Macrobius Ambrosius Theodosius: Kommentar zum Somnium Scipionis 3515123652, 9783515123655

Macrobius' Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis ist einer der wirkungsmächtigsten Texte der Antike. Entstanden um

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German, Latin Pages 478 [482] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber der Reihe
Die neuplatonische Kommentierung eines römischen Klassikers: Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis (ChristianTornau)
Inhaltsübersicht zum Kommentar des Macrobius
Macrobii Ambrosii Theodosii Viri Clarissimi et Illustris In Somnium Scipionis / Kommentar des Macrobius Ambrosius Theodosius vir clarissimus und illustris zu Scipios Traum
Liber Primus
Liber Secundus
Abbildungen
Anhang
Zum Autor
Zum Text
Literatur
Antike Autoren in den Anmerkungen
Dank
Verzeichnis der Abbildungen
Anmerkungen zu Buch 1
Anmerkungen zu Buch 2
Indices
Antike Autoren
Griechische Wörter
Namen
Sachen
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Macrobius Ambrosius Theodosius: Kommentar zum Somnium Scipionis
 3515123652, 9783515123655

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Macrobius Ambrosius Theodosius Kommentar zum Somnium Scipionis lateinisch / deutsch von Friedrich Heberlein

Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike 1

Bibliothek der l ateinischen Literatur der Spätantike

In Zusammenarbeit mit der Kommission für Übersetzung und Sprachpflege der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Herausgegeben von Alexander Henry Arweiler und Bardo Maria Gauly Band 1 Abteilung: Schriften zur Poetik, Rhetorik und Literaturkritik

Macrobius Ambrosius Theodosius Kommentar zum Somnium Scipionis

Herausgegeben, übersetzt, erläutert und mit Indices versehen von Friedrich Heberlein Mit einem Gastbeitrag von Christian Tornau

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12365-5 (Print) ISBN 978-3-515-12369-3 (E-Book)

Inhalt Vorwort der Herausgeber der Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die neuplatonische Kommentierung eines römischen Klassikers: Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis (Christian Tornau) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsübersicht zum Kommentar des Macrobius . . . . . . . . . . . . . . .

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Macrobii Ambrosii Theodosii Viri Clarissimi et Illustris In Somnium Scipionis / Kommentar des Macrobius Ambrosius Theodosius vir clarissimus und illustris zu Scipios Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Liber Primus / Buch 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Liber Secundus / Buch 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Autoren in den Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Buch 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zu Buch 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373 373 376 377 379 382 382 383 431

Indices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Griechische Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort der Herausgeber der Reihe

Die Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike (BLLS) bietet eine umfangreiche Sammlung von Texten, die zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert nach Christus entstanden sind. Bei der Auswahl spielten keine disziplinären Interessen zum Beispiel der Theologie, Geschichte oder Klassischen Philologie eine Rolle. Vielmehr sollen die zweisprachigen Ausgaben mit Anmerkungen, Indices und Einführungen literarisch interessierten Leserinnen und Lesern ebenso wie Fachleuten verschiedener Disziplinen einen Zugang zu Vielfalt und Experimentierfreude, Formen- und Gedankenreichtum einer höchst fruchtbaren Periode literarischen Schaffens eröffnen. Viele der Werke, die wir vorlegen, sind nicht mehr oder noch nicht in deutscher Übersetzung verfügbar, manche gehörten zu bestimmten Zeiten zum Kernbestand der Lektüre, sind dann aber vergessen worden, einige hatten unmittelbaren Erfolg bei den Zeitgenossen, andere scheinen kaum rezipiert worden zu sein. Wir hoffen, dass allen die nunmehr verbesserte Verfügbarkeit zu neuer Aufmerksamkeit verhilft. Die Bezeichnung »Spätantike«, die einmal eingeführt wurde, um die Eigenständigkeit einer Epoche und damit die Notwendigkeit ihres eingehenden Studiums einzuklagen, verweist auf die enge Verbindung zu Vorstellungen und Traditionen der griechisch-römischen Antike. Sie soll aber der Diskussion über Epochenfragen nicht vorgreifen oder den intensiven Austausch mit zeitgenössischen Akteuren, Sprachen und Traditionen innerhalb und außerhalb des (ehemaligen) römischen Reichsgebietes zu gering veranschlagen. Wir verstehen das literarische Feld der lateinischen Spätantike als in hohem Maße differenzierten Kommunikationsraum, der sich vom Westen des europäischen Kontinents über Nordafrika bis in den griechischen Osten erstrecken konnte. Ein Ziel der Bibliothek ist es daher, einerseits die Vielfalt der Antworten wiederzuentdecken, die die Verfasser auf tiefgreifende soziale, politische, religiöse und intellektuelle Herausforderungen ihrer Zeit gaben, andererseits aber auch vor Augen zu führen, dass der in vielen Texten nachweisbare Anspruch auf Eigenständigkeit literarischen Wissens davor warnen sollte, die Texte nur auf ihre Eignung hin zu lesen, Zeitläufte zu dokumentieren oder eine historische Quelle zu bieten.

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Vorwort der Herausgeber der Reihe

Literaturgeschichtlich und -wissenschaftlich relevant dürfte vor allem die Wiederbegegnung mit der bedeutungskonstitutiven Funktion von Formen, Motiven und Sprechweisen sein. Sie ist im antiken Begriff des genus dicendi enthalten und trägt zu dem hohen Maß an Selbstreferentialität, poetologischer und epistemologischer Raffinesse und Komplexität der Aussagen spätantiker literarischer Rede bei. Die spätantike Bildungswelt war nicht nur geprägt von der Kontinuität des antiken schulischen Curriculums, sondern auch von einer uns in ihrem Ausmaß und ihrer Verbreitung schwer vorstellbaren Kenntnis der Verfahren der Sprachkritik, Dichterexegese und Rhetorik, über die Schriftsteller und Publikum gleichermaßen verfügten. Es scheint, dass erst der Verlust des Wissens von dieser spezifischen sprachlichen Kompetenz aller Beteiligten und die Verengung des Rhetorikbegriffes seit dem späten 18. Jahrhundert überhaupt ermöglichten, den spätantiken Texten ihren heute vielen noch geläufigen letzten Platz in den botanischen Modellen einer antiken Literaturgeschichte des Keimens, Blühens und Verwelkens zuzuweisen. Die Präsentation in einem Panorama erlaubt es, die Werke nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit anderen Texten zu lesen. Konventionen in Darstellung, Beweisführung und Komposition, gemeinsam genutzte Inventare von Bildern und Begriffen, Imitationstechniken und hermeneutische Verfahren lassen sich im Vergleich erkennen und für die Einzelinterpretation fruchtbar machen. Die Abteilungen der Bibliothek verdeutlichen die Einbettung der einzelnen Werke in jeweils eigene Traditionslinien. Poetische Kleinformen, diskursive Kunstprosa oder biographische Schriften haben eigene Formen und Aussageweisen ausgebildet und sind daher mindestens so eng mit zeitlich ferner liegenden Texten verbunden wie mit zeitgenössischen, die aber anderen Traditionslinien angehören. Die deutschen Übersetzungen sollen für sich gelesen werden können und auch denjenigen einen Zugang eröffnen, die nur punktuell oder gar nicht auf die lateinischen Originale zugreifen wollen. Insofern das spätantike Latein nicht in gleichem Maße über Grammatiken und Wörterbücher erschlossen ist, wie das für die frühere Zeit der Fall ist, gilt hier in besonderem Maße die Regel, dass erste Übersetzungen erste Vorschläge zur Annäherung an die Texte sind und ein Feld eröffnen, nicht abschließen wollen. Daher gilt unser Dank vor allem den Übersetzerinnen und Übersetzern: für den immensen Zeitaufwand, den sie auf sich genommen haben,

Vorwort der Herausgeber der Reihe

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den Mut, sich der schwierigen Aufgabe auch von Erstübersetzungen zu stellen, und nicht zuletzt für die Bereitschaft, mit uns bei den regelmäßigen Arbeitstreffen und im direkten Austausch Varianten zu prüfen und Annahmen zu korrigieren. Siegmar Döpp stand ganz am Anfang des Unternehmens. Als liebenswürdiger Förderer hat er vor vielen Jahren den Kontakt zu Martin Rethmeier und Ulrike Blech vermittelt, woraus eine erste Konzeption der Reihe entstand. Katharina Stüdemann hat uns im Franz Steiner Verlag eine Heimat gegeben. Ihr sind wir für die gute Betreuung sehr dankbar. Auch allen anderen, die uns in der langen Vorbereitungszeit unterstützt haben, sei hiermit herzlich gedankt. Mit Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis, der von Friedrich Heberlein (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden ist, eröffnen wir die Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike (und zugleich deren Abteilung »Poetik, Rhetorik und Literaturkritik«). Für vielfältige Unterstützung danken wir der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, dem Fachbereich 08 der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der Maximilian-Bickhoff-Universitätsstiftung Eichstätt und der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Eichstätt und Münster im August 2018 Alexander H. Arweiler und Bardo M. Gauly

Die neuplatonische Kommentierung eines römischen Klassikers: Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis Als neuplatonischer Kommentar zu dem platonisch und stoisch inspirierten eschatologischen Schlussstück von Ciceros De re publica sind Macrobius’ Commentarii in Somnium Scipionis einzig in ihrer Art. Die ansonsten erhaltenen Kommentare zu lateinischen Klassikern sind überwiegend grammatisch (so die Terenz- und Vergilkommentierung des Aelius Donatus und des Servius) und rhetorisch ausgerichtet (so der Kommentar des Marius Victorinus zu Ciceros De inventione) und damit Zeugnisse des von den spätantiken Oberschichten üblicherweise durchlaufenen Schul- und Bildungsbetriebs, zu dem die Philosophie nur am Rande gehörte. 1 Zwar hatte sich in der griechischen Philosophie, besonders im Platonismus und Aristotelismus, seit der frühen Kaiserzeit die philosophische Wahrheitssuche zunehmend als exegetische Auseinandersetzung mit autoritativen Texten vollzogen, was in den neuplatonischen Schulen seit dem 4. Jh. n.Chr. zu einer reichen Produktion von Platon- und – wegen der hermeneutischen Prämisse der grundsätzlichen Harmonie platonischer und aristotelischer Lehre und der sich daraus ergebenden propädeutischen Nutzung aristotelischer Texte – Aristoteleskommentaren führte. 2 Doch obgleich der Platonismus spätestens seit dem 2. Jh. n.Chr. durch das philosophische Werk des Apuleius im lateinischen Raum heimisch war, wendet erst Macrobius die Technik der philosophischen Kommentierung auf einen Klassiker der römischen Philosophie, eben auf Cicero, an. Boethius, der Macrobius schätzte, folgt ihm ein knappes Jahrhundert später mit einem

1 Vgl. hierzu etwa Vössing, Konrad: Schule und Bildung im Nordafrika der Römischen Kaiserzeit, Brüssel 1997, 558–623. 2 Hadot, Ilsetraut: Der fortlaufende philosophische Kommentar, in: Geerlings, Wilhelm/Schulze, Christian (Hgg.): Der Kommentar in Antike und Mittelalter. Beiträge zu seiner Erforschung, Leiden u. a. 2002, 183–199; Perkams, Matthias: Das Prinzip der Harmonisierung verschiedener Traditionen in den neuplatonischen Kommentaren zu Platon und Aristoteles, in: Ackeren, Marcel van/Müller, Jörn (Hgg.): Antike Philosophie verstehen – Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, 332–347.

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Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis

Kommentar zu Ciceros Topica. Der ältere philosophische Kommentar des Calcidius (wohl 4. Jh. n.Chr.) hatte dagegen mit Platons Timaios noch einen zentralen griechischen Text in lateinischer Sprache traktiert. 3 Wie lässt sich dieser bemerkenswerte Befund erklären? Im Gegensatz zu den großen Gestalten des griechischen Neuplatonismus – dem Gründer Plotin (3. Jh. n.Chr.), dessen Schüler und Editor Porphyrios oder dem fruchtbaren Platon-Kommentator und Haupt der Athener Schule im späteren 5. Jh., Proklos (412–485) – war Macrobius kein professioneller Schulphilosoph. Wie Cicero oder Seneca vor ihm und Boethius nach ihm gehörte er der politisch und sozial maßgeblichen Schicht seiner Zeit an; als praefectus praetorio für Italien im Jahr 430 (dem Todesjahrs Augustins) stieg er in die höchsten Kreise der kaiserlichen Verwaltung und in den Rang eines vir illustris auf. Seine beiden Hauptwerke – den Somnium-Kommentar und den der Symposienliteratur zuzurechnenden Dialog Saturnalien – widmete er seinem Sohn (Flavius Macrobius Plotinus) Eustathius, für den er zweifellos eine ähnliche Karriere wie für sich selbst erhoffte und der im Jahr 461 n.Chr. als Stadtpräfekt von Rom bezeugt ist. Saturnalien und Kommentar führen also junge römische Aristokraten des 5. Jh. n.Chr. in ein Bildungs- und Humanitätsideal ein, dessen Säulen einerseits die klassische römische Literatur, insbesondere Vergil, und andererseits die neuplatonische Philosophie sind. Die Saturnalien stellen das erforderliche grammatisch-rhetorische und enzyklopädischantiquarische Wissen bereit und führen durch die an Ciceros De re publica angelehnte 4 dialogische Inszenierung den idealen gebildeten Aristokraten und seinen souverän-urbanen Habitus gleichzeitig modellhaft vor. 5 Der 3 Überblick über die Tradition des lateinischen Neuplatonismus: Ramelli 2007, 80– 128. Wir lassen hier den mit Macrobius etwa zeitgenössischen selektiven, auf Arithmologie und Sphärenharmonie konzentrierten Somnium-Kommentar des Favonius Eulogius (Fuhrer, Therese: Eulogius, Fauonius, Augustinus-Lexikon Bd. 2, 1996– 2002, 1157 f.) sowie verlorenes oder hypothetisches Material außer Betracht (vgl. etwa zu Cornelius Labeo: Mastandrea, Paolo: Un neoplatonico latino: Cornelio Labeone, Leiden 1979). 4 Macrobius, Saturnalien 1,1,4. 5 Vgl. hierzu zuletzt Gerth, Matthias: Bildungsvorstellungen im 5. Jh. n. Chr. Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris, Berlin 2013, 8–113; Dorfbauer, Lukas J.: Lernen am Modell in der Spätantike. Eine Interpretation der Saturnalia des Macrobius, Philologus 153, 2009, 278–299; Tornau, Christian: Die Heiden des Augus-

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Somnium-Kommentar greift mit der Schlusspartie desselben Werkes ebenfalls einen Grundtext der klassischen römischen Literatur auf. Hier hatte freilich Cicero das traditionelle Ideal des politisch engagierten Römers in den weiten Horizont griechisch-philosophischer Kosmologie gestellt und mit dem platonischen Gedanken der Unsterblichkeit und transzendenten Abkunft der menschlichen Seele verknüpft – eine Verbindung, die offenbar das besondere Interesse des Macrobius geweckt und ihn zu dem Versuch einer Aktualisierung der ciceronischen Fusion von Politik und Philosophie unter neuplatonischen Prämissen und unter den Bedingungen des 5. Jh. n.Chr. angeregt hat. 6 Dass die Erkenntnis der Seele gleichbedeutend mit dem alten Ideal der Selbsterkenntnis 7 und die entscheidende Voraussetzung für die Orientierung des Menschen in der Welt ebenso wie für seine Erlösung aus dieser sei, ist eine Überzeugung, die das kaiserzeitliche Denken inner- wie außerhalb der philosophischen Schulen durchweg prägt. Für den Neuplatonismus formuliert schon Plotin, dass die Seele durch Einsicht in ihr wahres Wesen auch zur Erkenntnis ihres göttlichen Ursprungs und zur erneuten Vereinigung mit ihm zu gelangen vermag; 8 ähnliche Aussagen finden sich gleichzeitig in religiösen Strömungen wie Gnosis und Hermetismus, und im Christentum bestimmt Augustin eine Generation vor Macrobius in ganz analoger Weise »Gott und die Seele« als die eigentlichen Gegenstände der Philosophie 9 – wobei er freilich gegen den Neuplatoniker Porphyrios darauf besteht, dass es einen für alle Menschen gangbaren Weg zur Befreiung der Seele gibt und dass dieser in Christus offenbart ist. 10 Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund wird man die umfangreichen Partien, die Macrobius dem Wesen

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tinus: Die Darstellung des paganen Gebildeten in De civitate Dei und in den Saturnalien des Macrobius, in: Fuhrer, Therese (Hg.), Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike: Texte, Personen, Institutionen, Stuttgart 2008, 299–325. Neuplatonische Elemente lassen sich auch in den Saturnalien beobachten, vgl. Macrobius, Saturnalien 1,23,21 und dazu Tornau 2008, 316 f. Vgl. etwa Macrobius, Commentarii in Somnium Scipionis 1,9,2; Stellenangaben beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf den Somnium-Kommentar; Plotin, Enneaden 4,3,1,1–10. Plotin, Enneaden 6,9,7,33 f. Vgl. 1,1,7; 1,9,1 f. Augustin, De ordine 2,47; Soliloquia 1,7. Augustin, De civitate Dei 10,32.

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Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis

und Schicksal der Seele widmet, als den gedanklichen Kern seines Kommentars betrachten dürfen.

Macrobius als philosophischer Kommentator Macrobius’ Kommentar ist klar strukturiert. 11 Nach dem in antiken philosophischen Kommentaren gängigen Muster stellt er der Texterklärung einige allgemeine Bemerkungen voran (1,1–4), in denen er sich zu dem Grundgedanken 12 oder Leitthema (skopÏc/skopos) 13 des kommentierten Werks, zur Textsorte des Mythos bzw. der Traumerzählung und generell in apologetischer Manier zum Verhältnis von Philosophie und mythisch–fiktionalem Sprechen äußert (1,2–3). Macrobius’ Skopos-Bestimmung erwächst aus dem Vergleich des Somnium mit dem platonischen Er-Mythos, mit dem er sein Werk eröffnet: 14 Hatte Platon in der Politeia die Gerechtigkeit als Zentraltugend herausgearbeitet und dann im eschatologischen Mythos Lohn und Strafe der gerechten und ungerechten Seelen vor Augen geführt, so habe Cicero im Hauptteil von De re publica für die Gerechtigkeit als Prinzip der Politik plädiert und im Somnium schließlich »gezeigt, wohin diejenigen gelangen oder besser zurückkehren, die den Staat mit den vier Kardinaltugenden der Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung geleitet haben« (1,1,8). Für Macrobius hat also Platon eher den individuellen und Cicero eher den politischen Zug akzentuiert; in dieser Differenzierung liegt ein römisch-

11 Tabellarische Übersicht: Armisen-Marchetti 2001, CI–CV; 2003, XIX–XXIV. Nachvollzug des Gedankengangs (besonders mit Blick auf die neuplatonischen Züge): Ramelli 2007, 31–80. Die gründlichste, auch quellenkritisch ergiebige inhaltliche Darstellung ist nach wie vor Flamant 1977, 305–651; problematisch ist allerdings seine Annahme einer das gesamte Werk prägenden versteckten antichristlichen Polemik (z. B. Flamant 1977, 687; zur Kritik vgl. Cameron 2011, 255 f.; 270). 12 1,1,3: mens operis. 13 1,4,1: somnii mentem ipsumque propositum, quem Graeci skopÏn vocant. Eine Anwendung der auf Jamblich zurückgehenden, philosophisch sehr anspruchsvollen hermeneutischen Prinzipien, die die griechischen Neuplatoniker mit der Skoposlehre verbinden, ist bei Macrobius allerdings nicht zu erkennen. 14 Anscheinend hatte Cicero schon selbst auf diese Parallele hingewiesen (1,1,9 = Cicero, De re publica 6,6; Augustin, De civitate Dei 22,28 = Cicero, De re publica 6,4).

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traditionelles Element, das im Laufe der Kommentierung, etwa in dem wichtigen Tugend-Kapitel (1,8), immer wieder in den Vordergrund rückt. Die sorgfältige Dihärese, mit der Macrobius philosophisch vertretbare Formen der mythisch-fiktionalen Rede identifiziert (1,2), gibt sich zunächst als Verteidigung Platons und Ciceros gegen epikureische Polemik, hebt aber zugleich die Übereinstimmung von Inhalt und Form im Somnium hervor und präzisiert, auf welcher metaphysischen Ebene der neuplatonischen Seinsordnung der Gegenstand des Textes angesiedelt ist. Mythen bzw. fiktionale Texte sind, so Macrobius, im philosophischen Diskurs genau dann legitim, wenn sie 1) einen moralisch-didaktischen Sinn haben, 2) unter dem fiktionalen Deckmantel eine tiefere Wahrheit über das Göttliche verbergen und 3) dies in unanstößiger Weise tun. Nur die platonischen Mythen und das Somnium selbst genügen allen drei Kriterien, während mythisch-religiöse Texte wie Hesiods Theogonie oder die orphischen Offenbarungen trotz der in ihnen enthaltenen theologischen Wahrheit von Philosophen mit Vorsicht behandelt werden sollten. Diese Zurückhaltung der Philosophen geht so weit, dass sie beim Sprechen über die höchsten Gottheiten – die neuplatonischen Hypostasen des Einen/Guten und des Geistes – auch auf die erlaubten Mythen verzichten. Für Aussagen über die Seele, d.h. die dritte, der sinnlich wahrnehmbaren Welt am nächsten stehende Hypostase, und über die in dieser Welt präsenten Götter (gemeint sind die Gestirngottheiten) ist fiktional-mythisches Sprechen mit wahrem Gehalt dagegen angemessen und legitim. 15 Die von Cicero gewählte literarische Form entspricht also präzise dem zu behandelnden Gegenstand, da es im Somnium eben um die Seele, um ihre Stellung im Kosmos und in der Prinzipienhierarchie und um ihr Verhältnis zu den höheren Gottheiten geht, von denen sie stammt. Dass Cicero diese Fragen unter ethischer, naturphilosophischer und metaphysischer Perspektive umfassend behandelt hat, ist, wie Macrobius zum Abschluss des Kommentars bemerkt, sein großes Verdienst. 16 Die in 1,5 einsetzende eigentliche Textkommentierung folgt Ciceros Text; Gliederungspunkte sind durch Lemmata markiert. Im Gegensatz zu den auf die Einzelerklärung fixierten zeitgenössischen Grammatikerkommentaren verteilt Macrobius sein Material jedoch auf größere thematische 15 1,2,15–17. 16 2,17,15–17.

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Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis

Blöcke, deren Inhalt und Zuschnitt teilweise zweifellos durch seine Quellen, daneben aber auch durch seine eigene Auffassung vom Gegenstand und Ziel des Somnium determiniert ist. Jedes der beiden Bücher enthält als Kern bzw. Höhepunkt einen längeren Abschnitt, der sich direkt mit der Seele befasst (1,8–14 zu Tugendlehre, Abstieg der Seele in die Körperwelt und Gestaltung des Körperlichen durch die Seele; 2,12–16: Unsterblichkeit der Seele; man kann die beiden Abschnitte als komplementär betrachten, insofern der erste sich eher auf den Abstieg und der zweite auf den Aufstieg der Seele bezieht). An diesen Kern lagert Macrobius fünf Abschnitte zu den Fachdisziplinen Arithmetik bzw. Numerologie (1,5–7), Astronomie (1,14–22; 2,10–11), Musiktheorie (2,1–4) und Geographie (2,5–9) an. Den Anlass dazu geben natürlich die kosmologischen Äußerungen des CiceroTextes, doch verwahrt sich Macrobius ausdrücklich dagegen, diesen nur als Aufhänger für die Ausbreitung von Wissen zu benutzen. 17 Gewiss ist er diesem Grundsatz nicht überall buchstäblich gefolgt; dass sein Anliegen kein enzyklopädisches ist und dass die disziplinären Abschnitte gegenüber den philosophisch-psychologischen subsidiär sind, ist bei näherem Hinsehen jedoch deutlich zu erkennen. Sofern man die von Macrobius mathematisch-apriorisch aufgefasste Geographie als Vertreterin der Geometrie betrachten darf, 18 entspricht sein Fächerkanon dem sog. Quadrivium, das Platon im siebten Buch der Politeia als Medium des geistigen Aufstiegs und der Reinigung der Seele präsentiert. Im kaiserzeitlichen Platonismus ist diese Funktion der mathematischen Wissenschaften allgegenwärtig, und das Interesse an den Fachdisziplinen in der Epoche des Macrobius – etwa bei Martianus Capella, Favonius Eulogius oder auch dem jungen Augustin – dürfte sich großenteils diesem Impuls verdanken. 19 Macrobius akzentuiert die Funktionalität der disziplinären Partien für die Seelenlehre durch inhaltliche Querverbindungen: Die komplizierte, für die mittel- und neuplatonische Psychologie grundlegende Timaios-Passage über die Entstehung der Seele (»Psychogonie«) und ihre mathematisch-

17 2,4,12. Dagegen besteht der »Kommentar« des Favonius Eulogius tatsächlich aus zwei nur lose mit dem Cicerotext verknüpften, weitgehend selbständigen Traktaten zur Arithmologie und Musik. 18 Hierfür sprechen Parallelen zum Geometrie-Buch des Martianus Capella (ArmisenMarchetti 2001, XLV; Ramelli 2007, 64). 19 Hadot, Ilsetraut: Arts libéraux et philosophie dans la pensée antique, Paris 1984.

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metaphysische Struktur (Platon, Timaios 35a–36d) 20 wird sowohl in der Partie über den Abstieg der Seele in die Körperwelt an zentraler Stelle zitiert (1,12,6) als auch unter numerologischer 21 und musiktheoretischer 22 Perspektive behandelt.

Seelensturz und Weltentstehung (1,8–14) Um das geistige Profil des Kommentars möglichst präzise zu erfassen, empfiehlt sich also ein näherer Blick auf die beiden mit der Seele befassten Großabschnitte. Den ersten, der göttlichen Herkunft der Seele und ihrem Verhältnis zur körperlichen Welt gewidmeten Block eröffnet Macrobius mit einem ethischen Thema: der Tugend und ihrer Bedeutung für die Erlangung der Glückseligkeit (1,8). Das Kapitel ist recht bekannt, weil Macrobius hier auf die neuplatonische Lehre von den Tugendgraden zurückgreift und die Quellen, derer er sich dabei bedient – Plotin 23 und Porphyrios 24 –, erhalten sind, so dass die die Macrobius-Forschung lange Zeit dominierende Quellenforschung hier ein ergiebiges Betätigungsfeld fand. Auch wenn Macrobius sich auf Plotin beruft, folgt er faktisch nicht dessen binärer Gegenüberstellung von »politischen« (staatsbürgerlichen oder sozialen, an die diesseitige Welt gebundenen) und »reinigenden« (die Lösung der Seele vom Körper und ihren Aufstieg zum Geistigen befördernden) Tugenden, sondern übernimmt das von Porphyrios daraus entwickelte Schema von vier Tugendgraden oder -stufen, das von den politisch-sozialen sukzessive zu den »paradigmatischen« Tugenden des transzendenten Geistes hinaufführt und das den unteren Stufen lediglich eine propädeutische Funktion gegenüber den höheren zuweist. 25 Macro20 Vgl. Dörrie/Baltes 2002 (Bd. 6.1), 64–72; 259–275 (Baustein 159). 21 1,6,2 f.; 24–34; 45–47. 22 2,2 passim (die von Platon beschriebene Mittlerposition der Seele zwischen Geistigem und Körperlichem als Ursache der Sphärenharmonie). 23 Plotin, Enneaden 1,2. 24 Porphyrios, Sentenzen 32. 25 Vgl. dazu zuletzt Linguiti, Alessandro: The Neoplatonic Doctrine of the Grades of Virtue, in: Pietsch, Christian (Hg.): Ethik des antiken Platonismus. Der platonische Weg zum Glück in Systematik, Entstehung und historischem Kontext, Stuttgart 2013, 131–140.

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Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis

bius interpretiert das neuplatonische Schema jedoch insofern neu, als er gegen Plotin und Porphyrios darauf besteht, dass die politischen (aktiven) Tugenden qua Tugenden ein gegenüber den reinigenden (kontemplativen) Tugenden eigenständiger und zielführender, wenn auch weniger direkter Weg zum Ziel der transzendenten Glückseligkeit sind und dass Cicero den guten Staatslenkern und Inhabern der politischen Tugend infolgedessen mit Recht ein ewiges Glück im Jenseits verheißt (1,8,12f.). Macrobius modifiziert seine neuplatonischen Quellen hier also im Namen der römischen Tradition; dass diese für ihn von systematischer Bedeutung ist, tritt zum Abschluss des Kommentars noch einmal klar hervor, wo er den ciceronischen Scipio mit explizitem Rückgriff auf 1,8 als ideale Verbindung von aktiver (politischer) und kontemplativer (reinigend-philosophischer) Tugend präsentiert (2,17,4–12). 26 In den folgenden Überlegungen zu den Ursachen des Abstiegs der Seele in die Körperwelt (1,10–12) und zum Suizidverbot (1,13) behält Macrobius die ethische Perspektive vorerst bei. An Ciceros Zitierung der orphisch-pythagoreisch-platonischen Charakterisierung des diesseitigen Lebens als »Tod« und »Kerker« (1,10,6 nach Cicero, De re publica 6,14) knüpft er eine detaillierte Reflexion über die Begriffe »Unterwelt« und »Tod«, die in eine vorphilosophische, den theologi oder Begründern der griechischen religiösen Riten zugeschriebene moralische Allegorese der Unterweltsmythen (1,10) und eine philosophische, als pythagoreisch-platonisch gekennzeichnete descensus-Lehre (1,11–12) unterteilt ist. Mit den theologi sind offenbar die in der Einleitung 27 erwähnten Urheber alter, mit philosophisch-theologischer Wahrheit getränkter, aber in ihrer Ausdrucksweise anstößiger Mythen gemeint. Wenn Macrobius sie hier die Schrecken der Unterwelt und mythischen Höllenstrafen in dezidiert leibfeindlicher Weise mit dem körpergebundenen Dasein der Seele und den durch die Affekte verursachten Qualen gleichsetzen lässt, so referiert er damit kaum ihre expliziten Aussagen, sondern unterstellt – im Sinne der Einleitung durchaus konsequent – die vermutlich einer neuplatonischen Quelle 26 Ähnlich und m. E. nach wie vor überzeugend: Zintzen, Clemens: Römisches und Neuplatonisches bei Macrobius, in: Steinmetz, Peter (Hg.): Politeia und Res Publica, Wiesbaden 1969, 367. Zum weiteren Kontext: O’Meara, Dominic J.: Platonopolis. Platonic Political Philosophy in Late Antiquity, Oxford 2003, 40–49. 27 1,2,9.

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(Porphyrios?) entnommene allegorische Deutung als die den Mythen von vornherein implizite tiefere Intention. Die die Weisheit der theologi ergänzende descensus-Lehre der Philosophen setzt mit einer Neubestimmung des Begriffs »Tod« ein: Während unter dem Tod des Lebewesens die allgemein bekannte Trennung von Leib und Seele zu verstehen ist, ist der Tod der Seele gerade das Gegenteil, nämlich der mit ihrer Einkörperung einhergehende Verlust ihrer Einheit mit dem geistigen Ursprung und ihre Zerstreuung in die Vielheit des Körperlichen (1,11,1). Da nun nach der Überzeugung der von Macrobius referierten Gewährsleute die Einkörperung der Seele in mehreren Stufen erfolgt, lässt sich auch ihr »Tod« in mehrere Phasen zerlegen, deren erste der Kontakt mit der feinstofflichen, lichtartigen Materie der Fixsternsphäre und deren letzte und endgültige das Anlegen des erdartigen Körpers des sterblichen Menschen ist. Macrobius entfaltet diese Theorie in großer Breite und bis in die astronomisch-kosmologischen Einzelheiten hinein (1,12; der Bezug zu der astronomischen Partie 1,14–21 ist offensichtlich). Unter den Voraussetzungen der neuplatonischen Metaphysik, die seit Plotin die Differenz zwischen dem geistigen und körperlichen Sein und die Nichtanwendbarkeit sinnlich-räumlicher Kategorien auf geistige Wesenheiten betont hatte, mag die Vorstellung eines physischen Abstiegs der Seele durch die Planetensphären hindurch naiv erscheinen. Doch konnten sich die Platoniker der Suggestivkraft des platonischen Phaidros-Mythos, dessen Auslegung die von Macrobius berichtete Theorie letztlich ist, offenbar nur schwer entziehen (selbst Plotin spricht einmal vom »Eintauchen« der Seele in den himmlischen Raum und ihrem Abstieg zu den »erdartigeren« Körpern); 28 außerdem dürfte das Streben nach einer Analogie von Kosmos und Menschenwesen eine Rolle spielen 29 sowie vielleicht die Tatsache, dass Cicero den vom Körper befreiten Seelen die Milchstraße als Aufenthaltsort zuweist. 30 Näheres Hinsehen lehrt überdies, dass es Macrobius nicht primär um eine Bewegung der Seele im Raum geht. Gegenstand seiner Ausführungen ist vielmehr die Entstehung des lichtartigen Astralleibs oder Seelenwagens 28 Plotin, Enneaden 4,3,15,1–4, vgl. allerdings die immaterialistische Präzisierung in 4,3,17. 29 1,12,6; 2,12,11 (Zitat der Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung). 30 Cicero, De re publica 6,16. Vgl. auch den materialistisch gezeichneten und begründeten Seelenaufstieg in Cicero, Tusculanen 1,40–43.

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(Óqhma), der zur Seele hinzutritt, sobald sie erstmals mit Materie in Berührung kommt, und der als eine Vermittlungsinstanz zwischen der immateriellen Seele und dem grobstofflichen irdischen Leib fungiert (1,11,12). Es ist dieser Seelenwagen und nicht die Seele selbst, der sich durch die Planetensphären hindurchbewegt und dabei weitere Schichten erhält; durch die Kombination mit diesen entwickelt die Seele nach und nach die psychophysischen Vermögen, bis sie schließlich mit dem Körper die Einheit des Menschenwesens bilden kann. Der für die Einkörperung oder – in der Ausdrucksweise der von Macrobius referierten Platoniker – den »Tod« der Seele entscheidende Moment dieses Prozesses ist demnach ihr allererster Kontakt mit dem Materiellen beim Eintreten in die Fixsternsphäre. Auf diesen Moment bezieht Macrobius die berühmte Stelle der Psychogonie des Timaios, wonach die Seele aus einer »unteilbaren« und einer »an den Körpern teilbaren« Substanz »gemischt« ist (35a) und die in seiner Exegese das Zugleich von geistiger Einheit und körperlicher Diversität in der sich dem Körperlichen annähernden Seele benennt, was er mit pythagoreisierenden mathematisch-geometrischen Bildern erläutert. 31 Damit ist freilich noch nicht erklärt, warum es überhaupt zu Materiekontakt und Einkörperung der Seele kommt. Macrobius findet die Ursache hierfür in einer Verfehlung der Seele selbst, genauer gesagt, derjenigen Seelen, die der Verführungskraft der Körper erliegen (1,11,11). 32 Wie er hinzufügt, sind hiervon nur die menschlichen Einzelseelen betroffen, während Weltseele und Gestirnseelen keinen Abstieg ins Körperliche kennen, sondern umgekehrt die ihnen zugeordneten Körper zu ihrer geistigen Einheit »emporziehen« (1,12,16). Diese Differenzierung ist vielleicht ein Indiz dafür, dass Macrobius bzw. seine Quelle der Lehre Plotins, wonach auch die menschliche Seele einen nicht herabgestiegenen, immer im Geistigen verbleibenden Teil besitzt, 33 nicht folgen wollte. In jedem Fall ist seine descensusLehre trotz allen metaphysischen und kosmologischen Details eine primär ethische, das als unbefriedigend empfundene Dasein des Menschen in der Welt mit einem schuldhaften Abstieg der Seele erklärende Argumentation

31 1,12,5–7; vgl. 2,2,5. 32 Vgl. Plotin, Enneaden 1,6,8,8–16 mit Anspielung auf den Narziss-Mythos. 33 Plotin, Enneaden 4,8,8. Die Theorie wurde im Neuplatonismus seit Jamblich fast durchweg abgelehnt, vgl. z. B. Proklos, Elemente der Theologie 211.

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– ein Zug, den sie mit ihrem wichtigsten Referenztext, dem SeelensturzMythos in Platons Phaidros, teilt. Doch steht bei Platon neben dem Phaidros bekanntlich die Kosmologie des Timaios, wo die Verbindung der Seele zum Körper eine präzise und positive Funktion im Weltplan des Demiurgen hat – eine Diskrepanz, die schon Plotin diagnostiziert und hermeneutisch zu lösen versucht hatte (Enneaden 4,8). Wohl auch aus diesem Grund lässt Macrobius der ethischen eine kosmologisch-metaphysische Partie folgen, in der er die kausale Wirksamkeit der Seele bei der Entstehung der physischen Welt vor dem Hintergrund der neuplatonischen Hypostasenlehre analysiert (1,14). Angesichts der sorgfältigen Unterscheidung von Philosophen und vorphilosophischen theologi in 1,10–12 ist es auffällig, dass die philosophische Theorie von 1,14 einschließlich der Hypostasenlehre den theologi zugeschrieben wird (1,14,5). Natürlich kann es sich dabei um eine – etwa durch die Benutzung einer anderen Quelle bedingte – terminologische Inkonsequenz handeln. Andererseits ist die Deutung des hesiodeischen Sukzessionsmythos von Uranos, Kronos und Zeus als Allegorie des Hypostasensystems im Neuplatonismus seit Plotin bezeugt und hat auch im lateinischen Bereich Spuren hinterlassen. 34 Vielleicht setzt Macrobius also, wie schon zuvor, den durch Allegorese erschlossenen Sinn des Mythos mit dessen ursprünglicher Intention gleich, 35 um die von ihm referierte neuplatonische Kausalitätslehre als älteste Weisheit erscheinen zu lassen. Sachlich handelt es sich um eine an Plotin (Enneaden 3,8) erinnernde Theorie der schöpferischen Schau: Der vom höchsten Gott durch dessen Überfülle hervorgebrachte Geist (mens, no‹c) bewahrt sein eigenes Sein, indem er auf Gott, seinen »Vater«, zurückschaut, und bringt zugleich durch den Blick auf das ihm Nachgeordnete (1,14,6: posteriora respiciens) die Seele hervor. Nach demselben Muster blickt die Seele ihrerseits auf ihren »Vater«, den Geist, weswegen ihr höchster und ursprünglichster Teil geistig-rationaler Natur ist. Darüber hinaus besitzt sie »aufgrund ihrer eigenen Natur« (1,14,7) jedoch auch sinnliche und vegetative Anteile. Diese Anlagen, die der Seele schon in ihrer präkosmischen Phase zukommen, realisieren sich, sobald sie sich die entsprechenden Körper 34 Plotin, Enneaden 5,1,7,27–37; V 8,12; Augustin, De consensu evangelistarum 1,35. Vgl. 1,17,14: »bei den Theologen ist Jupiter die Weltseele«. 35 Hierfür spricht vielleicht die Erwähnung der homerischen catena aurea in 1,14,15.

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erschafft und rationale, sinnlich wahrnehmende und lediglich wachsende Lebewesen (Menschen, Tiere und Pflanzen) entstehen lässt. Während allerdings bei Plotin die Produktion untergeordneter Wesenheiten einzig aufgrund der Schau in gleichsam automatischer Weise geschieht, müssen sich die produktiven Prinzipien bei Macrobius explizit nach unten orientieren, um schöpferische Aktivität zu entfalten. Schon der Geist wendet sich bei der Hervorbringung der nächstniederen Hypostase, der Seele, dem Unteren zu (was Plotin einmal explizit ausschließt); 36 und wenn die Seele bei der Produktion der Körper dasselbe Muster wiederholt, erschöpft sich die Wendung zu dem von ihr verursachten Körperlichen nicht im fürsorglichen Hinschauen, sondern bedeutet für sie eine echte Degeneration (1,14,7; 9: in inferiora [. . . ] ac terrena degenerans). Die Drastik dieser Ausdrucksweise dürfte sich dem Bestreben verdanken, die ethische descensusLehre des Kapitels 1,12 mit der metaphysischen Kausalitätslehre des gegenwärtigen Kapitels zu harmonisieren: In letzter Instanz sind die Produktion der Körper durch die Seele und der schuldhafte Seelensturz mit anschließender Einkörperung eins. Gerade im Vergleich mit Plotin zeigt sich hier eine antikosmische Tendenz.

Die Unsterblichkeit der Seele (2,12–16) Der zweite direkt der Seele gewidmete Großabschnitt (2,12–16) behandelt die Verheißung persönlicher Unsterblichkeit, mit der Cicero das Somnium ausklingen lässt (Cicero, De re publica 6,26–29). Macrobius’ Aufmerksamkeit gilt hier vor allem dem von Cicero übersetzten Unsterblichkeitsbeweis des platonischen Phaidros (Cicero, De re publica 6,26f. nach Platon, Phaidros 245c–246a), wozu ihm seine neuplatonischen Quellen reiches Material boten. Die Darstellung ist, wohl nach griechischem Vorbild, in einen logisch-syllogistischen Nachvollzug des Arguments (2,13) und ein ausführliches Referat der Einwände des Aristoteles gegen den platonischen Beweis (2,14) mit anschließender Widerlegung derselben (2,15–16) gegliedert. Die Partie ist philosophiehistorisch von Bedeutung, weil sie neben dem Phaidros-Kommentar des Hermeias von Alexandrien aus der Mitte des 5. Jh. (wohl eine Nachschrift der mündlichen Phaidros-Kommentie36 Plotin, Enneaden 6,9,2,37–39.

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rung des Syrianos, der seinerseits den Kommentar des Jamblich aus dem 4. Jh. benutzt hatte) 37 das ausführlichste Zeugnis eines Diskurses ist, der bei den späteren Neuplatonikern immer wieder vernehmbar wird, weil er einen neuralgischen Punkt ihrer Platon-Exegese berührt. Bekanntlich leitet Platon im Phaidros die Unsterblichkeit der Seele aus ihrer Selbstbewegung ab, die sie zum Ausgangspunkt und Prinzip jeglicher Bewegung und damit jeglichen Lebens macht. Aristoteles hatte dagegen mit ausdrücklicher Wendung gegen Platon die Seele als ein Bewegung verursachendes, selbst aber unbewegtes Prinzip interpretiert und bestritten, dass aus der Bewegung der beseelten Körper auf die Bewegtheit der Seele geschlossen werden dürfe. 38 Da unter den Neuplatonikern seit Porphyrios die Überzeugung vorherrschte, dass Aristoteles Teil der platonischen Tradition war und im Grundsätzlichen mit der Lehre seines Meisters übereinstimmte, stellte der Dissens bezüglich der Bewegung der Seele für sie ein gravierendes exegetisches Problem dar. Man musste entweder einräumen, dass die Harmonie von Platon und Aristoteles an diesem Punkt eine Grenze besaß, oder die Differenz hermeneutisch möglichst zu minimieren suchen. 39 Die letztgenannte Option ist in der harmonisierenden Exegese des Hermeias realisiert. Für Macrobius ist die Übereinstimmung von Platon und Aristoteles dagegen offenbar belanglos; er erwähnt sie nirgends und scheut bei seiner Zurückweisung der aristotelischen Kritik vor Polemik nicht zurück. 40 Leider lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht entscheiden, ob er damit einer Quelle folgte, die, wenigstens was die Frage der Seelenbewegung betraf, nicht dem Harmonie-Paradigma verpflichtet war (Porphy-

37 Hermeias, In Platonis Phaedrum Scholia 102–120, p. 107–125 Lucarini/Moreschini. Wie bei Macrobius sind die syllogistische Struktur des Beweises und die aristotelische Kritik Hauptthemen des Hermeias, wenngleich die Struktur weniger klar ist. 38 Aristoteles, De anima 1,3–4. Die in 2,14 referierten aristotelischen Einwände lassen sich aus De anima und der Physik parallelisieren, sind von Macrobius aber kaum direkt aus Aristoteles, sondern eher aus den ihm vorliegenden neuplatonischen Erwiderungen exzerpiert worden. 39 Einige Texte mit knapper Kommentierung: Sorabji, Richard (Hg.): The Philosophy of the Commentators 200–600 AD. A Sourcebook. Vol. 1: Psychology, London 2004, 217–220. Grundsätzlich zum Harmonieproblem: Karamanolis, Giorgos: Plato and Aristotle in Agreement? Platonists on Aristotle from Antiochus to Porphyry, Oxford 2006. 40 2,15,1; 18; 2,16,14; 16.

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rios?), oder ob er Material aus verschiedenen – harmonistischen und nichtharmonistischen – Quellen zusammengetragen und zu einer einheitlichen antiaristotelischen Argumentation zusammengeschmolzen hat. Die zweite Möglichkeit stimmt eher mit dem Bild überein, das Macrobius selbst von seiner Arbeitsweise zeichnet (2,15,2); sie kann also nicht von vornherein ausgeschlossen werden, auch wenn Macrobius’ Selbstaussage hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit umstritten ist und man ihm dann eine eigenständige philosophische Entscheidung gegen das Harmonieprinzip zutrauen müsste. In jedem Fall finden sich bei ihm Theorieelemente, die Parallelen bei griechischen harmonistischen Exegeten haben; das Harmonieprinzip kann ihm in seinen Quellen also durchaus begegnet sein. Vor allem zwei der zahlreichen Argumente des Macrobius erlauben eine etwas präzisere philosophiegeschichtliche Einordnung seiner Darstellung. 1) Aristoteles hatte nach Macrobius’ Referat das Konzept der Selbstbewegung überhaupt in Frage gestellt und behauptet, dass alles scheinbar Selbstbewegte (besonders die Lebewesen) in ein bewegendes (Seele) und ein bewegtes Element (Körper) analysierbar sei. Macrobius wirft ihm deswegen die Vernachlässigung des Unterschieds zwischen primären und sekundären bzw. wesentlichen und akzidentellen Eigenschaften vor. Die Seele ist eine Wesenheit, der die Bewegung nicht, wie einem bewegten lebenden oder toten Körper, von außen zukommt, sondern für die sie ein wesenskonstituierender Bestandteil ist. Sie ist im selben Sinne bewegt, wie das Feuer heiß oder der Schnee kalt ist; Bewegung ist für sie keine sekundäre Eigenschaft wie die Wärme eines vom Feuer erhitzten Stücks Eisen, sondern ihre Bewegung ist mit ihrem Sein (esse) identisch, ihr Wesen (essentia) besteht eben in der Bewegung (2,15,4–12). Macrobius greift damit auf eine Unterscheidung zurück, die der mittelplatonischen Debatte um die aristotelische Kategorienlehre und um die Abgrenzung der Kategorien Substanz und Qualität entstammte und die Porphyrios in seiner Macrobius sicher bekannten Einführung in die Kategorien (Isagoge) systematisiert hatte. 41 Die neuplatonische Metaphysik entwickelte daraus das Axiom, dass für jede sekundäre Eigenschaft (etwa die Wärme des Eisens) die entsprechende primäre Eigenschaft (die Wärme des Feuers) 41 Porphyrios, Isagoge, CAG 4.1, p. 9 Busse; vgl. Porphyrios, Commentarium in Aristotelis categorias, CAG 4.1, p. 95 Busse.

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sowie deren Träger (das Feuer selbst) als ihre Ursache vorauszusetzen ist. 42 Auf der Basis dieses Axioms stellt Macrobius die Existenz eines sich selbst bewegenden Prinzips als ontologische Notwendigkeit hin und kreidet Aristoteles einen elementaren kategorialen Fehler an. Bei Hermeias findet sich kein analoges Argument; doch ist eine neuplatonische inspirierte Nutzung der Kategorien für metaphysische Fragen im lateinischen Bereich zur Zeit des Macrobius gut belegt, nämlich in der Seelen- und Trinitätsspekulation Augustins. 43 2) Gegen Ende seiner Ausführungen präzisiert Macrobius seinen Bewegungsbegriff. Die Eigenbewegung der Seele, durch die sie Quelle und Ursprung aller räumlichen Bewegung ist, ist, so stellt er jetzt fest, selbst nicht räumlich-körperlicher Natur, sondern besteht in spezifisch seelischen Bewegungen (motus) wie dem Denken, dem sinnlichen Wahrnehmen und den Emotionen (2,16,8; 22–26). Den Hintergrund dieser Äußerung bildet eine Stelle aus Platons Nomoi, nach der die Bewegung der Seele ebenfalls die Bewegung der kosmischen Körper verursacht und mit spezifisch seelischen Vorgängen kognitiver und affektiver Art zu identifizieren ist (Platon, Nomoi 10, 896e–897a). Derselbe Gedanke findet sich bei den neuplatonischen Kommentatoren Hermeias, Simplikios und Johannes Philoponos, die teilweise auch die Nomoi-Stelle zitieren. 44 Bei ihnen stützt er jedoch die harmonisierende Interpretation: Aristoteles habe nur die körperlich-räumliche, nicht aber die geistige Bewegung der Seele bestritten und gehe daher – wie die Passage der Nomoi beweise – mit Platon in der Sache völlig konform; seine Kritik richte sich nicht gegen Pla-

42 Vgl. Plotin, Enneaden 5,4,2,27–33. 43 Beispielsweise in der Unsterblichkeitsargumentation im Frühwerk (Augustin, Soliloquia 2,22 f.; De immortalitate animae 8; vermutlich mit Rückgriff auf Plotin und Porphyrios, vgl. Tornau, Christian: Ratio in subiecto? The sources of Augustine’s proof for the immortality of the soul in the Soliloquia and its defense in De immortalitate animae, Phronesis 62, 2017, 319–354.) und später in De trinitate (z. B. De trinitate 7,2: quia hoc est ibi esse quod sapere; hier dürfte auch auf die Nutzung der Kategorien in der griechischen Trinitätsdiskussion des 4. Jh. zurückgegriffen sein). 44 Hermeias, In Platonis Phaedrum Scholia p. 104 f., p. 109,35–110,9 Lucarini/Moreschini; Simplikios, In Aristotelis Physica p. 421,13–22; p. 1248,20–31 Diels (jeweils unter Berufung auf Platon, Nomoi 10, 896e–897a); Philoponus, In Aristotelis De anima, p. 92,28–30; p. 95,22–31 Hayduck; Vgl. auch Calcidius, Platonis Timaeus et commentarius 262.

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tons Unsterblichkeitsbeweis, sondern gegen dessen naiv-materialistische Auslegung. Macrobius hingegen wendet die Nomoi-Stelle gegen Aristoteles, indem er dessen These von der Unbewegtheit der Seele als Leugnung der körperlichen wie der geistigen Bewegung versteht und ihm vorhält, dass er damit die Evidenz nicht nur der kosmischen Umläufe, sondern auch der inneren Dynamik der Seele ignoriere (2,16,26). Hat Macrobius den Gedanken einer harmonisierenden Quelle entnommen und antiharmonistisch gewendet, oder haben die griechischen Kommentatoren ein ursprünglich antiaristotelisches Argument ihrer harmonisierenden Interpretationslinie angepasst? Wir wissen es nicht. 45

Philosophie, Tradition und Religion Wie in den Saturnalien beansprucht Macrobius für die Inhalte seines Kommentars keine Originalität, sondern erklärt wiederholt, lediglich aus älteren Quellen zu exzerpieren. 46 Das Eingeständnis des Saturnalien-Prologs, Vorgängertexte wörtlich zitiert und mosaikartig neu zusammengesetzt zu haben, hat im Kommentar indes keine Parallele; 47 hier lässt sich dort, wo wir Macrobius kontrollieren können, ein durchaus selbständiger und zielbewusster Umgang mit dem übernommenen Material beobachten (siehe oben zu 1,8). Es ist sogar denkbar, dass die Idee einer neuplatonischen Kommentierung von Ciceros Somnium Macrobius’ eigene Leistung ist. 48 Nichtsdestoweniger ist das Referat älterer Denker und die Einordnung der eigenen Kommentierung ebenso wie des kommentierten Autors in eine weit zurückreichende Tradition ein unverkennbares Anliegen des Macrobius. 49 Es lohnt, auf diese Tradition und ihre Konstruktion einen näheren Blick zu werfen. 45 Immerhin enthält Porphyrios, fr. 247 Smith (aus der Schrift Gegen Boethos über die Seele) in einen aristoteleskritischen Kontext einen Anklang an Platon, Nomoi 10, 896e–897a. 46 1,6,45; 10,8; 20,32; 2,15,1 f. 47 Macrobius, Saturnalien 1 pr. 4. Vgl. dagegen den Hinweis auf eigene Zusätze in 2,15,2. 48 Das wäre selbst dann möglich, wenn der kaum genuin Neuplatonisches enthaltende »Kommentar« des Favonius Eulogius vor Macrobius zu datieren wäre. 49 Bis zu einem gewissen Grade gehört dies natürlich zur Gattung des Kommentars, vgl. Hieronymus, Adversus Rufinum 1,16.

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Unter den griechischen Autoritäten stehen – wenig überraschend – Platon und die von ihm begründete Tradition an erster Stelle. Zu ihrer Charakterisierung greift Macrobius auf die bei Platon ebenso wie in der Folgezeit beliebte Mysterienterminologie zurück: 50 Platon ist das geheime »Heiligtum der Wahrheit selbst«, 51 er besitzt »die Tiefe eines göttlichen Ingeniums« 52 und ist eine Art Prophet oder Hierophant. 53 Seine Argumente sind unwiderleglich; 54 Wahrheit und Übereinstimmung mit Platon scheinen gleichrangige Kriterien zur Beurteilung einer These zu sein. 55 Die Bezeichnung »Platoniker« ist ein Ehrentitel. 56 Bei den Nachfolgern sind die lobenden Epitheta deutlich abgetönt: Plotin wird einmal unter Verwendung der Mysteriensprache die Einsicht in das »Geheimnis« (arcanum) des Kosmos 57 und ein Platon beinahe gleichkommender Rang zuerkannt; 58 Porphyrios hingegen wird zwar respektvoll, aber lediglich in der Rolle des philosophischen Exegeten zitiert, auch wenn er faktisch eine der Hauptquellen des Macrobius ist. 59 Neben der platonischen Philosophie steht die vorphilosophische Weisheit griechischer wie nichtgriechischer Provenienz. Am weitesten reicht hier das Wissen der Ägypter zurück, der »Väter aller Disziplinen der Philosophie«. 60 Besondere Autorität kommt ihnen auf astronomischem Gebiet zu; 61 gerade griechische Naturforscher (physici) wie Eratosthenes, Archimedes oder der Stoiker Poseidonios fallen ihnen gegenüber stark ab, 62 und es spricht für den geistigen Rang Platons und der Platoniker, dass sie sich in der Frage der Plane50 Riedweg, Christoph: Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Berlin 1987. 51 1,6,23: ipsius veritatis arcanum. arcanum ist das lateinische Pendant zu griechischen Wörtern wie must†rion und mustikÏc. 52 2,2,1, vgl. 2,2,21. 53 2,2,14. 54 1,1,6; vgl. 2,13,6. 55 2,13,6. 56 2,15,2; vgl. Plotin, Enneaden 5,8,4,53 f. 57 1,17,11. 58 1,8,5. 59 1,3,17; 2,3,15. 60 1,19,2, vgl. 1,19,5; 20,11; Macrobius, Saturnalien 1,14,3; 15,1; 7,13,10. 61 1,21,9. 62 1,20,9–11, vgl. 1,19,2. Der Terminus physici ist bei Macrobius nicht, wie sonst öfters, auf die Vorsokratiker beschränkt.

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tenfolge nicht ihnen, sondern den Ägyptern angeschlossen haben (1,19,2). Beginn aller griechischen Weisheit ist wie üblich Homer, den Macrobius als »Quelle und Ursprung aller Funde über das Göttliche« 63 und als Vorgänger Platons 64 bezeichnet und in ähnlicher Weise wie diesen religiös überhöht. Von großer Bedeutung ist, wie wir schon sahen, die anonyme Gruppe der theologi, unter denen Macrobius die Begründer der griechischen religiösen Riten (insbesondere der Mysterienkulte) und Verfasser mythisch-sakraler Texte über die Herkunft und das Wesen der Götter versteht; namentlich genannt werden Hesiod und die Orphiker. 65 Die theologi sind somit von Haus aus die Inhaber jenes geheimen religiösen Wissens, das die platonische (und pythagoreische) Philosophie auf denkerischem Wege wiedergewonnen und auf den Begriff gebracht hat; es verwundert daher nicht, dass Macrobius sie den Platonikern gleichberechtigt an die Seite stellt und sie gelegentlich als die eigentlichen Urheber neuplatonischer Lehren erscheinen lässt (1,14,5). 66 Kurz: Wie der zeitgenössische griechische Neuplatonismus seit Jamblich ist Macrobius bestrebt, entsprechend dem für die kaiserzeitliche Philosophie maßgeblichen Paradigma des »Alten Wissens« eine uralte, bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurückreichende Tradition aufzuweisen, die in der Übereinstimmung von platonischer Philosophie, griechischer Religion und griechischer wie nichtgriechischer Weisheit bewahrt ist. 67 Das ehrfurchtsvolle Studium die63 2,10,11; vgl. 1,12,3. 64 2,2,1. 65 1,2,9; 10,9; 2,3,1 f. Die Terminologie entspricht weitgehend derjenigen der späteren griechischen Neuplatoniker. Vgl. auch Macrobius, Saturnalien 1,23,21. 66 Vgl. 1,13,16: »Geheimlehren zur Rückkehr der Seele« (in arcanis de animae reditu disputationibus). Die Mysterienterminologie zeigt das ehrwürdige Alter der betreffenden Lehren an; es kann sich daher nicht um eine Zitatmarkierung für Porphyrios’ De regressu animae handeln, selbst wenn diese Schrift – was pure Spekulation ist – faktisch Macrobius’ Quelle gewesen sein sollte. 67 Baltes, Matthias: Der Platonismus und die Weisheit der Barbaren, in: Cleary, John J. (Hg.): Traditions of Platonism. Essays in Honour of John Dillon, Aldershot 1999, 115–138 (wieder in: Baltes, Matthias: EPINOHMATA. Kleine Schriften zur antiken Philosophie und homerischen Dichtung, München 2005, 1–26); M. Erler, Legitimation und Projektion. Die ›Weisheit der Alten‹ im Platonismus der Spätantike, in: Kuhn, Dieter/Stahl, Helga (Hgg.): Die Gegenwart des Altertums. Formen und Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, Heidelberg 2001, 313–326. Vgl. auch Perkams, Matthias: Das Prinzip der Harmonisierung ver-

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ser Tradition gewährt den Zugang zur Wahrheit, die entsprechend einer verbreiteten antiken Überzeugung den ältesten Kulturen in besonders reiner Form offenbar gewesen ist 68 (die Verwandtschaft mit dem literarischen und kulturellen Klassizismus der Saturnalien ist offenkundig). 69 Zwei Grundelemente der griechisch-neuplatonischen Traditionsbildung fehlen allerdings bei Macrobius: die Einbeziehung der Chaldäischen Orakel (für die Neuplatoniker seit Jamblich der wichtigste metaphysisch-religiöse Offenbarungstext) 70 und – wie wir an der Schlusspartie des Kommentars sahen – die Integration des Aristoteles in die platonische Tradition. In diesen universalen Traditionszusammenhang bezieht Macrobius nun auch die römische philosophische und literarische Tradition ein, in erster Linie den von ihm kommentierten Cicero, aber auch Vergil. 71 Man darf hierin einen besonders charakteristischen Zug und ein Hauptanliegen des Kommentars erkennen. Cicero ist für Macrobius »ein ausgezeichneter Kenner aller von den Alten anerkannten Lehrmeinungen« (1,17,17), und seine »Gelehrtheit und Weisheit (doctrina et sapientia)« entlockt »dem Allerheiligsten (adytis) der Philosophie« tiefe Erkenntnisse (1,12,18); seine philosophische Leistung erhält also wie die Platons eine Art religiöse Weihe, eine Ehre, die sonst nur noch Plotin zuteil wird und die Cicero den Zugang zur ältesten Weisheitstradition attestiert. Darüber hinaus teilt Cicero mit dem Platon der Politeia und (in geringerem Maße) mit theologi wie Hesiod und den Orphikern den Zug, dass er mit dem Somnium Scipionis einen Mythos verfasst hat, der in verhüllt-impliziter Weise zeitlose Wahrheiten über Gott, Seele und Welt mitteilt. 72 Diesem Umstand entnimmt Macrobius die hermeneutische Legimitation, in den knappen Andeutungen des Somnium das Ganze der neuplatonischen Ontologie und Naturphilosophie einschließlich der dafür relevanten mathematischen

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schiedener Traditionen in den neuplatonischen Kommentaren zu Platon und Aristoteles, in: Ackeren, Marcel van/Müller, Jörn (Hgg.): Antike Philosophie verstehen – Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, 332–347. Vgl. 1,21,27 (Verknüpfung mit der providentia) und schon Platon, Philebos 16c. Vgl. z. B. Macrobius, Saturnalien 3,14,2; 5,22,8. Die einzige Erwähnung der Chaldaei in 1,19,2 weist diesen einen Platz bei den niederrangigen physici zu. 1,6,44: »Meister in allen Wissenschaften«; 1,7,3. Häufig ist Vergil Pendant Homers (1,7,7; 2,8,5). 1,2; siehe oben.

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Disziplinen ausgedrückt zu finden, ein Auslegungsprinzip, für das er mit der Charakterisierung Ciceros als »wortkarg und inhaltsreich« (verborum parcus, rerum fecundus, 2,5,4) eine gelungene Formel findet. 73 Macrobius kann daher Platon und die platonische Tradition unbedenklich zur Klärung des von Cicero Gemeinten heranziehen und die Übereinstimmung mit Platon sogar als ein Kriterium der Korrektheit seiner Cicero-Exegese behandeln. 74 Stellen, an denen Cicero sich klar stoisch-immanentistisch äußert – etwa wenn er die Herkunft der menschlichen Seelen aus dem Feuer der Gestirne oder die Identität des höchsten Gottes mit der Fixsternsphäre behauptet –, werden von Macrobius als indirekte Hinweise auf die höchsten transzendenten Realitäten des Neuplatonismus interpretiert (1,14,16–18; 1,17,12f.). Aus moderner Perspektive ist dies gewiss befremdlich; es erklärt sich aber daraus, dass Macrobius bei Cicero keine individuelle, unter bestimmten historischen und geistesgeschichtlichen Bedingungen entstandene Philosophie, sondern eine unter der Oberfläche seines Textes verborgene und in diesem kondensierte ewige Wahrheit sucht. Lässt sich aus all dem etwas gewinnen für die religiöse Signatur des Kommentars? Die Forschung ist lange davon ausgegangen, dass Macrobius ein engagierter Heide war und seine Schriften eine versteckte Attacke auf das Christentum darstellen. Diese hauptsächlich auf Schlüssen ex silentio beruhende Sicht wird heute mehrheitlich abgelehnt; man erwägt im Gegenteil, dass Macrobius Christ war und zu den Gegenständen seiner Texte die distanzierte Haltung des antiquarischen Forschers einnahm. Bisweilen wird auf den analogen Fall des Boethius verwiesen, dessen Consolatio philosophiae trotz seines unbezweifelbaren Christentums eine rein philosophisch-platonische Schrift ist. 75 Allerdings sollte hier zweierlei bedacht werden. Erstens: Weder Macrobius noch Boethius stehen der Philosophie mit der Distanz des Antiquars oder Doxographen gegenüber, sondern betrachten sie im Einklang mit der gesamten griechischen Tradition als eine Lebensform, deren Prinzip des begründet-rationalen Umgangs mit dem Dasein einschließlich krisenhafter Situationen sie für ihre Per73 Vgl. 1,17,6; 2,5,28. Laut 2,12,7 ist Cicero – für moderne Leser durchaus überraschend – sogar wortkarger als Plotin. 74 1,13,20; vgl. 2,2,1; 23. Ganz irrig ist das natürlich nicht, weil Politeia und Timaios im Somnium durchaus präsent sind. 75 Cameron 2011, 265–272.

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son als verbindlich anerkennen. Zweitens: Während es bei Boethius so gut wie keine Erwähnungen paganer Kulte und einmal sogar eine Distanzierung von Dämonenkult und Magie gibt, 76 übernimmt Macrobius, wie wir sahen, nicht nur die Mysterienterminologie des Platonismus, sondern bezieht die griechische Religion in seine philosophische Traditionsbildung in einer Weise ein, die sich nicht auf reine Metaphorik reduzieren lässt. Wie die griechischen Neuplatoniker von Plotin bis Proklos bewahrt er in seinem philosophischen Selbstverständnis jenen religiösen Grundzug, der für den Platonismus von Anfang an charakteristisch gewesen war. Das macht den Kommentar natürlich nicht zu einer antichristlichen Streitschrift; es schließt nicht einmal aus, dass Macrobius Katechumene oder sogar getaufter Christ war und dass dieses Identitätsmerkmal für ihn in anderen, etwa politischen Situationen durchaus von Bedeutung war. 77 Aber in seiner Rolle als Cicero-Kommentator, Literat und Erzieher – und nur in dieser tritt er uns entgegen – dominiert die Identität als platonischer Philosoph, und zu dieser gehörte in den Augen des Macrobius offensichtlich auch die Ehrfurcht vor der religiösen Tradition. Christian Tornau

76 Boethius, Consolatio philosophiae 1 pr. 4,37–42. 77 Es ist eine wichtige Einsicht der neueren alt- und kirchenhistorischen Forschung, dass Identitätsmerkmale wie »Christ« und »Heide« ein Individuum nicht notwendigerweise – wie von den Kirchenvätern vorausgesetzt und gefordert – völlig dominieren, sondern situationsabhängig gegenüber anderen Identitätsmerkmalen (wie etwa »Römer«, »gebildet« oder »Philosoph«) in den Hintergrund treten können. Vgl. Rebillard, Éric: Christians and Their Many Identities in Late Antiquity. North Africa, 200–450 CE, Ithaca 2012, 1–8.

Inhaltsübersicht zum Kommentar des Macrobius Erstes Buch Einleitung Platons Er-Mythos und Ciceros Somnium Scipionis (1) Mythos, Fiktionalität und Philosophie (2) Typologie der Träume (3) Intention des Somnium Scipionis (4) Zusammenfassung (5,1) Arithmologie Erster Text (5,2) Vollkommenheit der Zahlen (5,3–14) Die Acht (5,15–18) Die Sieben (6,1–7) Eins und Sechs (6,7–17) Zwei und Fünf (6,18–20) Drei, Vier und die Kohäsion der Elemente (6,21–33) Die doppelte Bindekraft der Sieben (6,34–45) Ontologische Bedeutung der Sieben (6,46–47) Astronomische Bedeutung der Sieben (6,48–6,61) Die Sieben als Grundprinzip des Menschen (6,62–6,81) Zusammenfassung (6,82–83) Mantik (7) Tugendlehre Zweiter Text (8,1) Politische und philosophische Tugenden (8,2–4) Klassifikation der Tugenden nach Plotin (8,5–11) Auch politische Tugenden führen zur Glückseligkeit (8,12–13) Die Seelenreise Der himmlische Sitz der Seelen (9) Dritter Text (10,1–8) Abstieg der Seelen in die »Unterwelt«: Vorphilosophischer und philosophischer Begriff der Unterwelt (10,9–11,12)

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Inhaltsübersicht Der Weg der Seele durch den Kosmos (12) Verbot des Selbstmords als Mittel der vorzeitigen Rückkehr in den Himmel (13) Vierter Text (13,3–4)

Das Wesen der Seele Fünfter Text (14,1) Der Kosmos als Tempel des Gottes (14,2) Terminologie: animus und anima (14,3–4) Weltseele, Individualseele und die Hierarchie der drei Hypostasen (14,5–18) Doxographie zur Seelenlehre (14,19–20) Astronomie (Topographie der Seelenreise) Terminologie: sidus und stella; circus und orbis (14,21–27) Himmelskreise: Milchstraße, Zodiakus, Parallelen, Kolure, Meridian und Horizont (15) Sechster Text (16,1) Die Sterne (16,3–7) Dimensionen der Sterne (16,8–13) Siebter Text (17,1–4) Die Himmelssphären und ihre Bewegung durch die Weltseele (17,6–17) Die Planetensphären: Die Eigenbewegung der Planeten (18) Die Anordnung der Planetensphären: Ägyptisches und chaldäisches System (19,1–8) Sonderstellung des Monds (19,9–13) Die Position der Sonne (19,14–17) Haben die Planeten Einfluss auf das Leben der Menschen? (19,18–27) Funktionen der Sonne (20,1–8) Berechnung der Sonnengröße (20,9–32) Der Zodiakus und seine Konstruktion durch die Ägypter (21,1–27) Zusammenfassung zu Kap. 17–21 (21,28–32) Supra– und sublunare Welt (21,33–36) Die Erde Zentrum der Welt (22,1–7) Ihre Anziehungskraft (22,8–13)

Inhaltsübersicht

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Zweites Buch Musik Achter Text (1,2–3) Physikalische Grundlagen und deren Entdeckung durch Pythagoras (1,4–13) Die musikalischen Akkorde (1,14–25) Die Sphärenharmonie Grundlagen zu ihrem Verständnis (2,1–13) Schaffung der Weltseele und der Sphärenharmonie nach Platons Timaios (2,14–24) Hinweise auf ihre Existenz in Literatur, Kult, Mythos und Natur (3) Widerspiegelung der Weltseele in der Struktur von Weltall und Sphärenharmonie (3,12–4,10) Irrelevanz musiktheoretischer Nebenaspekte (4,11–12) Ursache der Unhörbarkeit der Sphärenharmonie (4,14–15) Geographie Neunter Text (5,1–3) Übersicht (5,4–7) Die fünf Klimazonen der Erde (5,8–17) Himmelsrichtungen und Winde (5,18–21) Vier bewohnbare Zonen: Synöken, Periöken, Antöken und Antipoden (5,22–36) Berechnung der Zonendimensionen (6) Die Himmelszonen Die Erdzonen sind Projektionen der Himmelszonen (7,1–8) Sonnenbahn und Erdklima (7,9–21) Diskussion eines Vergilproblems (8) Der äquatoriale und der meridionale Ozean (9) Ewigkeit der Welt und Zeitlichkeit der Zivilisation Zehnter Text (10,1) Zeitliche Beschränkung des Ruhms aufgrund zeitlicher Beschränkung der Kulturen (10,2–9) Periodische Weltenbrände sowie Sintfluten und das Wiedererstehung der Kulturen (10,10–16) Das Weltjahr und die Dauer des Ruhms (11)

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Inhaltsübersicht Elfter Text (11,1–3) Das Jahr der Sonne und der anderen Planeten (11,5–7) Definition des Weltjahrs und seine Dauer (11,8–17)

Die Unsterblichkeit der Seele Zwölfter Text (12,1) Rekapitulation des Somnium–Texts (12,2–4) Die Seele ist ein Gott gem. Cicero und Plotin (12,5–11) Die Unsterblichkeit der Welt nach Cicero und Plotin (12,12–16) Dreizehnter Text (13,1–5) Unsterblichkeit und Selbstbewegtheit der Seele nach Platon (13,6–12) Die acht Einwände des Aristoteles (14) Widerlegung des ersten Einwands und Nachweis der Selbstbewegtheit der Seele (15) Widerlegung des zweiten bis achten Einwands (16) Schluss Vierzehnter Text (17,1–3) Der Aufstieg der Seele mittels der politischen und / oder theoretischen Tugenden (17,4–4) Das Somnium Scipionis als vollkommene Summe der gesamten Philosophie (17,16–17)

Macrobii Ambrosii Theodosii Viri Clarissimi et Illustris In Somnium Scipionis

Kommentar des Macrobius Ambrosius Theodosius vir clarissimus und illustris zu Scipios Traum

Liber Primus 1,1 Inter Platonis et Ciceronis libros, quos de re publica uterque constituit, Eustathi fili, uitae mihi dulcedo pariter et gloria, hoc interesse prima fronte perspeximus, quod ille rem publicam ordinauit, hic rettulit; alter qualis esse deberet, alter qualis esset a maioribus instituta disseruit. 1,2 In hoc tamen uel maxime operis similitudinem seruauit imitatio quod, cum Plato in uoluminis conclusione a quodam uitae reddito, quam reliquisse uidebatur, indicari faciat qui sit exutarum corporibus status animarum, adiecta quadam sphaerarum uel siderum non otiosa descriptione, rerum facies non dissimilia significans a Tulliano Scipione per quietem sibi ingesta narratur. 1,3 Sed quid uel illi commento tali uel huic tali somnio in his potissimum libris opus fuerit, in quibus de rerum publicarum statu loquebantur, quoue adtinuerit inter gubernandarum urbium constituta circulos, orbes globosque describere, de stellarum modo, de caeli conuersione tractare, quaesitu dignum et mihi uisum est et aliis fortasse uideatur, ne uiros sapientia praecellentes nihilque in inuestigatione ueri nisi diuinum sentire solitos aliquid castigato operi adiecisse superfluum suspicemur. De hoc ergo prius pauca dicenda sunt, ut liquido mens operis de quo loquimur innotescat. 1,4 Rerum omnium Plato et actuum naturam penitus inspiciens aduertit in omni sermone de rei publicae institutione proposito infundendum animis iustitiae amorem, sine qua non solum res publica sed nec exiguus hominum coetus, ne domus quidem parua constabit.

Platons Er-Mythos und Ciceros Somnium Scipionis 1,1 Schon bei der ersten Lektüre der Werke Platons und Ciceros über den Staat haben wir, mein lieber Sohn Eustathius, du Freude und Stolz meines Lebens, erkannt, dass sie sich folgendermaßen unterscheiden: Platon hat einen Staat konzipiert, Cicero einen existierenden beschrieben; jener erörtert, wie er verfasst sein müsste, dieser, wie er von unseren Vorfahren eingerichtet worden ist.1 1,2 In einem Punkt aber hat Ciceros Nachschöpfung eine auffallende Ähnlichkeit mit ihrem Vorbild bewahrt: Platon lässt am Ende seines Werkes jemanden, der nach einem Scheintod ins Leben zurückgekehrt war, die Daseinsform der aus dem Körper befreiten Seelen schildern und verbindet das mit einer nützlichen Beschreibung der Himmelssphären und Gestirne; Ciceros Scipio dagegen bietet eine ganz ähnliche Beschreibung der Natur als Erzählung eines Traums.2 1,3 Aber wozu Platons Fiktion beziehungsweise Ciceros Traumerzählung gerade in Werken nützlich waren, die von der Verfassung von Staaten handeln, oder warum es von Belang war, im Zusammenhang mit Fragen der Verwaltung von Städten über Kreis- und Umlaufbahnen sowie Sphären zu schreiben und vom System der Gestirne und der Himmelsbewegungen zu handeln, das schien mir der Untersuchung wert und mag es auch anderen scheinen. Wir wollen ja nicht unterstellen, dass Männer von überragender Weisheit, die sich bei der Suche nach der Wahrheit durch nichts als die göttliche Eingebung leiten ließen, die Disziplin ihrer Werke durch überflüssige Zutaten gelockert hätten. Zu diesem Punkt müssen wir somit einiges vorab sagen, damit der Geist des von uns behandelten Werkes klar hervortritt. 1,4 Plato hat die Natur aller Dinge und Vorgänge gründlich untersucht und festgestellt, dass jedes Gespräch über die Organisation eines Staates voraussetzt, dass der Geist von der Liebe zur Gerechtigkeit erfüllt ist; ohne sie kann weder ein Staat noch eine Vereinigung auch nur weniger Menschen, ja nicht einmal ein bescheidenes Hauswesen existieren.

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1,5 Ad hunc porro iustitiae adfectum pectoribus inoculandum nihil aeque patrocinaturum uidit quam si fructus eius non uideretur cum uita hominis terminari. Hunc uero superstitem durare post hominem qui poterat ostendi, nisi prius de animae immortalitate constaret? Fide autem facta perpetuitatis animarum, consequens esse animaduertit ut certa illis loca nexu corporis absolutis pro contemplatu probi improbiue meriti deputata sint. 1,6 Sic in Phaedone inexpugnabilium luce rationum anima in ueram dignitatem propriae immortalitatis adserta sequitur distinctio locorum quae hanc uitam relinquentibus ea lege debentur quam sibi quisque uiuendo sanxerunt. Sic in Gorgia post peractam pro iustitia disputationem de habitu post corpus animarum morali grauitate Socraticae dulcedinis admonemur. 1,7 Idem igitur obseruanter secutus est in illis praecipue uoluminibus, quibus statum rei publicae formandum recepit. Nam postquam principatum iustitiae dedit docuitque animam post animal non perire, per illam demum fabulam – sic enim quidam uocant – quo anima post corpus euadat uel unde ad corpus ueniat in fine operis adseruit, ut iustitiae uel cultae praemium uel spretae poenam animis quippe immortalibus subiturisque iudicium seruari doceret. 1,8 Hunc ordinem Tullius non minore iudicio reseruans quam ingenio repertus est: postquam in omni rei publicae otio ac negotio palmam iustitiae disputando dedit, sacras immortalium animarum sedes et caelestium arcana regionum in ipso consummati operis fastigio locauit, indicans quo his perueniendum uel potius reuertendum sit qui rem publicam cum prudentia, iustitia, fortitudine ac moderatione tractauerint. 1,9 Sed ille Platonicus secretorum relator Er quidam nomine fuit, natione Pamphylus, miles officio, qui, cum uulneribus in proelio acceptis

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1,5 Um jene im menschlichen Herzen zu verankern, war nach seiner Erkenntnis nichts hilfreicher als die Vorstellung, dass der Lohn der Gerechtigkeit nicht auf die Lebensdauer des Menschen beschränkt sei. Wie aber ließ sich zeigen, dass er nach dem Tod fortdauert, wenn nicht vorher die Unsterblichkeit der Seele feststand? Nachdem aber das Weiterleben der Seelen glaubhaft gemacht war, erkannte er es als folgerichtig, dass den Seelen nach ihrer Loslösung vom Körper je nach Würdigung ihrer guten oder schlechten Verdienste bestimmte Aufenthaltsorte zugewiesen würden. 1,6 So hat er im Phaidon der Seele im Licht unwiderlegbarer Beweise die volle Würde ihrer individuellen Unsterblichkeit verliehen; danach hat er die unterschiedlichen Aufenthaltsorte beschrieben, die den Seelen nach ihrem Abscheiden aus dem irdischen Leben zukommen, und zwar nach den Bestimmungen, die eine jede durch ihre jeweilige Lebensführung über sich selbst verhängt hat. Und im Gorgias werden wir nach der Verteidigung der Gerechtigkeit über die Existenzbedingungen der Seele nach dem Tod mit dem sittlichen Ernst und dem Charme des sokratischen Dialogs belehrt.3 1,7 Dieses Thema hat Platon eingehend vor allem in dem Werk behandelt, in denen er den Entwurf einer Staatsordnung unternommen hat. Nachdem er der Gerechtigkeit den höchsten Rang zugewiesen und dargelegt hat, dass die Seele nach dem leiblichen Tod nicht untergehe, hat er zum Schluss in einer, wie manche sie nennen,4 fiktiven Erzählung dargelegt, wohin die Seele nach dem Tod geht und von woher sie in den Körper eingeht. So wollte er lehren, dass die Seelen, da unsterblich und dem Gericht unterworfen, ihr Lohn für die Pflege oder ihre Strafe für die Verachtung der Gerechtigkeit erwarte. 1,8 Diese Struktur hat Cicero offenkundig ebenso umsichtig wie ingeniös bewahrt: Nachdem er der Gerechtigkeit in jeder Lage des Staates, sei sie ruhig oder turbulent, den Vorrang eingeräumt hatte, hat er die Beschreibung der heiligen Wohnsitze für die unsterblichen Seelen an den Endund Höhepunkt seines Werks gestellt und gezeigt, wohin diejenigen gelangen oder besser zurückkehren, die den Staat mit den Kardinaltugenden der Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung geleitet haben. 1,9 Bei Platon ist es ein gewisser Er, ein pamphylischer Soldat, der diese Geheimnisse enthüllt. Verwundet im Kampf, hatte er dem Anschein

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uitam effudisse uisus duodecimo demum die inter ceteros una peremptos ultimo esset honorandus igne, subito seu recepta anima seu retenta, quicquid emensis inter utramque uitam diebus egerat uideratue, tamquam publicum professus indicium humano generi enuntiauit. Hanc fabulam Cicero licet ab indoctis quasi ipse ueri conscius doleat irrisam, exemplum tamen stolidae reprehensionis uitans excitari narraturum quam reuiuiscere maluit. 2,1 Ac priusquam somnii uerba consulimus, enodandum nobis est a quo genere hominum Tullius memoret uel irrisam Platonis fabulam uel ne sibi idem eueniat non uereri. Nec enim his uerbis uult imperitum uulgus intellegi, sed genus hominum ueri ignarum sub peritiae ostentatione, quippe quos et legisse talia et ad reprehendendum constaret animatos. 2,2 Dicemus igitur et quos in tantum philosophum referat quandam censurae exercuisse leuitatem, quisue eorum etiam scriptam reliquerit accusationem, et postremo quid pro ea dumtaxat parte quae huic operi necessaria est responderi conueniat obiectis. Quibus, quod factu facile est, eneruatis iam quicquid uel contra Ciceronis opinionem etiam in Scipionis somnium seu iaculatus est umquam morsus liuoris seu forte iaculabitur, dissolutum erit. 2,3 Epicureorum tota factio aequo semper errore a uero deuia et illa aestimans ridenda quae nesciat, sacrum uolumen et augustissima irrisit naturae seria. Colotes uero, inter Epicuri auditores loquacitate notabilior, etiam in librum rettulit quae de hoc amarius cauillatus est. Sed cetera quae

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nach sein Leben ausgehaucht. Nach zwölf Tagen sollte ihm zusammen mit den anderen Gefallenen auf dem Scheiterhaufen die letzte Ehre erwiesen werden, als er plötzlich wieder zum Leben erwachte – vielleicht hatte er es auch nie verloren – und den Menschen gleichsam in öffentlichem Bekenntnis alles berichtete, was er in jenen Tagen zwischen diesem und jenem Leben gesehen und getan hatte. Cicero als Kenner der Wahrheit bedauerte zwar, dass diese Erzählung von Ungebildeten bespöttelt wurde,5 wollte aber vermeiden, sich wie Platon der Kritik von Ignoranten auszusetzen, und zog es vor, seinen Erzähler aufwachen statt wieder aufleben zu lassen.

Mythos, Fiktionalität und Philosophie 2,1 Bevor wir uns nun dem Wortlaut des Somnium zuwenden, müssen wir klären, wer die Leute sind, von denen Cicero berichtet, sie hätten sich über Platons literarische Fiktion6 lustig gemacht, während er selbst nicht fürchte, Opfer ihres Spotts zu werden. Diese Äußerung wollte er nicht auf die ungebildete Menge gemünzt wissen, sondern auf jene Sorte von Menschen, die offenkundig ohne Kenntnis der Wahrheit ihr Expertentum zur Schau stellen und derartige Werke nur lesen, um sie mutwillig zu kritisieren. 2,2 Wir werden also darlegen, welche Leute Cicero zufolge einem solch großen Philosophen gegenüber eine ziemlich oberflächliche Kritik übten; sodann, wer von ihnen seine Anklage sogar schriftlich niedergelegt hat; schließlich, welche Antwort auf ihre Vorwürfe passt, jedenfalls soweit es für das vorliegende Werk erforderlich ist. Wenn diese Punkte entkräftet sind – ein leichtes Unterfangen –, werden auch alle bissigen und neidischen Anwürfe erledigt sein, denen, gegen Ciceros Erwartung, auch Scipios Traum ausgesetzt war und vielleicht noch ausgesetzt sein wird. 2,3 Die ganze Sippschaft der Epikureer, die sich in beständigem Irrtum von der Wahrheit entfernt und meint, über Dinge lachen zu dürfen, von denen sie nichts versteht, hat sich über Platons unantastbares Werk und das erhabenste und ernsteste Wissen von der Natur lustig gemacht. Kolotes, der unter den Hörern Epikurs durch seine Geschwätzigkeit hervorsticht, hat aus seinen galligen Sticheleien sogar ein Buch gemacht. Wir

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iniuria notauit – si quidem ad somnium de quo hic procedit sermo non attinent – hoc loco nobis omittenda sunt: illam calumniam persequemur quae, nisi supplodetur, manebit Ciceroni cum Platone communis. 2,4 Ait a philosopho fabulam non oportuisse confingi, quoniam nullum figmenti genus ueri professoribus conueniret. »Cur enim«, inquit, »si rerum caelestium notionem, si habitum nos animarum docere uoluisti, non simplici et absoluta hoc insinuatione curatum est, sed quaesita persona casusque excogitata nouitas et composita aduocati scaena figmenti ipsam quaerendi ueri ianuam mendacio polluerunt?« 2,5 Haec quoniam, dum de Platonico Ere iactantur, etiam quietem Africani nostri somniantis accusant – utraque enim sub apposito argumento electa persona est quae accommoda enuntiandis haberetur –, resistamus urgenti et frustra arguens refellatur, ut una calumnia dissoluta utriusque factum incolumem, ut fas est, retineat dignitatem. 2,6 Nec omnibus fabulis philosophia repugnat, nec omnibus adquiescit; et ut facile secerni possit quae ex his a se abdicet ac uelut profana ab ipso uestibulo sacrae disputationis excludat, quae uero etiam saepe ac libenter admittat, diuisionum gradibus explicandum est. 2,7 Fabulae, quarum nomen indicat falsi professionem, aut tantum conciliandae auribus uoluptatis aut adhortationis quoque in bonam frugem gratia repertae sunt. 2,8 Auditum mulcent uel comoediae, quales Menander eiusue imitatores agendas dederunt, uel argumenta fictis casibus amatorum referta, quibus uel multum se Arbiter exercuit uel Apuleium non numquam lusisse miramur. Hoc totum fabularum genus, quod solas aurium delicias profitetur, e sacrario suo in nutricum cunas sapientiae tractatus eliminat.

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müssen seine übrigen ungerechtfertigten Kommentare hier übergehen, da sie mit dem Somnium, mit dem wir uns hier beschäftigen, nichts zu tun haben, und beschränken uns auf einen seiner Vorwürfe, dessen gemeinsame Zielscheibe Platon und Cicero bleiben werden, wenn er nicht widerlegt wird.7 2,4 Er sagt nämlich, dass Platon sich als Philosoph nicht der Fiktion hätte bedienen dürfen, da jegliche Art literarischer Erfindung für die Lehrer der Wahrheit unpassend sei. »Wenn es deine Absicht war, uns Wissen über den Himmel und die Existenzbedingungen der Seelen dort zu vermitteln: Warum hast du das nicht in einer einfachen und klaren Darlegung getan, sondern die Pforten der Wahrheitssuche selbst durch Lügen besudelt, indem du Charaktere erfunden, unglaubhafte dramatische Wendungen erdacht und eine weit hergeholte Szenerie zusammengebastelt hast?«8 2,5 Da Kolotes’ Angriff gegen Platons »Er« auch Schlaf und Traum unseres Scipio trifft – hier wie dort hat der Autor ja eine Handlung und Person gewählt, die sich für seine Botschaft eignete – wollen wir ihm entgegentreten und seine sinnlose Argumentation entkräften, damit durch Widerlegung der einen Verleumdung das Vorgehen beider Autoren, so wie es sich gehört, seine volle Würde zurückerhält. 2,6 Die Philosophie verwirft nicht alle fiktionale Literatur, ist aber auch nicht mit jeder einverstanden; und um leichter erklären zu können, von welcher sie sich distanziert und sie als profan aus den Räumen ihrer Heilslehre ausschließt, und welche sie hingegen oft und gerne einlässt, müssen wir Schritt für Schritt eine Begriffsbestimmung vornehmen. 2,7 Die fabulae – Geschichten, deren Name bedeutet, dass ihr Inhalt falsch ist, – wurden teils nur dazu erfunden, um den Zuhörern ein Vergnügen zu bereiten, teils aber dienen sie auch der sittlichen Besserung.9 2,8 Dem Vergnügen des Hörers dienen etwa die Komödien, wie sie Menander und seine Nachahmer zur Aufführung brachten, oder die Romane, die voll von erfundenen Liebesabenteuern sind, eine Gattung, in der sich Petron viel umgetan hat und in der erstaunlicherweise sogar Apuleius ab und zu dilettierte. Diese ganze Gruppe von fabulae, die nur dem Hörvergnügen dient, weist die Philosophie aus ihrem Heiligtum weg und verbannt sie in die Wickelstuben der Ammen.

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2,9 Ex his autem quae ad quandam uirtutum speciem intellectum legentis hortantur fit secunda discretio. In quibusdam enim et argumentum ex ficto locatur et per mendacia ipse relationis ordo contexitur, ut sunt illae Aesopi fabulae elegantia fictionis illustres, at in aliis argumentum quidem fundatur ueri soliditate, sed haec ipsa ueritas per quaedam composita et ficta profertur, et hoc iam uocatur narratio fabulosa, non fabula, ut sunt caerimoniarum sacra, ut Hesiodi et Orphei quae de deorum progenie actuue narrantur, ut mystica Pythagoreorum sensa referuntur. 2,10 Ergo ex hac secunda diuisione quam diximus, a philosophiae libris prior species, quae concepta de falso per falsum narratur, aliena est. Sequens in aliam rursus discretionem scissa diuiditur: nam cum ueritas argumento subest solaque fit narratio fabulosa, non unus reperitur modus per figmentum uera referendi. 2,11 Aut enim contextio narrationis per turpia et indigna numinibus ac monstro similia componitur, ut di adulteri, Saturnus pudenda Caeli patris abscidens et ipse rursus a filio regni potito in uincla coniectus, quod genus totum philosophi nescire malunt; aut sacrarum rerum notio sub pio figmentorum uelamine honestis et tecta rebus et uestita nominibus enuntiatur. Et hoc est solum figmenti genus quod cautio de diuinis rebus philosophantis admittit. 2,12 Cum igitur nullam disputationi pariat iniuriam uel Er index uel somnians Africanus, sed rerum sacrarum enuntiatio integra sui dignitate his sit tecta nominibus, accusator tandem edoctus a fabulis fabulosa secernere conquiescat. 2,13 Sciendum est tamen non in omnem disputationem philosophos admittere fabulosa uel licita; sed his uti solent cum uel de anima uel de aeriis aetheriisue potestatibus uel de ceteris dis loquuntur.

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2,9 Die fabulae aber, die den Leser zu einer gewissen Vorstellung von den Tugenden führen wollen, bedürfen einer weiteren Unterteilung. Bei manchen ist nämlich der Stoff fiktiv und die Handlung selbst besteht ebenfalls aus fiktionalen Elementen, wie etwa in den Fabeln des Äsop, die berühmt sind für ihren eleganten Erfindungsreichtum. Bei anderen fabulae dagegen gründet der Stoff auf der reinen Wahrheit, wird aber in eine fiktionale Handlung gekleidet. Der Begriff dafür ist »fiktionale Erzählung« und nicht einfach Fiktion; Beispiele sind die rituellen Begehungen, die Erzählungen des Hesiod und des Orpheus über Genese und Taten der Götter und die mystischen Vorstellungen der Pythagoräer.10 2,10 Von den eben genannten tugendorientierten fabulae ist die erste Sorte, bei der ein erfundener Inhalt in eine erfundene Handlung eingekleidet wird, für die philosophische Literatur unbrauchbar. Die zweite Sorte teilt sich wiederum in zwei Unterarten: Denn wenn der Stoff auf Wahrheit gründet und nur die Handlung selbst fiktional ist, gibt es mehr als eine Methode, die Wahrheit mittels Fiktion zu vermitteln. 2,11 Entweder besteht nämlich die Erzählung aus Elementen, die anstößig, mit der Würde der Götter unvereinbar und monströs sind; Beispiele sind ehebrecherische Götter oder Saturn, wie er die Schamteile seines Vaters, des Himmels, abschneidet und seinerseits von seinem Sohn nach dessen Machtergreifung in Fesseln gelegt wird: Mit alldem wollen die Philosophen nichts zu tun haben. Oder es wird das Wissen um das Heilige unter dem frommen Deckmantel literarischer Verhüllung dargeboten, eingekleidet in ehrenhafte Handlungen und ehrenhafte Namen: Das ist die einzige Art fiktionaler Literatur, welche die Umsicht desjenigen akzeptiert, der über das Göttliche philosophiert. 2,12 Wenn folglich der Bericht des Er oder der Traum des Scipio die wissenschaftliche Darstellung nicht beeinträchtigt, sondern die Verkündung des Heiligen lediglich in diese Namen einhüllt, und zwar unter voller Wahrung seiner Würde, dann sollte der Ankläger, nachdem er nun gelernt hat, Fiktion schlechthin von bloßen fiktionalen Hilfsmitteln zu unterscheiden, endlich Ruhe geben. 2,13 Man muss allerdings wissen, dass die Philosophen selbst erlaubte fiktionale Mittel nicht bei jeder Untersuchung zulassen. Vielmehr verwenden sie diese nur dann, wenn sie über die Weltseele, die Mächte in der Luft und im Äther oder die anderen Götter sprechen.11

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2,14 Ceterum cum ad summum et principem omnium deum, qui apud Graecos tÇgajÏn, qui pr¿ton a“tion nuncupatur, tractatus se audet attollere, uel ad mentem, quam Graeci no‹n appellant, originales rerum species, quae  dËai dictae sunt, continentem, ex summo natam et profectam deo, cum de his, inquam, loquuntur, summo deo et mente, nihil fabulosum penitus adtingunt; sed, si quid de his adsignare conantur quae non sermonem tantummodo, sed cogitationem quoque humanam superant, ad similitudines et exempla confugiunt. 2,15 Sic Plato, cum de tÇgajƒ loqui esset animatus, dicere quid sit non ausus est, hoc solum de eo sciens, quod sciri quale sit ab homine non possit; solum uero ei simillimum de uisibilibus solem repperit, et per eius similitudinem uiam sermoni suo adtollendi se ad non comprehendenda patefecit. 2,16 Ideo et nullum eius simulacrum, cum dis aliis constituerentur, finxit antiquitas, quia summus deus nataque ex eo mens sicut ultra animam ita supra naturam sunt, quo nihil fas est de fabulis peruenire. 2,17 De dis autem, ut dixi, ceteris et de anima non frustra se nec ut oblectent ad fabulosa conuertunt, sed quia sciunt inimicam esse naturae apertam nudamque expositionem sui, quae sicut uulgaribus hominum sensibus intellectum sui uario rerum tegmine operimentoque subtraxit ita a prudentibus arcana sua uoluit per fabulosa tractari. 2,18 Sic ipsa mysteria figurarum cuniculis operiuntur, ne uel haec adeptis nudam rerum talium natura se praebeat, sed, summatibus tan-

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2,14 Im Übrigen, wenn sich die Abhandlung zur höchsten und ersten aller Gottheiten zu erheben wagt, welche bei den Griechen tÇgajÏn (Das Gute) und pr¿ton a“tion (die erste Ursache) heißt, oder zum Intellekt, den die Griechen no‹c nennen, der aus dem höchsten Gott entsteht und hervorgeht und die Urbilder der Dinge, die sogenannten  dËai (Ideen), enthält: wenn sie also vom höchsten Gott und Geist reden, dann vermeiden sie alles Fiktionale vollkommen. Denn wenn sie etwas über Bereiche aussagen wollen, die nicht nur die menschliche Sprache, sondern sogar das menschliche Denken übersteigen, nehmen sie ihre Zuflucht zu Gleichnissen und Exempeln.12 2,15 So hat Platon, als er sich entschloss, über das höchste Gute (tÇgajÏn) zu sprechen, nicht gewagt, zu sagen, was es sei, da er von ihm ja nur wusste, dass der Mensch über seine Beschaffenheit nichts wissen könne. Aber er hat entdeckt, dass unter den sichtbaren Erscheinungen am ehesten die Sonne mit ihm vergleichbar ist, und er hat durch den Vergleich mit ihr seiner Abhandlung eine Möglichkeit eröffnet, zum Unbegreiflichen emporzusteigen. 2,16 Hier liegt auch der Grund, warum die Antike keine Bildwerke des Höchsten Guten gemacht hat, während man anderen Göttern ja solche errichtete. Denn der höchste Gott und der aus ihm hervorgegangene Intellekt stehen über der Weltseele und folglich über der Natur. Für jene Bereiche sind fabulae tabu. 2,17 Wenn es aber um die anderen Götter und die Weltseele geht, nehmen die Philosophen, wie gesagt, nicht ohne Grund und auch nicht zu bloßen Unterhaltungszwecken fiktionale Elemente zu Hilfe, sondern weil sie wissen, dass eine offene und unverhüllte Darstellung ihrer selbst einer Wesenheit zuwider ist,13 die einerseits die Erkenntnis ihrer selbst dem Wahrnehmungsvermögen des gemeinen Volkes durch verschiedenartige Verhüllung und Bedeckung entzogen hat, andererseits wünschte, ihre Geheimnisse von den Kundigen mittels fiktionaler Elemente dargestellt zu sehen. 2,18 So werden gerade die Mysterien in geheimnisvolle Allegorien gekleidet, damit sich ihr Wesen nicht einmal den Eingeweihten unverhüllt zu erkennen geben muss. Nur herausragende Männer sollen durch Vermittlung der Weisheit ein Wissen um ihr Geheimnis erlangen; die übrigen

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tum uiris sapientia interprete ueri arcani consciis, contenti sint reliqui ad uenerationem figuris defendentibus a uilitate secretum. 2,19 Numenio denique inter philosophos occultorum curiosiori offensam numinum, quod Eleusinia sacra interpretando uulgauerit, somnia prodiderunt, uiso sibi ipsas Eleusinias deas habitu meretricio ante apertum lupanar uidere prostantes, admirantique et causas non conuenientis numinibus turpitudinis consulenti respondisse iratas ab ipso se de adyto pudicitiae suae ui abstractas et passim adeuntibus prostitutas. 2,20 Adeo semper ita se et sciri et coli numina maluerunt qualiter in uulgus antiquitas fabulata est, quae et imagines et simulacra formarum talium prorsus alienis, et aetates tam incrementi quam diminutionis ignaris, et amictus ornatusque uarios corpus non habentibus adsignauit. 2,21 Secundum haec Pythagoras ipse atque Empedocles, Parmenides quoque et Heraclitus de dis fabulati sunt, nec secus Timaeus qui progenies eorum sicut traditum fuerat exsecutus est. 3,1 His praelibatis antequam ipsa somnii uerba tractemus, prius quot somniandi modos obseruatio deprehenderit, cum licentiam figurarum quae passim quiescentibus ingeruntur sub definitionem ac regulam uetustas mitteret, edisseramus, ut cui eorum generi somnium quo de agimus applicandum sit innotescat. 3,2 Omnium quae uidere sibi dormientes uidentur quinque sunt principales et diuersitates et nomina. Aut enim est Óneiroc secundum Graecos, quod Latini somnium uocant, aut est Ìrama, quod uisio recte appellatur, aut est qrhmatismÏc, quod oraculum nuncupatur, aut est ‚n‘pnion,

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müssen sich damit begnügen, ihre Verehrung in Symbolen auszudrücken, die ihr Geheimnis vor Entwürdigung schützen.14 2,19 So wurde Numenios, einem Philosophen mit großem Interesse für Arkanwissenschaften, im Traum offenbart, dass er die eleusinischen Gottheiten beleidigt habe, indem er einen Kommentar zu ihren Mysterien veröffentlichte: Die Göttinnen erschienen ihm in Hetärentracht, wie sie sich gerade vor einem offenen Bordell darboten. Und als er verwundert nach dem Grund für diesen unschicklichen Aufzug fragte, hätten sie ihm voll Zorn geantwortet, er selbst habe sie aus dem Heiligtum ihrer Keuschheit gezerrt und jedem beliebigen Passanten prostituiert.15 2,20 Tatsächlich zogen es die Gottheiten immer vor, unter denjenigen Gestalten gekannt und verehrt zu werden, wie sie im Altertum für das Volk erfunden wurden, wo man von Göttern Bilder und Statuen machte, obwohl sie keine derartige äußere Gestalt haben, wo man sie in unterschiedlichem Lebensalter darstellte, obwohl sie weder körperliches Wachstum noch Verfall kennen, wo man ihnen Gewänder und allerlei Schmuck verlieh, ihnen, die doch keine Körper haben. 2,21 Gemäß dieser Konvention haben Pythagoras selbst, Empedokles, Parmenides und Heraklit Geschichten über die Götter geschrieben; und auch Timaios hat die Genealogie der Götter so dargestellt, wie sie ihm die Tradition überliefert hatte.16

Typologie der Träume 3,1 Nach diesen Vorbemerkungen und vor der eigentlichen Kommentierung des Textes des Somnium müssen wir erläutern, wie viele Arten von Träumen empirisch ermittelt worden sind. Die Alten haben ja für den Wirrwarr an Bildern, die auf die Schlafenden eindringen, Definitionen und Klassifikationen vorgenommen, sodass geklärt werden kann, welchem Typ der vorliegende Traum zuzurechnen ist.17 3,2 Alle Träume, die man erlebt, gliedern sich in fünf unterschiedliche Hauptklassen mit den zugehörigen Begriffen. Entweder liegt ein Schlüsseltraum vor, der auf Griechisch Óneiroc heißt und von den Lateinern somnium genannt wird, oder ein Wahrtraum, griechisch Ìrama, korrekt übersetzt mit visio. Weiters gibt es den Orakeltraum, griechisch qrhmatismÏc,

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quod insomnium dicitur, aut est fàntasma, quod Cicero, quotiens opus hoc nomine fuit, uisum uocauit. 3,3 Vltima ex his duo cum uidentur, cura interpretationis indigna sunt, quia nihil diuinationis apportant, ‚n‘pnion dico et fàntasma. 3,4 Est enim ‚n‘pnion quotiens cura oppressi animi corporisue siue fortunae, qualis uigilantem fatigauerat, talem se ingerit dormienti: animi, si amator deliciis suis aut fruentem se uideat aut carentem, si metuens quis imminentem sibi uel insidiis uel potestate personam aut incurrisse hanc ex imagine cogitationum suarum aut effugisse uideatur; corporis, si temeto ingurgitatus aut distentus cibo uel abundantia praefocari se aestimet uel grauantibus exonerari, aut contra si esuriens cibum aut potum sitiens desiderare, quaerere, uel etiam inuenisse uideatur; fortunae, cum se quis aestimat uel potentia uel magistratu aut augeri pro desiderio aut exui pro timore. 3,5 Haec et his similia, quoniam ex habitu mentis quietem sicut praeuenerant ita et turbauerant dormientis, una cum somno auolant et pariter euanescunt. Hinc et insomnio nomen est, non quia per somnium uidetur – hoc enim est huic generi commune cum ceteris –, sed quia in ipso somnio tantummodo esse creditur dum uidetur, post somnium nullam sui utilitatem uel significationem relinquit. 3,6 Falsa esse insomnia nec Maro tacuit: »sed falsa ad caelum mittunt insomnia manes«, caelum hic uiuorum regionem uocans, quia, sicut di nobis, ita nos defunctis superi habemur. Amorem quoque describens, cuius curam semper sequuntur insomnia, ait: »haerent infixi pectore uultus uerbaque, nec placidam membris dat cura quietem«, et post haec: »Anna soror, quae me suspensam insomnia terrent?«

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lateinisch oraculum, den Albtraum, ‚n‘pnion beziehungsweise insomnium; schließlich den Wachtraum, das fàntasma, das Cicero, wenn er den Begriff benötigte, als visum bezeichnet.18 3,3 Wenn die beiden letztgenannten Arten, Albtraum und Wachtraum, also ‚n‘pnion und fàntasma auftreten, verdienen sie keine Deutung, weil sie keine Weissagungskraft besitzen. 3,4 Ein Albtraum (‚n‘pnion) liegt nämlich immer dann vor, wenn eine aus psychischen, körperlichen oder äußeren Umständen herrührende Unruhe einen Menschen im Traum so quält, wie sie ihm auch im Wachen zugesetzt hatte. Eine psychische Ursache ist gegeben, wenn ein Verliebter seine Liebe entweder erfüllt sieht oder unerfüllt, oder wenn jemand die Nachstellungen oder die Macht einer Person fürchtet, und solche Sorgen ihm träumen lassen, er sei ihr ausgeliefert oder entkommen. Eine körperliche Ursache, wenn jemand weintrunken oder prall vom Essen meint, er ersticke an Übersättigung oder entledige sich des Drucks,19 oder wenn umgekehrt jemand hungert oder dürstet und träumt, Speise oder Trank zu vermissen, zu suchen oder sogar gefunden zu haben. Äußere Ursachen liegen vor, wenn jemand meint, einen Zuwachs an Macht oder Amtswürde seinen Wünschen entsprechend zu erfahren oder diese wie befürchtet zu verlieren. 3,5 Derlei Erlebnisse rühren aus einer bestimmten psychischen Verfassung her und stören die Ruhe des Schlafs so, wie sie ihm vorausgegangen sind; sie entschwinden aber mit dem Erwachen und lösen sich in nichts auf. Daher erklärt sich auch der Begriff insomnium: Es heißt nicht so, weil etwas »im Schlaf« erlebt wird – das hat es ja mit den anderen Traumarten gemeinsam –, sondern weil es nur im Schlaf selbst, während es erlebt wird, Glauben findet, nach dem Erwachen aber ohne Nutzen und Bedeutung verschwindet.20 3,6 Auch Vergil hat nicht verschwiegen, dass die insomnia falsch sind: »Die Manen schicken falsche insomnia gen Himmel.« »Himmel« nennt er hier die Oberwelt der Lebenden, weil wir uns ja so oberhalb des Totenreichs befinden wie die Götter oberhalb von uns. Auch wenn er die Liebe beschreibt, deren Qualen immer zu insomnia führen, sagt er »sein Antlitz und seine Worte trägt sie im Herzen, und krank vor Liebe kann sie nicht Ruhe und Frieden finden«, und später »Anna, Schwester, welche insomnia schrecken mich in meiner Ungewissheit?«21

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3,7 Fàntasma uero, hoc est uisum, cum inter uigiliam et adultam quietem in quadam, ut aiunt, prima somni nebula adhuc se uigilare aestimans, qui dormire uix coepit, aspicere uidetur irruentes in se uel passim uagantes formas a natura seu magnitudine seu specie discrepantes uariasque tempestates rerum uel laetas uel turbulentas. In hoc genere est et ‚piàlthc, quem publica persuasio quiescentes opinatur inuadere et pondere suo pressos ac sentientes grauare. 3,8 His duobus modis ad nullam noscendi futuri opem receptis, tribus ceteris in ingenium diuinationis instruimur. Et est oraculum quidem cum in somnis parens uel alia sancta grauisque persona seu sacerdos uel etiam deus aperte euenturum quid aut non euenturum, faciendum uitandumue denuntiat. 3,9 Visio est autem cum id quis uidet quod eodem modo quo apparuerat eueniet. Amicum peregre commorantem quem non cogitabat uisus sibi est reuersum uidere, et procedenti obuius quem uiderat uenit in amplexus. Depositum in quiete suscepit et matutinus ei precator occurrit mandans pecuniae tutelam et fidae custodiae celanda committens. 3,10 Somnium proprie uocatur quod tegit figuris et uelat ambagibus non nisi interpretatione intellegendam significationem rei quae demonstratur, quod quale sit non a nobis exponendum est, cum hoc unusquisque ex usu quid sit agnoscat. Huius quinque sunt species: aut enim proprium aut alienum aut commune aut publicum aut generale est. 3,11 Proprium est, cum se quis facientem patientemue aliquid somniat, alienum cum alium, commune cum se una cum alio; publicum est, cum ciuitati foroue uel theatro seu quibuslibet publicis moenibus actibusue triste uel laetum quid aestimat accidisse; generale est, cum circa solis orbem lunaremue globum seu alia sidera uel caelum omnesue terras aliquid somniat innouatum.

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3,7 Von einem Wachtraum, fàntasma oder visum, spricht man, wenn jemand zwischen Wachsein und Tiefschlaf, sozusagen im ersten Nebel des Schlafes, glaubt, noch wach zu sein und doch soeben in den Schlaf hinübergleitet. Dann vermeint er Gestalten zu sehen, die auf ihn eindringen oder überall herumschwirren und von unnatürlicher Größe oder Aussehen sind; auch sieht er eine Fülle verwirrender Dinge, die ihn in Freude oder Aufruhr setzen. In solchen Träumen tritt auch der Alb auf; er überfällt nach allgemeiner Überzeugung die Menschen im Schlaf, die sich dann durch sein Gewicht niedergedrückt fühlen. 3,8 Während also die beiden eben genannten Traumarten keinerlei Nutzen für die Kenntnis der Zukunft vermitteln, verleihen uns die drei anderen mantische Fähigkeiten. Von einem Orakeltraum sprechen wir, wenn im Traum Eltern oder andere verehrungswürdige oder bedeutende Personen, Priester oder gar ein Gott uns offen ankündigen, was oder was nicht geschehen wird, was wir tun oder meiden sollen.22 3,9 Einen Wahrtraum erlebt man, wenn etwas eintritt wie im Traum erschienen. Etwa wenn jemand im Traum einen in der Fremde weilenden Freund zurückkehren sieht, an den er gar nicht gedacht hat, und ihm dann geradewegs in die Arme läuft. Oder wenn jemand im Traum ein Deposit entgegennimmt und am Morgen ihm jemand begegnet, der ihn bittet, Geld in Verwahrung zu nehmen, oder der seiner Zuverlässigkeit und Diskretion Geheimnisse anvertraut. 3,10 Als Schlüsseltraum bezeichnet man ein Erlebnis, das die Bedeutung der offenbarten Sache in Allegorien und Zweideutigkeiten hüllt und ihr Verständnis nur mittels Interpretation erlaubt. Wir müssen die Eigenarten dieses Typs nicht weiter ausführen, da sie jeder aus eigener Erfahrung kennt. Es gibt fünf Unterarten: selbst- oder fremdbezogen, interpersonell, gesellschaftsbezogen oder universell. 3,11 Selbstbezogen ist der Traum, wenn jemand träumt, dass er etwas tue oder erleide, fremdbezogen, wenn er das von einem anderen träumt, interpersonell, wenn er selbst zusammen mit einem anderen involviert ist. Gesellschaftsbezogen ist der Traum, wenn jemand glaubt, etwas Ernstes oder Erfreuliches betreffe die Stadt, das Forum oder Theater, öffentliche Gebäude oder öffentliche Wege; universell ist er, wenn jemand glaubt, dass eine Veränderung bei der Sphäre der Sonne oder des Monds, bei anderen Planeten, am Himmel oder auf der Erde insgesamt eingetreten sei.

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3,12 Hoc ergo quod Scipio uidisse se rettulit et tria illa quae sola probabilia sunt genera principalitatis amplectitur et omnes ipsius somnii species adtingit. Est enim oraculum, quia Paulus et Africanus uterque parens, sancti grauesque ambo nec alieni a sacerdotio, quid illi euenturum esset denuntiauerunt. Est uisio, quia loca ipsa in quibus post corpus uel qualis futurus esset aspexit. Est somnium, quia rerum quae illi narratae sunt altitudo tecta profunditate prudentiae non potest nobis nisi scientia interpretationis aperiri. 3,13 Ad ipsius quoque somnii species omnes refertur: est proprium, quod ad supera ipse perductus est et de se futura cognouit; est alienum, quod quem statum aliorum animae sortitae sint deprehendit; commune, quod eadem loca tam sibi quam ceteris eiusdem meriti didicit praeparari; publicum, quod uictoriam patriae et Carthaginis interitum et Capitolinum triumphum ac sollicitudinem futurae seditionis agnouit; generale, quod caelum caelique circulos conuersionisque concentum, uiuo adhuc homini noua et incognita, stellarum etiam ac luminum motus terraeque omnis situm suspiciendo uel despiciendo concepit. 3,14 Nec dici potest non aptum fuisse Scipionis personae somnium quod et generale esset et publicum quia necdum illi contigisset amplissimus magistratus, immo cum adhuc, ut ipse dicit, paene miles haberetur. Aiunt enim non habenda pro ueris de statu ciuitatis somnia nisi quae rector eius magistratusue uidisset, aut quae de plebe non unus sed multi similia somniassent. 3,15 Ideo apud Homerum, cum in concilio Graecorum Agamemnon somnium quod de instruendo proelio uiderat publicaret, Nestor, qui non minus ipse prudentia quam omnis iuuenta uiribus iuuit exercitum, conci-

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3,12 Der von Scipio erzählte Traum umfasst die drei oben genannten glaubwürdigen Genera und ebenso alle fünf Spezies des Schlüsseltraums. Er ist nämlich ein Orakeltraum, insofern als Paullus und Africanus, beide seine Väter, beide verehrungswürdige und bedeutende Personen und Inhaber eines Priesteramtes, ihm sein Schicksal vorhersagen.23 Er ist ein Wahrtraum, weil Scipio seinen jenseitigen Wohnsitz und seine zukünftige Existenz geschaut hat. Er ist ein Schlüsseltraum, weil die Erhabenheit der prophezeiten Dinge, die in der Tiefe der Weisheit geborgen sind, nur durch wissenschaftliche Deutung erschlossen werden kann. 3,13 Ebenso umfasst er die fünf Spezies eines Schlüsseltraums. Selbstbezogen ist der Traum, weil Scipio persönlich in die Oberwelt geführt wurde und seine eigene Zukunft erfuhr; fremdbezogen, weil er erkannte, welche Existenz den Seelen anderer Menschen bestimmt sei; interpersonell, weil er Kenntnis davon erhielt, dass ihm derselbe Aufenthaltsort wie Menschen mit gleichen Verdiensten zuteilwürde; gesellschaftsbezogen, weil er über den zukünftigen Sieg Roms, den Untergang Karthagos, seinen Triumphzug aufs Kapitol und die kommenden Bürgerkriegsunruhen unterrichtet wurde;24 universell, weil er, im Blick aufwärts und abwärts, den Himmel und die Himmelsbahnen sowie die Sphärenharmonie – beides für einen noch lebenden Menschen neu und unbekannt –, sowie die Bewegungen der Planeten und der beiden Luminare25 und die Lage der Erde in ihrer Gesamtheit erfassen konnte. 3,14 Man sollte auch nicht einwenden, dass Scipios Person für einen gesellschafts-bezogenen und universellen Traum ungeeignet war, weil er noch nicht zu höchsten Ämtern gelangt war, sondern nach seinen eigenen Worten beinahe noch als gemeiner Soldat galt. Es heißt ja, dass Träume, die die Situation eines Staates betreffen, nicht als Wahrträume gelten dürfen, wenn sie nicht dessen Leitern oder hohen Beamten zuteilwurden oder wenn nicht viele aus dem Volk denselben Traum gehabt hätten, sondern nur einer.26 3,15 Aus diesem Grund bekräftigt bei Homer Nestor, mit seiner Weisheit eine ebenso starke Stütze des Heeres wie die gesamte Jugend mit ihrer Kampfkraft, die Glaubwürdigkeit der Traumerzählung Agamemnons. Dieser hatte in der Versammlung der Griechen einen Traum von Vorbereitungen zu einer Schlacht enthüllt, worauf Nestor sagt: »Wenn ein König einen Traum hat, der öffentliche Angelegenheiten betrifft, so muss man

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lians fidem relatis: »De statu«, inquit, »publico credendum regio somnio, quod, si alter uidisset, repudiaremus ut futile«. 3,16 Sed non ab re erat ut Scipio, etsi necdum adeptus tunc fuerat consulatum nec erat rector exercitus, Carthaginis somniaret interitum, cuius erat auctor futurus, audiretque uictoriam beneficio suo publicam, uideret etiam secreta naturae, uir non minus philosophia quam uirtute praecellens. 3,17 His adsertis, quia superius falsitatis insomniorum Vergilium testem citantes uersus fecimus mentionem eruti de geminarum somnii descriptione portarum, si quis forte quaerere uelit cur porta ex ebore falsis et e cornu ueris sit deputata, instruetur auctore Porphyrio, qui in commentariis suis haec in eundem locum dicit ab Homero sub eadem diuisione descriptum: 3,18 »Latet«, inquit, »omne uerum. Hoc tamen anima, cum ab officiis corporis somno eius paululum libera est, interdum aspicit, nonnumquam tendit aciem nec tamen peruenit, et cum aspicit, tamen non libero et directo lumine uidet sed interiecto uelamine, quod nexus naturae caligantis obducit.« 3,19 Et hoc in natura esse idem Vergilius asserit dicens: aspice – namque omnem quae nunc obducta tuenti mortales hebetat uisus tibi et umida circum caligat nubem eripiam. 3,20 Hoc uelamen cum in quiete ad uerum usque aciem animae introspicientis admittit, de cornu creditur, cuius ista natura est ut tenuatum uisui peruium sit; cum autem a uero hebetat ac repellit obtutum, ebur putatur, cuius corpus ita natura densetum est ut ad quamuis extremitatem tenuitatis erasum nullo uisu ad ulteriora tendente penetretur.

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ihm Glauben schenken; hätte ihn ein anderer erlebt, hätten wir ihn als belanglos zurückgewiesen.« 3,16 Doch auch wenn Scipio noch nicht das Konsulat und den Oberbefehl über das Heer erlangt hatte, war es sehr wohl angemessen, dass er es war, der vom Untergang Karthagos träumte, dessen Urheber er ja sein sollte; dass er vom Sieg Roms hörte, der dank seiner errungen werden würde; und dass er obendrein die Geheimnisse der Natur schauen durfte: denn er tat sich ja auf dem Gebiet der Philosophie ebenso hervor wie durch seine Tatkraft. 3,17 Nach diesen Hinweisen kommen wir zurück auf den oben zitierten Vergilvers, den wir der Beschreibung der beiden Pforten der Träume entnommen und als Zeugen für die Unzuverlässigkeit von Albträumen aufgerufen haben. Wenn nun etwa jemand die Frage stellen möchte, warum die Pforte aus Elfenbein für die falschen, die aus Horn aber für die richtigen Träume bestimmt sei, mag er sich von der Autorität des Porphyrios belehren lassen, der in seinem Kommentar zu einer Homerstelle, welche dieselbe Unterscheidung zwischen den beiden Pforten macht, Folgendes schreibt:27 3,18 »Alle Wahrheit liegt im Verborgenen. Wenn nun der Körper im Schlaf liegt und die Seele ein wenig freier von ihrem Dienst für ihn ist,28 erblickt sie zuweilen die Wahrheit, zuweilen kann sie sie trotz aller Konzentration nicht sehen. Und wenn sie die Wahrheit erblickt, sieht sie diese doch nicht ungehindert in klarem Licht, sondern nur durch einen Schleier, mit dem die Natur sie überzieht und verdunkelt.« 3,19 Vergil bezeugt, dass das naturgegeben ist, wenn er sagt: »Schau – denn ich werde die ganze Wolke wegreißen, die nun deine Blicke umhüllt, dein sterbliches Sehvermögen schwächt und es mit feuchtem Nebel umgibt«.29 3,20 Wenn nun im Schlaf dieser Schleier für die Introspektion der Seele durchdringbar wird und sie zur Wahrheit gelangt, glaubt man, dass er aus Horn ist, dessen Beschaffenheit ja so ist, dass es bei fortschreitender Ausdünnung für den Blick durchlässig wird. Wenn er aber den Blick trübt und ihn an der Schau der Wahrheit hindert, nimmt man an, er sei aus Elfenbein, dessen Konsistenz von Natur aus so dicht ist, dass es auch bei noch so starker Ausdünnung für einen noch so konzentrierten Blick nicht durchdringbar ist.

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4,1 Tractatis generibus et modis ad quos somnium Scipionis refertur, nunc ipsam eiusdem somnii mentem ipsumque propositum, quem Graeci skopÏn uocant, antequam uerba inspiciantur, temptemus aperire, et eo pertinere propositum praesentis operis adseramus, sicut etiam in principio huius sermonis adstruximus, ut animas bene de re publica meritorum post corpora caelo reddi et illic frui beatitatis perpetuitate nos doceat. 4,2 Nam Scipionem ipsum haec occasio ad narrandum somnium prouocauit, quod longo tempore se testatus est silentio condidisse. Cum enim Laelius quereretur nullas Nasicae statuas in publico in interfecti tyranni remunerationem locatas, respondit Scipio post alia in haec uerba: »Sed quamquam sapientibus conscientia ipsa factorum egregiorum amplissimum uirtutis est praemium, tamen illa diuina uirtus non statuas plumbo inhaerentes nec triumphos arescentibus laureis, sed stabiliora quaedam et uiridiora praemiorum genera desiderat.« – »Quae tamen ista sunt?« inquit Laelius. 4,3 Tum Scipio: »Patimini me, quoniam tertium diem iam feriati sumus«, et cetera quibus ad narrationem somnii uenit, docens illa esse stabiliora et uiridiora praemiorum genera quae ipse uidisset in caelo bonis rerum publicarum seruata rectoribus, sicut his uerbis eius ostenditur: 4,4 »Sed quo sis, Africane, alacrior ad tutandam rem publicam, sic habeto: omnibus qui patriam conseruarint, adiuuerint, auxerint, certum esse in caelo definitum locum ubi beati aeuo sempiterno fruantur.« Et paulo post hunc certum locum qui sit designans ait: »Sed sic, Scipio, ut auus hic tuus, ut ego qui te genui, iustitiam cole et pietatem, quae cum magna in parentibus et propinquis tum in patria maxima est. Ea uita uia est in caelum et in hunc coetum eorum qui iam uixere et corpore laxati illum incolunt locum quem uides«, significans galax–an.

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Intention des Somnium Scipionis 4,1 Nach der Behandlung der Genera und Spezies, zu denen Scipios Traum gehört, wollen wir nun versuchen, seinen Sinn und Zweck, griechisch skopÏc, zu verdeutlichen. Wir werden dabei unsere eingangs geäußerte Auffassung untermauern, dass die Absicht des vorliegenden Werkes ist, uns darüber zu belehren, dass die Seelen verdienter Staatsmänner nach deren Tod zum Himmel aufsteigen und dort in ewiger Glückseligkeit leben. Anschließend werden wir unseren Blick auf den Text selbst richten. 4,2 Folgende Situation war es, die Scipio zur Erzählung seines Traumes veranlasste, den er nach eigenem Bekunden lange Zeit still bei sich bewahrt hatte. Als nämlich Laelius kritisierte, dass Nasica nicht mit öffentlichen Statuen für seinen Tyrannenmord geehrt worden sei, erwiderte Scipio unter anderem Folgendes: »Den Weisen ist schon das Bewusstsein der Exzellenz ihrer Taten der schönste Lohn der Tugend. Ihre göttliche Tugend hat nicht den Wunsch nach bleiverankerten Statuen oder dem welkenden Lorbeer von Triumphzügen, wohl aber nach einer dauerhaften und gewissermaßen immergrünen Art von Belohnung.« »Die wäre?«, fragte Laelius, worauf Scipio: 4,3 »Erlaubt mir bitte, da wir ja schon den dritten Tag des Festes begehen« samt der restlichen Einleitung zu seiner Traumerzählung.30 Dann belehrt er seine Hörer, dass die dauerhaften und immergrünen Belohnungen jene seien, die im Himmel auf die guten Staatslenker warteten, wie er es selber geschaut habe, wie aus seinen Worten hervorgeht:31 4,4 »Aber damit du mit noch mehr Eifer darauf bedacht bist, Africanus, den Staat zu schützen, sollst du wissen: Allen, die ihre Heimat bewahrt, gefördert und mächtiger gemacht haben, ist im Himmel ein Ort bestimmt und abgegrenzt, wo sie in Glückseligkeit ein ewiges Leben genießen.« Und ein wenig später beschreibt Paullus diesen vorbestimmten Ort folgendermaßen: »Aber so wie dein Großvater hier und wie ich, dein Vater, pflege auch du Gerechtigkeit und Pflichtbewusstsein; das ist von großer Bedeutung gegenüber Eltern und Verwandten, am wichtigsten aber gegenüber der Heimat. Ein solches Leben bahnt dir den Weg in den Himmel und in die Gemeinschaft derer, die schon gelebt haben und die, vom Körper erlöst, den Ort bewohnen, den du hier erblickst«, womit er die Milchstraße meint.32

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4,5 Sciendum est enim quod locus in quo sibi uidetur esse Scipio per quietem, lacteus circulus est, qui galax–ac uocatur, siquidem his uerbis in principio utitur: »Ostendebat autem Carthaginem de excelso et pleno stellarum illustri et claro quodam loco«. Et paulo post apertius dicit: »Erat autem is splendidissimo candore inter flammas circus elucens, quem uos, ut a Grais accepistis, orbem lacteum nuncupatis. Ex quo omnia mihi contemplanti praeclara et mirabilia uidebantur.« Et de hoc quidem galax–¯, cum de circulis loquemur, plenius disseremus. 5,1 Sed iam quoniam inter libros quos de re publica Cicero quosque prius Plato scripserat, quae differentia, quae similitudo habeatur expressimus, et cur operi suo uel Plato Eris indicium uel Cicero somnium Scipionis adsciuerit, quidue sit ab Epicureis obiectum Platoni uel quemadmodum debilis calumnia refellatur, et quibus tractatibus philosophi admisceant uel a quibus penitus excludant fabulosa rettulimus, adiecimusque post haec necessario genera omnium imaginum quae falso quaeque uero uidentur in somnis, ipsasque distinximus species somniorum ad quas Africani somnium constaret referri, et si Scipioni conuenerit talia somniare, et de geminis somnii portis quae fuerit a ueteribus expressa sententia, super his omnibus ipsius somnii de quo loquimur mentem propositumque signauimus et partem caeli euidenter expressimus in qua sibi Scipio per quietem haec uel uidisse uisus est uel audisse quae rettulit, nunc iam discutienda sunt nobis ipsius somnii uerba, non omnia, sed ut quaeque uidebuntur digna quaesitu.

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4,5 Man muss nämlich wissen, dass der Ort, wo sich Scipio im Traum befindet, die Milchstraße, griechisch galax–ac, ist; er verwendet nämlich zu Beginn der Erzählung folgende Worte: »Er wies aber auf Karthago, von einem hochgelegenen, lichten und schönen Ort voller Sterne aus.« Wenig später wird er noch deutlicher: »Der Ort war ein in strahlendem Glanz zwischen den flammenden Sternen hervorleuchtender Ring. Ihr nennt ihn nach griechischem Vorbild ›Milchstraße‹. Aus dieser Höhe betrachtete ich alles genau, und es erschien mir herrlich und wunderbar.« Über die Milchstraße werden wir uns eingehender äußern, wenn wir über die Himmelssphären reden.33

Zusammenfassung der Einleitung 5,1 Bis hierher haben wir folgende Punkte behandelt: die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Platons und Ciceros Schriften über den Staat; die Gründe, warum Platon die Erzählung des Er und Cicero den Traum Scipios in ihre Werke eingefügt haben; die Vorwürfe der Epikureer gegen Platon, und wie deren haltlose Verleumdungen zu widerlegen sind. Wir haben außerdem gesagt, in welcher Art von Schriften die Philosophen fiktionale Elemente verwenden und aus welchen sie solche ausschließen; folgerichtig haben wir daran eine Klassifikation aller trügerischen und wahrheitskündenden Traumerscheinungen geknüpft. Außerdem haben wir die einzelnen Spezies des Schlüsseltraums gegeneinander abgegrenzt, die Kategorie, unter die der Traum des Africanus offenkundig fällt. Wir sind der Frage nachgegangen, ob es angemessen war, Scipio einen solchen Traum zuzuschreiben, und wir haben die Auffassungen der Alten über die zwei Tore der Träume mitgeteilt. Schließlich haben wir auch Sinn und Zweck des Traums, über den wir sprechen, charakterisiert und die Himmelsgegend genau beschrieben, in der Scipio das, was er uns berichtet, im Traum gesehen und gehört hat. Jetzt müssen wir den Text von Scipios Traum selbst besprechen, wenn auch nicht insgesamt, sondern soweit er eine Untersuchung rechtfertigt.

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Liber primus 5,2 Ac prima nobis tractandam se ingerit pars illa de numeris in qua sic

ait: »Nam cum aetas tua septenos octies solis anfractus reditusque conuerterit, duoque hi numeri quorum uterque plenus, alter altera de causa habetur, circuitu naturali summam tibi fatalem confecerint, in te unum atque in tuum nomen se tota conuertet ciuitas; te senatus, te omnes boni, te socii, te Latini intuebuntur, tu eris unus in quo nitatur ciuitatis salus, ac ne multa, dictator rem publicam constituas oportet, si impias propinquorum manus effugeris.« 5,3 Plenitudinem hic non frustra numeris adsignat. Plenitudo enim proprie nisi diuinis rebus supernisque non conuenit. Neque enim corpus proprie plenum dixeris quod, cum sui sit impatiens effluendo, alieni est appetens hauriendo. Quae si metallicis corporibus non usu ueniunt, non tamen plena illa, sed uasta dicenda sunt. 5,4 Haec est igitur communis numerorum omnium plenitudo, quod cogitationi a nobis ad superos meanti occurrit prima perfectio incorporalitatis in numeris; inter ipsos tamen proprie pleni uocantur secundum hos modos qui praesenti tractatui necessarii sunt, qui aut uim obtinent uinculorum [aut corpora rursus efficiuntur] aut corpus efficiunt, sed corpus quod intellegendo, non sentiendo concipias. Totum hoc, ut obscuritatis deprecetur offensam, paulo altius repetita rerum luce pandendum est. 5,5 Omnia corpora superficie finiuntur et in ipsam eorum pars ultima terminatur. Hi autem termini, cum sint semper circa corpora quorum termini sunt, incorporei tamen intelleguntur. Nam quousque corpus esse dicetur, necdum terminus intellegitur: cogitatio quae conceperit terminum corpus reliquit.

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Arithmologie: die Vollkommenheit der Zahlen 5,2 Als Erstes bietet sich uns der Abschnitt über die Zahlen zur Behandlung an, wo Scipio sagt:34 »Wenn dein Leben acht mal sieben Mal die Vollendung der Kreisbahn der Sonne gesehen hat, und wenn diese Zahlen, die beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, als vollkommen gelten, in natürlichem Kreislauf die für dich schicksalhafte Summe erfüllt haben, dann wird der ganze Staat sich allein zu dir und deinem Namen hinwenden: Schauen wird auf dich der Senat, alle guten Bürger, die Bündner und die Latiner; du allein wirst es sein, auf den sich das Wohl des Staates stützt. Kurz, du wirst als Diktator den Staat reorganisieren müssen, sofern du nur dem Anschlag deiner illoyalen Angehörigen entgehst«. (Rep. 6,12) 5,3 Nicht ohne Grund weist Cicero den beiden Zahlen sieben und acht die Eigenschaft »vollkommen« zu.35 Vollkommenheit im eigentlichen Sinne kommt nämlich nur den göttlichen und überirdischen Dingen zu. Einen Körper würde man sicher nicht »vollkommen« nennen, da er aus Intoleranz gegenüber sich selbst eigene Substanz abstößt und fremde bereitwillig aufnimmt; und selbst wenn das bei Körpern aus Metall nicht vorkommt, so sind diese doch nicht als vollkommen, sondern einfach als massig zu bezeichnen.36 5,4 Vollkommenheit ist zunächst eine allen Zahlen gemeinsame Eigenschaft, denn wenn sich unser Denken zu den überirdischen Dingen erhebt, trifft es als ersten Ausdruck der unkörperlichen Vollkommenheit auf die Zahlen.37 Im eigentlichen Sinne aber vollkommen (wenn wir uns auf die Arten beschränken, die für unsere Abhandlung wichtig sind) heißen unter ihnen diejenigen, die entweder die Fähigkeit haben, Körper zu binden, oder selbst einen Körper hervorbringen, einen Körper freilich, der nur dem Denken, nicht aber der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist.38 Um dem Vorwurf der Unklarheit zu entgehen, müssen wir das im Licht eines etwas ausführlicheren Exkurses klären. 5,5 Alle Körper haben eine Oberfläche, durch welche ihre Außenseite begrenzt wird. Obwohl diese Grenzen immer die Körper umgeben, deren Grenzen sie sind, sind sie dennoch als unkörperlich zu begreifen. Solange man nämlich von einem Körper spricht, denkt man noch nicht an seine Grenzen; erst jenseits des Körpers ist der Begriff Grenze anwendbar.

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5,6 Ergo primus a corporibus ad incorporea transitus offendit corporum terminos, et haec est prima incorporea natura post corpora, sed non pure nec ad integrum carens corpore; nam licet extra corpus natura eius sit, tamen non nisi circa corpus apparet. Cum totum denique corpus nominas, etiam superficies hoc uocabulo continetur, de corporibus eam tamen etsi non res sed intellectus sequestrat. 5,7 Haec superficies, sicut est corporum terminus, ita lineis terminatur, quas suo nomine grammàc Graecia nominauit. Punctis lineae finiuntur, et haec sunt corpora quae mathematica uocantur, de quibus sollerti industria geometriae disputatur. 5,8 Ergo haec superficies, cum ex aliqua parte corporis cogitatur, pro forma subiecti corporis accipit numerum linearum. Nam seu trium ut trigonum, seu quattuor ut quadratum, seu plurium sit angulorum, totidem lineis sese ad extrema tangentibus planities eius includitur. 5,9 Hoc loco admonendi sumus quod omne corpus longitudinis, latitudinis et altitudinis dimensionibus constat. Ex his tribus in lineae ductu una dimensio est; longitudo est enim sine latitudine. Planities uero, quam Graeci ‚pifàneian uocant, longo latoque distenditur, alto caret, et haec planities quantis lineis contineatur expressimus. Soliditas autem corporum constat cum his duabus additur altitudo; fit enim tribus dimensionibus impletis corpus solidum quod stereÏn uocant, qualis est tessera quae k‘boc uocatur. 5,10 Si uero non unius partis, sed totius uelis corporis superficiem cogitare, quod proponamus esse quadratum, ut de uno quod exemplo sufficiet disputemus, iam non quattuor, sed octo anguli colliguntur. Quod animaduertis si super unum quadratum, quale prius diximus, alterum tale altius impositum mente conspicias, ut altitudo quae illi plano deerat adiciatur fiatque tribus dimensionibus impletis corpus solidum quod stereÏn uocant, ad imitationem tesserae quae k‘boc uocatur.

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5,6 Folglich trifft man erst beim Übergang von den Körpern zum Unkörperlichen auf die Grenzen der Körper, und diese sind die erste unkörperliche Wesenheit jenseits der Körper. Freilich haben sie noch keine reine und vollkommen körperlose Natur; denn mag die natürliche Lage der Grenze auch außerhalb des Körpers sein, so existiert sie doch nur in Bindung an ihn. Und wenn man vom Körper als Ganzem redet, ist damit auch seine Grenze impliziert, die also nicht physikalisch, wohl aber begrifflich vom Körper zu trennen ist.39 5,7 Wie die Oberfläche die Grenze des Körpers ist, so sind die Grenzen der Oberfläche die Linien, die von den Griechen grammaí genannt werden; die Linien werden ihrerseits begrenzt durch Punkte. Das sind die sogenannten mathematischen Körper, ein Gegenstand engagierter und kenntnisreicher Diskussionen in der Geometrie.40 5,8 Wenn man nun die Oberfläche auf irgendeiner Seite des Körpers betrachtet, sieht man, dass die Zahl der Linien der Form des unterliegenden Körpers entspricht. Hat er drei Ecken wie ein Dreieck, vier wie ein Viereck oder noch mehr, so wird seine Oberfläche durch ebenso viele sich mit ihren Enden berührenden Linien begrenzt. 5,9 An diesem Punkt müssen wir uns daran erinnern, dass jeder Körper aus den drei Dimensionen Länge, Breite und Höhe besteht. Von diesen ist die Linie eindimensional – sie hat Länge ohne Breite.41 Eine Fläche dagegen, von den Griechen ‚pifàneia genannt, erstreckt sich in Länge und Breite, hat aber keine Höhe; durch wie viele Linien sie begrenzt wird, haben wir schon gesagt. Vollständige Körper entstehen, wenn den beiden Dimensionen noch die der Höhe hinzugefügt wird. Erst wenn alle drei Dimensionen vorhanden sind, entsteht ein vollständiger Körper, griechisch stereÏn, wie etwa ein Würfel, griechisch k‘boc. 5,10 Möchten wir nun die Oberfläche nicht nur einer Seite, sondern die eines ganzen Körpers betrachten – zu Demonstrationszwecken reicht es, wenn wir uns auf einen quadratischen konzentrieren –, dann ergeben sich nicht mehr nur vier, sondern acht Ecken. Das wird klar, wenn man sich vorstellt, dass über ein Quadrat, wie wir es oben beschrieben haben, in größerer Höhe ein entsprechendes zweites gelegt wird. So kommt die Dimension Höhe hinzu, die der Fläche fehlte, und durch Herstellung der Dreidimensionalität entsteht ein vollständiger Körper (stereÏn) nach dem Vorbild eines Würfels (k‘boc).

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5,11 Ex his apparet octonarium numerum solidum corpus et esse et haberi. Si quidem unum apud geometras puncti locum obtinet, duo lineae ductum faciunt quae duobus punctis, ut supra diximus, coercetur; quattuor uero puncta aduersum se in duobus ordinibus bina per ordinem posita exprimunt quadri speciem, a singulis punctis in aduersum punctum eiecta linea. Haec quattuor, ut diximus, duplicata et octo facta, duo quadra similia describunt, quae sibi superposita additaque altitudine formam cybi, quod est solidum corpus, efficiunt. 5,12 Ex his apparet antiquiorem esse numerum superficie et lineis ex quibus illam constare memorauimus formisque omnibus. A lineis enim ascenditur ad numerum tamquam ad priorem, ut intellegatur ex diuersis numeris linearum quae formae geometricae describantur. 5,13 Ipsam uero superficiem cum lineis suis primam post corpora diximus incorpoream esse naturam, nec tamen sequestrandam propter perpetuam cum corporibus societatem. Ergo quod ab hac sursum recedit iam pure incorporeum est; numeros autem hac superiores praecedens sermo patefecit. Prima est igitur perfectio incorporalitatis in numeris; et haec est, ut diximus, numerorum omnium plenitudo. 5,14 Seorsum illa, ut supra admonuimus, plenitudo est eorum qui aut corpus efficiant aut uim obtineant uinculorum, licet alias quoque causas quibus pleni numeri efficiantur esse non ambigam. 5,15 Qualiter autem octonarius numerus solidum corpus efficiat ante latis probatum est. Ergo singulariter quoque plenus iure dicetur propter corporeae soliditatis effectum, sed et ad ipsam caeli harmoniam, id est con-

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5,11 Daraus ergibt sich, dass die Zahl Acht ein vollständiger Körper ist und auch als solcher gilt. Wenn also die Eins in der Geometrie durch einen Punkt repräsentiert wird, entspricht die Zwei einer Linie, die, wie oben gesagt, durch zwei Punkte begrenzt wird; vier Punkte aber, einander paarweise gegenüberliegend, stellen ein Quadrat dar, wenn von jedem Punkt zum gegenüberliegenden eine Linie gezogen wird. Werden diese vier, wie schon gesagt, zu acht verdoppelt, beschreiben sie zwei Quadrate, die, unter Hinzunahme der Dimension Höhe übereinandergelegt, die Form eines Würfels, also einen vollständigen Körper, ergeben. 5,12 Daraus geht hervor, dass die Zahl der Oberfläche existentiell vorausgeht und damit auch den Linien, aus denen jene, wie oben gesagt, zusammengesetzt ist, sowie überhaupt allen Formen.42 Von den Linien steigt man nämlich empor zur Zahl wie zu etwas Präexistentem, sodass man aus der unterschiedlichen Anzahl an Linien ableiten kann, welche geometrischen Figuren dargestellt werden. 5,13 Wir haben schon gesagt,43 dass die Oberfläche von Körpern mitsamt ihren Linien die erste unkörperliche Wesenheit nach den Körpern ist und dass sie dennoch wegen ihres permanenten Zusammenhangs mit den Körpern nicht von diesen zu trennen ist. Folglich ist, was auf höherer Stufe steht als die Oberfläche, vollkommen unkörperlich, und wir haben oben schon dargelegt, dass die Zahlen höher stehen als die Oberfläche. Die Zahlen besitzen also als erste vollkommene Unkörperlichkeit, und darin besteht, wie wir gesagt haben, die Vollkommenheit sämtlicher Zahlen. 5,14 Davon zu unterscheiden ist die oben erwähnte Vollkommenheit von Zahlen, die entweder einen Körper hervorbringen, oder die Fähigkeit haben, Körper zu binden.44 Dass es auch noch andere Gründe gibt, welche Zahlen vollkommen machen, möchte ich nicht bestreiten.

Die Eigenschaften der Acht 5,15 Wie die Zahl Acht einen vollständigen Körper hervorbringt, haben wir oben demonstriert.45 Diese Zahl verdient aber in einzigartiger Weise nicht nur wegen dieser Fähigkeit die Bezeichnung »vollkommen« mit vollem Recht, sondern auch deshalb, weil sie ohne Zweifel in einem besonderen Verhältnis zur Sphärenharmonie, d.h. dem Klang des Him-

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cinentiam, hunc numerum magis aptum esse non dubium est, cum sphaerae ipsae octo sint quae mouentur, de quibus secuturus sermo procedet. 5,16 Omnes quoque partes, de quibus constat hic numerus, tales sunt ut ex earum compage plenitudo nascatur. Est enim aut de his quae neque generantur neque generant, de monade et septem, quae qualia sint suo loco plenius explicabitur; aut de duplicato eo qui et generatur et generat, id est quattuor – nam hic numerus quattuor et nascitur de duobus et octo generat –; aut componitur de tribus et quinque, quorum alter primus omnium numerorum impar apparuit; quinarii autem potentiam sequens tractatus adtinget. 5,17 Pythagorici uero hunc numerum iustitiam uocauerunt, quia primus omnium ita soluitur in numeros pariter pares, hoc est in bis quaterna, ut nihilo minus in numeros aeque pariter pares diuisio quoque ipsa soluatur, id est in bis bina. Eadem quoque qualitate contexitur, id est bis bina bis. 5,18 Cum ergo et contextio ipsius pari aequalitate procedat et resolutio aequaliter redeat usque ad monadem, quae diuisionem arithmetica ratione non recipit, merito propter aequalem diuisionem iustitiae nomen accepit; et quia ex supra dictis omnibus apparet quanta et partium suarum et seorsum sua plenitudine nitatur, iure plenus uocatur. 6,1 Superest ut septenarium quoque numerum plenum iure uocitandum ratio in medio constituta persuadeat. Ac primum hoc transire sine admiratione non possumus quod duo numeri qui in se multiplicati uitale spatium uiri fortis includerent ex pari et impari constiterunt. Hoc enim uere perfectum est quod ex horum numerorum permixtione generatur.

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mels, steht. Es sind ja acht Sphären, die sich bewegen; von ihnen wird später noch die Rede sein.46 5,16 Auch sind alle Zahlen, deren Zusammensetzung die Acht ergibt, derart, dass aus der Zusammensetzung Vollkommenheit entsteht. Die Acht besteht nämlich entweder aus Zahlen, die weder hervorgebracht sind noch hervorbringen, nämlich der Eins und der Sieben (deren Wesen an passender Stelle noch näher erläutert wird), oder aus der Verdoppelung der Zahl, die sowohl hervorgebracht ist als auch hervorbringt, nämlich der Vier, die aus zwei mal zwei hervorgeht und die Acht hervorbringt.47 Oder sie resultiert aus der Addition der Drei, der ersten ungeraden aller Zahlen, mit der Fünf, mit deren Eigenschaften wir uns im Weiteren noch beschäftigen werden. 5,17 Die Pythagoreer nannten die Acht »Gerechtigkeit«, weil sie als erste aller Zahlen derart in zwei gleiche Zahlen, also zwei mal vier, teilbar ist, dass das Teilungsergebnis seinerseits wieder in zwei gleiche Zahlen teilbar ist, nämlich zwei mal zwei. Und vermöge derselben Eigenschaft wird sie auch gebildet, nämlich durch die Multiplikation zwei mal zwei mal zwei.48 5,18 Da sie also selbst Produkt von gleichen geraden Zahlen ist und ihre Teilung ebenfalls durch solche Zahlen erfolgt bis hinab zur Eins, die nach den Gesetzen der Arithmetik nicht teilbar ist, erhielt sie wegen dieser Unterteilung in gleiche Teile zu Recht den Namen »Gerechtigkeit«. Und weil aus all unseren obigen Ausführungen hervorgeht, in welchem Maß sie sowohl auf der Vollkommenheit ihrer Teile als auch auf ihrer eigenen Vollkommenheit beruht, wird sie mit Recht vollkommen genannt.

