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German Pages [353] Year 2019
Macht und Herrschaft Schriftenreihe des SFB 1167 »Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive«
Band 8
Herausgegeben von Matthias Becher, Elke Brüggen und Stephan Conermann
Matthias Becher / Hendrik Hess (Hg.)
Machterhalt und Herrschaftssicherung Namen als Legitimationsinstrument in transkultureller Perspektive
Mit 13 Abbildungen
V&R unipress Bonn University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2019, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Erstellt mit Voyant Tools, Stéfan Sinclair & Geoffrey Rockwell (© 2019) Privacy v. 2.4 (M29). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2511-0004 ISBN 978-3-7370-1084-9
Inhalt
Vorwort zur Schriftenreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Becher / Hendrik Hess Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Vogel Nomen regis – Herrschaftstheorie zwischen Definition und Legitimation .
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Mike Janßen Für den König beten – Eine frühmittelalterliche Legitimationsstrategie . .
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Christian Schwermann Schlechte Namen, Leserlenkung und Herrscherkritik in antiken chinesischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Becher Die Nachbenennung bei den frühen Karolingern. Familiäres Selbstverständnis versus politische Opportunität . . . . . . . . . . . . . . 129 Laury Sarti Die Namen zukünftiger Herrscher. Die Vergabepraxis im byzantinischen Osten und dem karolingischen Westen im Vergleich (717–905) . . . . . . 151 Annette Schmiedchen Herrschernamen als Legitimationsinstrument im frühmittelalterlichen Indien (6. bis 10. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
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Inhalt
Tilmann Trausch Aibak, ʿAlı¯, Alexander. Namen als Beitrag zur Herrscherlegitimation im Sultanat von Delhi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Wolfgang Haubrichs Funktion und Performanz. Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität im frühen Mittelalter Westeuropas . . . . . . . . 235 Dieter Geuenich Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Hendrik Hess Namengebung und die römische Oberschicht in Gallien zwischen imperium und regna im 5. und 6. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 295 Christoph Haack Namen und Narrative. Ein Versuch zur ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Personennamen und der »Angelsächsischen Mission« auf Grundlage der Datenbank »Nomen et Gens« . . . . . . . . . 315 Liste der AutorInnen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Vorwort zur Schriftenreihe
Im Bonner Sonderforschungsbereich 1167 »Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive« werden die beiden namengebenden Vergesellschaftungsphänomene vergleichend untersucht. Sie prägen das menschliche Zusammenleben in allen Epochen und Räumen und stellen damit einen grundlegenden Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften dar. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des disziplinär breit angelegten Forschungsverbundes, die Kompetenzen der beteiligten Fächer in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu bündeln und einen transkulturellen Ansatz zum Verständnis von Macht und Herrschaft zu erarbeiten. Hierbei kann der SFB 1167 auf Fallbeispiele aus unterschiedlichsten Regionen zurückgreifen, die es erlauben, den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu schärfen. Die Reihe »Macht und Herrschaft« enthält Beiträge, die den interdisziplinären Zugriff auf das Thema und die transkulturelle Perspektivierung abbilden. Die Arbeit des Bonner Forschungsverbundes ist von vier Zugängen zu Phänomenen von Macht und Herrschaft geprägt, die auch den Projektbereichen des SFB 1167 zugrunde liegen: Die Themen der Spannungsfelder »Konflikt und Konsens«, »Personalität und Transpersonalität«, »Zentrum und Peripherie« sowie »Kritik und Idealisierung« stehen im Zentrum zahlreicher internationaler Tagungen und Workshops, die dem Dialog mit ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland dienen. Dieser wichtige Austausch, dessen Erträge in der vorliegenden Reihe nachzulesen sind, wäre ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und das kontinuierliche Engagement der Universität Bonn zur Bereitstellung der notwendigen Forschungsinfrastruktur nicht möglich, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Matthias Becher – Elke Brüggen – Stephan Conermann
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt die verschriftlichten Beiträge des Workshops »Machterhalt und Herrschaftssicherung: Namen als Legitimationsinstrument in transkultureller Perspektive«, der – nebst öffentlichem Abendvortrag von Herrn Professor Dr. Dieter Geuenich – am 11. und 12. Mai 2018 in Bonn stattfand. Die Tagung wurde anlässlich des jährlichen Treffens der Mitglieder der Forschergruppe Nomen et Gens durch den Bonner Sonderforschungsbereich 1167 »Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive« und insbesondere durch das Teilprojekt 02 »Consensus und fidelitas: Personale und transpersonale Elemente königlicher Macht und Herrschaft im ostfränkisch-deutschen Reich« organisiert und ausgerichtet. Unser Dank als Veranstalter des Workshops und Herausgeber des Bandes gilt all jenen, die zu beider Gelingen beigetragen haben. Hier sind an erster Stelle die Beiträgerinnen, Beiträger, Gäste und Mitdiskutanten des Workshops zu nennen. Danken möchten wir außerdem denjenigen, die an Konzeption, Organisation und Durchführung des Workshops und der Veröffentlichung seiner Ergebnisse beteiligt waren, namentlich: Christine Beyer, Marcel vom Bruch, Dr. Stefanie Dick, Dr. Linda Dohmen, Achim Fischelmanns, Professor Dr. Hans-Werner Goetz, Lea Herzog, Professor Dr. Gerhard Lubich, Philipp Merkel, Lukas Müller, Lisa Opp, Professor Dr. Steffen Patzold, Maximilian Schranner, Hannah Stelberg, PD Dr. Jürgen Strothmann, Professor Dr. Karl Ubl, Professor Dr. Konrad Vössing, Laura Wirges und Sandra Ziehms. Frau Professor Dr. Elke Brüggen danken wir schließlich als verantwortliche Reihenherausgeberin ebenso wie der Geschäftsführerin des SFB 1167 Frau Katharina Gahbler für die abschließende Durchsicht des Manuskripts. Bonn, August 2019
Matthias Becher – Hendrik Hess
Matthias Becher / Hendrik Hess
Einleitung
Abstract Names are omnipresent across all human cultures and can therefore be examined from a transcultural perspective. Furthermore, the deliberate use of names can serve different social and political ends, such as legitimisation of power and social hierarchy. Even though the strategies of their use may vary between different cultures and times, common denominators may be identified through rigorous investigation in an interdisciplinary context. The introduction outlines a volume which lends itself to the idea of creating a transcultural understanding of names as a political and social instrument.
