflüsse der britischen Verfassung und der britischen politischen Kultur seit den Revolutionen des 17. Jahrhunderts. Für ihn waren es die „Commonwealthmen" 9 des 17. und 18. Jahr6
Richard, Founders (wie Anm. 1), 12, spricht sogar von „Konditionierung". Vgl. zur Argumentation mit der Schulbildung ebd. 12-38; Hannemann, Antike (wie Anm. 1), 12 und 53-62; Demandr, Antike (wie Anm. 1), 89; und David J. Bederman, The Classical Foundations of the American Constitution. Prevailing Wisdom. Cambridge u.a. 2008, 1-25. Zur klassischen Bildung in Amerika auch William J. Ziobro, Classical Education in Colonial America, in: Michael Meckler (Ed.), Classical Antiquity and the Politics of America. From George Washington to George W. Bush. Waco, Tex. 2006, 13-28; und Stanley M. Burslein, The Classics and the American Republic, in: History Teacher 30, 1996, 2 9 44. 7 Meyer Reinhold, The Silver Age of Classical Studies in America, 1790-1830, in: ders., Classica Americana (wie Anm. 2), 175-203. Ähnlich aber auch Burstein, Classics (wie Anm. 6). " Zentral für dieses ältere Paradigma Louis Hartz, The Liberal Tradition in America: An Interpretation of American Political Thought since the Revolution. New York 1955. Wichtig im Hinblick auf genuin amerikanische Einflüsse ist zudem die Frontier-These von Frederick Jackson Turner; Frederick J. Turner, The Frontier in American History. New York 1958. Vgl. zur Diskussion auch Stephan Fuchs, Ideologie zwischen Liberalismus und Republikanismus. Seit zweihundert Jahren diskutieren Historiker und Politologen die Ursachen der amerikanischen Revolution, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 10, 1997, 202-216. 9
Der Begriff - ursprünglich ein Quellenbegriff - bei Caroline Robbins, The Eighteenth-
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hunderts, wie John Milton, James Harrington, Marchamont Nedham, Henry Neville, Walter Moyle, John Trenchard, Thomas Gordon und andere, die den entscheidenden Einfluss auf das amerikanische Denken in den Jahrzehnten vor der Revolution gehabt hätten. 1 0 Für Bailyn waren die antiken Bezüge nur mittelbar aus der britischen Tradition übernommen worden und hatten lediglich ornamentalen oder illustrativen Charakter, der als „window dressing" abgetan werden konnte.' 1 Einen etwas anderen Weg schlägt hingegen das Konzept des „klassischen Republikanismus" ein, das sehr viel stärker als Bailyns Ansatz auf Antikenrezeption zielt. Im Anschluss an die Thesen Bailyns und anknüpfend an Hans Barons Konzept des florentinischen „civic humanism" entwarf John G A. Pocock in seinem magistralen Werk „The Machiavellian M o m e n t " seine Theorie vom Republikanismus in der Frühen Neuzeit. Pocock isolierte und beschrieb eine Traditionslinie bürgerlicher Partizipationsideen, die letztlich von Aristoteles ausgehend über den „Bürgerhumanismus" der italienischen Renaissance ins England der Revolutionszeit gelangt sei und bis zur Amerikanischen Revolution gereicht habe. Dabei habe die Rezeption der Schriften Niccolö Machiavellis, namentlich der „Discorsi", etwa durch James Harrington eine Schlüsselrolle gespielt. Es sei eben die Machiavelli-Rezeption gewesen, über die das Gedankengut des „civic h u m a n i s m " und des „klassischen Republikanismus" nach England gelangt sei. Pocock geht sogar soweit zu behaupten, die Amerikanische Revolution sei nicht etwa ein Gründungsakt der Moderne gewesen, sondern der letzte Akt des Renaissance-Humanismus. 1 2 Dieser Ansatz des „klassischen ReCentury Commonwealthmen. Studies in the Transmission, Development and Circumstance o f English Liberal Thought from the Restauration of Charles II until the War with the 13 Colonics. 2. Aufl. Cambridge, Mass. 1961. 10 Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution. 14. Aufl. Cambridge, Mass. 1977 [erstmals 1967). Bailyn skizzierte seine Überlegungen bereits früher in einem Aufsatz: ders.. Political Experience and Enlightenment Ideas in EighteenthCentury America, in: AHR 67, 1962, 3 3 9 - 3 5 1 . Vorläufer hatte Bailyns Studie in Robbins, Commonwealthmen (wie Anm. 9), und H. Trevor Colbourn, The Lamp of Experience. Whig History and the Intellectual Origins of the American Revolution. Chapel Hill 1965. Wichtig in diesem Zusammenhang und auf Bailyn fußend auch Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776-1787. Chapel Hill 1969, Ndr. 1998. 11 Bailyn, Origins (wie Anm. 10), 24. Zum illustrativen Charakter der Antikenrezeption aber auch schon Rossiter, Seedtime (wie Anm. 2), 3 5 6 f . 12 John G A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton/Oxford 1975, Ndr. mit neuem Schlusswort 2003. Pocock fährt seine Auffassung in einer Reihe von weiteren Arbeiten aus; vgl. etwa ders., Machiavelli, Harrington, and English Political Ideologies in the Eighteenth Century, in: William and Mary Quarterly, 3rd Series 22, 1965, 5 4 9 - 5 8 3 ; ders.. Der bürgerliche
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p u b l i k a n i s m u s " ist in den s i e b z i g e r Jahren d e s 20. Jahrhunderts breit diskutiert w o r d e n und hat sich trotz kritischer S t i m m e n z w i s c h e n z e i t l i c h als das dominante Paradigma d u r c h g e s e t z t . 1 3 In j ü n g s t e r Zeit ist die Kritik an zentralen G r u n d a n n a h m e n d e s R e p u b l i k a n i s m u s - P a r a d i g m a s
allerdings
w i e d e r aufgelebt, w i e im v o r l i e g e n d e n B a n d auch der Beitrag v o n W i l f r i e d N i p p e l deutlich macht. Z u den w i c h t i g s t e n Vorwürfen g e h ö r e n n e b e n der e i n s e i t i g e n Isolierung einer aristotelischen Traditionslinie durch P o c o c k auch d i e A u s b l e n d u n g nicht-antiker jüdisch-christlicher E l e m e n t e in d e n Schriften der vermeintlich bedeutendsten D e n k e r d e s „ k l a s s i s c h e n R e p u b likanismus" s o w i e die o f f e n k u n d i g e U m d e u t u n g antiker politischer Ideen in der N e u z e i t . 1 4 Eben in der durchaus berechtigten Kritik wird j e d o c h e i n e Stärke d e s P o c o c k s c h e n A n s a t z e s deutlich, der im Hinblick a u f die A n t i k e n r e z e p t i o n innerhalb der atlantischen I d e e n g e s c h i c h t e d e s 18. Jahrhunderts n o c h nicht k o n s e q u e n t berücksichtigt w o r d e n ist: Es sind n ä m l i c h gerade die U m d e u tungen antiker Ideen, die B r ü c h e und „Verzerrungen", die damit in d e n Mittelpunkt d e s Interesses rücken. N o c h D e n n i s H a n n e m a n n schreibt in seiner 2 0 0 8 e r s c h i e n e n e n Dissertation, neueren Arbeiten sei e s g e l u n g e n , „ d i e k l a s s i s c h e A n t i k e als e i n e e i g e n s t ä n d i g e , i d e e n g e s c h i c h t l i c h s i g n i f i k a n t e Tradition im revolutionären A m e r i k a zu etablieren, deren Wirkmacht nicht, Humanismus und seine Rolle im anglo-amerikanischen Denken, in: ders., Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Frankfurt am Main u. a. 1993, 33-59. Das Konzept des .,civic humanism" findet sich zuerst bei Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. 2. Aufl. Princeton, N. J. 1966 [I. Aufl. 1955], 13 Vgl. etwa Quenlin Skinner, Augustan Party Politics and Renaissance Constitutional Thought, in: ders., Vision of Politics. Vol. 2: Renaissance Virtues. Cambridge 2002, 344367, hier bes. 355-364; Robert E. Shalhope, Toward a Republican Synthesis: The Emergence of an Understanding of Republicanism in American Historiography, in: William and Mary Quarterly, 3rd Series 29, 1972,49-80; ders.. Republicanism and Early American Historiography, in: William and Mary Quarterly, 3rd Series 39, 1982, 334-356; sowie zusammenfassend Mark Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 3: Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung. München/Zürich 1985, 275-352, hier 330-333; und Daniel T. Rodgers, Republicanism: the Career of a Concept, in: JAmH 79, 1992, 11-38. 14 Vgl. den Beitrag von Wilfried Nippel in diesem Band sowie seine früheren Aufsatze: Wilfried Nippel, „Klassischer Republikanismus" in der Zeit der Englischen Revolution. Zur Problematik eines Interpretationsmodells, in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Antike in der Moderne. (Xenia, Bd. 15.) Konstanz 1985, 211-224; ders., Bürgerideal und Oligarchie. „Klassischer Republikanismus" aus althistorischer Sicht, in: Helmut G Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 11.) München 1988, 1-18.
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w i e d i e . S c h u l e ' B a i l y n s i m m e r w i e d e r postuliert hatte, als S e k u n d ä r p h ä n o m e n der in A m e r i k a v e r m e i n t l i c h d o m i n a n t e n b r i t i s c h e n W h i g - L i t e r a t u r z u betrachten s e i , s o n d e r n a u f der u n m i t t e l b a r e n R e z e p t i o n der k l a s s i s c h e n Literatur g r ü n d e " . 1 5 D a m i t rekurriert H a n n e m a n n e r n e u t a u f d i e z w e i s i c h v e r m e i n t l i c h g e g e n s e i t i g a u s s c h l i e ß e n d e n Interpretationsansätze, n ä m l i c h einer unmittelbaren Antikenrezeption mit beträchtlichem Einfluss auf die a m e r i k a n i s c h e n D e n k w e l t e n a u f der e i n e n und e i n e s nur s e k u n d ä r e n , a m R a n d e der R e z e p t i o n britischer W h i g - o d e r C o u n t r y - I d e e n s t e h e n d e n A n t i k e r e k u r s e s a u f der a n d e r e n S e i t e . D e m ersten A n s a t z ist s e i n e r M e i n u n g n a c h der V o r z u g z u g e b e n . 1 6 D i e s e S i c h t w e i s e e r w e i s t s i c h z u n e h m e n d als S a c k g a s s e . D i e s gilt erst e n s , w e i l d i e n e u e r e F o r s c h u n g d i e D i v e r s i t ä t und V i e l s c h i c h t i g k e i t d e s p o litischen D e n k e n s im a n g e l s ä c h s i s c h e n atlantischen Raum hervorgehoben h a t . 1 7 Innerhalb e i n e r s o l c h e n e r w e i t e r t e n P e r s p e k t i v e kann e s n i c h t m e h r 15 Hannemann. Antike (wie Anm. I), 11 f. Ähnlich auch Bederman, Foundations (wie Anm. 6), IX, der das Ziel formuliert, den direkten Einfluss der Antike auf die amerikanische Verfassung nachzuweisen, um so einer modernistischen Interpretation entgegenzuwirken. 16 Hannemann, Antike (wie Anm. I), 83, beruft sich dabei auf Jonathan C D. Clark. The Language of Liberty 1660-1832. Political Discourse and Social Dynamics in the AngloAmerican World. Cambridge 1994, 20-29. Clark legt dar, dass englische Whig-Literatur nur dann in Amerika breiter rezipiert worden sei, wenn sie konfessionellen Charakter besessen habe. Dagegen seien rein politisch orientierte Texte, wie die „Cato's Letters" von Trenchard und Gordon in Amerika kaum gelesen worden. Clark begründet diese Auffassung mit dem angeblichen Fehlen von Nachdrucken. Diese Behauptung ist im Falle von Trenchard und Gordon schlichtweg nicht zutrefTend; vgl. dazu Heather E. Barry, A „Dress Rehearsal" for Revolution. John Trenchard and Thomas Gordon's Works in Eighteenth-Century British America. Lanham u. a. 2007. Doch auch davon abgesehen ist der Verweis auf fehlende Nachdrucke kein plausibles Argument für eine fehlende Rezeption. In Großbritannien gedruckte Bücher waren in nordamerikanischen Bibliotheken sehr wohl verfügbar, und zahlreiche Privatleute bestellten sich Bücher über Londoner Buchhändler; vgl. dazu etwa William Gribbin, Rollin's Histories and American Republicanism, in: William and Mary Quarterly, 3rd Series 29, 1972, 611-622, hier 612 f. Zur Verfügbarkeit englischer politischer und historischer Werke in amerikanischen Bibliotheken vgl. die Auflistung bei Colbourn, Lamp of Experience (wie Anm. 10), 199-232. 17 Vgl. Clark, Language of Liberty (wie Anm. 16); James T. Kloppenberg, The Virtues of Liberalism: Christianity, Republicanism, and Ethics in Early American Political Discourse, in: JAmH 74, 1987, 9 - 3 3 ; Isaac Kramnick, The Ideological Background, in: Jack P. Greene (Ed ), A Companion to the American Revolution. Oxford 2005, 88-93; sowie mit Fokus auf den Liberalismus als Gegenkonzept zum Republikanismus Joyce Appleby. The Social Origins of American Revolutionary Ideology, in: JAmH 64, 1978, 935-958; dies.. Capitalism and a New Social Order. The Republican Vision of the 1790s. New York 1984; dies.. Republicanism and Ideology, in: American Quarterly 37, 1985, 461 - 4 7 3 ; John P Diggins, The Lost Soul of American Politics. Virtue, Self-interest, and
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allein d a r u m g e h e n , d e n U m f a n g d e s a n t i k e n E i n f l u s s e s g e g e n ü b e r d e m britischen W h i g - D e n k e n zu b e s t i m m e n , sondern e s m u s s v i e l m e h r u m die Frage g e h e n , w e l c h e F u n k t i o n der A n t i k e r e k u r s in v e r s c h i e d e n e n K o n t e x t e n und in B e z u g a u f v e r s c h i e d e n e P o s i t i o n e n hatte. U n d z w e i t e n s l a s s e n der s o g e n a n n t e „cultural t u m " u n d g e r a d e a u c h d i e m e t h o d i s c h e n A n r e g u n g e n der A n s ä t z e v o n P o c o c k , S k i n n e r und a n d e r e n o f t unter d e m S c h l a g w o r t der „ C a m b r i d g e S c h o o l " 1 8 z u s a m m e n g e f a s s t e n A u t o r e n d e n S c h l u s s zu, d a s s d i e Frage n a c h d e m U m f a n g d e s a n t i k e n E i n f l u s s e s a u f d a s a m e r i k a n i s c h e p o l i t i s c h e D e n k e n g r u n d s ä t z l i c h f a l s c h g e s t e l l t ist. P o c o c k e t w a hat s e i n e n A r b e i t e n d a s K o n z e p t d e r p o l i t i s c h e n S p r a c h e n z u g r u n d e g e l e g t . Er g e h t d a v o n aus, d a s s s i c h d a s p o l i t i s c h e D e n k e n e i n e r Z e i t i n n e r h a l b b e s t i m m t e r D e n k r a h m e n u n d K o n v e n t i o n e n a b s p i e l t e , d i e s i c h i m L a u f e der Zeiten wandelten. D i e s e Denkrahmen bestimmten das politische Vokabular, d a s in d e n D i s k u r s e n v e r w e n d e t w u r d e . 1 9 W i e b e i M i c h e l F o u c a u l t 2 0 s i n d a u c h bei P o c o c k d i e s e p o l i t i s c h e n S p r a c h e n in g e w i s s e m S i n n e f e s t the Foundation of Liberalism. New York 1984. Einen Ausweg aus dem Gegensatz zwischen republikanischer Tugend und liberalem Eigeninteresse bietet Shelley Burtt, die zwischen politischen Bürgertugenden mit öffentlicher Orientierung und solchen mit privater Orientierung unterscheidet; Shelley G Burn, Virtue Transformed. Political Argument in England, 1688-1740. Cambridge 1992, 8 - 1 0 . 18 Zu dieser, freilich keineswegs homogenen Gruppe ideengeschichtlich ausgerichteter Historiker und Politologen vgl. Günther Lottes, „The State of the Art": Stand und Perspektiven der „intellectual history", in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift fur Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Paderborn 1996, 27^15; Eckhart Hellmuth/Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain. Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, 149-172; Olaf Asbach, Von der Geschichte politischer Ideen zur „history of political discourse"? Skinner, Pocock und die „Cambridge School", in: Zeitschrift fur Politikwissenschaft 12, 2002, 537 -669; sowie die knappen Skizzen bei Luise Schom-Schiitte, Neue Geistesgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. 2. Aufl. Göttingen 2006, 270-280; Iain Hampsher-Monk, Neuere angloamerikanische Ideengeschichte, in: Eibach/Lottes (Hrsg.), Kompass (wie Anm. 18), 293-306. " Vgl. hierzu insbesondere John G A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century. A Reissue with a Retrospect. Cambridge u.a. 1987; ders., The Concept of a Language and the metier d'historien. Some Considerations on Practice, in: Anthony Pagden (Ed.), The Languages of Political Theory in Early-Modem Europe. (Ideas in Context, Vol. 4.) Cambridge 1987, 19-38. Pococks Ansatz wird auch erläutert bei Asbach, Geschichte politischer Ideen (wie Anm. 18). 646-650; Hellmuth/Ehrenstein, Intellectual History (wie Anm. 18), 157-160. Vgl. besonders Michel Foucault, L'Archéologie du savoir. Paris 1969; ders.. L'ordre du discourse. Leçon inaugural au Collège de France prononcée le 2. décembre 1970. Ndr. Paris 2005. Vgl. einführend zu Foucault auch Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg 2008; Ulrich J. Schneider, Michel Foucault. Darmstadt 2004; sowie allgemeiner zur Diskursanalyse Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse. 11
gelegt, d. h. politische Ziele wurden vorwiegend in der jeweils dominierenden politischen Sprache und ihrem Vokabular ausformuliert. Durchaus in eine ähnliche Richtung weisen auch die Überlegungen von Quentin Skinner, der insbesondere nach der argumentativen Verwendung bestimmter Konzepte fragt. Anknüpfend an die „speech act"-Theorie des Sprachphilosophen John A. Austin geht Skinner davon aus, dass jede Äußerung neben ihrer inhaltlichen Bestimmung über eine Handlungsebene verfugt. Sprachliche Äußerungen seien stets auch Handlungen mit einem bestimmten Zweck, einer bestimmten Intention, die es neben der inhaltlichen Ebene zu entschlüsseln gelte. 2 1 Ob es freilich realistisch ist, tatsächlich die Intentionen einzelner Sprecher ermitteln zu können, ist fraglich. Sicher ist jedoch, dass davon ausgegangen werden muss, dass Sprecher sich aus einem Fundus möglicher Äußerungsformen bedienten, um Wirkung zu erzielen. Auf der anderen Seite gilt es, sich eines vor Augen zu stellen: Rom war - in der neuzeitlichen Wahrnehmung sowohl als ,Republik' als auch als .Kaiserreich' die paradigmatische Staatsform schlechthin, so wie die griechische Staatsphilosophie prägend für die Entwicklung eines Instrumentariums zur Analyse von Staatsformen wurde. 2 2 Die politische Sprache der Neuzeit ist als ein Rezeptionsphänomen - bzw. als „Verargumentierung" - zu betrachten, das mit jeweils zeitgenössischen Konnotationen bedacht und aufgeladen wurde. Will sagen: Man verwandte das sprachliche Gerüst der Antike wegen ihrer paradigmatischen Stellung im Bildungsgang der Eliten. Die gebrauchte Terminologie wies und weist bis heute nicht die antiken Begriffsinhalte auf. Jene waren übrigens schon in der Antike alles andere als einheitlich besetzt: Der Demokratiebegriff des am Ende des fünften vorchristlichen Jahrhunderts stammenden Vaters der Geschichtsschreibung Herodot als Herrschaft des aus wehrfähigen, männlichen Vollbürgern bestehenden Staatsvolkes unterscheidet sich zum Beispiel wesentlich von dem des im frühen 3. Jh. n. Chr. lebenden und wirkenden Cassius Dio, der hiermit die Herrschaft des Senats in der römischen Republik meinte. 2 3 (Historische Einführungen, Bd. 4.) Frankfurt am Main 2008; Robert Jütte, Diskursanalyse in Frankreich, in: Eibach/Lottes (Hrsg.), Kompass (wie Anm. 18), 307-317. 21 Vgl. besonders Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: ders., Visions of Politics. Vol. 1: Regarding Method. Cambridge 2003, 57-89; sowie ders., Interpretation and the Understanding of Speech Acts, in: ebd. 102-127. Dazu auch Asbach, Geschichte politischer Ideen (wie Anm. 18), 642-645; Hellmuth/Ehrenstein, Intellectual History (wie Anm. 18), 153-159. 22 Wie wenig die Römer selbst staatsphilosophische Modelle schufen, zeigt der Beitrag von Bernhard Linke im vorliegenden Band. 23 Es existiert freilich eine Vielzahl komplexer Bedeutungen des bzw. von Konnotationen 12
Schon Bernard Bailyn hat d a r a u f h i n g e w i e s e n , dass die klassischen Autoren im Amerika des 18. Jahrhunderts nur sehr selektiv rezipiert wurden. Im Wesentlichen, so Bailyn, habe es sich um Texte gehandelt, die sich auf die Spätphase der römischen Republik bezogen hätten und die größtenteils aus der Feder von Autoren stammten, die in nostalgischer Rückschau die Tugendhaftigkeit früherer R ö m e r lobend hervorgehoben hätten. 2 4 Dies gilt freilich nicht nur für Amerika im 18. Jahrhundert. Vielmehr handelt es sich bei dieser ,selektiven Wahrnehmung' um ein Phänomen, das bis heute seine Geltung hat, stehen doch bei der Auswahl der von Schülern zu lesenden Autoren nicht zwangsläufig Inhalte im Vordergrund, sondern Bildungstraditionen, die hinsichtlich der Autoren, die in der Schule gelesen wurden, bis in die Antike zurückreichen. Die Konzentration in den Grammatikschulen auf Cicero und Vergil ist zunächst und vor allem auf ein sprachliches Werturteil gegründet 2 5 , das kein amerikanisches Spezifikum war, sondern eine Praxis, die aus Europa importiert wurde. So erinnert die Liste der in Kolonien auf verschiedenen Bildungsniveaus behandelten antiken Autoren an den schon in der Antike bestehenden Kanon. Selbiges gilt beispielsweise für den Unterricht beim Grammatiker im kaiserzeitlichen Rom; hier wurde insbesondere Cicero, später als Vertreter der goldenen Latinität betrachtet, gelesen oder auch Vergil, der als Krönung der lateinischen Dichtung galt. Unter den Historiographen ist schon in dieser Zeit insbesondere Sallust traktiert worden. 2 6 Da in der Ausbildungsstufe beim Rhetor historische Sujets auf dem Programm standen, hatten die Historiographen neben den theoretischen Schriften eines Cicero hier besondere Bedeutung. Dies wiederzum griechischen Begriff demokratia: vgl. nur Moses /. Finley, Democracy Ancient and Modem. London 1973; vgl. insbesondere den Überblick von Hans Klofi, Die athenische Demokratie. Standpunkte und Kontroversen, in: Vera V. Dement'eva/Tassilo Schmitt (Hrsg.), Volk und Demokratie im Altertum. (Bremer Beiträge zur Altertumswissenschaft, Bd. 1.) Göttingen 2010, 31-52; sowie Claudia Horst, Zur politischen Funktion des DemokratiebegrifTs in der Kaiserzeit. Eine Interpretation der Reden des Agrippa und des Maecenas (Cassius Dio 52, 1 —41). in: Dement'eva/Schmitt (Hrsg.), Volk (wie Anm. 23), 1 89-208. 34 Bailyn, Origins (wie Anm. 10), 25. 35 Vgl. dazu Richard, Founders (wie Anm. 1), 13. 26 Vgl. dazu Henri I Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum. Freiburg/München 1957,406-407. Den genannten Autoren wäre noch der Komödien-Autor Terenz als vierter Klassiker des Unterrichts beim grammalicus hinzuzufügen. Die Zählebigkeit der Bildungskonzepte zeigt schon eine Betrachtung des Schulwesens im römischen Nordafrika: vgl. Konrad Rössing, Schule und Bildung im Nordafrika der Römischen Kaiserzeit. (Collection Latomus, Vol. 238.) Brüssel 1997, 367-380. Siehe ferner Stanley F. Bonner, Education in Ancient Rome. From the Eider Cato to the Younger Pliny. London 1977, 212-287.
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um gilt insbesondere für Livius 27 , der sich folgerichtigerweise auch auf der Lektüreliste von Colleges im kolonialen Amerika befindet. 28 Dadurch wie auch durch Bailyns Überlegungen zur selektiven Wahrnehmung römischer Literatur wird deutlich, dass hier eine ganz bestimmte Betrachtungsweise der römischen Republik rezipiert wurde. Es stellt sich indes die Frage, ob diese Texte aus einer Bildungstradition rezipiert wurden oder bewusst als historische Exempel ausgewählt wurden, wobei sich wohl eher Argumente für Ersteres finden lassen. Aus dieser Beobachtung geht indes bereits deutlich hervor, dass amerikanische Leser des 18. Jahrhunderts selbstredend nicht ohne Vorbelastung an die antiken Texte herangingen. Vielmehr standen sie in einer langen, ins europäische Mittelalter zurückreichenden Tradition der Rezeption des zunächst v. a. römischen, dann auch griechischen antiken Erbes. 29 Es geht also gerade nicht um die Alternative, ob amerikanische Leser die antiken Texte gelesen haben oder „nur" neuzeitliche Texte, die ihrerseits Antikerekurse beinhalteten. Es geht vielmehr darum, dass zumeist beides der Fall war und dass ihre kulturelle Prägung ihnen in hohem Maße das Verständnis der von ihnen rezipierten Texte vorgab. Wenn antike Autoren gelesen wurden, dann geschah dies eben aus einem Blickwinkel heraus, der von zahlreichen Einflüssen und Faktoren, insbesondere den aus dem Mittelalter, dem Renaissance-Humanismus und der Aufklärung hervorgegangenen Traditionen des Umgangs mit dem antiken Erbe, vorgegeben war. Hinzu tritt ein weiterer Gesichtspunkt, der freilich noch zukünftiger Forschung bedarf, nämlich die Tatsache, dass die antiken Texte nicht allein im Original wahrgenommen wurden, sondern auch in Übersetzungen und damit bereits in einer interpretierten Form. Die hohe Bedeutung des Plutarch im England des 18. Jahrhundert dürfte ohne die 1579 durch Thomas North erfolgte Übersetzung, die übrigens auf der französischen Übersetzung aus der Feder von Jacques Amyot beruhte 30 , nicht denkbar sein. 31 Es handelt sich dabei also um eine Rezeption der Rezeption der Rezeption. 27
Vgl. Bonner, Education (wie Anm. 26), 285 f. Vgl. Richard, Founders (wie Anm. 1), 20. 29 So immerhin auch Bederman, Foundations (wie Anm. 6), 2. Vgl. etwa zur Rom-Rezeption im M ittelalter Johannes Fried, Imperium Romanum. Das römische Reich und der mittelalterliche Reichsgedanke, in: Millennium 3, 2006, 1-42. 3» Vgl. Barbara Kuhn-Chen, Art. „Plutarchos", in: DNP, Suppl. 2, 2007, 489-493, hier 490. 31 Vgl. zu dieser hohen Bedeutung Susanne Gippert, The Poet and the Statesman: Plutarchan Biography in Eighteenth Century England, in: Lukas De Blois/Jeroen BonsyTon Kessels/Dirk M. Schenkeveld (Eds ), The Statesman in Plutarch's Works. Proceedings of 28
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Nicht mehr nur die Frage, welche antiken Texte gelesen wurden und welchen Einfluss sie hatten, ist also entscheidend, sondern die Frage, wie sie gelesen wurden, welche Denktraditionen und Vorstellungsmuster die Lektüre beeinflussten und in welchem Verhältnis dieser Rezeptionsvorgang zu den politischen Diskursen und Sprachen der Zeit stand. Eben dies wird in einer Reihe von Beiträgen des vorliegenden Bandes deutlich. So weisen sowohl Wemer Heun als auch Mathias Hanses ganz explizit auf die vielfach gebrochenen und mittelbaren Rezeptionswege hin. Dabei konnte Antike j e nach argumentativer Absicht sowohl als positives Vorbild oder als negatives und abschreckendes Exempel verwendet werden. Gerade hinsichtlich der Denktraditionen und Lesegewohnheiten lassen sich auch beträchtliche Unterschiede zwischen einzelnen Personen feststellen, wie Jürgen Overhoff anhand der Beispiele Benjamin Franklin und John A d a m s aufzeigen kann. 3 2 Ganz deutlich wird diese starke Traditionsabhängigkeit auch bei der Rezeption und Konstruktion konkreter normativer Modelle, seien es nun das Modell „Sparta" oder die Tugendpersonifikationen Cato Uticensis und Cincinnatus. 3 3 Gerade bei den Figuren Cato und Cincinnatus wird die Abhängigkeit von britischen Diskurszusammenhängen deutlich, aber auch die Weiterentwicklung der Modelle im Sinne der argumentativen Bedürfnisse in Nordamerika während der Auseinandersetzung mit dem Mutterland. Dass die Figuren selbst schon in der Antike Ambiguitäten aufwiesen und gerade dadurch durchaus unterschiedliche Anknüpfungspunkte boten, will sagen: Selbst in der Antike gab es nicht ,den Cato' oder ,den Cincinnatus', sondern diese historischen Exempla konnten j e nach zeitlichem Kontext, Intentionalität des jeweiligen Autors und seiner Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern mit verschiedenen Inhalten aufgeladen werden. Dies zeigen beispielhaft die Beiträge von Boris Dunsch und Kai Ruffing. Einen wesentlichen Wendepunkt für die Verargumentierung dieser Exempel bildete die augusteische Zeit. Dieselbe wurde nicht etwa als etwas Neues in Szene gesetzt, sondern als Rückkehr zu den Sitten der Vorfahren, also zum mos maiorum. Zentral war in dieser Darstellung das Schlagwort der virtus - mit dem deutschen Wort „Tugend" nur unzureithe Sixth International Conference of the International Plutareh Society Nijmegen/Castle Hemen, May 1-5, 2002. Vol. I: Plutarch's Statesman and His Aftermath: Political, Philosophical, and Literary Aspects. (Mnemosyne, Suppl.-Vol. 250/1 ) Leiden/Boston 2004, 307-314. 52 Auf ähnliche Unterschiede weist Werner Heun in seinem Beitrag im Vergleich zwischen John Adams und Thomas Paine hin. 33 Vgl. die Beiträge von Volker Losemann, Thomas Clark und Ulrich Niggemann in diesem Band. 15
chend wiederzugeben. Dieser vi>/iis-Begriff aber im Verbund mit dem Bild einer moralischen Dekadenz der „Römischen Republik" und der daraus resultierenden Konstruktion, die Frühzeit derselben habe Personen mit wahrhafter virtus gekannt, bot Anknüpfungsmöglichkeiten gerade in Staatswesen, die wesentlich von einer Elite getragen wurden, die sich selbst als Erbe der römischen Meritokratie stilisieren konnte. Die Faszination des römischen Exempels beruhte damit auf den zeitgenössischen Kontexten, die wiederum in die Antike reprojiziert wurden. Entscheidend für den Rekurs auf die Antike im Amerika des 18. Jahrhunderts ist damit, dass die einzelnen Sprecher Mitglieder einer „Diskursgemeinschaft" waren und sich somit eines gemeinsamen Vokabulars bedienten. Das heißt nun freilich nicht, dass stets Einigkeit über die inhaltliche Füllung des verwendeten Vokabulars geherrscht hätte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Schlüsselbegriffe ebenso wie narrative Muster u m k ä m p f t sein konnten und sich somit in ihnen die politischen Verwerfungen der Zeit spiegeln. 3 4 Antikerekurse konnten also durchaus unterschiedlichen Positionierungen dienen, was gerade auch in den Debatten zwischen „Federalists" und „Anti-Federalists" im Kontext der Ratifizierung der USVerfassung deutlich wird. 3 5 In diesem Sinne zielt der vorliegende Band auch auf eine Neuausrichtung der Diskussion um die Rezeption von Antike in der Neuzeit. Der im Titel des vorliegenden Bandes verwendete Begriff der „Verargumentierung" soll eben die in der Aneignung von Antike zu beobachtende Dynamik zum Ausdruck bringen. Im Kern handelt es sich um ein Diskursphänomen, weil die Verwendung von Antike als Argument in laufenden Debatten einerseits einer konkreten Diskurssituation geschuldet ist, andererseits jedoch auf den Diskurs, verstanden als j e d e m Sprechakt vorgelagerte Denkstruktur, zurückwirkt. 3 6 Der Begriff der „Verargumentierung" meint in diesem Kontext einen spezifischen Vorgang, nämlich den Prozess, in dem Texte, Bilder und Vorstellungen angeeignet und argumen-
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Kevin Sharpe, Selling the Tudor Monarchy. Authority and Image in Sixteenth-Century England. New Häven, Conn. 2009, 24-26, 50; Karl T. Winkier, Wörterkrieg. Politische Debattenkultur in England 1689-1750. Stuttgart 1998, 5-7, 22; und mit Akzent auf den NormenbegrifT Volker Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Argumentationsgeschichtliche und herTSchaftstheoretische Zugänge zur politischen Kultur der frühen Neuzeit. (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 12.) Epfendorf am Neckar 2005, 17 f. Vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Clark in diesem Band. 35
So etwa in den Beiträgen von Mathias Hanses und Thomas Clark. Vgl. dazu die gelungene Einführung von Landwehr, Diskursanalyse (wie Anm. 20), 20-24. Außerdem Pocock, Concept (wie Anm. 19). 20. 36
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tativ v e r w e n d e t w e r d e n . 3 7 Interessant ist in dieser Perspektive gerade d i e e t w a v o n Mathias H a n s e s oder v o n W e m e r Heun h e r v o r g e h o b e n e Tatsac h e , dass die B e d e u t u n g v o n Antikerekursen eher a u f der E b e n e der R h e torik als einer
w i e auch immer zu f a s s e n d e n - „ r e a l g e s c h i c h t l i c h e n " E b e -
ne zu s u c h e n ist. Ein erster Schritt zu einer s o l c h e n „ a r g u m e n t a t i o n s g e s c h i c h t l i c h e n " 3 8 U n t e r s u c h u n g v o n Antikerekursen in d e n frühen U S A ist d i e Herausarbeitung der Bilder und Vorstellungen, die m a n sich im A m e r i k a d e s 18. Jahrhunderts v o n der Antike machte. D i e A n t i k e ist e b e n nicht ein p o s i t i v i s t i s c h greifbarer, unveränderlicher G e g e n s t a n d , den man im A m e r i k a der R e v o lutionszeit schlicht und einfach aufgriff. V i e l m e h r besteht sie in e i n e m Corpus v o n
nicht nur schriftlich zu v e r s t e h e n d e n - Texten und materiellen
Überresten, die grundsätzlich o f f e n für g a n z unterschiedliche Z u g ä n g e und Interpretationen sind. Rezeption ist daher als d y n a m i s c h e r und aktiver A n e i g n u n g s p r o z e s s zu v e r s t e h e n 3 9 , der z u d e m - w i e bereits P o c o c k g e z e i g t hat - nicht e i n f a c h a u f die zu rezipierenden Bilder und Texte unmittelbar zugreift, sondern dieser Zugriff ist - w i e bereits ausgeführt - selbst v o n v o r h e r g e h e n d e n R e z e p t i o n s v o r g ä n g e n und d e m e i g e n e n zeitlichen K o n t e x t a b h ä n g i g . Wir haben e s also mit R e z e p t i o n e n v o n R e z e p t i o n e n zu tun, mit v i e l s c h i c h t i g ineinander verschachtelten Vorgängen, ein A s p e k t , der tibri-
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In diesem Sinne ist „Verargumentierung" wohl auch gemeint bei Frank Bücher, Verargumentierte Geschichte: Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik. (Hermes, Bd. 96.) Stuttgart 2006. IH Begriff der Argumentationsgeschichte bei Heiner Schultz. BegrifTsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: Reinhard Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und BegrifTsgeschichte. (Sprache und Geschichte, Bd. 1.) Stuttgart 1979, 43-74; und Seresse, Normen (wie Anm. 34), 17 f. ,9 Zu neueren Ansätzen der Rezeptionstheorie, die sich weniger auf Werkimmanenz und Autorenintention konzentriert als auf die Rezeptionssituation des Lesers, vgl. einführend Tina Simon, Rezeptionstheorie. Einführungs- und Arbeitsbuch. (Leipziger Skripten, Bd. 3.) Frankfurt am Main u. a. 2003; und Charles Marlindale, Reception, in: Craig W. Kallendorf (Ed.). A Companion to the Classical Tradition. Maiden, Mass. 2007, 297311. Wegweisend für die moderne Rezeptionstheorie war die sogenannte Konstanzer Schule, namentlich Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser; vgl. die berühmte Antrittsvorlesung von Hans R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, 126-162; Wolfgang Iser, Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive, in: Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, 253-276; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976; sowie dazu Jörn Stückrath, Historische Rezeptionsforschung. Ein kritischer Versuch zu ihrer Geschichte und Theorie. Stuttgart 1979, 116-127. Außerdem zum Vorgang der Rezeption Sharpe, Selling the Tudor Monarchy (wie Anm. 34), 5, 22-26.