Die Eigenschaften der Sieben 6,1 Es bleibt uns noch, durch einsichtige Erklärungen die Überzeugung zu vermitteln, dass auch die Zahl Sieben zu Recht vollkommen zu nennen ist.49 Zunächst aber bemerken wir voll Staunen, dass die beiden Zahlen, deren Multiplikation die Lebensspanne Scipios, dieses tapferen Mannes, bezeichnet, aus einer geraden und einer ungeraden bestehen. Es ist nämlich etwas dann wahrhaft vollkommen, wenn es aus der Kombination sol-

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Nam impar numerus mas et par femina uocatur. Item arithmetici imparem patris et parem matris appellatione uenerantur. 6,2 Hinc et Timaeus Platonis fabricatorem mundanae animae deum partes eius ex pari et impari, id est duplari et triplari numero, intertexuisse memorauit, ita ut a duplari usque ad octo, a triplari usque ad uiginti septem staret alternatio mutuandi. 6,3 Hi enim primi cybi utrimque nascuntur; siquidem a paribus bis bina, quae sunt quattuor, superficiem faciunt, bis bina bis, quae sunt octo, corpus solidum fingunt, a dispari uero ter terna, quae sunt nouem, superficiem reddunt, et ter terna ter, id est ter nouena, quae sunt uiginti septem, primum aeque cybum alterius partis efficiunt; unde intellegi datur hos duos numeros, octo dico et septem, qui ad multiplicationem annorum perfecti in re publica uiri conuenerunt, solos idoneos ad efficiendam mundi animam iudicatos, qua nihil post auctorem potest esse perfectius. 6,4 Hoc quoque notandum est quod, superius adserentes communem numerorum omnium dignitatem, antiquiores eos superficie et lineis eius omnibusque corporibus ostendimus; procedens autem tractatus inuenit numeros et ante animam mundi fuisse, quibus illam contextam augustissima Timaei ratio, naturae ipsius conscia testis, expressit. 6,5 Hinc est quod pronuntiare non dubitauere sapientes animam esse numerum se mouentem. Nunc uideamus cur septenarius numerus suo seorsum merito plenus habeatur; cuius ut pressius plenitudo noscatur, pri-

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cher Zahlen hervorgeht. Denn die ungeraden Zahlen werden männlich und die geraden weiblich genannt; entsprechend haben die Mathematiker den ungeraden Zahlen den Ehrennamen »Vater« und den geraden den Ehrennamen »Mutter« verliehen.50 6,2 Deswegen sagt auch Platons Timaios, dass der Demiurg die Teile der Weltseele aus geraden und ungeraden Zahlen, nämlich aus deren Verdoppelung beziehungsweise Verdreifachung gewoben habe, und zwar derart, dass er abwechselnd die Reihe von zwei bis acht und von drei bis siebenundzwanzig verwendete.51 6,3 Diese Zahlen ergeben nämlich in beiden Reihen die ersten Kuben: Bei den geraden Zahlen ergibt zwei mal zwei gleich vier die Fläche, und zwei mal zwei mal zwei gleich acht den vollständigen Körper. Analog bildet bei den ungeraden Zahlen drei mal drei gleich neun die Fläche, und drei mal drei mal drei, d.h. drei mal neun gleich siebenundzwanzig, den Kubus.52 So ist es uns möglich zu verstehen, warum man diese beiden Zahlen, nämlich die Sieben und die Acht, deren Produkt die Lebensjahre dieses vollkommenen Staatsmannes ergibt, als einzige als fähig erachtet hat, die Weltseele hervorzubringen, das Vollendetste, was es nach ihrem Schöpfer geben kann.53 6,4 Wir müssen hier daran erinnern, dass wir weiter oben, als wir von der allen Zahlen gemeinsamen Würde gesprochen haben, gezeigt haben, dass sie vor der Fläche und deren Linien und überhaupt allen Körpern existieren.54 Unsere weitere Untersuchung hat dann ergeben, dass die Zahlen auch vor der Weltseele existierten. Dass deren Gewebe aus Zahlen besteht, hat ja die erhabene Lehre des Timaios, jenes wohlinformierten Zeugen der Geheimnisse der Natur, dargelegt.55 6,5 Deshalb haben weise Männer auch nicht gezögert, die Seele als eine sich selbst bewegende Zahl zu bezeichnen.56

Die Bestandteile der Sieben Jetzt müssen wir betrachten, inwiefern die Zahl Sieben aufgrund ihrer eigenen Qualitäten als vollkommen zu gelten hat. Damit sich diese Vollkommenheit noch genauer erschließt, untersuchen wir zuerst die Qualitäten

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mum merita partium de quibus constat, tum demum quid ipse possit inuestigemus. 6,6 Constat septenarius numerus uel ex uno et sex, uel ex duobus et quinque, uel ex tribus et quattuor. Singularum compagum membra tractemus, ex quibus fatebimur nullum alium numerum tam uaria esse maiestate fecundum. 6,7 Ex uno et sex compago prima componitur. Vnum autem, quod monas id est unitas dicitur, et mas idem et femina est, par idem atque impar, ipse non numerus sed fons et origo numerorum. 6,8 Haec monas, initium finisque omnium neque ipsa principii aut finis sciens, ad summum refertur deum eiusque intellectum a sequentium numero rerum et potestatum sequestrat. Nec in inferiore post deum gradu frustra eam desideraueris. Haec illa est mens ex summo enata deo, quae uices temporum nesciens in uno semper quod adest consistit aeuo, cumque, utpote una, non sit ipsa numerabilis, innumeras tamen generum species et de se creat et intra se continet. 6,9 Inde quoque aciem paululum cogitationis inclinans hanc monada reperies ad animam referri. Anima enim, aliena a siluestris contagione materiae, tantum se auctori suo ac sibi debens, simplicem sortita naturam, cum se animandae immensitati uniuersitatis infundat, nullum init tamen cum sua unitate diuortium. Vides ut haec monas orta a prima rerum causa adusque animam ubique integra et semper indiuidua continuationem potestatis obtineat. 6,10 Haec de monade castigatius quam se copia suggerebat. Nec te remordeat quod, cum omni numero praeesse uideatur, in coniunctione

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der Zahlen, aus denen die Sieben besteht, und dann erst ihre eigene Wirkungsmacht. 6,6 Die Zahl Sieben ist wahlweise aus eins und sechs, zwei und fünf oder drei und vier zusammengesetzt. Wir behandeln nun die Glieder dieser einzelnen Kombinationen, und das wird uns zu dem Ergebnis führen, dass keine andere Zahl so reich ist an unterschiedlichen erhabenen Eigenschaften.

Eins und Sechs 6,7 Die erste Zusammenfügung besteht aus der Eins und der Sechs. Die Eins, die Monade, also Einheit, heißt, ist zugleich männlich und weiblich, gleich und ungleich; sie ist selbst keine Zahl, sondern Quelle und Ursprung der Zahlen.57 6,8 Diese Monade ist Anfang und Ende aller Dinge, ohne selbst einen Anfang und ein Ende zu haben. Sie bezeichnet das Wesen des höchsten Gottes und scheidet unser Verständnis von ihm von der Vielzahl der ihm nachgeordneten Dinge und Mächte. Und auch in der Hierarchie unterhalb des höchsten Gottes ist sie aufzufinden. Denn sie ist der Intellekt, der aus dem höchsten Gott hervorgegangen ist, der den Fluss der Zeit nicht kennt und immer in einer unveränderlichen Gegenwart verharrt, und der, als Einheit selbst unzählbar, dennoch die Ideen unzählbarer geschaffener Dinge in sich birgt und aus sich hervorbringt.58 6,9 Blickt man dann in der Hierarchie ein wenig weiter nach unten, bemerkt man, dass auch die Weltseele von der Monade bestimmt wird. Die Seele kennt nämlich keine Verquickung mit der ungeformten Materie und ist nur ihrem Urheber und sich selbst verpflichtet. Sie hat eine einfache Natur, und wenn sie sich in das unermessliche Universum zu dessen Beseelung ergießt, erleidet sie dennoch keine Scheidung von ihrer Einheit. Du siehst, wie die Monade, hervorgegangen aus der ersten Ursache aller Dinge, bis hinab zur Weltseele ununterbrochen ihre Kraft bewahrt und allenthalben ganz und unteilbar bleibt.59 6,10 So viel über die Monade, kürzer als es die Fülle des Stoffes nahelegt. Und es sollte dich auch nicht beunruhigen, dass von ihr vor allem im Zusammenhang mit der Sieben die Rede ist, obwohl sie doch über jeder

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praecipue septenarii praedicetur: nulli enim aptius iungitur monas incorrupta quam uirgini. 6,11 Huic autem numero, id est septenario, adeo opinio uirginitatis inoleuit ut Pallas quoque uocitetur. Nam uirgo creditur quia nullum ex se parit numerum duplicatus qui intra denarium coartetur, quem primum limitem constat esse numerorum; Pallas ideo quia ex solius monadis fetu et multiplicatione processit, sicut Minerua sola ex uno parente nata perhibetur. 6,12 Senarius uero, qui cum uno coniunctus septenarium facit, uariae ac multiplicis religionis et potentiae est, primum quod solus ex omnibus numeris qui intra decem sunt de suis partibus constat. 6,13 Habet enim medietatem et tertiam partem et sextam partem, et est medietas tria, tertia pars duo, sexta pars unum, quae omnia simul sex faciunt. Habet et alia suae uenerationis indicia, sed, ne longior faciat sermo fastidium, unum ex omnibus eius officium persequemur; quod ideo praetulimus quia hoc commemorato non senarii tantum sed et septenarii pariter dignitas adstruetur. 6,14 Humano partui frequentiorem usum nouem mensium certo numerorum modulamine natura constituit, sed ratio sub adsciti senarii numeri multiplicatione procedens etiam septem menses compulit usurpari. 6,15 Quam breuiter absoluteque dicemus. Duos esse primos omnium numerorum cybos, id est a pari octo, ab impari uiginti septem, et esse imparem marem, parem feminam superius expressimus. Horum uterque, si per senarium numerum multiplicetur, efficiunt dierum numerum qui septem mensibus explicantur. 6,16 Coeant enim numeri, mas ille qui memoratur et femina, octo scilicet et uiginti septem, pariunt ex se quinque et triginta. Haec sexies multiplicata creant decem et ducentos, qui numerus dierum mensem septimum

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Zahl zu stehen scheint. Denn in ihrer Reinheit geht die Monade mit keiner anderen Zahl eine passendere Verbindung ein als mit der jungfräulichen Sieben. 6,11 An der Zahl Sieben nämlich haftet die Vorstellung der Jungfräulichkeit in einem solchen Maße, dass sie auch Pallas genannt wird. Als jungfräulich wird sie betrachtet, weil ihre Duplikation keine Zahl innerhalb der ersten Dekade hervorbringt, welche bekanntlich die erste Grenze der Zahlen ist, und als Pallas, weil sie alleine durch Abstammung und Multiplikation aus der Monade hervorgeht, wie ja Minerva auch nur Spross eines Elternteils gewesen sein soll.60 6,12 Die Zahl Sechs, deren Verbindung mit der Eins die Sieben ergibt, ist eine Zahl von vielfältiger Macht und Heiligkeit, in erster Linie, weil sie als einzige von allen Zahlen der ersten Dekade gleich der Summe ihrer Teiler ist. 6,13 Sie hat nämlich die Teiler zwei, drei und sechs; die Zweiteilung ergibt drei, die Dreiteilung zwei, die Teilung durch sechs eins, und die Addition dieser Werte ergibt wieder sechs.61 Sie hat noch weitere Eigenschaften, auf die sich ihre Verehrung gründet; um aber nicht durch Weitschweifigkeit Überdruss zu erregen, beschränken wir uns vorzugsweise auf eine, die nicht nur die Würde der Sechs, sondern gleichermaßen auch die der Sieben hervorhebt:62 6,14 Die Natur hat für die menschliche Schwangerschaft aufgrund einer bestimmten Zahlenharmonie eine reguläre Frist von neun Monaten festgesetzt; jedoch kann eine mit der Multiplikation der Zahl Sechs zusammenhängende Ursache auch ihre Beschränkung auf sieben Monate erzwingen. 6,15 Wir stellen sie hier kurz und klar dar. Wir haben oben gesagt, dass die beiden ersten Kuben in der geradzahligen Reihe die Acht und in der ungeraden Reihe die Siebenundzwanzig sind, und dass die ungeraden Zahlen männlich und die geraden weiblich sind. Multipliziert man die Summe dieser beiden Kuben mit sechs, ergibt das 210, also die Zahl von Tagen, die sieben Monate ausmachen. 6,16 Verbinden sich nämlich die beiden genannten Zahlen, also die männliche Siebenundzwanzig und die weibliche Acht, bringen sie die Zahl Fünfunddreißig hervor. Diese multipliziert mit sechs ergibt die Zahl 210,

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claudit. Ita est ergo natura fecundus hic numerus ut primam humani partus perfectionem quasi arbiter quidam maturitatis absoluat. 6,17 Discretio uero sexus futuri, sicut Hippocrates refert, sic in utero dinoscitur. Aut enim septuagesimo aut nonagesimo die conceptus mouetur. Dies ergo motus, quicumque fuerit de duobus, ter multiplicatus aut septimum aut nonum explicat mensem. 6,18 Haec de prima septenarii copulatione libata sint. Secunda de duobus et quinque est. Ex his duàc, quia post monada prima est, primus est numerus. Haec ab illa omnipotentia solitaria in corporis intellegibilis lineam prima defluxit, ideo et ad uagas stellarum et luminum sphaeras refertur quia hae quoque ab illa quae aplanes dicitur in numerum scissae et in uarii motus contrarietatem retortae sunt. Hic ergo numerus cum quinario aptissime iungitur, cum hic ad errantes, ut diximus, ad caeli zonas ille referatur, sed ille ratione scissionis, hic numero. 6,19 Illa uero quinario numero proprietas excepta potentiae ultra ceteras eminentis euenit quod solus omnia quaeque sunt quaeque uidentur esse complexus est. Esse autem dicimus intellegibilia, uideri esse corporalia omnia, seu diuinum corpus habeant seu caducum. Hic ergo numerus simul omnia et supera et subiecta designat. 6,20 Aut enim deus summus est aut mens ex eo nata, in qua rerum species continentur, aut mundi anima, quae animarum omnium fons est, aut caelestia sunt usque ad nos, aut terrena natura est: et sic quinarius rerum omnium numerus impletur.

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also die Anzahl von Tagen in sieben Monaten. Derart fruchtbar ist somit diese Zahl von Natur aus, dass sie die frühestmögliche Reife des menschlichen Fötus bestimmt, gleichsam als läge bei ihr die Entscheidung über dessen Vollendung. 6,17 Eine Vorherbestimmung des Geschlechts des Embryos im Uterus ist, wie Hippokrates schreibt, auf folgende Weise möglich. Entweder am siebzigsten oder am neunzigsten Schwangerschaftstag beginnt der Embryo sich zu regen. Die entsprechende Zahl, multipliziert mit drei ergibt den Geburtstermin entweder im siebenten oder im neunten Monat.63

Zwei und Fünf 6,18 So weit unser kurzer Überblick über die erste Zahlenverbindung, die sieben ergibt. Die nächste ist die von zwei und fünf. Von diesen ist die Dyade, weil sie unmittelbar nach der Monade kommt, die erste Zahl.64 Sie emaniert als erste aus jener allmächtigen Einheit und bildet die Linie eines intellegiblen Körpers.65 Sie steht auch in Beziehung zu den Sphären der Planeten und der Lichtgestirne, weil durch deren Trennung von der sogenannten Fixsternsphäre die Dualität entstand66 und sie in jeweils unterschiedlich schnelle und zur Fixsternsphäre gegenläufige Drehungen versetzt wurden.67 Die Zahl Zwei ist somit eng mit der Fünf verbunden, weil die Zwei, wie wir gesagt haben, die Planeten symbolisiert, die Fünf dagegen die himmlischen Klimazonen; die Zwei tut das freilich unter dem Aspekt der Trennung, die Fünf unter dem der Anzahl.68 6,19 Dass die Zahl Fünf ungewöhnliche und die anderer Zahlen überragende Fähigkeiten besitzt, rührt daher, dass sie alle Dinge, die sind und die, die zu sein scheinen, umfasst. Mit sein meinen wir die intelligiblen Dinge, mit zu sein scheinen alles Körperhafte, gleichgültig ob der Körper göttlich oder vergänglich ist. Deswegen bezeichnet diese Zahl gleichermaßen die Gesamtheit alles Überirdischen und Irdischen. 6,20 Es sind der höchste Gott, der aus ihm hervorgegangene Intellekt, der in sich die Ideen der Dinge birgt, die Weltseele, Quelle aller Seelen,69 sämtliche Himmelskörper bis hinab zu uns und schließlich die irdische Welt. So bezeichnet die Fünf die Totalität aller Dinge.70

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6,21 De secunda septenarii numeri coniunctione dicta haec pro affectatae breuitatis necessitate sufficiant. Tertia est de tribus et quattuor, quae quantum ualeat reuoluamus. 6,22 Geometrici corporis ab impari prima planities in tribus lineis constat (his enim trigonalis forma concluditur); a pari uero prima in quattuor inuenitur. 6,23 Item scimus secundum Platonem, id est secundum ipsius ueritatis arcanum, illa forti inter se uinculo colligari quibus interiecta medietas praestat uinculi firmitatem. Cum uero medietas ipsa geminatur, ea quae extima sunt non tenaciter tantum, sed etiam insolubiliter uinciuntur. Primo ergo ternario contigit numero ut inter duo summa medium quo uinciretur acciperet; quaternarius uero duas medietates primus omnium nactus est. 6,24 Quas ab hoc numero deus mundanae molis artifex conditorque mutuatus insolubili inter se uinculo elementa deuinxit, sicut in Timaeo Platonis adsertum est, non aliter tam controuersa sibi ac repugnantia et natura communionem abnuentia permisceri – terram dico et ignem – potuisse et per tam iugabilem competentiam foederari, nisi duobus mediis aeris et aquae nexibus uincirentur. 6,25 Ita enim elementa inter se diuersissima opifex tamen deus ordinis opportunitate conexuit ut facile iungerentur. Nam cum binae essent in singulis qualitates, talem unicuique de duabus alteram dedit ut in eo cui adhaereret cognatam sibi et similem reperiret. 6,26 Terra est sicca et frigida, aqua uero frigida et humecta est. Haec duo elementa, licet sibi per siccum humectumque contraria sint, per frigidum tamen commune iunguntur. Aer humectus et calidus est, et cum aquae frigidae contrarius sit calore, conciliatione tamen socii copulatur

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Drei, Vier und die Kohäsion der Elemente 6,21 Das mag über die zweite Verbindung, welche die Zahl Sieben ergibt, mit Rücksicht auf die notwendige und beabsichtigte Kürze genügen. Die dritte Verbindung ist die von drei und vier, deren Qualitäten wir jetzt erklären.71 6,22 Die erste Fläche eines geometrischen Körpers besteht bei den ungeraden Zahlen aus drei Linien (durch sie nämlich wird ein Dreieck begrenzt), bei den geraden Zahlen aus vieren. 6,23 Nun wissen wir von Platon, dem Heiligtum der Wahrheit selbst, dass diejenigen Dinge durch ein festes Band zusammengehalten werden, denen ein eingefügtes Mittelglied ihre Festigkeit verleiht.72 Wird dieses Mittelglied verdoppelt, werden die Extreme nicht nur haltbar, sondern unauflöslich miteinander verbunden. Die Zahl Drei hat nun als erste die Eigenschaft, ein Mittelglied zwischen beiden Extremen zu besitzen, durch das sie gebunden wird; die Zahl Vier aber hat als erste von allen zwei Mittelglieder. 6,24 Diese Mittelglieder hat der Demiurg, der Schöpfer der Welt, sich von der Vier erborgt und die vier Elemente mit einem unauflösbaren Band untereinander verbunden, wie in Platons Timaios gesagt wird: Einander so gegensätzliche, widerstreitende und von Natur aus einer Vereinigung widerstrebende Elemente wie Erde und Feuer hätten sich niemals in so harmonischer Proportion verbinden lassen, wenn sie nicht durch die beiden Mittelglieder Luft und Wasser gebunden worden wären.73 6,25 Die untereinander grundverschiedenen Elemente ordnete der Schöpfergott nämlich so passend an, dass sie sich leicht miteinander verbinden ließen: Da jedes Element zwei Eigenschaften besaß, schuf er jeweils eine davon so, dass sich im benachbarten Element eine verwandte und ähnliche Eigenschaft fand. 6,26 Erde ist trocken und kalt, Wasser ist kalt und feucht; folglich werden diese beiden Elemente, mögen sie auch durch die Eigenschaften »trocken« und »feucht« im Gegensatz stehen, miteinander durch die Eigenschaft »kalt« verbunden. Luft ist feucht und heiß und somit gegensätzlich zur Kälte des Wassers, aber dennoch durch die gemeinsame Eigenschaft »feucht« mit ihm verbunden. Und Feuer, heiß und trocken, ist vermöge

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humoris. Super hunc ignis, cum sit calidus et siccus, humorem quidem aeris respuit siccitate, sed conectitur per societatem caloris. 6,27 Et ita fit ut singula quaeque elementorum duo sibi hinc inde uicina singulis qualitatibus uelut quibusdam amplectantur ulnis: aqua terram frigore, aerem sibi nectit humore; aer aquae humecto simili et igni calore sociatur; ignis aeri miscetur ut calido, terrae iungitur siccitate; terra ignem sicco patitur, aquam frigore non respuit. 6,28 Haec tamen uarietas uinculorum, si elementa duo forent, nihil inter ipsa firmitatis habuisset; si tria, minus quidem ualido, aliquo tamen nexu uincienda nodaret; inter quattuor uero insolubilis colligatio est, cum duae summitates duabus interiectionibus uinciuntur. Quod erit manifestius si in medio posuerimus ipsam continentiam sensus de Timaeo Platonis excerptam. 6,29 »Diuini decoris, inquit, ratio postulabat talem fieri mundum qui et uisum pateretur et tactum. Constabat autem neque uideri aliquid posse sine ignis beneficio neque tangi sine solido et solidum nihil esse sine terra. 6,30 Vnde omne mundi corpus de igne et terra instituere fabricator incipiens uidit duo conuenire sine medio colligante non posse, et hoc esse optimum uinculum quod et se pariter et a se liganda deuinciat; unam uero interiectionem tunc solum posse sufficere cum superficies sine altitudine uincienda est; at ubi artanda uinculis est alta dimensio, nodum nisi gemina interiectione non necti.

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seiner Trockenheit mit der Feuchte der Luft unverträglich, verbindet sich mit ihr aber durch die beiden gemeinsame Hitze.74 6,27 Und so kommt es, dass jedes Element jeweils zwei anderen Elementen aufgrund einer bestimmten Eigenschaft beiderseits benachbart ist und diesen gleichsam den Arm darbietet: Das Wasser zieht die Erde vermöge der Kälte an sich und die Luft vermöge der Feuchte; die Luft gesellt sich dem Wasser wegen ähnlicher Feuchte und dem Feuer wegen der gemeinsamen Wärme; das Feuer vereinigt sich mit der Luft aufgrund der Wärme und mit der Erde aufgrund der Trockenheit; die Trockenheit der Erde verträgt sich mit dem Feuer und weist auch das Wasser nicht wegen dessen Kälte ab. 6,28 Wenn es allerdings nur zwei Elemente gäbe, besäßen diese unterschiedlichen Bindungen keinerlei Festigkeit; gäbe es drei, existierte ein gewisses Band zwischen den zu verbindenden Elementen, allerdings ein zu schwaches; unter vier Elementen dagegen kommt eine unauflösbare Verbindung zustande, wenn die beiden Extreme durch zwei Mittelglieder gebunden werden. Das wird klarer, wenn wir den Text aus Platons Timaios vorlegen, der sich in diesem Sinne äußert:75 6,29 »Die Vernunft, die der Schönheit des Göttlichen innewohnt, verlangte es, dass die Welt so erschaffen werde, dass sie für Gesichts- und Tastsinn zugänglich sei. Es war aber klar, dass nichts sichtbar sein konnte ohne Hilfe des Feuers, nichts berührbar ohne feste Materie, und Materie nicht existieren konnte ohne Erde. 6,30 Als nun der Demiurg sich anschickte, den ganzen Weltenkörper aus Erde und Feuer zusammenzusetzen, sah er, dass die beiden Elemente ohne Hilfe von Zwischengliedern nicht zu verbinden seien und dass das beste Band dasjenige sei, das sich selbst und das von ihm zu Verknüpfende gleichermaßen zusammenbinde. Ein einziges Zwischenglied aber genüge nur dann, wenn Flächen ohne Höhe zu binden seien; wenn auch die Dimension der Höhe zu binden sei, ergebe sich nur mit doppelten Zwischengliedern eine Verknüpfung. 6,31 Daher hat er Luft und Wasser zwischen Feuer und Erde eingefügt, und so durchzieht alle Dinge eine einzige harmonische Proportion, welche die unterschiedlichen Elemente eben durch die Symmetrie ihrer Unterschiede verbindet.«

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6,31 Inde aerem et aquam inter ignem terramque contexuit, et ita per omnia una et sibi conueniens iugabilis competentia cucurrit, elementorum diuersitatem ipsa differentiarum aequalitate consocians.« 6,32 Nam quantum interest inter aquam et aerem causa densitatis et ponderis, tantundem inter aerem et ignem est. Et rursus quod interest inter aerem et aquam causa leuitatis et raritatis, hoc interest inter aquam et terram. Item quod interest inter terram et aquam causa densitatis et ponderis, hoc interest inter aquam et aerem, et quod inter aquam et aerem, hoc inter aerem et ignem. Et contra quod interest inter ignem et aerem tenuitatis leuitatisque causa, hoc inter aerem et aquam est, et quod est inter aerem et aquam, hoc inter aquam intellegitur et terram. 6,33 Nec solum sibi uicina et cohaerentia comparantur, sed eadem alternis saltibus custoditur aequalitas. Nam quod est terra ad aerem, hoc est aqua ad ignem, et quotiens uerteris, eandem reperies iugabilem competentiam. Ita ex ipso quo inter se sunt aequabiliter diuersa sociantur. 6,34 Haec eo dicta sunt ut aperta ratione constaret neque planitiem sine tribus neque soliditatem sine quattuor posse uinciri. Ergo septenarius numerus geminam uim obtinet uinciendi, quia ambae partes eius uincula prima sortitae sunt, ternarius cum una medietate, quaternarius cum duabus. Hinc in alio loco eiusdem somnii Cicero de septenario dicit: »qui numerus rerum omnium fere nodus est.« 6,35 Item omnia corpora aut mathematica sunt alumna geometriae aut talia quae uisum tactumue patiantur. Horum priora tribus incrementorum gradibus constant. Aut enim linea crescit ex puncto, aut ex linea superficies, aut ex planitie soliditas. Altera uero corpora quattuor elementorum collato tenore in robur substantiae corpulentae concordi concretione coalescunt. 6,36 Nec non omnium corporum tres sunt dimensiones: longitudo, latitudo, profunditas; termini adnumerato effectu ultimo quattuor: punc-

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6,32 Denn zwischen Wasser und Luft besteht hinsichtlich ihrer Dichte und ihres Gewichtes ein ähnlicher Unterschied wie zwischen Luft und Feuer. Und der Unterschied zwischen Luft und Wasser hinsichtlich Leichtigkeit und Konsistenz wiederum besteht ebenso zwischen Wasser und Erde. Ebenso entspricht der Unterschied zwischen Erde und Wasser hinsichtlich Dichte und Gewicht dem zwischen Wasser und Luft, und der Unterschied zwischen Wasser und Luft dem zwischen Luft und Feuer. Im Gegenzug entspricht der Unterschied zwischen Feuer und Luft hinsichtlich Feinheit und Leichtigkeit dem zwischen Luft und Wasser, und der zwischen Luft und Wasser einsichtigerweise dem zwischen Wasser und Erde. 6,33 Und nicht nur benachbarte und zusammenhängende Elemente bilden Paare, sondern die Symmetrie wird auch bewahrt, wenn man jeweils ein Element überspringt. Denn das Verhältnis von Erde zu Luft entspricht dem von Wasser zu Feuer, und auch in umgekehrter Blickrichtung wird man dieselbe harmonische Proportion finden. So werden die Elemente eben durch die Gleichförmigkeit der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede aneinandergebunden.76

Die doppelte Bindekraft der Sieben 6,34 Ziel der vorstehenden Darlegung war, mit vollständiger Klarheit zu zeigen, dass eine Fläche nur durch die Zahl Drei gebunden werden kann und ein Körper nur durch die Zahl Vier. Folglich entfaltet die Zahl Sieben eine doppelte Bindewirkung, weil ihre beiden Bestandteile die elementaren Bande besitzen, die drei mit einem Mittelglied, die Vier mit zweien. Deswegen sagt Cicero an einer anderen Stelle von Scipios Traum über die Sieben: »eine Zahl, die gleichsam der Knoten aller Dinge ist«.77 6,35 Ferner sind alle Körper entweder mathematische, das heißt Geschöpfe der Geometrie, oder solche, die sicht- und berührbar sind. Die ersteren sind Ergebnis einer dreistufigen Entwicklung: die Linie erwächst aus dem Punkt, die Fläche aus der Linie und der Körper aus der Fläche.78 Die letzteren wachsen aufgrund der Kohäsionskraft der vier Elemente in harmonischer Entwicklung zur festen körperlichen Substanz zusammen.79 6,36 Und alle Körper haben drei Dimensionen, Länge, Breite, Höhe; aus diesen ergeben sich im Endeffekt die vier Grenzen Punkt, Linie, Ober-

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tum, linea, superficies et ipsa soliditas. Item, cum quattuor sint elementa ex quibus constant corpora – terra, aqua, aer et ignis –, tribus sine dubio interstitiis separantur, quorum unum est a terra usque ad aquam, ab aqua usque ad aerem sequens, tertium ab aere usque ad ignem. 6,37 Et a terra quidem usque ad aquam spatium Necessitas a physicis dicitur, quia uincire et solidare creditur quod est in corporibus lutulentum; unde Homericus censor, cum Graecis imprecaretur: »uos omnes«, inquit, »in terram et aquam resoluamini«, in id dicens quod est in natura humana turbidum, quo facta est homini prima concretio. 6,38 Illud uero quod est inter aquam et aerem Harmonia dicitur, id est apta et consonans conuenientia, quia hoc spatium est quod superioribus inferiora conciliat et facit dissona conuenire. 6,39 Inter aerem uero et ignem Oboedientia dicitur quia, sicut lutulenta et grauia superioribus Necessitate iunguntur, ita superiora lutulentis Oboedientia copulantur, Harmonia media coniunctionem utrisque praestante. 6,40 Ex quattuor igitur elementis et tribus eorum interstitiis absolutionem corporum constare manifestum est. Ergo hi duo numeri, tria dico et quattuor, tam multiplici inter se cognationis necessitate sociati, efficiendis utrisque corporibus consensu ministri foederis obsequuntur. 6,41 Nec solum explicandis corporibus hi duo numeri collatiuum praestant fauorem, sed quaternarium quidem Pythagorei, quem tetrakt‘n uocant, adeo quasi ad perfectionem animae pertinentem inter arcana uenerantur, ut ex eo et iuris iurandi religionem sibi fecerint: oŒ mÄ t‰n ÅmetËr¯ yuqî paradÏnta tetrakt‘n per qui nostrae animae numerum dedit ipse quaternum.

6,42 Ternarius uero adsignat animam tribus suis partibus absolutam, quarum prima est ratio quam logistikÏn appellant, secunda animosi-

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fläche und der konkrete Körper selbst. Ebenso werden, da es ja vier Elemente sind, aus denen die Körper bestehen, nämlich Erde, Wasser, Luft und Feuer, diese zweifellos von drei Intervallen getrennt, einem zwischen Erde und Wasser, einem anderen zwischen Wasser und Luft und einem dritten zwischen Luft und Feuer. 6,37 Das Intervall zwischen Erde und Wasser wird von den Naturphilosophen »Not-wendigkeit« genannt,80 weil ihm die Aufgabe zugeschrieben wird, das Gemenge aus Erde und Wasser in den Körpern zu binden und zu festigen. Deshalb sagt Homers Menelaos, der Kritiker der Griechen, um sie zu verwünschen »Ihr sollt Euch alle in Erde und Wasser auflösen«;81 damit benennt er die erdig-feuchte Substanz, aus welcher der menschliche Körper seine erste Form erhält. 6,38 Der Zwischenraum zwischen Wasser und Luft heißt »Harmonie«, das bedeutet das passende und stimmige Zusammenspiel; das ist nämlich der Zwischenraum, der das Obere mit dem Unteren zusammenführt und Dissonanzen in Einklang bringt. 6,39 Der Zwischenraum zwischen Luft und Feuer heißt »Gehorsam«. Denn wie die »Notwendigkeit« das Schwere und Erdhafte mit den höheren Elementen verbindet, so verbindet der »Gehorsam« die höheren Elemente mit dem Erdhaften, wobei die »Harmonie« als Mittlerin die Verbindung zwischen beidem gewährleistet. 6,40 Es steht also fest, dass ein vollständiger Körper aus den vier Elementen und deren drei Zwischenräumen besteht. Also wirken die beiden Zahlen Drei und Vier, die durch so viele enge Bande miteinander verknüpft sind, in einem Bündnis gegenseitiger Unterstützung bei der Erzeugung der beiden Arten von Körpern82 zusammen. 6,41 Und nicht nur bei der Entwicklung der Körper gewähren sie sich diese gegenseitige Unterstützung. Vielmehr genießt unter den Mysterien der Pythagoreer die Tetrade, die sie tetrakt‘c nennen, eine solche Verehrung wegen ihrer Bedeutung für die Vervollkommnung der Seele, dass sich sogar ihre heilige Schwurformel auf sie gründet: oŒ mÄ t‰n ÅmetËr¯ yuqî paradÏnta tetrakt‘n, »bei dem, der unserer Seele die Tetrade gegeben hat«.83 6,42 Die Zahl Drei ihrerseits charakterisiert die Seele, die insgesamt aus drei Teilen besteht; der erste ist die Vernunft, auf Griechisch logis-

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tas quam jumikÏn uocant, tertia cupiditas quae ‚pijumhtikÏn nuncupatur. 6,43 Item nullus sapientum animam ex symphoniis quoque musicis constitisse dubitauit. Inter has non paruae potentiae est quae dicitur diÄ pas¿n. Haec constat ex duabus, id est diÄ tessàrwn et diÄ pËnte. Fit autem diÄ pËnte ex hemiolio et fit diÄ tessàrwn ex epitrito; et est primus hemiolius tria et primus epitritus quattuor. Quod quale sit suo loco planius exsequemur. 6,44 Ergo ex his duobus numeris constat diÄ tessàrwn et diÄ pËnte, ex quibus diÄ pas¿n symphonia generatur; unde Vergilius, nullius disciplinae expers, plene et per omnia beatos exprimere uolens, ait »o terque quaterque beati.« 6,45 Haec de partibus septenarii numeri sectantes compendia diximus. De ipso quoque pauca dicemus. Hic numerus ·ptàc nunc uocatur, antiquato usu primae litterae; apud ueteres enim septàc uocitabatur, quod Graeco nomine testabatur uenerationem debitam numero. Nam primo omnium hoc numero anima mundana generata est, sicut Timaeus Platonis edocuit. 6,46 Monade enim in uertice locata terni numeri ab eadem ex utraque parte fluxerunt, ab hac pares, ab illa impares; id est post monadem a parte altera duo, inde quattuor, deinde octo, ab altera uero parte tria, deinde nouem, et inde uigenti septem: ex his numeris facta contextio generationem animae imperio creatoris effecit.* 6,47 Non parua ergo hinc potentia numeri huius ostenditur quia mundanae animae origo septem finibus continetur, septem quoque uagantium sphaerarum ordinem illi stelliferae et omnes continenti subiecit artifex

* Siehe Abbildung 1, S. 367

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tikÏn, der zweite der Mut, genannt jumikÏn, der dritte das Begehren, ‚pijumhtikÏn.84

6,43 Es hat auch keiner unter den Weisen jemals bezweifelt, dass die Seele aus musikalischen Akkorden besteht. Von diesen ist derjenige von großer Wirkungsmacht, den man die Oktave (diÄ pas¿n) nennt. Sie besteht aus zwei Intervallen, der Quarte (diÄ tessàrwn) und der Quinte (diÄ pËnte). Die Quinte beruht auf dem Hemiolius, dem Verhältnis 3 : 2, die Quarte auf dem Epitritus, dem Verhältnis 4 : 3, erstere enthält also die Zahl Drei, letztere die Zahl Vier. Nähere Erläuterungen hierzu geben wir an passender Stelle.85 6,44 Die Quarte und die Quinte beruhen also auf den Zahlen, aus denen die Oktave hervorgeht. Deshalb sagt Vergil, der Meister in allen Wissenschaften, wenn er Menschen charakterisieren will, die vollkommen und in jeder Hinsicht glücklich sind: »o ihr drei- und vierfach glücklichen«.86 6,45 Diese kurzen Anmerkungen haben sich mit den Bestandteilen der Zahl Sieben beschäftigt; nun folgen einige über die Sieben selbst.87

Die ontologische Bedeutung der Sieben Diese Zahl heißt heute, nachdem ihr erster Buchstabe, das S, außer Gebrauch geraten ist, ·ptàc; bei den Alten hieß sie nämlich septàc, und dieses griechische Wort bezeugt die Verehrung, die der Zahl geschuldet ist. Denn zunächst wurde eben durch diese Zahl als erster unter allen die Weltseele hervorgebracht, wie Platons Timaios uns lehrt.88 6,46 Nachdem die Monade auf der Spitze eines Lambda platziert war, emanierten von da auf seinen beiden Seiten je drei Zahlen, hier die geraden, dort die ungeraden, also bei den geraden die Zwei, die Vier und die Acht, bei den ungeraden die Drei, die Neun und die Siebenundzwanzig, und die Verknüpfung dieser Zahlen bewirkte nach dem Willen des Schöpfers die Entstehung der Weltseele.89 6,47 Die große Macht dieser Zahl zeigt sich somit daran, dass die Weltseele aus sieben bestimmten Teilen hervorgeht.90 Sieben Planetensphären sind es auch, welche die kunstreiche Voraussicht des Demiurgen der Fixsternsphäre, die alle anderen einschließt, untergeordnet hat, damit sie die

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fabricatoris prouidentia, quae et superioris rapidis motibus obuiarent et inferiora omnia gubernarent. 6,48 Lunam quoque quasi ex illis septimam numerus septenarius mouet cursumque eius ipse dispensat. Quod cum multis modis probetur, ab hoc incipiat ostendi: 6,49 luna octo et uiginti prope diebus totius zodiaci ambitum conficit. Nam etsi per triginta dies ad solem a quo profecta est remeat, solos tamen fere uiginti octo in tota zodiaci circumitione consumit, reliquis solem, qui de loco in quo eum reliquit accesserat, comprehendit. 6,50 Sol enim unum de duodecim signis integro mense metitur. Ponamus ergo, sole in prima parte Arietis constituto, ab ipsius, ut ita dicam, orbe emersisse lunam, quod eam nasci uocamus. Haec post uiginti septem dies et horas fere octo ad primam partem Arietis redit. Sed illic non inuenit solem: interea enim et ipse progressionis suae lege ulterius accessit, et ideo ipsa necdum putatur eo unde profecta fuerat reuertisse, quia oculi nostri tunc non a prima parte Arietis, sed a sole eam senserant processisse. Hunc ergo diebus reliquis, id est duobus plus minusue, consequitur, et tunc orbi eius denuo succedens ac denuo inde procedens rursus dicitur nasci. 6,51 Inde fere numquam in eodem signo bis continuo nascitur nisi in Geminis, ubi hoc non numquam euenit, quia dies in eo sol duos supra triginta altitudine signi morante consumit; rarissimo in aliis, si circa primam signi partem a sole procedat. 6,52 Huius ergo uiginti octo dierum numeri septenarius origo est. Nam si ab uno usque ad septem quantum singuli numeri exprimunt tantum antecedentibus addendo procedas, inuenies uiginti octo nata de septem.

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schnelle Bewegung der übergeordneten Sphäre ausbalancieren und alles ihnen Untergeordnete regieren.91

Die astronomische Bedeutung der Sieben 6,48 Auch der Mond als siebter der Planeten wird durch die Zahl Sieben in Bewegung versetzt, und seine Bahn wird von ihr bestimmt.92 Dafür gibt es vielerlei Beweise; wir beginnen mit Folgendem: 6,49 Der Mond vollendet binnen etwa 28 Tagen seine gesamte Bahn durch den Zodiakus. Denn mag er auch erst nach 30 Tagen zur Sonne, von der er ausgegangen ist, zurückkehren, braucht er davon nur 28 für einen vollständigen Durchlauf durch den Zodiakus; während der übrigen beiden Tage holt er die Sonne wieder ein, die von der Stelle, wo er sie verlassen hat, weiter vorgerückt ist. 6,50 Die Sonne durchmisst nämlich in einem ganzen Monat eines der zwölf Sternzeichen. Nehmen wir also an, die Sonne stünde im vorderen Abschnitt des Widders und der Mond sei sozusagen aus ihrer Scheibe aufgetaucht, was wir als seine »Geburt« bezeichnen. Er kehrt dann nach 27 Tagen und etwa acht Stunden zum Anfang des Widders zurück, trifft dort aber noch nicht auf die Sonne, weil diese nach den Regeln ihrer eigenen Bewegung ebenfalls weiter vorgerückt ist. Und deshalb haben wir den Eindruck, der Mond sei noch nicht zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt, weil dieser für unsere Wahrnehmung nicht im Anfang des Widders, sondern in der Sonne lag. Er schließt also in den verbleibenden rund zwei Tagen zu ihr auf und tritt in ihren Nimbus ein, um danach wieder aus ihm hervorzutreten und, wie man sagt, »neu geboren« zu werden.93 6,51 Deswegen wird der neue Mond fast nie zweimal hintereinander im selben Sternzeichen »geboren«, außer in den Zwillingen, wo es manchmal geschieht, weil die Sonne, durch die hohe Position des Sternzeichens verlangsamt,94 32 Tage in ihm verweilt. Sehr selten in anderen Sternzeichen, nämlich dann, wenn der Mond ziemlich am Anfang eines Sternzeichens aus der Sonnenscheibe hervortritt. 6,52 Der Ursprung dieser Zahl von 28 Tagen ist also die Sieben. Denn wenn man von der Eins bis zur Sieben die einzelnen Zahlenwerte addiert, kommt man darauf, dass die Achtundzwanzig aus der Sieben geboren ist.95

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6,53 Hunc etiam numerum, qui in quater septenos aequa sorte digeritur, ad totam zodiaci latitudinem emetiendam remetiendamque consumit. Nam septem diebus ab extremitate septentrionalis orae oblique per latum meando ad medietatem latitudinis peruenit – qui locus appellatur eclipticus –, septem sequentibus a medio ad imum australe delabitur, septem aliis rursus ad medium obliquata conscendit, ultimis septem septentrionali redditur summitati. Ita isdem quater septenis diebus omnem zodiaci et longitudinem et latitudinem circum perque discurrit. 6,54 Similibus quoque dispensationibus hebdomadum luminis sui uices sempiterna lege uariando disponit. Primis enim septem usque ad medietatem uelut diuisi orbis excrescit, et diqÏtomoc tunc uocatur; secundis orbem totum renascentes ignes colligendo iam complet, et plena tunc dicitur; tertiis diqÏtomoc rursus efficitur cum ad medietatem decrescendo contrahitur; quartis ultima luminis sui diminutione tenuatur. 6,55 Septem quoque permutationibus, quas fàseic uocant, toto mense distinguitur: cum nascitur, cum fit diqÏtomoc, et cum fit Çmf–kurtoc, cum plena, et rursus Çmf–kurtoc, ac denuo diqÏtomoc, et cum ad nos luminis uniuersitate priuatur. 6,56 >Amf–kurtoc est autem cum supra diametrum dichotomi antequam orbis conclusione cingatur uel de orbe iam minuens inter medietatem ac plenitudinem insuper mediam luminis curuat eminentiam. 6,57 Sol quoque ipse, de quo uitam omnia mutuantur, septimo signo uices suas uariat. Nam a solstitio hiemali ad aestiuum solstitium septimo peruenit signo, et a tropico uerno usque ad autumnale tropicum septimi signi peragratione perducitur.

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6,53 Die Zahl von 28 Tagen, die in vier gleiche Teile zu je sieben teilbar ist, braucht der Mond, um den Zodiakus in seiner ganzen Ausdehnung zu durchmessen und zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren.96 Denn innerhalb von sieben Tagen wandert der Mond von seinem äußersten Punkt am nördlichen Horizont quer über den Himmel zum Mittelpunkt seiner Bahn, der sogenannten »ekliptischen Position«;97 in weiteren sieben Tagen steigt er von da zu seinem südlichen Tiefpunkt ab, in nochmals sieben Tagen kehrt er zurück und steigt wieder zum Höhepunkt seiner Bahn; während der letzten sieben Tage kehrt er zu seinem äußersten Punkt im Norden zurück. So durchquert er binnen vier mal sieben Tagen die ganze Länge und Breite des Zodiakus. 6,54 Nach einer ähnlichen Gliederung in Siebentageszeiträume regelt der Mond auch das Zu- und Abnehmen seines Lichts nach einem immerwährenden Gesetz. Innerhalb der ersten Hebdomade wächst er bis zur Hälfte einer gleichsam zweigeteilten Scheibe heran, und wird dann diqÏtomoc genannt. In der zweiten sammelt er sein wieder erstarkendes Feuer und füllt damit seine Scheibe ganz aus; in diesem Stadium wird er Vollmond genannt. In der dritten Hebdomade wird er wieder diqÏtomoc, da er um die Hälfte abnimmt, in der vierten wird sein Licht dünner, bis er verbleicht. 6,55 Sieben sind auch seine veränderlichen Zustände, auf Griechisch fàseic, in denen er während eines vollständigen Monats erscheint: Neulicht, Halbmond (diqÏtomoc), Dreiviertelmond (Çmf–kurtoc), Vollmond, dann wieder Dreiviertelmond (Çmf–kurtoc) und Halbmond (diqÏtomoc), und schließlich, wenn er für uns sein gesamtes Licht verliert, Neumond. 6,56 >Amf–kurtoc, Dreiviertelmond, nennt man den Zustand, wenn die Krümmung des Monds bereits über die Halbmondphase hinaus ist, er aber seinen vollen Umfang noch nicht erreicht hat; oder wenn seine Scheibe bereits wieder schwindet, aber zwischen Voll- und Halbmondphase noch mehr als zur Hälfte erleuchtet ist. 6,57 Auch die Sonne selbst, der alles sein Leben verdankt, wandelt ihren Lauf jeweils im siebenten Sternzeichen. Denn nach der Wintersonnwende gelangt sie im siebten Sternzeichen zur Sommersonnwende, und nach der Tagnachtgleiche des Frühjahrs gelangt sie beim Durchgang durch das siebente Sternzeichen zu der des Herbstes.

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6,58 Tres quoque conuersiones lucis aetheriae per hunc numerum constant. Est autem prima maxima, secunda media, minima est tertia; et maxima est anni secundum solem, media mensis secundum lunam, minima diei secundum ortum et occasum. 6,59 Est uero unaquaeque conuersio quadripertita, et ita constat septenus numerus, id est ex tribus generibus conuersionum et ex quattuor modis quibus unaquaeque conuertitur. Hi sunt autem quattuor modi: fit enim prima humida, deinde calida, inde sicca et ad ultimum frigida. 6,60 Et maxima conuersio, id est anni, humida est uerno tempore, calida aestiuo, sicca autumno, frigida per hiemem. Media autem conuersio, mensis per lunam, ita fit ut prima sit hebdomas humida, quia nascens luna humorem adsolet concitare; secunda calida, adolescente in eadem luce de solis aspectu; tertia sicca quasi plus ab ortu remota; quarta frigida deficiente iam lumine. Tertia uero conuersio, quae est diei secundum ortum et occasum, ita disponitur quod humida sit usque ad primam de quattuor partibus partem diei, calida usque ad secundam, sicca usque ad tertiam, quarta iam frigida. 6,61 Oceanus quoque in incremento suo hunc numerum tenet. Nam primo nascentis lunae die fit copiosior solito, minuitur paulisper secundo, minoremque eum uidet tertius quam secundus, et ita decrescendo ad diem septimum peruenit. Rursus octauus dies manet septimo par et nonus fit similis sexto, decimus quinto, et undecimus fit quarto par tertioque duodecimus, et tertius decimus similis fit secundo, quartus decimus primo. Tertia uero hebdomas eadem facit quae prima; quarta eadem quae secunda. 6,62 Hic denique est numerus qui hominem concipi, formari, edi, uiuere, ali ac per omnes aetatum gradus tradi senectae atque omnino constare facit. Nam ut illud taceamus quod uterum nulla ui seminis occupatum hoc dierum numero natura constituit uelut decreto exonerandae mulieris

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6,58 Auch die drei Zyklen des Himmelslichts, der große, der mittlere und der kleine, werden von der Sieben bestimmt. Der große ist der Jahreszyklus der Sonne, der mittlere der Monatszyklus des Mondes, der kleine der durch Auf- und Untergang der Sonne bestimmte Tageszyklus. 6,59 Jeder dieser Zyklen ist viergeteilt, und so zeigt sich die Zahl Sieben auch hier, nämlich in der Summe der drei Zyklen und ihren jeweiligen vier Phasen. Diese sind derart, dass die erste feucht, die zweite heiß, die dritte trocken und die vierte kalt ist.98 6,60 Der große Zyklus, der des Jahres, ist im Frühjahr feucht, im Sommer heiß, im Herbst trocken und im Winter kalt. Der mittlere Zyklus, der monatliche des Mondes, ist im ersten Siebentageszeitraum feucht, weil der entstehende Mond Feuchtigkeit heraufzuführen pflegt; der zweite Zeitraum ist heiß, weil das Licht, das der Mond von der Sonne empfängt, stärker wird, der dritte trocken, weil am weitesten vom ersten entfernt, der vierte kalt, weil das Mondlicht bereits schwindet. Der dritte Zyklus, der durch Auf- und Untergang der Sonne bestimmte des Tages, ist ebenfalls so gegliedert, dass er feucht ist während des ersten der vier Tagesabschnitte, heiß im zweiten, trocken im dritten und kalt im vierten. 6,61 Auch der Ozean richtet sich in seinen Gezeiten nach der Zahl Sieben.99 Denn am ersten Tag des entstehenden Mondes ist die Tide höher als sonst, sie schwächt sich allmählich ab am zweiten, am dritten Tag zeigt sie sich noch niedriger, und so nimmt sie bis zum siebten Tag kontinuierlich ab. Der achte Tag entspricht dem siebten, der neunte dem sechsten, der zehnte dem fünften, der elfte dem vierten, der zwölfte dem dritten, der dreizehnte dem zweiten und der vierzehnte dem ersten. In der dritten Hebdomade sind die Verhältnisse so wie in der ersten, in der vierten so wie in der zweiten.

Die Sieben als Grundprinzip des Menschen 6,62 Die Sieben ist schließlich verantwortlich dafür, dass der Mensch gezeugt wird und sich entwickelt, dass er geboren wird und lebt, dass er aufgezogen wird und durch alle Lebensphasen hindurch bis ins hohe Alter gelangt, ja, dass er überhaupt existiert.100 Lassen wir einmal beiseite, dass es nach dem Willen der Natur diese Zahl von Tagen ist, binnen derer jeden

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uectigali mense redeunte purgari, hoc tamen praetereundum non est quia semen quod post iactum sui intra horas septem non fuerit in effusionem relapsum haesisse in uitam pronuntiatur. 6,63 Verum semine semel intra formandi hominis monetam locato hoc primum artifex natura molitur ut die septimo folliculum genuino circumdet umori ex membrana tam tenui qualis in ouo ab exteriore testa clauditur et intra se claudit liquorem. 6,64 Hoc cum a physicis deprehensum sit, Hippocrates quoque ipse, qui tam fallere quam falli nescit, experimenti certus adseruit, referens in libro qui De natura pueri inscribitur tale seminis receptaculum de utero eius eiectum quam septimo post conceptum die intellexerat. Mulierem enim semine non effuso ne grauida maneret orantem imperauerat saltibus concitari aitque septimo die saltum septimum eiciendo cum tali folliculo qualem supra rettulimus suffecisse conceptui. Haec Hippocrates. 6,65 Straton uero Peripateticus et Diocles Carystius per septenos dies concepti corporis fabricam hac obseruatione dispensant, ut hebdomade secunda credant guttas sanguinis in superficie folliculi de quo diximus apparere, tertia demergi eas introrsum ad ipsum conceptionis humorem, quarta humorem ipsum coagulari ut quiddam uelut inter carnem ac sanguinem liquida adhuc soliditate conueniat, quinta uero interdum fingi in ipsa substantia humoris humanam figuram, magnitudine quidem apis, sed ut in illa breuitate membra omnia et designata totius corporis liniamenta consistant. 6,66 Ideo autem adiecimus »interdum« quia constat quotiens quinta hebdomade fingitur designatio ista membrorum, mense septimo maturari

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Monat ein Uterus, der keinen zeugenden Samen aufgenommen hat, gereinigt werden muss, gleich als ob eine Abgabe für die Entlastung der Frau festgesetzt sei, so dürfen wir doch nicht darüber hinweggehen, dass nach allgemeiner Auffassung Sperma, das nicht binnen sieben Stunden nach seiner Empfängnis wieder ausgeschieden ist, sich zur Zeugung neuen Lebens eingenistet hat. 6,63 Wenn aber erst einmal der Samen in jenem Prägestock abgelegt ist, in dem der Mensch geformt wird, ist die Schöpferin Natur als erstes darauf bedacht, die Samenflüssigkeit am siebten Tag mit einer Hülle aus Haut zu umgeben, von solcher Feinheit, wie sie in einem Ei die äußere Schale vom Eiweiß im Inneren trennt. 6,64 Wenngleich das den Naturforschern bekannt war, hat Hippokrates, der weder täuschen noch getäuscht werden kann, es auch noch experimentell überprüft, und er berichtet in seinem Buch Über die Natur des Kindes, dass eine solche Schutzhülle um das Sperma aus dem Uterus einer Frau ausgeschieden worden sei, die er am siebten Tag nach der Empfängnis untersucht hatte. Sie hatte ihn gebeten, ihre Schwangerschaft zu unterbinden, da das Sperma nicht ausgeschieden worden war, worauf er ihr verordnete, heftige Sprünge zu vollführen. Er schreibt, dass am siebten Tag der siebte Sprung dazu geführt habe, dass die Leibesfrucht ausgestoßen worden sei, und sie sei mit einer Hülle umgeben gewesen, wie wir sie oben beschrieben haben. So schreibt Hippokrates.101 6,65 Straton der Peripatetiker und Diokles von Karystos gliedern die Herausbildung des Embryos nach der Empfängnis in Phasen zu je sieben Tagen, und zwar folgendermaßen: In der zweiten Phase zeigten sich auf der Oberfläche der oben genannten Hülle Blutstropfen, die in der dritten Phase nach innen in die Fruchtflüssigkeit einsickerten; in der vierten Phase stocke die Flüssigkeit zu einem halb flüssigen, halb festen Zustand zwischen Blut und Fleisch. In der fünften Phase aber bilde sich bisweilen in dieser flüssigen Substanz die menschliche Gestalt aus, die zwar nicht größer als eine Biene sei, aber in all ihrer Kleinheit doch alle Glieder und die individuellen Konturen des gesamten Körpers aufweise.102 6,66 »Bisweilen« haben wir deswegen hinzugefügt, weil bekannt ist, dass bei Herausbildung der Glieder in der fünften Phase die Leibesfrucht im siebten Monat reif ist. Wenn die Geburt aber im neunten Monat erfolgt,

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partum. Cum autem nono mense absolutio futura est, si quidem femina fabricatur, sexta hebdomade membra iam diuidi; si masculus, septima. 6,67 Post partum uero, utrum uicturum sit quod effusum est an in utero sic praemortuum ut tantummodo spirans nascatur, septima hora discernit. Vltra hunc enim horarum numerum, quae praemortua nascuntur aeris halitum ferre non possunt. Quem quisquis ultra septem horas sustinuerit, intellegitur ad uitam creatus, nisi alter forte, qualis perfectum potest, casus eripiat. 6,68 Item post dies septem iactat reliquias umbilici, et post bis septem incipit ad lumen uisus moueri eius, et post septies septem libere iam et pupulas et totam faciem uertit ad motus singulos uidendorum. 6,69 Post septem uero menses dentes incipiunt mandibulis emergere, et post bis septem sedet sine casus timore. Post ter septem sonus eius in uerba prorumpit, et post quater septem non solum stat firmiter sed et incedit. Post quinquies septem incipit lac nutricis horrescere, nisi forte ad patientiam longioris usus continuata consuetudine protrahatur. 6,70 Post annos septem dentes qui primi emerserant aliis aptioribus ad cibum solidum nascentibus cedunt, eodemque anno, id est septimo, plene absoluitur integritas loquendi: unde et septem uocales litterae a natura dicuntur inuentae, licet latinitas, easdem modo longas modo breues pronuntiando, quinque pro septem tenere maluerit, apud quos tamen si sonos uocalium, non apices numeraueris, similiter septem sunt. 6,71 Post annos autem bis septem ipsa aetatis necessitate pubescit. Tunc enim moueri incipit uis generationis in masculis et purgatio feminarum. Ideo et tutela puerili quasi uirile iam robur absoluitur, de qua tamen feminae propter uotorum festinationem maturius biennio legibus liberantur.

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erfolgt die Ausbildung der Glieder in der sechsten Phase, sofern der Fötus weiblich ist, und in der siebten, wenn er männlich ist. 6,67 Nach der Geburt entscheidet sich in der siebten Stunde, ob das Neugeborene lebensfähig ist oder bereits im Uterus soweit abgestorben war, dass es bei der Geburt gerade noch atmen kann. Über die siebte Stunde hinaus kann nämlich ein bereits sterbend geborenes Kind die Atmung nicht durchhalten. Wenn es auch nach der siebten Stunde noch atmet, erkennt man daran, dass es lebensfähig ist, es sei denn, dass eine andere Ursache, der auch ein robustes Kind erliegen kann, es hinwegrafft. 6,68 Ebenfalls nach sieben Tagen fällt der Rest der Nabelschnur ab. Nach zwei mal sieben Tagen beginnt das Kind mit seinen Augen dem Licht zu folgen, und nach sieben mal sieben Tagen kann es seine Augen und sein ganzes Gesicht frei auf die verschiedenartigen Bewegungen sichtbarer Objekte richten. 6,69 Nach sieben Monaten beginnen die Zähne aus den Kiefern hervorzutreten, und nach zwei mal sieben Monaten kann das Kind sitzen ohne Furcht, umzufallen. Nach drei mal sieben Monaten formen sich seine Laute zu Worten, und nach vier mal sieben Monaten kann es nicht nur sicher stehen, sondern auch gehen. Nach fünf mal sieben Monaten schließlich beginnt es die Milch der Amme abzulehnen, sofern es nicht durch fortgesetzte Gewöhnung dazu gebracht wird, sich länger stillen zu lassen. 6,70 Nach sieben Jahren weichen die Milchzähne den zweiten, die für feste Nahrung besser geeignet sind, und im selben Jahr ist die Sprechfähigkeit voll entwickelt.103 Deswegen sagt man auch, es seien sieben Vokale von der Natur erfunden worden, mögen auch die Lateiner sie als nur fünf auffassen, indem sie dieselben Vokale bald kurz, bald lang aussprechen. Zählt man aber die tatsächlichen Laute und nicht nur die Buchstaben, kommt man ebenfalls auf sieben.104 6,71 Nach zwei mal sieben Jahren erreicht das Kind altersgemäß die Pubertät und es beginnt die Zeugungskraft beim männlichen und die Menstruation beim weiblichen.105 Deswegen wird zu dieser Zeit die gleichsam schon entwickelte Manneskraft aus der Vormundschaft des Knabenalters entlassen, während das Gesetz die Mädchen wegen ihres früheren Heiratsdatums zwei Jahre früher in die Freiheit entlässt.106

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6,72 Post ter septenos annos genas flore uestit iuuenta, idemque annus finem in longum crescendi facit: et quarta annorum hebdomas impleta in latum quoque crescere ultra iam prohibet. 6,73 Quinta omne uirium quantae inesse unicuique possunt complet augmentum, nulloque modo iam potest quisquam se fortior fieri. Inter pugiles denique haec consuetudo seruatur ut, quos iam coronauere uictoriae, nihil de se amplius in incremento uirium sperent, qui uero expertes huius gloriae usque illo manserunt, a professione discedant. 6,74 Sexies uero septeni anni seruant uires ante collectas, nec diminutionem nisi ex accidenti euenire patiuntur. Sed a sexta usque ad septimam septimanam fit quidem diminutio, sed occulta et quae detrimentum suum aperta defectione non prodat. Ideo nonnullarum rerum publicarum hic mos est ut post sextam ad militiam nemo cogatur; in pluribus datur remissio iusta post septimam. 6,75 Notandum uero quod, cum numerus septem se multiplicat, facit aetatem quae proprie perfecta et habetur et dicitur, adeo ut illius aetatis homo, utpote qui perfectionem et adtigerit iam et necdum praeterierit, et consilio aptus sit nec ab exercitio uirium alienus habeatur. 6,76 Cum uero decas, qui et ipse perfectissimus numerus est, perfecto numero, id est ·ptàdi, iungitur ut aut decies septeni aut septies deni computentur anni, haec a physicis creditur meta uiuendi, et hoc uitae humanae perfectum spatium terminatur. Quod quisquis excesserit, ab omni officio uacuus, soli exercitio sapientiae uacat, et omnem usum sui in suadendo habet, aliorum munerum uacatione reuerendus: a septima enim usque ad decimam septimanam pro captu uirium quae adhuc singulis perseuerant uariantur officia. 6,77 Idem numerus totius corporis membra disponit. Septem sunt enim intra hominem quae a Graecis nigra membra uocitantur: lingua,

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6,72 Nach drei mal sieben Jahren überziehen sich die jugendlichen Wangen mit Flaum und dasselbe Jahr bringt das Ende des Längenwachstums; nach Vollendung der vierten Hebdomade geht der Körper auch nicht mehr in die Breite.107 6,73 In der fünften Hebdomade vollendet sich der Zuwachs an Körperkräften, über die ein Individuum verfügen kann, und deren Weiterentwicklung ist nicht mehr möglich. Bei Faustkämpfern gilt als Regel, dass die, die schon einen Siegeskranz errungen haben, sich dann keine Hoffnungen mehr auf eine Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit machen; und wer es bis dahin noch nicht zu jener Ehre gebracht hat, gibt seine Profession auf.108 6,74 Bis zum sechs mal siebten Jahr bewahrt der Mensch seine zuvor erworbenen Kräfte und erleidet deren Verminderung allenfalls aufgrund eines Unfalls. Aber von da bis zur siebten Hebdomade beginnt der Kräfteschwund, jedoch unmerklich und ohne äußerlich wahrnehmbaren Abbau. Daher besteht in etlichen Staaten die Einrichtung, dass nach der sechsten Hebdomade niemand zum Kriegsdienst gezogen wird, in noch mehr erfolgt die reguläre Entlassung am Ende der siebten Hebdomade.109 6,75 Hier ist hervorzuheben, dass die Multiplikation der Zahl Sieben mit sich selbst das Alter ergibt, das im eigentlichen Sinne als vollkommen gilt und bezeichnet wird. Ein Mensch in diesem Alter hat den Zenit der Vollkommenheit schon erreicht, aber noch nicht überschritten und ist daher ein fähiger Ratgeber, aber noch nicht unfähig zum Gebrauch seiner physischen Kräfte. 6,76 Wird aber die Zahl Zehn, selbst von höchster Vollkommenheit, mit der vollkommenen Zahl Sieben multipliziert, sodass zehn mal sieben oder sieben mal zehn Jahre errechnet werden, ergibt sich, was die Naturforscher als den Grenzpunkt des Lebens ansehen; mit dieser Zahl wird die vollkommene Spanne des menschlichen Lebens bestimmt.110 Wer dieses Alter überschreitet, ist jeglicher Pflichten ledig und lebt ausschließlich das Leben eines Weisen; sein gesamtes Wirken konzentriert sich darauf, Ratgeber zu sein, und er sieht sich geehrt durch die Befreiung von jeder anderen Pflicht.111 Von der siebten bis zur zehnten Hebdomade hat der Einzelne unterschiedliche Aufgaben, je nach den ihm verbliebenen Kräften. 6,77 Die Zahl Sieben bestimmt auch die Glieder des menschlichen Körpers in seiner Gesamtheit.112 Der Mensch verfügt nämlich über sieben innere Organe, welche die Griechen die schwarzen nennen: Zunge, Herz,

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cor, pulmo, iecur, lien, renes duo; et septem alia cum uenis ac meatibus quae adiacent singulis ad cibum et spiritum accipiendum reddendumque sunt deputata: guttur, stomachus, aluus, uesica et intestina principalia tria, quorum unum dissiptum uocatur, quod uentrem et cetera intestina secernit, alterum medium, quod Graeci mesËnteron dicunt, tertium, quod ueteres hiram uocarunt habeturque praecipuum intestinorum omnium et cibi retrimenta deducit. 6,78 De spiritu autem et cibo, quibus accipiendis, ut relatum est, atque reddendis membra quae diximus cum meatibus sibi adiacentibus obsequuntur, hoc obseruatum est quod sine haustu spiritus ultra horas septem, sine cibi ultra totidem dies uita non durat. 6,79 Septem sunt quoque gradus in corpore qui dimensionem altitudinis ab imo in superficiem complent, medulla, os, neruus, uena, arteria, caro, cutis. Haec de interioribus. 6,80 In aperto quoque septem sunt corporis partes, caput, pectus, manus pedesque et pudendum. Item quae diuiduntur non nisi septem compagibus iuncta sunt: ut in manibus est humerus, brachium, cubitus, uola et digitorum nodi terni, in pedibus uero femur, genu, tibia, pes ipse, sub quo uola est, et digitorum similiter nodi terni. 6,81 Et quia sensus eorumque ministeria natura in capite uelut in arce constituit, septem foraminibus sensuum celebrantur officia, id est oris ac deinde oculorum, narium et aurium binis; unde non immerito hic numerus, totius fabricae dispensator et dominus, aegris quoque corporibus periculum sanitatemue denuntiat. Immo ideo et septem motibus omne corpus agitatur: aut enim accessio est aut recessio, aut in laeuam dextramue deflexio, aut sursum quis seu deorsum mouetur, aut in orbem rotatur.

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Lunge, Leber, Milz und die zwei Nieren. Außerdem hat er sieben weitere, die zur Aufnahme und Abführung von Nahrung und Atem bestimmt sind, alle mit eigenen Adern und Ausgängen: Kehle, Speiseröhre, Magen, Blase sowie die drei hauptsächlichen Gedärme, nämlich den Zwölffingerdarm,113 der den Magen vom restlichen Darm scheidet, sodann den Dünndarm, den die Griechen mesËnteron nennen, drittens den Dickdarm, von den Alten hira genannt, der als wichtigster der drei Gedärme gilt und die Reste der Nahrung abführt. 6,78 Was die Atemluft und die Nahrung betrifft, für deren Aufnahme und Abfuhr die oben genannten Organe mit ihren zugehörigen Gefäßen sorgen, gilt die Beobachtung, dass ohne Atemluft niemand länger als sieben Stunden, ohne Nahrung niemand länger als sieben Tage überleben kann.114 6,79 Innerhalb des Körpers existieren auch sieben Schichten, die seinen ganzen Raum vom Innersten bis zur Körperoberfläche ausfüllen: Mark, Knochen, Nerven, Venen, Arterien, Fleisch und Haut. So viel über die innere Beschaffenheit des Körpers. 6,80 Auch die Zahl der sichtbaren Körperteile beträgt sieben, nämlich Kopf, Brust, Hände, Füße und Schamteile.115 Auch die unterteilbaren Glieder sind ausschließlich aus sieben Bestandteilen zusammengefügt: beim Arm sind das die Schulter, der Arm, der Ellbogen, die Handfläche und die drei Fingergelenke, bei den Beinen Oberschenkel, Knie, Unterschenkel, der Fuß selbst mit dem Fußgewölbe an der Unterseite sowie den drei Zehengelenken. 6,81 Und weil die Natur den Sinnen und ihren Instrumenten ihren Platz im Kopf wie auf einer Zitadelle zugewiesen hat, werden deren Funktionen durch sieben Öffnungen im Kopf erfüllt, nämlich durch den Mund und je zwei Augen, Ohren und Nasenlöcher.116 Daher ist es auch folgerichtig, dass die Sieben, Herrin und Organisatorin des gesamten Körperbaus, den Kranken Hinweise gibt, ob sie in Lebensgefahr sind oder gesunden können.117 Darüber hinaus gibt es für jeden Körper sieben mögliche Richtungen der Bewegung: vorwärts oder rückwärts, nach links oder rechts, Aufwärts-, Abwärts- oder Kreisbewegung.118

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6,82 Tot uirtutibus insignitus septenarius, quas uel de partibus suis mutuatur uel totus exercet, iure plenus et habetur et dicitur. Et absoluta, ut arbitror, ratione iam constitit cur diuersis ex causis octo et septem pleni uocentur. 6,83 Sensus autem hic est: cum aetas tua quinquagesimum et sextum annum compleuerit, quae summa tibi fatalis erit, spes quidem salutis publicae te uidebit et pro remediis communis bonorum omnium status uirtutibus tuis dictatura debebitur, sed si euaseris insidias propinquorum. Nam per »septenos octies solis anfractus reditusque« quinquaginta et sex significat annos, anfractum solis et reditum annum uocans: anfractum, propter zodiaci ambitum, reditum, quia eadem signa per annos singulos certa lege metitur. 7,1 Hic quidam mirantur quid sibi uelit ista dubitatio, »si effugeris«. Quasi potuerit diuina anima et olim caelo reddita atque hinc maxime scientiam futuri professa nescire possitne nepos suus an non possit euadere! Sed non aduertunt hanc habere legem omina uel signa uel somnia, ut de aduersis oblique aut denuntient aut minentur aut moneant. 7,2 Et ideo quaedam cauendo transimus, alia exorando et litando uitantur. Sunt ineluctabilia quae nulla arte, nullo auertuntur ingenio. Nam ubi admonitio est, uigilantia cautionis euaditur; quod apportant minae, litatio propitiationis auertit; numquam denuntiata uanescunt.

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Zusammenfassung 6,82 Da die Sieben durch so viele Tugenden ausgezeichnet ist, welche sie entweder ihren Bestandteilen verdankt oder selbst als Ganze übt, wird sie zu Recht als vollkommen betrachtet und bezeichnet. Und nachdem damit, wie ich glaube, unsere Erklärung abgeschlossen ist, steht nun fest, aus welch verschiedenartigen Gründen die Acht und die Sieben als vollkommene Zahlen bezeichnet werden. 6,83 Der Gesamtsinn unserer Textstelle ist also Folgender: Wenn dein Leben, Scipio, das sechsundfünfzigste Jahr, eine schicksalshafte Zahl für dich, vollendet hat, werden die Augen aller hoffnungsvoll auf dir ruhen wegen der Rettung des Staates. Und um die Sicherheit aller guten Bürger wiederherzustellen, wird deiner Tüchtigkeit die Diktatur zufallen, sofern du den Nachstellungen deiner Verwandten entgehen kannst. Denn mit dem Ausdruck »acht mal sieben vollständige Umläufe der Sonne« meint er 56 Jahre; er sagt »Umlauf«, weil die Sonne den Zodiakus durchwandert, und »vollständig«, weil sie nach festem Gesetz jedes Jahr dieselben Sternzeichen durchmisst.

Die Mantik 7,1 An diesem Punkt fragen sich manche Leute, was der skeptische Satz »falls du entkommst« bedeuten solle. Als ob Africanus’ göttliche, schon längst im Himmel heimische und daher zur Kenntnis der Zukunft vorzüglich befähigte Seele nicht in der Lage sei, zu wissen, ob sein Enkel der Gefahr entkommen würde! Sie übersehen dabei, dass Omina, Vorzeichen oder Träume die Regel befolgen, kommendes Unheil nur indirekt anzukündigen, anzudrohen oder vor ihm zu warnen. 7,2 Und daher entgehen wir bestimmten Gefahren durch Vorsicht, andere vermeiden wir durch Beten und Darbringung von Opfern. Wieder andere sind unentrinnbar und können weder mit Geschick noch mit Erfindungsreichtum abgewendet werden. Eine Warnung macht es möglich, der Gefahr durch Wachsamkeit und Umsicht zu entgehen, angedrohtes Unheil kann durch Sühne und Opfer abgewendet werden; aber niemals löst angekündigtes Unheil sich in nichts auf.

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7,3 Hic subicies: unde igitur ista discernimus, ut possit cauendumne an exorandum an uero patiendum sit deprehendi? Sed praesentis operis fuerit insinuare qualis soleat in diuinationibus esse affectata confusio, ut desinas de inserta uelut dubitatione mirari; ceterum in suo quoque opere artificis erit signa quaerere quibus ista discernat, si hoc uis diuina non impedit. Nam illud »prohibent nam cetera Parcae scire« Maronis est ex intima disciplinae profunditate sententia. 7,4 Diuulgatis etiam docemur exemplis quam paene semper, cum praedicuntur futura, ita dubiis obserantur ut tamen diligens – nisi diuinitus, ut diximus, impeditur – subesse reperiat apprehendendae uestigia ueritatis: ut ecce Homericum somnium a Ioue, ut dicitur, missum ad conserendam futuro die cum hostibus manum sub aperta promissione uictoriae spem regis animauit; ille, uelut diuinum secutus oraculum, commisso proelio amissis suorum plurimis uix aegreque in castra remeauit. 7,5 Num dicendum est deum mandasse mendacium? Non ita est, sed quia illum casum Graecis fata decreuerant, latuit in uerbis somnii, quod animaduersum uel ad uere uincendum uel ad cauendum saltem potuisset instruere. 7,6 Habuit enim illa praeceptio ut uniuersus produceretur exercitus; at ille sola pugnandi hortatione contentus non uidit quid de producenda uniuersitate praeceptum sit, praetermissoque Achille, qui tunc recenti lacessitus iniuria ab armis cum suo milite feriabatur, rex progressus in proelium et casum qui debebatur excepit et absoluit somnium inuidia mentiendi non omnia de imperatis sequendo. 7,7 Parem obseruantiae diligentiam Homericae per omnia perfectionis imitator Maro in talibus quoque rebus obtinuit. Nam apud illum Aeneas, ad regionem instruendo regno fataliter eligendam satis abundeque Delio

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7,3 Hier könnte man die Frage anschließen: Wie kann man diese Dinge unterscheiden, sodass wir verstehen, ob wir uns vorsehen oder beten oder uns in unser Schicksal fügen müssen? Nun, eine Aufgabe des vorliegenden Werkes ist es, zu zeigen, welche absichtlichen Unklarheiten Weissagungen innewohnen, sodass man aufhört, sich über deren Auftreten zu wundern; im übrigen wird es Aufgabe des Fachmanns sein, auf seinem jeweiligen Gebiet nach Anzeichen zu forschen, mit deren Hilfe er diese Fälle unterscheiden kann, jedenfalls soweit keine göttliche Macht es verhindert. Denn der Satz Vergils »die Parzen hindern, das Übrige zu wissen«, ist ein Gedanke aus den tiefsten Tiefen seines Wissens.119 7,4 Nun lehren uns wohlbekannte Beispiele, dass Vorhersagen über die Zukunft fast immer in Zweideutigkeiten gekleidet sind, aber doch so, dass sich bei sorgfältiger Betrachtung – wenn nicht, wie gesagt, göttlicherseits verhindert – versteckte Anknüpfungspunkte für die Erkenntnis der Wahrheit finden. So hat ja bei Homer ein angeblich von Zeus gesandter Traum Agamemnon aufgefordert, nächsten Tages den Feinden eine Schlacht zu liefern, und mit dem ausdrücklichen Versprechen des Sieges die Hoffnung des Königs beflügelt. Der nun, im Glauben, einem göttlichen Orakel zu folgen, ging in die Schlacht, verlor einen Großteil seiner Leute und kehrte mit genauer Not ins Lager zurück.120 7,5 Soll man nun sagen, dass die Gottheit ihm eine Lüge aufgetischt habe? Nein; weil vielmehr das Fatum dieses Desaster für die Griechen schon beschlossen hatte, verbarg sich in den Worten des Traums ein Hinweis, dessen Beachtung Agamemnon hätte instand setzen können, tatsächlich zu siegen oder wenigstens sich vorzusehen. 7,6 Der Traum hatte ihm nämlich geboten, das gesamte Heer ins Feld zu führen. Agamemnon aber, fixiert auf die Aufforderung zur Schlacht, begriff nicht, was das Gebot, das Heer in seiner Gesamtheit hinauszuführen, alles umfasste, und ließ Achill zurück, der, grollend wegen der jüngst erlittenen Kränkung, mit seinen Leuten dem Kampf fernblieb. Ins Gefecht gezogen, erlitt der König das gebührende Debakel, und indem er nicht alle Anweisungen befolgte, entlastete er den Traum vom Vorwurf des Trugs.121 7,7 Einen ebenbürtigen Grad an Exaktheit erreicht Vergil, der Nachahmer der Vollkommenheit Homers in jedem Punkt, in ähnlichen Fällen. Denn bei ihm erliegt Aeneas, obwohl er vom delischen Orakel mehr als genug Hinweise erhalten hatte, wo er dem Fatum gemäß das Land zur

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instructus oraculo, in errorem tamen unius uerbi neglegentia relapsus est. 7,8 Non quidem fuerat locorum quae petere deberet nomen insertum, sed, cum origo uetus parentum sequenda diceretur, fuit in uerbis quod inter Cretam et Italiam, quae ipsius gentis auctores utraque produxerant, magis ostenderet et, quod aiunt, digito demonstraret Italiam. Nam cum fuissent inde Teucer, hinc Dardanus, uox sacra sic adloquendo: »Dardanidae duri«, aperte consulentibus Italiam, de qua Dardanus profectus esset, obiecit appellando eos parentis illius nomine cuius erat origo rectius eligenda. 7,9 Et hic certae quidem denuntiationis est quod de Scipionis fine praedicitur, sed gratia conciliandae obscuritatis inserta dubitatio dicto tamen quod initio somnii continetur absoluitur. Nam cum dicitur »circuitu naturali summam tibi fatalem confecerint« uitari hunc finem non posse pronuntiat. Quod autem Scipioni reliquos uitae actus sine offensa dubitandi per ordinem rettulit et de sola morte similis uisus est ambigenti, haec ratio est quod, siue dum humano uel maerori parcitur uel timori, seu quia utile est hoc maxime latere, pronius cetera oraculis quam uitae finis exprimitur; aut, cum dicitur, non sine aliqua obscuritate profertur. 8,1 His aliqua ex parte tractatis progrediamur ad reliqua: »Sed quo sis, Africane, alacrior ad tutandam rem publicam, sic habeto: omnibus qui patriam conseruarint, adiuuerint, auxerint, certum esse in caelo definitum locum ubi beati aeuo sempiterno fruantur. Nihil est enim illi principi deo qui omnem mundum regit, quod quidem in ter-

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Errichtung seines Königreichs wählen solle, wegen der Missachtung eines einzigen Wortes einem Irrtum. 7,8 Der Name des Landes, das er ansteuern sollte, war nicht angegeben; da es aber hieß, er solle dem Ursprung seiner Vorfahren nachgehen, enthielt der Wortlaut einen Hinweis, der die Entscheidung zwischen Kreta und Italien, den beiden Stammländern seiner Urahnen, erleichterte und sozusagen mit dem Finger auf Italien wies. Denn aus Kreta stammte Teuker, aus Italien aber Dardanus; somit wies die göttliche Stimme mit der Anrede »rohe Dardaner« die Ratsuchenden ganz offen auf Italien hin, von wo Dardanus gekommen war, indem sie sie mit dem Namen jenes Vorfahren anredete, auf dessen Herkunftsland die richtige Wahl fallen musste.122 7,9 Auch an der vorliegenden Stelle hat die Vorhersage über den Tod Scipios Gewissheitscharakter; die Unklarheit, die eingefügt ist, um Zweideutigkeit herzustellen, wird durch eine in den Anfang des Traums eingefügte Wendung egalisiert. Denn mit den Worten »wenn sie in natürlichem Kreislauf die für dich schicksalhafte Summe erfüllt haben« kündigt der Traum ihm an, dass dieses Ende unvermeidlich kommen werde. Dass Africanus aber dem Scipio die übrigen Abschnitte seines Lebens ohne jede Zweideutigkeit erzählt und nur hinsichtlich seines Todes den Anschein der Undeutlichkeit erweckt, findet seine Begründung darin, dass durch Orakel alles andere eher als das Lebensende enthüllt wird, sei es aus Rücksicht auf menschliche Trauer oder Furcht, sei es, weil es nützlich ist, gerade diesen Punkt im Verborgenen zu lassen. Oder weil Orakel zu diesem Thema nicht ohne eine gewisse Zweideutigkeit gegeben werden.

Die Tugenden als Garanten des Aufstiegs zum ewigen Lebens 8,1 Nachdem wir nun des Großvaters Worte zum Teil behandelt haben, wenden wir uns seinen übrigen zu: »Damit du aber, Africanus, umso bereitwilliger den Staat schützen willst, so wisse: Allen, die ihre Heimat bewahrt, gefördert und stärker gemacht haben, ist im Himmel ein fester Platz bestimmt, wo sie in Glückseligkeit das ewige Leben genießen werden. Denn von allem, was auf Erden geschieht, ist jenem höchsten Gott, der das gesamte Weltall lenkt, nichts willkommener als der Zusammenschluss und die Vereini-

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Liber primus ris fiat, acceptius quam concilia coetusque hominum iure sociati, quae ciuitates appellantur. Earum rectores et seruatores hinc profecti huc reuertuntur.«

8,2 Bene et opportune, postquam de morte praedixit, mox praemia bonis post obitum speranda subiecit. Quibus adeo a metu praedicti interitus cogitatio uiuentis erepta est ut ad moriendi desiderium ultro animaretur maiestate promissae beatitudinis et caelestis habitaculi. Sed de beatitate quae debetur conseruatoribus patriae pauca dicenda sunt, ut postea locum omnem, quem hic tractandum recepimus, reuoluamus. 8,3 Solae faciunt uirtutes beatum, nullaque alia quisquam uia hoc nomen adipiscitur: unde qui aestimant nullis nisi philosophantibus inesse uirtutes, nullos praeter philosophos beatos esse pronuntiant. Agnitionem enim rerum diuinarum sapientiam proprie uocantes eos tantummodo dicunt esse sapientes qui superna et acie mentis requirunt et quaerendi sagaci diligentia comprehendunt et, quantum uiuendi perspicuitas praestat, imitantur; et in hoc solo esse aiunt exercitia uirtutum, quarum sic officia dispensant. 8,4 Prudentiae esse mundum istum et omnia quae mundo insunt diuinorum contemplatione despicere omnemque animae cogitationem in sola diuina dirigere; temperantiae, omnia relinquere, in quantum natura patitur, quae corporis usus requirit; fortitudinis, non terreri animam a corpore quodam modo ductu philosophiae recedentem, nec altitudinem perfectae ad superna ascensionis horrere; iustitiae, ad unam sibi huius propositi consentire uiam uniuscuiusque uirtutis obsequium. Atque ita fit ut secundum hoc tam rigidae definitionis abruptum rerum publicarum rectores beati esse non possint.

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gung von Menschen in Rechtsgemeinschaften, die man Staaten nennt. Deren Lenker und Bewahrer sind von hier oben gekommen und hierher kehren sie wieder zurück«. (Rep. 6,13) 8,2 Passend und zur rechten Zeit hat der ältere Scipio hier, nachdem er seinem Enkel den Tod geweissagt hatte, den Hinweis auf die Belohnungen angefügt, die sich die guten Männer nach ihrem Tod erhoffen dürfen. Dadurch wurden die Gedanken des Lebenden so sehr von der Furcht vor dem prophezeiten Ende befreit, dass in ihm sogar die Sehnsucht nach dem Tod auflebte, angesichts der großen Glückseligkeit und des erhabenen Himmelssitzes, die ihm versprochen wurden. Über diese Glückseligkeit, die den Bewahrern des Vaterlands zusteht, müssen wir nun einiges sagen, damit wir anschließend die ganze Stelle, die wir uns hier vorgenommen haben, interpretieren können.123 8,3 Glück verleihen allein die Tugenden, und auf keinem anderen Weg erwirbt man sich den Namen »glücklich«. Wer daher der Auffassung ist, nur die Philosophen besäßen die Tugenden, erklärt damit, dass nur die Philosophen glücklich sein können. Die Anhänger dieser Auffassung verstehen unter Weisheit im eigentlichen Sinne die Erkenntnis der göttlichen Dinge, und daher sei ein Weiser nur, wer die überirdische Welt mit durchdringendem Geist erforsche, sie mit sorgfältigen und scharfsinnigen Fragestellungen erfasse und sie, soweit es das menschliche Erkenntnisvermögen erlaube, nachahme; das alleine sei das Betätigungsfeld der Tugenden. Deren Aufgaben grenzen sie folgendermaßen ab:124 8,4 Aufgabe der Klugheit sei es, angesichts der Betrachtung des Göttlichen diese Welt und alles, was in ihr ist, zu verachten und das ganze Denkvermögen der Seele allein auf das Göttliche zu richten. Aufgabe der Mäßigung, auf alle Bedürfnisse des Körpers zu verzichten, soweit nur die Natur es gestattet. Aufgabe der Tapferkeit, nicht davor zu erschrecken, dass die Seele sich unter Anleitung der Philosophie gewissermaßen vom Körper trennt, und nicht vor der Schwierigkeit des vollkommenen Aufstiegs zum Himmel zurückzuschaudern. Aufgabe der Gerechtigkeit, dass das gehorsame Üben jeder Einzeltugend gemeinschaftlich auf den einzigen Weg zu diesem Ziel führt.125 Das Resultat einer derart rigiden und kompromisslosen Definition ist, dass Staatsmänner nicht glücklich sein könnten.

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8,5 Sed Plotinus, inter philosophiae professores cum Platone princeps, libro De uirtutibus gradus earum uera et naturali diuisionis ratione compositos per ordinem digerit. Quattuor sunt, inquit, quaternarum genera uirtutum. Ex his primae politicae uocantur, secundae purgatoriae, tertiae animi iam purgati, quartae exemplares. 8,6 Et sunt politicae hominis, qua sociale animal est. His boni uiri rei publicae consulunt, urbes tuentur; his parentes uenerantur, liberos amant, proximos diligunt; his ciuium salutem gubernant; his socios circumspecta prouidentia protegunt, iusta liberalitate deuinciunt: hisque »sui memores alios fecere merendo«. 8,7 Et est politici prudentiae ad rationis normam quae cogitat quaeque agit uniuersa dirigere ac nihil praeter rectum uelle uel facere, humanisque actibus tamquam diuinis arbitris prouidere; prudentiae insunt ratio, intellectus, circumspectio, prouidentia, docilitas, cautio; fortitudinis, animum supra periculi metum agere nihilque nisi turpia timere, tolerare fortiter uel aduersa uel prospera; fortitudo praestat magnanimitatem, fiduciam, securitatem, magnificentiam, constantiam, tolerantiam, firmitatem; temperantiae, nihil appetere paenitendum, in nullo legem moderationis excedere, sub iugum rationis cupiditatem domare; temperantiam sequuntur modestia, uerecundia, abstinentia, castitas, honestas, moderatio, parcitas, sobrietas, pudicitia; iustitiae, seruare unicuique quod suum est; de iustitia ueniunt innocentia, amicitia, concordia, pietas, religio, affectus, humanitas.

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Klassifikation der Tugenden nach Plotin 8,5 Doch Plotin, der unter den Philosophen zusammen mit Platon den ersten Rang einnimmt, hat in seinem Buch Über die Tugenden diese in natürlicher und treffender Gliederung nach Graden eingeteilt und in ein System gebracht. Es gibt, sagt er, vier Klassen von Tugenden mit jeweils vier Einzeltugenden. Die erste beinhaltet die politischen Tugenden, die zweite die purgatorischen, die dritte die Tugenden des bereits purifizierten Geistes, die vierte schließlich die exemplarischen.126 8,6 Über politische Tugenden verfügt der Mensch, insofern er ein gemeinschaftsorientiertes Wesen ist. Vermöge dieser Tugenden kümmern sich die ehrenhaften Männer um den Staat und beschützen die Städte; aufgrund ihrer verehren sie ihre Eltern, lieben ihre Kinder und schätzen ihre Angehörigen; mit ihnen sichern sie die Wohlfahrt der Bürger, schützen mit Umsicht und Weitblick die Bundesgenossen und verpflichten sie sich mit Großzügigkeit und Gerechtigkeit; mit ihnen »haben sie bewirkt, dass die anderen sich an sie erinnern aufgrund ihrer Verdienste«.127 8,7 Bei den politischen Tugenden bedeutet Klugheit, all sein Denken und Handeln nach der Richtschnur der Vernunft auszurichten, nur das Richtige zu wollen und zu tun und für die menschlichen Angelegenheiten gleichsam unter den Augen der Götter zu sorgen; politische Klugheit umfasst Vernunft, Einsichtsvermögen, Umsicht, Vorausschau, Lernbereitschaft und Vorsicht. Tapferkeit bedeutet bei ihnen, die Furcht vor Gefahren zu überwinden, nur das zu fürchten, was Schande bringt, und energisch ungünstige und günstige Situationen zu meistern. Sie umfasst Hochherzigkeit, Zuversicht, Selbstsicherheit, Großmut, Unbeirrbarkeit, Duldsamkeit und Standhaftigkeit. Selbstbeherrschung bedeutet, nichts zu begehren, was man später bereuen muss, in nichts die Regeln der Mäßigung zu überschreiten und die Begierden unter das Joch der Vernunft zu zwingen; sie wird begleitet von Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit, Keuschheit, Ehrenhaftigkeit, Mäßigung, Genügsamkeit, Enthaltsamkeit und Sittsamkeit. Politische Gerechtigkeit bedeutet, für jedermann das zu sichern, was sein Anteil ist. Aus ihr entspringen Uneigennützigkeit, Freundschaft, Eintracht, Pflichtbewusstsein, Respekt, Zuneigung und Menschenliebe.

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8,8 His uirtutibus uir bonus primum sui atque inde rei publicae rector efficitur, iuste ac prouide gubernans, humana non deserens. Secundae, quas purgatorias uocant, hominis sunt qua diuini capax est, solumque animum eius expediunt qui decreuit se a corporis contagione purgare et quadam humanorum fuga solis se inserere diuinis. Hae sunt otiosorum qui a rerum publicarum actibus se sequestrant. Harum quid singulae uelint, superius expressimus cum de uirtutibus philosophantium diceremus, quas solas quidam aestimauerunt esse uirtutes. 8,9 Tertiae sunt purgati iam defaecatique animi et ab omni mundi huius aspergine presse pureque detersi. Illic prudentiae est diuina non quasi in electione praeferre, sed sola nosse, et haec tamquam nihil sit aliud intueri; temperantiae, terrenas cupiditates non reprimere, sed penitus obliuisci; fortitudinis, passiones ignorare, non uincere, ut »nesciat irasci, cupiat nihil«; iustitiae, ita cum supera et diuina mente sociari ut seruet perpetuum cum ea foedus imitando. 8,10 Quartae sunt quae in ipsa diuina mente consistunt quam diximus no‹n uocari, a quarum exemplo reliquae omnes per ordinem defluunt. Nam si rerum aliarum, multo magis uirtutum ideas esse in mente credendum est. Illic prudentia est mens ipsa diuina; temperantia, quod in se perpetua intentione conuersa est; fortitudo, quod semper idem est nec aliquando mutatur; iustitia, quod perenni lege a sempiterna operis sui continuatione non flectitur. 8,11 Haec sunt quaternarum quattuor genera uirtutum, quae praeter cetera maximam in passionibus habent differentiam sui. Passiones autem,

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8,8 Durch diese Tugenden wird der ehrenhafte Mann zunächst zum Lenker seiner selbst, sodann zu dem des Staates; er leitet ihn gerecht, fürsorglich und unter Achtung der Menschenwürde.128 Die zweite Gruppe der Tugenden, welche man die purgatorischen nennt, besitzt der Mensch, soweit er sich dem Göttlichen öffnen kann. Sie machen nur den Geist dessen frei, der entschlossen ist, sich von den schädlichen Einflüssen des Körpers zu reinigen, vor allen menschlichen Belangen gleichsam zu fliehen und sich alleine mit dem Göttlichen zu vereinigen. Das sind die Tugenden derer, die in Zurückgezogenheit leben und sich der Mitwirkung am öffentlichen Leben entzogen haben. Über die Bedeutung der Einzeltugenden dieser Gruppe haben wir uns schon oben geäußert, als wir über die Tugenden der Philosophen gesprochen haben, die nach dem Urteil mancher Leute als einzige Tugenden sind.129 8,9 Die dritte Tugendgruppe ist die des bereits purifizierten und geläuterten Geistes, der jede Verunreinigung durch die irdische Welt rückstandslos von sich abgewaschen hat. Klugheit bedeutet hier, sich für das Göttliche nicht bei gleichsam gegebener Wahl zu entscheiden, sondern es als einziges zu kennen und seinen Blick auf es alleine zu richten. Mäßigung meint, die irdischen Begierden nicht nur zu unterdrücken, sondern ganz und gar zu vergessen; Tapferkeit, dass man die Leidenschaften nicht etwa besiegt, sondern überhaupt nicht kennt, also »nicht versteht zu zürnen und keine Wünsche hat«;130 Gerechtigkeit, dass man so mit dem überirdischen göttlichen Geist in Verbindung tritt, dass man ein dauerndes Bündnis mit ihm bewahrt, indem man ihn nachahmt. 8,10 Die vierte Gruppe umfasst die Tugenden, die dem göttlichen Intellekt selbst innewohnen, der, wie wir gesagt haben, no‹c genannt wird.131 Aus deren Urbild emanieren sukzessive alle übrigen Tugenden. Denn wenn man schon glaubt, dass die Ideen der anderen Dinge dem Intellekt innewohnen, muss man das von den Ideen der Tugenden umso mehr annehmen. Dort ist die Klugheit mit diesem göttlichen Geist selbst identisch; die Mäßigung bedeutet dort, dass er in beständiger Aufmerksamkeit sich selbst zugekehrt ist; die Tapferkeit, dass er immer derselbe ist und sich niemals ändert; die Gerechtigkeit, dass er gemäß unveränderlichem Gesetz niemals von der Fortsetzung seines ewigen Werkes ablässt. 8,11 Das sind die vier Tugendgruppen mit ihren jeweils vier Einzeltugenden; sie unterscheiden sich neben den übrigen Punkten vor allem

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ut scimus, uocantur quod homines »metuunt cupiuntque, dolent gaudentque«. Has primae molliunt, secundae auferunt, tertiae obliuiscuntur, in quartis nefas est nominari. 8,12 Si ergo hoc est officium et effectus uirtutum, beare, constat autem et politicas esse uirtutes, igitur et politicis efficiuntur beati. Iure ergo Tullius de rerum publicarum rectoribus dixit »ubi beati aeuo sempiterno fruantur«; qui, ut ostenderet alios otiosis, alios negotiosis uirtutibus fieri beatos, non dixit absolute nihil esse illi principi deo acceptius quam ciuitates, sed adiecit »quod quidem in terris fiat«, ut eos qui ab ipsis caelestibus incipiunt discerneret a rectoribus ciuitatum, quibus per terrenos actus iter paratur ad caelum. 8,13 Illa autem definitione quid pressius potest esse, quid cautius de nomine ciuitatum? »Quam concilia«, inquit, »coetusque hominum iure sociati, quae ciuitates appellantur«. Nam et seruilis quondam et gladiatoria manus »concilia hominum et coetus« fuerunt, sed non »iure sociati«. Illa autem sola iusta est multitudo, cuius uniuersitas in legum consentit obsequium. 9,1 Quod uero ait: »harum rectores et seruatores hinc profecti huc reuertuntur«, hoc modo accipiendum est. Animarum originem manare de caelo inter recte philosophantes indubitatae constat esse sententiae; et animae, dum corpore utitur, haec est perfecta sapientia ut unde orta sit, de quo fonte uenerit, recognoscat.

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hinsichtlich der Affekte. Von Affekten spricht man bekanntlich, wenn die Menschen »fürchten und begehren, Schmerz und Freude empfinden«.132 Diese Affekte werden von der ersten Tugendklasse gedämpft, von der zweiten beseitigt, von der dritten dem Vergessen anheimgegeben; für die vierte Klasse aber sind sie vollständig tabu. 8,12 Wenn es also Aufgabe und Wirkung der Tugenden ist, glücklich zu machen, und ebenso feststeht, dass es auch politische Tugenden gibt, dann machen auch die politischen Tugenden glücklich. Mit Recht sagte also Cicero von den Staatslenkern: »wo sie in Glückseligkeit das ewige Leben genießen«. Und um zu zeigen, dass manche Menschen durch die Tugenden des kontemplativen, andere durch die des aktiven Lebens das Glück erlangen, sagte er den Satz, dem höchsten Gott sei nichts willkommener als wohlgeordnete Staaten, nicht ohne Einschränkung, sondern mit dem Zusatz »von allem, was auf Erden geschieht«. Damit berücksichtigt er den Unterschied zwischen den Denkern, die unmittelbar bei den himmlischen Dingen beginnen, und den Staatslenkern, denen ihre irdischen Taten den Weg zum Himmel eröffnen. 8,13 Was aber kann es Exakteres geben als seine Definition, was Umsichtigeres als seinen Begriff des Staates? »Der Zusammenschluss und die Vereinigung von Menschen in Rechtsgemeinschaften, die man ›Staaten‹ nennt«, sagt er.133 Die historischen Zusammenrottungen von Sklaven und Gladiatoren waren ja auch »Zusammenschlüsse und Vereinigungen«, aber nicht »in Rechtsgemeinschaft verbunden«. Gerechtigkeit gibt es aber nur in einer Menge, die in ihrer Gesamtheit im Gehorsam gegenüber den Gesetzen übereinstimmt.

Der himmlische Sitz der Seelen 9,1 Wenn er aber sagt »deren Lenker und Bewahrer sind von hier oben gekommen und hierher kehren sie wieder zurück«, ist das folgendermaßen zu verstehen: Dass die Seelen im Himmel ihren Ursprung haben, ist die völlig unbestrittene Auffassung derer, die auf richtige Weise philosophieren. Und die vollkommene Weisheit einer Seele, solange sie im Körper wohnt, besteht darin, zu erkennen, wo ihr Ausgangspunkt liegt und aus welcher Quelle sie entsprungen ist.134

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9,2 Hinc illud a quodam inter alia seu festiua, siue mordacia, serio tamen usurpatum est: »de caelo descendit gn¿ji seautÏn.« Nam et Delphici uox haec fertur oraculi. Consulenti ad beatitatem quo itinere perueniret: »si te«, inquit, »agnoueris.« Sed et ipsius fronti templi haec inscripta sententia est. 9,3 Homini autem, ut diximus, una est agnitio sui: si originis natalisque principii exordia prima respexerit nec se »quaesiuerit extra«. Sic enim anima uirtutes ipsas conscientia nobilitatis induitur, quibus post corpus euecta eo unde descenderat reportatur, quia nec corporea sordescit uel oneratur eluuie, quae puro ac leui fonte uirtutum rigatur, nec deseruisse umquam caelum uidetur, quod respectu et cogitationibus possidebat. 9,4 Hinc anima, quam in se pronam corporis usus effecit atque in pecudem quodam modo reformauit ex homine, et absolutionem corporis perhorrescit et, cum necesse est, non nisi »cum gemitu fugit indignata sub umbras«. 9,5 Sed nec post mortem facile corpus relinquit, quia non »funditus omnes corporeae excedunt pestes«, sed aut suum oberrat cadauer aut noui corporis ambit habitaculum, non humani tantummodo, sed ferini quoque, electo genere moribus congruo quos in homine libenter exercuit, mauultque omnia perpeti, ut caelum, quod uel ignorando uel dissimulando uel potius prodendo deseruit, euadat. 9,6 Ciuitatum uero rectores ceterique sapientes caelum respectu, uel cum adhuc corpore tenentur, habitantes, facile post corpus caelestem, quam paene non reliquerant, sedem reposcunt. Nec enim de nihilo aut de uana adulatione ueniebat, quod quosdam urbium conditores aut clariores

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9,2 Daher jener Ausspruch, den ein Dichter, in einem halb humorvollen, halb satirischen Kontext, aber dennoch ernsthaft getan hat: »vom Himmel herab stieg das Erkenne dich selbst«.135 Das ist angeblich ein Spruch des Orakels von Delphi. Jemand, der gefragt hatte, auf welchem Weg er zur Glückseligkeit gelangen könne, erhielt die Antwort: »indem du dich selbst erkennst«. Dieser Spruch ist auch an der Fassade des Tempels in Delphi angebracht.136 9,3 Für den Menschen aber gibt es, wie wir sagten, eine einzige Möglichkeit der Selbsterkenntnis: wenn er auf die allerersten Anfänge seiner Herkunft und Geburt schaut und nicht »anderswo nach sich selbst sucht«.137 So wird seine Seele im Bewusstsein ihrer edlen Abkunft die Tugenden annehmen, mittels derer sie nach dem Tod des Körpers dorthin emporgehoben wird, woher sie herabgestiegen war. Sie ist dann nicht verunreinigt und beschwert vom Schmutz der Materie, der ihr in der reinen und zarten Quelle der Tugenden abgewaschen wird, und scheint niemals den Himmel verlassen zu haben, den sie ja in ihrem Schauen und Denken immer besessen hat.138 9,4 Wenn dagegen eine Seele durch die Gewöhnung an den Körper zu dessen Untertan geworden ist und der Mensch sich so gewissermaßen in ein Tier verwandelt hat, dann scheut die Seele die Loslösung vom Körper, und erst wenn es unausweichlich ist, »flieht sie unter Seufzen und unwillig hinab zu den Schatten«.139 9,5 Aber auch nach dem Tod vermag sie sich nicht leicht vom Körper zu lösen, weil ja nicht »alle Seuchen des Körpers vollständig von ihr weichen«.140 Vielmehr irrt sie in der Nähe ihres Körpers umher oder sucht nach einer Wohnstatt in einem neuen Körper, und zwar nicht nur in dem eines Menschen, sondern auch eines Tiers. Dabei sucht sie sich eine Gattung, die zu dem Verhalten passt, das sie als Menschenseele willentlich gezeigt hat. Alles möchte sie auf sich nehmen, nur um dem Himmel zu entrinnen, den sie aus Unwissenheit, aus Nachlässigkeit oder vielmehr durch Verrat verlassen hat.141 9,6 Aber die Lenker der Staaten und die übrigen Weisen, die, wiewohl an den Körper gebunden, im Geiste doch immer im Himmel leben, gewinnen nach ihrem Tod leicht ihren himmlischen Wohnsitz zurück, den sie gleichsam nie verlassen haben. Es geschah ja nicht ohne Grund und auch nicht aus leerer Lobhudelei, dass das Altertum die Gründer von Städten

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in re publica uiros in numerum deorum consecrauit antiquitas; sed Hesiodus quoque diuinae subolis adsertor priscos reges cum dis aliis enumerat, hisque exemplo ueteris potestatis etiam in caelo regendi res humanas adsignat officium. 9,7 Et ne cui fastidiosum sit si uersus ipsos ut poeta Graecus protulit inseramus, referemus eos ut ex uerbis suis in Latina uerba conuersi sunt: Indigetes diui fato summi Iouis hi sunt: quondam homines, modo cum superis humana tuentes, largi ac munifici, ius regum nunc quoque nacti. 9,8 Hoc et Vergilius non ignorat, qui, licet argumento suo seruiens heroas in inferos relegauerit, non tamen eos abducit a caelo, sed aethera his deputat largiorem, et nosse eos solem suum ac sua sidera profitetur, ut geminae doctrinae obseruatione praestiterit et poeticae figmentum et philosophiae ueritatem. 9,9 Et si secundum illum res quoque leuiores quas uiui exercuerant, etiam post corpus exercent, quae gratia currum armorumque fuit uiuis, quae cura nitentis pascere equos, eadem sequitur tellure repostos, multo magis rectores quondam urbium recepti in caelum curam regendorum hominum non relinquunt. 9,10 Hae autem animae in ultimam sphaeram recipi creduntur quae Çplan†c uocatur, nec frustra hoc usurpatum est siquidem inde profectae sunt. Animis enim necdum desiderio corporis inretitis siderea pars mundi praestat habitaculum et inde labuntur in corpora. Ideo his illo est reditio qui merentur. Rectissime ergo dictum est, cum in galaxia, quem Çplan†c continet, sermo iste procedat: »hinc profecti huc reuertuntur«.

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oder hervorragende Staatsmänner zu Göttern erhoben hat: Hesiod, der Verfasser einer Theogonie, führt die alten Könige unter den Göttern auf und weist ihnen nach dem Vorbild ihrer früheren irdischen Befugnisse auch im Himmel die Aufgabe zu, die menschlichen Belange zu regeln. 9,7 Und um niemanden zu inkommodieren, wenn wir diese Verse in Hesiods originalem Griechisch zitieren, bieten wir hier den Wortlaut in lateinischer Übersetzung: »Das sind die Heroengötter nach des höchsten Jupiters Willen. Einst waren sie Menschen, jetzt aber schützen sie mit den Göttern die Belange der Menschen; freigebig und wohltätig, besitzen sie auch jetzt noch die Autorität von Königen«.142 9,8 Auch Vergil kennt diese Vorstellung, denn wenn er auch aus Stofftreue die Heroen in der Unterwelt ansiedelt, entfernt er sie dennoch nicht aus dem Himmel, sondern weist ihnen einen »weiteren Äther« zu und sagt, dass sie »ihre eigene Sonne und ihre eigenen Sterne« sehen.143 So wird er seinen beiden Künsten gerecht und verbindet die Erfindungskraft des Dichters mit der Wahrheitsliebe des Philosophen. 9,9 Und wenn die Heroen schon, ihm zufolge, nach ihrem Tod noch denselben Liebhabereien obliegen wie im Leben – »wer im Leben Freude an Wagen und Waffen empfand, wer mit Hingabe seine schimmernden Pferde weidete, tut nun dasselbe an seinem Platz unter der Erde«144 dann ist es umso gewisser, dass die ehemaligen Regenten der Städte nach ihrer Aufnahme in den Himmel von der Fürsorge für das geordnete Leben der Menschen nicht ablassen. 9,10 Von den Seelen glaubt man, dass sie in die äußerste Sphäre des Alls, die sogenannte Fixsternsphäre, versetzt werden, und das nicht ohne Grund, nachdem sie ja auch von dort gekommen sind. Die Seelen nämlich, die noch nicht von dem Verlangen nach Inkarnation umgarnt sind, haben den gestirnten Teil des Universums als Wohnstätte inne und gleiten von dort in die Körper hinab. Daher steht auch den Menschen, die es sich verdient haben, die Rückkehr dorthin offen.145 Da nun das Gespräch der Scipionen auf der Milchstraße stattfindet, die Teil der Fixsternsphäre ist, sind die Worte »sie sind von hier oben gekommen und hierher kehren sie wieder zurück« völlig zutreffend.

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»Hic ego etsi eram perterritus, non tam mortis metu quam insidiarum a meis, quaesiui tamen uiueretne ipse et Paulus pater et alii quos nos extinctos esse arbitraremur.« 10,2 Vel fortuitis et inter fabulas elucent semina infìxa uirtutum: quae nunc uideas licet ut e pectore Scipionis uel somniantis emineant. In re enim una politicarum uirtutum omnium pariter exercet officium. 10,3 Quod non labitur animo praedicta morte perterritus, fortitudo est. Quod suorum terretur insidiis magisque alienum facinus quam suum horrescit exitium, de pietate et nimio in suos amore procedit; haec autem diximus ad iustitiam referri, quae seruat unicuique quod suum est. Quod ea quae arbitratur non pro compertis habet, sed, spreta opinione quae minus cautis animis pro uero inolescit, quaerit discere certiora, indubitata prudentia est. 10,4 Quod cum perfecta beatitas et caelestis habitatio humanae naturae, in qua se nouerat esse, promittitur, audiendi tamen talia desiderium frenat, temperat et sequestrat, ut de uita aui et patris interroget, quid nisi temperantia est? Vt iam tum liqueret Africanum per quietem ad ea loca quae sibi deberentur adductum. 10,5 In hac autem interrogatione de animae immortalitate tractatur. Ipsius enim consultationis hic sensus est: nos, inquit, arbitramur animam cum fine morientis extingui nec ulterius esse post hominem. Ait enim: »quos extinctos esse arbitraremur«. Quod autem extinguitur, esse iam desinit. Ergo uelim dicas, inquit, si et pater Paulus tecum et alii supersunt.

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10,1 Kommen wir zum nächsten Abschnitt: »So sehr ich auch schreckerfüllt war, und zwar weniger aus Todesfurcht als wegen des Verrats durch meine Angehörigen, fragte ich doch, ob er selbst und mein Vater Paullus tatsächlich noch am Leben seien und all die anderen, von denen wir glaubten, sie seien ausgelöscht.« (Rep. 6,14) 10,2 Sogar in zufälligen Ereignissen und erfundenen Geschichten werden die uns innewohnenden Keime der Tugenden sichtbar, und hier kann man sehen, wie sie in Scipios Herzen sogar im Traum hervortreten: In einer einzigen Situation wird er den Erfordernissen aller politischen Tugenden gleichermaßen gerecht.146 10,3 Dass die Ankündigung seines Todes ihn nicht vor Schreck wanken lässt, ist ein Beweis von Tapferkeit. Dass er bestürzt ist über den drohenden Anschlag seiner Angehörigen und mehr wegen deren Verbrechen als wegen seines eigenen Endes in Schrecken versetzt wird, entspringt seinem Pflichtbewusstsein und der übergroßen Zuneigung zu seinen Angehörigen: Diese Einstellungen stehen, wie wir gesagt haben, in Bezug zur Gerechtigkeit, die jedem das Seine garantiert. Dass er seine eigenen Meinungen nicht als feststehende Tatsachen ansieht, dass er Mutmaßungen geringschätzt, die sich in weniger umsichtigen Gemütern als Wahrheiten einnisten, und stattdessen nach gesichertem Wissen sucht, ist ein untrügliches Zeichen von Klugheit. 10,4 Wenn schließlich vollkommene Glückseligkeit und ein Sitz im Himmel jener Art von Menschen versprochen wird, zu denen Scipio nach eigenem Wissen gehörte, und er dennoch seinen Wunsch, mehr zu hören, zügelt, mäßigt und hintanstellt, um sich nach dem Leben seines Großvaters und Vaters zu erkundigen, was ist das anderes als Selbstbeherrschung? So war schon an diesem Punkt klar, dass Scipio im Traum an jenen Ort geführt worden war, der ihm zukünftig bestimmt sein würde. 10,5 In Scipios Fragen geht es aber um die Unsterblichkeit der Seele, denn der Sinn seiner Fragestellung ist folgender: wir, sagt er, glauben, dass die Seele mit dem Lebensende erlösche und den Tod des Menschen nicht überdauere. Er sagt ja »wir glaubten, sie seien ausgelöscht«.147 Was aber ausgelöscht ist, hat bereits aufgehört zu existieren. Also, bittet er, sage mir, ob mein Vater Paullus bei dir ist und auch die anderen noch leben.

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10,6 Ad hanc interrogationem, quae et de parentibus ut a pio filio, et de ceteris ut a sapiente ac naturam ipsam discutiente processit, quid ille respondit? »Immo uero, inquit, hi uiuunt, qui e corporum uinclis tamquam e carcere euolauerunt; uestra uero quae dicitur esse uita mors est.« 10,7 Si ad inferos meare mors est et uita est esse cum superis, facile discernis quae mors animae, quae uita credenda sit, si constiterit qui locus habendus sit inferorum, ut anima, dum ad hunc truditur, mori, cum ab hoc procul est, uita frui et uere superesse credatur. 10,8 Et quia totum tractatum quem ueterum sapientia de inuestigatione huius quaestionis agitauit, in hac latentem uerborum paucitate reperies, ex omnibus aliqua, quibus nos de rei quam quaerimus absolutione sufficiet admoneri, amore breuitatis excerpsimus. 10,9 Antequam studium philosophiae circa naturae inquisitionem ad tantum uigoris adolesceret, qui per diuersas gentes auctores constituendis sacris caerimoniarum fuerunt, aliud esse inferos negauerunt quam ipsa corpora, quibus inclusae animae carcerem foedum tenebris, horrendum sordibus et cruore patiuntur. 10,10 Hoc animae sepulcrum, hoc Ditis concaua, hoc inferos uocauerunt, et omnia quae illic esse credidit fabulosa persuasio, in nobismet ipsis et in ipsis humanis corporibus adsignare conati sunt, obliuionis fluuium aliud non esse adserentes quam errorem animae obliuiscentis maiestatem

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10,6 Diese Fragen entspringen, was die Eltern betrifft, der Loyalität des Sohnes, und was die anderen Menschen betrifft, zeigen sie uns den Weisen, der die Geheimnisse der Natur selbst erkundet. Was antwortet nun der Großvater? »Gewiss, sie leben und sind aus den Fesseln des Körpers wie aus einem Gefängnis entkommen; das aber, was man bei Euch Leben nennt, ist in Wahrheit Tod.«148 (Rep. 6,14) 10,7 Wenn der Abstieg in die Unterwelt Tod bedeutet, die Gemeinschaft mit den Himmlischen aber Leben, dann ist leicht zu entscheiden, was als Tod der Seele und was als Leben gelten muss, sobald geklärt ist, was unter »Unterwelt« zu verstehen ist. Wenn die Seele zu dieser hinabgestoßen wird, muss man annehmen, dass sie stirbt, wenn sie ihr dagegen fern ist, dass sie sich des Lebens erfreut und wirklich überlebt hat. 10,8 Und weil man die ganze Forschung, welche die Weisheit des Altertums hinsichtlich dieser Frage betrieben hat, in diesen wenigen Worten Scipios verborgen findet, haben wir, weil wir uns gerne kurz fassen möchten, aus der Fülle des ganzen Materials einiges ausgezogen, das hinreicht, uns den Gegenstand unserer Untersuchung in seiner Gesamtheit zu vergegenwärtigen.149

Abstieg der Seele in die »Unterwelt«: vorphilosophische und philosophische Anschauungen 10,9 Bevor das Interesse der Philosophen an der Erforschung der Natur sich zu seiner heutigen Blüte entfaltete, haben diejenigen, welche bei den jeweiligen Völkern verantwortlich waren für die Organisation des Kults und der Riten150 behauptet, die Unterwelt sei nichts anderes als der Körper selbst, in welchen eingeschlossen die Seele ein Kerkerleben in schlimmer Finsternis und grausigem Schmutz und Blut erdulden müsse. 10,10 Den Körper nannten sie Grab der Seele, Höhle des Dis, Unterwelt;151 und alles, was Mythenglaube dort ansiedelte, das versuchten sie uns, das heißt dem menschlichen Körper zuzuweisen:152 Lethe, der Fluss des Vergessens, sei nichts anderes als der Irrtum der Seele, die Erhabenheit des früheren Lebens zu vergessen, das sie vor ihrer Einkerkerung in den

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uitae prioris qua, antequam in corpus truderetur, potita est, solamque esse in corpore uitam putantis. 10,11 Pari interpretatione Phlegethontem ardores irarum et cupiditatum putarunt, Acherontem quidquid fecisse dixisseue usque ad tristitiam humanae uarietatis more nos paenitet, Cocytum quidquid homines in luctum lacrimasque compellit, Stygem quidquid inter se humanos animos in gurgitem mergit odiorum. 10,12 Ipsam quoque poenarum descriptionem de ipso usu conuersationis humanae sumptam crediderunt, uulturem iecur immortale tondentem nihil aliud intellegi uolentes quam tormenta conscientiae, obnoxia flagitio uiscera interiora rimantis, et ipsa uitalia indefessa admissi sceleris admonitione laniantis, semperque curas, si requiescere forte temptauerint, excitantis tamquam fibris renascentibus inhaerendo, nec ulla sibi miseratione parcentis lege hac qua »se iudice nemo nocens absoluitur«, nec de se suam potest uitare sententiam. 10,13 Illos aiunt epulis ante ora positis excruciari fame et inedia tabescere, quos magis magisque adquirendi desiderium cogit praesentem copiam non uidere; et, in affluentia inopes, egestatis mala in ubertate patiuntur, nescientes parta respicere dum egent habendis. 10,14 Illos radiis rotarum pendere districtos, qui nihil consilio praeuidentes, nihil ratione moderantes, nihil uirtutibus explicantes, seque et actus omnes suos fortunae permittentes, casibus et fortuitis semper rotantur. 10,15 Saxum ingens uoluere inefficacibus laboriosisque conatibus uitam terentes; atram silicem lapsuram semper et cadenti similem illorum capitibus imminere qui arduas potestates et infaustam ambiunt tyranni-

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Körper genossen habe, und nun zu glauben, dass Leben alleine im Körper sei.153 10,11 Eine entsprechende Interpretation ließ sie glauben, dass der Phlegeton die Glut des Zornes und der Begierden sei, der Acheron alle Handlungen und Äußerungen, die wir in typisch menschlichem Wankelmut voll Niedergeschlagenheit bereuen; der Kokytos alles, was die Menschen zu Trauer und Tränen zwingt; die Styx, was die Menschen in den Strudel wechselseitigen Hasses reißt. 10,12 Auch die Beschreibung der Strafen, glaubten sie, sei aus der menschlichen Lebenserfahrung herausgesponnen: Unter dem »Geier, der die stets nachwachsende Leber aushackt«,154 wollten sie die Qualen des Bewusstseins verstehen, das unser der Schande verfallenes Inneres durchwühlt und unsere Lebenskräfte durch die unablässige Erinnerung an begangene Verbrechen zerfleischt; das die Sorgen, wenn sie einmal zur Ruhe kommen möchten, immer wieder anfacht, wie der Geier, der an der nachwachsenden Leber hängt; das sich niemals Schonung durch Mitleid gewährt, gemäß dem Gesetz, dass »der Schuldige, der sein eigener Richter ist, niemals freigesprochen wird«155 und dem Schuldspruch über sich selbst nicht entgehen kann. 10,13 Jene, denen Speisen vorgesetzt sind und die dennoch vom Hunger gemartert werden und vor Nahrungsentzug verkümmern, seien in Wahrheit Menschen, welche die Gier nach immer mehr Besitz ihren tatsächlichen Reichtum nicht wahrnehmen lässt; inmitten ihrer reichen Mittel mittellos, erleiden sie im Überfluss die Übel der Armut, unfähig, auf das Erworbene zu schauen, weil sie nicht haben, was sie gerne noch hätten. 10,14 Jene, die ausgespannt an den Speichen eines Rades hängen, seien Menschen, die ohne Plan und Vorausschau handeln, nichts nach den Prinzipien der Vernunft tun, kein Problem mit Hilfe der Tugenden lösen, sondern sich und all ihr Handeln der Fortuna überantworten und daher immer von Zufällen und unvorhergesehenen Ereignissen umhergewirbelt werden. 10,15 Den ungeheuren Felsblock bergwärts zu wälzen bedeute, sein Leben in mühevoller und ergebnisloser Anstrengung zu erschöpfen. Der schwarze Stein, der stets zu wanken und herabzustürzen droht, bedrohe die Häupter jener Menschen, welche nach riskanter Machtfülle streben und nach der Tyrannis, auf der kein Segen ruht; die daher niemals ohne

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dem, numquam sine timore uicturi, et, cogentes subiectum uulgus odisse dum metuat, semper sibi uidentur exitium quod merentur excipere. 10,16 Nec frustra hoc theologi suspicati sunt. Nam et Dionysius, aulae Siculae inclementissimus incubator, familiari quondam suo solam beatam existimanti uitam tyranni uolens quam perpetuo metu misera quamque impendentium semper periculorum plena esset ostendere, gladium uagina raptum et a capulo de filo tenui pendentem mucrone demisso iussit familiaris illius capiti inter epulas imminere; cumque ille et Siculas et tyrannicas copias praesentis mortis periculo grauaretur, »talis est«, inquit Dionysius, »uita, quam beatam putabas: sic semper mortem nobis imminentem uidemus. Aestima quando esse felix poterit qui timere non desinit.« 10,17 Secundum haec igitur quae a theologis adseruntur, si uere »quisque suos patimur manes« et inferos in his corporibus esse credimus, quid aliud intellegendum est quam mori animam cum ad corporis inferna demergitur, uiuere autem cum ad supera post corpus euadit? 11,1 Dicendum est quid his postea ueri sollicitior inquisitor philosophiae cultus adiecerit. Nam et qui primum Pythagoram et qui postea Platonem secuti sunt, duas esse mortes, unam animae, animalis alteram prodiderunt, mori animal cum anima discedit e corpore, ipsam uero animam mori adserentes cum a simplici et indiuiduo fonte naturae in membra corporea dissipatur. 11,2 Et quia una ex his manifesta et omnibus nota est, altera non nisi a sapientibus deprehensa, ceteris eam uitam esse credentibus, ideo hoc ignoratur a plurimis cur eundem mortis deum modo Ditem, modo immitem uocemus, cum per alteram, id est animalis mortem, absolui animam

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Furcht leben können und, indem sie das unterjochte Volk zwingen, »sie zu hassen, solange es sie nur fürchtet«,156 immer das Ende zu nehmen scheinen, das sie verdient haben. 10,16 Diese Ansicht der Theologen ist nicht unbegründet.157 Dionysios etwa, der grausame Usurpator des Palasts von Syrakus, wollte einmal einem seiner Leute, der glaubte, dass allein das Leben eines Tyrannen glücklich sei, zeigen, wie miserabel es tatsächlich ist wegen der beständigen Furcht und wie erfüllt von ständig drohenden Gefahren. Also ließ er ein Schwert aus der Scheide ziehen und am Griff an einem dünnen Faden aufhängen, und zwar so, dass seine Spitze beim Mahl auf den Kopf des Mannes gerichtet war. Als diesem nun die Freude an den Reichtümern Siziliens und der Tyrannis wegen der gegenwärtigen Todesgefahr vergangen war, sagte Dionysius »das ist das Leben, das du als glücklich ansahst; so sehe ich mich tagtäglich mit dem Tod bedroht. Ermiss nun selbst, wann einer glücklich sein kann, der niemals aufhört zu fürchten.« 10,17 Wenn man nun der Auffassung der Theologen folgt, und wenn wirklich »jeder von uns seine eigenen Manen erleidet«158 und wir glauben, dass die Unterwelt in unserem Körper ist, wie anders muss man das verstehen, als dass die Seele stirbt, wenn sie in die Tiefen des Körpers eingesenkt wird, dass sie aber lebt, wenn sie den Körper verlässt und zum Himmel auffährt? 11,1 Jetzt müssen wir darüber sprechen, was diesen Ansichten später die Philosophen, die gewissenhafteren Erforscher der Wahrheit, hinzugefügt haben. Denn es haben zunächst die Anhänger des Pythagoras, später auch die Platons die Ansicht vertreten, es gebe einen zweifachen Tod, einen der Seele und einen des beseelten Wesens; letzteres sterbe, wenn die Seele den Körper verlasse, die Seele hingegen sterbe, wenn sie die einfache und unteilbare Quelle der Natur verlasse und sich über die einzelnen Glieder des Körpers zerstreue. 11,2 Und weil der eine Tod offensichtlich und allgemein bekannt ist, vom anderen aber nur die Weisen wissen, während alle übrigen ihn für das Leben halten, weiß die Mehrzahl der Menschen auch nicht, warum wir ein und denselben Totengott bald den »Reichen«, bald den »Grausamen« nennen. Der Grund ist, dass im ersten Fall mit dem glückbedeutenden Namen »der Reiche« darauf verwiesen wird, dass beim Tod des beseel-

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et ad ueras naturae diuitias atque ad propriam libertatem remitti faustum nomen indicio sit; per alteram uero, quae uulgo uita existimatur, animam de immortalitatis suae luce ad quasdam tenebras mortis impelli uocabuli testemur horrore. 11,3 Nam ut constet animal, necesse est in corpore anima uinciatur. Ideo corpus dËmac, hoc est uinculum, nuncupatur, et s¿ma, quasi quoddam s®ma, id est animae sepulcrum. Vnde Cicero, pariter utrumque significans, corpus esse uinculum, corpus sepulcrum, quod carcer est sepultorum, ait: »qui e corporum uinclis tamquam e carcere euolauerunt.« 11,4 Inferos autem Platonici non in corporibus esse, id est non a corporibus incipere, dixerunt, sed certam mundi istius partem Ditis sedem, id est inferos, uocauerunt; de loci uero ipsius finibus inter se dissona publicauerunt et in tres sectas diuisa sententia est. 11,5 Alii enim mundum in duo diuiserunt, quorum alterum facit, alterum patitur; et illud facere dixerunt quod, cum sit immutabile, alteri causas et necessitatem permutationis imponit, hoc pati quod permutatione uariatur. 11,6 Et immutabilem quidem mundi partem a sphaera, quae Çplan†c dicitur, usque ad globi lunaris exordium, mutabilem uero a luna ad terras usque dixerunt; et uiuere animas dum in immutabili parte consistunt, mori autem cum ad partem ceciderint permutationis capacem; atque ideo inter lunam terrasque locum mortis et inferorum uocari; ipsamque lunam uitae esse mortisque confinium; et animas inde in terram fluentes mori, inde ad supera meantes in uitam reuerti. Nec immerito aestimatum est: A luna enim deorsum natura incipit caducorum, ab hac animae sub numerum dierum cadere et sub tempus incipiunt. 11,7 Denique illam aetheriam terram physici uocauerunt, et habitatores eius lunares populos nuncuparunt. Quod ita esse plurimis argumentis, quae nunc longum est enumerare, docuerunt. Nec dubium est quin ipsa

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ten Wesens die Seele befreit wird und zum wahren Reichtum der Natur und in ihre genuine Freiheit zurückkehren kann. Im anderen, gemeinhin als »Leben« betrachteten Fall bezeugen wir mit dem schauerlichen Wort »grausam« den Vorgang, dass die Seele aus dem Licht ihrer Unsterblichkeit in die tiefe Finsternis des Todes getrieben wird.159 11,3 Damit nämlich ein Lebewesen existieren kann, muss notwendigerweise eine Seele in seinen Körper eingeschlossen sein. Deswegen heißt der Körper auf Griechisch dËmac,160 gleich »Fessel« und s¿ma, gleichsam s®ma, das heißt Grab der Seele. Deswegen meint Cicero beides gleichermaßen, nämlich dass der Körper eine Fessel und dass er ein Grab sei, welches ja das Gefängnis der Toten ist, wenn er sagt »die aus den Fesseln des Körpers wie aus einem Kerker entflohen sind«.161 11,4 Was nun die Unterwelt betrifft, so nehmen die Platoniker an, dass sie nicht in den Körpern liege, genauer, dass sie nicht bei den Körpern beginne; vielmehr bezeichneten sie einen bestimmten Teil unserer Welt als Sitz des Dis, als Unterwelt. Über deren Lage und Grenzen bestand bei ihnen aber keine Einigkeit; die Auffassungen teilen sich in drei Gruppen:162 11,5 Die erste Auffassung teilt die Welt in zwei Bereiche, von denen der eine aktiv, der andere passiv ist. Aktiv sei jener, welcher, selbst unveränderlich, dem anderen die Ursachen und die Notwendigkeit der Veränderung auferlege, passiv der, welcher der Veränderung unterworfen sei. 11,6 Der keiner Veränderung unterworfene Teil reiche von der sogenannten Fixsternsphäre bis zum Rand der Sphäre des Monds, der der Veränderung unterworfene Teil vom Mond bis zur Erde.163 Die Seelen lebten, solange sie sich im unveränderlichen Teil aufhielten, stürben aber, sobald sie in den der Veränderung unterworfenen Teil einträten; deswegen heiße der Raum zwischen Mond und Erde Raum des Todes und der Unterwelt. Der Mond selbst bilde die Grenzscheide zwischen Leben und Tod. Die Seelen stürben, wenn sie von dort auf die Erde herabsänken, kehrten aber ins Leben zurück, wenn sie von dort zur Oberwelt aufstiegen. Diese Auffassung ist wohlbegründet: Vom Mond abwärts nämlich beginnt der Bereich des Vergänglichen, denn ab da sind die Seelen den Bedingungen von Kalender und Zeit unterworfen. 11,7 Ferner haben die Naturforscher den Mond als »Erde des Äthers« und seine Bewohner als Mondvölker bezeichnet. Sie haben dafür viele Begründungen vorgebracht, deren Referat hier zu weit führen würde. Es

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sit mortalium corporum et auctor et conditrix, adeo ut nonnulla corpora sub luminis eius accessu patiantur augmenta et hoc decrescente minuantur. Sed ne de re manifesta fastidium prolixa adsertione generetur, ad ea quae de inferorum loco alii definiunt transeamus. 11,8 Maluerunt enim mundum alii in elementa ter quaterna diuidere, ut in primo numerentur ordine terra, aqua, aer, ignis, qui est pars liquidior aeris uicina lunae; supra haec rursum totidem numero, sed naturae purioris elementa, ut sit luna pro terra, quam aetheriam terram a physicis diximus nominatam, aqua sit sphaera Mercurii, aer Veneris, ignis in sole; tertius uero elementorum ordo ita ad nos conuersus habeatur ut terram ultimam faciat, et ceteris in medium redactis in terras desinat tam ima quam summa postremitas; igitur sphaera Martia ignis habeatur, aer Iouis, Saturni aqua, terra uero Çplan†c, in qua Elysios esse campos puris animis deputatos antiquitas nobis intellegendum reliquit. 11,9 De his campis anima, cum in corpus emittitur, per tres elementorum ordines trina morte ad corpus usque descendit. Haec est inter Platonicos de morte animae, cum in corpus truditur, secunda sententia. 11,10 Alii uero – nam tres esse inter eos sententiarum diuersitates ante signauimus – in duas quidem et ipsi partes, sicut primi faciunt, sed non isdem terminis diuidunt mundum. Hi enim caelum, quod Çplan†c sphaera uocitatur, partem unam, septem uero sphaeras quae uagae uocantur et quod inter illas ac terram est terramque ipsam, alteram partem esse uoluerunt. 11,11 Secundum hos ergo, quorum sectae amicior est ratio, animae beatae ab omni cuiuscumque contagione corporis liberae caelum possident. Quae uero appetentiam corporis et huius quam in terris uitam uoca-

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gibt auch keinen Zweifel, dass der Mond Urheber und Schöpfer sterblicher Körper ist; manche Körper erfahren sogar bei zunehmendem Mond eine Vergrößerung und eine Verkleinerung bei abnehmendem.164 Aber um nicht bei einem so bekannten Gegenstand durch Weitschweifigkeit Langeweile aufkommen zu lassen, wenden wir uns der Frage zu, was die anderen Auffassungen zum Ort der Unterwelt besagen. 11,8 Die zweite Gruppe zieht es vor, die Welt in drei Schichten, bestehend jeweils aus den vier Elementen, zu gliedern. Die erste enthält die Anordnung Erde, Wasser, Luft und Feuer, eine reinere Form von Luft, wie sie in der Nachbarschaft des Mondes vorkommt. Darüber folgt eine zweite Schicht, ebenfalls mit den vier Elementen, die aber von reinerer Natur sind. An die Stelle der Erde tritt nun der Mond, den die Naturforscher wie schon gesagt »Erde des Äthers« nennen; das Wasser ist die Sphäre des Merkur, die Luft die Sphäre der Venus, das Feuer die der Sonne. Die dritte Schicht stellt man sich mit spiegelbildlicher Struktur zur ersten, der unsrigen, vor, sodass die Erde an letzter Stelle steht. Das Element Erde besetzt damit in der untersten und in der obersten Schicht jeweils die äußerste Position und schließt die übrigen Elemente ein. In der dritten Schicht wird also die Sphäre des Mars mit dem Feuer identifiziert, die des Jupiter mit der Luft, die des Saturn mit dem Wasser und die Fixsternsphäre mit der Erde; auf ihr befinden sich – eine Erkenntnis, die uns das Altertum überliefert hat – die Elysischen Felder, die den reinen Seelen bestimmt sind.165 11,9 Wenn nun die Seele aus jenen Gefilden in einen Körper gesandt wird, steigt sie durch die genannten drei Konfigurationen der Elemente hinab und erleidet dabei einen dreifachen Tod. Das also ist die zweite Auffassung der Platoniker zum Tod der in einen Körper gezwungenen Seele. 11,10 Wieder andere – wir haben ja vorher gesagt, dass es unter den Platonikern drei unterschiedliche Auffassungen gibt – gliedern den Kosmos wie die erstgenannte Gruppe in zwei Teile, aber mit anderen Grenzen. Sie nämlich möchten den Himmel, also die sogenannte Fixsternsphäre, als den einen Teil betrachten, als den anderen aber die sieben sogenannten Planetensphären und den Raum, der zwischen diesen und der Erde liegt, sowie die Erde selbst. 11,11 Dieser Gruppe zufolge, der sich die Vernunft eher zuneigt, haben die glücklichen Seelen, die von jeder erdenklichen Verunreinigung durch den Körper frei sind, den Fixsternhimmel inne. Doch eine Seele, die her-

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mus ab illa specula altissima et perpetua luce despiciens desiderio latenti cogitauerit, pondere ipso terrenae cogitationis paulatim in inferiora delabitur. 11,12 Nec subito a perfecta incorporalitate luteum corpus induitur, sed sensim per tacita detrimenta et longiorem simplicis et absolutissimae puritatis recessum in quaedam siderei corporis incrementa turgescit. In singulis enim sphaeris quae caelo subiectae sunt aetheria obuolutione uestitur, ut per eas gradatim societati huius indumenti testei concilietur, et ideo, totidem mortibus quot sphaeras transit, ad hanc peruenit quae in terris uita uocitatur. 12,1 Descensus uero ipsius, quo anima de caelo in huius uitae inferna delabitur, sic ordo digeritur. Zodiacum ita lacteus circulus obliquae circumflexionis occursu ambiendo complectitur ut eum qua duo tropica signa, Capricornus et Cancer, feruntur, intersecet. Has solis portas physici uocauerunt, quia in utraque obuiante solstitio ulterius solis inhibetur accessio, et fit ei regressus ad zonae uiam cuius terminos numquam relinquit. 12,2 Per has portas animae de caelo in terras meare et de terris in caelum remeare creduntur. Ideo hominum una, altera deorum uocatur: hominum Cancer, quia per hunc in inferiora descensus est; Capricornus deorum, quia per illum animae in propriae immortalitatis sedem et in deorum numerum reuertuntur. 12,3 Et hoc est quod Homeri diuina prudentia in antri Ithacensis descriptione significat. Hinc et Pythagoras putat a lacteo circulo deorsum inci-

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unterblickt von dieser hochgelegenen, in ewiges Licht getauchten Warte und in heimlicher Sehnsucht daran denkt, einen Körper aufzusuchen samt dem, was wir auf Erden das Leben nennen, gleitet durch das schiere Gewicht dieser irdischen Gedanken allmählich in die tieferen Regionen herab.166 11,12 Dabei begibt sie sich nicht abrupt aus der vollkommenen Unkörperlichkeit in den rohen Körper,167 sondern ganz allmählich, durch schleichenden Verlust und allmähliches Schwinden ihrer früheren einfachen und vollkommenen Reinheit. Dabei wächst ihr sukzessive eine Art Astralleib heran; denn in jeder einzelnen Sphäre unterhalb des Himmels wird sie in eine zusätzliche ätherische Hülle gekleidet, mit deren Hilfe sie schrittweise an die Verbindung mit unserer irdenen Hülle gewöhnt wird.168 So tritt sie schließlich, nach so vielen Toden, wie sie Sphären durchlaufen hat, in den Zustand ein, den man auf Erden Leben nennt.

Der Weg der Seelen durch den Kosmos 12,1 Der Abstieg der Seele selbst, der sie vom Himmel in die unterste Sphäre des irdischen Lebens herabgleiten lässt, geschieht nach folgender Ordnung:169 Die Milchstraße umgibt den Zodiakus mit einer Kreisbahn, die in schrägem Winkel so auf ihn trifft, dass sie ihn an seinen beiden tropischen Sternzeichen Steinbock und Krebs schneidet. Die Naturforscher nannten diese Schnittpunkte die Tore der Sonne, weil an diesen beiden Punkten durch die Sonnwende das weitere Vorrücken der Sonne verhindert wird und sie so in die Zone zurückkehrt, deren Grenzen sie niemals verlässt.170 12,2 Durch diese beiden Tore, so glaubt man, gelangen die Seelen vom Himmel auf die Erde und von ihr wieder in den Himmel zurück. Deswegen nennt man das eine »Tor der Menschen«, das andere »Tor der Götter«: Das Tor der Menschen ist der Krebs, weil durch ihn der Abstieg in die unteren Regionen erfolgt, das Tor der Götter ist der Steinbock, weil durch ihn die Seelen zum angestammten Sitz ihrer Unsterblichkeit und in den Kreis der Götter zurückkehren.171 12,3 Das ist es, was uns Homer in seiner göttlichen Weisheit bei der Beschreibung der Grotte in Ithaka zu verstehen gibt.172 Und deswe-

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pere Ditis imperium, quia animae inde lapsae uidentur iam a superis recessisse. Ideo primam nascentibus offerri ait lactis alimoniam, quia primus eis motus a lacteo incipit in corpora terrena labentibus. Vnde et Scipioni de animis beatorum ostenso lacteo dictum est »hinc profecti huc reuertuntur.« 12,4 Ergo descensurae cum adhuc in Cancro sunt, quoniam illic positae necdum lacteum reliquerunt, adhuc in numero sunt deorum. Cum uero ad Leonem labendo peruenerint, illic condicionis futurae auspicantur exordium. Et quia in Leone sunt rudimenta nascendi et quaedam humanae naturae tirocinia, Aquarius autem aduersus Leoni est et illo oriente mox occidit, ideo, cum sol Aquarium tenet, Manibus parentatur, utpote in signo quod humanae uitae contrarium uel aduersum feratur. 12,5 Illinc ergo, id est a confinio quo se zodiacus lacteusque contingunt, anima descendens a tereti, quae sola forma diuina est, in conum defluendo producitur, sicut a puncto nascitur linea et in longum ex indiuiduo procedit, ibique a puncto suo, quod est monas, uenit in dyadem, quae est prima protractio. 12,6 Et haec est essentia quam indiuiduam eandemque diuiduam Plato in Timaeo, cum de mundanae animae fabrica loqueretur, expressit. Animae enim, sicut mundi, ita et hominis unius, modo diuisionis reperientur ignarae, si diuinae naturae simplicitas cogitetur, modo capaces, cum illa per mundi, haec per hominis membra diffunditur. 12,7 Anima ergo, cum trahitur ad corpus, in hac prima sui productione siluestrem tumultum, id est ’lhn influentem sibi, incipit experiri, et hoc est quod Plato notauit in Phaedone, animam in corpus trahi noua ebrie-

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gen glaubt Pythagoras, dass unterhalb der Milchstraße das Reich des Dis beginne, weil Seelen, die von ihr herabsinken, den Bereich des Göttlichen hinter sich gelassen hätten. Deshalb, sagt er, werde den Neugeborenen auch Milch als Nahrung gegeben, weil die erste Bewegung der Seelen, wenn sie in die Körper herabsänken, von der Milchstraße ausgehe. Und deswegen erhielt Scipio, nachdem ihm die Milchstraße gezeigt worden war, über die Seelen der Glückseligen auch die Auskunft »sie gehen von hier aus und kehren hierher zurück«.173 12,4 Solange die Seelen sich vor ihrem Abstieg noch im Sternbild des Krebses befinden, sind sie noch in der Gemeinschaft der Götter, weil sie dort die Milchstraße noch nicht verlassen haben. Wenn sie aber auf ihrer Bahn beim Löwen ankommen,174 beginnen sie, in die erste Phase ihrer zukünftigen Existenzform einzutreten. Und weil im Löwen die ersten Anfänge ihrer Geburt liegen und sie gleichsam ihre ersten Schritte in die menschliche Natur tun, andererseits der Wassermann zum Löwen in Opposition steht und untergeht, wenn jener aufgeht, opfert man den Manen dann, wenn die Sonne im Wassermann steht, also in einem Sternzeichen, das als Gegner und Feind des menschlichen Lebens gilt.175 12,5 Wenn nun die Seele von dort, also vom Schnittpunkt des Zodiakus und der Milchstraße hinabsteigt, wird ihre Kreisform, die einzige Form von göttlicher Natur, durch das Absinken zur Kegelgestalt gelängt, gleichwie ein Punkt in eine Linie übergehen kann und so aus dem Zustand der Unteilbarkeit zur teilbaren Länge gedehnt wird. Die Seele wird so aus ihrer Punktgestalt, der Monade, zu einer Dyade und steht damit im ersten Stadium ihrer Ausdehnung.176 12,6 Das ist die Substanz, die Platon im Timaios zugleich als unteilbar und teilbar bezeichnet, wenn er sich über die Erschaffung der Weltseele äußert.177 Die Seele nämlich, sei sie Weltseele oder menschliche Einzelseele, erscheint einerseits als unteilbar, wenn man auf die Einfachheit ihrer göttlichen Natur schaut, andererseits als teilbar, insofern die Weltseele sich in die Glieder des Weltalls, die Menschenseele in die Glieder des Menschen ergießt. 12,7 Wenn also die Seele zu einem Körper hingezogen wird, dann bekommt sie bei dieser ihrer ersten Ausdehnung zu spüren, wie die tumultuöse Materie, ’lh, auf sie einströmt. Das Phänomen, dass die Seele taumelnd vor nie erlebter Trunkenheit in einen Körper gezogen wird, hat Pla-

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tate trepidantem, uolens nouum potum materialis alluuionis intellegi, quo delibuta et grauata deducitur. 12,8 Arcani huius indicium est et Crater Liberi patris ille sidereus in regione quae inter Cancrum est et Leonem locatus, ebrietatem illic primum descensuris animis euenire silua influente significans, unde et comes ebrietatis, obliuio, illic animis incipit iam latenter obrepere. 12,9 Nam si animae memoriam rerum diuinarum, quarum in caelo erant consciae, ad corpora usque deferrent, nulla inter homines foret de diuinitate dissensio; sed obliuionem quidem omnes descendendo hauriunt, aliae uero magis, minus aliae. Et ideo in terris uerum cum non omnibus liqueat, tamen opinantur omnes, quia opinionis ortus est memoriae defectus. 12,10 Hi tamen hoc magis inueniunt qui minus obliuionis hauserunt, quia facile reminiscuntur quid illic ante cognouerint. Hinc est quod, quae apud Latinos lectio, apud Graecos uocatur repetita cognitio, quia, cum uera discimus, ea recognoscimus quae naturaliter noueramus, priusquam materialis influxio in corpus uenientes animas ebriaret. 12,11 Haec est autem hyle, quae omne corpus mundi quod ubicumque cernimus, ideis impressa formauit. Sed altissima et purissima pars eius, qua uel sustentantur diuina uel constant, nectar uocatur et creditur esse potus deorum, inferior uero atque turbidior potus animarum, et hoc est quod ueteres Lethaeum fluuium uocauerunt. 12,12 Ipsum autem Liberum Patrem Orphaici no‹n ÕlikÏn suspicantur intellegi, qui ab illo indiuiduo natus in singulos ipse diuiditur. Ideo in illorum sacris traditur Titanio furore in membra discerptus et frustis sepultis rursus unus et integer emersisse, quia no‹c, quem diximus mentem uocari, ex indiuiduo praebendo se diuidendum, et rursus ex diuiso ad

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ton im Phaidon beschrieben; er wollte darunter den ungewohnten Trunk aus dem Strom der Materie verstanden wissen, von welcher die Seele durchtränkt und beschwert nach unten gezogen wird.178 12,8 Ein Symbol dieses Geheimnisses ist der Becher des Bacchus, jenes Gestirns, das seinen Platz zwischen dem Krebs und dem Löwen hat und versinnbildlicht, dass die im Abstieg begriffenen Seelen dort das erste Mal in Trunkenheit geraten, wenn die Materie auf sie einströmt. Daher beginnt sich dort auch der Begleiter der Trunkenheit, das Vergessen, unvermerkt in die Seelen einzuschleichen.179 12,9 Wenn nämlich die Seelen die Erinnerung an die göttliche Ordnung, um die sie im Himmel wussten, in die Körper mitbrächten, gäbe es unter den Menschen keine Meinungsverschiedenheiten über das Göttliche. Da aber alle Seelen bei ihrem Abstieg im größeren oder geringeren Maß vom Vergessen trinken, haben, obwohl auf Erden die Wahrheit nicht allen bekannt ist, dennoch alle Mutmaßungen über sie; denn das Schwinden der Erinnerung ist der Beginn der Mutmaßung. 12,10 Freilich finden diejenigen die Wahrheit leichter, die weniger vom Vergessen getrunken haben, weil sie sich leichter daran erinnern, was sie zuvor im Jenseits gewusst haben. Daher kommt das griechische Wort für unser lateinisches »Lesen«, nämlich »Wiedererkennen«,180 weil wir, wenn wir wahre Sachverhalte kennenlernen, uns lediglich daran erinnern, was wir schon natürlicherweise wussten, bevor der Zustrom der Materie unsere sich inkarnierenden Seelen trunken machte.181 12,11 Unter hyle versteht man die Materie, die nach ihrer Formung durch die Ideen den ganzen Weltenkörper bildet, den wir rund um uns sehen. Ihr oberster und reinster Teil, dem die göttlichen Wesenheiten ihre Erhaltung oder Existenz verdanken, heißt Nektar und gilt als Trank der Götter. In tieferen Bereichen und von geringerer Reinheit findet sich der Trank der Seelen; die Alten nannten ihn den Lethefluss.182 12,12 Die Orphiker glauben, dass Bacchus selbst als der Geist der Materie, no‹c ÕlikÏc, verstanden werden muss, der aus dem Ungeteilten hervorgeht und sich selbst in individuelle Teile teilt. Deswegen wird in ihren Mysterien überliefert, dass er vom Furor der Titanen in Stücke gerissen und so begraben wurde, dann aber wieder ganz und unversehrt auferstanden sei,183 weil der no‹c, also wie oben gesagt der Geist, indem er sich als Ungeteiltes der Teilung unterwirft und wiederum aus dem Zustand der

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indiuiduum reuertendo et mundi implet officia et naturae suae arcana non deserit. 12,13 Hoc ergo primo pondere de zodiaco et lacteo ad subiectas usque sphaeras anima delapsa, dum et per illas labitur, in singulis non solum, ut iam diximus, luminosi corporis amicitur accessu, sed et singulos motus, quos in exercitio est habitura, producit: 12,14 in Saturni, ratiocinationem et intellegentiam, quod logistikÏn et jewrhtikÏn uocant; in Iouis, uim agendi, quod praktikÏn dicitur; in Martis, animositatis ardorem, quod jumikÏn nuncupatur; in Solis, sentiendi opinandique naturam, quod a sjhtikÏn et fantastikÏn appellant; desiderii uero motum, quod ‚pijumhtikÏn uocatur, in Veneris; pronuntiandi et interpretandi quae sentiat, quod ·rmhneutikÏn dicitur, in orbe Mercurii; futikÏn uero, id est naturam plantandi et augendi corpora, in ingressu globi lunaris exercet. 12,15 Et est haec sicut a diuinis ultima ita in nostris terrenisque omnibus prima. Corpus enim hoc, sicut faex rerum diuinarum est, ita animalis est prima substantia. 12,16 Et haec est differentia inter terrena corpora et supera, caeli dico et siderum aliorumque elementorum, quod illa quidem sursum arcessita sunt ad animae sedem, et immortalitatem ex ipsa natura regionis et sublimitatis imitatione meruerunt. Ad haec uero terrena corpora anima ipsa deducitur et ideo mori creditur, cum in caducam regionem et in sedem mortalitatis includitur. 12,17 Nec te moueat quod de anima, quam esse immortalem dicimus, mortem totiens nominamus. Et enim sua morte anima non extinguitur, sed ad tempus obruitur, nec temporali demersione beneficium perpetuitatis eximitur, cum rursus e corpore, ubi meruerit contagione uitiorum peni-

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Teilung zum Ungeteilten zurückkehrt, seine Funktion im Kosmos erfüllt und dennoch das Geheimnis seiner Natur bewahrt. 12,13 Während nun die Seele infolge ihrer ersten Beschwerung vom Kreuzungspunkt des Zodiakus mit der Milchstraße kontinuierlich durch die niedrigeren Sphären hinabgleitet, kleidet sie sich nicht nur, wie wir gesagt haben, jeweils in eine weitere Hülle beim Kontakt mit dem jeweiligen Planeten, sondern entwickelt auch die einzelnen Seelenvermögen, über die sie zukünftig verfügen muss.184 12,14 In der Sphäre des Saturns sind das Vernunft und Einsicht, auf Griechisch logistikÏn und jewrhtikÏn, in der des Jupiter die Tatkraft (praktikÏn); in der Sphäre des Mars Kühnheit und Wagemut (jumikÏn), in der Sonne das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen (a sjhtikÏn und fantastikÏn). Das Streben (‚pijumhtikÏn) erwirbt sie in der Venus, die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck und zum Erklären (·rmhneutikÏn) im Merkur; das futikÏn schließlich, die Fähigkeit, Körper zu zeugen und wachsen zu lassen, erwirbt sie, wenn sie in die Sphäre des Mondes eintritt.185 12,15 Letztere ist die von den Göttern am weitesten entfernte Fähigkeit, die erste aber bei uns und bei allen irdischen Wesenheiten. Unser Körper nämlich ist der Bodensatz des Göttlichen, aber zugleich die erste belebte Substanz. 12,16 Der Unterschied zwischen den irdischen Körpern und den überirdischen, also Himmel, Gestirnen und anderen Himmelselementen, ist, dass diese zum Sitz der Weltseele hinaufberufen worden sind und sich die Unsterblichkeit durch die Natur der Himmelsregion selbst und die Nachahmung ihrer Erhabenheit erworben haben. In unsere irdischen Körper wird die Seele aber hinabgeführt, und deshalb glaubt man, sie sterbe, wenn sie in der Region der Vergänglichkeit und am Sitz der Sterblichkeit eingekerkert wird. 12,17 Lass dich nun nicht verwirren, dass wir beim Thema Seele so oft von ihrem Tod gesprochen haben, wo wir sie doch als unsterblich bezeichnet haben. Durch ihren Tod wird die Seele nämlich nicht ausgelöscht, sondern nur zeitweilig verschüttet, und sie verliert durch ihre vorübergehende Herabdrückung auch nicht das Privileg der Unsterblichkeit. Denn sobald sie sich von der Befleckung durch die Laster vollständig befreit und es verdient hat, ihre frühere Reinheit wiederzuerlangen, wird sie aus dem Körper

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tus elimata purgari, ad perennis uitae lucem restituta in integrum reuertatur. 12,18 Plene, ut arbitror, de uita et morte animae definitio liquet, quam de adytis philosophiae doctrina et sapientia Ciceronis elicuit. 13,1 Sed Scipio per quietem et caelo, quod in praemium cedit beatis, et promissione immortalitatis animatus tam gloriosam spem tamque inclitam magis magisque firmauit uiso parente, de quo utrum uiueret, cum adhuc uideretur dubitare, quaesiuerat. 13,2 Mortem igitur malle coepit, ut uiueret, nec flesse contentus uiso parente quem crediderat extinctum, ubi loqui posse coepit, hoc primum probare uoluit nihil se magis desiderare quam ut cum eo iam moraretur. Nec tamen apud se quae desiderabat facienda constituit quam ante consuleret: quorum unum prudentiae, alterum pietatis adsertio est. Nunc ipsa uel consulentis uel praecipientis uerba tractemus. 13,3 »Quaeso, inquam, pater sanctissime atque optime, quoniam haec est uita, ut Africanum audio dicere, quid moror in terris? Quin huc ad uos uenire propero? – Non est ita, inquit ille. Nisi enim cum deus is, cuius hoc templum est omne quod conspicis, istis te corporis custodiis liberauerit, huc tibi aditus patere non potest. 13,4 Homines enim sunt hac lege generati qui tuerentur illum globum quem in templo hoc medium uides, quae terra dicitur, hisque animus datus est ex illis sempiternis ignibus quae sidera et stellas uocatis, quae, globosae et rotundae, diuinis animatae mentibus, circulos suos orbesque conficiunt celeritate

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wieder dem Licht des ewigen Lebens restituiert und kehrt in ihre vollgültige Existenz zurück. 12,18 Damit ist, wie ich meine, die Frage nach Leben und Tod der Seele vollständig geklärt, eine Klärung, die aus dem Allerheiligsten der Philosophie ans Licht gebracht wurde durch die Gelehrtheit und Weisheit Ciceros.