Namen als Merkmal von Personen finden sich zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften. Sie stellen somit eine anthropologische Konstante dar. Dabei liegt die Funktion des Namens nicht nur in der Bezeichnung eines Individuums. Besonders in den Führungsschichten erfolgt die Namenvergabe häufig sehr bewusst und kann der Legitimation von Herrschaftsansprüchen dienen oder politische Programmatiken zum Ausdruck bringen.1 Diese Prämissen bilden den Ausgangspunkt der in diesem Band versammelten Beiträge zu »Machterhalt und
1 Vgl. beispielhaft Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993; Friedhelm Debus, Soziolinguistik der Eigennamen. Name und Gesellschaft (Sozio-Onomastik), in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 1, Berlin/New York 1996, 393–399; Friedhelm Debus, Personennamen und soziale Schichtung, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1731–1738; Dieter Geuenich, Personennamen und Personenund Sozialgeschichte des Mittelalters, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1719–1722; Dieter Stellmacher, Namen und soziale Identität. Namentraditionen in Familien und Sippen, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1726–1731.
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Herrschaftssicherung: Namen als Legitimationsinstrument in transkultureller Perspektive«. Die Beiträge des vorliegenden Bandes basieren auf den Vorträgen und Ergebnissen eines Workshops, der im Mai 2018 in Bonn stattfand. Der Workshop erwuchs aus einer Kooperation zwischen dem SFB 1167 »Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive« und dem zwischen 2000 und 2006 durch die DFG geförderten interdisziplinären Projekt »Nomen et Gens«. Dessen Mitglieder wollen durch die Analyse von Personennamen aus historischer und sprachwissenschaftlicher Perspektive einen Beitrag zur Erforschung der Transformation der Römischen Welt im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter leisten.2 Die Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Bandes haben einen breitgespannten disziplinären Hintergrund, vertreten sind: germanistische Mediävistik, Indologie, Islamwissenschaften, Mittelalterliche Geschichte und Ostasienwissenschaften. Ziel des vorliegenden Bandes ist es vor allem, die Praktik der Vergabe von Namen im Kontext von Macht und Herrschaft transkulturell vergleichend zu beleuchten. Bereits die fachinterne Entschlüsselung der Namen von Herrschern und Mächtigen ist keine leichte Aufgabe, wie eine bekannte Passage aus den ›Gesta Friderici‹ aus der Feder Ottos von Freising lehrt. Der Geschichtsschreiber spricht Mitte des 12. Jahrhunderts davon, es habe im Römischen Reich damals zwei herausragende Familien gegeben, »[…] die eine war die der Heinriche von Waiblingen die andere die der Welfen von Altdorf. Die eine pflegte Kaiser hervorzubringen, die andere große Herzöge.«3 Otto von Freising nutzte den Zusammenhang von Familienzugehörigkeit, Namen und Stellung im Gefüge von Macht und Herrschaft, um die Wahl eines der »Heinriche von Waiblingen« zum römisch-deutschen König zu legitimieren.4 Doch waren die Dinge weitaus komplizierter, denn die »Heinriche von Waiblingen« kennen wir heute unter dem Begriff »Staufer«, und der 1152 zum König Gewählte hieß auch nicht »Heinrich« sondern »Friedrich« mit dem Beinamen Barbarossa. Kaum anders sieht es bei den »Welfen von Altdorf« aus, die wir heute nur noch »Welfen« nennen; ihr damaliger Spitzenrepräsentant hieß nicht »Welf«, sondern »Hein2 Siehe Nomen et Gens, www.neg.uni-tuebingen.de (12. 08. 2019). Zur Geschichte des Projekts vgl. auch Steffen Patzold, Personen, Namen, Lemmatisierung. Namenforschung zwischen Geschichts- und Sprachwissenschaft am Beispiel des Projekts »Nomen et Gens«, in: Namenkundliche Informationen 101/102 (2013), 22–48. 3 Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris, ed. Georg Waitz/Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [46]), 3. Auflage, Hannover 1912, II, 2, 103. 4 Vgl. Werner Hechberger, Die Vorstellung vom staufisch-welfischen Gegensatz im 12. Jahrhundert. Zur Analyse und Kritik einer Deutung, in: Johannes Fried/Otto Gerhard Oexle (edd.), Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation (Vorträge und Forschungen 57), Ostfildern 2003, 381–426, besonders 404–407.