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gens auch in der Architektur deutlich wird, indem hier antike Formen in bereits durch die Renaissance und den europäischen Klassizismus gebrochenen und vermittelten Weisen aufgegriffen, zugleich jedoch in durchaus kreativer Weise weiterentwickelt wurden. 40 Als ein zentrales Ergebnis des vorliegenden Bandes ließe sich also formulieren: Antikerekurse und britisch-whiggistische Einflüsse sind gerade kein Gegensatz, sondern gehören zusammen. Die Antike wurde im Amerika des 18. Jahrhunderts eben im Sinne langfristiger europäischer, insbesondere britischer Denktraditionen interpretiert und rezipiert; sie wurde sozusagen durch die „Whig-Brille" und im Sinne eines auf die Antike zentrierten Bildungsideals gelesen - vielleicht aber auch noch durch ganz andere Brillen, wobei der Fokus des vorliegendes Bandes primär auf dem britisch-nordamerikanischen Diskurszusammenhang liegt, obwohl den Herausgebern und Autoren sehr wohl bewusst ist, dass auch andere Einflüsse - etwa der französischen Aufklärung - für die nordamerikanische Diskussion eine wichtige Rolle spielten. Eben weil die langfristigen Traditionen der Antikerezeption so wichtig waren, muss sehr sorgfältig untersucht werden, welche Bilder man sich in Amerika von der Antike machte, wie man Antike imaginierte, welche Funktionen die Rekurse in der politischen Debatte einnahmen und welche politischen Positionen mit ihnen vertreten werden konnten. Konstruktion und „Verargumentierung" sind dabei nicht als zwei voneinander getrennte Vorgänge zu betrachten, sondern als Einheit, die sowohl unreflektiert und unbewusst als auch bewusst und intentional gedacht werden kann. Auf diesem Wege lässt sich nicht nur etwas über Rezeptionsvorgänge und Antikekonstruktionen lernen, sondern eben auch eine ganze Menge über die ideengeschichtlichen Dimensionen der Amerikanischen Revolution und der frühen US-Republik, deren Nachwirkungen neben anderen - insbesondere religiös-evangelikalen Einflüssen 41 - bis in die politische Sprache der Gegenwart spürbar sind. Das bedeutet aber auch, dass wir bei der Betrachtung der Antikebilder in Amerika immer wieder nach Europa und insbesondere nach Großbritannien zurückkehren müssen, um Herkunft, aber auch Wandlungen dieser Bilder angemessen er40
Vgl. den Beitrag von Torsten Mauern in diesem Band. Zu den politischen Vorstellungen des Puritanismus vgl. Timothy H. Breen, The Character of the Good Ruler. A Study of Puritan Politicai Ideas in New England 1630-1730. New York 1974; und zum Evangelikaiismus des „Great Awakening" im 18. Jahrhundert Alan Heimerl, Religion and the American Mind. From the Great Awakening to the Revolution. Cambridge, Mass. 1966; Frank Lambert, Inventing the „Great Awakening". Princeton, N. J. 1999; und Thomas S. Kidd, The Great Awakening. The Roots of Evangelica! Chnstianity in Colonial America. New Häven, Conn. 2007. 41
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fassen zu können. Schließlich ist sogar in der Antike selbst anzusetzen, denn die Antike ist eben - wie erläutert - nicht als Einheit zu betrachten, sondern in ihr fanden bereits umfangreiche Rezeptions- und Konstruktionsprozesse statt, die man im Falle der Historiographie unter dem Stichwort der „intentionalen Geschichtsschreibung" subsumieren kann. 42 Schon die antiken Figuren, Bilder und Texte selbst sind somit vielschichtig und bieten einen äußerst differenzierten Pool von Bedeutungen, die in der Neuzeit in ganz unterschiedlicher Weise aufgegriffen werden konnten. 43 Diesem Umstand versucht der vorliegende Band gerecht zu werden, indem immer wieder auch die innerantiken Rezeptionsvorgänge berücksichtigt werden. Nach einem kritischen Überblick von Wilfried Nippel über den „State of the art" im Hinblick auf das zentrale Paradigma einer auf der Antikenrezeption fußenden Betrachtung der Amerikanischen Revolution, den „klassischen Republikanismus", werden Phänomene der Antikerekurse in Nordamerika in drei - freilich ungleich gewichteten - Themenblöcken untersucht. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Frage nach der Übernahme antiker Staatskonzeptionen in den Debatten während und nach der Revolution, insbesondere im Kontext der Ratifizierung der US-Verfassung. Wie bereits angesprochen, wird hier vor allem eines deutlich: Obwohl auf einer „realgeschichtlichen" Ebene der direkte Einfluss antiker Konzepte eher gering ist, spielen Antikerekurse in sehr unterschiedlicher Weise eine enorme Rolle auf der Ebene des Diskurses. Dabei geht es eben nicht um die Alternative zwischen antiken Einflüssen oder europäisch-britischen Konzeptionen, sondern gerade um die Gemengelage, um die sehr dynamischen Rezeptionstraditionen, die wiederum ein Vokabular zur Verfugung stellten, das von Sprechern in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Intentionen genutzt werden konnte. Freilich kann Bernhard Linke zeigen, dass aufgrund einer außerhalb der Stadt Rom nur gering ausgebildeten Staatlichkeit und eines äußerst geringen Interesses der Landbevölkerung am Ämterapparat der Zentrale während der römischen Republik keine maßgeblichen idealstaatlichen Modelle entwickelt wurden, die der Verar42
Vgl. Hans-Joachim Gehrke, Mythos, Geschichte, Politik - antik und modern, in: Saeculum 45, 1994, 239-264; und ders., Was ist Vergangenheit? oder: Die .Entstehung' von Vergangenheit, in: Christoph Ulf (Hrsg.), Der neue Streit um Troja. Eine Bilanz. 2. Aufl. München 2004, 62-81. 43 Die Herausgeber eines neueren Sammelbandes sprechen mit Blick auf die klassischen Texte zu Recht auch von „Rohmaterial"; Veit Elm/Günther Lottes/Vanessa de Senarclens, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Die Antike der Moderne (wie Anm. 3), 7-10, hier 9.
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gumentierung in der Neuzeit hätten dienen können. Lediglich aus der Feder des griechischen Historikers Polybios lag eine Konzeptualisierung der römischen Republik vor, die freilich in der Neuzeit eine enorme Rezeption erfuhr. Jürgen Overhoff thematisiert darüber hinaus auch die Alternativen zum Antikerekurs, indem er am Beispiel Benjamin Franklins etwa auf die Modeilhaftigkeit des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation für die föderalstaatliche Verfassung der USA verweist. Ein zweiter Themenblock fragt nach der argumentativen Nutzung, nach der „Verargumentierung" konkreter Modelle, die insbesondere im Hinblick auf die Konstruktion einer amerikanisch-republikanischen „Tugend" in Abgrenzung zur britischen „Korruption" ideologisch genutzt werden konnten. Volker Losemann etwa erläutert die durchaus ambivalente Verwendung Spartas als Inbegriff republikanischer, aber auch militärischer Tugenden. Rekurse auf antike Tugendmodelle lassen sich, wie Marion Stange zeigt, auch in den revolutionären Association nachweisen. Sie dienten offenkundig dazu, eine amerikanische Identität zu stiften und den Widerstand gegen Großbritannien zu legitimieren. Schließlich werden zwei personale Modelle, Cato Uticensis und Cincinnatus, als Beispiele einer schon in der Antike einsetzenden durchaus divergierenden Erzähltradition vorgestellt. Beide Figuren spielten in der Neuzeit schon in den politischen Auseinandersetzungen in Großbritannien eine Rolle und wurden mit klarem Rekurs auf ihre britischen Figurationen in Amerika übernommen, konnten jedoch auch neue Funktionen annehmen, wie das Beispiel des Cincinnatus zeigt, der in seiner schließlichen Verschmelzung mit George Washington von einer Figur der Opposition zu einem staatstragenden und affirmativ-legitimierenden Modell transformiert wurde. Schließlich geht Torsten Mattern der Frage nach, inwieweit die Adaption und Weiterentwicklung antiker Architekturvorbilder einen politisch-republikanischen Stil ausprägte. Auch hier zeigt sich einerseits die Abhängigkeit von neuzeitlichen Vorbildern in Europa, andererseits aber auch die Weiterentwicklung in Amerika. Als Ergebnis lässt sich sicher festhalten, dass die Rezeption der Antike weitaus komplexer war als bisher oft angenommen. Ein bipolares Modell, das sich auf eine rezipierte Antike und eine rezipierende amerikanische Revolutionsepoche beschränkt, greift eindeutig zu kurz. Es lohnt sich daher, den Blick gerade auf die Rezeptionswege zu richten und nach den Rezeptionstraditionen zu fragen. Dabei wird vor allem eines deutlich: Die rezipierten Konzepte und Modelle veränderten sich im Laufe der Zeit - schon in der Antike selbst - und erhielten dadurch eine Vieldeutigkeit, die es 20
möglich machte, sie in sehr unterschiedlicher Weise argumentativ zu nutzen. Gerade diese Nutzung, diese „Verargumentierung" sollte daher stärker in den Fokus der Rezeptionsforschung rücken, denn erst dann lassen sich die Vorstellungen und Konstruktionen, die sich mit der Antike verbanden, genauer ermitteln und die jeweiligen politischen Positionierungen und rhetorischen Muster verstehen. Dabei geht es keineswegs darum, Transformationen als „Verfälschungen" einer vermeintlich objektiv gegebenen Antike anzusehen, sondern von einem aktiven und dynamischen Rezeptions- und Aneignungsprozess auszugehen. Die Amerikaner der Revolutionsepoche lassen sich so als „Diskursgemeinschaft" fassen, die über einen gemeinsamen Fundus an Konzepten und Argumenten verfügte, zu denen auch gemeinsam geteilte, aber durchaus veränderliche Vorstellungen von der Antike gehörten. Zu fragen sein wird künftig noch stärker nach den Konjunkturen von Antikerekursen, nicht nur in Nordamerika, sondern generell. Traten beispielsweise bestimmte Elemente besonders in Krisenzeiten auf? Weitaus stärker als bisher geschehen werden Antikebezüge als Chiffren, als Vokabeln innerhalb einer durchaus komplexen politischen Sprache zu verstehen sein, die einen prägenden Einfluss auf das Denken der Neuzeit hatte. Dabei ist es freilich keineswegs so, als habe die Frühe Neuzeit nur die Antike reproduziert. Wilfried Nippel und Werner Heun etwa weisen in ihren Beiträgen sehr eindrücklich auf die Differenzen zwischen antiken und (früh-)modernen Denkmodellen hin. Doch Innovationen wurden in der Frühen Neuzeit vielfach mit einer rückwärts gewandten Sprache ausgedrückt, innerhalb derer der Antikerekurs eine wichtige Rolle spielte. 44 Dies änderte sich interessanterweise auch nicht grundsätzlich, nachdem die „Modernen" in der Querelle des Anciens et Modernes den Sieg davongetragen hatten. 45 Diese noch lange anhaltende Verwendung und „Verargumentierung" von Antike wirft dementsprechend die Frage nach den gewandelten Funktionen derselben auf. Schließlich stellt sich auf einer „Meta-Ebene" die bedeutende Frage nach der Standortgebundenheit des Historikers. So ist zu fragen, welchen Rezeptionstraditionen die Wissenschaft folgt und wie sie noch immer unseren Blick auf die Antike prägen. Inwieweit sind wir also selbst eingebun44
Zum Verhältnis von Tradition und Innovation sowie zur generellen Traditionsgebundenheit der Frühen Neuzeit vgl. demnächst die Beiträge in Christoph Kampmann/Katharina Krause/Eva-Bettina Krems/Anuschka Tischer (Hrsg.), Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbnich und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit. Köln/ Weimar/Wien (im Druck). 45 Elm/Lottes/de Senarclens, Einleitung (wie Anm. 43), 9.
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den in die Denkstrukturen und Traditionen, die wir untersuchen wollen? Damit ist letztlich die Frage aufgeworfen, inwieweit die Erforschung der Antike noch immer innerhalb von Mustern erfolgt, die auch von den Revolutionen des 18. Jahrhunderts - der französischen ebenso wie der amerikanischen - mitgeprägt wurden. 46 Dies ist freilich eine weiterfuhrende Frage, die im vorliegenden Band nicht mehr behandelt werden kann.
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Zum Antikerekurs in der Französischen Revolution vgl. Harold T. Parker, The Cult of Antiquity and the French Revolutionaries. A Study in the Development of the Revolutionary Spirit. New York 1965; und Martin Papenheim, Die Helden Roms und die Helden Frankreichs. Die Vaterlandsliebe in Antike und Französischer Revolution, in: Francia 21/ 2, 1994, 241-244.
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Klassischer Republikanismus in der frühen Neuzeit Kritische Nachfragen Von
Wilfried Nippel
Das Thema ist mir von den Veranstaltern angetragen worden. Es lässt sich in einem kurzen Text nicht angemessen behandeln; auch deshalb nicht, weil sich die Diskussion um dieses Konzept verselbständigt, dies aber nicht zur Klarheit über den damit zu erfassenden Sachverhalt geführt hat. Selbst wenn man die breite Diskussion über Hans Barons These vom Florentinischen Bürgerhumanismus 1 beiseite lässt und sich allein auf die Arbeiten beschränkt 2 , die sich mit den großen Entwürfen von John Pocock und Quentin Skinner auseinandersetzen bzw. diese anwenden und abwandeln, sieht man sich inzwischen einer Flut von Literatur gegenüber, die allenfalls noch von Spezialisten zu überschauen ist, zu denen ich nicht zähle. 3 Wenn mich aber meine Sicht von außen nicht trügt, dann ist in den letzten dreißig Jahren nicht klarer geworden, was man eigentlich unter „klassischem Republikanismus" zu verstehen hat und ob und wie er sich gegebenenfalls von anderen frühneuzeitlichen Republikanismen unterscheidet. Ein Blick in die beiden 2002 von Quentin Skinner und Martin van Gelderen herausgegebenen Bände „Republicanism. A Shared European Legacy" genügt, um diesen Eindruck zu gewinnen. Ich werde mich im Folgenden auf einige Bemerkungen zu Pocock und Skinner beschränken. Pocock verfolgte in „The Machiavellian Moment" (1975) und zahlreichen Aufsätzen die Dichotomie von virtus und corruptio 1 Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Princeton, N. J. 1955, 2. Aufl. 1966. Zur Entwicklung seiner Konzeption in den späten 1920er Jahren vgl. Klaus Große Kracht, „Bürgerhumanismus" oder „Staatsräson". Hans Baron und die republikanische Intelligenz des Quattrocento, in: Leviathan 29, 2001, 355-370, zur späteren Diskussion über seine These u.a. RonaldG Witt, The Crisis after Forty Years, in: AHR 101, 1996, 110-118. 2
Zur Anwendung auf England ist noch hervorzuheben Zera S. Fink, The Classical Republicans. An Essay in the Recovery of a Pattern of Thought in Seventeenth Century England. Evanston, 111. 1945. 3 Die Belege im Folgenden werden deshalb auf die erforderlichen Nachweise beschränkt.
im Vokabular der politischen Theorie, rekonstruierte die Tradition eines Bürgerstaates, der auf der Verknüpfung der Rollen von Bürger und Soldat basiert. Die angemessene Verfassungsordnung einer solchen Republik sei die Mischverfassung, die institutionelle Garantien gegen die Korrumpierungstendenzen biete. Soviel mit diesem Ansatz zweifellos erfasst wird, so leicht gerät damit auch aus dem Blick, welche Verschiebungen im Laufe der Diskursgeschichte von Aristoteles über Polybios und Cicero bis zu den Theoretikern der Renaissance, von dort bis zu Harrington, den Neo-Harringtonians und schließlich den amerikanischen Founding Fathers eingetreten sind - und ferner auch, wie leicht sich bestimmte Theoreme aus umfassenderen Konzeptionen politischer Philosophie lösen und deshalb in gänzlich unterschiedlichen Diskussions- und Problemzusammenhängen verwenden lassen. 4 Erörtern möchte ich diese Problematik am Beispiel Harringtons, der bei Pocock als entscheidender Vermittler zwischen der italienischen und der angloamerikanischen Rezeption der antiken Theorie gilt. Harrington hat mit „The C o m m o n w e a l t h of O c e a n a " 1656 einen Entwurf vorgelegt, der aus den Verfassungsexperimenten seit der Abschaffung des Königtums und der de facto-Herrschaft Cromwells herausfuhren und den Weg zu einem „immortal Commonwealth" zeigen sollte. Mit ungeheurer Detailfiille, die sowohl auf einer immensen Verarbeitungskapazität für historische Daten als auch auf ungewöhnlicher institutioneller Phantasie beruht, entwirft er ein politisches System, bestehend aus einem Zwei-Kammer-Parlament sowie zahlreichen Kollegialorganen und Ausschüssen, die die Exekutive bilden. Das Parlament setzt sich zusammen aus einem Senat mit dreihundert Mitgliedern, die auf Grund einer Zensusqualifikation gewählt werden und zugleich die „Natürliche Aristokratie" repräsentieren sollen, die es in jeder Gesellschaft gebe, sowie aus einer „populär assembly" mit 1050 Mitgliedern. Während der Senat Vorlagen erarbeiten soll, liegt die Entscheidung darüber ganz bei der anderen Kammer, die wiederum ohne jegliche Diskussion abstimmen soll. Für Harrington liegt in dieser Prozedur einer Trennung von „debating" und „resolving" die entscheidende Voraussetzung dafür, dass „ w i s d o m " und „interest" institutionell auf eine Weise verbunden werden können, die die Erzielung von Gemeinwohl gewährleistet. 4
Vgl. Wilfried Nippel, Bürgerideal und Oligarchie. „Klassischer Republikanismus" aus althistorischer Sicht, in: Helmut G Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 11.) München 1988, 1-18.
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Für alle öffentlichen Ämter wird die Bestellung durch indirekte, Wahlund Losvorgänge kombinierende Verfahren vorgenommen. Es gilt überall das Prinzip der Rotation, das durch kurze Amtsfristen, Beschränkung von Iteration, zeitliche Staffelung von Wahlen, durch die jeweils nur ein Teil der Amtsinhaber ausgetauscht werden, erreicht wird. Neben dem Vorbild Israels - dessen Bedeutung für sich schon ein Indiz gegen einen allein von der klassischen Antike inspirierten Republikanismus ist 5 - , Spartas und Roms ist es vor allem die Verfassung Venedigs, die Harrington insgesamt am stärksten für seine institutionellen Regelungen inspiriert hat. (Venedig hatte seit der florentinischen Diskussion des 16. Jahrhunderts die Vorbildfunktion der stabilen Republik übernommen, die in der Antike Sparta ausgeübt hatte). Praktisch alle Details seines Modells werden von Harrington als Übernahme, Neukonstruktion und möglichst Verbesserung der Institutionen der vorbildlichen antiken Republiken und Venedigs präsentiert. Dennoch scheint es mir problematisch, von Harrington als klassischem Republikaner par excellence zu sprechen, wenn damit auch eine Übernahme von Grundannahmen der antiken politischen Theorie gemeint sein soll, die über die Rezeption institutioneller Lösungen hinausgeht. Harringtons Überzeugung von der Notwendigkeit einer republikanischen Ordnung für England beruht nicht auf der Annahme einer naturgegebenen Disposition des Menschen zur politischen Gemeinschaft, die ihre Verwirklichung nur in Bürgerstaaten finden kann. Für ihn ist vielmehr eine bestimmte historische Theorie der entscheidende Ausgangspunkt. Eine Feudalmonarchie beruhe ökonomisch und militärisch auf der Unterstützung durch eine erbliche Aristokratie aus Grundbesitzern. Da sich seil den Tudors die Besitzverhältnisse unwiderruflich zugunsten des Volkes verschoben hätten, sei in England mit der Erbaristokratie auch die Monarchie historisch erledigt. „The dissolution of this government caused the war, not the war the dissolution of this government" 6 , lautet seine berühmte Formel für den Ausbruch des englischen Bürgerkriegs. Voraussetzung für eine stabile Republik ist für Harrington deshalb ein Agrargesetz, das erheblichen Verschiebungen in den Besitzverhältnissen
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Vgl. Anna Maria Slrumia, L'immaginazione repubblicana: Sparta ed Israele nel dibattito filosofico-politico dell'età di Cromwell. Turin 1991; Eric Nelson, „Talmudical commonwealthmen" and the Rise of Republican Exclusivism, in: HJ 50, 2007, 809-835. 6 The Politicai Works of James Harrington. Ed. by John G A. Pocock. Cambridge 1977, 198.
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vorbeugen soll - was tatsächlich einen Rekurs auf die römische Tradition darstellt. 7 Die rotierende Selbstregierung der Bürger hat bei Harrington nicht die Verwirklichung von Bürgeridentität zum Ziel, sondern die Ausschaltung jeglicher Möglichkeit von Machtmissbrauch. Entsprechend heißt es (unter Berufung auf Formulierungen bei Aristoteles und Livius), dass es sich hier um ein „government of laws, and not of men" handle. Dies bedeutet die Verhinderung von Politik als Mittel zur Bewältigung von Kontingenz und als Form des Ausgleichs von Interessen überhaupt. Es geht um die quasi automatische Produktion 8 von Gemeinwohl als Ergebnis ausgeklügelter institutioneller Arrangements: „The liberty of a commonwealth consisteth in the Empire of her Lawes". - „The spirit of the people is no wise to be trusted with their liberty, but by stated laws or orders; so the trust is not in the spirit of the people, but in the frame of those orders." - „In a commonwealth rightly ordered they (= the people) can have no other motion than according unto the orders of their commonwealth". 9 Das ist der Geist von Piatons Gesetzesstaat und die Übernahme des venezianischen KontrollSyndroms. Weil die Bürger nur die Funktion haben, vorgegebene Verfahren zu vollziehen, ist die eigentliche Crux der Gründungsakt, der zur Etablierung dieses perfekten Gemeinwesens fuhren muss. 10 Denn wenn man nicht auf eine tatsächliche Neukonstituierung des Gemeinwesens von unten (wie es die ,^Agreements of the People" vorgesehen hatten) setzen konnte oder wollt e " , dann blieb nur die Hoffnung darauf, dem tatsächlichen Machthaber also Cromwell - die Rolle eines Gesetzgebers nach dem Vorbild eines Lykurg oder Solon zuzuschreiben, der nach der Etablierung einer dauerhaften Ordnung seine eigene Macht wieder aufgibt. Der Aporie dieser Konstruktion 12 konnte Harrington nur dadurch ausweichen, dass er Oceana als Pro7
Vgl. Eric Nelson, The Greek Tradition in Republican Thought. Cambridge 2004, 87 ff. Ein späterer Harrington-Adept hat die ideale Verfassung bezeichnet als ein „piece of clockwork; and having such springs and wheels, must act after such a manner"; A Short History of Standing Armies, 1698, zitiert nach Blair Worden, English Republicanism, in: J . H . B u r n s / M a r k Goldie (Eds.), The Cambridge History of Political Thought 14501700. Cambridge 1991, 443^475, hier 465.
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Political Works of James Harrington (wie Anm. 6), 170, 737, 738. Ebd. 276: „As no man shall show me a commonwealth born straight that ever became crooked, so no man shall show me a commonwealth born crooked that ever became straight". " Siehe Harringtons Kritik an der Konzeption der Levellers; Political Works of James Harrington (wie Anm. 6), 656 ff. 12 Cromwell soll über Harringtons Plan gesagt haben, er werde nicht für ein Stück Papier 10
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tokoll einer bereits vollzogenen Gründung fingierte. Letztlich reproduziert sich hiermit wieder das Philosophen-Könige-Dilemma. Bei aller Verkürzung - dies spricht doch eindeutig gegen zentrale Behauptungen Pococks, Harringtons „dominant purpose is the release of personal virtue through civic participation", und er verfechte eine „fundamentally Aristotelian theory of citizenship". 13 Harringtons Konzept hat auch nichts mit einer Mischverfassung oder „mixed monarchy" in dem Sinne zu tun, wie dies in England in Bezug auf das Verhältnis von König, Lords und Commons seit der Zuspitzung der Verfassungskrise immer wieder diskutiert wurde, wobei dies sowohl in parlamentarischen wie in royalistischen Varianten vorgebracht worden ist. 14 Im Sommer 1642 hat schließlich der in die Defensive geratene König Karl I. unter dem Einfluss seiner neuen Berater sich dieses Konzept mit deutlichen Anklängen an Polybios zu eigen gemacht, um sich im letzten Augenblick einerseits als verfassungstreuer Herrscher zu präsentieren, andererseits auf einer eigenständigen Prärogative zu beharren; ohne diese würde er auf den Status eines venezianischen Dogen reduziert, Pöbelherrschaft und Anarchie wären die unausweichlichen Folgen. 15 Harrington hat diesen Bezugsrahmen des traditionellen englischen Verfassungssystems verlassen. Seine Vorstellungen sollten in sozusagen abgespeckter Fassung an Bedeutung gewinnen, als sich die Instabilität der Cromwell'schen Ordnung zeigte, die eben gerade darauf beruhte, dass Cromwell nicht als legitimer Verfassungsgeber akzeptiert wurde; die von ihm einberufenen Parlamente wollten die Verfassungen von 1653 („Instru-
hergeben, was er mit dem Schwert erkämpft habe; John Toland, The Life of James Harrington, in: Harrington, Works. London 1771 (Ndr. Aalen 1963), XVII. Toland fugt hinzu, Cromwell habe damit die Chance verpasst, ein Held zu werden, dessen Ruhm Solon und Lykurg sowie Zaleukos und Charondas (legendäre Gesetzgeber in Unteritalien und Sizilien) übertroffen hätte. 13 John G A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton, N. J. 1975, 394; ders., Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the Eighteenth Century, in: William and Mary Quarterly, 3d Series 22, 1965, 549-583, hier 555. 14 Dazu Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980, 211 ff. 15 Antwort des Königs auf die „Nineteen Propositions" des Parlaments; Text in: Joyce Lee Malcolm (Ed.), The Struggle for Sovereignty. Seventeenth-century English Political Tracts. Vol. 1. Indianapolis 1999, 145-178; dazu Nippel, Mischverfassungstheorie (wie Anm. 14), 258 ff.; John Sanderson, ,The Answer to the Nineteen Propositions' Revisited, in: Political Studies 32, 1984, 627-636; Michael J. Mendle, Mixed Government, the Estates of the Realm, and the „Answer to the XIX propositions". Alabama 1985.
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ment of Government") und 1657 („Humble Petition and Advice") nicht als unantastbare Grundregeln hinnehmen. Breiten Widerhall in der Öffentlichkeit fanden bestimmte Ideen Harringtons dann in der Diskussion, die durch die Auflösung des von Richard Cromwell einberufenen Parlaments, dessen Abdankung und schließlich die Restitution des Rumpfparlaments im Frühjahr 1659 ausgelöst wurde. Es entzündete sich eine heftige Debatte, wie man ein Zweikammersystem in republikanischem Rahmen einrichten könne, um der drohenden Restauration von Monarchie und Adelskammer zu entgehen. Harringtons Publikationen aus dieser Zeit konzentrieren sich auf die dafür einschlägigen, mehr praktikablen Aspekte seiner Theorie. Jetzt konnten Harringtons Ideen auch für die Republikaner, die eine Souveränität der C o m m o n s forderten, wichtig werden, da sie einsahen, dass die Herrschaft des Rumpfes sich nicht einfach fortsetzen ließ, gleichzeitig aber auch wussten, dass eine Neuwahl zu einem Ein-Kammer-Parlament eine sichere Mehrheit für die Restauration der Monarchie bringen würde. Deshalb stellte man Überlegungen über ein System an, das einer Parlamentsmehrheit konstitutionelle Schranken setzen sollte. Mit Ephoren und Tribunen wurde jetzt nicht mehr das Parlament als Kontrollorgan gegenüber der Monarchie assoziiert, sondern eine neu zu schaffende Kontrollinstanz gegenüber einer sonst potentiell allmächtigen Volksvertretung. 16 Diese Überlegungen sind eine der Quellen für die Entwicklung der „checks and balances" in der amerikanischen Verfassungsdiskussion als Realisierung des „government of laws, and not of m e n " geworden; hinzu kam noch Harringtons Konzept des weisen Gesetzgebers, mit dem sich die Verfassungsväter identifizieren konnten, nur dass sie eben hervorhoben, dass ihre Regelungen nicht autoritär gesetzt werden könnten (wie dies noch William Penn in seiner Kolonie getan hatte 1 7 ), sondern nach ausgedehnter öffentlicher Debatte durch vom Volk gewählte Verfassungskonvente zu ratifizieren seien 1 8 , auch wenn sich John Adams für sich selbst die Rolle ei16 Dazu Wilfried Nippel, Ancient and Modem Republicanism: .Mixed constitution' and .ephore', in: Biancamaria Fontana (Ed.), The Invention of the Modem Republic. Cambridge 1994, 6 - 2 6 , hier 23 f.; ders., Mischverfassung, Ephoren und Tribune, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung. Baden-Baden 1996, 250-264, hier 258 fT. 17 Richard Alan Ryerson, William Penn's Gentry Commonwealth: An Interpretation of the Constitutional History of Early Pennsylvania, 1681-1701, in: Pennsylvania History 61, 1994, 393-428. 18 So vor allem James Wilson, Oration Delivered on the Fourth of July 1788, at the Procession Formed at Philadelphia to Celebrate the Adoption of The Constitution of The
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nes Solon oder Lykurg hätte vorstellen können. 19 (Harringtons Vorstellung vom Agrargesetz mag aber nachgewirkt haben in den Diskussionen und Gesetzgebungen in einigen Einzelstaaten, durch ein entsprechendes Erbrecht einer zu großen Vermögensdifferenzierung vorzubeugen. 20 ) Auch in der Französischen Revolution sind institutionelle Vorschläge Harringtons diskutiert worden, zunächst ohne Wirkung, aber dann doch mit Ausstrahlung auf die Verfassung von 1795. 2 1 Pocock ist vorgehalten worden, er habe die Bedeutung eines von der römischen Tradition geprägten Bürgerkonzepts ignoriert, das vorrangig den Schutz individueller Rechte, Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit vor dem Gesetz meint. 22 Pocock hat erwidert, ihm sei es allein auf die diachrone Rekonstruktion eines bestimmten Traditionsstrangs angekommen; es gebe von der Antike bis in das 18. Jahrhundert zwei voneinander unabhängige Traditionen der Konzeptualisierung von Bürgerrecht und Bürgerfreiheit, die sich nur selten berührt und kaum überlagert hätten. 23 Dieses Thema ist von Quentin Skinner in diversen Arbeiten, zumal „Liberty before Liberalism" ( 1998) behandelt worden, wobei sein Wechsel der Terminologie von „republican" zu „neo-roman theory" auch ein Indiz für die Unscharfe des Republikanismus-Konzeptes ist. 24 Ausgangspunkt sind für ihn Machiavellis „Discorsi" als ein Modell, in dem sich die Sicherung United States, in the Convention of Pennsylvania, in: The Works of James Wilson. Ed. by Roberl G McCIoskey. 2 Vols. Cambridge, Mass. 1967, Vol. 2, 772-780, hier 773 f. 19 Brief von Adams an Mercy Warren, 11. Juli 1807, in: Correspondence between John Adams and Mercy Warren relating to her „History of the American Revolution", JulyAugust, 1807, in: Collections of the Massachusetts Historical Society, 4th Ser., 5, 1878. 315-511, hier 325. Nelson, Greek Tradition (wie Anm. 7), 195 ff. 21 Sien B Liljegren, A French Draft Constitution of 1792 modeled on James Harrington's Oceana. Lund 1932; Rachel Hammersley, „The Commonwealth of Oceana" de James Harrington. Un modèle pour la France révolutionnaire?, in: Annales historiques de la Révolution française 342, 2005, 3-20; Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, 183 f. 22 Siehe besonders J. H. Hexter, Rezension Pocock, Machiavellian Moment, in: H & T 16, 1977, 329 ff.; John H Geerken, Pocock and Machiavelli, in: Journal of the History of Philosophy 17, 1979,309-318. 21 John G A. Pocock, Reconstructing the Traditions: Quentin Skinner's Historians' History of Political Thought, in: Canadian Journal of Political and Social Theory 3, 1979, 95-112; ders., Virtues, Right and Manners, in: Political Theory 9, 1981, 353-368; ders.. The Machiavellian Moment Revisited, in: Journal of Modern History 53, 1981, 49-72, hier 53 f. 24 Quentin Skinner, Liberty before Liberalism. Cambridge 1998, 11 mit Anm. 31,22 mit Anm. 67, 54f. mit Anm. 176: das früher von ihm als republikanisch bezeichnete Freiheitskonzept hielten verschiedene Autoren des 17. Jahrhunderts auch in einer gemäßig-
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„negativer Freiheit" (im Sinne von Isaiah Berlin) mit politischer Partizipation verbinde. 25 Wenn sowohl die grandi wie der popolo ihre Rechte gegenüber der jeweils anderen Seite behaupten wollen, müssen sie in einer Republik zusammenwirken, deren Existenz sich gegen Gefährdungen von außen nur sichern lässt, wenn die Bürger bereit sind, auch als Soldaten zu dienen. Nur oder vorzüglich in einer Republik ist gewährleistet, dass Bürger über eine Selbstbestimmung verfugen, die sie nicht in einem Zustand der Sklaverei hält. Skinner hebt diverse Passagen in Livius, Sallust, Cicero und Tacitus hervor, in denen das römische Selbstverständnis zum Ausdruck kommt, dass jedwedes monarchische System die Untertanen in einem Zustand der Sklaverei halte - unabhängig davon, ob der Alleinherrscher seine Macht missbraucht oder nicht, sondern allein dadurch, dass er die Möglichkeit hat, seinen Willen der Gesamtheit aufzuzwingen. 26 Er verweist zudem auf die dichotomische Konstruktion des Personenstatus in den römischen Rechtsquellen, wo libertas als Status sui iuris durch den Gegensatz zu servilus als in aliena potestate defininiert wird. Skinner hebt zugleich hervor, dass nach Ansicht der römischen Juristen die Sklaverei contra naturam war. 27 Merkwürdigerweise übergeht er aber, dass das römische Recht dennoch das Institut der Sklaverei als Bestandteil des ius gentium und ius civile nicht in Frage gestellt, sondern hier eine Diskrepanz zwischen Naturrecht einerseits, Völkergewohnheits- und Zivilrecht andererseits zugelassen hat. 28 Dies mag der Lesart der von Skinner herangezogenen Autoren (wie Henry Parker oder John Milton) entsprechen, hätte aber erörtert werden sollen, um die Selektivität dieses Rezeptionsvorgangs zu verdeutlichen, den Skinner in der englischen Diskussion des 17. Jahrhunderts verfolgt. Hier geht es ihm um jene Stimmen, die sich im Verfassungskonflikt mit den Stuarts nicht allein auf die Common Law-Tradition berufen, sondern vereinzelt seit 1628 und dann zunehmend mit Beginn des Bürgerkrieges die königliche Prärogative nicht nur hinsichtlich missbräuchlicher Anwendung, sondern grundsätzlich attackiert haben, weil allein die Möglichkeit, ten beziehungsweise gemischten Monarchie für realisierbar. Warum deshalb „neo-römisch" eine angemessene Kategorie sein soll, verstehe ich nicht. 25 Quentin Skinner, The Idea of Negative Liberty, in: Richard Rorty u. a (Eds ), Philosophy in History. Essays on the Historiography of Philosophy. Cambridge 1984, 193-221, deutsch in: Quentin Skinner, Visionen des Politischen. Frankfurt am Main 2009, 135170. 26 27 28
Skinner, Liberty before Liberalism (wie Anm. 24), 42 ff. Ebd. 39ff.; ders., Visionen des Politischen (wie Anm. 25), 209. Digesten 1, 5, 4 (Florentinus); 50, 17, 32 (Ulpian).