Selbstmord ist kein Mittel zur vorzeitigen Rückkehr in den Himmel 13,1 Aber Scipio wurde in seinem Traum ermutigt durch den Gedanken, dass der Himmel den Glückseligen als Lohn zuteilwerde und ihnen die Unsterblichkeit versprochen sei, und diese glänzende und ruhmverheißende Hoffnung wurde noch genährt durch die Erscheinung seines Vaters. Er hatte sich ja vorher, anscheinend noch von Zweifeln geplagt, erkundigt, ob dieser tatsächlich lebe. 13,2 So wuchs der Wunsch in ihm, zu sterben, um wahrhaft zu leben. Und er beschränkte sich nicht darauf, beim Anblick des totgeglaubten Vaters zu weinen, sondern wollte ihn, sobald er die Sprache wiedergefunden hatte, zu allererst davon überzeugen, dass er sich nichts lieber wünsche, als hinfort bei ihm zu bleiben. Er beschloss aber in seinem Inneren, diesen Wunsch nicht zu verwirklichen, ohne vorher den Vater konsultiert zu haben. Ersteres bezeugt seine Weisheit, letzteres das Pflichtbewusstsein des Sohnes.186 Betrachten wir nun seine Frage, und die Belehrung, die er von seinem Vater empfängt: 13,3 »Bitte, mein bester und verehrungswürdigster Vater«, sagte ich, »wenn das wahre Leben hier ist, wie ich Africanus sagen höre, wozu verweile ich dann noch auf Erden? Warum mache ich mich nicht unverzüglich auf zu Euch?« »So geht das nicht«, antwortete jener. »Solange nämlich der Gott, dessen Eigentum der ganze Tempelbezirk ist, den du hier siehst, dich nicht aus den Fesseln des Körpers befreit hat, ist dir der Zugang hierher verschlossen. 13,4 Die Menschen werden nämlich unter dem Gesetz geboren, dass sie den Himmelskörper schützen müssen, den du in der Mitte dieses Tempels erblickst und der Erde heißt. Sie haben eine Seele erhalten aus jenen ewigen Feuern, die ihr Fixsterne und Planeten nennt, und die, kugelgestaltig und von göttlichem Geist

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mirabili. Quare et tibi, Publi, et piis omnibus retinendus animus est in custodia corporis nec iniussu eius, a quo ille est uobis datus, ex hominum uita migrandum est, ne munus adsignatum a deo diffugisse uideamini.« 13,5 Haec secta et praeceptio Platonis est, qui in Phaedone definit homini non esse sua sponte moriendum. Sed in eodem tamen dialogo idem dicit mortem philosophantibus appetendam et ipsam philosophiam meditationem esse moriendi. Haec sibi ergo contraria uidentur, sed non ita est. Nam Plato duas mortes hominis nouit. Nec hoc nunc repeto quod superius dictum est, duas esse mortes, unam animae, animalis alteram. Sed ipsius quoque animalis, hoc est hominis, duas adserit mortes, quarum unam natura, uirtutes alteram praestant. 13,6 Homo enim moritur cum anima corpus relinquit solutum lege naturae. Mori etiam dicitur cum anima, adhuc in corpore constituta, corporeas illecebras philosophia docente contemnit, et cupiditatum dulces insidias reliquasque omnes exuitur passiones. Et hoc est quod superius ex secundo uirtutum ordine, quae solis philosophantibus aptae sunt, euenire signauimus. 13,7 Hanc ergo mortem dicit Plato sapientibus appetendam, illam uero quam omnibus natura constituit cogi uel inferri uel accersiri uetat, docens expectandam esse naturam, et has causas huius aperiens sanctionis quas ex usu rerum quae in cotidiana conuersatione sunt mutuatur. 13,8 Ait enim eos qui potestatis imperio truduntur in carcerem non oportere inde diffugere priusquam potestas ipsa quae clausit abire permiserit: non enim uitari poenam furtiua discessione, sed crescere. Hoc quoque addit, nos esse in dominio dei, cuius tutela et prouidentia gubernamur; nihil autem esse inuito domino de his quae possidet ex eo loco in quo suum

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beseelt, mit staunenswerter Geschwindigkeit ihre Kreisbahnen ziehen. Deshalb, mein Publius, musst du und müssen alle pflichtbewussten Menschen die Seele in der Gefangenschaft des Körpers halten, und ihr dürft nicht gegen den Willen dessen, der sie euch gegeben hat, aus dem menschlichen Leben scheiden, damit es nicht den Anschein hat, ihr wolltet der vom Gott euch zugewiesenen Aufgabe entkommen.« (Rep. 6,15) 13,5 Das ist die Lehre und das Gebot Platons, der im Phaidon sagt, dass ein Mensch nicht aus eigenem Entschluss in den Tod gehen dürfe.187 Aber er sagt in diesem Dialog auch, dass der Tod für den Philosophen erstrebenswert und dass die Philosophie selbst eine Vorbereitung auf das Sterben sei. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch, denn Platon kennt zwei Todesarten für den Menschen. Ich wiederhole hier nicht die Feststellung von oben,188 dass es zwei Arten des Todes gibt, einen der Seele und einen des beseelten Wesens. Vielmehr sagt Platon, dass es auch für letzteres, also den Menschen, zwei Arten des Todes gebe, die von der Natur beziehungsweise durch die Tugenden herbeigeführt werden. 13,6 Der Mensch nämlich stirbt, wenn der Körper gemäß natürlichem Gesetz abgestorben ist und die Seele den Körper verlässt. Man spricht aber auch von seinem Sterben, wenn seine Seele, noch behaust im Leib, den Lehren der Philosophie folgt, die leiblichen Verlockungen verschmäht und sich so von den süßen Verführungen der Begierden und allen anderen Leidenschaften freimacht. Das ist es, wohin man, wie weiter oben ausgeführt, durch die zweite Gruppe der Tugenden gelangt, die nur den Philosophen zu eigen sind. 13,7 Diesen Tod erklärt Platon als erstrebenswert für die Weisen, wogegen der Tod, den die Natur allen bestimmt, weder erzwungen noch verursacht noch gesucht werden dürfe. Er lehrt, dass man das natürliche Lebensende abwarten müsse, und eröffnet uns die Gründe für dieses Gebot, indem er auf unsere praktische Lebenserfahrung zurückgreift. 13,8 Er sagt nämlich, wenn jemand auf Befehl der Obrigkeit ins Gefängnis geworfen wurde, dürfe er von dort nicht entfliehen, bevor die Obrigkeit, die die Haft angeordnet hat, ihn freilässt; durch heimliche Flucht lasse sich die Strafe nicht vermeiden, sondern nur verschärfen. Weiter sagt er, dass wir unter der Herrschaft der Gottheit stünden, deren Schutz und Fürsorge uns leite; gegen den Willen des Herrn aber dürfe

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constituerat auferendum; et sicut qui uitam mancipio extorquet alieno, crimine non carebit, ita eum qui finem sibi domino necdum iubente quaesiuerit, non absolutionem consequi sed reatum. 13,9 Haec Platonicae sectae semina altius Plotinus exsequitur. Oportet, inquit, animam post hominem liberam corporeis passionibus inueniri. Quam qui de corpore uiolenter extrudit, liberam esse non patitur. Qui enim sibi sua sponte necem comparat, aut pertaesus necessitatis aut metu cuiusquam ad hoc descendit aut odio, quae omnia inter passiones habentur. Ergo etsi ante fuit his sordibus pura, hoc ipso tamen, quod exit extorta, sordescit. Deinde mortem debere ait animae a corpore solutionem esse, non uinculum; exitu autem coacto animam circa corpus magis magisque uinciri. 13,10 Et re uera ideo sic extortae animae diu circa corpus eiusue sepulturam uel locum in quo iniecta manus est peruagantur, cum contra illae animae, quae se in hac uita a uinculis corporis philosophiae morte dissoluunt, adhuc extante corpore caelo et sideribus inserantur. Et ideo illam solam de uoluntariis mortibus significat esse laudabilem quae comparatur, ut diximus, philosophiae ratione, non ferro, prudentia, non ueneno. 13,11 Addit etiam illam solam esse naturalem mortem ubi corpus animam, non anima corpus relinquit. Constat enim numerorum certam constitutamque rationem animas sociare corporibus. Hi numeri dum supersunt, perseuerat corpus animari; cum uero deficiunt, mox arcana illa uis soluitur qua societas ipsa constabat, et hoc est quod fatum et fatalia uitae tempora uocamus. 13,12 Anima ergo ipsa non deficit, quippe quae immortalis atque perpetua est, sed impletis numeris corpus fatiscit; nec anima lassatur ani-

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nichts von dessen Besitz vom festgelegten Verwahrort entfernt werden; und wie jemand unter Anklage gestellt werde, der einen fremden Sklaven getötet habe, so erwarte den, der ohne Einverständnis seines Herrn seinem Leben ein Ende setzen wolle, nicht der Frei-, sondern der Schuldspruch. 13,9 Diese Grundsätze der platonischen Lehre werden von Plotin weiterentwickelt.189 Er sagt, dass die Seele nach dem Tod frei von den körperlichen Affekten sein müsse; wer sie aber gewaltsam vom Körper trenne, versage ihr diese Freiheit. Wer sich nämlich selbst gewaltsam den Tod gebe, der lasse sich zu diesem Schritt entweder aus Resignation in einer Zwangslage oder aus Furcht oder Hass anderen gegenüber hinreißen, alles Regungen, die zu den Affekten zählten. Mag folglich die Seele vorher auch von dieser Art Verunreinigung frei gewesen sein, werde sie doch durch den schieren Vorgang der gewaltsamen Trennung befleckt. Er fährt fort, dass der Tod die Befreiung der Seele vom Körper und nicht die Fesselung an ihn sein müsse; sei das Scheiden der Seele vom Körper aber erzwungen, werde sie umso fester in der Umgebung des Körpers festgehalten. 13,10 Und tatsächlich irren derart dem Körper entrissene Seelen lange um den Toten, seine Grabstätte oder um den Ort des Selbstmords umher, wogegen diejenigen Seelen, die sich in diesem Leben der Körperfesseln mittels des philosophischen Todes entledigen, noch zu Lebzeiten des Körpers in die Gemeinschaft der Gestirne des Himmels aufgenommen werden. Und das ist der Grund, warum Plotin von den freiwilligen Arten des Todes denjenigen als einzigen für erstrebenswert erklärt, der, wie gesagt, herbeigeführt wird auf philosophische Weise und nicht mit dem Schwert, durch Weisheit und nicht mit Gift. 13,11 Er sagt überdies, dass ein natürlicher Tod nur dann eintrete, wenn sich der Körper von der Seele, nicht die Seele vom Körper trennt. Bekanntlich werden ja Seele und Körper durch eine präzise und regelhafte Relation von Zahlen aneinandergebunden.190 Solange dieses Verhältnis existiert, bleibt der Körper beseelt, wenn es aber schwindet, schwindet bald auch jene geheimnisvolle Kraft, auf der die Verbindung beruhte; das nennen wir Fatum oder vom Fatum bestimmte Lebensspanne. 13,12 Die Seele selbst also vergeht nicht, da sie ja unsterblich ist und ewig lebt, der Körper aber zerfällt, sobald die Harmonie der Zahlen verklungen ist. Die Seele ist nicht erschöpft durch ihr Beseelen, der Körper aber gibt seine Funktionen auf, wenn er nicht mehr beseelt werden kann. Daher

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mando sed officium suum deserit corpus cum iam non possit animari. Hinc illud est doctissimi uatis: »explebo numerum reddarque tenebris.« 13,13 Haec est igitur naturalis uere mors, cum finem corporis solus numerorum suorum defectus apportat, non cum extorquetur uita corpori adhuc idoneo ad continuationem ferendi. Nec leuis est differentia uitam uel natura uel sponte soluendi. 13,14 Anima enim, cum a corpore deseritur, potest in se nihil retinere corporeum, si se pure, cum in hac uita esset, instituit. Cum uero ipsa de corpore uiolenter extruditur, quia exit rupto uinculo, non soluto, fit ei ipsa necessitas occasio passionis, et malis uinculi, dum rumpit, inficitur. 13,15 Hanc quoque superioribus adicit rationem non sponte pereundi: cum constet, inquit, remunerationem animis illic esse tribuendam pro modo perfectionis ad quam in hac uita unaquaeque peruenit, non est praecipitandus uitae finis cum adhuc proficiendi esse possit accessio. 13,16 Nec frustra hoc dictum est. Nam in arcanis de animae reditu disputationibus fertur in hac uita delinquentes similes esse super aequale solum cadentibus, quibus denuo sine difficultate praesto sit surgere; animas uero ex hac uita cum delictorum sordibus recedentes aequandas his qui in abruptum ex alto praecipitique delapsi sint, unde numquam facultas sit resurgendi. Ideo ergo utendum concessis uitae spatiis ut sit perfectae purgationis maior facultas. 13,17 Ergo, inquies, qui iam perfecte purgatus est, manum sibi debet inferre, cum non sit ei causa remanendi, quia profectum ulterius non requirit qui ad supera peruenit. Sed hoc ipso quo sibi celerem finem spe fruendae

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das Wort des weisesten Dichters: »Ich werde die Zahl vollmachen und ins Schattenreich zurückkehren«.191 13,13 Folglich tritt der natürliche Tod tatsächlich dann ein, wenn die Erschöpfung des Zahlenvorrats, und nichts anderes, dem Körper das Ende bringt, nicht wenn das Leben einem Körper geraubt wird, der noch fähig wäre, es weiter zu fristen. Und es ist ein erheblicher Unterschied, ob das Leben natürlich oder durch willentliche Entscheidung endet. 13,14 Wenn die Seele nämlich vom Körper verlassen wird, kann sie nichts Körperliches mehr an sich haben, sofern sie sich während des irdischen Lebens rein bewahrt hat. Wenn sie aber gewaltsam aus dem Körper vertrieben wird, wird dieser Gewaltakt Anlass ihres Leidens, da sie ihn nicht nach Lösung, sondern nach Kappung des körperlichen Bandes verlässt und sie bei dessen Durchtrennung von seinen Übeln befallen wird. 13,15 Plotin fügt den oben vorgebrachten Gründen gegen den Freitod noch einen weiteren hinzu: Da feststeht, dass die Seelen im Jenseits entsprechend dem Vollkommenheitsgrad, den sie im diesseitigen Leben erreicht haben, individuell belohnt werden müssen, darf das Lebensende nicht vorschnell herbeigeführt werden, da ja ein immer noch weiterer Grad der Vervollkommnung erreichbar ist.192 13,16 Und das sind keine grundlosen Worte. Denn in den esoterischen Abhandlungen über die Rückkehr der Seele heißt es, dass Menschen, die im irdischen Leben Verfehlungen begangen haben, vergleichbar seien mit jemandem, der auf den flachen Boden stürze, von wo man sich problemlos wieder erheben könne. Seelen hingegen, die aus diesem Leben verunreinigt durch Verbrechen scheiden, seien vergleichbar mit einem, der aus der Höhe kopfüber in eine Schlucht hinabgestürzt sei, aus der er niemals wieder emporklimmen könne. Deswegen müsse man die zugestandene Lebenszeit nutzen, um mehr Gelegenheit zur vollkommenen Reinigung zu haben.193 13,17 Du wirst einwenden, dass folglich jemand, der bereits vollkommen geläutert ist, Hand an sich legen müsse, da es ja keinen Grund mehr für ihn gebe, im Leben zu verweilen; denn wer bereits auf dem Gipfel angelangt sei, brauche ja nicht nach einem weiteren Aufstieg suchen. Doch wer ein rasches Ende für sich sucht in der Hoffnung auf den Genuss der Glückseligkeit, verstrickt sich eben dadurch in das Netz der Leidenschaf-

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beatitatis arcessit, inretitur laqueo passionis, quia spes, sicut timor, passio est; sed et cetera quae superior ratio disseruit incurrit. 13,18 Et hoc est quod Paulus filium spe uitae uerioris ad se uenire properantem prohibet ac repellit, ne festinatum absolutionis ascensionisque desiderium magis eum hac ipsa passione uinciat ac retardet, nec dicit quod nisi mors naturalis aduenerit »emori non poteris«, sed »huc uenire non poteris«. 13,19 »Nisi enim cum deus«, inquit, »istis te corporis custodiis liberauerit, huc tibi aditus patere non potest«, quia scit, iam receptus in caelum, nisi perfectae puritati caelestis habitaculi aditum non patere. Pari autem constantia mors nec ueniens per naturam timenda est, nec contra ordinem cogenda naturae. 13,20 Ex his quae Platonem quaeque Plotinum de uoluntaria morte pronuntiasse rettulimus, nihil in uerbis Ciceronis quibus hanc prohibet remanebit obscurum. 14,1 Sed illa uerba quae praeter hoc sunt inserta repetamus. »Homines enim sunt hac lege generati qui tuerentur illum globum quem in templo hoc medium uides, quae terra dicitur, hisque animus datus est ex illis sempiternis ignibus quae sidera et stellas uocatis; quae globosae et rotundae, diuinis animatae mentibus, circos suos orbesque conficiunt celeritate mirabili.« 14,2 De terra cur globus dicatur in medio mundo positus, plenius disseremus cum de nouem sphaeris loquemur. Bene autem uniuersus mundus dei templum uocatur, propter illos qui aestimant nihil esse aliud deum nisi

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ten, denn die Hoffnung ist, wie die Furcht, eine Leidenschaft. Es droht ihm aber auch alles Übrige, was wir weiter oben dargelegt haben. 13,18 Das ist der Grund, warum Paullus seinen Sohn, der von der Hoffnung auf das wahrhafte Leben beflügelt, zu ihm kommen wollte, beschwichtigt und ihn zurückweist. Denn er wollte nicht, dass die überstürzte Hoffnung auf Lösung vom Leben und Aufstieg in den Himmel ihn eben durch diese Leidenschaft umso mehr fessle und seinen Aufstieg verzögere. Er sagt auch nicht, dass Scipio nur durch einen natürlichen Tod »sterben könne«, sondern »hierher gelangen könne«. 13,19 »Solange nämlich der Gott«, sagt er, »dich nicht aus den Fesseln des Körpers befreit hat, ist dir der Zugang hierher verschlossen.« Er, der selber schon in den Himmel aufgenommen war, wusste ja, dass der Zugang zum Himmel nur im Zustand vollkommener Reinheit möglich ist. So bedarf es der Charakterfestigkeit in doppelter Hinsicht: Wir dürfen weder den von der Natur gesandten Tod fürchten noch ihn gegen die Ordnung der Natur erzwingen. 13,20 Nachdem wir nun referiert haben, was Platon und Plotin über den Freitod lehren, wird keine Unklarheit über die Worte Ciceros bleiben, mit denen er den Freitod verbietet.

Die Natur der Seele 14,1 Nun wollen wir uns der Textstelle zuwenden, die unmittelbar auf die eben besprochene folgt: »Die Menschen werden nämlich unter dem Gesetz geboren, dass sie den Himmelskörper schützen müssen, den du in der Mitte dieses Tempels erblickst, und der Erde heißt. Sie haben eine Seele erhalten aus jenen ewigen Feuern, die ihr Fixsterne und Planeten nennt,194 und die, kugelgestaltig und von göttlichem Geist beseelt, mit staunenswerter Geschwindigkeit ihre Kreisbahnen ziehen.« (Rep. 6,15) 14,2 Warum die Erde hier als eine in der Mitte des Weltalls platzierte Kugel bezeichnet wird, erörtern wir eingehender, wenn wir über die neun Sphären sprechen.195 Das All selbst wird treffend »Tempel der Gottheit« genannt, und zwar mit Rücksicht auf die Vertreter der Auffassung, die

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caelum ipsum et caelestia ista quae cernimus. Ideo ut summi omnipotentiam dei ostenderet posse uix intellegi, numquam uideri, quidquid humano subicitur aspectui templum eius uocauit, qui sola mente concipitur, ut qui haec ueneratur ut templa, cultum tamen maximum debeat conditori, sciatque quisquis in usum templi huius inducitur ritu sibi uiuendum sacerdotis; unde et quasi quodam publico praeconio tantam humano generi diuinitatem inesse testatur ut uniuersos siderei animi cognatione nobilitet. 14,3 Notandum est quod hoc loco animum et ut proprie et ut abusiue dicitur posuit. Animus enim proprie mens est, quam diuiniorem anima nemo dubitauit; sed nonnunquam sic et animam usurpantes uocamus. 14,4 Cum ergo dicit: »hisque animus datus est ex illis sempiternis ignibus«, mentem praestat intellegi, quae nobis proprie cum caelo sideribusque communis est. Cum uero ait: »retinendus animus est in custodia corporis«, ipsam tunc animam nominat quae uincitur custodia corporali, cui mens diuina non subditur. 14,5 Nunc qualiter nobis animus, id est mens, cum sideribus communis sit secundum theologos disseramus. 14,6 Deus, qui prima causa et est et uocatur, unus omnium quaeque sunt quaeque uidentur esse princeps et origo est. Hic superabundanti maiestatis fecunditate de se mentem creauit. Haec mens, quae no‹c uocatur,

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Gottheit sei nichts anderes als der Himmel und die Himmelskörper, die wir sehen, selbst. Um dagegen zu zeigen, dass der höchste Gott in seiner Allmacht geistig kaum erfassbar und niemals sichtbar ist, hat Cicero die dem menschlichen Blick zugänglichen Himmelsregionen Tempel genannt, Tempel jenes Gottes, der allein mit dem Geist begriffen werden kann.196 Auf diese Weise schulden die Menschen, die das All als Tempel verehren, dennoch die höchste Verehrung dessen Schöpfer, und jeder, der zum Verkehr im Tempel zugelassen wird, weiß, dass er wie ein Priester leben muss. Und so lässt Cicero gleichsam durch einen Herold erklären, dass den Menschen ein so hoher Grad an Göttlichkeit innewohne, dass die gesamte Menschheit durch die Verwandtschaft mit der himmlischen Seele geadelt ist. 14,3 Wir müssen hier anmerken, dass Cicero das Wort animus sowohl im eigentlichen als im übertragenen Sinne verwendet. Animus im eigentlichen Sinn ist der Intellekt, von dem niemand bezweifelt, dass er göttlicher ist als die anima, das sich im Atem äußernde Lebensprinzip. Nicht selten verwenden wir aber ungenau animus auch im Sinne von anima. 14,4 Wenn Cicero also sagt »sie haben ihren animus erhalten von jenen ewigen Feuern her«, müssen wir animus als Intellekt verstehen, den allein wir als Menschen mit dem Himmel und den Gestirnen gemeinsam haben. Wenn er aber sagt »dein animus muss im Gefängnis deines Leibes gehalten werden«, dann meint er die in der Gefangenschaft des Leibes gehaltene anima, welcher der göttlichen Intellekt nicht unterworfen ist.197

Weltseele, Individualseele und die Hierarchie der Hypostasen 14,5 Nun wollen wir darüber sprechen, inwiefern wir den animus, d.h. den Intellekt, nach Ansicht der Theologen mit den Gestirnen gemeinsam haben.198 14,6 Der Gott, der die erste Ursache ist und genannt wird, ist als Einziger Anfang und Ursprung aller Dinge, die sind und zu sein scheinen.199 Er hat aus der überströmenden Fülle seiner Majestät den Intellekt hervorgebracht. Dieser, der griechisch no‹c heißt, bewahrt, insofern er auf den Vater schaut, die vollkommene Ähnlichkeit mit seinem Urheber, und

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qua patrem inspicit, plenam similitudinem seruat auctoris, animam uero de se creat posteriora respiciens. 14,7 Rursum anima patrem qua intuetur, induitur, ac paulatim regrediente respectu in fabricam corporum incorporea ipsa degenerat. Habet ergo et purissimam ex mente, de qua est nata, rationem, quod logikÏn uocatur, et ex sua natura accipit praebendi sensus praebendique incrementi seminarium, quorum unum a sjhtikÏn, alterum futikÏn nuncupatur. Sed ex his primum, id est logikÏn, quod innatum sibi ex mente sumpsit, sicut uere diuinum est, ita solis diuinis aptum; reliqua duo, a sjhtikÏn et futikÏn, ut a diuinis recedunt, ita conuenientia sunt caducis. 14,8 Anima ergo, creans sibi condensque corpora – nam ideo ab anima natura incipit quam sapientes de deo et mente no‹n nominant – ex illo mero ac purissimo fonte mentis, quem nascendo de originis suae hauserat copia, corpora illa diuina uel supera – caeli dico et siderum – quae prima condebat, animauit, diuinaeque mentes omnibus corporibus quae in formam teretem, id est in sphaerae modum, formabantur, infusae sunt; et hoc est quod, cum de stellis loqueretur, ait: »quae diuinis animatae mentibus.« 14,9 In inferiora uero ac terrena degenerans fragilitatem corporum caducorum deprehendit meram diuinitatem mentis sustinere non posse, immo partem eius uix solis humanis corporibus conuenire, quia et sola uidentur erecta, tamquam ad supera ab imis recedant, et sola caelum facile, tamquam semper erecta, suspiciunt, solisque inest uel in capite sphaerae similitudo, quam formam diximus solam mentis capacem.

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bringt im Blick auf die ihm nachgeordneten Wesenheiten aus sich die Weltseele hervor.200 14,7 Die Weltseele wiederum, soweit sie auf ihren Vater blickt, nimmt dessen Eigenschaften an, aber indem sie ihre Aufmerksamkeit ganz allmählich von ihm abwendet, schlägt sie so weit aus der Art, dass sie, obwohl selbst unkörperlich, die Körper erzeugt.201 Sie hat somit vom Intellekt, aus dem sie hervorgegangen ist, die reine Vernunft, griechisch logikÏn, und aus ihrer eigenen Natur erhält sie die Fähigkeit, sinnliche Wahrnehmung und Wachstum zu verleihen, a sjhtikÏn beziehungsweise futikÏn genannt.202 Der erste dieser drei Teile, das logikÏn, das die Seele vom Intellekt ererbt hat, kommt wegen seiner wahrhaft göttlichen Natur nur dem Göttlichen zu; die beiden anderen, das a sjhtikÏn und das futikÏn, da vom Göttlichen geschieden, auch dem Vergänglichen. 14,8 Während nun die Weltseele sich Körper erschuf und formte, hat sie – und deswegen hat jene Potenz, die von den Kundigen zum Thema Gott und Intellekt der no‹c genannt wird, schon bei der Weltseele ihren Anfang – aus jener absolut reinen und ungetrübten Quelle des Intellekts, aus deren Überfülle sie bei ihrer Entstehung geschöpft hatte, jene göttlichen beziehungsweise überirdischen Körper beseelt, nämlich den Himmel und die Gestirne, die sie als erste erschuf. Und der göttliche Geist wurde allen Körpern eingeflößt, welchen eine runde, das heißt kugelförmige Gestalt bekamen; aus diesem Grund sagte Cicero, als er auf die Sterne zu sprechen kam, »beseelt vom göttlichen Geist«. 14,9 Als die Seele aber in die niedrigeren und irdischen Regionen absank, erkannte sie, dass die Zerbrechlichkeit der vergänglichen Körper die reine Göttlichkeit des Intellekts nicht ertragen könnte. Vielmehr sei das, wenn auch nur teilweise, ausschließlich den menschlichen Körpern möglich. Diese alleine nämlich zeigen sich aufrecht, als ob sie von den tieferen Regionen nach den höheren zurückstrebten, nur sie können als aufwärts gerichtete Wesen leicht zum Himmel aufschauen, und als einzige besitzen sie mit ihrem Kopf eine kugelähnliche Gestalt, von der wir gesagt haben, dass sie alleine fähig sei, den göttlichen Geist in sich aufzunehmen.203

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14,10 Soli ergo homini rationem, id est uim mentis, infudit, cui sedes in capite est, sed et geminam illam sentiendi crescendique naturam, quia caducum est corpus, inseruit. 14,11 Et hinc est quod homo et rationis compos est et sentit et crescit, solaque ratione meruit praestare ceteris animalibus, quae, quia semper prona sunt et ex ipsa quoque suspiciendi difficultate a superis recesserunt nec ullam diuinorum corporum similitudinem aliqua sui parte meruerunt, nihil ex mente sortita sunt et ideo ratione caruerunt, duoque tantum adepta sunt, sentire uel crescere. 14,12 Nam si quid in illis similitudinem rationis imitatur, non ratio sed memoria est, et memoria non illa ratione mixta, sed quae hebetudinem sensuum quinque comitatur; de qua plura nunc dicere, quoniam ad praesens opus non adtinet, omittemus. 14,13 Terrenorum corporum tertius ordo in arboribus et herbis est, quae carent tam ratione quam sensu, et quia crescendi tantummodo usus in his uiget, hac sola uiuere parte dicuntur. 14,14 Hunc rerum ordinem et Vergilius expressit. Nam et mundo animam dedit et, ut puritati eius adtestaretur, mentem uocauit. Caelum enim, ait, et terras et maria et sidera »spiritus intus alit« id est anima, sicut alibi pro spiramento animam dicit: »quantum ignes animaeque ualent:« Et ut illius mundanae animae adsereret dignitatem, mentem esse testatus est: »mens agitat molem«. Nec non ut ostenderet ex ipsa anima constare et animari uniuersa quae uiuunt, addidit: »inde hominum pecudumque genus« et cetera; utque adsereret eundem esse in anima semper uigorem,

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14,10 Sie hat also ausschließlich dem Menschen die Vernunft, also die vom Intellekt ausgehende Kraft, eingeflößt, deren Sitz im Kopf ist. Sie hat ihm aber auch die beiden anderen genannten Fähigkeiten, sinnliche Wahrnehmung und Wachstum, eingepflanzt, weil der Körper ja sterblich ist. 14,11 Hier liegt die Ursache dafür, dass dem Menschen sowohl Vernunft als auch sinnliche Wahrnehmung und Wachstum zu eigen ist. Allein kraft seiner Vernunft verdient er den Vorrang vor den übrigen Lebewesen. Da diese immer vornüber geneigt sind und schon wegen der damit verbundenen Schwierigkeit, aufwärts zu schauen, von der oberen Welt geschieden sind, wurde ihnen nicht der Vorzug zuteil, an irgendeinem Teil ihres Körpers eine Ähnlichkeit mit den göttlichen Körpern zu besitzen. Sie bekamen keinen Anteil am Intellekt und besitzen daher keine Vernunft, sondern nur die beiden anderen Fähigkeiten, nämlich die sinnliche Wahrnehmung und das Wachsen.204 14,12 Denn wenn sich in ihnen eine Art Abklatsch von Verstand zeigt, dann handelt es sich nicht eigentlich um diesen, sondern nur um ein Erinnerungsvermögen, und auch nicht um eines, das mit Urteilsfähigkeit verknüpft ist, sondern nur jenes, das auf den vernunftlosen Empfindungen der fünf Sinne beruht. Darüber brauchen wir nicht weiter reden, weil es mit dem vorliegenden Gegenstand nichts zu tun hat. 14,13 Die dritte Kategorie der irdischen Körper sind die Bäume und Pflanzen, denen Verstand wie Sinneswahrnehmung gleichermaßen fehlen; weil sie nur die Fähigkeit zum Wachstum kennen, gelten sie alleine kraft dieser als lebendig. 14,14 Diese Hierarchie der Natur kennt auch Vergil. Er weist der Welt eine Seele zu, und um deren Reinheit zu bezeugen, nennt er sie Geist. Den Himmel nämlich, sagt er, die Erde, Meer und Gestirne »nährt ein innerer Atem«, das heißt eine Seele, wie er auch andernorts »Seele« in der Bedeutung »Lufthauch« verwendet: »soweit Feuer und Lufthauch Wirkung haben«. Und um die Würde jener Weltseele zu bekräftigen, setzt er sie gleich mit dem Intellekt: »Der Geist setzt das Universum in Bewegung«. Um weiter zu zeigen, dass alle Lebewesen von dieser Weltseele herrühren und beseelt werden, fügt er hinzu: »Von da stammt das Geschlecht der Menschen und der Tiere« und so weiter. Schließlich, um zu bekräftigen, dass diese Seele immer dieselbe Lebenskraft besitzt, aber ihre Energie sich in den Lebewesen abschwäche wegen ihrer Einengung durch den Kör-

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sed usum eius hebescere in animalibus corporis densitate, adiecit: »quantum non noxia corpora tardant« et reliqua. 14,15 Secundum haec ergo, cum ex summo deo mens, ex mente anima sit, anima uero et condat et uita compleat omnia quae sequuntur, cunctaque hic unus fulgor illuminet et in uniuersis appareat, ut in multis speculis per ordinem positis uultus unus, cumque omnia continuis successionibus se sequantur degenerantia per ordinem ad imum meandi, inuenietur pressius intuenti a summo deo usque ad ultimam rerum faecem una mutuis se uinculis religans et nusquam interrupta conexio; et haec est Homeri catena aurea, quam pendere de caelo in terras deum iussisse commemorat. 14,16 His ergo dictis solum hominem constat ex terrenis omnibus mentis, id est animi, societatem cum caelo et sideribus habere communem. Et hoc est quod ait: »hisque animus datus est ex illis sempiternis ignibus, quae sidera et stellas uocatis.« 14,17 Nec tamen ex ipsis caelestibus et sempiternis ignibus nos dicit animatos – ignis enim ille, licet diuinum, tamen corpus est, nec ex corpore quamuis diuino possemus animari – sed unde ipsa illa corpora, quae diuina et sunt et uidentur, animata sunt, id est ex ea mundanae animae parte quam diximus de pura mente constare. 14,18 Et ideo postquam dixit: »hisque animus datus est ex illis sempiternis ignibus, quae sidera et stellas uocatis,« mox adiecit: »quae diuinis animatae mentibus«, ut per sempiternos ignes corpus stellarum, per diuinas uero mentes earum animas manifesta discretione significet, et ex illis in nostras uenire animas uim mentis ostendat.

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per, sagt er noch: »Soweit nicht Schwächen der Körper sie behindern« und so weiter.205 14,15 Folglich, da aus dem höchsten Gott der Intellekt seinen Ursprung nimmt und aus diesem wiederum die Weltseele, diese aber alles Nachgeordnete schafft und mit Leben erfüllt, und da ferner dieser eine Glanz alles erleuchtet und in allen Dingen sich zeigt, so wie ein einziges Gesicht in vielen in Reihe aufgestellten Spiegeln erscheint,206 und da schließlich alles in ununterbrochener Abfolge auseinander hervorgeht und dabei Stufe für Stufe zum tiefsten Punkt herabsteigt, so zeigt sich bei genauer Betrachtung eine einzige, vom höchsten Gott bis zum tiefsten Bodensatz hinunterreichende, Glied um Glied ineinandergreifende und ununterbrochene Verkettung der Dinge. Das ist die Goldene Kette Homers, die nach seinen Worten auf Geheiß des Gottes vom Himmel auf die Erde herabhängt.207 14,16 Damit steht fest, dass der Mensch als einziges von allen irdischen Wesen mit dem Himmel und den Gestirnen einen gemeinschaftlichen Anteil am Intellekt, das heißt am animus, hat. Und das erklärt, warum Cicero sagt: »Sie haben eine Seele erhalten von jenen ewigen Feuern her, die ihr Fixsterne und Planeten nennt«. 14,17 Er sagt allerdings nicht, dass es das himmlische und ewige Feuer ist, durch das wir beseelt werden; denn mag jenes Feuer auch göttlich sein, so ist es doch körperlich, und wir könnten nicht durch einen wenn auch noch so göttlichen Körper beseelt werden. Vielmehr sagt er, wir seien daher beseelt, woher auch jene Körper, die göttlich sind und scheinen, beseelt sind, nämlich von jenem Teil der Weltseele, von dem wir gesagt haben, dass er aus dem reinen Geist bestehe.208 14,18 Deswegen fügt er dem Satz »sie haben eine Seele erhalten aus jenen ewigen Feuern, die ihr Fixsterne und Planeten nennt« hinzu: »die von göttlichem Geist beseelt sind« und bezeichnet so in klarer Unterscheidung mit den »ewigen Feuern« den Körper der Gestirne, mit dem »göttlichen Geist« aber ihre Seelen, und er zeigt, dass von jenen die Kraft des Geistes in unsere Seelen gelangt.

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14,19 Non ab re est ut haec de anima disputatio in fine sententias omnium qui de anima uidentur pronuntiasse contineat. Platon dixit animam essentiam se mouentem, Xenocrates numerum se mouentem, Aristoteles ‚ntelËqeian, Pythagoras et Philolaus Årmon–an, Posidonius ideam, Asclepiades quinque sensuum exercitium sibi consonum, Hippocrates spiritum tenuem per corpus omne dispersum, Heraclides Ponticus lucem, Heraclitus physicus scintillam stellaris essentiae, Zenon concretum corpori spiritum, Democritus spiritum insertum atomis hac facilitate motus ut corpus illi omne sit peruium; 14,20 Critolaus Peripateticus constare eam de quinta essentia, Hipparchus ignem, Anaximenes aera, Empedocles et Critias sanguinem, Parmenides ex terra et igne, Xenophanes ex terra et aqua, Boethos ex aere et igne, Epicurus speciem ex igne et aere et spiritu mixtam. Obtinuit tamen non minus de incorporalitate eius quam de immortalitate sententia. 14,21 Nunc uideamus quae sint haec duo nomina quorum pariter meminit cum dicit: »quae sidera et stellas uocatis.« Neque enim hic res una gemina appellatione monstratur, ut ensis et gladius, sed sunt stellae quidem singulares, ut erraticae quinque, et ceterae quae non admixtae aliis solae feruntur: sidera uero, quae in aliquod signum stellarum plurium compositione formantur, ut Aries, Taurus, ut Andromeda, Perseus uel Corona, et quaecumque uariarum genera formarum in caelum recepta creduntur. Sic et apud Graecos Çst†r et ästron diuersa significant, et

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Doxographie zur Seelenlehre 14,19 Es ist nicht ohne Interesse, am Ende unserer Behandlung der Seele die Auffassungen all derer anzuführen, von denen Äußerungen über die Seelen bekannt sind.209 Platon sagt, dass die Seele eine sich selbst bewegende Substanz sei, Xenokrates, sie sei eine sich selbst bewegende Zahl. Aristoteles bezeichnete sie als Entelechie,210 Pythagoras und Philolaos als Harmonie, Poseidonios als Idee, Asklepiades als das harmonische Funktionieren der fünf Sinne. Hippokrates betrachtete die Seele als einen zarten, den ganzen Körper durchströmenden Hauch, Herakleides Pontikos als Licht, Heraklit der Naturphilosoph als Funken von der Substanz der Sterne, Zenon als im Körper kondensierten Lufthauch, Demokrit als den Atomen innewohnenden Lufthauch von solcher Leichtigkeit der Bewegung, dass er den gesamten Körper durchdringen könne; 14,20 Kritolaos der Peripatetiker meint, sie bestehe aus dem fünften Element.211 Dass sie Feuer sei, meinte Hipparch, Luft dagegen Anaximenes, Blut Empedokles und Kritias. Für Parmenides war sie zusammengesetzt aus Erde und Feuer, für Xenophanes aus Erde und Wasser, für Boethos aus Luft und Feuer, für Epikur war sie ein Gemisch aus Feuer, Luft und Atem. Doch die Auffassung der Unkörperlichkeit der Seele hat sich ebenso durchgesetzt wie die ihrer Unsterblichkeit. Die Astronomie: Topographie der Seelenreise 14,21 Nun wollen wir sehen, was die Bedeutung der beiden Wörter für »Stern« ist, die Cicero synonym verwendet, wenn er sagt: »die ihr sidera und stellae nennt«.212 Tatsächlich ist es nicht so, dass hier derselbe Gegenstand mit zwei Wörtern bezeichnet wird, wie etwa mit den beiden Wörtern für »Schwert«, ensis und gladius. Vielmehr bezeichnet man mit stella die solitären Gestirne wie die fünf Planeten und alle übrigen, die für sich ihre Bahn ziehen, ohne sich zu einer Konstellation zu verbinden;213 mit sidus aber bezeichnet man Formationen, die durch Kombination mehrerer Einzelsterne zu einem Sternzeichen entstehen, wie etwa Widder, Stier, Andromeda, Perseus und Krone und alle anderen Arten unterschiedlicher Konfigurationen, die nach allgemeiner Auffassung an den Himmel versetzt wurden. Auch bei den Griechen bedeutet Çst†r und ästron etwas Unter-

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Çst†r stella una est, ästron signum stellis coactum, quod nos sidus uocamus.

14,22 Cum uero stellas globosas et rotundas dicat, non singularium tantum exprimit speciem, sed et earum quae in signa formanda conueniunt. Omnes enim stellae inter se, etsi in magnitudine aliquam, nullam tamen habent in specie differentiam. Per haec autem duo nomina solida sphaera describitur, quae nec ex globo, si rotunditas desideretur, nec ex rotunditate, si globus desit, efficitur, cum alterum forma, alterum soliditate corporis deseratur. 14,23 Sphaeras autem hic dicimus ipsarum stellarum corpora, quae omnia hac specie formata sunt. Dicuntur praeterea sphaerae et Çplan†c illa, quae maxima est, et subiectae septem, per quas duo lumina et uagae quinque discurrunt. 14,24 Circi uero et orbes duarum sunt rerum duo nomina; et his nominibus quidem alibi aliter est usus. Nam et orbem pro circulo posuit, ut »orbem lacteum«, et orbem pro sphaera, ut »nouem tibi orbibus uel potius globis«. Sed et circi uocantur qui sphaeram maximam cingunt, ut eos sequens tractatus inueniet; quorum unus est lacteus, de quo ait: »inter flammas circus elucens«. 14,25 Sed hic horum nihil neque circi neque orbis nomine uoluit intellegi, sed est orbis in hoc loco stellae una integra et peracta conuersio, id est ab eodem loco post emensum sphaerae per quam mouetur ambitum in eundem locum regressus. Circus est autem hic linea ambiens sphaeram ac ueluti semitam faciens per quam lumen utrumque discurrit, et intra quam uagantium stellarum error legitimus coercetur. 14,26 Quas ideo ueteres errare dixerunt quia et cursu suo feruntur et contra sphaerae maximae, id est ipsius caeli, impetum contrario motu ad orientem ab occidente uoluuntur. Et omnium quidem par celeritas, motus

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schiedliches, nämlich ersteres einen Einzelstern, letzteres ein Sternbild aus mehreren Einzelsternen, das wir sidus nennen.214 14,22 Wenn er aber sagt, die stellae seien »kugelförmig und rund«, meint er damit nicht nur das Aussehen der Einzelsterne, sondern auch derer, die sich zu einem Sternbild gruppieren. Denn alle Sterne, auch wenn sie sich der Größe nach unterscheiden, haben dennoch dieselbe äußere Form. Mit den genannten Wörtern beschreibt er die solide Kugelgestalt, die nicht zustande kommt, wenn nur die Masse ohne Kugelform oder nur die Kugelform ohne Masse gegeben ist; im einen Fall fehlt die Form, im anderen die Masse des Körpers.215 14,23 Unter »Kugel« verstehen wir hier die Körper der Sterne selbst, die alle diese Form haben. »Kugel« findet sich aber auch als Bezeichnung für die Fixsternsphäre, die größte von allen, und für die unter ihr liegenden sieben Sphären, auf denen die beiden Luminare und die fünf Planeten ziehen. 14,24 Circus und orbis sind zwei Wörter für unterschiedliche Dinge, und Cicero verwendet sie in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedlich. Denn er verwendet orbis einerseits im Sinn von »Kreis« wie etwa in »Kreis der Milchstraße«, andererseits auch im Sinne von »Sphäre«, wenn er von »neun orbes oder vielmehr Kugeln« spricht. Circus bezeichnet hingegen die Kreise, welche die größte Sphäre umgeben, wie wir im Folgenden sehen werden. Zu ihnen gehört die Milchstraße, von der er sagt, sie sei ein »aus den flammenden Sternen hervorleuchtender Ring«. 14,25 An der vorliegenden Stelle aber verwendet er weder circus noch orbis im eben genannten Sinne, sondern orbis ist hier ein vollständiger und abgeschlossener Umlauf eines Sternes auf seiner Kreisbahn, das heißt, seine Rückkehr zum Ausgangspunkt, nachdem er die Sphäre, auf der er sich bewegt, zur Gänze durchmessen hat. Demgegenüber bezeichnet circus hier diejenige Linie um die Sphäre, die gleichsam den Pfad markiert, auf dem die beiden Lichtgestirne ihre Bahn ziehen und auf welchen das Schweifen der Planeten naturgesetzlich beschränkt bleibt.216 14,26 Die Alten sagten, dass die Planeten umherirrten, weil sie sich auf einer eigenen Bahn bewegen, und zwar von West nach Ost, also gegenläufig zur Bewegung der größten Sphäre, des Himmels. Sie haben alle die glei-

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similis, et idem est modus meandi, sed non omnes eodem tempore circos suos orbesque conficiunt. 14,27 Et ideo est celeritas ipsa mirabilis quia, cum sit eadem omnium nec ulla ex illis aut concitatior esse possit aut segnior, non eodem tamen temporis spatio omnes ambitum suum peragunt. Causam uero sub eadem celeritate disparis spatii aptius nos sequentia docebunt. 15,1 His de siderum natura et siderea hominum mente narratis, rursus filium pater ut in deos pius, ut in homines iustus esset hortatus, praemium rursus adiecit, ostendens lacteum circulum uirtutibus debitum et beatorum coetu refertum, cuius meminit his uerbis: »erat autem is splendidissimo candore inter flammas circus elucens, quem uos, ut a Grais accepistis, orbem lacteum nuncupatis.« 15,2 Orbis hic idem quod circus in lactei appellatione significat. Est autem lacteus unus e circis qui ambiunt caelum. Et sunt praeter eum numero decem, de quibus quae dicenda sunt proferemus, cum de hoc competens sermo processerit. Solus ex omnibus hic subiectus est oculis, ceteris circulis magis cogitatione quam uisu comprehendendis. 15,3 De hoc lacteo multi inter se diuersa senserunt, causasque eius alii fabulosas, naturales alii protulerunt; sed nos, fabulosa reticentes, ea tantum quae ad naturam eius uisa sunt pertinere dicemus. 15,4 Theophrastus lacteum dixit esse compagem qua de duobus hemisphaeriis caeli sphaera solidata est, et ideo ubi orae utrimque conuenerant, notabilem claritatem uideri.

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che Geschwindigkeit und ähnliche Bewegung und ziehen auf gleiche Weise ihre Bahnen, aber vollenden sie nicht alle zur selben Zeit.217 14,27 Ihre Schnelligkeit bezeichnet Cicero deswegen als »staunenswert«, weil sie trotz gleicher Geschwindigkeit und obwohl keiner von ihnen schneller oder langsamer als die anderen sein kann, dennoch nicht alle innerhalb desselben Zeitraums ihren Umlauf vollenden. Die Ursache dafür, dass sie unterschiedliche Strecken trotz gleicher Geschwindigkeit zurücklegen, werden uns die folgenden Kapitel genauer aufzeigen.

Die Himmelskreise 15,1 Nach der Darstellung der Natur der Gestirne und der astralen Natur des menschlichen Geistes fordert Paullus seinen Sohn erneut zur Gottesfurcht und zur Gerechtigkeit gegen die Menschen auf und erinnert ihn abermals an den ausgesetzten Lohn, indem er auf die Milchstraße weist als den Ort, an dem tugendhaftes Leben seinen Lohn findet und der von den Scharen der Glückseligen bevölkert ist. Er tut das mit folgenden Worten: »Der Ort«, – es war ein in strahlendem Glanz aus den flammenden Sternen hervorleuchtender Ring – »den ihr nach griechischem Vorbild Milchstraße nennt.«218 15,2 Bei der Bezeichnung der Milchstraße verwendet er orbis in derselben Bedeutung wie circus. »Milchweiß« ist aber nur einer der Kreise, welche den Himmel umgeben. Es gibt daneben noch zehn weitere, über die wir das Notwendige sagen werden, wenn unsere Abhandlung am entsprechenden Punkt angelangt ist. Von diesen Kreisen ist allein die Milchstraße sichtbar, während die anderen eher dem Denken als der Sinneswahrnehmung zugänglich sind.219 15,3 Über diese Milchstraße gibt es viele unterschiedliche Auffassungen, die teils mythische, teils naturwissenschaftliche Erklärungen bieten. Die mythischen übergehen wir und beschränken uns auf die, die sich offensichtlich mit ihrer tatsächlichen Natur befassen.220 15,4 Theophrast bezeichnet die Milchstraße als die Nahtstelle, an der die aus zwei Halbkugeln bestehende Himmelskugel zusammengefügt sei; das Aufeinandertreffen der beiden Ränder führe zu einem auffälligen Grad an Helligkeit.

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15,5 Diodorus ignem esse densetae concretaeque naturae in unam curui limitis semitam discretione mundanae fabricae coaceruante concretum, et ideo uisum intuentis admittere, reliquo igne caelesti lucem suam nimia subtilitate diffusam non subiciente conspectui. 15,6 Democritus, innumeras stellas breuesque omnes, quae spisso tractu in unum coactae, spatiis quae angustissima interiacent opertis, uicinae sibi undique et ideo passim diffusae lucis aspergine continuum iuncti luminis corpus ostendunt. 15,7 Sed Posidonius, cuius definitioni plurium consensus accessit, ait lacteum caloris esse siderei fusionem, quam ideo aduersa zodiaco curuitas obliquauit ut, quoniam sol numquam zodiaci excedendo terminos expertem feruoris sui partem caeli reliquam deserebat, hic circus a uia solis in obliquum recedens uniuersitatem flexu calido temperaret. Quibus autem partibus zodiacum intersecet, superius iam relatum est. Haec de lacteo. 15,8 Decem autem alii, ut diximus, circi sunt, quorum unus est ipse zodiacus, qui ex his decem solus potuit latitudinem hoc modo quem referemus adipisci. 15,9 Natura caelestium circulorum incorporalis est linea, quae ita mente concipitur ut sola longitudine censeatur, latum habere non possit; sed in zodiaco latitudinem signorum capacitas exigebat. 15,10 Quantum igitur spatii lata dimensio porrectis sideribus occupabat, duabus lineis limitatum est; et tertia ducta per medium ecliptica uocatur, quia, cum cursum suum in eadem linea pariter sol et luna conficiunt, alterius eorum necesse est euenire defectum: solis, si ei tunc luna succedat; lunae, si tunc aduersa sit soli.

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15,5 Diodor meint, sie sei ein Feuer von hochverdichteter Natur, das zu einer »Straße« mit gekrümmtem Verlauf zusammengepresst sei, wobei die Verdichtung durch den Unterschied in der Konsistenz der kosmischen Materie bewirkt werde. Und deshalb biete sie sich dem Blick des Betrachters dar, während das Licht des übrigen Himmelsfeuers sich zu diffus verbreite, als dass es wahrgenommen werden könne.221 15,6 Demokrit sagt, sie bestehe aus unzähligen schwachen Sternen, die auf engstem Raum zu einer Einheit zusammengedrängt seien, sodass die engen Zwischenräume zwischen ihnen verdeckt würden. Wegen dieser engen Nachbarschaft überstrahlten sie all ihre Konturen mit ihrem Licht, sodass sie sich als ein einheitlicher Lichtkörper zeigten.222 15,7 Poseidonios aber, dessen Definition die meisten Anhänger hat, sagt, dass die Milchstraße ein Strom von Sternenhitze sei, der den Zodiakus aus folgendem Grund schräg kreuze: Da die Sonne die Grenzen des Zodiakus niemals überschreite und folglich dem restlichen Teil des Himmels ihre Wärme vorenthalte, übernehme die Milchstraße mit ihrer Lage quer zur Sonnenbahn die Aufgabe, das Universum mit der von ihrer Kreisbahn ausgehenden Wärme zu temperieren. An welchen Stellen sie den Zodiakus schneidet, haben wir oben schon gesagt.223 Soviel über die Milchstraße. 15,8 Es gibt aber, wie wir gesagt haben, noch zehn andere Kreise. Einer davon ist der Zodiakus, der als einziger von den zehn eine Ausdehnung in die Breite hat, die wir jetzt erklären werden.224 15,9 Die himmlischen Kreise sind ihrer Natur nach unkörperliche Linien, die kognitiv nur als Längen erfasst werden und keine Breite besitzen können. Beim Zodiakus aber erforderte die Ausdehnung der ihm eingeschriebenen Sternbilder auch die Flächendimension. 15,10 Die Fläche, die von den Sternbildern besetzt wird, ist also durch zwei Linien begrenzt. Eine dritte Linie verläuft in ihrer Mitte und wird Ekliptik genannt. Der Name rührt daher, dass Sonne und Mond gleichermaßen längs derselben Linie ihre Bahn ziehen, sodass sie notwendigerweise abwechselnd eine Eklipse erleiden müssen: Eine Sonnenfinsternis tritt ein, wenn der Mond unter der Sonne steht, eine Mondfinsternis, wenn der Mond der Sonne diametral gegenübersteht.225

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15,11 Ideo nec sol umquam deficit nisi cum tricesimus lunae dies est et nisi quinto decimo cursus sui die nescit luna defectum. Sic enim euenit ut aut lunae contra solem positae ad mutuandum ab eo solitum lumen sub eadem inuentus linea terrae conus obsistat, aut soli ipsa succedens obiectu suo ab humano aspectu lumen eius repellat. 15,12 In defectu ergo sol ipse nil patitur, sed noster fraudatur aspectus, luna uero circa proprium defectum laborat non accipiendo solis lumen cuius beneficio noctem colorat. Quod sciens Vergilius, disciplinarum omnium peritissimus, ait: »defectus solis uarios lunaeque labores«. Quamuis igitur trium linearum ductus zodiacum et claudat et diuidat, unum tamen circum auctor uocabulorum dici uoluit antiquitas. 15,13 Quinque alii circuli paralleli uocantur. Horum medius et maximus est aequinoctialis, duo extremitatibus uicini atque ideo breues, quorum unus septentrionalis dicitur, alter australis. Inter hos et medium duo sunt tropici maiores ultimis, medio minores, et ipsi ex utraque parte zonae ustae terminum faciunt. 15,14 Praeter hos alii duo sunt coluri, quibus nomen dedit imperfecta conuersio. Ambientes enim septentrionalem uerticem atque inde in diuersa diffusi, et se in summo intersecant, et quinque parallelos in quaternas partes aequaliter diuidunt, zodiacum ita intersecantes ut unus eorum per Arietem et Libram, alter per Cancrum atque Capricornum meando decurrat; sed ad australem uerticem non peruenire creduntur. 15,15 Duo qui ad numerum praedictum supersunt, meridianus et horizon, non scribuntur in sphaera, quia certum locum habere non possunt, sed pro diuersitate circumspicientis habitantisue uariantur. 15,16 Meridianus est enim quem sol, cum super hominum uerticem uenerit, ipsum diem medium efficiendo designat. Et quia globositas ter-

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15,11 Daher kann es eine Sonnenfinsternis nur am 30. Tag und eine Mondfinsternis nur am 15. Tag des Mondumlaufs geben. So kommt es, dass bei Opposition des Mondes zur Sonne der Schattenkegel der Erde, der sich entlang der Ekliptik bewegt,226 den Mond daran hindert, sein gewohntes Licht von der Sonne zu beziehen, und dass andererseits der Mond bei Konjunktion mit der Sonne durch seine Stellung dem Blick der Menschen das Sonnenlicht entzieht. 15,12 Bei einer Sonnenfinsternis erleidet die Sonne selbst nichts, es ist vielmehr unsere Sicht, die eingeschränkt wird; es erleidet dagegen der Mond bei seiner Finsternis, dass er das Sonnenlicht nicht empfangen kann, mit dessen Hilfe er sonst die Nacht in goldenes Licht taucht. Vergil, wohlerfahren in allen Wissenschaften, weiß das, wenn er sagt »die Sonnenfinsternis und die unterschiedlichen Heimsuchungen des Mondes«.227 Obwohl der Zodiakus also durch drei Linien begrenzt und unterteilt wird, zog die Antike, die Schöpferin unseres Wortschatzes, es vor, von ihm nur als einem einfachen Kreis zu sprechen. 15,13 Es gibt fünf andere Kreise, die Parallelen genannt werden.228 Der mittlere und größte ist der Himmelsäquator. Nahe den Polen und deswegen klein sind die Polarkreise, von denen einer der nördliche, der andere der südliche genannt wird. Zwischen diesen und dem Himmelsäquator verlaufen die beiden Wendekreise, größer als die Polarkreise aber kleiner als der Himmelsäquator; sie bilden beiderseits die Grenze der heißen Klimazone. 15,14 Außerdem gibt es noch die beiden Kolure, die ihren Namen daher haben, dass sie keine vollständigen Kreise bilden.229 Sie gehen vom Himmelsnordpol aus in verschiedene Richtungen: Sie schneiden sich am Nordpol und teilen die fünf Parallelen in vier gleiche Segmente. Sie kreuzen den Zodiakus derart, dass der eine durch Widder und Waage verläuft, der andere durch Krebs und Steinbock. Man nimmt aber nicht an, dass sie bis zum Südpol reichen. 15,15 Nun fehlen noch zwei zu der oben genannten Zahl, der Meridian und der Horizont. Sie sind der Himmelssphäre nicht fest eingeschrieben, weil sie keine feste Lage haben, sondern je nach Position des Betrachters oder Bewohners variieren. 15,16 Der Meridian ist der Kreis, an dem die Sonne, wenn sie über den Köpfen der Menschen steht, die exakte Tagesmitte bezeichnet.230 Und weil

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rae habitationes omnium aequales sibi esse non patitur, non eadem pars caeli omnium uerticem despicit; et ideo unus omnibus meridianus esse non poterit, sed singulis gentibus super uerticem suum proprius meridianus efficitur. 15,17 Similiter sibi horizontem facit circumspectio singulorum. Horizon est enim uelut quodam circo designatus terminus caeli quod super terram uidetur. Et quia ad ipsum uere finem non potest humana acies peruenire, quantum quisque oculos circumferendo conspexerit, proprium sibi caeli quod super terram est terminum facit. 15,18 Hic horizon, quem sibi uniuscuiusque circumscribit aspectus, ultra trecentos et sexaginta stadios longitudinem intra se continere non poterit. Centum enim et octoginta stadios non excedit acies contra uidentis; sed uisus, cum ad hoc spatium uenerit, accessu deficiens in rotunditatem recurrendo curuatur, atque ita fit ut hic numerus, ex utraque parte geminatus, trecentorum sexaginta stadiorum spatium quod intra horizontem suum continetur efficiat, semperque, quantum ex huius spatii parte postea procedendo dimiseris, tantum tibi de anteriore sumetur; et ideo horizon semper quantacumque locorum transgressione mutatur. 15,19 Hunc autem quem diximus admittit aspectum aut in terris aequa planities aut pelagi tranquilla libertas, quae nullam oculis obicit offensam. Nec te moueat quod saepe in longissimo positum montem uidemus aut quod ipsa caeli superna suspicimus. Aliud est enim cum se oculis ingerit altitudo, aliud cum per planum se porrigit et extendit intuitus, in quo solo horizontis circus efficitur. Haec de circis omnibus quibus caelum cingitur dicta sufficiant.

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wegen der Kugelgestalt der Erde die Koordinaten nicht für jeden Standort gleich sein können, befindet sich auch nicht derselbe Teil des Himmels zu jedermanns Häupten. Daher kann es nicht ein und denselben Meridian für alle geben, sondern jeder hat jeweils seinen eigenen Meridian über sich. 15,17 Ähnlich wird auch der Horizont durch den individuellen Betrachtungsstandpunkt bestimmt. Der Horizont ist nämlich die gleichsam durch einen Kreis bezeichnete Grenzlinie zwischen der Erde und dem über ihr sichtbaren Teil des Himmels. Und weil unser Blick nicht bis zum tatsächlichen Ende der Erde reicht, zieht jedermann durch die Reichweite seines Blicks in die Runde seine individuelle Grenzlinie zwischen Erde und sichtbarem Himmel. 15,18 Dieser Horizont, der durch jedermanns Blick individuell bestimmt wird, kann keinen größeren Durchmesser als 360 Stadien haben. Denn wenn man gerade gegen den Horizont blickt, beträgt die Reichweite des Blicks nicht mehr als 180 Stadien, und wenn er diese Grenze erreicht hat, geht er ins Leere und wird seitwärts auf die Kreislinie des Horizonts abgelenkt. So kommt es, dass die Zahl 180, doppelt genommen für beide Blickrichtungen, die Summe von 360 Stadien als Durchmesser des individuellen Horizonts ergibt. Und was man beim Vorwärtsgehen an rückwärtigem Horizont verliert, gewinnt man vorne hinzu, weshalb sich der Horizont bei jeder Ortsveränderung entsprechend verschiebt.231 15,19 Die oben erwähnte Reichweite des Blicks wird aber auf dem Land nur bei völliger Ebenheit des Geländes erzielt und auf dem Meer bei völliger Windstille, die dem Blick keinerlei Hindernis bietet. Du darfst Dich auch nicht dadurch verunsichern lassen, dass wir oft einen Berg in sehr weiter Entfernung sehen oder dass wir in die höchsten Höhen des Himmels blicken können. Es ist nämlich etwas anderes, wenn sich dem Auge ein hoch aufragendes Objekt darbietet, als wenn der Blick frei über die Ebene streicht: Nur hier zeigt sich der Kreis des Horizonts. Das soll zum Thema all der Kreise, die den Himmel umgeben, genügen.

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Liber primus 16,1 Tractatum ad sequentia transferamus:

»Ex quo mihi omnia contemplanti praeclara cetera et mirabilia uidebantur. Erant autem eae stellae quas numquam ex hoc loco uidimus, et eae magnitudines omnium quas esse numquam suspicati sumus, ex quibus erat ea minima, quae ultima a caelo, citima terris luce lucebat aliena: stellarum autem globi terrae magnitudinem facile uincebant.« 16,2 Dicendo »ex quo omnia mihi contemplanti« id quod supra rettulimus adfirmat: in ipso lacteo Scipionis et parentum per somnium contigisse conuentum. Duo sunt autem praecipua quae in stellis se admiratum refert, aliquarum nouitatem et omnium magnitudinem. Ac prius de nouitate, post de magnitudine disseremus. 16,3 Plene et docte adiciendo »quas numquam ex hoc loco uidimus«, causam cur a nobis non uideantur ostendit. Locus enim nostrae habitationis ita positus est ut quaedam stellae ex ipso numquam possint uideri, quia ipsa pars caeli in qua sunt numquam potest hic habitantibus apparere. 16,4 Pars enim haec terrae, quae incolitur ab uniuersis hominibus – quos quidem scire nos possumus –, ad septentrionalem uerticem surgit, et sphaeralis conuexitas australem nobis uerticem in ima demergit. Cum ergo semper circa terram ab ortu in occasum caeli sphaera uoluatur, uertex hic qui septentriones habet, quoquouersum mundana uolubilitate uertatur, quoniam super nos est, semper a nobis uidetur ac semper ostendit »Arctos Oceani metuentes aequore tingui«. 16,5 Australis contra quasi semel nobis pro habitationis nostrae positione demersus nec ipse nobis umquam uidetur nec sidera sua, quibus et ipse sine dubio insignitur, ostendit. Et hoc est quod poeta naturae ipsius conscius dixit:

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Die Sterne 16,1 Wenden wir uns der nächsten Passage zu: »Als ich von da aus alles genau betrachtete, erschien mir auch alles andere herrlich und bewundernswert. Es waren nämlich Sterne, die wir von hier unten niemals gesehen haben, und alle von einer Größe, wie wir es nie vermutet hätten. Der kleinste unter ihnen war der, der vom Himmel am weitesten entfernt, der Erde aber am nächsten war, und mit erborgtem Licht leuchtete. Die Sternenkugeln übertrafen aber die Größe der Erde bei weitem.« (Rep. 6,16) 16,2 Indem er sagt »Als ich von da aus alles genau betrachtete« bestätigt Scipio, was wir oben bereits bemerkt haben, dass es nämlich die Milchstraße war, wo er im Traum mit Vater und Großvater zusammentraf. 232 Es sind aber zwei hervorstechende Dinge an den Sternen, die seine Bewunderung auf sich ziehen, wie er sagt, nämlich die Neuheit einiger und die Größe aller. Wir wenden uns zunächst dem Punkt Neuheit, sodann dem der Größe zu. 16,3 Mit dem Zusatz »die wir von hier unten niemals gesehen haben«, zeigt er uns ebenso erschöpfend wie gelehrt die Ursache, warum wir sie nicht sehen können: Die Lage unserer Wohnsitze ist so, dass von ihnen aus bestimmte Sterne niemals sichtbar sind, weil die Himmelsregion, in der sie sich befinden, für die Bewohner unserer Erdhalbkugel unsichtbar ist. 16,4 Auf unserem Teil der Erde nämlich wohnt die Gesamtheit aller Menschen, jedenfalls soweit wir Kenntnis von ihnen haben können.233 Er ist zum Nordpol hin orientiert, wogegen die Krümmung der Erdkugel den Südpol für uns in der Tiefe versinken lässt. Da sich nun das Himmelsgewölbe unablässig von Ost nach West um die Erde dreht, ist die von den beiden Bären bewohnte Polarregion immer für uns sichtbar, weil sie direkt über uns ist, in welche Richtung die Rotation des Weltalls sie auch wenden mag. Und so zeigt sie uns immer die beiden »Bären, die das Bad in den Fluten des Ozeans scheuen«.234 16,5 Die südliche Himmelsregion dagegen, die wegen der Lage unserer Wohnsitze für uns gleichsam ein für alle Mal versunken ist, ist für uns niemals sichtbar und zeigt uns nicht ihre Sterne, mit denen sie zweifellos ebenfalls geschmückt ist. Daher sagt Vergil, der ja ein genauer Kenner der

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Liber primus hic uertex nobis semper sublimis; at illum sub pedibus Styx atra uidet Manesque profundi.

16,6 Sed cum hanc diuersitatem caelestibus partibus uel semper uel numquam apparendi terrae globositas habitantibus faciat, ab eo qui in caelo est omne sine dubio caelum uidetur, non impediente aliqua parte terrae, quae tota puncti locum pro caeli magnitudine uix obtinet. 16,7 Cui ergo australis uerticis stellas numquam de terris uidere contigerat, ubi circumspectu libero sine offensa terreni obicis uisae sunt, iure quasi nouae admirationem dederunt, et quia intellexit causam propter quam eas numquam ante uidisset, ait: »erant autem eae stellae quas numquam ex hoc loco uidimus«, hunc locum demonstratiue terram dicens in qua erat dum ista narraret. 16,8 Sequitur illa discussio, quid sit quod adiecit »et eae magnitudines omnium quas esse numquam suspicati sumus«. Cur autem magnitudines quas uidit in stellis numquam homines suspicati sint, ipse patefecit addendo »stellarum autem globi terrae magnitudinem facile uincebant.« 16,9 Nam quando homo, nisi quem doctrina philosophiae supra hominem, immo uere hominem fecit, suspicari potest stellam unam omni terra esse maiorem, cum uulgo singulae uix facis unius flammam aequare posse uideantur? Ergo tunc earum uere magnitudo adserta credetur, si maiores singulas quam est omnis terra constiterit. Quod hoc modo licet recognoscas. 16,10 Punctum dixerunt esse geometrae quod ob incomprehensibilem breuitatem sui in partes diuidi non possit, nec ipsum pars aliqua sed tantummodo signum esse dicatur. Physici terram ad magnitudinem circi per quem sol uoluitur puncti modum obtinere docuerunt. Sol autem quanto minor sit circo proprio deprehensum est. Manifestissimis enim dimensio-

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Natur ist: »Dieser Pol ist immer hoch über uns; den unter unseren Füßen dagegen schauen die finstere Styx und die Geister der Tiefe«.235 16,6 Aber während die Kugelgestalt der Erde dafür verantwortlich ist, dass für ihre Bewohner bestimmte Himmelsregionen entweder immer oder niemals sichtbar sind, kann jemand, der sich im Himmel befindet, ohne Zweifel das All zur Gänze überblicken, ohne dass ihm dabei irgendein Teil der Erde hinderlich ist, die ja in ihrer Gesamtheit, verglichen mit der Ausdehnung des Himmels, kaum einen Punkt einnimmt.236 16,7 Wem es also niemals vergönnt war, die Sterne der Südhalbkugel von der Erde aus zu sehen, den versetzte ihre Neuheit zu Recht in Staunen, sobald sie sich dem freien, durch die Barrikade der Erde nicht behinderten Rundblick darboten. Und weil Scipio klar war, warum er sie vorher nie gesehen hatte, sagte er: »es waren nämlich Sterne, die wir von hier niemals gesehen haben«, wobei er mit »hier« deiktisch die Erde bezeichnete, auf der er sich ja während seiner Erzählung befand. 16,8 Nun zur Frage, was der Zusatz »und alle von einer Größe, wie wir es nie vermutet hätten« bedeutet: Warum sich Menschen derartige Dimensionen bei Sternen niemals vorstellen könnten, erklärt er selbst, indem er fortfährt: »die Sternenkugeln übertrafen aber die Größe der Erde bei weitem«.237 16,9 Denn wann konnte jemals ein Mensch, es sei denn einer, den philosophische Bildung über die Menschen erhoben, ja eigentlich erst wahrhaft zum Menschen gemacht hat, die Vermutung hegen, dass auch nur ein Stern größer als die ganze Erde sein könnte, da doch nach populärer Ansicht die einzelnen Sterne kaum die Lichtstärke einer einzigen Fackel erreichen?238 Ihre wahre Größe wird erst dann als anerkannt gelten, wenn erwiesen ist, dass jeder einzelne von ihnen größer als die gesamte Erde ist. Das kann man auf folgende Weise überprüfen. 16,10 Die Geometer bezeichnen einen Punkt als etwas, das wegen seiner kaum wahrnehmbaren Größe nicht teilbar ist und auch selbst nicht Teil von etwas, sondern lediglich ein Symbol ist. Die Naturforscher wiederum haben gezeigt, dass die Erde gemessen an der Ausdehnung der Sonnenbahn als Punkt zu bestimmen ist. Es ist aber bekannt, um wieviel kleiner als ihre eigene Umlaufbahn die Sonne ist. Aufgrund glasklarer Berechnungen der Dimensionen steht nämlich fest, dass der Durchmesser der Sonne

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num rationibus constitit mensuram solis ducentesimam sextam decimam partem habere magnitudinis circi per quem sol ipse discurrit. 16,11 Cum ergo sol ad circum suum pars certa sit, terra uero ad circum solis punctum sit, quod pars esse non possit, sine cunctatione iudicii solem constat terra esse maiorem, si maior est pars eo quod partis nomen nimia breuitate non capiat. 16,12 Verum solis circo superiorum stellarum circos certum est esse maiores, si eo quod continetur id quod continet maius est, cum hic sit caelestium sphaerarum ordo, ut a superiore unaquaeque inferior ambiatur. Vnde et lunae sphaeram quasi a caelo ultimam et uicinam terrae minimam dixit, cum terra ipsa in punctum quasi uere iam postrema deficiat. 16,13 Si ergo stellarum superiorum circi, ut diximus, circo solis sunt grandiores, singulae autem huius sunt magnitudinis ut ad circum unaquaeque suum modum partis obtineant, sine dubio singulae terra sunt ampliores, quam ad solis circum, qui superioribus minor est, punctum esse praediximus. De luna, si uere luce lucet aliena, sequentia docebunt. 17,1 Haec cum Scipionis obtutus non sine admiratione percurrens ad terras usque fluxisset et illic familiaris haesisset, rursus aui monitu ad superiora reuocatus est, ipsum a caeli exordio sphaerarum ordinem in haec uerba monstrantis: 17,2 »Nouem tibi orbibus uel potius globis conexa sunt omnia, quorum unus est caelestis extimus qui reliquos omnes complectitur, summus ipse deus, arcens et continens ceteros, in quo sunt infixi illi qui

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den zweihundertsechzehnten Teil der Ausdehnung ihrer eigenen Kreisbahn beträgt.239 16,11 Da also der Durchmesser der Sonne ein definierter Teil ihrer240 Kreisbahn ist, die Erde aber im Verhältnis zur Bahn der Sonne nur ein Punkt ist, der kein Teil von etwas sein kann, ist ohne Zögern festzustellen, dass die Sonne größer ist als die Erde, insofern ein Teil größer ist als etwas, das wegen seiner Unscheinbarkeit nicht unter den Begriff »Teil« fällt. 16,12 Ferner sind die Umlaufbahnen der weiter entfernten Planeten sicher größer als die der Sonne, sofern das Einschließende größer ist als das Eingeschlossene und die Anordnung der Himmelssphären so ist, dass von der höheren jeweils jede niedrigere eingeschlossen wird. Deswegen bezeichnet Scipio auch die Sphäre des Mondes, da vom Himmel her gesehen die letzte und der Erde benachbarte, als die kleinste, während die Erde selbst als der tatsächlich unterste der Himmelskörper auf einen Punkt zusammenschrumpft. 16,13 Wenn also die Umlaufbahnen der weiter entfernten Sterne, wie wir gesagt haben, länger sind als die der Sonne, die einzelnen Sterne aber einen Durchmesser haben, der einen bestimmten Teil ihrer jeweiligen Kreisbahn beträgt, dann ist ohne jeden Zweifel jeder von ihnen größer als die Erde, von der wir ja oben gesagt haben, dass sie im Verhältnis zur Umlaufbahn der Sonne, die ihrerseits kleiner ist als die der weiter außen liegenden Planeten, nichts weiter als ein Punkt ist. Auf die Frage, ob das Leuchten des Mondes tatsächlich auf fremdem Licht beruht, gehen wir später ein.

Die Himmelssphären und ihre Bewegung durch die Weltseele 17,1 Während Scipios Blick über all das mit großer Bewunderung schweifte, glitt er auch zur Erde hinab und blieb an diesem vertrauten Objekt haften. Da rief ihn sein Großvater zurück in die Höhe und erklärte ihm die Ordnung der Sphären, ausgehend vom Himmel, mit folgenden Worten: 17,2 »Aus neun Kreisen oder vielmehr Hohlkugeln ist alles zusammengefügt. Von denen ist die äußerste Sphäre die des Himmels, welche alle übrigen einschließt; sie ist die oberste Gottheit selbst, die alle

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Liber primus uoluuntur stellarum cursus sempiterni. 17,3 Huic subiecti sunt septem qui uersantur retro contrario motu atque caelum. E quibus unum globum possidet illa quam in terris Saturniam nominant; deinde est hominum generi prosperus et salutaris ille fulgor qui dicitur Iouis; tum rutilus horribilisque terris quem Martium dicitis; deinde subter mediam fere regionem sol obtinet, dux et princeps et moderator luminum reliquorum, mens mundi et temperatio, tanta magnitudine ut cuncta sua luce lustret et compleat. Hunc ut comites consequuntur Veneris alter, alter Mercuri cursus; in infimoque orbe luna radiis solis accensa conuertitur. 17,4 Infra autem eam nihil est nisi mortale et caducum, praeter animos munere deorum hominum generi datos; supra lunam sunt aeterna omnia. Nam ea quae est media et nona, tellus, neque mouetur et infima est et in eam feruntur omnia nutu suo pondera.«

17,5 Totius mundi a summo in imum diligens in hunc locum collecta descriptio est, et integrum quoddam uniuersitatis corpus effingitur, quod quidam t‰ pên, id est omne, dixerunt; unde et hic dicit »conexa sunt omnia«, Vergilius uero magnum corpus uocauit: »et magno se corpore miscet.« 17,6 Hoc autem loco Cicero rerum quaerendarum iactis seminibus multa nobis excolenda legauit. De septem subiectis globis ait: »qui uersantur retro contrario motu atque caelum.« 17,7 Quod cum dicit, admonet ut quaeramus si uersatur caelum, et si illi septem et uersantur et contrario motu mouentur, aut si hunc esse sphaerarum ordinem quem Cicero refert Platonica consentit auctoritas; et si uere subiectae sint, quo pacto stellae earum omnium zodiacum lus-

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übrigen beherrscht und zusammenhält; an dieser Sphäre sind die Fixsterne befestigt, die ewig ihre Kreisbahn ziehen. 17,3 Dem Himmel untergeordnet sind sieben Planeten, deren Bewegungen rückläufig und entgegengesetzt zu der des Himmels sind. Eine dieser Sphären hat der Planet inne, den man auf Erden Saturn nennt; es folgt unter ihm der für das Menschengeschlecht wohltätige und heilbringende Glanz, der Jupiter zugeschrieben wird; danach kommt das rötliche und auf Erden Schrecken verbreitende Strahlen des Sterns, den ihr Mars nennt. Darunter241 folgt die Sonne, die unter den sieben Sphären in etwa die Mitte einnimmt; sie ist Führerin, Fürstin und Lenkerin aller übrigen, Seele und Ordnungsprinzip des Alls, und von solcher Größe, dass sie alles mit ihrem Licht durchdringt und erfüllt. Ihr folgen als Begleiter die Sphären der Venus und des Merkur. Auf der untersten Kreisbahn aber zieht der Mond, erleuchtet von den Strahlen der Sonne. 17,4 Unterhalb des Mondes ist alles sterblich und vergänglich mit Ausnahme der Seelen, die dem Menschengeschlecht von den Göttern zum Geschenk gemacht worden sind; oberhalb seiner aber ist alles ewig. Denn die Erde, die ganz unten auf dem neunten, dem Mittelplatz steht, ist unbeweglich, und zu ihr strebt alles, was Gewicht hat, durch seine Schwerkraft hin.« (Rep. 6,17) 17,5 Diese Stelle bietet eine sorgfältige und kompakte Beschreibung des ganzen Weltalls von oben nach unten. Sie stellt sozusagen den Körper des Universums in seiner Gesamtheit dar, der von manchen t‰ pên, »das All«, genannt wurde. Deswegen sagt auch Cicero: »Alles ist zusammengefügt«. Vergil aber nannte das Universum den »großen Körper«: »(der Geist) mengt sich in den großen Körper«.242 17,6 Cicero hat hier die Saat für unsere Untersuchungen ausgebracht und uns damit ein weites Feld zur Kultivierung hinterlassen.243 Über die sieben der Himmelssphäre untergeordneten Sphären sagt er: »ihre Bewegung ist rückläufig und entgegengesetzt zu der des Himmels«. 17,7 Diese Worte fordern uns auf, zu untersuchen, ob der Himmel sich dreht und ob die sieben untergeordneten Sphären sich drehen und zwar in gegenläufigem Sinne; ob die Anordnung der Sphären, wie sie Cicero gibt, mit der Autorität Platons in Einklang steht; und wenn die Planetensphären tatsächlich der Himmelssphäre untergeordnet sind, wie es kommt, dass die Sterne all dieser Sphären angeblich den Zodiakus durchwandern, der doch

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trare dicantur, cum zodiacus et unus et in summo caelo sit; quaeue ratio in uno zodiaco aliarum cursus breuiores, aliarum faciat longiores – haec enim omnia in exponendo earum ordine necesse est adserantur –; et postremo, qua ratione in terram ferantur, sicut ait, »omnia nutu suo pondera«. 17,8 Versari caelum mundanae animae natura et uis et ratio docet, cuius aeternitas in motu est, quia numquam motus relinquit quod uita non deserit, nec ab eo uita discedit in quo uiget semper agitatus. Igitur et caeleste corpus, quod mundi anima futurum sibi immortalitatis particeps fabricata est, ne umquam uiuendo deficiat, semper in motu est et stare nescit, quia nec ipsa stat anima qua impellitur. 17,9 Nam cum animae, quae incorporea est, essentia sit in motu, primum autem omnium caeli corpus anima fabricata sit, sine dubio in corpus hoc primum ex incorporeis motus natura migrauit, cuius uis integra et incorrupta non deserit quod primum coepit mouere. 17,10 Ideo uero caeli motus necessario uolubilis est quia, cum semper moueri necesse sit, ultra autem locus nullus sit quo se tendat accessio, continuatione perpetuae in se reditionis agitatur. Ergo in quo potest uel habet currit; et accedere eius reuolui est, quia sphaerae spatia et loca complectentis omnia unus est cursus, rotari. Sed et sic animam sequi semper uidetur quae in ipsa uniuersitate discurrit. 17,11 Dicemus ergo quod eam numquam reperiat, si semper hanc sequitur? Immo semper eam reperit, quia ubique tota, ubique perfecta est. Cur ergo, si quam quaerit reperit, non quiescit? Quia et illa requietis est inscia. Staret enim, si usquam stantem animam reperiret; cum uero illa ad cuius appetentiam trahitur, semper in uniuersa se fundat, semper et cor-

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ein einziges Band und das auf der obersten Himmelssphäre ist; welche Ursache in ein und demselben Zodiakus die Bahnen der einen Planeten kürzer, die der anderen länger macht – all das behauptet er notwendigerweise, wenn er ihre Anordnung so darstellt –, und schließlich, nach welchem Gesetz »alles, was Gewicht hat, durch seine Schwerkraft« zur Erde strebt.244 17,8 Dass der Himmel sich dreht, lehren uns die Natur, Wirkkraft und Vernunft der Weltseele, deren Ewigkeit in ihrer Bewegung besteht, da etwas, in dem Leben ist, niemals aufhört, sich zu bewegen, und etwas, in dem die Bewegung noch lebendig ist, nicht aufhört zu leben.245 Daher ist auch der Himmelskörper, den die Weltseele sich als künftigen Teilhaber an ihrer Unsterblichkeit verfertigt hat, damit er niemals aufhöre zu leben, immer in Bewegung und kann nicht stillstehen, weil auch die Seele, die ihn bewegt, nicht stillsteht. 17,9 Insofern nämlich die Essenz der Seele, die unkörperlich ist, in der Bewegung besteht, sie aber als ersten von allen Körpern den Himmelskörper erschaffen hat, ging ohne Zweifel die Eigenschaft der Bewegung aus dem Unkörperlichen in diesen Körper über, und diese Kraft bleibt ungeschmälert und unerschöpflich und verlässt nicht, was sie als erstes zu bewegen begann. 17,10 Die Bewegung des Himmels ist aber deswegen kreisförmig, weil er notwendigerweise immer in Bewegung sein muss, es aber außerhalb seiner kein Ziel gibt, zu dem diese Bewegung streben könnte, sodass sie eine immerwährende Rückkehr zu sich selbst ist. Er bewegt sich also dort, wo er es kann und Raum findet, und seine Bewegung bedeutet Umdrehung, weil für eine Sphäre, die sämtlichen Platz und Raum einnimmt, es nur einen Weg gibt, die Rotation. So aber scheint er immer der Weltseele zu folgen, die das ganze Universum durchströmt. 17,11 Sollen wir also sagen, dass er sie niemals findet, wenn er ihr immer folgt? Im Gegenteil, er findet sie unablässig, weil sie überall zur Gänze und in Vollkommenheit existiert. Aber warum kommt er nicht zur Ruhe, wenn er doch findet, wonach er sucht? Weil auch sie die Ruhe nicht kennt. Der Himmel käme zum Stillstand, wenn er irgendwo die Seele stillstehend fände. Aber weil sie im unablässigen Streben nach ihrem Ziel sich immer aufs Neue ins All ergießt, wendet auch er sich immer ihretwegen nach ihr. Zum Geheimnis der Himmelsrotation sollen diese weni-

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pus se in ipsam per ipsam retorquet. Haec de caelestis uolubilitatis arcano pauca de multis Plotino auctore reperta sufficiant. 17,12 Quod autem hunc iste extimum globum qui ita uoluitur, summum deum uocauit, non ita accipiendum est ut ipse prima causa et deus ille omnipotentissimus aestimetur, cum globus ipse quod caelum est animae sit fabrica, anima ex mente processerit, mens ex deo qui uere summus est procreata sit. 17,13 Sed summum quidem dixit ad ceterorum ordinem qui subiecti sunt, unde mox subiecit: »arcens et continens ceteros«; deum uero, quod non modo immortale animal ac diuinum sit et plenum inditae ex illa purissima mente rationis, sed quod et uirtutes omnes, quae illam primae omnipotentiam summitatis sequuntur, aut ipse faciat aut ipse contineat. 17,14 Ipsum denique Iouem ueteres uocauerunt, et apud theologos Iuppiter est mundi anima. Hinc illud est: »ab Ioue principium, Musae, Iouis omnia plena«, quod de Arato poetae alii mutuati sunt, qui de sideribus locuturus, a caelo, in quo sunt sidera, exordium sumendum esse decernens ab Ioue incipiendum esse memorauit. 17,15 Hinc et Iuno soror eius et coniunx uocatur. Est autem Iuno aer; et dicitur soror, quia isdem seminibus quibus caelum etiam aer procreatus est; coniunx, quia aer subiectus est caelo. 17,16 His illud adiciendum est quod praeter duo lumina et stellas quinque quae appellantur uagae, reliquas omnes alii infixas caelo nec nisi cum caelo moueri, alii, quorum adsertio uero propior est, has quoque dixerunt suo motu, praeter quod cum caeli conuersione feruntur, accedere; sed propter immensitatem extimi globi excedentia credibilem numerum saecula in una eas cursus sui ambitione consumere et ideo nullum earum

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gen Worte, entnommen der Fülle dessen, was Plotin darüber gelehrt hat, genügen.246 17,12 Wenn Cicero aber die äußerste Sphäre, die sich wie oben beschrieben bewegt, den höchsten Gott genannt hat, dann ist das nicht so zu verstehen, dass sie als die erste Ursache und als jener allmächtige Gott zu gelten hat, da der Himmelsglobus ja das Werk der Weltseele ist, diese aber aus dem Intellekt hervorgegangen ist, und dieser wiederum aus dem Gott, der wahrhaft der höchste ist. 17,13 Als »höchsten« bezeichnet er den Himmel lediglich in Relation zu den übrigen untergeordneten Sphären, weshalb er sogleich hinzufügt »der alle übrigen beherrscht und zusammenhält«. Und als »Gott« bezeichnet er ihn, weil er nicht nur ein unsterbliches und göttliches Wesen ist, erfüllt von der Vernunft, die ihm von jenem reinsten Intellekt eingegeben wurde, sondern auch, weil er alle Tugenden, welche die Allmacht jenes ersten und höchsten Wesens begleiten, entweder selbst übt oder beinhaltet.247 17,14 Die Alten schließlich nannten den Himmel Jupiter, und bei den Theologen ist Jupiter die Weltseele. Daher rührt der Satz: »Mit Jupiter beginne ich, ihr Musen, von Jupiter ist alles erfüllt«, der aus Arat von anderen Dichtern erborgt worden ist. Als Arat sich nämlich anschickte, über die Sterne zu sprechen, entschied er sich, sein Proömium mit dem Himmel, dem Sitz der Sterne, zu beginnen, und sagte, er müsse mit Jupiter beginnen.248 17,15 Deswegen wird auch Juno die Schwester und Gattin Jupiters genannt. Juno ist nämlich die Luft; sie wird Jupiters Schwester genannt, weil die Luft aus denselben Anfangsgründen wie der Himmel hervorgegangen ist, und Jupiters Gattin heißt sie, weil die Luft dem Himmel untergeordnet ist.249 17,16 Dem ist noch hinzuzufügen, dass manche Autoritäten sagen, dass alle Sterne außer den beiden Luminaren und den fünf sogenannten Planeten fest mit dem Himmel verbunden sind und sich nur mit diesem bewegen, andere dagegen, der Wahrheit näher, meinen, dass sie außer ihrer Bewegung mit dem Himmel noch eine Eigenbewegung haben. Aber wegen der ungeheuren Ausdehnung der äußersten Sphäre benötigten sie für einen einzigen Umlauf eine jedes Vorstellungsvermögen übersteigende Zahl von Jahrhunderten, weswegen ihre Bewegung von den Menschen

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motum ab homine sentiri, cum non sufficiat humanae uitae spatium ad breue saltem punctum tam tardae accessionis deprehendendum. 17,17 Hinc Tullius, nullius sectae inscius ueteribus approbatae, simul attigit utramque sententiam dicendo »in quo sunt infixi illi qui uoluuntur stellarum cursus sempiterni«: nam et infixos dixit et cursus habere non tacuit. 18,1 Nunc utrum illi septem globi qui subiecti sunt contrario, ut ait, quam caelum uertitur motu ferantur, argumentis ad uerum ducentibus requiramus. 18,2 Solem ac lunam et stellas quinque quibus ab errore nomen est, praeter quod secum trahit ab ortu in occasum caeli diurna conuersio, ipsa suo motu in orientem ab occidente procedere, non solis litterarum profanis, sed multis quoque doctrina initiatis, abhorrere a fide ac monstro simile iudicatum est; sed apud pressius intuentes ita uerum esse constabit ut non solum mente concipi sed oculis quoque ipsis possit probari. 18,3 Tamen ut nobis de hoc sit cum pertinaciter negante tractatus, age, quisque tibi hoc liquere dissimulas, simul omnia quae uel contentio sibi fingit detractans fidem uel quae ipsa ueritas suggerit in diuisionis membra mittamus. 18,4 Has erraticas cum luminibus duobus aut infixas caelo, ut alia sidera, nullum sui motum nostris oculis indicare sed ferri mundanae conuersionis impetu aut moueri sua quoque accessione dicemus. Rursus, si mouentur, aut caeli uiam sequuntur ab ortu in occasum et communi et suo motu meantes aut contrario recessu in orientem ab occidentis parte uer-

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nicht wahrgenommen werden könne, weil ein Menschenleben nicht hinreiche, wenigstens eine winzige Strecke einer so langsamen Bewegung wahrzunehmen.250 17,17 Deswegen hat Cicero, ein ausgezeichneter Kenner aller von den Alten anerkannten Lehrmeinungen, beide Auffassungen berücksichtigt, wenn er sagte: »An dieser Sphäre sind die Fixsterne befestigt, die ewig ihre Kreisbahn ziehen«; er nennt sie »befestigt«, übergeht dabei aber nicht, dass sie eine Bewegung haben.

Die Planeten und ihre Bewegung 18,1 Der nächste Punkt ist, ob die sieben Sphären, die unter dem Himmel sind, sich tatsächlich, wie Cicero sagt, gegenläufig zum Himmel bewegen. Wir werden das mit Argumenten untersuchen, welche die Wahrheit ans Licht bringen.251 18,2 Dass die Sonne, der Mond und die fünf Planeten, die ihren Namen von ihrer erratischen Bewegung haben, neben ihrer Bewegung von Ost nach West, die durch die tägliche Himmelsrotation bedingt ist, auch von West nach Ost ziehen, und zwar aufgrund autonomer Bewegung, gilt nicht nur wissenschaftlichen Laien, sondern auch vielen Experten als unglaubwürdig und naturwidrig.252 Aber bei genauer Betrachtung erweist es sich als so klar, dass es nicht nur vorstellbar ist, sondern auch durch den Augenschein bekräftigt werden kann. 18,3 Indes, um uns über diese Erkenntnis mit ihren hartnäckigen Leugnern auseinanderzusetzen: Bitte sehr, wer auch immer du seist, der vorgibt, sie sei nicht klar, lass uns gemeinsam alles, was der Wunsch, unsere Glaubwürdigkeit herabzusetzen, sich erdacht hat, und alles, was die Wahrheit selbst nahelegt, einer detaillierten Analyse unterziehen. 18,4 Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Planeten mitsamt den beiden Luminaren nach dem Beispiel der anderen Sterne fest mit der Himmelssphäre verbunden und bieten unserem Blick keinen Hinweis auf eine Eigenbewegung, werden vielmehr alleine durch die Energie der Rotation des Alls bewegt. Oder sie verfügen über eine autonome Bewegung und folgen dann entweder unabhängig der gemeinsamen Bahn des Himmels von Ost nach West, oder sie ziehen gegenläufig von West nach Ost. Etwas

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santur. Praeter haec, ut opinor, nihil potest uel esse uel fingi. Nunc uideamus quid ex his poterit uerum probari. 18,5 Si infixae essent, numquam ab eadem statione discederent, sed in isdem locis semper, ut aliae, uiderentur. Ecce enim de infixis Vergiliae: nec a sui umquam se copulatione dispergunt, nec Hyadas, quae uicinae sunt, deserunt aut Orionis proximam regionem relinquunt. Septentrionum compago non soluitur; Anguis, qui inter eos labitur, semel circumfusum non mutat amplexum. 18,6 Hae uero modo in hac, modo in illa caeli regione uisuntur, et saepe, cum in unum locum duae pluresue conuenerint, et a loco tamen in quo simul uisae sunt et a se postea separantur. Ex hoc eas non esse caelo infixas oculis quoque approbantibus constat. Igitur mouentur, nec negare hoc quisquam poterit quod uisus adfirmat. 18,7 Quaerendum est ergo utrum ab ortu ad occasum an in contrarium motu proprio reuoluantur. Sed et hoc quaerentibus nobis non solum manifestissima ratio, sed uisus quoque ipse monstrabit. Consideremus enim signorum ordinem quibus zodiacum diuisum uel distinctum uidemus, et ab uno signo quolibet ordinis eius sumamus exordium. 18,8 Cum Aries exoritur, post ipsum Taurus emergit. Hunc Gemini sequuntur, hos Cancer, et per ordinem reliqua. Si istae ergo in occidentem ab oriente procederent, non ab Ariete in Taurum, qui retro locatus est, nec a Tauro in Geminos, signum posterius, uoluerentur, sed a Geminis in Taurum, et a Tauro in Arietem recta et mundanae uolubilitatis consona accessione prodirent. 18,9 Cum uero a primo in signum secundum, a secundo in tertium, et inde ad reliqua, quae posteriora sunt, reuoluantur, signa autem infixa caelo cum caelo ferantur, sine dubio constat has stellas non cum caelo, sed contra caelum moueri. Hoc ut plene liqueat, astruamus de lunae cursu, quia et claritate sui et uelocitate notabilior est.

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Drittes, meine ich, kann es nicht geben und ist auch nicht vorstellbar. Nun wollen wir sehen, was davon sich als wahr erweisen lässt. 18,5 Wären sie fest mit der Himmelssphäre verbunden, würden sie sich niemals von ihrer Position entfernen, sondern zeigten sich, wie die anderen Sterne, immer am selben Ort. Nehmen wir etwa von den Fixsternen die Plejaden: Sie lösen sich niemals aus ihrer Konstellation, entfernen sich nicht von den benachbarten Hyaden und verlassen nie die Umgebung des Orion. Die beiden Bären lassen nicht voneinander, und der Drache, der sich zwischen beiden schlängelt, lässt sie, nachdem er sie einmal umschlungen hat, nicht aus seiner Umklammerung. 18,6 Die Planeten dagegen werden bald in dieser, bald in jener Himmelsregion sichtbar, und oft treffen in einer Region zwei oder mehr zusammen, um sich später wieder aus ihr und voneinander zu entfernen. So erweist das Zeugnis unserer Augen, dass sie nicht mit der Himmelssphäre verbunden sind. Folglich haben sie eine eigene Bewegung, und niemand wird abstreiten können, was seine Beobachtung ihm sagt. 18,7 Die Frage ist also, ob ihre Eigenbewegung sie von Ost nach West oder entgegengesetzt führt. Sie wird hier ebenfalls nicht nur durch klare Beweisführung, sondern auch durch den Augenschein beantwortet. Betrachten wir die Reihenfolge der Sternbilder, durch die wir den Zodiakus unterteilt oder vielmehr geschmückt sehen, und beginnen wir mit einem beliebigen von ihnen. 18,8 Wenn der Widder aufgeht, geht nach ihm der Stier auf; es folgen die Zwillinge, der Krebs und der Reihe nach die übrigen.253 Würden sich nun die Planeten von Ost nach West bewegen, würden sie nicht vom Widder in den Stier, der hinter dem Widder steht, ziehen und auch nicht vom Stier in die ihm folgenden Zwillinge, sondern von den Zwillingen in den Stier, und vom Stier in den Widder, würden sich also geradewegs im Einklang mit der Rotation des Weltalls bewegen. 18,9 Nachdem sie aber vom ersten Sternbild zum zweiten, vom zweiten zum dritten und allen folgenden ziehen, die Sternbilder aber am Himmel befestigt sind und dessen Bewegung folgen, steht zweifellos fest, dass sich die Planeten nicht mit der Himmelssphäre, sondern gegen sie bewegen. Damit das vollkommen klar wird, demonstrieren wir es anhand der Bahn des Mondes, der wegen seiner Helligkeit und raschen Bewegung recht gut zu beobachten ist.

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18,10 Luna, postquam a sole discedens nouata est, secundo fere die circa occasum uidetur, et quasi uicina soli quem nuper reliquit; postquam ille demersus est, ipsa caeli marginem tenet antecedenti superoccidens. Tertio die tardius occidit quam secundo, et ita cotidie longius ab occasu recedit, ut septimo die circa solis occasum in medio caelo ipsa uideatur. Post alios uero septem cum ille mergit, haec oritur. 18,11 Adeo media parte mensis dimidium caelum, id est unum hemisphaerium, ab occasu in orientem recedendo metitur. Rursus post septem alios circa solis occasum latentis hemisphaerii uerticem tenet, et huius rei indicium est quod medio noctis exoritur. Postremo totidem diebus exemptis solem denuo comprehendit, et uicinus uidetur ortus amborum, quamdiu soli succedens rursus nouetur et rursus recedens paulatim semper in orientem regrediendo relinquat occasum. 18,12 Sol quoque ipse non aliter quam ab occasu in orientem mouetur, et licet tardius recessum suum quam luna conficiat, quippe qui tanto tempore signum unum emetiatur quanto totum zodiacum luna discurrit, manifesta tamen et subiecta ocuIis motus sui praestat indicia. 18,13 Hunc enim in Ariete esse ponamus, quod, quia aequinoctiale signum est, pares horas somni et diei facit. In hoc signo cum occidit, Libram, id est Scorpii chelas, mox oriri uidemus, et apparet Taurus uicinus occasui: nam Vergilias et Hyadas, partes Tauri clariores, non multo post solem mergentes uidemus. 18,14 Sequenti mense sol in signum posterius, id est in Taurum, recedit, et ita fit ut neque Vergiliae neque alia pars Tauri illo mense uideatur. Signum enim quod cum sole oritur et cum sole occidit semper occulitur, adeo ut et uicina astra solis propinquitate celentur.

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18,10 Nachdem der Mond sich von der Sonne entfernt und seine Bahn von Neuem begonnen hat, wird er etwa am zweiten Tag gegen Sonnenuntergang sichtbar, gleichsam als Nachbar der Sonne, die er soeben hinter sich gelassen hat. Nach deren Untergang steht er über dem Horizont und geht kurz nach ihr unter. Am dritten Tag geht er später unter als am zweiten, und so entfernt er sich täglich etwas weiter von der untergehenden Sonne, bis er am siebten Tag bei Sonnenuntergang mitten am Himmel sichtbar ist. Nach weiteren sieben Tagen geht er auf, wenn die Sonne untergeht. 18,11 So durchmisst er in einem halben Monat den halben Himmel, das heißt eine Hemisphäre, indem er von West nach Ost zieht. Nach sieben weiteren Tagen erreicht er gegen Sonnenuntergang seinen tiefsten Punkt in der verborgenen Hemisphäre, was aus dem Umstand folgt, dass er erst um Mitternacht aufgeht. Wenn schließlich dieselbe Zahl an Tagen verstrichen ist, erreicht er wieder die Sonne und man sieht beide nebeneinander aufgehen, bis er unter die Sonne zieht, in seine Neumondphase eintritt und dann, den Westen hinter sich lassend, allmählich wieder nach Osten wandert.254 18,12 Auch die Sonne bewegt sich nicht anders als von West nach Ost, und wenn sie ihren Umlauf auch langsamer als der Mond vollendet, weil sie ja in der Zeit, in welcher der Mond den ganzen Zodiakus durchläuft, nur von einem Sternzeichen ins nächste rückt, so bietet sie doch klar vor Augen liegende Hinweise auf ihre Bewegung. 18,13 Nehmen wir an, sie stehe im Widder, dem Sternzeichen der Tagnachtgleiche im Frühjahr, welches die Stunden des Tages und der Nacht gleich lang macht.255 Wenn sie in diesem Sternbild untergeht, sehen wir kurz danach die Waage, also die Scheren des Skorpions, aufgehen; der Stier zeigt sich knapp über dem westlichen Horizont, denn wir sehen die Plejaden und die Hyaden, die helleren Sterngruppen des Stiers, kurz nach der Sonne untergehen. 18,14 Im folgenden Monat wandert die Sonne in den Stier, das Sternbild nach dem Widder, und daher sind in diesem Monat weder die Plejaden noch ein anderer Teil des Stiers sichtbar. Ein Sternzeichen nämlich, das mit der Sonne auf- und untergeht, bleibt immer verborgen, und sogar die benachbarten Sterne werden in der Gegenwart der Sonne unsichtbar.

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18,15 Nam et Canis tunc, quia uicinusTauro est, non uidetur, tectus lucis propinquitate. Et hoc est quod Vergilius ait: candidus auratis aperit cum cornibus annum Taurus et aduerso cedens Canis occidit astro. Non enim uult intellegi Tauro oriente cum sole mox in occasu fieri Canem, qui proximus Tauro est, sed occidere eum dixit Tauro gestante solem, quia tunc incipit non uideri sole uicino. 18,16 Tunc tamen occidente sole Libra adeo superior inuenitur ut totus Scorpius ortus appareat, Gemini uero uicini tunc uidentur occasui. Rursus post Tauri mensem Gemini non uidentur, quod in eos solem migrasse significat. Post Geminos recedit in Cancrum, et tunc, cum occidit, mox Libra in medio caelo uidetur. 18,17 Adeo constat solem tribus signis peractis, id est Ariete et Tauro et Geminis, ad medietatem hemisphaerii recessisse. Denique post tres menses sequentes tribus signis quae sequuntur emensis – Cancrum dico, Leonem et Virginem –, inuenitur in Libra, quae rursus aequat noctem diei, et dum in ipso signo occidit, mox oritur Aries, in quo sol ante sex menses occidere solebat. 18,18 Ideo autem occasum magis eius quam ortum elegimus proponendum, quia signa posteriora post occasum uidentur, et dum ad haec quae sole mergente uideri solent solem redire monstramus, sine dubio eum contrario motu recedere quam caelum mouetur ostendimus. 18,19 Haec autem quae de sole ac luna diximus, etiam quinque stellarum recessum adsignare sufficient. Pari enim ratione in posteriora signa migrando semper mundanae uolubilitati contraria recessione uersantur.

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18,15 So bleibt auch das Hundsgestirn als Nachbar des Stiers zu dieser Zeit unsichtbar, weil es durch das nahe Sonnenlicht überstrahlt wird. Daher sagt Vergil: »Strahlend eröffnet mit vergoldeten Hörnern der Stier das Jahr; der Hund verschwindet und weicht dem rückwärtsgewandten Gestirn«.256 Damit meint er nicht, dass, wenn der Stier mit der Sonne aufgeht, der Hund, der dem Stier benachbart ist, unterzugehen beginnt, sondern dass er, wenn die Sonne im Stier steht, verbleicht, weil er wegen der Nähe der Sonne unsichtbar zu werden beginnt. 18,16 Wenn die Sonne im Stier untergeht, steht die Waage so hoch am Himmel, dass der Skorpion zur Gänze über dem Horizont steht, während die Zwillinge dicht über dem westlichen Horizont stehen. Nach dem Monat des Stiers sind die Zwillinge nicht mehr zu sehen, was bedeutet, dass die Sonne jetzt in dieses Sternbild gewandert ist. Im nächsten Monat steht sie im Krebs, und kurz nach Sonnenuntergang sieht man die Waage mitten am Himmel. 18,17 So ist es klar, dass die Sonne drei Sternzeichen durchlaufen hat, nämlich Widder, Stier und Zwillinge, und in die Mitte der Hemisphäre gelangt ist. Drei Monate später und nach Durchwandern der drei folgenden Sternzeichen Krebs, Löwe und Jungfrau befindet sie sich in der Waage, dem Zeichen der Tagnachtgleiche im Herbst, und wenn sie in diesem Zeichen untergegangen ist, geht der Widder auf, in dem die Sonne sechs Monate zuvor untergegangen war. 18,18 Wir haben uns deswegen eher mit der untergehenden als mit der aufgehenden Sonne beschäftigt, weil die Sternzeichen, die folgen, nach ihrem Untergang sichtbar werden.257 Und weil wir gezeigt haben, dass die Sonne zu den Sternzeichen zurückwandert, die bei ihrem Untergang sichtbar werden, haben wir auch zweifelsfrei nachgewiesen, dass sie auf gegenläufiger Bahn zur Bewegung des Himmels zieht. 18,19 Was wir über Sonne und Mond gesagt haben, reicht auch hin, um die gegenläufige Bewegung der fünf anderen Planeten nachzuweisen. Denn sie wandern auf dieselbe Weise in die nachfolgenden Sternzeichen und vollziehen ihre Umlaufbahn immer entgegen der Rotation der Himmelssphäre.

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19,1 His adsertis de sphaerarum ordine pauca dicenda sunt, in quo dissentire a Platone Cicero uideri potest, cum hic solis sphaeram quartam de septem, id est in medio locatam, dicat, Plato a luna sursum secundam, hoc est inter septem a summo locum sextum tenere commemoret. 19,2 Ciceroni Archimedes et Chaldaeorum ratio consentit, Plato Aegyptios, omnium philosophiae disciplinarum parentes, secutus est, qui ita solem inter lunam et Mercurium locatum uolunt ut rationem tamen et deprehenderint et edixerint cur a nonnullis sol supra Mercurium supraqueVenerem esse credatur: nam nec illi qui ita aestimant a specie ueri procul aberrant. Opinionem uero istius permutationis huius modi ratio persuasit. 19,3 A Saturni sphaera, quae est prima de septem, usque ad sphaeram Iouis, a summo secundam, interiecti spatii tanta distantia est ut zodiaci ambitum superior triginta annis, duodecim uero annis subiecta conficiat. Rursus tantum a Ioue sphaera Martis recedit ut eundem cursum biennio peragat. 19,4 Venus autem tanto est regione Martis inferior ut ei annus satis sit ad zodiacum peragrandum. Iam uero ita Veneri proxima est stella Mercurii et Mercurio sol propinquus, ut hi tres caelum suum pari temporis spatio, id est anno plus minusue, circumeant. Ideo et Cicero hos duos cursus comites solis uocauit, quia in spatio pari longe a se numquam recedunt. 19,5 Luna autem tantum ab his deorsum recessit ut, quod illi anno, uiginti octo diebus ipsa conficiat. Ideo neque de trium superiorum ordine, quem manifeste clareque distinguit immensa distantia, neque de lunae regione, quae ab omnibus multum recessit, inter ueteres fuit aliqua dissensio. Horum uero trium sibi proximorum, Veneris, Mercurii et solis, ordi-

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Die Anordnung der Planetensphären: ägyptisches und chaldäisches System 19,1 Als Nächstes müssen wir einiges über die Anordnung der Sphären sagen, weil hier ein Dissens zwischen Plato und Cicero vorzuliegen scheint.258 Cicero bezeichnet die Sphäre der Sonne als die vierte der sieben und weist ihr so den Platz in der Mitte zu. Platon platziert sie auf der zweiten Sphäre von unten, unmittelbar oberhalb des Mondes, von oben her gerechnet also auf der sechsten unter den sieben Sphären.259 19,2 Cicero befindet sich in Übereinstimmung mit dem System des Archimedes und der Chaldäer, Platon folgt den Ägyptern, den Vätern aller Disziplinen der Philosophie. Sie ordnen die Sonne zwischen Mond und Merkur ein; freilich haben sie auch die Gründe für die Annahme mancher Forscher, die Sonne stehe oberhalb von Merkur und Venus, erkannt und benannt. Tatsächlich ist deren Auffassung von einer zutreffenden Vorstellung nicht allzu weit entfernt, und sie wurden durch folgende Überlegungen zur Annahme der abweichenden Planetenordnung gebracht. 19,3 Die Distanz zwischen der Sphäre des Saturn, der äußersten der sieben, und der des Jupiter, der zweitäußersten, ist so groß, dass der Saturn den Zodiakus in 30 Jahren, der Jupiter dagegen in zwölf Jahren durchläuft. Von letzterem ist die Sphäre des Mars so weit entfernt, dass er seine Kreisbahn binnen zwei Jahren vollendet. 19,4 Die Venus wiederum befindet sich so weit unter dem Mars, dass ihr ein Jahr zur Durchwanderung des Zodiakus genügt. Ihr jedoch ist der Merkur so nahe und der wiederum der Sonne, dass sie alle drei in derselben Zeit einmal um den Himmel ziehen, nämlich in etwa einem Jahr. Deswegen nennt Cicero Venus und Merkur »Begleiter der Sonne«, weil sie angesichts gleich langer Kreisbahnen niemals weit voneinander entfernt sind.260 19,5 Der Mond aber steht so weit unter diesen, dass er in 28 Tagen bewerkstelligt, wozu sie ein Jahr benötigen. Daher gab es unter den Alten weder irgendeinen Dissens über die Anordnung der drei obersten Planeten, die durch deren riesige Entfernung voneinander eindeutig bestimmt wird, noch über die Lage des Mondes, der weit entfernt von allen anderen ist. Hingegen ließ die enge Nachbarschaft der drei Planeten Venus, Merkur und Sonne Verwirrung über ihre Reihenfolge aufkommen, allerdings nicht

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nem uicinia confudit, sed apud alios: nam Aegyptiorum sollertiam ratio non fugit, quae talis est. 19,6 Circulus per quem sol discurrit a Mercurii circulo ut inferior ambitur; illum quoque superior circulus Veneris includit, atque ita fit ut hae duae stellae, cum per superiores circulorum suorum uertices currunt, intellegantur supra solem locatae, cum uero per inferiora commeant circulorum, sol eis superior aestimetur. 19,7 Illis ergo qui sphaeras earum sub sole dixerunt, hoc uisum est ex illo stellarum cursu, qui nonnumquam, ut diximus, uidetur inferior, qui et uere notabilior est quia tunc liberius apparent. Nam, cum superiora tenent, magis radiis occuluntur; et ideo persuasio ista conualuit, et ab omnibus paene hic ordo in usum receptus est. 19,8 Perspicacior tamen obseruatio ueriorem ordinem deprehendit, quem praeter indaginem uisus haec quoque ratio commendat quod lunam, quae luce propria caret et de sole mutuatur, necesse est fonti luminis sui esse subiectam. 19,9 Haec enim ratio facit lunam non habere lumen proprium, ceteras omnes stellas lucere suo, quod illae supra solem locatae in ipso purissimo aethere sunt, in quo omni quicquid est, lux naturalis et sua est, quae tota cum igne suo ita sphaerae solis incumbit ut caeli zonae quae procul a sole sunt perpetuo frigore oppressae sint, sicut infra ostendetur. 19,10 Luna uero, quia sola ipsa sub sole est et caducorum iam regioni luce sua carenti proxima, lucem nisi de superposito sole, cui resplendet, habere non potuit. Denique quia totius mundi ima pars terra est, aetheris autem ima pars luna est, lunam quoque terram, sed aetheriam uocauerunt.

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bei den Ägyptern, deren Scharfsinn die richtige Begründung nicht verborgen bleiben konnte. Sie lautet folgendermaßen:261 19,6 Die Kreisbahn der Sonne liegt unter der des Merkur und wird von dieser eingeschlossen, der Merkur wiederum wird von der höherliegenden Bahn der Venus eingeschlossen. So ergibt sich der Eindruck, dass diese beiden Planeten, wenn sie den Scheitelpunkt ihrer jeweiligen Kreisbahn passieren, über der Sonne stehen, dagegen unter ihr, wenn sie auf dem unteren Kreissegment ziehen. 19,7 Diejenigen, welche die Sphären der beiden Planeten unter der Sonne ansiedelten, gründeten diese Vermutung auf die Beobachtung, dass sie, wie gesagt, auf ihrer Bahn häufig unter der Sonne erscheinen und dabei auch noch auffälliger sind, weil dann eine ungehinderte Sicht auf sie möglich ist. Denn auf dem oberen Teil ihrer Bahn werden sie stärker von der Sonne überstrahlt.262 So konnte sich diese Vorstellung einnisten, und diese Anordnung ist fast zur allgemeinen Auffassung geworden. 19,8 Eine sorgfältigere Betrachtung hingegen fördert die richtige Anordnung zutage, und sie wird neben scharfer Beobachtung auch durch das Argument nahegelegt, dass der Mond, der kein eigenes Licht hat, sondern es sich von der Sonne borgt, notwendigerweise seiner Lichtquelle subordiniert sein muss. 19,9 Dafür, dass der Mond kein eigenes Licht hat, während die übrigen Sterne mit eigenem Licht leuchten, ist folgende Ursache verantwortlich: Jene befinden sich oberhalb der Sonne im reinsten Äther, wo alles, was existiert, sein eigenes natürliches Licht hat. Dieses Licht ruht mit seinem Feuer zur Gänze so auf der Sphäre der Sonne auf, dass die Himmelszonen, die weit entfernt von der Sonne sind, andauernder Kälte ausgesetzt sind, wie wir weiter unten zeigen werden.263 19,10 Der Mond dagegen steht als Einziger unterhalb der Sonne und ist der Region des Vergänglichen, die kein eigenes Licht hat, am nächsten. Daher kann er sein Licht nur von der Sonne über ihm beziehen, welches er reflektiert. Weil er zudem der unterste Teil des Äthers, die Erde aber der unterste Teil des Weltalls ist, wurde er ebenfalls »Erde«, nämlich »Erde des Äthers« genannt.264

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19,11 Immobilis tamen, ut terra, esse non potuit, quia in sphaera quae uoluitur nihil manet immobile praeter centrum; mundanae autem sphaerae terra centrum est; ideo sola immobilis perseuerat. 19,12 Rursus terra accepto solis lumine clarescit tantummodo, non relucet, luna speculi instar lumen quo illustratur emittit, quia illa aeris et aquae, quae per se concreta et densa sunt, faex habetur et ideo extrema uastitate denseta est, nec ultra superficiem quauis luce penetratur; haec licet et ipsa finis sit, sed liquidissimae lucis et ignis aetherii, ideo, quamuis densius corpus sit quam cetera caelestia, ut multo tamen terreno purius, fit acceptae luci penetrabile, adeo ut eam de se rursus emittat, nullum tamen ad nos perferentem sensum caloris: 19,13 quia lucis radius, cum ad nos de origine sua, id est de sole, peruenit, naturam secum ignis de quo nascitur deuehit; cum uero in lunae corpus infunditur et inde resplendet, solam refundit claritudinem, non calorem. Nam et speculum, cum splendorem de se ui oppositi eminus ignis emittit, solam ignis similitudinem carentem sensu caloris ostendit. 19,14 Quem soli ordinem Plato dederit uel eius auctores, quosue Cicero secutus quartum locum globo eius adsignauerit, uel quae ratio persuasionem huius diuersitatis induxerit et cur dixerit Tullius »in infimoque orbe luna radiis solis accensa conuertitur«, satis dictum est; sed his hoc adiciendum est cur Cicero, cum quartum de septem solem uelit, quartus autem inter septem non fere medius, sed omni modo medius et sit et

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19,11 Unbeweglich wie die Erde kann er allerdings nicht sein, weil in einer Sphäre, die sich bewegt, nichts unbewegt bleibt außer dem Zentrum. Zentrum des Kosmos ist aber die Erde, und daher befindet sie sich als Einzige im Zustand der Unbewegtheit.265 19,12 Die Erde nun wird durch den Empfang des Sonnenlichts lediglich erhellt, reflektiert es aber nicht, wogegen der Mond das Licht, das auf ihn fällt, wie ein Spiegel zurückwirft. Ursache dafür ist, dass die Erde, wie man annimmt, aus Sedimenten von Luft und Wasser besteht, aus komprimierten und dichten Elementen also, sodass sie aufgrund ihrer ungeheuren Masse266 so verdichtet ist, dass ihre Oberfläche von keinem Licht durchdrungen werden kann. Der Mond dagegen, obwohl er ebenfalls ein unterer Endpunkt ist, ist doch der Endpunkt des reinsten ätherischen Lichts und Feuers. Folglich ist sein Körper, mag er auch dichter sein als derjenige der übrigen Gestirne, doch viel reiner als die Erde und so für das Licht, das er empfängt, in einem solchen Maße durchlässig, dass er es wieder aussendet, ohne freilich für uns wahrnehmbare Wärme abzustrahlen. 19,13 Wenn nämlich die Lichtstrahlen von ihrem Ursprung, der Sonne, zu uns kommen, bringen sie die natürliche Eigenschaft des Feuers aus ihrer Quelle mit. Treffen sie dagegen auf den Mond und werden von ihm reflektiert, wird nur ihre Helligkeit, nicht aber ihre Wärme wieder abgestrahlt. Es ist wie mit einem Spiegel: Wenn er das Licht eines Feuers aus der Distanz mit voller Klarheit reflektiert, zeigt er uns doch nur ein bloßes Abbild des Feuers, weil die Wärme fehlt.267

Die Position der Sonne 19,14 Damit ist genug gesagt darüber, welchen Platz Platon oder seine Quellen der Sonne zugewiesen haben, und welchen Autoritäten Cicero folgte, als er ihre Sphäre als die vierte bestimmte; genug darüber, durch welche Gründe die unterschiedlichen Auffassungen veranlasst worden sind, und warum Cicero sagt »auf der untersten Kreisbahn zieht der Mond, erleuchtet von den Strahlen der Sonne«. Ergänzen müssen wir noch, warum Cicero, obwohl er die Sonne auf den vierten Platz von den sieben setzen möchte, nicht umstandslos gesagt hat, sie nehme damit den Mittelplatz ein, sondern »in etwa« den Mittelplatz: »es folgt die Sonne,

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habeatur, non abrupte medium solem, sed »fere« medium dixerit his uerbis: »deinde de septem mediam fere regionem sol obtinet.« 19,15 Sed non uacat adiectio qua haec pronuntiatio temperatur. Nam sol quartum locum obtinens mediam regionem tenebit numero, spatio non tenebit. Si inter ternos enim summos et imos locatur, sine dubio medius est numero, sed totius spatii quod septem sphaerae occupant dimensione perspecta regio solis non inuenitur in medio spatio locata, quia magis a summo ipse quam ab ipso recessit ima postremitas: quod sine ulla disceptationis ambage compendiosa probabit adsertio. 19,16 Saturni stella, quae summa est, zodiacum triginta annis peragrat, sol medius anno uno, luna ultima uno mense non integro. Tantum ergo interest inter solem et Saturnum quantum inter unum et triginta, tantum inter lunam solemque quantum inter duodecim et unum. 19,17 Ex his apparet totius a summo in imum spatii certam ex media parte diuisionem solis regione non fieri. Sed quia hic de numero loquebatur, in quo uere qui quartus et medius est, ideo pronuntiauit quidem medium, sed propter latentem spatiorum dimensionem uerbum quo hanc definitionem temperaret adiecit. 19,18 Notandum quod esse stellam Saturni et alteram Iouis, Martis aliam, non naturae constitutio sed humana persuasio est, quae »stellis numeros et nomina fecit.« Non enim ait illa »quae Saturnia est« sed »quam in terris Saturniam nominant« et »ille fulgor qui dicitur Iouis«, et »quem Martium dicitis«; adeo expressit in singulis nomina haec non esse inuenta naturae, sed hominum commenta significationi distinctionis accommoda.

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die unter den sieben Sphären in etwa die Mitte einnimmt«. Vier ist ja nicht und gilt nicht als »in etwa« die Mitte einer Serie von sieben Elementen, sondern ist exakt die Mitte. 19,15 Dieser Zusatz, mit dem er den Ausdruck abmildert, ist nicht bedeutungsleer. Denn wenn die Sonne den vierten Platz einnimmt, tut sie das numerisch, aber nicht spatial. Ihr Platz zwischen den beiden Dreiergruppen über bzw. unter ihr bezeichnet offenkundig numerisch die Mitte, aber, wenn man die Gesamtausdehnung des von den sieben Sphären eingenommen Raumes betrachtet, ergibt sich, dass die Region der Sonne nicht den Mittelplatz einnimmt, weil sie vom höchsten Punkt dieses Raumes weiter entfernt ist als der unterste Punkt von ihr, was wir ohne weitschweifige Diskussion kurz und bündig beweisen können.268 19,16 Saturn, der oberste Planet, durchwandert den Zodiakus in dreißig Jahren, die Sonne, in der Mitte, tut das in einem einzigen, der Mond, ganz unten, in knapp einem Monat. Die Differenz zwischen der Sonnenbahn und der des Saturn entspricht also der zwischen eins und dreißig und die zwischen Mond und Sonne der zwischen eins und zwölf.269 19,17 Daraus wird klar, dass der Mittelpunkt der vertikalen Gesamtausdehnung der Planetensphären nicht exakt bei der Sonne anzusetzen ist. Aber weil Cicero von der numerischen Position der Sonne redete, wo natürlich die vierte auch die mittlere ist, sprach er zwar von ihrer Mittellage, hat aber wegen der impliziten Distanzunterschiede den Ausdruck »in etwa« eingefügt, um diese Bestimmung abzumildern.

Haben die Planeten Einfluss auf das menschliche Leben? 19,18 Es ist hier anzumerken, dass Namen wie Saturn, Jupiter und Mars nichts mit der Natur der Planeten zu tun haben, sondern Vorstellungen der Menschen sind, die »die Sterne zählten und ihnen Namen gaben«. Cicero sagt ja auch nicht »der Planet Saturn«, sondern »der, den man auf Erden Saturn nennt«, und »der Glanz des sogenannten Jupiter« und »der, den ihr Mars nennt«. So brachte er zum Ausdruck, dass diese Namen nicht Schöpfungen der Natur, sondern Erfindungen der Menschen zum Zweck der Unterscheidung sind.270

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19,19 Quod uero fulgorem Iouis humano generi prosperum et salutarem, contra Martis rutilum et terribilem terris uocauit, alterum tractum est ex stellarum colore – nam fulget Iouis, rutilat Martis –, alterum ex tractatu eorum qui de his stellis ad hominum uitam manare uolunt aduersa uel prospera. Nam plerumque de Martis terribilia, de Iouis salutaria euenire definiunt. 19,20 Causam si quis forte altius quaerat unde diuinis maliuolentia, ut stella malefica esse dicatur, sicut de Martis et Saturni stellis existimatur, aut cur notabilior benignitas Iouis et Veneris inter genethlialogos habeatur, cum sit diuinorum una natura, in medium proferam rationem, apud unum omnino, quod sciam, lectam. Nam Ptolemaeus in libris tribus quos De harmonia composuit patefecit causam, quam breuiter explicabo. 19,21 Certi sunt numeri per quos inter omnia quae sibi conueniunt, iunguntur, aptantur, fit iugabilis competentia, nec quicquam potest alteri nisi per hos numeros conuenire. Sunt autem hi epitritus, hemiolius, epogdous, duplaris, triplaris, quadruplus. 19,22 Quae hoc loco interim quasi nomina numerorum accipias uolo; in sequentibus uero, cum de harmonia caeli loquemur, quid sint hi numeri quidue possint opportunius aperiemus. Modo hoc nosse sufficiat quia sine his numeris nulla colligatio, nulla potest esse concordia. 19,23 Vitam uero nostram praecipue sol et luna moderantur. Nam cum sint caducorum corporum haec duo propria, sentire uel crescere, a sjhtikÏn, id est sentiendi natura, de sole, futikÏn autem, id est crescendi natura, de lunari ad nos globositate perueniunt. Sic utriusque luminis beneficio haec nobis constat uita qua fruimur.

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19,19 Wenn Cicero aber das Licht des Jupiter als »für das Menschengeschlecht wohltätig und heilbringend« bezeichnet, das des Mars dagegen als »rötlich und auf Erden Schrecken verbreitend«, so bezieht er sich dabei teils auf die Farbe der Planeten – Jupiter ist hell, Mars rötlich –, teils auf Theorien, die einen schädlichen oder günstigen Einfluss der Planeten auf das menschliche Leben annehmen, und denen zufolge schreckliche Ereignisse im allgemeinen vom Mars, günstige vom Jupiter ausgelöst werden.271 19,20 Möchte nun jemand genauer wissen, woher göttliche Wesenheiten so viel Bosheit haben sollten, dass Planeten wie Mars oder Saturn sogar als unheilbringend bezeichnet werden, oder warum die Menschenfreundlichkeit des Jupiter und der Venus bei den Astrologen so hoch im Kurs steht,272 und das, obwohl es doch nur eine einheitliche Natur der göttlichen Wesenheiten geben kann, so kann ich eine Begründung vorlegen, die sich meines Wissens nur bei einem einzigen Autor findet. Ptolemaios nämlich hat in seinen drei Büchern Über die Harmonie die Ursache offengelegt,273 und ich werde sie hier kurz erläutern. 19,21 Es gibt bestimmte Zahlenverhältnisse, mittels derer zwischen allem, was in eine Relation zueinander tritt, was miteinander verbunden und zusammengefügt wird, eine proportionale Beziehung274 zustande kommt, und nichts kann zu etwas anderem in Relation treten, außer durch solche Zahlenverhältnisse. Diese sind der Epitrit (4: 3), der Hemiolius (3: 2), der Epogdous (9: 8), der Duplar (2: 1), der Triplar (3: 1) und der Quadruplar (4: 1).275 19,22 Für den Augenblick möchte ich, dass du diese Zahlenverhältnisse sozusagen nur als Zahlwörter verstehst; später, wenn wir über die Sphärenharmonie reden, können wir ihre Natur und ihre Wirksamkeit besser erklären.276 Vorderhand genügt es zu wissen, dass ohne diese Zahlenverhältnisse keine Verbindung und keine Harmonie existieren kann. 19,23 Unser Leben wird in erster Linie von Sonne und Mond bestimmt. Denn vergängliche Körper haben zwei Fähigkeiten, Sinneswahrnehmung und Wachstum, und von denen kommt erstere, das a sjhtikÏn, von der Sonne zu uns, letztere, das futikÏn, von der Kugel des Mondes.277 So beruht das Leben, dessen wir uns erfreuen, auf der Fürsorge der beiden Luminare.

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19,24 Conuersatio tamen nostra et prouentus actuum tam ad ipsa duo lumina quam ad quinque uagas stellas refertur; sed harum stellarum alias interuentus numerorum quorum supra fecimus mentionem cum luminibus bene iungit ac sociat, alias nullus applicat numeri nexus ad lumina. 19,25 Ergo Veneria et Iouialis stella per hos numeros lumini utrique sociantur, sed Iouialis soli per omnes, lunae uero per plures, et Veneria lunae per omnes, soli per plures numeros aggregatur. Hinc licet utraque benefica credatur, Iouis tamen stella cum sole accommodatior est et Veneria cum luna, atque ideo uitae nostrae magis commodant, quasi luminibus uitae nostrae auctoribus numerorum ratione concordes. 19,26 Saturni autem Martisque stellae ita non habent cum luminibus competentiam, ut tamen aliqua uel extrema numerorum linea Saturnus ad solem, Mars adspiciat ad lunam. Ideo minus commodi uitae humanae existimantur, quasi cum uitae auctoribus arta numerorum ratione non iuncti. Cur tamen et ipsi nonnumquam opes uel claritatem hominibus praestare credantur, ad alterum debet pertinere tractatum, quia hic sufficit aperuisse rationem cur alia terribilis, alia salutaris existimetur. 19,27 Et Plotinus quidem in libro qui inscribitur Si faciunt astra pronuntiat nihil ui uel potestate eorum hominibus euenire, sed ea quae decreti necessitas in singulos sancit, ita per horum septem transitum, stationem recessumue monstrari, ut aues, seu praeteruolando seu stando, futura pennis uel uoce significant nescientes. Sic quoque tamen iure uocabitur hic salutaris, ille terribilis, cum per hunc prospera, per illum significentur incommoda.