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rich«, Heinrich der Löwe. Dieser selbst legte allerdings keinen größeren Wert auf seine Vorfahren namens »Welf«, sondern bezog sich eher auf seinen Großvater mütterlicherseits, Kaiser Lothar III., nicht nur wegen dessen hohem Rang, sondern auch weil Heinrich seine Stellung als Herzog von Sachsen diesem Vorfahren verdankte.5 Otto von Freising war sich dessen sicherlich bewusst, und dennoch ordnete er bestimmte Namen einer Familie zu. Die Abweichung von der Tradition besagt daher nicht, dass diese nicht wirkmächtig gewesen wäre: Bei den Welfen sehen wir in der Tat insgesamt sechs Träger des Namens »Welf« in unmittelbarer Folge,6 und bei den Staufern sieht es mit dem Namen »Friedrich« kaum anders aus. Namen sollten also vor allem im Kontext von Macht und Herrschaft durchaus bestimmte Traditionen fortschreiben, Ansprüche formulieren, allgemeiner ausgedrückt: bestimmte Assoziationen wecken. Dies führt wiederum zu allgemeineren Überlegungen über den Akt der Namengebung, der (vorausgesetzt er findet in einer geeigneten Situation statt) gleichzeitig sprachliche Äußerung und Handlung ist. Namen können etwa dazu dienen, Herrschaftsansprüche zu untermauern, politische Programmatik anzukündigen, Ziele zu formulieren, oder Erreichtes zu konsolidieren, sind also in der Sphäre von Macht und Herrschaft omnipräsente Legitimationsinstrumente. Es interessieren verschiedene Wirkungsebenen: Dient die Benennung der Befestigung des Vergangenen, des Gegenwärtigen oder birgt sie vielmehr ein Versprechen für die Zukunft? In welchen Situationen finden Neu-, Nach- oder Umbenennung statt? Wer vergibt in welcher Situation und zu welchem Zeitpunkt einen (neuen) Namen? Da ein gemeinsamer Nenner vieler historisch arbeitender Fächer die sprachliche Verfasstheit der Quellen ist, bot es sich im Kontext des vorliegenden Bandes an, die Schaffung von (Sprach-)Konventionen und Wirklichkeiten transkulturell vergleichend in den Blick zu nehmen. Dabei wird insbesondere die Performanz von Namen und Namengebung im Kontext von Macht und Herrschaft und im Hinblick auf transkulturelle Äquivalenzen und Divergenzen betrachtet. Den Anfang macht daher der Beitrag von Christian Vogel zu »Nomen regis – Herrschaftstheorie zwischen Definition und Legitimation«. In seiner Studie 5 Vgl. Werner Hechberger, Staufer und Welfen. (1125–1190). Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (Passauer Historische Forschungen 10), Köln et al. 1996, 120–134. 6 Die Kontinuität der Namen verschleiert allerdings einen genealogischen Bruch in der Geschichte der Familie, vgl. Matthias Becher, Der Name ›Welf‹ zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung, in: Dieter R. Bauer/Matthias Becher (edd.), Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, München 2004, 157–198 (ND in: Matthias Becher, Macht und Herrschaft. Praktiken – Strukturen – Begründungen. Ausgewählte Aufsätze zum 60. Geburtstag, ed. Linda Dohmen et al., Göttingen 2019, 321–353).