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dass ein Monarch zum Beispiel durch Anwendung des Vetorechts den Willen der vom Parlament repräsentierten Nation brechen könne, einen Zustand der Versklavung bedeute. Das impliziert zugleich, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen legitimer und tyrannischer Herrschaftsausübung obsolet wird. 29 Skinner suggeriert, dass dies die ideologische Grundlage für die Abschaffung des Königtums und die Etablierung des „Commonwealth" 1649 gewesen sei. Aber der Krieg gegen den König, schließlich seine Verurteilung und Hinrichtung standen doch vorwiegend im Zeichen des Kampfes gegen den „Tyrannen" und „Hochverräter" Karl I. 30 Ein klares Konzept, wie es danach weitergehen sollte, gab es nicht. Hätte es einen verlässlichen Kandidaten aus dem Hause Stuart gegeben, wäre auch eine Weiterfuhrung der Monarchie denkbar gewesen. Als man sich schließlich (sechs Wochen nach der Hinrichtung) zur Abschaffung der Monarchie entschloss, tat sich das Parlament mit einer Begründung dafür ebenso schwer wie mit einer positiven Auffüllung des Begriffs „Commonwealth" (als englisches Äquivalent zu res publica).31 In einer Erklärung des Parlaments zur Rechtfertigung dieses Schrittes vom 22. März 1649 ist zwar von einem „Free State" als einzige Alternative zu „restoring Tyranny" und vom Schutz des „common people" gegen „injustice, oppression, slavery" die Rede; zugleich wird aber nicht nur auf die römische Republik und diejenige von Venedig (deren Lebensdauer großzügig mit 1300 Jahren angegeben wird), sondern vor allem auf die Schweiz und die Vereinigten Niederlande verwiesen; die Niederlande „have wonderfully increased in Wealth, Freedom, Trade, and Strength, both by Sea and Land" 3 2 - ein Argument mit der ökonomischen Prosperität, das sich schwerlich unter „neo-römischer"-Konzeption subsumieren lässt. Schließlich wäre auch zu diskutieren, welche Verschiebungen des Konzepts bürgerlicher Selbstregierung in der englischen Diskussion eingetre29
Quemin Skinner, John Milton und die Politik der Sklaverei, in: ders., Visionen des Politischen (wie Anm. 25), 196-223. So noch in der Rechtfertigung des „Instrument of Government" durch Cromwells „C hefpropagandisten": Marchamont Nedham, A True State of the Case of the Commonwealth of England, Scotland and Ireland [1654]. Ndr. Exeter 1978, 5f. 31 Blair Worden, Republicanism, Regicide and Republic. The English Experience, in: Martin van Gelderen/Quentin Skinner (Eds.), Republicanism. A Shared European Heritage. Vol. 1. Cambridge 2002, 307-327. 32 A Declaration of the Parliament of England, Expressing the Grounds of their late Proceedings, and of Setting the Present Government in the Way of a Free State; in: Malcolm (Ed ), Straggle for Sovereignty (wie Anm. 15), Vol. 1, 369-390, hier 381. 31
ten sind, wenn diese dort umstandslos mit der Souveränität des Parlaments gleichgesetzt wird. Das wirft zugleich das Problem auf, dass diese republikanischen Konzeptionen - von Rom über Machiavelli und die italienischen Stadtstaaten bis zu England - von unterschiedlich eng geschnittenen Kreisen der zur politischen Partizipation überhaupt berechtigten Bürger ausgehen, jedenfalls nicht von einem (fast) jedermann, qua Staatsangehörigkeit zustehenden gleichen Stimmrecht. In England wurde dies vergeblich von den Levellers gefordert, die ihre Konzeptionen gewiss nicht vorrangig aus der Antike bezogen. 3 3 Ein anderer Rezeptionsstrang, der sich auf Rom zurückfuhren lässt, kommt bei Skinner kaum vor. Spätestens seit Ausbruch des Bürgerkrieges 3 4 ist von parlamentarischer Seite die Usurpation königlicher Prärogativrechte wiederholt mit der Kategorie salus populiis begründet worden, der Behauptung, dass man sich in einem Notstand zur Rettung des Gemeinwesens auch über das positive Recht hinwegsetzen könne und diese Kompetenz allein beim Parlament liegen müsse. Das Gesetz zur A b s c h a f f u n g des Königtums vom 17. März 1649 erklärte denn auch, „that the office of a king in this nation [...] is unneccessary, burdensome and dangerous to the liberty, safety and public interest of the people". 3 6 Wenn man die Nachwirkung von Machiavelli im gesamteuropäischen Kontext heranzieht, dann sieht man im Übrigen, dass ein wichtiger Rezeptionsstrang auch in seiner Befürwortung einer verfassungsmäßigen Diktatur nach dem ursprünglichen römischen Muster liegt, die im Prinzip von den meisten Theoretikern bis zu Rousseau akzeptiert wurde. 3 7 Das ver-
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Samuel Dennis Glover, The Putney Debates. Popular versus Elitist Republicanism, in: Past & Present 164,1999,47-80, verweist auf die Antikebezüge bei führenden Levellers, doch ändert dies nichts daran, dass sich der politische und soziale Egalitarismus der Levellers primär aus biblischen Wurzeln und aus der Tradition über den ehemals freien Engländer speiste. 34
Vorausgegangen war 1640 Henry Parker mit seiner Stellungnahme im Konflikt um „ship-money", in der er die Staatsräson-Doktrin für das Parlament in Anspruch genommen hatte; vgl. Michael J. Mendle, The Ship Money Case, „The Case of Shipmony" and the Development of Henry Parker's Parliamentary Absolutism, in: HJ 32, 1989, 5 1 3 536. 35 Klassisch formuliert als Handlungsmaxime fur die Obermagistrate bei Cicero, De Legibus 3, 8: salus populi suprema ¡ex. 36 Text in: John P. Kenyon (Ed.), The Stuart Constitution. Documents and Commentary. Cambridge 1966, 339-341. 37 Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Ndr. Berlin 1994; Ernst Nolle, Art. „Diktatur", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Ein Lexikon zur politisch-sozialen Sprache. Bd. I. Stutt-
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wandte Konzept, dass die salus populi auch Rechtsdurchbrechung legitimiere, war ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert rezipiert worden 3 8 und sollte in der Französischen Revolution besondere Brisanz erhalten. 3 9 In den USA hielt man Notstandsvorkehrungen für überflüssig - mit der Folge, dass man dem Präsidenten ein Äquivalent zur Prärogativgewalt des englischen Monarchen zuschrieb. 4 0 Skinner hat die weitere Geschichte des von ihm identifizierten Argumentationsstrangs nicht verfolgt, sich stattdessen auf die Gegenargumentation von Hobbes konzentriert. In einer Randbemerkung sagt er, dass die Konstruktion von fehlender Selbstbestimmung als Zustand der Versklavung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zugrundeliege; er gründet dies jedoch nicht auf eine Analyse dieses Textes mit seinen unterschiedlichen Argumentationsebenen, sondern allein auf ein Traktat von Richard Price von 1778. 41 Sowohl gegen Pocock wie gegen Skinner ist einzuwenden, dass sie bestimmte Rezeptionsstränge isolieren und sie nicht in das Gesamtarsenal der jeweiligen Verfassungsargumentationen einbetten, die sich in oft eklektischer Weise der Topoi aus höchst unterschiedlichen Traditionen bedienen. Das ist umso erstaunlicher, weil j a das unbestreitbare Verdienst der „Cambridge School" - wenn dies denn das angemessene „label" für beide ist darin besteht, die traditionelle „Gipfelwanderung" durch die politische Ideengeschichte durch die Rekonstruktion zeitgenössischer Diskurse ersetzt und dabei zahlreiche Theoretiker und Pamphletisten einbezogen zu haben, die nicht zu „Klassikern" avanciert sind. Beide Konzepte scheinen mir auch nur begrenzt, wenn überhaupt, geeignet, die amerikanische Verfassungsdiskussion zu erhellen, die sich j a einerseits auch wieder aus dem Argumentationsvorrat der Weltgeschichte bediente, zugleich deren Neuanfang postulierte und sich im Ergebnis dezigart 1972, 900-924; Herfried Münkler/Marcus
Llanque, Art. „Diktatur", in: DNP 13,
1999, 852-863. Wilfried Nippel, Macht, Machtkontrolle und Machtentgrenzung. Zu einigen antiken Konzeptionen und ihrer Rezeption in der frühen Neuzeit, in: Jürgen Gebhardt/Herfried Münkler (Hrsg.), Bürgerschaft und Herrschaft. Zum Verhältnis von Macht und Demokratie im antiken und neuzeitlichen politischen Denken. Baden-Baden 1993, 58-78, hier 67 f., 77. 39 Nippel, Antike oder moderne Freiheit? (wie Anm. 21), 166 f. 40 Vgl. u. a. Clement Falovic, Constitutionalism and Presidential Prerogative: Jeffersonian and Hamiltonian Perspectives, in: American Journal of Political Science 48, 2004, 429-444. 41 Skinner, Liberty before Liberalism (wie Anm. 24), I2f., 50. 18
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diert von einem antiken, auf unmittelbarer Selbstregierung der Bürgerschaft basierenden Politikmodell verabschiedete. 42 John Adams hat zwanzig Jahre nach Ratifizierung der Bundesverfassung festgestellt, dass er und viele andere nie begriffen hätten, was mit dem Art. IV, 4, der eine republikanische Verfassung in den Einzelstaaten vorschreibt, genau gemeint war. 43 Das dürfte, wie auch das Ringen um die konkrete Ausfüllung des Republikkonzepts in den Verfassungsgebungen der Einzelstaaten zeigt, angemessener sein als die heutigen endlosen Diskussionen über die „republikanische versus liberale" Grundlegung der amerikanischen Demokratie.
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Nippet, Antike oder moderne Freiheit? (wie Anm. 21), 125 ff. Brief von Adams an Mercy Warren, 20. Juli 1807, in: Correspondence between John Adams and Mercy Warren (wie Anm. 19), 352f.
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I. Staatskonzeptionen
Die unfassbare Republik Idealstaatsvorstellungen der Römer* Von
Bernhard
Linke
I. Einleitung Kaum eine Ordnung der Vormoderne hat in der Geschichte der politischen Theorie eine so starke Suggestion als idealstaatliche Ordnung entfaltet wie der institutionelle A u f b a u der römischen Republik. Der Hauptgrund für die überaus intensive Anziehungskraft dieser Ordnung dürfte in der Synthese aus zwei Faktoren liegen: 1. Seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. scheint das römische Gemeinwesen nach langen innergesellschaftlichen Konflikten einen innenpolitischen Interessenausgleich gefunden zu haben, der zur Basis für eine mehr als zweihundertjährige Stabilität der politischen Ordnung geworden zu sein scheint. Schon allein diese (unterstellte) Stabilität macht die römische Republik - vor allem aus der Perspektive des ausgehenden 18. Jahrhunderts - zu einer Ausnahme unter den republikanischen Gemeinwesen der Vormoderne. 2. Zu der bemerkenswerten Dauerhaftigkeit der Ordnung tritt dann parallel ein enormer außenpolitischer Erfolg hinzu. In der Zeit der sogenannten Klassischen Republik stieg Rom von einer kleinen Regionalmacht zu einem den Mittelmeerraum beherrschenden Imperium auf. Die Kombination aus innerer Stabilität und äußerem Erfolg begründete die Faszination, die die römische Republik entfaltete. 1 Auch die Römer konnten sich nicht dieser Suggestion des eigenen Erfolges entziehen und entwickelten die Überzeugung, dass ihre überkommene Ordnung die einzig sinnvolle und angemessene Struktur sei. Erstaunlich ist nun, dass sie trotz dieser Idealisierung der eigenen Ordnung kaum den Versuch unternahmen, diese in einem theoretischen Idealentwurf zu konzeptionalisieren. Und dies, obwohl ihnen die theoretischen Modellentwürfe der Griechen sehr wohl bekannt waren. Als einzige scheinbare Ausnahme ' Für die Unterstützung bei der Redigierung des Manuskripts möchte ich mich bei meinem Mitarbeiter Marian Helm herzlich bedanken. 1 Jochen Bleicken, Geschichte der Römischen Republik. (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 2.) 5. Aufl. München 1999, 28.
tritt uns das Œuvre des Redners und Politikers Marcus Tullius Cicero entgegen. Sieht man einmal von dem Problem ab, dass er als Aufsteiger in einer sehr späten und ungewöhnlichen Phase der Republik schreibt, bleibt die Tatsache bestehen, dass seine Entwürfe nur sehr bedingt den Charakter idealstaatlicher Ordnung in sich tragen.2 Sie sind eher ausfuhrliche Deskriptionen komplexer sozialer Zusammenhänge in synchroner und diachroner Perspektive. Für die Wirkungsgeschichte Ciceros in der amerikanischen Verfassungsdiskussion kommt noch der Umstand hinzu, dass sein staatstheoretisches Hauptwerk - de re publica - erst nach 1820 in großen Teilen wiederentdeckt wurde. Auf die diesem Datum vorgelagerten Debatten konnten die wenigen bekannten Fragmente kaum Einfluss nehmen, es sei denn als humanistischer Phantomschmerz.3 Die Gründe fur diese ,Theorielosigkeit' des römischen Staatsdenkens sind oft untersucht worden.4 Am ehesten scheint Christian Meiers Kategorie einer Distanzlosigkeit der Römer gegenüber ihrer eigenen Ordnung die Ursachen zu treffen. 5 Gerade die Evidenz des Erfolges unterband offensichtlich die Möglichkeit mit einem angemessenen Abstand die eigene Wirklichkeit theoretisch zu konzeptionalisieren und sie damit auf eine Vergleichsebene mit anderen Ordnungen zu stellen. 6 Nach Meier lebten die Römer in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit ohne Alternative.
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Prägnante und konsistente Überblicke zu den politischen Konzeptionen Ciceros geben Wilfried Nippel, Cicero, in: Hans Maier/Horst Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens. Von Plato bis Hobbes. Bd. 1. 2. Aufl. München 2004, 53-64, und Klaus Rosen, Griechenland und Rom, in: Hans Fenske u. a. (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2004, 119-126; s. auch Manfred Fuhrmann, Cicero und die römische Republik: eine Biographie. 4. Aufl. München/Zürich 1997. Die breite Forschung zu Cicero wird von Iris Samolla, Das Vorbild der Vergangenheit. Geschichtsbild und Reformvorschläge bei Cicero und Sallust. Stuttgart 2009, aufgearbeitet. 3
Zu dem staatsphilosophischen Hauptwerk von Cicero s. James E. Zetzel (Ed.), Cicero. De re publica: Selections. Cambridge 1995; Harald Merklin, Cicero. Über das Gemeinwesen (51 v. Chr.), in: Manfred Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Frankfurt am Main 2007,47-61 ; Viktor Posch!, Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero. Untersuchungen zu Ciceros Schrift ,de re publica' (1936). Ndr. Dannstadt 1990. 4
Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. (HdA 111,1,1.) München 1988, 374: „Dieser Staat der Väter war in den Augen der Römer einzigartig und durch seinen Erfolg derartig legitimiert, dass eine Rechtfertigung der eigenen Staatswirklichkeit nicht benötigt wurde "; Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Die Römer. Bd. 2/ 1. Stuttgart/Weimar 2002, 109. 5 Vgl. Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik. 3., veränd. Aufl. Frankfurt am Main 1997. 6 Dem entspricht auch, dass in Rom keine Universalgeschichte entstand, s. Uwe Walter,
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II. Die Konzeption von Polybios Vor dem Hintergrund dieser ausgeprägten Zurückhaltung, ihre gemeinschaftliche Ordnung auf einer theoretischen Ebene zu reflektieren, kommt dem Versuch eines Außenstehenden, diese Lücke zu füllen, eine umso größere Bedeutung zu. Der griechische Politiker und Historiker Polybios skizzierte im 6. Buch seiner Weltgeschichte die berühmte Darstellung der institutionellen Ordnung der römischen Republik, die durch ihre Alleinstellung in der antiken Literatur eine enorme Wirkung entfaltete. 7 Die Details dieses Verfassungsentwurfs können hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. Im Mittelpunkt stehen die in der griechischen Staatstheorie wohletablierten Überlegungen zu einem geradezu notwendigen Kreislauf von Verfassungsformen, der sich aus der Degenerierung ursprünglicher guter Herrschaftsformen und deren Umschlag in ein negatives Gegenbild ergibt. So wird die anfänglich sinnvolle Herrschaft eines Einzelnen, die Monarchie, durch die Dekadenz der Nachkommen zur Tyrannis. Nachdem die besten Bürger den Tyrannen vertrieben haben und als Aristokraten herrschten, korrumpieren ihre Söhne das System zu einer allein auf die Interessen Weniger ausgerichteten Oligarchie. Auch der Wechsel zur Demokratie als Reaktion auf diese Verengung der Herrschaftsperspektive entgeht nicht dem Umschlag in eine reine Pöbelherrschaft, deren Haltlosigkeit schließlich den staatlichen Zusammenhalt auflöst und den Kreislauf emeut in Gang setzt. Die Kernaussage von Polybios ist es nun, dass den Römern die Unterbindung dieses systemischen Kreislaufprozesses gelungen ist, indem sie eine spezifische Konstellation von Kompetenzen geschaffen haben, in der die gegenseitige Kontrolle von Institutionen den Entartungstendenzen entgegenwirkt. 8 Als entscheidender Unterschied zu den neuzeitlichen Entwürfen geht Polybios nicht wie seine neuzeitlichen .Nachfahren' von einer Teilung der Gewalten innerhalb einer staatlichen Ordnung aus. Sein Ideal - im antiken Denken verwurzelt - sieht die Vereinigung der drei Staatsformen in einer vor: Die Magistrate hätten in Rom eine so umfassende AmtsMemoria und res publica. (Stud. zur Alten Geschichte, Bd. 1.) Frankfurt am Main 2004, 354-357. 7 Polybios 6.11-6,18. * Polybios 6,15-19; Cicero, de re publica, 2,41; 65; Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und Früher Neuzeit. (Geschichte und Gesellschaft, Bd. 21.) Stuttgart 1980, 147f.; Kurl von Fritz, The Theory of the Mixed Constitution in Antiquity. A Critical Analysis of Polybius' Political Ideas. 2nd Lid. New York 1958, 61 f.
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gewalt, wie sie außerhalb nur Könige besäßen; der Senat bündle in sich durch seine mächtigen Mitglieder eine so große Autorität, wie sie ansonsten nur bei starken Aristokratien zu finden sei; das Volk schließlich entscheide über alle wichtigen Angelegenheit in einer Form, die nur in Demokratien anzutreffen sei. Das Geheimnis der römischen Verfassung sei die Vereinigung dieser drei mächtigen Institutionen in einem Staat. Polybios betont nun, dass der primäre Grund für das Funktionieren der römischen Ordnung darin zu suchen sei, dass die einzelnen Machtzentren in der römischen Republik, die Magistrate, der Senat und das Volk, voreinander jeweils soviel Angst hätten, dass sie ihre Kompetenzfülle nicht ausspielten, sondern notgedrungen miteinander kooperierten. Während die neuzeitliche Konzeption der Gewaltenteilung darauf basiert, Kompetenzkomplexität durch klare Zuweisungen an einzelne Institutionen aufzulösen und in ein funktionierendes Ganzes einzufassen, erzeugt das Konzept der Mischverfassung also einen strukturellen Kompetenzüberschuss. 9 Das Modell von Polybios ist in der Moderne oft kritisch hinterfragt worden. 10 So erscheinen die Anlässe, die Polybios für den angstbesetzten Umgang der politischen Akteure miteinander angibt, in vielen Fällen wenig glaubhaft, wenn z. B. dem Volk unterstellt wird, dass es Angst vor den senatorischen Richtern gehabt hätte. Diese hohe Bedeutung von Senatsgerichten im Alltag des Normalbürgers lassen sich in den historischen Rekonstruktionen kaum halten. Zu diesen Ungereimtheiten gesellen sich dann noch Widersprüche und Doppelungen bei der Kompetenzzuweisung an die einzelnen Institutionen hinzu, vor allem im Bereich der Außen- und Finanzpolitik. All diese Schwierigkeiten beim Abgleich der polybianischen Darstellung mit der von uns rekonstruierten Ordnung der Republik führen dazu, dass der Autor zumeist als ein Mann eingestuft wird, der versucht, mit griechischen Maßstäben und Erfahrungshorizonten das römische Gemeinwesen zu analysieren und dabei fast zwangsläufig zu missverständlichen Ergebnissen kommen muss.
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Von Fritz, Constitution (wie Anm. 8), 156; Nippel, Mischverfassungstheorie (wie Anm. 8), 149, spricht von „Kompetenzüberlagerungen im juristischen Sinne"; zur Abwesenheit einer Institutionenhierarchie s. jetzt Christoph Lundgreen, Regelkonflikte in Rom. Geltung und Gewichtung von Normen in der römischen Republik. Diss. phil. Dresden/Paris 2009. 10 Frank W. Walbank, Polybius, Rome and the Hellenistic World. Essays and Reflections. Cambridge 2002, 279; Nippel, Mischverfassungstheorie (wie Anm. 8), 143.
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III. Volksversammlungen und magistratische Amtsgewalt in der römischen Republik Ob es wirklich legitim ist, einen antiken Zeitgenossen, der lange Jahre in einem aristokratischen Haus in Rom verbracht hat, so harsch von oben herab aus der modernen Warte abzukanzeln, sei an dieser Stelle dahingestellt. Man sollte sich aber hüten, zu schnell in die Position des historischen B e s serwissers' zu verfallen. So hat Polybios ohne Zweifel Recht, wenn er die starke Stellung der Volksversammlung mit den bemerkenswerten Kompetenzen der Obermagistrate kontrastiert. Die Versammlungen wählten alle wichtigen Beamten, und nur sie alleine konnten Gesetze verabschieden. Diese wichtige Funktion des Volkes im politischen Leben Roms fasste Cicero in seiner berühmten Definition des römischen Staates zusammen: est igitur res publica res populi-„Das republikanische Gemeinwesen („die öffentliche Angelegenheit") ist die Angelegenheit des Volkes" (de re publica 1,25[39]). 11 Trotz vielfältiger Regelungen, die das Initiativpotential der Versammlungen einschränkten und den aristokratischen Leitern eine wichtige Position sicherten, waren die Zusammenkünfte des römischen Volkes keine Ansammlungen von Befehlsempfängern. Mit beachtlichem rhetorischen Aufwand wurden Entscheidungsgrundlagen kommuniziert und die Zustimmung sichergestellt. Der Kampf um die Mehrheit in den Wahlversammlungen war das grundlegende Element im Wettbewerb der führenden Familien. 12 Die zentrale Stellung der Volksversammlung führte den britischen Althistoriker Fergus Millar zu der - in der Forschung allerdings sehr umstrittenen - These, dass Rom eine wirkliche Demokratie war. 13 Die Thesen von 11 Zu den Kompetenzen der Volksversammlungen s. Unlo Paananen, Legislation in the comilia centuriata, in: ders. u. a., Senatus populusque Romanus. Helsinki 1993, 9-73; KajSandberg, The conciliumplebis as Legislative Body during the Republic, in: ebd. 7 4 96; ders., Magistrates and Assemblies. A Study of Legislative Practice in Republican Rome. Rom 2001; zu den Wahlversammlungen: Lily Ross Taylor, Roman Voting Assemblies. From the Hannibalic War to the Dictatorship of Caesar. Ann Arbor 1966, Ndr. 1990; und Alexander Yakobsen, Elections and Electioneering in Rome. A Study in the Political System of the Late Republic. Stuttgart 1999. 12 Zur Bedeutung der Rhetorik im politischen System Roms s. Karl-Joachim Hölkeskamp, Oratoris maxima scaena: Reden vor dem Volk in der politischen Kultur der Republik, in: Martin Jehne (Hrsg.), Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der Politik der römischen Republik. Stuttgart 1995, 11-49; Pina Polo, Contra arma verbis. Der Redner vor dem Volk in der späten römischen Republik. (Heidelberger Althistorische Beitr. und Epigraphische Stud., Bd. 22.) Stuttgart 1996. 13
Diese These wird insbesondere von Fergus Millar vertreten, der mit einer Reihe von
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Millar werden in der aktuellen Forschung äußerst kontrovers diskutiert und ihnen wird nicht ohne Berechtigung vorgeworfen, dass ihre argumentative Grundlage allzu formalrechtlich konstruiert ist. 14 Doch zeigt die langanhaltende Diskussion der pointierten Position von Miliar die hohe Komplexität des politischen Lebens in Rom. Die Römer hatten eine sehr spezielle politische Konstellation entwickelt. Dies zeigt sich auch daran, dass die zentrale Funktion der Volksversammlungen mit einer ungewöhnlich mächtigen Exekutive kontrastierte. Vor allem die weitreichenden Kompetenzen der Obermagistrate, die den Amtsinhabern nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch im zivilen Leben eine herausragende Position gaben, unterschieden die römische Republik von den anderen vormodernen Republiken, die eher darauf bedacht waren, die Exekutive nicht zu stark werden zu lassen. 15 Das imperium - die Amtsgewalt - sicherte den Obermagistraten darüber hinaus nicht nur eine enge Bindung an die sakralen Mächte, mit denen sie bei der Amtsausübung in einem ständigen Kontakt standen, sondern gab ihnen auch einen Anspruch auf Symbole der Macht, die in einem republikanischen Kontext erstaunen. 16 So stand den höheren Magistraten bei der Wahrnehmung ihrer Amtsgeschäfte ein Schemel aus Elfenbein, die sella curulis, zu. Dieses auf den ersten Blick eher unscheinbare Symbol der Aufsätzen die Diskussion über den demokratischen Charakter der römischen Republik angestoßen hat: s Fergus Millar, The Political Character of the Classical Roman Republic, 200-151 B. C., in: JRS 74, 1984, 1-19; ders., Politics, Persuasion, and the People before the Social War ( 1 5 0 - 9 0 B. C.), in: JRS 76, 1986, 1-11; iters., Political Power in MidRepublican Rome: Curia or Comitium?, in: JRS 79, 1989, 138-150; zusammenfassend s. ders., The Crowd in Rome in the Late Republic. Ann Arbor 1998; s. auch Andrew Lintoll, Democracy in the Middle Republic, in: ZRG 104, 1987, 34-52. 14 Zur Kritik an Millar s. die Beiträge in: Martin Jehne (Hrsg.), Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der Politik der römischen Republik. (Historia, Einzelschriften, H. 96.) Stuttgart 1995, Karl-Joachim Hölkeskamp, The Roman Republic: Government of the People, by the People, for the People?, in: Scripta Classica Israelica 19, 2000, 203223 (Rez. von Millar, The Crowd in Rome in the Late Republic); für eine Übersicht zur Forschungsdiskussion s. jetzt ders., Rekonstruktion einer Republik. Die politische Kultur des antiken Rom und die Forschung der letzten Jahrzehnte. München 2004. 15 Eine Ausnahme bildeten dagegen die Dogen Venedigs, vgl. GerhardRoesch, Venedig. Geschichte einer Seerepublik. Stuttgart 2000, 42 f. 16 Vgl. Wolfgang Kunkel, Staatsordnung und Staatspraxis der Römischen Republik. (HdA 111,2,1.) München 1995, 21-37; Jochen Bleicken, Zum Begriff der römischen Amtsgewalt: auspicium -poteslas - imperium, in: Nachr. d. Akad. d. Wiss. zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 9, 1981, 257-300; Alfred Heuß, Gedanken und Vermutungen zur frühen römischen Regierungsgewalt, in: Nachr. d. Akad. d. Wiss. zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 10, 1982, 377-454; Adalberlo Giovannini, Consulare Imperium. Basel 1983.
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Macht ermöglichte es ihnen, als Magistrat bei jeder offiziellen Kommunikation mit Bürgern zu sitzen und damit ihre Überlegenheit gegenüber den stehenden Mitbürgern zu demonstrieren.17 Ein schönes Beispiel für diese Entwicklung überliefert uns der Historiker Calpumius Piso für das ausgehende 4. Jahrhundert v. Chr.: Der Ädil Gnaeus Flavius wurde von den Aristokraten als nicht standesgemäß angesehen. Als er seinen kranken Kollegen besuchte, weigerten sich die anwesenden jungen Aristokraten, sich von ihren Plätzen zu erheben. Flavius soll daraufhin seine sella curulis ostentativ in die Tür gestellt haben, damit keiner den Raum verlassen konnte und alle seine aus dem Amt resultierende Überlegenheit wahrzunehmen hatten. 18 Noch deutlicher wurde dieser amtszentrierte Überlegenheitsanspruch der Magistrate durch die Liktoren im wahrsten Sinne des Wortes .verkörpert'. Vor jedem Konsul schritten diese zwölf Amtsdiener im .Gänsemarsch' vorweg, die zusammengebundene Rutenbündel trugen. Außerhalb der Stadtgrenze, des pomerium, wurden diese Rutenbündel aufgeschnürt und zusätzlich Beile eingefügt zum Zeichen dafür, dass die Befehlsgewalt des Obermagistrats nun auch die erweiterten Kompetenzen des Kriegsrechtes umfasste. Diese als fasces bezeichneten Bündel erlebten im Übrigen in ihrer zivilen Variante eine erstaunliche Renaissance in der republikanischen Symbolik der Vereinigten Staaten, wie sich allein in ihrer prominenten Platzierung bei der Gestaltung des Lincoln Memorial zeigt. Der Sinn dieser Begleitung der Konsuln durch zwölf Liktoren war aber weniger die reale Bedeutung dieser Amtsdiener als Gehilfen der Magistrate bei der Durchsetzung von Entscheidungen, als vielmehr die symbolische Vervielfachung deren physischer Präsenz. Der Konsul war im Rahmen seiner Amtsgeschäfte .dreizehn Mal' anwesend. 19 Allein dies sicherte ihm eine 17 Zur sella curulis s. auch Harriet I. Flower, Ancestor Masks and Aristocratic Power in Roman Culture. Oxford 1996, 77-79; Thomas Schäfer, Imperii insignia: sella curulis und fasces. Mainz 1989. 18 Calpumius Piso bei Gellius 7,9,5-6: „idem Cn. Flavius Anni filius dicitur ad collegam venissc visere aegrotum. eo in conclave postquam introivit, adulescentes ibi complures nobiles sedebani. Hi contemnentes eum, assurgere ei nemo voluit. Cn. Flavius Anni filius aedilis id arrisit, sellam curulem iussit sibi afferri, eam in limine apposuit, ne quis iHorum exire posset utique hi omnes inviti viderent sese in sella curuli sedentem" (FRH 7,30 [Beck/Walter]). 19 Vgl. Burkhard Gladigow, Die sakrale Funktion der Liktoren, in: ANRW 1,2. Berlin/ New York 1972, 295-313; Andreas Goltz, Maieslas sine viribus. Die Bedeutung der Lictoren fiir die Konfliktbewältigungsstrategien der römischen Magistrate, in: Bernhard Linke/Michael Stemmler (Hrsg.), Mos Maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitatsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik. (Historia, Einzelschriften, H. 141.) Stuttgart 2000, 237-267.
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beeindruckende kommunikative Überlegenheit. Diese Superioritätsinszenierung steht in einem eklatanten Gegensatz zu der Einbettung der Beamten in die athenische Demokratie 20 und korrespondierte mit weitreichenden Rechten der Obermagistrate bei der Einberufung von Versammlungen und der Herbeiführung kollektiv verbindlicher Beschlüsse. Obermagistrate und Volksversammlungen verweisen beide mit ihren weitreichenden Kompetenzen auf die Tatsache, dass die res publica von der Ausbildung eines starken politischen Zentrums geprägt war, in dem sich die entscheidenden Institutionen konzentrierten und die wesentlichen Entscheidungen getroffen wurden. Diese Konzentration des politischen Lebens musste eigentlich die Konzeptionalisierung im Rahmen eines staatsphilosophischen Entwurfes erleichtern. Waren die Römer dazu nun schlicht nicht in der Lage, obwohl ihnen der erste Entwurf von Polybios vorlag und sie intensiv die Schriften der griechischen Staatsphilosophen rezipierten? Was hinderte sie daran, die Vorlage des griechischen Historikers aufzunehmen und weiterzuentwickeln, wenn sie darin Schwachpunkte sahen? Vielleicht liegt die staatsphilosophische Abstinenz der römischen Autoren auch darin begründet, dass aus ihrer Sicht die römische Ordnung durch eine Konzeption, die sich auf das politische Zentrum mit seinen Institutionen konzentrierte, gar nicht angemessen zu beschreiben sei. Vielleicht war die res publica vielmehr wesentlich komplexer aufgebaut, als dies zunächst einmal den Anschein hatte.
IV. Republik ohne Partizipation? Ein entscheidender Hinweis in diese Richtung kann in der Tatsache gesehen werden, dass sich die normalen Römer, die etwas entfernt vom Zentrum lebten, kaum für das politische Leben dort interessierten, obwohl ihnen das institutionelle Geflecht eine erhebliche Mitwirkung anbot. Vor dem Hintergrund der Kompetenzen der Volksversammlungen erstaunen vor allem die Teilnehmerzahlen. Zwar besitzen wir aus den antiken Quellen keine genauen Angaben über die jeweiligen Teilnehmerzahlen, aber wir sind in der Lage, aus verschiedenen Kriterien ein Bild zu zeichnen, das der historischen Realität sehr nahe kommen dürfte. Die entscheidenden Versammlungen waren die Wahlversammlungen. Für diese gehen die moder-
20
Vgl. Wilfried Nippel, Antike oder Moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, 50-53.
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nen Einschätzungen davon aus, dass in der Regel ungefähr 20000 bis 25000 Römer anwesend waren, bei den Konsulwahlen werden es vielleicht etwas mehr gewesen sein. 21 Bei Gesetzesversammlungen, die in einem räumlich wesentlich beengteren Terrain in der Stadt stattfanden, dürften es ungefähr 3000 bis 5000 Bürger gewesen sein, wenn nicht allzu spektakuläre Projekte anstanden. Zu Versammlungen, die der reinen Unterrichtung des Volkes durch die Magistrate dienten, können wir oft nur mit 1000 bis 2000 Teilnehmern rechnen, wenn es überhaupt soviel waren. 22 Diese Zahlen muss man nun mit der Gesamtzahl der potentiell teilnahmeberechtigten Bürger konfrontieren. Aufgrund der von den Censoren geführten Listen wissen wir, dass die Zahl der Bürger im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. zwischen 250000 und 350000 schwankte, mit aufsteigender Tendenz. 23 Im Schnitt waren in dieser Zeit also ungefähr 300000 Bürger berechtigt, am politischen Leben im Zentrum zu partizipieren. Aber nur ca. 10 % der Bürger machten bei den wichtigen Wahlversammlungen von diesen Rechten Gebrauch. Nun könnte man einwenden, dass bei den Wahlen die Wähler nach ökonomischen Kriterien hierarchisiert abstimmten. Arme Wähler wären also weniger zur Teilnahme motiviert gewesen. Doch dieses Argument gilt bei Gesetzesversammlungen nicht, wo der Grundsatz orte man one vote galt. Aber dort betrug die Teilnahmequote nur noch 1 bis 2 %! Diese geringe Teilnehmerquote war eine Folge der Expansion seit der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. Immer mehr Römer lebten weit entfernt vom Zentrum in eroberten Gebieten. Die Bürger, die in der Nähe Roms lebten, hatten deutlich leichtere Zugangsmöglichkeiten zur politischen Sphäre als diejenigen, die weit weg wohnten. Die Entfernung vom Zentrum und die Kosten, die zu ihrer Überwindung für die Wahrnehmung der politischen
21
Zu den Schätzungen der Teilnehmerzahlen s. Henrik Mouritsen, ,Plebs' and Politics in the Late Roman Republic. Cambridge 2001, 18-37, der sogar zum Teil noch von weniger Teilnehmern ausgeht. Die modernen Schätzungen beziehen sich vor allem auf die Wahlen der niederen Beamten, die innerhalb der Stadt stattfanden. Für diese Wahlen kann man sich au! den räumlichen Umfang des Terrains und der baulichen Einrichtungen bei den Hochrechnungen der Teilnehmerzahlen stützen. Schätzungen für die Konsulwahlen, die auf dem Marsfeld außerhalb der alten Stadtgrenzen durchgeführt wurden, sind noch schwieriger. 22
Vgl. Mourilsen, Plebs and Politics (wie Anm. 21), 32: „Until 145 hardly more than 1 per cent of the Citizens could take part in legislation and perhaps also in the elections of lowcr magistrates. This proportion must have fallen even further with the expansion of the citizenry in the first Century, despite the change to larger venue." 25 Vgl. Peter Astbury Brunl, Italian Manpower 225 B. C.-A. D. 14. Oxford 1971, Ndr. 1998, 61-83.