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19,24 Unsere Lebensführung und der Erfolg unseres Handelns haben aber ebenso viel wie mit den beiden Luminaren mit den fünf Planeten zu tun. Denn von denen sind die einen durch die oben erwähnten Zahlenverhältnisse mit den beiden Luminaren harmonisch verbunden, während zwischen anderen Planeten und den Luminaren keine entsprechende Verbindung besteht. 19,25 Venus und Jupiter sind es, die sich mit jedem der beiden Luminare durch solche Zahlenverhältnisse verbünden, wobei der Jupiter sich mit der Sonne durch alle und mit dem Mond durch viele dieser Relationen verbindet, die Venus aber mit dem Mond durch alle und durch viele mit der Sonne. Es können daher beide Planeten als unsere Wohltäter gelten; dabei steht freilich der Jupiter mit der Sonne in engerer Verbindung, die Venus aber mit dem Mond. Beide haben also einen günstigen Einfluss auf unser Leben, weil sie sich mit den beiden Luminaren, den Quellen unseres Lebens, in numerischer Harmonie befinden. 19,26 Saturn und Mars haben dagegen keine derartige Verbindung mit den Luminaren, wenngleich aufgrund einer ganz losen numerischen Relation der Saturn sich auf die Sonne und der Mars auf den Mond hin orientieren. Also gelten sie als weniger förderlich für das menschliche Leben, weil sie mit dessen beiden Garanten nicht durch eine enge Zahlenrelation verbunden sind. Warum dennoch manchmal angenommen wird, auch sie verliehen den Menschen Macht und Ruhm, gehört in eine andere Abhandlung; hier genügt es, geklärt zu haben, warum der eine Planet als gefährlich, der andere als wohltätig gilt. 19,27 Plotin jedenfalls schreibt in seinem Buch mit dem Titel Ob die Sterne handeln, dass Wirkung oder Macht der sieben Planeten keinen Einfluss auf die Menschen haben. Aber es werde, was das unabwendbare Schicksal über jeden Einzelnen verhängt habe, durch ihre Progression, Stillstand und Regression angezeigt, so wie die Vögel, ohne es selbst zu wissen, im Flug oder bei der Rast mit ihrem Flügelschlag oder ihrem Gesang die Zukunft andeuten. Es verdient also auch so zu Recht der eine Planet die Bezeichnung »heilbringend« und »Schrecken verbreitend« der andere, weil durch jenen ein günstiges, durch diesen ein ungünstiges Geschick angezeigt wird.278

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20,1 In his autem tot nominibus quae de sole dicuntur non frustra nec ad laudis pompam lasciuit oratio, sed res uerae uocabulis exprimuntur. »Dux et princeps«, ait, »et moderator luminum reliquorum, mens mundi et temperatio.« 20,2 Plato in Timaeo, cum de octo sphaeris loqueretur, sic ait: »Vt autem per ipsos octo circuitus celeritatis et tarditatis certa mensura et sit et noscatur, deus in ambitu supra terram secundo lumen accendit quod nunc solem uocamus.« 20,3 Vides ut haec definitio uult esse omnium sphaerarum lumen in sole; sed Cicero, sciens etiam ceteras stellas habere lumen suum, solamque lunam, ut saepe iam diximus, proprio carere, obscuritatem definitionis huius liquidius absoluens et ostendens in sole maximum lumen esse, non solum ait »dux« sed »et princeps et moderator luminum reliquorum.« Adeo et ceteras stellas scit esse lumina, sed hunc ducem et principem quem Heraclitus fontem caelestis lucis appellat. 20,4 »Dux« ergo est, quia omnes luminis maiestate praecedit; »princeps«, quia ita eminet ut propterea quod talis solus appareat, sol uocetur; »moderator reliquorum« dicitur, quia ipse cursus eorum recursusque moderatur. 20,5 Nam certa spatii definitio est ad quam cum unaquaeque erratica stella recedens a sole peruenerit, tamquam ultra prohibeatur accedere, agi retro uidetur, et rursus, cum certam partem recedendo contigerit, ad directi cursus consueta reuocatur. Ita solis uis et potestas motus reliquorum luminum constituta dimensione moderatur. 20,6 »Mens mundi« ita appellatur ut physici eum cor caeli uocauerunt, inde nimirum quod omnia quae stata ratione per caelum fieri uide-

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Funktion der Sonne und Berechnung ihrer Größe 20,1 Wenn Cicero nun so viele Namen für die Sonne verwendet, schwelgt seine Sprache keineswegs in inhaltsleerer und aufgeputzter Lobhudelei, sondern seine Worte treffen die Wahrheit. »Führerin und Fürstin«, sagt er, »Lenkerin der übrigen Gestirne, Geist und Ordnungsprinzip des Alls«.279 20,2 Platon aber sagt im Timaios, wenn er über die acht Sphären spricht: »damit indes auf diesen acht Sphären ein genaues Maß der jeweiligen Geschwindigkeit existieren und erkannt werden kann, hat der Gott auf der zweiten Kreisbahn über der Erde das Licht entzündet, das wir heute die Sonne nennen«. 20,3 Diese Definition schreibt, wie man sieht, das Licht aller Sphären der Sonne zu. Doch Cicero, der natürlich wusste, dass die übrigen Planeten ebenfalls ihr eigenes Licht haben mit Ausnahme, wie schon öfter gesagt, des Mondes, beseitigt die Unklarheit in dieser Definition und weist darauf hin, dass die Sonne über das stärkste Licht verfüge, indem er sie nicht nur »Führerin«, sondern auch »Fürstin und Lenkerin der übrigen Gestirne« nennt.280 Natürlich weiß er, dass auch die übrigen Planeten leuchten, aber als deren Führerin und Herrscherin bezeichnet er eben den Planeten, den Heraklit »Quelle des Himmelslichts« nannte.281 20,4 »Führerin« ist die Sonne, weil die Majestät ihres Lichts alle anderen übertrifft; »Fürstin«, weil sie unter den anderen Planeten so hervortritt, dass sie ihrer einzigartigen Erscheinung sogar ihren Namen verdankt;282 »Lenkerin aller übrigen«, weil sie deren Vorwärts- und Rückwärtsziehen regelt. 20,5 Es gibt nämlich für jeden Planeten einen definierten Punkt auf seiner Bahn weg von der Sonne, an dem er gleichsam am Weiterziehen gehindert und zur Rückkehr gezwungen zu werden scheint; und wenn er umgekehrt eine definierte Strecke seiner Rückwärtsbewegung zurückgelegt hat, wird er wieder auf seinen üblichen Kurs zurückgerufen. So regelt die Kraft und Macht der Sonne die Bewegungen der übrigen Planeten nach einem festgesetzten Maß.283 20,6 »Geist der Welt« nennt Cicero die Sonne, ähnlich wie die Naturforscher sie »Herz des Weltalls« genannt haben.284 Er tut das, weil alles, was sich vor unseren Augen naturgesetzlich am Himmel vollzieht, durch

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mus, diem noctemque et migrantes inter utrumque prolixitatis breuitatisque uices et certis temporibus aequam utriusque mensuram, dein ueris clementem teporem, torridum Cancri ac Leonis aestum, mollitiem autumnalis aurae, uim frigoris inter utramque temperiem, omnia haec solis cursus et ratio dispensat. Iure ergo cor caeli dicitur, per quem fiunt omnia quae diuina ratione fieri uidemus. 20,7 Est et haec causa propter quam iure cor caeli uocetur, quod natura ignis semper in motu perpetuoque agitatu est; solem autem ignis aetherii fontem dictum esse rettulimus; hoc est ergo sol in aethere quod in animali cor, cuius ista natura est ne umquam cesset a motu; aut breuis eius quocumque casu ab agitatione cessatio mox animal interimat. 20,8 Haec de eo quod mundi mentem uocauit. Cur uero et »temperatio« mundi dictus sit, ratio in aperto est. Ita enim non solum terram, sed ipsum quoque caelum, quod uere mundus uocatur, temperari sole certissimum est, ut extremitates eius, quae a uia solis longissime recesserunt, omni careant beneficio caloris et una frigoris perpetuitate torpescant. Quod sequentibus apertius explicabitur. Restat ut et de magnitudine eius, quam uerissima praedicatione extulit, pauca et non praetereunda dicamus. 20,9 Physici hoc maxime consequi in omni circa magnitudinem solis inquisitione uoluerunt, quanto maior possit esse quam terra, et Eratosthenes in libris dimensionum sic ait: »mensura terrae septies et uicies multiplicata mensuram solis efficiet«; Posidonius multo multoque saepius, et uterque lunaris defectus argumentum pro se aduocat. 20,10 Ita cum solem uolunt terra maiorem probare, testimonio lunae deficientis utuntur, cum defectum lunae conantur adserere, probationem de solis magnitudine mutuantur, et sic euenit ut, dum utrumque de altero adstruitur, neutrum probabiliter adstruatur, semper in medio uicissim

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den gesetzmäßigen Lauf der Sonne bestimmt wird: der Wechsel zwischen Tag und Nacht und dass beide wechselweise länger, kürzer oder zu bestimmten Zeiten auch gleich lang sind, die lauen Temperaturen des Frühlings, die sengende Hitze des Krebses und des Löwen, die milde Luft im Herbst und die schneidende Kälte im Winter. Zu Recht wird sie also »Herz des Alls« genannt, sie, dank derer alles sich vollzieht, was vor unseren Augen durch göttliche Vernunft geschieht. 20,7 Ein weiterer Grund, die Sonne Herz des Alls zu nennen, ist, dass Feuer von Natur aus in ständiger und unablässiger Bewegung ist. Wir haben aber schon berichtet, dass die Sonne als Quelle des ätherischen Feuers bezeichnet worden ist. Sie hat also im Äther dieselbe Funktion wie im Lebewesen das Herz, dessen natürliche Eigenschaft es ist, niemals von der Bewegung abzulassen; eine noch so kurze und wodurch auch immer veranlasste Unterbrechung seines Schlagens führte unverzüglich den Tod des Lebewesens herbei. 20,8 Soweit über die Gründe, warum Cicero die Sonne Seele der Welt genannt hat. Warum er die Sonne auch als »Ordnungsprinzip« des Alls bezeichnet, liegt auf der Hand. Ganz gewiss wird nicht nur die Erde, sondern auch der Himmel, der zu Recht Universum genannt wird, von der Sonne erwärmt;285 allerdings sind die äußersten Regionen von ihrer Bahn so weit entfernt, dass sie nicht in den Genuss ihrer Wärme kommen und in ununterbrochener Froststarre verharren müssen. Das soll weiter unten näher erläutert werden.286 Zuvor sind aber noch einige Bemerkungen über ihre Größe zu machen, die Cicero mit so zutreffenden Worten hervorgehoben hat. 20,9 Die Naturforscher haben versucht, bei allen Untersuchungen zur Größe der Sonne in erster Linie zu ermitteln, um wieviel größer sie sein könnte als die Erde. Eratosthenes sagt in seinem Buch Über die Maße: »Die Größe der Erde multipliziert mit 27 ergibt die Größe der Sonne«; Poseidonius setzt einen sehr viel größeren Multiplikator an, und beide stützen ihre Argumentation auf die Mondfinsternis.287 20,10 Mit der Mondfinsternis argumentieren sie aber, wenn sie beweisen wollen, dass die Sonne größer ist als die Erde; möchten sie dagegen die Mondfinsternis erklären, holen sie sich den Beweis bei der Größe der Sonne. Folglich beruht jedes Argument auf dem jeweils anderen, sodass keines plausibel ist und die Beweisführung immer halbwegs zwischen bei-

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nutante mutuo testimonio. Quid enim per rem adhuc probandam probetur? 20,11 Sed Aegyptii, nihil ad coniecturam loquentes, sequestrato ac libero argumento nec in patrocinium sibi lunae defectum uocante, quanta mensura sol terra maior sit probare uoluerunt, ut tum demum per magnitudinem eius ostenderent cur luna deficiat. 20,12 Hoc autem nequaquam dubitabatur non posse aliter deprehendi nisi mensura et terrae et solis inuenta, ut fieret ex collatione discretio. Et terrena quidem dimensio oculis rationem iuuantibus de facili constabat. Solis uero mensuram aliter nisi per mensuram caeli per quod discurrit inueniri non posse uiderunt. Ergo primum metiendum sibi caelum illud, id est iter solis, constituerunt, ut per id possent modum solis agnoscere. 20,13 Sed, quaeso, si quis umquam tam otiosus tamque ab omni erit serio feriatus ut haec quoque in manus sumat, ne talem ueterum promissionem, quasi insaniae proximam, aut horrescat aut rideat. Etenim ad rem quae natura incomprehensibilis uidebatur uiam sibi fecit ingenium, et per terram qui caeli modus sit reppererunt. Vt autem liquere possit ratio commenti, prius regulariter pauca dicenda sunt, ut sit rerum sequentium auditus instructior. 20,14 In omni orbe uel sphaera, medietas centron uocatur, nihilque aliud est centron nisi punctum quo sphaerae aut orbis medium certissima obseruatione distinguitur. Item ducta linea de quocumque loco circuli qui designat ambitum in quamcumque eiusdem circuli summitatem orbis partem aliquam diuidat necesse est. 20,15 Sed non omni modo medietas est orbis quam separat ista diuisio. Illa enim tantum linea in partes aequales orbem medium diuidit quae a summo in summum ita ducitur ut necesse sit eam transire per centron; et haec linea, quae orbem sic aequaliter diuidit, diàmetroc nuncupatur. 20,16 Item omnis diàmetroc cuiuscumque orbis triplicata cum adiectione septimae partis suae mensuram facit circuli quo orbis includitur; id

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den hin und her schwankt. Wie aber kann man einen Beweis mit unbewiesenen Voraussetzungen führen? 20,11 Die Ägypter dagegen bauten nicht auf Vermutungen, sondern versuchten in vollständig unabhängiger und nicht auf die Mondfinsternis gestützter Argumentation zunächst nachzuweisen, um wieviel größer die Sonne als die Erde ist, und suchten dann auf dieser Grundlage das Phänomen der Mondfinsternis zu erklären.288 20,12 Sie hatten aber keinerlei Zweifel, dass das Problem nur so zu lösen sei, dass man die Maße der Erde und der Sonne bestimmt, um dann den Unterschied durch Vergleich zu ermitteln. Die Größe der Erde ließ sich durch Beobachtung, das Hilfsinstrument der Beweisführung, leicht bestimmen. Sie verstanden zudem, dass die Größe der Sonne nur mittels der Maße des Himmelsraums, den sie durchzieht, zu finden sei. So entschlossen sie sich, zuerst diesen Raum, also die Sonnenbahn, zu messen, um mit dem ermittelten Wert das Maß der Sonne herauszufinden.289 20,13 Sollte nun jemand einmal so viel Zeit und Freiheit von jeder ernsthaften Aufgabe haben, dass er sich diese Fragestellung ebenfalls vornimmt, dann, bitte, möge er über die Ambitionen der Alten weder erschrecken noch lachen, als ob sie dem Wahnsinn nahe gewesen wären. Denn ihr Genie fand einen Zugang zu diesem von Natur aus unlösbar scheinenden Problem, und sie konnten mittels der Erdmaße die Maße des Himmels berechnen. Damit ihre Methodik klar wird, sind ein paar Fachbegriffe vorab zu klären, die das Verständnis des Folgenden vorbereiten. 20,14 Zunächst hat jeder Kreis oder Sphäre einen Mittelpunkt, das sogenannte Zentrum; das ist eben der Punkt, den die genaue Beobachtung als Mitte des Kreises oder der Sphäre bestimmt. Sodann teilt notwendigerweise eine Linie, die von einem beliebigen Punkt der Peripherie zu einem beliebigen anderen Punkt derselben Peripherie gezogen wird, den Kreis irgendwie in zwei Teile. 20,15 Aber sie teilt ihn nicht notwendigerweise in zwei gleiche Teile; das tut nur eine Linie, die derart von Peripherie zu Peripherie gezogen wird, dass sie durch das Zentrum geht. Eine Linie, die den Kreis derart symmetrisch teilt, heißt diàmetroc, Durchmesser. 20,16 Wenn man sodann den Durchmesser eines beliebigen Kreises mit drei multipliziert und noch ein Siebtel hinzuaddiert, erhält man die

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est, si uncias septem teneat diametri longitudo et uelis ex ea nosse quot uncias orbis ipsius circulus teneat, triplicabis septem et faciunt uiginti unum; his adicies septimam partem, hoc est unum, et pronuntiabis in uiginti et duabus unciis huius circuli esse mensuram cuius diametros septem unciis extenditur. 20,17 Haec omnia geometricis euidentissimisque rationibus probare possemus, nisi et neminem de ipsis dubitare arbitraremur et caueremus iusto prolixius uolumen extendere. 20,18 Sciendum et hoc, quod umbra terrae quam sol post occasum in inferiore hemisphaerio currens sursum cogit emitti, ex qua super terram fit obscuritas quae nox uocatur, sexagies in altum multiplicatur ab ea mensura quam terrae diàmetroc habet, et hac longitudine ad ipsum circulum per quem sol currit erecta, exclusione luminis tenebras in terra refundit. 20,19 Prodendum est igitur quanta diàmetroc terrae sit, ut constet quid possit sexagies multiplicata colligere; unde, his praelibatis, ad tractatum mensurarum quas promisit oratio reuertatur. 20,20 Euidentissimis et indubitabilibus dimensionibus constitit uniuersae terrae ambitum, quae ubicumque uel incolitur a quibuscumque uel inhabitabilis iacet, habere stadiorum milia ducenta quinquaginta duo. Cum ergo tantum ambitus teneat, sine dubio octoginta milia stadiorum uel non multo amplius diàmetroc habet secundum triplicationem cum septimae partis adiectione, quam superius de diametro et circulo regulariter diximus. 20,21 Et quia ad efficiendam terrenae umbrae longitudinem non ambitus terrae, sed diametri mensura multiplicanda est – ipsa est enim quam sursum constat excrescere – sexagies multiplicanda tibi erunt octoginta milia quae terrae diàmetroc habet, quae faciunt quadragies octies centena milia stadiorum esse a terra usque ad solis cursum, quo umbram terrae diximus peruenire. 20,22 Terra autem in medio caelestis circuli per quem sol currit ut centron locata est; ergo mensura terrenae umbrae medietatem diametri caeles-

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Länge seiner Peripherie. Misst beispielsweise ein Durchmesser sieben Zoll und möchte man auf dieser Basis ermitteln, wieviel Zoll die Peripherie beträgt, so multipliziert man die Sieben mit drei, was 21 ergibt, addiert noch ein Siebentel des Durchmessers, also eins, und kommt so auf einen Wert von 22 Zoll für den Umfang eines Kreises mit einem Durchmesser von sieben Zoll.290 20,17 Das alles könnten wir mit evidenten geometrischen Verfahren beweisen, glauben aber, dass es ohnehin niemand bezweifelt, und wollen dieses Buch auch nicht über Gebühr anschwellen lassen. 20,18 Ferner muss man wissen, dass die Sonne nach ihrem Abstieg in die untere Hemisphäre den Erdschatten in die Höhe steigen lässt, sodass sich auf der Erde die Dunkelheit ausbreitet, die man Nacht nennt. Dieser Schatten hat eine Höhenausdehnung vom Sechzigfachen des Erddurchmessers und reicht bis zur Bahn der Sonne; er nimmt der Erde das Licht und breitet Finsternis über sie.291 20,19 Wir müssen also zuerst klären, wie groß der Durchmesser der Erde ist, damit wir durch Multiplikation dessen sechzigfachen Wert bekommen; nach dieser Vorarbeit wenden wir uns wieder der versprochenen Berechnung der Sonnengröße zu. 20,20 Aufgrund völlig klarer und unanzweifelbarer Berechnungen steht fest, dass der Umfang der gesamten Erde, ihre von unterschiedlichsten Völkern bewohnten und ihre unbewohnbaren Teile zusammengenommen, 252.000 Stadien beträgt.292 Diesen Umfang vorausgesetzt, beträgt ihr Durchmesser unzweifelhaft 80.000 Stadien oder ein wenig mehr, gemäß der Regel der Multiplikation des Durchmessers mit drei plus ein Siebentel, die wir oben zur Berechnung des Kreisumfangs eingeführt haben. 20,21 Und weil zur Ermittlung der Länge des Erdschattens nicht der Erdumfang, sondern der Erddurchmesser zu multiplizieren ist – er definiert bekanntlich dessen Höhenausdehnung –, muss man die 80.000 Stadien des Erddurchmessers mit sechzig multiplizieren, und gelangt zu dem Ergebnis, dass die Entfernung von der Erde bis zur Sonnenbahn, bis wohin nach unserer Feststellung der Erdschatten reicht, 4.800.000 Stadien misst. 20,22 Da die Erde aber den Mittelpunkt des Himmelskreises, auf dem die Sonne zieht, also sein Zentrum, bildet, muss das Maß des Erdschattens die Hälfte des Durchmessers der Sonnenbahn betragen; und wenn man die

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tis efficiet, et si ab altera quoque parte terrae par usque ad eundem circulum mensura tendatur, integra circuli per quem sol currit diametros inuenitur. 20,23 Duplicatis igitur illis quadragies octies centenis milibus erit integra diàmetroc caelestis circuli nonagies sexies centenis milibus stadiorum, et inuenta diàmetroc facile mensuram nobis ipsius quoque ambitus prodit. 20,24 Hanc enim summam quae diàmetron fecit debes ter multiplicare, adiecta parte septima, ut saepe iam dictum est; et ita inuenies totius circuli per quem sol currit ambitum stadiorum habere trecenties centena milia et insuper centum septuaginta milia. 20,25 His dictis, quibus mensura quam terrae uel ambitus uel diàmetroc habet, sed et circuli modus per quem sol currit uel diametri eius ostenditur, nunc quam solis esse mensuram uel quemadmodum illi prudentissimi deprehenderint indicemus. Nam sicut ex terrena umbra potuit circuli per quem sol meat deprehendi magnitudo, ita per ipsum circulum mensura solis inuenta est, in hunc modum procedente inquisitionis ingenio. 20,26 Aequinoctiali die ante solis ortum aequabiliter locatum est saxeum uas, in hemisphaerii speciem cauata ambitione curuatum, infra per lineas designato duodecim diei horarum numero, quas stili prominentis umbra cum transitu solis praetereundo distinguit. 20,27 Hoc est autem, ut scimus, huius modi uasis officium, ut tanto tempore a priore eius extremitate ad alteram usque stili umbra percurrat, quanto sol medietatem caeli ab ortu in occasum, unius scilicet hemisphaerii conuersione, metitur. Nam totius caeli integra conuersio diem noctemque concludit, et ideo constat quantum sol in circulo suo, tantum in hoc uase umbram meare. 20,28 Huic igitur aequabiliter collocato circa tempus solis ortui propinquantis inhaesit diligens obseruantis obtutus, et cum ad primum solis radium, quem de se emisit prima summitas orbis emergens, umbra de stili decidens summitate primam curui labri eminentiam contigit, locus ipse qui

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andere Hälfte von der anderen Seite der Erde bis zur Sonnenbahn hinzunimmt, kommt man auf den Gesamtdurchmesser der Sonnenumlaufbahn. 20,23 Verdoppelt man also die genannten 4.800.000 Stadien, ergibt sich als Gesamtdurchmesser der Sonnenbahn 9.600.000 Stadien, und aus diesem Wert gewinnen wir dann leicht auch den Umfang der Sonnenbahn. 20,24 Man muss dazu nur, wie schon mehrfach gesagt, den Wert des Durchmessers mit drei multiplizieren und ein Siebtel addieren. So findet man, dass der Gesamtumfang der Kreisbahn der Sonne 30.170.000 Stadien beträgt. 20,25 Nachdem wir nun gesagt haben, wie der Erdumfang und der Erddurchmesser sowie die Sonnenbahn und deren Durchmesser berechnet werden, wollen wir uns über den Durchmesser der Sonne äußern, beziehungsweise darüber, wie jene hochgelehrten Ägypter ihn herausgefunden haben. Denn so wie sie aus der Länge des Erdschattens den Umfang der Sonnenbahn berechnen konnten, konnten sie wiederum aus der Sonnenbahn die Abmessung der Sonne ableiten, indem sie folgendes geniale Verfahren anwandten. 20,26 Am Datum der Tagnachtgleiche, noch vor Sonnenaufgang, wurde ein Steingefäß, das zu einer perfekten halben Hohlkugel ausgearbeitet war, horizontal aufgestellt. Auf der Innenseite waren Linien für die zwölf Stunden des Tages eingezeichnet und nummeriert. Ein vertikaler Zeiger warf seinen Schatten auf sie und zeigte durch sein Wandern mit dem Sonnenstand die Stunden an.293 20,27 Aufgabe eines solchen Instruments ist es bekanntlich, den Schatten des Zeigers kontinuierlich von einem Rand des Gefäßes zum anderen wandern zu lassen, und zwar in derselben Zeit, in der die Sonne zwischen ihrem Aufgang und Untergang die Hälfte des Himmelsgewölbes, also eine Hemisphäre, durchwandert. Denn eine komplette Umdrehung des Himmels dauert einen Tag und eine Nacht, und daher ist klar, dass der Schatten in diesem Gefäß proportional zu der von der Sonne zurückgelegten Strecke wandert. 20,28 Auf dieses also völlig plan aufgestellte Gefäß konzentrierte kurz vor Sonnenaufgang ein Beobachter seinen Blick, und als beim ersten Strahl der Sonne, den ihr oberster Rand über den Horizont sandte, die Spitze des Zeigers einen Schatten auf den äußersten Rand des Gefäßes warf, wurde

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umbrae primitias excepit notae impressione signatus est obseruatumque, quamdiu super terram ita solis orbis integer appareret, ut ima eius summitas adhuc horizonti uideretur insidere. 20,29 Et mox locus ad quem umbra tunc in uase migrauerat adnotatus est; habitaque dimensione inter ambas umbrarum notas, quae integrum solis orbem, id est diametrum, natae de duabus eius summitatibus metiuntur, pars nona reperta est eius spatii quod a summo uasis labro usque ad horae primae lineam continetur. 20,30 Et ex hoc constitit quod in cursu solis unam temporis aequinoctialis horam faciat repetitus nouies orbis eius accessus, et quia conuersio caelestis hemisphaerii peractis horis duodecim diem condit, nouies autem duodeni efficiunt centum octo, sine dubio solis diametros centesima et octaua pars hemisphaerii aequinoctialis est. Ergo totius aequinoctialis circuli ducentesima sexta decima pars est. 20,31 Ipsum autem circulum habere stadiorum trecenties centena milia et insuper centum et septuaginta milia antelatis probatum est. Ergo, si eius summae ducentesimam sextam decimam consideraueris partem, mensuram diametri solis inuenies. Est autem pars ipsa fere in centum quadraginta milibus. Diàmetroc igitur solis centum quadraginta fere milium stadiorum esse dicenda est; unde paene duplex quam terra diàmetroc inuenitur. 20,32 Constat autem geometricae rationis examine, cum de duobus orbibus altera diàmetroc duplo alteram uincit, illum orbem cuius diàmetroc dupla est orbe altero octies esse maiorem. Ergo ex his dicendum est solem octies terra esse maiorem. Haec de solis magnitudine breuiter de multis excerpta libauimus. 21,1 Sed quoniam septem sphaeras caelo diximus esse subiectas, exteriore quaque quas interius continet ambiente, longeque et a caelo omnes et a se singulae recesserunt, nunc quaerendum est, cum zodiacus unus sit

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die Stelle, auf die der allererste Schatten gefallen war, mit einer Markierung versehen. Sodann wurde beobachtet, wie lange es dauerte, bis die gesamte Sonnenscheibe sich über den Horizont erhoben hatte, und zwar so, dass ihr unterster Rand gerade noch auf ihm aufzusitzen schien. 20,29 Nun wurde die Stelle markiert, an welcher der Schatten im Gefäß zu diesem Zeitpunkt stand. Und als man die Distanz zwischen den beiden Markierungen maß, die das Erscheinen des obersten und untersten Sonnenrandes, also des kompletten Durchmessers der Sonnenscheibe anzeigten, stellte sich heraus, dass diese ein Neuntel der Distanz zwischen dem obersten Rand des Gefäßes und der ersten Stundenlinie beträgt. 20,30 Daraus ergab sich, dass zur Zeit der Tagnachtgleiche die von der Sonne in einer Stunde zurückgelegte Strecke ihrem neunfachen Durchmesser entspricht. Da nun die Umdrehung des Himmelsgewölbes einen Tag von zwölf Stunden dauert, neun mal zwölf aber 108 ergibt, ist zweifellos der Durchmesser der Sonne gleich dem 108. Teil der ÄquinoktialHemisphäre und dem 216. Teil des gesamten Äquinoktialkreises.294 20,31 Oben haben wir nachgewiesen, dass die gesamte Sonnenbahn 30.170.000 Stadien misst. Wenn man nun davon den 216. Teil berechnet, kommt man auf den Durchmesser der Sonne. Dieser beträgt folglich rund 140.000 Stadien. Es ist also festzustellen, dass der Durchmesser der Sonne etwa 140.000 Stadien beträgt, was etwa die doppelte Größe des Erdumfangs ist. 20,32 Bei einer Berechnung mit den Methoden der Geometrie ergibt sich nun Folgendes: Wenn der Durchmesser einer Sphäre doppelt so groß ist wie der einer anderen, ist sie achtmal größer als die andere.295 Folglich ist festzustellen, dass die Sonne achtmal größer ist als die Erde. Soweit unsere kurzen Ausführungen über die Größe der Sonne, die wir aus zahlreichen Quellen zusammengestellt haben.

Der Zodiakus und seine Vermessung durch die Ägypter 21,1 Oben haben wir gesagt, dass es sieben Sphären gibt, die der Himmelssphäre untergeordnet sind, wobei jeweils die äußere die inneren einschließt, und dass alle weit vom Himmel und auch weit voneinander entfernt sind.296 Deshalb müssen wir nun folgender Frage nachgehen: Da es

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et is constet caelo sideribus infixis, quemadmodum inferiorum sphaerarum stellae in signis zodiaci meare dicantur. Nec longum est inuenire rationem quae in ipso uestibulo excubat quaestionis. 21,2 Verum est enim neque solem lunamue neque de uagis ullam ita in signis zodiaci ferri ut eorum sideribus misceantur, sed in illo signo esse unaquaeque perhibetur quod habuerit super uerticem, in ea quae illi subiecta est circuli sui regione discurrens, quia singularum sphaerarum circulos in duodecim partes aeque ut zodiacum ratio diuisit, et quae in eam partem circuli sui uenerit quae sub parte zodiaci est Arieti deputata, in ipsum Arietem uenisse conceditur, similisque obseruatio in singulas partes migrantibus stellis tenetur. 21,3 Et quia facilior ad intellectum per oculos uia est, id quod sermo descripsit uisus adsignet. Esto enim zodiacus circulus, cui adscriptum est A. Intra hunc septem alii orbes locentur, et zodiacus ab A per ordinem adfixis notis, quibus adscribentur litterae sequentes, in partes duodecim diuidatur, sitque spatium quod inter A et B clauditur Arieti deputatum, quod inter B et C Tauro, quod inter C et D Geminis, Cancro quod sequitur, et reliquis per ordinem cetera.* 21,4 His constitutis iam de singulis zodiaci notis et litteris singulae deorsum lineae per omnes circulos ad ultimum usque ducantur: procul dubio per orbes singulos duodenas partes diuidet transitus linearum. In quocumque igitur circulo seu sol in illo seu luna uel de uagis quaecumque discurrat, cum ad spatium uenerit quod inter lineas clauditur ab A et B notis et litteris defluentes, in Ariete esse dicetur, quia illic constituta spatium Arietis in zodiaco designatum super uerticem, sicut descripsimus, habebit. Similiter in quamcumque migrauerit partem, in signo sub quo fuerit esse dicetur.

* Siehe Abbildung 2, S. 367

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ja nur einen einzigen Zodiakus gibt und er aus Sternzeichen besteht, die der Himmelssphäre eingeschrieben sind, wie kann man sagen, dass die Planeten der tieferen Sphären die Zeichen des Zodiakus durchziehen? Der Grund ist nicht schwer zu finden, und er wacht sozusagen im Vestibül unserer Untersuchung. 21,2 Die Wahrheit ist, dass weder Sonne oder Mond noch einer von den Planeten sich derart zwischen den Sternzeichen des Zodiakus bewegt, dass er mit dessen Gestirnen in Kontakt geriete, sondern man sagt, dass jeder Planet jeweils in dem Sternzeichen steht, das sich über ihm befindet, wenn er das unter dem betreffenden Sternzeichen liegende Segment seiner Kreisbahn durchquert. Denn die Wissenschaft hat die einzelnen Planetenbahnen analog zum Zodiakus in zwölf Segmente unterteilt,297 und wenn ein Planet auf seiner Kreisbahn in dem Segment ankommt, das unter dem Abschnitt des Zodiakus liegt, der dem Widder zugewiesen ist, dann sagt man, er stehe im Widder. Entsprechendes gilt für alle Planeten, wenn sie in einen der zwölf Abschnitte eintreten. 21,3 Und weil das Verständnis durch unmittelbare Anschauung erleichtert wird, soll ein Diagramm unsere Darstellung illustrieren:298 Der Zodiakus sei ein Kreis, der mit der Markierung A versehen ist. Innerhalb dessen werden sieben andere konzentrische Kreise angeordnet und der Zodiakus wird, beginnend bei der Markierung A, der Reihe nach mit den nachfolgenden Buchstaben B–M in zwölf Teile unterteilt. Der Abschnitt zwischen A und B gehöre dem Widder, der zwischen B und C dem Stier, C bis D den Zwillingen, D bis E dem Krebs und sinngemäß so weiter. 21,4 Sodann ziehen wir von jedem Markierungsbuchstaben des Zodiakus eine Linie in Richtung auf das Zentrum durch alle Kreise bis zum innersten; mit diesen Linien wird dann zweifellos jeder Kreis in zwölf Segmente unterteilt. Auf welchem Kreis auch immer sich Sonne, Mond oder einer der Planeten bewegen, so wird man sagen, dass das betreffende Gestirn nach Erreichen des Segments, das definiert wird durch die Marken A und B und die von diesen zum Zentrum führenden Linien, im Widder steht; denn dann wird es das Segment, das dem Widder auf dem Zodiakus zugewiesen ist, über sich haben wie beschrieben. Entsprechend wird man, in welchen Abschnitt es auch zieht, sagen, dass es im Sternbild oberhalb von ihm stehe.

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21,5 Atque haec ipsa descriptio eodem compendio nos docebit cur eundem zodiacum eademque signa aliae tempore longiore, aliae breuiore percurrant. Quotiens enim plures orbes intra se locantur, sicut maximus est ille qui primus est et minimus qui locum ultimum tenet, ita de mediis qui summo propior est inferioribus maior, qui uicinior est ultimo breuior superioribus habetur. 21,6 Et inter has igitur septem sphaeras gradum celeritatis suae singulis ordo positionis adscripsit. Ideo stellae quae per spatia grandiora discurrunt, ambitum suum tempore prolixiore conficiunt, quae per angusta, breuiore. Constitit enim nullam inter eas celerius ceteris tardiusue procedere, sed, cum sit omnibus idem modus meandi, tantam eis diuersitatem temporis sola spatiorum diuersitas facit. 21,7 Nam ut de mediis nunc praetermittamus, ne eadem saepe repetantur, quod eadem signa Saturnus annis triginta, luna diebus uiginti octo ambit et permeat, sola causa in quantitate est circulorum, quorum alter maximus, alter est minimus. Ergo et ceterarum singulae pro spatii sui modo tempus meandi aut extendunt aut contrahunt. 21,8 Hoc loco diligens rerum discussor inueniet quod requirat. Inspectis enim zodiaci notis quas monstrat in praesidium fidei aduocata descriptio, »quis uero«, inquiet, »circi caelestis duodecim partes aut inuenit aut fecit, maxime cum nulla oculis subiciantur exordia singularum?« Huic igitur tam necessariae interrogationi historia ipsa respondeat, factum referens quo a ueteribus et temptata est tam difficilis et effecta diuisio. 21,9 Aegyptiorum enim retro maiores, quos constat primos omnium caelum scrutari et metiri ausos, postquam perpetuae apud se serenitatis obsequio caelum semper suspectu libero intuentes deprehenderunt, uniuersis uel stellis uel sideribus infixis, caelo solas cum sole et luna quinque stellas uagari,

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21,5 Dieses Diagramm kann uns auch kurz und bündig zeigen, warum die einen Planeten den Zodiakus und seine Sternbilder in längerer, die anderen in kürzerer Zeit durchlaufen. Von mehreren konzentrisch angeordneten Kreisen ist nämlich der äußerste der größte und der innerste der kleinste; von den mittleren Kreisen ist jeweils der, der dem äußersten näher liegt, größer als die weiter innen, und einer, der dem innersten näher liegt, ist kleiner als die weiter außen. 21,6 Die Umlaufzeit eines Planeten wird also durch seinen jeweiligen Platz innerhalb der sieben Sphären bestimmt. Planeten, die auf einer längeren Kreisbahn ziehen, brauchen dafür mehr Zeit, die auf einer kürzeren weniger. Es ist eine Tatsache, dass keiner von ihnen schneller oder langsamer als der andere zieht, sondern dass, bei gleicher Geschwindigkeit aller, die beträchtlichen Unterschiede in der Umlaufzeit alleine auf der unterschiedlichen Länge der zurückgelegten Strecke beruhen.299 21,7 Um Wiederholungen zu vermeiden und daher die mittleren Planeten beiseite zu lassen: Dass dieselben Sternzeichen vom Saturn in dreißig Jahren, vom Mond aber in achtundzwanzig Tagen durchzogen werden, beruht allein auf der unterschiedlichen Länge ihrer Kreisbahnen, von denen ersterer die längste, letzterer die kürzeste hat.300 Entsprechend haben auch die übrigen Planeten je nach Länge ihrer Bahn eine längere oder kürzere Umlaufzeit. 21,8 An diesem Punkt wird sich dem gewissenhaften Forscher eine Frage stellen. Wenn er sich die Markierungen auf der Abbildung des Zodiakus ansieht, die wir zur Stützung der Plausibilität herangezogen haben, wird er nämlich fragen: »Wer hat denn diese zwölf Segmente des Himmelskreises erfunden oder gemacht, wo doch für das Auge nicht wahrnehmbar ist, wo die einzelnen Zeichen beginnen?« Auf diese unvermeidliche Frage lassen wir die Geschichte selbst antworten und berichten, wie von den Alten diese schwierige Unterteilung versucht und bewerkstelligt worden ist. 21,9 Die alten Ägypter trauten es sich bekanntlich als Erste zu, den Himmel zu erforschen und zu vermessen, weil sie, begünstigt durch ihr beständig heiteres Klima, immer freie Sicht auf den Himmel hatten. Sie hatten erkannt, dass allein Sonne, Mond und die fünf Planeten am Himmel umherschweiften, während alle übrigen Einzelsterne und Sternbilder dort einen festen Platz einnähmen.

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21,10 nec has tamen per omnes caeli partes passim ac sine certa erroris sui lege discurrere, numquam denique ad septentrionalem uerticem deuiare, numquam ad australis poli ima demergi, sed intra unius obliqui circi limitem omnes habere discursus, nec omnes tamen ire pariter ac redire, sed alias aliis ad eundem locum peruenire temporibus, rursum ex his alias accedere, retro agi alias, uiderique stare nonnumquam; 21,11 postquam haec, inquam, inter eas agi uiderunt, certas sibi partes decreuerunt in ipso circo constituere et diuisionibus adnotare, ut certa essent locorum nomina in quibus eas morari uel de quibus exisse ad quaeue rursus esse uenturas et sibi in uicem nuntiarent et ad posteros noscenda transmitterent. 21,12 Duobus igitur uasis aeneis praeparatis, quorum alteri fundus erat in modum clepsydrae foratus, illud quod erat integrum uacuum subiecerunt, pleno aquae altero superposito sed meatu ante munito, et quamlibet de infixis unam clarissimam stellam lucideque notabilem orientem obseruauerunt. 21,13 Quae ubi primum coepit emergere, mox munitione subducta permiserunt subiecto uasi aquam superioris influere, fluxitque in noctis ipsius et secuti diei finem atque in id noctis secundae, quamdiu eadem stella ad ortum rursus reuertitur. 21,14 Quae ubi apparere uix coepit, mox aqua quae influebat amota est. Cum igitur obseruatae stellae itus ac reditus integram significaret caeli conuersionem, mensuram sibi caeli in aquae de illo fluxu susceptae quantitate posuerunt. 21,15 Hac ergo in partes aequas duodecim sub fida dimensione diuisa alia duo huius capacitatis procurata sunt uasa, ut singula tantum singulas de illis duodecim partibus ferrent, totaque rursus aqua in uas suum pristinum, foramine prius clauso, refusa est; et de duobus illis capacitatis minoris alterum subiecerunt pleno, alterum iuxta expeditum paratumque posuerunt.

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21,10 Die Planeten aber bewegten sich nicht in allen Himmelsregionen und auch nicht völlig regellos, da sie niemals Richtung Nordpol schweiften, niemals in den Regionen des Südpols versänken, sondern ihre Bahnen stets innerhalb der Grenzen eines einzigen sich schräg über den Himmel ziehenden Bandes zögen.301 Sie vollführten auch nicht dieselben Vor- und Rückwärtsbewegungen und erreichten denselben Punkt zu unterschiedlichen Zeiten; und die einen zögen vorwärts, die anderen rückwärts, und manchmal schienen sie auch stillzustehen. 21,11 Nachdem sie also, wie gesagt, diese Vorgänge beobachtet hatten, beschlossen sie, das genannte Band in definierte Abschnitte zu unterteilen und mit Grenzpunkten zu bezeichnen, die eine eindeutige Benennung derjenigen Regionen erlaubten, in denen die Planeten stünden, die sie verließen, oder in die sie wieder zurückkehrten; so würde es möglich, über diese Beobachtungen miteinander zu kommunizieren und die Kenntnis davon auch der Nachwelt zu überliefern.302 21,12 Zu diesem Zweck richteten sie zwei Bronzegefäße her, von denen das eine einen durchbohrten Boden wie eine Klepsydra hatte. Das füllten sie mit Wasser und stellten es mit verschlossenem Ablauf auf das andere Gefäß, das leer war. Dann warteten sie auf den Aufgang irgendeines hellen und wegen seiner Lichtstärke gut beobachtbaren Fixsterns. 21,13 Sobald dieser sich anschickte, aufzugehen, entfernten sie den Verschluss des oberen Gefäßes und ließen das Wasser in das untere Gefäß fließen, und zwar die ganze Nacht, den folgenden Tag hindurch und in der darauffolgenden Nacht solange, bis derselbe Stern wieder aufging. 21,14 Sobald dieser wieder erschienen war, wurde das Wasser dem unteren Gefäß entnommen. Da nun vom ersten bis zum zweiten Aufgang des beobachteten Sterns eine komplette Umdrehung des Himmels erfolgt war, legten sie ihrer Vermessung des Himmels die ermittelte Durchflussmenge des Wassers zugrunde. 21,15 Sie teilten diese Menge mit exakter Messung in zwölf gleiche Teile und stellten dann zwei weitere Gefäße bereit, von denen jedes ein Fassungsvermögen von genau einem Zwölftel der Durchflussmenge hatte. Dann verschlossen sie die Ausflussöffnung des oberen Gefäßes wieder und befüllten es erneut mit der gesamten Wassermenge. Von den beiden kleineren Gefäßen stellten sie eines darunter, das andere stellten sie griffbereit daneben.

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21,16 His praeparatis nocte alia in illa iam caeli parte per quam solem lunamque et quinque uagas meare diuturna obseruatione didicerant quamque postea zodiacum uocauerunt, ascensurum obseruauerunt sidus, cui postea nomen Arietis addiderunt. 21,17 Huius incipiente ortu statim subiecto uasi superpositae aquae fluxum dederunt. Quod ubi completum est, mox eo sublato effusoque alterum simile subiecerunt, certis signis obseruanter ac memoriter adnotatis inter eius loci stellas qui oriebatur cum primum uas esset impletum, intelligentes quod, eo tempore quo totius aquae duodecima pars fluxit, pars caeli duodecima conscendit. 21,18 Ab illo ergo loco quo oriri incipiente aqua in primum uas coepit influere usque ad locum qui oriebatur cum idem primum uas impleretur, duodecimam partem caeli, id est unum signum, esse dixerunt. 21,19 Item secundo uase impleto ac mox retracto illud simile quod olim effusum parauerant iterum subdiderunt, notato similiter loco qui emergebat cum secundum uas esset impletum, et a fine primi signi usque ad locum qui ad secundae aquae finem oriebatur, secundum signum notatum est. 21,20 Atque ita uicissim uasa mutando et per singulas influentis aquae partes singulos sibi ascendentium caeli partium limites adnotando, ubi, consummata iam omni per duodecim partes aqua, ad primi signi exordia peruentum est, sine dubio iam diuisas certisque sibi obseruationibus et indiciis adnotatas duodecim caeli partes tantae compotes machinationis habuerunt. 21,21 Quod non nocte una sed duabus effectum est, quia omne caelum una nocte non uoluitur sed per diem uertitur pars eius media, et medietas reliqua per noctem. Nec tamen caelum omne duarum sibi proximarum

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21,16 Nach diesen Vorbereitungen beobachteten sie in einer anderen Nacht die Himmelsregion, die ihren langjährigen Beobachtungen zufolge von Sonne, Mond und den fünf Planeten durchzogen wird und die sie später Zodiakus nannten. Dabei galt ihre Aufmerksamkeit dem Aufgang des Sternbilds, dem sie später den Namen Widder gaben. 21,17 Sobald der Widder aufzugehen begann, ließen sie unverzüglich das Wasser vom oberen in das untere Gefäß fließen, und sobald dieses voll war, entfernten sie es, leerten es aus und stellten das zweite gleich große an seine Stelle. Dabei notierten sie beobachtungs- und gedächtnistreu bestimmte Konfigurationen unter den Fixsternen der Himmelsregion, die in eben dem Moment über dem Horizont erschien, als das erste Gefäß voll war. Sie begriffen nämlich, dass in derselben Zeit, in der ein Zwölftel der gesamten Wassermenge abgeflossen war, auch ein Zwölftel des Himmels aufgegangen war. 21,18 Also sagten sie, dass von dem Punkt am Himmel, von dessen Aufgang an das Wasser in das erste Gefäß zu strömen begann, bis zu dem Punkt, bei dessen Aufgang das Gefäß voll war, sich der zwölfte Teil des Himmels, das heißt ein Sternzeichen, erstrecke. 21,19 Entsprechend ließen sie das zweite Gefäß volllaufen und tauschten es dann mit dem vorher entleerten Gefäß. Als das zweite Gefäß voll war, verzeichneten sie in entsprechender Weise den Himmelspunkt, der gerade aufging, und so wurde der Raum vom Ende des ersten Sternzeichens bis zu dem Punkt, der beim höchsten Füllstand des zweiten Gefäßes erreicht war, als zweites Sternzeichen bestimmt. 21,20 So tauschen sie abwechselnd die beiden Gefäße aus und verzeichneten dabei anhand der einzelnen Teilmengen des Wassers die jeweiligen Grenzlinien am Himmel, der über ihnen aufging. Und als alle zwölf Anteile des Wassers verbraucht waren, waren sie wieder beim Aufgang des ersten Sternzeichens angelangt. So erlaubte ihnen der Besitz dieser ingeniösen Vorrichtung die präzisen Beobachtungen und Markierungen, durch die sie zu einer unanfechtbaren Einteilung des Himmels in zwölf Abschnitte kamen. 21,21 Diese Messungen wurden aber nicht in einer einzigen, sondern in zwei Nächten ausgeführt, weil in einer einzigen Nacht keine ganze Umdrehung des Himmelsgewölbes erfolgt, denn es macht eine halbe Umdrehung am Tag und eine halbe in der Nacht. Auch führte die Beobach-

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noctium diuisit inspectio, sed diuersorum temporum nocturna dimensio utrumque hemisphaerium paribus aquae uicibus adnotauit. 21,22 Et has ipsas duodecim partes signa appellari maluerunt, certaque singulis uocabula gratia significationis adiecta sunt; et quia signa Graeco nomine zºdia nuncupantur, circum ipsum signorum zodiacum, quasi signiferum, uocauerunt. 21,23 Hanc autem rationem iidem illi cur Arietem, cum in sphaera nihil primum nihilque postremum sit, primum tamen dici maluerint, prodiderunt. Aiunt enim incipiente die illo qui primus omnium luxit, id est quo in hunc fulgorem caelum et elementa purgata sunt, qui ideo mundi natalis iure uocitatur, Arietem in medio caelo fuisse, et quia medium caelum quasi mundi uertex est, Arietem propterea primum inter omnes habitum, qui ut mundi caput in exordio lucis apparuit. 21,24 Subnectunt etiam causam cur haec ipsa duodecim signa adsignata sint diuersorum numinum potestati. Aiunt enim in hac ipsa genitura mundi, Ariete, ut diximus, medium caeli tenente, horam fuisse mundi nascentis, Cancro gestante tunc lunam. Post hunc sol cum Leone oriebatur, cum Mercurio Virgo, Libra cum Venere, Mars erat in Scorpio, Sagittarium Iuppiter obtinebat, in Capricorno Saturnus meabat. 21,25 Sic factum est ut singuli eorum signorum domini esse dicantur in quibus, cum mundus nasceretur, fuisse creduntur. Sed duobus quidem luminibus singula tantum signa in quibus tunc fuerant adsignauit antiquitas, Cancrum lunae, soli Leonem. Quinque uero stellis praeter illa signa, quibus tunc inhaerebant, quinque reliqua sic adiecit uetustas ut in adsignandis a fine prioris ordinis ordo secundus inciperet. 21,26 Superius enim diximus in Capricorno Saturnum post omnes fuisse. Ergo secunda adiectio eum primum fecit qui ultimus fuerat; ideo Aquarius, qui Capricornum sequitur, Saturno datur; Ioui, qui ante Satur-

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tung in nur zwei aufeinanderfolgenden Nächten noch nicht zur vollständigen Gliederung des Himmels. Vielmehr erfolgten die nächtlichen Vermessungen der beiden Hemisphären mit der Methode der zwölf gleichen Wassermengen zu einander entgegengesetzten Jahreszeiten.303 21,22 Die Ägypter entschieden sich auch dafür, die zwölf genannten Teile »Sternzeichen« zu nennen, und zur Erleichterung der Bezeichnung wurde jedem Sternzeichen ein Name beigelegt; weil nun die Sternzeichen auf Griechisch zºdia heißen, nannten sie den Kreis der Zeichen Zodiakus, also sozusagen »Sternzeichenträger«.304 21,23 Dafür aber, dass sie den Widder als erstes Sternbild ansahen, während es doch auf einem Kreis keinen Anfang und kein Ende gibt, führten sie folgende Begründung an: Am Beginn jenes Tages, der als Erster erstrahlte, das heißt, an dem die Reinigung des Himmels und der Elemente diesen ihren heutigen Glanz verlieh und der deswegen zu Recht Geburtstag der Welt genannt werde, sei der Widder in der Mitte des Himmels gestanden.305 Und weil die Mitte des Himmels sozusagen das Haupt des Alls sei, sei der Widder als erstes der Sternzeichen angesehen worden, da er am Anbeginn des Lichts sich gleichsam als Haupt der Welt gezeigt habe. 21,24 Sie geben auch einen Grund dafür, warum die zwölf Sternzeichen der Herrschaft unterschiedlicher Gottheiten zugeordnet sind. Sie sagen nämlich, dass bei der Entstehung der Welt, eben in ihrer Geburtsstunde, wie oben gesagt der Widder in der Mitte des Himmels, der Mond aber im Krebs stand. Die Sonne ging im Löwen auf, Merkur in der Jungfrau, in der Waage Venus; Mars stand im Skorpion, Jupiter im Schützen und im Steinbock Saturn. 21,25 So kam es, dass heute die einzelnen Planeten Herren derjenigen Sternzeichen genannt werden, in denen sie bei der Geburt der Welt, wie man glaubt, standen. Während aber das Altertum den beiden Luminaren nur die beiden Sternbilder zuwies, in denen sie zu jener Zeit standen, nämlich dem Mond den Krebs und der Sonne den Löwen, hat es den fünf Planeten außer den Sternzeichen, in denen sie damals standen, auch noch die fünf übrigen zugewiesen und zwar derart, dass auf das Ende der ersten Reihe der Sternzeichen eine zweite umgekehrte Reihe folgte. 21,26 Oben haben wir gesagt, dass Saturn im Steinbock den letzten Platz der Reihe eingenommen habe. Die zweite Reihe aber setzt ihn an die erste Stelle und es wird ihm der Wassermann, der auf den Steinbock folgt,

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num erat, Pisces dicantur; Aries Marti, qui praecesserat Iouem, Taurus Veneri, quam Mars sequebatur, Gemini Mercurio, post quem Venus fuerat, deputati sunt. 21,27 Notandum hoc loco quod in genitura mundi uel ipsa rerum prouidentia uel uetustatis ingenium hunc stellis ordinem dedit quem Plato adsignauit sphaeris earum, ut esset luna prima, sol secundus, super hunc Mercurius, Venus quarta, hinc Mars, inde Iuppiter, et Saturnus ultimus. Sed sine huius tamen rationis patrocinio abunde Platonicum ordinem prior ratio commendat. 21,28 Ex his quae de uerbis Ciceronis proxime praelatis quaerenda proposuimus, qua licuit breuitate, a summa sphaera quae Çplan†c dicitur, usque ad lunam quae ultima diuinorum est, omnia iam, ut opinor, absoluimus. 21,29 Nam et caelum uolui, et cur ita uoluatur, ostendimus, septemque sphaeras contrario motu ferri ratio indubitata patefecit, et de ipso sphaerarum ordine quid diuersi senserint uel quid inter eos dissensionem fecerit quaeue magis sit sequenda sententia tractatus inuenit. 21,30 Nec hoc tacitum est cur inter omnes stellas sola sine fratris radiis luna non luceat, sed et quae spatiorum ratio solem ab his quoque qui eum inter septem quartum locarunt, non tamen abrupte medium sed fere medium dici coegerit publicatum est. 21,31 Quid significent nomina quibus ita uocatur ut laudari tantum putetur innotuit; magnitudo quoque eius sed et caelestis per quem dis-

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zugewiesen. Dem Jupiter, der vorher ja vor dem Saturn stand, werden die Fische zugewiesen, dem Mars, der vor dem Jupiter stand, der Widder, der Venus, die vor dem Mars stand, der Stier, und dem Merkur, der vor der Venus stand, die Zwillinge.306 21,27 Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass es entweder die Vorsehung selbst oder die Weisheit des Altertums war, die den Planeten dieselbe Anordnung bei der Entstehung der Welt gab, die Platon ihren Sphären zuwies, sodass also der Mond an der ersten Stelle stand, die Sonne an der zweiten, jenseits von ihr Merkur, die Venus an der vierten, danach Mars und Jupiter, und an der letzten Saturn. Aber auch ohne Stützung durch dieses System empfiehlt sich die Anordnung Platons nachdrücklich durch unsere frühere Begründung.307

Zusammenfassung der Kapitel 17–21 21,28 Die Fragen, welche wir uns anhand der zuletzt zitierten Cicerostelle zur Behandlung vorgenommen hatten, haben wir nun, beginnend bei der höchsten Sphäre, die Çplan†c heißt, und endend beim Mond, dem letzten Gestirn der göttlichen Sphären, zur Gänze, wie ich glaube, und so kurz wie möglich abgehandelt. 21,29 Wir haben gezeigt, dass der Himmel sich dreht und warum er sich auf die beschriebene Weise dreht; sodann hat eine unangreifbare Beweisführung offengelegt, dass sich die sieben Sphären gegenläufig zu ihm bewegen; schließlich hat unsere Abhandlung geklärt, was die unterschiedlichen Autoren über die Anordnung der Sphären dachten, was den Dissens zwischen ihnen hervorgerufen hat und welche der Auffassungen den Vorzug verdient. 21,30 Wir haben auch nicht übergangen, warum unter allen Planeten der Mond als einziger nicht ohne die Strahlen seines Geschwistergestirns leuchten kann. Ebenso haben wir ans Licht gebracht, welche räumlichen Verhältnisse sogar die Autoren, welche der Sonne unter den sieben Planeten den vierten Platz zuweisen, gezwungen haben, sie nicht exakt in der Mitte, sondern nur ungefähr in der Mitte zu platzieren. 21,31 Ferner ist jetzt klar, was die Namen der Sonne, die vermeintlich nur ihrem Lobpreis dienen, bedeuten, und wir haben gezeigt, welchen

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currit circuli, terraeque pariter quanta sit uel quemadmodum deprehensa monstratum est. 21,32 Subiectarum sphaerarum stellae quemadmodum in zodiaco, qui supra omnes est, ferri dicantur, uel quae ratio diuersarum faciat seu celerem seu tardum recursum, sed et ipse zodiacus in duodecim partes qua ratione diuisus sit, curque Aries primus habeatur, et quae signa in quorum numinum dicione sint, absolutum est. 21,33 Sed omnia haec quae de summo ad lunam usque perueniunt, sacra, incorrupta, diuina sunt, quia in ipsis est aether, semper idem nec umquam recipiens inaequalem uarietatis aestum. Infra lunam et aer et natura permutationis pariter incipiunt, et sicut aetheris et aeris, ita diuinorum et caducorum luna confinium est. 21,34 Quod autem ait, nihil infra lunam esse diuinum »praeter animos munere deorum hominum generi datos,« non ita accipiendum est animos hic esse ut hic nasci putentur. Sed sicut solem in terris esse dicere solemus, cuius radius aduenit et recedit, ita animorum origo caelestis est sed lege temporalis hospitalitatis hic exulant. Haec ergo regio diuinum nihil habet ipsa, sed recipit; et quia recipit, et remittit. Proprium autem habere diceretur si ei semper tenere licuisset. 21,35 Sed quid mirum si animus de hac regione non constat, cum nec corpori fabricando sola suffecerit? Nam quia terra, aqua et aer infra lunam sunt, ex his solis corpus fieri non potuit quod idoneum esset ad uitam, sed

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Umfang sie hat und welchen die Bahn, auf der sie sich bewegt, und wie beides bestimmt wird; dasselbe haben wir für die Erde gemacht. 21,32 Schließlich: Inwiefern man sagen kann, dass sich die Planeten der tieferen Sphären innerhalb des über allen stehenden Zodiakus bewegen, und welche Ursache jeweils ihren Umlauf schneller oder langsamer macht; mit welcher Methode der Zodiakus in zwölf Abschnitte unterteilt wurde; warum der Widder als erstes der Sternbilder gilt und welche Sternbilder unter der Herrschaft welcher Götter stehen: All das haben wir jetzt abgehandelt.

Supra- und sublunare Welt 21,33 Die ganze Region aber, die sich von der obersten Sphäre herab zum Mond erstreckt, ist heilig, unverletzlich und göttlich, da sie vom Äther erfüllt ist, der immer unveränderlich bleibt und niemals dem irregulären Wallen der Veränderung ausgesetzt ist. Unterhalb des Monds beginnen gleichermaßen die Atmosphäre und die natürliche Veränderung; der Mond ist so Grenzscheide zwischen Äther und Atmosphäre wie auch zwischen dem Göttlichen und dem Vergänglichen.308 21,34 Wenn also Cicero sagt, unterhalb des Mondes gebe es nichts Göttliches »mit Ausnahme der Seelen, die dem Menschengeschlecht von den Göttern zum Geschenk gemacht worden sind«, dann ist das nicht so zu verstehen, dass die Seelen auf Erden sind, weil sie hier geboren würden. Wie man vielmehr zu sagen pflegt, dass die Sonne auf der Erde sei, weil ihre Strahlen auf sie treffen und doch wieder verschwinden, so liegt auch der Ursprung der Seelen im Himmel; bei uns befinden sie sich, nach einem Gesetz temporärer Gastfreundschaft, lediglich im Exil.309 Unsere Erdenregion besitzt von sich aus also nichts Göttliches, sondern empfängt es lediglich, und aus diesem Grund muss sie es auch zurückgegeben. Dass sie das Göttliche als eigenen Besitz habe, könnte man nur sagen, wenn sie es auch auf immer behalten dürfte. 21,35 Aber ist es verwunderlich, dass die Seele nicht der irdischen Region entstammt, wo diese allein noch nicht einmal fähig ist, den Körper zustande zu bringen? Aus Erde, Wasser und Luft allein, den Elementen unterhalb des Mondes, konnte kein lebensfähiges Wesen zustande kom-

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opus fuit praesidio ignis aetherii, qui terrenis membris uitam et animam sustinendi commodaret uigorem, qui uitalem calorem et faceret et ferret. 21,36 Haec et de aere dixisse nos satis sit. Restat ut de terra, quae sphaerarum nona et mundi ultima est, dictu necessaria disseramus. 22,1 »Nam ea quae est media et nona, tellus«, inquit, »neque mouetur et infima est et in eam feruntur omnia nutu suo pondera.« 22,2 Illae uere insolubiles causae sunt quae mutuis in uicem nexibus uinciuntur et, dum altera alteram facit ac uicissim de se nascuntur, numquam a naturalis societatis amplexibus separantur. Talia sunt uincula quibus terram natura constrinxit. Nam ideo in eam feruntur omnia quia ut media non mouetur; ideo non mouetur quia infima est; nec poterat infima non esse in quam omnia feruntur. Horum singula, quae inseparabiliter inuoluta rerum in se necessitas uinxit, tractatus expediat. 22,3 »Non mouetur«, ait. Est enim centron. In sphaera autem solum centron diximus non moueri, quia necesse est ut circa aliquid immobile sphaera moueatur. 22,4 Adiecit: »et infima est.« Recte hoc quoque. Nam quod centron est, medium est. In sphaera uero hoc solum constat imum esse quod medium est. Et si ima est, sequitur ut uere dictum sit in eam ferri omnia. Semper enim pondera in imum natura deducit: nam et in ipso mundo ut esset terra, sic factum est. 22,5 Quidquid ex omni materia, de qua facta sunt omnia, purissimum ac liquidissimum fuit, id tenuit summitatem et aether uocatus est; pars, cui minor puritas et inerat aliquid leuis ponderis, aer extitit et in secunda delap-

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men, vielmehr bedurfte es der Unterstützung des ätherischen Feuers, um die irdischen Glieder zu befähigen zu leben und zu atmen, um Lebenswärme zu erzeugen und zu bewahren. 21,36 Diese Worte über die Luft sollen genügen. Es bleibt noch, dass wir das Notwendige über die Erde, die neunte und unterste Sphäre des Weltalls, sagen.

Die Erde 22,1 »Denn die Erde, die als neunte Sphäre im Zentrum steht, ist unbeweglich und die unterste, und zu ihr strebt alles, was Gewicht hat, durch seine Schwerkraft hin.« (Rep. 6,17) 22,2 Wahrhaft unauflöslich sind die Gründe, die durch wechselseitige Verbindungen miteinander verknüpft sind, und die, weil einer den anderen bedingt und sie gegenseitig auseinander hervorgehen, sich niemals aus den Banden ihrer natürlichen Gemeinschaft lösen. Derart sind die Bande, mit denen die Natur die Erde umschlingt. Alle Dinge streben zu ihr, weil sie, selbst in der Mitte befindlich, unbewegt ist; sie bewegt sich nicht, weil sie ganz unten steht; und sie musste ganz unten stehen, weil alle Dinge ihr zustreben. Diese einzelnen Eigenschaften, welche die Notwendigkeit der Natur untrennbar ineinander verschlungen und miteinander verknüpft hat, sollen im Folgenden behandelt werden.310 22,3 Cicero sagt: »Die Erde ist unbeweglich«. Sie ist ja das Zentrum. Wie wir aber gesagt haben, ist in einer Kugel das Zentrum der einzige unbewegliche Punkt, da sich ja eine Kugel notwendigerweise um irgendeinen unbeweglichen Punkt drehen muss.311 22,4 Weiter sagt er: »Sie steht ganz unten«. Auch das sagt er zu Recht. Denn was das Zentrum ist, ist die Mitte. In einer Kugel ist aber bekanntlich derjenige Punkt der unterste, welcher der mittlere ist. Und wenn sie das Unterste ist, folgt, dass er zutreffend sagt, dass alles zu ihr hinstrebt. Die Natur zieht nämlich Gewichte immer nach unten, denn das ist so eingerichtet worden, damit eben im Weltall eine Erde existiere.312 22,5 Der reinste und klarste Teil der gesamten Materie, aus der alles gemacht ist, erhielt den obersten Platz und wurde Äther genannt. Ein weiterer Teil, von geringerer Reinheit und schon von leichtem Gewicht, wurde

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sus est; post haec, quod adhuc quidem liquidum, sed iam usque ad tactus offensam corpulentum erat, in aquae fluxum coagulatum est. 22,6 Iam uero quod de omni siluestri tumultu uastum, impenetrabile, densetum, ex defaecatis abrasum resedit elementis, haesit in imo; quod demersum est stringente perpetuo gelu, quod eliminatum in ultimam mundi partem longinquitas solis coaceruauit, quod ergo ita concretum est, terrae nomen accepit. 22,7 Hanc spissus aer et terreno frigori propior quam solis calori stupore spiraminis densioris undiqueuersum fulcit et continet, nec in recesssum aut accessum moueri eam patitur uel uis circumuallantis et ex omni parte uigore simili librantis aurae uel ipsa sphaeralis extremitas. Quae si paululum a medio deuiauerit, fit cuicumque uertici propior et imum relinquit, quod ideo in solo medio est, quia ipsa sola pars a quouis sphaerae uertice pari spatio recedit. 22,8 In hanc igitur, quae et ima est quasi media et non mouetur, quia centron est, omnia pondera ferri necesse est, quia et ipsa in hunc locum quasi pondus relapsa est. Argumento sunt cum alia innumera tum praecipue imbres qui in terram ex omni aeris parte labuntur. Nec enim in hanc solam quam habitamus superficiem decidunt, sed et in latera quibus in terra globositas sphaeralis efficitur; et in partem alteram, quae ad nos habetur inferior, idem imbrium casus est. 22,9 Nam si aer terreni frigoris exhalatione densetus in nubem cogitur et ita abrumpit imbres, aer autem uniuersam terram circumfusus ambit, procul dubio ex omni aeris parte praeter ustam calore perpetuo liquor

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die Luft und glitt nach unten an die zweite Stelle; noch weiter unten war das Element, das zwar noch durchsichtig, aber schon bis zum Grad spürbarer Berührbarkeit körperhaft war und sich zum strömenden Wasser kondensierte. 22,6 Es blieb schließlich der Rest der ganzen chaotischen Materie; massig, verdichtet und undurchdringlich, setzte er sich als Abfall der gereinigten Elemente am untersten Punkt ab; er sank hinab, zusammengedrückt vom ewigen Frost; ausgestoßen in den untersten Teil des Weltalls ballte er sich dort zusammen wegen seiner weiten Entfernung von der Sonne: Was sich so verfestigte, das erhielt den Namen »Erde«. 22,7 Diese Erde wird von einer dichten Atmosphäre umgeben, welche der Erdkälte näher ist als der Sonnenwärme und welche die Erde mit ihrer starren und dicken Luft von allen Seiten stützt und zusammenhält. Dabei wird entweder durch den Druck der Luft, der die Erde umgibt und sie von allen Seiten mit gleicher Energie in Balance hält, verhindert, dass sie sich nach der einen oder der anderen Richtung bewegt, oder durch die Kugelgestalt der äußeren Sphären selbst. Denn geriete die Erde auch nur ein wenig aus der Mitte, käme sie in größere Nähe zu einem der beiden Himmelspole und würde ihren mittleren Platz aufgeben, der ja nur deswegen der mittlere ist, weil er der einzige Punkt in Äquidistanz zu jedem beliebigen Punkt der Kugeloberfläche ist.313 22,8 Auf die Erde als untersten und mittleren Punkt und unbewegliches Zentrum des Alls fallen notwendigerweise alle Körper herab, die Gewicht besitzen, wie die Erde selbst auch an ihren Platz als Körper von Gewicht herabgeglitten ist. Als ein Beweis unter unzähligen anderen lässt sich anführen, dass der Regen aus jeder Region der Atmosphäre auf die Erde fällt. Er fällt nämlich nicht nur auf den von uns bewohnten Teil der Erde, sondern auch auf die Seiten, welche die Erde dank ihrer Kugelgestalt besitzt. Auch auf der entgegengesetzten Seite der Erde, aus unserer Sicht also der unteren, gibt es Regenfälle.314 22,9 Denn wenn die Luft, durch die kalten Erdstrahlen verdichtet, sich zu Wolken zusammenzieht, die dann Regengüsse fallen lassen, und wenn andererseits die Luft die ganze Erde ringsum umgibt, dann steht es außer Zweifel, dass der Regen aus allen Bereichen der Luft herabfällt, außer dort, wo dauernde und sengende Hitze herrscht.315 Dieser Regen fällt von

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pluuialis emanat, qui undique in terram, quae unica est sedes ponderum, defluit. 22,10 Quod qui respuit, superest ut aestimet extra hanc unam superficiem quam incolimus, quidquid niuium imbriumue uel grandinum cadit, hoc totum in caelum de aere defluere. Caelum enim ab omni parte terrae aequabiliter distat et ut a nostra habitatione ita et a lateribus et a parte quae ad nos habetur inferior pari altitudinis immensitate suspicitur. Nisi ergo omnia pondera ferrentur in terram, imbres qui extra latera terrae defluunt non in terram, sed in caelum caderent, quod uilitatem ioci scurrilis excedit. 22,11 Esto enim terrae sphaera cui ascripta sunt ABCD, circa hanc sit aeris orbis cui ascripta sunt EFGLM, et utrumque orbem, id est terrae et aeris, diuidat linea ducta ab E usque ad L: erit superior ista quam possidemus et illa sub pedibus. 22,12 Nisi ergo caderet omne pondus in terram, paruam nimis imbrium partem terra susciperet ab A usque ad C; latera uero aeris, id est ab F usque ad E et a G usque ad L, umorem suum in aerem caelumque deicerent; de inferiore autem caeli hemisphaerio pluuia in exteriora et ideo naturae ignota deflueret, sicut ostendit subiecta descriptio.* 22,13 Sed hoc uel refellere dedignatur sermo sobrius, quod sic absurdum est ut sine argumentorum patrocinio subruatur. Restat ergo ut indubitabili ratione monstratum sit in terram ferri »omnia nutu suo pondera«. Ista autem quae de hoc dicta sunt opitulabuntur nobis et ad illius loci disputationem quo antipodas esse commemorat. Sed hic inhibita continuatione tractatus ad secundi commentarii uolumen disputationem sequentium reseruemus.

* Siehe Abbildung 3, S. 368

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allen Seiten auf die Erde als den einzig möglichen Zielort für Körper, die Gewicht besitzen. 22,10 Den Kritikern dieser Auffassung bleibt nur die Annahme, dass, mit Ausnahme der von uns bewohnten Erdregion, der gesamte Schnee, Regen oder Hagel aus der Atmosphäre in das All falle. Denn der Himmel ist von jedem Teil der Erde gleich weit entfernt und zeigt sich dem Blick nicht nur von unseren Wohnsitzen, sondern auch von den Seiten der Erde und dem Teil, der aus unserer Perspektive unten liegt, in der gleichen unermesslichen Entfernung. Würden nun nicht alle Gewichte von der Erde angezogen, müsste der Regen, der außerhalb der Seiten der Erde fällt, nicht auf die Erde, sondern auf den Himmel fallen, eine Vorstellung, die ärger ist als krude Possenreißerei.316 22,11 Bilden wir die Erde als Kreis mit den Markierungspunkten ABCD ab, sodann um sie herum die Atmosphäre, markiert mit den Punkten EFGLM; ferner schneide eine Linie diese beiden Kreise, also den der Erde und den der Atmosphäre von E nach L; der obere Teil ist dann der von uns bewohnte, der andere der unter unseren Füßen.317 22,12 Träfe es nun nicht zu, dass alle Gewichte auf die Erde fallen, würde die Erde nur einen sehr kleinen Teil der Regenfälle aufnehmen, nämlich im Bereich von A bis C. Die seitlich der Erdkugel befindlichen Regionen der Atmosphäre, also von F bis E und von G bis L, würden ihre Regenmengen dagegen an Luft und Himmel verlieren. Vom Himmel der unteren Hemisphäre würden die Regenfälle gar in die außerhalb unserer Welt befindlichen, unbekannten Regionen entweichen, wie unsere Skizze zeigt. 22,13 Eine derartige Ansicht widerlegen zu wollen, widerstrebt einer vernünftigen Diskussion, weil sie so absurd ist, dass sie auch ohne Gegenargument kollabiert. So bleibt uns die Feststellung, dass wir unanfechtbar bewiesen haben, dass »alles, was Gewicht hat, durch seine Schwerkraft« zur Erde gezogen wird. Was wir dazu gesagt haben, wird uns von Nutzen sein, wenn wir die Stelle besprechen, wo Cicero die Existenz der Antipoden erwähnt.318 Doch wir halten an dieser Stelle mit unseren Erläuterungen inne und reservieren die Erörterung der noch ausstehenden Fragen für das zweite Buch unseres Kommentars.

Liber Secundus 1,1 Superiore commentario, Eustathi luce mihi dilectior fili, usque ad stelliferae sphaerae cursum et subiectarum septem sermo processerat. Nunc iam de musico earum modulamine disputetur. 1,2 »Quid? Hic, inquam, quis est qui complet aures meas tantus et tam dulcis sonus? Hic est, inquit, ille qui interuallis disiunctus imparibus sed tamen pro rata parte ratione distinctis, impulsu et motu ipsorum orbium efficitur, et acuta cum grauibus temperans uarios aequabiliter concentus efficit. Nec enim silentio tanti motus incitari possunt, et natura fert ut extrema ex altera parte grauiter, ex altera autem acute sonent. 1,3 Quam ob causam summus ille caeli stellifer cursus, cuius conuersio est concitatior, acute excitato mouetur sono, grauissimo autem hic lunaris atque infimus. Nam terra, nona, immobilis manens una sede semper haeret complexa mundi medium locum. Illi autem octo cursus in quibus eadem uis est duorum, septem efficiunt distinctos interuallis sonos: Qui numerus rerum omnium fere nodus est. Quod docti homines neruis imitati atque cantibus aperuerunt sibi reditum in hunc locum.« 1,4 Exposito sphaerarum ordine motuque descripto, quo septem subiectae in contrarium caelo feruntur, consequens est ut qualem sonum tantarum molium impulsus efficiat hic requiratur. 1,5 Ex ipso enim circumductu orbium sonum nasci necesse est, quia percussus aer ipso interuentu ictus uim de se fragoris emittit, ipsa cogente

Zweites Buch Grundlagen der musikalischen Harmonie 1,1 Im ersten Buch unseres Kommentars, mein Sohn Eustathius, von mir mehr geliebt als das Licht, haben wir unsere Erörterung bis zur Bewegung der Fixsternsphäre und den ihr untergeordneten sieben Planetensphären geführt. Nun wollen wir über deren musikalische Harmonie sprechen.1 1,2 »Was ist das?«, sagte ich. »Was für ein Ton erfüllt da laut und wohlklingend meine Ohren?« »Das ist«, antwortete jener, »der Klang, der gegliedert ist durch ungleiche, aber in regelhafter Beziehung stehende Intervalle und der durch den Schwung und die Rotation der Sphären entsteht;2 er mischt hohe mit tiefen Tönen und bringt so unterschiedliche Harmonien gleichmäßig hervor. Denn so gewaltige Bewegungen sind nicht lautlos möglich, und die Natur erfordert, dass die extremen Töne auf der einen Seite tief, auf der anderen hoch klingen. 1,3 Deshalb bewegt sich jene äußerste Sphäre, welche die Gestirne trägt und sich mit größerer Geschwindigkeit dreht, mit einem hohen Ton, mit einem ganz tiefen dagegen die Sphäre des Mondes ganz da unten. Die Erde dagegen, die neunte Sphäre, ist unbeweglich; sie verharrt immer am selben Ort und nimmt die Mitte des Weltalls ein. Von diesen acht Sphären haben zwei denselben Klang, sodass sich insgesamt sieben Töne in unterschiedliche Intervalle gliedern – sieben, eine Zahl, die nahezu der Kern aller Dinge ist.3 Diese Harmonie haben gelehrte Menschen mit Saiten und Gesang nachgebildet und sich so den Rückweg zu unserem Ort hier eröffnet.« (Rep. 6,18) 1,4 Nachdem wir die Anordnung der Sphären dargelegt und die zum Himmel gegenläufige Bewegung der sieben untergeordneten Sphären beschrieben haben, ist es folgerichtig, zu untersuchen, welchen Ton der Schwung derart großer Massen erzeugt.4 1,5 Aus der Rotation der Sphären muss nämlich notwendigerweise ein Ton hervorgehen, weil die Luft, wenn etwas gegen sie stößt, eben aufgrund

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natura ut in sonum desinat duorum corporum uiolenta conlisio. Sed is sonus, qui ex qualicumque aeris ictu nascitur, aut dulce quiddam in aures et musicum defert, aut ineptum et asperum personat. 1,6 Nam si ictum obseruatio numerorum certa moderetur, compositum sibique consentiens modulamen educitur; at cum increpat tumultuaria et nullis modis gubernata collisio, fragor turbidus et inconditus offendit auditum. 1,7 In caelo autem constat nihil fortuitum, nihil tumultuarium prouenire, sed uniuersa illic diuinis legibus et stata ratione procedere. Ex his inexpugnabili ratiocinatione collectum est musicos sonos de sphaerarum caelestium conuersione procedere, quia et sonum ex motu fieri necesse est, et ratio quae diuinis inest fit sono causa modulaminis. 1,8 Haec Pythagoras primus omnium Graiae gentis hominum mente concepit, et intellexit quidem compositum quiddam de sphaeris sonare propter necessitatem rationis quae a caelestibus non recedit. Sed quae esset illa ratio uel quibus obseruanda modis non facile deprehendebat, cumque eum frustra tantae tamque arcanae rei diuturna inquisitio fatigaret, fors obtulit quod cogitatio alta non repperit. 1,9 Cum enim casu praeteriret in publico fabros ignitum ferrum ictibus mollientes, in aures eius malleorum soni certo sibi respondentes ordine repente ceciderunt, in quibus ita grauitati acumina consonabant ut utrumque ad audientis sensum stata dimensione remearet, et ex uariis impulsibus unum sibi consonans nasceretur. 1,10 Hic occasionem sibi oblatam ratus deprehendit oculis et manibus quod olim cogitatione quaerebat. Fabros adit et imminens operi curiosius intuetur, adnotans sonos qui de singulorum lacertis conficiebantur. Quos cum ferientium uiribus adscribendos putaret, iubet ut inter se malleolos

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dieses gewaltsamen Kontakts ein lautes Geräusch hervorbringt; denn die Natur selbst erzwingt es, dass das gewaltsame Zusammenstoßen zweier Körper in einem Ton resultiert. Dieser Ton, der bei jedweder Perkussion der Luft entsteht, erweckt beim Hörer entweder einen angenehmen und musikalischen Eindruck oder einen misstönenden und unangenehmen. 1,6 Ist die Perkussion durch präzise Zahlenrelationen geregelt, entsteht ein harmonischer und in sich stimmiger Akkord; fährt sie aber chaotisch und völlig ungeregelt einher, beleidigt ein wirrer und ungestalter Krach das Ohr. 1,7 Nun ist aber klar, dass am Himmel nichts zufällig und nichts chaotisch, sondern alles nach göttlichem Gesetz und vernünftiger Ordnung vor sich geht.5 Daraus folgt mit zwingender Logik, dass die Umdrehung der Himmelssphären harmonische Töne hervorbringt, weil einerseits Bewegung notwendigerweise Töne erzeugt, andererseits die dem Göttlichen innewohnende Vernunft Ursache ihrer Harmonie ist. 1,8 Pythagoras war von allen Griechen der erste, der diese Fragen geistig durchdrang, und er verstand, dass eine bestimmte Harmonie aus den Sphären erklingt, weil die Vernunft notwendigerweise immer unter den Himmelskörpern herrscht. Er hatte aber Probleme zu verstehen, welcher Art dieses Walten der Vernunft sei und auf welche Weise man es beobachten könne. Und als ihn die Vergeblichkeit seines unablässigen Forschens nach dieser so wichtigen und so geheimnisvollen Ursache schon ermüdete, trug ihm der Zufall zu, was tiefes Nachdenken ihn nicht finden ließ.6 1,9 Er ging nämlich zufällig auf der Straße an einer Werkstatt vorbei, wo Schmiede mit ihren Hämmern ein feuerglühendes Eisen schmiedeten. Plötzlich drangen Hammerschläge an sein Ohr, die regulär aufeinander folgten. Dabei klangen die hohen Töne derart mit den tiefen zusammen, dass sie das Ohr des Hörers als reguläre Intervalle trafen und aus den unterschiedlichen Hammerschlägen ein einziger Akkord entstand. 1,10 Da begriff er, welche Gelegenheit sich ihm bot, und verstand vermittels seiner Augen und Hände das, wonach er mit seinen Gedanken solange geforscht hatte. Er stellte sich zu den Schmieden hin, heftete seinen Blick voll Interesse auf ihre Arbeit und notierte sich die Töne, welche sie mit ihren Armen jeweils zustande brachten. Da er vermutete, dass die Töne von der Kraft der einzelnen Schmiede abhingen, ließ er sie die Hämmer untereinander tauschen. Da zeigte sich aber, dass es nicht an den

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mutent. Quibus mutatis sonorum diuersitas ab hominibus recedens malleolos sequebatur. 1,11 Tunc omnem curam ad pondera eorum examinanda conuertit, cumque sibi diuersitatem ponderis quod habebatur in singulis adnotasset, aliis ponderibus in maius minusue excedentibus fieri malleos imperauit, quorum ictibus soni nequaquam prioribus similes nec ita sibi consonantes exaudiebantur. 1,12 Tunc animaduertit concordiam uocis lege ponderum prouenire, collectisque numeris quibus consentiens sibi diuersitas ponderum continebatur, ex malleis ad fides uertit examen, et intestina ouium uel boum neruos tam uariis ponderibus inligatis tetendit qualia in malleis fuisse didicerat, talisque ex his concentus euenit qualem prior obseruatio non frustra animaduersa promiserat, adiecta dulcedine quam natura fidium sonora praestabat. 1,13 Hic Pythagoras tanti secreti compos deprehendit numeros ex quibus soni sibi consoni nascerentur, adeo ut fidibus sub hac numerorum obseruatione compositis certae certis aliaeque aliis conuenientium sibi numerorum concordia tenderentur, ut una impulsa plectro alia, licet longe posita sed numeris conueniens, simul sonaret. 1,14 Ex omni autem innumera uarietate numerorum pauci et numerabiles inuenti sunt qui sibi ad efficiendam musicam conuenirent. Sunt autem hi sex omnes: Epitritus, hemiolius, duplaris, triplaris, quadruplaris et epogdous. 1,15 Et est epitritus cum de duobus numeris maior habet totum minorem et insuper eius tertiam partem, ut sunt quattuor ad tria. Nam in quattuor sunt tria et tertia pars trium, id est unum. Et is numerus uocatur epitritus, deque eo nascitur symphonia quae appellatur diÄ tessàrwn.

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Schmieden lag, sondern dass mit dem Wechsel der Hämmer auch die Töne wechselten. 1,11 Nun wandte er all seine Aufmerksamkeit der Untersuchung der Hammergewichte zu, und als er die einzelnen unterschiedlichen Gewichte aufgezeichnet hatte, ließ er Hämmer von größerem und geringerem Gewicht anfertigen: Die Töne, die man bei deren Schlägen vernahm, waren nun völlig andere als vorher und sie klangen auch nicht so gut zusammen. 1,12 Da merkte er, dass die Harmonie des Klangs aus der Proportion der Gewichte resultiere, und er stellte die Zahlenverhältnisse zusammen, auf denen der Zusammenklang der unterschiedlichen Gewichte beruhte. Sodann verlegte er sich darauf, das Phänomen mithilfe von Saiten zu überprüfen: Er spannte Schafsdärme und Rindersehnen mit denselben unterschiedlichen Gewichten, die er bei den Hämmern ermittelt hatte, und es ergab sich der Zusammenklang, den er aufgrund seines früheren erfolgreichen Experiments erwartet hatte, jedoch mit dem angenehmeren Ton, den der natürliche Wohlklang der Saiten darbot. 1,13 In den Besitz dieses großen Geheimnisses gekommen, bestimmte Pythagoras nun die Zahlenverhältnisse, aus denen Töne hervorgehen, die miteinander harmonieren. Dazu richtete er ein Saiteninstrument unter Beachtung dieser Zahlenverhältnisse her und stimmte von dessen Saiten die einen nach diesen, die anderen nach jenen Zahlenverhältnissen, und zwar derart, dass diese harmonisch zueinander passten. Wenn daher eine Saite mit dem Plektrum angerissen wurde, klang wegen dieser Übereinstimmung in den Zahlenverhältnissen eine andere, möglicherweise sogar weit entfernte, mit. 1,14 Aus der ganzen unzählbaren Vielfalt der Zahlenverhältnisse wurden aber nur abzählbar wenige gefunden, die zur Hervorbringung von Akkorden geeignet sind; es sind insgesamt sechs: Epitrit, Hemiolius, Duplar, Triplar, Quadruplar und Epogdous.7 1,15 Ein Epitrit ist das Verhältnis zwischen zwei Zahlen, deren größere die kleinere zur Gänze beinhaltet und zusätzlich ein Drittel von ihr, wie es beim Verhältnis 4: 3 vorliegt. Denn vier beinhaltet drei und ein Drittel von drei, also eins. Diese Relation nennt man Epitrit und aus ihm geht der Akkord hervor, den man diÄ tessàrwn (Quarte) nennt.

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1,16 Hemiolius est cum de duobus numeris maior habet totum minorem et insuper eius medietatem, ut sunt tria ad duo. Nam in tribus sunt duo et media pars eorum, id est unum. Et ex hoc numero, qui hemiolius dicitur, nascitur symphonia quae appellatur diÄ pËnte. 1,17 Duplaris numerus est cum de duobus numeris minor bis in maiore numeratur, ut sunt quattuor ad duo. Et ex hoc duplari nascitur symphonia cui nomen est diÄ pas¿n. 1,18 Triplaris autem, cum de duobus numeris minor ter in maiore numeratur, ut sunt tria ad unum. Et ex hoc numero symphonia procedit quae dicitur diÄ pas¿n ka» diÄ pËnte. 1,19 Quadruplus est cum de duobus numeris minor quater in maiore numeratur, ut sunt quattuor ad unum. Qui numerus facit symphoniam quam dicunt d»c diÄ pas¿n. 1,20 Epogdous est numerus qui intra se habet minorem et insuper eius octauam partem, ut nouem ad octo, quia in nouem et octo sunt et insuper octaua pars eorum, id est unum. Hic numerus sonum parit quem tÏnon musici uocauerunt. 1,21 Sonum uero tono minorem ueteres quidem semitonium uocitare uoluerunt. Sed non ita accipiendum est ut dimidius tonus putetur, quia nec semiuocalem in litteris pro medietate uocalis accipimus. 1,22 Deinde tonus per naturam sui in duo diuidi sibi aequa non poterit. Cum enim ex nouenario numero constet, nouem autem numquam aequaliter diuidantur, tonus in duas diuidi medietates recusat. Sed semitonium uocitauerunt sonum tono minorem, quem tam paruo distare a tono deprehensum est quantum hi duo numeri inter se distant, id est ducenta quadraginta tria et ducenta quinquaginta sex. 1,23 Hoc semitonium Pythagorici quidem ueteres d–esin nominabant, sed sequens usus sonum semitonio minorem d–esin constituit nominandum. Plato semitonium leÿmma uocitauit. 1,24 Sunt igitur symphoniae quinque, id est diÄ tessàrwn, diÄ pËnte, diÄ pas¿n, diÄ pas¿n ka» diÄ pËnte, ka» d»c diÄ pas¿n. Sed hic nume-

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1,16 Bei einem Hemiolius beinhaltet die größere der beiden Zahlen die kleinere zur Gänze und zusätzlich die Hälfte von ihr, wie beim Verhältnis 3: 2. Denn drei beinhaltet zwei und die Hälfte davon, also eins. Aus diesem Zahlenverhältnis, Hemiolius genannt, ergibt sich der Akkord, der diÄ pËnte (Quinte) heißt. 1,17 Ein Duplar ergibt sich, wenn die kleinere Zahl zweimal in der größeren vorkommt, wie bei der Relation 4: 2. Aus diesem Duplar resultiert der Akkord mit dem Namen diÄ pas¿n (Oktave). 1,18 Ein Triplar entsteht, wenn die kleinere der beiden Zahlen dreimal in der größeren enthalten ist, wie bei der Relation 3: 1. Aus dieser Relation entsteht der Akkord mit dem Namen diÄ pas¿n ka» diÄ pËnte (Duodezime). 1,19 Bei einem Quadruplar ist die kleinere Zahl viermal in der größeren enthalten, wie bei der Relation 4: 1. Sie bringt den Akkord d»c diÄ pas¿n (Doppeloktave) hervor. 1,20 In einem Epogdous ist die kleinere Zahl enthalten und zusätzlich ein Achtel von ihr, wie beim Verhältnis 9: 8; neun beinhaltet ja acht und ein Achtel davon, also eins. Er bringt den Akkord mit dem Namen tÏnoc (Ganzton) hervor. 1,21 Einen Ton, der kleiner als ein Ganzton ist, wollten die Alten »Halbton« nennen. Das darf man aber nicht als »halben Ton« verstehen; wir sehen ja auch in der Grammatik nicht einen Halbvokal als Hälfte eines Vokals an. 1,22 Auch kann ein Ganzton seiner Natur nach nicht in zwei gleiche Teile geteilt werden. Da er aus der Zahl neun besteht, neun aber nicht durch zwei teilbar ist, lässt er sich nicht in zwei Hälften teilen. Die Alten nannten einen Halbton lediglich etwas, das kleiner als ein Ganzton ist; man hat aber herausgefunden, dass der Unterschied gegenüber dem Ganzton so gering ist wie der zwischen den beiden Zahlen 243 und 256.8 1,23 Die Pythagoreer nannten diesen Halbton d–esic (Diesis), aber die spätere Tradition hat die Bezeichnung d–esic für ein Intervall reserviert, das noch kleiner ist als ein Halbton. Platon nannte den Halbton leÿmma (Leimma). 1,24 Es existieren also fünf Akkorde, nämlich Quarte (diÄ tessàrwn), Quinte (diÄ pËnte), Oktave (diÄ pas¿n), Oktave plus Quinte (diÄ pas¿n

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rus symphoniarum ad musicam pertinet quam uel flatus humanus intendere uel capere potest humanus auditus. Vltro autem se tendit harmoniae caelestis accessio, id est usque ad quater diÄ pas¿n ka» diÄ pËnte. Nunc interim de his quas nominauimus disseramus. 1,25 Symphonia diÄ tessàrwn constat de duobus tonis et hemitonio (ut minutias quae in additamento sunt relinquamus, ne difficultatem creemus) et fit ex epitrito; diÄ pËnte constat ex tribus tonis et hemitonio et fit de hemiolio; diÄ pas¿n constat de sex tonis et fit de duplari; uerum diÄ pas¿n ka» diÄ pËnte constat ex nouem tonis et hemitonio et fit de triplari numero; d»c autem diÄ pas¿n continet tonos duodecim et fit ex quadruplo. 2,1 Hinc Plato, postquam et Pythagoricae successione doctrinae et ingenii proprii diuina profunditate cognouit nullam esse posse sine his numeris iugabilem competentiam, in Timaeo suo mundi animam per istorum numerorum contextionem ineffabili prouidentia dei fabricatoris instituit. Cuius sensus si huic operi fuerit appositus, plurimum nos ad uerborum Ciceronis, quae circa disciplinam musicae uidentur obscura, intellectum iuuabit. 2,2 Sed ne quod in patrocinium alterius expositionis adhibetur ipsum per se difficile credatur, pauca nobis praemittenda sunt quae simul utriusque intellegentiam faciant lucidiorem. 2,3 Omne solidum corpus trina dimensione distenditur. Habet enim longitudinem, latitudinem, profunditatem, nec potest inueniri in quolibet corpore quarta dimensio, sed his tribus omne corpus solidum continetur. 2,4 Geometrae tamen alia sibi corpora proponunt quae appellant mathematica, cogitationi tantum subicienda, non sensui. Dicunt enim punc-

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ka» diÄ pËnte) und9 Doppeloktave (d»c diÄ pas¿n). Diese Zahl von Akkorden bezieht sich aber auf die Musik, wie sie der menschliche Atemdruck hervorbringen oder das menschliche Ohr hören kann. Viel größer ist die Spannweite der himmlischen Harmonie, die vier Oktaven und eine Quinte umfasst.10 Wir beschränken unsere Diskussion einstweilen auf die eben genannten Akkorde.

1,25 Der Akkord diÄ tessàrwn besteht aus zwei Ganztönen und einem Halbton (weitere Nebensächlichkeiten übergehen wir, um es uns nicht unnötig schwer zu machen) und beruht auf dem Epitrit; diÄ pËnte besteht aus drei Tönen und einem Halbton und beruht auf dem Hemiolius; diÄ pas¿n besteht aus sechs Tönen und beruht auf dem Duplar; diÄ pas¿n ka» diÄ pËnte besteht aus neun Tönen und einem Halbton und beruht auf dem Triplar, und d»c diÄ pas¿n schließlich enthält zwölf Töne und beruht auf dem Quadruplar.

Weltseele und Sphärenharmonie 2,1 Hieran anknüpfend hat Platon als wissenschaftlicher Erbe des Pythagoras und mit der Tiefe seines eigenen göttlichen Ingeniums erkannt, dass es ohne diese Zahlenverhältnisse keine harmonischen Proportionen geben kann,11 und hat deshalb in seinem Timaios von der unaussprechlichen Weisheit des Demiurgen die Weltseele aus der Verknüpfung jener Zahlen schaffen lassen.12 Wenn wir Platons Gedanken für unseren Kommentar heranziehen, wird das zum Verständnis von Ciceros Text, der hinsichtlich der Musik recht dunkel erscheint, sehr hilfreich sein. 2,2 Aber um zu vermeiden, dass ein Text, den wir zur Stützung eines anderen heranziehen, selbst schon Schwierigkeiten macht, müssen wir einige Bemerkungen vorausschicken, die das Verständnis beider Texte zugleich erhellen. 2,3 Jeder vollständige Körper erstreckt sich in drei Dimensionen.13 Er besitzt nämlich Länge, Breite und Tiefe; eine vierte Dimension ist bei keinem Körper zu finden, sondern jeder vollständige Körper besteht aus den drei genannten. 2,4 Mit einer anderen Art von Körper beschäftigen sich hingegen die Geometer; sie nennen sie die mathematischen, die nur dem Denken und

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tum corpus esse indiuiduum in quo neque longitudo, neque latitudo, nec altitudo deprehendatur, quippe quod in nullas partes diuidi possit. 2,5 Hoc protractum efficit lineam, id est corpus unius dimensionis. Longum est enim sine lato sine alto, et duobus punctis ex utraque parte solam longitudinem terminantibus continetur. 2,6 Hanc lineam si geminaueris, alterum mathematicum corpus efficies, quod duabus dimensionibus aestimatur, longo latoque, sed alto caret. Et hoc est quod apud illos superficies uocatur. Punctis autem quattuor continetur, id est per singulas lineas binis. 2,7 Si uero hae duae lineae fuerint duplicatae, ut subiectis duabus duae superponantur, adicietur profunditas, et hinc solidum corpus efficitur, quod sine dubio octo angulis continebitur: Quod uidemus in tessera, quae Graeco nomine k‘boc uocatur. 2,8 His geometricis rationibus applicatur natura numerorum, et monas punctum putatur, quia sicut punctum corpus non est, sed ex se facit corpora: Ita monas numerus esse non dicitur, sed origo numerorum. 2,9 Primus ergo numerus in duobus est, qui similis est lineae de puncto sub gemina puncti terminatione productae. Hic numerus duo geminatus de se efficit quattuor ad similitudinem mathematici corporis quod sub quattuor punctis longo latoque distenditur. 2,10 Quaternarius quoque ipse geminatus octo efficit, qui numerus solidum corpus imitatur, sicut duas lineas diximus duabus superpositas octo angulorum dimensione integram corporis soliditatem creare; et hoc est quod apud geometras dicitur bis bina bis corpus esse iam solidum. 2,11 Ergo a pari numero accessio usque ad octo soliditas est corporis; ideo inter principia huic numero plenitudinem deputauit. Nunc opor-

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nicht der Sinneswahrnehmung zugänglich sind. Sie sagen, dass ein Punkt ein unteilbarer Körper sei, in dem weder Länge noch Breite noch Höhe aufzufinden sei, da er nicht in Teile unterteilbar ist.14 2,5 Zieht man den Punkt in die Länge, ergibt sich die Linie, das heißt, ein eindimensionaler Körper. Er ist nämlich nur lang und nicht breit oder hoch, und die Länge, seine einzige Dimension, wird beiderseits durch Grenzpunkte eingeschlossen. 2,6 Verdoppelt man diese Linie, erzeugt man einen anderen mathematischen Körper, der hinsichtlich zweier Dimensionen messbar ist, nämlich Länge und Breite, der aber keine Höhe hat; die Geometer nennen ihn Fläche. Er wird durch vier Punkte, nämlich je zwei pro Linie, begrenzt. 2,7 Wenn man aber diese beiden Linien derart dupliziert, dass über die beiden vorhandenen zwei weitere gelegt werden, fügt man die Dimension Höhe hinzu und erzeugt einen vollständigen Körper. Der wird dann zweifellos durch acht Punkte begrenzt, wie man an einem Würfel sehen kann, der auf Griechisch k‘boc heißt. 2,8 Zu diesen geometrischen Verhältnissen setzt man das Wesen der Zahlen in Beziehung und betrachtet folglich die Eins, die Monade, als Punkt, weil sie wie ein Punkt kein Körper ist, aber aus sich die Körper hervorbringt. Entsprechend gilt die Monade nicht als Zahl, sondern als Ursprung der Zahlen.15 2,9 Die erste Zahl ist somit die Zwei, welche einer Linie entspricht, die von einem Grenzpunkt zum anderen gezogen ist. Wird diese Zahl Zwei verdoppelt, bringt sie die Vier hervor, die einem mathematischen Körper entspricht, der sich innerhalb von vier Grenzpunkten in die Länge und die Breite streckt. 2,10 Die Verdoppelung der Vier wiederum ergibt Acht, und diese Zahl repräsentiert einen vollständigen Körper; wir haben ja gesagt, dass zwei Linien, über zwei vorhandene gelegt, einen durch acht Ecken abgegrenzten vollkommenen Körper hervorbringen; das ist gemeint, wenn die Geometer sagen, dass zwei mal zwei mal zwei ein vollständiger Körper sei. 2,11 Die Vollkommenheit des Körpers entsteht somit aus der Reihe der geraden Zahlen von zwei bis acht, und deswegen hat Cicero unter den grundlegenden Dingen der Acht den Status der Vollkommenheit

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tet ex impari quoque numero quem ad modum idem efficiatur inspicere. 2,12 Et quia tam paris quam imparis numeri monas origo est, ternarius numerus prima linea esse credatur. Hic triplicatus nouenarium numerum facit, qui et ipse quasi de duabus lineis longum latumque corpus efficit, sicut quaternarius, secundus de paribus, effecit. Item nouenarius triplicatus tertiam dimensionem praestat. Et ita a parte imparis numeri in uiginti septem, quae sunt ter terna ter, solidum corpus efficitur, sicut in numero pari bis bina bis, qui est octonarius, soliditatem creauit. 2,13 Ergo ad efficiendum utrobique solidum corpus monas necessaria est et sex alii numeri, id est terni a pari et impari: A pari quidem duo, quattuor, octo, ab impari autem tria, nouem, uiginti septem. 2,14 Timaeus igitur Platonis in fabricanda mundi anima consilium diuinitatis enuntians ait illam per hos numeros fuisse contextam, qui et a pari et ab impari cybum, id est perfectionem soliditatis, efficiunt, non quia aliquid significaret illam habere corporeum, sed, ut possit uniuersitatem animando penetrare et mundi solidum corpus implere, per numeros soliditatis effecta est. 2,15 Nunc ad ipsa Platonis uerba ueniamus. Nam, cum de deo animam mundi fabricante loqueretur, ait: »Primam ex omni fermento partem tulit; hinc sumpsit duplam partem prioris, tertiam uero secundae hemioliam, sed primae triplam, et quartam duplam secundae, quintam tertiae triplam, sextam primae octuplam, et septimam uicies septies a prima multiplicatam. Post hoc spatia, quae inter duplos et triplos numeros hiabant, insertis partibus adimplebat, ut binae medietates singula spatia colligarent, ex quibus uinculis hemiolii et epitriti et epogdoi nascebantur.«

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zuerkannt.16 Nun müssen wir dieselbe Entwicklung bei der Reihe der ungeraden Zahlen betrachten. 2,12 Weil die Monade ebenso der Ursprung der geraden wie der ungeraden Zahlen ist,17 ist bei letzteren die Zahl Drei als Repräsentant der ersten Linie anzusehen. Ihre Verdreifachung ergibt die Neun, die ihrerseits gleichsam aus ihren beiden Linien einen zweidimensionalen Körper mit Länge und Breite hervorbringt, wie ihn die Vier, die zweite Zahl der geraden Reihe, ebenfalls hervorgebracht hat. Und ebenso repräsentiert die Verdreifachung der Neun die Dreidimensionalität. So wird aus der Reihe der ungeraden Zahlen mit drei mal drei mal drei gleich siebenundzwanzig ein vollständiger Körper hervorgebracht, wie er bei den geraden Zahlen aus zwei mal zwei mal zwei gleich acht hervorging. 2,13 Folglich braucht es, um aus beiden Reihen vollständige Körper hervorzubringen, die Monade und sechs andere Zahlen, davon je drei aus der geraden und der ungeraden Reihe, und zwar aus der geraden Reihe zwei, vier und acht, aus der ungeraden drei, neun und siebenundzwanzig.18 2,14 Dementsprechend sagte der Timaios Platons, als er den göttlichen Plan für die Verfertigung der Weltseele enthüllte, dass sie aus denjenigen Zahlen der geraden und der ungeraden Reihe gewoben sei, die jeweils einen Kubus, das heißt, einen vollkommenen Körper ergeben. Damit wollte er nicht sagen, dass die Seele etwas Körperhaftes an sich habe; vielmehr dienen die Zahlen, die das Körperhafte repräsentieren, dazu, dass die Seele das Universum bei dessen Beseelung zur Gänze durchdringen und den festen Körper des Alls erfüllen kann. 2,15 Kommen wir nun zu Platons eigenen Worten.19 Als er sich über die Verfertigung der Weltseele durch den Demiurgen äußerte, sagte er: »Als erstes entnahm er dem ganzen Gemenge einen Teil;20 danach nahm er das Doppelte des ersten Teils, als drittes aber das Anderthalbfache des zweiten beziehungsweise das Dreifache des ersten. Als vierten Teil entnahm er das Doppelte des zweiten, als fünften das Dreifache des dritten, als sechsten das Achtfache des ersten und als siebten das Siebenundzwanzigfache des ersten. Danach füllte er die Zwischenräume, die zwischen den Zahlen der Zweier- und Dreierreihe klafften, durch Einfügung weiterer Anteile aus, und zwar derart, dass zwei Mittelglieder die einzelnen Intervalle verbanden; aus diesen Banden gingen der Hemiolius, der Epitrit und der Epogdous hervor.«

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2,16 Haec Platonis uerba ita a nonnullis excepta sunt ut primam partem monada crederent; secundam, quam dixi duplam prioris, dualem numerum esse confiderent; tertiam, ternarium numerum, qui ad duo hemiolius est, ad unum triplus; et quartam, quattuor, qui ad secundum, id est ad duo, duplus est; quintam, nouenarium, qui ad tertium, id est ad tria, triplus est; sextam autem octonarium, qui primum octies continet; at uero pars septima in uiginti et septem fuit, quae faciunt, ut diximus, augmentum tertium imparis numeri. 2,17 Alternis enim, ut animaduertere facile est, processit illa contextio, ut post monadem, quae et par et impar est, primus par numerus poneretur, id est duo; deinde sequeretur primus impar, id est tria; quarto loco secundus par, id est quattuor; quinto loco secundus impar, id est nouem; sexto loco tertius par, id est octo; septimo loco tertius impar, id est uiginti et septem, ut, quia impar numerus mas habetur et par femina, ex pari et impari, id est ex mare et femina, nasceretur quae erat uniuersa paritura, et ad utriusque soliditatem usque procederet quasi solidum omne penetratura. 2,18 Deinde ex his numeris fuerat componenda qui soli continent iugabilem competentiam, quia omni mundo ipsa erat iugabilem praestatura concordiam. Nam duo ad unum dupla sunt: De duplo autem diÄ pas¿n symphoniam nasci iam diximus; tria uero ad duo hemiolium numerum faciunt: Hinc oritur diÄ pËnte; quattuor ad tria epitritus numerus est: Ex hoc componitur diÄ tessàrwn; item quattuor ad unum in quadrupli ratione censentur, ex quo symphonia d»c diÄ pas¿n nascitur. 2,19 Ergo mundi anima, quae ad motum hoc quod uidemus uniuersitatis corpus impellit, contexta numeris musicam de se creantibus concinentiam, necesse est ut sonos musicos de motu quem proprio impulsu praestat efficiat, quorum originem in fabrica suae contextionis inuenit.

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2,16 Diese Worte Platons sind von manchen so interpretiert worden, dass der erste Teil die Monade sei, der zweite, der wie gesagt das Doppelte des ersten ist, sei die Zahl Zwei; der dritte Teil sei die Zahl Drei, die das Anderthalbfache von zwei und das Dreifache von eins ist; der vierte Teil sei die Zahl Vier, das Doppelte des zweiten Teils, der Zwei; der fünfte Teil sei die Zahl Neun, das dreifache der Drei, des dritten Teils; der sechste Teil sei die Acht, welche den ersten Teil achtmal beinhaltet, der siebte Teil schließlich die Zahl Siebenundzwanzig, welche, wie gesagt, die dritte Potenz der ersten ungeraden Zahl ist. 2,17 Es ist leicht zu sehen, dass das Gewebe der Weltseele aus der Alternation der beiden Zahlenreihen entstanden ist, derart, dass nach der Monade, die sowohl gerade als auch ungerade ist, die erste gerade Zahl herangezogen wurde, nämlich die Zwei, und dass darauf die erste ungerade, nämlich die Drei folgte. An die vierte Stelle trat die zweite gerade Zahl, die Vier, an die fünfte die zweite ungerade, die Neun, an die sechste die dritte gerade Zahl, die Acht und an die siebte die dritte ungerade, die Siebenundzwanzig. Da die ungeraden Zahlen als männlich und die geraden als weiblich gelten, sollte somit die Weltseele aus gleich und ungleich, das heißt aus männlich und weiblich, geschaffen werden, damit sie alles hervorbringen könne; und die Zahlen aus beiden Reihen sollten bis zu denjenigen gehen, die Körper repräsentieren, damit sie alles Körperhafte durchdringen könnte.21 2,18 Weiterhin musste die Weltseele ausschließlich aus Zahlen zusammengefügt werden, die in harmonischer Proportion stehen, weil sie ja der ganzen Welt eine einheitsstiftende Harmonie gewährleisten sollte. Dazu gehören die Zwei, das Doppelte von eins, eine Verdoppelung, von der wir schon gesagt haben, dass die Oktave aus ihr hervorgeht; ferner die Drei, der Hemiolius von zwei und damit die Quelle der Quinte; die Vier, der Epitrit von drei und damit Ursprung der Quarte; vier ist aber auch das Vierfache von eins und damit die Quelle der Doppeloktave. 2,19 Die Weltseele also, die den ganzen Weltenkörper, den wir vor Augen haben, in Bewegung versetzt, ist aus Zahlen gewoben, die eine harmonische Musik hervorbringen. Deshalb bringt sie notwendigerweise harmonische Töne aus der Bewegung hervor, die ihrer eigenen Energie entspringt, und den Ursprung dieser Töne findet sie in der Struktur ihres eigenen Gewebes.

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2,20 Ait enim Plato, ut supra rettulimus, auctorem animae deum post numerorum inter se imparium contextionem hemioliis, epitritis et epogdois et limmate hiantia interualla supplesse. 2,21 Ideo doctissime Tullius in uerbis suis ostendit Platonis dogmatis profunditatem. »Quid? Hic« inquam, »quis est qui complet aures meas tantus et tam dulcis sonus? Hic est, inquit, ille qui interuallis disiunctus imparibus sed tamen pro rata parte ratione distinctis, impulsu et motu ipsorum orbium efficitur.« 2,22 Vides ut interualla commemorat, et haec inter se imparia esse testatur, nec diffitetur rata ratione distincta, quia secundum Timaeum Platonis imparium inter se interualla numerorum ratis ad se numeris, hemioliis scilicet, epitritis et epogdois hemitoniisque distincta sunt, quibus omnis canora ratio continetur. 2,23 Hinc animaduertitur quia haec uerba Ciceronis numquam profecto ad intellectum paterent nisi hemioliorum, epitritorum et epogdoorum ratione praemissa, quibus interualla distincta sunt, et nisi Platonicis numeris, quibus mundi anima est contexta, patefactis [et ratione praemissa cur ex numeris musicam creantibus anima intexta sit]. 2,24 Haec enim omnia et causam mundani motus ostendunt, quem solus animae praestat impulsus, et necessitatem musicae concinentiae, quam motui a se facto inserit anima innatam sibi ab origine. 3,1 Hinc Plato in Re publica sua, cum de sphaerarum caelestium uolubilitate tractaret, singulas ait Sirenas singulis orbibus insidere significans sphaerarum motu cantum numinibus exhiberi. Nam Siren ›deo canens‹ Graeco intellectu ualet. Theologi quoque nouem Musas octo sphaerarum musicos cantus et unam maximam concinentiam, quae confit ex omnibus, esse uoluerunt.

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2,20 Platon sagt, wie oben berichtet, dass der Schöpfergott, nachdem er die Weltseele aus geraden und ungeraden Zahlen gewoben hatte, die Zwischenräume zwischen diesen mit Hemiolien, Epitriten, Epogdoen und dem Leimma ausgefüllt hat. 2,21 Und Cicero zeigt mit seinen hochgelehrten Worten die Tiefe von Platons Lehre: »Was ist das?«, sagte ich, »was für ein Ton erfüllt da laut und wohlklingend meine Ohren?« »Das ist«, antwortete jener, »der Klang, der gegliedert ist durch ungleiche, aber in regelhafter Beziehung stehende Intervalle und der durch den Schwung und die Rotation der Sphären entsteht.« 2,22 Du siehst, wie er die Intervalle erwähnt und sagt, dass sie untereinander verschieden sind, aber doch nicht bestreitet, dass sie in wohlabgestimmten Verhältnissen zueinander stehen; denn Platons Timaios zufolge sind diese Intervalle aus ungleichen Zahlen durch ein proportionales numerisches Verhältnis charakterisiert, nämlich durch Hemiolien, Epitriten, Epogdoen und Halbtöne, die dem gesamten System der Harmonie zugrunde liegen. 2,23 Es zeigt sich nun, dass diese Worte Ciceros niemals dem Verständnis zugänglich wären, wenn wir nicht zuvor das System der Hemiolien, Epitriten und Epogdoen geklärt hätten, und wenn wir nicht vorher die Zahlenverhältnisse, aus denen die platonische Weltseele gewoben ist, dargelegt hätten.22 2,24 Das alles nämlich zeigt uns die Ursache für die Bewegung des Weltalls, die alleine von der Weltseele verursacht wird, und es zeigt uns die Notwendigkeit der Sphärenharmonie, die der Weltseele von Anfang an innewohnt und die sie auf die von ihr verursachte Bewegung überträgt. 3,1 Aus diesem Grund hat Platon in seinem Staat gesagt, als er sich mit der Rotation der Himmelssphären beschäftigte, dass auf jeder Sphäre eine Sirene sitze, womit er sagen wollte, dass durch die Bewegung der Sphären den Göttern ein Gesang dargeboten werde. Denn Sirene bedeutet auf Griechisch so viel wie »für die Gottheit singend«.23 Auch die Theologen haben angenommen, dass die neun Musen für die Musik der einzelnen acht Sphären und den einen großen Akkord, der daraus hervorgeht, stehen.24

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3,2 Vnde Hesiodus in Theogonia sua octauam Musam Vraniam uocat, quia post septem uagas, quae subiectae sunt, octaua stellifera sphaera superposita proprio nomine caelum uocatur; et ut ostenderet nonam esse et maximam quam conficit sonorum concors uniuersitas, adiecit: KalliÏph j' õ dò proferestàth ‚st»n ÅpasËwn, ex nomine ostendens ipsam uocis dulcedinem nonam Musam uocari: Nam KalliÏph ›optimae uocis‹ Graeca interpretatio est; et ut ipsam esse quae confit ex omnibus pressius indicaret, adsignauit illi uniuersitatis uocabulum: õ dò proferestàth ‚st»n ÅpasËwn. 3,3 Nam et Apollinem ideo MoushgËthn uocant quasi ducem et principem orbium ceterorum, ut ipse Cicero refert: »dux et princeps et moderator luminum reliquorum, mens mundi et temperatio«. 3,4 Musas esse mundi cantum etiam Etrusci sciunt, qui eas ›Camenas‹, quasi ›Canenas‹, a canendo dixerunt. Ideo canere caelum etiam theologi comprobantes sonos musicos sacrificiis adhibuerunt, qui apud alios lyra uel cithara, apud nonnullos tibiis aliisue musicis instrumentis fieri solebant. 3,5 In ipsis quoque hymnis deorum per stropham et antistropham metra canoris uersibus adhibebantur, ut per stropham rectus orbis stelliferi motus, per antistropham diuersus uagarum regressus praedicaretur, ex quibus duobus motibus primus in natura hymnus dicandus deo sumpsit exordium. 3,6 Mortuos quoque ad sepulturam prosequi oportere cum cantu plurimarum gentium uel religionum instituta sanxerunt, persuasione hac, qua post corpus animae ad originem dulcedinis musicae, id est ad caelum, redire credantur. 3,7 Nam ideo in hac uita omnis anima musicis sonis capitur, ut non soli qui sunt habitu cultiores, uerum uniuersae quoque barbarae nationes cantus, quibus uel ad ardorem uirtutis animentur uel ad mollitiem uoluptatis

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3,2 Daher nennt Hesiod in seiner Theogonie die achte Muse Urania, weil die achte Sphäre, welche die Fixsterne trägt und den sieben Planetensphären übergeordnet ist, mit ihrem eigentlichen Namen »Himmel« genannt wird.25 Und indem er fortfährt »Kalliope, welche die vortrefflichste ist von allen«, zeigt er, dass es eine neunte Muse gibt,26 die größte, welche die aus den acht Tönen resultierende Harmonie ist, und er zeigt mit ihrem Namen, dass sie eben nach der Lieblichkeit ihrer Stimme benannt ist. Denn KalliÏph bedeutet auf Griechisch »von wunderschöner Stimme«. Und um hervorzuheben, dass sie es ist, die aus der Gesamtheit der anderen hervorgeht, fügt er ein Wort hinzu, das diese Gesamtheit bezeichnet: »Welche die vortrefflichste ist von allen«.27 3,3 Auch nennen die Theologen Apollon den »Musenführer«, weil er Führer und Herr der anderen Sphären sei, wie auch Cicero selbst von der Sonne sagt: »Führerin, Fürstin und Lenkerin aller übrigen, Seele und Ordnungsprinzip des Alls«.28 3,4 Dass die Musen der Gesang des Alls seien, wissen auch die Etrusker, die sie »Camenen«, also gleichsam »Canenen« nennen, mit einem von canere (singen) abgeleiteten Namen.29 Die Theologen waren ebenfalls der Ansicht, der Himmel lasse einen Gesang ertönen, und vollzogen daher ihre Opfer unter Musikbegleitung. Bei den einen wurde die Lyra und die Kithara, bei anderen die Flöte oder ein anderes Musikinstrument verwendet.30 3,5 Auch bei den Götterhymnen wurden Strophe und Antistrophe mit Singversen gestaltet, derart, dass in der Strophe die Vorwärtsbewegung des Fixsternhimmels, in der Antistrophe die ihr entgegengesetzte Bewegung der Planeten verherrlicht wurden, die beiden Bewegungen also, aus denen in der Natur der erste Hymnos zu Ehren des Gottes seinen Ursprung hatte.31 3,6 Es haben auch die Gebräuche vieler Völker und Religionen festgelegt, dass man den Toten das letzte Geleit unter Gesang erweisen müsse; das geschah aus der Überzeugung, dass nach dem Tod die Seelen zum Ursprung der wohltönenden Musik, nämlich zum Himmel, zurückkehren.32 3,7 Denn im irdischen Leben wird jede Seele von den Tönen der Musik gefesselt, sodass nicht nur kultiviertere, sondern auch alle barbarischen Völker Gesänge pflegen, mit denen sie die Glut der Tapferkeit entfachen

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resoluantur, exerceant, quia in corpus defert memoriam musicae cuius in caelo fuit conscia, et ita delenimentis canticis occupatur ut nullum sit tam immite, tam asperum pectus, quod non oblectamentorum talium teneatur affectu. 3,8 Hinc aestimo et Orphei uel Amphionis fabulam, quorum alter animalia ratione carentia, alter saxa quoque trahere cantibus ferebantur, sumpsisse principium, quia primi forte gentes uel sine rationis cultu barbaras, uel saxi instar nullo affectu molles, ad sensum uoluptatis canendo traxerunt. 3,9 Ita denique omnis habitus animae cantibus gubernatur, ut et ad bellum progressui et item receptui canatur, cantu et excitante et rursus sedante uirtutem. »Dat somnos adimitque«, necnon curas et immittit et retrahit, iram suggerit, clementiam suadet, corporum quoque morbis medetur (nam hinc est quod aegris remedia praestantes praecinere dicuntur). 3,10 Et quid mirum si inter homines musicae tanta dominatio est, cum aues quoque, ut lusciniae, ut cycni aliaeue id genus, cantum ueluti quadam disciplina artis exerceant, nonnullae uero uel aues uel terrenae seu aquatiles beluae inuitante cantu in retia sponte decurrant, et pastoralis fistula pastum progressis quietem imperet gregibus? 3,11 Nec mirum. Inesse enim mundanae animae causas musicae, quibus est intexta, praediximus. Ipsa autem mundi anima uiuentibus omnibus uitam ministrat: Hinc hominum pecudumque genus uitaeque uolantum Et quae marmoreo fert monstra sub aequore pontus. Iure igitur musica capitur omne quod uiuit, quia caelestis anima, qua animatur uniuersitas, originem sumpsit ex musica.

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oder sich bei Müßiggang und Vergnügen entspannen. Die Seele bringt nämlich in den Körper eine Erinnerung an die Musik mit, die sie im Himmel gekannt hat, und lässt sich daher von verführerischem Gesang betören; und kein Herz ist so spröde und so roh, dass es nicht durch den Zauber eines solchen Ohrenschmauses in Bann geschlagen würde. 3,8 Hier haben meiner Meinung nach auch die Legenden von Orpheus und Amphion ihre Wurzeln; der eine soll ja durch seinen Gesang vernunftlose Tiere, der andere sogar Felsen angezogen haben. Beide haben wohl als Erste in barbarischen Völkern, die vernunftlos lebten oder wie Felsen zu keiner Gemütsregung zu erweichen waren, mit ihrem Gesang ein Gespür für das ästhetische Vergnügen erweckt.33 3,9 Schließlich werden alle seelischen Zustände durch Musik beeinflusst. Deshalb wird im Krieg zum Angriff und zum Rückzug geblasen, mit Musik Kampfesmut erweckt und wieder gedämpft. »Sie sendet den Schlaf und nimmt ihn wieder«, sie erweckt Sorgen und vertreibt sie, sie facht den Zorn an und stimmt milde, sie heilt sogar Krankheiten, weshalb man ja sagt, dass Heilkundige Krankheiten mit magischen Melodien besprechen.34 3,10 Und was ist daran erstaunlich, wenn die Musik eine so große Macht unter den Menschen hat, wenn doch auch die Vögel – Nachtigall, Schwan und andere der Art – ihren Gesang üben, als sei er eine Art künstlerischer Disziplin; wenn nicht wenige Vögel, Land- und Wassertiere, durch Musik angelockt, von selbst ins aufgespannte Netz gehen und wenn die Flöte des Hirten die zum Weiden ausgeschwärmte Herde zur Ruhe zurückruft?35 3,11 Es ist nicht erstaunlich, denn wir haben vorhin ja gesagt, dass die Anfangsgründe der Musik in der Weltseele liegen, deren Struktur sie bestimmt. Die Weltseele selbst aber verleiht allem, was lebt, sein Leben: »Von hier stammt das Geschlecht der Menschen und Tiere, das Leben der Vögel und die Untiere, die das Meer unter seiner Marmorfläche birgt.«36 Aus gutem Grund wird also alles, was lebt, von der Musik in Bann geschlagen, weil die Weltseele, die das Universum belebt, ihren Ursprung in der Musik hat.

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3,12 Haec dum ad sphaeralem motum mundi corpus impellit, sonum efficit qui »interuallis« est »disiunctus imparibus sed tamen pro rata parte ratione distinctis«, sicut a principio ipsa contexta est. Sed haec interualla, quae in anima quippe incorporea sola aestimantur ratione, non sensu, quaerendum est utrum et in ipso mundi corpore dimensio librata seruauerit. 3,13 Et Archimedes quidem stadiorum numerum deprehendisse se credidit quibus a terrae superficie luna distaret, et a luna Mercurius, a Mercurio Venus, sol a Venere, Mars a sole, a Marte Iuppiter, Saturnus a Ioue; sed et a Saturni orbe usque ad ipsum stelliferum caelum omne spatium se ratione mensum putauit. 3,14 Quae tamen Archimedis dimensio a Platonicis repudiata est, quasi dupla et tripla interualla non seruans; et statuerunt hoc esse credendum, ut, quantum est a terra usque ad lunam, duplum sit a terra usque ad solem; quantumque est a terra usque ad solem, triplum sit a terra usque ad Venerem; quantumque est a terra usque ad Venerem, quater tantum sit a terra usque ad Mercurii stellam; quantumque est ad Mercurium a terra, nouies tantum sit a terra usque ad Martem; et quantum a terra usque ad Martem est, octies tantum sit a terra usque ad Iouem; quantumque est a terra usque ad Iouem, septies et uicies tantum sit a terra usque ad Saturni orbem. 3,15 Hanc Platonicorum persuasionem Porphyrius libris inseruit quibus Timaei obscuritatibus nonnihil lucis infudit, aitque eos credere ad imaginem contextionis animae haec esse in corpore mundi interualla, quae epitritis, hemioliis, epogdois, hemitoniisque complentur [et limmate], et ita prouenire concentum cuius ratio in substantia animae contexta mundano quoque corpori, quod ab anima mouetur, inserta est. 3,16 Vnde ex omni parte docta et perfecta est Ciceronis adsertio, qui »interuallis imparibus sed tamen pro rata parte ratione distinctis« caelestem sonum dicit esse disiunctum.

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Die Weltseele und die Struktur des Weltalls 3,12 Während nun die Weltseele den Weltenkörper in seine kreisförmige Bewegung versetzt, erzeugt sie damit entsprechend ihrer uranfänglichen Struktur einen Klang, »der gegliedert ist durch ungleiche, aber in regelhafter Beziehung stehende Intervalle«. Es stellt sich nun die Frage, ob diese Intervalle, welche in der Weltseele, die ja unkörperlich ist, nicht sinnlich, sondern nur mit der Vernunft erfassbar sind, in den wohlabgestimmten Verhältnismaßen des Weltenkörpers bewahrt werden. 3,13 Archimedes glaubte, berechnet zu haben, wie viele Stadien die Entfernung von der Erdoberfläche zum Mond beträgt, vom Mond zum Merkur, vom Merkur zur Venus, von der Venus zur Sonne, von der Sonne zum Mars, vom Mars zum Jupiter und vom Jupiter zum Saturn; auch den ganzen Raum vom Saturn zum Fixsternhimmel glaubte er mit seinen Berechnungen bestimmt zu haben. 3,14 Archimedes’ Berechnungen wurden aber von den Platonikern verworfen, weil sie sich nicht auf Potenzen der Zahlen Zwei und Drei stützten.37 Sie entschieden, dass folgende Werte anzunehmen seien. Es beträgt die Entfernung von der Erde: zur Sonne das Doppelte der Entfernung Erde – Mond; zur Venus das Dreifache der Entfernung Erde – Sonne; zum Merkur das Vierfache der Entfernung Erde – Venus; zum Mars das Neunfache der Entfernung Erde – Merkur; zum Jupiter das Achtfache der Entfernung Erde – Mars; zum Saturn das Siebenundzwanzigfache der Entfernung Erde – Jupiter.38 3,15 Diese Überzeugung der Platoniker hat Porphyrios in jenen Büchern dargelegt, mit denen er nicht wenig Licht in die Dunkelheit des Timaios gebracht hat.39 Ihm zufolge glauben jene, dass die Intervalle im Körper der Welt ein Abbild der Struktur der Weltseele seien und dass sie erfüllt seien von Epitriten, Hemiolien, Epogdoen und von Halbtönen.40 So entstehe jene Harmonie, deren Proportionen die Substanz der Weltseele strukturierten und die so auch im Weltenkörper, der von der Weltseele bewegt wird, gegenwärtig sei. 3,16 Somit ist die Aussage Ciceros, die Himmelsharmonie sei gegliedert »durch ungleiche, aber in regelhafter Beziehung stehende Intervalle«, in jeder Hinsicht von vollkommener Gelehrsamkeit.

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4,1 Nunc locus admonet ut de grauitate et acumine sonorum diuersitates quas adserit reuoluamus: »Et natura fert ut extrema ex altera parte grauiter, ex altera autem acute sonent. Quam ob causam summus ille caeli stellifer cursus, cuius conuersio est concitatior, acute excitato mouetur sono, grauissimo autem hic lunaris atque infimus.« 4,2 Diximus numquam sonum fieri nisi aere percusso. Vt autem sonus ipse aut acutior aut grauior proferatur, ictus efficit qui, dum ingens et celer incidit, acutum sonum praestat, si tardior lentiorue, grauiorem. 4,3 Indicio est uirga quae, dum auras percutit, si impulsu cito feriat, sonum acuit; si lentiore, in grauius frangit auditum. In fidibus quoque idem uidemus, quae si tractu artiore tenduntur, acute sonant, grauius laxiores. 4,4 Ergo et superiores orbes, dum pro amplitudine sua impetu grandiore uoluuntur, dumque spiritu ut in origine sua fortiore tenduntur, propter ipsam, ut ait, concitatiorem conuersionem »acute excitato mouentur sono, grauissimo autem hic lunaris atque infimus«, quoniam spiritu ut in extremitate languescente iam uoluitur, et propter angustias, quibus paenultimus orbis artatur, impetu leniore conuertitur. 4,5 Nec secus probamus in tibiis, de quarum foraminibus uicinis inflantis ori sonus acutus emittitur, de longinquis autem et termino proximis grauior; item acutior per patentiora foramina, grauior per angusta. Et utriusque causae ratio una, quia spiritus ubi incipit, fortior est, defectior ubi desinit, et quia maiorem impetum per maius foramen impellit, contra autem in angustis contingit et eminus positis. 4,6 Ergo orbis altissimus et ut in immensum patens et ut spiritu eo fortiore quo origini suae uicinior est incitatus, sonorum de se acumen

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Die Struktur der Sphärenharmonie 4,1 Diese Stelle erinnert uns daran, dass wir die Unterschiede zwischen den tiefen und den hohen Tönen klären müssen, von denen Cicero spricht: »Die Natur erfordert, dass die extremen Töne auf der einen Seite tief, auf der anderen hoch klingen. Deshalb bewegt sich jene äußerste Sphäre, welche die Gestirne trägt und sich mit größerer Geschwindigkeit dreht, mit einem hohen Ton, mit einem ganz tiefen dagegen die unterste Sphäre des Mondes da ganz unten.« 4,2 Wir haben gesagt, dass die Entstehung eines Tones immer auf der Perkussion der Luft beruht. Dass der Ton nun höher oder tiefer wird, beruht darauf, dass eine schnellere und heftigere Perkussion einen hohen Ton erzeugt, eine langsamere und schwächere dagegen einen tieferen. 4,3 Das können wir mit einer Rute demonstrieren: Schnellt sie kraftvoll durch die Luft, erzeugt sie einen hohen Ton; durchschneidet sie die Luft langsam, dringt ein tiefer Ton an unser Ohr. Dasselbe zeigt sich bei der Leier: Werden ihre Saiten straffer gespannt, klingt sie hoch, aber tief, wenn man sie wieder entspannt. 4,4 Entsprechend ist es mit den Sphären: Wegen ihres größeren Umfangs drehen sich die höheren auch mit größerer Schwungkraft;41 zudem sind sie im höheren Maße dem von der Weltseele ausgehenden Luftstrom ausgesetzt, dessen Quelle sie ja nahe sind.42 Daher erzeugt ihre Bewegung, wie Cicero sagt, »einen hohen und lebhaften Ton, der Mond da ganz unten dagegen einen sehr tiefen«. Wegen der Randlage des Mondes verliert sich nämlich die Energie jenes Luftstroms, und wegen der räumlichen Einengung der vorletzten Sphäre ist auch deren Schwungkraft geringer. 4,5 Dasselbe können wir an der Flöte verifizieren. Aus den näher beim Mund des Bläsers liegenden Grifflöchern entweicht ein hoher Ton, aus den weiter entfernten und näher beim Ende befindlichen ein tieferer. Ebenso erzeugen weitere Grifflöcher einen höheren und engere einen tieferen Ton.43 Für beides gilt dieselbe Erklärung, nämlich, dass der Atemstrom nahe seiner Quelle stärker ist, schwächer aber dort, wo er ausschwingt, und dass durch ein weiteres Griffloch ein stärkerer Luftstrom austreten kann, im Gegensatz zu einem engeren und weiter vom Mundstück entfernten. 4,6 Nun besitzt die oberste Sphäre zum einen eine nahezu unermessliche Ausdehnung, zum anderen ist der Luftstrom, von dem sie angetrie-

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emittit; uox ultimi et pro spatii breuitate et pro longinquitate iam frangitur. 4,7 Hinc quoque apertius approbatur spiritum, quanto ab origine sua deorsum recedit, tanto circa impulsum fieri leniorem, ut circa terram, quae ultima sphaerarum est, tam concretus, tam densus habeatur, ut causa sit terrae in una sede semper haerendi, nec in quamlibet partem permittatur moueri obsessa undique circumfusi spiritus densitate; in sphaera autem ultimum locum esse qui medius est, antecedentibus iam probatum est. 4,8 Ergo mundani corporis sphaerae nouem sunt. Prima, illa stellifera, quae proprio nomine caelum dicitur et Çplan†c apud Graecos uocatur, »arcens et continens ceteras«. Haec ab oriente semper uoluitur in occasum; subiectae septem, quas uagas dicimus, ab occidente in orientem feruntur; nona, terra, sine motu. 4,9 Octo sunt igitur quae mouentur, sed septem soni sunt qui concinentiam de uolubilitate conficiunt, propterea quia Mercurialis et Venerius orbis, pari ambitu comitati solem, uiae eius tamquam satellites obsequuntur, et ideo a nonnullis astronomiae studentibus eandem uim sortiti existimantur. Vnde ait: »Illi autem octo cursus in quibus eadem uis est duorum, septem efficiunt distinctos interuallis sonos: Qui numerus rerum omnium fere nodus est.« 4,10 Septenarium autem numerum rerum omnium nodum esse plene, cum de numeris superius loqueremur, expressimus; ad illuminandam, ut aestimo, obscuritatem uerborum Ciceronis de musica tractatus succinctus a nobis qua licuit breuitate sufficiet. 4,11 Nam netas et hypatas aliarumque fidium uocabula percurrere et tonorum uel limmatum minuta subtilia, et quid in sonis pro littera, quid

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ben wird, wegen der großen Nähe zu seinem Ursprung entsprechend stark. Folglich entsendet die oberste Sphäre einen wohlklingend hohen Ton, wogegen der Ton der untersten Sphäre wegen ihrer räumlichen Beengtheit und großen Entfernung von jenem Ursprung nahezu erstirbt. 4,7 Das liefert uns auch einen klareren Beweis dafür, dass der Luftstrom umso mehr an Energie einbüßt, je weiter er sich von seiner Quelle nach unten ergießt. Folglich ist er in der Umgebung der Erde, welche die letzte Sphäre ist, schon so ins Stocken geraten und so dicht, dass er zur Ursache dafür wird, dass die Erde unbeweglich an ein und demselben Platz verweilt und, von allen Seiten von der Dichte der umgebenden Luft eingezwängt,44 sich nach keiner Richtung bewegen kann. Dass aber in einer Kugel der letzte Platz der mittlere ist, haben wir weiter oben schon nachgewiesen. 4,8 Der Weltenkörper hat nun acht Sphären. Die erste ist die Fixsternsphäre, mit ihrem eigentlichen Namen »Himmel« genannt und von den Griechen als Çplan†c bezeichnet, sie, »die alle übrigen beherrscht und zusammenhält«.45 Sie dreht sich immerzu von Ost nach West, wogegen die ihr untergeordneten sieben sogenannten Planetensphären sich von West nach Ost bewegen. Die neunte Sphäre, die Erde, verharrt bewegungslos. 4,9 Es sind also acht Sphären, die rotieren, aber die daraus entstehende Harmonie hat nur sieben unterschiedliche Töne, weil die Sphären des Merkur und der Venus die Sonne auf einer gleich großen Umlaufbahn begleiten und sozusagen ihrer Bahn als ihre Trabanten folgen; deshalb wird von manchen Astronomen auch angenommen, dass ihr Klang derselbe sei. Daher sagt Cicero: »Von diesen acht Sphären haben zwei denselben Klang, sodass sie insgesamt sieben unterschiedliche Töne hervorbringen – sieben, eine Zahl, die nahezu der Kern aller Dinge ist.«46 4,10 Dass die Zahl Sieben der Kern aller Dinge ist, haben wir umfassend dargelegt, als wir oben über die Zahlen gesprochen haben.47 Deshalb glaube ich, dass unsere so knapp wie möglich gefasste Darlegung hinreichen wird, um Licht in die dunklen Äußerungen Ciceros über die Musik zu bringen. 4,11 Denn sich mit der Nete, der Hypate und den Namen der anderen Saiten abzugeben,48 sich zu verbreiten über subtile Probleme bei Tönen und Halbtönen und über die Frage, was bei den Tönen dem Buchstaben,

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pro syllaba, quid pro integro nomine accipiatur adserere ostentantis est, non docentis. 4,12 Nec enim quia fecit in hoc loco Cicero musicae mentionem, occasione hac eundum est per uniuersos tractatus qui possunt esse de musica, quos, quantum mea fert opinio, terminum habere non aestimo, sed illa sunt persequenda quibus uerba quae explananda receperis possint liquere, quia in re naturaliter obscura, qui in exponendo plura quam necesse est superfundit addit tenebris, non adimit densitatem. 4,13 Vnde finem de hac tractatus parte faciemus, adiecto uno quod scitu dignum putamus, quia, cum sint melodiae musicae tria genera, enarmonium, diatonum et chromaticum, primum quidem propter nimiam sui difficultatem ab usu recessit, tertium uero est infame mollitie, unde medium, id est diatonum, mundanae musicae doctrina Platonis adscribitur. 4,14 Nec hoc inter praetereunda ponemus, quod musicam perpetua caeli uolubilitate nascentem ideo claro non sentimus auditu, quia maior sonus est quam ut humanarum aurium recipiatur angustiis. Nam si Nili Catadupa ab auribus incolarum amplitudinem fragoris excludunt, quid mirum si nostrum sonus excedit auditum, quem mundanae molis impulsus emittit? 4,15 Nec enim de nihilo est quod ait »qui complet aures meas tantus et tam dulcis sonus«, sed uoluit intellegi quod, si eius qui caelestibus meruit interesse secretis completae aures sunt soni magnitudine, superest ut ceterorum hominum sensus mundanae concinentiae non capiat auditum.

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der Silbe oder dem ganzen Wort entspricht, ist Aufschneiderei und hat mit Unterweisung nichts zu tun.49 4,12 Dass Cicero sich an dieser Stelle zur Musik äußert, darf keinen Anlass bieten, sämtliche erdenkliche Literatur zur Musiktheorie durchzugehen, die, soweit ich es abschätzen kann, endlos ist. Vielmehr muss man sich an die Traktate halten, mit deren Hilfe ein zu erklärender Text tatsächlich auch erklärt werden kann. Denn wenn jemand bei der Erläuterung eines von Natur aus dunklen Gegenstandes mehr Worte aufhäuft als nötig, verdunkelt er ihn nur noch mehr, statt Licht in ihn zu bringen. 4,13 So wollen wir diesen Teil unserer Abhandlung abschließen und nur noch einen wissenswerten Punkt hinzufügen, nämlich, dass von den drei existierenden Tongeschlechtern enharmonisch, diatonisch und chromatisch das erste wegen seiner übergroßen Schwierigkeit außer Gebrauch und das dritte wegen seiner Weichlichkeit in Verruf geraten ist. Daher schreibt die platonische Theorie der Sphärenharmonie das mittlere, das diatonische, zu.50 4,14 Ein Punkt, der ebenfalls nicht übergangen werden darf, ist, dass wir die Musik, die aus der beständigen Rotation des Himmels hervorgeht, nicht in klarer Wahrnehmung hören können. Die Ursache dafür ist, dass ihr Klang zu mächtig ist, als dass er in die Enge der menschlichen Ohren eindringen könnte. Denn wenn schon der enorme Lärm der Nilkatarakte für die Einheimischen nicht hörbar ist, ist es da ein Wunder, wenn unser Gehör den Klang nicht wahrnehmen kann, der aus dem Schwung der Massen des Alls hervorgeht?51 4,15 Es kommt ja nicht von ungefähr, dass Cicero sagt »Was für ein Ton erfüllt da laut und wohlklingend meine Ohren?«; er wollte das so verstanden wissen: Wenn die Ohren eines Mannes, der es verdient hatte, in die himmlischen Geheimnisse eingeweiht zu werden, von der Gewalt dieses Tones erfüllt werden, dann versteht es sich von selbst, dass das Gehör der übrigen Menschen die Sphärenharmonie nicht erfassen kann.

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5,1 Sed iam tractatum ad sequentia conferamus. »Vides habitari in terra raris et angustis locis, et in ipsis quasi maculis ubi habitatur uastas solitudines interiectas, eosque qui incolant terram non modo interruptos ita esse ut nihil inter ipsos ab aliis ad alios manare possit, sed partim obliquos, partim transuersos, partim etiam aduersos stare uobis, a quibus expectare gloriam certe nullam potestis. 5,2 Cernis autem eandem terram quasi quibusdam redimitam et circumdatam cingulis, e quibus duos maxime inter se diuersos et caeli uerticibus ipsis ex utraque parte subnixos obriguisse pruina uides, medium autem illum et maximum solis ardore torreri. 5,3 Duo sunt habitabiles, quorum australis ille, in quo qui insistunt aduersa uobis urguent uestigia, nihil ad uestrum genus; hic autem alter subiectus aquiloni quem incolitis cerne quam tenui uos parte contingat. Omnis enim terra quae colitur a uobis, angusta uerticibus, lateribus latior, parua quaedam est insula, circumfusa illo mari quod Atlanticum, quod Magnum, quem Oceanum appellatis in terris; qui tamen tanto nomine quam sit paruus uides.« 5,4 Postquam caelum, quo omnia continentur, et subiectarum sphaerarum ordinem motumque ac de motu sonum caelestis musicae modos et numeros explicantem et aerem subditum lunae Tullianus sermo, per necessaria et praesenti operi apta ductus, ad terram usque descripsit, ipsius iam terrae descriptionem uerborum parcus, rerum fecundus absoluit. 5,5 Et enim maculas habitationum ac de ipsis habitatoribus alios interruptos aduersosque, obliquos etiam et transuersos alios nominando terrenae sphaerae globositatem tantum non coloribus pinxit.

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Die Geographie 5,1 Nun wollen wir die Abhandlung mit dem nächsten Textabschnitt fortführen.52 »Du siehst, dass die Erde nur an vereinzelten Stellen von geringer Ausdehnung bewohnt ist und dass auch zwischen diesen sozusagen Siedlungsflecken ausgedehnte Einöden liegen. Die Erdenbewohner sind auf diese Weise nicht nur so voneinander isoliert, dass unter ihnen keine Kunde von den einen zu den anderen gelangen kann, sondern sie befinden sich, von euch aus gesehen, teils in diametraler, teils in seitlicher, teils sogar in vertikaler Position, und von ihnen könnt ihr keine Ruhmesbezeigungen erwarten. 5,2 Du siehst aber, dass die Erde gleichsam von bestimmten Zonen umgeben und umwunden ist; die beiden am weitesten voneinander entfernten und unter den beiden Himmelspolen liegenden siehst du in Frost erstarrt, während die mittlere und breiteste Zone in der Glut der Sonne dorrt. 5,3 Zwei der Zonen sind bewohnbar; die südliche, deren Bewohner euch genau gegenüber ihre Schritte setzen, hat keinerlei Verbindung zu euch; die andere, die unter dem Nordwind liegt, wird von euch bewohnt; doch sieh dir nur an, wie klein sie ist, die euch beherbergt. Das ganze von Euch bewohnte Land ist gleichsam eine kleine Insel, oben eng53 weiter an den Flanken, und umflossen von dem Meer, welches ihr auf Erden das ›atlantische‹, das ›große‹, oder den ›Ozean‹ nennt; du siehst, wie klein es ist, seinem imposanten Namen zum Trotz.« (Rep. 6, 20f.) 5,4 Bisher hat Ciceros Darstellung den alles umschließenden Himmel, die Ordnung und Bewegung der Sphären darunter, die aus dieser Bewegung hervorgehende Sphärenharmonie mit ihren Tönen und Intervallen und schließlich den Luftraum unterhalb des Mondes bis hinab zur Erde beschrieben, wobei er sich von allem leiten ließ, was notwendig und für sein Werk nützlich war. Jetzt vollendet er das mit der Beschreibung der Erde selbst, mit knappen, aber inhaltsreichen Worten.54 5,5 Indem er nämlich von den bewohnten Flecken der Erde spricht und deren Bewohner als voneinander abgeschnitten bezeichnet, und zwar entweder durch ihre vertikale, diametrale oder seitliche Position,55 zeichnet er ein Bild vom Erdball, dem nur noch die Farben fehlen.

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5,6 Illud quoque non sine perfectione doctrinae est, quod cum aliis nos non patitur errare qui terram semel cingi Oceano crediderunt. Nam si dixisset »omnis terra . . . parua quaedam est insula circumfusa illo mari«, unum Oceani ambitum dedisset intellegi; sed adiciendo »quae colitur a uobis« ueram eius diuisionem, de qua paulo post disseremus, nosse cupientibus intellegendam reliquit. 5,7 De quinque autem cingulis ne quaeso aestimes duorum Romanae facundiae parentum, Maronis et Tullii, dissentire doctrinam, cum hic ipsis cingulis terram redimitam dicat, ille isdem quas Graeco nomine zonas uocat adserat caelum teneri. Vtrumque enim incorruptam ueramque nec alteri contrariam rettulisse rationem procedente disputatione constabit. 5,8 Sed ut omnia quae hoc loco explananda recepimus liquere possint, habendus est primum sermo de cingulis, quia situ eorum ante oculos locato cetera erunt intellectui proniora. Prius autem qualiter terram coronent, deinde quemadmodum caelum teneant explicandum est.* 5,9 Terra nona et ultima sphaera est. Hanc diuidit horizon, id est finalis circulus de quo ante rettulimus. Ergo medietas cuius partem nos incolimus sub eo caelo est quod surgit super terram, et reliqua medietas sub illo quod, dum uoluitur, ad ea loca quae ad nos uidentur inferiora descendit: In medio enim locata ex omni sui parte caelum suspicit. 5,10 Huius igitur ad caelum breuitas, cui punctum est, ad nos uero immensa globositas, distinguitur locis inter se uicissim pressis nimietate uel frigoris uel caloris, geminam nacta inter diuersa temperiem.

* Siehe Abbildung 4, S. 368

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5,6 Seine vollkommene Gelehrsamkeit zeigt sich auch darin, dass er uns nicht mit anderen in dem Irrtum verharren lässt, die Erde werde nur einmal vom Ozean umzogen. Hätte er nämlich gesagt »die ganze Erde ist eine kleine Insel, die von jenem Meer umflossen wird . . . «, hätte er uns zu verstehen gegeben, dass sie nur ein einziges Mal vom Ozean umgeben werde; aber durch den Zusatz »die von euch bewohnt wird« hat er ihre tatsächliche Einteilung, über die wir ein wenig später reden werden,56 der Wissbegierde seiner Leser offenbart. 5,7 Was die fünf Zonen der Erde betrifft, so solltest du bitte nicht glauben, dass die wissenschaftlichen Auffassungen der beiden Väter der römischen Beredsamkeit, Cicero und Vergil, einander widersprechen, nur weil der eine sagt, diese Gürtel umgäben die Erde, der andere dagegen behauptet, diese, wie er sie auf Griechisch nennt, Zonen nähmen den Himmel ein. Der Fortgang unserer Erörterung wird nämlich erhärten, dass sie beide eine fehlerfreie und wahre Theorie formuliert haben, welche der jeweils anderen nicht widerspricht.57

Klimazonen und Himmelsrichtungen 5,8 Diese Zonen müssen, damit alles klar wird, was wir uns hier zur Klärung vorgenommen haben, unser erstes Thema sein; denn, wenn wir uns ihre Lage vor Augen geführt haben, wird alles Übrige leichter verständlich sein. Zuerst ist zu erklären, wie sie die Erde umgeben, sodann, wie sie den Himmel einnehmen.58 5,9 Die Erde ist die neunte und damit letzte Sphäre. Sie wird vom Horizont zweigeteilt, jener kreisförmigen Grenzlinie, über die wir schon gesprochen haben. Die Halbkugel, die wir bewohnen, befindet sich unter dem Teil des Himmels, der sich oberhalb des Horizonts wölbt,59 die andere unter jenem Teil, der bei seiner Umdrehung zu den Regionen hinabsteigt, die aus unserer Perspektive unter uns liegen. Wegen der Mittellage der Erde ist ja der Himmel von jedem Punkt auf ihr sichtbar. 5,10 Die Erde ist winzig, nur ein Punkt im Vergleich zum Himmel, für uns dagegen ist sie eine gewaltige Kugel. Sie gliedert sich in Regionen, die jeweils unter drückender Hitze oder schneidender Kälte leiden;60 dazwischen liegen aber auch zwei temperierte Zonen.

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5,11 Nam et septentrionalis et australis extremitas perpetua obriguerunt pruina, et hi uelut duo sunt quibus terra redimitur, sed ambitu breues quasi extrema cingentes. Horum uterque habitationis impatiens est, quia torpor ille glacialis nec animali nec frugi uitam ministrat: Illo enim aere corpus alitur quo herba nutritur. 5,12 Medius cingulus et ideo maximus aeterno adflatu continui caloris ustus spatium, quod et lato et ambitu prolixius occupauit, nimietate feruoris facit inhabitabile uicturis. Inter extremos uero et medium, duo maiores ultimis, medio minores, ex utriusque uicinitatis intemperie temperantur, in hisque tantum uitales auras natura dedit incolis carpere. 5,13 Et quia animo facilius inlabitur concepta ratio descriptione quam sermone, esto orbis terrae cui adscripta sunt A B C D; et circa A adscribantur N et L; circa B autem M et K; et circa C G et I; et circa D E et F; et ducantur rectae lineae a signis ad signa quae dicimus, id est a G in I, ab M in N, a K in L, ab E in F. 5,14 Spatia igitur duo aduersa sibi, id est unum a C usque ad lineam quae in I ducta est, alterum a D usque ad lineam quae in F ducta est, intellegantur pruina obriguisse perpetua: Est enim superior septentrionalis, inferior australis extremitas. Medium uero, ab N usque in L, zona sit torrida. Restat ut cingulus ab I usque ad N de subiecto calore et superiore frigore temperetur, rursus ut zona quae est inter L et F accipiat de superiecto calore et subdito rigore temperiem. 5,15 Nec excogitatas a nobis lineas quas duximus aestimetur: Circi sunt enim de quibus supra rettulimus, septentrionalis et australis et tropici duo. Nam aequinoctialem hoc loco quo de terra loquimur non oportet adscribi, qui opportuniore loco rursus addetur.* 5,16 Licet igitur sint hae »duae mortalibus aegris munere concessae diuum« quas diximus temperatas, non tamen ambae zonae hominibus nostri generis indultae sunt, sed sola superior, quae est ab I usque ad N,

* Siehe Abbildung 5, S. 369

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5,11 Die äußersten Regionen im Süden und im Norden sind nämlich in ewigem Eis erstarrt; das sind zwei der sogenannten Gürtel, von denen die Erde umgeben ist; da sie die extremen Regionen umgeben, sind sie von geringem Umfang. Beide sind unbewohnbar, weil das starre Eis weder tierisches noch pflanzliches Leben zulässt; ein Körper gedeiht ja in demselben Klima, das die Pflanze nährt. 5,12 Der mittlere und daher umfänglichste Gürtel ist verbrannt vom andauernden Zustrom stetig heißer Luft, und die übergroße Hitze macht seinen weit in die Länge und Breite ausgedehnten Raum für Lebewesen unbewohnbar.61 Zwischen den beiden extremen und der zentralen Zone erstrecken sich zwei weitere, größer als jene und kleiner als diese, die durch die gegensätzlichen extremen Temperaturen ihrer beiden Nachbarzonen temperiert werden, und nur in diesen gewährt die Natur den Bewohnern ein lebensförderliches Klima.62 5,13 Und weil sich der Vorstellung leichter ein visuell als ein nur deskriptiv vermitteltes Konzept einprägt, sei die Erde definiert als ein Kreis durch die Punkte A B C und D; A sei flankiert von den Punkten N und L, B von M und K, C von G und I, und D von E und F. Sodann ziehen wir waagrechte Linien zwischen den genannten Punkten, also von G nach I, von M nach N, von K nach L und von E nach F. 5,14 Die beiden extremen und entgegengesetzten Flächen, also die zwischen C und der Linie GI beziehungsweise die zwischen D und der Linie EF seien die vor ewigem Eis starrenden Randzonen, und zwar die obere, die nördliche, und die untere, die südliche. Die mittlere von N bis L sei die heiße Zone. Es ergibt sich, dass die Zone zwischen I und N von der Hitze der unter ihr und der Kälte der über ihr liegenden Zone temperiert wird, ebenso wie die Zone zwischen L und F ihr gemäßigtes Klima von der Hitze der Zone über ihr und der Kälte der Zone unter ihr empfängt.63 5,15 Du solltest nicht glauben, dass diese Linien Produkt unserer Phantasie sind; tatsächlich sind sie die Kreise, über die wir oben gesprochen haben, nämlich der arktische und der antarktische sowie die beiden Wendekreise.64 Der Äquator gehört nicht in die momentane Besprechung der Erde und wird an geeigneterer Stelle wieder Berücksichtigung finden. 5,16 Mögen nun auch die beiden sogenannten temperierten Zonen »den elenden Sterblichen von den Göttern zum Geschenk gemacht worden« sein,65 sind dennoch nicht beide den Menschen unserer Art überge-

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incolitur ab omni quale scire possumus hominum genere, Romani Graeciue sint uel barbari cuiusque nationis. 5,17 Illa uero ab L usque ad F sola ratione intellegitur quod propter similem temperiem similiter incolatur; sed a quibus neque licuit umquam nobis nec licebit agnoscere: Interiecta enim torrida utrique hominum generi commercium ad se denegat commeandi. 5,18 Denique de quattuor habitationis nostrae cardinibus oriens, occidens et septentrio suis uocabulis nuncupantur, quia ab ipsis exordiis suis sciuntur a nobis (nam etsi septentrionalis extremitas inhabitabilis est, non multo tamen est a nobis remota). 5,19 Quarto uero nostrae habitationis cardini causa haec alterum nomen dedit, ut meridies, non australis uocaretur, quia et ille est proprie australis qui de altera extremitate procedens aduersus septentrionali est, et hunc meridiem iure uocitari facit locus de quo incipit nobis: Nam quia sentiri incipit a medio terrae in qua est usus diei, ideo tamquam quidam medidies una mutata littera meridies nuncupatus est. 5,20 Sciendum est autem quod uentus qui per hunc ad nos cardinem peruenit, id est auster, ita in origine sua gelidus est ut apud nos commendabilis est blando rigore septentrio; sed quia per flammam torridae zonae ad nos commeat, admixtus igni calescit et qui incipit frigidus, calens peruenit. 5,21 Neque enim uel ratio uel natura pateretur ut ex duobus aequo pressis rigore cardinibus dissimili tactu flatus emitterentur. Nec dubium est nostrum quoque septentrionem ad illos qui australi adiacent propter eandem rationem calidum peruenire, et austrum corporibus eorum genuino aurae suae rigore blandiri.

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ben worden; lediglich die obere zwischen I und N wird bewohnt von der Gesamtheit der Menschen, von denen wir Kenntnis haben können, seien sie Römer, Griechen oder Barbaren jedweder Abkunft. 5,17 Von der Zone zwischen L und F dagegen ist es ausschließlich aus Vernunftgründen plausibel, dass sie wegen ihres ähnlichen gemäßigten Klimas ebenfalls bewohnt wird, jedoch von welchen Menschen, konnte man niemals wissen und wird es niemals wissen können. Denn die dazwischenliegende heiße Zone macht für die beiden Menschengruppen jeden gegenseitigen Verkehr unmöglich.66 5,18 Von den vier Himmelsrichtungen unseres Lebensraumes werden der Osten, der Westen und der Norden mit ihren Eigennamen bezeichnet, weil wir sie von ihren Ursprungspunkten her kennen; denn wenn auch der äußerste Norden unbewohnbar ist, so ist er doch nicht weit entfernt von uns. 5,19 Die vierte Himmelsrichtung hat einen übertragenen Namen, denn sie wird »Mittag« und nicht »Süden« genannt, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist der Süden im eigentlichen Sinne jener Punkt, der in der gegenüberliegenden äußersten Zone in Opposition zum Nordpol liegt, zum anderen verleiht der Ort, an dem der Südpunkt für uns wahrnehmbar wird, ihm zu Recht die Bezeichnung »Mittag«. Der Süden ist für uns nämlich nur mit dem Mittelpunkt der von der Sonne beschienenen Erde identifizierbar. Daher wurde er gleichsam medidies, »Tagesmitte«, genannt, woraus unter Austausch eines Buchstabens meridies wurde.67 5,20 Man muss aber wissen, dass der Wind, der aus dieser Himmelsrichtung zu uns gelangt, also der Südwind, an seinem Ursprung kalt ist, so wie unser Nordwind, der uns mit seiner angenehmen Kühle erfreut. Aber weil er auf seinem Weg zu uns die Gluthitze der heißen Zone durchzieht, heizt er sich auf und kommt trotz seines kalten Ursprungs bei uns als heißer Wind an. 5,21 Denn sonst wäre es unlogisch und naturwidrig, dass Winde, deren Ausgangspunkt in der gleichen Froststarre der beiden Pole liegt, sich so unterschiedlich anfühlen. Es gibt auch keinen Zweifel, dass unser Nordwind aus demselben Grund bei den Bewohnern der südlichen gemäßigten Zone warm ankommt, und dass sie sich umgekehrt an der natürlichen Kühle des aus Süden wehenden Windes erquicken.

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5,22 Eadem ratio nos non permittit ambigere quin per illam quoque superficiem terrae, quae ad nos habetur inferior, integer zonarum ambitus quae hic temperatae sunt eodem ductu temperatus habeatur, atque ideo illic quoque eaedem duae zonae a se distantes similiter incolantur. 5,23 Aut dicat quisquis huic fidei obuiare mauult, quid sit quod ab hac eum definitione deterreat. Nam si nobis uiuendi facultas est in hac terrarum parte, quam colimus, quia calcantes humum caelum suspicimus super uerticem, quia sol nobis et oritur et occidit, quia circumfuso fruimur aere cuius spiramus haustu, cur non et illic aliquos uiuere credamus ubi eadem semper in promptu sunt? 5,24 Nam qui ibi dicuntur morari eandem credendi sunt spirare auram, quia eadem est in eiusdem zonalis ambitus continuatione temperies; idem sol illis et obire dicetur nostro ortu et orietur cum nobis occidet; calcabunt aeque ut nos humum, et super uerticem semper caelum uidebunt; 5,25 nec metus erit ne de terra in caelum decidant, cum nihil umquam possit ruere sursum. Si enim nobis, quod adserere genus ioci est, iusum habetur ubi est terra et susum ubi caelum, illis quoque susum erit quod de inferiore suspicient, nec aliquando in superna casuri sunt. 5,26 Adfirmauerim quoque et apud illos minus rerum peritos hoc aestimare de nobis nec credere posse nos in quo sumus loco degere, sed opinari, si quis sub pedibus eorum temptaret stare, casurum. Numquam tamen apud nos quisquam timuit ne caderet in caelum, ergo nec apud illos quisquam in superiora casurus est, sicut »omnia nutu suo pondera« in terram ferri superius relata docuerunt.