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befasst sich Vogel mit der mittelalterlich-europäischen Bezeichnung für den König, rex. Gerade in Bezug auf das mittelalterliche Königsamt stellen sich immer wieder Fragen der Personalität und Transpersonalität – der Name des Amtes verschmolz in der Vorstellung der Zeitgenossen immer wieder mit der individuellen Person, die es ausfüllte, war in anderen Fällen aber wiederum scharf vom Individuum zu trennen. Vogel untersucht den Wandel der Bedeutung des nomen regis von der Mitte des 8. bis ins 15. Jahrhundert anhand der Zeugnisse großer Gelehrter und Philosophen des europäischen Mittelalters. Verknüpft mit dem Königsamt und graduellen Veränderungen unterworfen waren dabei Fragen der Moral, was ein guter, was ein schlechter König sei, Fragen nach der Rechtfertigung von Widerstand und Auflehnung gegen die Königsherrschaft und nach rechtlichen und sakralen Rahmenbedingen und Legitimationsvorstellungen. Im Anschluss befasst sich Mike Janßen dazu passend ebenfalls mit europäischen Königen – in diesem Fall sowohl mit ihren Lebzeiten als auch mit ihrem Nachleben. Janßen fragt in seinem Beitrag »Für den König beten – Eine frühmittelalterliche Legitimationsstrategie« nach der Platzierung des Herrschernamens im Gebet. Schon ab dem 6. Jahrhundert wurde im Frankenreich für den König gebetet. Dieser Brauch, der sich im weiteren Verlauf in den laudes regiae institutionalisierte, wurde mit der namentlichen Nennung des Herrschers und seiner Familie im Gebet zu einem herrschaftslegitimierenden und -stabilisierenden Element. Andererseits konnte das Auslassen und Entfernen aus dem Herrscherlob und -gedenken aber auch ein Ausdruck der Zurückweisung von Herrschaftsansprüchen darstellen. Die Verweigerung der laudes regiae konnte gar zur Destabilisierung der Herrschaft beitragen und wurde entsprechend durch den betroffenen König geahndet. Christian Schwermann (»Schlechte Namen, Leserlenkung und Herrscherkritik in antiken chinesischen Texten«) richtet sein Augenmerk ebenfalls auf den toten Herrscher. Im antiken China der Zhou-Dynastie (1045–256 v. Chr.), so zeigt Schwermann, diente die Verächtlichmachung der Namen von Vorgängern der Kritik am aktuellen Herrscher. Gerade die postum vergebenen Namen und die mit ihnen verbundene Semantik entwickelten so am Hof des Herrschers performatives Potential, das – nicht unähnlich den ›Fürstenspiegeln‹ des mittelalterlichen Europa – den Monarchen zu einer guten Herrschaft gemahnen sollte. Matthias Becher blickt in seinem Beitrag »Die Nachbenennung bei den frühen Karolingern. Familiäres Selbstverständnis versus politische Opportunität« auf die Namengebungspraxis der karolingischen Herrscherfamilie. Feste Regeln, die etwa zur Unterscheidung von legitimen und illegitimen Söhnen anhand ihrer Namen dienten, hat es dabei – entgegen der landläufigen Meinung der Forschung – wohl nicht gegeben. Vielmehr zeigt Becher, dass die Namenwahl und -vergabe in der karolingischen Familie oftmals auf politischen Pragmatismus zurückging und der Stabilisierung von Macht und Herrschaft dieser in der
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zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts noch jungen Dynastie dienen sollte. Dies führte faktisch zu einer Konzentration auf bestimmte Namen, doch konnte dieser Kanon aus Opportunitätsgründen durchaus auch erweitert werden. Im Beitrag »Die Namen zukünftiger Herrscher. Die Vergabepraxis im byzantinischen Osten und dem karolingischen Westen im Vergleich (717–905)« von Laury Sarti wird die Perspektive um einen Vergleich zwischen byzantinischen und karolingischen Kaisernamen erweitert. Auch im transkulturellen Korrelat zwischen Ost und West zeigt sich, dass Namen im 8. und 9. Jahrhundert zur Verdeutlichung und Verstärkung von Ansprüchen auf Macht und Herrschaft dienten, wie Sarti deutlich macht. Gerade die häufig vergebenen Namen »Konstantin« und »Ludwig«, die auf die Gründer des byzantinischen bzw. fränkischen Reiches rekurrieren, boten dabei großes performatives Machtpotential und wurden strategisch eingesetzt. Dynastische Kontinuität und ihre Vermittlung durch die Vergabe von Namen stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Annette Schmiedchen »Herrschernamen als Legitimationsinstrument im frühmittelalterlichen Indien (6. bis 10. Jahrhundert)«. Auch in Indien dienten Namen und Beinamen der Herrscher der Begründung von Macht und Herrschaft ihrer Träger und deren Nachfolgern. Vorstellungen von idealer Herrschaft und religiöser Legitimation schlagen dabei eine Brücke zu vergleichbaren europäischen Konzepten in der gleichen Zeitperiode. Religiöse Einflüsse auf den Namen des Herrschers spielen auch im Beitrag Tilmann Trauschs »Aibak, ʿAlı¯, Alexander. Namen als Beitrag zur Herrscherlegitimation im Sultanat von Delhi« eine große Rolle. Trausch beleuchtet die besondere Situation des nordindischen Delhi-Sultanats, das durch die Überlappung mehrerer kultureller Traditionen gekennzeichnet ist. Die Sultane waren durch ihre Namen sowohl der arabischen als auch der persischen Welt zuzuordnen, damit symbolisierten sie die Symbiose aus persischer Herrschaftstradition und islamischem Glauben. Wolfgang Haubrichs (»Funktion und Performanz. Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität im frühen Mittelalter Westeuropas«) liefert einen Überblick zu den verschiedenen linguistischen Konzepten der Namengebung bei Herrscherfamilien im germanischsprachigen Raum in Spätantike und Frühmittelalter. Die Wahl bestimmter Namenkomposita, Stabreime oder semantischer Variationen konnten dazu dienen, Verwandtschaft und Gefolgschaft, aber auch Distanz zum Königtum auszudrücken. In vielen Fällen ist daher die Vergabe von Namen als bewusster performativer Akt der Repräsentation zu verstehen. In den letzten drei Beiträgen des Bandes wenden sich die Autoren etwas von den obersten Herrschaftsträgern ab und konzentrieren sich auf die Ebenen und Gruppen unterhalb der Spitze der Gesellschaft.