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Rechte aufzubringen waren, wirkten wie ein unsichtbares, konzentrisch um die Stadt R o m angelegtes Zensussystem. J e weiter man vom Zentrum entfernt wohnte, umso höher war der Aufwand, sich dort als Bürger aktiv in die politische Sphäre einzubringen. S o gab es nicht nur eine ökonomisch gestaffelte Ungleichheit der Bürger in Teilen der institutionellen M e c h a n i s m e n , sondern es gab auch und sogar in einem wesentlich stärkeren M a ß e eine Ungleichheit im Raum. Die Republik war durch eine Konstellation geprägt, in der 9 0 bis 9 5 % der römischen Bürger faktisch von der politischen Sphäre im politischen Zentrum und den dort sich vollziehenden Entscheidungsfindungsprozessen ausgeschlossen blieben. Das erstaunliche Phänomen der römischen Republik ist die Tatsache, dass wir nichts von Forderungen der entfernt lebenden Bürger nach B e s e i tigung der räumlichen Zugangshürden zu den wichtigen politischen Entscheidungsprozessen hören. Es gibt keine politische B e w e g u n g in den vom Zentrum weit entfernten römischen Gemeinden, die a u f eine angemessene politische Repräsentation im Zentrum drängte. Wir besitzen keine Nachrichten über Rebellionen und Gehorsamsverweigerungen römischer Bürger, die die Bevormundung durch das .politische Establishment*
der
Hauptstadt und seine Entscheidungen ablehnten. D e r Mangel an repräsentativen Prinzipien in der politischen Ordnung R o m s wurde schon in der amerikanischen Verfassungsdiskussion intensiv erörtert und war eine Ursache dafür, dass man zwar die Leistung der antiken Republiken anerkannte, ihren staatlichen Aufbau aber nicht mehr in allen Aspekten als verbindliches Vorbild ansah, sondern glaubte, die Moderne hätte weiterführende Konzepte entwickelt, die die antiken übertrafen. So stellt J a m e s Madison in einem Artikel der „Federalist Papers" fest: „The difference most relied on, between the American and other republics, consists in the principle o f representation; which is the pivot on which the former move, and which is supposed to have been unknown to the latter, or at least to the ancient part o f t h e m . " 2 4 Zu Recht betont Madison, dass die re-
James Madison, Federalist Papers, Art. 63, übers., eingel. und mit Anm. vers. v. Barbara Zehnpfennig. Darmstadt 1993,380 (Originalzitat); s. dazu auch Art. 10 und 57; zum Problem der Repräsentation s. auch Bernard Manin, The Principles of Representative Government. Cambridge 1997, 102-131 \Jean Yarbrough, Representation and Republicanism: Two Views, in: Publius 9, 1979, 77-98; Mortimer N. S. Seilers, American Republicanism. Roman Ideology in the United States Constitution. London 1994, 199-201; Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? (wie Anm. 20), 138-140. 24
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präsentati ven Prinzipien in der Antike durchaus bekannt waren. 2 5 Aber den Unterschied sieht er darin, dass in der amerikanischen Variante das Volk nicht mehr direkt an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden soll, sondern nur noch über die Vermittlung der gewählten Vertreter. Auf diese Weise würden nicht nur die Stimmungsschwankungen in den Volksmassen neutralisiert, sondern es ergäbe sich die Perspektive für eine großräumige Organisation der Republik. 2 6 Mit dem Verweis auf vereinzelte repräsentative Elemente hat Madison durchaus auch für die römische Republik Recht. So besaßen die Römer in der frühen Phase der Republik sehr wohl Aspekte regionaler Vertretung beim A u f b a u der Institutionen. Wahrscheinlich haben schon die etruskischen Könige im 6. Jahrhundert v. Chr. das römische Territorium in Regionalbezirke, die tribus, eingeteilt. 2 7 Diese Regionalbezirke entsandten zwar keine Abgeordneten als ihre Vertreter nach Rom, doch dienten sie den Volksversammlungen als Stimmeinheit, in denen die unteren Magistrate gewählt wurden und vor allem die meisten Gesetze verabschiedet wurden. 2 8 Da die Römer - im Unterschied zu den Athenern - in ihren Versammlungen nicht direkt abstimmten, sondern immer nur als Teil einer Stimmeinheit, die ihr Votum nach einer internen Abstimmung einheitlich abgab, könnte man sagen, dass die Römer ursprünglich Versammlungsformen kannten, die die regionale Vielfalt widerspiegelten. Doch nach 241 v.Chr. wurden keine neuen tribus mehr geschaffen. 2 9 Gerade in der 2 SarTanus. Weitere Stellen weist Roberl von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Reinbek 1984, 606, nach.
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an den Pflug. Als P a l a m e d e s ihn so sah, m e r k t e er, dass er sich verstellte, h o b Telemach, seinen Sohn, aus der Wiege, legte ihn ihm vor den Pflug und sagte, , L a s s deine Verstellung und k o m m zu den Verbündeten.' Da g a b O d y s s e u s sein Wort, dass er k o m m e n werde. Seitdem w a r er d e m P a l a m e d e s feindlich gesinnt."
Hier liegt eine Verkehrung des Motivs der Berufung „vom Pflug weg" vor, die im Ergebnis aber ebenso zum Erfolg, also zur Teilnahme des Helden an einer wichtigen Handlung, führt und zugleich den Übergang von einem wichtigen Zeitabschnitt zu einem anderen markiert. So stellt sich der Cincinnatus-Stoff, der seinerseits vielfältig rezipiert wurde, jetzt selbst als Produkt einer Rezeption von im Mittelmeerraum verbreiteter Berufungsmotivik dar - „ein orientalisches Sagenmotiv". 7 5 Dies legt die Vermutung nahe, dass die Berufung des Cincinnatus bereits weit vor der Zeit Ciceros ein Gegenstand literarischer Ausgestaltung gewesen sein könnte.
VII. Ursprünge: Cincinnatus bei Ennius und Cato Maior Ein besonders vielversprechender Kandidat, an dem eine solche Vermutung zu prüfen wäre, ist der Autor des ersten römischen Nationalepos, Q. Ennius (239-169 v. Chr.). Im vierten und fünften Buch seiner uns nur fragmentarisch erhaltenen ,Annales" behandelt Ennius den Zeitraum vom Ende der Königsherrschaft bis zum Eintreffen des Königs Pyrrhus in Italien (510-280 v.Chr. der traditionellen Chronologie). Es liegt nahe zu vermuten, dass Cincinnatus im vierten Buch in nicht unbedeutender Funktion figuriert, aber die spärlichen Überreste, die sich diesem Buch der „Annales" zuordnen lassen 76 , ermöglichen keine sicheren Schlüsse. Immerhin wird für ein Fragment (fr. 150 Sk. = 157 V.) 77 in der Forschung Cincinnatus oder Servilius Ahala als möglicher Sprecher vermutet; für ein weiteres (fr. 443 Sk. = 160 V.) 78 hatte bereits im späten 15. Jh. Merula vermutet, 75 Borzsäk, Vorleben (wie Anm. 64), 49. Vgl. auch Stähler, Herrscher (wie Anm. 63), 73, der allerdings die Motiv-Verkehrung nicht deutlich genug herausstellt. 76 Vgl. die Ausgabe von Skulsch, Annais (wie Anm. 71), 84. 11 Et qui se sperat Romae regnare Quadratae? „And, being what sort of man, does he hope to rule Roma Quadrata?"; vgl. Skutsch, Annais (wie Anm. 71), 306 f., dessen Zuversicht, dass et quis homo? in der Rede des Cincinnatus bei Liv. 4, 15, 3 ein Echo von ei qui im vorliegenden Fragment sei („particularly obvious in the use of the nominative instead of quem hominem"), ich allerdings nicht teilen kann. 78 Nobis unde forent fruetus vilaeque propagmen. Vgl. zuletzt Everion da Silva Natividade, Os Anais de Quinto Enio: estudo, tradu9äo e notas. Diss. phil. Säo Paulo 2009,216.
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dass die Worte von Cincinnatus gesprochen werden, als dieser vom Pflug w e g ins Diktatorenamt geholt wird. 7 9 Von besonderem sprachlichem Interesse ist schließlich fr. 4 9 4 f. Sk. (465 f. V.): ,¿4 udire est operae prelium procedere recte Qui rem Romanam Latiumque augescere voltis." „Es lohnt sich zuzuhören für euch, die ihr wollt, dass auf rechtem Weg voranschreitet der römische Staat, und die Latium stärken wollt." Diese Verse, auf die u.a. auch Horaz in seinen „Satiren" (1,2,37) anspielt 8 0 , werden in der Forschung den „Annales" zugeordnet, allerdings keiner bestimmten Stelle darin. 81 Hier liegt freilich, w i e zuerst Haffter gesehen hat 8 2 , eine direkte sprachliche Parallele vor zu dem Satz, mit dem, wie wir weiter oben gesehen haben, Livius seine Cincinnatus-Erzählung einleitet. Es erscheint möglich, dass Livius diese Formel Ennius entnommen hat. 8 3 Träfe diese Vermutung zu, s o hätte wohl Ennius seine Schilderung der Berufung des Cincinnatus (und es ist nicht unwahrscheinlich, dass
Skeptisch äußert sich jüngst jedoch Giorgio Jackson, Note ad Ennio (Ann. 475^477 Flores), in: Vichiana ser. 4, 9, 2007, 3-19, hier 7 („[...] qui si tratta, con ogni probabilità, di un locus communis dell'oratoria, appartenente ad un discorso di qualche personaggio, la cui identità o anche il luogo e l'occasione restono imprecisibili [...]"). 79 Dieser Vorschlag fand Anklang bei Vahlen, der hierzu die entsprechende Version der Geschichte bei Dionysius von Halikarnass (10, 24 und 27) verglich, in der sich Cincinnatus darüber äußert, dass ihm und seiner Familie, wenn er jetzt die Landarbeit für das Amt vernachlässige, Hunger bzw. Armut drohe, wurde aber von Skutsch abgelehnt; vgl. Skulsch, Annais (wie Anm. 71), 601. Skutschs sprachliche Begründung hierfür („in a speech we should expect a direct question [...], which would be undeforenl fruclus nobis?, since interrogative unde would not be placed after a word not carrying emphasis") will mir freilich nicht einleuchten, und Skutschs auf Timpanaro zurückgehende These „there can be no connection between Ennius and Dionysius" lässt sich weder erweisen noch widerlegen. 80 In Porphyrios und Pseudacros Erklärungen zu dieser Stelle sind die beiden Enniusverse überliefert; Skulsch, Annais (wie Anm. 71 ), 653, erwähnt noch Variationen auf Ennius in Accius, Pelops (Mart. Cap. 3, 272) und bei Varrò Men. 542 (Non. 478, 16). Vgl. insgesamt Prinzen, Ennius (wie Anm. 60), 158 f., 245 Anm. 4. 81 Vgl. die überzeugende Begründung durch Skulsch, Annais (wie Anm. 71), 653: „The subject matter indicates that the lines belong to the Annals, and the humorous use which Horace makes of them would lose much of its effect if they belonged to the relatively unknown Satires." 82 Vgl. Heinz Haffter, Untersuchungen zur altlateinischen Dichtersprache. Berlin 1934, 3 Anm. 1. 83 Zur häufigen Enniusbenutzung bei Livius gerade in den frühen Büchern vgl. Skutsch, Annais (wie Anm. 71), 22-24.
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eine solche in den ,Annales" vorkam) auch schon mit dieser Formel eingeleitet, und somit wären die beiden Verse für das 4. Buch der „Annales" zu vindizieren. Es bleibt allerdings für diesen Fall unklar, ob der Sprecher dieser Worte eine auktoriale Stimme ist, wie bei Livius, oder aber, was weniger wahrscheinlich ist, eine Figur in den „Annales" selbst. Der didaktische Anspruch, der in den Versen erhoben wird, lässt jedenfalls eher an eine auktoriale Sprechhaltung denken. Die Untersuchung des Ennius fuhrt in zeitliche und ideologische Nähe zu dessen Förderer, M. Porcius Cato. Das frugale Landleben und das ostentative Selbstverständnis als Bauer standen in Catos Selbstinszenierung an zentraler Stelle. Dies wird schon allein deutlich, wenn man sich d i e p r a e f a tio seiner Schrift über den Landbau vergegenwärtigt 84 (Cato, De agri cultura praef. 2;4): „(2) Et virum bonum quom laudabant, ita laudabant: bonum agricolam bonumque colonum. amplissime laudari existimabatur, qui ita laudabatur. [...] (4) At ex agricolis et viri fortissimi et milites strenuissimi gignuntur, maximeque pius quaestus stabilissimusque consequitur minimeque invidiosus, minime male cogitantes sunt, qui in eo studio occupati sunt." „(2) Und wenn sie einen guten Mann lobten, dann lobten sie so: ein guter Bauer und ein guter Pächter. [...] (4) Aber aus dem Bauernstand kommen die tüchtigsten Männer und stärksten Soldaten, und es ergibt sich daraus der anständigste, dauerhafteste und am wenigsten Neid erregende Erwerb, und die am wenigsten schlechte Gesinnung haben die, die mit dieser Tätigkeit beschäftigt sind."
Hier zeigt sich eine wichtige ideologische Seite des Landlebens: Die Fähigkeit zu ländlicher Frugalität ist ein untrügliches Zeichen für individuelle Arbeitskraft und Wehrhaftigkeit. Der Bauer empfiehlt sich daher für alle Tätigkeiten und Ämter, auch die höchsten. 85 Aber auch in seinen Reden, namentlich in „De suis virtutibus contra L. Thermum" („Über seine Tugen-
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Vgl. überdies z. B. Plinio Fraccaro, Vir bonus, colendi peritus, in: ders., Opuscula. Scritti di carattere generale. Studi Catoniani. I processi degli Scipioni. Pavia 1956, 4 3 60; Brenden Reay, Agriculture, Writing, and Cato's Aristocratic Self-Fashioning, in: Classical Antiquity 24, 2005, 331-361. 85 Zum ideologischen Hintergrund vgl. Silke Diederich, Römische Agrarhandbilcher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie. Berlin/New York 2007, 274-281; zur nicht unbeträchtlichen Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ebd. 282-294. Vgl. überdies Heike Niquet, The Ideal of the Senatorial Agriculturalist and Reality Düring the Roman Republic and Empire, in: Karla Pollmann (Ed.), Double Standards in the Ancient and Medieval World. Göttingen 2000, 121-133.
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d e n , g e g e n L. T h e r m u s " , fr. 128 M a l c o v a t i ; w a h r s c h e i n l i c h 183 v. Chr.) äußert er s i c h ähnlich: „Ego iam a principio in parsimonia atque in duritia atque industria o m n e m adulescentiam m e a m abstinui agro colendo, saxis Sabinis repastinandis atque conserendis." „Ich habe schon von A n f a n g an in Sparsamkeit und in Härte und Fleiß meine Jugend zugebracht, beim Ackerbau, beim Umgraben des steinigen sabinischen Bodens und bei (dessen) Bepflanzung." Ü b e r d i e s e Art v o n a u t o b i o g r a p h i s c h e r S e l b s t s t i l i s i e r u n g m a c h t s i c h bereits ein Z e i t g e n o s s e C a t o s , der K o m ö d i e n d i c h t e r Plautus, in e i n e r R e i h e s e i n e r S t ü c k e lustig, n a m e n t l i c h i m P r o l o g d e s „ M e r c a t o r " ( „ D e r K a u f m a n n " ) . 8 6 Im K o n t e x t s e i n e r R e d e hat s i c h C a t o , s o ist in der F o r s c h u n g p l a u s i b e l v e r m u t e t w o r d e n , s i c h s e l b s t mit g r o ß e n Vorbildern v e r g l i c h e n , die ihrerseits, v o m A c k e r g e h o l t , in h ö c h s t e S t a a t s ä m t e r n g e l a n g t s i n d . 8 7 Plutarch m a c h t in s e i n e r C a t o - B i o g r a p h i e g e n a u e A n g a b e n z u C a t o s Tag e s a b l a u f (Plut. C a t o 3 , 2 ) : A m M o r g e n sah er a u f d e m F o r u m s e i n e K l i e n ten, d a n a c h kehrte er a u f s e i n e n B e s i t z zurück u n d arbeitete dort m i t s e i n e n S k l a v e n a u f d e m B a u e m h o f , i m W i n t e r m i t e i n e m H e m d b e k l e i d e t , im S o m m e r nackt - n o t a b e n e w i e C i n c i n n a t u s , d e r e b e n f a l l s u n b e k l e i d e t war, w a s in Liv. 3 , 2 6 , 9 a n g e d e u t e t ist u n d in der S p ä t a n t i k e Vir. ill. 17,1 a u s buchstabiert wird: [...]
legati
nudum%i
eum arantem
Irans
Tiberim
offen-
86 Plaut. Merc. 56-72; vgl. Boris Dunsch, II commerciante in scena: Temi e motivi mercantili nel Mercator phulmo e neWEmporos filemoniano, in: Renato Raffaelli/Alba Tontini (Eds ), Lecturae Plautinae Sarsinates XI: Mercator (Sarsina, 29 settembre 2007). Urbino 2008, 11-41. 87 Dies vermutet, unter Berufung auf Symm. epist. 7,15, Francesco della Corte, Catone censore. La vita e la fortuna. 2. Aufl. Florenz 1969, 189, dem Maria Teresa Sblendorio Cugusi, M. Porci Catonis Orationum Reliquiae. Turin 1982, 281, unter vorsichtigem Vorbehalt zustimmt. Leider hat diese Vermutung keine Fundierung im Text: Die Symmachus-Stelle bezieht sich zwar auf die Berufung vorbildhafter Männer „vom Pflug weg", erwähnt aber Cincinnatus nicht, sondern Colones atque Atilios, „Leute wie Cato und Atilius (Serranus)". Wenn man bereit ist anzunehmen, dass hier und an anderen Stellen mit Atilius (Serranus) ohnehin niemand anders gemeint ist als Cincinnatus, könnte man mit della Corte weiterhin auf die Symmachus-Stelle pochen. Eher dagegen spricht zumindest im speziellen Fall von Symmachus, dass er an zwei anderen Stellen von Atilius im Singular (epist. 1,58; 5,68,2) spricht, wobei er einmal deutlich auf die Etymologie sererei Serranus anspielt (1, 58: in medio sementis opere, „mitten bei der Arbeit der Aussaat"). Aber der Wegfall der Symmachus-Stelle als Indiz ändert nichts an der generellen Plausibilität der Vermutung della Cortes, dass Cato sich in seinen Schriften neben Cincinnatus gestellt hat. Dies hat eine hohe innere Wahrscheinlichkeit, auch ohne jedes weitere Indiz. 88
Hierzu Fugmann, Königszeit (wie Anm. 12), 123, der nudus als „nur mit der Tunica bekleidet" versteht. Besonders deutlich wird der Kontrast zwischen der Nacktheit des (als 242
derunt („Die Gesandten fanden ihn, als er nackt jenseits des Tibers pflügte."). 8 9 Zudem aß und trank Cato mit seinen Sklaven, und zwar dieselben Dinge w i e diese. Daran schließt sich bei Plutarch eine Art motivisch variierter Berufungsgeschichte an, in der wir erfahren, dass Valerius Flaccus sich Catos aufgrund von dessen herausragenden Tugenden annahm und ihn ermutigte, sich in Rom politisch zu betätigen. 9 0 Dies ist wahrscheinlich der Reflex einer von Cato selbst über sich in Umlauf gebrachten Schilderung seiner bäuerlichen Tugenden, in der er sich „zu einem frugalen altrömischen Bauernkrieger" 91 stilisiert. Hier, im Rahmen von Catos Selbstdarstellung, wäre ein plausibel scheinender Ort, an dem eine vielleicht schon bestehende Cincinnatus-Erzählung auf die spezielle Rustizität hin zugespitzt wurde, die uns bei Livius dann in völlig ausdifferenzierter und kanonisierter Form entgegentritt. Hierauf könnte auch die weiter oben zitierte explizite Berufung auf Cincinnatus als vorbildlichen Vertreter der maiores
hindeuten, welche Cicero in seinem Dialog über
das Alter seiner Cato-Figur in den Mund legt (Cic. Cato 56).
Privatmann) pflügenden Cincinnatus und dem Erfordernis, sich (als öffentliche Person) zu bedecken, wenn es um die Verhandlung von Angelegenheiten des römischen Staates geht, bei Plin. nat. 18, 19. Dazu ausfuhrlich Pierre Cordier, Nudités romaines. Un problème d'histoire et d'anthropologie. Paris 2005, 84-89; vgl. auch Caroline Voul, The Myth of the Toga: Understanding the History of Roman Dress, in: Greece & Rome 43, 1996, 204-220, hier 214 (Toga als Zeichen von „political and civic duty"). Bei Dion. Hai. ant. 10,17,4 ist Cincinnatus mit einem Lendenschurz bekleidet und trägt die typische Filzkappe der Landarbeiter, die übrigens auch Odysseus trägt, als er, Wahnsinn vortäuschend, Pferd und Ochse an den Pflug spannt (Hyg. fab. 95, 2; siehe oben). 89 Vgl. Hes. erg. 391 f. mit dem Kommentar von M. L. West, Hesiod. Works and Days. Oxford 1978, 257f.: „Nackt" muss in vielen ähnlichen Kontexten nicht heißen „gänzlich unbekleidet". Bildliche Darstellungen der Antike, sofern diese uns einen Anhaltspunkt geben können, zeigen die Menschen beim Pflügen und Säen teils völlig nackt, teils aber auch bekleidet. 90 Plut. Cato 3, 3: In bemerkenswerter Umkehrung des in den Berufungsgeschichten sonst üblichen Gärtner- bzw. Bauemmotivs hören wir, wie Valerius Flaccus erkannte, dass der junge Cato „wie eine Pflanze Pflege und einen lichtreichen Platz benötigte" (&cnt£p (puröv ÀAKTIOEOJÇ Kai XMpiç ¿Jaipavoôç 6 E Ô H £ V O V ) . 1,1 Diederich, Agrarhandbücher (wie Anm. 85), 281. 243
VIII. Ausblick: Kanonischer und umgeformter Cincinnatus in Kaiserzeit und Spätantike Die auf diese Weise festgeschriebene Cincinnatus-Gestalt - „das Musterbild eines römischen Staatsmannes mit besonderer Vollmacht" 92 , das Livius entwirft - figuriert seitdem in, soweit sich erkennen lässt, ungebrochener Tradition. Allerdings lässt sich mit Beginn des Prinzipats der allgemeinen Tendenz nach eine Akzentverschiebung hin zu einem exemplum für paupertas beobachten 93 , so etwa schon in der Exempelsammlung des Valerius Maximus (v. a. Val. Max. 4,4,7), in den kaiserzeitlichen Deklamationsübungen (z. B. Sen. contr. 2,1,8) 9 4 , und besonders deutlich bei Augustinus (civ. 5,18). 9 5 Diese über die Zeit immer weiter fortschreitende Akzentverschiebung ist unter den Bedingungen der Kaiserherrschaft nur allzu verständlich: Ein Diktator wie Cincinnatus, der ganz bewusst nach der kürzestmöglichen Zeit wieder auf die ihm von Senat und Volk verliehene Machtfulle verzichtet 96 , ist eine Figur, die durch ihre reine Existenz ja geradezu zur Kritik am Kaiser und seiner Alleinherrschaft einladen würde. Als umadressiertes und auf den Aspekt der Armut oder maßvollen Lebensführung (moderatio bzw. modestia)97 reduziertes exemplum jedoch kann die Cincinnatus-Figur eingesetzt werden, um den Untertanen des Kaisers
92
Holzberg, Livius (wie Anm. 15), 32. Die paupertas spielt bei Livius keine große Rolle; vielmehr bringt er Cincinnatus v. a. mit Begriffen wie virtus (3, 19, 3; 3, 26, 7; 4, 13, 13), consilium (4, 13, 13) und fortitudo (4, 3,11) in Verbindung, vgl. die Appendizes bei Timothy J. Moore, Artistry and Ideology: Livy's Vocabulary of Virtue. Frankfurt am Main 1989. 94 Vgl. Marc van der Poel, The Use of exempla in Roman Declamation, in: Rhetorica 27, 2009, 332-353, hier 347. 95 Sollte diese Annahme zutreffen, dann wäre auch für Lucan. 10, 153 wahrscheinlich gemacht, dass dort nicht an Serranus, sondern an Cincinnatus gedacht ist; denn der Vers steht im Kontext von nomina pauperis aevi (ebd. V. 151). % Eben dieser Verzicht auf die Macht nach kurzer Zeit wird in kaiserzeitlichen und spätantiken Texten oft nicht mehr thematisiert, z. B. bei Oros. 2, 12, 8, Eutr. 1,17 und Veg. mil. 1,3,5. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Sen. brev. 17,6, wo allerdings Cincinnatus auch in einer eher ungewöhnlichen Dreierreihe mit Scipio Africanus und C. Marius als ein negatives exemplum fiir ambitio und daraus resultierende occupatio angeführt wird, vgl. Gareth D. Williams, Seneca. De otio. De brevitate vitae. Cambridge 2003, 233 f.: ,,[B]y strategically overlooking the distance between 458 and 439, S. suggests that Cincinnatus was restless afler stepping down from his flrst dictatorship and quickly sought new office to replace the old." 97 Zum Unterschied vgl. Moore, Artistry (wie Anm. 93), 75.
93
244
zu zeigen, dass persönliche Tugend und gute Lebensführung staatstragende Eigenschaften sind. Kaum einmal wird eine grundsätzliche Kritik an dieser Figur laut. Eine seltene Ausnahme bildet die ästhetische Beurteilung eines übertriebenen Landlobs, die der Satiriker Persius (34-62 n. Chr.) äußert. Im Kontext eines typischen Inhaltsaufrisses einer breit „episierenden laus ruris"9S (Sat. 1,69-75) erwähnt Persius in seiner ersten Satire auch die Berufung des Cincinnatus „vom Pflug weg". In V. 75 distanziert sich der Satiriker mit ironischem Lob des Dichterlings (euge poeta!) von dem soeben entworfenen mehr hübschen als literarisch wertvollen Tableau: „ U n d e R e m u s , s u l c o q u e terens dentalia, Quinti, q u e m trepida ante b o v e s dictatorem induit uxor, et tua aratra d o m u m lictor tulit. e u g e poeta!" „ R e m u s v o n da und du, Quintius, in der Ackerfurche die Pflugschar abnutzend, den als Diktator hastig seine Frau im A n g e s i c h t der O c h s e n kleidete und deinen P f l u g trug der Liktor nach Hause.
Tres bien,
Poet!"
Persius überbietet die kanonisierte Erzählung sogar noch in einem witzigen Detail: Sobald Cincinnatus das Diktatorenamt angetreten hat, ist es wohl unter der Würde seines Amtes, den Pflug in die Hand zu nehmen - da, so Persius, hat ihn ein Liktor, also ein Amtsdiener des Diktators, nach Hause getragen.
IX. Die Cincinnatus-Figur als Syntheton Im Überblick stellt sich die Situation so dar: Die idealtypische Gestalt des Cincinnatus wird wahrscheinlich von Ennius das erste Mal literarisch fixiert. In vorennianische Zeit datierende Cincinnatus-Erzählungen scheinen zwar prinzipiell möglich, sind aber in keiner Form mehr greifbar. Etwa zur gleichen Zeit wendet sich auch die ältere römische Geschichtsschreibung der Gestalt des Cincinnatus zu. Niederschläge dieses Interesses haben sich in Form kurzer Nachrichten bei Cincius Alimentus und Calpurnius Piso erhalten. Besonders wichtig aber ist die Verargumentierung des Cincinnatus bei Cato, der sich wahrscheinlich in mindestens einem Selbstzeugnis zu einer Art Cincinnatus redivivus stilisiert hat.
Vgl.
Kißel,
Persius (wie Anm. 68), 207.
245
E i n w e i t e r e r A s p e k t , d e r h i e r n i c h t n ä h e r u n t e r s u c h t w e r d e n k o n n t e , sei d o c h a b s c h l i e ß e n d w e n i g s t e n s e r w ä h n t . E s ist b e m e r k e n s w e r t , d a s s e i n H e l d der r ö m i s c h e n F r ü h z e i t e i n e n N a m e n g e t r a g e n h a b e n s o l l , d e r - zum i n d e s t in für u n s d u r c h literarische Ü b e r l i e f e r u n g g r e i f b a r e r Z e i t - in kein e r W e i s e p o s i t i v - h e r o i s c h k o n n o t i e r t ist, s o n d e r n a u f E f f e m i n i e r t h e i t hindeutet: Cincinnatus,
d e r L o c k e n k o p f 9 9 - e i n e s o l c h e Haartracht s c h e i n t
s p ä t e s t e n s seit P l a u t u s a l s Z e i c h e n u n m ä n n l i c h e n D a n d y t u m s betrachtet w o r d e n z u s e i n . 1 0 0 D i e s e r ü b e r r a s c h e n d e B e f u n d 1 0 1 lässt s i c h w a h r s c h e i n l i c h e h e r d a d u r c h e r k l ä r e n , d a s s d i e C o g n o m i n a der r ö m i s c h e n O b e r s c h i c h t ü b e r h a u p t o f t e i n e n w e n i g s c h m e i c h e l h a f t e n C h a r a k t e r h a b e n k o n n t e n , als d a d u r c h , d a s s m a n e i n e U m s e m a n t i s i e r u n g d e s W o r t e s cincinnatus
für e i n e
Z e i t i r g e n d w a n n v o r d e m E i n s e t z e n u n s e r e r literarischen Q u e l l e n p o s t u liert.
102
G e r a d e d i e s e s k u r i o s e C o g n o m e n ist a l s o w o m ö g l i c h der a m e h e s -
t e n als a u t h e n t i s c h a n z u s e h e n d e Teil der g e s a m t e n
Cincinnatus-Gestalt:
Wer nämlich wäre darauf verfallen, einer Kunstgestalt einen N a m e n zu geb e n , d e r a u s g e r e c h n e t d i e E i g e n s c h a f t e n , für d e r e n V e r h e r r l i c h u n g m a n d i e K u n s t g e s t a l t g e s c h a f f e n hat, o f f e n k o n t e r k a r i e r t ? 1 0 3
99
Eine Information bei Suet. Cal. 35,1 deutet darauf hin, dass in einer Familie in der Kaiserzeit, die sich genealogisch auf Cincinnatus zurückführte, Haare in irgendeiner Form als Familienkleinod und Zeichen vornehmer und alter Abstammung aufbewahrt und gezeigt wurden; Caligula verbat nach Suetons Bericht dieser und anderen Familien das Führen der velerafamiliarum insignia. Deutlich wird hier a u f j e d e n Fall die auch visuell auffällige Verbindung eines kampferprobten bäurischen Römers mit einer bemerkenswerten Haarpracht. Ich danke Berit Hildebrandt (Hannover) für diesen Hinweis. 100 Vgl. v. a. Plaut. Truc. 287 f.: iam hercle ego istosßctos, compositos, crispos cincinnos tuosjungentatos usque ex cerebro exvellam; 609-611 [...] moechum malacum, cincinnatumjumbraticulum, tumpanotribam amas, hominem non nauci?\ Mil. 923f.: populi odium [...] magnidicum, cincinnatum,/moechum unguentatum\ weniger negativ, doch auch nicht schmeichelhaft: Capt. 647f.; von der Frisur einer Hetäre: Truc. 287f.: iam hercle ego istos ßctos, compositos, crispos cincinnos tuosjungentatos usque ex cerebro exvellam. 101
Interessanterweise wird an einer fragmentarisch überlieferten Stelle bei Cass. Dio 5,23,2 (Zon. 7,17) genau auf diesen Widerspruch verwiesen, der zwischen der üppigen Haarpracht des Cincinnatus, der sich sein Haar in Locken habe wachsen lassen, und seiner mäßigen Lebensführung und seinen militärischen Tugenden geherrscht habe. 102 Dies tun z. B. Mason Hammond/Arthur M. Mack/ Walter Moskalew, Plautus. Miles gloriosus. Cambridge, Mass./London 1997 (zuerst 1963), 159. 103 Tatsächlich wird für das Jahr 458 v. Chr. in den Fasti consulares Capitoiini (Fast, cons. Capitol. a. 296) und in den Triumphalakten (Act. triumph. Capitol.) zum selben Jahr ein L. Quinctius L.f.L.n. Cincinnatus) als dict(ator) rei gerundae causa aufgeführt. Diese Information, in Verbindung mit einer weiteren Tradition, die den Diktator des Jahres 380 v.Chr., T. Quinctius Cincinnatus, betrifft (Liv. 6,28,3-6,29,10), der ebenfalls nach einem militärischen Erfolg sofort sein Amt niederlegte und im kapitolinischen Tem-
246
Bemerkenswert ist schließlich auch und vor allem, dass die Berufungsgeschichte, innerhalb derer die Cincinnatus-Gestalt bei Livius so prominent figuriert und als exemplum
bis heute eine große Wirkung entfaltet, sich
unter formgeschichtlichem Gesichtspunkt selbst als Ergebnis einer Rezeption von Motiven erweist, die sich auch im Alten Testament und in der Alexandergeschichte finden und als frei flottierendes Material wohl schon früh in narrative Texte patrizischer Selbstinszenierung 1 0 4 in Rom integriert wurden. Einem kleinen historischen Kern, der aus w e n i g mehr als einem Namen besteht, lagerten sich die ideologisch j e w e i l s geeignetsten Motive zu Charakter und Handlungsweise von außen an; im Ergebnis entstand daraus ein vollsynthetischer, bestens verargumentierbarer Heros, dessen Figur auch flexibel genug war, um mit Modifikationen sogar noch in der Kaiserzeit weiterverwendet werden zu können.