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Antöken, Antipoden und Periöken 5,22 Dieselbe Logik erlaubt auch keinen Zweifel, dass auf der Oberfläche der Erdhälfte, deren Existenz wir unterhalb von uns voraussetzen, die Zonen, die unseren gemäßigten entsprechen, ebenfalls in voller Ausdehnung und in denselben Grenzen als gemäßigt anzusehen sind und dass dementsprechend die beiden Zonen so weit auseinanderliegen wie hier und ebenfalls bewohnt sind.68 5,23 Falls jemand dieser Überzeugung entgegentreten möchte, mag er erklären, was ihn unsere Beschreibung verwerfen lässt. Denn wenn uns das Leben auf dem von uns bewohnten Teil der Erde gewährt ist, weil wir auf dem Boden stehen und zum Himmel über uns aufblicken, weil die Sonne für uns auf- und untergeht, weil wir die uns umgebende Luft genießen, die uns atmen lässt, warum sollten wir dann nicht annehmen, dass auch dort Menschen leben, wo dieselben Mittel beständig bereitstehen?69 5,24 Denn man muss annehmen, dass die Menschen, deren Existenz dort vorausgesetzt wird, ebenfalls die Luft einatmen, weil dasselbe gemäßigte Klima in der entsprechenden Zone und über deren gesamte Ausdehnung herrscht; dieselbe Sonne dürfte für sie untergehen, wenn sie für uns aufgeht, und aufgehen, wenn sie für uns untergeht;70 sie werden wie wir auf der Erde stehen und den Himmel zu ihren Häupten sehen. 5,25 Es steht auch nicht zu befürchten, dass sie in den Himmel abstürzen, da ja niemals etwas nach oben fallen kann. Wenn nämlich für uns »unten« die Erde ist und »oben« der Himmel – lachhaft, wenn man derlei eigens feststellen müsste – dann wird auch für sie »oben« sein, wohin sie von unten aufblicken, und sie werden keine Miene machen, in die Höhe zu fallen. 5,26 Ich möchte sogar behaupten, dass es auch bei ihnen ungebildete Leute gibt, die derlei Mutmaßungen über uns hegen, und die sich nicht vorstellen können, dass wir in unserer Weltgegend leben können, sondern vermuten, dass jemand unterhalb von ihnen, der versuchte, aufrecht zu stehen, fallen müsste. Und dennoch hatte bei uns nie jemand Angst, in den Himmel zu fallen, und folglich wird auch bei jenen niemand in die Höhe fallen, entsprechend dem oben mitgeteilten Lehrsatz, dass »alle Dinge von Gewicht durch ihre Schwerkraft« zur Erde streben.71

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5,27 Postremo quis ambigat in sphaera terrae ea quae inferiora dicuntur superioribus suis esse contraria, ut est oriens occidenti? Nam in utraque parte par diametros habetur. Cum ergo et orientem et occidentem similiter constet habitari, quid est quod fidem huius quoque diuersae sibi habitationis excludat? 5,28 Haec omnia non otiosus lector in tam paucis uerbis Ciceronis inueniet. Nam cum dicit terram cingulis suis »redimitam atque circumdatam«, ostendit per omne terrae corpus eandem temperatorum cingulorum continuatam esse temperiem; et cum ait in terra maculas habitationum uideri, non eas dicit quae in parte nostrae habitationis non nullis desertis locis interpositis incoluntur. 5,29 Non enim adiceret »in ipsis [. . . ] maculis [. . . ] uastas solitudines interiectas«, si ipsas solitudines diceret, inter quas certae partes macularum instar haberentur, sed quia maculas dicit has quattuor quas in duobus terrae hemisphaeriis binas esse ratio monstrauit, bene adiecit »interiectas solitudines«. 5,30 Nam sicut pars quae habitatur a nobis multa solitudinum interiectione distinguitur, credendum est in illis quoque tribus aliis habitationibus similes esse inter deserta et culta distinctiones. 5,31 Sed et quattuor habitationum incolas et relatione situs et ipsa quoque standi qualitate depinxit. Primum enim ait alios praeter nos ita incolere terram ut a se interrupti nullam meandi ad se habeant facultatem, et uerba ipsa declarant non eum de uno hominum genere loqui in hac superficie a nobis solius torridae interiectione diuiso. Sic enim magis diceret »ita interruptos ut nihil ab illis ad uos manare possit«, sed dicendo

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5,27 Wer könnte schließlich bezweifeln, dass auf der Erdkugel die sogenannten unteren Regionen den entsprechenden oberen axialsymmetrisch gegenüberstehen, wie es der Westen gegenüber dem Osten tut? Der Erddurchmesser ist ja überall gleich groß. Wenn also feststeht, dass der Osten und der Westen der Erde gleichermaßen bewohnt sind,72 was sollte den Glauben daran erschüttern, dass auch Wohnstätten von Menschen existieren, die den nördlichen diametral gegenüberliegen? 5,28 Das alles wird der aufmerksame Leser in diesen wenigen Worten Ciceros auffinden. Denn wenn Cicero sagt, dass die Erde von ihren Gürteln »umgeben und umwunden« sei, zeigt er uns, dass auf dem ganzen Körper der Erde die gemäßigten Zonen kontinuierlich dasselbe milde Klima haben. Und wenn er sagt, auf der Erde zeigten sich »Siedlungsflecken«, meint er nicht die in unserer Weltgegend, die durch viele wüste Regionen voneinander getrennt sind. 5,29 Denn wenn er die öden Gegenden meinte, innerhalb derer bestimmte Siedlungen wie Flecken auftreten, würde er nicht ausdrücklich sagen »zwischen diesen Flecken liegen ausgedehnte Einöden«. Mit »Flecken« bezeichnet er vielmehr die vier Siedlungsgebiete auf der Erde, von denen eine vernünftige Beweisführung gezeigt hat, dass je zwei auf den beiden Hemisphären der Erde existieren; und deswegen spricht er zutreffend von der »ausgedehnten Wildnis zwischen ihnen«.73 5,30 Denn wie der von uns bewohnte Teil der Erde durch viele unbesiedelte Flächen gekennzeichnet ist, muss man auch annehmen, dass bei den drei anderen bewohnten Weltgegenden ähnliche Unterschiede zwischen kultiviertem und unkultiviertem Land bestehen. 5,31 Cicero hat aber auch die Bewohner der vier bewohnbaren Zonen beschrieben und zwar hinsichtlich ihrer relativen Position und der Eigenschaften ihres Standorts.74 Zuerst nämlich sagt er, dass andere Menschen außer uns die Erde bewohnen, und zwar in Isolation voneinander und ohne die Möglichkeit des Verkehrs untereinander. Der Wortlaut zeigt, dass er dabei nicht von nur einer Gruppe von Menschen spricht, die auf unserer Seite75 der Erde lebt und nur durch die unüberwindliche heiße Zone von uns getrennt ist. Denn dann würde er eher sagen: »derart isoliert, dass keine Kunde von ihnen zu Euch dringen kann«; aber mit den Worten »derart isoliert, dass unter ihnen keine Kunde von den einen zu den

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»ita interruptos [. . . ] ut nihil inter ipsos ab aliis ad alios manare possit«, qualiter inter se illa hominum genera sint diuisa significat. 5,32 Quod autem uere ad nostram partem referretur, adiecit dicendo de illis qui et a nobis et a se in uicem diuisi sunt: »partim obliquos, partim transuersos, partim etiam aduersos stare« nobis. Interruptio ergo non unius generis a nobis, sed omnium generum a se diuisorum refertur, quae ita distinguenda est. 5,33 Hi quos separat a nobis perusta, quos Graeci Çnto–kouc uocant, similiter ab illis qui inferiorem zonae suae incolunt partem, interiecta australi gelida separantur; rursus illos ab antoecis suis, id est per nostri cinguli inferiora uiuentibus, interiectio ardentis sequestrat, et illi a nobis septentrionalis extremitatis rigore remouentur.* 5,34 Et quia non est una omnium adfinis continuatio, sed interiectae sunt solitudines ex calore uel frigore mutuum negantibus commeatum, has terrae partes quae a quattuor hominum generibus incoluntur ›maculas habitationum‹ uocauit. 5,35 Quemadmodum autem ceteri omnes uestigia sua figere ad nostra credantur, ipse distinxit, et australes quidem aperte pronuntiauit aduersos stare nobis dicendo »quorum australis ille, in quo qui insistunt aduersa uobis urguent uestigia«: et ideo aduersi nobis sunt quia in parte sphaerae quae contra nos est morantur. 5,36 Restat inquirere quos transuersos et quos obliquos nobis stare memorauit, sed nec de ipsis potest esse dubitatio quin transuersos nobis stare dixerit inferiorem zonae nostrae partem tenentes, obliquos uero eos qui australis cinguli deuexa sortiti sunt.

* Siehe Abbildung 6, S. 369

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anderen gelangen kann« drückt er aus, wie jene anderen Menschengruppen voneinander getrennt sind. 5,32 In Relation aber zu unserem Teil der Erde im Besonderen spricht er von Menschengruppen, die von uns, aber auch gegenseitig isoliert sind, und sagt, dass »sie teils in schräger, teils in seitlicher Relation, teils sogar in Opposition zu uns stehen«. Er redet also nicht von der Trennung einer einzigen Menschengruppe von uns, sondern von der gegenseitigen Trennung aller von allen. Dafür gilt folgende Einteilung: 5,33 Die Menschen, die von uns durch die heiße Zone getrennt sind, werden von den Griechen äntoikoi, »Gegenwohner«, genannt; die sind von den Antipoden getrennt, die den unteren Teil ihrer Zone bewohnen, und zwar durch die dazwischenliegende kalte südliche Zone. Diese wiederum trennt von ihren eigenen Antöken, d.h. unseren Periöken, die im unteren Bereich unserer Zone leben, die heiße Zone, und die wiederum sind von uns getrennt durch die nördliche kalte Zone.76 5,34 Und weil es keine direkte Nachbarschaft zwischen ihnen gibt, sondern die wüsten Bereiche, die dazwischenliegen, mit ihrer Hitze oder Kälte einen wechselseitigen Verkehr unterbinden, hat Cicero die Teile der Erde, die von den vier Menschengruppen bewohnt werden, »Siedlungsflecken« genannt. 5,35 Was die Weise betrifft, in der, wie man annimmt, die übrigen Erdbewohner ihre Füße gegen uns stellen, hat er sie ebenfalls präzisiert und klar gesagt, dass jedenfalls die Menschen im Süden uns entgegengesetzt stehen, mit den Worten: »Die südliche Zone, deren Bewohner euch gegenüber ihre Schritte setzen«. Sie sind deswegen in Opposition zu uns, weil sie auf dem Teil der Erdkugel wohnen, der uns entgegengesetzt ist. 5,36 Es bleibt noch zu fragen, von wem er sagt, ihr Platz sei seitlich von uns (transversi) beziehungsweise uns diametral gegenüber (obliqui). Aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er meint, dass die transversi den unteren Bereich unserer gemäßigten Zone besetzen, die obliqui aber den sich nach unten wölbenden Bereich der südlichen Zone.77

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6,1 Superest ut de terrae ipsius spatiis, quanta habitationi cesserint, quanta sint inculta referamus, id est quae sit singulorum dimensio cingulorum. Quod ut facile dinoscas, redeundum tibi est ad orbis terrae descriptionem quam paulo ante subiecimus, ut per adscriptarum litterarum notas ratio dimensionum lucidius explicetur. 6,2 Omnis terrae orbis, id est circulus qui uniuersum ambitum claudit, cui adscripta sunt A B C D, ab his qui eum ratione dimensi sunt in sexaginta diuisus est partes. 6,3 Habet autem totus ipse ambitus stadiorum ducenta quinquaginta duo milia. Ergo singulae sexagesimae extenduntur stadiis quaternis milibus ducenis. Et sine dubio medietas eius, quae est a D per orientem, id est per A usque ad C, habet triginta sexagesimas et stadiorum milia centum uiginti sex. Quarta uero pars, quae est ab A usque ad C, incipiens a medio perustae, habet sexagesimas quindecim et stadiorum milia sexaginta et tria. Huius quartae partis mensura relata constabit totius ambitus plena dimensio. 6,4 Ab A igitur usque ad N, quod est medietas perustae, habet sexagesimas quattuor, quae faciunt stadiorum milia sedecim cum octingentorum adiectione. Ergo omnis perusta sexagesimarum octo est, et tenet stadiorum milia triginta tria et sescenta insuper. 6,5 Latitudo autem cinguli nostri qui temperatus est, id est ab N usque ad I, habet sexagesimas quinque, quae faciunt stadiorum milia uiginti unum; et spatium frigidae, ab I usque ad C, habet sexagesimas sex, quae tenent stadiorum uiginti quinque milia ducenta. 6,6 Ex hac quarta parte orbis terrarum, cuius mensuram euidenter expressimus, alterius quartae partis magnitudinem ab A usque ad D pari dimensionum distinctione cognosces. Cum ergo quantum teneat sphaerae superficies quae ad nos est in omni sua medietate cognoueris, de mensura quoque inferioris medietatis, id est a D per B usque ad C, similiter instrueris. 6,7 Modo enim quia orbem terrae in plano pinximus, in plano autem medium exprimere non possumus sphaeralem tumorem, mutuati sumus latitudinis intellectum a circulo qui magis horizon quam meridianus uide-

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Die Dimensionen der Zonen auf der Erde 6,1 Es bleibt uns noch, über die Räume auf der Erde zu sprechen, darüber, wie viele von ihnen für Besiedelung geeignet sind und wie viele wüst liegen; wir sprechen also über die Dimensionen der einzelnen Zonen. Und damit du leichter folgen kannst, musst du zu unserer Skizze der Erde von vorhin zurückgehen; mit Hilfe der darauf eingezeichneten Markierungen wird die Berechnung der Dimensionen klarer werden.78 6,2 Der ganze Erdball, das heißt, der Kreis, der seinen Gesamtumfang repräsentiert und den wir mit den Markierungsbuchstaben ABCD gekennzeichnet haben, wurde von denen, die seinen Umfang berechnet haben, in sechzig Teile unterteilt. 6,3 Der gesamte Erdumfang beträgt aber 252000 Stadien. Daher hat jedes Sechzigstel eine Ausdehnung von 4200 Stadien. Und zweifellos beträgt der halbe Erdumfang, der sich von D nach Osten durch A bis C erstreckt, dreißig Sechzigstel gleich 126000 Stadien. Das Viertelsegment von A bis C, das in der Mitte der heißen Zone beginnt, umfasst fünfzehn Sechzigstel gleich 63000 Stadien. Wenn die Maße für dieses Segment ermittelt sind, stehen auch die Maße der gesamten Erdsphäre fest. 6,4 Von A bis N, die Hälfte der heißen Zone also, beträgt die Distanz vier Sechzigstel gleich 16800 Stadien. Die gesamte heiße Zone umfasst also acht Sechzigstel gleich 33600 Stadien. 6,5 Die Ausdehnung unserer Zone aber, der von N bis I, beträgt fünf Sechzigstel gleich 21000 Stadien, und der Raum der kalten Zone, I bis C, umfasst 6 Sechzigstel gleich 25200 Stadien. 6,6 Aus den Ausmaßen dieses Viertelsegments des Erdumfangs, die wir nun klar festgestellt haben, kann man durch Anwendung derselben Werte auch die Größe des nächsten Segments von A bis D ableiten. Und wenn man so die Ausmaße unserer Erdhalbkugel ermittelt hat, welche die Hälfte des Gesamtumfangs einnimmt, kann man entsprechend auch die Dimensionen der unteren Halbkugel von D über B nach C feststellen.79 6,7 Nun haben wir die Erdkugel als Fläche gezeichnet, und deshalb können wir das Hervortreten der Erdwölbung nicht darstellen. Um aber eine Vorstellung von der Höhe dieser Wölbung zu geben, haben wir uns desjenigen Kreises bedient, der uns sonst eher als Horizont denn als Meri-

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tur. Ceterum uolo hoc mente percipias ita nos hanc protulisse mensuram tamquam a D per A usque ad C pars terrae superior sit cuius partem nos incolimus, et a D per B usque ad C pars terrae habeatur inferior. 7,1 Hoc quoque tractatu proprium sortito finem nunc illud quod probandum promisimus adseramus, hos cingulos et bene Maronem caelo et bene terrae adsignasse Ciceronem, et utrumque non discrepantia, sed consona eadem dixisse. 7,2 Natura enim caeli hanc in diuersis terrae partibus temperiem nimietatemque distinxit, et qualitas uel frigoris uel caloris, quae cuilibet aetheris parti semel inhaesit, eadem inficit partem terrae quam despicit ambiendo. 7,3 Et quia has diuersitates, quae certis finibus terminantur, cingulos in caelo uocauerunt, necesse est totidem cingulos etiam hic intellegi, sicut in breuissimo speculo cum facies monstratur ingens, tenent in angusto membra uel liniamenta ordinem quem sua in uero digesserat amplitudo. Sed hic quoque adserendi quod dicitur minuemus laborem oculis subiciendo picturam. 7,4 Esto enim caeli sphaera A B C D, et intra se claudat sphaeram terrae, cui adscripta sunt S X T V; et ducatur in caeli sphaera circulus septentrionalis ab I usque in O, tropicus aestiuus a G in P, et aequinoctialis a B in A, et tropicus hiemalis ab F in Q, et australis ab E in R; sed et zodiacus ducatur ab F in P; rursus, in sphaera terrae, ducantur idem limites cingulorum quos supra descripsimus, in N, in M, in L, in K.

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dian erscheint.80 Im Übrigen möchte ich, dass du im Kopf behältst, dass wir bei der Messung so vorgegangen sind, als ob das Segment von D über A nach C die obere Hälfte der Erdkugel, die wir bewohnen, sei, und die von D über B nach C als untere Halbkugel gilt.

Himmelszonen und Klimazonen 7,1 Nachdem wir auch dieses Thema ordnungsgemäß zu Ende geführt haben, wollen wir unser Versprechen einlösen und den Nachweis führen, dass die oben genannten Zonen zu Recht von Vergil dem Himmel und von Cicero der Erde zugewiesen wurden und dass zwischen beiden kein Dissens, sondern Übereinstimmung herrscht.81 7,2 Es ist nämlich die Natur des Himmels, welche für den Unterschied zwischen gemäßigtem und extremem Klima in den unterschiedlichen Zonen der Erde verantwortlich ist, und die jeweilige Hitze oder Kälte, die einem bestimmten Teil des Äthers zu eigen ist, beeinflusst auch den entsprechenden Teil der Erde, auf den der Himmel bei seiner Rotation herabblickt. 7,3 Und weil diese unterschiedlichen Himmelsregionen, die feste Grenzen aufweisen, Zonen genannt werden, muss man notwendigerweise ebenso viele Zonen hier auf der Erde annehmen, ähnlich wie wenn sich ein riesiges Gesicht in einem kleinen Spiegel zeigt und doch auf dieser kleinen Fläche seine Merkmale und Züge in derselben Anordnung bewahrt wie in seiner originalen Größe.82 Auch hier wollen wir die Mühe verringern, die unsere Beweisführung dem Leser abverlangt, indem wir ein Diagramm vorlegen.83 7,4 Es sei die Himmelssphäre bestimmt durch die Punkte ABCD, und sie schließe die Sphäre der Erde ein, die mit SXTV gekennzeichnet ist; sodann werde in der Himmelssphäre der arktische Kreis durch die Punkte I und O gezogen, der Wendekreis des Sommers durch G und P, der Äquator durch B und A, der Wendekreis des Winters durch F und Q, der antarktische Kreis durch E und R, der Zodiakus gehe durch die Punkte F und P. Auf der Erdkugel seien die oben beschriebenen Zonen abgegrenzt und markiert durch die Buchstaben NMLK.

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7,5 His depictis, sine difficultate constabit singulas terrae partes a singulis caeli partibus super uerticem suum positis qualitatem circa nimietatem uel temperiem mutuari. Nam quod est susum a D usque ad R, hoc despicit terrae ab S usque ad K; et quod est in caelo ab R usque ad Q, hoc inficit terrae a K usque ad L; et quod in caelo est a Q usque in P, tale facit in terra ab L usque ad M; qualeque est desuper a P usque ad O, tale in terra ab M usque ad N: Et quale illic ab O usque ad C, tale hic est ab N usque ad T. 7,6 Sunt autem in aethere extremitates ambae, id est a D usque ad R et a C usque ad O, aeterno rigore densetae; ideo in terra idem est ab S usque ad K et a T usque ad N. Rursus in caelo a Q usque ad P nimio calore feruet; ideo in terra quoque ab L usque ad M idem feruor est. Item sunt in caelo temperies, ab O usque ad P, et a Q in R; ideo hic quoque sunt temperatae, ab N in M, et ab L in K. Aequinoctialis enim circulus, qui ab A usque ad B ductus est, mediam secat perustam.* 7,7 Et ipsum autem scisse Ciceronem quod terreni cinguli caelestibus inficiantur, ex uerbis eius ostenditur. Ait enim: »e quibus duos maxime inter se diuersos et caeli uerticibus ipsis ex utraque parte subnixos obriguisse pruina uides«. Ecce testatur finale frigus esse de caelo. 7,8 Idem quoque de feruore medio dicit: »medium autem illum et maximum solis ardore torreri«. Cum ergo manifeste et rigorem de caeli uerticibus et feruorem de sole in terrae cingulos uenire signauerit, ostendit prius in caelo hos eosdem cingulos constitisse. 7,9 Nunc quoniam constitit easdem in caelo et in terra zonas esse uel cingulos – haec enim unius rei duo sunt nomina – iam dicendum est quae causa in aethere hanc diuersitatem qualitatis efficiat. 7,10 Perusta duobus tropicis clauditur: id est a G in P, aestiuo, et ab F in Q, hiemali. Ab F autem in P zodiacum describendo perduximus; ergo signum P tropicus ille Cancer habeatur et signum F Capricornus. Constat autem solem neque sursum ultra Cancrum neque ultra Capricornum deor-

* Siehe Abbildung 7, S. 370

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7,5 Anhand dieser Abbildung lässt sich mühelos zeigen, dass die einzelnen Zonen der Erde die extreme oder gemäßigte Qualität ihres Klimas den entsprechenden Himmelszonen direkt über ihnen verdanken. Denn die Himmelszone zwischen D und R steht über der Erdzone von S bis K, die Himmelszone von R bis Q beeinflusst das Klima der Erdzone K bis L, die Himmelszone von Q bis P das der Erdzone L bis M; dem Himmelsklima in der Zone PO entspricht auf der Erde das in der Zone MN, und jenem in der Zone OC schließlich hier das in der Zone NT. 7,6 Es gibt aber am Himmel zwei extreme Zonen, nämlich die Zonen DR und CO, die im ewigen Frost erstarrt sind, und deswegen gilt auf der Erde dasselbe für die Zonen SK und TN. Umgekehrt glüht die Himmelszone QP vor sengender Hitze, und deswegen herrscht auch in der Erdzone LM dieselbe Hitze vor. Entsprechend gibt es im Himmel die gemäßigten Zonen OP und QR, und deswegen gibt es auch bei uns zwei gemäßigte, nämlich NM und LK. Der Äquinoktialkreis von A nach B aber durchschneidet die heiße Zone in der Mitte. 7,7 Dass auch Cicero wusste, dass die Zonen der Erde unter dem Einfluss der Himmelszonen stehen, lässt sich an seinen eigenen Worten zeigen. Er sagt nämlich »die beiden am weitesten voneinander entfernten und unter den beiden Himmelspolen liegenden Zonen siehst du in Frost erstarrt«. Also erklärt er, dass die Kälte der Polarzonen vom Himmel kommt. 7,8 Ebenso sagt er, dass »die mittlere und breiteste Zone in der Glut der Sonne dorrt«. Indem er also klar zum Ausdruck bringt, dass die Kälte von den Himmelspolen und die Hitze von der Sonne auf die Zonen der Erde gelangt, weist er darauf hin, dass die Existenz der entsprechenden Zonen im Himmel primär ist. 7,9 Nachdem somit festgestellt ist, dass dieselben Zonen oder Gürtel – das sind nur zwei Wörter für dieselbe Sache – am Himmel und auf der Erde existieren, müssen wir den Grund benennen, der im Äther für die unterschiedliche Qualität des Klimas verantwortlich ist. 7,10 Die heiße Zone wird durch die beiden Wendekreise begrenzt, den des Sommers (GP) und den des Winters (FQ).84 Von F nach P haben wir außerdem den Zodiakus eingezeichnet; von diesen Punkten soll P das tropische Gestirn des Krebses und F das des Steinbocks bezeichnen. Es ist nun bekannt, dass die Sonne niemals höher als zum Krebs auf- und nie-

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sum meare, sed cum ad tropicorum confinia peruenerit, mox reuerti, unde et solstitia uocantur. 7,11 Et quia aestiuus tropicus temperatae nostrae terminus est, ideo, cum sol ad ipsum finem uenerit, facit nobis aestiuos calores de uicino urens sensu maiore subiecta. Illo denique tempore australi generi reuerti hiemem non potest ambigi, quia tunc ab illis sol omni uiae suae spatio recedit. Rursus cum ad F signum, id est ad Capricornum, uenerit, facit nobis hiemem recessu suo et illis uicinitate reducit aestatem. 7,12 Hic notandum est de tribus tantum cardinibus in quamcumque aedem ingredi solem, de quarto numquam. Nam et ab ortu et ab occasu fenestra solem recipit, quippe quem orientem obeuntemque prospectet; recipit et a meridie, quia omne iter solis in nostro meridie est, ut instruit uisum antelata descriptio. Numquam uero solem fenestra septentrionis admittit, quia numquam a P signo ad O sol accedit, sed a P semper retrocedendo numquam fines poli septentrionalis attingit, et ideo numquam per hunc cardinem radius solis infunditur. 7,13 Eiusdem rei probationem umbra quoque cuiuslibet corporis sufficiet adstruere. Nam et in occasum cadit oriente sole, et in ortum cum fit occiduus; medio autem die, quia sol meridiem tenet, in septentrionem umbra depellitur. In austrum uero circa nostram habitationem impossibile est umbram cuiuslibet corporis cadere, quia semper in aduersam soli partem umbra iactatur. Aduersus autem austro apud nos sol esse non poterit, cum numquam fines septentrionalis attingat. 7,14 Sane quoniam pars illa perustae quae temperatae uicina est admittit habitantes, illic, id est trans tropicum, quaecumque habitantur spatia umbram mittunt in austrum eo tempore quo sol Cancrum tenet. Tunc enim fit eis sol septentrionalis cum tropicum tenet, quod ab illis ad septentrionem recedit.

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mals tiefer als zum Steinbock absteigt, sondern umkehrt, sobald sie die Wendekreise erreicht hat, die man daher auch die Punkte der Sonnwende nennt.85 7,11 Und da der Wendekreis des Sommers die Grenze unserer gemäßigten Zone ist, bringt uns die Sonne, wenn sie diese Grenze erreicht hat, die Hitze des Sommers und sengt aus der Nähe umso empfindlicher alles, was unter ihr liegt. Dass zur selben Zeit für die Menschen im Süden der Winter zurückkehrt, ist nicht zu bezweifeln, denn die Sonne ist ja dann auf ihrer Bahn am weitesten von ihnen entfernt. Und wenn umgekehrt die Sonne zum Punkt F, dem Steinbock, gelangt ist, bringt ihre Entfernung von uns hier den Winter und ihre Nähe zu jenen dort den Sommer.86 7,12 Es ist an diesem Punkt anzumerken, dass die Sonne nur aus drei Himmelsrichtungen in ein Haus hineinscheinen kann, aber niemals aus der vierten. Fenster, die nach Osten und Westen gehen, nehmen das Licht der auf- beziehungsweise untergehenden Sonne auf; Südfenster lassen ebenfalls ihr Licht ein, weil die Sonne ihre ganze Bahn im Süden von uns zurücklegt, wie unser obiges Diagramm veranschaulicht. Nordfenster empfangen nie Sonnenlicht, weil die Sonne niemals von P nach O zieht, sondern immer bei P umkehrt, ohne jemals die Region des Nordpols zu erreichen; und deswegen kommt aus dieser Himmelsrichtung nie Sonnenlicht ins Haus. 7,13 Dasselbe kann auch schon hinreichend durch den Schatten eines beliebigen Körpers nachgewiesen werden. Denn beim Sonnenaufgang fällt er nach Westen, nach Osten beim Untergang. Zur Mittagszeit aber, wenn die Sonne im Süden steht, fällt er nach Norden. Nach Süden aber kann in unserer Weltgegend unmöglich der Schatten eines Körpers fallen, weil der seinen Schatten immer in die dem Sonnenstand entgegengesetzte Richtung wirft. In der dem Süden entgegengesetzten Richtung aber kann die Sonne bei uns nicht stehen, weil sie niemals die Grenze der nördlichen Zone erreicht. 7,14 Da aber der Saum der heißen Zone, der an die gemäßigte Zone grenzt, Besiedelung zulässt, werfen natürlich dort, jenseits des Wendekreises, alle bewohnten Plätze zu der Zeit, wo die Sonne im Krebs steht, ihren Schatten nach Süden. Wenn die Sonne nämlich den sommerlichen Wendekreis erreicht hat, steht sie für jene Menschen im Norden, weil sie von ihnen nach Norden zieht.

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7,15 Ciuitas autem Syene, quae prouinciae Thebaidos post superiorum montium deserta principium est, sub ipso aestiuo tropico constituta est; et eo die quo sol certam partem ingreditur Cancri, hora diei sexta, quoniam sol tunc super ipsum inuenitur uerticem ciuitatis, nulla illic potest in terram de quolibet corpore umbra iactari sed nec stilus hemisphaerii monstrantis horas, quem gnomona uocant, tunc de se potest umbram creare. 7,16 Et hoc est quod Lucanus dicere uoluit, nec tamen plene ut habetur absoluit. Dicendo enim »atque umbras numquam flectente Syene« rem quidem attigit, sed turbauit uerum. Non enim numquam flectit, sed uno tempore, quod cum sua ratione rettulimus. 7,17 His relatis constat solem numquam egredi fines perustae, quia de tropico in tropicum zodiacus obliquatus est. Manifesta est igitur causa cur haec zona flammis sit semper obnoxia, quippe quam sol totius aetheriae flammae et fons et administrator numquam relinquat. 7,18 Ergo ambae partes ultimae, id est septentrionalis et australis, ad quas numquam calor solis accedit, necessario perpetua premuntur pruina; duas uero, ut diximus, temperat hinc atque illinc uicinia caloris et frigoris. 7,19 Denique in hac ipsa zona quam incolimus, quae tota dicitur temperata, partes tamen quae perusto cingulo uicinae sunt ceteris calidiores sunt, ut est Aethiopia, Arabia, Aegyptus et Libya, in quibus calor ita circumfusi aeris corpus extenuat, ut aut numquam aut raro cogatur in nubes, et ideo nullus paene apud illos usus est imbrium. 7,20 Rursus quae ad frigidae fines pressius accedunt, ut est palus Maeotis, ut regiones quas praeterfluunt Tanais et Hister omniaque super Scythiam loca, quorum incolas uetustas Hyperboreos uocauit, quasi originem boreae introrsum recedendo transissent, adeo aeterna paene premuntur pruina ut non facile explicetur quanta sit illis frigidae nimietatis iniuria.

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7,15 Syene, die erste Stadt der Provinz Thebais, wenn man von Süden aus den menschenleeren Bergen des Hochlands kommt, liegt unmittelbar unter dem Wendekreis des Sommers. An dem Tag nun, wo die Sonne eine bestimmte Position im Krebs erreicht hat, kann zur Mittagszeit kein Körper einen Schatten werfen, weil ja die Sonne dann genau senkrecht über der Stadt steht. Auch der Zeiger einer Sonnenuhr, den man »Gnomon« nennt, kann dann keinen Schatten hervorbringen.87 7,16 Eben das wollte Lukan sagen, hat die Sache aber nicht ganz so getroffen, wie sie tatsächlich ist. Mit seinen Worten »Syene, das niemals den Schatten wendet« hat er nämlich die Realität gestreift, aber gleichzeitig verzerrt. Syene wendet den Schatten ja nicht »niemals«, sondern nur zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht, wie wir es mit der zugehörigen Begründung dargestellt haben.88 7,17 Aus unseren Anmerkungen wird klar, dass die Sonne niemals das Gebiet der heißen Zone verlässt, denn der Zodiakus erstreckt sich schräg von einem Wendekreis zum anderen. Es liegt also auf der Hand, warum diese Zone immer unter drückender Hitze liegt, da ja die Sonne, die Quelle und Verwalterin allen ätherischen Feuers, sie niemals verlässt. 7,18 Folglich leiden die beiden äußersten Zonen, die nördlichste und die südlichste, die von der Sonnenwärme nie erreicht werden, notwendigerweise unter Dauerfrost. Zwei Zonen aber werden, wie wir gesagt haben, von beiden Seiten durch die Wärme beziehungsweise Kälte der Nachbarzonen temperiert. 7,19 In der Zone schließlich, die wir bewohnen und die zur Gänze als gemäßigt gilt, ist doch der an die heiße Zone angrenzende Streifen – Äthiopien, Arabien, Ägypten und Libyen – heißer als der Rest, und dort ist die Atmosphäre von der Hitze so ausgedünnt, dass sie sich niemals oder nur selten zu Wolken kondensiert und Regenfälle ganz ungewöhnlich sind. 7,20 Umgekehrt steht es mit den Regionen, die nahe der Grenze zur kalten Zone liegen. Dazu gehört das Asowsche Meer, die Länder am Don, an der Donau und alle jenseits von Skythien, deren Bewohner in der Antike »Hyperboreer« genannt wurden, als ob sie sich ins Landesinnere jenseits des Ursprungs des Boreas zurückgezogen hätten:89 Alle diese Länder bedrückt nahezu ununterbrochener Frost, sodass schwer zu beschreiben ist, wie stark sie unter der extremen Kälte leiden müssen.

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7,21 Loca uero quae in medio temperata sunt, quoniam ab utraque nimietate longum recedunt, ueram tenent salutaremque temperiem. 8,1 Locus nos admonet ut – quoniam diximus rem quae a nullo possit refelli, utrumque tropicum circum zodiaco terminos facere, nec umquam solem alterutrum tropicum excedere posse uel sursum uel deorsum meando, trans zodiacum uero circum, id est trans ustam quae tropicis clauditur ex utraque parte, incipere temperatas – quaeramus quid sit quod ait Vergilius, quem nullius umquam disciplinae error inuoluit: duae mortalibus aegris munere concessae diuum, et uia secta per ambas obliquus qua se signorum uerteret ordo. 8,2 Videtur enim dicere his uersibus zodiacum per temperatas ductum, et solis cursum per ipsas fieri; quod nec opinari fas est, quia neutrum tropicum cursus solis excedit. Num igitur illud attendit quod diximus: Et intra tropicum in ea perustae parte quae uicina est temperatae habitatores esse? 8,3 Nam Syene sub ipso tropico est, Meroe autem tribus milibus octingentis stadiis in perustam a Syene introrsum recedit, et ab illa usque ad terram cinnamomi feracem sunt stadia octingenta; et per haec omnia spatia perustae, licet rari, tamen uita fruuntur habitantes, ultra uero iam inaccessum est propter nimium solis ardorem. 8,4 Cum ergo tantum spatii ex perusta uitam ministret, et sine dubio circa uiciniam alterius temperatae, id est antoecorum, tantundem spatii habere perustae fines parem mansuetudinem non negetur – paria enim in utraque parte sunt omnia –, ideo credendum est per poeticam tubam,

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7,21 Die gemäßigten Gegenden aber, die von beiden extremen Zonen gleich weit entfernt sind, erfreuen sich eines wahrhaft gesunden Klimas.

Diskussion eines Vergilproblems 8,1 An dieser Stelle müssen wir etwas klären. Wir haben ja gesagt – was wohl niemand widerlegen dürfte –, dass die beiden Wendekreise die Grenzen des Zodiakus sind und dass die Sonne sie weder auf ihrer Nord- noch auf ihrer Südbahn jemals überschreitet. Wir haben weiterhin gesagt, dass jenseits der Grenzen des Zodiakus, d.h. jenseits der heißen Zone, die beiderseits durch die Wendekreise begrenzt wird, die beiden temperierten Zonen beginnen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was Vergil, der ja niemals einem wissenschaftlichen Irrtum erliegt, mit den folgenden Worten meint: Zwei Zonen wurden der leidenden Menschheit von den Göttern geschenkt. Ein Weg schneidet durch beide, auf dem schräg die Reihe der Sternzeichen ziehen sollte.90 8,2 Er scheint mit diesen Worten ja zu sagen, dass der Zodiakus auch die temperierten Zonen durchziehe und dass die Sonne diese auf ihrer Bahn durchquere. Derlei Vorstellungen sind unzulässig, weil die Sonne keinen der Wendekreise überschreitet. Oder sollte er im Sinn gehabt haben, was wir oben gesagt haben, nämlich dass auch im Saum der heißen Zone innerhalb des Wendekreises, dort wo sie an die temperierte Zone angrenzt, Menschen leben? 8,3 Denn Syene liegt direkt unter dem Wendekreis, Meroe aber 3800 Stadien südlich davon in der heißen Zone, und von dort sind es bis ins Land, wo der Zimt gedeiht, noch einmal 800 Stadien. In diesem ganzen Saum der heißen Zone fristen Menschen ihr Leben, wenn auch nur in geringer Zahl. Das Land jenseits davon ist wegen der übermäßigen Sonnenhitze unzugänglich.91 8,4 Wenn also so tief in die heiße Zone hinein Leben möglich ist, dann ist ohne Zweifel festzustellen, dass sie auch an ihrem anderen Rand, bei den Antöken, in derselben Tiefe lebensermöglichende Bedingungen bietet;92 denn es herrscht ja Symmetrie auf ihren beiden Seiten. Muss man also annehmen, dass Vergil gleichsam durch die Tuba des Dichters, die ja

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quae omnia semper in maius extollit, dixisse uiam solis sectam per temperatas, quoniam ex utraque parte fines perustae in eo sunt similes temperatis, quod se patiuntur habitari? 8,5 An forte poetica licentia particulam pro simili paene particula posuit et pro »sub ambas« dicere maluit »per ambas«? Nam re uera ductus zodiaci »sub ambas« temperatas ultro citroque peruenit, non tamen »per ambas«; scimus autem et Homerum ipsum et in omnibus imitatorem eius Maronem saepe tales mutasse particulas. 8,6 An, quod mihi uero propius uidetur, »per ambas« pro »inter ambas« uoluit intellegi? Zodiacus enim inter ambas temperatas uoluitur, non per ambas. Familiariter autem »per« pro »inter« ponere solet, sicut alibi quoque: »circum perque duas in morem fluminis Arctos«. 8,7 Neque enim Anguis sidereus Arctos secat, sed dum et amplectitur et interuenit, circum eas et inter eas uoluitur, non per eas. Ergo potest constare nobis intellectus si »per ambas« pro »inter ambas« more ipsius poetae dictum existimemus. 8,8 Nobis aliud ad defensionem ultra haec quae diximus non occurrit. Verum quoniam in medio posuimus quos fines numquam uia solis excedat, manifestum est autem omnibus quid Maro dixerit, quem constat erroris ignarum, erit ingenii singulorum inuenire quid possit amplius pro absoluenda hac quaestione conferri. 9,1 His quoque ut arbitror non otiosa inspectione tractatis nunc de Oceano quod promisimus adstruamus, non uno sed gemino eius ambitu terrae corpus omne circumflui. Cuius uerus et primus meatus est qui ab indocto hominum genere nescitur. Is enim, quem solum Oceanum plures

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immer alles übersteigert,93 gesagt hat, die Sonne durchquere die temperierten Zonen, eben weil die heiße Zone an ihren beiden Rändern den gemäßigten Zonen darin ähnlich ist, dass sie Besiedelung zulässt? 8,5 Oder hat er vielleicht in dichterischer Freiheit statt der richtigen eine bedeutungsverwandte Präposition gewählt und statt sub ambas, »unterhalb der beiden (Zonen)«, lieber per ambas, »durch beide« gesagt?94 Denn tatsächlich ziehen die Gestirne des Zodiakus ja »unterhalb« der beiden temperierten Himmelszonen hin und her, aber nicht »durch« beide. Wir wissen ja, dass Homer selbst und auch Vergil, sein Nachahmer in allen Belangen, derlei Präpositionen oft ausgetauscht haben. 8,6 Oder wollte Vergil, was mir der Wahrheit näher zu kommen scheint, »durch beide« im Sinne von »zwischen beiden« verstanden wissen? Der Zodiakus zieht seine Kreisbahn ja zwischen beiden gemäßigten Zonen und nicht durch beide. Es ist nicht ungewöhnlich, dass er »durch« für »zwischen« verwendet; so sagt er auch an anderer Stelle: »um die beiden Bären und zwischen ihnen hindurch wie ein Fluss«.95 8,7 Der Drache durchschneidet ja die Bären nicht; er umgibt beide und zieht sich zwischen ihnen hindurch; er schlängelt sich um sie herum und zwischen ihnen, aber nicht durch sie. Wir kommen also zu einem Verständnis der Stelle, wenn wir annehmen, dass »durch beide« anstelle von »zwischen beiden« als dichterischer Ausdruck verwendet ist. 8,8 Etwas anderes als das zur Verteidigung dieser Stelle soeben Vorgebrachte ist uns nicht begegnet. Da wir aber deutlich gemacht haben, welche Grenzen die Bahn der Sonne niemals überschreitet, und andererseits es für jedermann handgreiflich ist, was Vergil, der bekanntlich keinen Irrtum kennt, geschrieben hat, ist es dem Einfallsreichtum des Einzelnen überlassen, herauszufinden, was er zur Lösung dieser Frage weiter beitragen könnte.

Der Ozean 9,1 Nach der, wie ich meine, nicht unnötigen Untersuchung dieser Frage wollen wir wie versprochen über den Ozean reden und zeigen, dass er den gesamten Erdball nicht in einem, sondern in zwei Strömen umfließt. Seine eigentliche und originäre Lage ist unkundigen Menschen

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opinantur, de sinibus ab illo originali refusis secundum ex necessitate ambitum fecit. 9,2 Ceterum prior eius corona per zonam terrae calidam meat, superiora terrarum et inferiora cingens, flexum circi aequinoctialis imitata. Ab oriente uero duos sinus refundit, unum ad extremitatem septentrionis, ad australis alterum, rursusque ab occidente duo pariter enascuntur sinus, qui usque ad ambas quas supra diximus extremitates refusi occurrunt ab oriente demissis. 9,3 Et dum ui summa et impetu immaniore miscentur in uicemque se feriunt, ex ipsa aquarum collisione nascitur illa famosa Oceani accessio pariter et recessio, et ubicumque in nostro mari contingit idem uel in angustis fretis uel in planis forte litoribus, ex ipsis Oceani sinibus quos Oceanum nunc uocamus, eueniunt, quia nostrum mare ex illis influit. 9,4 Ceterum uerior, ut ita dicam, eius alueus tenet zonam perustam, et tam ipse, qui aequinoctialem, quam sinus ex eo nati, qui horizontem circulum ambitu suae flexionis imitantur, omnem terram quadrifidam diuidunt et singulas, ut supra diximus, habitationis insulas faciunt. 9,5 Nam inter nos et australes homines means ille per calidam totamque cingens et rursus utriusque regionis extrema sinibus suis ambiens binas in superiore atque inferiore terrae superficie insulas facit. 9,6 Vnde Tullius hoc intellegi uolens non dixit »omnis terra parua quaedam est insula«, sed »omnis terra quae colitur a uobis parua quaedam est insula«, quia et singulae de quattuor habitationibus paruae quaedam efficiuntur insulae, Oceano bis eas, ut diximus, ambiente. 9,7 Omnia haec ante oculos locare potest descriptio substituta, ex qua et nostri maris originem, quae totius una est, et Rubri atque Indici ortum

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unbekannt. Was nämlich von den meisten Menschen allein für den Ozean gehalten wird, ist ein Meer, das dem tatsächlichen Ozean an dessen beiden Enden entströmt und so notwendigerweise einen zweiten Meeresarm ausbildet.96 9,2 Der primäre Strom des Ozeans durchfließt die heiße Erdzone zwischen der nördlichen und der südlichen Erdhalbkugel und folgt dabei ringsum dem Verlauf des Äquators. Im Osten teilt er sich in zwei Ströme, deren einer in den höchsten Norden, der andere in den tiefsten Süden fließt. Auch im Westen teilt er sich in zwei entsprechende Ströme, welche an den eben genannten Extrempunkten mit den beiden östlichen Strömen zusammentreffen. 9,3 So stoßen sie mit elementarer Wucht und ungeheurer Energie zusammen und strömen ineinander. Aus diesem Zusammenprall der Wassermassen entstehen die bekannten Gezeiten, das reguläre Anschwellen und Abebben des Ozeans. Wo immer die in unserem Meer beobachtbar sind, sei es in engen Meeresarmen oder an flachen Küstenstrichen, rühren sie von den Gezeiten der heutzutage als Ozean bezeichneten Meeresarme her, weil unser Meer sein Wasser von dort erhält.97 9,4 Aber das sozusagen tatsächliche Bett des Ozeans liegt in der heißen Zone. Und indem er in seinem Verlauf dem Äquator, die beiden aus ihm hervorgehenden Arme aber dem Kreis des Horizonts folgen,98 teilen sie die gesamte Erde in vier Bereiche und bringen so, wie oben gesagt, vier Siedlungsinseln hervor. 9,5 Indem der Ozean nämlich die heiße Zone zwischen uns und den Menschen der Südhalbkugel in ihrer ganzen Ausdehnung durchzieht und andererseits mit seinen beiden meridionalen Armen die Ränder der beiden Regionen umspült, gliedert er die Erdoberfläche im Norden und im Süden in jeweils zwei Inseln. 9,6 Weil Cicero uns diese Erkenntnis vermitteln wollte, sagte er nicht »die ganze Erde ist gleichsam eine kleine Insel«, sondern »das ganze von euch bewohnte Land ist gleichsam eine kleine Insel«, weil jedes einzelne der vier Siedlungsgebiete eine kleine Insel ist, da der Ozean sie ja, wie gesagt, zweimal umzieht. 9,7 Das kann uns die hier angefügte Karte vor Augen führen, aus welcher der Ursprung unseres Meeres – es hat nur einen einzigen – ebenso

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uidebis, Caspiumque mare unde oriatur inuenies, licet non ignorem esse nonnullos qui ei de Oceano ingressum negent. Nec dubium est in illam quoque australis generis temperatam mare de Oceano similiter influere, sed describi hoc nostra attestatione non debuit, cuius situs nobis incognitus perseuerat.* 9,8 Quod autem nostram habitabilem dixit angustam uerticibus, lateribus latiorem, in eadem descriptione poterimus aduertere. Nam quanto longior est tropicus circus septentrionali circo, tanto zona uerticibus quam lateribus angustior est, quia summitas eius in artum extremi cinguli breuitate contrahitur, deductio autem laterum cum longitudine tropici ab utraque parte distenditur. Denique ueteres omnem habitabilem nostram extentae chlamydi similem esse dixerunt. 9,9 Item quia omnis terra, in qua et Oceanus est, ad quemuis caelestem circulum quasi centron puncti obtinet locum, necessario de Oceano adiecit: »qui tamen tanto nomine quam sit paruus uides«. Nam licet apud nos Atlanticum mare, licet Magnum uocetur, de caelo tamen despicientibus non potest magnum uideri, cum ad caelum terra signum sit, quod diuidi non possit in partes. 9,10 Ideo autem terrae breuitas tam diligenter adseritur ut parui pendendum ambitum famae uir fortis intellegat, quae in tam paruo magna esse non poterit. 10,1 Quod doctrinae propositum non minus in sequentibus apparebit: »Quin etiam si cupiat proles futurorum hominum deinceps laudes uniuscuiusque nostrum acceptas a patribus posteris prodere, tamen propter eluuiones exustionesque terrarum, quas accidere tempore certo neces-

* Siehe Abbildung 8, S. 371

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ersichtlich ist wie der des Roten und des Indischen Meeres. Man findet darauf auch, woher das Kaspische Meer kommt; freilich weiß ich, dass manche bestreiten, es habe eine Verbindung mit dem Ozean.99 Zweifellos wird auch in der südlichen temperierten Zone ein unserem Meer entsprechendes Binnenmeer vom Ozean gespeist; wir durften das aber nicht durch Einzeichnung in der Karte bezeugen, da seine Lage sich unserer Kenntnis dauerhaft entzieht. 9,8 Hingegen können wir auf dieser Abbildung Ciceros Aussage verifizieren, dass unsere Siedlungszone oben enger und an den Flanken weiter ist. Denn um wieviel umfangreicher der Wendekreis ist als der Polarkreis, um so viel weiter wird unsere Zone an ihren Flanken sein als an ihrer Oberseite. Denn die Oberseite zieht sich auf die knappe Ausdehnung des äußersten Kreises zusammen, die Flanken dagegen ziehen sich auf beiden Seiten nach unten entsprechend der größeren Länge des Wendekreises in die Breite. Tatsächlich haben die Alten gesagt, dass unsere Siedlungszone einer ausgespannten Chlamys ähnlich sei.100 9,9 Und weil die gesamte Erde, auf der sich auch der Ozean befindet, in Relation zu jedem Himmelskreis das Zentrum ist und die Größe eines Punkts einnimmt, fügt Cicero über den Ozean notwendigerweise noch hinzu: »Du siehst, wie klein er ist, seinem imposanten Namen zum Trotz«. Mag er bei uns auch »Atlantisches Meer« oder »Großes Meer« heißen, für jemanden, der vom Himmel herabblickt, hat er nichts Großes an sich, weil die Erde gemessen am Himmel nur ein nicht teilbarer Punkt ist. 9,10 Die geringe Größe der Erde hebt er aber deshalb so nachdrücklich hervor, damit der tapfere Mann versteht, dass die Reichweite des Ruhms, der ja auf so kleinem Raum nicht groß werden kann, gering zu achten ist.

Ewigkeit der Welt und Zeitlichkeit der Zivilisation 10,1 Diese Absicht seiner Lehre wird nicht weniger deutlich in den Worten, die folgen:101 »Selbst wenn die Nachkommen künftiger Menschen es wünschen sollten, den Ruhm jedes Einzelnen von uns, wie er ihnen von den Vätern überliefert wurde, ihrerseits an die Nachwelt weiterzugeben, könnten wir doch wegen der Überschwemmungen und Weltenbrände, die

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se est, non modo non aeternam sed ne diuturnam quidem gloriam adsequi possumus.« 10,2 Virtutis fructum sapiens in conscientia ponit, minus perfectus in gloria; unde Scipio perfectionem cupiens infundere nepoti auctor est ut contentus conscientiae praemio gloriam non requirat. 10,3 In qua appetenda quoniam duo sunt maxime quae praeoptari possint, ut et quam latissime uagetur et quam diutissime perseueret, postquam superius de habitationis nostrae angustiis disserendo totius terrae, quae ad caelum puncti locum obtinet, minimam quandam docuit a nostri generis hominibus particulam possideri, nullius uero gloriam uel in illam totam partem potuisse diffundi, si quidem Gangen transnare uel transcendere Caucasum Romani nominis fama non ualuit, spem quam de propaganda late gloria ante oculos ponendo nostri orbis angustias amputauit, uult et diuturnitatis auferre, ut plene animo nepotis contemptum gloriae compos dissuasor insinuet. 10,4 Et ait nec in hac ipsa parte, in quam sapientis et fortis uiri nomen serpere potest, aeternitatem nominis posse durare, cum modo exustione modo eluuione terrarum diuturnitati rerum intercedat occasus. 10,5 Quod quale sit disseremus. In hac enim parte tractatus illa quaestio latenter absoluitur, quae multorum cogitationes de ambigenda mundi aeternitate sollicitat. 10,6 Nam quis facile mundum semper fuisse consentiat, cum et ipsa historiarum fides multarum rerum cultum emendationemque uel ipsam inuentionem recentem esse fateatur, cumque rudes primum homines et

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unvermeidlich in bestimmten Zeitabständen eintreten müssen, nicht nur keinen ewigen, sondern nicht einmal dauernden Ruhm erwerben.« (Rep. 6,23) 10,2 Der Weise sieht den Lohn der Tugend in seinem eigenen Bewusstsein, der weniger Vollkommene dagegen im Ruhm. In dem Wunsch, seinem Enkel Vollkommenheit zu verleihen, bestimmt ihn Scipio daher, mit dem Lohn des Bewusstseins zufrieden zu sein und den Ruhm nicht zu suchen. 10,3 Nun ist das Streben nach Ruhm vorzugsweise auf zwei Ziele gerichtet, nämlich dass der Ruhm sich möglichst weit verbreite und dass er möglichst lange andauere. Die Hoffnung auf weite Verbreitung hatte Africanus schon beschnitten, indem er Scipio weiter oben die Enge unserer Welt vor Augen geführt hatte: Er hatte ihm die Begrenztheit unserer Wohnsitze dargelegt und ihn darüber aufgeklärt, dass unser Menschengeschlecht von der ganzen Erde, die selbst nur ein Punkt im Vergleich zum Himmel ist, nur einen ganz geringen Teil innehabe. Und nicht einmal in dem könne sich der Ruhm eines Menschen zur Gänze verbreiten; der Ruf des römischen Namens habe ja weder den Ganges überschreiten noch den Kaukasus überwinden können. Und nun möchte er, selbst ruhmbedeckt, als Gegner der Ruhmsucht auch die Hoffnung auf die Dauer des Ruhmes beseitigen, um dessen Verachtung seinem Enkel vollständig ins Herz zu senken. 10,4 So sagt er, dass selbst in dem Teil der Welt, in dem sich der Name eines weisen und tapferen Mannes verbreiten könne, dessen Ewigkeit nicht gewährleistet sei, da Weltenbrände und Überschwemmungskatastrophen alle auf Dauer angelegten Dinge zum Untergang verurteilten. 10,5 Nun wollen wir uns auseinandersetzen, was es damit auf sich hat. Und dabei werden wir im folgenden Teil unserer Abhandlung beiläufig ein Problem lösen, das vieler Menschen Denken beschäftigt, nämlich die Kontroverse um die Ewigkeit der Welt.102 10,6 Wer nämlich könnte unbekümmert dem Satz zustimmen, dass die Welt schon immer existiert habe, wenn demgegenüber eine gewissenhafte historische Forschung besagt, dass viele Kulturpraktiken und deren Verbesserung oder sogar Erfindung jungen Datums seien? Wenn das Altertum überliefert oder sich wenigstens zusammenreimt, dass die Menschen

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incuria siluestri non multum a ferarum asperitate dissimiles meminerit uel fabuletur antiquitas, tradatque nec hunc eis quo nunc utimur uictum fuisse, sed glande prius et bacis altos sero sperasse de sulcis alimoniam, cumque ita exordium rerum et ipsius humanae nationis opinemur, ut aurea primum saecula fuisse credamus, et inde natura per metalla uiliora degenerans ferro saecula postrema foedauerit? 10,7 Ac ne totum uideamur de fabulis mutuari, quis non hinc aestimet mundum quandoque coepisse et nec longam retro eius aetatem, cum abhinc ultra duo retro annorum milia de excellenti rerum gestarum memoria ne Graeca quidem exstet historia? Nam supra Ninum, a quo Semiramis secundum quosdam creditur procreata, nihil praeclarum in libros relatum est. 10,8 Si enim ab initio, immo ante initium fuit mundus, ut philosophi uolunt, cur per innumerabilium seriem saeculorum non fuerat cultus quo nunc utimur inuentus, non litterarum usus, quo solo memoriae fulcitur aeternitas? Cur denique multarum rerum experientia ad aliquas gentes recenti aetate peruenit, ut ecce Galli uitem uel cultum oleae Roma iam adolescente didicerunt, aliae uero gentes adhuc multa nesciunt quae nobis inuenta placuerunt? 10,9 Haec omnia uidentur aeternitati rerum repugnare, dum opinari nos faciunt certo mundi principio paulatim singula quaeque coepisse. Sed mundum quidem fuisse semper philosophia auctor est, conditore quidem deo, sed non ex tempore, si quidem tempus ante mundum esse non potuit, cum nihil aliud tempora nisi cursus solis efficiat. Res uero humanae ex parte

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anfangs in ihrer Unkultiviertheit und ungepflegten Wildheit nicht weit über dem Niveau der wilden Tiere gestanden und nicht die heute übliche Nahrung besessen, sondern von Eicheln und Beeren gelebt und erst spät ihre Hoffnungen auf den Ackerbau verlegt hätten?103 Wenn schließlich wir selbst an einen Anfang der Dinge und an eine Entwicklung des Menschengeschlechts glauben, die zuerst ein Goldenes Zeitalter hervorgebracht habe, aber die nachfolgenden Generationen durch die Epochen geringerwertiger Metalle bis zum schlechten Eisernen Zeitalter habe absinken lassen?104 10,7 Und damit wir nicht den Anschein erwecken, alles aus Geschichten zu entlehnen: Wer käme nicht zu der Einschätzung, dass die Welt irgendwann einen Anfang gehabt habe und auch noch nicht sonderlich alt sei, wenn es nicht einmal eine historische Tradition der Griechen von herausragenden Taten gibt, die länger als 2000 Jahre von heute an zurückreicht? Denn über die Zeit vor Ninos, der von manchen Autoren als Vater der Semiramis angesehen wird, gibt es keine klare schriftliche Überlieferung.105 10,8 Und wenn die Welt von Anfang an existierte oder sogar, wie manche Philosophen wollen, vor dem Anfang, warum gab es dann unzählbare Jahrhunderte hindurch keine Errungenschaften der Zivilisation, wie wir sie heute besitzen, und warum keine Schrift, auf die alleine sich eine dauernde Überlieferung stützen kann? Warum gelangte dann die Kenntnis vieler praktischer Dinge zu manchen Völkern erst in jüngster Zeit, wie etwa der Wein- und Olivenanbau erst dann in Gallien bekannt wurde, als Rom bereits in voller Entwicklung stand, und warum haben viele Völker bis heute keine Ahnung von vielen Erfindungen, deren Annehmlichkeiten wir genießen? 10,9 All das scheint der Vorstellung einer ewigen Dauer der Natur zu widerstreiten, da es uns glauben lässt, dass es einen bestimmten Anfang der Welt gab, von dem an die Einzeldinge nach und nach erfunden wurden. Demgegenüber verbürgt uns die Philosophie, dass die Welt immer existiert hat und dass Gott sie geschaffen hat, allerdings nicht von einem bestimmten Zeitpunkt an, denn vor Beginn der Welt konnte keine Zeit existieren, weil sie ausschließlich durch den Umlauf der Sonne entsteht. Was Menschen geschaffen haben, geht dagegen oft und im großen Umfang durch wechselweises Auftreten von Überschwemmungen und Bränden

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maxima saepe occidunt manente mundo, et rursus oriuntur uel eluuione uicissim uel exustione redeunte. 10,10 Cuius uicissitudinis causa uel necessitas talis est. Ignem aetherium physici tradiderunt humore nutriri, adserentes ideo sub zona caeli perusta, quam uia solis, id est zodiacus, occupauit, Oceanum, sicut supra descripsimus, a natura locatum, ut omnis latitudo, quam sol cum quinque uagis et luna ultro citroque discurrunt, habeat subiecti humoris alimoniam. 10,11 Et hoc esse uolunt quod Homerus, diuinarum omnium inuentionum fons et origo, sub poetici nube figmenti uerum sapientibus intellegi dedit, Iouem cum dis ceteris, id est cum stellis, profectum in Oceanum, Aethiopibus eum ad epulas inuitantibus. Per quam imaginem fabulosam Homerum significasse uolunt hauriri de humore nutrimenta sideribus, qui ob hoc Aethiopas reges epularum caelestium dixit, quoniam circa Oceani oram non nisi Aethiopes habitant, quos uicinia solis usque ad speciem nigri coloris exurit. 10,12 Cum ergo calor nutriatur humore, haec uicissitudo contingit ut modo calor, modo humor exuberet. Euenit enim ut ignis usque ad maximum enutritus augmentum haustum uincat humorem ac sic aeris mutata temperies licentiam praestet incendio et terra penitus flagrantia inmissi ignis uratur; sed mox impetu caloris absumpto paulatim uires reuertuntur humori, cum magna pars ignis incendiis erogata minus iam de renascente humore consumat. 10,13 Ac rursus longo temporum tractu ita crescens humor altius uincit ut terris infundatur eluuio, rursusque calor post hoc uires resumit; et ita fit ut manente mundo inter exsuperantis caloris humorisque uices ter-

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zugrunde und entsteht wieder von neuem, während die Welt selbst bestehen bleibt.106 10,10 Die Ursache oder Notwendigkeit dieses Wechsels ist folgende: Die Naturforscher haben gelehrt, dass sich das ätherische Feuer von Feuchtigkeit nährt. Dass nun der Ozean von der Natur wie oben beschrieben unter der heißen Himmelszone platziert worden sei, welche von der Bahn der Sonne, das heißt vom Zodiakus, eingenommen wird, habe seinen Grund eben darin, dass diese ganze Zone, die von der Sonne und den fünf Planeten in beiden Richtungen durchzogen wird, ihre Nahrung aus dem unter ihr liegenden Wasser beziehen kann.107 10,11 Sie behaupten, dass das die Realität sei, deren Kenntnis Homer, Quelle und Ursprung alles theologischen Erfindungsreichtums, im Schleier dichterischer Fiktion den Weisen vermittelt, wenn er sagt, dass Jupiter zusammen mit den übrigen Göttern, also mit den Planeten, zum Ozean gegangen sei und die Äthiopen ihn dort zum Mahl geladen hätten. Durch diese Allegorie, so erklären sie, habe Homer ausdrücken wollen, dass die Sterne ihre Nahrung aus dem Wasser schöpften, und dass er deswegen die Äthiopen Könige des Mahls der Himmlischen nannte, weil sie als einzige an den Küsten des Ozeans wohnen, sie, die der Nachbarschaft zur Sonne ihr schwarzgebranntes Aussehen verdanken.108 10,12 Da sich also die Hitze vom Wasser nährt, entwickelt sich ein Wechselspiel, bei dem ein Überschuss bald an Hitze, bald an Wasser entsteht. Dabei kommt es so weit, dass das Feuer das Wasser bis zu seinem höchsten Sättigungsgrad aufsaugt und austrocknet; dadurch ändert sich die Balance der Atmosphäre, wodurch die Entstehung von Bränden begünstigt wird und die Erde durch die Hitze der sich ausbreitenden Flammen vollständig ausgetrocknet wird. Doch danach, wenn der Sturm der Flammen sich erschöpft hat, gewinnt das Wasser allmählich wieder an Kräften, weil sich das Feuer großenteils für Brände verausgabt hat und weniger von dem wiedererstarkenden Wasser aufzehren kann. 10,13 Im Gegenzug schwillt das Wasser im Laufe einer längeren Zeitspanne wieder an und gewinnt die Oberhand, sodass die Erde von sintflutartigen Überschwemmungen heimgesucht wird. Danach aber gewinnt die Hitze wieder an Kraft, und so kommt es, dass zwar die Welt inmitten eines wechselseitigen Übergewichts von Hitze und Wasser überdauert, aber die

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rarum cultus cum hominum genere saepe intercidat et reducta temperie rursus nouetur. 10,14 Numquam tamen seu eluuio seu exustio omnes terras aut omne hominum genus uel omnino operit uel penitus exurit. Aegypto certe, ut Plato in Timaeo fatetur, numquam nimietas uel humoris nocuit uel caloris; unde et infinita annorum milia in solis Aegyptiorum monumentis librisque releguntur. 10,15 Certae igitur terrarum partes internecioni superstites seminarium instaurando generi humano fiunt; atque ita contingit ut non rudi mundo rudes homines et cultus inscii, cuius memoriam intercepit interitus, terris oberrent et asperitatem paulatim uagae feritatis exuti conciliabula et coetus natura instituente patiantur, sitque primum inter eos mali nescia et adhuc astutiae inexperta simplicitas, quae nomen auri primis saeculis praestat. 10,16 Inde quo magis ad cultum rerum atque artium usus promouet, tanto facilius in animos serpit aemulatio, quae primum bene incipiens in inuidiam latenter euadit, et ex hac iam nascitur quicquid genus hominum post sequentibus saeculis experitur. Haec est ergo quae rebus humanis pereundi atque iterum reuertendi incolumi mundo uicissitudo uariatur. 11,1 »Praesertim cum apud eos ipsos, a quibus audiri nomen nostrum potest, nemo unius anni memoriam consequi possit. 11,2 Homines enim populariter annum tantummodo solis, id est unius astri, reditu metiuntur; re ipsa autem, cum ad idem unde semel profecta sunt cuncta astra redierint eandemque totius caeli descriptionem longis interuallis

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Kultur der Länder samt ihren Bewohnern häufig untergeht und nach Wiederherstellung des Gleichgewichts wieder neu ersteht. 10,14 Allerdings wird die Erde samt all ihren Bewohnern weder von einer Sintflut zur Gänze überschwemmt noch von einem Weltenbrand vollkommen ausgedörrt. Ägypten jedenfalls hat, wie es in Platons Timaios heißt, noch nie unter einem Übermaß an Wasser beziehungsweise an Hitze gelitten; und deshalb bewahren alleine die Überlieferung und die Aufzeichnungen der Ägypter die Ereignisse unzähliger Jahrtausende.109 10,15 So werden bestimmte Teile der Erde, welche die allgemeine Katastrophe überleben, die Keimzelle für die Erneuerung des Menschengeschlechts, und so kommt es, dass die Welt selbst zwar nicht neu ist, aber neue Menschen bar jeder Zivilisation, deren Tradition der allgemeine Untergang abreißen ließ, über die Erde irren. Die entledigen sich sodann allmählich der Rohheit ihres unkultivierten Nomadentums und folgen ihrem natürlichen Impuls zur Bildung von Zusammenkünften und Vereinigungen. Ihr Leben ist am Anfang aufrichtig, ohne Kenntnis des Bösen und ohne Neigung zu Verschlagenheit, was dieser ersten Epoche den Namen »Goldenes Zeitalter« verleiht. 10,16 Je weiter danach ihre Erfahrung in den praktischen und theoretischen Dingen die Zivilisation voranschreiten lässt, umso leichter nistet sich in den Herzen die Rivalität ein, die aus guten Anfängen unmerklich in Neid übergeht; und der wiederum ist die Quelle für alles Ungemach, das die Menschheit in den darauffolgenden Epochen erdulden muss. Das ist also der Wechsel, dem die menschliche Zivilisation unterworfen ist, und der Grund ihres Untergangs und Wiederaufstiegs ist, während die Welt selbst unverändert bleibt.110

Das Weltenjahr 111»Zumal auch bei denen, die unseren Namen vernehmen können, niemand auch nur ein einziges Jahr lang im Gedächtnis der Menschen bleiben kann. 11,2 Die Menschen bemessen nämlich das Jahr üblicherweise nur nach dem Umlauf der Sonne, also eines einzigen Sterns. In Wahrheit kann man erst dann von der Vollendung eines Jahres reden, wenn sämtliche Sterne an jenen Punkt zurückgekehrt sind, von dem

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retulerint, tum ille uere uertens annus appellari potest, in quo uix dicere audeo quam multa hominum saecula teneantur. 11,3 Namque ut olim deficere sol hominibus extinguique uisus est cum Romuli animus haec ipsa in templa penetrauit, quandoque ab eadem parte sol eodemque tempore iterum defecerit, tum, signis omnibus ad idem principium stellisque reuocatis, expletum annum habeto. Cuius quidem anni nondum uicesimam partem scito esse conuersam.« 11,4 Idem agere perseuerat instans dissuasioni gloriae desiderandae. Quam cum locis artam nec in ipsis angustiis aeternam supra docuisset, nunc non solum perpetuitatis expertem, sed nec ad unius integri anni metas posse propagari docet. Cuius adsertionis quae sit ratio dicemus. 11,5 Annus non is solus est quem nunc communis omnium usus appellat, sed singulorum seu luminum siue stellarum emenso omni caeli circuitu a certo loco in eundem locum reditus annus suus est. 11,6 Sic mensis lunae annus est, intra quem caeli ambitum lustrat. Nam et a luna mensis dicitur, quia Graeco nomine luna m†nh uocatur. Vergilius denique ad discretionem lunaris anni qui breuis est, annum qui cursu solis efficitur significare uolens ait »interea magnum sol circumuoluitur annum«, annum magnum uocans solis comparatione lunaris. 11,7 Nam cursus quidem Veneris atque Mercurii paene par soli est, Martis uero annus fere biennium tenet; tanto enim tempore caelum circumit; Iouis autem stella duodecim et Saturni triginta annos in eadem circumitione consumit. 11,8 Haec de luminibus ac uagis, ut saepe relata, iam nota sunt. Annus uero qui mundanus uocatur, qui uere uertens est, quia conuersione ple-

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sie einmal ausgegangen sind, und so nach langer Zeit die ursprüngliche Konstellation des gesamten Himmels wiederhergestellt haben. Ich wage kaum davon zu sprechen, wie viele Generationen von Menschen dieses Jahr umfasst. 11,3 Als nämlich einst die Seele des Romulus in unseren Tempel hier eintrat, schien den Menschen die Sonne sich zu verfinstern und zu verlöschen. Wenn nun an derselben Stelle und zur selben Zeit wiederum eine Sonnenfinsternis eintritt und zugleich alle Sternbilder und Planeten wieder zum selben Ausgangspunkt zurückgekehrt sind, dann sollst du das Jahr als vollendet betrachten. Von diesem Jahr aber ist, wie du wissen sollst, noch nicht einmal ein Fünftel verstrichen.« (Rep. 6,24) 11,4 Africanus fährt mit Beharrlichkeit und Nachdruck fort, von der Ruhmsucht abzuraten. Vorher hatte er erklärt, der Ruhm sei nur auf einen engen Raum beschränkt und nicht einmal in dem ewig; jetzt legt er dar, dass er nicht nur nicht von Dauer sei, sondern sich nicht einmal bis zur Wendemarke eines einzigen Jahres halten könne. Die Gründe für diese Behauptung wollen wir jetzt besprechen. 11,5 Ein vollständiges Jahr ist nicht nur das, was heute der allgemeine Sprachgebrauch so nennt; vielmehr hat jeder Luminar oder Planet sein individuelles Jahr, das darin besteht, dass er von einem bestimmten Punkt aus den ganzen Himmel durchmisst, um wieder zu diesem Punkt zurückzukehren. 11,6 So ist der Monat das Mondjahr, innerhalb dessen der Mond einmal um den Himmel zieht. Der Monat hat auch seinen Namen vom Mond, denn auf Griechisch heißt der Mond m†nh.111 Wenn Vergil das kurze Mondjahr von dem Jahr unterscheiden will, das durch den Sonnenumlauf bestimmt wird, sagt er »unterdessen vollzieht die Sonne den Umlauf ihres großen Jahres«,112 und nennt dabei das Sonnenjahr im Vergleich zum Mondjahr das »große«. 11,7 Die Umlaufzeiten von Venus und Merkur sind nahezu gleich mit jener der Sonne. Das Jahr des Mars beträgt etwa zwei Sonnenjahre; so lange braucht er für seine Runde um den Himmel. Der Jupiter aber benötigt zwölf und der Saturn dreißig Jahre für denselben Umlauf.113 11,8 Das ist von den beiden Luminaren und den Planeten schon oft gesagt worden und bekannt. Jenes Jahr aber, welches das Weltenjahr heißt und auf dem wahren Jahresumlauf beruht, weil es sich nach einer vollstän-

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nae uniuersitatis efficitur, largissimis saeculis explicatur. Cuius ratio talis est. 11,9 Stellae omnes et sidera quae infixa caelo uidentur, quorum proprium motum numquam uisus humanus sentire uel deprehendere potest, mouentur tamen, et praeter caeli uolubilitatem, qua semper trahuntur, suo quoque accessu tam sero promouent ut nullius hominum uita tam longa sit quae obseruatione continua factam de loco permutationem, in quo eas primum uiderat, deprehendat. 11,10 Mundani ergo anni finis est cum stellae omnes omniaque sidera, quae Çplan†c habet, a certo loco ad eundem locum ita remeauerint, ut ne una quidem caeli stella in alio loco sit quam in quo fuit cum omnes aliae ex eo loco motae sunt ad quem reuersae anno suo finem dederunt, ita ut lumina quoque cum erraticis quinque in isdem locis et partibus sint in quibus incipiente mundano anno fuerunt. 11,11 Hoc autem, ut physici uolunt, post annorum quindecim milia peracta contingit. Ergo sicut annus lunae mensis est, et annus solis duodecim menses, et aliarum stellarum hi sunt anni quos supra rettulimus, ita mundanum annum quindecim milia annorum quales nunc computamus efficiunt. 11,12 Ille ergo uere annus uertens uocandus est, quem non solis, id est unius astri, reditu metimur, sed quem stellarum omnium, quae in quocumque caelo sunt, ad eundem locum reditus sub eadem caeli totius descriptione concludit, unde et mundanus dicitur quia mundus proprie caelum uocatur. 11,13 Igitur sicut annum solis non solum a kalendis Ianuariis usque ad easdem uocamus, sed et a sequente post kalendas die usque ad eundem diem et a quocumque cuiuslibet mensis die usque in diem eundem reditus annus uocatur, ita huius mundani anni initium sibi quisque facit quodcum-

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digen Umdrehung des ganzen Universums bemisst, vollendet sich nur in unermesslichen Jahrhunderten. Mit ihm hat es folgende Bewandtnis:114 11,9 Alle Sterne und Konstellationen, die man am Himmel in einer fixen Position sieht, haben dennoch eine Eigenbewegung, welche aber menschliche Beobachtung niemals wahrnehmen oder erfassen kann: Neben ihrer Umdrehung mit dem Himmel ziehen sie nämlich auch autonom,115 allerdings so langsam, dass keines Menschen Leben ausreicht, um durch kontinuierliche Beobachtung ihre Entfernung von dem Ort, wo er sie das erste Mal erblickt hat, zu erfassen. 11,10 Das Ende eines Weltenjahres ist nun dann erreicht, wenn alle Planeten und alle Konfigurationen der Fixsternsphäre wieder zu einem bestimmten Ausgangspunkt zurückgekehrt sind. Dabei gilt erstens, dass auch nicht ein Stern an einer anderen Position steht als an derjenigen, welche er innehatte zu dem Zeitpunkt, als sämtliche anderen Sterne diejenige Position verließen, mit deren Wiedererreichen sie ihr individuelles Jahr vollenden, und zweitens, dass auch die beiden Luminare und die fünf Planeten wieder an derjenigen Position am Himmel stehen, an welcher sie zu Beginn des Weltenjahres gestanden haben. 11,11 Das ist aber, wie die Naturforscher meinen, nach einer Periode von 15000 Jahren der Fall. Wie also das Jahr des Mondes einen Monat misst, das der Sonne zwölf Monate und die Jahre der anderen Sterne die oben angeführte Dauer haben, so machen 15000 Jahre – »Jahre« nach unseren heutigen Begriffen – ein Weltjahr aus. 11,12 Es verdient also den Begriff Jahresumlauf zu Recht diejenige Periode, die nicht nur nach dem Umlauf eines Einzelsterns, der Sonne, bemessen wird, sondern diejenige, welche die Rückkehr sämtlicher Sterne sämtlicher Himmelsregionen an ihren Ausgangspunkt und in dieselbe Konfiguration vollendet. Deshalb spricht man auch vom Weltenjahr, weil der Himmel im eigentlichen Sinne »Welt« genannt wird.116 11,13 Wie wir also den Begriff des Sonnenjahres nicht nur verwenden, wenn es von den Kalenden des Januar bis zu denen des nächsten Jahres reicht, sondern auch, wenn es sich vom Tag nach diesen Kalenden bis zum entsprechenden Tag des nächsten Jahres erstreckt, und sinngemäß von jedem beliebigen Datum bis zum entsprechenden Datum des Folgejahres, so kann jeder nach eigenem Ermessen den Beginn eines Weltenjahres individuell festsetzen, wie eben Cicero hier den Beginn seines Welten-

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que decreuerit, ut ecce nunc Cicero a defectu solis qui sub Romuli fine contigit mundani anni principium sibi ipse constituit. 11,14 Et licet iam saepissime postea defectus solis euenerit, non dicitur tamen mundanum annum repetita defectio solis implesse, sed tunc implebitur cum sol deficiens in isdem locis et partibus et ipse erit et omnes caeli stellas omniaque sidera rursus inueniet in quibus fuerant cum sub Romuli fine deficeret. 11,15 Igitur a discessu Romuli post annorum quindecim milia, sicut adserunt physici, sol denuo ita deficiet ut in eodem signo eademque parte sit, ad idem principium in quo sub Romulo fuerant stellis quoque omnibus signisque reuocatis. 11,16 Peracti autem fuerant, cum Scipio in Africa militaret, a discessu Romuli anni quingenti septuaginta et tres. Anno enim ab urbe condita sescentesimo septimo hic Scipio deleta Carthagine triumphauit; ex quo numero annis remotis triginta duobus regni Romuli et duobus qui inter somnium et consummatum bellum fuerunt, quingenti septuaginta tres a discessu Romuli ad somnium usque remanebunt. 11,17 Ergo rationabiliter uereque signauit necdum mundani anni uicesimam partem esse conuersam. Nam uicesimae parti quot anni supersint a fine Romuli ad Africanam militiam Scipionis, quos diximus annos fuisse quingentos septuaginta tres, quisquis in digitos mittit inueniet. 12,1 »Tu uero enitere et sic habeto non esse te mortalem, sed corpus hoc. Nec enim tu is es quem forma ista declarat, sed mens cuiusque is est quisque, non ea figura quae digito demonstrari potest. Deum te igitur scito esse, si quidem est deus qui uiget, qui sentit, qui meminit, qui prouidet, qui tam regit et moderatur et mouet id corpus cui praepositus

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jahres auf das Datum der Sonnenfinsternis am Lebensende des Romulus festsetzt. 11,14 Und mag danach auch noch so oft eine Sonnenfinsternis eingetreten sein, so sagt man dennoch nicht, dass deren Wiederkehr ein Weltenjahr vollendet habe; das wird vielmehr erst dann vollendet sein, wenn nicht nur die Sonne selbst bei ihrer Verfinsterung wieder an derselben Position steht, sondern sie auch alle Sterne und Sternbilder des Himmels wieder an derselben Position antrifft, wo sie standen, als die Sonnenfinsternis am Lebensende des Romulus eintrat. 11,15 Das wird nach Auffassung der Naturforscher 15000 Jahre nach dem Abscheiden des Romulus der Fall sein.117 Dann wird wieder eine Sonnenfinsternis eintreten, während welcher die Sonne wieder im selben Sternzeichen und in derselben Position steht und alle Sterne und Sternbilder in jene Ausgangskonstellation zurückgekehrt sind, die sie zu Romulus’ Zeiten gebildet hatten. 11,16 Bei Scipios Afrikafeldzug lag aber der Tod des Romulus 573 Jahre zurück. Scipios Triumph wegen der Zerstörung Karthagos fiel nämlich in das 607. Jahr nach Gründung der Stadt, und wenn man davon die 32 Jahre der Regierung des Romulus abzieht sowie die zwei Jahre, die zwischen dem Traum und dem Ende des Kriegs liegen, verbleiben vom Tod des Romulus bis zum Datum des Traums 573 Jahre. 11,17 Also hat Cicero aufgrund vernünftiger Überlegung und wahrheitsgemäß festgestellt, dass noch nicht einmal der 20. Teil des Weltenjahres verstrichen ist. Denn wie viele Jahre zu den oben genannten 573 Jahren vom Tod des Romulus bis zum Afrikafeldzug des Scipio noch fehlen, um ein Zwanzigstel voll zu machen, kann sich jeder an den Fingern abzählen.118

Die Göttlichkeit der unsterblichen Seele 12,1 »Du bemühe dich und wisse, dass nicht du sterblich bist, sondern dein Körper. Du bist nämlich nicht derjenige, den dein Äußeres beschreibt, sondern der Geist eines jeden macht seine Individualität aus, nicht die Gestalt, auf die man mit dem Finger zeigen kann. Wisse also, dass du ein Gott bist, sofern der ein Gott ist, der lebt, fühlt, sich erinnert, vorausschaut, und der den Körper, dem er vorgesetzt ist, so

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Liber secundus est quam hunc mundum ille princeps deus; et ut ille mundum quadam parte mortalem ipse deus aeternus, sic fragile corpus animus sempiternus mouet.«

12,2 Bene et sapienter Tullianus hic Scipio circa institutionem nepotis ordinem recte docentis impleuit. Nam, ut breuiter a principio omnem operis continentiam reuoluamus, primum tempus ei mortis et imminentes propinquorum praedixit insidias, ut totum de hac uita sperare dedisceret, quam non diuturnam comperisset; dein, ne metu praedictae mortis frangeretur, ostendit sapienti et bono ciui in immortalitatem morte migrandum; cumque eum ultro spes ista traxisset ad moriendi desiderium, succedit Pauli patris opportuna dissuasio accensam filii festinationem ab appetitu spontaneae mortis excludens. 12,3 Plene igitur in animo somniantis utrimque plantata sperandi expectandique temperie altius iam circa erigendum nepotis animum Africanus ingreditur nec prius eum terram patitur intueri quam caeli ac siderum naturam, motum ac modulamen agnoscat, et haec omnia sciat praemio cessura uirtutum. 12,4 Ac postquam mens firmata Scipionis alacritate tantae promissionis erigitur, tum demum gloria, quae apud indoctos magnum uirtutis praemium creditur, contemni iubetur, dum ostenditur ex terrarum breuitate uel casibus arta locis, angusta temporibus. 12,5 Africanus igitur, paene exutus hominem et defaecata mente iam naturae suae capax, hic apertius admonetur ut esse se deum nouerit. Et haec sit praesentis operis consummatio, ut animam non solum immortalem, sed deum esse clarescat. 12,6 Ille ergo, qui fuerat iam post corpus in diuinitatem receptus, dicturus uiro adhuc in hac uita posito »deum te scito esse«, non prius tantam

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regiert, lenkt und bewegt, wie diese Welt jener oberste Gott. Und wie die zu einem gewissen Teil sterbliche Welt der ewige Gott bewegt, so bewegt den vergänglichen Körper die unsterbliche Seele.« (Rep. 6,26) 12,2 Passend und klug führt Ciceros Scipio die Unterweisung seines Enkels zu Ende und folgt dabei der Methodik eines guten Lehrers.119 Um kurz den gesamten Inhalt des Werks von seinem Anfang an zu rekapitulieren: Er sagt ihm zuerst seinen Todeszeitpunkt und den drohenden Anschlag seiner Angehörigen voraus; so soll er gänzlich verlernen, seine Hoffnungen auf das diesseitige Leben zu setzen, und dessen Begrenztheit erfahren. Damit ihn aber die Furcht vor dem prophezeiten Tod nicht demoralisiert, zeigt er ihm sodann, dass der Weise120 und der gute Bürger dazu bestimmt sind, in die Unsterblichkeit hinüberzugehen. Und nachdem die Hoffnung eben darauf in ihm die Todessehnsucht geweckt hat, folgt passend die Beschwichtigung durch seinen Vater Paullus, der seinen Sohn daran hindert, in überstürzter Begeisterung den Freitod zu suchen. 12,3 Nachdem beide also dem Träumenden das rechte Maß an Hoffnung und Erwartung ins Herz gesenkt haben, macht sich Africanus daran, den Geist seines Enkels noch höher emporzurichten, und er lässt ihn seinen Blick erst dann auf die Erde richten, nachdem er sich mit der Natur des Himmels und der Sterne, mit ihrer Bewegung und mit der Sphärenharmonie vertraut gemacht hat und weiß, dass all das als Lohn der Tugend ausgesetzt ist. 12,4 Von der Begeisterung für so glänzende Aussichten bestärkt und ermutigt, wird Scipio schließlich zur Verachtung des Ruhms angehalten, der bei unaufgeklärten Leuten als hoher Lohn der Tugend gilt. Deshalb wird ihm gezeigt, dass der Ruhm wegen der Kleinheit der Erde und der auf ihr auftretenden Katastrophen örtlich eingeengt und zeitlich knapp befristet ist. 12,5 So wird Scipio, schon beinahe von seiner menschlichen Existenz befreit, geläuterten Geistes und im Besitz seiner wahren Natur, nun klar und deutlich aufgefordert, sich bewusst zu sein, dass er ein Gott sei. Und das soll auch der Kulminationspunkt unserer Abhandlung sein: Deutlich werden zu lassen, dass die Seele nicht nur unsterblich, sondern ein Gott ist. 12,6 Der Ältere Scipio also, der nach seiner irdischen Existenz bereits in den Stand der Göttlichkeit erhoben worden war, wollte einem noch im

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praerogatiuam committit homini quam qui sit ipse discernat, ne aestimetur hoc quoque diuinum dici quod mortale in nobis et caducum est. 12,7 Et quia Tullio mos est profundam rerum scientiam sub breuitate tegere uerborum, nunc quoque miro compendio tantum includit arcanum quod Plotinus, magis quam quisquam uerborum parcus, libro integro disseruit, cuius inscriptio est Quid animal, quid homo. 12,8 In hoc ergo libro Plotinus quaerit cuius sint in nobis uoluptates, maerores metusque ac desideria et animositas uel dolores, postremo cogitationes et intellectus: Vtrum merae animae an uero animae utentis corpore? Et post multa quae sub copiosa rerum densitate disseruit, quae nunc nobis ob hoc solum praetereunda sunt ne usque ad fastidii necessitatem uolumen extendant, hoc postremo pronuntiat, animal esse corpus animatum. 12,9 Sed nec hoc neglectum uel non quaesitum relinquit, quo animae beneficio, quaue uia societatis animetur. Has ergo omnes quas praediximus passiones adsignat animali; uerum autem hominem ipsam animam esse testatur. Ergo qui uidetur non ipse uerus homo est; sed uerus ille est a quo regitur quod uidetur. 12,10 Sic, cum morte animalis discesserit animatio, cadit corpus regente uiduatum: Et hoc est quod uidetur in homine mortale. Anima autem, qui uerus homo est, ab omni condicione mortalitatis aliena est, adeo ut in imitationem dei mundum regentis regat et ipsa corpus dum a se animatur. 12,11 Ideo physici mundum magnum hominem, et hominem breuem mundum esse dixerunt. Per similitudines igitur ceterarum praerogatiuarum, quibus deum anima uidetur imitari, animam deum et prisci philosophorum et Tullius dixit.

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irdischen Leben verhafteten Menschen sagen: »Du sollst wissen, dass du ein Gott bist.« Ein derart großes Privileg offenbarte er ihm jedoch nicht, ehe er sich seines wahren Wesens bewusst wurde, damit er nicht meine, es verdiene auch alles, was an uns sterblich und hinfällig ist, den Namen »göttlich«. 12,7 Und weil Cicero die Gewohnheit hat, seine profunden Kenntnisse hinter knappen Worten zu verbergen, hat er in einen Abschnitt von bewundernswerter Kürze auch jenes große Geheimnis eingeschlossen,121 dem Plotin, der sich doch mehr als jeder andere durch seinen konzisen Stil auszeichnet, ein ganzes Buch gewidmet hat; es trägt den Titel: Was ist das Lebewesen, was der Mensch?122 12,8 Darin geht Plotin der Frage nach, wo der Ursprung von Lustempfindung, Trauer und Furcht, von Verlangen, Mut und Schmerzempfinden, schließlich von Denken und Erkennen liegt: Ist es die Seele an sich oder die Seele, die sich des Körpers bedient? Und nach vielerlei Erörterungen über diesen umfangreichen und komplexen Gegenstand, die wir allein deswegen übergehen müssen, um dieses Buch nicht bis zum Überdruss des Lesers auszudehnen, prägt er schließlich den Satz, das Lebewesen sei ein beseelter Körper. 12,9 Er lässt dabei die Frage weder unberücksichtigt noch ununtersucht, durch welche Dienste der Seele und durch welche Art der Vereinigung mit ihr der Körper beseelt wird. Alle obengenannten Affekte schreibt er dem Lebewesen zu; der wahre Mensch aber, so sagt er, ist die Seele selbst. Der wahre Mensch ist folglich nicht der sichtbare, sondern derjenige, von dem der sichtbare regiert wird. 12,10 Wenn nun mit dem Tode des Lebewesens dessen Beseelung endet,123 wird der Körper von seiner Regentin, der Seele, geschieden und geht zugrunde: Es ist die sterbliche Seite des Menschen, die dann sichtbar wird. Die Seele aber, der wahre Mensch, unterliegt keinerlei Bedingung der Sterblichkeit; also regiert sie nach dem Vorbild von Gottes Weltenregiment den Körper, solange sie ihn beseelt. 12,11 Deswegen haben die Naturforscher auch die Welt einen »großen Menschen« und den Menschen eine »kleine Welt« genannt.124 Und wegen der Analogie all ihrer sonstigen Privilegien zu denen eines Gottes, welche sie zu dessen Nachahmerin werden zu lassen scheinen, haben die alten Philosophen und hat auch Cicero die Seele einen Gott genannt.

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12,12 Quod autem ait »mundum quadam parte mortalem«, ad communem opinionem respicit, qua mori aliqua intra mundum uidentur, ut animal exanimatum uel ignis extinctus uel siccatus humor. Haec enim omnino interisse creduntur. 12,13 Sed constat secundum uerae rationis adsertionem, quam et ipse non nescit nec Vergilius ignorat dicendo »nec morti esse locum«, constat, inquam, nihil intra uiuum mundum perire, sed eorum quae interire uidentur solam mutari speciem, et illud in originem suam atque in ipsa elementa remeare quod tale quale fuit esse desierit. 12,14 Denique et Plotinus alio in loco, cum de corporum absumptione dissereret et hoc dissolui posse pronuntiaret quicquid effluit, obiecit sibi: Cur ergo elementa, quorum fluxus in aperto est, non similiter aliquando soluuntur? Et breuiter tantae obiectioni ualideque respondit: Ideo elementa, licet fluant, numquam tamen solui quia non foras effluunt. 12,15 A ceteris enim corporibus quod effluit recedit, elementorum fluxus numquam ab ipsis recedit elementis; ergo in hoc mundo pars nulla mortalis secundum uerae rationis adserta. 12,16 Sed quod ait eum »quadam parte mortalem«, ad communem, ut diximus, opinionem paululum inclinare se uoluit. In fine autem ualidissimum immortalitatis animae argumentum ponit: Quia ipsa corpori praestat agitatum.

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12,12 Wenn er aber von der »zu einem gewissen Teil sterblichen Welt« spricht, bezieht er sich auf die allgemeine Auffassung, dass innerhalb der Welt einiges vergänglich ist, wie etwa ein entseelter Körper, ein erloschenes Feuer oder verdunstetes Wasser. Von diesen Dingen nimmt man ja an, dass sie vollständig untergegangen sind. 12,13 Aber der richtigen und vernunftbegründeten Auffassung zufolge, die Cicero selbst vertritt und deren Kenntnis auch Vergil verrät, wenn er sagt »es gibt keinen Platz für den Tod«,125 geht ganz sicher nichts in der lebendigen Welt zugrunde, und wenn etwas unterzugehen scheint, wandelt sich nur seine Erscheinungsform, und alles, was aufgehört hat zu sein, was es war, verwandelt sich in seinen ursprünglichen Zustand und in seine Elemente zurück. 12,14 Plotin schließlich hat an anderer Stelle, wo er von der Auflösung der Körper handelt und sagt, dass alles auflösbar ist, was vergänglich ist, sich selbst den Einwand vorgelegt: Warum aber lösen sich dann die Elemente, die sich doch offenkundig im beständigen Fluss befinden, nicht in ähnlicher Weise irgendwann auf? Und er antwortet auf diesen wichtigen Einwand kurz und entschieden: Mögen die Elemente auch im ständigen Fluss begriffen sein, so lösen sie sich doch nicht auf, weil sie nicht nach außerhalb der Welt entweichen können.126 12,15 Bei allen übrigen Körpern nämlich geht, was ihnen entströmt, verloren, nicht dagegen bei den Elementen: Bewegung unter den Elementen bedeutet niemals eine Entfernung von den Elementen selbst. Folglich ist die Aussage vernünftig begründet, dass in unserer Welt kein Teil sterblich ist. 12,16 Wenn Cicero nun sagt, die Welt sei »zu einem gewissen Teil sterblich«, dann wollte er, wie gesagt, eine leichte Konzession an die populäre Auffassung machen. An das Ende stellt er aber das stärkste Argument für die Unsterblichkeit der Seele: Sie verleiht dem Körper seine Bewegung.

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»Nam quod semper mouetur, aeternum est, quod autem motum adfert alicui quodque ipsum agitatur alicunde, quando finem habet motus, uiuendi finem habeat necesse est. Solum igitur quod se ipsum mouet, quia numquam deseritur a se, numquam ne moueri quidem desinit; quin etiam ceteris quae mouentur hic fons, hoc principium est mouendi. 13,2 Principii autem nulla est origo. Nam e principio oriuntur omnia, ipsum autem nulla ex re alia nasci potest; nec enim esset id principium quod gigneretur aliunde. 13,3 Quod si numquam oritur, ne occidit quidem umquam. Nam principium extinctum nec ipsum ab alio renascetur, nec ex se aliud creabit, si quidem necesse est a principio oriri omnia. 13,4 Ita fit ut motus principium ex eo sit quod ipsum a se mouetur. Id autem nec nasci potest nec mori, uel concidat omne caelum omnisque natura et consistat necesse est, nec uim ullam nanciscatur, qua a primo impulsa moueatur. 13,5 Cum pateat igitur aeternum id esse quod ipsum se moueat, quis est qui hanc naturam animis esse tributam neget? Inanimum est enim omne quod pulsu agitatur externo; quod autem est animal, id motu cietur interiore et suo. Nam haec est propria natura animi atque uis; quae si est una ex omnibus quae se ipsa moueat, neque nata certe est et aeterna est.« 13,6 Omnis hic locus de Phaedro Platonis ad uerbum a Cicerone translatus est, in quo ualidissimis argumentis animae immortalitas adseritur, et haec est argumentorum summa, esse animam mortis inmunem quoniam ex se mouetur. 13,7 Sciendum est autem quod duobus modis immortalitas intellegitur. Aut enim ideo est immortale quid, quia per se non est capax mortis, aut

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Selbstbewegtheit der Seele nach Platon 13,1 Was das bedeutet, kannst du den Worten Ciceros selbst entnehmen:127 »Denn was sich immer bewegt, ist ewig. Was aber etwas anderem eine Bewegung überträgt, die es selbst von woandersher empfangen hat, muss notwendigerweise mit dem Ende dieser Bewegung auch das Ende seines Lebens finden. Alleine etwas also, das sich selbst bewegt, hört niemals auf, sich zu bewegen, weil es niemals sich selbst im Stich lässt. Vielmehr ist es für alles Übrige, was sich bewegt, Quelle und Ursprung der Bewegung. 13,2 Der Ursprung selbst aber hat keinen Anfang, denn aus dem Ursprung entsteht alles, er selbst aber kann nicht aus etwas anderem hervorgehen; denn, wenn er woandersher entspränge, wäre er kein Ursprung. 13,3 Was aber niemals entsteht, das geht auch niemals unter. Denn ein Ursprung, der erloschen ist, wird weder selbst aus etwas anderem wiederentstehen noch etwas anderes aus sich hervorbringen; denn notwendigerweise muss alles aus einem Ursprung entstehen. 13,4 So kommt es, dass der Beginn der Bewegung in etwas liegt, das von sich selbst bewegt wird. Das aber kann weder entstehen noch vergehen, oder es müssten der ganze Himmel und die ganze Natur einstürzen und zum Stillstand kommen und könnten keine Energie mehr empfangen, durch deren anfänglichen Impuls sie bewegt würden. 13,5 Da also offenkundig das ewig ist, was sich selbst bewegt, wer wollte leugnen, dass eben diese Eigenschaft den Seelen zugeteilt ist? Unbeseelt ist nämlich alles, was durch einen äußeren Impuls bewegt wird. Ein beseeltes Wesen aber wird durch seinen eigenen inneren Antrieb in Bewegung gesetzt. Denn das ist die eigentümliche Natur und Kraft der Seele, und wenn die nun die einzige Wesenheit von allen ist, die sich selbst bewegt, dann ist sie sicherlich nicht entstanden und ist ewig.« (Rep. 6,27f.) 13,6 Diese ganze Stelle hat Cicero wörtlich aus Platons Phaidros übertragen, wo mit überzeugenden Argumenten die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird. Die Quintessenz dieser Argumentation ist, die Seele sei deshalb nicht dem Tod verfallen, weil sie sich aus sich heraus bewege. 13,7 Man muss nun wissen, dass man »Unsterblichkeit« auf zwei Weisen verstehen kann. Es ist nämlich etwas entweder unsterblich, weil es den

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quia procuratione alterius a morte defenditur. Ex his prior modus ad animae, secundus ad mundi immortalitatem refertur. Illa enim suapte natura a condicione mortis aliena est, mundus uero animae beneficio in hac uitae perpetuitate retinetur. 13,8 Rursus semper moueri dupliciter accipitur. Hoc enim dicitur et de eo quod ex quo est semper mouetur, et de eo quod semper et est et mouetur; et secundus modus est quo animam dicimus semper moueri. 13,9 His praemissis, iam quibus syllogismis de immortalitate animae diuersi sectatores Platonis ratiocinati sint oportet aperiri. Sunt enim qui per gradus syllogismorum ad unum finem probationis euadunt, certam sibi propositionem sequentis ex antecedentis conclusione facientes. 13,10 Apud quos hic prior est: »Anima ex se mouetur. Quicquid autem ex se mouetur semper mouetur. Igitur anima semper mouetur.« Secundus ita, qui nascitur ex prioris fine: »Anima semper mouetur. Quod autem semper mouetur immortale est. Igitur anima immortalis est.« Et ita in duobus syllogismis duae res probantur, id est et semper moueri animam, ut in priore, et esse immortalem, ut colligitur de secundo. 13,11 Alii uero usque ad tertium gradum ita argumentando procedunt: »Anima ex se mouetur. Quod autem ex se mouetur principium motus est. Igitur anima principium motus est.« Rursus ex hac conclusione nascitur propositio: »Anima principium motus est. Quod autem principium motus est natum non est. Igitur anima nata non est.« Tertio loco: »Anima nata non est. Quod autem natum non est immortale est. Igitur anima immortalis est.« 13,12 Alii uero omnem ratiocinationem suam in unius syllogismi compendium redegerunt: »Anima ex se mouetur. Quod ex se mouetur principium motus est. Quod principium motus est natum non est. Quod natum non est immortale est. Igitur anima immortalis est.«

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Tod nicht erleiden kann oder weil ein anderes es vor dem Tod bewahrt. Ersteres gilt für die Seele, letzteres für die Welt. Jene ist nämlich kraft ihrer eigenen Natur nicht den Bedingungen der Sterblichkeit unterworfen, die Welt dagegen hat ihr immerwährendes Leben der Fürsorge der Weltseele zu verdanken.128 13,8 Auch der Begriff der immerwährenden Bewegung hat zwei Bedeutungen. Er wird nämlich ausgesagt von etwas, das seine Bewegung aus einer Quelle bezieht, die ewig ist, und ebenso von etwas, das zugleich ewig und in Bewegung ist. Wir sprechen von der ewigen Bewegung der Seele im letzteren Sinn. 13,9 Nach diesen Vorbemerkungen ist es am Platz, die Syllogismen vorzustellen, mit denen die verschiedenen Nachfolger Platons für die Unsterblichkeit der Seele argumentiert haben. Manche von ihnen gelangen durch die Verknüpfung mehrerer Syllogismen zu ihrem Beweisziel, wobei sie den Schluss des vorangehenden Syllogismus als Obersatz des folgenden verwenden.129 13,10 Ihr erster Syllogismus lautet so: »Die Seele ist selbstbewegt. Was selbstbewegt ist, ist immer bewegt. Folglich ist die Seele immer bewegt.« Der zweite Syllogismus nimmt als Obersatz den Schluss des ersten: »Die Seele ist immer bewegt. Was aber immer bewegt ist, ist unsterblich. Folglich ist die Seele unsterblich.« Und so werden mit diesen beiden Syllogismen zwei Beweise erbracht, nämlich dass die Seele immer bewegt ist, im ersten, und dass sie unsterblich ist, im zweiten. 13,11 Andere kombinieren sogar drei Syllogismen für ihre Argumentation: »Die Seele ist selbstbewegt. Was aber selbstbewegt ist, ist Prinzip der Bewegung. Folglich ist die Seele Prinzip der Bewegung.« Dieser Schluss dient dann wieder als Obersatz: »Die Seele ist Prinzip der Bewegung. Was aber Prinzip der Bewegung ist, ist nicht entstanden. Folglich ist die Seele nicht entstanden.« Und drittens: »Die Seele ist nicht entstanden. Was aber nicht entstanden ist, ist unsterblich.« 13,12 Wieder andere haben ihre ganze Argumentation in einen einzigen Kettenschluss gebracht: »Die Seele ist selbstbewegt. Was aber selbstbewegt ist, ist Prinzip der Bewegung. Was nun Prinzip der Bewegung ist, ist nicht entstanden. Was aber nicht entstanden ist, ist unsterblich. Folglich ist die Seele unsterblich.«130

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14,1 Sed harum omnium ratiocinationum apud eum potest postrema conclusio de animae immortalitate constare, qui primam propositionem, id est ex se moueri animam, non refellit; hac enim in fidem non recepta debilia fiunt omnia quae sequuntur. 14,2 Sed huic Stoicorum quidem accedit adsensio. Aristoteles uero adeo non adquiescit, ut animam non solum ex se non moueri, sed ne moueri quidem penitus conetur adserere. Ita enim callidis argumentationibus adstruit nihil ex se moueri ut, etsi aliquid hoc facere concedat, animam tamen hoc non esse confirmet. 14,3 »Si enim anima«, inquit, »principium motus est, doceo non posse principium motus moueri«. Et ita diuisionem suae artis ingreditur, ut primum doceat in rerum natura esse aliquid immobile, deinde hoc esse animam temptet ostendere. 14,4 »Necesse est«, inquit, »aut omnia quae sunt immobilia esse, aut omnia moueri, aut aliqua ex his moueri, aliqua non moueri. Item si damus«, ait, »et motum et quietem, necesse est aut alia semper moueri et alia numquam moueri, aut omnia simul nunc quiescere, nunc moueri. De his«, inquit, »quid magis uerum sit requiramus. 14,5 Non esse omnia immobilia aspectus ipse testimonio est, quia sunt quorum motum uidemus. Rursus non moueri omnia uisus docet, quo immota cognoscimus. Sed nec omnia dicere possumus modo motum pati, modo esse sine motu, quia sunt quorum perpetuum motum uidemus, ut de caelestibus nulla dubitatio est. Restat igitur«, ait, »ut, sicut aliqua semper mouentur, ita sit aliquid semper immobile.« 14,6 Ex his ut collectum sit esse aliquid immobile, nullus obuiat uel refellit. Nam et uera diuisio est, et sectae Platonicae non repugnat. Neque

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Die acht Einwände des Aristoteles 14,1 Aber bei all diesen Beweisgängen kann der letztendliche Schluss, die Seele sei unsterblich, nur dann gültig sein, wenn man den Obersatz von der Selbstbewegtheit der Seele nicht ablehnt. Wenn der nämlich verworfen wird, werden auch alle folgenden Sätze entkräftet.131 14,2 Die Stoiker akzeptieren ihn, Aristoteles dagegen nicht, und er geht in seiner Ablehnung so weit, dass er nicht nur die Selbstbewegtheit der Seele, sondern ihre Bewegung überhaupt rundweg in Abrede stellen möchte. Er argumentiert nämlich mit solcher Spitzfindigkeit dagegen, dass etwas über Eigenbewegung verfüge, dass, selbst wenn zugestanden sei, irgendetwas besitze sie, dieses Etwas dennoch nicht die Seele sei. 14,3 Er sagt: »Wenn die Seele das Prinzip der Bewegung ist, so weise ich nach, dass das Prinzip der Bewegung selbst unbewegt ist.«132 Er geht dabei mit folgenden methodischen Schritten vor: Zuerst weist er nach, in der Natur müsse etwas Unbewegtes vorhanden sein, sodann versucht er zu zeigen, dass das die Seele sei. 14,4 »Notwendigerweise«, sagt er, »muss entweder alles, was existiert, unbewegt sein, oder alles sich in Bewegung befinden, oder es muss einiges davon bewegt, einiges unbewegt sein.133 Ebenso, wenn wir Bewegung und Ruhe als gegeben betrachten, ist es notwendig, dass die einen Dinge immer in Bewegung sind, die anderen aber niemals, oder dass alle insgesamt sich bald in Bewegung und bald in Ruhe befinden. Nun wollen wir untersuchen, was davon der Wahrheit am nächsten kommt. 14,5 Dass nicht alle Dinge unbewegt sind, zeigt uns die Beobachtung selbst, denn es gibt welche, deren Bewegung wir sehen können. Die Beobachtung lehrt uns ebenso, dass nicht alles sich bewegt, weil wir Dinge im Zustand der Unbewegtheit wahrnehmen. Wir können aber auch nicht sagen, dass die Gesamtheit aller Dinge bald in Bewegung und bald bewegungslos ist, weil wir manche Dinge in dauernder Bewegung sehen, was unzweifelhaft bei den Himmelskörpern der Fall ist. Es bleibt folglich nur, dass manche Dinge immer in Bewegung sind, aber auch etwas dauernd Unbewegtes existiert.«134 14,6 Dass hieraus folgt, dass es etwas Unbewegtes geben muss, wird niemand bestreiten oder widerlegen können. Denn die Struktur der Syllogismen ist regelgerecht und widerspricht auch nicht den Auffassungen

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enim siquid est immobile, sequitur ut hoc sit anima, nec qui dicit animam ex se moueri, iam moueri uniuersa confirmat, sed modum adstruit quo anima mouetur. Si quid uero est aliud immobile, nihil ad hoc quod de anima adstruitur pertinebit. 14,7 Quod et ipse Aristoteles uidens, postquam docuit esse aliquid immobile, hoc esse animam uult docere, et incipit adserere nihil esse quod ex se moueri possit, sed omnia quae mouentur ab alio moueri. Quod si uere probasset, nihil ad patrocinium Platonicae sectae relinqueretur. Quemadmodum enim credi posset ex se moueri animam si constaret nihil esse quod ex se possit moueri? In hac autem Aristotelica argumentatione huius modi diuisionis ordo contexitur: 14,8 »Ex omnibus quae mouentur«, inquit, »alia per se mouentur, alia ex accidenti. Et ex accidenti«, inquit, »mouentur quae, cum ipsa non moueantur, in eo tamen sunt quod mouetur, ut in naui sarcina seu uector quiescens, aut etiam cum pars mouetur quiescente integritate, ut si quis stans pedem manumue uel caput agitet. 14,9 Per se autem mouetur quod neque ex accidenti neque ex parte, sed et totum simul mouetur, ut cum ad superiora ignis ascendit. Et de his quidem quae ex accidenti mouentur, nulla dubitatio est quin ab alio moueantur; probabo autem«, inquit, »etiam ea quae per se mouentur ab alio moueri. 14,10 Ex omnibus enim«, ait, »quae per se mouentur, alia causam motus intra se possident, ut animalia, ut arbores, quae sine dubio ab alio intelleguntur moueri, a causa scilicet quae in ipsis latet (nam causam motus ab eo quod mouetur ratio sequestrat); alia uero aperte ab alio mouentur, id est aut ui aut natura.

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der platonischen Schule. Wenn es aber etwas Unbewegtes gibt, folgt daraus nicht schon, dass es sich dabei um die Seele handelt, und ebenso wenig behauptet jemand, der sagt, dass die Seele selbstbewegt sei, damit, dass alle Dinge selbstbewegt seien, sondern macht lediglich eine Aussage über die Art der Seelenbewegung. Gibt es wirklich etwas anderes Unbewegtes, hat das mit der Aussage über die Seele nichts zu tun. 14,7 Das hat auch Aristoteles selbst gesehen, und nachdem er nachgewiesen hat, dass es etwas Unbewegtes geben muss, versucht er zu beweisen, dass das die Seele ist, und fängt an zu behaupten, es gebe nichts, das aus sich selbst bewegt sei, sondern alles, was in Bewegung sei, werde aus anderer Quelle bewegt.135 Könnte er das wirklich beweisen, wäre den Platonikern jede Waffe aus der Hand geschlagen. Denn wie könnte man noch an die Selbstbewegtheit der Seele glauben, wenn feststünde, dass es nichts Selbstbewegtes gibt? Aristoteles gliedert nun seine Argumentation in folgende Schritte: 14,8 »Von allen Dingen, die sich bewegen«, sagt er, »bewegen sich die einen aus sich heraus, die anderen akzidentiell. Akzidentiell bewegen sie sich, wenn sie sich, ohne sich selbst zu bewegen, in einem Objekt befinden, das sich bewegt, wie etwa das Frachtgut auf einem Schiff oder ein ruhender Passagier; oder wenn sich bei Ruhe des ganzen Objekts eines seiner Teile bewegt, etwa wenn jemand, der steht, Hand, Bein oder Kopf bewegt.136 14,9 Eigenbewegt ist aber alles, das nicht akzidentiell oder nur zum Teil, sondern als Ganzes zugleich bewegt wird, wie etwa ein nach oben züngelndes Feuer.137 Dass nun akzidentiell bewegte Objekte aus anderer Quelle bewegt werden, ist unzweifelhaft. Ich werde aber beweisen«, sagt er, »dass auch die selbstbewegten Dinge aus anderer Quelle bewegt werden. 14,10 Von allen selbstbewegten Dingen«, sagt er, »haben die einen die Ursache ihrer Bewegung in sich, wie etwa die Tiere und die Bäume, von denen man zwar begreift, dass sie unzweifelhaft von einer anderen Ursache bewegt werden, jedoch von einer, die in ihnen liegt (denn die Vernunft unterscheidet die Ursache der Bewegung vom bewegten Objekt).138 Bei anderen aber liegt es zutage, dass sie aus fremder Quelle bewegt werden, sei es durch Krafteinwirkung oder durch eine natürliche Ursache.

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14,11 Et ui moueri dicimus omne iaculum, quod, cum de manu iaculantis recessit, suo quidem motu ferri uidetur, sed origo motus ad uim refertur. Sic enim non numquam et terram sursum et ignem deorsum ferri uidemus, quod alienus sine dubio cogit impulsus. 14,12 Natura uero mouentur uel grauia cum per se deorsum, uel leuia cum sursum feruntur; sed et haec dicendum est ab alio moueri, licet a quo habeatur incertum. 14,13 Ratio enim«, ait, »deprehendit esse nescio quid quod haec moueat. Nam si sponte mouerentur, sponte etiam starent, sed nec unam uiam semper agerent, immo per diuersa mouerentur si spontaneo ferrentur agitatu. Cum uero hoc facere non possint, sed leuibus semper ascensus et descensus grauibus deputatus sit, apparet eorum motum ad certam et constitutam naturae necessitatem referri.« 14,14 Haec sunt et his similia quibus Aristoteles omne quod mouetur ab alio moueri probasse se credidit. Sed Platonici, ut paulo post demonstrabitur, argumenta haec arguta magis quam uera esse docuerunt. 14,15 Nunc sequens eiusdem iungenda diuisio est qua non posse animam ex se moueri, etiamsi hoc alia res facere posset, laborat ostendere. Et huius rei primam propositionem ab illis mutuatur quae sibi aestimat constitisse. 14,16 Sic enim ait: »Cum igitur omne quod mouetur constet ab alio moueri, sine dubio id quod primum mouet quia non ab alio mouetur (neque enim haberetur iam primum si ab alio moueretur), necesse est«, inquit, »ut aut stare dicatur aut se ipsum mouere. 14,17 Nam si moueri ab alio dicatur, illud quoque quod id mouet dicetur ab alio moueri et illud rursus ab alio, et in infinitum inquisitio ista casura

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14,11 Durch Krafteinwirkung, sagen wir, bewegt sich jeder Speer, der nach seiner Entsendung aus der Hand des Schützen kraft eigener Bewegung zu fliegen scheint, deren Ursprung tatsächlich aber in seiner Anfangsbeschleunigung liegt.139 Ebenso sehen wir manchmal die Erde sich heben und Feuer nach unten sinken, was zweifellos durch einen externen Impuls ausgelöst wird.140 14,12 Aufgrund natürlicher Ursache bewegen sich schwere Gegenstände von selbst nach unten und leichte in die Höhe; auch hier ist zu sagen, dass sie von etwas anderem bewegt werden, ohne dass klar ist, wovon.141 14,13 Die Vernunft«, sagt er, »begreift, dass irgendetwas für diese Bewegung verantwortlich ist. Wenn sich diese Objekte aus eigenem Antrieb bewegen würden, blieben sie aus demselben auch wieder stehen. Und wenn sie durch eigenen Antrieb bewegt würden, gingen sie auch nicht immer nur in eine, sondern in verschiedene Richtungen.142 Weil sie dazu aber nicht fähig sind, sondern die leichten immer emporsteigen, die schweren dagegen nach unten sinken müssen, folgt ihre Bewegung offenkundig einer bestimmten naturgesetzlichen Notwendigkeit.« 14,14 So und ähnlich lauten die Argumente, mit denen Aristoteles bewiesen zu haben glaubte, dass alles Bewegte aus externer Quelle bewegt werde. Wie wir aber weiter unten zeigen werden,143 haben die Platoniker nachgewiesen, dass diese Argumente eher raffiniert als richtig sind. 14,15 Nun müssen wir uns dem zweiten Beweisgang zuwenden, wo Aristoteles sich abmüht zu zeigen, dass die Seele nicht aus sich selbst bewegt sein kann, selbst wenn andere Dinge dazu fähig sein sollten. Den Obersatz dafür entnimmt er den Schlüssen, die nach seiner Meinung bereits feststehen. 14,16 Er sagt:144 »Da feststeht, dass alles, was sich bewegt, von etwas anderem bewegt wird, muss zweifellos das erste Bewegende, das von nichts anderem bewegt wird (denn es könnte nicht als das Erste gelten, wenn es von etwas anderem bewegt würde), entweder als ruhend oder sich selbst bewegend bezeichnet werden. 14,17 Denn wenn wir sagten, es werde von etwas anderem bewegt, müsste man auch von diesem sagen, dass es von etwas anderem bewegt wird, und das wiederum ebenfalls von etwas anderem, und so verlöre sich

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est numquam exordia prima reperiens, si semper aliud ea quae putaueris prima praecedit. 14,18 Restat igitur«, inquit, »ut si quod primum mouet non dicatur stare, ipsum se mouere dicatur. Et sic erit in uno eodemque aliud quod mouet, aliud quod mouetur, siquidem in omni«, ait, »motu tria haec sint necesse est, id est quod mouet, et quo mouet, et quod mouetur. 14,19 Ex his quod mouetur tantum mouetur, non etiam mouet, cum illud quo fit motus et moueatur et moueat; illud uero quod mouet non etiam mouetur, ut ex tribus sit commune quod medium, duo uero sibi contraria intellegantur. 14,20 Nam sicut est quod mouetur et non mouet, ita est«, inquit, »quod mouet et non mouetur, propter quod diximus quia, cum omne quod mouetur ab alio moueatur, si quod mouet et ipsum mouetur, quaeremus semper motus huius nec umquam inueniemus exordium. 14,21 Deinde siquid se mouere dicatur, necesse est«, inquit, »ut aut totum a toto aut partem a parte aut partem a toto aut totum a parte existimemus moueri; et tamen motus ille, seu a toto seu a parte procedat, alterum sui postulabit auctorem.« 14,22 Ex his omnibus in unum Aristotelica ratiocinatio tota colligitur hoc modo: »Omne quod mouetur ab alio mouetur. Quod igitur primum mouet, aut stat aut ab alio et ipsum mouetur. Sed si ab alio, iam non potest hoc primum uocari, et semper quod primum moueat requiremus. Restat ut stare dicatur. Stat igitur quod primum mouet.«

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die Untersuchung im Unendlichen und gelangte niemals zum Ursprung der Bewegung, wenn immer etwas anderes dem vermeintlich Ersten vorausgeht. 14,18 Es bleibt also«, sagt er, »wenn man nicht sagen will, dass der erste Beweger stillsteht, nur die Feststellung, dass er sich selbst bewegt. Dann aber gäbe es in ein und demselben Wesen etwas, das Bewegung verursacht, und etwas, das Bewegung erleidet; denn jede Bewegung ist notwendigerweise ein Vorgang mit drei Beteiligten, nämlich dem Beweger, dem Mittel der Bewegung und dem bewegten Objekt. 14,19 Dabei wird das bewegte Objekt lediglich bewegt, ohne dass eine Bewegung von ihm ausgeht, während das Mittel der Bewegung gleichermaßen bewegt und bewegt wird; der Beweger schließlich wird seinerseits nicht bewegt. Von den drei Beteiligten ist somit der mittlere das Gemeinsame, während die beiden anderen sich zueinander in Opposition befinden. 14,20 Wie nämlich etwas existiert, das bewegt wird, aber selbst keine Bewegung verursacht, so existiert auch etwas, das Bewegung verursacht, aber selbst nicht bewegt wird, und das aus dem obengenannten Grund: Da alles, was bewegt wird, von etwas anderem bewegt wird, müssten wir, sofern das Bewegende auch selbst bewegt wird, immer weiter nach dem Ursprung dieser Bewegung suchen und würden ihn niemals finden.145 14,21 Wenn ferner von etwas gesagt wird, es bewege sich selbst, bedeutet das notwendigerweise, dass wir annehmen, dass es wahlweise als Ganzes von seiner Gesamtheit, zum Teil von einem Teil, zum Teil vom Ganzen oder als Ganzes von einem Teil bewegt wird; und eine derartige Bewegung, mag sie vom Ganzen oder einem Teil ausgehen, würde wieder einen anderen Urheber der Bewegung voraussetzen.«146 14,22 Nimmt man das alles zusammen, lässt sich die gesamte Argumentation des Aristoteles mit einem einzigen Schluss formulieren: »Alles Bewegte wird von etwas anderem bewegt. Der erste Beweger muss aber entweder unbewegt sein oder selbst von etwas anderem bewegt werden. Wird er aber von etwas anderem bewegt, kann er nicht der erste Beweger genannt werden, und wir müssen immer weiter nach einem ersten Beweger suchen. Es bleibt nur, dass wir ihn als unbewegt bezeichnen. Der erste Beweger ist folglich selbst unbewegt.«147

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14,23 Contra Platonem ergo, qui dicit animam motus esse principium, in hunc modum componitur syllogismus: »Anima principium motus est. Principium autem motus non mouetur. Igitur anima non mouetur.« Et hoc est quod primo loco uiolenter obiecit, nec eo usque persuadere contentus animam non moueri, aliis quoque rationibus non minus uiolentis perurget. 14,24 »Nullum«, inquit, »initium idem potest esse ei cuius est initium. Nam apud geometras principium lineae punctum dicitur esse, non linea; apud arithmeticos principium numeri non est numerus. Item causa nascendi ipsa non nascitur. Et ipsa ergo motus causa uel initium non mouetur. Ergo anima, quae initium motus est, non mouetur.« 14,25 Additur hoc quoque: »Numquam«, inquit, »fieri potest ut circa unam eandemque rem uno eodemque tempore contrarietates ad unum idemque pertinentes eueniant. Scimus autem quia mouere facere est et moueri pati est. Ei igitur quod se mouet simul euenient duo sibi contraria, et facere et pati, quod impossibile est. Anima igitur non potest se mouere.« 14,26 Item dicit: »Si animae essentia motus esset, numquam quiesceret a motu. Nihil est enim quod recipiat essentiae suae contrarietatem; nam ignis numquam frigidus erit nec nix sponte umquam calescet. Anima autem non numquam a motu cessat; non enim semper corpus uidemus agitari. Non igitur animae essentia motus est cuius contrarietatem receptat.« 14,27 Ait etiam: »Anima si aliis causa motus est, ipsa sibi causa motus esse non poterit. Nihil est enim«, inquit, »quod eiusdem rei sibi causa sit, cuius est alii; ut medicus, ut exercitor corporum sanitatem uel ualentiam, quam ille aegris hic luctatoribus praestat, non utique ex hoc etiam sibi praestant.« 14,28 Item dicit: »Omnis motus ad exercitium sui instrumento eget, ut singularum artium usus docet. Ergo uidendum ne et animae ad se mo-

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14,23 Gegen Platons Auffassung, dass die Seele das Prinzip der Bewegung sei, ist der Syllogismus also folgendermaßen konstruiert: »Die Seele ist das Prinzip der Bewegung. Das Prinzip der Bewegung ist aber unbewegt. Folglich ist die Seele unbewegt.«148 Das ist sein erster scharfer Einwand; aber er gibt sich nicht damit zufrieden, uns unablässig einzureden, dass die Seele unbewegt sei, sondern er setzt uns auch noch mit weiteren nicht weniger kompromisslosen Argumenten zu. 14,24 Denn zweitens sagt er: »Kein Prinzip kann identisch mit dem sein, dessen Prinzip es ist: Bei den Geometern ist der Ursprung einer Linie der Punkt, nicht die Linie selbst; bei den Arithmetikern ist der Ursprung der Zahlen keine Zahl; die Ursache einer Geburt wird nicht selbst geboren. Und auch die Ursache oder der Beginn einer Bewegung bewegt sich nicht. Folglich ist die Seele, der Beginn der Bewegung, selbst unbewegt.«149 14,25 Drittens fügt er an: »Es ist niemals möglich, dass ein und dieselbe Sache zu ein und derselben Zeit sich in ein und derselben Situation gegensätzlich verhält. Nun wissen wir, dass »bewegen« aktiv und »bewegt werden« passiv ist. In einer Sache also, die sich selbst bewegt, träte der Widerspruch auf, dass sie zugleich aktiv handelt und passiv erleidet, was unmöglich ist. Folglich kann die Seele sich nicht selbst bewegen.«150 14,26 Viertens sagt er: »Wenn die Essenz der Seele die Bewegung wäre, könnte sie niemals aus dieser Bewegung zur Ruhe kommen. Es gibt nämlich nichts, das eine zu seiner Essenz in Widerspruch stehende Eigenschaft annähme: Das Feuer wird niemals kalt und der Schnee niemals von selbst heiß. Die Seele aber lässt hin und wieder von ihrer Bewegung ab, denn wir sehen ja, dass der Körper nicht immer in Bewegung ist. Die Essenz der Seele ist also nicht die Bewegung, da sie regelmäßig in einen dazu gegensätzlichen Zustand übergeht.«151 14,27 Fünftens: »Wenn die Seele Ursache der Bewegung für anderes ist, kann sie nicht auch Ursache ihrer eigenen Bewegung sein. Denn nichts ist für sich Ursache derjenigen Sache, deren Ursache sie für ein anderes ist: Der Arzt oder der Trainer vermittelt Gesundheit beziehungsweise Körperkraft den Kranken oder den Athleten, vermitteln sie aber nicht unbedingt auch sich selbst.«152 14,28 Sechstens: »Jede Bewegung benötigt zu ihrem Vollzug ein Mittel, wie uns die Erfahrung aus unterschiedlichen Disziplinen lehrt. Wir müssen daher prüfen, ob etwa die Seele ebenfalls ein Mittel für ihre Bewe-

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uendum instrumento opus sit. Quod si impossibile iudicatur, et illud impossibile erit ut anima ipsa se moueat.« 14,29 Item dicit: »Si mouetur anima, sine dubio cum reliquis motibus et de loco in locum mouetur. Quod si est, modo corpus ingreditur modo rursus egreditur, et hoc frequenter exercet. Sed hoc uidemus fieri non posse. Non igitur mouetur.« 14,30 His quoque addit: »Si anima se mouet, necesse est ut aliquo motus genere se moueat. Ergo aut in loco se mouet, aut se ipsam pariendo se mouet, aut se ipsam consumendo aut se augendo aut se minuendo; haec sunt enim«, ait, »motus genera. 14,31 Horum«, inquit, »singula quemadmodum possint fieri requiramus. Si in loco se mouet, aut in rectam lineam se mouet aut sphaerico motu in orbem rotatur. 14,32 Sed recta linea infinita nulla est; nam quaecumque in natura intellegitur linea quocumque fine sine dubio terminatur. Si ergo per lineam terminatam anima se mouet, non semper mouetur; nam cum ad finem uenitur et inde rursus in exordium reditur, necesse est interstitium motus fieri in ipsa permutatione redeundi. 14,33 Sed nec in orbem rotari potest, quia omnis sphaera circa aliquid immobile quod centron uocamus mouetur. Si ergo et anima sic mouetur, aut intra se habet quod immobile est, et ita fit ut non tota moueatur, aut si non intra se, sequetur aliud non minus absurdum, ut centron foris sit, quod esse non poterit. Constat ergo ex his«, ait, »quod in loco se non moueat. 14,34 Sed si ipsa se parit, sequitur ut eandem et esse et non esse dicamus; si uero se ipsa consumit, non erit immortalis. Quod si se aut auget aut minuit, eadem simul et maior se et minor reperietur.« 14,35 Et ex his talem colligit syllogismum: »Si anima se mouet, aliquo motus genere se mouet. Nullum autem motus genus quo se moueat inuenitur. Non igitur se mouet.«

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gung benötigt. Betrachtet man das als unmöglich, wird es auch unmöglich sein, dass die Seele sich selbst bewegt.«153 14,29 Siebtens: »Wenn sich die Seele bewegt, besitzt sie neben den anderen Bewegungsarten auch die von Ort zu Ort. Ist das so, geht sie bald in den Körper hinein, bald heraus und wird das auch häufig tun. Wir sehen aber, dass das unmöglich ist. Folglich bewegt sie sich nicht.«154 14,30 Dem fügt er achtens noch hinzu:155 »Wenn die Seele sich bewegt, tut sie das notwendigerweise in einer bestimmten Bewegungsart. Entweder sie bewegt sich im Raum, oder sie bewegt sich, indem sie sich selbst hervorbringt oder verzehrt, sich selbst vergrößert oder verkleinert; denn das sind die Arten der Bewegung. 14,31 Prüfen wir nun,« sagt er, »wie das im Einzelnen erfolgen könnte. Im Falle der Ortsbewegung müsste sie sich entweder in gerader Linie bewegen oder in kreisförmiger Bewegung wie eine Kugel. 14,32 Aber es gibt keine gerade Linie, die unendlich wäre; jede in der Natur vorstellbare Linie hat zweifellos irgendwo ihr Ende. Bewegt sich also die Seele auf einer begrenzten Linie, bewegt sie sich nicht ständig, denn wenn sie zum Ende der Linie gelangt ist und von dort wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt, muss notwendigerweise beim Richtungswechsel eine Unterbrechung ihrer Bewegung stattfinden. 14,33 Aber die Seele kann sich auch nicht im Kreis bewegen, weil jede Sphäre um etwas Unbewegliches kreist, das wir Zentrum nennen. Wenn die Bewegung der Seele also derart ist, schließt sie entweder etwas ein, das unbeweglich ist, und bewegt sich folglich nicht zur Gänze; wenn sie aber das Zentrum nicht einschließt, ergibt sich daraus die nicht geringere Absurdität, dass das Zentrum außerhalb der Kreisbewegung ist, was nicht sein kann. Es steht somit fest, dass die Seele keine Ortsbewegung kennt. 14,34 Sollte sie sich selbst hervorbringen, folgt daraus, dass sie zugleich existiert und nicht existiert; verzehrt sie sich selbst, ist sie nicht unsterblich. Vergrößert oder verkleinert sie sich, ist sie zugleich größer und kleiner als sie selbst.« 14,35 Aus diesen Überlegungen leitet er folgenden Syllogismus ab: »Wenn die Seele sich selbst bewegt, tut sie das auf eine bestimmte Bewegungsart. Es ist aber keine Bewegungsart nachweisbar, in der sie sich bewegen könnte. Folglich bewegt sie sich nicht.«156

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15,1 Contra has tam subtiles et argutas et uerisimiles argumentationes accingendum est secundum sectatores Platonis, qui inceptum, quo Aristoteles tam ueram tamque ualidam definitionem magistri sauciare temptauerat, subruerunt. 15,2 Neque uero tam immemor mei aut ita male animatus sum ut ex ingenio meo uel Aristoteli resistam uel adsim Platoni, sed ut quisque magnorum uirorum qui se Platonicos dici gloriabantur aut singula aut bina defensa ad ostentationem suorum operum reliquerunt, collecta haec in unum continuae defensionis corpus coaceruaui, adiecto siquid post illos aut sentire fas erat aut audere in intellectum licebat. 15,3 Et quia duo sunt quae adserere conatus est, unum quo dicit nihil esse quod ex se moueatur, alterum quo animam hoc esse non posse confirmat, utrique resistendum est, ut et constet posse aliquid ex se moueri et animam hoc esse clarescat. 15,4 In primis igitur illius diuisionis oportet nos cauere praestigias, in qua enumerans aliqua quae ex se mouentur et ostendens illa quoque ab alio moueri, id est a causa interius latente, uidetur sibi probasse omnia quae mouentur, etiamsi ex se moueri dicantur, ab alio tamen moueri. 15,5 Huius enim rei pars uera est, sed est falsa conclusio. Nam esse aliqua quae, cum ex se moueri uideantur, ab alio tamen constet moueri, nec nos diffitemur. Non tamen omnia quae ex se mouentur hoc sustinent, ut ab alio ea moueri necesse sit. 15,6 Plato enim, cum dicit animam ex se moueri, id est cum aŒtok–nhton uocat, non uult eam inter illa numerari quae ex se quidem uidentur

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Widerlegung des ersten Einwands des Aristoteles 15,1 Gegen eine so subtile, spitzfindige und einleuchtend dargebotene Argumentation müssen wir uns wappnen, indem wir den Anhängern Platons folgen, welche den Plan des Aristoteles zu Fall gebracht haben, der so wahrhaften und unerschütterlichen Lehre seines Lehrers den Dolchstoß zu versetzen.157 15,2 Nun bin ich weder so wenig selbstkritisch noch so vermessen, dass ich mit meinen bescheidenen Geisteskräften Aristoteles Widerstand oder Platon Beistand leisten wollte. Vielmehr habe ich, soweit jene Großen, die sich rühmen durften, Platoniker zu heißen, jeweils eines oder zwei Gegenargumente hinterlassen haben, um ihre eigenen Studien ins rechte Licht zu rücken, diese in einer einzigen zusammenhängenden Verteidigungsschrift zusammengefasst. Zusätze habe ich gemacht, wo man sich nach jenen noch eine persönliche Meinung bilden oder einen klärenden Hinweis wagen durfte.158 15,3 Und da es zwei Thesen sind, die Aristoteles zu beweisen sucht, nämlich, dass es nichts gebe, das sich aus sich selbst bewegt, und falls doch, dass das nicht die Seele sein könne, müssen wir beidem entgegentreten, sodass klar wird, dass es Selbstbewegtes gibt und dass auch die Seele sich selbst bewegen kann.159 15,4 Besonders müssen wir uns vor dem Blendwerk jener Beweisführung in Acht nehmen, in welcher er einige Dinge aufzählt, die sich selbst bewegen, und zeigt, dass auch sie aus fremder, in ihnen verborgener Ursache bewegt werden. Damit glaubt er nachgewiesen zu haben, dass alle Dinge, die sich bewegen, von einer anderen Ursache bewegt werden, auch wenn sie als selbstbewegt gelten.160 15,5 Ein Teil seiner Argumentation trifft zu, nicht aber seine Schlussfolgerung. Dass es Dinge gibt, die anscheinend selbstbewegt sind und dennoch ganz gewiss durch etwas anderes bewegt werden, stellen auch wir nicht in Abrede. Doch nicht alle Dinge, die sich aus sich selbst bewegen, lassen die Aussage zu, dass sie notwendigerweise durch etwas anderes bewegt werden. 15,6 Wenn Platon sagt, dass die Seele sich aus sich heraus bewege, und sie als aŒtok–nhtoc, »selbstbewegt«, bezeichnet, meint er nicht, dass sie zu den Dingen zähle, die nur scheinbar aus sich selbst und in Wahrheit von

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moueri, sed a causa quae intra se latet mouentur, ut mouentur animalia, auctore quidem alio sed occulto (nam ab anima mouentur), aut ut mouentur arbores, quarum etsi non uidetur agitator, a natura tamen eas interius latente constat agitari. Sed Plato ita animam dicit ex se moueri ut non aliam causam uel extrinsecus accidentem uel interius latentem huius motus dicat auctorem. Hoc quemadmodum accipiendum sit instruemus. 15,7 Ignem calidum uocamus, sed et ferrum calidum dicimus; et niuem frigidam et saxum frigidum nuncupamus, mel dulce, sed et mulsum dulce uocitamus. Horum tamen singula de diuersis diuersa significant. 15,8 Aliter enim de igne aliter de ferro calidi nomen accipimus, quia ignis per se calet, non ab alio fit calidus, contra ferrum non nisi ex alio calescit. Vt nix frigida, ut mel dulce sit, non aliunde contingit; saxo tamen frigus uel mulso dulcedo a niue uel melle proueniunt. 15,9 Sic et stare et moueri tam de his dicitur quae ab se uel stant uel mouentur, quam de illis quae uel sistuntur uel agitantur ex alio. Sed quibus moueri ab alio uel stare contingit, haec et stare desinunt et moueri. Quibus autem idem est et esse et moueri, numquam a motu cessant, quia sine essentia sua esse non possunt, sicut ferrum amittit calorem, ignis uero calere non desinit. 15,10 Ab se ergo mouetur anima; licet et animalia uel arbores per se uideantur moueri, sed illis, quamuis interius latens, alia tamen causa, id est anima uel natura, motum ministrat. Ideo et amittunt hoc quod aliunde

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einer in ihnen verborgenen Ursache bewegt werden, wie etwa die Tiere, die durch einen anderen, wenn auch verborgenen Urheber, nämlich ihre Seele, bewegt werden, oder wie die Bäume, deren Beweger zwar unsichtbar ist, die aber bekanntermaßen dennoch von einer Naturkraft, die in ihnen steckt, bewegt werden. Platon sagt vielmehr, dass die Seele sich in dem Sinne aus sich selbst bewege, dass dabei jede andere Ursache, sei es eine von außen einwirkende oder eine im Inneren des Menschen verborgene, als Urheberin dieser Bewegung ausgeschlossen sei. Wie das zu verstehen ist, werden wir jetzt erklären. 15,7 Wir sagen vom Feuer, es sei heiß, sagen das aber auch vom Eisen; wir nennen den Schnee kalt und ebenso einen Stein; wir bezeichnen den Honig als süß und ebenso den Honigwein. Diese Prädikate haben aber, da von unterschiedlichen Dingen ausgesagt, jeweils eine unterschiedliche Bedeutung. 15,8 Das Wort »heiß« verstehen wir beim Feuer in einem anderen Sinne als beim Eisen, weil das Feuer von selbst heiß ist und nicht durch äußere Einwirkung erhitzt wird, was umgekehrt beim Eisen immer der Fall ist. Die Kälte des Schnees und die Süße des Honigs beruhen nicht auf äußeren Ursachen, im Gegensatz zur Kälte eines Steins oder der Süße des Honigweins, die vom Schnee beziehungsweise vom Honig bewirkt werden.161 15,9 Ebenso wird »steht« und »bewegt sich« gleichermaßen von Dingen ausgesagt, die aus eigenem Antrieb stehen oder sich bewegen, wie von solchen, die durch fremden Antrieb zum Stehen gebracht oder in Bewegung versetzt werden. Dinge aber, die ihren Stillstand oder ihre Bewegung einem äußeren Impuls verdanken, hören auch wieder auf, zu stehen oder sich zu bewegen. Solche dagegen, für die »sein« und »in Bewegung sein« identisch ist, lassen niemals von ihrer Bewegung ab, weil sie ohne diese ihre Essenz nicht existieren können. So kann ein Eisen die Hitze wieder verlieren, Feuer kann es nicht. 15,10 Von sich selbst bewegt ist also die Seele; Tiere und Bäume mögen zwar ebenfalls den Anschein der Selbstbewegtheit erwecken, aber verantwortlich für ihre Bewegung ist eine andere, wenn auch in ihrem Inneren verborgene Ursache, nämlich ihre Seele oder eine Naturkraft; und deshalb verlieren sie auch wieder, was sie anderswoher erborgt haben. Die Seele dagegen bewegt sich selbst, und zwar in demselben Sinne, wie das

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sumpserunt. Anima uero ita per se mouetur ut ignis per se calet, nulla aduenticia causa uel illum calefaciente uel hanc mouente. 15,11 Nam cum ignem calidum dicimus, non duo diuersa concipimus, unum quod calefacit, alterum quod calefit, sed totum calidum secundum suam naturam uocamus; cum niuem frigidam, cum mel dulce appellamus, non aliud quod hanc qualitatem praestat, aliud cui praestatur accipimus. 15,12 Ita et cum animam per se moueri dicimus, non gemina consideratio sequitur mouentis et moti; sed in ipso motu essentiam eius agnoscimus, quia quod est in igne nomen calidi, in niue uocabulum frigidi, appellatio dulcis in melle, hoc necesse est de anima aŒtokin†tou nomen intellegi, quod Latina conuersio significat »per se moueri«. 15,13 Nec te confundat quod moueri passiuum uerbum est; nec, sicut secari cum dicitur, duo pariter considerantur, quod secat et quod secatur, itemque cum teneri dicitur, duo intelleguntur, quod tenet et quod tenetur, ita hic moueri duarum rerum significationem putes, quae mouet et quae mouetur. 15,14 Nam secari quidem et teneri passio est; ideo considerationem et facientis et patientis amplectitur. Moueri autem cum de his quidem dicitur quae ab alio mouentur, utramque considerationem similiter repraesentat; de eo autem quod ita per se mouetur, ut sit aŒtok–nhton, cum moueri dicitur, quia ex se, non ex alio mouetur, nulla potest suspicio passionis intellegi. 15,15 Nam et stare, licet passiuum uerbum non esse uideatur, cum de eo tamen dicitur quod stat alio sistente, ut »stant terra defixae hastae«, significat passionem. Sic et moueri, licet passiuum sonet, quando tamen nihil inest faciens, patiens inesse non poterit. 15,16 Et ut absolutius liqueat non uerborum sed rerum intellectu passionem significari, ecce ignis cum fertur ad superna nihil patitur, cum deor-

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Feuer aus sich heraus heiß ist, also ohne dass ein externer Grund sie bewegt oder einer das Feuer erhitzt. 15,11 Wenn wir nämlich das Feuer als heiß bezeichnen, stellen wir uns nicht eine Situation mit zwei Beteiligten vor, einem, der heiß macht und einem, der heiß wird, sondern nennen das Feuer seiner Natur gemäß in seiner Gesamtheit heiß. Wenn wir den Schnee kalt und den Honig süß nennen, machen wir ebenfalls keinen Unterschied zwischen etwas, das diese Eigenschaft verleiht, und etwas anderem, dem sie verliehen wird. 15,12 Nicht anders ist es, wenn wir sagen, dass die Seele sich selbst bewegt. Das impliziert eben nicht die zwei Begriffe des Bewegers und des Bewegten, vielmehr erkennen wir in der Bewegung selbst die Essenz der Seele: Was die Attribute heiß beim Feuer, kalt beim Schnee und süß beim Honig sind, das ist bei der Seele notwendigerweise das Attribut aŒtok–nhtoc, was ins Lateinische übersetzt »sich selbst bewegend« bedeutet.162 15,13 Du darfst dich nun nicht dadurch verwirren lassen, dass moveri der Form nach passiv ist; denn anders als secari (»geschnitten werden«), das zwei Partizipanten impliziert, den Schneidenden und das geschnittene Objekt, oder teneri (»gehalten werden«), das einen Haltenden und ein Gehaltenes impliziert, darf man sich bei moveri eben nicht die Präsenz zweier Partizipanten, eines Bewegers und eines Bewegten, vorstellen.163 15,14 Secari und teneri (»geschnitten« bzw. »gehalten werden«), bezeichnen nämlich ein Erleiden und implizieren daher einen Agens und einen Patiens. Moveri hingegen tut das nur dann, wenn gemeint ist, dass ein Objekt von einem externen Agens bewegt wird. Wenn moveri aber etwas bezeichnet, das »sich bewegt« im Sinne von griechisch aŒtok–nhton, ist das nicht als passive Situation aufzufassen, weil sich dann ein Objekt aus sich heraus bewegt und nicht von einem externen Agens bewegt wird.164 15,15 Demgegenüber ist »stehen« zwar formal nicht passiv; wenn es aber von einem Gegenstand ausgesagt wird, der von etwas anderem zum Stehen gebracht wurde, etwa »in den Boden gerammt stehen die Lanzen«, bezeichnet es eine passive Situation.165 Moveri dagegen ist zwar formal passiv, aber da kein Agens in der Situation vorhanden ist, kann auch kein Patiens da sein. 15,16 Um noch deutlicher zu machen, dass Passivität nicht durch die Verbform, sondern unser Situationswissen definiert wird, nimm das Bei-

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sum fertur sine dubio patitur, quia hoc nisi alio impellente non sustinet; et cum unum idemque uerbum proferatur, passionem tamen modo inesse, modo abesse dicemus. 15,17 Ergo et moueri idem in significatione est quod calere, et cum ferrum calere dicimus uel stilum moueri, quia utrique hoc aliunde prouenit, passionem esse fateamur. Cum uero aut ignis calere aut moueri anima dicetur, quia illius in calore et in motu huius essentia est, nullus hic locus relinquitur passioni, sed ille sic calere sicut moueri ista dicetur. 15,18 Hoc loco Aristoteles argutam de uerbis calumniam sarciens Platonem quoque ipsum duo, id est quod mouet et quod mouetur, significasse contendit dicendo »solum igitur quod se ipsum mouet, quia numquam deseritur a se, numquam ne moueri quidem desinit«. Et aperte illum duo expressisse proclamat his uerbis »quod mouet« et »moueri«. Sed uidetur mihi uir tantus nihil ignorare potuisse, sed in exercitio argutiarum talium coniuentem sibi operam sponte lusisse. 15,19 Ceterum quis non aduertat, cum quid dicitur se ipsum mouere, non duo intellegenda? Sicut et cum dicitur »heauton timorumenos«, id est »se puniens«, non alter qui punit, alter est qui punitur; et cum »se perdere«, »se inuoluere«, »se liberare« quis dicitur, non necesse est unum facientem alterum subesse patientem. Sed hoc solum intellectu huius elocutionis exprimitur, ut qui se punit aut qui se liberat non ab alio hoc accepisse, sed ipse sibi aut intulisse aut praestitisse dicatur. Sic et de aŒtokin†t˙

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spiel des Feuers: Wenn es in die Höhe »getragen wird«, erleidet es nichts, wenn es aber nach unten »getragen wird«, erleidet es zweifellos etwas, weil es das ohne externen Impuls nicht tut.166 Und obwohl diese unterschiedlichen Situationen mit ein und derselben Verbform bezeichnet werden, werden wir doch sagen, dass die letztere Situation passiv ist, erstere aber nicht. 15,17 Die Diathesen von moveri »bewegt werden« sind also dieselben wie die von calere »heiß sein«: Wenn wir sagen »das Eisen ist heiß« oder »der Griffel bewegt sich«, reden wir von einer passiven Situation, weil sie in beiden Fällen von außen veranlasst wird. Sagen wir dagegen »das Feuer ist heiß« oder »die Seele bewegt sich«, besteht kein Anlass zur Annahme einer passiven Situation, weil die Essenz des Feuers in der Hitze und die Essenz der Seele in der Bewegung besteht. Man wird also sagen, dass die Seele sich im selben Sinne bewegt, wie das Feuer heiß ist. 15,18 An diesem Punkt schustert Aristoteles eine pfiffige Begriffsklitterung zusammen und behauptet, Platon selbst habe mit zwei Partizipanten, nämlich dem Beweger und dem Bewegten, gerechnet, wenn er sagt: »Allein das also, was sich selbst bewegt (quod se ipsum movet), verlässt niemals sich selbst und hört daher niemals auf sich zu bewegen (moveri).«167 Er sagt, dass Platon mit den Ausdrücken »quod movet« und »moveri« ausdrücklich von zweien gesprochen habe. Mir scheint es, dass ein Mann von der Bedeutung des Aristoteles so einen Fehler nicht aus Unwissenheit begehen konnte; vielmehr hat er es wohl bei der Konstruktion derartiger Spitzfindigkeiten nicht so genau genommen und damit seine eigenen Bemühungen mutwillig zunichtegemacht.168 15,19 Nun, wer verstünde denn nicht, dass nicht von zwei Partizipanten die Rede ist, wenn man sagt, etwas bewege sich selbst? So gibt es auch im Ausdruck ›heauton timorumenos‹, »einer der sich selbst bestraft«,169 nicht einen, der straft, und einen, der bestraft wird, und wenn von jemandem gesagt wird, dass er »sich zugrunde richtet«, »sich einhüllt« oder »sich befreit«, ist in die Situation nicht notwendigerweise einer als Agens und ein anderer als Patiens involviert. In solchen Sätzen kommt lediglich der Sinn zum Ausdruck, dass derjenige, der sich da bestraft oder befreit, Strafe oder Befreiung nicht durch einen Dritten erfährt, sondern dass er selbst die Strafe über sich verhängt oder die Freiheit sich errungen hat. Ebenso ist es mit dem Ausdruck aŒtok–nhtoc »sich selbst bewegend«, der

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cum dicitur »se ipsum mouet«, ad hoc dicitur ut aestimationem alterius mouentis excludat. 15,20 Quam uolens Plato de cogitatione legentis eximere his quae praemisit expressit. »Nam quod semper«, ait, »mouetur aeternum est, quod autem motum adfert alicui quodque ipsum mouetur alicunde, quando finem habet motus, uiuendi finem habeat necesse est.« 15,21 Quid his uerbis inuenietur expressius, clara significatione testantibus non aliunde moueri quod se ipsum mouet, cum animam ob hoc dicat aeternam quia se ipsam mouet et non mouetur aliunde? Ergo »se mouere« hoc solum significat, non ab alio moueri; nec putes quod idem moueat idemque moueatur, sed moueri sine alio mouente »se mouere« est. 15,22 Aperte ergo constitit quia non omne quod mouetur ab alio mouetur. Ergo aŒtok–nhton potest non ab alio moueri; sed ne a se quidem sic mouetur ut in ipso aliud sit quod mouet, aliud quod mouetur, nec ex toto nec pro parte, ut ille proponit; sed ob hoc solum se ipsum mouere dicitur ne ab alio moueri existimetur. 15,23 Sed et illa de motibus Aristotelica diuisio quam supra rettulimus subripienti magis apta est quam probanti, in qua ait »sicut est quod mouetur et non mouet, ita est quod mouet et non mouetur.« 15,24 Constat enim quod omne quicquid mouetur mouet alia, ut dicitur aut gubernaculum nauem aut nauis circumfusum sibi aerem uel undas mouere. Quid autem est quod non possit aliud, dum ipsum mouetur, impellere? Ergo si uerum non est ea quae mouentur alia non mouere, non constat illud ut aliquid quod moueat nec tamen moueatur inuenias.