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Dieter Geuenichs Beitrag »Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen« ist wiederum grundlegender Natur. Geuenich geht davon aus, dass, auch wenn die semantische Bedeutung der Namen des europäischen Frühmittelalters den Zeitgenossen in der Regel nicht mehr bekannt war, ihre Vergabe oftmals programmatische Gründe hatte. So drückt sich in der Benennung nach Vorfahren gerade auch patrilinear vielfach Wunsch und Anspruch auf eine Nachfolge im Amt aus, was im Fall von Adelsfamilien zur Etablierung von Leitnamen führen konnte. Dass jedoch ein Name allein nicht in jedem Fall auf eine Programmatik schließen lässt, zeigt Hendrik Hess in seinem Beitrag »Namengebung und die römische Oberschicht in Gallien zwischen imperium und regna im 5. und 6. Jahrhundert«. Fragen der Identität und des Selbstverständnisses der Eliten im spätantik-frühmittelalterlichen Gallien werden von der Forschung traditionell im Hinblick auf ethnische Gesichtspunkte betrachtet. Hess zeigt jedoch, dass sich zumindest in Bezug auf die alte Oberschicht im nach-römischen Gallien mithilfe von Personennamen allein kaum belastbare Aussagen über das Selbstverständnis ihrer Träger (oder der Namengeber) und deren ethnische Affiliation treffen lassen. Mit der Problematik ethnischer Deutungen von Namen und ihres Einflusses in der Forschung befasst sich zum Abschluss des Bandes auch der Beitrag von Christoph Haack »Namen und Narrative. Ein Versuch zur ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Personennamen und der ›Angelsächsischen Mission‹ auf Grundlage der Datenbank ›Nomen et Gens‹«. Auch Haack weist, hier am Beispiel der sog. Angelsächsischen Mission, nach, dass ethnische Identitäten vor allem ein Konstrukt der modernen Forschung darstellen. In der zeitgenössischen Historiographie spielen ethnische Zuordnungen in der Regel in Bezug auf Einzelpersonen kaum eine Rolle, so dass der Name einer Person nicht allein als Beleg für deren Herkunft angeführt werden kann. In den versammelten Beiträgen des vorliegenden Bandes ist wohl erstmalig eine Auseinandersetzung mit Namen als Legitimationsinstrument in transkultureller Perspektive durchgeführt worden. Die Ergebnisse der Beiträge sollen daher als Grundlage für weitere Forschungen dienen. Immerhin kann als kulturübergreifend allgemeingültig angenommen werden, dass die bloßen Namen ihren Trägern zwar nicht allein Macht und Herrschaft verliehen, sie zu ihnen befähigten oder von ihnen ausschlossen, aber dass sich hinter der Namengebung der Führungsschichten häufig ein Programm verbarg, etwa in Form einer Absichtserklärung zur Herrschaftsnachfolge. Die unterschiedlichen Ausprägungen des Phänomens sind dabei transkulturell durchaus verschiedenartig, wenn auch immer wieder von Ähnlichkeiten geprägt.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Matthias Becher, Der Name ›Welf‹ zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung, in: Dieter R. Bauer/Matthias Becher (edd.), Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, München 2004, 157–198 (ND in: Matthias Becher, Macht und Herrschaft. Praktiken – Strukturen – Begründungen. Ausgewählte Aufsätze zum 60. Geburtstag, ed. Linda Dohmen et al., Göttingen 2019, 321–353). Friedhelm Debus, Soziolinguistik der Eigennamen. Name und Gesellschaft (Sozio-Onomastik), in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 1, Berlin/New York 1996, 393–399. Friedhelm Debus, Personennamen und soziale Schichtung, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1731– 1738. Dieter Geuenich, Personennamen und Personen- und Sozialgeschichte des Mittelalters, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1719–1722. Werner Hechberger, Die Vorstellung vom staufisch-welfischen Gegensatz im 12. Jahrhundert. Zur Analyse und Kritik einer Deutung, in: Johannes Fried/Otto Gerhard Oexle (edd.), Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation (Vorträge und Forschungen 57), Ostfildern 2003. Werner Hechberger, Staufer und Welfen. (1125–1190). Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (Passauer Historische Forschungen 10), Köln et al. 1996. Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993. Nomen et Gens, www.neg.uni-tuebingen.de (12. 08. 2019). Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris, ed. Georg Waitz/Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [46]), 3. Auflage, Hannover 1912. Steffen Patzold, Personen, Namen, Lemmatisierung. Namenforschung zwischen Geschichts- und Sprachwissenschaft am Beispiel des Projekts »Nomen et Gens«, in: Namenkundliche Informationen 101/102 (2013), 22–48. Dieter Stellmacher, Namen und soziale Identität. Namentraditionen in Familien und Sippen, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1726–1731.
Christian Vogel
Nomen regis – Herrschaftstheorie zwischen Definition und Legitimation
Abstract In 751 the last Merovingian king was deposed. He was considered as a useless king, that means not a real king. Authors of late Antiquity and the early Middle Ages like Augustin or Isidor of Seville were accustomed to harmonise reality and wording: only a person whose real power and behaviour corresponds to the contemporary imagination of a king is worthy to be called a king. During the following centuries Christian authors like Hinkmar of Reims attached a moral quality to the kingship. With tyranny being the dark side of kingship the question arises whether and how a bad king can be deprived from his office. Probably the first one who discussed the advantages and disadvantages of a rebellion in order to depose an unworthy ruler was Thomas Aquinas. Finally he disliked the possibility of a deposition by violence. Later in the Middle Ages depositions of kings were transformed in juridical forms to create the imagination of a formal and regular procedure according to law. Whereas at the starting point of this overview, the deposition of 751, the kingship was a question of definition, because of the required identity of nomen and res, the political theory passed through a remarkable evolution, when concepts of divine order were replaced by more individualistic approaches accompanied by the invention of regular procedures in order to bring the question to a solution whether a king should keep his office or not.