pel eine Goldkrone von zweieindrittel Pfund Gewicht dedizierte (vgl. Fest. 498 L. s. v. Irienlem lertium) bildete wohl den Kern der volkstümlichen Tradition einer Erzählung von einem heldenhaften Diktator Cincinnatus aus der römischen Frühzeit, vgl. Forsythe, Critical History (wie Anm. I), 206. Ich danke Walter Wimmel (Marburg) für eine interessante Diskussion dieser Frage. 104 Vgl. Borzsäk, Vorleben (wie Anm. 64), 48: „Der Leser von heute denkt nicht daran, daß hinter dem schön klingenden Ausdruck magislratus ab aratro abductus [...] keine historische Realität, weit eher die Nostalgie nach einer erbaulichen und begeisternden römischen Vergangenheit (und ursprünglich nicht zuletzt politische Berechnung) stecken mag." Zum Verhältnis von literarischer Konstruktion und sozialer Norm äußem sich mit ähnlichem Ergebnis für die Camillus-Gestalt Marianne Coudry, Camille: Construction et fluctuation de la figure d'un grand homme, in: dies./Späth (Eds ), L'invention des grandes hommes (wie Anm. 38), 47-81; und Thomas Späth, Erzählt, erfunden: Camillus literarische Konstruktion und soziale Normen, im selben Band, 341-412. 247
Von einer Oppositionsfigur zum staatstragenden Modell Cincinnatus in der anglo-amerikanischen Publizistik des 18. Jahrhunderts Von
Ulrich
Niggemann
Die politische Sprache und Argumentation der Gründergeneration der Vereinigten Staaten war ähnlich wie die politische Literatur Europas geprägt von historischen und mythologischen Figuren, die als Exempel und Modelle für vorbildhaftes oder verwerfliches Handeln herangezogen wurden. Diese Figuren wurden überwiegend aus der Bibel, namentlich aus dem Alten Testament, s o w i e aus der klassischen Antike übernommen. Gerade letzterer kam in Amerika eine überragende Bedeutung zu. Zu erinnern ist nur an die Pseudonyme „Publius" und „Brutus" im „Federalist" und „Anti-Federalist" 1 oder an die Präsenz von Cato Uticensis im politischen Schrifttum, zumeist wohl vermittelt durch das Drama von Joseph Addison. 2 Als 1
Sämtliche „Federalist Papers" wurden unter dem Pseudonym „Publius" veröffentlicht; dahinter verbargen sich Alexander Hamilton, James Madison und John Jay. Eine moderne Textausgabe findet sich in James Madison/Alexander Hamilton/John Jay, The Federalist Papers. Ed. by Isaac Kramnick. London 1987. Der „Antifederalist", ebenfalls eine Serie von Artikeln in verschiedenen Zeitungen, die u. a. unter den Pseudonymen „Brutus" und „Cato" publiziert wurde, liegt in Anthologien vor: Cecilia M. Kenyon (Ed.), The Antifederalists. Indianapolis 1966, Ndr. Boston 1985; und Herbert J. Storing (Ed.), The Anti-Federalist. Writings by the Opponents of the Constitution. Chicago/London 1985. Vgl. dazu auch Angela Adams/Willi Paul Adams (Hrsg.), Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Paderborn u.a. 1994, XXVIII- XXXVI; Murray Dry, The Debate over Ratification of the Constitution, in: Jack P. Greene/Jack R. Pole (Eds.), A Companion to the American Revolution. Maiden, Mass. 2004, 482^194; Jürgen Heideking/Christof Mauch, Geschichte der USA. 5. Aufl. Tübingen 2007. 63-66. Außerdem dazu der Beitrag von Mathias Hanses in diesem Band. 2
Joseph Addison, Cato: A Tragedy, and Selected Essays. Ed. by Christine Dunn Henderson/Mark E. Yellin. Indianapolis 2004. Zur Bedeutung von Addisons Drama in Amerika z. B. Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution. 14th Ed. Cambridge, Mass. 1977,44, der vom „catonic image" in den frühen USA spricht; außerdem Kenneth Silverman, A Cultural History of the American Revolution. Painting, Music, Literature and the Theatre in the Colonies and the United States from the Treaty of Paris to the Inauguration of George Washington, 1763-1789. New York 1987, 82f.;
Negativfolien wurden überdies Caesar und Alexander häufig verwendet. 1 Doch es gab eine antike römische Gestalt, der in den frühen USA eine besondere Karriere vergönnt war, nämlich Lucius Quinctius Cincinnatus, jener römische Landmann aus dem Senatorenstand, der nach Livius vom Pflug weg zum Diktator berufen worden und nach der erfolgreichen Beseitigung einer Krise prompt an seinen Pflug zurückgekehrt sein soll. 4 Schon zu Beginn des Unabhängigkeitskriegs, nach der Schlacht von Bunker Hill wurde General Israel Putnam mit Cincinnatus verglichen. 5 Am Ende des Krieges gründeten die ehemaligen Offiziere der Kontinentalarmee die Society of the Cincinnati, nach der dann 1788 auch eine neugegründete Stadt im Northwest-Territory, im späteren Ohio, benannt wurde.6 Doch am bekanntesten ist wohl die typologische Gleichsetzung George Washingtons mit Cincinnatus, die unmittelbar nach Beendigung des Unabhängigkeitskriegs 1783 populär wurde, nachdem Washington mit großer Geste seinen Oberbefehl über die Kontinentalarmee abgegeben hatte und auf sein Landgut Mount Vernon zurückgekehrt war.7 Richard Brookhiser, Founding Father. Rediscovering George Washington. New York 1996, 122-126; Barry Schwartz, The Character of Washington. A Study in Republican Culture, in: The American Quarterly 38, 1986, 202-222, hier 205; Albert Furtwangler, Cato at Valley Forge, in: Modem Language Quarterly 41, 1980, 38-53; und Margaret Malamud, Ancient Rome and Modem America. Maiden, Mass. 2 0 0 9 , 9 - 1 5 . Vgl. auch die Beiträge von Kai Ruffing und Thomas Clark in diesem Band. 3
Vgl. etwa Dennis Hannemann, Klassische Antike und amerikanische Identitätskonstruktion. Untersuchungen zu Festreden der Revolutionszeit und der frühen Republik 1770-1815. (Beitr. zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 27.) Paderborn u. a. 2008, 81-95, 120f., 129f„ 132, 231-235; und allgemein zu den antiken „Antimodellen" Carl J. Richard, The Founders and the Classics. Greece, Rome, and the American Enlightenment. Cambridge, Mass. 1996, 85-122. 4 Titus Livius, Ab urbe condita, III. Buch, 26,6-29,7, lat.-dt. Ausg. hrsg. v. Hans J. Hillen. Darmstadt 1987,376-385. Zu den antiken Cincinnatus-Erzählungen vgl. Rudolf Hanslik, Art. „Quinctius (27)", in: RE XXIV, 1963, 1020-1023; Christian Müller, Art. „Quinctius (17): Q. Cincinnatus, L ", in: DNP 10, 2001, 706f.; und insbesondere den Beitrag von Boris Dunsch in diesem Band. 5 Abdruck von Meldungen der Pennsylvania Packet vom 3. Juli 1775 und der Virginia Gazette vom 12. August 1775 bei Frank Moore, Diary of the American Revolution: From Newspapers and Original Documents. Vol. 1. New York [ 1860], 105f. Vgl. dazu Silverman, Cultural History (wie Anm. 2), 286 f. 6 Zur Society of the Cincinnati vgl. insbesondere Markus Hünemörder, The Society of the Cincinnati. Conspiracy and Distrust in Early America. (European Studies in American History, Vol. 2.) New York/Oxford 2006. 7 Diese Gleichsetzung Washingtons mit Cincinnatus ist in der Forschung bereits vielfach erwähnt und in einer Reihe von Arbeiten auch weitergehend thematisiert worden, wenn auch zum Teil mit deutlich unterschiedlichen Akzentsetzungen; vgl. etwa William A. Bryan, George Washington in American Literature 1775-1865. New York 1952, 53,57 f.;
250
Die
bisherige
Forschung
zur P e r c e p t i o n
und
Präsentation
George
W a s h i n g t o n s 8 hat s i c h z u m e i s t darauf b e s c h r ä n k t , d i e Identifikation m i t Lucius Quinctius Cincinnatus festzustellen und auf deren Implikationen im Z u s a m m e n h a n g m i t W a s h i n g t o n s Rücktritten h i n z u w e i s e n . B i s w e i l e n w u r d e gar in n a i v - p o s i t i v i s t i s c h e r W e i s e d i e s e T y p o l o g i e ü b e r n o m m e n u n d a u f d i e v e r m e i n t l i c h e n Parallelen z w i s c h e n W a s h i n g t o n und d e m R ö m e r hing e w i e s e n . 9 S o w u r d e o f t a l l z u unkritisch d i e z e i t g e n ö s s i s c h e K o n s t r u k t i o n reproduziert. Im F o l g e n d e n s o l l v e r s u c h t w e r d e n , e i n e n a n d e r e n W e g z u b e s c h r e i t e n . D a b e i w i r d d i e i n h a l t l i c h e K e r n a u s s a g e der C i n c i n n a t u s - W a s h i n g t o n - T y p o l o g i e , w i e s i e in der Forschungsliteratur g e t r o f f e n w i r d , nicht g r u n d s ä t z lich in Z w e i f e l z u z i e h e n sein. E s ist j e d o c h v o n der G r u n d a n n a h m e a u s z u gehen, dass die Cincinnatus-Typologie nicht einfach aus d e m Nichts gefund e n u n d a u f W a s h i n g t o n appliziert w u r d e . D e r H i n w e i s a u f d e n k l a s s i s c h e n
Marcus Cunliffe, George Washington. Man and Monument. Boston/Toronto 1958, 17; James H. Smylie, The President as Republican Prophet and King: Clerical Reflections on the Death of George Washington, in: Journal of Church and State 18, 1976,233-252, hier 242f.; Carry Wills, Cincinnatus. George Washington and the Enlightenment. Garden City, NY 1984; Barry Schwartz, George Washington. The Making of an American Symbol. New York/London 1987, 116, !22f., 137; Paul K Longmore, The Invention of George Washington. Berkeley/Los Angeles/London 1988, 173; Gordon S. Wood, The Radicalism of the American Revolution. New York 1993, 205 f.; ders.. The Greatness of George Washington, in: Don Higginbotham (Ed.), George Washington Reconsidered. Charlottesville 2001, 309-324, hier316; Michael J. Hillyard, Cincinnatus and the Citizen-Servant Ideal. The Roman Legend's Life, Times, and Legacy. Philadelphia 2001, 115-118, 122136; Jason S. Lantzer, Washington as Cincinnatus. A Model of Leadership, in: Ethan Fishman/William D. Pederson/Mark J. Rozell (Eds ), George Washington. Foundation of Presidential Leadership and Character. Westport, Conn./London 2001, 33-51; William M. S Rasmussen/Robert S Tilton, George Washington. The Man behind the Myths. Charlottesville 1999, 155; Volker Depkat, Die Erfindung der amerikanischen Präsidentschaft im Zeichen des Geschichtsbruchs. George Washington und die Ausformung eines demokratischen Herrscherbildes, in: ZfG 56, 2008, 728-742, hier 738; Hannemann, Klassische Antike (wie Anm. 3), 235-238; Ulrich Niggemann, Normative Modelle für die amerikanische Präsidentschaft: George Washington in der Funeralliteratur von 1799 und 1800, in: HJb 129, 2009, 101-130, hier 111-123. Zum Rücktritt Washingtons auch Wood, Greatness (wie Anm. 7), 315 f.; François Furstenberg, In the Name of the Father: Washington's Legacy, Slavery, and the Making of a Nation. New York 2006, 64-70. 8 Für diese Forschungsrichtung grundlegend: Cunliffe, Washington (wie Anm. 7); sowie Bryan, Washington (wie Anm. 7). An neueren Arbeiten sind u. a. zu nennen: Longmore, Invention (wie Anm. 7); und Schwanz, Washington (wie Anm. 7). 9 So etwa Hillyard, Cincinnatus (wie Anm. 7), 111-152; und Lantzer, Washington (wie Anm. 7), der die Parallelisierung selber aus einer psychologischen und moralisierenden Perspektive angeht.
251
Lektürekanon 1 0 allein kann hier nicht befriedigen, war dieser doch grundsätzlich offen für unterschiedliche Interpretationen und Lesarten. Auffallig ist zudem, dass Cincinnatus als Typus bereits in der englischen politischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts durchaus präsent war. Daher liegt die Vermutung nahe, dass diese Präsenz in englischen politischen Debatten Lesarten vorgeprägt hat. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Figuren w i e Cincinnatus gewissermaßen als politische Begriffe oder Konzepte zu lesen, die sich j e nach Zeitkontext verändern konnten und sich somit grundsätzlich begriffsgeschichtlich untersuchen l a s s e n . " Damit sind sie Teil einer oder mehrerer politischer Sprachen, derer sich Sprecher bedienen konnten, um ihre Anliegen auszudrücken und plausibel zu machen. Zugleich konnten derartige Sprechakte dem verwendeten Vokabular neue Bedeutungen verleihen und somit die politische Sprache verändern. 1 2 10 Dieser steht deutlich im Vordergrand bei Richard, Founders (wie Anm. 3); und Hannemann, Antike (wie Anm. 3). 11 Zur konzeptionellen Grundlegung der BegrifTsgeschichte vgl. Reinharl Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, X1II-XXVII; ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte. (Sprache und Geschichte, Bd. 1.) Stuttgart 1978, 19-36; ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt am Main 2006, 9-102; Rolf Reichardt, Einleitung, in: ders./Eberhard Schmitt (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820. Bd. 1. München 1985, 39-108; Melvin Richter, Conceptual History (Begriffsgeschichte) and Political Theory, in: Political Theory 14, 1986,604-637; ders., BegrifTsgeschichte and the History of Ideas, in: JHIdeas48, 1987, 247-263. Eine gute Einführung bietet RaingardEßer, Historische Semantik, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. 2. Aufl. Göttingen 2006, 281-292. Vgl. zur Offenheit von Texten auch die einleitenden Bemerkungen bei Kevin Sharpe, Selling the Tudor Monarchy. Authority and Image in Sixteenth-Century England. New Haven/London 2009, 5. 12 Zum Konzept der politischen Sprachen, das sich vor allem mit der sogenannten „Cambridge School" verbindet, vgl. die grundlegenden Texte von Quenlin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: H & T 8, 1969, 3-53; ders.. Interpretation and the Understanding of Speech Acts, in: ders., Visions of Politics. Vol. 1: Regarding Method. Cambridge 2003, 103-127; John G A. Pocock, Languages and their Implications: The Transformation of the Study of Political Thought, in: ders., Politics, Language, and Time. Essays in Political Thought and History. London 1972, 3-4 I; dazu auch James Tully, The Pen is a Mighty Sword: Quentin Skinner's Analysis of Politics, in: ders. (Ed ), Meaning and Context: Quentin Skinner and his Critics. Cambridge 1988, 7-25; Günther Lottes, „The State of the Art": Stand und Perspektiven der „intellectual history", in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Paderborn 1996, 27-45; Eckhart Hellmuth/Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27, 2001, 149-172; Olaf Asbach, Von der Geschichte politischer Ideen zur „history
252
Es geht also u m die Verhandlung v o n D e u t u n g s h o h e i t e n über B e g r i f f e und Konzepte. Der C i n c i n n a t u s - R e k u r s , so die T h e s e des v o r l i e g e n d e n Beitrags, k o n n t e im Z u g e v e r s c h i e d e n e r S p r e c h a k t e mit B e d e u t u n g e n a u f geladen w e r d e n , d i e e i n a n d e r ablösten o d e r überlagerten. Im Sinne der in der Einleitung d e s v o r l i e g e n d e n B a n d e s a u f g e w o r f e n e n Fragen soll hier also die E i n b e t t u n g d e r a m e r i k a n i s c h e n C i n c i n n a t u s - R e z e p t i o n in den gesamten transatlantischen werden. Dabei
anglo-amerikanischen
so wird zu zeigen sein
Diskurs
thematisiert
lässt sich b e o b a c h t e n , dass die in-
haltliche A u f l a d u n g der Figur d u r c h a u s variieren k o n n t e . Es tritt also eine Vielschichtigkeit zutage, die bei der K o n z e n t r a t i o n a u f die WashingtonCincinnatus-Identifikation im D u n k e l n bleibt. 1 3 N a c h eben dieser Vielschichtigkeit innerhalb der a n g l o - a m e r i k a n i s c h e n Tradition soll g e f r a g t werden, um a u f d i e s e m W e g e die R e z e p t i o n s b e z i e h u n g e n und B e d e u t u n g s gehalte der C i n c i n n a t u s - F i g u r im transatlantischen D i s k u r s zu differenzieren. Vor d i e s e m H i n t e r g r u n d wird dann a u c h zu u n t e r s u c h e n sein, ob die Ü b e r t r a g u n g des C i n c i n n a t u s a u f W a s h i n g t o n m e h r e r e B e d e u t u n g s e b e n e n a n n e h m e n k o n n t e o d e r o b nicht v i e l m e h r von einer V e r e n g u n g der in dieser Figur verhandelten Inhalte a u s z u g e h e n ist. Im letzteren Fall w ä r e zu fragen, wie die Selektion u n d H o m o g e n i s i e r u n g der B e d e u t u n g s e b e n e n stattfand. Deutlich wird d a b e i , dass die C i n c i n n a t u s - F i g u r in h e r a u s r a g e n d e r Weise N o r m e n und ideologische M u s t e r der a m e r i k a n i s c h e n R e p u b l i k z u m A u s druck bringen k o n n t e .
I. Der Cincinnatus-Rekurs in der englischen republikanischen Literatur (ca. 1 6 5 0 - 1 8 0 0 ) Als Startpunkt f ü r die f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n bietet sich das U m f e l d der englischen R e v o l u t i o n in d e r Mitte d e s 17. J a h r h u n d e r t s an. Dieser A n f a n g s p u n k t ist k e i n e s w e g s willkürlich gewählt. Der C i n c i n n a t u s - R e k u r s tauchte in E n g l a n d n ä m l i c h j u s t in d e m A u g e n b l i c k a u f , als im B ü r g e r k r i e g und C o m m o n w e a l t h r e p u b l i k a n i s c h e T h e o r i e n a u s f o r m u l i e r t w u r d e n , die
of political discourse"? Skinner, Pocock und die „Cambridge School", in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12, 2002, 637-669. Knappe, aber lesenswerte Einführung auch bei Luise Schorn-Schutte, Neue Geistesgeschichte, in: Eibach/Lottes (Hrsg.), Kompass (wie Anm. 11), 270-280; und Iain Hampsher-Monk, Neuere angloamerikanische Ideengeschichte, in: Eibach/Lottes (Hrsg.), Kompass (wie Anm. 11), 293-306. 13 Dieser Zusammenhang wird immer wieder übersehen; vgl. etwa Hillyard, Cincinnatus (wie Anm. 7), der von der Antike direkt nach Nordamerika springt. 253
für die weitere republikanische Debatte in England und Amerika paradigmatisch werden sollten. 1 4 Insbesondere in den 1650er Jahren erschien eine Reihe von Traktaten, die sich vermehrt an der Frühphase der römischen Republik orientierten und deren Sprache und Ideen in der Forschung vielfach als „klassischer Republikanismus" bezeichnet werden. 1 5 Hier ist ganz besonders auf Marchamont N e d h a m s einflussreiche Schrift „The Excellencie o f a Free State" hinzuweisen. 1 6 Nach der Restauration der Stuart-Monar14 Vgl. zur paradigmatischen Bedeutung der Commonwealth-Literatur etwa Blair War den, Marchamont Nedham and the Beginnings of English Republicanism, 1649-1656, in: David Wootton (Ed.), Republicanism, Liberty, and Commercial Society, 1649-1776. Stanford, Cal. 1994, 45-81, hier 49. 15 Zum Konzept vor allem die klassische Darstellung von John G A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton/Oxford 1975, Nachdr. mit neuem Schlusswort 2003. Pocock führte seine Auffassung in einer Reihe von weiteren Arbeiten aus; vgl. etwa ders., Machiavelli, Harrington, and English Political Ideologies in the Eighteenth Century, in: ders., Politics (wie Anm. 12), 104-147; ders.. Der bürgerliche Humanismus und seine Rolle im anglo-amerikanischen Denken, in: ders., Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Frankfurt am Main u.a. 1993, 33-59. Außerdem bereits '¿era S. Fink, The Classical Republicans. An Essay in the Recovery of a Pattern of Thought in 17th Century England. 2nd Ed. New York 1962; Caroline Robbins, The Eighteenth-Century Commonwealthman. Studies in the Transmission, Development and Circumstance of English Liberal Thought from the Restauration of Charles II until the War with the 13 Colonies. 2nd Ed. Cambridge, Mass. 1961, 7-16; sowie zusammenfassend Mark Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 3: Neuzeit. Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung. München/Zürich 1985, 275-352, hier 330-333, 348f.; und Pamela Edwards, Political Ideas from Locke to Paine, in: Harry T.Dickinson (Ed.), A Companion to Eighteenth-Century Britain. Maiden, Mass. u. a. 2006, 294-310. - Das Konzept des „klassischen Republikanismus" ist freilich stets auch kritisch gesehen worden; vgl. etwa Joyce Appleby, The Social Origins of American Revolutionary Ideology, in: JAmH 64, 1978,935-958; dies., Capitalism and a New Social Order. The Republican Vision of the 1790s. New York 1984; dies.. Republicanism and Ideology, in: American Quarterly 37, 1985,461-473; John P. Diggins, The Lost Soul of American Politics. Virtue, Self-interest, and the Foundation of Liberalism. New York 1984; und aus althistorischer Sicht Wilfried Nippel, „Klassischer Republikanismus" in der Zeit der Englischen Revolution. Zur Problematik eines Interpretationsmodells, in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Antike in der Moderne. (Xenia. Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen, Bd. 15.) Konstanz 1985, 211-224; ders., Bürgerideal und Oligarchie. „Klassischer Republikanismus" aus althistorischer Sicht, in: Helmut G Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. (Sehr, des Hist. Kollegs, Kolloquien, Bd. 11.) München 1988, 1-18; sowie der Beitrag von Wilfried Nippel in diesem Band. 16 Marchamont Nedham, The Excellencie of a Free State. London 1656 [Wing (2nd. Ed.)/ N388]; hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe London 1767 [ESTC T107681], Vgl. zum Autor und zum Text Josef Frank, Cromwell's Press Agent: A Critical Biogra-
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chie 1660 war republikanisches Denken in England zunächst einmal nur noch eine Unterströmung, die freilich in verschiedenen Kontexten immer wieder reaktiviert werden konnte und die zumindest partiell im Gedankengut der frühen W h i g s aufging. 1 7 Von Beginn an lassen sich mindestens zwei Deutungsebenen innerhalb des Cincinnatus-Rekurses feststellen: Einerseits wurden die Armut, Einfachheit und Bescheidenheit des Cincinnatus in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, andererseits wurde sein Machtverzicht hervorgehoben. Bei Nedham etwa wird Cincinnatus als einfacher und armer Bauer charakterisiert, der gleichwohl von den Römern geehrt und in höchste Ämter gewählt worden sei. S o heißt es in „The Excellencie o f a Free State": „We find Cincinnatus, a man of mean fortune, fetch'd from the plough, to the dignity of a dictator: for he had no more than four acres of land, which he tilled with his own hands." 1 8 Cincinnatus erscheint an dieser Stelle als Exempel dafür, dass in der als vorbildlich angeführten römischen
Republik „many o f their
bravest
patriots and conquerors" Männer von geringem Vermögen g e w e s e n seien. Diese hätten nicht nach der Vermehrung ihres Wohlstands gestrebt, sondern sich ganz in den Dienst des Staates gestellt. 1 9 D i e s ist eine Deutung der Cincinnatus-Geschichte, die sicher eng an die Darstellung in den „Discorsi" N i c c o l ö Machiavellis angelehnt ist, die bei Nedham intensiv reziphy of Marchamont Nedham, 1620-1678, Lanham 1980,100; Worden, Marchamont Nedham (wie Anm. 14); ders., Literature and Politics in Cromwellian England. John Milton, Andrew Marvell, Marchamont Nedham. Oxford 2007, 14-30. - Ein Großteil der hier zitierten zeitgenössischen Drucke ist online verfugbar in den Early English Books (zitiert mit der Nummer des Short Title Catalogue von Donald Wing), den Eighteenth Century Collections (zitiert mit der Nummer des English Short Title Catalogue für das 18. Jahrhundert [ESTC]), den Early American Imprints Online (zitiert mit der Nummer der Sammlung Evans), den America's Historical Newspapers Online und der Online-Sammlung The Making of the Modern World (zitiert mit der Goldsmiths'-Kress-Nummer). 17 James R. Jones, The First Whigs. The Politics of the Exclusion Crisis 1678-1683. London u.a. 1961, 10-16; Robbins, Commonwealthman (wie Anm. 15), 22-55; Pocock, Machiavelli (wie Anm. 15); ders.. Machiavellian Moment (wie Anm. 15), 406-422; Tim Harris, Politics under the Later Stuarts. Party Conflict in a Divided Society 1660-1715. London 1993, 59f. 18 Nedham, Excellencie (wie Anm. 16), 15f. 19 Ebd. Vgl. zu dieser Betonung von Bescheidenheit, Einfachheit und Fleiß und zur Ablehnung von Luxus bei Nedham auch Worden, Marchamont Nedham (wie Anm. 14), 70f. In diesem Sinne argumentierte auch James Harrington, der ebenfalls Luxus filr die Ursache des Niedergangs der römischen Republik hielt und die Einheit von Bauer, Bürger und Soldat betonte; James Harrington, The Commonwealth of Oceana and a System of Politics. Ed. by John G A. Pocock. Cambridge 1992, 43. 255
piert w u r d e n . 2 0 D e r F l o r e n t i n e r rekurrierte in s e i n e n „ D i s c o r s i " e b e n f a l l s a u f L u c i u s Q u i n c t i u s C i n c i n n a t u s , w o b e i er g a n z b e s o n d e r s d e s s e n A r m u t b e t o n t e . M a c h i a v e l l i b e h a n d e l t e d i e F i g u r d e s C i n c i n n a t u s unter d e r T h e s e , d a s s e s für e i n e R e p u b l i k n ü t z l i c h s e i , d i e Bürger in A r m u t z u halten. E i n e m „ g u t e n u n d t ü c h t i g e n M a n n w i e C i n c i n n a t u s " hätten v i e r M o r g e n L a n d g e n ü g t , o h n e d a s s er d e s h a l b w e n i g e r verehrt w o r d e n s e i . 2 1 O b f r e i l i c h d a s b e i M a c h i a v e l l i s o z e n t r a l e K o n z e p t v o n virtù
u n d fortuna,
d. h. d i e Vor-
s t e l l u n g e i n e r w a h l l o s e n s t ä n d i g e n V e r ä n d e r u n g der m e n s c h l i c h e n G e s c h i c k e u n d e i n e r z y k l i s c h e n D e k a d e n z u n d Korruption der p o l i t i s c h e n Verhältn i s s e , d i e nur d u r c h virtù a u f g e h a l t e n w e r d e n k o n n t e , bei N e d h a m im Mitt e l p u n k t stand, ist f r a g l i c h . S i c h e r z i e l t e a u c h s e i n e K o n z e p t i o n a u f e i n e im G e g e n s a t z zur m i t t e l a l t e r l i c h - c h r i s t l i c h e n T u g e n d a u f f a s s u n g s t e h e n d e akt i v e , m u t i g e u n d e n t s c h l o s s e n e Partizipation d e s t u g e n d h a f t e n
Bürgers,
d o c h d a s F o r t u n a - B i l d s p i e l t hier k e i n e p r o m i n e n t e R o l l e . 2 2 In d u r c h a u s ä h n l i c h e r W e i s e g r i f f a u c h A l g e r n o n S i d n e y die C i n c i n n a t u s - F i g u r a u f . 2 3 S o h e i ß t e s in s e i n e n 1 6 9 8 p o s t h u m v e r ö f f e n t l i c h t e n „ D i s c o u r s e s c o n c e r n i n g G o v e r n m e n t " , für C i n c i n n a t u s u n d a n d e r e R ö m e r s e i e s
20
Vgl. zur Machiavelli-Rezeption in den republikanischen Texten Englands Felix Raab, The English Face of Machiavelli. A Changing Interpretation 1500-1700. London/Toronto 1965; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 15), 333-422; Paul A. Rahe, Against Throne and Altar. Machiavelli and Political Theory under the English Republic. Cambridge 2008. 21
„Notasi, corno è detto, l'onore che si faceva in Roma alla povertà, e come a un uomo buono e valente quale era Cincinnato, quattro iugeri di terra bastavano a nutrirlo." Das Kapitel selbst ist überschrieben mit „Deila povertà di Cincinnato e di molti cittadini romani"; Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, Buch III. Kap. 25, in: ders., Opere. Ed. Mario Bonfantini. Mailand/Neapel 1955, 87-420, hier 378 f. Vgl. auch Quenlin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought,. Vol. I : The Renaissance. Cambridge u.a. 1978, 163. 22
Zu diesem Tugendbegriffbei Machiavelli vgl. Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli. München 1988, 112-125; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 15), 156-182, 194-218; Skinner, Foundations (wie Anm. 21), 94-101, 174-189; ders.. Machiavelli on virtù and the Maintenance of Liberty, in: ders., Visions of Politics. Vol. 2: Renaissance Virtues. Cambridge 2002, 160-185; und zum Ideal der vita adiva im Florenz der Renaissance klassisch Hans Baron, The Florentine Revival of the Philosophy of the Active Political Life, in: ders., In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought. Vol. 1. Princeton, NJ 1988, 134-157; vgl. überblicksartig zur Frühen Neuzeit insgesamt Herfried Münkler, Die Idee der Tugend. Ein politischer LeitbegrifT im vorrevolutionären Europa, in: AKG 73, 1991, 379-403. 23
Zu Sidney, der 1683 wegen Hochverrats hingerichtet wurde, und seinen Schriften John Carswelt, The Porcupine. The Life of Algernon Sidney. London 1989; und Jonathan Scott, Algernon Sidney and the English Republic, 1623-1677. Cambridge 1988; ders., Algernon Sidney and the Restoration Crisis, 1677-1683. Cambridge 1991.
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nicht schwer gewesen, „to contend themselves with the narrowest fortune". Der Grund fur diese Bescheidenheit und Selbstbeschränkung sei die Wertschätzung gewesen, die sie aufgrund ihrer Tugenden genossen hätten. Solche Männer waren nicht zu korrumpieren: „He that could rise from the plough to the triumphal chariot, and contentedly return thither again, could not be corrupted." Insofern sei Armut die Mutter seiner Tugend gewesen. 24 Sidneys „Discourses" sind eine intensive polemische Auseinandersetzung mit der wohl bereits während der Bürgerkriege verfassten, aber erst im Umfeld der Exclusion Crisis erschienenen „Patriarcha" von Sir Robert Filmer.25 Die Figur des Cincinnatus fungierte dabei auch als Gegenbild zu Filmers Verteidigung einer monarchischen Gesellschaftsordnung, in der angelehnt an die patriarchalisch gedachte Familie - eine gottgewollte hierarchische Ordnung vorherrschte.26 Einfache Männer wie Cincinnatus, die zugleich als herausragend in ihrer Tüchtigkeit und Tugend geschildert wurden 27 , standen - so die Argumentation Sidneys - dem Geblütsprinzip Filmers entgegen. Cincinnatus diente Sidney gewissermaßen als Modell, in dem Tüchtigkeit und Leistung höher zu bewerten seien als Herkunft und Abstammung. 28
24
Algernon Sidney, Discourses Concerning Government. London 1698 [Wing/S3761]; hier und im Folgenden zitiert nach der 3. Aufl., London 1751 [ESTC T113579], 202. 25 Zur Auseinandersetzung Sidneys mit Filmer vgl. Fink, Classical Republicans (wie Anm. 15), 149-151 ,John G A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century. Cambridge 1987, 188; ders., Machiavellian Moment (wie Anm. 15), 421 f.; Blair Worden, English Republicanism, in: James H. Bums (Ed.), The Cambridge History of Political Thought, 14501700. Cambridge 1996, 443^t75, hier460f. 26 Robert Filmer, Patriarcha and Other Writings. Ed. by Johann P. Sommervillc. Cambridge 1991. Vgl. dazu Peter ÍMslett, Introduction, in: Patriarcha and Other Political Works ofSir Robert Filmer. Ed. By Peter Laslett. Oxford 1949, I 48, hier 11 -20; Pocock, Ancient Constitution (wie Anm. 25), 151-153, 187-190; Goldie, Absolutismus (wie Anm. 15), 315 f.; Gordon J. Schochet, Patriarchalism in Political Thought. The Authoritarian Family and Political Speculation and Attitudes Especially in Seventeenth-Century England. New York 1975, 115-158; sowie Johann P. Sommerville, Introduction, in: Filmer, Patriarcha (wie Anm. 26), ix-xxiv. 27 Hierzu auch in direkter Ablehnung der Positionen Filmers Sidney, Discourses (wie Anm. 24), 141 f.: „1 find no men so eminent as Brutus, Publicóla, Quintius Cincinnatus, and Capitolinus, the two Fabii sumamed Maximi, Corvinus, Torquatus, Camillus, and the like: and if these were the worst men that Rome produced in those ages, valour, wisdom, industry in the service of their country, and a most intire love to it, must have been the worst of qualities"; ähnlich ebd. 168. 28 Vgl. zu dieser Tendenz bei Sidney auch Blair Worden, The Commonwealth Kidney of Algernon Sidney, in: The Journal of British Studies 24, 1985, 1-40, hier 22-24.
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In ähnlicher Weise wies Charlwood Lawton in den Jahren nach der Glorious Revolution auf den Zusammenhang von Armut und Qualifikation für höchste Ämter hin. In einer Flugschrift, in der Lawton für jährliche Parlamentsneuwahlen eintrat, betonte er, dass ein umfangreicher Landbesitz nicht die einzige Qualifikation für das Wahlrecht und einen Sitz im Parlament sein dürfe. Auf diese Weise würden nämlich zahlreiche geeignete und am Gemeinwohl interessierte Männer ausgeschlossen. Gerade das Beispiel des Cincinnatus, aber auch des Attilius Regulus und Paulus Aemulius zeigten, dass arme Männer oftmals besonders geeignet für politische Würden seien: „Those noble Patriots", so heißt es hier, „faithfully discharged many of the greatest and most honourable Employments of their respective Republicks, yet lived and dyed poor." 29 Die Wertschätzung des armen und einfachen Landbewohners, die in der republikanischen Literatur des 17. Jahrhunderts und besonders in dem Cincinnatus-Rekurs zum Ausdruck kommt, spielte zweifellos eine Rolle in der Formierung und Implementierung jener politischen Haltung, die in der Literatur gemeinhin als „Country-Ideologie" bezeichnet wird. Gemeint ist damit eine politische Gesinnung, die sich bereits vor der Formierung der Whigs als oppositionelle Plattform etabliert hatte und im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert reaktiviert wurde, um eine quer zum Whig-ToryGegensatz liegende Opposition zu bilden, die gewissermaßen als Gemengelage toryistischer und radikal whiggistischer oder republikanischer Anschauungen zu betrachten ist. Country-Anhänger standen dem Hof mit seinen Faktionen und seinen Patronage-Verhältnissen skeptisch gegenüber. Für sie verkörperte der Hof die Korruption und das Privatinteresse einzelner. Ebenso misstrauisch waren sie generell gegenüber der Stadt und dem als „moneyed interest" bezeichneten Finanzwesen. Mit dem Land hingegen identifizierten sie das eigentliche Wesen der Nation, die Tugend und die Unabhängigkeit des Landbesitzers. 30 29
[Charlwood Lawton,] Some Reasons for Annual Parliaments, in a Letter to a Friend. London 1693 [Wing/N58], 9. Die Identifikation des Autors bei Mark Goldie/Clare Jackson, Williamite Tyranny and the Whig Jacobites, in: Esther Mijers/David Onnekink (Eds.), Redefining William III: The Impact of the King-Stadholder in International Context. Aldershot 2007, 177-199, hier 196. 30
Vgl. zur Country-Ideologie im England des 17. und 18. Jahrhunderts John H. Plumb, The Growth of Political Stability in England, 1675-1725. London/Basingstoke 1967, 132-154; Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 15), 406-461; ders., Machiavelli (wie Anm. 15); Geoffrey Holmes, Politics, Religion and Society in England 1679-1742. London/Ronceverte 1986; sowie die klassische Studie von Dennis Rubini, Court and Country 1688-1702. London 1967. Von einem Court-Country-Gegensatz ist auch bereits
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In diesem Denkmodell wurde Cincinnatus schon im späten 17. und zunehmend dann im 18. Jahrhundert als Idealtypus des Country-Gentleman verargumentiert. Bereits 1669 schrieb Edward Chamberlayne in seiner „Angliae notitia": „Among the Romans, some of the greatest Dictators and Consuls had been once Husbandmen, and some of them taken from plowing their Ground, to bear those highest Offices and Dignities, as L. Q. Cincinnatus, one of the Cato's and many others." 31 Cincinnatus erschien hier also als Beispiel dafür, daß tüchtige Staatsmänner durchaus als Privatmänner von ihrer eigenen Hände Feldarbeit leben konnten. In der gleichen Weise argumentierte bereits 1664 der berühmte Tagebuchautor John Evelyn in seinem forstwirtschaftlichen Werk „Silva". 32 Gleiches gilt für John Worlidges „Compleat System of Husbandry and Gardening; or the Gentleman's Companion, in the Business and Pleasures of a Country Life" von 1669. 33 Hierbei handelte es sich um Texte, die vordergründig keine politische Botschaft hatten, doch besaßen sie zweifellos Implikationen, die in die politische Country-Ideologie einflössen. Die Zeitschrift „The Free-Thinker", ein weitaus deutlicher politisches Organ, publizierte am 15. Mai 1719 einen Artikel, in dem Cincinnatus ebenfalls als Beispiel dafür angeführt wurde, dass hohe Staatsämter in der Römischen Republik aus dem Kreise einfacher Landwirte besetzt werden konnten 34 , und John Trenchard und Thomas Gordon vertraten in ihren berühmten und auch in Amerika vielfach rezipierten „Cato's Letters" die Ansicht, dass die Römer glücklich gewesen wären, wenn sie ihren Imperatoren die Macht hätten entreißen können, um sie in die Hände eines einfachen Bauern wie Cincinnatus zu legen 35 . während der Restaurationszeit und vor der Herausbildung der Whig- und Tory-Parteien in der Exclusion Crisis die Rede; vgl. etwa Jones, Whigs (wie Anm. 17), 1 1 1 3 ; Harris, Politics (wie Anm. 17), 52-75. 31 Edward Chamberlayne, Angliae notitia: or, The Present State of England: with divers Remarks upon the Ancient State thereof. London 1669 [Wing/C1820], hier und im Folgenden zitiert nach der 18. Aufl., London 1694 [Wing/C1835], 443. 32 John Evelyn, Silva: or, A discourse of forest-trees, and the propagation of timber in His Majesty's dominions: as it was delivered in the Royal Society on the 15th day of October, 1662. Together with an historical account of the sacredness and use of standing groves. London 1664 [Wing/E3508]; hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe York 1776 [Goldsmiths'-Kress No. 11407.1 ], 0 (Vorwort). 33 John Worlidge, A compleat system of husbandry and gardening; or, the gentleman's companion, in the business and pleasures of a country life. London 1716 [Goldsmiths'Kress No. 05292], 17; Erstveröffentlichung unter dem Titel „Systema agriculturae" 1669 [WingAV3598], 34 The Free-Thinker No. 120. London, 15. Mai 1719, 77. 35 Cato's Letters Vol.II, Issue 38. London 1721-1722, 37. Der Text ist abgedruckt z.B.