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eben dazu verwendet wird, um das Konzept eines externen Bewegers auszuschließen. 15,20 Eben den wollte Platon aus der Vorstellung des Lesers tilgen, und zwar mit den Worten, die er vorausgeschickt hatte: »Was sich beständig bewegt, ist ewig, was aber etwas anderem die Bewegung verleiht und dabei selbst von woandersher bewegt wird,170 muss, wenn die Bewegung endet, notwendigerweise auch sein Leben endigen.« 15,21 Welche Worte könnten eindeutiger sein als diese, und welche unmissverständlicher bezeugen, dass das Selbstbewegte nicht von woandersher bewegt wird, da Platon die Seele doch deswegen als ewig bezeichnet, weil sie sich selbst bewegt und nicht aus externer Quelle bewegt wird? Also bedeutet »sich bewegen« ausschließlich »nicht von etwas anderem bewegt werden«, und man sollte es auch nicht so verstehen, dass das Bewegte gleichzeitig der Beweger ist: »sich bewegen« bedeutet in Bewegung zu sein ohne einen anderen Beweger. 15,22 Es steht also eindeutig fest, dass nicht alles, was in Bewegung ist, von etwas anderem bewegt wird. Ein aŒtok–nhton kann nicht von einer externen Kraft bewegt werden, und es wird auch nicht von sich selbst bewegt in dem Sinne, dass in ihm ein Bewegendes und ein Bewegtes zu unterscheiden wären, weder zur Gänze noch zum Teil, wie Aristoteles es gerne hätte. Sondern es heißt allein deswegen selbstbewegt, damit man nicht auf den Gedanken kommt, es werde von etwas anderem bewegt. 15,23 Aber auch die Beweisführung des Aristoteles über die Bewegung, die wir oben referiert haben, passt eher zu jemandem, der tricksen statt beweisen will. Er sagt: »Wie es etwas gibt, das bewegt wird und nicht bewegt, so gibt es etwas, das bewegt und nicht bewegt wird.«171 15,24 Doch es ist klar, dass alles, was sich in Bewegung befindet, auch etwas anderes in Bewegung setzt; man sagt ja, dass ein Steuerruder das Schiff, das Schiff die umgebende Luft oder die Wogen bewegt. Was wäre denn das, das bewegt wird und dabei nicht in der Lage wäre, etwas anderes in Bewegung zu versetzen? Wenn es also nicht zutrifft, dass etwas, das bewegt wird, auch etwas anderes bewegen kann, dann kann man auch nichts finden, das etwas anderes bewegt ohne gleichzeitig selbst bewegt zu werden.

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15,25 Illa igitur magis probanda est in decimo de legibus a Platone motuum prolata diuisio. »Omnis motus«, inquit, »aut se mouet et alia, aut ab alio mouetur et alia mouet.« Et prior ad animam, ad omnia uero corpora secundus refertur. Hi ergo duo motus et differentia separantur et societate iunguntur. Commune hoc habent quod et prior et secundus mouent alia. Hoc autem differunt, quod ille a se, hic ab alio mouetur. 15,26 Ex his omnibus quae eruta de Platonicorum sensuum fecunditate collegimus, constitit non esse uerum omnia quae mouentur ab alio moueri. Ergo nec principium motus ad deprecandam alterius mouentis necessitatem stare dicetur, quia potest se ipsum, ut diximus, mouere alio non mouente. 15,27 Eneruatus est ergo syllogismus quem praemissa uaria et multiplici diuisione collegerat, id est: »Anima principium motus est; principium autem motus non mouetur; igitur anima non mouetur.« Restat ut, quia constitit posse aliquid per se moueri alio non mouente, animam hoc esse doceatur; quod facile docebitur, si de manifestis et indubitabilibus argumenta sumamus. 15,28 Homini motum aut anima praestat aut corpus aut de utroque permixtio. Et quia tria sunt de quibus inquisitio ista procedit, cum neque a corpore neque a permixtione praestari hoc posse constiterit, restat ut ab anima moueri hominem nulla dubitatio sit. 15,29 Nunc de singulis ac primum de corpore loquamur. Nullum inanimum corpus suo motu moueri, manifestius est quam ut adserendum sit. Nihil est autem quod, dum immobile sit, aliud possit mouere. Igitur corpus hominem non mouet.

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15,25 Den Vorzug verdient somit Platons Systematik der Bewegungen im zehnten Buch der ›Gesetze‹. »Jede Bewegung«, sagt er, »bewegt entweder sich selbst und etwas anderes, oder erhält ihren Impuls von etwas anderem und gibt ihn selbst an etwas anderes weiter.« Ersteres gilt von der Seele, letzteres von den Körpern.172 Diese beiden Bewegungsarten werden durch eine trennende Eigenschaft geschieden und eine gemeinsame verbunden. Gemeinsam ist ihnen, dass etwas anderes bewegt wird; der Unterschied liegt darin, dass die erste Bewegung aus sich selbst hervorgeht, die zweite aus externer Quelle. 15,26 Aufgrund all dieser Überlegungen, die wir der Fülle der Gedanken der Platoniker entnommen und geordnet haben, steht fest, dass es eben nicht wahr ist, dass alles, was sich bewegt, von etwas anderem bewegt wird. Folglich wird man nicht sagen, dass das Prinzip der Bewegung selbst in Bewegungslosigkeit verharre, nur um keinen weiteren Beweger annehmen zu müssen; denn es ist, wie wir gesagt haben, fähig, sich selbst zu bewegen, ohne eines externen Bewegers zu bedürfen. 15,27 Entkräftet ist somit der Syllogismus des Aristoteles, den er auf der Grundlage unterschiedlicher und vielfältiger Argumentation formuliert hatte,173 nämlich: »Die Seele ist das Prinzip der Bewegung; das Prinzip der Bewegung aber bewegt sich selbst nicht; also bewegt sich die Seele nicht.« Nachdem somit feststeht, dass etwas Selbstbewegtes auch ohne externen Beweger existieren kann, haben wir noch nachzuweisen, dass das die Seele ist.174 Das wird eine leichte Aufgabe sein, wenn wir unsere Argumentation auf gesicherte und unzweifelhafte Fakten stützen. 15,28 Der Mensch erhält seine Fähigkeit zur Bewegung entweder von seiner Seele oder seinem Körper oder einer Kombination von beidem. Und nachdem es diese drei Punkte sind, von denen unsere Untersuchung ausgehen muss, wird, sobald feststeht, dass diese Fähigkeit weder vom Körper noch von einem Zusammenwirken von Körper und Seele verliehen werden kann, nur die Folgerung bleiben, dass der Mensch unzweifelhaft von seiner Seele bewegt wird. 15,29 Nun werden wir über die einzelnen Punkte sprechen; zuerst über den Körper. Dass kein unbeseelter Körper sich aus eigenem Antrieb bewegt, ist so handgreiflich, dass man darüber nicht weiter reden muss. Weiterhin gibt es nichts Unbewegliches, das etwas anderes bewegen könnte. Folglich ist es nicht der Körper, der den Menschen bewegt.

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15,30 Videndum ne forte animae et corporis ipsa permixtio hunc sibi motum ministret. Sed quia constat motum corpori non inesse, si nec animae inest, ex duabus rebus motu carentibus nullus motus efficitur, sicut nec ex duabus dulcibus amaritudo nec ex duabus amaris dulcedo proueniet, nec ex gemino frigore calor aut frigus ex gemino calore nascetur. Omnis enim qualitas geminata crescit; numquam ex duplicatis similibus contrarietas emergit. Ergo nec ex duabus immobilibus motus erit. Hominem igitur permixtio non mouebit. 15,31 Hinc inexpugnabilis syllogismus ex confessarum rerum indubitabili luce colligitur: »Animal mouetur. Motum autem animali aut anima praestat aut corpus aut ex utroque permixtio. Sed neque corpus neque permixtio motum praestat. Igitur anima motum praestat.« 15,32 Ex his apparet animam initium motus esse. Initium autem motus tractatus superior docuit per se moueri. Animam ergo aŒtok–nhton esse, id est per se moueri, nulla dubitatio est. 16,1 Hic ille rursus obloquitur et alia de initiis disputatione confligit. Eadem enim hic soluendo repetemus quae supra in ordinem obiecta digessimus. »Non possunt«, inquit, »eadem initiis suis esse quae inde nascuntur; et ideo animam, quae initium motus est, non moueri, ne idem sit initium et quod de initio nascitur, id est ne motus ex motu processisse uideatur.« 16,2 Ad haec facilis et absoluta responsio est, quia, ut principia et haec quae de principiis prodeunt in aliquo non numquam inter se differre fateamur, numquam tamen ita sibi possunt esse contraria ut aduersa sibi sunt stare et moueri.

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15,30 So müssen wir fragen, ob vielleicht gerade die Verbindung von Seele und Körper Quelle dieser Bewegung ist. Doch weil feststeht, dass der Körper keine Bewegungskraft in sich hat, könnte, wenn auch die Seele keine hätte, aus zwei bewegungslosen Substanzen keine Bewegung entstehen.175 Ebenso wenig entsteht ja aus zwei süßen Substanzen Bitterkeit, aus zwei kalten Hitze oder aus zwei heißen Kälte. Jede Qualität wird durch ihre Verdoppelung intensiviert, aber niemals geht aus der Verdoppelung zweier ähnlicher Eigenschaften eine gegensätzliche hervor. So wird aus zwei unbewegten Substanzen auch keine Bewegung hervorgehen und der Mensch nicht durch eine Verbindung dieser Art bewegt werden. 15,31 Deshalb sei im Lichte der feststehenden und unanfechtbaren Tatsachen folgender unwiderlegbarer Syllogismus formuliert: »Das Lebewesen bewegt sich. Diese Bewegung vermittelt ihm entweder seine Seele oder sein Körper oder eine Verbindung von beiden. Doch sie wird weder vom Körper noch von der Verbindung Seele–Körper vermittelt. Daher wird sie von der Seele verliehen.«176 15,32 Hieraus geht hervor, dass die Seele das Prinzip der Bewegung ist. Unsere obige Abhandlung aber hat gelehrt, dass das Prinzip der Bewegung sich selbst bewegt. Folglich ist die Seele aŒtok–nhtoc, von sich selbst bewegt, und daran kann es keinen Zweifel geben.

Widerlegung des zweiten bis achten Einwands des Aristoteles 16,1 An dieser Stelle erhebt Aristoteles erneut Widerspruch und beginnt eine neuen Disput um den Begriff des Ursprungs. Bei dessen Widerlegung halten wir uns an die Reihenfolge der Einwände, wie wir sie oben angeführt haben.177 »Kein Prinzip«, sagt er, »kann identisch mit dem sein, dessen Prinzip es ist«; und deswegen bewege sich die Seele, das Prinzip der Bewegung, nicht, denn sonst wäre das Prinzip identisch mit dem, was aus dem Prinzip hervorgeht, und es hätte den Anschein, dass Bewegung aus Bewegung hervorgehe.178 16,2 Die Antwort darauf ist einfach und kategorisch: Wir gestehen zwar zu, dass Prinzipien und das, was aus ihnen hervorgeht, sich nicht selten in irgendeinem Punkt unterscheiden; aber sie können niemals so gegensätzlich sein wie Stillstand und Bewegung.

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16,3 Nam sic albi initium nigrum uocaretur, et siccum esset humoris exordium, bonum de malo, ex amaro initio dulce procederet. Sed non ita est, quia usque ad contrarietatem initia et sequentia dissidere natura non patitur. Inuenitur tamen inter ipsa non numquam talis differentia qualis inter se origini progressionique conueniat – ut est hic quoque inter motum quo mouetur anima et quo mouet cetera. 16,4 Non enim animam Plato simpliciter motum dixit, sed motum se mouentem. Inter motum ergo se mouentem et motum quo mouet cetera quid intersit in aperto est, siquidem ille sine auctore est, hic aliis motus auctor est. Constitit ergo neque adeo posse initia ac de initiis procreata differre ut contraria sibi sint, nec tamen hic moderatam differentiam defuisse. Non igitur stabit principium motus, quod ille artifici conclusione collegit. 16,5 His tertia, ut meminimus, successit obiectio: »Vni rei contraria simul accidere non posse; et quia contraria sibi sunt mouere et moueri, non posse animam se mouere ne eadem et moueatur et moueat.« Sed hoc superius adserta dissoluunt, siquidem constitit in animae motu duo non intellegenda, quod moueat et quod moueatur, quia nihil est aliud ab se moueri quam moueri alio non mouente. Nulla est ergo contrarietas, ubi quod fit unum est, quia fit non ab alio circa alium, quippe cum ipse motus animae sit essentia. 16,6 Ex hoc ei, ut supra rettulimus, nata est occasio quarta certaminis. »Si animae essentia motus est,« inquit, »cur interdum quiescit, cum nulla alia res contrarietatem propriae admittat essentiae? Ignis, cuius essentiae calor inest, calere non desinit, et quia frigidum niuis in essentia eius est,

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16,3 Dann könnte man auch »schwarz« als den Ursprung von »weiß«179 und »trocken« als den von »nass« bezeichnen, könnte »schlecht« hervorgehen lassen aus »gut« und »bitter« aus »süß«. Aber so ist das nicht, denn die Natur lässt nicht zu, dass die Ursprünge und was aus ihnen hervorgeht, sich bis zur vollständigen Gegensätzlichkeit unterscheiden. Es findet sich freilich zwischen ihnen häufig ein Unterschied, wie er für das Verhältnis von Ursprung und Entwicklung charakteristisch ist, und wie er auch in unserem Fall vorliegt, nämlich zwischen der Bewegung, mit der sich die Seele bewegt, und derjenigen, mit der sie alles Übrige bewegt. 16,4 Platon bezeichnet nämlich die Seele nicht schlichtweg als Bewegung, sondern als selbstbewegte Bewegung.180 Der Unterschied zwischen selbstbewegter Bewegung und der Bewegung, die auf alle übrigen Dinge übergeht, liegt somit klar zutage: Jene hat keinen Urheber, diese ist Urheberin der Bewegung anderer Objekte. Es steht also zum einen fest, dass die Ursprünge von ihren Hervorbringungen nicht so verschieden sein können, dass sie in Gegensatz zueinander geraten, zum anderen aber, dass ein geringer Unterschied zwischen ihnen, so wie hier, nicht ausgeschlossen ist. Das Prinzip der Bewegung ist also nicht, wie es Aristoteles mit seinem gekünstelten Schluss beweisen wollte, unbeweglich. 16,5 Wie wir uns erinnern, schließt sich hier ein dritter Einwand des Aristoteles an: »Ein und dieselbe Substanz kann nicht zur selben Zeit in gegensätzlichen Zuständen sein; und weil »bewegen« und »bewegt werden« Gegensätze sind, kann die Seele sich nicht bewegen, denn dann würde sie zugleich bewegen und bewegt werden.«181 Das ist bereits durch unsere obige Argumentation erledigt, insofern feststeht, dass in der Bewegung der Seele nicht zwei Instanzen zu erkennen sind, eine bewegende und eine bewegte, weil »von sich selbst bewegt werden« nichts anderes bedeutet, als ohne externen Agens in Bewegung sein. In einem solchen ganzheitlichen Vorgang gibt es keinen Gegensatz, weil nicht ein Agens auf einen Patiens einwirkt, da ja die Bewegung eben die Essenz der Seele ist. 16,6 Letzterer Punkt bietet Aristoteles, wie oben referiert, die Chance zu einer vierten Beanstandung: »Wenn die Essenz der Seele in der Bewegung bestünde«, sagt er, »warum ruht sie dann bisweilen, wo doch keine andere Sache sonst einen Zustand duldet, der ihrer spezifischen Essenz widerstreitet? Zur Essenz des Feuers gehört die Hitze, und es hört nicht

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non nisi semper est frigida; et anima igitur eadem ratione numquam a motu cessare deberet.« Sed dicat uelim, quando cessare a motu animam suspicatur? 16,7 »Si mouendo se«, inquit, »moueat et corpus necesse est, utique, quando non moueri corpus uidemus, animam quoque intellegimus non moueri.« Contra hoc in promptu est gemina defensio. 16,8 Primum quia non in hoc deprehenditur motus animae si corpus agitetur. Nam et cum nulla pars corporis moueri uidetur, in homine tamen ipsa cogitatio aut in quocumque animali auditus, uisus, odoratus et similia, sed et in quiete ipsa spirare, somniare; omnia haec motus animae sunt. 16,9 Deinde quis ipsum corpus dicat immobile, etiam dum non uidetur agitari, cum incrementa membrorum aut, si iam crescendi aetas et tempus excessit, cum saltus cordis cessationis impatiens, cum cibi ordinata digeries naturali dispensatione inter uenas et uiscera sucum ministrans, cum ipsa collectio fluentorum perpetuum corporis testetur agitatum? Et anima igitur aeterno et suo motu, sed et corpus, quamdiu ab initio et causa motus animatur, semper mouetur. Hinc eidem fomes quintae ortus est quaestionis. 16,10 »Si anima«, inquit, »aliis causa motus est, ipsa sibi causa motus esse non poterit, quia nihil est quod eiusdem rei et sibi et aliis causa sit.« Ego uero, licet facile possim probare plurima esse quae eiusdem rei et sibi et aliis causa sint, ne tamen studio uidear omnibus quae adserit obuiare, hoc uerum esse concedam, quod et pro uero habitum ad adserendum motum animae non nocebit. 16,11 Etenim animam initium motus et causam uocamus. De causa post uidebimus. Interim constat omne initium inesse rei cuius est initium; et ideo quicquid in quamcumque rem ab initio suo proficiscitur, hoc in ipso

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auf, heiß zu sein; zu der des Schnees die Kälte, und er ist immerzu kalt; nach derselben Regel dürfte also die Seele niemals von ihrer Bewegung ablassen.«182 Hier würde mich schon interessieren, wann seiner Vermutung nach die Seele eben das tut. 16,7 Er sagt: »Wenn die notwendige Folge der Seelenbewegung die Bewegung des Körpers ist, dann begreifen wir, immer wenn wir einen Körper bewegungslos erblicken, auch dessen Seele als bewegungslos.« Zwei Gegenargumente liegen auf der Hand: 16,8 Zunächst lässt die Bewegung des Körpers keinen Schluss auf die Bewegung der Seele zu. Denn auch wenn scheinbar kein Teil des Körpers in Bewegung ist, ist im Menschen doch der Geist aktiv; in jedem Lebewesen außerdem Gehör, Gesichts- und Geruchssinn und entsprechende Sinnesaktivitäten; im Schlaf kommen noch Atmen und Träumen hinzu; das alles sind Bewegungen der Seele.183 16,9 Wer wollte sodann den Körper als bewegungslos bezeichnen, selbst dann, wenn seine Bewegungen unsichtbar sind? Seine dauernde Bewegung äußert sich doch im Wachstum der Glieder oder, nach Ende der Wachstumsphase, im ununterbrochenen Schlagen des Herzens, im regelhaften Prozess der Verdauung, der für eine natürliche Verteilung der Lebenssäfte durch die Adern und Organe sorgt, und schließlich sogar im Vorgang der Ausscheidung. Die Seele bewegt sich also durch ihre ewige Eigenbewegung; aber auch der Körper ist in ständiger Bewegung, solange er vom Ursprung und Grund der Bewegung beseelt wird. Hier findet Aristoteles den Zunder, um einen fünften Einwand aufflackern zu lassen. 16,10 »Wenn die Seele Ursache der Bewegung für andere ist«, sagt er, »kann sie nicht auch Ursache ihrer eigenen Bewegung sein. Denn es gibt nichts, das Ursache desselben sowohl für sich selbst als auch für ein anderes ist.«184 Nun, wiewohl es ein Leichtes wäre, nachzuweisen, dass sehr vieles Ursache für sich und für anderes ist, will ich zugestehen, dass das stimmt, um nicht den Anschein zu erwecken, dass ich nur darauf erpicht bin, all seinen Aussagen zu widersprechen. Dieses Zugeständnis tut ja auch der Auffassung von der Bewegung der Seele keinen Abbruch. 16,11 Wir nennen ja die Seele Prinzip und Ursache der Bewegung. Über die Ursache sprechen wir hernach. Einstweilen steht fest, dass jeder Anfang der Sache innewohnt, deren Anfang er ist; daher findet sich alles, was sich von seinen Anfängen irgendwohin entwickelt, im Anfang selbst.

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initio reperitur. Sic initium caloris non potest non calere. Ignem ipsum, de quo calor in alia transit, quis neget calidum? 16,12 »Sed ignis«, inquit, »non se ipse calefacit, quia natura totus est calidus.« Teneo quod uolebam! Nam nec anima ita se mouet ut sit inter motam mouentemque discretio, sed tota ita suo motu mouetur ut nihil possis separare quod moueat. Haec de initio dicta sufficient. 16,13 De causa uero, quoniam spontanea coniuentia concessimus ne quid eiusdem rei et sibi et aliis causa sit, libenter adquiescimus ne anima, quae aliis causa motus est, sibi causa motus esse uideatur. His enim causa motus est quae non mouerentur ni ipsa praestaret. Illa uero ut moueatur non sibi ipsa largitur, sed essentiae suae est quod mouetur. 16,14 Ex hoc quaestio quae sequitur iam soluta est. Tunc enim forte concedam ut ad motus exercitium instrumenta quaerantur, quando aliud est quod mouet, aliud quod mouetur. In anima uero hoc nec scurrilis iocus sine damno uerecundiae audebit expetere, cuius motus est in essentia; cum ignis, licet ex causa intra se latente moueatur, nullis tamen instrumentis ad superna conscendat, multoque minus haec in anima quaerenda sint, cuius motus essentia sua est. 16,15 In his etiam quae sequuntur uir tantus et alias ultra ceteros serius similis cauillanti est. »Si mouetur«, inquit, »anima, inter ceteros motus etiam de loco in locum mouetur. Ergo modo«, ait, »corpus egreditur, modo rursus ingreditur, et in hoc exercitio saepe uersatur. Quod fieri non uidemus; non igitur mouetur.« 16,16 Contra hoc nullus est qui non sine haesitatione respondeat non omnia quae mouentur etiam de loco in locum moueri. Aptius denique in

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So ist es etwa ausgeschlossen, dass der Beginn der Hitze nicht heiß ist. Wer könnte leugnen, dass das Feuer, dessen Hitze auf anderes übergeht, heiß ist? 16,12 »Doch das Feuer«, sagt er, »erhitzt sich nicht selbst, weil es kraft seiner Natur zur Gänze heiß ist.«185 Da sind wir an dem Punkt, auf den ich hinsteuern wollte. Denn auch die Seele bewegt sich nicht derart, dass es einen Unterschied zwischen bewegender und bewegter Seele gäbe, sondern sie bewegt sich zur Gänze kraft ihrer eigenen Bewegung, und es ließe sich kein Teil von ihr abspalten, der Objekt der Bewegung wäre. Das soll über das Prinzip genügen. 16,13 Nun zur Ursache: Da wir ja in spontaner Großzügigkeit zugestanden haben, dass nichts Ursache derselben Sache für sich und etwas anderes ist, wollen wir uns auch gerne damit abfinden, dass die Seele, die für andere Dinge Ursache der Bewegung ist, nicht auch Ursache ihrer eigenen Bewegung sein soll. Ursache der Bewegung ist sie nämlich für die Dinge, die sich nicht bewegen würden, wenn sie ihnen die Bewegung nicht verliehe. Ihre eigene Bewegung aber verleiht sie sich nicht selbst, vielmehr gehört sich zu bewegen zu ihrer Essenz. 16,14 Damit ist auch der nächste Einwand des Aristoteles bereits erledigt.186 Es sei zugestanden, dass zum Hervorrufen von Bewegung ein Mittel dann erforderlich ist, wenn das Bewegende und das Bewegte unterschiedliche Entitäten sind. Von der Seele wird man das aber nicht einmal als schlechten Witz sagen, ohne sämtlichen Respekt einzubüßen, da ja die Bewegung zu ihrer Essenz gehört. Wenn schon das Feuer, mag es auch durch eine in seinem Inneren verborgene Ursache bewegt werden, ohne Hilfsmittel in die Höhe strebt, darf man solche umso weniger in der Seele suchen, für die die Bewegung ihre Essenz darstellt. 16,15 Auch im folgenden Punkt erweckt Aristoteles, ein Mann von solcher Bedeutung und in anderer Hinsicht seriöser als jeder andere, den Eindruck der Sophisterei. »Wenn sich die Seele bewegt«, sagt er, »vollzieht sie neben anderen Bewegungen auch die von Ort zu Ort. Folglich verlässt sie bald den Körper, bald kehrt sie wieder in ihn zurück, und tut das auch häufig. Es ist aber nicht zu sehen, dass sie das täte. Folglich bewegt sie sich nicht.«187 16,16 Es gibt wohl niemanden, der darauf nicht ohne zu zögern antwortete, dass nicht alles, was sich bewegt, sich auch von Ort zu Ort bewegt.

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eum similis interrogatio retorquenda est. »Moueri arbores dicis?« Quod cum, ut opinor, annuerit, pari dicacitate ferietur: »Si mouentur arbores, sine dubio, ut tu dicere soles, inter alios motus etiam de loco in locum mouentur. Hoc autem uidemus per se eas facere non posse; igitur arbores non mouentur.« 16,17 Sed ut hunc syllogismum additamento serium facere possimus, postquam dixerimus »Ergo arbores non mouentur«, adiciemus: »Sed mouentur arbores. Non igitur omnia quae mouentur etiam de loco in locum mouentur.« Et ita finis in exitum sanae conclusionis euadet: »Si ergo arbores fatebimur moueri quidem, sed apto sibi motu, cur hoc animae negemus, ut motu essentiae suae conueniente moueatur?« 16,18 Haec et alia ualide dicerentur, etiam si hoc motus genere moueri anima non posset. Cum uero et corpus animet accessu et a corpore certa constituti temporis lege discedat, quis eam neget etiam in locum, ut ita dicam, moueri? 16,19 Quod autem non saepe sub uno tempore accessum uariat et recessum, facit hoc dispositio arcana et consulta naturae, quae ad animalis uitam certis uinculis continendam tantum animae iniecit corporis amorem ut amet ultro quod uincta est, raroque contingat ne finita quoque lege temporis sui maerens et inuita discedat. 16,20 Hac quoque obiectione, ut arbitror, dissoluta, ad eas interrogationes quibus nos uidetur urguere ueniamus. »Si mouet«, inquit, »se anima, aliquo motus genere se mouet. Dicendumne est igitur animam se in loco mouere? Ergo ille locus aut orbis aut linea est. An se pariendo seu consumendo mouetur? Sene auget an minuit? Aut proferatur«, ait, »in medium aliud genus motus quo eam dicamus moueri.«

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Aber besser werden wir das mit einer ähnlichen Gegenfrage parieren: »Sagst du, dass die Bäume sich bewegen?« Wenn er, wie erwartet, darauf mit ja antwortet, werden wir ihm seine Schnurren in gleicher Münze heimzahlen: »Wenn die Bäume sich bewegen, dann müssen sie, nach deinen eigenen Worten, ohne Zweifel unter ihren Bewegungen auch die von Ort zu Ort vollziehen. Wir sehen aber, dass sie dazu von selbst nicht imstande sind. Folglich bewegen sich die Bäume nicht.« 16,17 Aber um diesen Syllogismus durch einen Zusatz ins Seriöse zu wenden, fahren wir nach den Worten »Folglich bewegen sich die Bäume nicht« fort: »Aber die Bäume bewegen sich doch. Folglich vollführt nicht alles, was sich bewegt, auch die Bewegung von Ort zu Ort.« Und so gelangen wir am Ende zu einem vernünftigen Schluss: »Wenn wir also sagen, die Bäume bewegen sich, tun das aber in einer ihnen gemäßen Weise, warum sollten wir für die Seele bestreiten, dass sie sich auf eine mit ihrer Essenz im Einklang stehende Weise bewegt?« 16,18 Und selbst wenn die Seele sich nicht dieser Art von Bewegung bedienen könnte, wären diese und andere Aussagen dennoch gültig. Denn wenn sie den Körper durch ihre Inkarnation beseelt und ihn nach einem festgesetzten Zeitraum wieder verlässt, wer könnte da leugnen, dass sie gleichsam auch über Ortsbewegung verfügt?188 16,19 Dass sie aber nicht innerhalb kurzer Zeit wiederholt in den Körper ein- und ausgeht, wird durch eine verborgene, aber planvolle Vorkehrung der Natur bewirkt. Sie hat, um das Leben in sicheren Banden zu bewahren, der Seele eine so große Liebe zum Körper eingeflößt, dass sie ihre körperliche Bindung sogar liebgewinnt und es nur selten vorkommt, dass sie nach dem regulären Ablauf der Bindungsfrist nicht voll Trauer und unwillig von ihm scheidet.189 16,20 Nachdem dieser Einwand, wie ich glaube, ebenfalls entkräftet ist, wollen wir uns den Fragen zuwenden, mit denen Aristoteles uns ernstlich zuzusetzen scheint. »Wenn die Seele sich bewegt«, sagt er, »muss sie sich auf irgendeine Art und Weise bewegen. Soll man also sagen, dass sie sich im Raum bewegt? Dieser Raum müsste ja ein Kreis oder eine Linie sein. Oder bewegt sie sich, indem sie sich selbst hervorbringt oder verzehrt? Sich vergrößert oder verkleinert? Oder möchte uns jemand eine andere Art der Bewegung präsentieren, die wir ihr zusprechen können?«190

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16,21 Sed omnis haec interrogationum molesta congeries ex una eademque defluit male conceptae definitionis astutia. Nam quia semel sibi proposuit omne quod mouetur ab alio moueri, omnia haec motuum genera in anima quaerit in quibus aliud est quod mouet, aliud quod mouetur, cum nihil horum cadere in animam possit, in qua nulla discretio est mouentis et moti. 16,22 »Quis est igitur«, dicit aliquis, »aut unde intellegitur animae motus, si horum nullus est?« Sciet hoc quisquis nosse desiderat uel Platone dicente uel Tullio: »quin etiam ceteris quae mouentur hic fons, hoc principium est mouendi«. 16,23 Quanta sit autem uocabuli huius expressio, quo anima fons motus uocatur, facile reperies, si rei inuisibilis motum sine auctore atque ideo sine initio ac sine fine prodeuntem et cetera mouentem mente concipias; cui nihil similius de uisibilibus quam fons potuerit reperiri, qui ita principium est aquae, ut, cum de se fluuios et lacus procreet, a nullo nasci ipse dicatur; nam si ab alio nasceretur, non esset ipse principium. 16,24 Et sicut fons non semper facile deprehenditur, ab ipso tamen qui funduntur aut Nilus est aut Eridanus aut Hister aut Tanais, et ut, illorum rapacitatem uidendo admirans et intra te tantarum aquarum originem requirens cogitatione recurris ad fontem, et hunc omnem motum intellegis de primo scaturriginis manare principio, ita, cum corporum motum, seu diuina seu terrena sint, considerando quaerere forte auctorem uelis, mens tua ad animam quasi ad fontem recurrat, cuius motum etiam sine corporis ministerio testantur cogitationes, gaudia, spes, timores. 16,25 Nam motus eius est boni malique discretio, uirtutum amor, cupido uitiorum, ex quibus effluunt omnes inde nascentium rerum meatus; motus eius est quicquid irascimur et in feruorem mutuae collisionis armamur, unde paulatim procedens rabies fluctuat proeliorum; motus eius

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16,21 Aber dieser ganze lästige Haufen von Fragen ist das Ergebnis der Ingeniosität einer schlecht gezimmerten Definition. Denn nachdem er sich einmal in den Kopf gesetzt hat, dass alles, was in Bewegung ist, von etwas anderem bewegt wird, sucht er in der Seele all jene Arten von Bewegung, die die Beteiligung eines Bewegers und eines Bewegten voraussetzen. Die Bewegung der Seele kann aber nicht in diese Kategorie fallen, weil bei ihr der Unterschied zwischen Beweger und Bewegtem nicht existiert. 16,22 Hier könnte jemand einwerfen: »Worin also besteht die Bewegung der Seele, oder wie erkennt man sie, wenn sie nichts von dem Genannten ist?« Jeder, der das wissen will, kann es den Worten Platons oder Ciceros entnehmen: »Ja, sie ist sogar Quelle und Prinzip der Bewegung für alles, was sich bewegt.«191 16,23 Wie tiefgründig der Ausdruck ist, die Seele sei »Quelle« der Bewegung, findest du leicht heraus, wenn du dir die Bewegung einer unsichtbaren Sache vorzustellen versuchst, die keinen Urheber und damit auch keinen Anfang und kein Ende hat, und doch alles Übrige bewegt. Unter allen sichtbaren Dingen könnte ihr nichts ähnlicher sein als eine Quelle, die der Ursprung des Wassers und damit gleichsam Schöpferin von Flüssen und Seen ist, ohne dass man sagen könnte, dass sie selbst aus irgendetwas hervorgehe. Träfe das nämlich zu, wäre sie selbst nicht der Ursprung.192 16,24 Wie nun eine Quelle nicht immer leicht zu entdecken ist und dennoch aus ihr Flüsse wie Nil, Eridanus, Hister und Don entspringen, und wie man beim Anblick ihrer reißenden Fluten voll Bewunderung über den Ursprung solcher Wassermassen nachsinnt und dabei in Gedanken zurückschreitet,193 bis man versteht, dass die Bewegungen dieser Ströme ihren Ursprung im Sprudeln einer einzigen Quelle haben, so werden deine Gedanken, wenn du bei der Betrachtung der Körper, seien sie göttlich oder irdisch, nach dem Urheber ihrer Bewegung fragen möchtest, zur Seele als deren Quelle zurückgehen, zur Seele, deren Bewegung sich auch ohne körperliche Aktivität in Denken, Freude, Hoffnung und Furcht äußert.194 16,25 Ihre Bewegung bedeutet die Unterscheidung von Gut und Böse, die Hochschätzung der Tugenden und die Gier nach den Lastern,195 woraus der Strom aller nachgeordneten Vorgänge entspringt. Ihre Bewegung zeigt sich, wann immer wir in Zorn geraten und uns gegeneinander für hitzige Konflikte wappnen, die allmählich wachsen, bis aus ihnen der Wahn-

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est quod in desideria rapimur, quod cupiditatibus alligamur. Sed hi motus, si ratione gubernentur, proueniunt salutares, si destituantur, in praeceps et rapiuntur et rapiunt. 16,26 Didicisti motus animae, quos modo sine ministerio corporis, modo per corpus exercet. Si uero ipsius mundanae animae motus requires, caelestem uolubilitatem et sphaerarum subiacentium rapidos impetus intuere, ortum occasumue solis, cursus siderum uel recursus, quae omnia anima mouente proueniunt. Immobilem uero eam dicere quae mouet omnia, Aristoteli non conuenit, qui quantus in aliis sit probatum est, sed illi tantum quem uis naturae, quem ratio manifesta non moueat. 17,1 Edocto igitur atque adserto animae motu Africanus qualiter exercitio eius utendum sit in haec uerba mandat et praecipit: 17,2 »Hanc tu exerce optimis in rebus; sunt autem optimae curae de salute patriae, quibus agitatus et exercitatus animus uelocius in hanc sedem et domum suam peruolabit; idque ocius faciet, si iam tum cum erit inclusus in corpore, eminebit foras, et ea quae extra erunt contemplans quam maxime se a corpore abstrahet. 17,3 Namque eorum animi qui se corporis uoluptatibus dediderunt earumque se quasi ministros praebuerunt, impulsuque lubidinum uoluptatibus oboedientium deorum et hominum iura uiolauerunt, corporibus elapsi circum terram ipsam uolutantur, nec hunc in locum nisi multis exagitati saeculis reuertuntur.«

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sinn des Krieges emporwogt; ihre Bewegung bewirkt, dass wir von Sehnsüchten gepackt und von Begierden gefesselt werden. Werden diese Bewegungen von der Vernunft kanalisiert, sind sie heilsam, bleiben sie sich überlassen, werden sie zum reißenden Strom und reißen uns mit.196 16,26 Du kennst jetzt die Bewegungen der Seele, die teils ohne körperlichen Ausdruck bleiben, teils sich eines solchen bedienen. Wenn dich die Bewegungen der Weltseele selbst interessieren, musst du die Umdrehungen des Himmels und die rasche Rotation der ihm untergeordneten Sphären betrachten, den Auf- und Untergang der Sonne und die Schleifenbahnen der Planeten: All das hat seinen Ursprung in der Bewegung der Seele. Zu sagen, dass sie, die doch alles bewegt, unbewegt sei, passt eigentlich nicht zu Aristoteles, dessen wissenschaftlicher Rang in anderer Hinsicht ja erwiesen ist. Gepasst hätte es zu jemandem, der ungerührt ist von der Macht der Natur und der Klarheit der Vernunft.197

Schluss: Aufstieg der tugendhaften Seele und Vollkommenheit von »Scipios Traum« 17,1 Nach der Darstellung und der Erklärung der Bewegungen der Seele gibt Africanus Anweisungen zu ihrem rechten Gebrauch mit folgenden Worten: 17,2 »Sie schule du im bestmöglichen Handeln. Die beste Art des Handelns aber ist die Sorge um das Wohl der Heimat, und eine Seele, die von ihr umgetrieben wird und sich ihr verschrieben hat, wird rasch hierher zu ihrem Sitz und in ihr angestammtes Haus entfliegen. Und das wird umso rascher geschehen, wenn sie schon während der Zeit ihrer Gefangenschaft im Körper aus ihm hinausstrebt und in der Betrachtung der Außenwelt sich so weit wie möglich vom Körper löst. 17,3 Denn die Seelen derjenigen Menschen, welche sich den körperlichen Vergnügungen hingegeben und sich gleichsam als deren Knechte erwiesen haben, welche angestachelt von den Begierden, jenen Dienerinnen der Vergnügungen, göttliches und menschliches Recht verletzt haben, die wird es nach ihrem Scheiden vom Körper auf Erden umhertreiben, und sie werden hierher erst zurückkehren, nachdem sie viele Jahrhunderte ruhelos umhergeirrt sind.« (Rep. 6,29)

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17,4 In superiore huius operis parte diximus alias otiosas, alias negotiosas esse uirtutes, et illas philosophis, has rerum publicarum rectoribus conuenire, utrasque tamen exercentem facere beatum. Hae uirtutes interdum diuiduntur, nonnumquam uero miscentur, cum utrarumque capax et natura et institutione animus inuenitur. 17,5 Nam si quis ab omni quidem doctrina habeatur alienus, in re publica tamen et prudens et temperatus et fortis et iustus sit, hic a feriatis remotus eminet tamen actualium uigore uirtutum, quibus nihilo minus caelum cedit in praemium. 17,6 Si quis uero insita quiete naturae non sit aptus ad agendum, sed solum optima conscientiae dote erectus ad supera doctrinae supellectilem ad exercitium diuinae disputationis expendat, sectator caelestium, deuius caducorum, is quoque ad caeli uerticem otiosis uirtutibus subuehetur. 17,7 Saepe tamen euenit ut idem pectus et agendi et disputandi perfectione sublime sit, et caelum utroque adipiscatur exercitio uirtutum. 17,8 Romulus nobis in primo genere ponatur, cuius uita uirtutes numquam deseruit, semper exercuit; in secundo Pythagoras, qui agendi nescius fuit artifex disserendi et solas doctrinae et conscientiae uirtutes secutus est; sit in tertio ac mixto genere apud Graecos Lycurgus et Solon, inter Romanos Numa, Catones ambo, multique alii qui et philosophiam hauserunt altius et firmamentum rei publicae praestiterunt; soli enim sapientiae otio deditos, ut abunde Graecia tulit, ita Roma nesciuit. 17,9 Quoniam igitur Africanus noster, quem modo auus praeceptor instituit, ex illo genere est quod et de doctrina uiuendi regulam mutuatur

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17,4 In einem früheren Abschnitt unseres Werks haben wir gesagt, dass es Tugenden des kontemplativen und Tugenden des aktiven Lebens gibt und dass jene den Philosophen, diese den Staatslenkern zukommen, dass beide aber ihren Adepten Glückseligkeit verleihen.198 Diese Tugenden existieren zum Teil für sich, teils gesellen sie sich aber auch zueinander, sofern sich ein Geist findet, der kraft Anlage und Bildung für beide aufnahmebereit ist. 17,5 Wenn nämlich jemand jeglicher Wissenschaft fernsteht, in seinem politischen Handeln aber klug, maßvoll, tapfer und gerecht ist,199 dann ragt er, auch wenn ihm die kontemplativen Tugenden fremd sind, doch unter den übrigen Menschen durch die tatkräftige Übung der praktischen Tugenden hervor und erhält für diese den Himmel zum Lohn. 17,6 Wenn dagegen jemand von Natur aus der Kontemplation zugeneigt und daher ungeeignet ist für eine politische Tätigkeit, er aber kraft seiner reichen geistigen Gaben dem Überirdischen zugewandt ist und er den Schatz seiner Gelehrsamkeit aufwendet für die wissenschaftliche Betrachtung der göttlichen Phänomene, dann wird auch er als Gefolgsmann der Himmlischen und Verächter des Vergänglichen von seinen kontemplativen Tugenden dereinst zum Himmelspol emporgetragen. 17,7 Oft aber kommt es vor, dass Vollkommenheit in den praktischen wie auch in den geistigen Tätigkeiten ein und denselben Menschen erhaben macht und er vermittels beider Tugenden den Himmel erlangt.200 17,8 Für die erste Gruppe stehe Romulus, der zeit seines Lebens immer den Tugenden zugewandt war und sie immer übte, für die zweite Pythagoras, der, dem aktiven Leben abhold, ein meisterhafter Denker war und ausschließlich den Tugenden der Wissenschaft und des Geistes folgte. Beispiele für die Verbindung beider Tugenden sind drittens unter den Griechen Lykurg und Solon, unter den Römern Numa, die beiden Catonen und viele andere, die sich ebenso tief in die Philosophie versenkten wie sie eine starke Stütze des Staates waren. Männer aber, die sich ausschließlich dem betrachtenden Leben des Weisen hingaben, wie sie Griechenland überreich hervorbrachte, gab es in Rom keine.201 17,9 Weil nun unser Africanus, der soeben seine Unterweisung vom Großvater empfangen hat, zur Gruppe der Menschen gehört, die sowohl die Maximen ihres Lebens der Philosophie verdanken als auch den Staat

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et statum publicum uirtutibus fulcit, ideo ei perfectionis geminae praecepta mandantur. 17,10 Sed ut in castris locato ac sudanti sub armis primum uirtutes politicae suggeruntur his uerbis: »Sunt autem optimae curae de salute patriae, quibus agitatus et exercitatus animus uelocius in hanc sedem et domum suam peruolabit.« 17,11 Deinde quasi non minus docto quam forti uiro philosophis apta subduntur, cum dicitur: »Idque ocius faciet, si iam tunc cum erit inclusus in corpore, eminebit foras, et ea quae extra erunt contemplans quam maxime se a corpore abstrahet.« 17,12 Haec enim illius sunt praecepta doctrinae quae illam dicit mortem philosophantibus appetendam, ex qua fit ut adhuc in corpore positi corpus ut alienam sarcinam, in quantum patitur natura, despiciant. Et facile nunc atque opportune uirtutes suadet, postquam quanta et quam diuina praemia uirtutibus debeantur edixit. 17,13 Sed quia inter leges quoque illa imperfecta dicitur in qua nulla deuiantibus poena sancitur, ideo in conclusione operis poenam sancit extra haec praecepta uiuentibus; quem locum Er ille Platonicus copiosius exsecutus est saecula infinita dinumerans, quibus nocentum animae in easdem poenas saepe reuolutae sero de Tartaris permittuntur emergere et ad naturae suae principia, quod est caelum, tandem impetrata purgatione remeare. 17,14 Necesse est enim omnem animam ad originis suae sedem reuerti. Sed quae corpus tamquam peregrinae incolunt, cito post corpus uelut ad patriam reuertuntur; quae uero corporum illecebris ut suis sedibus inhaerent, quanto ab illis uiolentius separantur, tanto ad supera serius reuertuntur.

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mit ihren Tugenden aufrechterhalten, werden ihm auch zwei Lehren zur Erlangung der Vollkommenheit zuteil. 17,10 Zuerst werden ihm die politischen Tugenden angeraten, weil er sich ja im Feldlager und im schweißtreibenden Waffendienst befindet: »Die beste Art des Handelns aber ist die Fürsorge für das Wohl der Heimat, und eine Seele, die von ihr umgetrieben wird und sich ihr verschrieben hat, wird rasch hierher zu ihrem Sitz und in ihr angestammtes Haus entfliegen.« 17,11 Sodann werden ihm als einem ebenso gelehrten wie tapferen Mann die philosophischen Tugenden nahegebracht: »Und das wird umso rascher geschehen, wenn sie schon während der Zeit ihrer Gefangenschaft im Körper aus ihm hinausstrebt und in der Betrachtung der Außenwelt sich so weit als möglich vom Körper löst.« 17,12 Das ist die oben schon angesprochene Lehre, die besagt, die Philosophen müssten den philosophischen Tod anstreben.202 Folge dieses Strebens ist, dass sie schon während ihrer Existenz im Körper diesen als wesensfremden Ballast verachten, soweit es die Natur zulässt. Naheliegend und passend ist hier Africanus’ Rat zum tugendgemäßen Leben, nachdem er offenbart hat, mit welch großem und göttlichem Lohn es vergolten wird. 17,13 Aber weil ein Gesetz, das keine Strafe für Verstöße vorsieht, als unvollständig gilt, setzt Cicero am Ende seines Werkes eine solche für ein Leben wider diese Lehren fest.203 Ausführlicher wurde dieser Punkt von dem platonischen Er dargestellt, der die unzähligen Jahrhunderte aufzählt, während derer die Seelen der Straffälligen immer wieder derselben Bestrafung unterzogen werden und erst spät wieder aus dem Tartarus auftauchen und schließlich nach Erlangung der Reinigung zu ihrem natürlichen Ursprung, dem Himmel, zurückkehren dürfen.204 17,14 Jede Seele muss nämlich notwendigerweise zu ihrem ursprünglichen Sitz zurückkehren. Die Seelen aber, welche ihren Körper gleichsam als Fremde bewohnen, kehren nach dessen Tod rasch in ihre eigentliche Heimat zurück, während diejenigen, die den Reizen des Körpers erlegen sind und an ihm als ihrem vermeintlich wahren Wohnsitz haften, umso später zur Oberwelt zurückkehren, je gewaltsamer sie vom Körper getrennt werden.205

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17,15 Sed iam finem somnio cohibita disputatione faciamus hoc adiecto quod conclusionem decebit, quia, cum sint totius philosophiae tres partes, moralis, naturalis et rationalis, et sit moralis quae docet morum elimatam perfectionem, naturalis quae de diuinis corporibus disputat, rationalis cum de incorporeis sermo est quae mens sola complectitur, nullam de tribus Tullius in hoc somnio praetermisit. 17,16 Nam illa ad uirtutes amoremque patriae et ad contemptum gloriae adhortatio quid aliud continet nisi ethicae philosophiae instituta moralia? Cum uero uel de sphaerarum modo uel de nouitate siue magnitudine siderum deque principatu solis et circis caelestibus cingulisque terrestribus et Oceani situ loquitur et harmoniae superum pandit arcanum, physicae secreta commemorat. At cum de motu et immortalitate animae disputat, cui nihil constat inesse corporeum cuiusque essentiam nullus sensus sed sola ratio deprehendit, illic ad altitudinem philosophiae rationalis ascendit. 17,17 Vere igitur pronuntiandum est nihil hoc opere perfectius, quo uniuersa philosophiae continetur integritas.

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17,15 Aber wir wollen nun unsere Behandlung von Scipios Traum zu Ende bringen, indem wir ihr einen passenden Abschluss hinzufügen. Es gibt drei Gebiete der Philosophie, nämlich Ethik, Physik und Logik; Ethik ist die Lehre von der höchsten Vervollkommnung der Sitten, Physik die Lehre von den göttlichen Körpern, und Logik hat die unkörperlichen Dinge zum Gegenstand, die nur geistig zu erfassen sind: Keines dieser drei Gebiete hat Cicero in ›Scipios Traum‹ übergangen. 17,16 Denn jene Mahnungen zu den Tugenden, zur Vaterlandsliebe und zur Verachtung des Ruhms, was anderes enthalten sie als die sittlichen Lehren der Ethik? Wenn er dagegen über die Maße der Sphären, die Neuheit oder Größe der Sterne, den Vorrang der Sonne, über die Himmelsund Erdkreise und die Lage des Ozeans redet und das Mysterium der Sphärenharmonie enthüllt, äußert er sich über die Geheimnisse der Physik. Wenn er schließlich über die Bewegung und die Unsterblichkeit der Seele spricht, die gewiss nichts Körperhaftes an sich hat und deren Essenz sich nicht der Sinneswahrnehmung, sondern nur der Vernunft erschließt, steigt er zu den Höhen der Logik empor.206 17,17 So ist es also wahr, wenn wir erklären, dass es nichts Vollkommeneres gibt als dieses Werk, das die Summe der gesamten Philosophie enthält.

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Abbildung 1 (zu 1,6,46) Die numerische Struktur der Weltseele als Lambda-Diagramm

Abbildung 2 (zu 1,21,3) Der Zodiakus und die Planetensphären nach der ›chaldäischen‹ Anordnung

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Abbildung 3 (zu 1,22,11–12) Konsequenz der Leugnung der Erdanziehungskraft

Abbildung 4 (zu 2,5,8) Die Vierteilung der Erde nach Krates

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Abbildung 5 (zu 2,5,13–15) Die Klimazonen der Erde

Abbildung 6 (zu 2,5,33) Die auf nos orientierte Zonenkarte

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Abbildung 7 (zu 2,7,4–6) Die Projektion der Himmelszonen auf die Erde

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Abbildung 8 (zu 2,9,1–7) Weltkarte nach Macrobius

Anhang Zum Autor Die überlieferte Vollform seines Namens ist Macrobius Ambrosius Theodosius. An Werken haben wir von ihm die Saturnalien, das letzte Zeugnis der antiken Symposienliteratur, Auszüge aus einer grammatischen Schrift De differentiis et societatibus Graeci Latinique verbi (»Über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Verbums im Griechischen und Lateinischen«) und den vorliegenden »Kommentar«, 1 der wie die Saturnalien dem Sohn Eustathius gewidmet ist. Der Kommentar wurde im Mittelalter zusammen mit dem Text von Ciceros Somnium Scipionis (De re publica 6,9–29) überliefert; neben dieser »direkten Überlieferung« bilden Macrobius’ Zitierungen einen eigenen Überlieferungsstrang (vgl. Armisen-Marchetti Bd. 1, LXVI–LXXVIII). Traditionell wurde unser Autor mit einem der drei folgenden Macrobii identifiziert: (1) einem vicarius Hispaniae 399–400, (2) einem proconsul Africae 410, (3) einem kaiserlichen Oberstkämmerer (praepositus sacri cubiculi) in Konstantinopel von 422. Von diesen scheidet (3) aus, weil der Amtsinhaber regulär Eunuch war, was mit Macrobius’ Vaterschaft nicht leicht vereinbar ist; das Vikariat Spaniens wiederum, nominell ein Stellvertreterposten des Prätorianerpräfekten, qualifiziert der Notitia dignitatum zufolge, einer zeitgenössischen Beschreibung der administrativen Struktur des Reiches, nicht für den Rang eines vir illustris, den Macrobius innehatte, sondern nur den eines spectabilis. Daher entschied sich die grundlegende Macrobius-Monographie von J. Flamant 1977 (96 ff.) nach umfassender Aufarbeitung der Diskussion für (2). Eine 1982 von Silvio Panciera publizierte Inschrift (CIL 6, 41394) weist dagegen auf einen rund eine Generation später anzusetzenden Macrobius Theodosius, Prätorianerpräfekt von 430 (praefectus praetorio Italiae, PLRE 2, 1101 s.v. Nr. 8), der bereits 1938 von S. Mazzarino in die Diskussion eingeführt worden war. 2 Dessen Identifikation mit unserem

1 Zur Gattung s. den Essay von Chr. Tornau; den Kompendiencharakter im Vergleich zur neuplatonischen Kommentartradition arbeitet heraus Gauly, Bardo: Der Kommentar als philosophisches Kompendium: Macrobius über Ciceros Somnium Scipionis und seine Intention. Incontri di Filologia classica 16, 2016–17, 159–171. 2 Mazzarino, Santo: La politica religiosa di Stilicone, Rendiconti/Istituto Lombardo 71, 235–262. Die Diskussion ist zusammengefasst für die frühere Literatur bei de Paolis 1986–87, für die jüngere bei Bruggisser, Philippe: Art. Macrobius, RAC 23, 2010, 831–856 und bei Cameron 2011, 213–28.

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Macrobius ist von Cameron 2011 erhärtet worden. 3 Die Familie stammt demnach aus Nordafrika oder Süditalien (so die übliche Interpretation von M.s Selbstauskunft in Saturnalien 1 praef. 12 nos sub alio ortos caelo, »wir sind unter einem fremden Himmel geboren«) und lässt sich über drei Generationen verfolgen: (1) der Name des Autors findet sich in der Subscriptio am Ende des ersten Buches: Macrobii Ambrosii Theodosii v.c. et inlustris de Somnio Scipionis liber primus explicit, incipit secundus, »des Macrobius Ambrosius Theodosius, vir clarissimus und illustris, erstes Buch zum Somnium Scipionis endet hier und es beginnt das zweite«; als clarissimus ist er senatorischen Ranges, als illustris Inhaber eines der fünf höchsten Staatsämter. (2) Sein Sohn ist Eustathius (PLRE 2,436 s.v. 13), der Widmungsträger des Kommentars und der Saturnalien. Zwei Inschriften weisen ihn als Stadtpräfekten (von 461) aus. In einer davon, der oben genannten, erscheint sein Name in Langform: CIL 6, 41394 Fl(avius) Macrobius Pl[otinus] [E]ustathius v(ir) [c(larissimus) et inl(ustris) praef(ectus)] [urbi], »Flavius Macrobius Plotinus Eustathius, vir clarissimus und illustris, Stadtpräfekt«; in CIL 15, 7109c steht die Kurzform Plotinus Eustathius v(ir) c(larissimus) p(rae) f(ectus) u(r)b(i), »Plotinus Eustathius, vir clarissimus, Stadtpräfekt«. (3) Dessen Sohn wiederum ist der in der o.g. Subscriptio erscheinende Eudoxius (PLRE 2,413 s.v. 7): Aurelius Memmius Symmachus v.c. emendabam vel distinguebam meum Ravennae cum Macrobio Plotino Eudoxio v.c., »Ich, Aurelius Memmius Symmachus, vir clarissimus, habe mein Exemplar korrigiert und interpungiert in Ravenna zusammen mit Macrobius Plotinus Eudoxius, vir clarissimus«; die Emendation muss vor 485 liegen, dem Konsulatsjahr des Symmachus (des Schwiegervaters des Boethius), da der sich hier noch nicht als vir illustris bezeichnet. Die Rekonstruktion dieser Genealogie beruht auf drei Voraussetzungen: (1) Der Macrobius Eustathius von CIL 6, 41394 und CIL 15, 7109c ist identisch mit dem Widmungsträger des Kommentars und der Saturnalien; beweisbar ist das nicht, aber das Cognomen Plotinus, offenbar eine Reverenz gegenüber einer der großen Autoritäten des Macrobius, macht die Annahme attraktiv. (2) Die Macrobii befolgen eine spätantike Namenskonvention, die auch bei der größten Familie der Epoche, den Anicii, vorherrscht, nämlich auf das Nomen Gentile eines oder mehrere ›diakritische‹ Cognomina folgen zu lassen. Familienname unseres Autors wäre damit Flavius Macrobius, und Ambrosius Theodosius seine Cognomina. (3) Unser Autor ist in seiner Epoche und darüber hinaus als Theodosius bekannt. Er verwendet den Namen selbst in der Widmung von De differentiis (Theodosius Symmacho suo, »Theodosius seinem verehrten Symmachus«); umgekehrt wird er in 3 Eine frühere Arbeit von 1966 wieder aufgreifend; Zusammenfassung bei Kaster, Robert A.: Macrobius Saturnalia, Vol. 1, Cambridge/Mass. 2011, xxi–xxiv.

Zum Autor

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der Widmung von Avians Fabeln mit Theodosi optime, »mein bester Theodosius« angeredet. Boethius und Cassiodor kennen ihn als Macrobius Theodosius (vgl. Anm. 39 zu 1,5,6); die verkürzte Namensform reflektiert eine übliche Praxis in inoffiziellen Kontexten. Der einzig mit dem Rang eines vir illustris ausgestattete Theodosius ist nun aber der oben genannte Prätorianerpräfekt von 430 (PLRE 2, 1101 s.v. Nr. 8). Wenn Macrobius’ Titel vir illustris in der obengenannten subscriptio zum ersten Buch des »Kommentars« nicht anachronistisch ist, muss dessen Publikationsdatum nach 430 liegen, also rund dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Calcidius’ Timaios-Kommentar (zu dessen Datierung s. Bakhouche 2011, 8–13, zu Spuren der Calcidius-Benutzung bei M. ebenda 52 f.). Macrobius musste da in seinen Vierzigern, dem kanonischen Alter für ein Spitzenamt gewesen sein. Dazu fügt sich die biographische Information zum Sohn, der als Stadtpräfekt von 461 und vir illustris um 420 geboren sein wird. Und wenn die Dedikation des »Kommentars« mit dem Philosophieunterricht des jungen Eustathius zusammenhängt, wofür er etwa 16 Jahre alt gewesen sein muss, falls er wie Augustin mit 17 zu studieren beginnt (Flamant 1977, 90), wird sie in der zweiten Hälfte der 30er Jahre erfolgt sein; ob die auf 439 zu datierende Abschaffung der in 2,17,13 erwähnten leges imperfectae biographisch verwertbar ist, ist unsicher (vgl. Anm. 204 z.St.). Das zeitliche Verhältnis zu den Saturnalien ist ungeklärt; die Evidenz aus der alten »Quellenforschung« ist zusammengestellt bei Cameron 2011, 232, der daraus Argumente für die Priorität des Kommentars ableitet, wogegen Armisen-Marchetti 2011, Bd. 1, XIV die Saturnalien als früher ansieht. Die Publikationsdaten können aber wegen der Widmung beider an den noch jungen Sohn nicht allzu weit auseinanderliegen. Folgt man dieser Spätdatierung von Macrobius’ Leben und Werk, hat das weitreichende Folgen, wie Cameron 2011 sagt: Wenn Macrobius 430 mindestens 40 Jahre alt ist, kann er nicht Mitglied eines Symmachus- oder Praetextatus-Kreises gewesen sein. Vielmehr entwirft er dann in seinen Saturnalien, rund ein halbes Jahrhundert nach deren dramatischem Datum, ein idealisierendes Bild von Männern, die zum Abfassungszeitpunkt alle tot waren (Praetextatus etwa starb 384, Symmachus 402). Er kann auch nicht Altgläubiger gewesen sein, denn seit 416 konnte ein Nichtchrist nicht mehr in ein administratives Spitzenamt gelangen (Codex Theodosianus 16,10,21 vom 7. 12. 416). Damit stellt sich erneut die Frage nach seiner putativen, u.a. von Flamant betonten, antichristlichen Tendenz. Die Absenz christlicher »Spuren« im Werk besagt nichts, denn man kann Platoniker und Christ gleichzeitig sein. 4 Im »Kommentar« gibt es kaum etwas, das mit dem 4 Vgl. etwa die Hinweise zur Harmonisierung von neuplatonischer (prokleischer) und christlicher Perspektive in der Kosmologie von De consolatione philosophiae 3 m. 9

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Christentum im offenen Konflikt stünde; eine vieldiskutierte Stelle wie 2,10,5, die die Frage nach dem Verhältnis von Ewigkeit der Welt und christlicher Schöpfungslehre evoziert, könnte auch im Sinne des Bemühens um Konfliktvermeidung gelesen werden: Die Aussage, dass die Welt von Gott vor der Zeit geschaffen wurde, wäre auch für einen christlichen Philosophen akzeptabel. Ähnliches wurde über die Darstellung der Solarreligion in Saturnalien 1,17 gesagt, wo die Vermeidung neuplatonischer kosmogonischer Aussagen einen Widerspruch zur biblischen Genesis und der darauf bezogenen Theologie vermeiden hilft. 5 Einzelne Stellen scheinen zudem ein christliches Publikum vorauszusetzen, so der Bericht von der Witzelei des Augustus zum bethlehemitischen Kindermord in Saturnalien 2,4,11 und die Erläuterung des Wortes paganus mit rusticus in Saturnalien 1,16,6, die offenbar voraussetzt, dass der Leser sonst »Heide« versteht. Im Übrigen hat sich auch das gesamte Mittelalter von Isidor über Johannes Scottus Eriugena bis zur Hochscholastik von Macrobius’ putativem Antichristentum in keiner Weise daran hindern lassen, ihn als Autorität für alle Fragen des Quadriviums und als einen der wichtigsten Mittler des Platonismus neben Boethius, Calcidius und Martianus Capella zu betrachten und so das Überleben des ›Kommentars‹ zu sichern; dies einzelnen manifest ›häretischen« Ansichten zum Trotz, wie die von der notwendigen Rückkehr der Seele zu ihrem Ursprung (2,17,14; vgl. Schedler 1916, 103–157, Flamant 1977, 688–693 sowie Hüttig, Albrecht: Macrobius im Mittelalter, Frankfurt 1990). – Eine umfassende Einführung in Macrobius’ geistige Welt bietet Ramelli 2007, 7–224.

Zum Text Der hier verwendete Lesetext beruht auf der zuverlässigsten kritischen Ausgabe der Commentarii, der von Armisen-Marchetti; Abweichungen davon sind nachstehend zusammengestellt (Änderungen der Interpunktion nur, sofern sie den Sinn ändern) und in den Anmerkungen zur jeweiligen Stelle, soweit erforderlich, begründet.

bei Gersh, Stephen, Damascius and Boethius, in: Ders. (Hg.), Interpreting Proclus. Cambridge 2014, 125–134. 5 Liebeschuetz, Wolf: The Significance of the Speech of Praetextatus, in: Athanassidi, Polymnia [u. a.] (Hgg.): Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999, 198.

Literatur Stelle 1,3,15 1,6,3 1,6,8 1,9,3 1,11,6 1,16,11 1,17,3 1,17,7 1,17,11 1,20,12 2,3,15 2,8,4 2,12,10 2,13,3 2,15,10 2,16,24

Armisen-Marchetti quo [octo dico et septem] sequestrat, nec fomite in uitam reuerti nec immerito aestimatum est. circum deinde de septem auctoritas, et si uere subiectae sint; quo pacto sufficient per eum modum 〈modum〉 et limmate 〈in〉 tantundem discessit nascetur anima, licet . . . moueri; admirans uidendo

377 Lesetext quod octo dico et septem sequestrat. Nec fonte in uitam reuerti. Nec immerito aestimatum est: circum 〈suum〉 deinde subter auctoritas; et si uere subiectae sint, quo pacto sufficiant per id modum [et limmate] tantundem discesserit renascetur anima; licet . . . moueri, uidendo admirans

Literatur Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare: Armisen-Marchetti, Mireille: Macrobe. Commentaire au Songe de Scipion, Paris 3 2011. De Paolis, Paolo: Macrobii Theodosii De verborum Graeci et Latini differentiis vel societatibus excerpta, Urbino 1990. Jan, Ludwig: Macrobii Ambrosii Theodosii Opera, Quedlinburg/Leipzig 1848. Navarro Antolí, Fernando: Commentario al Sueno de Escipión de Cicerón, Madrid 2006. Neri, Moreno: Macrobio. Commento al Sogno di Scipione, Mailand 2007. Regali, Mario: Macrobio. Commento al Somnium Scipionis, Pisa 1983. Stahl, William H.: Macrobius. Commentary on the Dream of Scipio, New York 2 1990. Willis, James: Ambrosii Theodosii Macrobii commentarii in Somnium Scipionis, Leipzig 1970. Ziegler, Konrat: M. Tulli Ciceronis De re publica, Leipzig 1969.

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Mehrfach benutzte Nachschlagewerke und Sekundärliteratur: Bakhouche, Béatrice: Les textes latins d’astronomie, Louvain 1996. Bakhouche, Béatrice: Calcidius, Commentaire au Timée de Platon, Paris 2011. Caldini Montanari, Roberta: Tradizione medievale ed edizione critica del Somnium Scipionis. Firenze 2002. Cameron, Alan: The last Pagans of Rome, Oxford 2011. De Ley, Herman: Macrobius and Numenius, Brüssel 1972. De Paolis, Paolo: Macrobio 1934–1984. Lustrum 28–29, 1986–87, 107–254. De Paolis, Paolo: Il Somnium Scipionis nel linguaggio filosofico di Macrobio. École Française de Rome (Hg.) 1992, 233–244. Di Pasquale Barbanti, Maria: Etica e psicologia nei »Commentarii in Somnium Scipionis«, Catania 1988. Diels, Hermann: Doxographi Graeci, Berlin 1879. Dörrie, Heinrich/Baltes, Matthias: Der Platonismus in der Antike: Grundlagen, System, Entwicklung, Stuttgart 1983ff. (bislang 7 Bde.). DNP: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hgg.): Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, Stuttgart 1996–2003. École Française de Rome (Hg.): La langue latine, langue de la philosophie. Actes du colloque de Rome (17.–19. mai 1990), Rom 1992. Flamant, Jacques: Macrobe et le néoplatonisme latin à la fin du IVe siècle, Leiden 1977. Flamant, Jacques: Macrobe: Une langue philosophique? École Française de Rome (Hg.) 1992, 219–232. Goulet-Cazé, Marie-Odile: Le Système philosophique de Porphyre dans les Sentences. A. Métaphysique. Brisson, Luc (Hg.), Porphyre, Sentences, Bd. 1, Paris 2005, 31–105. Kidd, Ian G.: Posidonius. II. The Commentary, Cambridge 1988. La Penna, Antonio: Note sul testo dei »Commentarii« di Macrobio. Annali della Scuola Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia 20, Pisa 1951, 239– 254. Le Bœuffle, André: Le vocabulaire latin de l’astronomie, Lille 1973. LSJ: Liddell, Henry G. [u.a.] (Hgg.): A Greek-English Lexicon, Oxford 1996. Mansfeld, Jaap/Runia David T.: Aetiana. The Method and Intellectual Context of a Doxographer, Leiden 1997–2010. Mras, Karl: Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium. Sitzungsbericht der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Berlin 1933, 232–288. Neubecker, Annemarie: Altgriechische Musik, Darmstadt 1977.

Antike Autoren in den Anmerkungen

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PLRE: Martindale, John R./Jones, Arnold H. M. (Hgg.): The Prosopography of the Later Roman Empire, Cambridge 1971–1992. RAC: Schöllgen, Georg [u.a.] (Hgg.): Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950–2015. Ramelli, Ilaria: Macrobio allegorista neoplatonico e il tardo platonismo latino. In: Neri 2007, 7–224. Schäfer, Christian (Hg.), Platon-Lexikon, Darmstadt 2007. Schedler, Matthaeus: Die Philosophie des Macrobius und ihr Einfluß auf die Wissenschaft des christlichen Mittelalters, Münster 1916. SEP: Stanford Encyclopedia of Philosophy, Zalta, Edward N. (Hg.), http:// plato.stanford.edu (die jeweils angegebene Jahreszahl bezieht sich auf das letzte Bearbeitungsdatum des zitierten Artikels). Setaioli, Aldo: La vicenda dell’anima nel commento di Servio a Vergilio, Frankfurt am Main 1995. Simonini, Laura: Porfirio, L’antro delle ninfe. Milano 1986. Siorvanes, Lucas: Proclus’ life, works, and education of the soul. Gersh, Stephen, Interpreting Proclus. Cambridge 2014, 33–56. Syska, Ekkehart: Studien zur Theologie im ersten Buch der Saturnalien des Ambrosius Theodosius Macrobius, Stuttgart 1993. ThLL: Thesaurus linguae Latinae, München/[Leipzig] Berlin 1900–. von Stuckradt, Kocku: Geschichte der Astrologie, München 2007. VS: Diels, Hermann/Kranz, Walther: Die Fragmente der Vorsokratiker, Hildesheim 18 1989. Walde, Alois/Hofmann, Johann B.: Lateinisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1965–1982. Wille, Günther: Musica Romana, Amsterdam 1963. Nur einmal zitierte Titel werden am jeweiligen Ort genannt. Eine vollständige Bibliographie bis 2007 findet sich bei Ramelli 165–224.

Folgende antike Autoren werden in den Anmerkungen nur mit Namen angeführt: Calcidius (um 400), christlicher Platoniker und Timaios-Kommentator. Waszink, Jan Hendrik (Hg.): Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus, Leiden 1962. Kommentar: Bakhouche 2011 (s.o. unter Literatur; S. 8–13 zur Datierungsfrage). Cicero, Marcus Tullius (106–43 v.Chr.), Autor des von Macrobius kommentierten Somnium Scipionis, des sechsten Buchs von De re publica. Ziegler, Konrat

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(Hg.): De re publica librorum sex quae manserunt, Stuttgart 1969. M.s Zitierungen daraus werden mit Rep. abgekürzt. Eudoxos von Knidos (4. Jh. v.Chr.), Mathematiker und Astronom. Lasserre, François (Hg.): Die Fragmente des Eudoxos von Knidos, Berlin 1966. Favonius Eulogius (Ende 4. Jh.), Augustinschüler und Kommentator des Somnium Scipionis. van Weddingen, Roger-E. (Hg.): Disputatio de somnio Scipionis, Brüssel 1957. Geminos von Rhodos (um 70 v.Chr.), stoischer Astronom und Mathematiker, Poseidoniosschüler und mutmaßlicher Konstrukteur des Mechanismus von Antikythera. Autor einer Einführung in die Astrologie, die neben Über die Kreisbewegungen der Himmelskörper des Kleomedes (s.u.) in unseren Erläuterungen als Referenz für das astronomische Handbuchwissen verwendet wird; beide sind Traktate in der Tradition der Einführungen zu Arats Phainomena, welche zwar nicht mehr als solche konzipiert sind, aber die Phainomena als bekannt voraussetzen (Goulet, Cléomède [s.u.] 18). Herausgegeben und übersetzt: Manitius Karl (Hg.): Gemini elementa astronomiae, Leipzig 1898. Hipparch von Nikaia (2. Jh. v.Chr.), Astronom, dessen Sternenkatalog von Ptolemaios verwendet wird. Manitius, Karl (Hg.): Hipparchi in Arati et Eudoxi Phaenomena commentariorum libri tres, Leipzig 1894. Hygin (augusteische Zeit), Freigelassener des Augustus, Mythograph und Astronom. Le Boeuffle, André (Hg.): Hygin. L’astronomie, Paris 1983. Kleomedes (zeitlich zwischen Poseidonios und Ptolemaios, vgl. W. Hübner, Art. Kleomedes, DNP s.v.), stoischer Verfasser eines Schulbuches Über die kreisförmige Bewegung der Himmelskörper. Todd, Robert B. (Hg.): Cleomedis Caelestia, Leipzig 1990. Kommentar: Goulet, Richard: Cléomède: Théorie élémentaire, Paris 1980. Manilius (1. Jh. n.Chr.), Verfasser eines stoisch geprägten Lehrgedichts. Ed.: Goold, George Patrick (Hg.): M. Manilii Astronomica, Leipzig 1985. Nikomachos von Gerasa (um 100), Mathematiker, Verfasser einer Einführung in die Arithmetik, welche die Vorkenntnisse für die Lektüre der platonischen Spätdialoge bereitstellen möchte (übersetzt von Apuleius und Boethius), und einer (verlorenen) Zahlentheologie, die von Ps.-Jamblich (s.u.) benutzt wurde, sowie einer Harmonielehre. Hoche, Richard Gottfried (Hg.): Nicomachi Geraseni Pythagorei Introductionis arithmeticae libri II, Leipzig 1866 bzw. von Jan, Karl (Hg.): Musici scriptores Graeci, Leipzig 1895, 235–265. Numenios von Apameia (2. Jh.), Platoniker mit starkem Einfluss auf Porphyrios und damit mittelbar auf Macrobius. Des Places, Edouard (Hg.): Numénius. Fragments. Paris 1973.

Antike Autoren in den Anmerkungen

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Plotin (205–270), Begründer des Neuplatonismus. Henry, Paul/Schwyzer, HansRudolf (Hgg.): Plotini opera, Paris-Brüssel 1951–1973. Übersetzung: Plotins Schriften, übersetzt von Harder, Richard. Neubearbeitung von Beutler, Rudolf und Theiler, Willy. Hamburg 1971. Porphyrios (ca. 234–310), Neuplatoniker, Redaktor der nachgelassenen Schriften Plotins und Hauptquelle des Macrobius. Von M. verwendet werden neben den verlorenen Platon-Kommentaren und Über die Rückkehr der Seele / De regressu animae (Ed. der Fragmente A. Smith, s.u.): Homerische Fragen, Schrader, Hermann Ludwig (Hg.): Quaestionum Homericarum ad Iliadem pertinentium reliquias, Leipzig 1880–82 und ders., Porphyrii quaestionum Homericarum ad Odysseam pertinentium reliquias, Leipzig 1890; Die Nymphengrotte, Simonini 1986 (s. Literaturverzeichnis); Sätze, die zum Intellegiblen führen, Brisson, Luc (Hg.): Porphyre, Sentences (Text, französische und englische Übersetzung sowie Kommentar, dazu einführende Beiträge verschiedener Autoren), Paris 2005; ital. Übersetzung mit Kommentar von Sodano, Angelo: Porfirio, Introduzione agli intelligibili, Neapel 1979; Über die Enthaltsamkeit, Bouffartigue, Jean (Hg.): De l’abstinence, Paris 1977–1995; Fragmente: Smith, Andrew (Hg.): Porphyrii philosophi fragmenta, Stuttgart 1993. Poseidonios (135–51 v.Chr.), stoischer Universalphilosoph. Kidd, Ian Gray (Hg.): Posidonius, Cambridge 1989–1999. Ps.-Jamblich (4. Jh. n.Chr.), Verfasser einer fälschlich dem Neuplatoniker Jamblich zugeschriebenen Zahlentheologie. De Falco, Vittorio/Klein, Ulrich (Hgg.): Iamblichi Theologumena arithmeticae, Stuttgart 2 1975. Proklos (ca. 410/11–28. April 485, vgl. Siorvanes 2014, 34–40), seit 437 Leiter der neuplatonischen Schule von Athen. Wichtig für Macrobius sind die Kommentare zu Platons Staat und Timaios, sowie seine Schriften zur Astronomie und Theologie. Kroll, Wilhelm (Hg.): In Platonis rem publicam commentarii, Leipzig 1899–1901; Diehl, Ernst (Hg.): In Platonis Timaeum commentaria, Leipzig 1903–1906; Manitius, Karl (Hg.): Hypotyposis astronomicarum positionum, Leipzig 1909; Dodds, Eric R. (Hg.): The Elements of Theology, Oxford 1963. Ptolemaios (2. Jh. n.Chr.), Mathematiker und Astronom. Von seinen Schriften hier einschlägig die Mathematische Zusammenstellung (majhmatikò s‘ntaxic, »Almagest«; zitiert als Syntaxis), Heiberg, Johan Ludvig (Hg.): Opera quae exstant omnia, Bd. 1: Syntaxis mathematica, Leipzig 1901, sowie Über die Harmonik, Düring, Ingemar (Hg.): Die Harmonienlehre des Klaudios Ptolemaios, Göteborg 1930, Übersetzung in ders., Ptolemaios und Porphyrios über die Musik, Göteborg 1934. Servius (um 400), Grammatiker und Vergilkommentator, Gesprächspartner in Macrobius’ Saturnalien. Thilo, Georg/Hagen, Hermann (Hg.): Ser-

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vii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, Leipzig 1878– 1902. Theon von Smyrna (2. Jh.), Verfasser einer Schrift Das für die Lektüre Platons nützliche mathematische Wissen. Hiller, Eduard (Hg.): Theonis Smyrnaei Philosophi Platonici Expositio rerum mathematicarum ad legendum Platonem utilium, Leipzig 1878.

Dank An dieser Stelle sei allen bestens gedankt, die die vorliegende Arbeit unterstützt haben, nämlich Gregor Bitto, Bardo Gauly (beide Eichstätt) und Christian Tornau (Würzburg) für kritische Lektüre und Hinweise, Wolfgang de Melo (Oxford) für den Vorabdruck seiner kommentierten Varro-Edition, der Leiterin der Handschriftenabteilung der KU Eichstätt-Ingolstadt, Heike Riedel-Bierschwale, für die Bereitstellung der Abbildungen aus der Ausgabe von Camerarius 1535, dem Verlag Les Belles Lettres (Paris) für die Genehmigung zur Verwendung des Textes von Armisen-Marchetti, sowie den studentischen Mitarbeitern Philipp Buckl und Bastian Wagner für die Arbeit am Manuskript. F. H.

Verzeichnis der Abbildungen 6 Abbildung 1 Zu 1,6,46: Die numerische Struktur der Weltseele als Lambda-Diagramm (Labdoma) dargestellt (Camerarius, S. 15). Abbildung 2 Zu 1,21,3: Der Zodiakus und die Planetensphären nach der ›chaldäischen‹ Anordnung (Camerarius S. 53); zur Hierarchie der Elemente vgl. 1,22,4–6 mit Anm. 312.

6 Die Abb. 1–3 sowie 5 und 7 sind folgender Edition entnommen: Camerarius, Joachim: Macrobii Ambrosii Aurelii Theodosii Viri consularis & illustris in somnium Scipionis libri II. Basileae ex officina Ioanni Hervagii 1535. Die Photographien wurden freundlicherweise von der Handschriftenabteilung der KU Eichstätt-Ingolstadt zur Verfügung gestellt.

Anmerkungen zu Buch 1

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Abbildung 3 Zu 1,22,11–12: Konsequenz der Leugnung der Erdanziehungskraft: Der Regen fällt in den Himmel (Camerarius S. 58). Abbildung 4 Zu 2,5,8: Die Vierteilung der Erde nach Krates. In Macrobius’ Begriffe übersetzt: Oecumene = nos, Antoeci = adversi, Perioeci = transversi, Antipodes = obliqui (Quelle: Encyclopedia Britannica Bd. 17, 1911, 635). Abbildung 5 Zu 2,5,13–15: Die Klimazonen der Erde (Camerarius S. 70). Abbildung 6 Zu 2,5,33: Die auf nos orientierte Zonenkarte. Abbildung 7 Zu 2,7,4–6: Die Projektion der Himmelszonen auf die Erde (Camerarius S. 74). Abbildung 8 Zu 2,9,1–7: Weltkarte nach Macrobius aus Ms. Harleianus 2772 fol. 70v (British Library; Deutschland, 11. Jh.). Einteilung in fünf Zonen, die äußersten beiden inhabitabilis (unbewohnbar), sodann die temperata n(ost)ra (»unsere temperierte Zone«) mit dem Mittelmeer (vgl. 2,9,3), und die temperata antecorum (»temperierte Zone der Antöken«). Die zentrale heiße Zone ist nicht bezeichnet und von den Ländern der temperierten Zone auch nur Italien. Rechts oben am Nordrand der temperierten Zone das Kaspische Meer mit Verbindung zum Ozean (vgl. 2,9,7). Nebenarme des Zentralozeans sind das Rote Meer (Mitte) und der Indische Ozean (rechts). Am Westende des Mittelmeers die legendhaften Orkaden-Inseln.

Anmerkungen zu Buch 1 1 Inhalt der Einleitung: Platon und Cicero, der Er-Mythos und Scipios Traum (1,1–8); die Vorwürfe der Epikureer gegen Platon und deren Widerlegung (1,2,1–5); die Verwendung von fabulae in der Philosophie (1,2,6–21); Typologie der Träume, Scipios Traum ein Wahrtraum (1,3,1–20); Intention von Scipios Traum (1,4,1–4), Zusammenfassung (1,5,1). Dass Macrobius (im Folgenden mit M. abgekürzt) Platon gelesen hat, wird von der Forschung weithin bezweifelt; er kannte wohl nur die Auszüge bei Porphyrios, seiner wichtigsten Quelle überhaupt. Im Verlauf des »Kommentars« stößt man des Öfteren darauf, dass er eine Quelle zitiert, aber tatsächlich aus einer anderen schöpft, was ihm in der älteren Forschung den Vorwurf des Plagiierens eingetragen hat (Referat bei Stahl 1990, 23 f.). Flamant 1977, 646–648 hat demgegenüber gezeigt,

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dass M. nicht Quellen, sondern Autoritäten anführt, bei Vorliegen mehrerer Quellen sich also immer auf die »ranghöchste« beruft, auch wenn er von der nur mittelbare Kenntnis hat (damit steht er nicht alleine, denn Calcidius hält es ebenso, vgl. Bakhouche 2011, 34). Die höchsten Autoritäten sind für ihn Platon, Cicero, Vergil und Plotin; allfällige Widersprüche zwischen beiden versucht er wegzuerklären; ein gutes Beispiel dafür ist 1,19,5. Der Vergleich zwischen dem platonischen Mythos und Ciceros Traumerzählung wird auch in dem anderen erhaltenen Kommentar zum Somnium Scipionis, dem des Favonius Eulogius (1,1) gezogen. Der unterschiedliche Realitätsbezug zwischen Platons und Ciceros Werken wird implizit schon bei Cicero, De re publica 2,52 angesprochen: civitatem optandam magis quam sperandam [. . . ] effecit, »Platon hat einen Staat entworfen, den man sich eher wünschen als erhoffen darf«. Vgl. Anm. 7. Platon, Phaidon 114b–c; Platon, Gorgias 523a–527a. In dignitatem adserta ist gebildet auf der Basis der Formeln aliquem in libertatem / servitutem adserere, vgl. Livius 3,45,2 bzw. 3,44,5 ( Jan 1848 z. St.). Nämlich die Epikureer, mit denen M. sich in 1,2,5–12 auseinandersetzt. Nach Augustin, De civitate Dei 22,28 in einer verlorenen Passage von De re publica. Lat. fabula; das Wort referiert auf eine Einteilung der narrativen Literatur nach Realitätsgrad parallel zur Dreigliederung des Felds der Modalität: historia (reales Geschehen) – argumentum (potentiales Geschehen) – fabula (irreales Geschehen), vgl. Quintilian, Institutio Oratoria 2,4,2. Kolotes aus Lampsakos (§ 3) war ein Schüler Epikurs, der unter den Platonikern und Stoikern einen notorisch schlechten Ruf hatte (vgl. Plutarchs »Gegen Kolotes«). Seine Polemik gegen den platonischen Er-Mythos bezeugt Proklos’ Politeia-Kommentar (In Platonis rem publicam Bd. 2, S. 105, 23–26 Kroll), der auch die Widerlegung des Kolotes in Porphyrios’ verlorenem Politeia-Kommentar referiert, dem M. wohl folgen dürfte (vgl. Mras 1933, 235–238). Zur Rezeptionsgeschichte des ErMythos bis Proklos vgl. Cürsgen, Dirk: Die Rationalität des Mythischen: Der philosophische Mythos bei Platon und seine Exegese im Neuplatonismus, Berlin 2002, 122–144 (123 zur Abhängigkeit M.s von Porphyrios’ Timaios-Kommentar, 134–138 zum Er-Mythos bei Plotin und Porphryios). Speziell zu Plutarch s. Wiener, Claudia: Kurskorrektur auf der Jenseitsfahrt. Plutarchs Thespesios-Mythos und Kolotes’ Kritik an Platons Politeia, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 28 (2004), 49–63. – Ein Beispiel dieser Art epikureischer Kritik bietet Cicero, De natura deorum 1,18–24. Macrobius’ Verteidigung richtet sich im Übrigen gegen eine zu seiner Zeit erloschene Schule. Nach Proklos, In Platonis rem publicam Bd. 2, S. 105,23–106,12 Kroll erhob Kolotes drei Vorwürfe gegen Platon, von denen M. hier nur den ersten referiert. Die beiden anderen waren: (2) der Er-Mythos steht im Widerspruch zu Platons Verdammung der Dichtung, (3) Mythen sind unnütz, da sie von den Ungebildeten nicht verstanden und von den Gebildeten nicht benötigt werden. Die (falsche) etymologische Verknüpfung von fabula mit falsus geht auf Varro, De lingua Latina 6,55 zurück. Der Begriff fabula wird im Folgenden einer dia–resic / divisio

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unterworfen, einer Methode der Klassifizierung, bei der ein allgemeiner Begriff sukzessive unterteilt wird, bis die gesuchte Spezies, hier »philosophische fabula«, definiert ist. Das Verfahren geht auf Platon zurück (u. a. Sophistes 218b–231e; vgl. Gigon, Olof: Lexikon platonischer Begriffe, Zürich 1975, 102–104; Schramm, Michael: Art. »Dihärese«, in: Schäfer, Christian (Hg.) 2007, 92–95; zur Geschichte der Dihärese im kaiserzeitlichen Platonismus seit Seneca (Epistulae 58) s. Dörrie/Baltes Bd. 4, 310–320); die wirkungsreichste Visualisierung ist der erstmals von Boethius verwendete »Baum des Porphyrios«. M. verwendet hier die Oppositionen tugendorientiert : unterhaltend (d. h. die herkömmliche wirkungsästhetische Opposition prodesse : delectare), wahr : unwahr und anstößig : unanstößig. Zur aus Proklos, In Platonis rem publicam Bd. 2,106, 23–26 Kroll erschließbaren Beziehung des vorliegenden Kapitels zu Porphyrios s. Mras 1933, 236 f.; zur Struktur vgl. Syska 1993, 4–11. – Mit den Romanen in § 8 sind Petrons Satyricon und Apuleius’ Metamorphosen gemeint; das »Erstaunen« des M. beruht darauf, dass er in Apuleius natürlich zuvörderst den Platoniker sah. 10 Nach Regali 1983, 222 sind die caeremoniarum sacra Mysterienkulte; die Erinnerung an sie manifestiert sich etwa in dem berühmten Elfenbeindiptychon der Nicomachi und Symmachi, dessen Tafeln jeweils eine opfernde Priesterin zeigen, die eine an einem der Ceres gewidmeten Altar neben einem Baum, der mit Zimbeln, den Symbolen des Kybelekults geschmückt ist, die andere unter einer Eiche, dem Baum Jupiters, und mit Efeu, dem Symbol des Dionysos, im Haar. – Hesiod etc.: die Theogonie Hesiods (dort 164–200 und 453–500 der im folgenden Abschnitt angesprochene Sukzessionsmythos), die unter dem Namen des Orpheus umlaufenden Kosmogonien und die Kosmologie der Pythagoräer. 11 Zur Übersetzung von anima mit »Weltseele«: Während Plotin eine Allseele kennt, die unter Wahrung der gemeinsamen Substanz entweder als Welt- oder als Individualseele in Erscheinung tritt, macht Macrobius, wohl im Anschluss an Porphyrios (vgl. Goulet-Cazé 2005, 86–105), einen deutlicheren begrifflichen Unterschied zwischen Welt- und Individualseele, wobei erstere ein Kontinuum zwischen »oberer«, in Nachbarschaft zum Intellekt befindlicher, und inkorporierter »unterer« Existenz bildet (vgl. 1,14,8 ab anima natura incipit, quam sapientes de deo et mente no‹n nominant mit 1,14,9 in inferiora uero ac terrena degenerans). Sprachlich kommt der Unterschied allerdings nur selten zum Ausdruck (z. B. 1,6,20 mundi anima, quae animarum omnium fons est), sondern M. verwendet für beide meist anima. Zur Erleichterung des Verständnisses berücksichtigt die vorliegende Übersetzung den begrifflichen Unterschied und differenziert daher jeweils zwischen »Weltseele« und (Individual)-«Seele«. – Die »Mächte in der Luft« sind die göttlichen Gestirne und die Zwischenexistenzen zwischen Menschen und Göttern, die seit Apuleius, De deo Socratis 6 in der Luft angesiedelt sind; ebenso gem. Augustin, De civitate Dei 10,9 bei Porphyrios. Vgl. Zintzen, Clemens: Art. »Geister«, RAC 9 (1976), 640–668. 12 Hier sind die erst in 1,14 dargestellten obersten drei neuplatonischen Hierarchiestufen vorausgesetzt: Das Eine / der höchste Gott (vgl. auch 1,6,8–9) > der Intellekt > die Weltseele. Letztere ist die einzige dieser drei Hypostasen, über welche mit

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fabulae geredet werden darf, wie auch über die niedrigeren Gottheiten und Dämonen. Gleichnisse und Exempla unterscheiden sich von fiktiven Erzählungen dadurch, dass sie nicht (notwendigerweise) Sachverhalte thematisieren, die in einem historischen Kontext stehen und damit der Außerzeitlichkeit der beiden obersten Hypostasen angemessener sind, s. § 16 und Flamant 1992, 224 f. – Das nachstehend genannte Gleichnis ist das berühmte »Sonnengleichnis« Platons (Staat 508a). Das Argument stammt von Porphyrios, aufgenommen bei Proklos, In Platonis rem publicam Bd. 2, 107,5 f. Kroll (vgl. Mras 1933, 237). Die Übersetzung folgt dem Hinweis von Chr. Tornau, dass natura in § 16 die unterste Stufe der Weltseele (physis) bezeichnet, in § 17 dagegen gleich essentia ist. Aus derselben Quelle wie § 17, s. Anm. 13. Plotin, der selbst in die Isis-Mysterien eingeweiht war, verwendet mehrfach Mysterienrituale um den Aufstieg zur Schau des Guten zu versinnbildlichen, vgl. Armisen-Marchetti 2011, Anm. 28. – Figura »Allegorie« wie in 1,3,10, vgl. ThLL 6,1, 735,15 f. Numenios: s. Verzeichnis antiker Autoren im Anhang. Der Traum ist sonst nirgends bezeugt. Das ist zumindest teilweise falsch, da Empedokles und Heraklit den Antropomorphismus bekämpften. Bei Parmenides könnte M. den Anfang von Über die Natur im Sinne gehabt haben, wo die Begegnung des Erzählers mit der Göttin Dike und einer weiteren, namenlosen Göttin erzählt wird; die Timaios-Stelle ist 40d. Vgl. Regali 1983, 227 und Armisen-Marchetti Anm. 30. 1,3 ist eines der wirkungsgeschichtlich erfolgreichsten Kapitel des Werks; es verschaffte M. via Ps.-Augustin De spiritu et anima im Mittelalter den Ruf eines Traumexperten, vgl. Schedler 1916, 124. Die in § 2 folgende Einteilung in fünf Traumtypen entspricht im Grundsatz der Traumsystematik des Artemidor v. Ephesos (2. Jh.), kann aber wegen gewisser Abweichungen (s. Regali 1983, 228) nicht direkt von ihm abhängig sein; möglicherweise folgt er, wie so oft, Porphyrios (Flamant 1977, 161– 162; Diskussion anderer Möglichkeiten bei Regali 1983, 227 f.; zur Rezeption Artemidors in der Spätantike s. Weber, Gregor: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike, Stuttgart 2000; zur gegenwärtigen Artemidor-Forschung s. Ders. (Hg.): Artemidor von Daldis und die antike Traumdeutung, Berlin 2015). Nach Ciceros (De divinatione 1,11 f.) Einteilung gehört der Traum zur divinatio naturalis im Gegensatz zu den auf ars beruhenden Formen wie der Eingeweideschau; alle stoßen in De divinatione auf fundamentale Kritik, die im markanten Gegensatz zur positiven Einstellung der platonischen Tradition gegenüber der Mantik steht. Und während M. sich sonst bemüht, Gegensätze zwischen seinen Autoritäten wegzuerklären, übergeht er Ciceros Traumkritik (De divinatione 2,119–150) mit Stillschweigen, da offenbar die platonische Tradition zu wirkungsmächtig und zu lebendig war. Für den Neuplatonismus ist hier in erster Linie zu verweisen auf die theoretische Fundierung des Verhältnisses von Philosophie und Mantik durch Porphyrios’ De philosophia ex oraculis haurienda und Jamblichs De Mysteriis; vgl. Busine, Aude: Porphyry and the Debate over Traditional Religious Practices, in: Vassilopoulou, Panayiota/ Clark, Stephen (Hgg.): Late Antique Epistemonology, Basingstoke 2009, 21 f. und

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Addey, Crystal: Divination and Theurgy in Neoplatonism, Farnham 2014. Auch in M.s christlich geprägtem Umfeld sind Träume als Mittel der Kommunikation zwischen Gott und den Menschen von hoher Relevanz, vgl. biblische Träume und Visionen wie Jakobs Himmelsleiter (Genesis 28,11), Josephs Traum (Matthäus 1,20) oder die Berufung des Paulus nach Mazedonien (Apostelgeschichte 16,9 f.) und die theologische Auseinandersetzung damit, etwa Augustins Interpretation von Genesis 28,11 in Sermones 12,14 (CSEL 41,167 f.): Multi autem modi sunt, quibus nobiscum loquitur Deus [. . . ] aut in somnis, sicut Laban Syro ne Iacob servum eius in aliquo laederet et Pharaoni de septem annis opulentis totidemque sterilibus demonstratum est, »Gott kommuniziert auf viele Arten mit uns, [. . . ] auch im Traum. So hat er Laban dem Syrer gesagt, dass er seinem Knecht Jakob keinerlei Leid antun dürfe und offenbarte dem Pharao die sieben fetten und die sieben mageren Jahre«. – Die Übersetzung der Begriffe beruht auf den Definitionen M.s in 1,3,4–10. Cicero, Academica 1,40; 2,18; 2,49. Vgl. Cicero, De divinatione 1,60. Ähnlich erklärt Artemidor 1,1 das ‚n‘pnion als verzerrte Reproduktion erlebter Wirklichkeit. Die Vergil-Zitate enstammen Aeneis 6,896; 4,4 f.; 4,9. Wie z. B. in Apuleius, Metamorphoses 11,3–6 Isis mit ihrem »verehrungswürdigen« Traum-oraculum (oraculum venerabile, 11,7,1). Die involvierten Personen sind (1) der Erzähler P. Cornelius Scipio Aemilianus Africanus Minor Numantinus (185–129), cos. 147 und 134, Sieger über Karthago 146, über Numantia 133. Er ist sowohl leiblicher Sohn des (2) L. Aemilius Paullus (228–160, Sprecher in De re publica 6,15 f), cos. 182, 168 und Augur seit 190, Sieger von Pydna 168, als auch durch Adoption Sohn des P. Cornelius Scipio (gest. 168) und damit Adoptivenkel des (3) P. Cornelius Scipio Africanus Maior (236–182, Sprecher in De re publica 6,10–14 und 6,17–29), cos. 205, 194 und Mitglied des Kollegiums der Salier, Sieger von Zama 202. Der Triumph nach der Zerstörung Karthagos 146 und die mit den Reformbestrebungen der Gracchen einhergehenden Wirrnisse. Die beiden lumina sind Sonne und Mond, die M. in der Regel getrennt von den übrigen Planeten aufführt (1,6,18; 1,14,23 und 25; 1,17,16; 2,11,5,8 und 10), da sie ja nicht errantes sind, d. h. nicht deren irreguläre Bewegungen haben, vgl. Le Bœuffle Bd. 1, 1973, 98. Zur Terminologie von stella etc. vgl. M.s Diskussion in 1,14,21 und Anm. 214. Erklärung bei Artemidor, Oneirokritika 1,2 (der ebenfalls das in § 15 folgende Beispiel aus Homer, Ilias 2,56–83 anführt): Ein derartiger Traum, sofern nicht dem gesamten Staatsvolk zuteil geworden, setzt politische Kenntnisse und Fähigkeiten beim Träumenden voraus, welche die richtige Deutung ermöglichen. Scipio aber war im Jahr 147, dem dramatischen Datum des Somnium, lediglich Militärtribun; er wurde aber bereits zwei Jahre später Konsul. Homer, Odyssee 19,562–569, vgl. Vergil, Aeneis 6,893–896; gemeint sind vermutlich die Homerischen Fragen des Porphyrios, vgl. Mras 1933, 238.

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28 Zu dieser Vorstellung vgl. Cicero, De divinatione 1,63: Cum est somno sevocatus animus a societate et a contagione corporis, tum meminit praeteritorum, praesentia cernit, futura providet, »wenn im Schlaf die Seele aus der Gemeinschaft des Körpers und dessen schädlichem Einfluss abberufen wird, erinnert sie sich an das Vergangene, erkennt das Gegenwärtige und sieht das Zukünftige voraus«. 29 Vergil, Aeneis 2,604–606. 30 M. fasst hier den für uns verlorenen Text des sechsten Buches vor der eigentlichen Traumerzählung zusammen. Mit dem »Tyrannenmord« ist die Ermordung des Ti. Gracchus 133 v. Chr. gemeint. »Lange Zeit [. . . ] bewahrt« bezieht sich auf den Unterschied zwischen dem fiktiven Datum des Traums im Jahre 149 v. Chr. und der fiktiven Erzählzeit am dritten Tag der feriae Latinae im Jahre 129. 31 Sprecher des folgenden Zitats ist Africanus Maior (De re publica 6,13), Sprecher des nächsten (De re publica 6,16) ist L. Aemilius Paullus; vgl. Anm. 23. 32 De re publica 6,13. 33 Die Stellen sind De re publica 6,11 und 6,16; M. behandelt die Milchstraße in 1,15,1–7. 34 Gliederung des Abschnitts zur Arithmologie: 5,3–18 »Vollkommenheit« der Zahlen (5–13 aller Zahlen generell, 14–18 der Acht). 6,1–5 Exkurs: die Weltseele als Produkt gerader und ungerader Zahlen. 5–45: Bestandteile der Sieben (Monade, die Kombinationen 1 + 5, 2 + 5, 3 + 4, mit Exkurs zu den vier Elementen). 46–82: Funktionen der Sieben (46: in der Weltseele; 47–61: kosmische; 62–80: anthropologische; 81– 82: Varia). – Der lange Traktat über die Zahlen hat nur noch wenig zu tun mit der klassischen Arithmetik der Elemente Euklids und der Einführung in die Arithmetik des Nikomachos v. Gerasa; lediglich dessen Lehre von den »figurierten« Zahlen, der Relation zwischen Zahlen und Körpern (vgl. Riedweg, Christoph: Art. »Zahl«, DNP 12,2 (2003), 679–681 und Radke, Gyburg: Die Theorie der Zahl im Platonismus, Tübingen 2003, 726–760), findet im folgenden Abschnitt einen Nachhall. Im Übrigen dominiert das Interesse an der »Arithmologie« oder »Numerologie«, d. h. an der symbolischen und mystischen Bedeutung der Zahlen, das von Pythagoras begründet worden war. Es tritt im Platonismus ebenfalls schon bei Nikomachos hervor, der neben der o. g. Einführung auch einen Traktat über die »göttlichen Eigenschaften der Zahlen« (Theologumena arithmeticae) verfasste (vgl. u. Anm. 49; seine Arithmetik war in Rom durch eine bei Cassiodor, Institutiones 2,4,7 bezeugte Übersetzung des Apuleius bekannt). Typische Vertreter dieser Arithmologie, die den Horizont charakterisieren, in dem M. steht, sind Ps.-Jamblich und Calcidius, dazu der verlorene, für M. zentrale Timaios-Kommentar des Porphyrios. Der Neuplatonismus des 4. Jh., der so gleichzeitig ein Neupythagoräismus wird, macht schließlich, wie Flamant 1977, 306 sagt, die Arithmetik zur Dienerin der Arithmologie, ebenso wie die Astronomie zur Dienerin der Astrologie herabsinkt. 35 Es geht im Folgenden nicht um den mathematischen Begriff der »perfekten« Zahl, die gleich der Summe ihrer positiven Teiler (außer ihrer selbst) ist, sondern um den in die pythagoräische Tradition zurückreichenden Begriff tËleioc, der die arithmologischen Qualitäten meint, die in 5,15–18 und im gesamten Kap. 6 ausgeführt werden.

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Cicero sagt möglicherweise aus diesem Grund (numerus) plenus und nicht perfectus (Armisen-Marchetti 2011, Anm. 67). Das überlieferte vasta verdient wohl den Vorzug vor der alten Konjektur nastà, das nach Regali nicht Entsprechung von solidus ist; er übersetzt vasta mit esteso unter Verweis auf Boethius, De musica 1,5,2: Ptolemaeus putat [. . . ] corpora [. . . ] vastiora edere gravitatem »P. glaubt, dass die ausgedehnteren Körper einen tieferen Ton erzeugten«. Armisen-Marchetti übersetzt metallicis corporibus mit corps mineraux (im ThLL nicht belegt) und vasta mit brut. Die ThLL-Belege wie Phaedrus 1,5,5 cum cepissent cervum vasti corporis und Curtius Rufus 4,13,5 illis (sc. Scythis) [. . . ] esse eximiam vastorum magnitudinem corporum sprechen eher für »massig«, »ungeschlacht«. Unter der Annahme, dass corpus metallicum kein bearbeitetes Metallobjekt, sondern die unbearbeitete Materie bezeichnet, wurde deswegen vastus hier mit »massig« übersetzt; vgl. auch 1,19,12 und 1,22,6. Hier wird die Gliederung des folgenden Abschnittes gegeben: 1,5,5–13: Vollkommenheit, die allen Zahlen qua Unkörperlichkeit, und 1,5,14–18 und 1,6: Vollkommenheit, die individuellen Zahlen zu eigen ist. Auf die Unterscheidung, dass die Vollkommenheit einer Zahl auf zwei Arten sichergestellt wird, nämlich entweder durch ihre Bindekraft (vgl. 1,6,23–24) oder ihre Fähigkeit, mathematische Körper hervorzubringen, greift M. explizit in § 14 zurück: illa, ut supra admonuimus, plenitudo est eorum, qui aut corpus efficiant aut vim obtineant vinculorum. Demzufolge wird in der Ausgabe von Armisen–Marchetti, der wir folgen, eine dritte Art, die zwischen die beiden eingefügt ist, nämlich aut corpora rursus efficiuntur, »die ihrerseits wieder Körper werden«, als Glosse zu aut corpus efficiunt betrachtet. Hierauf bezieht sich Boethius, In isagogen Porphyrii 1,11: De incorporalitate vero quae circa terminos constat, si Macrobii Theodosii doctissimi viri primum librum, quem de Somnio Scipionis composuit, in manibus sumpseris, plenius uberiusque cognosces, »was die Unkörperlichkeit betrifft, die die Grenzen der Körper umgibt, wirst du eine vollere und reichere Erklärung finden, wenn du das erste Buch des hochgelehrten M. Theodosius über den Traum Scipios zur Hand nimmst«. Diese sukzessive Konstruktion der mathematischen Körper aus Punkt, Linie und Oberfläche ist seit Euklid nachweisbar; sie wird in 1,6,35 und 2,2,4 wieder aufgegriffen. In der lateinischen Literatur findet sie sich von Varro (bei Gellius 1,20) bis Martianus Capella 6,708. Vgl. Regali 1983, 245. Vgl. Euklid, Elemente 1, def. 2. Die Vorstellung von der Priorität der Zahl vor dem Körper und damit der Arithmetik vor der Geometrie ist ein Spezialfall der pythagoräischen Lehre, dass die Zahlen Ursache aller Dinge seien (vgl. Favonius Eulogius 2: Italicae sapientiae conditor Pythagoras numeris censet constare naturam, »Pythagoras, der Begründer der Weisheit Italiens meint, die Natur beruhe auf Zahlen«). Im platonischen Timaios (31c–32a) wird sie dem Pythagoräer Timaios in den Mund gelegt und damit implizit auf Pythagoras zurückgeführt; im Neuplatonismus ist sie seit Plotin (Enneade 6,6,9) heimisch. Vgl. Regali 1983, 246 f.

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1,5,4, vgl. Anm. 38. Vgl. 1,6,23 f. zu drei und vier. 1,5,10–11. 1,17 und 2,2–4. Eine Zahl, die nicht hervorgebracht ist, ist eine Primzahl; eine Zahl, die weder hervorgebracht ist noch hervorbringt, ist eine Primzahl, deren Multiplikation mit einer anderen Zahl keine Zahl der ersten Dekade hervorbringt; in der ersten Dekade ist das die Sieben. Die erste Dekade gilt bei den Pythagoräern als grundlegend, weil die Zahlen oberhalb ihrer als Wiederholungen in Kombination gelten. Die Vier ist hervorgebracht (2 × 2) und bringt hervor (4 × 2); die Acht ist hervorgebracht (4 × 2), bringt aber keine andere Zahl in der ersten Dekade hervor. Üblicherweise wird der Name »Gerechtigkeit« der Fünf beigelegt, ausnahmsweise auch der Vier (vgl. Stahl 1990, 98 Anm. 17), aber für M.s Behauptung finden sich vereinzelt Beispiele in der neuplatonischen Tradition, so in der Zusammenfassung der verlorenen Theologumena arithmeticae des Nikomachos von Gerasa bei Photios (s. Armisen-Marchetti 2011, Anm. 87), die nach Flamant eine der letztendlichen Quellen für M.s arithmologische Anschauungen sind, vgl. Anm. 49. Kap. 6 gliedert sich in zwei Teile: § 1–44: Die Bedeutung der Kombination von sieben und acht und die Bestandteile der Sieben, § 45–83: besondere Eigenschaften der Sieben: bei der Erschaffung der Weltseele, in der Astronomie, im Menschen und im menschlichen Leben. Nach Flamant 1977, 306–313 und 348–350 beruht der Unterschied, dass der erste Teil wenig, der zweite viel arithmologische Information bietet, darauf, dass M. unterschiedlichen Quellen folgt: Das System der Zahlendekomposition in § 1–44 geht bis auf Poseidonios zurück, aber die extensive Ausarbeitung ist M.s eigenes Werk; die Exkurse zu den vier Elementen und zur Psychogonie gehen auf M.s Hauptquelle, Porphyrios, v. a. den Timaios-Kommentar, zurück. In § 45–83 stützt sich M. auf eine Tradition, die auf die Theologumena arithmeticae des Nikomachos von Gerasa (vgl. o. Anm. 34 und Namensverzeichnis) zurückgeht, was sich in vielen engen Parallelen mit den ebenfalls von Nikomachos abhängigen Theologumena arithmeticae des Ps.-Jamblich (3./4. Jh.) zeigt. In diese Tradition sind zusätzliche neuplatonische Quellen des 3. Jh. eingeflossen. Vgl. Ps.-Jamblich S. 4,1 und 18 f. de Falco/Klein. Die gerade Reihe ist 2–4–8, die ungerade 3–9–27; der Ausdruck alternatio mutuandi spricht dafür, dass hier das lineare Modell der Weltseele aus Platons Timaios 35bc (1– 2–3–4–9–8–27) vorschwebt wie auch, in engerer Anlehnung an den Timaios-Text, in 2,2,17, und nicht wie in 1,6,46 das »Lambda«-Modell; vgl. Anm. 89. Drei mal drei zum Quadrat muss man sich so repräsentiert vorstellen: Wie schon Jan 1849 betrachtet auch Armisen-Marchetti Anm. 94 die Parenthese octo dico et septem als Glosse und hos duos numeros als Referenz auf die geraden und ungeraden Zahlen in § 1. Doch (1) sagt sie selbst, dass Parenthesen des Typs x dico et y (in der ersten Person, nicht wie bei einer Glosse zu erwarten in der dritten) nicht selten sind (vgl. 1,3,3; 1,6,24; 1,6,40; 1,12,16; 1,14,8; 1,18,17), (2) ergibt sich weder mit noch ohne Parenthese ein befriedigender Sinn (Flamant 1977, 324: »logique étrange«).

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Die Variante mit Parenthese macht die Aussage falsch, denn die Sieben gehört nicht zu den konstitutiven Zahlen der Weltseele; die Variante ohne Parenthese macht die Aussage trivial: hervorzuheben, dass die beiden Klassen der geraden und ungeraden Zahlen »als einzige« als geeignet zu Hervorbringung der Weltseele »erachtet« wurden (solos idoneos iudicatos), wäre müßig, denn andere Zahlenklassen, von denen sie mit solos abgegrenzt werden könnten, kämen ja schwerlich in Betracht. Man würde hier eher die umgekehrte Argumentation erwarten: da die beiden Zahlengruppen gerade und ungerade die im höchsten Grade perfekte Weltseele (qua nihil . . . pefectius) konstituieren, ist es bedeutsam, dass sie auch das Lebensalter des vir perfectus Scipio konstituieren. Wenn allerdings die Widerspiegelung der Vollkommenheit der Weltseele in den Lebensjahren Scipios der ursprüngliche Kern von M.s Argumentation ist, dann könnte die Parenthese den numerischen Ausdruck dieser Widerspiegelung enthalten: Zum einem ist sieben die Anzahl der Seelenbestandteile (vgl. 1,6,45), zum anderen beruht die letztlich von der Bewegung der Weltseele abhängige Sphärenharmonie auf der Bewegung von acht Sphären, die aber sieben Töne hervorbringen (vgl. 2,4,9 mit Anm. 46 und Caldini Montanari 2002, 369, Anm. 19). Damit kann das Lebensalter des vir perfectus Scipio als durch zwei für die Weltseele wichtige Zahlen repräsentiert gelten, welche zugleich die beiden prototypisch »perfekten« (vgl. 2.5.4 und 14) Zahlen der geraden und der ungeraden Reihe sind: die Sieben qua doppelter Bindekraft (6,34), die Acht qua Erzeugung mathematischer Körper, (vgl. 5,15 f). Die Parenthese deutet dann einen Gesichtspunkt an, der, wie des öfteren, erst an anderer Stelle ausgeführt wird. 1,5,5. Platon, Timaios 35bc. In der Doxographie zur Seele 1,14,19 wird diese Definition dem Platonschüler Xenokrates zugeschrieben. Ähnlich bei Favonius Eulogius 5,6: Est numerus, ut Xenocrates censuit, animus ac deus, »die Zahl ist, wie Xenokrates meinte, Seele und Gott«; vgl. Armisen-Marchetti 2011, Anm. 96. Diese Eigenschaften der Monade stammen aus pythagoräischer Tradition, deren Rezeption ja ein Charakteristikum des Neuplatonismus ist (vgl. dazu das Kap. L’arithmétique bei Flamant 1977, 305–350). Die Eigenschaften »männlich und weiblich«, »gleich und ungleich« finden sich ebenso wie die in § 8 genannten »Quelle aller Zahlen« und »ohne Anfang und Ende« in Ps.-Jamblichs Theologumena, der sich in seinem Kapitel über die Monade explizit auf den Pythagoräer Nikomachos v. Gerasa bezieht; die Eigenschaft »keine Zahl« findet sich auch bei Martianus Capella 7,745. Die Eigenschaft »gleich und ungleich« steht im Gegensatz zur Lehre Platons, für den die Eins eine ungerade Zahl ist: Hippias maior 302a. Einzelnachweis der neuplatonischen Parallelen bei Regali 1983, 254 f. Zur Scheidung des Einen von den nachgeordneten, durch »Vielheit« charakterisierten Hierarchiestufen bei Plotin vgl. 1,14,5 ff. mit Anm. 198; der Vergleich der höchsten Hierarchiestufe, des Einen, mit der Eins findet sich ebenfalls bei Plotin, Enneade 5,3 (Text 205.5 bei Dörrie/Baltes Bd. 7.1, 223 f.). Der no‹c als Träger der Ideen ist eine »mittelplatonische Innovation« (Ramelli 2007, 84), die sich in der lateinischen

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Literatur zuerst bei Apuleius, De Platone et eius dogmate findet. Seine Eigenschaft »Einheit in der Vielfalt« und die weiteren in § 8 genannten Attribute finden sich, nach Plotin, Enneade 5,4,2, auch in Porphyrios’ Sententiae 39, vgl. Goulet-Cazé 2005, 70 f. und 72 f. 59 Die Beziehung der Monade zu den neuplatonischen Hypostasen, die M. in § 8–9 beschreibt, wird unterschiedlich interpretiert: sie charakterisiere (1) die erste Hypostase (Stahl), (2) die zweite Hypostase (Flamant und Regali), (3) alle drei Hypostasen (Armisen-Marchetti). Diese Interpretationen hängen offenkundig mit der Beurteilung zweier sprachlicher Details zusammen: (1) ist frustra Prädikatsadverb oder Urteilsadverb? (2) sind referri und esse synonym verwendet oder nicht? (1) Wenn frustra Urteilsadverb ist, ergibt sich eine Abgrenzung der ersten von den beiden anderen Hypostasen, so bei Stahl 1990, 101: »(the monade) refers to the Supreme God and separates our understandig of him (the One, without number) from the number of things and powers following; you would not be so rash as to look for it in a sphere lower than God«. Der ThLL kennt eine derartige Verwendung von frustra allerdings nicht; nec [. . . ] frustra ist offenbar Litotes. (2) Wenn referri und esse nicht synonym sind, ist die Monade die zweite Hypostase (haec illa est mens); zur ersten und dritten »steht sie (lediglich) in Beziehung«. So Regali: »è probabile che ad summum refertur deum significa che la monade, identificato dopo col no‹c ›si rifà‹, ›guarda‹ verso il dio supremo (senza potervisi identificare)«. Ähnlich Flamant 1977, 331, der hier die drei Hypostasen in der Version des Porphyrios erkennt, in der das Eine mit der zweiten Hypostase, der mens identifiziert wird; diese »se ›rapport‹ seulement au Dieu suprême, et à l’âme, dont il est le principe unificateur.« (3) Esse und referri sind synonym, frustra ist Prädikatsadverb; für ersteres verweist ArmisenMarchetti auf Calcidius 39 (der nur esse hat: ipsaque singularitas mens sive intellegentia vel ipse deus opifex intellegatur esse) und übersetzt: »Cette monade [. . . ] a rapport avec le Dieu suprême dont elle isole la compréhension du nombre des réalités [. . . ] qui viennent après lui, et on ne manque pas de la trouver aussi au palier qui suit la divinité« (Anm. 103). Tatsächlich ist schwer zu sehen, inwiefern das Eine in einem geringeren Grade durch die Monade repräsentiert sein könnte als der durch Einheit und Vielheit charakterisierte Intellekt. Lexikalische Variation auf Kosten der Begrifflichkeit findet sich dagegen bei Macrobius auch andernorts, so etwa in 2,15,12 (vgl. Anm. 162 z. St.). Die Monade charakterisiert bei M. somit in plotinischer Tradition (der auch die Emanationslehre in 1,14,5 folgt, s. Anm. 198) alle drei Hypostasen, aber nichts unter ihnen; sie repräsentiert Gott, der der Begriff der Einheit schlechthin ist; sie repräsentiert die mens, insofern diese selbst Eines ist, obwohl sie die Vielzahl der intellegiblen Dinge in sich birgt; und sie repräsentiert schließlich die anima, weil sie das Bindeglied zwischen der Einheit des Intellegiblen und der Vielheit des Körperlichen (vgl. § 9) ist. Das Thema wird wieder aufgenommen in 1,14,5, vgl. dort Anm. 198. 60 Zum ersten Punkt vgl. Anm. 47. – Athene, da aus Zeus’ Haupt geboren (Hesiod, Theogonie 924) und die jungfräuliche Göttin schlechthin, ist weder »gezeugt« noch »zeugt« sie; sieben ist qua Primzahl nicht Produkt anderer Zahlen (nicht

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»gezeugt«) und »zeugt« auch nicht durch Multiplikation mit zwei eine Zahl der ersten Dekade. Die Identifikation der Sieben mit Athene ist in der Arithmologie häufig, so u. a. bei Ps.-Jamblich S. 71,3 f. de Falco/Klein, Calcidius 36 und Favonius Eulogius 13,1 und 13,10 (Einzelnachweise bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 107). Eine sog »perfekte« Zahl (numerus perfectus) im arithmetischen Sinn, die nächste ist 28 (14 + 7 + 4 + 2 + 1); diese Qualität der Sechs findet sich schon bei Philon v. Alexandria (ca. 15 v. – 40 n. Chr.), De decalogo 29 und vor allem in den schon mehrfach genannten neuplatonischen Quellen M.s, so bei Ps.-Jamblich, sowie bei den Lateinern Calcidius und Favonius Eulogius (vgl. Armisen-Marchetti 2011, Anm. 108). M. vermeidet offenbar den Begriff perfectus, weil er ihn in untechnischem Sinne schon in 6,1 und 6,3 verwendet. Viele der nachfolgend aufgeführten Spekulationen über die Wirksamkeit der Sieben finden sich bereits im Referat des Gellius zu Varro zusammengestellt (3,10, praef.: Quod est quaedam septenarii numeri vis et facultas in multis naturae rebus animadversa, de qua M. Varro in hebdomadibus disserit copiose, »Über Wirksamkeit und Kraft der Sieben, die sich vielfach in der Natur zeigt und von der Varro ausführlich in seinen Hebdomaden handelt«); Gellius ist auch in den Saturnalien eine wichtige Quelle für M., vgl. Flamant 1977, 242–244; zur Rezeption der Hebdomadenlehre im Neuplatonismus und bei Augustin vgl. Lagouanère, Jérôme: Le schème de l’hebdomade dans les premiers écrits de saint Augustin, Revue d’Etudes Augustiniennes et Patristiques 60, 2014, 33–65. Hippokrates, De natura pueri 21,1 sagt tatsächlich, dass der männliche Fötus nach drei, der weibliche nach vier Monaten sich zu bewegen beginnt. Weil die Monade definitorisch keine Zahl ist, s. § 7. Mit dem Übergang von der Monade zur Dyade beginnt der Prozess der Inkarnation der Seele, vgl. 1,12,5. Dieser Sinn ergibt sich aus der nachfolgenden Aussage, dass die Gegenläufigkeit der Planeten zur Fixsternsphäre die Dualität in den Kosmos einführt, vgl. Armisen-Marchetti Anm. 114. Einzelheiten bei der Behandlung der Himmelssphären in 1,17–1,19. Zu den fünf Klimazonen, nämlich den zwei arktischen, den zwei gemäßigten und der heißen, vgl. 2,5,8–17. Vgl. Apuleius, De Platone et eius dogmate 1,19: illam fontem animarum omnium, caelestem animam, »die Quelle aller Einzelseelen, die Weltseele« (Text 153.1 bei Dörrie– Baltes Bd. 6.1, 32). Nach Dörrie/Baltes a. O. ist die Vorstellung von der Weltseele als Quelle der Einzelseelen Übernahme der stoischen Lehre, dass jede Einzelseele ein Teil der Weltseele sei, und zwar unter Heranziehung von Platon, Philebos 30a und Timaios 41d–42e (Entstehung der Einzelseelen aus den Resten der Substanz der Weltseele). Vgl. Anm. 198. Wobei die intellegible Welt aus den drei Hypostasen, die sensible aus den Himmelskörpern (»göttliche Körper«) und der Erde (»vergänglicher Körper«, vgl. 1,17,4 = Cicero, De re publica 6,17), also insgesamt fünf Bereichen, besteht. Zu erwarten wäre

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hier eine Differenzierung gem. § 19 gewesen, dass also die Himmelskörper und die Erde nicht unter sunt, sondern unter videntur esse fallen. § 22 Bildung von Flächen, § 23–34 »Bindefähigkeit«, § 35–41 Bildung von Körpern, § 42–44 Funktion in der Sphärenharmonie. Platon, Timaios 31b–32b, vgl. die Paraphrase in § 29–31. Der Ausdruck iugabilis competentia wie in 1,6,31 und 33 sowie 2,2,18; nach Mras 1933, 242 liegt zugrunde ein griech. Ausdruck Çnalog–a s‘zugoc, »mathematische Proportion«, dem bei Platon, Timaios 31c lediglich der Begriff Çnalog–a entspricht. Iugabilis kommt (außer in einem ps.-augustinischen Traktat) nur bei M. vor; Cicero dagegen verwendet bei seiner Übersetzung der Timaios-Stelle comparatio (Timaeus 15): ex is rebus numero quattuor mundi est corpus effectum, ea constrictum conparatione qua dixi, »Aus diesen vier Dingen wurde der Leib der Welt hervorgebracht und durch die erwähnte harmonische Proportion gebunden«; er erwägt vorher (Timaeus 13) aber auch proportio. Offenkundig ist M.s Bemühen um terminologische Präzisierung Ciceros, wie er ihn ja auch sonst gelegentlich (implizit) kritisiert, vgl. die Diskussion von animus und anima in 1,14,3–4 oder von orbis und circus in 1,14,23; vgl. de Paolis 1992, 241 f. zur vorliegenden Stelle. – Zur übertragenen Verwendung des mathematischen Analogiebegriffs im Timaios vgl. Bärthlein, Karl/Talanga, Josip: Der Analogiebegriff bei den griechischen Mathematikern und bei Platon, Würzburg 1996, 167 f. Zur Geschichte des Begriffs nach Platon vgl. Eusterschulte, Anne: Analogia entis seu mentis: Analogie als erkenntnistheoretisches Prinzip in der Philosophie Giordano Brunos, Würzburg 1997. Die Definition der grundlegenden Qualitäten warm / kalt und der Aggregatzustände trocken / feucht und deren Zuordnung zu den Elementen geht auf Aristoteles, De generatione et corruptione 239b 24-330b 7 zurück (vgl. Kullmann, Wolfgang: Aristoteles als Naturwissenschaftler, Berlin 2014, 70). Schematisch: Erde Wasser Luft Feuer

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trocken

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75 Das folgende ist keine Übersetzung von Platon, Timaios 31b–32b, sondern eine kürzende Paraphrase; nach Mras 1933, 242 hat M. nicht das Original, sondern eine griechische Paraphrase benutzt. 76 Die Bindekraft der Zahlen, von der in § 23–27 die Rede ist, spielt hier keine Rolle mehr; M. wiederholt sein Thema, folgt aber offenbar einer anderen Quelle, vgl. Flamant 1977, 336 f. 77 Cicero, De re publica 6,18. 78 Vgl. 1,5,7 und 2,2,4–7. Willis liest eicitur statt crescit, vermutlich in Anlehnung an 5,12 singulis punctis in aduersum punctum eiecta linea, doch dürfte das mit den koordinierten superficies und soliditas kaum verträglich sein. 79 Tenor ist Regali zufolge nicht Übersetzung des stoischen, im neuplatonischen Kontext nicht nachweisbaren Begriffs (sunektik‰c) tÏnoc, die den Kosmos zusammen-

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haltende Spannung (s. LSJ s. v.), sondern ein Qualitätsbegriff; dementsprechend übersetzt Stahl mit adhesive qualities. Necessitas, Harmonia und Oboedientia in § 37 f. sind direkte Übernahmen aus Ps.Jamblichs Theologumena (S. 67 de Falco/Klein), der seinerseits aus Porphyrios’ Timaios-Kommentar schöpft, vgl. Mras 1933, 243 und Regali 1983, 266. Homer, Ilias 7,99, Worte, mit denen Menelaos die einen Zweikampf mit Hektor scheuenden Griechen geißelt. Sc. der mathematischen und der physischen, vgl. o. 1,6,35. Die tetrakt‘c ist die Folge der ersten vier Zahlen. Ihre Addition ergibt die »heilige Dekade« der Pythagoräer (vgl. Anm. 47); geometrisch entsprechen sie Punkt, Linie, Oberfläche und Körper (zu diesem doppelten Aspekt vgl. Anm. 34 zu den »figurierten« Zahlen). Daher ist im Neupythagoräismus die Tetrade das Prinzip der wahrnehmbaren, die Monade aber das Prinzip der intellegiblen Welt (Huffman, Carl: Art. »Pythagoreanism«, Nr. 4.3, SEP 2014). Die platonische Dreiteilung der Seele, vgl. Platon, Staat 4, 436a–441c; 9, 580d–583a; zum Erwerb dieser Eigenschaften beim Abstieg der Seele zur Inkarnation vgl. 1,12,14 und Anm. 185. Die lat. Begriffe sind für 3:2 sesquialter, für 4:3 sesquitertius; zu den Zahlenverhältnissen vgl. 2,1; die Seele besteht aus Akkorden: vgl. die Doxographie in 1,14,19. Vergil, Aeneis 1,94, Zitat aus Homers Odyssee 5,306; dieses bei Ps.-Jamblich, Theologumena S. 26,14 f. de Falco/Klein (Regali z. St.). Als Überblick über den Kontext des Folgenden ist immer noch hilfreich Roscher, Wilhelm: Die Hebdomadenlehren der griechischen Philosophen und Aerzte, Leipzig 1906; außerdem die o. Anm. 62 genannte Arbeit von Lagouanère 2014. Platon, Timaios 35b–c. Septàc ist volksetymologischer Anschluss an gr. septÏc »verehrt«, Verbaladjektiv zu sËbomai »verehren«; die bei den Pythagoräern weit verbreitete Etymologie wird von ihnen auf Pythagoras selbst zurückgeführt, vgl. Ps.Jamblich S. 57,15 de Falco/Klein. M. verwendet hier das Lambda-Diagramm (làbdwma, vgl. Abb. 1 im Anhang), im Gegensatz zu 1,6,2–3 und 2,2,14–19, wo er das auf Platons Timaios 35bc zurückgehende »lineare« Schema (1–2–3–4–9–8–27) verwendet, dessen Verwendung durch Porphyrios bei Proklos bezeugt ist (In Platonis Timaeum Bd. 2, S. 171 Diehl; ebd. S. 170, 26–31 aber auch das Lambda-Diagramm) und das er somit wohl in Porphyrios’ Timaios-Kommentar gefunden hat. Hier folgt er einer anderen Tradition, nämlich der, aus der er auch die übrige arithmologische Information im zweiten Teil von Kap. 6 schöpft (vgl. Anm. 49) und innerhalb derer das làbdwma u. a. bei Ps.-Jamblich nachweisbar ist, der sich seinerseits auf Nikomachos’ Einführung in die Arithmetik bezieht (S. 2,4–13 de Falco/Klein; tatsächliche Referenz ist jedoch Jamblichs Kommentar dazu 14,3 f.). Plutarch zufolge (De animae procreatione 1027D) ist das làbdwma eine Erfindung des ersten Timaioskommentators, Krantor (275 v. Chr.). Vgl. Flamant 1977, 324–329.

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90 Die septem fines ist die Serie der sieben Bestandteile (griech. moÿrai) aus den geraden und ungeraden Zahlen 1–2–3–4–9–8–27, aus denen der Demiurg in Platons Timaios 35bc die Weltseele verfertigt. 91 Die Sieben als bestimmendes Prinzip der Planeten ist ein obligatorisches Thema der Arithmologie (u. a. Ps.-Jamblich S. 54,11–56,7 de Falco/Klein; weiterer Stellennachweis bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 141), das schon in Varros Hebdomaden (s. Anm. 62) nachweisbar ist, vgl. Gellius 3,10,3: Is numerus, inquit (Varro) facit etiam stellas, quas alii erraticas, P. Nigidius errones appellat, »die Zahl sieben, sagt Varro, bringt auch die Gestirne hervor, welche von manchen erraticae, von Nigidius aber errones genannt werden«. 92 Zur Regulierung der Mondphasen durch die Sieben und zu den Namen der Phasen s. Ps.-Jamblich, Theologumena 59,18–60,6 de Falco/Klein. 93 M. bezieht sich hier auf den Unterschied zwischen dem sog. siderischen und dem synodischen Monat; ersterer wird durch die Zeit bestimmt, zu der der Mond wieder dieselbe Position bezogen auf einen Fixstern erreicht, letzterer durch die Zeit, zu der der Mond wieder dieselbe Position bezogen auf die Sonne einnimmt. Der siderische Monat hat 27 Tage, 7 Stunden und 43 Minuten, der synodische 29 Tage, 12 Stunden und 44 Minuten. Das war in der Antike bekannt; die Angabe bei Martianus Capella etwa für den synodischen Monat lautet 29 ½ Tage. Die Vereinfachung auf 28 Tage war aber populär, weil sie die in § 54 behandelte Unterteilung in 4 × 7 Tage erlaubte, vgl. Gellius 3,10,6 (Anm. 62). – Dass M. das Beispiel des Widders wählt, ist vermutlich dessen traditioneller Sonderrolle geschuldet, vgl. unten Anm. 253. 94 Diese scheinbare Verlangsamung beruht tatsächlich auf der ellipsenförmigen Umlaufbahn der Erde um die Sonne, auf der sie sich nach dem zweiten Keplerschen Gesetz bei größerer Entfernung von jener mit langsamerer Geschwindigkeit bewegt. 95 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 = 28; vgl. Anm. 61. 96 Vgl. Ps.-Jamblich S. 59,18–60,6 de Falco/Klein, dort auch zu den § 54 f. genannten Mondphasen. 97 Die Mondbahn ist gegen die Ekliptik, die Mittellinie des Zodiakus (s. 1,15,10) um 5 9 geneigt und schneidet sie daher zweimal an den sog. »Mondknoten«. 98 In dieser disparaten Zusammenstellung von drei kalendarischen Zyklen und deren durch die Qualitäten der vier Elemente bestimmten Unterteilung in vier Phasen macht sich exemplarisch die Künstlichkeit bemerkbar, mit der in diesem Abschnitt alles auf die Sieben als Grundprinzip getrimmt wird. Flamant 1977, 344 zufolge hätte § 59 besser in den Abschnitt 1,6,1–44 gepasst, der die Kombination aus drei und vier behandelt; für ihn ist das ein Indiz dafür, dass die beiden Teile von Kap. 6 unterschiedlichen Quellen folgen. 99 Dieser Paragraph ist eine freie Übersetzung von Ps.-Jamblich, Theologumena S. 60 de Falco/Klein. 100 In arithmologischen Traktaten ist es üblich, neben die astronomischen Ausführungen solche zur Rolle der Sieben im Leben und bei der Entwicklung des Menschen

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treten zu lassen. Flamant dokumentiert das in Annex 7 mit einer vergleichenden Übersicht zwischen M. und den lat. Autoren Gellius, Calcidius, Favonius Eulogius und Martianus Capella. Armisen-Marchetti weist Parallelen mit folgenden griechischen Autoren nach: Philo v. Alexandrien (ca. 15 v.–40 n. Chr.), De opificio mundi 103–105, 117–125; Theon v. Smyrna (Hiller 1878, S. 104); Clemens v. Alexandria (ca. 150–215), Stromateis 6,16,143 f. Dazu kommen als wichtigster Text Ps.-Jamblichs Theologumena, mit denen M. die engsten Übereinstimmungen aufweist; sie werden in den nachfolgenden Anmerkungen verzeichnet. Auch Marinos’ Proklos-Vita ist nach dem Heptadenprinzip gegliedert, vgl. Siorvanes 2014, 40 f. Der Vergleich des Embryos mit dem Ei bei Hippokrates, De natura pueri 13,3, das Experiment ebd. 1–2. Eine direkte Lektüre Hippokrates’ ist nicht anzunehmen, da die Episode auch bei Ps.-Jamblich, Theologumena S. 61,14–62,7 de Falco/Klein zitiert wird; M. hat lediglich die persönliche Erinnerungsperspektive des Hippokrates beseitigt. Straton v. Lampsakos war Schulhaupt des Lykeions 287–269, Diokles v. Karystos, Mediziner des 4. Jh. v. Chr., war Verfasser einer Synthese zwischen den hippokratischen Schriften und der Philosophie. Wie bei M. werden beide bei Ps.-Jamblich S. 62,8 f. de Falco/Klein in verkehrter chronologischer Reihenfolge genannt, was die Orientierung M.s an Ps.-Jamblich belegt (Armisen-Marchetti 2011, Anm. 159). Zu § 69–70 Anfang vgl. Ps.–Jamblich S. 65 de Falco/Klein; weitere Parallelen bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 162. M. geht es um die Parallelität zum Griechischen, das mit den Oppositionen »kurz + geschlossen : lang + offen« bei e : h und o : w ja sieben Vokalzeichen hat. M.s Verweis auf die Vokalquantitäten hat etwas Anachronistisches, denn zu seiner Zeit war der Quantitätenkollaps ja schon Realität, vgl. Augustin, De musica, 3,3,5: (ego tibi respondi) syllabarum longarum et brevium cognitionem me non habere, quae a grammaticis traditur, »ich habe dir schon gesagt, dass ich keine Kenntnis davon habe, welche Silben lang oder kurz sind, wie es von den Grammatikern gelehrt wird«. Vgl. Clackson, James/Horrocks, Geoffry: The Blackwell History of the Latin Language, Oxford 2007, 272–276. Vgl. Ps.-Jamblich S. 65,19–66,2 de Falco/Klein. Das gesetzliche Heiratsalter in der Kaiserzeit; in jüngerem Alter verheiratete Mädchen gelten rechtlich erst mit zwölf Jahren als uxores. Das tatsächliche durchschnittliche Heiratsalter liegt ausweislich des Befunds der Grabinschriften bei 30 Jahren für den Mann und 20 Jahren für die Frau, vgl. Treggiari, Susan: Art. »Ehe«, DNP 3 (1997), 896–899. Vgl. Ps.-Jamblich S. 66,10–13 de Falco/Klein. Vgl. Ps.-Jamblich S. 66,13–18 de Falco/Klein, wo unter allen Paralleltexten allein sich das Athleten-Beispiel findet (vgl. Mras 1933, 249). Auch dieses Bsp. findet sich alleine bei Ps.-Jamblich S. 66,18–21 de Falco/Klein, allerdings bezogen auf die fünfte und sechste Hebdomade. Vgl. Ps.-Jamblich S. 66,22–68,2 de Falco/Klein und Proklos, In Parmenidem 683, 18– 27 (hierzu vgl. Siorvanes 2014, 41).

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111 Die Ratgeberrolle nach dem Schwund der physischen Kräfte ist kanonische Altersaufgabe seit dem homerischen Nestor; so ist sie bei Cicero Teil der Selbstcharakterisierung des alten Cato: Cato maior 32: sed tamen [. . . ] non plane me enervavit [. . . ] senectus, non curia vires meas desiderat, non rostra, non amici, non clientes, non hospites, »dennoch hat mich das Alter nicht völlig erschöpft: die Kurie muss meine Tatkraft nicht entbehren, nicht die Rednerbühne, nicht die Freunde, Klienten und Gastfreunde«. 112 Auch zu den Ausführungen zur Anatomie in § 77–81 finden sich die engsten Parallelen in Ps.-Jamblichs Theologumena: sieben innere Organe: S. 67,17–68,6 de Falco/ Klein, gastroenterologisches System: S. 68,4–6, äußere Körperteile: S. 68,1 f., Öffnungen des Kopfes: S. 68,2 f., der siebte Tag der kritische bei Krankheiten: S. 68,12– 15, sieben Bewegungsrichtungen des Körpers: S. 55,10 f. Weitere Parallelen in der arithmologischen Literatur bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 172–179. 113 Dissiptum (dissaeptum) für das Duodenum ist anscheinend ein Irrtum M.s, denn damit ist sonst das Zwerchfell gemeint, vgl. Isidor, Etymologiae 11,1,130 dissaeptum intestinum, quod discernit ventrem et cetera intestina a pulmonibus et corde, »dissaeptum ist die Scheidewand, die den Bauch und die übrigen inneren Organe von Lunge und Herz trennt«. Bei Ps.-Jamblich S. 68,5 steht in der entsprechenden Passage Ínteron »Darm«, gefolgt von mesentËrion, eigentlich das Aufhängeband des Ileum, oben mit »Dünndarm« übersetzt, k‘stic »Blase« und ÇrqÏc »Rektum«. 114 Wie bei Ps.-Jamblich 68,6 f. de Falco/Klein folgt letztere Behauptung unmittelbar auf die Aufzählung der Gedärme. Sie findet sich schon bei Varro, vgl. Gellius, Noctes Atticae 3,10,15; Widerspruch bei Plinius, Naturgeschichte 11,283,6: homini non utique septimo letalis inedia; durasse et ultra undecimum plerosque certum est, »Nahrungsentzug führt beim Menschen nicht unbedingt am siebten Tag zum Tod, vielmehr ist gesichert, dass die meisten den elften Tag überleben«. Die erstere Aussage »n’a pas d’équivalent ailleurs, heureusement« (Armisen-Marchetti 2011, Anm. 175) und scheint aus arithmologischem Zwang geboren zu sein. 115 Vgl. Ps-Jamblich S. 68,1 f. de Falco/Klein. 116 Vgl. Ps.-Jamblich S. 68,2–4 de Falco/Klein. Der Topos vom Kopf als Akropolis des Körpers findet sich von Platon (Timaios 70a) über Cicero (De natura deorum 2,140 und Tusculanae disputationes 1,20) bis Martianus Capella (7,739). Zum weiteren philosophie- und kulturgeschichtlichen Horizont der Körpermetaphorik vgl. Rainer Guldin, Körpermetaphern, Würzburg 2000. 117 Vgl. Ps.-Jamblich S. 68,11–15 de Falco/Klein. Zu den kritischen Tagen in den Hippokratischen Schriften vgl. Roscher (s. Anm. 87) 67–85. 118 Vgl. Ps.-Jamblich S. 55,10 de Falco/Klein. Diese simple Aufzählung unterschlägt die platonische Unterscheidung (Platon, Timaios 34a) zwischen den sechs vertikalen bzw. horizontalen Bewegungen, die vergängliche Körper auszeichnen, und der Kreisbewegung, welche nur der unvergänglichen Welt eignet. 119 Vergil, Aeneis 3,379. – Stahl, Regali und Armisen-Marchetti verstehen in suo quoque opere artificis als »im Werk des Demiurgen«, was mit dem distributiven quoque kaum vereinbar ist (Hinweis von Chr. Tornau).

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120 Homer, Ilias 2,8–23. 121 Die Zweideutigkeit resultiert aus dem griechischen Wort pansud–˘ (Ilias 2,12), das sich interpretieren lässt als (1) »mit aller Macht« (zu se‘omai »sich schnell bewegen, stürmen«), so bei Homer (vgl. Latacz, Joachim [u. a.] (Hgg.): Homers Ilias: Gesamtkommentar Bd. 2, Leipzig 2003, z. St.), und (2) »mit der ganzen Macht« (dem ganzen Heer), so bei Xenophon, Historia Graeca 4,4,9. M.s Erklärung geht auf den alexandrinischen Grammatiker und Lexikographen Apion (2. Hälfte 1. Jh. v. bis 1. Hälfte 1. Jh. n. Chr.), Verfasser der fragmentarisch erhaltenen gl¿ssai Âmhrika–, »Homerische Wörter«, zurück; sie fand sich in Porphyrios’ Kommentar zu Platons Staat, wo M. sie vermutlich gefunden hat (so Courcelle, Pierre: Les Lettres grecques en occidente de Macrobe à Cassiodore, Paris 1943, 23; weitere Diskussion bei Regali 1983, z. St.). 122 Vergil, Aeneis 3,84–191; Dardani duri, »rohe Dardaner« V. 94. Teuker, aus Kreta eingewandert, ist der älteste mythische König Troias; er gibt seine Tochter Bateia dem Zeussohn Dardanos zur Frau, der so zum Stammvater der Dardaner und des trojanischen Königsgeschlechts wird. Die italische Abstammung des Dardanus statt der griechischen ist wohl Erfindung Vergils (Aeneis 3,156–168; M.s hinc Dardanus zitiert v. 167), vgl. Jahn, Stefanie: Der Troia-Mythos, Köln 2007, 172. 123 In Kap. 8,1–14,20 wird das zentrale Thema des »Kommentars« behandelt: die Lehre von der Seele, ihrer himmlischen Herkunft, ihrer Reise durch den Kosmos zum zeitweiligen Aufenthalt im menschlichen Körper und ihrer schließlichen Rückkehr zu ihrem Ausgangspunkt, ermöglicht durch Selbsterkenntnis und Tugenden; die Unsterblichkeit der Seele wird in 2,13–16 behandelt. Der lange Abschnitt zur Astronomie ab 1,14,21 bietet subsidiär die Topographie der Seelenreise (Flamant 1977, 651 f.). M. bewegt sich hier im Rahmen einer in der Spätantike aufblühenden Gattung von Traktaten »Über die Seele« (De anima), deren vier Standardthemen auch M. behandelt, wenn auch wegen des Kommentarcharakters seiner Schrift nicht in vollständig kohärenter Form, nämlich (1) Natur der Seele, (2) Ursprung und Inkarnation, (3) Schicksal der inkarnierten Seele, (4) Eschatologie (Flamant 1977, 490). – Gliederung: 1,8: die Tugenden, 1,9: der himmlische Ursprung der Seele, 1,10–1,12: Der Abstieg der Seele durch den Kosmos und der Begriff der Unterwelt, 1,13: Verbot des Selbstmords, 1,14,1–20: die Natur der Seele (Terminologie, Weltseele und Hypostasenlehre, Entstehung der Menschenseelen, Doxographie). 124 M. nennt hier keine Namen, tatsächlich können mit den »wer« (qui) nur seine neuplatonischen Autoritäten Plotin und Porphyrios gemeint sein, die den politischen Tugenden gegenüber den philosophischen nur eine Art propädeutischer Rolle zubilligen (Plotin Enneade 1,2,1, vgl. Schedler 1916, 88 f.). Nach Zintzen, Clemens: Römisches und Neuplatonisches bei Macrobius, in: Steinmetz, Peter (Hg.): Politeia und Res Publica, Wiesbaden 1969, 367, unterdrückt M. die Namen, um unten in § 5 Plotin als Autorität für die wichtige Rolle der politischen Tugenden anführen und so den Konflikt bereinigen zu können zwischen der neuplatonischen Position und der römischen Ciceros, die (wie M. schon bei der Feststellung des Skopos in 1,4,1 konstatiert) den politischen Tugenden vollumfänglich beatifizierende

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Anhang Funktion zuweist; vgl. Anm. 128. Der Gedankengang ist folgender (vgl. ArmisenMarchetti 2011, Anm. 189): Cicero sagt, dass die politischen Tugenden die Glückseligkeit gewährleisten (§ 1–2), was im Widerspruch zu gewissen philosophischen Auffassungen steht (§ 3–4). Allerdings hat Plotin im Rahmen seiner Klassifikation der Tugenden den politischen einen Platz eingeräumt (§ 8–12), folglich stimmt er mit Cicero überein. – Die Übersetzung von vivendi perspicuitate folgt der Interpretation des ThLL (10.1, 1746, 18): quantum in vita acumine fieri potest. Das ist die purgatorische Klasse der Tugenden aus Plotins in § 5 referierter Systematik, die M. hier voranstellt, um eine Grundlage für die »Widerlegung« der ungenannten Philosophen aus § 3 mit Hilfe Plotins zu schaffen; in der eigentlichen Systematik in § 8 werden sie nur durch Querverweis auf die vorliegende Stelle aufgenommen. Hierzu ist nicht nur der Text Plotins, Enneade 1,2 (vgl. Anm. 124) erhalten, sondern auch dessen Zusammenfassung in Porphyrios’ Sententiae ad intellegibilia ducentes 32 (Kommentar in Sodano, Angelo R. (Hg.): Porfirio, Introduzione Agli Intelligibili, Neapel 1979, 36–42, sowie in Brisson, Luc (Hg.): Porphyre, Sentences, Paris 2005, Bd. 2, 628–642), und M. folgt unmittelbar Porphyrios – ein Beispiel für sein in Anm. 1 angesprochenes Verfahren, nicht Quellen, sondern Autoritäten zu zitieren. Die Grundidee Plotins, dass die Seele vor dem Bösen, d. h. aus der Welt fliehen müsse, um zur Vereinigung mit Gott zurückzukehren, und dass diese Flucht durch Purifizierung mittels der Tugenden zu bewerkstelligen sei, ist bei Porphyrios zu der vierstufigen Hierarchie der Tugenden ausgebaut, die M. im Folgenden verwendet. Auf der untersten Stufe stehen die »praktischen« politischen Tugenden, die der Mäßigung der Affekte (Metriopathie) dienen (Sent. 32,6–14), darüber die »theoretischen« bzw. »kathartischen«, die die Seele zur Betrachtung der intellegiblen Welt führen (32,15–32); die beiden obersten Ränge werden eingenommen von den Tugenden der bereits geläuterten und zur reinen Tätigkeit des Geistes sich hinwendenden Seele (32,33–62) und schließlich von den paradigmatischen, die nicht mehr Tugenden der Seele, sondern solche des no‹c und Vorbilder (parade–gmata) jener sind (32,63–70). Für jede dieser Tugendstufen wird eine passende Variante der platonischen Kardinaltugenden (Staat 6, 426–435) definiert. Die einzelnen Stufen unterscheiden sich v. a. in ihrer Wirkung auf die Affekte (Metriopathie < Apathie < Vergessen < Nichtexistenz, bei M. molliunt – auferunt – obliviscuntur – nefas est nominari) und im Grad der Hinwendung zum Intellekt (vgl. Schedler 1916, 86– 98, Flamant 1977, 597–614, Brisson a. O. 628–642). Vergil, Aeneis 6,664. Wie Anm. 124 gesagt, wertet M. in § 6–8 im Gegensatz zu seinen griechischen Quellen die politischen Tugenden auf. Trotz scheinbarer Reminiszenzen an klassische Texte (sociale animal in § 6 klingt natürlich nach Aristoteles [Politica 1253a] und Cicero [De re publica 1,39 [. . . ] populus [. . . ] naturalis quaedam hominum congregatio]) liegt keine direkte Benutzung Ciceros oder gar Aristoteles’ vor, sondern M. folgt auch hier Porphyrios, wie die enge Anlehnung an dessen Definition der Weisheit und Gerechtigkeit zeigt. Dennoch sind die Ausführungen römisch über-

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formt mit der Behauptung, dass auch nicht-philosophische Naturelle, die nur der Vita activa frönen, die Glückseligkeit erlangen können (1,8,13), vgl. das Bsp. des Romulus in 2,17,9; hier scheint offenbar der Standpunkt des Senators und Staatsmannes durch. Aus diesem Grund ist auch Porphyrios’ Aussage, dass der Besitz der höheren Tugenden den der niederrangigen inkludiere, aber nicht umgekehrt, von M. weggelassen, weil sie die Bedeutung der politischen Tugenden herabsetzen und damit die Harmonisierung von Plotin und Cicero unterminieren könnte. Die Emphase der Schluss-Sentenz in § 6 unterstreicht diese ideologische Überformung (anders Flamant 1977, 611 f., der gegen Zintzen [vgl. Anm. 124] die Aufwertung der politischen Tugenden in erster Linie als eine rhetorische, durch die Verfügbarkeit einer reichen literarischen Tradition bedingte, sieht). Zur – in der älteren Forschung oft unterschätzten – Rolle der politischen Tugenden im Neuplatonismus vgl. O’Meara, Dominic: Platonopolis. Platonic Political Philosophy in Late Antiquity, Oxford 2003 (S. 81–83 zu M.s »somewhat facile« Argumentation), sowie Schramm, Michael: Freundschaft im Neuplatonismus: Politisches Denken und Sozialphilosophie von Plotin bis Justinian, Berlin 2014, 1–15. In § 4. Juvenal 10,360; er wird auch noch in 1,9,2 und in Saturnalien 3,10,2 zitiert. Zum im 4. Jahrhundert wiederauflebenden Interesse an ihm vgl. Regali z. St. S. 1,2,4. Vergil, Aeneis 6,733; die bei Servius z. St. genannten vier Affekte (quattuor passiones), sc. der Stoiker, vgl. Cicero, De finibus 3,35 (perturbationes) sunt genere quattuor, [. . . ] aegritudo, formido, libido, quamque Stoici ôdonòn appellant, »es gibt vier Arten von Affekten, Schmerz, Furcht, Begierde und den von den Stoikern Vergnügen genannten«; vgl. Tusculanae disputationes 3,24 f., 4,15. Bekannter ist seine Definition in De re publica 1,39: populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus, »ein Volk aber ist nicht jedwede irgendwie zustandegekommene Menschenansammlung, sondern der Zusammenschluss einer Menschenmenge auf der Basis gemeinsamer Rechtsauffassung und gemeinsamen Nutzens«. Vgl. auch u. 1,21,34; in der Doxographie 1,14,19 führt M. Heraklit als frühes Beispiel für den Glauben an die himmlische Abkunft der Seele (»ein Funken von der Substanz der Sterne«) an. Letztlicher Referenztext ist aber Platons Timaios 90a– d. Allerdings war zu M.s Zeit der Glaube an den himmlischen Ursprung der Seele Allgemeingut, und der Ausdruck recte philosophantes schließt lediglich die bereits erloschene Schule der Epikureer aus, vgl. Flamant 1977, 530–540. Juvenal 11,27. Der Fragesteller war lt. Xenophons Kyrupädie (7,2,20) Kroisos; der Spruch war am Giebel des Apollontempels angebracht (Xenophon, Memorabilia 4,2,24); eine zweite Erwähnung bei M. in Saturnalien 1,6,6. Nach Persius 1,7: nec te quaesiveris extra.