Nomen regis – das ist der Name, besser: der Titel des Königs. Dieses nomen regis wurde wie eine Gegenstandsbezeichnung verstanden: wer der Sache nach das war, was man unter einem König verstand, der war es auch dem Namen nach. Das Amt existierte also nicht losgelöst von seinen Aufgaben und deren Erfüllung. Wer der Sache nach kein König war, der war es auch nicht dem Namen nach, so dass es – das ist in diesem Zusammenhang das Entscheidende – einer Absetzung nicht bedurfte. Deutlich hervor tritt eine solche Denkweise in der Historiographie zum Dynastiewechsel von 751. In den folgenden Jahrhunderten wandeln sich diese Anschauungen allerdings. Als 751 der Hausmeier Pippin nach Ausschaltung seines Bruders zum Alleinherrscher des Frankenreiches aufgestiegen war, wagte er den Griff nach der
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Königswürde, die immer noch mit den Merowingern verbunden war. Diese waren längst – so will uns die karolingische Hofhistoriographie glauben machen – zu politisch unbedeutenden Marionetten herabgesunken.1 Dass es trotzdem so lange gedauert hatte, bis die Hausmeierfamilie den Dynastiewechsel vollzog, wird immer noch mit Hemmungen ob des missglückten angeblichen Staatsstreichs des Grimoald fast ein Jahrhundert zuvor erklärt.2 Im Jahre 751 schließlich versicherte Pippin sich der Zustimmung der Großen und erbat zusätzlich vom Papst eine Art Rechtsauskunft.3 Dieser erteilte den hinlänglich bekannten Bescheid, es solle derjenige König genannt werden, der die Macht habe, ut melius esset illum regem vocari, qui potestatem haberet, so ist es in den ›Annales Regni Francorum‹ überliefert. Das sei besser, als wenn einer König genannt werde, der ohne tatsächliche königliche Machtbefugnisse bleibe, quam illum qui sine regali potestate manebat.4 Letztere Figur wird im ›Chronicon Laurissense‹ sogar als falsus rex apostrophiert.5 Und auch Einhart übernimmt
1 Zu der Beschreibung bzw. Karikatur der letzten Merowinger bei Einhart vgl. Adolf Grauert, Noch einmal Einhard und die letzten Merowinger, in: Lutz Fenske/Werner Rösener/Thomas Zotz (edd.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, 59–72. Kritisch relativiert werden Einharts Ausführungen auch in jüngeren Überblickswerken, z. B.: Sebastian Scholz, Die Merowinger (Urban Taschenbücher 748), Stuttgart 2015, 259–260. 2 Zum Staatsstreich vgl. Eugen Ewig, Noch einmal zum Staatsstreich Grimoalds, in: Ders., Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952–1973), ed. Hartmut Atsma (Beihefte der Francia 3), Bd. 1, München/Zürich 1976, 573–577 (Erstveröffentlichung: 1965); Konrad Bund, Thronsturz und Herrscherabsetzung im Frühmittelalter (Bonner Historische Forschungen 44), Bonn 1979, 297–308. Eine kontroverse Position vertritt Matthias Becher, Der sogenannte Staatsstreich Grimoalds. Versuch einer Neubewertung, in: Jörg Jarnut/Ulrich Nonn/Michael Richter (edd.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, 119–147, mit einem kurzen Forschungsüberblick (119–120), dort auch kritisch zu der verbreiteten Auffassung, der Fehlschlag habe bei den späteren Arnulfinger-Pippiniden zu einer Scheu geführt, sich an die Stelle der merowingischen Schattenkönige zu setzen (119, 122f., 144–146). Neuerlich zum Staatsstreich des Grimoald: Stefanie Hamann, Zur Chronologie des Staatsstreichs Grimoalds, in: Deutsches Archiv 59 (2003), 49–96; Karl Ubl, Die erste Leges-Reform Karls des Großen, in: Guy Guldentops/Andreas Speer (edd.), Das Gesetz – The Law – La Loi (Miscellanea Mediaevalia 38), Berlin/New York 2014, 75–92, hier 90–92. 3 So steht es auch – allerdings ohne Präzisierung der päpstlichen Antwort – in der FredegarChronik, Fredegarii chronicorum liber quartus cum continuationius (The fourth book of the chronicle of Fredegar with its continuations), ed. John M. Wallace-Hadrill, London 1960, Continuationes cap. 33, 102: Quo tempore una cum consilio et consensu omnium Francorum missa relatione ad sede apostolica auctoritate praecepta praecelsus Pippinus electione totius Francorum in sedem regni cum consecratione episcorum et subiectione principum una cum regina Bertradane, ut antiquitus ordo desposcit, sublimatur in regno. 4 Dort zum Jahr 749: Annales Regni Francorum, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [6]), Hannover 1895 (ND Hannover 1950), 8. 5 Chronicon Laurissense breve, ed. Hans Schnorr von Carolsfeld, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 36 (1911), 23–39, hier 28: Zacharius igitur papa secundum auctoritatem apostolicam ad interrogationem eorum respondit melius atque