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Neben dem politischen Tagesschrifttum ist hier auch auf die Historiographie zu verweisen, insbesondere auf die in England, und dann auch in Amerika enorm populären Werke des französischen Historikers Charles Rollin zur antiken Geschichte. Seine „Histoire Romain" wurde bereits seit 1739 in englischer Sprache gedruckt. 3 6 Ausführlich gibt Rollin darin die Geschichte des Cincinnatus, im Wesentlichen auf Livius beruhend, teilweise jedoch mit weiteren Ausschmückungen versehen, wieder. So erzählt er vom Konsulat des Cincinnatus 458 vor Christus und verwendet bereits an dieser Stelle die Darstellung des Livius, in der Cincinnatus von den Abgesandten des Senats beim Pflügen seines Feldes aufgefunden worden sei. Cincinnatus, so Rollin, habe auf seine Wahl zum Konsul mit Sorgen und Bestürzung reagiert, denn nun müsse er sein Feld ein Jahr lang unbestellt lassen. Erneut ist also die Armut des Cincinnatus hier eines der zentralen Themen: „Happy times! admirable simplicity!" so der pathetische Ausruf des Autors: „Poverty was not universally practiced, but it was esteemed and honoured, and not considered as a disqualification for the highest dignities of the state." 3 7
Cincinnatus habe sogar die Armut vorgezogen und das Angebot des Senats, nach seinem erfolgreichen Feldzug gegen die Äquer und Volsker durch Landschenkungen belohnt zu werden, abgelehnt. Rollin schildert seinen Charakter, indem er „his love of poverty, his laborious industry in cultivating his field" lobend hervorhob. 3 8 Eben diese Einfachheit und Bescheidenheit wird von Rollin als Tugend herausgestellt, als Tugend, die die frühe römische Republik ausgezeichnet habe. in: The Boston Gazette, or Weekly Journal, Issue 6, 12. Mai 1755, 1, oder in: The Pennsilvania Evening Post, Vol. I, Issue 28, 28. März 1775, 109 f. Zur Rezeption dieser Texte in Amerika siehe unten Anm. 46. 36 Vgl. zu Rollin und zu seiner Rezeption in England und Amerika v. a. William Gribbin, Rollin's Histories and American Republicanism, in: The William and Mary Quarterly, 3rd Ser. 29, 1972, 611-622; und knapp Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic 1776-1787. Chapel Hill/London 1998 (zuerst 1969), 53; Richard, Founders (wie Anm. 3), 54f.; sowie Meyer Reinhold {Ed.), The Ciassick Pages. Classical Reading in Eighteenth-Century America. University Park, PA 1975, 157f. 37 Charles Rollin, The Roman History from the Foundation of Rome to the Battle of Actium. 2 Vols. London 1739-1750 [ESTC N048133], hier Vol. 1, 37f. Rollin wiederholt diesen Vorgang noch einmal in dem Kontext, wie er sich auch bei Livius findet, nämlich bei der Wahl zum Diktator während der Äquer- und Volsker-Krise, ebd. 47 f. Ähnlich auch die Darstellung bei Laurence Echard, The Roman History, from the Building of the City, to the Perfect Settlement of the Empire by Augustus Caesar. 5 th Ed. London 1702 [ESTC N026362], 105-107. 38
Rollin, Roman History (wie Anm. 37), Vol. 1, 54.
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Dass diese Verargumentierung des Cincinnatus als Inbegriff des Country-Ideals noch im späten 18. Jahrhundert aktuell war, belegt William Donaldsons „Agriculture considered as a moral and political duty" von 1775, wo e m e u t die bescheidenen Lebensverhältnisse des Cincinnatus in Beziehung gesetzt werden zu seiner unkorrumpierten Tugend und Gemeinwohlorientierung. 3 9 Neben diesem luxuskritischen Rekurs spielte jedoch schon in den 1650er Jahren das Thema der Macht eine wichtige Rolle in der Cincinnatus-Rezeption. In seiner bereits zitierten Schrift „The Excellencie of a Free State" argumentierte Marchamont Nedham nämlich auch, dass das Volk, wenn es die Gelegenheit dazu habe, stets auf die Absicherung von Autorität bedacht sei und so dafür sorge, dass Macht eher eine Bürde als einen Gewinn darstelle. Auf diese Weise kämen in einer Republik immer nur die ehrenhaftesten und bestgesinnten Männer in hohe Ämter. In diesem Zusammenhang führt er Cincinnatus als Beispiel eines solchen Mannes an: „Thus Cincinnatus was f e t c h ' d out of the field from his plow, and placed (much against his will) in the sublime dignity of a dictator." 4 0
Cincinnatus sei nicht länger im Amt geblieben, als zum Wohle des Gemeinwesens unbedingt nötig gewesen sei. Mit aller Bereitwilligkeit habe er sich danach wieder seinem mühsamen Privatleben gewidmet. 4 1 Diese Rezeption des Cincinnatus ist zweifellos in engem Zusammenhang mit der Situation des englischen Commonwealth in den 1650er Jahren zu sehen. Cincinnatus exemplifizierte einen Mann, der seine Pflicht als Bürger und Soldat erfüllt hatte, nur um anschließend ins Privatleben zurückzukehren, anstatt eine Machtposition für sich zu beanspruchen. Genau das Gegenteil - so der implizite Vorwurf - hatte Cromwell getan. Er habe
William Donaldson, Agriculture considered as a moral and political duty; in a series of letters, inscribed to his Majesty. And recommended to the perusal and attention of every gentleman of landed property in the three kingdoms, as they are calculated for the entertainment, instruction, and benefit of mankind. London 1775 [ESTC T096432], 28. In Irland schwärmte gar ein anonymer Autor mit Blick auf Cincinnatus und die frühe römische Republik in enger Anlehnung an Rollin: „Happy times! admirable simplicity! Agriculture was then honoured, esteemed, and considered as a qualification, rather than the contrary, for the highest dignities of the state"; An Answer to a late pamphlet, intituled, A free and candid inquiry, addressed to the representatives, &c. of this kingdom. Dublin 1753 [Goldsmiths'-Kress No. 646, 08866], 21. 40
Nedham, Excellencie (wie Anm. 16), 3 f. Diese Passage auch schon im Leitartikel zum Mercurius Politicus Comprising the Summ of All Intelligence, Nr. 77. London, 20. November 1651, 2. 41 Nedham, Excellencie (wie Anm. 16), 14, 16, 108.
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den Freiheitskampf gegen die Tyrannei angeführt, danach jedoch eine neue Tyrannei errichtet. Viele der Republikaner, die im Bürgerkrieg auf der Seite des Parlaments gekämpft und sich für die Ausgestaltung der Republik eingesetzt hatten, waren von Cromwell enttäuscht worden. Die Schriften Nedhams, Harringtons und anderer sind vor diesem Hintergrund zweifellos auch als Kritik am Protektorat und als Versuch zu lesen, Wege für die Schaffung einer dauerhaften republikanischen Verfassung aufzuzeigen. 42 Dem Protektorat setzten Autoren wie Nedham oder Harrington das Ideal einer Ämterrotation entgegen, in der jeder Amtsinhaber nach kurzer Zeit wieder zum Privatbürger wird. Einer „stehenden" Regierung, in der die zentralen Personen nicht regelmäßig ausgetauscht werden, misstrauten diese republikanischen Denker zutiefst. Je länger eine Person im Amt verblieb, desto schwerwiegender waren die Folgen für das Gemeinwesen, denn ein Politiker, der lange Zeit in der Regierung sei, habe zahlreiche Möglichkeiten, das System zu korrumpieren. Eine Ämterrotation mit kurzen Amtszeiten, wie sie die Römer praktiziert hätten, sei hingegen die einzige Sicherung der Freiheit. 43 Über die Figur des Cincinnatus, der freiwillig auf Amt und Macht verzichtet hatte, ließ sich dieses Prinzip narrativ darstellen. Eine Reihe oppositioneller und tendenziell republikanischer Schriften bediente sich auch im späteren 17. und im 18. Jahrhundert der CincinnatusFigur in dieser Weise. Der bereits erwähnte Algernon Sidney etwa lobte Cincinnatus dafür, dass er nach dem größten Triumph an seinen Pflug zurückkehrte. 44 Besondere Brisanz besaß dieses Erzählmuster zweifellos in der Regierungszeit des Premierministers Robert Walpole, also vor allem in den 1720er und 30er Jahren. Er und die herrschende Whig-Oligarchie waren in besonderer Weise dem Korruptionsvorwurf durch die Country-Op42
Generell zum republikanischen Protest gegen die Republik Worden, Marchamont Nedham (wie Anm. 14), 48: „The republicanism of the 1650s was a protest against the English republic, not a celebration of it." Vgl. zur Kritik an Cromwell auch ebd. 64—67, 7780; Frank, Press Agent (wie Anm. 16), 100; Quenlin Skinner, Liberty before Liberalism. Cambridge 1998, 65. 43 Nedham, Excellencie (wie Anm. 16), 12, 43, 72, 99; Harrington, Oceana (wie Anm. 19), 95-97, 122-124. Vgl. zum Rotationsprinzip bei beiden Autoren auch Pocock, Machiavellian Moment (wie Anm. 15), 394; Goldie, Absolutismus (wie Anm. 15), 332; Worden, English Republicanism (wie Anm. 25), 453 f.; James C. Davis, Utopia and the Ideal Society: A Study of English Utopian Writing, 1516-1700. Cambridge 1981, 226228. 44 Sidney, Discourses (wie Anm. 24), 202; ähnlich auch die von Abel Boyer begründete Zeitschrift: The Political State of Great Britain. London 1737 [Goldsmiths'-Kress No. 3751], 30.
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position ausgesetzt. 4 5 John Trenchard und Thomas Gordon etwa nutzten die Cincinnatus-Figur in „Cato's Letters", die auch in den nordamerikanischen Kolonien in verschiedenen Zeitungen nachgedruckt und breit rezipiert wurden. 4 6 Trenchard und Gordon charakterisierten Cincinnatus als „true and brave old Republican", der nach Erfüllung seiner A u f g a b e als Diktator nicht an seinem A m t gehangen habe, um sich selbst mit Hilfe von Parteiungen in seiner Machtposition zu etablieren: „ A s he came into it with universal Consent, he resigned it with universal Applause." 4 7 Der Kontrast zu Walpole dürfte für die Zeitgenossen augenfällig g e w e s e n sein. 4i
' Vgl. zu Walpole, der Whig-Regierung und der Opposition z. B. Isaac Kramnick, Bolingbroke and his Circle: The Politics of Nostalgia in the Age of Walpole. Cambridge, Mass. 1968; Harry T. Dickinson, Walpole and the Whig Supremacy. London 1973; Quentin Skinner, The Principles and Practice of Opposition: The Case of Bolingbroke versus Walpole, in: Neil McKendrick (Ed.), Historical Perspectives: Studies in English Thought and Society, in Honour of John H. Plumb. London 1974,93-128; Christine Gerrard, The Patriot Opposition to Walpole: Politics, Poetry and National Myth, 1725-1742. Oxford 1994; Jeremy Black, Robert Walpole and the Nature of Politics in Early Eighteenth-Century Britain. Basingstoke 1994; ders., Walpole in Power: Britain's first Prime Minister. Stroud 2001. 46 „Cato's Letters" erschienen zunächst als Serie von Artikeln im „London Journal", bevor dieses von der Regierung aufgekauft wurde. Danach erschienen weitere „Letters" im „British Journal" und wurden später als Sammlung publiziert; vgl. Heather E. Barry, A „Dress Rehearsal" for Revolution. John Trenchard and Thomas Gordon's Works in Eigtheenth-Century British America. Lanham u. a. 2007, 16-22. Jonathan Clark behauptet, generell sei whiggistisches Schrifttum in Amerika nur nachgedruckt und rezipiert worden, wenn es religiös-denominationellen Charakter besessen habe; Jonathan C. D. Clark, The Language of Liberty 1660-1832. Political Discourse and Social Dynamics in the Anglo-American World. Cambridge 1994, 20-29; hier sogar: „Trenchard and Gordon's less explicitly denominational Cato s Letters was not reprinted in the American colonies" (ebd. 27). Hannemann, Klassische Antike (wie Anm. 3), 83, übernimmt diese These. Dagegen spricht der gründliche Nachweis aller Nachdrucke der „Cato's Letters" durch Barry, Dress Rehearsal (wie Anm. 46). Darüber hinaus ist zu beachten, dass Nachdrucke nicht als ausschließliches Indiz der Verfügbarkeit von Werken und ihrer Ideen anzusehen sind; vielmehr dürften auch in Europa gedruckte Werke vielfach in privaten und öffentlichen Bibliotheken in Nordamerika präsent gewesen sein; vgl. z. B. Gribbin, Rollin's Histories (wie Anm. 36), 612 f. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Auflistung von in amerikanischen Bibliotheken und bei amerikanischen Buchhändlern verfügbaren englischen Büchern bei H. Trevor Colboum, The Lamp of Experience. Whig History and the Intellectual Origins of the American Revolution. Chapel Hill 1965, 199-232. 47
Cato's Letters Vol. I. London 1720-21, Issue 11, 7. Januar 1720, 71; Cato's Letters Vol. II. London 1721-22, Issue 38, 22. Juli 1721, 37. Mit deutlich gegen jede Form der Korruption gerichteter Argumentation heißt es auch im jakobitischen Blatt „Fog's Weekly Journal": „Time was, my Friends, when Cincinnatus was brought from the Plow-Tail to take upon him the supreme Command, and when he had saved this Country, he retum'd to his Plow again"; hier zitiert aus: Select Letters Taken from Fog's Weekly Journal. In Two Volumes. Vol. 1. London 1732 (Goldsmiths'-Kress No 06934), 207.
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Dabei ist insbesondere auch das Vokabular, das mit Cincinnatus verknüpft wird, von Interesse: Bei Rollin etwa heißt es, Cincinnatus sei zum Beweis seiner „disinterestedness" zurückgekehrt „to his oxen, plow, and cottage, where he lived as before, by the labour of his hands". 4 8 „Disinterestedness", das Gegenteil also von „Privatinteresse", war von zentraler Bedeutung, auch für die amerikanische Diskussion. Die Vokabel „desintéressement" wurde übrigens auch von Montesquieu im Zusammenhang mit Cincinnatus verwendet. 49 Wichtig für die Ikonographie sind die Ochsen, der Pflug und die Hütte des Cincinnatus - Symbole für das einfache Leben und der eigenen Hände Arbeit. Es ist deutlich geworden, dass der Cincinnatus-Rekurs im England des 17. und 18. Jahrhunderts in verschiedenen, aber durchaus zusammenhängenden Diskursen rezipiert und angeeignet wurde. Mithilfe der Cincinnatus-Figur konnte ein Einfachheitsideal beschrieben werden, um hof- und luxuskritisch auf die Korruption, die die alte englische Verfassung untergrabe, zu verweisen. Mit dem Begriff der Korruption prangerte die Opposition vor allem die Praktiken der höfischen Patronage, des städtischen Bank- und Finanzwesens, die Parteienbildung und das beharrliche Festhalten an der Macht an. 5 0 Der Gegenentwurf war das tugendhafte Land, der einfache und bescheidene Landbesitzer, die Gemeinwohlorientierung unter Verzicht auf persönliche Vorteile und eine patriotische Gesinnung. 51 Zugleich konnte mit der Cincinnatus-Figur Kritik an den Personen in Machtstellungen geübt werden, wobei der König nach der Restauration von 1660 davon stets ausgenommen blieb. Anders seine Minister, insbesondere nach 1720 Robert Walpole, der sich mithilfe geschickter Machttechniken über 48
Rollin, Roman History (wie Anm. 37), Bd. 1, 43 f. Vgl. auch John Adams, Curious Thoughts on the History of Man. London 1789, 203. 49 Montesquieu, Discours sur Cicéron, in: Œuvres Complètes de Montesquieu. Vol. 3. Ed. par M. André Masson. Paris 1955, 15-36, hier 17. 50 Vgl. zu einem weiten Korruptionsbegriff, der alle Formen politischer Degeneration umfasst und damit eben kein individuelles Fehlverhalten meint, sondern einen Verfall des gesamten Systems, J Peter Euben, Corruption, in: Terence Ball/James Farr/Russell L. Hanson (Eds.), Political Innovation and Conceptual Change. Cambridge 1989, Ndr. 1995,220-246. 51 Zum Patriotismusbegriff im England der Frühen Neuzeit vgl. Conal Condren, Historical Epistemology and the Pragmatics of Patriotism in Early Modern England, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), „Patria" und „Patrioten" vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 41.) Wiesbaden 2005, 67-90; und Mary G Dietz, Patriotism, in: Ball/Farr/Hanson (Eds.), Political Innovation (wie Anm. 50), 177-193.
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zwanzig Jahre lang als Premierminister halten konnte. 52 In allen diesen Fällen, beginnend mit Nedhams mehr oder minder offener Kritik an Cromwell, war Cincinnatus eine Figur der Opposition. Bei allen „konservativen" Anklängen toryistischer Country-PoUüker - stets schwang in der Figur Kritik an denjenigen mit, die Machtpositionen innehatten, ja, ein Misstrauen gegenüber politischer Macht überhaupt.
II. Der amerikanische Cincinnatus-Rekurs im 18. Jahrhundert Die für den englischen Cincinnatus-Rekurs herausgearbeiteten Bedeutungsgehalte und Funktionalisierungen lassen sich in der Frühphase vor dem Unabhängigkeitskrieg auch in Nordamerika feststellen. Nicht nur wurden die in England gedruckten Cincinnatus-Rekurse in Amerika rezipiert und teilweise auch nachgedruckt. 53 Bereits 1767, in der Auseinandersetzung um die britische Steuergesetzgebung, pries ein anonymer Autor in Newport am Beispiel des Cincinnatus die Ehrenhaftigkeit des Bauern und kleinen Handwerkers gegenüber den Großkaufleuten, in denen er das Verderben der Kolonie sah. 54 Ein anderer Autor kontrastierte die in Cincinnatus verkörperten Tugenden der frühen römischen Republik mit dem Laster und Luxus der Imperatoren. Diese Gegenüberstellung verband sich mit einem expliziten Appell an Großbritannien, weise zu sein. 55 Diese frühen amerikanischen Cincinnatus-Rekurse knüpften deutlich an die britischen an: Cincinnatus erschien als armer, aber tugendhafter Bauer, der als Kontrastfigur gegenüber der Korruption und dem Luxus des Hof- und Stadtlebens argumentativ verwendet werden konnte. Er wurde zudem deutlich als Oppositionsfigur gegenüber den Machthabern eingesetzt. 56 Das änderte sich grundlegend, als am Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges George Washington mit Cincinnatus identifiziert wur52
Vgl. oben Anm.45. Etwa Nachdruck von „Cato's Letters" Nr. 38, in: The Boston Gazette, or Weekly Journal, Issue 6, 12. Mai 1755, 1. Vgl. zum Nachdruck der „Cato's Letters" Barry, Dress Rehearsal (wie Anm. 46). Vgl. für andere Texte Gribbin, Histories (wie Anm. 36); und Colboum, Lamp of Experience (wie Anm. 46), 199-232. 54 The Newport Mercury, Issue 485, 14.-21. Dezember 1767, 2. 55 The Massachusetts Spy, Vol. I, Issue 51, 20. Februar 1772, 201. 56 Der anonyme Autor im Massachusetts Spy sprach sich deutlich fiir eine Republik aus, denn nur eine Republik bringe die Tugenden eines Cincinnatus hervor, während eine unfreie, nicht am Recht ausgerichtete Verfassung nur Korruption und Laster fördere; ebd. 51
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de. Hier wurde Cincinnatus nämlich erstmals nicht als Gegenbild formuliert, sondern in affirmativer Weise unmittelbar auf eine die politischen Verhältnisse prägende Person projiziert. Dies geschah - wie eingangs angemerkt - nicht erst bei George Washington, sondern zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges bereits im Falle des Generals Israel Putnam. Von diesem wird berichtet, er habe, als er von dem Scharmützel von Lexington gehört habe, gerade sein Feld gepflügt. Kaum habe er die Botschaft empfangen, habe er eines der beiden Spannpferde seinem Diener gegeben und das andere selbst bestiegen, um umgehend zum Ort der Kampfhandlungen zu gelangen.57 Hier wurde also die als bekannt vorausgesetzte und positiv bewertete Cincinnatus-Figur verwendet, um Putnams selbstloses Handeln, das Verlassen seines Pflugs und seines Ackers um des Wohls des Vaterlandes willen zu beschreiben. Zugleich schwang auch hier die Idee des mit seinen eigenen Händen arbeitenden, tugendhaften Landbesitzers mit, gerade auch in der direkten Kontrastierung mit der unterstellten laxen Moral des Kommandanten der britischen Gegner, von dem man vermutete, seine ordres hätten ihn im Spielhaus oder Bordell erreicht. 58 Diese moralischen Konnotationen und die unterstellte Überlegenheit des ländlichen Amerika gegenüber dem korrumpierten Großbritannien entsprechen zweifellos den aus der englischen Cincinnatus-Rezeption bekannten Mustern der Country-Ideologie. Langfristig wirksam wurde freilich erst die Gleichsetzung Washingtons mit Cincinnatus, die jedoch ebenfalls an die aus England bekannten Denkmodelle anknüpfte. Dies gilt besonders, als Washington kurz nach dem Friedensschluss 1783 sein Amt als Oberbefehlshaber niederlegte. Anstatt mit einer ihm treu ergebenen Armee im Rücken ein neuer Caesar oder Cromwell zu werden, habe er sein Amt zurückgegeben, „into the hands from which he had received it", so die Formulierung von Henry Lee. 59 Spä57 Vgl. dazu Moore, Diary (wie Anm. 5), 105; und in Anlehnung daran Silverman, Cultural History (wie Anm. 2), 286f. 58 „Should the boasting General Burgoyne ridicule the simplicity of our American Cincinnatus, and be asked at the same time where his master's orders found him when he was commanded to repair to Boston, the answer would most probably be, ,in a gambling house or brothel'"; Moore, Diary (wie Anm. 5), 106 (Hervorhebungen ebd.); wiedergegeben auch bei Silverman, Cultural History (wie Anm. 2), 286f. 59 Henry Lee, The National Eulogy of the Illustrious George Washington. Pronounced at the Request of the United States, in Congress Assembled. Portsmouth, NH 1800 [Evans 37809], 8. Das Erzählmuster, das als retardierendes Element häufig noch die Prinzipienfestigkeit Washingtons gegenüber den mit der Politik des Kongresses unzufriedenen Soldaten in Newburgh einfugt, findet sich auch in der frühen Historiographie, etwa bei David Ramsay, The History of the American Revolution. 2 Vols. Philadelphia 1789 [Evans
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testens mit diesem Rückzug ins Private, „to the humble walks of private life" 60 , begann die Stilisierung Washingtons als Cincinnatus. So entwarf Charles Willson Peale zur Feier des Friedensschlusses und der Unabhängigkeit einen Triumphbogen, auf dem der siegreiche Washington als Cincinnatus dargestellt wurde, mit der Inschrift „Victrix Virtus".61 An bildlichen Darstellungen wäre femer auf John James Barrelets Stich „General Washington's Resignation" hinzuweisen, auf dem Washington seine militärischen Insignien sowie die fasces einer weiblichen Figur - vielleicht einer Freiheits- oder Tugendallegorie - zu Füßen legt, während im Hintergrund bereits der Pflug mit den beiden Zugochsen und sein Landhaus Mount Vemon auf ihn warten.62 Auch die 1791 von Jean-Antoine Houdon fertiggestellte und im State Capitol von Virginia aufgestellte Statue Washingtons spielt mit den fasces und dem Pflug als Symbolen für Washingtons Machtverzicht.63 Der Dichter Philipp Freneau - bekannt für zahlreiche patriotische Gedichte auf die Revolution - griff den Cincinnatus-Vergleich in einem Lobgedicht anlässlich der Durchreise Washingtons durch Philadelphia auf 64 , und mehrere Zeitungen halfen dieser Parallelisierung zu weiterer Verbreitung65. Diese Identifikation wurde noch einmal aktua22090], hier Vol. 2, 325 f.; Mason L tVeems, The Life of Washington. Ed. by Marcus Cunliffe. Cambridge, Mass. 1962, 116-127; ähnlich in der Funeralpredigt von Thadeus Fiske, A Sermon, Delivered Dec. 29, 1799. At the Second Parish in Cambridge, Being the Lord's Day, Immediately Following the Melancholy Intelligence of the Death of General George Washington, Late President of the United States of America. Boston 1800 [Evans 37426], 13 f. Vgl. zum Zusammenhang des Aufkommens der Cincinnatus-Identifikation mit Washingtons Rücktritten auch Hillyard, Cincinnatus (wie Anm. 7), 125-127; Wills, Cincinnatus (wie Anm. 7), 3-16. 60
Formulierung erneut aus Lee, Eulogy (wie Anm. 59), 14; ganz ähnlich auch Richard Furman, Humble Submission to Divine Sovereignty the Duty of a Bereaved Nation. A Sermon, Occasioned by the Death of His Excellency General George Washington, Late Commander in Chief of the Armies, and Formerly President, of the United States of America. Preached in the Baptist Church, in Charleston, South-Carolina, on the 2 2 d o f February, 1800, before the American Revolution Society, the State Society of the Cincinnati, and a Numerous Assemblage of Citizens. Charleston 1800 [Evans 37484], 7; Fiske, Sermon (wie Anm. 59), 15. 61
Beschreibung des ephemeren Triumphbogens von Peale in: United States Chronicle: Political, Commercial and Historical, Vol. I, Issue 23. Providence, RI, 3. Juni 1784,4. Vgl. zu den Feierlichkeiten auch Silverman, Cultural History (wie Anm. 2), 425f. 02 Vgl. mit Abbildung Wills, Cincinnatus (wie Anm. 7), 13f. 63 Vgl. dazu mit Abbildung ebd. 220-228. 64 Philipp Freneau, Occasioned by General Washington's Arrival in Philadelphia, on his way to his residence in Virginia (December, 1783), in: Poems of Freneau. Ed. by Harry H.Clark. (The Hafher Library of Classics, Vol. 19.) New York 1929, 88-91, hier 91. 65 So druckte „The Norwich Packet" einen weitgehend wörtlich aus Rollins „Roman His-
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lisiert, a l s W a s h i n g t o n 1 7 9 7 erklärte, er w e r d e n i c h t für e i n e dritte A m t s z e i t a l s P r ä s i d e n t zur V e r f u g u n g s t e h e n , s o n d e r n s i c h in sein P r i v a t l e b e n z u r ü c k z i e h e n . 6 6 U n z ä h l i g s i n d d i e C i n c i n n a t u s - V e r g l e i c h e in der Funeralliteratur n a c h W a s h i n g t o n s T o d a m M . D e z e m b e r 1 7 9 9 . E i n e Flut v o n G e d e n k p r e d i g t e n , Trauerreden u n d L o b g e d i c h t e n charakterisierte d e n vers t o r b e n e n R e v o l u t i o n s h e l d e n u n d ersten U S - P r ä s i d e n t e n als n e u e n C i n c i n natus. W a s h i n g t o n „like a n o t h e r C i n c i n n a t u s , retires to his b e l o v e d s c e n e s o f h u s b a n d r y " , schreibt der Prediger J a m e s W i l s o n . 6 7 U n d bei W i l l i a m Linn heißt es: „ A s General Washington, like Cincinnatus, left his retirement and the pursuit of agriculture merely for the service of his country so when the work was finished, he returned with the most heart-felt satisfaction." 6 8 E s ist s i c h e r nicht a u s z u s c h l i e ß e n , d a s s d i e Parallelisierung
George
W a s h i n g t o n s mit C i n c i n n a t u s a u c h e i n e n a p p e l l a t i v e n A s p e k t g e h a b t h a b e n m a g . D i e Furcht, W a s h i n g t o n k ö n n e z u m ä c h t i g w e r d e n , war z w e i f e l l o s
tory" übernommenen Text ab; The Norwich Packet or. The Chronicle of Freedom, Vol. X, Issue 488, 11. März 1784, 1. Außerdem die „Epistle to his Excellency George Washington", in: Salem Gazette, Vol. Ill, Issue 137, 25. Mai 1784, 2; oder die „Anniversary Ode, for the Fourth of July, in Commemoration of American Independence", in: Massachusetts Spy: Or, the Worcester Gazette, Issue 17, 27. Juli 1786, 204. 66 So etwa die New York Gazette, Issue 2711,28. Juli 1797, 3; oder The Albany Register, Vol. VIII, Issue 494, 30. September 1796, 3. Zum Verzicht Washingtons auf eine dritte Amtszeit: John E. Ferling, The First of Men: A Life of George Washington. Knoxville, Tenn. 1988, 465-470; Joseph J. Ellis, His Excellency: George Washington. New York 2004, 230-240; Furstenberg, In the Name of the Father (wie Anm. 7), 1 -8; Forrest McDonald, The Presidency of George Washington. Lawrence/Manhattan/Wichita 1974, 177 f. 67
James Wilson, Substance of a Discourse; on Divine Providence, in Special Reference to the Memory, Character and Death of the late Gen. George Washington, Delivered extempore, February 9th, 1800, before the Military Officers of Providence. Providence 1800 [Evans 39116], 9. 68 William Linn, A Funeral Eulogy, Occasioned by the Death of General Washington. Delivered February 22d., 1800, before the New York State Society of the Cincinnati. New York 1800 [Evans 37834], 23f. Weitere ähnliche Aussagen z.B. bei Timothy Alden, A Sermon, Delivered at the South Church in Portsmouth, on the V January, MDCCC. Occasioned by the Sudden and Universally Lamented Death of George Washington, Commander of the American Armies, and Late President of the United States. Portsmouth, NH 1800 [Evans 36791], 19f.; Peter W. Yates, An Oration, on the Death ofGeorge Washington, Delivered on the twenty-second of February, 1800, in Temple Lodge, in the City of Albany. Albany 1800 [Evans 39155], 10, 13; Samuel Miller, A Sermon, Delivered December 29, 1799. Occasioned by the Death of General George Washington. New York 1800 [Evans 37964], 31. Vgl. dazu auch Bryan, Washington (wie Anm. 7), 53, 57 f.; Niggemann, Modelle (wie Anm. 7), 111-123.
268
vorhanden. 69 Doch die überwiegende Mehrzahl der Cincinnatus-Rekurse erfolgte nach Washingtons Rücktritten vom Oberbefehl 1783 und vom Präsidentenamt 1797. Möglicherweise waren die Lobpreisungen Washingtons in diesen Situationen auch Ausdruck einer Erleichterung. Doch entscheidend ist wohl, dass Washingtons Handeln einem Verhaltenskodex entsprochen hatte, der bereits in der whiggistischen Literatur mit ihrem ausgeprägten Rekurs auf antike Exempla propagiert worden war und den Washington ebenso wie die amerikanische Öffentlichkeit verinnerlicht hatte. 70 Die Zeitgenossen waren aufgrund vielschichtiger Rezeptionsprozesse prädisponiert, ein solches Verhalten in eben diesem antikisierend-republikanischwhiggistischen Modus wahrzunehmen und zu beschreiben. Washington machte sich selbst zum „virtuoso of resignations", wie Gary Wills schreibt. 71 Seine „Farewell Address" von 1797 wurde gar zu einer Art nationalem Heiligtum, zum „civic text", dessen Normativität und Vorbildhaftigkeit unbestritten war und ist. 72 Freilich konnte die Identifikation mit Cincinnatus und die Normativität dieser Typologie im Einzelfall auch gegen Washington gewandt werden. Die New Yorker Zeitung „The Moming Post" druckte im Jahr 1790 einen Artikel „from a late London Paper" ab, der das Cincinnatus-Bild kritisch mit dem Pomp des amerikanischen Präsidentenamts kontrastierte. Dort heißt es: „From N e w York it appears, that the modern Cincinnatus, as he w a s o n c e called, is exercising functions little short of those enjoyed by crowned heads; and the f o r m s and ceremonies of a Court are gradually introducing at the palace of the President." 7 3
Solche Wendungen blieben freilich die Ausnahme. Obwohl die anhand der englischen politischen Literatur herausgearbeiteten Konnotationen zweifellos mitschwangen, wurde eben dadurch, dass Washingtons Verhalten im Rahmen der Cincinnatus-Typologie wahrgenommen und beschrieben wurde, einerseits eine Verengung des Rekurses auf das Thema der Macht vorgenommen; andererseits wurde der Dienst für das Vaterland thematisiert. Immer wieder wurden das aufopferungsvolle Engagement Wa69
Vgl. etwa Schwartz, Washington (wie Anm. 7), 137f.; ders., George Washington and the Whig Conception of Heroic Leadership, in: ASocRev 48, 1983. 18-33, hier 23. 70 Longmore, Invention (wie Anm. 7), 67, spricht hier vom „dominant Whiggish code". 71 Wills, Cincinnatus (wie Anm. 7), 3; außerdem dazu Ellis, Excellency (wie Anm. 66), 233; Ferling, First of Men (wie Anm. 66), 465-470. 72 Furstenberg, In the Name of the Father (wie Anm. 7), 39-44. 73 The Morning Post, And Daily Advertiser, Issue 1812, 13. Juli 1790, 2.