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138 Zu fonte statt fomite vgl. Flamant 1977, 650 Anm. 20 (anscheinend ohne Kenntnis des in der Ed. von Willis nicht belegten Faktums, dass fomite in zwei Handschriften zu fonte korrigiert ist): »fomite doit peut-être se corriger en fonte, sens quoi l’image est incohérente.« Möglicherweise ist fonte inspiriert durch das bekannte Bild des Abwaschens der Seele bei Vergil, Aeneis 6,741 f. (aus dessen unmittelbarem Kontext auch das Zitat in 9,5 stammt): aliis sub gurgite vasto infectum eluitur scelus, »anderen wird im Strudel des Wassers der Schandfleck abgewaschen«; zu levis von der Reinheit des Wassers vgl. Vitruv 8,2,1. 139 Vergil, Aeneis 12,952. 140 Vergil, Aeneis 6,736 f. 141 Das ist die Lehre von der Seelenwanderung oder Metempsychose (vgl. Flamant 1977, 615–628, Setaioli 1995, 123–143, 207–228, Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 344–387); letztendliche Referenztexte der vorliegenden Stelle sind Platon, Phaidon 80c–81a und Platon, Timaios 41d–42e; Platon schöpfte seinerseits aus pythagoräischer und orphischer Tradition (vgl. Xenokrates, VS 21 B 7, Jamblich, De vita Pythagorica). Schon dort wird die Seelenwanderung ethisch, als Sühne für Schuld ausgedeutet (Empedokles, VS 31 B 115) und daraus das Postulat sittlicher Lebensführung abgeleitet. Das inkludiert den Vegetarismus, da eine depravierte menschliche Seele auch in Tiere eingehen kann, Fleischgenuss also Mord gleichkommt (Empedokles, VS 31 B 136–139). Ein bekannter Reflex der Seelenwanderungslehre in der römischen Literatur ist das sechste Buch der Aeneis, aus dem M. in diesem Kapitel dreimal zitiert. M. folgt Platon und Plotin (Enneade 3,4) in der Vorstellung, dass Inkarnation der Seele auch in einen Tierkörper möglich ist; die Haltung seiner üblichen Autorität Porphyrios ist uneinheitlich: im Kommentar zum Kirke-Mythos (zitiert bei Stobaios, 1,49,60) ist sie unter Berufung auf Platon und Pythagoras zustimmend, in De regressu animae lt. Augustin, De civitate Dei 10,30 und später Aineias v. Gaza, Theophrastos S. 11,19 (Texte 180 bzw. 179,3 bei Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 102–113) dagegen ablehnend (iam [. . . ] diximus [. . . ] Porphyrium [. . . ] non solum ab animis humanis removisse corpora bestiarum, verum etiam sapientium animas ita voluisse de corporis nexibus liberari, ut [. . . ] beatae apud patrem sine fine teneantur, »Wir haben schon gesagt, dass P. nicht nur die Tierleiber von den menschlichen Seelen weit geschieden, sondern auch gelehrt hat, dass die Seelen der Weisen vollständig von den körperlichen Fesseln befreit werden, sodass sie glückselig ohne Ende in der Gemeinschaft mit dem Vater bewahrt werden«); Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 376 f. interpretieren das im Sinne einer späteren Emanzipation von Plotin. Wichtig für M. ist, dass Porphyrios als erster die bis dahin für den Platonismus ungewöhnliche Auffassung einer dauernden Befreiung der guten Seelen aus dem Kreislauf der Metempsychose vertreten hat (vgl. Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 384–387), sodass sich eine erwünschte Übereinstimmung zwischen Porphyrios und Cicero ergibt. – Zur Seelenwanderung im Platonismus s. Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 82–113 (Texte); 344–387 (Kommentar); der weitere geistesgeschichtliche Horizont ist dargestellt bei Zander, Helmut: Geschichte der Seelenwanderung in Europa, Darmstadt 1999.

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142 Hesiod, Werke und Tage 122 f. und 126. Diese im Platonismus häufig zitierten Verse (Nachweis bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 213) hat M., vermutlich mangels Kenntnis des Kontextes, missverstanden. Bei Hesiod kommt dieses Amt nicht den Königen, sondern den Heroengöttern des Goldenen Zeitalters zu. M.s Interpretation ist nach einer Vermutung von A. Setaioli (bei Regali z. St.) möglicherweise aus der Formulierung gËrac basil†ion »königliche Ehre« herausgesponnen. 143 Vergil, Aeneis, 6,640 f., in der Beschreibung der elysischen Felder: largior hic campos aether et lumine uestit / purpureo, solemque suum, sua sidera norunt, »ein weiterer Äther kleidet die Gefilde hier in purpurnes Licht, und sie kennen ihre eigene Sonne und ihre eigenen Sterne«. 144 Vergil, Aeneis 6,653–655. 145 Der Abstieg der Seelen ist Thema der Kapitel 12 und 13. Die Rückkehr steht im Gegensatz zu 1,8,12, wo sie im Anschluss an Cicero auf die verdienten Staatsmänner und die Philosophen beschränkt ist, allen Seelen offen, die der Erlösung würdig sind, d. h. die im Sinne der Tugendlehre von Kap. 8 purifiziert sind (Armisen-Marchetti 2011, Anm. 215). 146 Semina virtutum ist eine Reminiszenz an die spermatiko» lÏgoi der Stoiker, die Keime der seelischen Entwicklung, die als Partikel des kosmischen Feuers (pne‹ma) gedacht sind (Armisen-Marchetti 2011, Anm. 219); vgl. Cicero, De finibus 5,43,5: nam cum ita nati [. . . ] simus, ut [. . . ] ad scientiam, prudentiam, fortitudinem aptos animos haberemus [. . . ] in pueris virtutum quasi scintillas videmus, »denn da wir so geboren sind, dass unser Geist für Weisheit, Klugheit und Tapferkeit formbar ist, sehen wir schon in den Kindern gleichsam die Funken der Tugenden«. Im Folgenden wird Scipio als ein Anwendungsfall der in 1,8,6–8 beschriebenen politischen Tugenden dargestellt. 147 Cicero gibt hier die allgemeine Auffassung seiner Zeit wieder, der er die platonische entgegenstellt; repräsentativ für jene sind die Worte Caesars bei Sallust, Catilina 51,20: (mortem) cuncta mortalium mala dissolvere; ultra neque curae neque gaudio locum esse, »der Tod beendet alles menschliche Leid, und jenseits von ihm gibt es weder Platz für Sorgen noch Freude«. 148 Die beim Tod »entfliegende« (evolaverunt) Seele und der Körper als Gefängnis der Seele sind zwei weit verbreitete Bilder. Ersteres geht bis auf Homer zurück (Ilias 22,362 »Hektors Seele entflog den Gliedern und ging in den Hades«); für beide zusammen bei Cicero vgl. Laelius 14: Id si ita est, ut optumi cuiusque animus in morte facillime evolet tamquam e custodia vinclisque corporis, »wenn es zutrifft, dass die Seelen aller guten Männer im Tod mit Leichtigkeit gleichsam aus dem Kerker und den Fesseln des Körpers entfliehen«. Auch die Vorstellung vom irdischen Leben als Tod ist alt, da sie bei Aristophanes, Frösche 1477 schon als euripideische, also sophistische Phrase verspottet wird (»wer weiß, ob das Leben nicht Sterben ist«, vgl. Görgemanns, Herwig: Philologos Kosmos, Kleine Schriften, Tübingen 2013, 277). Für Cicero vgl. neben De re publica 6,15 = u. 1,13,3 noch (unter Bezug auf Platons Phaidon und in Kombination mit den obigen Bildern) Pro Scauro 4: Socrates [. . . ] disputat hanc esse mortem quam nos vitam putaremus, cum corpore animus tam-

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Anhang quam carcere saeptus teneretur, vitam autem esse eam cum idem animus vinclis corporis liberatus in eum se locum unde esset ortus rettulisset, »Sokrates legt dar, dass unser vermeintliches Leben tatsächlich der Tod sei, da die Seele im Körper gleichsam im Kerker gehalten werde; das Leben beginne aber, wenn die Seele, aus den Fesseln des Körpers befreit, zum Ort ihres Ursprungs zurückgekehrt sei« (Stellenverzeichnisse bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 221–223). Der Begriff der Unterwelt wird nun in 1,10,9–1,12 geklärt durch das Referat zunächst der vorphilosophischen Thesen (1,10,9–17), dann dreier philosophischer, bei denen die Frage des Abstiegs der Seelen ins Zentrum rückt und deren dritter M. folgt. – Zum Brevitas-Topos vgl. 2,12,7 mit Anm. 121. Nämlich die in § 16 f. genannten theologi. Vgl. die berühmte Paronymie Platons Gorgias 493a 2 s¿ma ômÿn s®ma, »der Körper ist uns Grab«, auf die 11,3 angespielt wird. Die Beschreibung der mythischen Unterwelt in § 10–15 ist motivisch dem sechsten Buch der Aeneis Vergils verpflichtet, steht aber hermeneutisch in der Tradition der moralischen Mythen-Allegorese, deren bekanntestes lateinisches Beispiel die Allegorese der Unterweltsstrafen bei Lukrez, 3,978–1023 ist. Sie wird auch im Neuplatonismus gepflegt, so in Porphyrios’ Allegorese von Homer, Odyssee 13,102–112 in De antro nympharum, die M. in 1,12,3 verwendet (vgl. Anm. 172). M.s Allegorese erstreckt sich auf die Unterweltsflüsse Lethe, Phlegeton, Acheron, Kokytos und Styx, von denen jeder ein kognitives (Lethe) oder ethisches (die übrigen) Defizit symbolisiert (§ 10–11); letzteres tun auch die prominenten Büßer der Unterwelt Tityos (§ 12), Tantalos (§ 13), Ixion (§ 14) und Sisyphos (§ 15), die namentlich nicht genannt werden, aber an ihren Strafen kenntlich sind. Die Reihe endet mit dem historischen Beispiel des Tyrannen Dionysios v. Syrakus (§ 16); die aus Cicero Tusculanae disputationes 5,61 f. bekannte Geschichte von dem über einem Gast an der Decke schwebenden Schwert, das die Bedrohung des Tyrannen symbolisiert, ist offenbar in assoziativer Anknüpfung an die in § 15 nach Vergil, Aeneis 6,602 erwähnte Bedrohung der Unterweltsbüßer durch den über ihnen schwebenden Stein angefügt (mit mechanischer Übernahme aus M.s unidentifizierbarer allegorisierender Quelle rechnet Flamant 1977, 575–581, weil die Geschichte keinen Beitrag zum Thema Lokalisierung der Unterwelt leiste; aber die ist ab § 12 ja nicht mehr Thema, sondern es sind die Unterweltsstrafen). Im Mythos ist Lethe der Fluss, aus dem die Seelen trinken, um ihre irdische Existenz zu vergessen; bei Platon (Staat 10, 621a) und im Anschluss an diesen bei Vergil (Aeneis, 6,748–751) ist der Mythos derart verändert, dass die Seelen vor ihrer Inkarnation aus der Lethe trinken, um ihre Existenz im Jenseits zu vergessen, vgl. Servius, In Vergilii Aeneidos Libros, 6,714 (anima) obliviscitur autem secundum poetas praeteritorum, secundum philosophos futuri, »bei den Dichtern weiß die Seele nichts mehr von ihrer Vergangenheit, bei den Philosophen nichts von ihrer Zukunft«. Vergil, Aeneis 6,598. Juvenal, 13,2 f.

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156 Vgl. Ciceros Accius-Zitat De officiis 1,97: si Aeacus [. . . ] diceret ›oderint dum metuant‹ [. . . ] indecorum videretur [. . . ] at Atreo dicente plausus excitantur, »wenn Aiakos sagte ›sollen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten‹, schiene das unangemessen, kommt es aber aus Atreus’ Mund, ruft es Beifall hervor«. 157 Das sind die 1,10,9 genannten »Organisatoren der Kulte« wie Homer, Hesiod, Orpheus, vgl. auch 1,2,9 und Cicero, De natura deorum 3,53. 158 Vergil, Aeneis 6,743; während die Stelle selbst interpretatorisch umstritten ist, ist ihre Interpretation durch M. klar – er verwendet sie als Beleg für die 10,6 referierte Auffassung »Leben ist Tod«. 159 Dis = di(ve)s ist nach Walde-Hofmann s. v. Übersetzung von gr. Plo‘twn, dessen Kult 249 v. Chr. von Tarent übernommen wurde. Die Assoziation mit plo‹toc »Reichtum« findet sich schon in Platons Kratylos 403a, in der röm. Literatur bei Cicero, De natura deorum 2,66. Der Unterweltsgott als immitis tyrannus bei Vergil, Georgica 4,492; diese Etymologie des Typs a contrariis (Musterbeispiel: lucus a non lucendo) wird bei Quintilian, Institutio oratoria 1,6,32–34 unter die foedissima ludibria gerechnet. 160 Volksetymologischer Anschluss an dËma »Band«. 161 Vgl. o. Anm. 148 und 151. 162 Aus Flamant und Regali ergibt sich folgendes Bild: Die Identifikation der drei Gruppen wird hauptsächlich durch drei Passagen in Proklos’ Timaios-Kommentar ermöglicht. Die erste Gruppe (§ 5–7) charakterisiert den Mittelplatonismus, vertreten durch Albinos (Mitte 2. Jh.); sie ist gekennzeichnet durch die Rezeption der peripatetischen Teilung der Welt in einen aktiven unveränderlichen und einen passiven veränderlichen Teil mit der Grenze zwischen beiden beim Mond (§ 5, vgl. Aristoteles, De caelo 1,3 270a–b, unter Aufgreifen einer pythagoräischen Tradition, nachweisbar bei Philolaos, VS 44 B 21). Das Schichtenmodell der zweiten Gruppe (§ 8–9) wird von Proklos den Pythagoräern zugeschrieben (In Platonis Timaeum Bd. 2, S. 48,15–32 Diehl; vgl. auch u. 1,12,3 Pythagoras putat a lacteo circulo deorsum incipere Ditis imperium); es muss neupythagoräisch sein, da es die chaldäische Planetenfolge verwendet (vgl. Anm. 261), die erst seit dem 2. Jh. nachweisbar ist. Die dritte Gruppe (§ 10–12) wird durch Numenios (vgl. Köckert, Charlotte: Christliche Kosmologie und kaiserzeitliche Philosophie, Tübingen 2009, 117–123) und Porphyrios repräsentiert, dem von Proklos (In Platonis Timaeum Bd. 3, S. 234,9 f. Diehl) die in 1,11,12 dargelegten Vorstellungen vom Abstieg der Seele zugeschrieben werden. Charakteristisch ist hier der Gegensatz zum Aristotelismus mit der Grenzziehung zwischen göttlicher und vergänglicher Sphäre bereits unterhalb des Himmels unter Ausschluß der Planeten (als unplatonisch kritisiert von Proklos, In Platonis rem publicam Bd. 2, 130,15–131,8 Kroll, vgl. Köckert a. O. 120 f.). Zugrunde liegen metaphysisch-ethische, nicht aber physikalische Erwägungen: da der Himmel die Grenze zwischen intellegibler und sensibler Welt ist, muss er auch die zwischen Gut und Böse sein. Das hat zwei Folgen: (1) die Seele erfährt bereits beim Abstieg durch die Planetensphären eine progressive Inkorporation, und (2) der Abstieg ist prinzipiell ein Übel (§ 12). Diese eher pessimistische Auffassung eines

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Anhang »Sündenfalls« der Seele, die M. hier übernimmt (§ 11: »der sich die Vernunft eher zuneigt«), geht wohl ebenso auf Numenios zurück wie die Theorie der sukzessiven »Einkleidung« der Seele mit den für das irdische Leben notwendigen Qualitäten in 1,12,14 f. Flamant 1977, 562 f. weist auf den auffälligen Kontrast zum Optimismus der Emanationslehre in 1,14,5 (vgl. Anm. 198) hin, der die für Plotin charakteristische Vorstellung widerspiegelt, der Abstieg der Seele sei notwendig, um die Natur in ihrer Gesamtheit zu vollenden (Enneade 4,3,5: prinzipielle Einheit von Welt- und Individualseele, 4,3,9: Existenz des Körpers als Voraussetzung für die Emanation der Seele). Daher seien zwei unterschiedliche Schriften des Porphyrios als Quellen für Kap. 11/12 und 14 anzunehmen (562), nämlich einerseits der Politeia-Kommentar, in dem er Numenios verwende, und andererseits ein verlorener Kommentar zu Plotin, Enneade 5,2. M. sei sich des Gegensatzes nicht bewusst geworden, da er sie in unterschiedlichen Kontexten verwende, nämlich dem der Individualseele in 1,12, der Weltseele in 1,14,5. Regali hebt demgegenüber hervor, dass die »plotinische« Perspektive die der neuplatonischen Koine sei (343). Der Gegensatz könnte also eher einer zwischen dieser und der pessimistischen Sicht des Numenios auf die Individualseele sein. Letztlich verantwortlich für den Gegensatz ist aber, wie Flamant an anderer Stelle (564) sagt, ein vom Mittelplatonismus mit der scharfen Grenzziehung zwischen intellegibler und sensibler Welt geschaffener »Systemzwang«, der die Einheit der – in beiden Welten beheimateten – Seele unterminierte. Diese Grenzziehung verwendet M. selbst in 1,21,33. Zum Mond als »Erde des Äthers« vgl. 1,9,10 und § 8; von Proklos, In Platonis Timaeum Bd. 2, S. 48,18 Diehl wird diese Bezeichnung Orpheus zugeschrieben, von Porphyrios lt. Proklos, In Platonis Timaeum Bd. 1, S. 147,8 f. Diehl den Ägyptern. – Die Vorstellung, dass der Mond bewohnt sei, ist möglicherweise pythagoräischen Ursprungs, vgl. Philolaos, VS 44 A 20: Erdähnlichkeit des Monds mit Vegetation und Population; bei den sog. Akusmatikern gelten Mond und Sonne als die Inseln der Seligen (VS 58 C 4,6, aus Jamblichs Pythagoras-Vita). Anspielung auf diese Vorstellung in Platons Symposion 190b, der die androgynen »Kugelmenschen« vom Mond stammen lässt. Plutarch, De facie in orbe lunae 937D erwägt die Existenz von Mondbewohnern. – Der Einfluss des Monds auf Gezeiten und Schalentiere war wohlbekannt, vgl. z. B. Cicero, De divinatione 2,33: ostreisque et conchyliis omnibus contingere, ut cum luna pariter crescant pariterque decrescant, »alle Muscheln und Schalentiere wachsen mit dem Mond und nehmen mit ihm ab«. Die Anordnung der Elementreihen von unten nach oben ist also: Erde: terra – aqua – aer – ignis. Erste Planetengruppe: terra = Luna, aqua = Mercurius, aer = Venus, ignis = Sol. Zweite Plantengruppe und Fixsternhimmel: ignis = Mars, aer = Jupiter, aqua = Saturn, terra = Fixsternsphäre. Warum sollte eine Seele überhaupt zur Inkarnation auf die Erde hinabsteigen? Die unterschiedlichen Antworten Platons sind bei Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 163 f. zusammengestellt; die Inkarnation ist demnach notwendig, (1) wenn die Seelen in der Schau der Ideen nachlassen und als Folge davon beschwert zur Erde hinabsinken

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(Phaidros 48c); (2) um die Vollkommenheit der Welt zu gewährleisten (Timaios 41b); (3) um Leben aus dem Tod entstehen zu lassen (Phaidon 70c); (4) um die Seelen Sünden aus ihrem Vorleben büßen zu lassen. Ein Referat der darauf fußenden antiken Diskussion bietet Jamblich (Text 172.1 bei Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 16– 20); das von M. genannte Motiv hat seine nächste Parallele in der von Porphyrios, frg. 271 (= Dörrie/Baltes a. O. Text 174.2) genannten »Neigung« (˚op†) der Seele zu einer irdischen Lebensform. Voraussetzung dafür ist nach Halfwassen, Jens: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 147, dass die Seele ja nicht nur einen »Intellekt«, sondern auch einen »Willen« (bo‘lhsic) hat, der spontan und unableitbar ist und vermöge dessen sie sich vom Intellegiblen abwenden und in die Zeitlichkeit eintreten kann (weiteres im Essay von Chr. Tornau im Anhang zu dieser Übersetzung, Abschnitt »Seelensturz und Weltentstehung«). 167 Zu luteus »aus gröbster Materie bestehend« vgl. Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 176. 168 Die § 11 und 12 nehmen die in Kap. 12,13–17 explizierte neuplatonische Doktrin der Deszendenz mittels des Óqhma, der »Seelenstütze« oder des »Seelenwagens« voraus; direkte Abhängigkeit von Porphyrius (vgl. Sententiae 29) konstatiert L. Brisson in Ders. (Hg.) 2005, 593. Die ätherischen Hüllen, griech. ‚nd‘mata, sind Emanationen der verschiedenen Himmelssphären, und zwar der Luft, des Wassers und der Erde, die als Zwischenstufen zwischen der originalen immateriellen Reinheit und dem schweren irdischen Körper fungieren; vgl. Anm. 185. Der prinzipiell negative Beigeschmack des Vorgangs wird durch das Oxymoron per [. . . ] detrimenta [. . . ] in corporis incrementa turgescit hervorgehoben (Setaioli 1995, 97 f.). Zu konkurrierenden Termini und zur Geschichte des Konzepts s. Setaioli 1995, 89–121 und Bohle, Bettina: Proclus on the Pneumatic Ochema, in: Coughlin, Steven [u. a.] (Hgg.): Pneuma After Aristotle, Berlin i.E.; Texte und Kommentar bei Dörrie/ Baltes Bd. 6.1, 122–128 und 375–401 sowie Bd. 6.2, 20–54 und 163–218. – Die Deutung von testeus als »muschelschalenartig« bei Seng, Helmut: Seele und Kosmos bei Macrobius, in: Feichtinger, Barbara [u. a.] (Hgg.): Körper und Seele: Aspekte spätantiker Anthropologie, München 2006, 128 ist motiviert durch eine vermutete Beziehung zu Platon Phaidros 250c »wir tragen einen Körper mit uns herum, in dem wir wie eine Muschel gefesselt sind« (ÊstrËou trÏpon dedesmeumËnoi), aber Saturnalien 7,15,15 cui (= medicina) ratio est cum testeis terrenisque corporibus, »die Medizin hat zu tun mit den irdenen und erdhaften Körpern« spricht eher für die Bedeutung »irden, tönern« als expressive Variante von luteus. Zur Geschichte der Metapher vgl. Bouffartigue, Jean: Le corps d’argile, Revue des Sciences Religieuses 70 (1996), 220. 169 Zum Folgenden vgl. die detaillierte Besprechung bei Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 173–201. 170 Nämlich der heißen Zone, vgl. 2,7,17. 171 Zu M.s Darstellung der Himmelstore und des § 8 erwähnten »Becher des Bacchus« vor dem Hintergrund des Neuplatonismus vgl. Hübner, Wolfgang: Crater Liberi: Himmelspforten und Tierkreis, Sitzungsberichte der Bayer. Akademie, Phil.-hist. Klasse, Nr. 3, München 2006, 30–37.

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172 Die § 1–3 beziehen sich, wie die meisten Interpreten annehmen, auf die allegorische Deutung der homerischen Nymphengrotte (Homer, Odyssee 13,102–122) in Porphyrios’ De antro nympharum, der die beiden Tore der Grotte, das Tor der Menschen und das der Götter, als Symbole des Ab- bzw. Aufstiegs der Seelen im Krebs bzw. im Steinbock versteht, eine Deutung, die Porphyrios selbst dem Numenios (fr. 31 Des Places) und dessen Schüler Kronios zuschreibt (§ 21–23). M. kombiniert damit § 28 aus De antro, wo Porphyrios die »Tore der Sonne«, an denen vorbei in Homers Odyssee (24,12) die Seelen der toten Freier in den Hades ziehen, mit diesen beiden Sternbildern, den putativen tropikalen Sternzeichen für die Sonnenbahn, identifiziert (tatsächlich sind diese die Zwillinge und der Schütze). Kommentar zu den Porphyrios-Stellen bei Simonini 1986, 188–191 und 215–223. Neben der bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 260 genannten Literatur vgl. noch Alt, Karin: Homers Nymphengrotte in der Deutung des Porphyrios. Hermes 126 (1998), 466– 487; Köckert, Charlotte: Christliche Kosmologie und kaiserzeitliche Philosophie, Tübingen 2009, 117–121. 173 Cicero, De re publica 6,13. Die Milchstraße als Ausgangspunkt der Seelen wird von Porphyrios De antro nympharum 28 und Proklos, In Platonis rem publicam Bd. 2, S. 129,25–130,2 Kroll dem Pythagoras zugeschrieben (Gegensatz zur Tradition der Akusmatiker, vgl. Anm. 164). Zur Milchstraße in der Philosophie und zu den Unterschieden zwischen Porphyrios, Macrobius und Proklos vgl. Simonini 1986, 216–222. 174 Zur Übersetzung s. Hübner (Anm. 171) 32 f.: Entgegen der bei Armisen-Marchetti 2011 und Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 181 vorgetragenen Kritik, dass M. unsachgemäß eine Horizontal- statt einer Abwärtsbewegung beschreibt, bezeichnet labendo tatsächlich noch keinen Abstieg, sondern das Segment einer Kreisbewegung, und die Seelen sind noch nicht »im«, sondern »beim Löwen«. 175 Die Parentalia, eine antiquarische römische Zutat im vorliegenden Kontext, sind das Totengedenkfest vom 13.–21. Februar. Die »Feindseligkeit« des Wassermanns ergibt sich daher, dass er das »Nachthaus« des Saturn ist (vgl. Anm. 306), eines gemäß 1,19,20 vermeintlich »bösartigen« Planeten; vgl. Horaz, Satiren 1,1,36 contristat Aquarius annum, »der Wassermann verdüstert das Jahr«. 176 Die Assoziation des Kreises mit der Vollkommenheit ist charakteristisch für Platon (z. B. Timaios 33b), den Platonismus (z. B. Apuleius, De Platone et eius dogmate 1,8) und die Stoiker (z. B. Cicero, De natura deorum 2,47 f.). Zum Gestaltwandel vgl. Calcidius 38 (Waszink 1962, 88,7 f.) und Proklos, In Platonis rem publicam 2, S. 31,22– 30,9 Kroll; zum Übergang von der Monade in die Dyade vgl. 1,6,18, 1,6,35 und 2,2,5. Nach De Ley 1972, 27–50 geht diese Konzeption der Seele und damit der Rest von Kap. 12 ebenfalls auf Numenios zurück; vgl. auch Flamant 1977, 511–513. 177 Platon, Timaios 35a. 178 Vgl. Platon, Phaidon 79c. Die Bedeutung von ’lh »ungeformte Materie« auch § 11 und Saturnalien 1,22,3; die Lehnübersetzung silva in § 7, dazu oben silvestris tumultus, geht wahrscheinlich auf das Konto des Calcidius (Kap. 123, Waszink 1962, S. 167,6 chaos, quam Graeci ’lhn, nos silvam nominamus), vgl. van Winden, Jacob: Calcidius on Matter, Leiden 1965, 31 und de Paolis 1992, 240.

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179 Tatsächlich liegt dieses Sternbild zwischen Rabe und Hydra; es ist aber von M. auch nicht als Durchgangsstation der Seele gedacht, sondern nur als »Zeichen an ihrem Wege«, s. Hübner (Anm. 171) 40. 180 Lehnübertragung von Çnàgnwsic; im Hintergrund steht das platonische Konzept der Wiedererinnerung, Çnàmnhsic (Phaidon 72e, Phaidros 249c) bzw. Çnag∏risic (Theaetet 193c); von Cicero, Tusculanae disputationes 1,57 mit recordatio vitae superioris paraphrasiert. Vgl. Seitschek, Hans O.: Art. »Wiedererinnerung«, in: Schäfer, Christian (Hg.): Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, 330–333. 181 Textausfall vermuten hier Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 187; tentative Wiederherstellung: quia 〈et in lectione vera discimus, at 〉 cum vera discimus, »denn 〈auch beim Lesen lernen wir die Wahrheit kennen〉, wenn wir 〈aber〉 die Wahrheit kennenlernen, erkennen wir das wieder, was einmal zu unserem natürlichen Wissen gehört hat [. . . ]«. 182 Nektar ist zusammen mit Ambrosia bei Homer (z. B. Homer, Ilias 19,347; Hymnen 4,248) und späteren (z. B. Platon, Phaidros 247e) die Nahrung der Götter, die ihre Unsterblichkeit sichert und die Sterbliche unsterblich machen kann (Tantalos, s. Pindar, Olympische Oden 1,60–64), vgl. Stenger, Jan: Art. »Nektar«, DNP 8 (2000), 807 f.; zur Lethe vgl. Anm. 153. 183 In der orphischen Kosmogonie stachelt Hera die Titanen zum Anschlag auf Dionysos auf, die ihn töten und zerstückeln. Nachdem seine Körperteile von Apollon gesammelt und samt seinem unversehrt gebliebenen Herzen von Athene zu Zeus gebracht worden sind, erschafft ihn Zeus zu neuem Leben. Eine Allegorese des Dionysosmythos findet sich bei dem Neuplatoniker des 6. Jh. Olympiodor, In Phaedonem S. 84,21 Norvin und bei Proklos, In Platonis Timaeum Bd. 2, S. 146 Diehl (= Orphicorum fragmenta 210b Kern). Der Mythos ist auch Gegenstand von Saturnalien 1,18. Zu den Interpretationsproblemen des no‹c ÕlikÏc s. Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 189 f. 184 Motus (animorum) gibt das griechische dunàmeic bzw. Írga wieder, vgl. Cicero, De officiis 1,132 Motus autem animorum duplices sunt; alteri cogitationis, alteri appetitus, »die Fähigkeiten der Seele sind zweifach, nämlich die des Denkens und die des Strebens«. Vgl. Brinker, Wolfram: Art. »Seele« IV., in: Schäfer, Christian (Hg.): Platon-Lexikon, Darmstadt 2007, 254–257. 185 In § 13–15 wird die Doktrin des Óqhma von 1,11,2 (vgl. Anm. 168) expliziert, und zwar auf der Basis des dritten Weltmodells aus 1,11,10–12, welches das chaldäische System der Planeten verwendet. Sie geht nach De Ley 1972, 51–61 und Flamant 1977, 546–565 auf chaldaeo-iranische Vorstellungen zurück, die seit dem 2. Jh. v. Chr. in den griechischen Kulturraum übernommen und an das astronomische Wissen des Hellenismus (vgl. § 14) adaptiert worden sind. Mittler ist nach De Ley und Flamant Numenios; zu den Belegen hierfür zählt eine Polemik des Arnobius d. Ä. (Adversus Nationes 2,16) gegen novi viri, darunter Numenios und Kronios, aus der sich ergibt, dass Numenios die Óqhma-Doktrin vertreten hat: Sie glaubten, alle schlechten menschlichen Eigenschaften würden aus den Planetensphären mitgebracht. Letzteres stünde im Einklang mit Numenios’ pessimistischer Perspektive auf die menschliche Seele (vgl. Anm. 162). – M.s Hauptquelle ist einmal mehr

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Porphyrios (Smith 1993, fr. 271 und Proklos, In Platonis Timaeum Bd. 3, S. 69,14– 22 Diehl sowie Bd. 3, S. 234,8–235,9 = Dörrie/Baltes Bd. 6.1, Text 167.1), dessen »notorische Anhänglichkeit« an Numenios nach Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 201 sich hier erneut beweist. M. verdankt ihm v. a. die Beteiligung sämtlicher Planetensphären an der Ausbildung der Seelenvermögen. Deren Beschreibung kombiniert die schon in 1,6,42 genannten drei Seelenteile Platons (logistikÏn, jumikÏn, ‚pijumhtikÏn) mit den drei Seelenfunktionen des Aristoteles (logistikÏn, a sjhtikÏn, futikÏn, vgl. De anima 2,2, 413b), die seit Plotin (Enneade 3,4,2 f.) im Neuplatonismus heimisch sind und die M. in 1,14,10 f. beim Referat der plotinischen Doktrin der Emanation wiederverwendet. Da das logistikÏn die Schnittmenge zwischen beiden Listen ist, wurden noch zwei weitere Fähigkeiten benötigt, um auf sieben zu kommen; diese sind das praktikÏn für Jupiter und das ·rmhneutikÏn für Merkur. Allerdings scheint M. darauf bedacht, den Pessimismus der numenianischen Tradition und damit den Kontrast zu 1,14,5–11, wo dasselbe Thema im optimistischen Licht der plotinischen Emanationslehre wiederkehrt, nicht allzu groß werden zu lassen. Denn er vermeidet es, gerade die oben genannten schlechten Eigenschaften, die die Seele beim Abstieg erwirbt, herauszustellen, und zwar im auffälligen Gegensatz zu dem aus derselben Tradition schöpfenden Servius (In Vergilii Aeneidos libros 6,714), der den Übergang der jeweils mit den Planeten assoziierten Affekte auf die Seele hervorhebt: Cum descendunt animae, trahunt secum torporem Saturni, Martis iracundiam, libidinem Veneris, Mercurii lucri cupiditatem, Iovis regni desiderium: quae res faciunt perturbationem animabus, ne possint uti vigore suo et viribus propriis, »beim Abstieg nehmen die Seelen mit sich den Stumpfsinn des Saturn, den Jähzorn des Mars, die Triebhaftigkeit der Venus, die Profitgier des Merkur und die Herrschsucht des Jupiter; diese Affekte stürzen die Seelen in Verwirrung, sodass sie ihre spezifischen Geisteskräfte nicht nutzen können« (Servius, a. O. 11,51 bietet wiederum eine andere Liste von Seeleneigenschaften, die sich den Planeten verdanken, die aber nicht nach einem Planetenmodell, sondern nach Wochentagen organisiert ist). Vgl. dazu Setaioli 1995, 96–98, 109 f. und Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 198 f. – Es existierten noch andere Varianten dieses Deszendenzmodells, denn Proklos (In Platonis Timaeum Bd. 3, S. 355,13–16 Diehl) bietet eines nach der ägyptischen Planentenfolge. 186 Zu seiner prudentia und pietas s. oben 1,10,3. 187 Die Phaidon-Stellen sind 64cd (§ 6), 67d (§ 6), 62bc (§ 8). – In Kap. 13 zeigt sich wieder das Anm. 1 angesprochene Phänomen, dass M. Autoritäten und nicht Autoren zitiert; das gilt für seine Berufung auf Platon und Plotin gleichermaßen. Zwar gibt es in der Forschung durchaus Stimmen, die M. die Lektüre des Phaidon zutrauen (so neben Mras auch Henry, Paul: Plotin et l’Occident, Louvain 1934, 173 sowie Flamant, letzterer mit der Einschränkung, dass M. einen Ausschnitt bei Porphyrios vorgefunden habe), doch hat sich seit Courcelle, Pierre: Les lettres grecques en Occident de Macrobe à Cassiodore, Paris 1943, 20–33, die Auffassung durchgesetzt, dass er unmittelbar Porphyrios benutzt, vermutlich De regressu animae, auf das sich Augustin bezieht (vgl. Anm. 193). Indizien hierfür sind Vorstel-

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lungen, die sich bei Plotin nicht, wohl aber bei Porphyrios finden, darunter (1) der »zweite Tod« des Weisen (§ 6 f.), (2) die vom Körper nicht loskommenden Seelen der Selbstmörder (§ 10, vgl. Porphyrios, De abstinentia 1,38,2; 2,47,1), (3) die rigide Ablehnung des Selbstmords, die bei Plotin abgemildert ist (Enneade 1,9 Über den vernünftigen Freitod: Zulässigkeit in Extremsituationen wie Wahnsinn). Vgl. Flamant 1977, 582–595. 1,11,1. Nämlich in dem in Anm. 187 genannten Traktat Über den vernünftigen Freitod. Diese Vorstellung, von M. selbst in der Doxographie 1,14,19 auf Pythagoras und Philolaos zurückgeführt, ist zu seiner Zeit neuplatonisches Gemeingut, vgl. Setaioli 1995, 209 f. Vergil, Aeneis 6,545. Plotin, Enneade 1,9,17. In de animae reditu sieht man seit Courcelle (vgl. Anm. 187) 25–28 einen Bezug auf Porphyrios’ Traktat De reditu animae, den Augustin in De civitate Dei 10,30 als De regressu animae zitiert, vermutlich weil er Porphyrios nicht direkt, sondern in der Übersetzung des Marius Victorinus gelesen hat, die auch von Servius (In Vergilii Aeneidos libros, 6,137) benutzt wurde; Skepsis gegenüber der Beweiskraft der weiteren lexikalischen Parallelen zu Augustin bei Regali 1983, 338. Zur terminologischen Differenzierung von sidus und stella vgl. u. 1,14,21. Unten 1,22. Zur Vorstellung von der Welt als Tempel der Götter vgl. Cicero, De legibus 2,26, wo sie auf die »Magier« der Perser zurückgeführt wird. Sie ist in allen Philosophenschulen verbreitet, vgl. z. B. Seneca, De beneficiis 7,7,3 totum mundum deorum esse inmortalium templum, solum quidem amplitudine illorum ac magnificentia dignum, »die Welt als Ganzes sei der Tempel der unsterblichen Götter, der alleine ihrer Majestät und Erhabenheit würdig sei«. Ciceros Terminologie ist tatsächlich nicht immer konsistent. Zur Wiedergabe von gr. no‹c verwendet er mens oder animus, für yuq† verwendet er meist ebenfalls animus, was M. in anima korrigiert, allerdings nicht ohne Cicero in Schutz zu nehmen (§ 3): er verwende es abusive, d. h. übertragen. Vgl. die Definition der Herennius-Rhetorik abusio est quae verbo simili et propinquo pro certo et proprio abutitur, »abusio ist die Verwendung eines ähnlichen und verwandten Wortes statt des eigentlichen« (4,45). Vgl. Flamant 1992, 229–232 und Armisen-Marchetti 2011, Anm. 294. Die § 5–15 geben einen Abriss der neuplatonischen Emanationslehre, von der in arithmologischem Zusammenhang bereits in 1,6,8 f. die Rede war (vgl. Anm. 58 f.). Ob M. dabei Plotin (Enneade 5,2 f.) direkt (so Di Pasquale-Barbanti 1988, 153 f.) oder durch Vermittlung anderer Neuplatoniker wie Porphyrios (so Hadot, Pierre: Porphyre et Victorinus, Paris 1968, 459 f.) benutzt, ist strittig; Regali 1983, 342 f. meint, dass M. nicht einer bestimmten Quelle, sondern der neuplatonischen Vulgata folgt (darauf könnte der Plural theologi in § 5 deuten, den Flamant 1977, 502 als einen auf Plotin gemünzten Pluralis maiestatis deutet); seine Konzeption der Weltseele

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könnte sich aber der Porphyrioslektüre verdanken, s. u. Die wichtigsten Texte aus Plotin finden sich bei Dörrie/Baltes Bd. 7.1, Text 205.4–7; Kommentar ebd. S. 599– 608. In jedem Falle gibt M. »as good a summary of the Plotinian trinity as was possible in Latin« (Wittaker bei Stahl 1990, 143, Anm. 1), vgl. die Konfrontation von Enneade 5,2 mit § 5–7 bei Flamant 1977, 500 f. M. bewahrt das einfache System Plotins ohne die Verkomplizierungen der Hierarchie, wie sie für die späteren Neuplatoniker charakteristisch ist. Das Eine ist die oberste Hierarchiestufe (Hypostase) und Garant der von der Vielheit der Dinge vorausgesetzten Einheit. Das Eine ist eigenschaftslos und damit »unsagbar«, es ist »jenseits von allen Dingen und jenseits der Vernunft«; es übt jedenfalls keine geistige Aktivität oder gar Bewegung aus. M.s Bezeichnungen »(höchster) Gott«, »erste Ursache« und »das Gute« stammen letztlich aus der Liste der von Plotin für das Eine verwendeten Umschreibungen, vgl. Goulet-Cazé 2005, 62 f. Aus dem Einen gehen die nachgeordneten Hierarchiestufen, die intellegible Wirklichkeit des no‹c, des Intellekts, und die Weltseele hervor, und zwar so wie die Strahlen aus der Sonne: Das Eine bleibt dabei unbeeinträchtigt, unvermindert und unbewegt und wird nicht Bestandteil der von ihm verursachten intellegiblen Welt. Ab der Ebene des no‹c, des Trägers der Ideen, beginnt die »zweite Wirklichkeit«, die durch den Verlust der vollkommenen Einheit charakterisiert ist, denn Erkennen ist objektorientiert, mithin auf das Viele gerichtet. Beim Konzept der Seele ist die plotinische Abstufung von All- und Weltseele im Anschluß an Porphyrios vereinfacht (vgl. Goulet-Cazé 2005, 61–90), und die Weltseele bildet ein skalares Kontinuum zwischen einem intellektuellen (§ 8 ab anima natura incipit quam sapientes de deo et mente no‹n nominant) und einem im Weltkörper inkorporierten (§ 7 in fabricam corporum incorporea ipsa degenerat) Teil; sie schafft auch die Individualseelen (1,6,20 mundi anima, quae animarum omnium fons est). Ab der Ebene der Weltseele gibt es also Bewegung, die in den Bereich des Sensiblen hineinwirkt, nämlich mit den Bewegungen des Weltalls. – Die Emanationskette, die am Schluß in das Bild der catena aurea Homers gefasst wird (§ 15), stellt den Abstieg der Seele nicht als Sündenfall dar, sondern hebt die Partizipation des Menschen am Göttlichen hervor (§ 8–11 und Anm. 207), stellt die Emanation somit in eine optimistische Perspektive, die sich abhebt von dem Pessimismus des Numenios, unter dessen Einfluss die Beschreibung der Individualseele in 1,11 stand (vgl. Anm. 162). 199 Unterscheidung zwischen den Dingen der intellegiblen und der sensiblen Welt, vgl. 1,6,19; t‰ Óntwc Ón, »das wirklich Seiende«, ist in Porphyrios’ Sententiae Prädikat des Intellegiblen (Goulet-Cazé 2005, 69 f.). 200 Dass der no‹c Träger der Ideen ist, wird explizit in 1,6,8 und 10 gesagt, vgl. auch 1,2,24 und 1,8,10. 201 Eine explizite christliche Kritik dieser Emanationslehre findet sich bei Meister Eckhardt im Kommentar zu Genesis 1,21 (Sturlese, Loris [Hg.], Stuttgart 1987, S. 77): In principio creavit caelum et terram, [. . . ] hoc contra opinionem Avicennae et aliorum dicentium quod deus creavit in principio intelligentiam et illa mediante creavit alia, »am Anfang schuf er Himmel und Erde [. . . ]: das richtet sich gegen die Auffassung von

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Avicenna und anderen, die behaupten, Gott habe am Anfang den Intellekt geschaffen und mittels dessen das übrige« (vgl. Neri 2007, Anm. 239). Das sind die bereits in 1,12,14 verwendeten aristotelischen Seelenfunktionen, dort mit den platonischen kombiniert, s. Anm. 185. Die Antithese »erdwärts geneigtes Tier : himmelwärts blickender Mensch« geht auf Platon zurück (Timaios 90a–b) und wird nach ihm zum Topos; es genügt hier der Verweis auf die bekannte Stelle bei Sallust (Catilina 1,1): pecora [. . . ] natura prona atque ventri oboedientia finxit . . . animi imperio, corporis servitio magis utimur, »die Tiere hat die Natur vornüber geneigt und dem Bauch untertan geschaffen. Wir dagegen lassen uns lieber vom Geist leiten und lassen den Körper dienen«. – Für die Kugelgestalt (des Kopfes) gilt wie für den Kreis, dass sie eine Form des Göttlichen ist, vgl. Anm. 176. Bei Platon, Timaios 44d wird die Kugelgestalt des Kopfes, des göttlichsten Körperteils, das Abbild des Weltalls genannt. Vgl. Aristoteles, De anima 2,3, 414ab, von Plotin Enneade 3,4,2 zusammen mit der Dreiteilung der Seelenfunktionen (s. Anm. 185) rezipiert, vgl. Armisen-Marchetti Anm. 300. Die Vergil-Zitate in § 14 sind aus Aeneis 6,726; 8,403; 6,727; 6,728 und 6,731. Der Vergleich stammt aus Plotin, Enneade 1,1,8,17–19 und gehört in der Diskussion um die Quellen von M.s Abriss der Emanationslehre (vgl. Anm. 198) zu den Argumenten für eine direkte Plotinlektüre, vgl. di Pasquale-Barbanti 1988, 156 f. Homer, Ilias 8,19: »Befestigt doch eine goldene Kette am Himmel und zieht alle daran, Götter und Göttinnen: dennoch zöget ihr nicht vom Himmel auf die Erde Zeus, den höchsten Ratgeber, so sehr ihr euch auch abmühtet«. Bei Platon, Theaetet 153c–d wird die Kette als Symbol der lebenserhaltenden Sonne interpretiert, im Neuplatonismus dagegen, und damit auch von M., als das einigende Band der Kräfte des Universums mit denen des Menschen, vgl. Proklos, In Platonis Timaeum Bd. 1, S. 206,4–7 Diehl »das Weltenregiment reicht bis zum äußersten Punkt, denn alles ist geordnet gemäß der Kette, die vom Demiurgen bis zum Bodensatz der weltlichen Dinge hinabreicht« (»Bodensatz«, gr. pujm†n, entspricht ultima faex bei M.), vgl. Mras 1933, 258 f. Plotin führt die Einheit der Schöpfung in Enneade 4,8,6 auf das natürliche Bestreben der drei Hypostasen zurück, so lange schöpferisch tätig zu sein, bis alles Seiende seine äußersten Möglichkeiten erreicht hat: »So wie nun das Eine nicht alleine existieren durfte – sonst bliebe ja alles verborgen da es in dem Einen der Gestalt ermangelt, ja es würde überhaupt kein Ding existieren, wenn das Eine bei sich selbst stehen bliebe und es gäbe nicht die Vielheit unserer Erdendinge, die von dem Einen her erzeugt sind, wenn nicht die ihm nachgeordneten Dinge, die den Rang von Seelen einnehmen, aus ihm herausgetreten wären –: ebenso durften auch die Seelen nicht alleine existieren ohne dass in Erscheinung tritt, was durch sie seine Existenz erhält; wohnte doch jedem Wesen inne ein Streben, das ihm Nachgeordnete hervorzubringen und sich zu entfalten, wie aus einem Samen von einem teillosen Ursprung aus fortzuschreiten zum Ziel der sinnlichen Erscheinung« (Enneade 4,8,6, übers. v. R. Harder Bd. 1, 76 f.). Vgl. Halfwassen, Jens: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 99.

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208 Cicero, De re publica 6,15. M. »berichtigt« hier die stoisch beeinflusste Vorstellung des Somnium, dass die Seele eine materielle Substanz wie die Gestirne hätte, zugunsten der neuplatonischen Lehre von der Unkörperlichkeit der Seele, vgl. 1,11,12; 1,17,9; 2,2,14 (Flamant 1977, 505–507 mit Parallelen u. a. aus Plotin, Porphyrios und Calcidius). 209 Zu dieser »doxographie bizarrement tronquée« (Flamant 1977, 507) und ihren Quellen s. Diels 1879, 213 f., Flamant 1977, 507–511, Regali 1983, 347–350, Dörrie/ Baltes Bd. 6,1, 161–164 und Mansfeld/Runia Bd. 3, 154; Verzeichnis der Parallelen bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 311. Das Ordnungsprinzip dieser scheinbar regellosen Aufzählung, die zunehmende Materialität, wurde zuerst erkannt von Schmekel, August: Die Philosophie der mittleren Stoa, Berlin 1892, 426, vgl. Dörrie/Baltes Bd. 6.1, 161: (1) immaterielle Auffassungen der Seele (Platon, Xenokrates, Aristoteles, Pythagoras, Philolaos, Poseidonios, Asklepiades), (b) materielle mit einem Element (Hippokrates, Herakleides Pontikos, Heraklit, Zenon, Demokrit, Kritolaos, Hipparch, Anaximenes, Empedokles, Kritias), (c) materielle mit zwei und drei Elementen (Parmenides, Xenophanes, Boethos bzw. Epikur). 210 Nach Armisen-Marchetti 2011, Anm. 310 haben die Handschriften mit einer einzigen Ausnahme ‚ntelËqeia und nicht das u. a. von Regali vorgeschlagene ‚ndelËqeia. Der erstere Begriff definiert die Seele als Entität, die ihr Ziel (tËloc) in sich selbst trägt, vgl. De anima 412a 21; zur Bedeutung des letzteren, in den exoterischen Schriften verwendeten, vgl. Cicero, Tusculanae disputationes 1,22: animum ‚ndelËqeian appellat novo nomine quasi quandam continuatam motionem et perennem, »(Aristoteles) nennt die Seele mit einem neuen Begriff ‚ndelËqeia, der auf eine Art unablässiger und immerwährender Bewegung hinweist«. 211 Aristoteles’ quinta essentia, die massenlose, unveränderliche und ewige Substanz im supralunaren Raum, von Platon (Timaios 58d) und den Platonikern a j†r genannt. Zum Mond als »Erde des Äthers« und Grenzpunkt zwischen Luft und Äther vgl. 1,9,10 und 1,11,8. 212 Der folgende Abschnitt über die Astronomie, der bis 2,9 reicht, war im Mittelalter so populär, dass er eine Sonderüberlieferung hatte, vgl. Armisen-Marchetti 2011, LXXVIII. Die lateinische astronomische Tradition und ihre Quellen sind umfassend zusammengestellt bei Le Bœuffle 1973 (dazu sein Lexikon: Astronomie, Astrologie. Lexique latin, Paris 1987) und bei Bakhouche 1996; bei dieser S. 292 f. eine Einordnung M.s: Er schöpfe im Wesentlichen aus populären Handbüchern sowie Einführungen und einem Kommentar zum Timaios. Bei letzterem dürfte es sich wohl um den des Porphyrios handeln. 213 Im Sternkatalog des Ptolemaios sind rund 10ÇmÏrfwtoi, d. h. keiner Konfiguration zugehörig. 214 Nach Le Bœuffle 1973 Bd. 1, 83–112 trifft M.s Kommentierung von Ciceros Begriffen in dem Sinne zu, dass stella in der Regel die Bezeichnung von Einzelsternen, signum die von Sternbildern ist; sidus dagegen entwickelt sich erst sekundär zu »Konstellation«, und zwar aus dichterischem Gebrauch (ab Catull, 66,64). Planeten werden meist mit dem Zusatz (stellae) erraticae/errantes bzw. vagae, »umherirrende

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Sterne« (griech. ästra plan†ta) gekennzeichnet. Zur griechischen Terminologie s. Kidd Bd. 2, 1988, 483–490. Die terminologische Diskussion der § 22–25 um Kreis und Kugel zeigt einmal mehr M.s Bemühen um konsistente Begrifflichkeit und damit eine implizite Kritik an Cicero, wie sie schon in 1,6,24 begegnete (vgl. Anm. 73). Zur Terminologie der Himmelskreise in § 24 f. vgl. Le Bœuffle Bd. 1, 1973, 238–264 und Armisen-Marchetti 2011, Anm. 318 und 320: (1) Circulus ist Kreis im weitesten Sinne. (2) Orbis kann sein a. dasselbe wie circulus (Cicero, De natura deorum 2,47), b. die Umlaufbahn eines Sternbilds oder Planeten (vgl. § 25), c. dasselbe wie sphaera, vgl. § 23. (3) Sphaera kann sein a. der solide Körper eines Gestirns, b. die Fixsternsphäre, c. die konzentrischen Sphären der Planeten. Globus ist Kugel, gleichgültig ob hohl oder solide. Gemeint ist der Zodiakus; weiter unten wird ausgeführt, dass er tatsächlich aus drei Linien besteht, den beiden Grenzlinien und der Mittellinie, der Ekliptik, vgl. 1,15,8– 10 und 12. »Naturgesetzlich«, legitimus, ist Ausdruck der verbreiteten Auffassung, dass das scheinbar erratische Verhalten der Planeten sich doch in die generelle Regelhaftigkeit des Universums fügt. Dementsprechend ist Kritik am Begriff »Planet« nicht selten, vgl. etwa Cicero, De natura deorum 2,51: Maxume vero sunt admirabiles motus earum quinque stellarum quae falso vocantur errantes; nihil enim errat quod in omni aeternitate conservat progressus et regressus reliquosque motus constantis et ratos, »Die höchste Bewunderung verdienen die Bewegungen der fünf Sterne, die man fälschlich ›umherirrende‹ nennt; denn nichts ›irrt‹, was in alle Ewigkeit seine Vorwärts-, Rückwärts- und anderen Bewegungen in aller Unbeirrbarkeit und Regelmäßigkeit vollzieht«. Dazu näher 1,21,5–7. Cicero, De re publica 6,16. M. macht hier den Unterschied zwischen den physisch vorhandenen und den nur theoretischen Himmelskreisen, wie er sich auch in der Einführung in die Astronomie des Poseidoniosschülers Geminos (5,11) findet. Die ausführlichste Beschreibung der Milchstraße ist die von Ptolemaios, Syntaxis 8,2; Doxographie bei Diels 1879, 364–366. Referat der antiken mythischen Interpretationen bei Hygin, Astronomica 2,43, Übersicht zur Mythologie bei Hübner, Wolfgang: Art. »Milchstraße«, DNP 8 (2000), 164–166. Zu M.s Doxographie s. Kidd Bd. 2, 1988, 487–490. Diodor v. Alexandria, Zeitgenosse Ciceros, s. Diels 1879, 19–22. Das kommt der modernen Auffassung am nächsten; zur Zuschreibung an Demokrit vgl. Diels 1879, 629. Vgl. oben 1,12,1. Die Poseidonios in der antiken Doxographie (Diels 1879, 366) zugeschriebene Definition ist knapper: »Kondensation von Feuer, das feiner als das der Sterne aber dichter als der Äther ist«; vgl. Kidd Bd. 2, 1988, 488–490. »Wie wir gesagt haben«: s. § 2. Zum Zodiakus in der antiken Literatur vgl. Bakhouche 1996, 129–135.

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225 Gemeint sind die Konjunktion des Mondes mit der Sonne bzw. seine Opposition zu ihr. Der Zodiakus, dessen Entdeckung oder besser Konstruktion in 1,21 (vgl. Anm. 302) den alten Ägyptern ebenso zugeschrieben wird wie seine Benennung – letzteres ungeachtet des griechischen Namens »Träger der zºdia«, d. h. der Tierzeichen –, bildet nach antiker Annahme ein Band von 12 (tatsächlich 17) Grad Breite, innerhalb dessen sich die sichtbaren Bewegungen von Sonne, Mond und Planeten abspielen. Dessen Mittellinie, die sog. Ekliptik (»die zur Eklipse gehörige Linie«), ist die sichtbare Sonnenbahn. Das antike Handbuchwissen zum Zodiakus bietet Geminos § 1–5: Einteilung in 12 Abschnitte zu je 30 Grad, ungleiche Größe der Sternbilder, Hinausragen mancher Sternbilder aus dem Zodiakus etc. – Damit sich eine Sonnen- oder Mondfinsternis ereignet, müssen nicht nur die von M. genannten Bedingungen Konjunktion bzw. Opposition erfüllt sein, sondern zusätzlich muss der (auf einer um 5 Grad gegen die Ekliptikebene geneigten Bahn ziehende) Mond sich nahe an einem der beiden Schnittpunkte seiner Bahn mit der Ekliptik befinden. M. übergeht diese Bedingung in § 11, obwohl sie in der Antike bekannt war, z. B. dem Calcidius 87: nec [. . . ] omni nova luna solis obscuratio intervenit aut omni plena . . . luna lunae labor fit, propterea quod circuli eorum nimia obliquitate a se invicem differant, »eine Sonnenfinsternis tritt nicht bei jedem Neumond ein und auch nicht eine Mondfinsternis bei jedem Vollmond, weil ihre Bahnen durch eine zu starke Neigung voneinander abweichen«. Vgl. Le Bœuffle Bd. 1, 1973, 264– 300. 226 Vgl. 1,20,18, wo gesagt wird, der Erdschatten reiche bis zur Sonnenbahn und könne daher zur Berechnung des Sonnendurchmessers herangezogen werden. 227 Vergil, Georgica 2,478. 228 Zu den folgenden »Kreisen« vgl. Bakhouche 1996, 117–142. 229 Von griech. kÏlouroc »gestutzt«, zwei Längenkreise, die von Himmelspol zu Himmelspol verlaufen, und zwar der Äquinoktialkolur durch Frühlings- und Herbstpunkt in Widder bzw. Waage, der Solstitialkolur durch die Punkte der Solstitien in Krebs und Steinbock. Sie verdanken ihren Namen dem Umstand, dass ihr Verlauf auf der Südhalbkugel nicht beobachtbar ist. 230 Lehnübersetzung von gr. meshmbrinÏc; der Meridian zieht sich von Pol zu Pol durch den Zenit, die nach oben verlängerte Vertikale, eines gegebenen Orts. 231 Horizon, gr. Lehnwort, wtl. »begrenzender (Kreis)«. Zu erwarten wäre im vorliegenden Zusammenhang gewesen, dass M. den geozentrischen Himmelshorizont und nicht den topozentrischen Individualhorizont beschreibt, vgl. Stahl 1990, 152 Anm. 24; Unterscheidung beider im Handbuch des Geminos 5,55: »es gibt zwei Horizonte, der eine ist sichtbar, der andere nur theoretisch erfassbar«. – Welches Stadienmaß M. hier verwendet, ist unklar: das des Eratosthenes (157,5 m) oder das der Ptolemäer (210 m), das in Rom seit den Antoninen verwendet wird? Entsprechend ergäbe sich ein Horizontdurchmesser von 56,7 bzw. 75,6 km (vgl. Flamant 1977, 392 und Armisen-Marchetti 2011, Anm. 343, mit Hinweis auf weitere Unsicherheitsfaktoren der Berechnung). 232 Vgl. 1,4,4–5.

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233 Das überlieferte qui in vicem scire nos possumus ist sicher korrupt. Die Änderung von qui in quos stammt aus der Teubner-Edition von Willis 1970, die von in vicem in quidem wird von Jan 1848 erwogen und von Armisen-Marchetti übernommen. – Zu den anderen mutmaßlich bewohnten Erdteilen vgl. 2,5,16 und 2,5,28–36. 234 Vergil, Georgica 1,246 nach Homer, Ilias 18,489. M. nennt die beiden Bären in 1,18,5 septentrionum compago. Zur Verwendung von septentriones (triones etymol. zu terere, also »die sieben Dreschochsen«) vs. ursae vgl. Le Bœuffle 1973, Bd. 2, 390–397. 235 Vergil, Georgica 1,241 f., von Calcidius 66 bei der Beschreibung des Horizonts zitiert; zu den Fragen der Quellen der Passage s. Flamant 1977, 394 (letztlich Poseidonios). 236 Dass die Erde gemessen am All nur ein Punkt ist, setzt M. als Faktum voraus, während es bei früheren Autoren wie dem (von Poseidonios abhängigen und vor Ptolemaios schreibenden) Astronomen Kleomedes noch Gegenstand der Beweisführung war (vgl. Mras 1933, 259). 237 Das ist seit Aristoteles, De caelo 298a bekannt. 238 »Fackel« für »Gestirn« ist poetisch (vgl. ThLL 6,403 f.; M. selbst zitiert in Saturnalien 6,4,19 Ennius (Annalen 16,434) fax occidit, »die Sonne geht unter«); zusammen mit dem Zeugma quem [. . . ] supra hominem, immo vere hominem fecit markiert es die Bedeutsamkeit der folgenden Ausführungen. 239 »Durchmesser«: 1,20,29 f. zeigt, dass dieser die relevante Größe ist, deswegen wurden mensura und magnitudo in § 11–13 damit übersetzt. Wie M. zu seiner Maßangabe kommt, erklärt er in 1,20 (vgl. Anm. 288). Eine grundlegende Schwäche von M.s Argumentation ist, dass er die geometrische Definition des Punkts (Euklid, Elemente 1,1: »ein Punkt ist etwas, das keine Teile hat«) auf die astronomische überträgt, wo der Punkt nur eine Metapher ist (vgl. Armisen-Marchetti 2011, Anm. 357). Der von M. sogenannte »Punkt« Erde hätte somit auch keinen Durchmesser, womit das ganze, auf dem Durchmesser der Erde basierende ingeniöse Verfahren zur Berechnung des Sonnendurchmessers in 1,20,18–31 hinfällig wäre. 240 Wir behalten die Ergänzung Willis’ circum 〈suum〉 wegen der Parallelität zu circum suum in § 13 bei; vgl. auch de Paolis 1986–87, 180. 241 Statt des in den meisten Macrobiushandschriften überlieferten de septem findet sich in der Cicero-Überlieferung subter. Nach Armisen-Marchetti 2011, Anm. 361 wird die Lesart de septem gestützt durch 1,19,1 cum (Cicero) solis sphaeram quartam de septem [. . . ] dicat und 1,19,14 Cicero cum quartum de septem solem velit. An diesen Stellen geht es allerdings um den absoluten Platz der Sonne im All und nicht wie hier um den relativen, womit subter als Alternative für de septem gar nicht in Betracht käme; also wird man eher annehmen, dass de septem an der vorliegenden Stelle dem Einfluss jener Stellen geschuldet ist, und wird mit La Penna 248 das in den recentiores überlieferte subter beibehalten. Weitere Diskussion bei Caldini Montanari 2002, 493–496. 242 Vergil, Aeneis 6,727. 243 Regali 1983, z. St. weist darauf hin, dass dieser Satz M.s Verständnis vom Verhältnis seines Kommentars zum Somnium Scipionis beleuchtet: Cicero stellt die »Saat«

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Anhang (semina) bereit, deren Heranreifen durch die Fürsorge der Wissenschaft (sc. des Neuplatonismus) gewährleistet wird.

244 M. gibt hier die Gliederung für den Rest des ersten Buchs: 1,17,8–17: Rotation des Fixsternhimmels, 1,18: Bewegung der Planeten, 1,19,1–17: die Planetenordnung (dazu 1,19,18–27: Astrologie der Planeten), 1,20: die Sonne, 1,21: die Planeten im Zodiakus, 1,22: die Schwerkraft. 245 M. verwendet im Folgenden nicht astronomische, sondern ontologische Argumente, im Einklang mit dem philosophischen und nicht enzyklopädischen Skopos des Kommentars (vgl. 1,4). Die Vorstellung, dass der Himmel die Bewegung von der Weltseele erhalten hat und die Ursache für die Bewegung der Seele wiederum ihre Ewigkeit ist, geht auf den platonischen Timaios (36e) zurück, eigentliche Quelle des folgenden Abschnitts ist aber Plotin (Enneade 2,2 Über die Bewegung des Himmels), auf den sich M. § 11 Ende beruft, vgl. Mras 1933, 260. Der Vorrang der Ontologie vor der Physik zeigt sich auch klar bei der Berechnung der Intervalle zwischen den Plantensphären (2,67). Er wird von Aristoteles schon den Pythagoräern angekreidet: Sie versuchen nicht, die Ursachen der Erscheinungen zu finden, sondern zwängen diese umgekehrt in ihre vorgefassten Theorien und Meinungen (De caelo 293a 25 f.). 246 Die Lesart sufficiant verdient den Vorzug vor Armisen-Marchettis sufficient: M. verwendet sufficie(n)t meist prospektiv (so in 1,5,15; 1,10,8; 1,18,19; 2,7,13), sufficia(n)t dagegen retrospektiv (1,6,21; 1,15,18; 1,19,22); vgl. de Paolis 1982, 99 f. 247 M. »korrigiert« hier Cicero, für den die Himmelssphäre tatsächlich der summus deus im Sinne der Stoiker ist (vgl. Cicero, Lucullus 126 Zenoni et reliquis fere Stoicis aether videtur summus deus, mente praeditus qua omnia regantur, »Zenon und fast alle übrigen Stoiker betrachten den Äther als den höchsten Gott, begabt mit Vernunft, durch welche alles regiert wird«) zugunsten seiner eigenen neuplatonischen Lehre, in welcher nicht die äußerste Himmelssphäre, sondern nur die erste Hypostase der summus deus sein kann (vgl. 1,14,6 f.); »d’où l’exégèse quelque peu laborieuse« (Armisen-Marchetti 2011, Anm. 370). 248 Das Zitat ist aus Vergil, Eklogen 3,60 nach Arat, Phainomena 1; M. bringt es Saturnalien 1,18,15 im griechischen Original. – Die Gleichsetzung von Jupiter und Himmel auch in Saturnalien 1,18,15: caelum, quod appellant Iovem, »der Himmel, den sie Jupiter nennen«. Die etymologische Verknüpfung von Iuppiter mit dies findet sich seit Varro (De lingua Latina 5,66: olim Diovis et Diespiter dictus, id est dies pater, »einst Diovis und Diespiter, das heißt ›Vater Tag‹, genannt«). Nach Armisen-Marchetti 2011, Anm. 372 sind die »Theologen« hier die Neuplatoniker im Einklang mit 1,14,5 aber im Gegensatz zur Opposition theologi : philosophi in 1,10,9–1,11,1, wo die vorphilosophischen »Theologen« die Vertreter der traditionellen Allegorese sind. Da an der vorliegenden Stelle aber Ciceros Auffassung durch die der ueteres und die traditionelle Allegorese gestützt wird, könnte es durchaus sein, dass M. hier theologi wieder im Sinne von 1,10 verwendet und diesen anachronistisch das Konzept der Weltseele zuschreibt.

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249 Die Assoziation von Juno und Luft beruht auf volksetymologischem Anschluss von griech. ìHra an džr (»Luft«), der schon bei den Vorsokratikern vorkommt (Empedokles, VS 31 A 33,17: »Zeus nennt er [. . . ] den Äther, Hera die lebensspendende Luft«) und durch die Stoiker verbreitet wurde, vgl. Cicero, De natura deorum 2,66: Aer autem, ut Stoici disputant, interiectus inter mare et caelum Iunonis nomine consecratur, [. . . ] quod ei et similitudo est aetheris et cum eo summa coniunctio, »wie die Stoiker sagen, wird die zwischen Meer und Himmel liegende Luft mit dem Namen Junos geheiligt, weil sie mit dem Äther (= Jupiter) die größte Ähnlichkeit und die engste Verbindung aufweist« (Armisen-Marchetti Anm 375). 250 »Manche Autoritäten« bezeichnet den antiken Mainstream. Dagegen bezieht sich die – in der Antike wenig populäre – These der Eigenbewegung der Fixsterne auf den bereits von Hipparch im 2. Jh. v. Chr. berechneten und von Ptolemaios (Syntaxis 7,3) bestätigten Drift der Sternbilder gegenüber Frühlings- und Herbstpunkt. Tatsächliche Ursache ist die Präzession der Erdachse, die zur Folge hat, dass heute der Frühlingspunkt nicht mehr wie in der Antike im Widder, sondern in den Fischen liegt. Einzelheiten s. Flamant 1977, 406–413, zur Doxographie vgl. Mansfeld/Runia Bd. 2.1, 476–486. 251 § 2–3: die zu widerlegende Gegenposition, § 4–6: Erweis der autonomen Bewegung der Planeten, § 7–19 Erweis ihrer West-Ost-Bewegung am Beispiel von Mond und Sonne. 252 Im Gegensatz zu seiner üblichen Unterscheidung zwischen »erratischen« Planeten und stetig ziehenden Luminaren fasst M. im Folgenden beide vergröbernd zusammen und wählt als Demonstrationsobjekte Sonne und Mond, anhand derer die komplexen Planentenbewegungen gerade nicht beschreibbar sind. Damit bleibt er hinter dem verfügbaren Wissenstand zurück; man vergleiche etwa die wesentlich differenziertere Darstellung im Handbuch des Geminos Kap. 12 (»Dass die Planeten sich in entgegengesetzter Richtung wie das Weltall bewegen«). Zu den »vielen Experten« rechnen nach Geminos 12,14–19 die Peripatetiker und ihre Theorie von der Ost-Westbewegung der Planeten bei gleichzeitiger »Retardation« (Widerlegung ebd. 12,19–27); vgl. auch Martianus Capella 8,853: peripateticorum dogma contendit, non adversum mundum haec sidera promoveri, sed celeritate mundi, quam sequi non potuerunt, praeteriri, »ein Lehrsatz der Peripatetiker besagt, dass diese Sterne nicht dem Himmel entgegengesetzt ziehen, sondern dass sie nur hinter dessen Geschwindigkeit, der sie nicht folgen können, zurückbleiben«. – Zur Quellenfrage vgl. Flamant 1977, 419: »la prétention et l’apparence déjà scolastique de ce chapitre donnent à penser que c’est Macrobius lui-même qui est l’inventeur de la démonstration«. 253 Die Wahl des Widders in § 8 ist nicht »beliebig«, sondern dreifach begründet: (1) Der Widder ist das Sternbild des Frühlingspunkts und das römische Jahr begann traditionell mit der Frühjahrstagnachtgleiche im Sternbild des Widders; (2) daher führt er traditionell das Verzeichnis der Sternbilder an, vgl. Varro, Res rusticae 2,1,7 astrologi [. . . ] ab iis principibus duodecim signa [. . . ] numerant, ab ariete et tauro, »die Astrologen beginnen mit Widder und Stier die Aufzählung der Zwölf Sternbilder«;

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Anhang (3) nach ägyptischer Tradition, auf die sich M. in 1,21,23 beruft, stand der Widder am »Geburtstag« der Welt im Zenit. »Unter die Sonne zieht« meint wie in 1,15,10 die Konjunktion des Mondes mit der Sonne, vgl. Anm. 225. – M.s Beweisführung ist, charakteristisch für all seine Kapitel zur Astronomie, nicht nur ungenau, sondern auch redundant (zum deutlichsten Beispiel vgl. unten Anm. 291). Der Hinweis auf die in langen Nächten deutlich wahrnehmbare Bewegung des Mondes gegenüber den Fixsternen hätte gereicht, vgl. Geminos 12,11–13: »oft gewinnt der Mond im Verlauf der ganzen Nacht von dem ins Auge gefassten Stern einen Abstand von acht Graden nach Osten. So wird also in einer Nacht die der Bewegung des Weltalls entgegensetzte Bewegung wahrgenommen« (übers. v. Karl Manitius); vgl. Armisen-Marchetti 2011, Anm. 391. Nach Jan z. St. Reminiszenz an Vergil, Georgica 1,208, dort allerdings über die Waage und die Herbsttagnachtgleiche. – Zum Widder s. o. Anm. 253. Vergil, Georgica 1,217 f.; »rückwärts gewandt« ist der Stier, weil er, anders als die übrigen Sternzeichen »nach hinten«, d. h. nach Osten schaut; die konkurrierende, schon in der Antike bekannte und auch in der M.-Überlieferung belegte Lesart adverso impliziert dagegen eine drohende Haltung des Stiers gegenüber dem Hund, vgl. den Kommentar von Mynors, Roger A. B.: Vergil, Georgics, Oxford 1990, 51. Umgekehrt macht es Geminos 12,5 f. § 1–2: das ägyptische und das chaldäische System; § 3–7: die Position von Venus, Merkur und Sonne, § 8–13 der Mond, § 14–17 zum Begriff »Mittellage« der Sonne. Der Dissens besteht darin, dass Cicero im Somnium Scipionis das sog. »chaldäische« System verwendet, Platon dagegen das »ägyptische«. Das ägyptische hat die Abfolge Erde – Mond – Sonne – Venus – Merkur – Mars – Jupiter – Saturn, das chaldäische dagegen Erde – Mond – Merkur – Venus – Sonne – Mars – Jupiter – Saturn; die Positionen von Venus und Merkur finden sich in beiden Systemen auch vertauscht, was auf ihre schlechte Beobachtbarkeit zurückzuführen ist (so M. selbst in § 5; tatsächlich ist die maximale Entfernung der Sonne zur Venus 48, zum Merkur 28 Grad). Das ägyptische System hat Platon im Timaios 38c–d von seinem jüngeren Zeitgenossen Eudoxos v. Knidos übernommen; das chaldäische wurde auf Pythagoras zurückgeführt (vgl. Geminos 1,19 und 24–30) und war in der römischen Welt populärer (vgl. Manilius, 5,5–7, Vitruv, 9,1,5, Hygin, Astronomica 4,14,4); zur Doxographie s. Mansfeld/Runia Bd. 2.1, 476–486. Weder Cicero noch M. verwenden konsequent das eine oder andere: Cicero hat auch in De divinatione 2,91 das chaldäische, in De natura deorum 2,52 dagegen das ägyptische (nicht bedingt durch die stoische Perspektive, denn die »genuinely Stoic presentation of astronomy« des Kleomedes hat die chaldäische Ordnung, s. Jones, Alexander: The stoics and the astronomical sciences, in Inwood, Brad (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, 2003, 333); M. verwendet bei der Beschreibung des Abstiegs der Seelen in 1,12 das chaldäische, in 2,3,14 aber das ägyptische System (mit der Variante Venus – Merkur), und an der vorliegenden Stelle sucht er einen Kompromiss zwischen beiden, s. Anm. 261.

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260 Vgl. o. 1,17,3. Das ist eine in der Antike verbreitete Annahme; tatsächlich beträgt die Umlaufzeit der Venus 225, die des Merkur 88 Tage. Auch M.s Angaben zu den anderen Planeten entsprechen traditionellen Handbuchangaben (vgl. Geminos 1,24– 30, der allerdings für den Mars eine Umlaufzeit von zweieinhalb Jahren annimmt; Kleomedes S. 12 Todd: zwei Jahre fünf Monate); die tatsächlichen Umlaufzeiten um die Sonne sind für: Saturn 29 Jahre 167 Tage, Jupiter 11 Jahre 315 Tage, Mars 687 Tage (Einzelnachweise bei Armisen-Marchetti 2011, Anm. 402–404). 261 M. schickt sich nun an, den Dissens zwischen Platon und Cicero um die Anordnung der Planeten (s. Anm. 259) zu lösen, was nicht ohne erhebliche Unschärfe abgeht, die ihrerseits gegensätzliche Interpretationen ausgelöst hat. Die weitergehende (schon von Johannes Kepler 1601 in seiner Apologia Tychonis contra Ursum vorgebrachte, s. Eastwood 2007 [Titel s. unten] 41), u. a. von Flamant 1977, 419–435, Regali 1983, 370, Bakhouche 1996, 270 f. und Armisen-Marchetti 2011, Anm. 406 f. vertretene, ist, dass M. in § 6 f. zu diesem Zweck die bei Calcidius 109 f. dem Platonschüler Herakleides Pontikos zugeschriebene »semiheliozentrische« Theorie einführe. Sie besagt, dass Venus und Merkur nicht um die Erde, sondern auf Epizyklen kreisen, in der einfacheren Variante der Theorie mit der Sonne als Zentrum, in der komplexeren mit konzentrischen Epizyklen von Sonne, Merkur und Venus auf einem gemeinsamen Deferenten (dazu s. Flamant 1977, 429); belegt ist sie zuerst bei Vitruv 9,1,6: Mercurii autem et Veneris stellae circa solis radios uti per centrum eum itineribus coronantes regressus retrorsus et retardationes faciunt, »Merkur und Venus vollführen ihre retrograden Bewegungen und Retardationen um die Strahlen der Sonne und umkränzen sie als ihr Zentrum mit ihrer Bahn«. Dass M. diese Theorie gekannt habe, werde durch ihr Vorhandensein bei Calcidius 109 f. nahegelegt (zu M. als Leser des Calcidius s. Backhouche 2011, 52 f.; Diskussion von 109 f. ebd. 712–714). M. könnte sie also dazu verwendet haben, um den Widerspruch zwischen seinen beiden Autoritäten, zwischen der »ägyptischer« Ordnung Platons und der »chaldäischen« Ciceros (vgl. Anm. 259), wegzuerklären: Wenn Venus und Merkur »über« der Sonne stehen, zeige sich der »ägyptische«, wenn sie »unter« ihr stehen, der »chaldäische« Zustand (vgl. Bakhouche 1996, 271). Auf die Probleme dieser Interpretation ist oft hingewiesen worden. Zunächst ist die Zuschreibung der semiheliozentrischen Theorie an Herakleides ungesichert (Kritik bei Eastwood [Titel unten] 2002, IX 233–260, bei Backhouche 2011, 713 f. und bei Keyser, Paul T., Heliocentrism in or out of Heraclides, in: Fortenbaugh, William W. und Pender, Elizabeth (Hgg.): Heraclides of Pontus, New York 2017, 205–235). Des weiteren wurde bezweifelt, dass diese Theorie bei Calcidius überhaupt vorliegt (Neugebauer, Otto: On the allegedly heliocentric theory of Venus by Heraclides Ponticus, American Journal of Philology 93, 1972, 600 f.: interdum Lucifer superior, interdum inferior fiat besage, dass die Venus auf der Ekliptik bald »vor« und bald »nach« der Sonne ziehe, bezeichne also ihre Elongation von der Sonne; ebenso Ders., A History of Ancient Mathematical Astronomy, Berlin 1975, 693–696). Schließlich ist mehrfach auf terminologische und technische Schwierigkeiten hingewiesen worden (zunächst von Stahl, zuletzt 1990, 249 f., sodann von

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Anhang Eastwood, Bruce: The Revival of Planetary Astronomy in Carolingian and PostCarolingian Europe, Aldershorst 2002, V 123–125, sowie Ders.: Ordering the Heavens: Roman Astronomy and Cosmology in the Carolingian Renaissance, Leiden 2007, 36–43; außerdem von Jori, Albert, Aristoteles, Über den Himmel, Berlin 2009, 301–304; weitere Literatur bei Bakhouche 2011, 713; neuer forschungsgeschichtlicher Überblick bei Poliquin, Emilie-Jade: Les textes astronomiques latins: un univers de mots, Toulouse 2015, 197–204): dass circulus »Epizyklus« bedeutet, ist zweifelhaft, und der Wortlaut von § 5 Ende bis § 7 widerspricht der angenommenen Theorie. Diese wird in § 5 ja als »ägyptisches« Wissen bezeichnet und muss somit dem grundlegenden »ägyptischen« Theorem aus § 8 f. subordiniert sein, nämlich dass Merkur und Venus im Gegensatz zum unter der Sonne befindlichen Mond (1,19,9) ein eigenes Licht haben und damit eindeutig zu den oberhalb der Sonne stehenden Planeten gehören. Damit ist das semiheliozentrische System aber unverträglich, und andernorts rechnet M. ja auch mit dem traditionellen System konzentrischer Planetensphären (1,16,12; 1,21,1). Eine befriedigende Erklärung für § 6 gibt es somit nicht. Ursache ist vielmehr die größere Entfernung zur Erde; die größte Helligkeit erreicht die Venus 36 Tage vor ihrer unteren Konjunktion (Stahl 1990, 164, Anm. 5). 2,7,6–8. Dass der Mond im Gegensatz zu den anderen Planeten kein eigenes Licht hat, gilt zu M.s Zeit als Faktum (vgl. Geminos 9,1–2, Kleomedes S. 67 Todd; Martianus Capella 8,862 f.). M. konstruiert daraus ein Argument zugunsten der »ägyptischen« Planetenanordnung: Der Mond muss unter der Sonne stehen (merkwürdigerweise, denn die gleichmäßige Ausbreitung des Lichts war in der Antike bekannt), und weil die anderen Planeten ein eigenes Licht haben, müssen sie alle, also auch Merkur und Venus, über der Sonne stehen. – Zum Mond als »Erde des Äthers« s. o. 1,11,7. Das ist Gegenstand von Kap. 1,22. Vgl. vasta in 1,5,3 mit Anm. 36 und vastum [. . . ] densetum in 1,22,6. Die drei gängigen Theorien zum Charakter des Mondlichts (eigenes Licht, Reflexion des Sonnenlichts, Durchleitung des Sonnenlichts unter qualitativer Änderung) werden referiert bei Kleomedes S. 67 Todd. Die Reflexionstheorie (Vergleich des Monds mit einem Spiegel) wird bei Vitruv, 9,2,3 auf Aristarch v. Samos zurückgeführt, die Theorie der Durchleitung des Sonnenlichts durch den Mond unter Absorption der Wärme geht möglicherweise auf Poseidonios zurück, vgl. Kidd Bd. 2, 1988, 473–478. M. kombiniert beide in § 12; die Kombination ist wohl nicht sein Eigengut, denn sie findet sich bereits bei Plinius, Naturgeschichte 2,45: mutuata ab eo luce fulgere, qualem in repercussu aquae volitare conspicimus; ideo molliore et inperfecta vi solvere tantum umorem atque etiam augere, quem solis radii absumant, »er leuchte mit von der Sonne erborgtem Licht, ähnlich wie wir es in der Reflexion eines Wasserspiegels schillern sehen. Und deshalb könne er die Feuchtigkeit, welche von den Strahlen der Sonne aufgesogen wird, nur mit milder und harmloser Kraft trocknen; ja er vermehre sie sogar«.

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268 Der Bezug auf Cicero scheint M. in § 15–17 dazu zu verleiten, trotz seiner Ablehnung in § 5–8 stillschweigend dessen »chaldäisches« Planetensystem zugrundezulegen. 269 Unter den bereits früher genannten Voraussetzungen gleicher Geschwindigkeit (s. 1,14,26) und exakt kreisförmiger Bahn (s. 1,21,5–7). 270 Das Eingangszitat ist aus Vergil, Georgica 1,138. Die Bezeichnung der Planeten mit Götternamen ist chaldäischen Ursprungs, der Zodiakus ebenfalls; letzterer ist um 400 v. Chr. in Mesopotamien nachweisbar, seine Rezeption im Griechenland des 4. Jh. v. Chr. bei den Astronomen Kallippos v. Kyzikos und Eudoxos. Astrologisches Gedankengut findet Eingang in die pantheistische Theologie der Stoiker seit Poseidonios; ablehnend bleiben Panaitios, die Epikureer, Akademiker und Skeptiker. Vgl. dazu und zur astrologischen und allegorischen Bedeutung der einzelnen Planeten Hübner, Wolfgang: Art. »Planeten« Nr. II, DNP 9 (2000), 1073–1079. Die Blütezeit der Astrologie liegt im 2. Jh., wo sie auch in den Platonismus Eingang fand. Wichtige lateinische Quellen sind Manilius, Astronomica und Firmicius Maternus’ Mathesis (s. Hübner, Wolfgang: Art. »Astronomie«, Nr. II., DNP 2 (1997), 126– 139). Formulierungen wie »den man NN nennt« verwendet Cicero auch in De natura deorum 2,52 f., sodass M.s Hinweis auf die darin steckende Distanzierung von der Identifikation der Planeten mit Göttern wohl zutrifft. Eine Zusammenfassung der astrologiekritischen Argumentation bei Gellius 14,1, s. Anm. 272. 271 M. stellt im Folgenden den im Neuplatonismus verbreiteten Glauben an die Macht der Sterne zunächst auf eine rationale Grundlage, gestützt auf Ptolemaios, den er vielleicht durch Porphyrios’ Kommentar kennt (nicht nachprüfbar, da der einschlägige Teil verloren ist, vgl. Anm. 273). Sodann schließt er einen Kompromiss mit der astrologischen Tradition im Anschluss an Plotin, Enneade 2,3 (entweder aus unmittelbarer Lektüre oder ebenfalls via Porphyrios), dessen Position er in § 27 zutreffend referiert (vgl. auch Saturnalien 1,173). Er besteht darin, den aktiven Einfluss der Planeten auf das Leben zu negieren, ihre mantische Bedeutung aber zu erhalten. Die vermeintlich bösartigen Planeten Saturn und Mars werden so von dem ihrer Göttlichkeit widerstreitenden Makel der Affektbeladenheit (den sie etwa bei Servius tragen, vgl. Anm. 185) befreit. Auch sonst zeigt M. wenig Interesse an der Astrologie; er erwähnt nur ganz elementare Begriffe wie die »Häuser« der Planeten (1,21,26), übergeht aber z. B. die für Vorhersagen wichtigen Berechnungen ihrer As- und Deszendenten, wie ja sie noch heute ungebrochen im Schwange sind; Astrologie gehört für ihn offenkundig nicht in den Bereich der Wissenschaft (Flamant 1977, 445–459). Das mag einerseits dem Einfluss seiner Autorität Cicero und dessen Kritik an der Astrologie in De divinatione 2,89 (vgl. von Stuckrad 2007, 94– 98) geschuldet sein, andererseits aber auch der politischen Realität, dass astrologische Praktiken seit dem vierten Jahrhundert zunehmend stigmatisiert und durch die Rechtsprechung eingeschränkt wurden: 357 Verbot der Konsultation von Astrologen, Chaldäern, Magiern und dergleichen (Codex Theodosianus 9,16,4), 370 Belegung der Tätigkeit und der Konsultation von Astrologen mit der Todesstrafe durch ein Edikt von Valentinian und Valens (Codex Theodosianus 9,16,8), 409 Anordnung

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Anhang der Verbrennung einschlägiger Bücher und Konversionsgebot für Astrologen durch Honorius und Theodosius (Codex Theodosianus 9,16,12). Vgl. von Stuckrad 2007, 119–124. Vgl. Gellius 14,1,1: qui sese Chaldaeos seu genethliacos appellant ac de motu deque positu stellarum dicere posse, quae futura sunt, profitentur, »die Leute, die sich Chaldäer oder Astrologen (wörtlich: Nativitätssteller) nennen und den Anspruch erheben, aus der Bewegung und Konstellation der Sterne die Zukunft vorherzusagen«. Unvollständig überliefert; zum Inhalt vgl. Harmon, Roger: Art. »Ptolemaios [65] D1«, DNP 10 (2001), 559–570. M. kennt das Werk wohl durch den Kommentar des Porphyrios (vgl. Flamant 1977, 454); er bezieht sich hier auf das verlorene Buch 3. Iugabilis competentia, vgl. 1,6,24; 31; 33. Ptolemaios, Harmonica 1,7. 2,1,14. Vgl. 1,12,14. Plotin, Enneade 2,3, vgl. Anm. 271. M. wird hier kaum einen Gegensatz zum Christentum gesehen haben, denn dass große Ereignisse am Himmel angezeigt werden, wird auch im Neuen Testament vorausgesetzt, man denke etwa an den Stern über Bethlehem (Matthäus 2,1), die Ankündigung des Menschensohns (Matthäus 24,29) oder den Fall der Gestirne beim Blasen der apokalyptischen Posaunen (Apokalypse 8,10–12). Daher findet sich sogar bei einem der entschiedensten patristischen Gegner der Astrologie, Origenes, ein ähnliches Zugeständnis (in Genesim 1,14, übernommen in Philocalia 23,1–21), nämlich dass für das menschliche Leben »die Sterne zwar nicht kausativ (poihtiko–), aber möglicherweise indikativ (shmantiko–) sind«, wenn auch mit der Einschränkung, dass diese Zeichen dem normalen menschlichen Verstand nicht erschließbar seien, vgl. v. Stuckrad 147 sowie, mit weiteren Parallelen aus Gnosis und Manichäismus, Ders.: Das Ringen um die Astrologie, Berlin 2000, 767–782; vgl. außerdem Metzler, Karin: Konstanz von Weltbildern am Beispiel der Astrologie, in: Markschies, Christoph/Zachhuber, Johannes (Hgg.): Die Welt als Bild, Berlin 2008, 85–88. Eine ähnliche Serie von Prädikationen bei Theon v. Smyrna, S. 187,13–188,5 Hiller, darunter auch die in § 6 hinzukommende »Herz des Alls«. In ihnen drückt sich eine Unterscheidung zwischen dem physikalischen Zentrum der Welt, der Erde, und dem funktionalen, lebensstiftenden Zentrum Sonne aus. Im chaldäischen Planetensystem widerspiegelt sie sich auch formal im Mittelplatz der Sonne, während das platonische demgegenüber gleichsam ein Defizit aufweist. Das wird schließlich bei Proklos (in Timaeum 3,67,37–68,10) dadurch behoben, dass auch die vier sublunaren Elemente zu den Sphären gerechnet werden (wie in Abb. 2 im Anhang), womit auch hier die Sonne auf den Mittelplatz (Nr. 6 von elf) gelangt. Vgl. Siorvanes, Lucas, Proclus, Edinburgh 1996, 304–311. – Das nachfolgende Timaios-Zitat ist 39b. Dieses Zitat bringt M. zusammen mit ähnlichen Gedankengänge auch bei der Exposition der Solarreligion in Saturnalien 1,17,4.

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281 Dieses Zitat ist nicht belegt; in den Kommentaren wird stattdessen verwiesen auf den nur lose verwandten Satz VS 22 B 99: »Gäbe es keine Sonne, trotz der übrigen Gestirne wäre es Nacht«; skeptisch Regali 1983, 376. 282 Die etymologische Ableitung solus »alleine« > sol geht auf die Stoa zurück, s. Cicero, De natura deorum 2,68: vel quia solus ex omnibus sideribus est tantus, vel quia, cum est exortus, obscuratis omnibus solus apparet, »(die Sonne hat ihren Namen) entweder, weil sie als einzige von allen Sternen eine solche Größe hat, oder weil sie nach ihrem Aufgang alle übrigen verdunkelt und allein sichtbar ist«. 283 Das ist die, ursprünglich chaldäische (Cicero, De divinatione 2,89) und nach Rom durch Poseidonios vermittelte Theorie, dass der scheinbare Stillstand der Planeten in einer bestimmten Entfernung zur Sonne der Kraft der Sonnenstrahlen zuzuschreiben sei. Detaillierte Darstellung bei Plinius, Naturgeschichte 2,59–60 und 69– 71, poetischer Reflex bei Lukan, 10,201–203 sol [. . . ] / [. . . ] radiis potentibus astra / ire vetat cursusque vagos statione moratur, »die Sonne hindert mit der Kraft ihrer Strahlen die Planeten am Weiterziehen, bringt sie zum Stillstand und verlangsamt so ihren schweifenden Lauf«. Weitere Stellen bei Armisen-Marchetti Anm. 434. 284 Nach Armisen-Marchetti Anm. 435 f. greifen Ciceros Ausdrücke princeps bzw. mens mundi den stoischen Begriff des ôgemonikÏn auf (vgl. Cicero, De natura deorum 2,29: principatum autem id dico quod Graeci ôgemonikÏn vocant, quo nihil in quoque genere nec potest nec debet esse praestantius, »unter dem Leitenden Prinzip verstehe ich das, was die Griechen ôgemonikÏn nennen, das Vorzüglichste, was es in jeder Art gibt und geben muss«), dessen Identifikation mit der Sonne auf Kleanthes zurückgeht (vgl. Cicero, Lucullus 126: Zenoni et reliquis fere Stoicis aether videtur summus deus [. . . ]; Cleanthes [. . . ] Zenonis auditor, solem dominari et rerum potiri putat, »Zenon und fast alle übrigen Stoiker sahen noch den Äther als höchsten Gott an, Kleanthes, sein Schüler, meint dagegen, dass die Sonne Herrin sei und alles beherrsche«) und dann Popularität gewann (vgl. Plinius, Naturgeschichte 2,12 sol [. . . ] siderum [. . . ] caelique rector. Hunc esse mundi totius animum ac planius mentem [. . . ] credere decet, »die Sonne ist Lenkerin der Gestirne und des Himmels; man muss sie für die Seele und geradezu den Geist der Welt halten«). Das gilt natürlich a fortiori für den Sympathisanten einer henotheistischen Sonnenreligion, als welchen M. sich in Saturnalien 1,17–24 zeigt (vgl. Syska 1993, 96–209), mag diese Sympathie auch eher historisch als religiös motiviert sein, wie Cameron 2011, 265–272 sagt. 285 Temperatio [. . . ] temperat: Spiel mit pragmatischen Bedeutungen des Stammes temp- »einteilen, ordnen«: »Ordnungsprinzip« [. . . ] »temperieren«. 286 2,7, vgl. schon 1,15,7. 287 Zur Doxographie zum Thema Größe der Sonne s. Mansfeld/Runia Bd. 2.1, 534– 546. Die grundlegende Idee, die Zeit, die der Mond bei seiner Verfinsterung zum vollständigen Eintauchen in den Erdschatten benötigt, mit der Zeit zu vergleichen, die er zum Durchlaufen des Erdschattens benötigt, geht tatsächlich auf Aristarch zurück und wird ausführlich beschrieben bei Kleomedes S. 53 Todd; dazu vgl. Kidd Bd. 2, 1988, 443–454. Die Zuschreibung der 27 fachen Größe an Eratosthenes findet sich nur bei M. Die Angabe »sehr viel größer« (multo multoque sae-

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pius) zu Poseidonios nimmt offenbar das zugrundeliegende griech. murioplàsioc nicht als Maßangabe, sondern als Hyperbel (Mras 263); es ist überliefert bei Kleomedes S. 53 Todd: »Poseidonios nimmt an, dass der ›Kreis‹ der Sonne (ôliakÏc k‘kloc) zehntausendmal größer als der ›Kreis‹ der Erde (g®c k‘kloc) ist«. Nach Kidd Bd. 2, 1988, 453 f. schätzte aber Poseidonius den Sonnendurchmesser auf das 37,5 fache des Erddurchmessers. Also muss der ôliakÏc k‘kloc, dem der Wert »zehntausendmal größer« zugeschrieben wird, nicht der Umfang, sondern die Umlaufbahn der Sonne sein, wogegen g®c k‘kloc der Erdumfang ist (die Erde hat ja im geozentrischen System keine Umlaufbahn), was bei M. bzw. seiner unmittelbaren Quelle zu Missverständnissen führte. Eratosthenes kam auf einen Erdumfang von 250.000 Stadien, den er auf 252.000 korrigierte, um Teilbarkeit durch 60, das Maß seiner Kreiseinteilung (vgl. 2,6,2 mit Anm. 78), und 12 zu erreichen. Eratosthenes’ Erdvermessung ist beschrieben bei Kleomedes S. 35 Todd; vgl. dazu Gericke, Helmuth: Mathematik im Abendland: Von den römischen Feldmessern bis zu Descartes, Berlin 2013, 49 f.; zu Eratosthenes als Astronom und Geograph vgl. Geus, Klaus: Eratosthenes, in: Hübner, Wolfgang (Hg.): Geographie und verwandte Wissenschaften, Stuttgart 2000, 77–92. 288 M. stellt im Folgenden der von ihm in § 10 verworfenen Berechnungsmethode des Sonnendurchmessers eine dem »Genie der Ägypter« zu verdankende entgegen, über deren Quellen wir leider nichts wissen (Diskussion bei Flamant 1977, 440 f.). Das so gewonnene Ergebnis ist allerdings ein Desaster und weicht nicht nur vom tatsächlichen Wert (31 59), sondern auch von jedem anderen der in der Antike angenommenen Werte drastisch ab, die zwischen 28 48 (Kleomedes) und 36 (Martianus Capella) liegen, vgl. Stahl 1990, 253. M.s Methode ist folgende: (1) er setzt voraus den approximativen antiken Wert für die Kreiszahl p (§ 16) und den von Eratosthenes errechneten Erdumfang von 252000 Stadien (§ 20), aus dem sich ein Erddurchmesser von »rund 80.000 Stadien« ergibt (§ 20), (2) er postuliert sodann ohne weitere Beweisführung und aus unbekannter Quelle schöpfend (vgl. Anm. 291), dass (a) der Schattenkegel der Erde eine Länge vom 60 fachen des Erddurchmessers habe, (b) dieser Schattenkegel bis zur Sonnenbahn reiche (§ 18). So ergeben sich die Werte: Entfernung Erde –Sonne = 4.800.000, Durchmesser der Sonnenbahn = 9.600.000 und Länge der Sonnenbahn = 30.170.000 Stadien (§ 21– 24). (3) Auf dieser Basis wird nach dem »genialen ägyptischen Verfahren« der Sonnendurchmesser errechnet (§ 26–31), indem am Datum der Tagnachtgleiche mit Hilfe einer Sonnenuhr ermittelt wird, dass der Sonnendurchmesser 1/216 der Sonnenbahnlänge beträgt, folglich rund 140.000 Stadien, was »fast das Doppelte des Erddurchmessers« ist. »La méthode n’est évidemment pas bonne« bemerkt Flamant 1977, 437 und weist darauf hin, dass das »ägyptische Verfahren« völlig redundant ist: Da die Werte gegeben sind für a. Erddurchmesser, b. Entfernung Erde – Sonnenbahn, c. Radius der Sonnenbahn, war der Sonnendurchmesser x bereits aus diesen Werten nach Euklids Strahlensatz ohne weiteres zu errechnen (x = doppelter Erdurchmesser), vgl. die Demonstration anhand der vorliegenden Stelle bei Hilgert, Joachim/Hilgert, Ingrid: Mathematik: Ein Reiseführer, Hamburg 2012, 203 f.

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289 Anstelle von Armisen-Marchettis Ergänzung ut per eum possent modum 〈modum〉 solis agnoscere bietet sich an, mit der Handschrift X ut per id possent modum solis agnoscere zu lesen (per id per metiendum caelum); falsches eum statt id haben die Handschriften auch in 2,14,17. 290 Die Kreiszahl p wurde von Archimedes durch Näherungsverfahren mit Hilfe eines 96-Ecks errechnet, vgl. Folkerts, Menso: Art. »Archimedes« Nr. B 3, DNP 1 (1996), 997–1001. 291 M. führt keine Quelle für diese Behauptungen an. Stahl 1990, 172 Anm. 16 vermutet, dass er Ptolemaios’ Entfernungsangabe Erde – Mond (30-facher Erddurchmesser; genauer: 29,5) verdoppelt hat. Da Ptolemaios aber wie auch schon Aristarch und Hipparch für die Entfernung zur Sonne einen ungleich höheren Wert als M. annimmt, nämlich 605 Erddurchmesser (Aristarch: 180, Hipparch: 1245), bedeutet das, dass M. hier eine naturwissenschaftliche Berechnung aus philosophischer Perspektive »verbessert« hat, und zwar auf der Basis des von ihm später in 2,3,14 erhobenen arithmologischen Postulats, dass die Entfernung von der Erde zur Sonne doppelt so groß sein müsse wie die zum Mond. Doxographie zur Entfernung des Mondes von der Erde und der Sonne bei Mansfeld/Runia Bd. 2.1, 634–643, Übersicht zu den Distanzberechnungen bei Balss, Heinrich (Hg.): Antike Astronomie, München 1949, 238. 292 Vgl. o. Anm. 287 und 2,6,3. 293 Eine sog. skàfh nach der Typologie der Sonnenuhren bei Vitruv, 9,8,1, deren Erfindung dort Aristarch von Samos zugeschrieben wird. Modernere Varianten der Sonnenuhr sparten wegen der besseren Ablesbarkeit aus der Entfernung die nach Süden gerichtete und überflüssige Viertelkugel ein; ein solcher Typ ist beschrieben bei Cetius Faventius (3. Jh.), vgl. Brodersen, Kai: Sonnenuhren bei Cetius Faventius, Gymnasium 123, 2016, 75–84. Übersicht bei Schaldach, Karlheinz: Römische Sonnenuhren, Frankfurt am Main 2001, 29–52; Bestandsaufnahme der griechischen Sonnenuhren bei ders., Die antiken Sonnenuhren Griechenlands, Frankfurt a. M. 2006; Datenbank Ancient Sundials der »edition topoi«: DOI 10.17171/1-1. 294 Zur arithmologischen Attraktivität der Zahl 216 s. Bakhouche 1996, 235: Sie ist das Ergebnis von 8 × 27, der ersten beiden Kuben, aus denen und deren Teilern (2 und 4 bzw. 3 und 9) die Weltseele zusammengesetzt ist, vgl. Anm. 89. 295 Die geometrica ratio ist Satz 18 aus dem 12. Buch der Elemente Euklids, dass die Volumina von Kugeln im Verhältnis der 3. Potenz ihrer Durchmesser stehen; ist das Verhältnis der Durchmesser wie hier 2:1, dann ist das der Volumina 23 : 13 . Vgl. Stahl 1990, 173 Anm. 24 und Fröse, Norbert: Euklid und die Elemente, https://www.swisseduc.ch/mathematik/geometrie/euklid/docs/euklid.pdf, 2017, 28. 296 Vgl. 1,6,47 und 1,14,23; von der in 1,19,6 nach verbreiteter Auffassung verwendeten »semiheliozentrische« Theorie des Herakleides Pontikos findet sich hier keine Spur. 297 Vgl. Anm. 302. 298 In nahezu allen Handschriften ist ein solches überliefert, allerdings teils nach der »ägyptischen«, teils nach der »chaldäischen« Ordnung; vgl. Anhang, Abb. 2.

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299 Diese im Widerspruch zum zweiten Keplerschen Gesetz stehende Hypothese und ihre theologische Begründung wird von Geminos 1,19 auf die Pythagoräer zurückgeführt: »Es liegt nämlich der gesamten Astronomie die Annahme zugrunde, dass [. . . ] die Planeten sich erstens in gleichförmiger Geschwindigkeit, zweitens in kreisförmigen Bahnen, und drittens in einer der Bewegung des Weltalls entgegengesetzten Richtung bewegen. Die Pythagoräer waren die ersten, welche an derartige Untersuchungen herantraten, [. . . ] konnten sie doch für die göttlichen und ewigen Himmelskörper nicht eine derartige Unregelmäßigkeit annehmen, vermöge welcher sich dieselben bald schneller, bald langsamer bewegen« (Übersetzung K. Manitius 1898). Im Widerspruch zur vorliegenden Stelle spricht M. in 2,4,4 von unterschiedlichen Planetengeschwindigkeiten. 300 Zum Saturn s. 1,19,3, zum Mond 1,6,49 f. 301 Vgl. 1,15,8 ff. sowie Anm. 225 und Anm. 302. 302 Die nun folgende Erklärung hat wohl keinen historischen Wert (vgl. Flamant 1977, 445–451, Armisen-Marchetti 2011, Anm. 462 und 463). Zwar ist der Glaube an den ägyptischen Ursprung des Zodiakus weit verbreitet (z. B. Diodorus Siculus 1,98,2, Servius, In Vergilii Georgicon libros, 1,33), aber die Zwölfteilung kommt wohl aus chaldäischer Tradition, aus welcher sie bei Eudoxos auftaucht, und die eigentliche Vermessung in zwölf 30-Grad-Segmente ist, wie die Namen der Sternzeichen entgegen M.s naiver Annahme in § 22 verraten, genuin griechisch (zur Terminologie vgl. Le Bœuffle Bd. 1 1973, 264–286). Die § 12–20 beschriebene »ingeniöse« ägyptische Apparatur wird auch bei Kleomedes S. 50 Todd und bei Proklos, Hypotyposis astronomicarum positionum 4,73–77, beschrieben, dort aber jeweils im Zusammenhang mit der Berechnung des Sonnen- und Monddurchmessers; Proklos vergleicht dieses Verfahren mit der von M. zur Errechnung des Sonnendurchmessers favorisierten Sonnenuhr-Methode (1,20,26) und referiert für beide die Kritik des Ptolemaios (Syntaxis 5,14); vgl. dazu Kidd Bd. 2, 1988, 449 f. Zur historischen Einordnung dieser Verfahren vgl. Heath, Thomas: A History of Greek Mathematics, Bd. 2: From Aristarchus to Diophantus, [1921] Nachdr. New York 2013, 302 f. Die Methode taugt jedenfalls nicht zur Vermessung des Zodiakus, da dessen Zeichen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit aufgehen, was in der Antike bekannt war, vgl. die Ausführliche Darstellung bei Geminos 7.9–37; darin: »Alle Zeichen, welche aufgehen, wenn die Ekliptik steil steht, [. . . ] bewerkstelligen den Aufgang in längerer Zeit. [. . . ] Alle diejenigen aber, die aufgehen, wenn die Ekliptik schräg zum Horizont steht, gehen in kürzerer Zeit auf«; vgl. auch Proklos, In Platonis Timaeum Bd. 1, S. 96,17 f. Diehl: »(die Ägypter) erwiesen dem Widder vorzügliche Verehrung, [. . . ] weil er sich von allen (Sternbildern) mit der größten Geschwindigkeit bewegt«. 303 D. h.: die ersten sechs Zeichen wurden zur Frühjahrs-, die übrigen sechs zur Herbsttagnachtgleiche vermessen, vgl. Flamant 1977, 447. 304 Zur Bedeutung »Sternbild« für signum s. Anm. 214; zºdia sind wtl. »kleine Lebewesen« oder »Statuetten«, die Bedeutung Zodiakus ist seit Aristoteles, Metaphysik 1073b 20 belegt. Die lat. Prägung orbis signifer geht auf Cicero, Arati phaenomena fr. 34, 317–319 zurück: Zodiacum hunc Graeci vocitant, / nostrique Latini orbem signi-

Anmerkungen zu Buch 1

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ferum perhibebunt nomine vero: / nam gerit hic volvens bis sex ardentia signa, »Die Griechen nennen diesen Kreis Zodiakus, unsere lateinischen Landsleute sollen ihn mit zutreffenderem Begriff ›sternetragenden Kreis‹ benennen, denn er trägt bei seiner Umdrehung zwölf funkelnde Sternzeichen«. Später findet sich auch circulus signifer, vgl. Le Bœuffle Bd. 1 1973, 269 f., Bakhouche 1996, 129–135. 305 Mit dem »Beginn jenes Tages [. . . ]« ist das sog. Thema Mundi gemeint, die astronomische Konfiguration des Universums an seinem Beginn. Das medium caeli ist der Schnittpunkt des Meridians mit der Ekliptik (also nicht der höchste Punkt am Himmel und auch nicht der Kulminationspunkt des Widders, der ja im Herbst ist). Nach Regali 1983, 386 macht M. hier den Versuch, das griechische System mit dem ägyptischen in Einklang zu bringen. Das griechische legte den Jahresanfang auf die Frühjahrstagnachtgleiche, wo der Widder aufgeht, was ihn zum ersten Zeichen des Zodiakus macht, das ägyptische legt ihn auf die Sommersonnwende, wo der Widder (für einen Betrachter in südlicheren Breitengraden) im medium caeli steht, was ihn zum caput mundi macht. – Zum Thema Mundi bei anderen Autoren vgl. Schwarz, Wolfgang: Praecordia Mundi: Zur Grundlegung der Bedeutung des Zodiak bei Manilius. Hermes 100, 1972, 606–614. 306 Das ist das jeweilige »Tag-« und »Nacht-Haus«, der Planeten, das die fünf Planeten innehaben und in dem ihr Einfluss auch unter heutigen Astrologiegläubigen als besonders groß gilt. Es ist erstmals in Manilius, Astronomica dargestellt; M. kannte es vielleicht aus Porphyrios’ Referat des Numenios in De antro nympharum 22 (vgl. dazu den Kommentar bei Simonini 1986, 191–196). Den »Häusern« sind je zwei der zwölf Sternbilder zugeordnet, während die letzten beiden, nämlich Krebs und Löwe vom Mond bzw. der Sonne besetzt werden, die somit nur ein »Haus« haben (vgl. Firmicus Maternus, Matheseos libri octo 2,2, Servius zu Georgica 1,33 und M.s Saturnalien 1,12,10 f. sowie 1,21,16): Krebs Löwe Jungfrau Mond Sonne Merkur Wassermann Saturn

Waage Venus Fische Jupiter

Skorpion Mars Widder Mars

Schütze Jupiter Stier Venus

Steinbock Nachthaus Saturn Zwillinge Taghaus Merkur

307 In der vorstehenden Anordnung der Planeten ist das »ägyptische«, platonische System durch die Vertauschung von Venus und Merkur modifiziert; anders dagegen wieder in 2,3,14. 308 Diese Grenzziehung ist wohl nicht so zu verstehen, dass M. jetzt zur ersten der drei in 1,11,5–12 referierten Auffassungen, nämlich des von der aristotelischen Kosmologie beeinflussten Mittelplatonismus (vgl. Anm. 162), übergeht, denn sonst wäre das Sterben der Seele bei ihrem Abstieg ja nicht »skalierbar«, wie in 1,11,12 angenommen. Vielmehr bezeichnet gemäß 12,15 die Sphäre des Mondes das äußerste Stadium der Entfernung vom Göttlichen, das durch den Erwerb des futikÏn, die natura a divinis ultima bzw. die faex rerum divinarum, charakterisiert ist. – Zum Mond als »Erde des Äthers« s. 1,11,7.

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309 Zum göttlichen Ursprung der Seelen vgl. 1,14; das Sonnenstrahlen-Gleichnis findet sich bei Seneca, Epistulae morales 41,5: Quemadmodum radii solis contingunt quidem terram sed ibi sunt unde mittuntur, sic animus in hoc demissus, ut propius divina nossemus, conversatur quidem nobiscum sed haeret origini suae, »Wie die Strahlen der Sonne auf die Erde treffen, aber sich tatsächlich an ihrem Ausgangsort befinden, so ist unsere Seele zu uns herabgesandt, damit wir genauere Kenntnis vom Göttlichen erhielten; sie verkehrt mit uns, bleibt aber ihrem Ursprung verhaftet«; im Neuplatonismus u. a. bei Plotin, Enneade 4,8,4; s. Regali 1983, 389 und Armisen-Marchetti 2011, Anm. 476. 310 Zum Folgenden vgl. Flamant 1977, 463: 1,21,33–36 und 1,22 leisten keinen nennenswerten Beitrag zur Kosmologie des »Kommentars«, sondern beschränken sich auf eine Zusammenfassung der vorher entwickelten Struktur des Universums. 311 Vgl. 1,16,6 mit Anm. 236 und 1,16,10 mit Anm. 239. 312 Vgl. Geminos, 16,2 »Allen schweren Körpern ist der Zug nach dem Erdmittelpunkte eigen, weil der freie Fall der Körper nach der Mitte gerichtet ist« (Übersetzung v. K. Manitius 1898). Die durch Gewicht und Konsistenz bestimmte Hierarchie der vier Elemente, die im folgenden beschrieben wird (vgl. auch 1,6,29–32), ist in Abb. 2 im Anhang zwischen Erde und Planetensphären eingezeichnet; das Feuer ist dabei das Element, das sowohl in der sub- als in der supralunaren Sphäre, dort als Äther, vorkommt. 313 Ähnlich Martianus Capella 6,599 f. Zum Ursprung der Atmosphäre vgl. 2,4,7. 314 Vgl. die Beschreibung der Erdanziehungskraft bei Geminos, 16,2. 315 Zur Geschichte dieser Auffassung seit Aristoteles vgl. Fritscher, Bernhard: Art. »Meteorologie«, DNP 8 (2000), 88–93; zu den Klimazonen der Erde s. 2,7,9–21. 316 Die Argumentation wird in 2,5,25 f. im Zusammenhang mit den Antipoden wiederaufgenommen. Regali 1983, 391 sieht als möglichen Zielpunkt der nachfolgenden Polemik die Epikureer als Gegner der geozentrischen Theorie (denen gegenüber M. ja auch in 1,2 einen hervorstechend polemischen Ton anschlägt), und nicht wie Flamant 1977, 463 bestimmte christliche Exegeten, die gestützt auf eine wörtliche Auslegung von Genesis 1,1,7 f. die Existenz von Wasser jenseits des Himmels annahmen (Et fecit Deus firmamentum divisitque aquas, quae erant sub firmamento, ab his, quae erant super firmamentum. Et factum est ita. Vocavitque Deus firmamentum Caelum, »Und Gott schuf das Firmament und schied die Wasser, die unter dem Firmament waren von denen, die über ihm waren. Und so geschah es. Und Gott nannte das Firmament Himmel«); möglicherweise ist der polemische Bezugspunkt ein doppelter, denn auch bei der Diskussion der Erdbeschreibung des Krates in 2,5,22– 36 scheint die Kritik am epikureischen Standpunkt mit dem am christlichen einherzugehen. 317 Vgl. Abb. 3 im Anhang; zu den überlieferten Varianten vgl. Armisen-Marchetti 2011, Anm. 483. 318 Cicero, De re publica 6,20, kommentiert in 2,5.

Anmerkungen zu Buch 2

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Anmerkungen zu Buch 2 1 Das geschieht in 2,1–4,15; Kap. 1 bringt die mathematischen Prinzipien der Harmonielehre, die in Kap. 2 auf die Struktur der Weltseele zurückgeführt werden; Kap. 3,1–11 erbringt den Nachweis der Macht der Musik in verschiedenen Bereichen der Welt; Kap. 3,12–15 und Kap. 4 beschreiben die Sphärenharmonie. Überblick zur »Musiktheorie« des M. bei Wille 1963, 623–630; zum pythagoreischen Hintergrund der antiken Musiktheorie siehe die Beiträge von Werner Schulze und Gregor Staab in Sorgner, Stefan Lorenz (Hg.): Musik in der antiken Philosophie, Würzburg 2010, 81–86 bzw. 103–118; zum neuplatonischen Hintergrund vgl. Heilmann, Anja: Boethius, in ebd. 311–329 und Heilmann, Anja: Boethius’ Musiktheorie und das Quadrivium: Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von De institutione musica, Göttingen 2007, 68–87. 2 M. verwendet disiunctus in seinen Zitaten (vgl. 2,2,21; 2,3,12 und 16; ebenso Favionius Eulogius Kap. 25 und 26), während das konkurrierende coniunctus der direkten Überlieferung angehört. Beides sind musiktheoretische Begriffe, die bei der Unterscheidung der beiden Arten von Tetrachord-Paaren Verwendung finden, den »verbundenen« (coniunctum, d–a–e, mit gemeinsamem Grenzton a) und den (durch ein Ganztonintervall) »getrennten« (disiunctum, e–h; a–e; jeweils von oben nach unten), vgl. Vitruv 5,4,7: (tetrachordum) tertium coniunctum, quod sunhmmËnwn dicitur, quartum disiunctum, quod diezeugmËnwn nominatur, »das dritte Tetrachord [von insgesamt fünf Arten] ist das verbundene, das auf Griechisch sunhmmËnwn genannt wird, das vierte das getrennte, auf Griechisch diezeugmËnwn«; vgl. Neubecker 1977, 101 f. Disiunctus hebt also auf die Distanz zwischen den intervallbildenden Tönen, coniunctus auf die von ihnen erzeugte Harmonie ab. Vgl. die Diskussion bei Sicherl, Martin: De Somnii Scipionis textu constituendo, Rheinisches Museum für Philologie 102 (1959), 353–358, der coniunctus für richtig hält, sowie bei Caldini Montanari 2002, 340 und 500–508 (entweder Abhängigkeit M.s von Favonius Eulogius oder Existenz des falschen disiunctus bereits in einer gemeinsamen Quelle). 3 M. versteht den Ausdruck eadem vis est duorum, wie 2,4,9 zeigt, so, dass Merkur und Venus es sind, welche dieselbe vis haben und damit identische Intervalle bilden. 4 Die unmittelbare Quelle des folgenden »musiktheoretischen« Abrisses ist der Timaios-Kommentar des Porphyrios (vgl. 2,3,15). M. bleibt im Elementaren; eine elaboriertere Herleitung der musikalischen Harmonien aus der Sphärenharmonie findet sich lange vor ihm bei Theon von Smyrna (S. 139,1–142,6 Hiller 1878). Die Theorie der Sphärenharmonie basiert auf der Annahme, dass Bewegung mit Klang einhergeht und dieser Klang in einem bestimmten Verhältnis zum Umfang der Planetensphären stehen muss. Aristoteles kritisiert die Theorie in De caelo 2,9 290b 13–29 mit den Einwänden, dass das laute Geräusch der Sphärenharmonie zerstörerische Wirkung haben müsste und dass die Planeten keine geräuschproduzierende Reibung erzeugten, sondern ohne ihr Zutun von ihren Sphären bewegt würden (vgl. Jori, Alberto: Aristoteles über den Himmel, Dt. Aristoteles-Gesamtausgabe Bd. 12, 2009, 450–452).

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5 Die Regelhaftigkeit des Kosmos ist stoisches Dogma, vgl. Cicero, De natura deorum 2,43 und 56; s. Regali 1983 z. St. Es folgt ein Syllogismus zum Erweis der Notwendigkeit und des Wohlklangs der Sphärenharmonie: (1) Perkussion der Luft erzeugt Klang; (2) Wohlklang setzt geregelte Intervalle voraus; (3) Am Himmel ist nichts ungeregelt; (4) Folglich existiert die Sphärenharmonie und sie ist wohlklingend. 6 Der früheste Beleg für die folgende Legende Pythagoras in der Schmiede findet sich in der Harmonielehre des Nikomachos von Gerasa ( Jan 1895, S. 245–248); Nikomachos’ Version wird im darauffolgenden Jahrhundert nahezu wörtlich in Jamblichs Pythagorasvita übernommen und danach oft wiederholt, so von Gaudentios ( Jan 1895, S. 340), Boethius, De Musica 1,10 und Isidor, Etymologien 3,16,1, vgl. Burkert, Walter: Weisheit und Wissenschaft, Nürnberg 1962, 354 und Huffman, Carl: Art. »Pythagoreanism«, SEP Kap. 4.4, 2014; Übersicht über die durch Boethius ins Mittelalter tradierte weitere Überlieferung bei Oppermann, Hans: Eine Pythagoraslegende, Bonner Jahrbücher 130 (1925), 284–301. Der Bericht ist physikalisch unhaltbar, wie schon 1634 in Marin Mersennes Questions harmoniques nachgewiesen wurde, vgl. Burkert a. O. 354 f. 7 Die elementare Harmonielehre, die M. im Folgenden gibt, ist die Grundlage für die im Weiteren entwickelte Vorstellung, dass die Struktur der Weltseele und die des Kosmos in mathematischer Harmonie zueinander stehen. Nach pythagoreischer Tradition, der M. letztlich folgt, basiert die kosmische Harmonie auf den ersten vier Zahlen, der heiligen tetrakt‘c der Pythagoreer (vgl. Theon v. Smyrna S. 58 Hiller 1878 und oben 1,6,41): 1

: Oktave

2

: Quinte Doppeloktave

3

: Quarte

4

Die Differenz zwischen Quinte und Quarte definiert den Ganzton tÏnoc (3 : 2 vs. 4 : 3 = 9 :8 ). M. nennt hier in § 14 zunächst die Intervallbegriffe, die sich auf die mathematischen Relationen beziehen: Epitrit = 4 : 3, Hemiolius = 3 : 2, Duplar = 2 : 1, Triplar = 3 : 1, Quadruplar = 4 : 1 und Epogdous = 9 : 8; ab § 15 nennt er die, die sich auf den Tonabstand beziehen (diÄ tessàrwn, »über vier Saiten reichend«, etc.), die auf den Peripatetiker Aristoxenos von Tarent (4. Jh. v. Chr.) zurückgehen; vgl. Vetter, Eddie: Art. »Musik I (Musiktheorie)«, RAC 25 (2013), 220–247. 8 Der Halbton, seit Euklid Leimma genannt (s. § 23), wird durch die Differenz zwischen der reinen Quarte und der pythagoreischen großen Terz, dem Ditonus, bestimmt; sein Frequenzverhältnis ist der Quotient der Relationen 4 : 3 der Quarte 256 und 81:64 des Ditonus: 43 : 81 64 = 243 .; ausführliche Behandlung bei Theon v. Smyrna, S. 66,19–70,6 Hiller 1878; vgl. Moser, Hans Joachim: Art. »Diatonik, Chromatik und Enharmonik«, Die Musik in Geschichte und Gegenwart 13 (1954), 404–406. 9 Nach Armisen-Marchetti 2011 Bd. 2, Anm. 25 haben alle Handschriften hier griech. ka–, offenbar ein Flüchtigkeitsfehler M.s, der an dieser Stelle Porphyrios’ TimaiosKommentar benutzt und das inmitten der übernommenen Termini stehende ka– mit diesen abschreibt.

Anmerkungen zu Buch 2

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10 Auch hier hat M. das ka– aus der griechischen Vorlage übernommen und damit den Sinn verfälscht. Es ist nicht zu verstehen »viermal eine Oktave plus je eine Quinte« (d. h. vier Duodezimen), sondern »vier Oktaven plus eine Quinte«; zu ergänzen wäre aus Theon von Smyrna (Hiller 1878, S. 63–65) noch »plus ein tÏnoc«, denn nur so ergibt die Addition der numerischen Werte, welche diese Intervalle definieren (Aufschlüsselung bei Flamant 1977, 360), die Zahl 27, die größte der für die Weltseele konstitutiven Zahlen, vgl. 1,6,2 f. und Armisen-Marchetti 2011 Bd. 2, Anm. 27. Dieser Wert erzwingt dann die irreal kleinen Werte zu Umfang von Stimme und Gehör (aber auch die Sphärenharmonie hätte nur etwa den halben Tonumfang eines modernen Klaviers). 11 iugabilis competentia wie in 1,6,24; 1,6,31; 1,19,21 und 2,2,18. 12 Timaios 35a–36b, vgl. u. § 15. 13 Das Folgende rekapituliert 1,5,5–13. 14 Vgl. 1,16,10. 15 Zu den »figurierten Zahlen« s. 1,5,2 mit Anm. 34; die Monade ist keine Zahl s. 1,6,7 mit Anm. 57. 16 Vgl. 1,5,3 mit Anm. 35 und 1,5,15. 17 Vgl. 1,6,7. 18 Vgl. 1,6,2–3 und 1,6,46. 19 Timaios 35b–36a. 20 Nämlich von der vom Demiurgen hergestellten Seelensubstanz, die der Seele eine Mittelstellung zwischen der intelligiblen und der körperlichen Welt verleiht: »Der Demiurg stellt zwischen dem Bereich des Körperlichen und der geistigen Welt aus Zwischenformen wie Identität, Sein und Verschiedenheit einen ›Seelenstoff‹ für die Weltseele her [. . . ]. Dieser Stoff wird zu einem langen Band geformt und in Intervalle unterteilt.« (Erler, Michael: Platon, in: Ueberweg, Friedrich/Flashar, Hellmut (Hgg.): Die Philosophie der Antike Bd. 2/2, Basel 2007, 386). Zur Interpretation dieser Timaios-Stelle s. Dörrie/Baltes Bd. 4, 1996, 267–269. 21 M. verwendet in § 17 offenbar das »lineare« Modell zur Beschreibung der Weltseele, und nicht wie in 1,6,46 das Labdoma, vgl. dort Anm. 89 (Flamant 1977, 365, anders Regali 1983 z. St.). 22 Der Rest des Satzes ist laut Armisen-Marchetti 2011 Bd. 2, Anm. 44 Glosse. 23 10, 617b: »Oben auf jedem der Kreise steht eine Sirene, die sich mitdreht und einen einzigen Ton von sich gibt. Aus allen acht klingt eine einzige Symphonie zusammen« (übersetzt v. Karl Vretska). Die Etymologie von Se–rhn ist unklar; die hier gebotene beruht auf der lakonischen Form siƒ »dem Gott« und dem Part. e“rousa zu e“rw »sprechen«; vorausgesetzt ist sie durch jeÿa e“rousi, »sie künden das Göttliche«, bei Plutarch De animae procreatione in Timaeo 1029c 8 unter Bezug auf die oben zitierte Platonstelle, vgl. Regali 1983 z. St. 24 Zur Bedeutung von theologi vgl. 1,10,16 mit Anm. 157. M.s implizite Gleichsetzung von Musen und Sirenen entspricht nicht dem Mythos, der vielmehr von einer Rivalität zwischen den göttlichen Musen und den halbbarbarischen Sirenen weiß (Pausanias 9,34,3; bei Boethius, De Consolatione Philosophiae 1, p. 1 zum Gegensatz zwi-

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schen Sirenen = poetischen Musen und philosophischen Musen umgedeutet); die Popularität dieser Tradition wird durch bildliche Darstellungen wie die des Kampfs zwischen Musen und Sirenen auf dem bekannten Musensarkophag im Metropolitan Museum New York belegt (vgl. Hofstetter, Eva: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae Bd. 8 Suppl. Nr. 119a, 1102). Zu griech. oŒranÏc »Himmel«. Regalis Übersetzung la nona sfera è la più grande scheint unmöglich: Eine neunte Sphäre gibt es nicht (die 1,22,1 als neunte Sphäre bezeichnete Erde kommt wegen ihrer Unbeweglichkeit hier natürlich nicht als solche in Betracht). Mit Armisen-Marchetti 2011 Bd. 2, Anm. 50 ist vielmehr nonam musam zu verstehen: Kalliope repräsentiert die Harmonie, die aus den von den anderen acht Musen repräsentierten Sphärentönen entsteht (s. § 1 unam maximam concinentiam), wofür sie als Mutter des Orpheus ja auch qualifiziert ist. Hesiod, Theogonie 79. Vgl. 1,20,1–8. Die siebensaitige Leier Apollons, des Sonnengottes, repräsentiert die sieben Planetensphären in Saturnalien 1,19,15. Die Camenen, ursprünglich Quellnymphen, wurden in der altlateinischen Dichtung mit den Musen identifiziert. M.s Etymologie ist eine Verballhornung einer letztlich auf Varro zurückgehenden Tradition, der im Rahmen seiner Behandlung des Rhotazismus in Lingua Latina 7,26 die Ableitung Casmenae (aus Ennius) > Carmenae > Camenae »unter Abschleifung des r« (R extrito) vorschlägt und daraus wiederum (6,75) canere ableitet »unter Wandel des m zum n« (canere [. . . ] ex Camena permutato pro M N). Tatsächlich liegt Vereinfachung -sm- > -m- vor, wie in cosmis > c¯omis, s. Meiser, Gerhard: Historische Laut- und Formenlehre der lateinischen Sprache, Darmstadt 1998, 112; zur sekundären Kürzung der Ersatzdehnung C¯am¯ena > Cam¯ena s. Walde/Hofmann s. v.; die weitere Etymologie ist unklar, vgl. de Melo, Wolfgang: Varro, De Lingua Latina, Bd. 2 (Kommentar), Oxford i.E., z. St. Es folgt eine Reihe von Beispielen, welche in traditioneller Weise die Macht und Bedeutung der Musik illustrieren. Quellen und Parallelen sind zusammengestellt bei Wille 1963, 627 f. Die genaueste Parallele zur Auffassung der Strophik des Kulthymnos als Mimesis der Gestirnsbewegungen findet sich bei Marius Victorinus, Grammatici Latini 6,60,5–14: concentum mundi cursumque imitans chorus canebat dextrorsumque primo tripudiando ibat, quia caelum dextrorsum ab ortu ad occasum volvitur; dehinc sinistrorsum redibat, quia [. . . ] erratica sidera [. . . ] sinistrorsum ab occasu ad ortum feruntur, »der Chor sang in Nachahmung der Sphärenharmonie und der Bewegungen des Alls und bewegte sich im Tanzschritt erst nach rechts, weil sich der Himmel nach rechts von Ost nach West dreht; darauf kehrte er nach links zurück, weil die Planeten nach links von West nach Ost ziehen«. Die Metapher vom »Chortanz der Sterne« findet sich u. a. im Timaios 40c. Vgl. Wille 1963, 627. Zu den Formen der Trauermusik vgl. Wille 1963, 65–69. Ein Stück Mythenrationalisierung, die in der griechischen Literatur eine lange Tradition hat. Material bei Wipprecht, Friedrich: Zur Entwicklung der rationalistischen

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Mythendeutung bei den Griechen, Tübingen 1902–1908; vgl. Hawes, Greta: Rationalizing Myth in Antiquity, Oxford 2014, 1–36. Zu Orpheus und Amphion in Mythos und Literatur s. Wille 1963, 242–553. Das Zitat ist aus Vergil, Aeneis 4,244. Zur Geschichte der Ethoslehre in der Musik s. Neubecker 1977, 127–145: Jamblich berichtet in seiner Pythagorasvita (64 f.), dass Pythagoras die Kunst beherrscht habe, durch richtige Mischung von Melodien der drei Tongeschlechter jeden Affekt zu heilen (129 f.). Die ethische Wirkung der Musik beruht nach der Auffassung der Musiktheoretiker darauf, dass sie eine Bewegung sei und Seelenbewegungen nachbilden könne und bei ihrem Anhören dieselben Bewegungen (Gefühlszustände, Leidenschaften) in der Seele entstünden. Ziel ist die Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts (‚panÏrjwsic ¢jwn) oder die Katharsis. – Zur magischen Konnotation von praecinere (vgl. Tibull 1,5,12) s. Regali 1983 z. St. Vgl. z. B. Plinius, Naturgeschichte 8,114: (cervi) mulcentur fistula pastorali, »Hirsche lassen sich von der Hirtenflöte betören«, Martial 14,216: cantu fallitur ales, »Vögel lassen sich mit Gesang übertölpeln«. Nachtigall und Schwan sind die prototypischen Singvögel; das widerspiegeln auch die Etymologisierungen ihrer Namen, vgl. Isidor, Etymologien 12,7,18: cygnus autem a canendo est appellatus, »Der Schwan ist nach seinem Gesang benannt«, 12,7,37: luscinia avis inde nomen sumpsit, quia cantu suo significare solet diei surgentis exortum, quasi lucinia, »die Nachtigall hat ihren Namen daher, dass sie mit ihrem Gesang den Tagesanbruch anzuzeigen pflegt, sozusagen als Lichtbringerin« (vgl. Neri 2007, Anm. 53). – § 10 schließt das Kapitel Musik mit rhetorischen Exempeln ab, die zusammen mit der Eingangsfrage ein Enthymem der Struktur »wenn schon x, dann um so mehr y« bilden. Zum Exempel als Subklasse der technischen Beweismittel neben Syllogismus und Enthymem vgl. Klein, Josef: Art. »Exemplum«, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1996, Bd. 3, 66–70. Die kulturhistorische Bedeutsamkeit einer Disziplin hervorzuheben, ist ein Topos der Artes-Literatur; ein bekanntes Beispiel ist der kulturstiftende Anspruch der Beredsamkeit in Ciceros De inventione 1,2. Vergil, Aeneis 6,728 f. Die Evidenz zu Archimedes’ Verfahren ist schütter (vgl. Mansfeld/Runia Bd. 3, 468– 470), da es aber auf die Ablehnung der Platoniker stößt, weil es sich nicht auf die numerische Struktur der Weltseele (Potenzen von zwei und drei) stützt, werden musikalische Erwägungen keine Rolle gespielt haben (vgl. Flamant 1977, 370). Zu den Planetarien des Archimedes vgl. Cicero, De re publica 1,21 f. sowie Wright, Michael T.: Archimedes, Astronomy, and the Planetarium, in: Rorres, Chris (Hg.): Archimedes in the 21th Century, Basel 2017, 125–142. Im Gegensatz zu denen des Archimedes beruhen die von M. herangezogenen »Berechnungen« (im Anschluss an Porphyrios, s. § 15) auf den neuplatonischen Postulaten, dass (1) die Entfernungen zwischen den Planeten die numerische Struktur der Weltseele widerspiegeln müssen, da der Kosmos ein sensibles Abbild der intelligiblen Weltseele sei, und (2) dass die Planeten die Sphärenharmonie hervorbringen müssen. Dabei ergibt sich das Problem, dass die lineare Zahlenreihe der Weltseele (1-2-3-4-9-8-27) nicht direkt auf die Planetenfolge abbildbar ist, denn sonst

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bekäme Mars einen höheren Distanzwert als der ausweislich seiner höhere Umlaufzeit weiter außen stehende Jupiter (gem. 1,19,3 ist das Verhältnis 2 : 12 Jahre). Calcidius Kap. 96 löst das Problem auf Kosten eines kühnen Eingriffs in die Struktur der Weltseele, nämlich durch Umstellung von neun und acht, womit der traditionelle Umfang der Sphärenharmonie von vier Oktaven, einer Quinte und eines Ganztones (vgl. Theon v. Smyrna S. 63–65 Hiller; dort auf Platon selbst zurückgeführt) gewahrt bleibt, den, gekürzt um den Ganzton, M. in 2,1,14 auch selbst ansetzt: Mond : Sonne = Oktave (1 : 2), Sonne : Venus = Quinte (2 : 3), Venus : Merkur = Quarte (3 : 4), Merkur : Mars = Oktave (4 : 8), Mars : Jupiter = Ganzton (8 : 9), Jupiter : Saturn = Oktave + Quinte (9 : 27), vgl. Bakhouche 2011, 701. M. dagegen bewahrt die Zahlenfolge der Weltseele und nimmt dafür einen unorthodoxen Umfang der Sphärenharmonie in Kauf, nämlich 15 Oktaven plus drei Ganztöne (Flamant 1977, 368–378.). Basiswert 1 seiner Rechnung ist die Entfernung der Erde zum Mond; dann wird die konstitutive Zahlenreihe der Weltseele (1-2-3-4-9-8-27) mit dem Entfernungswert des jeweils letztgenannten Planeten (in der ägyptischen Anordnung) multipliziert, also Erde zu: Mond = 1, Sonne = 2 × 1, Venus = 3 × 2, Merkur = 4 × 6, Mars = 9 × 24, Jupiter = 8 × 216, Saturn = 27 × 1728. Wenn man M.s Werte so kürzt, dass die konstitutive Zahlenreihe der Weltseele sichtbar wird, ergeben sich folgende Intervalle (vgl. Armisen-Marchetti Anm. 70): Mond : Sonne = 1 : 2 (Oktave), Sonne : Venus = 1 : 3 (Oktave + Quinte), Venus : Merkur = 1 : 4 (Doppeloktave), Merkur : Mars = 1 : 9 (3 Oktaven + 1 Ton), Mars : Jupiter = 1 : 8 (3 Oktaven), Jupiter : Saturn = 1 : 27 (4 Oktaven + Quinte + 1 Ton). M.s relative Werte lassen sich in absolute umrechnen, da er ja im Anschluss an Ptolemaios als Basiswert 1 den dreißigfachen Erddurchmesser von 80.000 Stadien ansetzt (vgl. Anm. 288 und 291 zu 1,20,11): Entfernung Erde zu Mond Sonne Venus Merkur Mars Jupiter Saturn

relativer Wert 1 2×1 3×2 4×6 9 × 24 8 × 216 27 × 1728

absoluter Wert in Stadien 2.400.000 4.800.000 14.400.000 57.600.000 518.400.000 4.147.200.000 111.974.400.000

Damit wirft M. aber die von ihm in 1,19 (vgl. auch 2,4,9) als empirisch gesichert präsentierte enge Nachbarschaft von Venus und Merkur über Bord und unterminiert folglich sein Konzept der Sphärenharmonie, das die Isodromie der beiden Planeten voraussetzt, weil sie zusammen einen gemeinsamen Ton hervorbringen (2,4,9). 39 Das ist die einzige Erwähnung des Timaios-Kommentars des Porphyrios, obwohl er eine der, wo nicht die Hauptquelle des M. ist; die Erklärung liegt, wie Anm. 1 zu 1,1,1 gesagt, darin, dass M. die Archegeten einer Auffassung und nicht deren Nachfolger zitiert. 40 Nach Sodano, Angelo: Per un’edizione critica dei frammenti del commento di Porfirio al Timeo di Platone, Atti della Accademia Pontaniana 1962–1963, 108 f. ist et lim-

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mate »und vom Leimma« (vgl. Anm. 8) suspekt, weil es nicht wie die anderen Intervallbezeichnungen im Plural steht, und ist als Glosse zu hemitoniis zu betrachten. Nun findet sich der Singular limmate auch in 2,2,20 (hemioliis, epitritis et epogdois et limmate intervalla hiantia supplesse); aussagekräftig ist aber, dass dort sowie in 2,2,22 (hemioliis [. . . ] epitritis et epogdois hemitoniisque distincta sunt) der Halbton jeweils nur einfach bezeichnet wird und et limmate im Gegensatz zu den beiden anderen Stellen nach dem Verb gleichsam nachgetragen wird. So dürfte et limmate aus 2,2,20 eingeschwärzt sein. Die Diskrepanz zu 1,21,6 (und 1,14,27), wo das weit verbreitete Dogma referiert wird, dass alle Planeten sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegen, wird bereits in den mittelalterlichen Kommentaren, und zwar zuerst von Wilhelm v. Conches (ca. 1080– 1154), bemerkt, der es mit der Unterscheidung zwischen Winkelgeschwindigkeit (identisch für alle Planeten) und absoluter Geschwindigkeit (je weiter vom Zentrum entfernt, desto höher) zu lösen versucht (vgl. Peden, Alison: Music in Medieval Commentaries on Macrobius, in: Hentschel, Frank (Hg.): Musik – und die Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaften im Mittelalter, Leiden 1998, 155 f.). Die Lösung scheitert an M.s expliziter Feststellung in 1,21,6: »Es ist eine Tatsache, dass keiner von ihnen schneller oder langsamer als der andere zieht, sondern dass [. . . ] die beträchtlichen Unterschiede in der Umlaufzeit alleine auf der unterschiedlichen Länge der zurückgelegten Strecke beruhen«. Offenbar beruht die Diskrepanz darauf, dass in Buch eins die Frage aus astronomischer, hier dagegen aus metaphysischer Perspektive behandelt wird (so Armisen-Marchetti 2011 Bd. 2, Anm. 74). Armisen-Marchetti (Bd. 2, Anm. 75) weist darauf hin, dass M. hier eine Hilfsgröße einführt, um die ansonsten unmotivierte abnehmende Geschwindigkeit der Sphären von außen nach innen zu begründen, nämlich einen von der Weltseele ausgehenden Luftstrom; Quelle dürfte auch hier Porphyrios’ Timaios-Kommentar sein. Tatsächlich verhält sich beides umgekehrt. Der Irrtum reicht in die frühe pythagoreische Tradition (Archytas) zurück und wird durch Porphyrios’ Kommentar zur Harmonielehre des Ptolemaios an M. tradiert. Ebenso falsch ist die im Folgenden behauptete Korrelation von Intensität des Luftstroms und Tonhöhe, vgl. Regali 1983 z. St. Vgl. 1,22,7. Cicero, De re publica 6,17. Der folgende Text rekapituliert die Ausführungen in Buch eins zur Fixsternsphäre, zu den retrograden Planentenbewegungen und der Unbewegtheit der Erde (1,17,6–17; 1,18; 1,22,1–3). Vernachlässigt wird dabei der Unterschied zwischen den fünf Planeten und den beiden Luminaren Sonne und Mond, die ja nicht vagae sind. Cicero, De re publica 6,18. M. bezieht sich im Anschluss an Cicero auf die jüngere, platonische Version der Sphärenharmonie, welche nicht nur die Planeten, sondern auch die Fixsternsphäre einbezieht, wogegen sich ältere Versionen nur auf die sieben Planeten bezogen. Musikalisch entspricht der alten Version ein Heptachord, der jüngeren ein Oktachord aus zwei »getrennten« (vgl. o. Anm. 2) Tetrachorden.