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zwei Generationen später diese Sichtweise, wenn er das inane regis vocabulum bzw. das inutile regis nomen auf die Karolinger übergehen lässt, welche die potentia regni und die regni administratio besäßen.6 Heinrich Büttner hatte die sich hinter diesen Formulierungen verbergende Gedankenwelt eingehend untersucht und mit ihm lässt sich die Rechtsauskunft des Papstes etwa so formulieren: wer der Sache (res) nach König sei, solle es auch dem Namen (nomen) nach sein.7 In dieser päpstlichen Denkweise, die wenig Verständnis für die damaligen Zustände im Frankenreich offenbart, kommt klar zum Ausdruck, dass die Königsherrschaft durch die Faktenlage definiert wird. Unter einem König wird etwas Bestimmtes verstanden. Trifft dies zu, so haben wir einen König, andernfalls nicht. König wird man also nicht durch Einsetzung, man verliert das nomen regis auch nicht durch Absetzung, sondern man ist König oder man ist es nicht, schlicht per Definition, denn Herrschaft und Titel eines Königs müssen zusammenfallen, so entspricht es der augustinisch geprägten Vorstellung einer Weltordnung, der Papst Zacharias ebenso wie die meisten Autoren dieser Zeit verhaftet waren.8 Ein ähnliches Verständnis vom Königtum wie der Papst im Jahre 751 offenbart auch Ermoldus Nigellus in seiner Ludwig dem Frommen gewidmeten Schrift. Ein König, der nicht regiert, sei ein Widerspruch in sich und ein solcher König verdiene seinen Namen nicht mehr.9 Auch in dieser Aussage wird die Königs-
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utilius sibi videri, ut ille rex nominaretur et esset, qui potestatem in regno habebat, quam ille qui falso rex appellabatur. Einhart, Vita Caroli Magni, ed. Louis Halphen (Les classiques de l’histoire de France au Moyen Âge 1), 3. Auflage, Paris 1947, 8: Quae licet in illo finita possit videri, tamen jam dudum nullius vigoris erat nec quicquam in se clarum praeter inane regis vocabulum praeferebat. Die eigentliche Macht lag in den Händen der Hausmeier, dem König blieb nur sein Titel: neque regi aliud relinquebatur quam ut, regio tantum nomine contentus. Dieser sei jedoch völlig nutzlos, da er außer ihm nur das besitze, was ihm der Hausmeier zugestand (8–10): […] cum praeter inutile regis nomen et precarium vitae stipendium, quod ei praefectus aulae prout videbatur exhibebat, nihil aliud propri possideret […] die Verwaltung des Reiches aber lag allein beim Hausmeier: Ad regni administartionem et omnia quae vel domi vel foris agenda ac disoponenda erant praefectus aulae procurabat. Heinrich Büttner, Aus den Anfängen des abendländischen Staatsgedankens. Die Königserhebung Pippins, in: Theodor Mayer (ed.), Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (Vorträge und Forschungen 3), 2. Auflage, Stuttgart 1965, 155–167, hier 162. Büttner 1965, 161f. Hans Hubert Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische Forschungen 32), Bonn 1968, 393. Anton zitiert eine Stelle, in der Ermoldus sich unsicher gibt, ob er einen König noch als solchen bezeichnen soll, da dieser nicht regiere; Ermoldus Nigellus, In honorem Hludovici Pii, ed. Edmond Faral (Les classiques de l’histoire de France au Moyen Âge 14), Paris 1932, lib. III, v. 1308, 102: Rex Murmanus adest cognomine dictus eorum, dici si liceat rex, quia nulla regit. Die Bezeichnung »König« wird hier der tatsächlichen Verhältnisse wegen in Frage gestellt. Als bloßer Titel erscheint das Wort rex ein Widerspruch in sich zu sein, wenn das Tragen des Titels nicht mit der Tätigkeit des regere einhergeht.