269
s h i n g t o n s für s e i n L a n d u n d s e i n e p r o m p t e n Rücktritte n a c h g e t a n e r A r b e i t durch d e n R e k u r s a u f C i n c i n n a t u s thematisiert. Z u d e n z e n t r a l e n V o k a b e l n g e h ö r t e n „ o b e d i e n c e " , „ d u t y " u n d „ s e r v i c e " , d i e W a s h i n g t o n s H a n d e l n als „ d i s i n t e r e s t e d patriot" c h a r a k t e r i s i e r t e n . 7 4 W a s h i n g t o n s D i e n s t w i r d als O p f e r dargestellt, er s e l b s t als „ v e n e r a b l e veteran, in all h o n o u r a b l e s e r v i c e , h a v i n g c o n s e c r a t e d to h i s c o u n t r y the spirit o f y o u t h , the strength o f m a n h o o d , and the ripe e x p e r i e n c e o f laborious y e a r s " . 7 5 Für s e i n e D i e n s t e h a b e er n o c h nicht e i n m a l e i n e E n t l o h n u n g a n g e n o m m e n . 7 6 In d i e s e m S i n n e k o n n t e der C i n c i n n a t u s - R e k u r s a u c h a u f alle A m e r i k a n e r ü b e r t r a g e n o d e r als allgemeiner Appell verwendet werden. D i e Amerikaner als „citizensoldiers" wurden so zu „sons o f Cincinnatus".77
74
Fisher Ames, An Oration on the Sublime Virtues of General George Washington. Pronounced at the Old South Meeting-House in Boston, before His Honor, the LieutenantGovernor, the Council, and the two Branches of the Legislature of Massachusetts, at their Request, on Saturday, the 8th of February, 1800. Philadelphia 1800 [Evans 36833], 1 4 f ; Joseph Caldwell, Eulogy on General Washington. Pronounced in Person-Hall, at the University of North-Carolina, on the twenty-second of February, 1800, Appointed by the General Government to be Celebrated throughout the United States. Raleigh, NC 1800 [Evans 37081], 30f. Für weitere Belege Niggemann, Modelle (wie Anm. 7), 118 f. 75 So die Charakterisierung bei Gouverneur Morris, An Oration, upon the Death of General Washington. Delivered at the Request of the Corporation of the City of New York, on the 31st Day of December, 1799. New York 1800 [Evans 38002], 23. Außerdem mit gleicher Tendenz Daniel Appleton White, A Eulogy on George Washington, who Died at Mount Vernon, December 14th, 1799. Delivered at the Request of the Inhabitants of Methuen, in the Meeting House of the First Parish in that Town. Haverhill 1800 [Evans 39088], 7, 16; Ames, Oration (wie Anm. 74), 14f.; [Robert T] Paine, An Eulogy, Pronounced at Newburyport, January 2d, 1800, at the Request of the Citizens of that Town, in: A Selection ofOrations and Eulogies, Pronounced in different Parts of the United States, in Commemoration of the Life, Virtues, and Preeminent Services of Gen. George Washington, who Died, at Mount Vernon, December 14, 1799. Amherst 1800 [Evans 36859], 100-114, hier 104; John Tyler, An Eulogy on the Life of Gen. George Washington, Late Commander in Chief of the Armies of the United States of America, who Died Dec. 14, 1799. Delivered before the Inhabitants of the Parish of Chelsea, in Norwich, on the 22d of Feb. 1800. Norwich, Conn. 1800 [Evans 38683], 26. 76
Vgl. Patrick Allison, A Discourse, Delivered in the Presbyterian Church, in the City of Baltimore, the 22d of February, 1800 - the Day Dedicated to the Memory of Gen. George Washington. Baltimore [1800] [Evans 36802], 14; Furman, Humble Submission (wie Anm. 60), 10; Ames, Oration (wie Anm. 74), 44; Tyler, Eulogy (wie Anm. 75), 20. 77 Beispielsweise The New-York Packet, Issue 826, 8. August 1788, 2; The Burlington Advertiser, or Agricultural and Political Intelligencer, Vol. I, Issue 3, 27. April 1790, 1; oder unter den im Genera! Advertiser aufgelisteten „Toasts" anlässlich des 61. Geburtstags Washingtons: „Cincinnatus and the Plough - May our citizens be soldiers, and our soldiers citizens"; General Advertiser, Issue 758, 2. März 1793, 3. Vgl. auch mit Zitat von Patrick Henry Richard, Founders (wie Anm. 3), 109.
270
Das Ideal des einfachen Landmannes sowie die Ikonographie mit den Ochsen und dem Pflug blieben zwar erhalten, doch setzte sich die schon im England des 18. Jahrhunderts angedeutete Zurückdrängung der Armut im Cincinnatus-Bild fort. Washington als arm zu charakterisieren und die Geringfügigkeit des Landbesitzes eines Cincinnatus hervorzuheben, wäre wohl angesichts des beträchtlichen Umfangs der zu Mount Vernon gehörenden Besitzungen unglaubwürdig erschienen und gerade in der PflanzerAristokratie Virginias kein Idealbild gewesen. Hinzu kommt, dass in den USA Landbesitz erneut als Ausweis von Unabhängigkeit und Tugend galt, was sich auch in den Besitzqualifikationen im Wahlrecht mehrerer Bundesstaaten widerspiegelte. 78 Insofern war der Machtdiskurs das entscheidende Element im Cincinnatus-Rekurs in den frühen USA. Er verwies eben vor allem auf Washingtons unambitionierten Umgang mit Macht, auf seine „disinterestedness", wie es in den Quellen vielfach heißt. 79 Dieser Verhaltenskodex wurde in zahllosen Texten und Bildern als Norm propagiert, und zugleich wurde damit der Beweis geführt, dass die junge US-Republik die Alte Welt an Tugend übertreffe und dass eine Republik mit einem Präsidenten an der Spitze funktioniere.
78
Vgl. zum Zensuswahlrecht Richard, Founders (wie Anm. 3), 131; Chilton Williamson, American Suffrage from Property to Democracy 1760-1860. Princeton, NJ 1960; Donald S. Lutz, Popular Consent and Popular Control. Whig Political Theory in the Early State Constitutions. Baton Rouge/London 1980, 100-105. Vgl. dazu allein die für das posthume Bild enorm wichtige Funeralliteratur; so z. B. Clark Brown, A Sermon Preached on the Death of George Washington, Lieutenant General of the American Armies: and Late President of the United States of America: Delivered in Stonington-Port, Connecticut, on Tuesday evening, January 14th, 1800. Stonington Port 1800 [Evans 37056], 10; Joseph Buckminster, A Sermon, Delivered in the First Church in Portsmouth, on the Lord's Day after the Melancholy Tidings of the Death of George Washington, the Father, Guardian, and Ornament of his Country. Portsmouth 1800 [Evans 37064], 20; Fiske, Sermon (wie Anm. 59), 10-12; Samuel Knox, A Funeral Oration Commemorative of the Illustrious Virtues of the Late Great and Good General Washington; the Father of his Country; and the Friend of Man. Delivered to a Respectable Congregation of the Citizens of Fredericktown, on Saturday the twenty-second of February, 1800. Fredericktown, Md. 1800 [Evans 37742], 12: Ebenezer G Marsh, An Oration, Delivered at Wethersfield, February 22, 1800; on the Death of General George Washington, who Died December 14, 1799. Hartford 1800 [Evans 37886], 5, 12. Vgl. zum Ideal selbst auch Timothy H. Breen, The Character of the Good Ruler. A Study of Puritan Political Ideas in New England, 1630-1730. New York 1974, 207; Schwartz, Washington (wie Anm. 7), 193.
271
Resümee Mit dieser inhaltlichen Füllung und seiner im Laufe der Zeit nahezu vollständigen Gleichsetzung mit George Washington gewann der CincinnatusRekurs in der frühen amerikanischen Republik eine ganz spezifische Zielrichtung. Er brachte damit wie kaum eine andere personale Typologie das republikanische Selbstverständnis der politischen Elite der frühen USA auf den Punkt: Ein ländlich geprägtes Tugendideal, Gemeinwohlorientierung und die Einheit von Bauer, Soldat und partizipierendem Bürger, der Verantwortung und Macht bereitwillig als Bürde übernimmt und genauso bereitwillig von ihr zurücktritt. Entscheidende Elemente dieses Bildes wurden im England des 17. und 18. Jahrhunderts ausgeprägt und bestimmten fortan sicher auch die Lektüre der klassischen Texte selbst. Zu diesen bereits in England vorhandenen Elementen zählen das Motiv von Armut und Tugend sowie das Thema des verantwortungsbewussten, gemeinwohlorientierten Umgangs mit Macht. Zwar mag der Rekurs auf Cincinnatus im England des 17. und 18. Jahrhunderts noch sporadisch gewesen sein, doch in zentralen Texten des englischen Republikanismus ist er vorhanden. Im 18. Jahrhundert konnte Cincinnatus im Sinne einer Country-Ideologie und einer Hof- und Luxuskritik argumentativ verwendet werden. Dabei blieb er stets eine Figur der Opposition, mit Hilfe derer Misstrauen gegenüber der politischen Macht und Kritik an den Machthabern ausgedrückt werden konnten. Damit erhielt die Cincinnatus-Figur eine inhaltliche Aufladung, die eben nur innerhalb der spezifisch englischen politischen Auseinandersetzungen im 17. und 18. Jahrhundert möglich war. Es entstand eine Lesart, die aus den argumentativen Bedürfnissen der Zeit resultierte. Vermittelt sowohl durch den klassischen Lektürekanon als auch die in den Kolonien verbreitete englische Oppositionsliteratur gelangte das Bild des Cincinnatus nach Nordamerika. Auch hier kam es argumentativen Bedürfnissen in einer spezifischen Diskurssituation entgegen. In der Auseinandersetzung mit dem britischen Mutterland und den Monarchien des Alten Europa wurde eine neue Republik geschaffen, die sich an den vermeintlichen Tugenden und der moralischen Strenge der frühen römischen Republik orientieren sollte. Gegenüber dem englischen Cincinnatus-Rekurs aber - und dies ist ein durchaus beachtenswerter Vorgang - verlor Cincinnatus in Amerika seinen oppositionellen Gehalt in dem Augenblick, in dem er in einer republikanischen Staatsform auf eine politische Führungsfigur in affirmativer Weise appliziert wurde. Im Endeffekt führte das dazu, dass ein realer Politiker, nämlich 272
George Washington, mit Cincinnatus gleichgesetzt werden konnte, um dann selbst zum Idealbild und normativen Modell für künftige Offiziere und Präsidenten der USA zu werden. 8 0 George Washington, in dem die Cincinnatus-Figur quasi aufging, verkörperte dieses Ideal und wurde selbst zu einem Modell tugendhaften und patriotischen politischen Handelns. Das Modell konnte argumentativ verwendet werden, um die noch jungen Vereinigten Staaten sowohl von den alteuropäischen Monarchien abzugrenzen als auch - mehr noch sogar von einer dynamisierten Revolution, wie man sie in Frankreich ab 1789 beobachten konnte. Diese wurde - zumindest in der konservativ-föderalistischen Literatur - als Schreckbild von Anarchie und Unordnung präsentiert. Auch führte sie, so wurde argumentiert, am Ende zu einer Remonarchisierung Frankreichs unter Napoleon, von dem Washington in aller Deutlichkeit abgegrenzt wurde. Washington verkörperte die Figur, die Napoleon eben nicht verkörperte: Cincinnatus. Der englische Dichter Lord Byron hat genau dies in seiner „Ode to Napoleon Buonaparte" auf den Punkt gebracht, indem er dem Kaiser der Franzosen den „Cincinnatus of the West" entgegensetzte. s l
80 Zu dieser Modellfunktion Washingtons vgl. Ulrich Niggemann, Der Tod des Präsidenten. George Washington in der Funeralliteratur 1799 bis 1800, in: Christoph Kampmann/ Martin Papenheim (Hrsg.), Der Tod des Herrschers. Aspekte der zeremoniellen und literarischen Verarbeitung des Todes politischer Führungsfiguren. Marburg 2009 (http://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2009/0009/), 54-71; und ders., Modelle (wie Anm. 7). 81 The Works of Lord Byron. Ed. by Emest H. Coleridge. Vol. 3. London 1904,314.
273
III. Architektur
„noble beyond expression" Die Antike als Vorbild der US-Architektur Von
Torsten Mattern I. Vorbemerkungen Betrachtet man den Gesamtbestand US-amerikanischer Architektur, dann fällt die prominente Stellung des Klassizismus 1 als Gestaltungsgrundlage öffentlicher und privater Bauten auf. „Wichtig ist, daß die ganze Zeit hindurch bis zu den zwanziger Jahren die ästhetischen Grundsätze der Antike ihre allgemeine Gültigkeit behielten. Erst die B e w e g u n g der Moderne setzt diese Kriterien zum ersten M a l e völlig außer K r a f t . " 2 Man kann also konstatieren, dass im Unterschied zu Europa die Kontinuität klassizistischen Bauens in den U S A nie abgebrochen ist, selbst in der Mitte des 2 0 . Jahrhunderts blieb er bei ländlichen Kirchen und Häusern aktuell und beliebt. Dafür fehlen andererseits die in Europa dem Klassizismus vorausgehenden Stile, barocke Tendenzen zeigen sich in der amerikanischen Architektur nur sehr verhalten. In der Tat entstand die barocke Architektur der S p a n i e r in M e x i k o und im Südwesten der U S A unter ganz anderen Vorzeichen als die klassizistische Architektur der Nordoststaaten. 3 In den spanisch geprägten Gebieten Süd- und Mittelamerikas sowie den späteren Südweststaaten der U S A war es nämlich der katholische Missionswille, der sich dort auch durch das Kommunikationsmittel der Architektur ausdrückte, während es im Nordosten Amerikas ein vornehmlich protestantisch und puritanisch geprägtes Umfeld gab. Hinzu kommt der Umstand, dass die spanische Architektur auf dem amerikanischen Kontinent erheblich früher als die monumentale öffentliche Architektur im Nordosten einsetzte und damit zwangsläufig durch die Barockarchitektur Südwesteuropas geprägt war. 1 Im speziellen Sinne des Wortes wird unter Klassizismus das Aufgreifen von Bauformen, Ordnungen, Proportionen und Details verstanden, die antike Vorlagen erkennen lassen, auch wenn diese nicht immer namhaft gemacht werden können.
Baidur Köster, Palladio in Amerika. Die Kontinuität klassizistischen Bauens in den USA. München 1990,9. - Ich danke Baidur Köster herzlich für die Genehmigung zur Reproduktion von Abbildungen. 2
' William H. Pierson Jr, The Colonial and Neoclassical Style, American Buildings and their Architects 1. New York/Oxford 1970, 157-201.
Dennoch stellt sich für die klassizistische Architektur des Nordostens Amerikas natürlich auch die berechtigte Frage, ob nicht hier mit Hilfe des architekturgeschichtlichen Stils im Sinne einer Semantik der Architektursprache Bezüge zu einem als vorbildhaft verstandenen politischen System der Antike hergestellt worden sind ganz wie es das Thema der Tagung fordert. Ist die amerikanische Architektur der frühen Republik also ein politischer Architekturstil? Dies ist eine zunächst sehr glaubhafte Hypothese, z. B. angesichts der Argumentation durch Alexander Hamilton, James Madison und John Jay in den „Federalist Papers" von 1787, welche die Vorbildhaftigkeit von Griechenland und Rom für die amerikanische Demokratie betonten 4 , zumal die politische Instrumentalisierung von Architektur und Architekturstilen ein zeitgeschichtlich gut bekanntes Phänomen ist. Wie politisch Architektur auch in der Gegenwart noch sein kann, zeigt z. B. der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, die, neben ihrer eigentlichen Funktion als christlicher Sakralbau, auch als „Ort der Begegnung - Ort der Hoffnung - Ort der Erinnerung" gilt. Gleiches gilt für ihr britisches Pendant, die Kathedrale von Coventry, die an den katastrophalen deutschen Luftangriff vom 14. November 1940 erinnert. Als Ruine und mit dem berühmten Nagelkreuz als Zentrum der Nagelkreuzgemeinschaft bildet sie heute ebenso wie die Dresdner Frauenkirche ein Mahnmal gegen Krieg und für Versöhnung, in der Tat verbindet Dresden und Coventry bereits seit Kriegsende eine Städtepartnerschaft. Die politische Funktion von Architektur ist aber nicht nur ein zeitgeschichtliches Phänomen, sondern Architektur wurde seit der Antike durchgehend auch als Bedeutungsträger mit teilweise subtilen Konnotationen genutzt. Hierzu sollen am Anfang des Beitrages einige Beispiele genannt werden, die unter dem Begriff der Architektursemantik gefasst werden können. Unter Architektursemantik sollen die bewussten Bezüge von Gesamtformen, Stilen oder Details auf ein Vorbild verstanden werden, die es ermöglichten, durch Zitate und Konnotationen weitere Bedeutungsebenen neben der ursprünglichen Funktion der Architektur zu transportieren. Nicht nur der bekannte augusteische Klassizismus 5 , der sich zum Beispiel in der Verwendung von Kopien der hochklassischen weiblichen Trägerfiguren (Karyatiden) des Erechtheions auf der Athener Akropolis an den Hallen 4
Ekkehart Krippendorf, Klassik-Rezeption als politisches Programm. Die amerikanische Revolution und ihre Architektur - Thomas JefFerson, in: Martin Maischberger/ Wolf-Dieter Heilmeyer/Angelos Deleborrias (Hrsg.), Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit. Mainz 2002, 714-717. 5 Einfuhrend: Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder. München 1987. 278
des Augustus-Forums in Rom manifestiert, macht dies deutlich. Unbekanntere, aber mindestens ebenso deutliche Beispiele sind die Verwendung archaisch überlängter Grundrisse bei dem Neubau einiger hellenistischer Tempel im griechischen Mutterland 6 , die offenbar ein hohes Alter der jeweiligen Kulte evozieren sollten. Klassizismus und Archaismus sind retrospektive Bezüge auf vorbildhafte Stilepochen und setzen damit ein mehrfach differenziertes Stilbewusstsein voraus. Im Grundsätzlichen müssen zunächst kunstgeschichtliche Epochen bekannt sei 7 , zugleich muss ein Bewusstsein des eigenen, zeitgenössischen Stils existieren, und die Stilgeschichte darf nicht als Entwicklungsfortschritt verstanden werden, andernfalls würde es sich von vornherein verbieten, Vorbildhaftes in vergangenen Epochen zu suchen. Für die neuzeitliche europäische Architekturgeschichte waren dafür spätestens seit der europäischen Renaissance die Grundlagen gelegt.
II. Zur Kenntnis antiker Architektur im 18. und 19. Jahrhundert Diese Vorbemerkungen sind für die hier behandelte Fragestellung nicht ohne Belang, denn entscheidend für den Entwurf klassizistischer Architektur ist naturgemäß auch der architekturgeschichtliche und architekturtheoretische Kenntnisstand der Architekten, der ihnen erst die Verwendung antiker Stilzitate ermöglichte. Aus diesem Grunde sind die Wege, über die die Vermittlung antiker Architekturformen und -Ordnungen erfolgt sein kann, von hohem Interesse. Im Zentrum der neuzeitlichen, theoretischen Auseinandersetzung mit der antiken Architektur steht Vitruv. M. Pollius Vitruvius war ein augusteischer Ingenieur und Fachschriftsteller, der „De architectura libri decem" 8 verfasste. Vitruv versuchte, Grundregeln für ein gutes 6
Z. B. Sikyon, Markttempel, Thermos, Apollontempel C oder Kallion. Jüngst auch ein Tempel in Lousoi, dessen Kenntnis der Verfasser der Liberalität G Ladstätters (ÖA1 Athen) verdankt. 7 Dies gilt insbesondere für die Antike, bei der damit Grundlagen eines kunstgeschichtlichen Verständnisses postuliert werden können. Dies ist durchaus nicht selbstverständlich. denn obwohl die antike Kunstgeschichtsschreibung natürlich bekannt ist, man denke nur an die Naturgeschichte des Plinius oder die prominenten Vertreter der Zweiten Sophistik, wie zum Beispiel Pausanias, gilt sie in der Forschung doch als zumeist wenig reflektierend und einseitig auf die griechische Klassik fixiert. 8
Deutsche Übersetzung: Citri Fensterbusch, Marcus Vitruvius Pollio. Über Architektur. Darmstadt 1987. Die Literatur zu Vitruv ist äußerst umfangreich. Einführend und mit
279
und angemessenes Bauen aufzustellen. Basierend auf definierten ästhetischen Grundbegriffen entwickelte er ein differenziertes Regelsystem, das auf einer dem Bau selbst entnommenen Grundeinheit, dem Modulus, aufbaute. Zugleich stellt Vitruv unsere wichtigste Quelle für hellenistische A r chitekturtheorie dar, etwa zum Wirken des von ihm besonders bewunderten Architekten Hermogenes. Die Intention Vitruvs lag jedoch nicht darin, die römische Entwurfspraxis im Sinne eines Handbuchs wiederzugeben, sondern, ganz im Gegenteil, einen Gegenentwurf zur zeitgenössischen Bauund Entwurfspraxis zu liefern, um so zu zeigen, welche Regeln ein guter Architekt eigentlich berücksichtigen sollte. In der kaiserzeitlichen Architektur und Fachliteratur war die Wirkungsgeschichte Vitruvs daher begrenzt, seine eigentliche Rezeptionsgeschichte setzte erst in der Renaissance mit einer Reihe zeitgenössischer Fachbücher zur Architekturtheorie ein. Hier wirkte insbesondere L e o Battista Alberti (1404-1472), ein italienischer Humanist und Architekt, der Vitruv in seinem Buch „ D e re aedificatoria libri d e c e m " (erschienen 1452) zur Norm erklärte und damit den sogenannten „Vitruvianismus" begründete. 1521 gab Cesare Caesarino erstmals eine illustrierte italienische Übersetzung Vitruvs heraus. Die Reihe der Architekten, die sich in der Tradition Vitruvs sahen, setzte sich danach über bedeutende Personen w i e Sebastiano Serlio (1475-ca. 1554) und A n drea Palladio ( 1 5 0 8 - 1 5 8 0 ) fort. Palladio publizierte als Architekt zugleich die antiken Gebäude R o m s und verfasste schließlich ein eigenes Traktat „ I quattro libri deH'architettura". 9 M i t seinen Bauwerken erhob er den A n spruch, die antike Architektur wiederzubeleben und ihr Geltung zu verschaffen. A u c h in England war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Bewunderung für Palladio geweckt worden 1 0 , wesentlich durch Inigo Jones ( 1 5 7 3 - 1 6 5 2 ) und John W e b b (1611-1672). Gebaute Vorbilder im Sinne Palladios lieferte Christopher Wren ( 1 6 3 2 - 1 7 2 3 ) " nach dem Londoner Stadtbrand v o n 1666 mit zahlreichen Stadtkirchen, von denen die Saint Paul's Cathedral ( 1 6 7 5 - 1 7 1 0 ) sicher die bekannteste ist. Die Gestal-
weiteren Literaturhinweisen Heiner
Knell, Vitruvs Architektur Theorie. 3. Aufl. Darm-
stadt 2008. 9
Andrea
Palladio,
Die vier Bücher zur Architektur. Übers, v. Andreas Beyer/Ulrich
Schütte. Zürich 1988; Bruce Boucher, 1994; Erik Forssmann,
Palladio. Der Architekt in seiner Zeit. München
Palladios Lehrgebäude. Studie über den Zusammenhang von Ar-
chitektur und Architekturtheorie bei Andrea Palladio. Uppsala 1965. 10
V g l . dazu John Harris, The Palladians. London 1981; Rudolf Wittkower, Palladio and
English Palladianism. London 1983. 11
Margaret
280
Whinney, Wren. London 1971.
tung dieser Kirchen war auch in den britischen Kolonien sehr beliebt. 1 2 1715 erschien der erste Band des „Vitruvius Britannicus" von Colen C a m p bell (1676-1729). 1 3 Der Titel war Programm und der Architekt Campbell einer der Hauptvertreter des sogenannten „Palladianismus". 1 4 Nur wenig später erschien, herausgegeben von G i a c o m o Leoni ( 1686-1746), die erste englischsprachige Ausgabe der Werke Palladios. Außerdem übersetzte und edierte er Albertis „De re aedificatoria" (s. o.). 1728 gab schließlich der Architekt James Gibbs ( 1 6 8 2 - 1 7 5 4 ) das Vorlagenbuch „Book of Architecture" heraus. 1 5 Gibbs Hauptwerk war die Kirche St. Martin-in-the-Fields, deren Portikus an das Pantheon in Rom erinnert. Durch diese Vertreter nahm die englische Architektur viele Einflüsse des Vitruvianismus und der Schule Palladios auf, aus dieser Gemengelage entstand der Stil des (Neo-) Palladianismus. R. Wittkower wies d a r a u f h i n , dass sich der Klassizismus in England bereits eine Generation früher als auf dem Festland durchsetzte, zumal er sich hier auch als Ablehnung des Barock, der Architektursprache der katholischen Kirche, verstand. 1 6 „Auch von T h o m a s Jefferson [...] ist bekannt, daß er schon als Student auf dem College in Williamsburg die vier Bücher Palladios eifrig studierte und aus ihnen zeitlebens die theoretische Rechtfertigung seines eigenen Schaffens bezog." 1 7 Neben der theoretischen Beschäftigung mit antiker Architektur erfolgte seit der Renaissance aber auch eine direkte bauforscherische Autopsie, als Architekten begannen, antike Bauwerke zu studieren, zu vermessen und zu publizieren. Als bedeutende N a m e n seien an dieser Stelle nur Antoine Desgodetz (1653-1728), der sich vor allem um die stadtrömische Architektur verdient machte und dessen A u f m a ß teilweise bis heute eine Grundlage für die Bauforschung bildet, sowie James Stuart und Nicholas Revett genannt. Vor allem letztere bildeten durch ihr monumentales Werk „The Antiquities of Athens" von 1762/1787 eine wichtige Quelle für die Kenntnis antiker Architektur. Stuart und Revett waren von der „Society of Diletanti" nach Griechenland entsandt worden und dokumentierten in Athen zahlreiche 11
Alfred Neumeyer, Nordamerikanische Kunst, in: Harald Keller (Hrsg.), Die Kunst des 18. Jahrhunderts. (Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 10.) Frankfurt am Main/Berlin 1990, 426f.; Pierson, Colonial and Neoclassica! Style (wie Anm. 3), 94-105. 13 Howard E. Stutchbury, The Architecture of Colen Campbell. Manchester 1967. M Werner Oechslin, Palladianismus. Andrea Palladio. Kontinuität von Werk und Wirkung. Zürich 2008; Robert Tavenor, Palladio and Palladianism. London 1991. 15 16
Bryan D. Little, The Life and Works of James Gibbs. London 1955. Rudolf Wittkower, Englische Architektur, in: Keller (Hrsg.), Kunst (wie Anm. 12),
220. 17
Köster, Palladio (wie Anm. 2), 11.
281
Bauwerke mit hohen Genauigkeitsansprüchen. Auch ihr Werk stellt bis heute für die archäologische Erforschung Athens eine unschätzbare Quelle dar, zugleich war es in seiner Zeit eine der wichtigsten Vorlagenbücher und Inspirationsquellen für Architekten - auch Thomas Jefferson besaß eine Ausgabe des ersten Bandes. 18
III. Klassizistische US-amerikanische Architektur im 18. und 19. Jahrhundert 1. Der Colonial Style In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts herrschte in den britischen Kolonien Nordamerikas ein ausgesprochen nüchterner Architekturstil, der vor allem im Kontrast zur europäischen oder südamerikanischen Architektur eine Besonderheit darstellt und als Colonial Style bezeichnet wird. Ein Beispiel stellt der Gouverneurs-Palast in Williamsburg dar (Abb. 1). Er war der Amtssitz des Gouverneurs von Virginia und damit unter anderen auch von Thomas Jefferson. Der unbekannte Architekt des 1720 vollendeten Baus verzichtete auf Tür- und Fensterrahmungen, fugte aber eine zahnschnitt- oder konsolenartige Gliederung des Gebälkes als Vorzeichen eines Klassizismus ein. Diesen, abgesehen von wenigen Ornamenten, sehr nüchternen, von Schmuck freien Stil zeigt auch das Old Colony-House in Newport, Rhode Island (Abb. 2). 19 Es wurde 1739-1741 nach Plänen von Richard Munday (um 1685-1739) erbaut. Die weitgehend schmucklose Fassade besitzt eine horizontale Gliederung, durch die sie eine gewisse Strenge erhielt, die aber durch den übergiebelten Eingang aufgelockert wird. Dieser Eingang erhielt allerdings ein barockes Portal, das einzige Zugeständnis an den zeitgenössischen europäischen Geschmack. 20 Man kann im Zweifel sein, ob diese Zutat nicht doch auf die barocke Gestaltung als letztendlich erstrebenswertes Ziel aufmerksam macht. In der Tat ist ja noch ein weiterer, ganz praktischer Gesichtspunkt für die Dominanz klassizistischer Architektur in den USA von hoher Bedeutung. Neben dem fehlenden Missionsauftrag der katholischen Kirche bestehen dort andere Rahmenbedingun18
Talbot Hamlin, Greek
Revival Architecture in America. London 1944, Ndr. New York
1964,339.
" Köster, Palladio (wie Anm. 2), 15. 20
Ebd. 20.
282
gen, denn die Siedler fanden einfache Baumaterialien, vor allem Holz vor. Es wurde in der Architekturgeschichte immer wieder daraufhingewiesen, dass es auch das zur Verfügung stehende Baumaterial gewesen sein, das über die Gestaltung entschieden hätte. Man wird sicher einräumen, dass lineare Formen, wie sie bei der antiken Architektur vorkommen, durch Holz einfacher abzubilden sind, als geschwungene Formen, diesen Faktor sollte man jedoch nicht zu stark gewichten, letztendlich entscheidet stets der Gestaltungswille. Immerhin sei aber festgehalten, dass das Stilelement der strengen horizontalen Gliederung der Fassade, die auch mit einfachen Baustoffen recht leicht aufgelockert werden könnte, schon für den nüchternen Kolonialstil ebenso typisch ist. Der Beginn einer eigenen amerikanischen Architektur wird im Allgemeinen in dem Schaffen des Architekten Peter Harrison gesehen, der dem europäischen Rokoko einen „Protoklassizismus" entgegensetzte. 21 Peter Harrison (1716-1775) wurde in York, England, geboren und siedelte 1740 in die amerikanischen Kolonien über. Er war kein ausgebildeter Architekt, sondern eigentlich Kaufmann und Kapitän 22 , der nach einer kurzen Ausbildung in England sein Wissen vor allem aus den Werken Palladios bezog. Als Beispiel für sein Wirken mag die Redwood Library in Newport (Abb. 3) stehen 23 , bei deren Bau 1748-1750 von Peter Harrison zum ersten Mal Elemente antiker Tempelarchitektur verwendet wurden. Auf einem Podium mit breiter Treppe, ganz einem römischen Tempel nachempfunden, erhebt sich eine sehr weite viersäulige Front mit tuskanischen Säulen, die ein dorisches Gebälk mit flachen Konsolen anstelle von Mutulusplatten und einen Giebel tragen. Hinter einer tiefen Vorhalle ist ein Kernbau angefügt, der einer normalen Hausfassade mit zentraler Tür und zwei Geschossen mit Fenstern entspricht. Leicht gegen diese Fassade zurückgesetzt verbreitert sich der Kernbau und setzt mit der Dachschräge die Neigung des Giebels fort. Als Vorlage für die Gestaltung der Front der Bibliothek diente also zweifelsohne die etruskische Tempelarchitektur 24 , jedoch mit anachronistischen Bemengungen. Peter Harrison lehnte die Ablösung der Kolonien von England ab, eine politische Haltung, die ihn 1775 ruinierte, so21
Pierson, Colonial and Neoclassical Style (wie Anm. 3), 142-150; Köster, Palladio (wie Anm. 2), 13. 22 Köster, Palladio (wie Anm. 2), 22-24. 23 Henry-Russell Hitchcock, Rhode Island Architecture. Providence, RI 1939, 21. 24 Die deutlichen Anklänge an stadtrömische Breitcella-Tempel, wie z. B. den tiberischen Concordia-Tempel in Rom, sind wohl nicht beabsichtigt, andernfalls wären die seitlichen Flügel nicht leicht gegenüber dem Kembau zurückversetzt angelegt worden.
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gar sein Haus in New Häven, Connecticut, wurde von einem Mob gestürmt und zerstört. Es wird damit deutlich, dass die Wurzeln des amerikanischen Klassizismus in der Architektur nicht im Sinne der Revolution ideologisch untermauert waren, sondern unabhängig von ihr entstanden. So war auch William Pains Buch „British Palladio" von 1798 eines der bei Handwerkern beliebtesten Bücher für Innengestaltung der nachrevolutionären Zeit. 25 Die frühen Klassizisten, unter ihnen auch Thomas Jefferson, griffen also auf Bekanntes und Eingeführtes zurück, ja sie waren selber Kinder dieses Umfeldes. 2. Der Präsident als Baumeister - Die frühen Klassizisten und der Federal Style Die Zeit nach dem glücklichen Ausgang des Unabhängigkeitskriegs waren Jahre des wirtschaftlichen Booms und zeitgleich eines Baubooms. Die Architektur der jungen USA wurde durch dabei vor allem durch zwei Persönlichkeiten bestimmt: Charles Bulfinch und Thomas Jefferson. 26 Charles Bulfinch (1763-1844) 27 entstammte einer wohlhabenden Familie und reiste zwei Jahre lang durch Europa, er war in Paris, Südfrankreich, Florenz, Rom und natürlich England gewesen, kannte also antike Architektur in Autopsie. Als Politiker und Architekt ein Autodidakt, war Bulfinch in der Architektur des Colonial Style verwurzelt und strebte noch keine Loslösung von der englischen Architektur an. Dennoch unterscheidet sich seine Architektur von derjenigen des Colonial Style durch die stärkere Verwendung antiker Bauformen. 28 Ein Beispiel für sein Werk ist das State House in Boston (Abb. 4), errichtet 1775-1798. 29 Es weicht von der starken Verhaftung an Vorbilder, wie sie noch Peter Harrison hatte, ab und geht mit Versatzstücken antiker Architektur als Zitate viel freier um. Einem zweigeschossigen Querbau ist eine Vorhalle vorgelegt worden, die aus korinthischen Säulen und einem umlaufenden ionischen Konsolgebälk besteht. Die Säulen erheben sich nun aber nicht im Bereich des Eingangs, wie zu erwarten, sondern sie sind balkonartig in das zweite Geschoss versetzt, 25
Hamlin, Greek Revival (wie Anm. 18), 12. Köster, Palladio (wie Anm. 2), 28. 27 Harold Kirker, The Architecture of Charles Bulfinch. Harvard 1998; Charles A. Place, Charles Bulfinch. Artist and Citizen. New York 1968; Pierson, Colonial and Neoclassical Style (wie Anm. 3), 240-285. 28 Köster, Palladio (wie Anm. 2), 28. 29 Ebd. 30. 26
284
der Besucher betritt das Gebäude nicht, indem er zwischen ihnen durchschreitet, sondern er wird durch Arkaden des Unterbaus geführt. Gegenüber der Vorhalle nochmals zurückversetzt und auf einen zentralen Bereich der Frontbreite beschränkt, erhebt sich ein drittes Geschoss, das mit einem Giebel abgeschlossen wird. Wie in einer Collage werden hier verschiedene Versatzstücke miteinander kombiniert, das zurückgesetzte Obergeschoss mit dem Giebel erinnert sogar an spätantike Basilika-Architektur. Die gedankliche Freiheit Bulfinchs zeigt sich darüber hinaus in der Verwendung von seitlichen Säulenpaaren, auf diese Weise werden unter anderem axiale Bezüge der zentralen, weiteren Interkolumnien mit der Treppe hergestellt, die zum Gebäude hinfuhren. Die Kombination des Baus mit einer großen zentralen Kuppel verstärkt den ungewöhnlichen freien Eindruck der Konzeption und gibt dem Bau eine deutliche Höhenerstreckung, die es allein durch den Giebel nicht gehabt hätte. Im Unterschied zu Peter Harrisons Redwood Library ist es nicht mehr möglich, konkrete antike Vorbilder zu benennen, sondern es handelt sich um eine antik inspirierte Neuschöpfung aus verschiedenen Quellen, auch der nachantiken europäischen Architektur. Es ist für uns bedeutsam, dass Bulfinch nach eigenen Aussagen keinen nationalen Stil anstrebte, sondern erklärte, dass sein State House auch überall in Europa stehen könnte. Trotzdem wirkte er vor allem in den USA, wie sich am Beispiel des US-Capitol in Washington, D. C. zeigt, dessen lange Entwurfs- und Baugeschichte bereits 1793 mit einem Entwurf von William Thornton begann und mit der später ausgeführten Fassade einige Elemente des State House in Boston, wie die seitlichen Säulenpaare der Vorhalle auf Arkaden, übernahm. Der zweite überragende Gestalter der frühen US-amerikanischer Architektur war Thomas Jefferson. Der dritte Präsident der USA war als Architekt ebenfalls ein Autodidakt. Eines seiner bekanntesten Bauten ist sein Wohnhaus „Monticello" an dem er vierzig Jahre lang baute. 30 Bei dem Entwurf von Monticello (Abb. 5) zeigen sich unter anderem die starken Einflüsse, den die Villen Palladios auf ihn ausübten. Ein kreuzförmig angelegter Grundriss wird auf der Eingangsseite und der rückwärtigen Gartenseite durch zwei tetrastyle Säulenfronten mit Giebeln axial betont. Diese Vorhallen stehen auf einem Podium mit breiter Treppe, lassen also wieder die antike römische Architektur deutlich werden. Ein dorischer Metopen-Trigly10
Fiske Kimball, Thomas Jefferson and the First Monument of the Classic Revivals in America. Harrisburg/Washington 1915; Paul Wilslach, Jefferson and Monticello. New York 1942; William H Adams, Jefferson's Monticello. New York 1983; Pierson, Colonial and Neoclassical Style (wie Anm. 3), 286-316.