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Nach Büchner, Karl: Cicero de re publica, Heidelberg 1984 z. St. bezeichnet Ciceros septem distinctos intervallis sonos die sieben unterschiedlichen Töne der durch die beiden Tetrachorde gebildeten Oktave; die Oktavtöne selbst sind konsonant und rufen den Eindruck eines Tones hervor (gemäß Ptolemaios’ Harmonielehre 1,7). Das, und nicht die Tonhöhe, meint eadem vis duorum; konsonant sind in diesem Modell somit die durch die Grenztöne der Tetrachorde repräsentierten Sphären des Monds und des Himmels. M. versteht Cicero anders: Die Isodromie von Venus und Merkur, die jetzt im Anschluss an 1,19 und im Gegensatz zu 2,3,14 wieder angenommen wird, führt im Sinne seiner »Perkussionstheorie«, verstanden als Identität von Geschwindigkeit und Perkussionskraft, zur Annahme gleicher Tonhöhe der beiden Planeten; offen bleibt dabei, warum trotz der Isodromie beider mit der Sonne diese nicht auch denselben Ton erzeugt (vgl. Regali 1983 z. St.). – Eine radikale Änderung erfuhr das platonisch-ciceronianische System durch Nikomachos von Gerasa ( Jan 1895, S. 241; ihm folgt Boethius, De institutione musica 1,27). Er beschränkte es wieder auf die sieben Planeten und nahm die umgekehrte Abfolge der Tonhöhen an – der Mond erzeugt den höchsten, Saturn den tiefsten Ton. Die Sphärenharmonie definiert er als einen Heptachord aus zwei »verschränkten« (vgl. o. Anm. 2) Tetrachorden, deren gemeinsamer Grenzton die Sphäre der Sonne in der Mitte des Alls (vgl. 1,19,14) repräsentiert (vgl. Vetter, Eddie: Art. »Musik I (Musiktheorie)«, RAC 25 (2013), 228–230). Oben 1,6; das Zitat in 1,6,34. Gemeint sind die Töne eines Systems aus mindestens zwei Tetrachorden; die eines »verbundenen« (vgl. o. Anm. 2) Tetrachords etwa lauten (von oben nach unten) Nete (d), Paranete (c), Paramese (h), Mese (a), Lichanos (g), Parhypate (f), Hypate (e). Diese Namen stehen umgekehrt zur Tonhöhe; Die übliche Erklärung ist, dass sie die Lage der Saiten auf der Lyra bezeichnen, wo die tiefste Saite die »oberste« ist, vgl. Neubecker 1977, 101–103. Behandelt wird diese Frage in Kap. 22 des Kommentars des Favonius Eulogius: Ton = Buchstabe, Intervall = Silbe, Wort = Tetrachord(kombinationen). Die drei Tongeschlechter diatonisch, chromatisch und enharmonisch unterscheiden sich nach Vitruvs (5,4,3) auf Aristoxenos beruhender Darstellung durch ihre Binnenintervalle. Bei Zugrundelegung der dorischen Tonart umfasst das diatonische Tetrachord die Töne a–g–f–e (Halbton am Ende), das chromatische a–fis–f–e (Anderthalbton am Beginn) und das enharmonische a–f–e+ –e (Doppelganzton am Beginn, Viertelton am Ende), s. Neubecker 1977, 100 f. Die Beurteilung der Tongeschlechter ist bei Aristoxenos und Vitruv ästhetisch (gravis bzw. suavis bzw. naturalis), bei M. in neuplatonischer Tradition (Porphyrios?) dagegen ethisch, vgl. Armisen-Marchetti 2011 Bd. 2, Anm. 87. Das ist eine Paraphrase von Cicero, De re publica 6,19, einer vorher von M. nicht zitierten Stelle. Das Argument der »Enge der menschlichen Ohren« stammt wohl aus neuplatonischer Tradition, denn eine Variante davon findet sich in Porphyrios’ Pythagorasvita (65, ähnlich in der des Jamblich, 30), wo gesagt wird, dass Pythagoras selbst die Sphärenharmonie hören konnte, während die anderen Menschen »wegen

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der Kleinheit ihrer Natur« nicht dazu imstande seien. Kritik an dieser Art von Argumentation bei Aristoteles, De caelo 2,9 290b 12–29. Der lange, bis 2,9 reichende Abschnitt zur Geographie ist der erste Teil der Beweisführung zur Beschränktheit des Ruhms und bringt deren geographische Ursachen, während Kap. 10 die zeitlichen benennt. Wie schon andernorts gewinnt auch hier die Darstellung eine Eigendynamik, die durch den unmittelbaren Kommentierungszweck nicht motiviert ist, so bei der Diskussion eines Vergilproblems in 2,8 und der Erklärung der Gezeiten in 2,9,3. – Gliederung: 5,4–7 Einleitung, 5,8–15 die Klimazonen, 5,16 f. die beiden temperierten Zonen, 5,18–21 Himmelsrichtungen und Winde, 5,22–36 die bewohnten Zonen und die Theorie der vier bewohnten Weltteile, 7,1–21 die Himmelszonen, 8,1–8 ein damit verknüpftes Vergilproblem, 9,1–10 der Ozean. Die direkte Überlieferung hat angustata, vgl. dazu Caldini Montanari 2002, 519. Zum Himmel vgl. 1,14,21–1,17,17; zu den Planetensphären 1,18,1–1,21,27, zur Sphärenharmonie 2,1,1–2,4,15. Zur brevitas als Stiltugend vgl. u. 2,12,7 mit Anm. 121. Vgl. Anm. 58. § 22–36. Unten Kap. 7 und 8. Im Folgenden gibt M. eine Erdbeschreibung in der Tradition des Krates von Mallos, des ersten Leiters der Bibliothek von Pergamon, der um 167 v. Chr. als Gesandter nach Rom kam und seine Lehre dort durch Vorlesungen bekannt machte. Diese Erdbeschreibung gehört zum »mathematischen« Zweig der antiken Geographie, der im Gegensatz zum deskriptiv-empirischen steht. Ersterer ist neben Krates mit Namen wie Eratosthenes (ihrem Begründer), Hipparch und Ptolemaios verknüpft, letzterer mit Namen wie Hekataios von Milet und Strabon (der in 2,5,10 Krates’ Erdkarte beschreibt und in 2,1,41 Eratosthenes als »Mathematiker unter den Geographen« kritisiert, vgl. Grebe, Sabine: Martianus Capella, Stuttgart 1999, 290–294; zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund vgl. Schleicher, Frank: Cosmographia Christiana, Paderborn 2014, 11–33). Der »mathematische« Zweig wird in der lateinischen Spätantike durch M. fortgeführt, während Martianus Capella, wie vor ihm schon Mela und der ältere Plinius, beide Richtungen miteinander kombiniert (vgl. Grebe 1999, 321 f.). Die beiden Hauptcharakteristika der auf Krates zurückgehenden Erdbeschreibung sind (vgl. Abb. 4 und 5 im Anhang): (1) § 8–21: Die axialsymmetrische horizontale Gliederung der Erde um eine zentrale heiße Zone, die vom Äquatorialozean durchflossen wird; an die heiße Zone schließen sich nach Norden und nach Süden jeweils eine bewohnbare gemäßigte sowie eine unbewohnbare arktische Zone an. Die heiße Zone wird von den beiden Wendekreisen begrenzt; der nördliche Wendekreis wird durch die Lage der Stadt Syene in Ägypten (2,7,15 f.), die Lage und Ausdehnung der übrigen Zonen durch Berechnung bestimmt (s. Anm. 78). (2) § 22– 36: Der Ozean teilt die Welt nicht nur horizontal entlang des Äquators, sondern durch einen zweiten Meeresarm auch vertikal, wodurch die Welt in vier Bereiche (»Inseln«) unterteilt wird, zwischen denen es keine Möglichkeit der Kommunikation gibt. Vernünftige Überlegung macht aber die Annahme unumgänglich, dass neben unserem auch die drei anderen Weltteile bewohnt sind. Zur Vorgeschichte

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dieses Systems und zur Berechnung der Zonenbreiten vgl. u. 2,6,1 mit Anm. 78. Der Erfolg dieses Modells spiegelt sich in seiner Rezeption und Modifikation in sechs Zonen durch Poseidonios (Referat und Kritik bei Strabon 2,2,1–3,8 = Poseidonios fr. 49 Kidd; Kommentar dazu Bd. 2, 216–275) und in seiner von Poseidonios ausgehenden (Flamant 1977, 472) Verbreitung in den Handbüchern, darunter denen des Kleomedes (S. 9–11 Todd) und des Geminos (16, der allerdings die Annahme des Äquatorialozeans in 16,21–24 unter Verweis auf die empirische Forschung als »grundfalsche Aussage« [yeudodoxo‹sin] verwirft). – Die Bewohner der vier Erdteile bezeichnet M. im Anschluss an Cicero als nos, adversi, transversi und obliqui, was den griechischen Begriffen s‘noikoi (»Mitwohner«), äntoikoi (»Gegenwohner«), per–oikoi (»Nebenwohner«) und Çnt–podec (»Gegenfüßler«) entspricht (§ 28–36). Während aber die Bedeutung dieser Begriffe bei Cicero selbst nicht geklärt wird, hält sich M. klar an die Handbuchtradition (vgl. u. Anm. 76): Die Antöken leben auf der Südhalbkugel jenseits der heißen Zone unter uns, die Periöken auf der »Rückseite« der Nordhalbkugel auf unseren Breitengraden, die Antipoden auf der »Rückseite« der Südhalbkugel unter den Periöken. 59 Zur Erde als neunter Sphäre vgl. 1,22,1 f., zum Horizont als Grenzlinie zwischen Erde und Himmel 1,15,17. 60 Nämlich axialsymmetrisch auf der Nord- und der Südhalbkugel. Zur Erde als »Punkt« vgl. 1,16,6–13. 61 Die heiße Zone ist die größte, weil sie durch die beiden Wendekreise definiert wird, vgl. u. 2,6,1 mit Anm. 78 und 2,7,10 f. 62 Die Einteilung der Erde in fünf »Klima«-Zonen (wtl. »Neigungszonen«, nach dem Winkel der Sonneneinstrahlung) reicht weit vor Krates zurück, nämlich bis Parmenides, VS 28 A 44a (nach Strabon 1,94, unter Berufung auf Poseidonios). Sie wurde in der Erdbeschreibung des Eudoxos v. Knidos (4. Jh. v. Chr.) systematisiert, von dem sie Aristoteles in seine Meteorologica übernahm, auf dessen Mesotes-Lehre wiederum die Vorstellung von zwei zwischen den extremen Zonen liegenden gemäßigten und daher bewohnbaren Zonen zurückgeht. In der griechischen Fachliteratur findet sie sich u. a. bei Geminos (15,1–4), Kleomedes (S. 8 Todd) und Strabon (2,5,3), in der römischen bei Mela (1,4,1), dem Älteren Plinius (2,172 f.) und Martianus Capella (6,602–607), in der römischen Dichtung bei Vergil (Georgica 1,233– 239, Aeneis 7,226 f.) und Ovid (Metamorphosen 1,45–52). Als Beispiel für die Popularisierung der Theorie mag die eben genannte Ovidstelle dienen: quarum quae media est, non est habitabilis aestu; / nix tegit alta duas; totidem inter utramque locavit / temperiemque dedit mixta cum frigore flamma, »die mittlere dieser Zonen ist wegen der Hitze unbewohnbar, zwei weitere sind hoch mit Schnee bedeckt; ebenfalls zwei befinden sich zwischen jenen, und ihnen verleiht die Mischung aus Kälte und Hitze ein gemäßigtes Klima« (weitere Stellen bei Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 104 und 107). Zur Berechnung der Zonenbreiten s. 2,6,1 mit Anm. 78; Einzelheiten in den Beiträgen zu Eudoxos (Heilen, Stephan), Eratosthenes (Geus, Klaus) und Hipparch (Hübner, Wolfgang), in: Hübner, Wolfgang (Hg.): Geographie und verwandte Wis-

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senschaften, Stuttgart 2000. Übersicht bei Hübner, Wolfgang: Art. »Zone«, DNP 12,2 (2003), 832–834. Vgl. Abb. 5 im Anhang. Dieser »Zonentyp« der Erdkarte fand im Mittelalter weite Verbreitung und repräsentiert unter den mittelalterlichen Weltkarten (mappa mundi) den Typ der »Macrobius-Karte«, von dem aus der Zeit zwischen 800 und 1500 noch 99 Exemplare erhalten sind, ein Beispiel bietet Abb. 8 im Anhang. Vgl. Hüttig, Albrecht: Macrobius im Mittelalter, Frankfurt a.M. 1990, 29; Hiatt, Alfred: The Map of Macrobius before 1100, Imago Mundi 59,2 (2007), 149–176. Zu den Himmelskreisen vgl. 1,15,13. Die fünf Zonen auf der Erde sind also als Projektionen der Himmelszonen zu verstehen, weswegen es, wie M. 2,7,1–8 darlegt, auch keinerlei Diskrepanzen zwischen Cicero und Vergil gibt. Vergil, Georgica 1,237 f; die nachfolgenden Verse werden u. in 2,8,1–8 diskutiert. Vgl. u. § 23–27. Das Thema Himmelsrichtungen (und Winde in § 20) gehört eigentlich nicht in einen Kommentar zum Somnium Scipionis; M. hat es anscheinend in der von ihm benutzten, auf Krates zurückgehenden Tradition vorgefunden, vgl. Armisen-Marchetti 2011 Bd. 2, Anm. 113. Er bietet nur einen rudimentären Abriss der antiken Diskussion zur Klassifizierung der Himmels- und Windrichtungen. Nach einer längeren Phase der Diskussion (die sich bei Poseidonios widerspiegelt: fr. 137 Kidd, Kommentar dazu Kidd 1988, 515–525) zwischen einer »minimalistischen« und einer »maximalistischen« Position hatte sich nach Plinius, Naturgeschichte 2,119 ein System mit acht Richtungen etabliert, das neben den vier Kardinalpunkten die vier Solstitialpunkte umfasst, wie es sich in der Achteckform des Turms der Winde in Athen (1. Jh. v. Chr.) manifestiert (Kidd a. O. 519); es findet sich u. a. bei Gellius 2,22 (mit Diskussion konkurrierender Systeme), aus dem M. es eigentlich gekannt haben könnte (zu Gellius als einer von M.s Quellen s. Flamant 1977, 242–244). Die von M. genannten »bekannten Ursprungspunkte« sind demnach für Osten und Westen die äquinoktialen Sonnenauf- und -untergangspunkte und für den Norden das Schwanzende des kleinen Bären, der Polarstern (vgl. Hygin, De astronomia 3,1,2 Sed in prioribus caudae stellis una est infima quae polus appellatur, ut Eratosthenes dicit, »aber unter seinen äußersten Schwanzsternen ist einer der unterste, der Polarstern genannt wird, wie Eratosthenes sagt«). Der Himmelssüdpol liegt dagegen unsichtbar jenseits der heißen Zone (vgl. Hygin De astronomia 1,5,1 polus is qui boreus appellatur peruideri potest semper; notius autem ratione dissimili semper est a conspectu remotus, »der sogenannte Nordpol [des Himmels] ist immer sichtbar, anders dagegen der Südpol, der unserem Blick immer entzogen ist«), weshalb der Süden nur hilfsweise durch den Sonnenhöchststand bestimmbar ist, genauer durch den Mittagspunkt, den Schnittpunkt des Meridians mit dem Horizont (usus diei = usus solis, offenbar wegen der Etymologie von medidies gewählt). – Die auf Varro, De Lingua Latina 6,4 meridies ab eo quod medius dies zurückgehende Etymologie von meridies trifft zu (regressive Dissimilation: . . . d – d > r – d; aus ursprünglichem Lokativ *mediei-die, der später zum vollen Paradigma ausgebaut wurde. Vgl. Meiser, Gerhard: Historische Lautund Formenlehre der lateinischen Sprache, Darmstadt 1998, 127).

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68 Eodem ductu (sc. linearum): »mit derselben Linienführung«; die Formulierung erklärt sich daher, dass M. sich auf seine in § 13 skizzierte Weltkarte bezieht. Der Ausdruck »auch dort die beiden Zonen« zeigt, dass er die erst ab § 29 explizierte Existenz von je zwei Siedlungsinseln pro gemäßigter Zone hier schon vor Augen hat, die er wenig glücklich hier ebenfalls zonae nennt. 69 Die Handbuchautoren Kleomedes (S. 10 f. Todd) und Geminos (1,16,19 f.) heben den nicht-empirischen, theoretischen Charakter von Aussagen über die Südhalbkugel stärker hervor, vgl. Geminos a. O.: »Wenn wir von der südlichen Zone und ihren Bewohnern sprechen [. . . ], ist das folgendermaßen zu verstehen: auch wenn wir keinerlei Kenntnis von der südlichen Zone haben können und auch nicht davon, ob überhaupt Menschen in ihr wohnen, so muss es doch wegen der [. . . ] Kugelgestalt der Erde und wegen der zwischen den beiden Wendekreisen verlaufenden Bahn der Sonne auch im Süden eine Zone geben, welche dasselbe milde Klima hat wie die im Norden gelegene und von uns bewohnte. Entsprechend reden wir auch von den Gegenfüßlern, nämlich nicht so, dass unbedingt uns diametral gegenüber Menschen wohnten, sondern dass auf der Erde uns diametral gegenüber ein bewohnbarer Ort sein muss.« Geminos ist auch in anderer Hinsicht kritisch gegenüber der KratesTradition. So kritisiert er in 16,24 Krates’ Annahme des Äquatorialozeans, und zwar unter Hinweis auf vorliegende empirische und in Alexandria ausgewertete Daten. Macrobius, der sich ganz in die theoretische Tradition der Geographie stellt (vgl. Anm. 58), macht zwar in § 17 zunächst eine Konzession hinsichtlich des Gewissheitsgrades der Besiedlung der südlichen temperierten Zone, spitzt aber in § 25– 27 die Aussage dogmatisch zu und stellt so einmal mehr (vgl. 2,13,14 mit Anm. 38) die »Ratio« über die Empirie. Diese Zuspitzung könnte damit zu tun haben, dass § 25–27 möglicherweise einen doppelten polemischen Bezug haben. Sicher ist der zur Atomistik, welche die Vorstellung der Erdanziehung und damit der Existenzmöglichkeit der Antipoden als absurd abtat (vgl. Lukrez, 1,1052–1082, wo bereits alle Argumente, die M. verwendet, kritisiert werden), möglich der zur christlichen Kritik, wie sie sichtbar wird bei Laktanz (Divinae institutiones 3,24, ebenfalls grundsätzlich ablehnend, einschließlich Ablehnung der Kugelgestalt der Erde) und bei Augustin (De civitate Dei 16,9, mit dem Einwand, wenn keine Kommunikation zwischen den Erdteilen möglich sei, könne es auf anderen Erdteilen als unserem auch keine von Adam abstammenden Menschen geben). Vgl. Stahl 1990, 204 zu § 26 und Flamant 1977, 467 f. 70 Das gilt genau genommen nur für die Antipoden, nicht für die auf denselben Längengraden wie nos ansässigen Antöken; diese Unterschiede werden ausführlich dargestellt bei Kleomedes S. 10 f. Todd. 71 Cicero, De re publica 6,17. Zum Lehrsatz vgl. 1,22,4–13; wie Anm. 69 zu 2,5,23 gesagt, wurde er von den Epikureern und manchen christlichen Autoren bekämpft. Bei Plinius, Naturgeschichte 2,161 wird die Opposition gegen ihn als Kennzeichen der Unbildung angesehen (vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 123); ein Echo davon noch bei Albert d. Gr., De natura loci 1,12 Hossfeld: Nec sunt audiendi, qui fingunt ibi homines habitare non posse, eo quod caderent a terra, si ibi habitarent [. . . ] vulgaris impe-

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ritia est, »Man darf nicht auf die hören, die sich einbilden, dort könnten keine Menschen wohnen, weil sie von der Erde fallen würden, wenn sie dort wohnten; [. . . ] das ist die Ignoranz der Ungebildeten«. Also in den Siedlungsinseln nos (Synöken) und transversi (Periöken); wie in § 22 ist Krates’ Vierteilung der Welt vorausgesetzt, die erst ab § 29 zur Sprache kommt. M.s Interpretation von Ciceros in [. . . ] maculis [. . . ] vastas solitudines interiectas wird akzeptiert von K. Büchner, Cicero De re publica, Heidelberg 1984 und Regali 1983 z. St. (vastas solitudines bezeichnet die heiße Zone). Anders Ronconi, Alessandro: Somnium Scipionis, Florenz 1967, und, ihm folgend, Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 128 (M.s Interpretation würde klassisch inter oder bloßen Dativ voraussetzen). M.s Interpretation von in im Sinne von inter könnten ihm Stellen wie etwa Manilius 1,94: cum sol [. . . ] decurrit in astris, »während die Sonne unter den Sternen dahinzieht« nahegelegt haben (Material in ThLL 7,1, 739, 56–81). Im Folgenden wird die bisher einfache äquatorialsymmetrische Zonengliederung der Erde verfeinert durch Beiziehung der Erdkarte des Krates (vgl. o. Anm. 58). Dass die Vierteilung der Welt durch den Meridionalozean zustande kommt, hätte zur Erleichterung des Verständnisses hier angesprochen werden müssen, wird aber auf Kap. 9 verschoben. »Seite« ist die durch meridionale statt äquatoriale Teilung abgegrenzte Halbkugel, vgl. Anm. 76. Wie Anm. 58 gesagt, folgt M. der durch Handbücher wie die des Geminos und Kleomedes (S. 9 f. Todd) vermittelten Tradition von Krates’ Gliederung der Erde, vgl. Geminos 16,1–2: »Die Bewohner der Erde werden als Mitwohner (s‘noikoi), Nebenwohner (per–oikoi), Gegenwohner (äntoikoi) und Gegenfüßler (Çnt–podec) bezeichnet. Mitwohner sind diejenigen, welche an demselben Ort der nämlichen Zone wohnen, Nebenwohner, welche in der nämlichen Zone einen Halbkreis entfernt wohnen [d. h. 180 Grad entfernt auf der »Rückseite« des Globus], Gegenwohner, welche in der südlichen Zone auf unserer Seite wohnen, Gegenfüßler schließlich, welche in der südlichen Zone auf der anderen Seite wohnen, somit an demselben Durchmesser liegen, wie [. . . ] der [von uns] bewohnte Teil der Erde«. »Seite« übersetzt dabei das originale ômisfa–rion, »Hemisphäre«, das hier eine meridionale und nicht eine äquatoriale Teilung bedeutet (Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 131; auch M. teilt in 2,6,3 die Erde hälftig in Nord-Süd-Richtung); »an demselben Durchmesser« meint, dass ein von den »Mitwohnern« aus durchs Erdzentrum gelegter Vektor mit seinem anderen Ende den Ort der Antipoden bezeichnet (so die Erklärung des Geminos 16,2). Dass die »Nebenwohner« und die Antipoden jeweils im »unteren Bereich« ihrer Zone angesiedelt sind, erklärt sich daraus, dass M. hier im Gegensatz zu 2,5,14 keine genordete Karte verwendet, sondern eine, die auf nos orientiert ist (die Kartenorientierung war ja bis zum Beginn der Neuzeit nicht fixiert; mittelalterliche Karten sind bekanntlich wegen der heilsgeschichtlichen Bedeutung Jerusalems und wegen des im Osten vermuteten irdischen Paradieses oft geostet; dasselbe galt nach Grebe, Sabine: Martianus Capella, Stuttgart 1999, 322 auch für die Karte des Martianus Capella): nos ist also in der Mitte oben (»zwölf Uhr«),

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was eine Drehung der Karte aus der Nordposition um etwa –45 Grad (nach links) impliziert und so die »Nebenwohner« vom externen Referenzpunkt des Betrachters aus (nicht aber vom internen Referenzpunkt nos aus) in »unserer« Zone nach unten rutschen lässt; vgl. Abb. 6 im Anhang und eingehend Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 131 und 134 mit Schéma 4. Diese Kartendarstellung ist nicht identisch mit der gewesteten, also um 90 Grad nach rechts gedrehten Karte des Kleomedes (S. 9 Todd), die sich an der Bewegungsrichtung des Himmels von Osten (unten) nach Westen (oben) orientiert, vgl. Goulet Anm. 55 und Schéma 1. Denn aus 2,6,7 geht hervor, dass bei M. der Osten (die Zone DAC in Abb. 5 im Anhang) »oben« ist. Die mangelnde Unterscheidung zwischen externem und internem Referenzpunkt ist einer der Gründe für die Unklarheit unseres Textes (noch unklarer ist freilich die entsprechende Passage bei Martianus Capella, s. Grebe a. O.). Um sie abzumildern, ist unsere Übersetzung hier explizierend, und zwar durch Einfügung der von M. ausgelassenen Termini »Periöken« und »Antipoden« (deren Identifikation mit den lateinischen Begriffen transversi und obliqui sich aus § 35 f. ergibt). M.s Beschreibungsrichtung der bewohnten Erdteile führt in meridionaler Richtung einmal um den Globus, und zwar zunächst auf der »Vorderseite« in Nord-Süd-Richtung von »uns« (nos) über die heiße Zone und den in ihr gelegenen Äquatorialozean hinweg zu den auf gleicher Länge auf der Südhalbkugel gelegenen Antöken (adversi), sodann unter dem Südpol hindurchgehend (»die dazwischenliegende kalte südliche Zone«) und auf der »Rückseite« der Erde in Süd-Nord-Richtung aufsteigend zu den Antipoden (obliqui) auf der Südhalbkugel (diametral zu nos) und von da über die heiße Zone zu den Periöken (transversi) auf der Nordhalbkugel, die wie bei Kleomedes (S. 9 Todd) als Antöken der Antipoden bezeichnet werden. In Verfolgung der meridionalen Bewegung käme man über die arktische Zone wieder bei nos an (vgl. Jan 1848 z. St.). Diese sequentielle Beschreibung der beiden Hälften des meridional geteilten Globus kompensiert den Nachteil, dass mangels Instrumentarium zur Kartenprojektion nur eine einfache sog. »Radkarte« verwendet wird, bei der beide Globushälften mit einem einzigen Kreis abgebildet werden müssen. M. reflektiert dieses Problem in 2,6,7. 77 Zu devexus als Bezeichnung der Nord-Süd-Erdkrümmung vgl. Vergil, Georgica 1,240 f.: mundus, ut ad Scythiam Riphaeasque arduus arces / consurgit, premitur Libyae devexus in Austros, »wie zu den Skythen und zum Riphäergebirge der Erdball steil aufsteigt, fällt er, sich krümmend, südwärts Richtung Libyen« (die Verse stehen unmittelbar vor den in 1,8,7 zitierten). Ebenso Lukan, 9,495–497 nec sidera tota / ostendit Libycae finitor circulus orae, / multaque devexo terrarum margine celat, »nicht alle Sternbilder zeigt der Horizont Afrikas, sondern verbirgt viele unter der Krümmung der Erdoberfläche«. Dass die transversi und die obliqui im »unteren Bereich« ihrer jeweiligen Zone stehen, erklärt sich aus der Orientierung der Karte, s. o. Anm. 76. 78 Anknüpfend an seine Skizze aus 2,5,13–17 (vgl. Abb. 5 im Anhang) referiert M. nun die Dimensionen der fünf Klimazonen. Dass diese wie in der Antike üblich durch Projektion der entsprechenden Himmelszonen auf die Erde definiert werden, wird

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in 2,5,15 angedeutet, aber erst in 2,7 expliziert. Berechnet werden die Zonenbreiten der nördlichen Halbkugel (§ 3), und das Ergebnis wird spiegelsymmetrisch auf die Südhalbkugel übertragen (§ 6). Die Berechnung beruht auf zwei Grundlagen, deren erste M. erst in 2,7,15 nennt und deren zweite er einfach voraussetzt, nämlich (1) die Lage von Syene direkt unter dem nördlichen Wendekreis auf dem 24. Grad nördlicher Breite (vgl. Anm. 58 und 2,7,15 f.); (2) die Südgrenze des arktischen Kreises, die durch die Peripherie der nie untergehenden Zirkumpolarsterne bestimmt und damit eigentlich betrachterabhängig ist, aber von der konventionellen Referenzlinie Rhodos – Säulen des Herakles aus auf 54 Grad nördlicher Breite angesetzt wird. Die Breite der gemäßigten Zone beträgt somit 90 minus 36 (arktische Zone) minus 24 (nördliche Hälfte der heißen Zone) = 30 Grad. Für die Breite der heißen Zone verbleiben demnach je 24 Grad nördlich und südlich des Äquators. Die in § 2 genannte Maßeinheit von Sechzigsteln geht auf Eratosthenes, die 360-Grad-Einteilung auf Hipparch zurück. Die 252000 Stadien Erdumfang in § 3 sind das gerundete Berechnungsergebnis des Eratosthenes (s. 1,20,9 mit Anm. 287). Aus Geminos 16,7–9 ergibt sich folgende Synopse der drei Maßeinheiten für die Zonen von Nord nach Süd: Sechzigstel Grad Stadien Arktische Zone 6 36 25200 Gemäßigte Zone 5 30 21000 Heiße Zone nördl. 4 24 16800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äquator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiße Zone südl. 4 24 16800 Gemäßigte Zone 5 30 21000 Antarktische Zone 6 36 25200 Summe: 30 180 126000 Zur Geschichte der Zonentheorie und Literatur s. o. Anm. 62. 79 »Unteren« bezogen auf die Orientierung der Karte, vgl. Anm. 76. 80 Bei der Projektion der Kugel auf die Fläche müsste der Meridian als Vertikale erscheinen. Um aber die Erdwölbung vor dem Auge des Betrachters erscheinen zu lassen, deklariert M. als Meridianlinie den rechten Halbkreis, der den Rand der Skizze bildet, der für den unvorbereiteten Betrachter »freilich eher wie der Horizont als wie der Meridian aussieht« (Rehm, Albert: Griechische Windrosen, Sitzungsberichte München, Phil.-hist. Klasse 3 (1916), 44). 81 Vgl. 2,5,7. 82 Zur Vorstellung, dass die fünf Zonen der Erde Projektionen der entsprechenden Himmelszonen sind, vgl. Strabon, 2,5,3 »Der Himmel hat fünf Zonen und ebenso die Erde, und die Zonen tragen am Himmel wie auf der Erde dieselben Namen [. . . ]. Es liegt unter jedem Kreis des Himmels ein entsprechender auf der Erde und entsprechendes gilt für die Zonen«. Sie findet sich auch in der Handbuchtradition, so bei Kleomedes (S. 8 Todd). 83 Vgl. Abb. 7 im Anhang. 84 Vgl. o. 1,15,13.

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85 Vgl. Varro, De Lingua Latina 6,8: (dictum) solstitium, quod sol eo die sistere videbatur, »die Sonnwende wurde so genannt, weil an diesem Tag die Sonne zum Stillstand zu kommen schien«; zu dieser (zutreffenden) Etyomologie vgl. de Melo, Wolfgang: Varro, De Lingua Latina, Bd. 2 (Kommentar), Oxford i.E. z. St. 86 Vgl. Geminos, 5,41: »Unser Sommerwendekreis wird nämlich für unsere Antipoden zum Winterwendekreis, während deren Sommerwendekreis bei uns zum Winterwendekreis wird«. 87 Der Ausdruck hemisphaerii monstrantis umbras (»Halbkugel, welche die Stunden anzeigt«) für die Sonnenuhr, zeigt, dass M. die Skáphe vor Augen hat, den Typ Sonnenuhr, den er in 1,20,26 beschreibt (vgl. dort Anm. 293). Dass ein Gnomon zur Sommersonnwende in Syene (Assuan) mittags keinen Schatten wirft, wurde bekanntlich von Eratosthenes für die Berechnung des Erdumfangs ausgenutzt, und zwar unter den Annahmen, dass Alexandria 5000 Stadien von Syene entfernt und auf demselben Meridian liege. Ein entsprechender Gnomon in Alexandria warf zum selben Zeit1 punkt einen Schatten in einem Winkel von 50 eines Kreises; 5000 Stadien entsprachen somit einem Fünfzigstel des Erdumfangs. Das Ergebnis von 250000 Stadien rundete Eratosthenes später auf 252000, vgl. 1,20,9 mit Anm. 287. »Die bestimmte Position« der Sonne im Krebs lässt M. unspezifiziert, nach der Vermutung von Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 158 aus didaktischer Vereinfachung, weil für deren Definition und damit die genaue Bestimmung des Sonnwendpunktes unterschiedliche Auffassungen wie Anfang oder Mitte des Sternzeichens konkurrierten. 88 Das Zitat ist Lukan, 2,587. Housmans Edition hat hier nusquam statt numquam (5 1970; ihr folgt van Campen, Ferdinand H. M.: M. Annaei Lucani De bello civili liber II. Een commentaar, Amsterdam 1991, 386); gemeint wäre also »das nirgendwohin einen Schatten wirft« (sc. am Mittag des Sonnwendtages) und M.s Kritik würde auf einer falschen Lesart beruhen. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 161 sieht dagegen in numquam flectente einen von M. nicht verstandenen Reflex von Poseidonios’ Gliederung der Erdzonen nach der Richtung des mittäglichen Schattenwurfs, in welcher Syene den Grenzpunkt bezeichnet zwischen der südlicher gelegenen Zone, wo der Schatten sechs Monate nach Süden und sechs nach Norden fällt, und derjenigen, wo er immer nach Norden fällt (so explizit Strabon, 2,5,37: »im ganzen Gebiet zwischen dem Äquator und dem Wendekreis fallen die Schatten auf beide Seiten, nach Norden und nach Süden, von Syene an aber [. . . ] fallen die Schatten mittags nach Norden«); umbras flectente bedeutete somit » [. . . ] das niemals die Orientierung des Schattens ändert«. 89 Vgl. z. B. Mela, 3,36 f.: Hyperborei super aquilonem Riphaeosque montes sub ipso siderum cardine iacent, »die Hyperboreer wohnen jenseits des Nordwinds und der Riphäischen Gebirge direkt unter dem Himmelspol«. 90 Vergil, Georgica 2,237–239. M. legt im folgenden drei Deutungsmöglichkeiten für via secta per ambas, wörtlich »ein Weg schneidet durch die beiden«, vor: (1) Per ist hyperbolisch verwendet: Die Sonne erreicht den Saum der heißen Himmelszone, unter welchem in der entsprechenden Erdzone bereits Menschen leben; insofern erreicht sie die »bewohnte«, wenn auch nicht die »gemäßigte« Zone (§ 2–4).

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(2) Per ist in poetischer Lizenz synonym verwendet mit sub »Bewegung unterhalb eines Referenzpunktes« (sc. der temperierten Zonen); diese Deutung ist wenig hilfreich, da eine Bewegung der Sonne im und damit auch unter dem Bereich der temperierten Zonen in § 2 ja ausdrücklich ausgeschlossen wird (§ 5). (3) Per ist synonym mit inter (§ 6); das ist die von M., dem ThLL (Bd. 10,1, S. 1141, 13–28) und auch den modernen Kommentatoren bevorzugte Interpretation (Mynors, Roger A. B. (Hg.): Virgil, Georgics, Oxford 1990, 55: »[. . . ] ›between‹ [the two temperate zones turn the signs of the Zodiac], not ›through‹ «; ebenso Erren, Manfred: Vergil, Georgica, 2003, 148). Eratosthenes und Hipparch setzten laut Strabon (2,5,7 bzw. 2,5,35) die Entfernung von Syene bis Meroe mit 5000 Stadien (die Hälfte der Entfernung Meroe – Alexandria) und die von dort bis zur Grenze der Bewohnbarkeit mit 3000 Stadien an. Geminos sagt im Zuge seiner Kritik an Krates’ Weltmodell (16,24, vgl. Anm. 69), dass zu seiner Zeit (1. Jh. v. Chr.) das Land bis zu einer Entfernung von 8800 Stadien südlich des Wendekreises erforscht sei. Flamant 1977, 467 vermutet daher, dass M. sich hier auf einen Vergilkommentar stützt. Armisen-Marchettis Konjektur 〈in〉 tantundem scheint nicht notwendig, denn die semantische Korrelation mit cum tantum spatii [. . . ] vitam ministret (∼ quantum spatii [. . . ] tantundem) erzwingt auch für das überlieferte tantundem spatii [. . . ] habere mansuetudinem die Bedeutung der Koextension mit der im cum-Satz bezeichneten Strecke. Zur Geschichte dieser Metapher vgl. Armisen-Marchetti, Mireille: La »poetica tuba«: Sens et devenir d’une image dans la littérature latine, Pallas 59 (2002), 271–280. Der Thesaurus-Artikel per (ThLL 10,1, 1129–1169) weiß von einer solchen Austauschbarkeit freilich nichts. Vergil, Georgica 1,245, vgl. Servius, Georgica 1,245: per utramque labitur, id est inter duas, maiorem cauda tangens, alvo conplectens minorem, »der Drache gleitet ›durch‹ beide, das heißt ›zwischen‹ den zweien hindurch, wobei er den großen Bären am Schwanz, den kleinen am Bauch fasst«. Das Beispiel ist sprachlich aber nicht vollständig mit Vergil, Georgica 1,237 vergleichbar, denn der Vektor der Bewegung geht hier parallel zu den Referenzlinien, bei M. dagegen dienen die beiden als Termini a quo und ad quem. Im Folgenden wird die schon in 2,5,6 angesprochene Teilung des Ozeans nach Krates von Mallos in einen erdumspannenden Äquatorialozean und die von ihm ausgehenden meridionalen Ozeanarme (vgl. Anm. 58; in heutigen Begriffen Atlantik und Pazifik) wieder aufgegriffen. Dieses Modell war zu M.s Zeiten durch die empirische Geographie schon längst überwunden; es wird bereits im 1. Jh. von Geminos als unvereinbar mit dem aktuellen Wissensstand kritisiert (s. Anm. 58). Zu den Gründen dafür, dass M. an ihm festhält, mag zählen, dass er die stoische Lehre von der nährenden Funktion des Ozeans für die Sonne teilt und sie für die Erklärung der periodischen Weltenbrände und Überschwemmungen benötigt, vgl. u. 2,10,10 mit Anm. 107. Zu dieser auch hier zu beobachtenden Suprematie der Theorie über die Empirie bei M. vgl. Anm. 69.

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97 Dieser Theorie des Krates zur Ursache der Gezeiten steht schon in der Antike die Auffassung gegenüber, dass sie auf die Gezeitenkräfte von Mond und Sonne zurückzuführen sind. Als deren erster Vertreter gilt der massiliotische Forschungsreisende Pytheas (4. Jh. v. Chr.), der das im Mittelmeer nur schwach ausgeprägte Phänomen im Atlantik kennenlernte, vgl. Heilen, Stephan: Eudoxos von Knidos und Pytheas von Massilia, in: Hübner, Wolfgang (Hg.): Geographie und verwandte Wissenschaften, Stuttgart 2000, 66. Die Zeugnisse zu Krates und Pytheas bei Diels 1879, 383. 98 »Horizont« bedeutet hier wie in 2,6,7 »Meridian«, vgl. Anm. 80. 99 Vgl. Abb. 8 im Anhang. Macrobius bleibt hier einmal mehr hinter dem verfügbaren Wissensstand zurück, denn die Frage, ob das Kaspische Meer ein Binnenmeer oder mit dem Ozean verbunden sei, war durch Ptolemaios (Geographia 7,5,4) schon lange entschieden (Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 182). Zur Entwicklung der antiken Erdkarten und Ptolemaios’ Rolle dabei vgl. Stückelberger, Alfred: Das Gesamtbild der Oikumene. Ders. [e. a.] (Hgg.), Klaudios Ptolemaios, Handbuch der Geographie, Ergänzungband. Basel 2009, 254–267. 100 Das ist Handbuchwissen, vgl. z. B. Geminos, 16,3: »Die Längenausdehnung des bewohnten Teils beträgt etwas das Doppelte seiner Breite«. Der Vergleich mit der Chlamys, einem Kurzmantel, geht auf Eratosthenes zurück, war in der Antike aber als »die Chlamys Strabons« bekannt (Stahl 1990, 215 Anm. 7). 101 Nach der räumlichen Beschränktheit des Ruhms folgt jetzt seine zeitliche Begrenzung auf ein Weltenjahr, das durch zyklische Brand- und Flutkatastrophen abgegrenzt wird; der so notwendig werdende jeweilige Neuanfang der Zivilisation wird im neuplatonischen Sinne abgegrenzt von der Anfangslosigkeit der Welt und deren Existenz schon vor Beginn der Zeit. Die zyklischen Naturkatastrophen werden zunächst physikalisch und nicht ethisch erklärt, und zwar mittels der stoischen Theorie von der Nährung der Gestirne durch die Ausdünstungen des Ozeans (§ 10), welche Ursache der zyklischen Wiederkehr eines Überschusses an Wasser bzw. Hitze und damit Auslöser der Weltkatastrophen sei. Eine neue Zivilisation entsteht aus Restzivilisationen in begünstigten Regionen (Ägypten). Der zivilisatorische Kreislauf erscheint als Kombination der herkömmlichen Kulturentwicklungsschemata; auf eine Phase der Kulturaszendenz im Sinne der auf Xenophanes und Demokrit zurückgehenden Tradition folgt im Sinne des auf Hesiod zurückgehenden Weltaltermythos der Umschlag in Deszendenz, der nach dem traditionellen ethischen Deutungsmuster auf dem Verlust der ethischen simplicitas und der Depravation von aemulatio in invidia beruht, woraus eine implizite Rechtfertigung für die zukünftige Weltkatastrophe gewonnen wird. 102 In dieser Kontroverse vertritt die Atomistik die Auffassung einer Entstehung und eines zukünftigen Untergangs der Welt (Lukrez, 5,91–350), der Peripatos ihre Ewigkeit (Aristoteles, De caelo 1,10–12, 279b 5–283b 22), wogegen Platons Auffassung schon in der Alten Akademie umstritten war und die Existenz des Demiurgen im Timaios von Aristoteles über die Epikureer bis Augustin Anlass zu der Interpretation gab, dass die Welt zwar ewig dauern werde, aber einen Anfang habe (vgl.

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Augustin, De civitate Dei 12,13: [mundum] esse coepisse, sicut etiam Plato apertissime confitetur, »die Welt hat einen Anfang gehabt, wie auch Platon ganz offen sagt«). Der Neuplatonismus bringt beide Auffassungen in Einklang mit der Formel, die Welt sei zwar geschaffen, aber vor der Zeit (Quellen bei Dörrie/Baltes 1998, Texte 153.1–4, Zusammenfassung der Diskussion Bd. 5,523–525). M. übernimmt sie und kombiniert sie zwecks Beseitigung der in § 7 f. referierten Einwände gegen die Ewigkeit der Welt (Kürze der historischen Überlieferung, offenkundig junges Alter der Zivilisation) mit der Theorie der periodischen Weltkatastrophen. Vgl. Mras 1933, 271 und Sodano, Angelo: Quid Macrobius de mundi aeternitate senserit quibusque fontibus usus sit, L’Antiquité classique 32 (1963), 48–62. Vgl. die klassische Formulierung dieses Topos bei Cicero, De inventione 1,2: Nam fuit quoddam tempus, cum in agris homines passim bestiarum modo vagabantur et sibi victu fero vitam propagabant, »Es gab eine Zeit, als die Menschen wie die wilden Tiere auf dem Land umherschweiften und ihr Leben von wildwachsenden Früchten fristeten«. Verzeichnis weiterer Belege bei Armisen-Marchetti Anm. 195. Vgl. u. Anm. 110. Das Argument der Kürze der historischen Überlieferung wurde nach Dörrie/Baltes Bd. 5, 492 f. schon in der alten Akademie diskutiert; auch Theophrast kennt es. In der römischen Literatur findet es sich bei Lukrez 5,324–329: si nulla fuit [. . . ] origo terrarum [. . . ], cur supera bellum Thebanum et funera Troiae non alias [. . . ] res cecinere poetae?, »wenn es keine Entstehung der Welt gab, warum besangen dann die Dichter keine anderen Ereignisse, die vor dem Thebanischen Krieg und dem Untergang Troias liegen?« Ninos ist der legendäre Begründer des assyrischen Reiches. Semiramis, berühmt wegen ihrer zu den sieben Weltwundern zählenden »hängenden Gärten« in Babylon, ist in der antiken Tradition (vgl. Diodor 2,1–28) nicht seine Tochter, sondern seine Gattin. »Die Philosophie« steht hier nach Mras 1933, 271 f. für Porphyrios, dessen bei Proklos überlieferte Formulierung Çp‰ qrÏnou von M. mit ex tempore »von einem bestimmten Zeitpunkt an« wörtlich übersetzt sei. Dafür spreche auch die (zuerst von Schedler 1916, 29 nachgewiesene) Übereinstimmung des vorliegenden Abschnitts mit einer Polemik Augustins gegen die Vorstellung der Ewigkeit der Menschheit, denn Porphyrios ist einer der Hauptgegner Augustins, während M. sich ja mit Vorliebe auf ihn bezieht (De civitate dei 12,10): et cum illis dictum fuerit, si semper fuit humanum genus, quonam modo verum eorum loquatur historia narrans qui fuerint quarumque rerum inventores [. . . ] respondent diluviis et conflagrationibus per certa intervalla temporum non quidem omnia, sed plurima terrarum ita vastari, ut redigantur homines ad exiguam paucitatem, ex quorum progenie rursus multitudo pristina reparetur, »entgegnet man ihnen, wenn das Menschengeschlecht immer bestanden habe, wie dann ihre Geschichtsschreibung stimmen könne, die doch berichte, wer welche Dinge erfunden habe [. . . ], dann sagen sie, dass durch Überschwemmungen und Feuersbrünste in bestimmten zeitlichen Abständen zwar nicht die ganze Erde, aber doch der größte Teil derart verwüstet werde, dass die Menschheit auf eine ganz kleine Gruppe schrumpfe, aus deren Nachkommenschaft erst die

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Anhang ursprüngliche Zahl wiederhergestellt werde«. M. vertritt hier die metaphorische Interpretation der Schöpfungserzählung des Timaios, die diese als Hilfsmittel Platons betrachtet, um metaphysische Abhängigkeitsverhältnisse in Form einer zeitlichen Abhängigkeit darstellen zu können; dagegen ging die wörtliche Interpretation von einem tatsächlichen Schöpfungsakt aus und war daher zur Annahme von präkosmischen Vorformen von Bewegung und Zeit gezwungen, die sich einer präkosmischen unvernünftigen Seele verdankten. Vgl. Ferrari, Franco: Materie, Seele und Bewegung bei der Weltentstehung: Plutarch und Attikos als Interpreten des Platonischen Timaios. Halfwassen, Jens [e. a.] (Hgg.), Seele und Materie im Neuplatonismus, Heidelberg 2016, 55–73. Zum weiteren Hintergrund von § 9 vgl. Dörrie/ Baltes 1998, Bd. 5, 490–494: Hauptargument M.s für die Ewigkeit der Welt ist das Phänomen der Zeit: Gott kann die Welt nicht »zeitlich« geschaffen haben, weil es die Zeit vor der Welt nicht gab; als nicht der Zeit unterworfen muss die Welt aber ewig sein. Der Untergang der Zivilisation erfolgt manente mundo, unter Fortbestand der Welt, was impliziert, dass sie weder entsteht noch vergeht. Auf diese Weise wird der Schöpfungsbericht des Timaios mit der Auffassung von der Ewigkeit der Welt in Einklang gebracht. Diese Ewigkeit ist aber nicht identisch mit jener der intellegiblen Welt: Laut Timaios 37d 6–38b 4 möchte Gott den Kosmos zu einem Abbild der Ewigkeit machen, aber unter Wahrung des ontologischen Gradunterschieds, der eben in der Bewegung zum Ausdruck kommt: Die Zeit ist »ein der Zahl gemäß voranschreitendes ewiges Abbild der in der Einheit verharrenden Ewigkeit«. Dieser Unterschied wird im späteren Neuplatonismus in das Begriffspaar »Ewigkeit : unbegrenzte Dauer« gefasst. Ewigkeit kommt der Sphäre des Intelligiblen zu, unbegrenzte Dauer dem Universum. Letzteres ist geschaffen, da als körperhafte Entität zur Selbstschöpfung nicht befähigt, wird aber auf unbegrenzte Zeit existieren. Somit sind zwei Arten immerwährender Existenz zu unterscheiden, Ewigkeit im Sinne einer simultanen Gegenwart aller Dinge gegenüber unbegrenzter Dauer, in der die Existenz der Dinge in Zeitsegmenten von »vorher« und »nachher« stattfindet (Proklos, Elementa Theologica 53–55; vgl. Helmig, Christoph/Steel, Carlos: Art. »Proclus«, SEP, Kap. 3.5, 2015). Boethius bringt den Unterschied auf die Formel deum aeternum, mundum vero dicamus esse perpetuum, »wir werden Gott ewig, die Welt aber dauernd nennen« (De consolatione philosophiae 5 pr. 6, vgl. Gruber, Joachim: Kommentar zu Boethius, De consolatione philosophiae, Berlin 2006, 399). Die Vorstellung einer zyklischen Weltkatastrophe ist platonisch; im Timaios wird Solon in Ägypten über sie unterwiesen (22a–23c; vgl. auch Leges 3, 677a–e). Sie wurde von den Stoikern als Doktrin des Weltenbrands, der ‚kp‘rwsic, popularisiert; die Vorstellung der Überschwemmungen kommt erst ab Seneca, Epistulae morales 90 dazu, der sie auf den babylonischen Priester und Astronomen Berossos zurückführt (Stellennachweise bei Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 157); exemplarisch dafür etwa Cicero, De natura deorum 2,118: Sunt autem stellae natura flammeae; quocirca terrae maris aquarum〈que reliquarum〉 vaporibus aluntur [. . . ]; quibus altae renovataeque stellae atque omnis aether in terram effundunt eadem et rursum trahunt itidem, [. . . ] ut fere intereat [. . . ] admodum paululum, quod astrorum ignis et

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aetheris flamma consumat. ex quo eventurum nostri putant [. . . ], ut ad extremum omnis mundus ignesceret, cum umore consumpto neque terra ali posset nec remearet aer, cuius ortus aqua omni exhausta esse non posset: ita relinqui nihil praeter ignem, a quo rursum animante ac deo renovatio mundi fieret, »Die Sterne nähren sich von den Ausdünstungen der Erde, des Meeres und der übrigen Gewässer [. . . ]. So mit neuer Kraft ausgestattet, verströmen die Sterne und der ganze Äther diese Dünste auf die Erde und saugen sie ebenso wieder auf, sodass [. . . ] nur ganz wenig verloren geht, was durch das Feuer der Sterne und die Flammen des Äthers aufgezehrt wird. Deshalb glaubt unsere Schule [. . . ], dass am Ende das ganze All in Feuer aufgehen wird, weil nach Aufzehrung der Feuchtigkeit keine Nahrung für die Erde mehr vorhanden ist und auch die Luft nicht mehr zurückströmt, die sich nach Aufzehrung alles Wassers nicht mehr bilden kann. So bleibt nichts zurück als Feuer, das, da beseelt und göttlich, die Erneuerung der Welt bewirken wird.« 107 Dieselbe Erklärung mit Nennung ihrer Urheber in Saturnalien 1,23,2: ideo enim, sicut et Posidonius et Cleanthes adfirmant, solis meatus a plaga quae usta dicitur non recedit, quia sub ipsa currit oceanus [. . . ], omnium autem physicorum adsertione constat calorem humore nutriri, »Wie Poseidonios und Kleanthes behaupten, verlässt die Sonnenbahn die sogenannte heiße Zone deshalb nicht, weil unter dieser der Ozean fließt; es steht aber nach Auffassung aller Naturforscher fest, dass sich die Hitze von der Feuchtigkeit nährt.« Nach Kidd 1988, 457–61 verbindet M. hier zwei Theorien: (1) Die Sonne nährt sich von Ausdünstungen des Ozeans, (2) die Begrenzung der Bahn der Sonne durch die beiden Wendekreise erklärt sich durch die Notwendigkeit des Kontakts mit ihrem Nahrungsspender, dem Ozean. Diese Verbindung findet sich auch bei Cicero, De natura deorum 3,37, wo sie nur dem Stoiker Kleanthes zugeschrieben wird: Quid enim, non eisdem vobis placet [. . . ] ali [. . . ] solem lunam reliqua astra aquis, alia dulcibus alia marinis; eamque causam Cleanthes adfert cur se sol referat nec longius progrediatur solstitiali orbi itemque brumali, ne longius discedat a cibo, »Seid ihr nicht auch der Meinung, dass sich die Sonne, der Mond und die übrigen Gestirne vom Wasser nähren, teils von Süß- und teils von Meerwasser? Und Kleanthes gibt den Grund dafür an, dass die Sonne wieder zurückkehrt und nicht über die Punkte der Sommer- bzw. Wintersonnwende hinaus zieht: Sie will sich nicht zu weit von ihrer Nahrung entfernen«. (1) war seit Chrysipp stoischer Mainstream (vgl. z. B. die Anm. 106 zitierte Cicero-Stelle), oft in einer verfeinerten Version, in der das Meerwasser Nahrung für die Sonne, das Süßwasser für den Mond und die Erdfeuchtigkeit für die Sterne ist (so auch an der oben zitierten Cicero-Stelle). Diese findet sich auch bei Porphyrios, De antro Nympharum 11 (vgl. dazu Simonini 1986, 129), so dass M. sie eigentlich gekannt haben muss. (2) schreibt Geminos 16,21 f. dem Kleanthes und dem Krates zu und schiebt sie auf die Homergläubigkeit des letzteren. Demgegenüber referiert Kleomedes (S. 21 f. Todd bzw. Kidd 1988, Bd. 1, 187–189, Kommentar Bd. 2, 749–755) als Theorie des Poseidonios, dass die heiße Zone als ganze temperiert und bewohnt sei, was er wie M. unter Berufung auf die »Naturforscher« kritisiert. M.s Zuschreibung von Theorie (2) an Poseidonios ist also falsch.

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108 Homer, Ilias 1,423–425; dieselbe Allegorese in Saturnalien 1,23,1 f. unter Berufung auf den Antiquar Cornificius Longus (Ende 1. Jh. v. Chr; sein De etymis deorum zitiert M. in Saturnalien 1,9,11): Iovis appellatione solem intellegi Cornificius scribit, cui unda Oceani velut dapes ministrat, »Cornificius schreibt, dass unter Jupiter die Sonne zu verstehen sei, welcher die Fluten des Ozeans gleichsam ein Mahl bereiten«. Zum Topos der sonnenverbrannten Äthiopier, der auf der Etymologie von a j–oy »Brand-gesicht« beruht, vgl. Geminos, 16,28: »Daher auch die Annahme [der alten Dichter], dass die in der Nähe des Auf- und Untergangs wohnenden Äthiopier von der Sonne verbrannt werden«; er hält sich bis Isidor, Etymologien 14,5,14: Aethiopia dicta a colore populorum, quos solis vicinitas torret, »Äthiopien hat seinen Namen von der Hautfarbe seiner Einwohner, welche von der Nachbarschaft der Sonne versengt sind«. 109 Zu dieser Ursache kultureller Kontinuität in Ägypten s. Platon, Timaios 22d. 110 Wie Anm. 101 gesagt, kombiniert M. hier zwei in der antiken Literatur äußerst populäre Kulturentwicklungsschemata, das Aszendenz- und das Deszendenzschema, und bringt sie in einen zyklischen Zusammenhang (vgl. Mras 1933, 270–272). Das Aszendenzschema geht bis auf Xenophanes zurück (VS 21 B 18 »Nicht alles haben die Götter von Anfang an den Menschen enthüllt, aber im Lauf der Zeit fanden sie durch Forschen das Bessere«); ab Demokrit ist die wesentliche Triebkraft für den kulturellen Aufstieg der Mangel (qre–a) an lebensnotwendigen Gütern und dessen Überwindung durch Nachahmung der Natur (VS 68 B 5.1, 68 B 154). Der bekannteste römische Vertreter dieser Theorie ist Lukrez (5,925–1457). Das Deszendenzschema mit der Abfolge Goldene, Silberne und Eiserne Zeit geht auf Hesiod, Werke und Tage 106–201 zurück (die vorausliegende orientalische Tradition ist bei ihm bereits durch den systemwidrigen Einschub eines Heroenzeitalters modifiziert); charakteristisch dafür ist die fortschreitende Depravation von einem paradiesischen Urzustand zur ethisch abgesunkenen Jetztzeit mit apokalyptischem Ausblick auf einen zukünftigen vollkommenen rechtlosen Zustand (der teilweise, nach Flucht der Göttin der Gerechtigkeit, auch schon als gegenwärtig gedacht wird, so bei Ovid, Metamorphosen 1,149 f.; Ps.-Seneca, Octavia 422). Die bekanntesten Rezeptionsinstanzen in der römischen Literatur sind Vergil, Aeneis 8,316–326; 6,791–805 und Ovid, Metamorphosen 1,89–150. Das Material ist zusammengestellt bei Gatz, Bodo: Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967 und bei Heckel, Hartwig: Art. »Kulturentstehungstheorien« Nr. II, DNP 6 (1999), 908–914; zur Rezeption in der Historiographie vgl. Biesinger, Benjamin: Römische Dekadenzdiskurse, Wiesbaden 2016. Die Kombination und zyklische Verbindung der beiden Schemata findet sich bereits bei Poseidonios (rekonstruierbar aus Seneca, Epistulae morales 90, vgl. Mras 1933, 270–272; Theiler, Willy: Poseidonios Bd. 2, Berlin 1982, 384–390; Kidd Bd. 2 1988, 960–971), der einen urzeitlichen Idealzustand unter der Herrschaft der sapientes ansetzt, welcher durch Aufkommen nicht lebensnotwendiger Dinge wie Waffen und Seefahrt gestört wurde, da erstere den Krieg, letztere die Habgier und damit den Gegensatz zwischen reich und arm hervorbringen; die weitere Entwicklung ist durch das Aus-

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einandertreten von zivilisatorischer Aszendenz und ethischer Deszendenz charakterisiert. Poseidonios wandte dieses Modell auf die Geschichte Roms an: Ein ungestörter Aufstieg Roms bis zum Epochenjahr 146 mit dem Fall Karthagos schlägt wegen negativer Triebkräfte wie avaritia um in ethische Deszendenz (bei andauernder materieller Aszendenz); es ist rezipiert bei Sallust, Catilina 10. Die zyklische Umformung der beiden Schemata findet sich auch bei Vergil mit der Sukzession eines vorkulturellen, dann eines Goldenen, unter der Herrschaft des Saturn stehenden und schließlich eines durch Krieg und Habgier bestimmten Eisernen Zeitalters (Aeneis 8,314–325), welches wiederum in ein von Augustus heraufgeführtes neues Goldenes Zeitalter mündet (Aeneis 6,791–805). Welche Quellen M. im Einzelnen benutzt hat, ist unerweisbar; neuplatonische (so Mras 1933, 270–273) sind ebenso denkbar wie das unmittelbare Schöpfen aus der reichen literarischen Tradition (so Regali 1983 z. St. und Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 195). Jedenfalls bewahrt er die Grundzüge der beiden Schemata: Der Urzustand ist charakterisiert durch ethische simplicitas (vgl. Seneca, Epistulae morales 90,46: ignorantia rerum innocentes erant), Mängel werden überwunden durch Beobachtung der Natur (natura instituente, vgl. Seneca, Epistulae morales 90,22: rerum naturam imitatus) und Kommunenbildung (conciliabula et coetus, vgl. Cicero, De inventione 1,2). Am Höhepunkt der Aszendenz schlägt eine ursprünglich positive (bene incipiens) Triebkraft, die aemulatio (ambitio bei Sallust, Catilina 10), ins Negative um (invidia, bei Sallust avaritia), wodurch der Niedergang eingeleitet wird. Regali 1983 z. St. sieht in der Zyklizität den Gegensatz zur christlichen Vorstellung vom jüngsten Tag artikuliert. Das ist nicht zwingend, denn dem durchweg christlichen (s. Anhang: Zum Autor) Leser des M. sind nicht nur aus der Sintfluterzählung, sondern auch aus vielen anderen biblischen Stellen Feuer und Wasser als Zeichen prinzipiell wiederholbarer eschatologischer Situationen vertraut (z. B. Hesekiel 38,18–22: iudicabo eum peste, et sanguine, et imbre vehementi [. . . ]: ignem et sulphur pluam super eum, et super exercitum eius, »ich werde ihn richten mit Pest, Blut und Regenmassen, Feuer und Schwefel werde ich über ihn regnen lassen und über sein Heer«; Apokalypse 20,9: et descendit ignis de caelo et comedit eos, »und Feuer stieg vom Himmel und verzehrte sie«). Ein wichtiger Unterschied zum christlichen Denken ist aber das Fehlen einer strafenden göttlichen Instanz als Auslöserin der Katastrophe. Das ist konsequent, da eine ethische Verantwortung des Menschen für den Untergang unverträglich wäre mit dessen in § 10 behaupteter naturgesetzlicher Notwendigkeit. Inkonsequenterweise rechtfertigt M. die periodischen Weltkatastrophen implizit dann doch mit einem ethischen Versagen, nämlich dem Umschlag von aemulatio in invidia. – Zu intransitivem promovere vgl. Anm. 115. 111 Zur Umlaufdauer des Monds vgl. 1,6,50. Die Etymologie geht auf Varro, De Lingua latina 6,10 zurück: mensis a lunae motu dictus, »der Monat hat seinen Namen vom Umlauf des Mondes«; tatsächlich liegt Ableitung zum Stamm *meH1 -n-s- vor, vgl. de Melo, Wolfgang: Varro, De Lingua Latina, Bd. 2 (Kommentar), Oxford i.E., z. St. 112 Vergil, Aeneis 3,284. 113 Vgl. 1,19,3–5.

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114 M. entwickelt im Folgenden eine höchst individuelle Version der Theorie des »Weltjahres«. Das Konzept selbst ist orientalischer Herkunft und dem Nachweis von van der Waerden zufolge (van der Waerden, Bartel Leendert: Das große Jahr und die ewige Wiederkehr, Hermes 80 (1952), 129–155) im babylonischen, persischen und indischen Kulturkreis vertreten. Die Grundvorstellung ist, dass die Bahnen der Gestirn-Götter berechenbar sind und das gemeinsame Vielfache all ihrer Umläufe die Rückkehr zu einem Ausgangspunkt und damit das Weltenjahr definiert. Die Göttlichkeit der Gestirne impliziert die Abhängigkeit der Geschehnisse auf der Welt von den Bewegungen der Gestirne und damit gleichfalls ihre Berechenbarkeit; dazu gehört die Vorhersage wiederkehrender Sintfluten bzw. Weltenbrände in der babylonischen bzw. persischen Tradition. Solche Herkunftsunterschiede wurden im Hellenismus egalisiert. Eine wichtige Rolle dabei spielte offenbar der Anm. 106 genannte babylonische Bel-Priester Berossos (3. Jh.), der römischen Überlieferung (Vitruv, 9,6,2; Plinius, Naturgeschichte 7,123) zufolge Leiter einer Astronomieschule in Kos; auf ihn geht die Harmonisierung von Sintflut und Weltenbrand und die Festlegung der Grenze des Weltenjahrs auf Planetenkonjunktionen zurück (vgl. Seneca, Naturales Quaestiones 3,29: Berosos [. . . ] ait ista cursu siderum fieri. Adeo quidem affirmat ut conflagrationi atque diluvio tempus assignet. Arsura enim terrena contendit, quandoque omnia sidera quae nunc diversos agunt cursus in Cancrum convenerint, sic sub eodem posita vestigio ut recta linea exire per orbes omnium possit; inundationem futuram, cum eadem siderum turba in Capricornum convenerit, »Berossos sagt, dass das durch den Lauf der Sterne bewirkt werde. Er ist sich seiner Sache so sicher, dass er für Feuer- und Flutkatastrophen sogar bestimmte Zeiten festlegt. Seiner Meinung nach wird nämlich eine Brandkatastrophe auf der Erde stattfinden, wenn alle Sterne, die jetzt unterschiedliche Bahnen ziehen, im Krebs zusammentreffen und derart an derselben Stelle stehen, dass eine gerade Linie durch ihre Körper gezogen werden könne; eine Überschwemmung aber gebe es, wenn eine entsprechende Versammlung der Sterne im Steinbock zustande kommt«. Eine Doxographie der griechischen Rezeption bietet Censorinus, De die natali 18 (Übersetzung bei van der Waerden [s. o.] 133 f.), aus der u. a. hervorgeht, dass die Zeitangaben für das Weltjahr zwischen 4868 Jahren bei Aristarch und 6.570.000 Jahren bei Diogenes von Babylon schwanken (vgl. Cicero, De natura deorum 2,52: quae (conversio) quam longa sit, magna quaestio est, »wie lange diese Umdrehung dauert, ist eine große Streitfrage«); zum historischen Hintergrund vgl. von Stuckrad 2007, 86–88. Wie die griechische Rezeption im Einzelnen vor sich gegangen ist, ist ungeklärt. Attraktiv war das Konzept aber für zwei Philosophenschulen, nämlich für die Pythagoreer, mit deren Auffassung, dass der Himmel »Harmonie und Zahl« sei und alles Seiende durch Nachahmung der Zahlen existiere (Aristoteles, Metaphysik 1,5 986a und 987b), es sich verträgt und die Wiederkehr der Jahreszeiten ebenso erklären hilft wie die Wiederkehr von Katastrophen; ebenso für die Stoiker, zu deren Fatalismus es sich fügt; hierzu vgl. Nemesios von Emesa, Über die Natur des Menschen (um 400) in: Morani, Moreno (Hg.): Nemesii Emeseni de natura hominis, Leipzig 1987, S. 111,38: »Die Stoiker erklären, die

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Planeten kehrten zu denselben Himmelszeichen zurück, wo jeder einzelne Planet am Anfang stand, als sich die Welt zum ersten Mal zusammensetzte; in bestimmten Zeitumläufen bringen die Planeten Verbrennung und Vernichtung der Dinge zustande; danach tritt die Welt wieder von Grund auf an dieselbe Stelle, und während sich die Sterne wiederum ähnlich drehen, wird jedes einzelne Ding, das in der früheren Zeit entstanden ist, ohne Veränderung wiederhergestellt« (Übersetzung bei van der Waerden a. O. 131). Platon, Timaios 39c–d dagegen hatte nur die Vorstellung der Rückkehr der Planeten in eine Ausgangskonfiguration übernommen, nicht aber die damit verknüpften Weltkatastrophen: »Das vollständige Jahr (ist dann) zur Vollendung (gebracht), wenn die Geschwindigkeiten aller acht Umläufe zur völligen Übereinstimmung gekommen sind und wieder ihren Ausgangspunkt erreicht haben«. Hinsichtlich der Berechnung des Weltjahres nimmt M. eine singuläre Stellung ein (vgl. Flamant 1977, 406–413). Er kombiniert nämlich in § 9– 12 die übliche Definition der Rückkehr zur einer bestimmten Ausgangskonfiguration der Planeten mit der schon in 1,17,6 angesprochenen Kreisbahn der Fixsterne, und bemisst danach die Dauer des Weltjahres: Es ist dann vollendet, wenn alle Planeten und alle Konfigurationen des Fixsternhimmels in eine definierte Ausgangskonfiguration zurückgekehrt sind. Die Rückkehr des Fixsternhimmels in eine Ausgangskonfiguration bezieht sich auf die, modern gesagt, Präzession der Erdachse um etwa ein Grad in 72 Jahren, die sich in der Verschiebung des Frühlingspunkts durch die Sternbilder des Zodiakus äußert, der in der Antike im Widder lag, heute aber in den Fischen. Ein solcher »Gesamtumlauf« dauert rund 25800 Jahre, M. setzt allerdings in § 11 dafür unter Berufung auf »die Naturforscher« nur 15000 Jahre an. Entdeckt wurde die Präzession von Hipparch, der Mitte des 2. Jh. v. Chr. seinen Sternenkatalog mit Angaben aus älteren Aufzeichnungen verglich (vgl. von Stuckrad 2007, 88–90). M.s Definition des Weltenjahres verzichtet auf eine besondere Ausgangskonfiguration wie die Konjunktion in einem Sternbild und erlaubt, wie er in § 13 hervorhebt, einen arbiträren Ausgangspunkt, wie etwa den Tod des Romulus. Es gibt keine antike Parallele für diese Konzeption; die anderen Neuplatoniker beschränken sich auf die platonische Version (Doxographie zum Weltenjahr bei Mansfeld/Runia Bd. 2.1, 645–654). M.s Quelle ist unklar; wäre sie, wie oft, der Timaios-Kommentar des Porphyrios, müsste man einen entsprechenden Reflex bei Autoren wie Calcidius, Proklos oder Augustin erwarten. Auch die Angabe von 15000 Jahren ist nirgendwo nachweisbar und hat keine astronomische Grundlage. 115 Während dieses intransitive promovere mit konkretem Subjekt und lokaler Bedeutung zu allen Zeiten belegt ist (ThLL 10,2, 2000, 1893,74–1894,71), ist es mit abstraktem Subjekt und übertragener Bedeutung wie in 10,16 (usus [. . . ] promovet) spätlateinisch (ibid. 1896,56–70), vgl. z. B. Tertullian, De virginibus velandis 1,10: iustitia primo fuit in rudimentis [. . . ]; dehinc promovit in infantiam, »die Gerechtigkeit befand sich zunächst in ihren allerersten Anfängen, danach entwickelte sie sich in ihr Kindheitsstadium weiter«. 116 Vgl. 1,20,8.

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117 Nach der von Fabius Pictor fixierten römischen Tradition regierte Romulus 37 Jahre (nicht 32, wie M. in § 16 schreibt, vgl. Cicero, De re publica 2,17, Livius, 1,21,6). 118 Ciceros eigene Berechnung des Weltenjahres belief sich Tacitus zufolge (Dialogus 16,7) auf 12954 Jahre. Nach Zimmermann, Laila: Das ›Große Jahr‹ bei Cicero, Museum Helveticum 30 (1973), 179–183, ist dies Resultat einer Zahlenspekulation: Die Umlaufzeiten der einzelnen Planeten ergeben sich aus der wechselnden partiellen Multiplikation der Primzahlen 2, 3, 5, 17, 23 und 127 (z. B. Mond 2 × 3 × 5 = 30 Tage, Saturn 5 × 17 × 127 = 10795 Tage), und das Produkt der gesamten Zahlenreihe ergibt 4728210 Tage gleich 12954 Jahre. – Zur antiken Methode des Fingerrechnens vgl. Marrou, Henri: Geschichte der Erziehung im Altertum (übers. v. Beumann, Charlotte), München 1977, 299–301. 119 Die Einleitung zum letzten Abschnitt des Kommentars, dem über die Unsterblichkeit der Seele, beginnt M. mit einem Resümee des bislang besprochenen Textes. Dann widmet er sich dem Thema der Unsterblichkeit der Seele, ausgehend von der Makrokosmos : Mikrokosmos-Analogie »Gott : Welt = Seele : Mensch«. M. beseitigt zunächst vermeintliche Probleme wie Ciceros Aussage von der »zum Teil sterblichen Welt« unter Rekurs auf Plotin – es gebe keinen Verlust von Elementen, sondern nur deren Rekonfiguration –, bevor er sich den Unsterblichkeitsbeweisen der Platoniker (Kap. 13), den Einwänden des Aristoteles (Kap. 14) und deren Widerlegung (Kap. 15 und 16) zuwendet. 120 Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 240 folgend ist sapiens hier als Substantiv aufgefasst, und zwar im Einklang mit M.s Aussage in 1,8–12, dass Staatsmänner ebenso die Glückseligkeit erlangen können wie Philosophen. 121 Kürze (brevitas) zwecks Vermeidung von Überdruss (fastidium) beim Leser ist eine Tugend, die M. des Öfteren auch für sich in Anspruch nimmt (vgl. z. B. 1,6,21; 1,10,8; 2,4,10 f. und unten § 8). Brevitas ist ursprünglich eine rhetorische Vorschrift für die narratio der Rede mit Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit des Hörers (z. B. Cicero, De inventione 1,32; De oratore 2,326). Sie wird in der Spätantike zu einer allgemeinen Stiltugend erweitert (vgl. z. B. Hieronymus, In Danielem, praef. 12: breviter ea tantum quae obscura sunt explanantes, ne librorum innumerabilium magnitudo lectori fastidium faciat, »Wir werden nur das, was unklar ist, kurz erklären, damit nicht unzählige Bücher mit ihrer Länge dem Leser Verdruss bereiten«) und zieht sich als Topos durch die mittellateinische Literatur. Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 8 1973, Exkurs XIII: Kürze als Stilideal, 478–485, sowie Courtray, Régis: Der Danielkommentar des Hieronymus, in: Bracht, Katharina [e. a.] (Hgg.): Die Geschichte der Daniel-Auslegung im Judentum, Christentum und Islam, Berlin-New York 2007, 125–126. 122 M. zitiert hier den Titel von Plotins Enneade 1,1, aus der er in § 7–10 mehrere Passagen übersetzt. Einzelnachweise bei Mras 1933, 273, Willis 1970 z. St. und ArmisenMarchetti 2011, Bd. 2, Anm. 249–254; bei letzterer eine Reihe von Einzelbeobachtungen zu M.s Übersetzungstechnik, welche Flamants Einschätzung als ungeschickter Collage widersprechen. M.s Plotinkenntnisse scheinen auf die ersten bei-

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den Enneaden beschränkt zu sein, denn auch andernorts zitiert er nur aus diesen (Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 260). 123 Die Änderung des überlieferten discesserit in discessit bei Armisen-Marchetti (2011, Bd. 2, Anm. 255) scheint nicht notwendig angesichts der Ausbreitung des Konjunktivs im Adverbialsatz in der Kaiserzeit, eines Prozesses, der bei cum als Fernwirkung des sog. cum historicum besonders ausgeprägt ist und auch das hier vorliegende sog. ›iterative‹ cum erfasst (vgl. z. B. 1,18,6 saepe, cum in unum locum convenerint, [. . . ] separantur; bei anderen temporalen Subordinatoren bleibt der Indikativ stabil, vgl. das Nebeneinander von cum primum vas esset impletum und ubi (vas) completum est in 1,21,17). 124 Im Hintergrund steht hier das Begriffspaar Makro- und Mikrokosmos, das die Relation zwischen dem Weltganzen und dem Menschen bezeichnet, der qua Besitz von Vernunft, Seele und Materie (Körper) als dem Kosmos strukturell ähnlich betrachtet wird. Es ist, wie Schedler 1916, 42–44 im Einzelnen nachweist, der Sache nach mindestens so alt wie Anaximenes und Heraklit, dem Wortlaut nach zuerst bei Aristoteles belegt (Physik 252b 24–27) und in allen Philosophenschulen außer der epikureischen heimisch. In der Stoa findet es sich bei Poseidonios (vgl. G. Lanczkowski, Günter [u. a.] (Hgg.): Art. »Makrokosmos/Mikrokosmos«, Theologische Realenzyklopädie 21, Berlin 1991, 745–754) und auf ihn geht mittelbar auch der Ausdruck brevis mundus (braqÃc kÏsmoc) bei M. zurück statt des im Neuplatonismus üblichen mikr‰c kÏsmoc (Mras 1933, 273). Der Neuplatonismus war schon deswegen empfänglich für das Konzept, weil für ihn zwischen Welt- und Menschenseele ohnehin nur ein gradueller Unterschied besteht (vgl. Wildberg, Christian: Art. »Neoplatonism«, SEP, Kap. 6, 2016). Die Attraktivität des Begriffspaares liegt darin, dass strukturelle Ähnlichkeiten die Möglichkeit von Analogieschlüssen eröffnen, wie an der von M. hier interpretierten Cicerostelle, vgl. Gatzemeier, Matthias: Historisches Wörterbuch der Philosophie s. v. Makrokosmos/Mikrokosmos, Bd. 5 (1980), 640–642. Unter politischem Aspekt kann es etwa zur Begründung der Monarchie dienen, unter theologischem zur Begründung des Primats der auf den Makrokosmos orientierten philosophischen Tugenden über die staatsorientierten politischen Tugenden (ersteres etwa bei Olympiodor, letzteres im Neuplatonismus passim, vgl. M.s Referat in 1,8; vgl. Wildberg, Christian: Art. »Olympiodorus«, SEP, Kap. 2, 2008, und Art. »Neoplatonism« (s. o.) Kap. 6). 125 Vergil, Georgica 4,226. 126 Nach Plotin, Enneade 2,1,3 ist das, was an der Welt sterblich ist, die Konfiguration der Elemente, nicht die Elemente selbst. Der Wandel der Konfiguration selbst ändert aber nichts quantitativ und nichts an ihrem Verhältnis, weil sie nicht nach außerhalb der Welt verschwinden können. Plotin verwendet das Argument in einem anderen Kontext als M., nämlich gegen die peripatetische Auffassung, dass die Unvergänglichkeit des Himmels voraussetze, dass er aus etwas anderem als den vermeintlich vergänglichen vier Elementen bestehe, nämlich aus der massenlosen, unveränderlichen und ewigen quinta essentia; vgl. Flamant 1977, 570.

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127 Die »Worte Ciceros« sind, wie § 6 nachgetragen wird, eine Übersetzung von Platon, Phaidros 245c–246a; Cicero verwendet sie erneut in Tusculanae disputationes 1,53–54, sodass die Übersetzung zusammen mit M.s Zitat in drei unterschiedlichen Varianten vorliegt (Einzelheiten bei Caldini Montanari 2002, 343–357). Eine eigene Übersetzung bietet Calcidius 57, was aber keinen Schluss auf eine gemeinsame Quelle zulässt, vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 263 gegen Mras 1933, 274. M.s Zitat weist einige Abweichungen von der direkten Überlieferung des Somnium auf, die aber mehrfach durch die Version der Tusculanen gestützt werden, nach Sicherl (vgl. Anm. 2) aufgrund bewusster Bevorzugung des Tusculanen-Textes durch M.: § 1 quod se ipsum movet vs. quod sese movet, ebenso in § 5 mit leicht geänderter Wortstellung quod ipsum se movet, § 5 quae se ipsa moveat vs. sese moveat; vgl. Caldini Montanari 2002, 343–345 und 350 f. Aus diesem Grund wird im Lesetext auch in § 3 renascetur statt nascetur verwendet, wie bei Willis und in Zieglers Teubner-Edition von De re publica. 128 Nach Schedler 1916, 52, Mras 1933, 275 und Willis 1970 z. St. aus Plotin, Enneade 2,1,4. 129 Schedler 1916, 52–54 bemerkt zu den folgenden drei Syllogismen: »Was geboten wird, ist nichts Anderes als die in Syllogismen gebrachten Worte Platos«, und zwar (1) Phaidros 246 und 245c, (2) Phaidros 245c, (3) Phaidros 245c und 246a; vgl. auch Flamant 1977, 639 f. Den in § 9–13 vorgestellten Syllogismen gelten die in 2,14 referierten Einwände des Aristoteles. Zu Quellen und Struktur von 2,13,9–2,16 vgl. di Pasquale Barbanti 1988, 158–180. 130 Eine Abart des »aristotelischen Sorites«, eines Kettenschluss der Struktur A = B, B = C, C = D, D = P, folglich A = P; vgl. Kondakow, Nikolaj: Wörterbuch der Logik, Leipzig 1978, 453–455. 131 Kap. 14 referiert die acht Gründe des Aristoteles für die Verwerfung dieses Obersatzes (vgl. die Zusammenfassung bei Schedler 1916, 54–65): (1) § 1–23: Es gibt keine Selbstbewegung, da es keine Bewegung ohne Beweger gibt, der erste Beweger aber unbewegt sein muss, und da die Seele Prinzip der Bewegung ist, kann sie sich nicht bewegen; (2) § 24: Kein Prinzip kann identisch sein mit dem, wofür es Prinzip ist, daher ist die Seele als Prinzip der Bewegung ohne Bewegung; (3) § 25: Dieselbe Substanz kann nicht zur selben Zeit Gegensätze in sich vereinigen, weshalb die Seele nicht zugleich bewegen und bewegt sein kann; (4) § 26: Wenn Bewegung das Wesen der Seele wäre, dürfte sie niemals in Ruhe sein, was sie aber bei Ruhe des Körpers ist; (5) § 27: Wenn die Seele Ursache der Bewegung für Andere ist, kann sie nicht ihre eigene Bewegungsursache sein; (6) § 28: Jede Bewegung bedarf eines Werkzeugs, die Seele hat keines und ist folglich nicht bewegt; (7) § 29: Wäre die Seele bewegt, müsste sie auch örtliche Bewegung haben, was nicht der Fall ist; (8) § 30–35: Seelenbewegung müsste entweder lokal oder transient (Entstehen, Wachsen, Vergehen) sein: lokale gerade Bewegung aber wäre endlich, Kreisbewegung wegen des unbewegten Zentrums nicht total, transiente Bewegung widerspräche ihrer Unsterblichkeit. – M.s Quellen sind nicht klar. Schedlers Nachweis (54– 63) zufolge handelt es sich im Wesentlichen um eine Collage von Aussagen aus De anima 1,3, aus Physik 8,3–6 und Metaphysik 11. Gegen eine direkte Aristoteleslektüre

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sprechen einzelne Abweichungen; so ist der Passagier (vector) in § 8 bei Aristoteles ein Matrose (plwt†r), und dem Wurfspeer in § 11 entspricht eine von der Wand zurückprallende Kugel (Mras 276). Schedlers Vermutung (54), dass die Einwände des Aristoteles aus dem Peripatetiker Boethos (1. Jh. v. Chr.) und die platonischen Widerlegungen aus Porphyrios’ Gegenschrift gegen jenen (Über die Seele gegen Boethos) stammen, hat keine Anhänger gefunden, wurde aber auch nicht durch eine überzeugendere Rekonstruktion ersetzt (Überblick bei Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 276). Auch Armisen-Marchettis Vermutung (ebd.), dass, wie so oft, M.s Quelle der Timaios-Kommentar des Porphyrios sei, der dort eine Polemik gegen die Seelenschöpfung des Timaios (34 f.) aus De anima zitiert und die platonischen Gegenargumente beigefügt haben könnte, ist nicht beweisbar. Somit bleibt auch M.s Originalitätsanspruch in 15,2 unüberprüfbar, er selbst habe die unterschiedlichen Verteidigungsschriften der einzelnen »großen Platoniker« zusammengefasst. Autoren, die in traditioneller Manier dazu neigen, in ihm eher einen Kompilator zu sehen, bezweifeln das mehr (Schedler, Flamant, Regali) oder weniger (Mras) entschieden, andere verweisen darauf, dass M. in den Saturnalien und in seiner grammatischen Schrift De differentiis sich durchaus als fähig zur Synthese zeige (Paolo de Paolis in seiner Edition von De differentiis S. XXVII–XXX, di Pasquale-Barbanti 1988, 169–172 und Armisen–Marchetti 2011, Bd. 1 XLI und Bd. 2 Anm. 316). Synkriseis der platonischen und aristotelischen Seelenlehre, aus denen M. geschöpft haben könnte, gab es seit der Kaiserzeit jedenfalls mehrere; Dörrie/Baltes nennen darunter als eine der wichtigsten die des Mittelplatonikers Attikos (2. Jh., vgl. u. Anm. 157); der Auszug bei Eusebios ist zitiert als Text 152.1 in Bd. 6; Kommentar S. 179–176 und 187–189. Eine ähnliche Diskussion der Seelenlehre des Aristoteles findet sich bei Calcidius Kap. 223–225. Es folgt der erste der Anm. 131 genannten acht Einwände des Aristoteles, vgl. De anima 1,3, 406a; widerlegt in 2,15. Das folgende Referat beruht in seinem Kern auf Physik 8,4–5. Die Zusammenstellung der verstreuten Aristotelesstellen zu § 4–23 war eine Pionierarbeit Schedlers (54–65, vgl. Mras 1933, 275 f.); einige sind durch Willis und Armisen-Marchetti noch hinzugefügt worden, deren Anmerkungen wir die Stellenangaben entnehmen. Physik 8,4, 253a 32–254b. Das ist Thema von Physik 8,4. Physik 8,4, 254b 7 f. Physik 8,4, 254b 10. Physik 8,4 254b 14 f. und 8,5, 257a 27 f. Physik 8,4, 255a 29. Physik 8,4, 254b 20 f. Physik 8,4, 255a 1 f. Physik 8,4, 255a 5–11. 2,15,4–23. § 16–18 paraphrasieren Physik 8,5, 256a 13–21. Physik 8,5, 256a 21–b 3.

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146 Physik 8,5, 257b 28–258a 2. 147 § 22 ist M.s eigene Zusammenfassung, wie er auch in § 35 eine zu den Einwänden zwei bis acht gibt. 148 Vgl. 2,15,27. 149 Zweiter Einwand, nach Schedler 1916, 59 aus Metaphysik 11,4, 1070b 15, widerlegt in 2,16,2–4. Die Monade ist auch für M. keine Zahl, vgl. o. 1,6,7. 150 Dritter Einwand, vgl. Physik 8,4, 255a 12 f. (Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 304) bzw. Physik 1,6, 189a 30 (Schedler 1916, 60); Widerlegung in 2,16,5. 151 Vierter Einwand, vgl. De anima 1,3, 406a 16–18 und Kategorien 10, 12b 40 (vgl. Schedler 1916, 60); Widerlegung in 2,16,6–9. 152 Fünfter Einwand, nach Schedler 1916, 61 eine Kontamination von Physik 2,1, 192b 28 und 8,5, 257b 2–7 sowie Politik 3,16, 1287a 41–b3; Widerlegung in 2,16,10–13. 153 Sechster Einwand, eine Spezialisierung der aristotelischen Aussagen über Beweger schlechthin auf die Seele aus Physik 8,5, 256a 22 f., vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 307; Widerlegung in 2,16,16. 154 Siebter Einwand, vgl. De anima 1,3, 406a 30–b 5; Widerlegung in 2,16,15–19. 155 Die aristotelischen Quellen für den achten Einwand (§ 30–35) finden sich bei Schedler 1916, 62–65 und Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 309–315: zu den vier Bewegungsarten in § 30 vgl. De anima 1,3, 406a 12 f., zu den Bewegungsrichtungen in § 31 vgl. Physik 8,8, 261b 28 f., zur Begrenztheit der Linie und der dadurch notwendigen Unterbrechung einer Bewegung in § 32 vgl. Physik 8,9, 265a 17 f. bzw. Physik 8,8, 261b 31–36 und 262a 12–14, zur Kreisbewegung in § 33 vgl. Physik 8,9, 265b 1– 8 (von M. schon in 1,19,11 behandelt), zur transienten Bewegung in § 34 vgl. Physik 5,1, 225a 25–b 2. Die Widerlegung erfolgt in 2,16,20–25. 156 Wie in § 22 f. zum ersten Einwand gibt M. hier eine eigene Zusammenfassung zum zweiten bis achten Einwand in Form eines Syllogismus. 157 Zusammenfassung der Argumentation bei Schedler 1916, 54–65; Texte des Mittelund Neuplatonismus zur Verteidigung der Seelenlehre Platons gegen Aristoteles, die Stoa und den Epikureismus bei Dörrie/Baltes Bd. 6.1, Texte 152.1–4 (Kommentar ebd. 145–188 bzw. 420–437), darunter die Synkrisis der Seelenlehre Platons und Aristoteles’ des Mittelplatonikers Attikos (Text 152.1) die den Nachweis führt, dass die Unsterblichkeit der Seele die Grundlage der gesamten platonischen Philosophie ist und ihre Widerlegung die gesamte Philosophie Platons umstürzen würde. Diese Texte sind geprägt von demselben zelotischen Ton, den M. in Kap. 15f. anschlägt; so garniert Attikos etwa seine Behauptung, dass sich Aristoteles selbst über die wichtigsten Fragen der Seelenlehre im Unklaren gewesen sei, mit dem Vergleich, dass er wie ein Tintenfisch nur dunkle Tinte versprühe, um nicht gefasst zu werden. 158 Zu diesem Originalitätsanspruch vgl. o. Anm. 131, zu M.s Eigengut s. u. § 13 mit Anm. 163. 159 Quod ex se moveatur paraphrasiert den platonischen Begriff aŒtok–netoc, der in § 14 behandelt wird. Selbstbewegtheit ist Thema von § 4–33, Selbstbewegtheit der Seele von 2,16.

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160 Es folgt die Widerlegung von Aristoteles’ erstem Einwand aus 2,14. 161 Im Hintergrund steht hier das aristotelische Begriffspaar Substanz : Akzidenz, das der Neuplatonismus rezipiert hatte und das M. möglicherweise aus Porphryios’ Isagoge kennt (Hinweis von Christian Tornau; Neri 2007, Anm. 227 verweist auf Plotins Enneade 2,6,1). 162 M.s dreigliedrige Variation nomen [. . . ] vocabulum [. . . ] appellatio (Nomen [. . . ] Wort [. . . ] Nomen [vgl. Saturnalien 1,4,3]) verunklärt hier, dass es jedes Mal um die Attribution eines Nominals geht; die einheitliche Übersetzung mit »Attribut« sucht dem, wenn auch unter stilistischer Einbuße, Rechnung zu tragen. 163 Die folgenden Ausführungen zur Diathese dürften auf das Konto des M. selbst gehen, der sie auch in De differentiis et societatibus Graeci Latinique verbi behandelt. Die vorstehende Definition findet sich dort in der Ausgabe von de Paolis 1990, 163: et in activo et in passivo debent omni modo duae, et administrantis et sustinetis, subesse personae, »sowohl im Aktiv als auch im Passiv müssen zwei Partizipanten vorhanden sein, der Handelnde und der Erleidende«; die von De differentiis abhängige anonyme Schrift De verbo bietet dazu die Explikation activum est, ubi altero agente alter patitur, passivumque est, quando altero patiente penes alterum est actus, »aktiv ist eine Handlung, wenn A sie ausführt und B sie erleidet, passiv ist sie, wenn A sie erleidet und ihr Vollzug in den Händen von B liegt« (de Paolis 1990, 158). Vgl. Signes Codoñer, Juan: La diátesis del verbo griego según Macrobio o la »ratio« latina en gramática, in: Hinojo Andrés, Gregorio/Fernández Corte, José Carlos (Hgg.): Munus quaesitum meritis: homenaje a Carmen Codoñer, Salamanca 2007, 805–813. – Für die § 13–19 haben wir uns für eine technische, das grammatisch Gemeinte explizierende Übersetzung entschieden, weil zwar klar ist, was M. sagen will, seine Darstellung aber mangels präzisen Begriffsapparats unerwünscht vage bleibt. Wir verwenden die Begriffe »Situation« (das vom Verbalvorgang Bezeichnete) und »Partizipanten« der Situation (Subjekt und Objekt bzw. Agens und Patiens). 164 Diese Beschreibung entspricht der modernen linguistischen des sog. reflexiven Passivs als »autokausativ« (vgl. Pinkster, Harm: The Oxford Latin Syntax, Bd. 1, 2015, 260–264). M. versucht im Folgenden, dieses morphologisch passive, aber semantisch autokausative moveri gegen zwei seiner Auffassung nach genuin passive Situationstypen abzugrenzen, nämlich (a) das echte Passiv des Typs secari, (b) das formal aktive, semantisch aber inagentive und seiner Meinung nach deshalb passive stare. Für die Zuordnung dieses stare1 mit nicht-agentivem Subjekt (das er richtig von stare2 mit agentivem Subjekt unterscheidet, vgl. »die Uhr steht *bewegungslos in der Ecke« vs. »Hans steht bewegungslos in der Ecke«; im Sinne der Aktionsartenklassifikation bei Pinkster a. O. 22–24 ist der Situationstyp von stare1 ›state‹, der von stare2 ›position‹) zum echten Passiv des secari-Typs dienen ihm zwei Kriterien (a) die Nicht-Agentivität des Subjekts und (b) die vermeintliche Präsenz eines externen Agens (§ 15 alio sistente). Dabei bringt er aber drei Dinge durcheinander: (1) Das Subjekt von secari unterliegt der Kontrolle eines externen Agens und ist demzufolge Patiens, wogegen das Subjekt von stare1 keiner Kontrolle unter-

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Anhang liegt (und keine ausübt), denn (2) der vermeintliche Agens bei stare1 gehört nicht zur Partizipantenstruktur der durch stant hastae ausgedrückten Situation (hastae stant *ab aliquo), sondern zu der einer vorausliegenden Situation hastae sistuntur (defiguntur) ab aliquo. M. verwechselt hier außersprachliches Situationswissen mit sprachlicher Partizipantenstruktur (ebenso bei calere in § 17). (3) Moveri kann im Gegensatz zu M.s Auffassung (§ 15 quando nihil inest faciens, patiens inesse non poterit) durchaus einen Agens haben, der die Situation kontrolliert, wenn er auch nicht extern, sondern intern und zugleich Patiens (autokausativ) ist. Das hat M. mit dem Begriff aŒtok–neton in § 14 richtig erfasst, verliert es aber mangels Differenzierung von internem und externem Agens in § 15 zugunsten der Abgrenzung vom agentiven Passiv aus den Augen, um in § 19 aber den Begriff aŒtok–neton wiederaufzunehmen. Die ganze Diskussion von § 15–17 hätte sich somit erübrigt. Vergil, Aeneis 6,652. Zu stare vgl. Anm. 164. In De verbo (vgl. Anm. 163) wird diese Verbgruppe als semantisch passiv bezeichnet wegen der inagentiven Funktion des Subjekts, gleichzeitig aber ihre Klassifikation als Passiv wegen der Nichtexistenz eines Agens abgelehnt (de Paolis 1990, 158): (verba) multa ›o‹ terminata passivae significationis sunt, ut algeo esurio, sed quoniam minime altero patiente penes alterum est actus, ideo nec passiva dicuntur, »viele Verben mit der (aktiven) Endung -o haben passive Bedeutung, wie etwa algere und esurire (Schmerzen haben; hungern); aber weil hier nicht das Erleiden bei einem Partizipanten und das Handeln bei einem anderen liegt, werden sie nicht als passiv bezeichnet«. Vgl. 2,14,11. Vgl. 2,13,1. Auf das sprachliche Problem dieser Stelle hat schon Jan in seiner Edition von 1852 hingewiesen: Sofern der Text in Ordnung und nicht conivens zu lesen sei, sei für den zweiten Satz Konstruktionswechsel vom NcI zum AcI mit dem üblichen Bedeutungswechsel videri putare anzunehmen. Bei Stahl, Regali, Armisen-Marchetti und Neri findet sich keine Äußerung dazu, und es ist auch nicht vollständig klar, welche Syntax ihre Übersetzungen jeweils voraussetzen (Stahl: »in his use of such devices he seems to have willfully twisted the argument in his own interest«; ArmisenMarchetti: »fermant les yeux sur le recurs à de telles arguties, il a par un jeu déliberé travaillé pour lui-même«; Regali und Neri lassen operam und lusisse unübersetzt: »ricorrendo a tali sottigliezze, abbia voluntariamente chiuso gli occhi nel suo interesse«, bzw. »nel’esercizio di tale cavilli, abbia voluto deliberamente chiudere gli occhi nel proprio interesse«; operam hatte schon Planudes (um 1300) weggelassen: Çll' e c gumnas–an toio‹twn leptologi¿n ·k∞n pepaiqËnai. Die Versionen von Stahl und Armisen-Marchetti setzen offenbar eine Interpretation von operam ludere im Sinne von »unseriös arbeiten« voraus; laut ThLL 9,2, 666, 46–49 ist operam ludere jedoch so viel wie operam perdere (vgl. auch Holford-Strevens, Leofranc: Rez. Regali Bd. 2, Gnomon 65 (1993), 38). Jans Annahme des Konstruktionswechsels scheint plausibel; er dürfte pragmatisch motiviert sein: Der zweite Satz hat eine komplexere Informationsstruktur (er besteht aus drei nominalisierten Prädikationen) und folgt daher der ikonischen Tendenz, komplexere Information durch

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Konstruktionen mit höheren Satzeigenschaften auszudrücken (das steht hinter der Schulgrammatikregel, dass ein NcI oft durch den AcI fortgeführt wird, vgl. dazu Orlandini, Anna: 1,2,3 videor: Analyse d’un prédicat polysémique, in: Bammesberger, Alfred/Heberlein, Friedrich: Akten des Achten Internationalen Colloquiums zur Lateinischen Linguistik, Heidelberg 1996, 415–427). Heauton timorumenos ist der Titel einer Komödie des Terenz von 163 v. Chr. Movetur ist Zitierirrtum statt agitatur, das in 2,13,1 und ebenso im Somnium-Text und in den Tusculanen steht, vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 334. Vgl. 2,14,20. Vgl. Platon, Leges 10, 894b und 895e sowie Cicero, De natura deorum 2,32: cui duo placet esse motus, unum suum, alterum externum, esse autem divinius quod ipsum ex se sua sponte moveatur quam quod pulsu agitetur alieno. Hunc autem motum in solis animis esse ponit, ab isque principium motus esse ductum putat, »Seiner Auffassung nach gibt es zwei Arten von Bewegung, eine Eigenbewegung und eine von außen kommende; es sei aber das göttlicher, was sich selbst aus sich heraus und von sich aus bewegt, als das, was durch äußeren Impuls bewegt wird. Diese Bewegung sieht er ausschließlich in der Seele und von der sieht er das Prinzip der Bewegung hergeleitet«. Vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 337 f. Vgl. 2,14,23. Vgl. 2,15,3. Nach Plotin, Enneade 4,7,2, vgl. Schedler 1916, 58. Gerichtet gegen den aristotelischen Syllogismus von 2,14,23. Es folgt die Widerlegung der aristotelischen Einwände 2–8 aus 2,14,23–30. Zweiter Einwand, s. 2,14,24. Dasselbe Beispiel bei Aristoteles Physik 7,1, 242a 36 f. (Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 344). Vgl. o. 2,15,6. Dritter Einwand, vgl. 2,14,25. Vierter Einwand, vgl. 2,14,26. Schedler 1916, 60 verweist für die Aktivität des Geistes auf Plotin, Enneade 1,1,13 und 4,3,23 und für die Bewegungen im Schlaf auf Aristoteles Problemata 30,14, 957a 6; zum Traum vgl. Armisen-Marchettis (Anm. 350) Hinweis auf De anima 3,9, 432a 11 f. Fünfter Einwand, vgl. 2,14,27. Kategorien 10, 12b 35 (vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 352). Sechster Einwand, vgl. 2,14,28. Siebter Einwand, vgl. 2,14,29. Vgl. 1,13,6 und 11 f. Maerens et invita discedat ist nach Regali 1990 z. St. Paraphrase des (schon in 1,9,4 zitierten) letzten Verses der Aeneis. Achter Einwand, vgl. 2,14,30–35. Cicero, De re publica 6,27 nach Platon, Phaidros 245c.

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192 Nihil similius de visibilibus markiert die Parallele zum platonischen Sonnengleichnis in 1,2,15: Wie die Sonne unter den sichtbaren Erscheinungen das Wesen des Höchsten Guten am besten sichtbar macht (simillimum de visibilibus), so tut es die Quelle für die Selbstbewegtheit der Seele. – Quelle des vorliegenden Gleichnisses ist nach Schedler 1916, 60, Mras 1933, 277 und Willis z. St. Plotin, Enneade 3,8,10: »Das Leben . . . quillt gleichsam . . . hervor wie aus einem Born. Stell dir eine Quelle vor, die keinen anderen Ursprung hat, sich aber selbst allen Strömen dargibt und dabei nicht verbraucht wird durch diese Ströme, sondern selber im Stillesein beharrt . . . « (übers. v. Harder, Bd. 3, S. 15). Zur Produktivität der Quellenmetaphorik bei Plotin s. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 360. 193 Die Verwendung der poetischen Namen Eridanus und Hister für Po bzw. Donau signalisiert das gehobene Textregister des Kapitelschlusses. – Statt der besser überlieferten Wortfolge videndo admirans entscheidet sich Armisen-Marchetti für admirans uidendo, und zwar metri causa. Das aber beschränkt die kausale Relation von videndo gegenüber admirans et requirens wegen des engeren Skopus des nachgestellten Gerunds auf admirans und löst damit die ikonische Struktur des Ausdrucks, ›Perzeption – Reaktion‹ (sehen > sich wundern > fragen) auf; zugleich macht es videndo tautologisch, denn admirans implizierte ein folgendes videndo bereits. 194 Nach Schedler 1916, 64 und Willis z. St. angeregt durch Plotin, Enneade 3,6,3 und Porphyrios, Ad Marcellam 29. 195 Nach Plotin, Enneade 1,8,14, wo die Laster in Bezug zu den Seelenregungen gesetzt sind (Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 362). 196 Vgl. Platon, Leges 10, 896e 8-897b 5 (Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 363). 197 M.s ambivalente Haltung gegenüber Aristoteles widerspiegelt die des Neuplatonismus überhaupt, der ihn seit Porphyrios’ Isagoge einerseits als Autorität auf dem Gebiet der Logik anerkennt, andererseits grundlegend kritisiert, der »sogenannte Sekretär der Natur« (Â t®c f‘sewc, πc fasi, grammate‘c), wie der Mittelplatoniker Attikos ihn ironisch tituliert (Text bei Dörrie/Baltes Bd. 6.1, Nr. 152.1, Z. 48 f.; Kommentar 170–176, vgl. Anm. 157), habe die Seele all ihrer Würde beraubt. 198 1,8,5–12. 199 Vgl. 1,8,5–11, wo diese vier Kardinaltugenden der Untergliederung der jeweiligen Hierarchiestufe der Tugenden dienen (politische, purgatorische, Tugenden des geläuterten Geistes, Tugenden des no‹c); § 5 nimmt Bezug auf die Beschreibung der politischen Tugenden in 1,8,7, § 6 auf die der purgatorischen in 1,8,8. 200 Gegenüber 1,8, wo sich M. bereits, in Abkehr von der philosophischen Tradition und aus der Perspektive des römischen Spitzenbeamten, für die Gleichwertigkeit der politischen und der philosophischen Tugenden ausgesprochen hatte, geht er hier noch einen Schritt weiter: Es ist die Addition beider Tugenden, welche zur höchsten Vollkommenheit, zur gemina perfectio (§ 9) führt; der Besitz der kontemplativen Tugenden alleine erhält in den Formulierungen non aptus ad agendum und agendi nescius (§ 6 bzw. § 8) sogar eine leicht negative Konnotation. 201 Romulus gilt in Saturnalien 1,12 als Erfinder des römischen Kalenders; die Legende von seiner Himmelfahrt findet sich bei Livius 1,16 und Plutarch, Romulus 27,6.

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Pythagoras wird als Entdecker der Harmonielehre in 2,1,8–13 gewürdigt. Die Doppelrolle des (historisch kaum fassbaren) Lykurg, des Schöpfers der spartanischen Verfassung, als eines Politikers und Weisen findet sich bei Plutarch (Lykurg 31,1– 3); Solon (640–560 v. Chr.), der Reformator der athenischen Verfassung, wird im platonischen Timaios als der »Weiseste der Sieben Weisen« bezeichnet (21c), dessen Weisheit auf die Unterweisung durch die Ägypter zurückgeführt wird, auch hinsichtlich der von M. in 2,10,10–14 behandelten periodischen Weltenbrände und Überschwemmungen (21d–23c). Numa, der zweite römische König und nach Saturnalien 1,13,1–8 und 1,16,2 Begründer des modernen Kalenders, galt als Schüler des Pythagoras (kritisiert bei Livius 1,18,2). Ciceros idealisiertes Bild des Älteren Cato (234–149 v. Chr.) weist diesem die Rolle des Weisen zu, der in Cato Maior 77–83, passend zum vorliegenden Text, einen Vortrag über die Unsterblichkeit der Seele hält; der jüngere Cato (95–46 v. Chr.) war Stoiker, der nach Plutarch (Cato Minor 68) vor seinem Freitod Platons Phaidon las. Vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 370–373 und Neri 2007, Anm. 273 f. Vgl. 1,13,6–10. M. bezieht sich hier auf eine (noch heute aktuelle, vgl. Barta, Heinz: Zivilrecht. Grundriss und Einführung in das Rechtsdenken, Innsbruck 2004, 12) Unterscheidung von leges perfectae, leges minus quam perfectae und leges imperfectae. Für den Fall der Zuwiderhandlung sieht der erste Gesetzestyp die Nichtigkeit der Handlung, der zweite lediglich die Auferlegung einer Buße und der dritte keine Rechtsfolge vor (ein modernes Beispiel für letzteren ist die derzeitige Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen). Nach dem ersten Jh. n. Chr. wurden keine leges imperfectae mehr erlassen, am 7.4.439 wurden sie von Theodosius II. für kraftlos erklärt ( Jörs, Paul [u. a.] (Hgg.): Römisches Recht, Berlin 2013, 117). Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 378 sieht darin einen terminus ante quem für M.s Kommentar, aber das Präsens in imperfecta dicitur impliziert ja nicht notwendigerweise, dass der Äußerungszeitpunkt tatsächlich vor der Abschaffung des Gesetzes liegt. Vgl. Platon, Politeia 10, 615a–c. M. selbst behandelt in 1,10,9–15 die Unterwelt und ihre Strafen als Allegorie des Körpers und psychosomatischer Vorgänge. Die Vorstellung der Heimatlosigkeit der Seele während ihres irdischen Lebens geht nach Dörrie/Baltes Bd. 6.2, 334 bis auf Empedokles zurück (VS 31 B 115); zusammen mit der seit dem fünften Jh. v. Chr. entwickelten Vorstellung ihrer Rückkehr in den Himmel wird sie ab der Kaiserzeit zum Topos (bei Dörrie/Baltes 1983, Bd. 6.2, Texte 177.1–2 belegt durch Plotin, Enneade 1,6,8 und Boethius, De Consolatione philosophiae 4 c. 1; Kommentar 334–343). Vgl. 1,13,10: Die Seelen derer, die den philosophischen Tod erlitten haben, verkehren schon zu Lebzeiten mit den Himmlischen; zu Porphyrios’ De reditu animae als theoretischer Grundlage s. 1,13,16 mit Anm. 193. Zur Geschichte dieser Dreiteilung der Philosophie in die drei Teildisziplinen Ethik, Physik und Logik s. Dörrie/Baltes Bd. 4, Texte 101.1–9 und 205–239 (Kommentar). Sie ist bereits platonisch. Die ihr inhärente Hierarchie wurde zunächst in der Stoa aufgegeben (wo sich die Gleichberechtigung der Teildisziplinen im Organismus-

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Anhang Gleichnis Logik = Knochengerüst, Ethik = Muskeln, Physik = Seele spiegelt), aber im Mittel- und Neuplatonismus restituiert, als der Begriff der Logik verdrängt wurde durch den der Epoptik, im Sinne der Befassung mit dem »Intelligiblen, dem wirklich Existierenden und mit den Ideen« (Theon von Smyrna S. 15, 16–18 Hiller 1878); der Begriff ist den eleusinischen Mysterien entlehnt, wo er die höchste Stufe der Einweihung bezeichnete; Calcidius Kap. 127 verwendet ihn, M.s philosophia rationalis meint der Sache nach dasselbe, vgl. nachstehend. Damit wurde gleichzeitig das Philosophiestudium hierarchisch strukturiert und auf die Epoptik ausgerichtet: Porphyrios hat Plotins Enneaden nach diesem Prinzip organisiert (vgl. Simonini 1986, 14 f.). Cicero macht es nach M.s Auffassung mit dem somnium Scipionis ebenso, wie § 16 zeigt: Der Blick steigt auf (ascendit) vom menschlichen Leben, Gegenstand der instituta moralia, über den Kosmos (physicae secreta) zu den »Höhen« der Logik (ad altitudinem philosophiae rationalis), d. h. zum Intelligiblen (§ 16 cuius essentiam sola ratio deprehendit) und zur Unsterblichkeit der Seele. M. sieht also das Somnium offenbar folgendermaßen gegliedert: Die Ethik ist Gegenstand von De re publica 6,13–15, kommentiert in 1,8,1–14,20, die Physik (Arithmetik, Musik, Geographie und Astronomie, also das zukünftige Quadrivium) von 6,16– 24, kommentiert in 1,14,21–2,11, die Logik oder ›Epoptik‹ von 6,26–28, kommentiert – und 2,12,5 als Höhepunkt des Kommentars bezeichnet – in 2,12–16. Es versteht sich, dass dieses Konstrukt nicht ganz ohne Widersprüche auskommt; so stehen die ›Arithmetik‹ (die Numerologie von 5,3–6,83) und der erste Abschnitt über die Seele systemwidrig in der ›Ethik‹, und die Einleitung, unverwertbar für M.s Anliegen, bleibt ganz außer Betracht. Vgl. Armisen-Marchetti 2011, Bd. 2, Anm. 382– 384 auf der Basis von Hadot, Pierre: La division des parties de la philosophie dans l’Antiquité, Museum Helveticum 36 (1979), 201–223; Reprint in Hadot, Pierre: Études de Philosophie Ancienne, Paris 1998, 125–158. Ein biographischer Anwendungsfall dieses hierarchischen Prinzips (kombiniert mit der Heptadengliederung, vgl. Anm. 100 zu 1,6,62) ist Marinos’ Proklos-Vita, vgl. Siorvanes 2014, 43 f.

Indices Die Angaben beziehen sich jeweils auf Buch, Kapitel und Paragraph von Macrobius’ Kommentar.

Antike Autoren Anaximenes: 1,14,20. Apuleius: 1,2,8. Arat: 1,17,14. Archimedes: 1,19,2; 2,3,13–14. Aristoteles: 1,14,19; 2,14,2; 2,14,4; 2,14,7; 2,14,22; 2,15,1–2; 2,15,18; 2,15,23; 2,16,26. Asklepiades: 1,14,19. Äsop: 1,2,9. Boethos: 1,14,20. Cicero: 1,1,1–2; 1,1,8; 1,2,1–3; 1,3,2; 1,5,1; 1,6,34; 1,8,12; 1,11,3; 1,12,18; 1,13,20; 1,17,6–7; 1,17,17; 1,19,1–2; 1,19,4; 1,19,14; 1,20,3; 1,21,28; 2,2,1; 2,2,21; 2,2,23; 2,3,3; 2,3,16; 2,4,10; 2,4,12; 2,5,4; 2,5,7; 2,5,28; 2,7,1; 2,7,7; 2,9,6; 2,11,13; 2,12,2; 2,13,1; 2,13,6; 2,16,22; 2,17,15. Demokrit: 1,14,19; 1,15,6. Diodor: 1,15,5. Diokles v. Karystos: 1,6,65. Empedokles: 1,2,21; 1,14,20. Epikur: 1,2,3; 1,5,1; 1,14,20. Eratosthenes: 1,20,9. Herakleides Ponticus: 1,14,19. Heraklit: 1,2,21; 1,14,19; 1,20,3. Hesiod: 1,2,9; 1,9,6–7; 2,3,2. Hipparch: 1,14,20. Hippokrates: 1,6,17; 1,6,64; 1,14,19. Homer: 1,3,15; 1,3,17; 1,6,37; 1,7,4; 1,12,3; 1,14,15; 2,8,5; 2,10,11. Juvenal: 1,8,9; 1,9,2; 1,10,12. Kolotes: 1,2,3. Kritias: 1,14,20. Kritolaos: 1,14,20.

Lukan: 2,7,16. Menander: 1,2,8. Numenios: 1,2,19. Parmenides: 1,2,21; 1,14,20. Philolaos: 1,14,19. Platon: 1,1,1–2; 1,1,4; 1,2,1; 1,2,3; 1,2,15; 1,5,1; 1,6,2; 1,6,23–24; 1,6,28–31; 1,6,45; 1,8,5; 1,11,1; 1,12,6–7; 1,13,5; 1,13,7; 1,13,20; 1,14,19; 1,17,7; 1,19,1–2; 1,19,14; 1,20,2; 1,21,27; 2,1,23; 2,2,1; 2,2,14; 2,2,15–16; 2,2,20; 2,2,22–23; 2,3,1; 2,4,13; 2,10,14; 2,13,6; 2,13,9; 2,14,23; 2,15,1–2; 2,15,6; 2,15,18; 2,15,20; 2,15,25–26; 2,16,4; 2,16,22. Plotin: 1,8,5; 1,13,9; 1,13,20; 1,17,11; 1,19,27; 2,12,7–8; 2,12,14. Porphyrios: 1,3,17; 2,3,15. Poseidonios: 1,14,19; 1,15,7; 1,20,9. Ptolemaios: 1,19,20. Pythagoras: 1,2,21; 1,11,1; 1,12,3; 1,14,19; 2,1,8; 2,1,13; 2,17,8. Sokrates: 1,1,6. Straton der Peripatetiker: 1,6,65. Theophrast: 1,15,4. Vergil: 1,3,6; 1,3,19; 1,6,44; 1,7,3; 1,7,7; 1,8,6; 1,8,11; 1,9,4–5; 1,9,8–9; 1,10,17; 1,13,12; 1,14,14; 1,15,12; 1,16,4–5; 1,17,5; 1,17,14; 1,18,15; 1,19,18; 2,3,9; 2,3,11; 2,5,7; 2,5,16; 2,7,1; 2,8,1; 2,8,5–6; 2,8,8; 2,11,6; 2,12,13; 2,15,15. Xenokrates: 1,14,19. Xenophanes: 1,14,20. Zenon: 1,14,19.

Griechische Wörter

469

Griechische Wörter t‰ ÇgajÏn (tÇgajÏn): 1,2,14–15. a sjhtikÏn: 1,12,14; 1,14,7; 1,19,23. Çmf–kurtoc: 1,6,55–56. äntoikoi: 2,5,33. Çplan†c: 1,6,18; 1,9,10; 1,11,6; 1,11,8; 1,11,10; 1,14,23; 1,21,28; 2,4,8; 2,11,10. Årmon–a: 1,14,19. Çst†r: 1,14,21. ästron: 1,14,21. aŒtok–nhtoc: 2,15,6; 2,15,14; 2,15,19; 2,15,22; 2,15,32. galax–ac (k‘kloc): 1,4,4–5. gn¿ji seautÏn: 1,9,2. gramm†: 1,5,7. dËmac: 1,11,3. diàmetroc: 1,20,15–16; 1,20,18–21; 1,20,23– 25; 1,20,31–32. diÄ pas¿n: 1,6,43–44; 2,1,17; 2,1,24–25; 2,2,18. diÄ pas¿n ka» diÄ pËnte: 2,1,18; 2,1,24– 25. diÄ pËnte: 1,6,43–44; 2,1,16; 2,1,24–25; 2,2,18. diÄ tessàrwn: 1,6,43–44; 2,1,15; 2,1,24–25; 2,2,18. d–esic: 2,1,23. d»c diÄ pas¿n: 2,1,19; 2,1,24–25; 2,2,18. diqÏtomoc: 1,6,54–55. duàc: 1,6,18. ‚ntelËqeia: 1,14,19. ‚n‘pnion: 1,3,2–4. ‚piàlthc: 1,3,7. ‚pijumhtikÏn: 1,6,42; 1,12,14. ‚pifàneia: 1,5,9. ·ptàc: 1,6,45; 1,6,76.

·rmhneutikÏn: 1,12,14. zºdia: 1, 21, 22. jewrhtikÏn: 1,12,14. jumikÏn: 1,6,42; 1,12,14.  dËai: 1,2,14. KalliÏph: 2,3,2. k‘boc: 1,5,9–10; 2,2,7. leÿmma: 2,1,23. logikÏn: 1,14,7. logistikÏn: 1,6,42; 1,12,14. mesËnteron: 1,6,77. m†nh: 2,11,6. MoushgËthc: 2,3,3. no‹c: 1,2,14; 1,8,10; 1,12,12; 1,14,6; 1,14,8. Óneiroc: 1,3,2. Ìrama: 1,3,2. t‰ pên: 1,17,5. praktikÏn: 1,12,14. pr¿ton a“tion: 1,2,14. septàc: 1,6,45. s®ma: 1,11,3. skopÏc: 1,4,1. stereÏn: 1,5,9–10. s¿ma: 1,11,3. tÇgajÏn: s. (t‰) ÇgajÏn. tetrakt‘c: 1,6,41. tÏnoc: 2,1,20. ’lh: 1,12,7. ÕlikÏc (no‹c): 1,12,12. fàntasma: 1,3,2–3; 1,3,7. fantastikÏn: 1,12,14. fàseic: 1,6,55. futikÏn: 1,12,14; 1,14,7; 1,19,23. qrhmatismÏc: 1,3,2.

Namen

471

Namen Acheron: 1,10,11. Achilles: 1,7,6. Afrika: 2,11,16. Africanus: s. Scipio. Agamemnon: 1,3,15. Amphion: 2,3,8. Andromeda (Sternbild): 1,14,21. Anna (Schwester Didos): 1,3,6. Apollon: 2,3,3. Aquilo (Nordwind): 2,5,3. Arabia: 2,7,19. Asowsches Meer: 2,7,20. Atlantik: 2,5,3; 2,9,9. Auster (Südwind): 2,5,20–21; 2,7,13– 14. Ägypten: 2,7,19; 2,10,14. Ägypter: 1,19,25; 1,20,11; 1,21,9; 2,10,14. Ämilius Paullus: 1,3,12; 1,10,1; 1,10,5; 1,13,18; 2,12,2. Äneas: 1,7,7. Äthiopen: 2,7,19; 2,10,11. Äthiopien: 2,7,19. Bär (Sternbild): 1,16,4; 2,8,6–7. Becher des Bacchus (Sternbild): 1,12,8. Camenen: 2,3,4. Cato (Maior und Minor): 2,17,8. Chaldäer: 1,19,2. Dardanus, -iden: 1,7,8. Delphi: 1,9,2. Delos: 1,7,7. Dionysios (Tyrann v. Syrakus): 1,10,16. Dis (Pluto): 1,10,10; 1,11,4; 11,2,3. Drache (Sternbild): 1,18,5; 2,8,7. Eleusis: 1,2,19. Elysische Felder: 1,11,8. Er: 1,1,9; 1,2,5; 1,2,12; 1,5,1; 2,17,13. Eridanus: 2,16,24. Etrusker: 2,3,4. Eustathius: 1,1,1; 2,1,1. Gallier: 2,10,8. Ganges: 2,10,3.

Gorgias (platon. Dialog): 1,1,6. Griechen: 1,2,14; 1,3,2; 1,3,15; 1,4,1; 1,5,9; 1,6,37; 1,6,45; 1,6,77; 1,7,5; 1,9,7; 1,12,10; 1,14,21; 1,21,22; 2,2,7; 2,3,1–2; 2,4,8; 2,5,7; 2,5,16; 2,5,33; 2,10,7; 2,11,6; 2,17,8. Griechenland: 1,5,7; 2,17,8. Hister: 2,7,20; 2,16,24. Hyaden (Sternbild): 1,18,5; 1,18,13. Hyperboräer: 2,7,20. Indisches Meer: 2,9,7. Italien: 1,7,8. Ithaka (Höhle von): 1,12,3. Juno: 1,17,15. Jupiter (Planet): 1,11,8; 1,12,14; 1,17,3; 1,19,3; 1,19–20; 1,19,25; 1,21,24; 1,21,26– 27; 2,3,13–14; 2,11,7. Juppiter: 1,7,4; 1,17,14; 2,10,11. Kalliope: 2,3,2. Kapitol: 1,3,13. Karthago: 1,3,13: 1,3,16; 1,4,5; 2,11,16. Kaspisches Meer: 2,9,7. Kaukasus: 2,10,3. Kokytos: 1,10,11. Krebs (Sternbild): 1,12,1–2; 1,12,4; 1,12,8; 1,15,14; 1,18,8; 1,18,16–17; 1,20,6; 1,21,3; 1,21,24–25; 2,7,10; 2,7,14–15. Kreta: 1,7,8. Krone (Sternbild): 1,14,21. Kronos: 1,2,11. Laelius: 1,4,2. Lateiner: 1,3,2; 1,5,2; 1,12,10. Lethe: 1,12,11. Liber: s. Becher des Bacchus. Libyen: 2,7,19. Löwe (Sternbild): 1,12,4; 1,12,8; 1,18,17; 1,20,6; 1,21,24–25. Lykurg: 2,17,8. Manen: 1,10,17; 1,12,4; 1,16,5. Mars (Planet): 1,11,8; 1,12,14; 1,17,3; 1,19,3– 4; 1,19,18–20; 1,21,24; 1,21,26–27; 2,3,13– 14; 2,11,7.

472 Merkur (Planet): 1,11,8; 1,12,14; 1,17,3; 1,19,2; 1,19,4–6; 1,21,24; 1,21,26–27; 2,3,13–14; 2,4,9; 2,11,7. Meroe: 2,8,3. Minerva: 1,6,11. Muse(n): 1,17,14; 2,3,1–2; 2,3,4. Nasica: 1,4,2. Nestor: 1,3,15. Nil (Katarakte): 2,4,14; 2,16,24. Ninos: 2,10,7. Numa Pompilius: 2,17,8. Orion (Sternbild): 1,18,5. Orpheus: 1,2,9; 2,3,8. Orphiker: 1,12,12. Ozean: 1,6,61; 2,5,3; 2,5,6; 2,9,1; 2,9,3; 2,9,6–7; 2,9,9; 2,10,10–11; 2,17,16. Pallas Athene: 1,6,11. Pamphylien: 1,1,9. Paullus: s. Ämilius. Hund (Sternbild): 1,18,15. Perseus (Sternbild): 1,14,21. Phaidon (platon. Dialog): 1,1,6; 1,12,7; 1,13,5. Phaidros (platon. Dialog): 2,13,6. Phlegeton: 1,10,11. Pleiaden (Sternbild): 1,18,5; 1,18,13–14. Republik (platon. Dialog): 1,1,1. Rom: 2,17,8. Romulus: 2,11,3; 2,11,13–17; 2,17,8. Rotes Meer: 2,9,7. Römer: 2,5,7; 2,10,3; 2,17,8. Saturn (Gott): s. Kronos. Saturn (Planet): 1,11,8; 1,12,14; 1,17,3; 1,19,3; 1,19,16; 1,19,18; 1,19,20; 1,19,26; 1,21,24; 1,21,26–27; 2,3,13–14; 2,11,7. Schütze (Sternbild): 1,21,24. Scipio Maior: 1,3,12; 1,13,3; 1,16,2; 2,10,2; 2,12,2; 2,17,1; 2,17,9.

Indices Scipio Minor: 1,1,2; 1,2,2; 1,2,5; 1,2,12; 1,3,12; 1,3,14; 1,3,16; 1,4,1–5; 1,5,1; 1,7,9; 1,8,1; 1,10,2; 1,10,4; 1,12,3; 1,13,1; 1,13,4; 1,16,2; 1,17,1; 2,11,16–17; 2,12,4–5; 2,17,9. Semiramis: 2,10,7. Sirene(n): 2,3,1. Sizilien: 1,10,16. Skorpion (Sternbild): 1,18,13; 1,18,16; 1,21,24. Skythien: 2,7,20. Solon: 2,17,8. Staat (Platons): s. Republik. Steinbock (Sternbild): 1,12,1–2; 1,15,14; 1,21,24; 1,21,26; 2,7,10–11. Stier (Sternbild): 1,14,21; 1,18,8; 1,18,13; 1,18,15; 1,18,17; 1,21,26. Styx: 1,10,11; 1,16,5. Syene: 2,7,15–16; 2,8,3. Tanais: 2,7,20; 2,16,24. Tartarus: 2,17,13. Teuker: 1,7,8. Timaios (platon. Dialog): 1,2,21; 1,6,2; 1,6,4; 1,6,24; 1,6,28; 1,6,45; 1,12,6; 1,20,2; 2,2,1; 2,2,14; 2,2,22; 2,3,15; 2,10,14. Titanen: 1,12,12. Urania: 2,3,2. Venus (Planet): 1,11,8; 1,12,14; 1,17,3; 1,19,2; 1,19,4–6; 1,19,20; 1,19,25; 1,21,24; 1,21,26–27; 2,3,13–14; 2,4,9; 2,11,7. Waage (Sternbild): 1,15,14; 1,18,13; 1,18,16– 17; 1,21,24. Wassermann (Sternbild): 1,12,4; 1,21,26. Widder (Sternbild): 1,6,50; 1,14,21; 1,15,14; 1,18,8; 1,18,13; 1,18,17; 1,21,2–4; 1,21,16; 1,21,23–24; 1,21,26; 1,21,32. Zwillinge (Sternbild): 1,6,51; 1,18,8; 1,18,16–17; 1,21,3; 1,21,26.

Sachen

473

Sachen Acht: – als vollkommene Zahl 1,5,15–18. Akkord: – Definition und Arten 2,1,14–25. – Duplar/Oktave 1,6,43; 2,1,14; 2,1,17, 2,1,24. – Epitrit/Quarte 1,6,43 f.; 2,1,14 f.; 2,1,24 f. – Epogdous 2,1,14; 2,1,20. – Hemiolius/Quinte 1,6,43 f.; 2,1,14; 2,1,16; 2,1,24. – Quadruplar/Doppeloktave 2,1,14; 2,1,19; 2,1,24 f. – Triplar/Oktave plus Quinte 2,1,14; 2,1,18; 2,1,24 f. animus, anima: s. Seele. Antipoden: – Lage 2,5,36. Antöken: 2,5,1; 2,5,32; 2,5,35. – Lage 2,5,33. Apollon: – und Sphärenharmonie 2,3,3. Arithmologie: 1,5,2–1,6,83. Astronomie: 1,14,21–1,22,13. – Himmelssphären 1,15,1–19. – orbis und circus 1,14,24 f. – Planeten 1,14,26 f. – sidus und stella 1,14,21. – Terminologie 1,14,21–27. Autokausativität: – unterschieden von Passivität 2,15,13–22. Äquatorialkreis: 1,15,13; 1,20,30; 2,5,15; 2,7,4–6; 2,9,2. Äther: 1,19,9 f.; 1,21,33; 2,7,2; 2,6–9. – im oberen Teil des Weltalls 1,19,9 f.; 1,21,33; 2,7,2; 2,7,9. Bewegung: – akzidentielle vs. autonome 2,14,8–13. – Arten 2,14,30; 2,16,15–17. – Art der Seelen-B. 2,16,20–25. – Einwände des Aristoteles gegen die Seelen-B. 2,14,1–35. – Definition nach Platon 2,15,25. – des Körpers durch die Seele 2,15,29–31.

– erster Beweger unbewegt (Aristoteles) 2,14,16; 2,14,22. – immer extern bestimmt nach Aristoteles 2,14,14. – Mittel der B. 2,14,28; 2,16,14. – Partizipanten des B.-Vorgangs 2,16,5. – Passivität vs. Autokausativität 2,15,13– 22. – scheinbare vs. tatsächliche 2,15,4–12. – Ursprung und Wirkung 2,16,1–4; 2,16,10–13. – Widerlegung der Einwände des Aristoteles 2,15,1–2,16,26. Camenen: – und Sphärenharmonie 2,3,4. Catena aurea: – Symbol der Schöpfungshierarchie 1,14,15. Chlamys: – Form des bewohnten Erdteils 2,9,8. chromatisch: s. Tongeschlechter. circus, circulus: s. Astronomie. Dekade: – der Pythagoräer 1,6,11. diatonisch: s. Tongeschlechter. Dihärese (divisio): 1,2,6. Drei: – Bindekraft 1,6,23. – Kohäsion der Elemente 1,6,24–33. – und Seelenteile 1,6,42. Durchmesser: 1,20,15 f. Dyade: – erste Zahl 1,6,18. – repräsentiert v. Linie 1,6,18. – und Struktur des Kosmos 1,6,18. Eins: s. Monade. Ekliptik: 1,15,10. Elemente: – Anordnung 1,6,24–33. – Eigenschaften 1,6,26–33. – Intervalle zwischen ihnen 1,6,36–40. – Rekonfiguration statt Auflösung 2,12,14 f.

474

Indices

– Rolle bei der Gliederung des Kosmos 1,11,8 f. enharmonisch: s. Tongeschlechter. Epikureer: – Kritik an Platon 1,2,3–4. Erdbewohner: – Synöken, Antöken, Antipoden, Periöken 2,5,22–27. Erde: 1,22,1–13. – fünf Klimazonen 2,5,6 f. – Umfangsberechnung 2,6,3 f. – unreinster Teil der Materie 1,22,6. – vier Siedlungsareale (nach Krates) 2,5,5 f. – von zwei Ozeanen gevierteilt 2,5,5 f. – Zentrum des Kosmos 1,22,3 f. – s. Elemente. Erdkarte (›Macrobiuskarte‹): 2,5,13–17. Erdschatten: – und Berechnung der Sonnenbahn 1,20,18. Ewigkeit: – der Welt und Zeitlichkeit der Kulturen 2,10,1–16. Feuer: – s. Elemente. fiktionale Erzählung: 1,2,9. Fiktionalität: – in der Philosophie 1,2,6– 21. Fixsterne: – Eigenbewegung (sc. wegen Präzession) 1,17,16. Fünf: 1,6,19. Gehorsam: – Intervall zw. Luft u. Feuer 1,6,39. Geist: s. Intellekt. Geographie: 2,5,1–2,6,7. Gerechtigkeit: – 1,1,4–8; 1,8,13; 1,10,3. – Attribut der Acht 1,5,17. Gesetz: – unvollständiges (lex imperfecta) 2,17,13. Gezeiten: – Folge des Zusammenpralls der Ozeane 2,9,3. – von der Sieben bestimmt 1,6,61. Glückseligkeit: – als Lohn der Tugenden 1,8,3 f.; 1,8,12. – und politische Tugenden 1,8,3 f.; 1,8,12.

Großer Bär: – bei Vergil (und Homer) 1,16,4. Grotte von Ithaka: – Tor der Menschen und Götter 1,12,3. Gute, das: 1,2,14 f. Halbton: – Definition 2,1,21–23. – griech. Dihesis bzw. Leimma 2,1,23. Harmonie: – Intervall zwischen Wasser und Luft 1,6,38. – s. Akkord. Himmel (Fixsternsphäre): – höchster Gott b. Cicero 1,17,12 f. Himmelsäquator: 1,15,13. Himmelskarte: 2,7,4–6. Himmelsrichtungen: – Definitionen 2,5,18 f. Horizont: 1,15,17–19. Hundsgestirn (Sirius): 1,18,15. Hymnen: – als Mimesis der Sphärenharmonie 2,3,5. Hypostasen: – Eines, Intellekt, Weltseele 1,6,8–10; 1,14,6–9. – Emanation 1,6,8–10; 1,14,6–9. Ideen (platonische): 1,2,14; 1,8,10. insomnium: s. Traum. Intellekt: – 2. Hypostase 1,2,14; 1,14,6 f. Jungfrau: 1,18,17 (Sternbild); 1,6,10 f. (die Sieben). Juno: – Traditionsname für Luft 1,17,15. Jupiter: – Traditionsname für Himmel und Weltseele 1,17,14. Kardinaltugenden: s. Tugenden. Katastrophen: s. Weltkatastrophen. Kind: – sieben Entwicklungsphasen 1,6,62–71. Klimazonen: – am Himmel 2,7,1–11. – begrenzt durch die Wende- und Polarkreise 2,7,1–11.

Sachen – Definitionsprobleme bei Vergil 2,8,1–8. – Dimensionen 2,6,1–7. – Korrelation von irdischen und himmlischen 2,7,1–11. – Rand der heißen Zone bewohnbar 2,8,3 f. – zwei kalt, zwei gemäßigt, eine heiß 2,5,11–17; 2,7,17–20. Kolure: 1,15,14. Kosmos: – Grenze zwischen ewig und vergänglich 1,11,5–7; 1,11,8–9; 1,11,9–12; 1,21,33. – Struktur durch Weltseele determiniert 2,3,12–15. – Tempel der Gottheit 1,14,2. – von Weltseele bewegt 1,17,8–11; 2,3,15; 2,4,4; 2,16,26. Körper: – als figurierte Zahlen 1,5,12 f.; 2,2,8–13. – Grab der Seele 1,10,10; 1,11,3; – Grenzen 1,5,6. – Linien und Punkte 1,5,7 f.; 2,2,4–7. – mathematische (intellegible) u. physische 1,6,35. – Oberfläche 1,5,5. – Schaffung durch die Weltseele 1,14,8– 10. – und Dimension 1,5,10 f.; 1,6,36; 2,2,3. Krebs (Sternbild): 1,18,8; 1,18,17. Kreis: – Berechnung 1,20,16. Kuben: – und Struktur der Seele 1,6,3. Kultur: – Aszendenz und Deszendenz 2,10,6–9; 2,10,16. Labdoma: – Struktur der Seele 1,6,46. Leimma: s. Halbton. Linie: s. Körper. Löwe (Sternbild): 1,12,4; 1,18,17. Luft: – s. Elemente. Luminar: s. Sonne, Mond. Mantik: – bei Homer u. Vergil 1,7,4–8. – und Lebensalter Scipios 1,7,9.

475

– Zweideutigkeiten 1,7,1–9. Materie: 1,12,7 f.; 1,12,11 f.; 1,22,6. mens: s. Intellekt. Mensch: – als Mikrokosmos 2,12,11. – durch Seele statt Körper definiert 2,12,6–10. – in der Definition Plotins 2,12,8–10. Meridian: 1,15,16. Milchstraße: 1,15,1–7. – als Sitz der Seelen 1,4,4 f.; 1,12,3; 1,15,1. – Doxographie 1,15,3–7. – Lage im Weltall 1,12,1. Monade: – und Hypostasen 1,6,8–10. – Ursprung der Zahlen 1,6,7; 2,2,12. Mond: – Bahn 1,18,10 f. – Phasen von der Sieben bestimmt 1,6,48–56. Mondfinsternis: 1,15,11 f.; 1,20,9–11. Musen: – und Sphärenharmonie 2,3,1 f. Musik: 2,1,1–25. – als Erinnerung an die Sphärenharmonie 2,3,7. – Experiment des Pythagoras 2,1,9–13. – Harmonie beruht auf Zahlenrelationen 2,1,6. – psychologische Wirkung 2,3,7–10. – Ton beruht auf Perkussion der Luft 2,1,5 f. – Tongeschlechter 2,4,13. Mysterien: 1,2,18. Mythos: – und Philosophie 1,2,1–21. Naturforscher: 1,6,76; 1,11,7 f.; 1,12,1; 1,16,10; 1,20,6; 1,20,9; 2,10,10; 2,11,11; 2,11,15; 2,12,11. Norden: s. Himmelsrichtungen. Notwendigkeit: – Intervall zw. Erde u. Wasser 1,6,37. Numerologie: 1,5,2–1,6,83. oraculum: s. Traum. Orakel: – für Aeneas bei Vergil 1,7,7–9. orbis: s. Astronomie.

476

Indices

Osten: s. Himmelsrichtungen. Ozeane: – äquatorialer und meridionaler 2,9,1–9. – Grenzen der vier Siedlungsareale 2,9,4–7. – Verlauf auf Karte visualisiert 2,9,7. Passivität (grammat.): – unterschieden von Autokausativität 2,15,13–22. Periöken: – Lage 2,5,33; 2,5,36. Peripherie: – eines Kreises 1,20,15 f. Philosophie: – Physik, Ethik, Logik (Epoptik) 2,17,15 f. Planeten: 1,18,1–19; 2,4,9. – ägyptische und chaldäische Ordnung 1,19,1–7. – Bewegung gegenläufig zur Fixsternsphäre 1,18,1–9. – Einfluss auf das menschliche Leben 1,19,19–27. – Einfluss negiert von Plotin 1,19,27. – Geschwindigkeit aller identisch 1,21,6. – Geschwindigkeit unterschiedlich 2,4,4. – Isodromie von Merkur und Venus 2,4,9. – Korrektheit der ägyptischen Ordnung 1,19,8–10. – relative Entfernung zueinander 1,19,3– 7. – semiheliozentrisches System 1,19,5–7. – Umlaufzeiten 1,21,5–7. Polarkreise: 1,15,13. Präzession: – der Fixsterne 1,17,16. Punkt: – Erde im Vergleich zur Sonne 1,16,10–13; 2,5,10; 2,9,9; 2,10,3. – unteilbar 1,16,10; 2,2,4. Quelle: – als Metapher der Seelenbewegung 2,16,24. Ruhm: – geographische Begrenztheit 2,10,3. – zeitliche Begrenztheit 2,11,4.

Schwangerschaft: – von der Sieben bestimmt 1,6,63–66. Scipios Traum: – als universalphilosophisches Werk 2,17,15 f. Sechs: – perfekte Zahl 1,6,13. – und Schwangerschaftsdauer 1,6,14–16. Seele: – (Re)inkarnation 1,9,5; 1,11,12. – Abstieg 1,12,1–18. – Abstieg durch die Planetensphären 1,12,13 f. – animus vs. anima 1,14,3 f. – besteht aus Akkorden 1,6,43. – Bewegung bestritten von Aristoteles 2,14,1–14; 2,14,15–22. – Doxographie zur Seelenlehre 1,14,19 f. – Erwerb der S.-Vermögen beim Abstieg 1,12,13–15. – Hierarchie der S.-Vermögen bei Vergil 1,14,14. – himmlischer Wohnort 1,9,1–10. – Kontakt mit der Materie beim Abstieg 1,12,7–8. – Metamorphose beim Abstieg 1,12,5–7; 1,12,13–15. – Prinzip der Bewegung 2,15,32. – Rückkehr zum Ursprung 1,9,3. – Seelenvermögen 1,12,14; 1,14,7. – Selbstbewegtheit 2,13,8. – Teile 1,14,7. – »Tod« bei Inkarnation 1,10,17. – Unsterblichkeit 2,12,4–6; 2,13,6 f. – Unsterblichkeitsbeweise der Platoniker 2,13,9–12. – Vergessen des Göttlichen beim Abstieg 1,12,9 f. – vermeintliche Ruhephasen 2,16,6–9. – Welt- und Menschenseele 1,14,9–11. – s. auch Weltseele. Selbstmord: – Verbot durch Platon 1,13,1– 8. – Verbot durch Plotin 1,13,9–16. Sieben: 1,6,1–81. – Abschnitte der Sonnenbahn 1,6,57.

Sachen – als Grundprinzip des Menschen 1,6,62–81. – astronomische Bedeutung 1,6,48–61. – Bindekraft 1,6,34–40. – Gezeiten des Ozeans 1,6,61. – im Lebensalter Scipios 1,6,1 f. – Körperteile und Organe 1,6,77–81. – ontologische Bedeutung 1,6,45–47. – Pallas bzw. Minerva 1,6,11. – Phasen des Mondes 1,6,48–56. – Phasen des Lebens 1,6,67–76. – Zahl der Planeten 1,6,47. – Zahl der Seelenteile 1,6,47. Sirenen: – und Sphärenharmonie 2,3,1. Skopos: – des Somnium 1,4,1–5. Skorpion (Sternbild): 1,18,16. somnium: s. Traum. Sonne: – Bahn 1,18,12–18. – Bahn von der Sieben bestimmt 1,6,57. – Bahn von den Wendekreisen begrenzt 2,7,10 f. – Berechnung ihrer Größe 1,20,9–32. – Licht von der Erde absorbiert, vom Mond reflektiert 1,19,12 f. – privilegierte Stellung 1,20,1–7. – relat. Mittelposition 1,19,14–17. Sonnenfinsternis: 1,15,11 f. – beim Tod des Romulus 2,11,13 f. Sonnenuhr: – wirft keinen Schatten in Syene 2,7,15 f. – zur Berechnung der Sonnengröße 1,20,25–32. – zur Bestimmung des Wendekreises 2,7,15. Sonnwende: 1,6,57; 1,12,1; 2,7,10. Sphären: – Planeten u. Fixsternhimmel 1,18,1–9. Sphärenharmonie: 2,1,5. – Gründe für ihre Unhörbarkeit 2,4,14 f. – musikalische Struktur 2,4,1–10. – sieben Töne der acht Sphären 2,4,9. – Tongeschlecht diatonisch 2,4,13.

477

– von der Weltseele erzeugt 2,1,5; 2,2,18– 21. Staat: – Ciceros Definition 1,8,13. Sterne: – alle größer als die Erde (Beweisführung) 1,16,8–13. – der Südhalbkugel 1,16,3–6. – Terminologie (sidus, stella) 1,14,21. Stier (Sternzeichen): 1,18,8; 1,18,15. Supra- und sublunare Welt: 1,21,33–36. Süden: – nur theoretisch bestimmbar 2,5,19 f. Tag- und Nachthaus: – der einzelnen Planeten 1,21,24–26. Tetrade (Tetraktys): – der Pythagoräer 1,6,41. Theologe, theologisch: 1,10,16 f.; 1,14,5; 1,17,14; 2,3,1–4; 2,10,11. Tod: – physischer und philosophischer 1,11,1; 1,13,5–7; 2,17,12. Tongeschlechter: – enharmonisch, diatonisch, chromatisch 2,4,13. Traum: – Agamemnons 1,7,4–8. – Albtraum (insomnium) 1,3,2; 1,3,4. – Orakeltraum 1,3,2; 1,3,8. – Pforten bei Vergil 1,3,17–20. – Schlüsseltraum (somnium) 1,3,2; 1,3,10. – Schlüsseltraum, Arten 1,3,13. – Typologie 1,3,1–11. – Wachtraum (visum) 1,3,2; 1,3,7. – Wahrtraum (visio) 1,3,2; 1,3,9. Tugenden: – Kardinaltugenden 1,1,8; 1,10,2–4. – Klassifikation Plotins 1,8,5–11. – Kritik an der philosophischen Tugendlehre 1,8,3 f. – politische und philosophische 2,17,4– 7. – Scipio besitzt beide Tugendklassen 2,17,4–7; Scipio besitzt die vier Kardinaltugenden 1,10,2–4.

478

Indices

Unsterblichkeit: – der Seele 1,1,7 f.; 1,12,17; 2,12,3–6; 2,13,6 f.; 2,13,10–12. – der Welt 2,13,7. Unterwelt: – philosophische Ansichten 1,11,1–12. – Strafen 1,10,12–15. – vorphilosophische Ansichten 1,10,9–17. Vier: – Bindekraft 1,6,23. – Kohäsion der Elemente 1,6,24–33. virtus: s. Tugend. visio: s. Traum. visum: s. Traum. Vokale: – sieben natürliche 1,6,70. Waage (Sternbild): 1,18,16 f. Wasser: – s. Elemente. Wasseruhr: – zur Vermessung des Zodiakus 1,21,8–27. Welt: – Grenze zwischen ewig und vergänglich 1,11,5–7; 1,11,8–9; 1,11,10–12. Weltenjahr: 2,11,1–17. – arbiträre Festlegung des Beginns 2,11,13. – Dauer 2,11,11. – Definition 2,11,10. – und Mond-, Sonnen-, Planentenjahr 2,11,5–8. – vom Tod des Romulus an gerechnet 2,11,16 f. Weltgeist: s. Intellekt. Weltkatastrophen: – Ägypten nicht betroffen 2,10,14 f. – natürliche Ursachen 2,10,10–13. – Rekonfiguration statt Untergang 2,12,13–15. – Weltenbrand und Sintflut 2,10,10–15. – zyklische 2,10,10–15. Weltseele: – 3. Hypostase 1,6,9.

– bestimmt die Struktur des Weltalls 2,3,12–16. – bewegt das Weltall 2,2,24; 2,16,26. – harmonische numerische Struktur 1,6,2–4; 2,2,14–22. – Quelle der Sphärenharmonie 2,2,18– 24. – Schaffung durch den Demiurgen 2,2,15. Wendekreis(e): 1,15,13; 2,5,15; 2,7,4; 2,7,10 f. – Bestimmung durch Schattenrichtung 2,7,15 f. – des Sommers verläuft durch Syene 2,7,14–16. – Grenzen der Sonnenbahn 2,7,10. Westen: s. Himmelsrichtungen. Widder: 1,18,8; 1,18,17. – erstes Sternbild 1,21,23. – Stellung im Thema Mundi 1,21,23. Zahl: – als Grundlage der Körper 1,5,12–14; 2,2,4–13. – Struktur der Weltseele 1,6,2–4. – ungerade und gerade 1,6,1. – vollkommene 1,5,3 f.; 1,5,14. Zentrum: – Kreis, Sphäre 1,20,14. – Erde Z. des Kosmos 1,19,11; 1,20,22; 1,22,3 f.; 2,9,9. Zodiakus: 1,15,8–12. – Abstieg der Seelen vom 1,12,1. – Einteilung 1,21,8–27. – Namensherkunft 1,21,22. – Tag- und Nachthäuser der Planeten 1,24–26. – Vermessung durch die Ägypter 1,21,9– 21. Zwei: s. Dyade. Zwillinge (Sternbild): 1,18,16.

Christian Rivoletti / Stefan Seeber (Hg.)

Heliodorus redivivus Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen Aithiopika-Rezeption in der Frühen Neuzeit Palingenesia – band 112 2018. 229 Seiten mit 7 s/w-Abbildungen 978-3-515-12222-1 gebunden 978-3-515-12246-7 e-book

Heliodor ist der Begründer des modernen Romans: Seine Aithiopika, die die Liebesgeschichte von Chariklea und Theagenes erzählen und die im 16. Jahrhundert wiederentdeckt werden, sind Vorbild für Generationen europäischer Autoren, die sich in imitatio und aemulatio üben. Dadurch ebnen die Aithiopika der neuen Gattung den Weg und tragen erheblich zu deren Praxis und Theorie bis in die Anfänge der Moderne bei. Die Autorinnen und Autoren nehmen den Heliodorus redivivus als europäisches Phänomen in den Blick und eröffnen neue, interdisziplinäre Sichtachsen auf die gelehrte und populäre Rezeption der Aithiopika in der italienischen und deutschsprachigen Literatur der Frühen Neuzeit. Außer der Druckgeschichte der Übersetzungen wird dabei die Langzeitwirkung des Werkes in Nachahmungen,

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Friedrich Meins

Paradigmatische Geschichte Wahrheit, Theorie und Methode in den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos PAlIngenesIA – BAnd 113 2019. 169 Seiten 978-3-515-12250-4 geBunden 978-3-515-12255-9 e-Book

Was ist Wahrheit? Auf diese zentrale Frage jeder wissenschaftlichen Methodendiskussion kannte schon die Antike höchst unterschiedliche Antworten – auch die Historiographie bildet hier keine Ausnahme. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Wesen historischer Wahrheit widmet sich Friedrich Meins den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos. Während diese lange als Beispiel einer kolportageartigen „rhetorischen Geschichtsschreibung“ ohne Quellenwert galten, rücken sie als Zeugnis ihres Entstehungsumfeldes nun wieder vermehrt in den Fokus. Im Zuge dessen lässt sich auch eine gewisse Rehabilitierung ihres spezifischen Wahrheitsanspruches ausmachen: in Form einer Neubewertung von Dionysios’ Forschungsbemühungen, unter Heranziehung narrativistischer Konzepte historischer Wahrheit oder durch

den Verweis auf Vorstellungen allgemeiner Wahrheiten des Historischen. Meins diskutiert diese Ansätze und formuliert die These, dass Dionysios’ paradigmatische Geschichte ihren Anspruch auf Wahrheit sowohl aus der sehr eigenen Vorstellung wissenschaftlicher Erkenntnis als auch aus dem Anspruch der praktischen Anwendbarkeit historischen Wissens ableitet. Aus dem InhAlt Vorwort | Einleitung | Das Verhältnis von Forschungsmethode und Darstellungsabsicht | Plausibilität und Angemessenheit als Wahrheitskriterien? | Die historischen Ideale in Dionysios’ „idealisierender Historie“ | Paradigmatische Geschichte | Schlussbetrachtung: Rhetorik, Geschichte und Wahrheit in den Antiquitates Romanae | Literaturverzeichnis

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Macrobius' Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis ist einer der wirkungsmächtigsten Texte der Antike. Entstanden um 430 n. Chr. als philosophische Einführungsschrift eines hochrangigen römischen Politikers für seinen Sohn, wurde er über ein Jahrtausend als Kompendium der neuplatonischen Philosophie, vor allem aber als Kompendium der Traumtheorie, Arithmologie, Astronomie, Geographie und Musiktheorie der Antike gelesen. Friedrich Heberlein legt diesen Kommentar nun erstmals in deutscher Übersetzung vor und macht Macrobius' Text somit einem breiteren Publikum zugänglich – ist Macrobius' Sprache doch weit vom klassischen Latein entfernt. Der beigefügte Lesetext auf der Basis der Ausgabe von Armisen-Marchetti erleichtert zudem eine Überprüfung des Originalwortlautes. Ein einführender Essay aus der Feder des bekannten Platonismusforschers Christian Tornau bietet eine grundlegende Orientierung über den Charakter des Werks.