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phenfries zieht sich um den gesamten Kembau herum. Er korrespondiert mit dem Gebälk der Gartenfront, teilt aber die Eingangsfront in zwei Geschosse. Erst auf diesem Gebälk stehen dort vier ionische Säulen mit einem Giebel. Die Staffelung dorischer und ionischer Ordnungen ist kanonisch und weist auf antike Architekturen zurück. Auch bei Monticello handelt es sich gewissermaßen um ein Pasticcio, das Dell Upton folgendermaßen charakterisierte: „In short, it was a collection of Visual quotations of the kind that amateurs and Professionals alike commonly mistake for design." 31 Ein weiteres wichtiges Bauwerk Jeffersons ist das Virginia State Building in Richmond (Abb. 6), errichtet 1785-1789 und 1906 durch seitliche Flügelbauten ergänzt, die seinen Eindruck wesentlich veränderten. Das Virginia State Building entspricht in der Grundkonzeption ganz einem römischen Tempel, der sich mit sechs korinthischen Frontsäulen auf einem Podium mit breiter Treppe und seitlichen Treppenwangen erhebt. Die Vorhalle ist zwei Joche tief, dann folgt eine Cella, also der Kembau eines antiken Tempels, die hier als zweigeschossiger Bau ausgebildet ist, es handelt sich um einen prostylen Podiumstempel. Das Capitol wird von einem umlaufenden ionischen Gebälk und einem Giebeldach abgeschlossen. Hier zeigt sich die Kenntnis der Maison Carrée in Nîmes (Abb. 7), einem augusteischen Tempel, der Jefferson bei seinem Aufenthalt als Diplomat in Frankreich 1785— 1789 sehr stark beeindruckt hatte. Der Tempel zählt zu den am besten erhaltenen antiken Tempeln überhaupt: ein Podiumstempel mit einer sechssäuligen, korinthischen Vorhalle, die allerdings drei Joche tief ist. Der Fassadencharakter, der dem amerikanischen Klassizismus zu eigen ist, zeigt sich dann aber vor allem in der Behandlung des Kembaus. Im Gegensatz zu der Maison Carrée, bei der die Säulen pseudoperipteral, d. h. als vorgeblendete Halbsäulen um die Cella herumgeführt sind, gibt es bei dem Virginia State Capitol keine organische Verbindung der Vorhalle mit der zweigeschossigen, an jeder Seite von hochrechteckigen Fenstern in zwei Geschossen durchbrochenen Wand des Kernbaus. Beide sind zwar unter einem Dach, aber dennoch isoliert. Immerhin überwand Jefferson durch die Kombination der römischen antiken Architektur mit einem zweigeschossigen Bau nun endgültig den Colonial Style und wirkte damit zukunftsweisend. Weitere bedeutende öffentliche Bauten lassen sich wohl auf dieses Vorbild zurückfuhren, zum Beispiel die Hibernian Hall in Charleston, 1835 von Thomas Ustick Walter erbaut. Zusammen mit den Bauten von Bulfinch
" Dell Upton, Architecture in the United States. (Oxford History of Art.) Oxford/New York 1998, 32.
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stellte das State Building so, mehr noch als Monticello, die Grundlage für einen eigenen, amerikanischen Klassizismus dar. 32 Die klare Rückbesinnung Jeffersons auf die Antike zeigt sich auch in dem Hauptgebäude der Universität von Virginia in Charlottesville (Abb. 8). JefTerson war zugleich ihr Gründer und entwerfender Architekt von 1817 bis zu seinem Tode 1826. 33 Das Hauptgebäude ist ein verkleinertes Pantheon, das aber im Kernbau durch Zweigeschossigkeit verändert wurde, zudem besitzt die Vorhalle, den kleineren Dimensionen gemäß, nur noch sechs anstelle von acht Säulen. 34 Bei den Universitätsgebäuden handelt es sich aber nicht nur um funktionale Lehr-, Wohn- und Verwaltungsgebäude, sondern sie sind selbst Lehrstücke, exempla der Architektenausbildung. 35 Entscheidend an Jeffersons Forderung an die Gebäude der Universität war, „daß die Universität selbst [d. h. die Gebäude] als ein Mittel zur Verbreitung seiner Architekturvorstellungen dienen könnte; ihre Gebäude würden als , Architekturmodelle für die reinsten Formen der Antike dienen und den Studenten Beispiele der Prinzipien geben, in denen sie in diesem Fach unterrichtet werden sollten'", so JefTerson in einem Brief vom 2. April 1816 an Wilson Carey Nicholas. 36 Dies zeigt sich besonders an den Pavillons, die dergestalt entworfen wurden, dass an ihnen die Unterschiede zwischen den antiken Bauordnungen und den antiken Proportionssystemen vermittelt werden. Jeffersons Hauptquelle war in der Tat Vitruv, er besaß eine französische Ausgabe von Claude Perrault, die er 1815 an die Library of Congress verkaufte, in der sie später wiederum Henry Benjamin Latrobe (s. u.) für seine Entwürfe nutzte! 37 Für die zehn Pavillons wählte JefTerson zum einen die verschiedenen antiken Bauordnungen: toskanisch-dorisch, ionisch und korinthisch. Auch in der Anzahl der Frontsäulen variieren die Pavillons, von vier- und sechsäuligen (tetrastyle bzw. hexastyle) Fronten sowie Fronten, bei denen die Säulen zwischen zwei Zungenmauern (in antis) gestellt wurden. Somit kommen die wichtigsten Variationen antiker 32
Köster, Palladio (wie Anm. 2), 34. Richard G Wilson (Ed.), Thomas JefTerson's Academical Village. The Crealion of an Architectural Masterpiece. 2"d Ed. Charlottesville/London 2009; Pierson, Colonial and Neoclassical Style (wie Anm. 3), 316-333. 34 Köster, Palladio (wie Anm. 2), 36 f. 35 Vgl. auch Joseph M. Lasala/Patricia C. Sherwood/Richard W Wilson, Architecture for Education. JefTerson's Design of the Academical Village, in: Wilson (Ed.), Thomas Jefferson's Academical Village (wie Anm. 33), 1-54. 36 Malcom Bell III., Vitruv in Virginia, in: Maischberger/Heilmeyer/Delebomas (Hrsg.), Die griechische Klassik (wie Anm. 4), 718 (Brief in: Honeywell 1931, 231). 37 Ebd. 720. 33
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Frontgestaltungen von Gebäuden mit Säulenordnungen vor. Dies betrifft auch die Säulendispositionen, d. h. die für den Eindruck einer Säulenfront entscheidenden Proportionen zwischen Säulenhöhe und dem unterem Säulendurchmesser einerseits und dem lichtem Abstand der Säulen andererseits, die sich nach Vitruv'schen termini
richten: Sie sind eustyl, systyl,
araeostyl, pyknostyl. 3 8 In der Tat fragte Jefferson bei den Architekten William Thornton und Benjamin Henry Latrobe um Entwürfe für die Professorenhäuser mit den folgenden Vorgaben an: „ W i r wünschen, dass die Pavillons M o d e l l e für guten Geschmack und mustergültige Architektur und für die Unterschiede im Aussehen sind; nicht z w e i sollen gleich sein, damit sie als Beispiele der Ordnungen für die Architekturvorlesungen dienen können" ( B r i e f an Latrobe v o m 12. Juni 1817). Den wichtigsten Entwurf lieferte Latrobe, der zu dieser Zeit auch der leitende Architekt des Baus des Kapitols war. 3 9
3. „Athens
of the Western World"
- Die Architektur
des ,, Greek
Revival"
„ Z u m Ende des 1. Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts überwanden die A m e rikaner zum ersten M a l ihre puritanische Grundhaltung; es entstand eine Fassadenarchitektur, [ . . . ] , die eine immer wiederkehrende S y m b o l f o r m benutzte, mit der alle bedeutenden staatlichen oder privaten Gebäude gleich welchen Z w e c k s überzogen wurden: die Fassade des griechischen T e m pels." 4 0 Im Unterschied zu Europa setzt diese Form des Klassizismus in den U S A etwa ein Jahrzehnt früher ein und entwickelt zugleich eine sehr viel stärkere Kraft und Ausbreitung, so dass man von einer unabhängigen Entwicklung ausgehen muss. E ventuel 1 besteht hier - w i e später auch in Europa - eine Verbindung zum Philhellenismus, der seit den 1820er Jahren durch die Begeisterung für den griechischen Befreiungskrieg getragen wurde. „ T h e fact that d e c o r a t i v e detail was based upon classic precedent, and especially upon G r e e k precedent, was due not m e r e l y to an increasing interest in archaeology, but more especially to the enthusiasm which the w h o l e Western World, and particularly the n e w republic, s h o w e d f o r the struggles o f G r e e c e during her wars o f independence. T h e names g i v e n to the n e w t o w n , such as Athens, T r o y , Ithaca, Ypsilanti, are likewise A m e r i c a n tribute to G r e e k h e r o i s m . " 4 1
38
Ebd. 719.
39
Ebd. 718.
40
Zitat: Köster,
Anm. 18). 41
Ebd. X V I f.
288
Palladio ( w i e A n m . 2), 44; allgemein Hamlin,
Greek Revival ( w i e
Der entscheidende Grund für die Durchsetzung des Greek Revival war jedoch wohl, dass es sich bei ihm um eine reine Fassadenarchitektur handelte. Im Prinzip konnte nun jedes Gebäude mit Hilfe einer Säulenfront mit Giebel nobilitiert werden. 42 Vorreiter des Greek Revival43 war Henry Benjamin Latrobe (1764— 1820). „From England Latrobe brought to America that spirit of growing rebellion against Palladianism and the growing love of simplified versions of ancient classic forms which were current among the younger London architects of the time." 44 In England geboren, hatte er einige Jahre in Deutschland studiert und wurde dann in London Architekt. 1796 wanderte er nach Amerika aus und errichtete 1798 die Bank of Pennsylvania in Philadelphia (Abb. 9), ein Werk, das ihn auf einen Schlag berühmt machte. 45 Die Bank of Pennsylvania ist eine Kombination verschiedener antiker Vorbilder. Zum einen wird auch hier der römische Podiumstempel mit einer sechssäuligen Front aufgenommen und mit dem griechischen Grundrisstypus eines Amphiprostylos kombiniert, bei dem die Front- und die Rückseite jeweils aus einer gleich gestalteten, dem Bau vorgelegten Säulenreihe bestehen. Als weiteren Rückgriff zitiert Latrobes Bank of Pennsylvania die ionischen Kapitelle des Erechtheions. Durch die Einbindung möglichst originalgetreuer Vorbilder ist sie der Startpunkt des Greek Revival. Lothar Haselberger prägte dafür den Begriff einer „virtuellen Spolie" 46 mit dem er eigentlich nichts anderes bezeichnete, als die Verwendung getreuer Kopien von antiken Baugliedern an zeitgenössischen Gebäuden. Es handelt sich dabei also um eine besondere Form des Zitates, das nicht mehr nur allgemein , Antike' evoziert, sondern konkret nachvollziehbare und überprüfbare Quellen besitzt. Die architekturgeschichtliche Heimat der Vorbilder ist vor allem das 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., also die Zeit der griechischen Klassik. Die Vermittlung der Detailformen erfolgte mit Hilfe der Literatur, zum Beispiel die oben bereits erwähnten Stuart und Revett. Welche geistige Einstellung dieser 42
Köster, Palladio (wie Anm. 2), 46. Gegen den Begriff des „Greek Revival", da er die Anteile römischer Architektur unterschlägt: Christopher Höcker, Greek Revival America? Reflections on Uses and Functions of Antique Architectural Patterns in American Architecture between 1760 and 1860, in: Hephaistos 15, 1997, 197-240. 44 Hamlin, Greek Revival (wie Anm. 18), 30. 45 Köster, Palladio (wie Anm. 2), 39; Pierson, Colonial and Neoclassical Style (wie Anm. 3), 337-372. 46 Lothar Haselberger, „Exactly corresponding". Virtuelle Spolien aus Athen in Philadelphia, USA, in: Thomas Schattner (Hrsg.), Spolien im Umkreis der Macht. Mainz 2009, 406-411. 43
289
Form des Aufgreifens antiker Vorbilder zugrunde lag, zeigte Latrobe 1811 in einer Ansprache an die „Society of Artists of the United States", als er erklärte, „the days of Greece may be revived in the woods of America, and Philadelphia become the Athens of the Western world". 47 In dem Wiederaufgreifen der antiken Architektur liegt natürlich zugleich auch ein Verzicht auf eine eigene, wie auch immerzu definierende, Architekturtradition, oder die Möglichkeit, Neues auf der Grundlage der regionalen Ressourcen, vornehmlich eben Holz, neu zu definieren. Stattdessen handelt es sich um den Bezug auf ein gesamteuropäisches bzw. westliches Kulturerbe, auf das keine der Nationen des 19. Jahrhunderts alleinige Ansprüche anmelden konnte. Das erste durchgehend im Stil des Greek Revival entworfene Gebäude der USA ist die Second Bank of the United States in Philadelphia (Abb. 10), die 1818-1824 von William Strickland (1788-1854) errichtet wurde. Der Bau orientiert sich, getreu bis in die Details, am Parthenon (Abb. II). 4 8 So greift er zum Beispiel auf die Kapitelle der Vorhalle des antiken Tempels als Vorlagen zurück. Allerdings wurde die Disposition der Säulen verändert, da die Säulenzwischenräume, die Interkolumnien, nicht mehr 1 1/4 des unteren Säulendurchmessers betragen, sondern 1 3/4. Dadurch wird die Fassade lichter und lässt zugleich das dahinter liegende Kerngebäude erkennen. 49 Auch die Merchant's Exchange in Philadelphia wurde 1832-1834 von William Strickland errichtet. An der östlichen Schmalseite des Gebäudes wird als Abschluss eine monumentale Tholos, ein Rundtempel, mit einer Kopie des choregischen Monuments des Lysikrates in Athen aus dem Jahre 334 v. Chr. als Lateme kombiniert. Hierin zeigt sich der ungezwungene Umgang mit den Vorbildern und die Freiheit des Greek Revival.50 Die Kenntnis des Lysikrates-Monumentes war durch das Werk von Stuart und Revett vermittelt worden. 1825-1826/27 errichtete John Haviland (1792-1852) das Gebäude des heutigen Atwater Kent Museums in Philadelphia (Abb. 12), das frühere Franklin Institute, nach dem Vorbild des Thrasyllos-Monumentes in Athen (Abb. 13), auch hier hatten wiederum Stuart und Revett die Kenntnis des schon wenige Jahre später im griechischen Befreiungskrieg zerstörten Originals vermittelt. Das Neue lag darin, dass man sich von der reinen Säulenarchitektur trennte und statt ihrer eine strenge Pilaster-Gliederung über-
47 48 49 50
Ebd. 401. Köster, Palladio (wie Anm. 2), 46. Haselberger, Spolien (wie Anm. 46), 411. Köster, Palladio (wie Anm. 2), 47; Haselberger, Spolien (wie Anm. 46), 420-423.
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nahm. Wandpfeiler-Fassaden werden hier erstmals in die Architektur eingeführt. 51 Ein weiterer Architekt mit überragender Bedeutung für die Architektur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA war Thomas Ustick Walter (1804—1882). 1833-1847 errichtete er die Founder's Hall des Girard College in Philadelphia (Abb. 14). Sie besitzt die Form eines griechischen Ringhallentempels (Peripteros), was naturgemäß nur bei allseitig freistehenden Gebäuden der Fall sein konnte. 52 Auch die Founder's Hall zitiert den Parthenon in Athen, allerdings deutlich verkürzt mit 8 x 1 1 anstelle von 8 x 1 7 Säulen und mit einer ionisch-korinthischen anstelle der originalen dorischen Ordnung. Sogar das Dach wurde aus Marmorziegeln gefertigt. Die einzige .Konkurrenz' zu diesem Bau war die Pariser Sainte-MarieMadeleine-Kirche (s. u.). 53 Mit dem US-Treasury Building in Washington, D. C. (Abb. 15), das 1836-1842 von Robert Mills (1781-1855) errichtet und wenige Jahre später durch seitliche Flügel erweitert wurde, tritt der Greek Revival in eine neue, monumentale Phase ein 54 , während in Europa der Klassizismus zu dieser Zeit bereits von der Romantik und dem Historismus verdrängt wurde. Das Gebäude steht auf einem niedrigen Untergeschoß und besteht im Wesentlichen aus einer langgezogenen Front ionischer Säulen, wobei der Mitteltrakt durch einen Giebel betont ist. Weiterhin werden Formelemente aufgegriffen, die z. B. in der französischen Architektur schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt waren, wie z. B. die Bebauung an der Place de la Concorde durch Ange-Jacques Gabriel zeigt. Auch hier findet man langgestreckte Säulenreihen auf Arkaden, jedoch noch am Übergang vom Barock zum Klassizismus. Für den Stil Robert Mills' ist neben seiner Monumentalität die weitere Reduktion des Ornaments und zugleich die Funktionalität des Gebäudes kennzeichnend, die sie gerade für öffentliche Architektur vorbildhaft machte 55 . Mit dem Treasury Building ist die Stilentwicklung der Architektur Amerikas nun aber von der Europas zum ersten Mal weitgehend gelöst, auch weil in Europa zunehmend weitere Stile des Historismus beliebt wurden (s. u.). 56 Robert Mills war dies bewusst:
51 52 51 54
56
Haselberger, Spolien (wie Anm. 46), 417-419. Köster, Palladio (wie Anm. 2), 48. Haselberger, Spolien (wie Anm. 46), 425^130. Pierson, Colonial and Neoclassical Style (wie Anm. 3), 404-417. Hamlin, Greek Revival (wie Anm. 18), 54 f. Köster, Palladio (wie Anm. 2), 54 f.
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„Study your country's tastes and requirements, and make classic ground here for your art. G o not to the old world for your examples. We have entered a new era in the history of the world; it is our destiny to lead, not to be led." 5 7
Grundlage für die weite Verbreitung des Greek Revival war der Charakter des Stils als Fassadenarchitektur, die es ermöglichte, Versatzstücke antiker Architektur baukastenartig zu verwenden und damit zeitgenössische Architektur zu nobilitieren. Dazu eigneten sich auch repräsentative Wohnhäuser, bei denen Säulenfronten und Wohnhaus kombiniert wurden. Die Verwendung des Greek Revival-Sltis in der repräsentativen Wohnhausarchitektur wurde durch die entsprechende Architekturliteratur unterstützt. Von großer Bedeutung waren dabei Asher Benjamins Buch „The American Builder's Companion", das zwischen 1806 bis 1827 in sechs Auflagen erschien, sowie Minard Lafevers „The Beauties of Modern Architecture" von 1835. Vor allem aber war das Vorlagenbuch des Asher Benjamin „The Practical House Carpenter. Being a Complete Development of the Grecian Orders of Architecture" (1830) wirkungsmächtig. Es erschien bis 1856 in 17 (sic!) Auflagen und betonte das Vörbildhafte der dorischen Ordnung, die zum Teil auf der Grundlage der klassischen griechischen Architektur weiterentwickelt wurde und dabei Holz als Baustoff berücksichtigte. 58 Die meisten der Wohnbauten im Stil des Greek Revival finden sich in den Südstaaten, wo sich die reichen Großgrundbesitzer eine entsprechend repräsentative Architektur wünschten. Jetzt gingen teilweise der Norden und der Süden der USA eigene Wege: Im Süden wurde der Säulengiebel zur bloßen Blendarchitektur, indem hier sogar quergelagerte Wohnhäuser mit einer portalartigen Giebelarchitektur kombiniert werden konnten, so dass sich zwei Dächer rechtwinklig verschneiden - eine in der Antike vollkommen undenkbare Lösung.
IV. Zeitgenössische Architektur in Europa Der Klassizismus als Stil war selbstverständlich nicht auf die USA beschränkt. Auch in Europa gab es zu dieser Zeit eine ausgesprochen klassizistische Architektur, die antike Vorlagen weit mehr als nur durch Zitate aufgriff. Ein Beispiel ist die evangelische Stadtkirche von Karlsruhe, die 1807-1816 von Friedrich Weinbrenner errichtet wurde. Mit ihrer sechssäu-
57
Zitat nach Hamlin, Greek Revival (wie Anm. 18), 56.
58
Haselberger, Spolien (wie Anm. 46), 401 f.
292
ligen korinthischen Front mit einem Giebel, einem umlaufendem Girlandenfries und einer kurzen Vorhalle, an die ein hoher Kernbau mit Pilastergliederung anschließt, griff Weinbrenner antike Vorbilder auf und variierte diese nur insoweit, als er auf ein Podium verzichtete und deswegen die niedrigen Treppyenaufgänge zwischen den Podesten der Säulen legte. Wie gezeigt wurde, gab England für die Kolonien entscheidende Impulse, es vermittelte die Kenntnis antiker Architektur durch die großen Forschungsexpeditionen der „Society of Diletanti", es gab durch den Palladianismus ein entsprechend vorbereitetes Umfeld und nicht zuletzt waren die Mitglieder der Gesellschaft häufig durch die Grand Tours antiken Bauten in Autopsie begegnet. Schon 1748 wurde von William Grenville, William Kent und Thomas Pitt in Stowe/Buckinghamshire der Temple of Concord and Victory als hexastyler ionischer Podiumstempel errichtet. In den englischen Landschaftsgärten wurden kleine griechische und römische Tempel erbaut, z. B. der dorische Theseus-Tempel bei Hagley Hall in Worcestershire, der 1758 von dem Architekten und Forschungsreisenden James Stuart aus seiner intimen Kenntnis griechischer Architektur in Athen heraus gestaltet wurde. Auch in England begann seit der Wende zum 19. Jahrhundert ein Greek Revival, mit ähnlichen Charakteristika wie in den Vereinigten Staaten, der allerdings in scharfer Konkurrenz zum Gothic Revival stand, dessen erster Vertreter, das Landhaus von Horace Walpole, Strawberry Hill in Twickenham bei London, bereits zwischen 1770-1775 errichtet wurde. 5 9 Stellvertretend für das englische Greek Revival sei das Hauptgebäude des British Museum genannt, fur den Gothic Revival das House of Parliament in London. Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern konnte sich auch in England der reine Greek Revival gegen die vielfaltigen Stile der Romantik und des Historismus letztlich nicht behaupten. In Frankreich, dem anderen europäischen Land, das nicht zuletzt über Jefferson die amerikanische Architektur beeinflusste, hatte zuerst Roland Fréart de Chambrays mit seinem Buch „Parallèle de l'architecture antique avec la modem", erschienen 1650, das auch Thomas Jefferson bekannt war 60 , das Augenmerk wieder auf antike Vorbilder gelenkt, und schließlich war es 1758 Julien-David Le Roy, der mit seinem Werk „Le Ruines des plus beaux monuments de la Grèce" ganz ähnlich wie Stuart und Revett wirkte. Zu Walpole vgl. Ernst H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst. 16. Aufl. Frankfurt am Main 1996,476 f. Außerdem Ute Engel, Architektur des Klassizismus und der Romantik in England, in: Ralf Toman (Hrsg.), Klassizismus und Romantik. Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung. 1750-1848. Köln 2000, 14-28. 60 Upton, Architecture (wie Anm. 31 ), 32.
293
In Frankreich waren es, entsprechend der englischen „Society of Diletanti", die Stipendiaten der Académie d'Architecture, die während eines Aufenthaltes in Rom antike Gebäude in Autopsie kennenlernen konnten und damit wesentliche Beiträge zum französischen Klassizismus leisteten. 61 Einen ins Gigantomanische gesteigerten „kubistischen" Klassizismus stellten dann die Entwürfe der Revolutionsarchitektur, besonders diejenigen Etienne-Louis Boullées dar, die weit entfernt jeder Realisierbarkeit als Ideengeber dienten. Sie basieren letztlich auf dem Klassizismus der Revolutionszeit, der insoweit politisch war, als er das Verständnis des Bruches mit der Tradition und den Neuanfang betonte und gleichzeitig, um es mit Gombrich zu formulieren, den Menschen das Gefühl gab, in einem Heldenzeitalter zu leben. 62 Nach der Revolutionsphase entfaltete sich der Klassizismus in der Architektur des Empire weiter. Nun entstanden Bauwerke wie die Kirche Sainte-Marie-Madeleine in Paris (1807-1842) von Alexandre Vignon als Nachbau des Parthenon. Der europäische Klassizismus beschränkte sich nicht nur auf die Architektur, sondern bezog seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch weite Bereiche des bürgerlichen Alltags, Mode, Geschirr, Malerei, Interieurs und Dekors, mit ein. Auch hier gab die Publikation antiker Vorbilder wichtige Anstöße, als Pierre François Hugues d'Hancarville zwischen 1766 und 1776 die sehr umfangreiche Vasensammlung Sir William Hamiltons, britischer Botschafter in Neapel, in dem Werk „Antiquités étrusques, grecques et romaines, tirées du cabinett de M. Hamilton" publizierte. 63 Flankiert und vorbereitet wurde diese Begeisterung für antike Formensprache durch eine weitere Reihe von Publikationen von Denkmälern, durch J. G Graevius, Thesaurus Antiquitatum Romanorum (1694-1699), oder B. de Montfaucons, Antiquité expliquée (1719-1724), und natürlich J. J. Winckelmanns entscheidende Beiträge zur antiken Kunst, mit denen er zum Gründer der Klassischen Archäologie wurde.
61
Pierre Pinon/François-Xavier Amprimoz, Les envois de Rome (1778-1968). Architecture et archéologique. (Collection de l'Ecole française de Rome, 110.) Rom 1988. 62 Gombrich, Geschichte der Kunst (wie Anm. 59), 485. 63 Brigitte Pawlitzki, Antik wird Mode. Antike im bürgerlichen Alltag des 18. und 19. Jahrhunderts. Ruhpolding/Mainz 2009.
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V. „noble beyond expression" - Zur Wertung des amerikanischen Klassizismus Ist der amerikanische Klassizismus ein politischer Baustil? In den frühen 1780er Jahren äußerte sich Jefferson zum Stand der Architektur in den U S A und bemängelte Ausführung, Entwurf und Baumaterial entschieden: „The private buildings are very rarely constructed of stone or brick, much the greatest portion being of scantling and boards, plastered by lime. It is impossible to devise things more ugly, unconfortable, and happily more parishable. [...] There are no other public buildings but churches and courthouses, in which no attempts are made at elegance. [...] Buildings are often erected, by individuals, of considerable expense. To give these symmetry and taste, would not increase their cost. It would only change the arrangement of the materials, the form and combination of the members. This would cost less than the burthen of barbarous ornaments with which these buildings are sometimes charged. But the first principles of the art are unknown [.. .]. A country whose buildings are of wood, can never increase in its improvements to any considerable degree. Their duration is highly estimated at fifty years. Every half century then our country becomes a tabula rasa." 64 Als Ideal diente Jefferson die hier schon erwähnte Maison Carrée (Abb. 7): „We took for our model what is called the Maison Quarrée of Nismes, one of the most beautiful, if not the most beautiful and precious morsel of architecture left us by antiquity. It was built by Caius and Lucius Caesar, and repaired by Louis XIV, and has the suffrage of all the judges of architecture who have seen it, as yielding to no one of the beautiful monuments of Greece, Rome, Palmyra, and Baalbec, which late travellers have communicated to us. It is very simple, but it is noble beyond expression, and would have done honour to our country, as presenting to travellers a specimen of taste in our infancy, promising much for our maturer age." 65 In der Tat unterscheidet sich der US-amerikanische Klassizismus in einigen Punkten wesentlich von dem europäischen Klassizismus und hat sich durchaus zu einem amerikanischen Baustil weiterentwickelt, wie sich auch in seinem fast ungebrochenen Fortleben bis in das 20. Jahrhundert zeigt. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Klassizismus keine amerikanische Erfindung ist, sondern er kam aus England in die U S A und er war natürlich M
Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia ( 1782-84), Query XV: The Colleges and Public Establishments, the Roads, Buildings, &c.), zitiert nach Leiand M. Roth, America Builds. Source Documents in American Architecture and Planning. New York 1983, 23. '•' T. Jefferson and the Virginia State Capitol, Letter to James Madison, from Paris, September 20, 1785, zitiert nach Roth, America Builds (wie Anm. 64), 28f. 295
auch in Europa weit verbreitet. „Die virtuellen Spolien der Greek-RevivalBauten Philadelphias (und anderer klassizistischer Bauten Amerikas) wären also zuallererst als eine internationale Erscheinung anzusprechen, - als ein Charakteristikum, das keine regional begrenzte Spielart darstellte, sondern ein Phänomen, das zutiefst in der neuen, rational begründeten Auffassung historischer Genauigkeit einerseits und dem Glauben an technisch wiedererzeugbare Originalstücke begründet liegt." 6 6 Dennoch unterscheidet sich der Klassizismus in drei wesentlichen Punkten von dem europäischen, die Lothar Haselberger erst kürzlich herausstellte: Es ist erstens „die Fülle an Greek Revival-Bauten, die in allen erreichbaren Teilen des neuen Staatsgebildes mit kaum zu übertreffender Begeisterung errichtet wurden", zweitens „die Sorgfalt und Genauigkeit, welche man hier auf das neue Bauen verwendete", und drittens „die Menge an eigener, in Amerika für amerikanische Bedürfnisse produzierte Vermittlungsliteratur, mit der man dieses Neue zur eigensten nationalen Angelegenheit machte". 6 7 Hinzu kommt ein weiteres, das für Amerika charakteristisch ist, es ist die Weite des Raumes, in der der Greek Revival wie eine Geschmacksklammer für amerikanisches Bauen geradezu identitätsstiftend wirken konnte, was in den Staaten Europas überhaupt nicht notwendig war. „Ein definitionsgemäß allgemeingültiger, inter- und übernationaler Stil wurde hier als identitätsstiflender nationaler Stil begriffen." 6 8 Es war also die absolute ästhetische Vorbildhaftigkeit griechischer Architektur gewesen, die der Grund für die Nachahmung in den U S A war. Die klassizistische Architektur Amerikas hat daher vor allem das Ziel gehabt, Bewundertes neu zu konstituieren - und zwar zunächst einzig im Bereich der Baukunst - und nicht so sehr das Ziel, mit der Architektur zugleich auch das Staatsideal der römischen Republik zu zitieren und als Vorbild zu bezeichnen. Nicht die Wiedergeburt der römischen Republik, sondern der absolut vorbildlichen Architektursprache! Diese Möglichkeiten boten sich nach Jefferson in den U S A , dessen Bautradition jung war und nicht in nachantiken europäischen Traditionen erstarrt war. Die Architektur war also kein politisches Statement, sondern vielmehr der Versuch, ausgehend vom zeitgenössischen Klassizismus in Europa, einen konsequenten Neubeginn der Architektur zu wagen. Dies mag man als politisches Statement werten können, doch ebenso ist es ein ästhetisches, wie uns Jefferson (s. o.)
66
Haselberger,
67
Ebd. 446. Ebd. 447.
68
296
Spolien (wie Anm. 46), 445.
selber mitteilte, als er die Maison Carrée als „noble beyond expression" wertete und sie der ungebildeten Holz-Lehm-Architektur seiner Zeitgenossen in den USA als weit überlegen erachtete. Hierin folgte Jefferson dem Geist seinerzeit, wie er nicht zuletzt bereits durch Winckelmann beschrieben wurde: „Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden." Und: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten." 6 9 Erst in der Folge einer konsequenten Verfolgung des Klassizismus wurde aus den antiken Vorbildern für die USA so etwas wie ein Nationalstil. Dieser kann zwar als kennzeichnend fur die US-amerikanische Architektur angesehen werden, gerade im Kontrast zu der Architektur Mittel- und Südamerikas, er rekurriert aber nicht auf die Antike als politisches Vorbild.
Abbildungen
Abb. 1: Williamsburg, Gouvemeurs-Palast ( 1 7 2 0 ) , Architekt unbekannt; Quelle: Köster, Palladio ( w i e Anm. 2), Abb. 4.
Johann J. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Friedrichstadt 1754/55, § 1, § 6.
297
•I Abb. 2: Newport, Rhode Island, Old Colony-House (1739-1741), R. Munday; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 12.
Abb. 3: Newport, Rhode Island, Redwood Library (1748-1750), P. Harrison; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 14.
298
Abb. 4: Boston, State House (1775-1798), Ch. Bulfinch; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 22.
Abb. 5: Virginia, Monticello (1769-1809), Th. Jefferson; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 25.
299
Abb. 6: Richmond, Virginia State Building (1785-1789), Th. Jefferson; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 31.
Abb. 7: Nimes, Maison Carrée; Aufnahme Torsten Mattern.
300
Abb. 8: Charlottesville, Universität von Virginia (1817-1826), Th. Jefferson; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 32.
Abb. 9: Philadelphia, Bank of Pennsylvania (1798), H. B. Latrobe; Quelle: Köster. Palladio (wie Anm. 2), Abb. 36.
301
Abb. 10: Philadelphia, Second Bank of the United States (1818-1824), W. Strickland; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 41.
Abb. 11: Athen, Parthenon; Aufnahme Torsten
302
Mattern.
Abb. 13: Athen, Thrasyllos-Monument; Quelle: James Stuart - Nicholas The Antiquities of Athens II. London 1789, Kap. IV. Taf. III.
Revett,
303
Abb. 14: Philadelphia, Founder's Hall des Girard College (1833-1847), Th. U. Walter; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 43.
Abb. 15: Washington, D. C„ U. S. Treasury Building (1836-1842), R. Mills; Quelle: Köster, Palladio (wie Anm. 2), Abb. 48.
304
Abkürzungen ACD
Acta Classica Universitas Scientarum Debrecensis
AHR
The American Historical Review
A KG
Archiv für Kulturgeschichte
ANRW
Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt
ASocRev
American Sociological Review
CEA
Cahiers des Etudes anciennes
CM
Classica et Medievalia
CIL
Corpus Inscriptionum Latinarum
CJ
The Classical Journal
CQ
Classical Quarterly
DNP
Der Neue Pauly
GB
Grazer Beiträge
G & R
Greece and Rome
HdA
Handbuch der Altertumswissenschaft
HessJbLG
Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte
HJ
The Historical Journal
HJb
Historisches Jahrbuch
H&T
History and Theory
HZ
Historische Zeitschrift
ICS
Illinois Classical Studies
ILS
Inscriptiones Latinae Selectae
JAmH
Journal of American History
JInterH
Journal of Interdisciplinary History
J H Ideas
Journal of the History of Ideas
JHS
Journal of Hellenic Studies
JRS
Journal of Roman Studies
MH
Museum Helveticum
RAC
Reallexikon fur Antike und Christentum
RE
Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften
TAPhA
Transactions and Proceedings of the American Philological Association
TRSC
Transactions of the Royal Society of Canada
WJA
Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft
ZfG
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
ZfP
Zeitschrift fur Politik
Autorinnen und Autoren Dr. Thomas Clark, Leonhardstr. 21, 61169 Friedberg Dr. Boris Dunsch, Seminar für Klassische Philologie, Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6 D, 35032 Marburg Mathias Hanses, 544 W. 113th Street, #4F, New York, NY 10025, USA Prof. Dr. Werner Heun, Institut für Allgemeine Staatslehre und politische Wissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen, Goßlerstr. 11, 37073 Göttingen Prof. Dr. Bernhard Linke, Alte Geschichte, Ruhr Universität Bochum, 44780 Bochum Dr. Volker Losemann, Fachgebiet Alte Geschichte, Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6c, 35032 Marburg Prof. Dr. Torsten Mattem, Klassische Archäologie, Universität Trier, 54269 Trier Dr. Ulrich Niggemann, Fachgebiet Neuere Geschichte, Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6c, 35032 Marburg Prof. Dr. Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin PD Dr. Jürgen Overhoff, Universität Hamburg, Historisches Seminar, Allende-Platz 1, 20146 Hamburg Prof. Dr. Kai Ruffing, Fachgebiet Alte Geschichte, Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6c, 35032 Marburg Dr. Marion Stange, Heerstr. 173, 53111 Bonn