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würde an die tatsächlichen Verhältnisse rückgebunden, der König verliert sein Amt nicht unmittelbar durch Fehlverhalten oder einen förmlichen Absetzungsakt, sondern dadurch, dass er per definitionem nicht mehr König ist, wenn er den gängigen Vorstellungen vom Königtum nicht mehr entspricht. Dieser Denkansatz wurzelt in den Etymologien Isidors von Sevilla und dem Gottesstaat Augustins, deren Definition rex a regendo noch lange rezipiert wurde.10 Rex enim a regendo vocatur, so heißt es schon bei Augustinus, weil eben Titel und tatsächliche Herrschaftsausübung zusammengehören.11 Diese Definition eines rex a regendo hat Isidor in seine ›Etymologiae‹ übernommen und für deren wirkmächtige Verbreitung gesorgt.12 Die Isidor’sche Definition begegnet auch weiterhin, wird vielfältig rezipiert, ohne dass von den betreffenden Autoren Verfahren zur Ein- oder Absetzung eines Königs diskutiert werden.13 Einen König kann man auch gar nicht absetzen, Tyrannen schon, und die Zuordnung der Begriffe ist wieder eine definitorische Frage, die nach der Tatsachenlage entschieden wird. Dass es hierbei einen Beurteilungsspielraum gibt, wird – soweit ich sehe – in der Breite erst von Thomas von Aquin problematisiert. Doch Isidor geht es um mehr als eine Definition, denn nach seinem Verständnis ergibt sich aus dem Ursprung der Wörter zugleich deren innere Kraft.14 Unter Rückgriff auf Aristoteles wird auch bei Isidor das Wort zum συμβολον dessen, was es repräsentiert. Das Verb regere, von dem Isidor den Königstitel ableitet, weist dabei auf die Selbstlenkung des Königs ebenso wie auf dessen Verpflichtung, die Untertanen zu lenken. Weiterhin stellt Isidor klar, dass er rex und das Verb regere von recte facere ableitet. Durch diese moralisch aufgeladene 10 Vgl. zu den Ursprüngen und der Rezeption: Józef Balogh, ›Rex a recte regendo‹, in: Speculum 3 (1928), 580–582. 11 Augustinus, De Civitate Dei, ed. Bernhard Dombart/Alfons Kalb, Stuttgart 1981, lib. V, 12, 212, Z. 6–9: […] non reges aut domini a regnando atque dominando; cum et reges utique a regendo dicti melius videantur, ut regnum a regibus, reges autem, ut dictum est, a regendo […]. 12 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, ed. Wallace M. Lindsay, Bd. 1, Oxford 1911, lib. IX, 3, 4: Reges a regendo uocati. Sicut enim sacerdos a sanctificando, ita et rex a regendo. Non autem regit qui non corrigit. Recte igitur faciendo regis nomen tenetur, peccando amittuntur. 13 Frank Rexroth konstatiert für das Frühmittelalter keine Bemühungen um die Legitimation gewaltsamer Königsabsetzungen. Gemeint sind dabei allerdings juristische Legitimationen über das Verfahren. Statt auf geregelte Verfahren zurückzugreifen oder solche zu entwickeln, seien Königsabsetzungen im Frühmittelalter immer gewaltsam vonstattengegangen: Frank Rexroth, Tyrannen und Taugenichtse. Beobachtungen zur Ritualität europäischer Königsabsetzungen im späten Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 278 (2004), 27–53, hier 34f. 14 Isidor, Etymologiarum, lib. I, 29, 1f.: Etymologia est origo vocabulorum, cum vis verbi vel nominis per interpretationem colligitur. […] Cuius cognitio saepe usum necessarium habet in interpretatione sua. Nam dum videris unde ortum est nomen, citius vim eius intellegis. Als Beispiel werden sogleich (lib. I, 29, 3) die reges angeführt, die von recte agendo herzuleiten sind.
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Aufgabe wird er vom Tyrannen abgegrenzt, zu dem er per definitionem mutiert, wenn er seiner Aufgabe nicht mehr gerecht wird. Kurz und knapp heißt es bei Isidor an den König adressiert: si non facias, non eris: Verhältst du dich nicht so, dann bist du kein König.15 In dieser, auch bei Augustinus zu findenden Argumentation erhält die legitimierende Definition eine moralische Komponente, welche die Legitimation des Königs von seinem Verhalten und seinen Kompetenzen abhängig macht.16 Denn nur, wer vernünftig zu regieren weiß, der kann wirklich rex genannt werden, so schreibt es auch Sedulius Scottus, nachdem er Isidor zitiert und die göttliche Einsetzung zur Herrschaft davon abhängig gemacht hat, dass jemand, der andere lenken soll, zuallererst sich selbst lenken können muss.17 Mit der göttlichen Ordnung, in welche der König eingebunden ist, kommt eine weitere Legitimationsgrundlage ins Blickfeld. Das ist zunächst Gott selbst, zum anderen wird das Königtum als solches zu einem von Gott verliehenen Amt. Hinkmar von Reims verbindet diesen Amtsgedanken mit der nomen-Interpretation in seiner admonitio, indem er von einer sorgfältigen Amtsführung auch die Übereinstimmung mit dem nomen, der Definition des Amtes bzw. des Amtstitels verlangt.18 Und auch Hinkmar begründet es mit dem nomen, dem Begriff bzw. dem Titel, dass der König, der rex, seinen Untertanen den Dienst der Lenkung und der Leitung schuldig ist.19 15 Isidor von Sevilla, Etymologiarum, lib. IX, 3, 4: Unde et apud ueteres tale erat prouerbium ›rex eris si recte facias, si non facias non eris‹. Isidor greift auf ältere Vorbilder zurück und zitiert mit dem letzten Satz aus den Briefen des Horaz, Epistulae I, ed. Gerhard Fink, Düsseldorf 2000, 1, 148, Z. 59f. 16 Anton 1968, 386–389. 17 Sedulius Scottus, Liber de rectoribus Christianis, ed. Siegmund Hellmann (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 1), München 1906, cap. II, 25: Qui apicem regiae dignitatis Domino praestante ascenderit, oportet ut se ipsum primum regat, quem divina dispositio alios regere ordinavit. Rex enim a regendo vocatur. Tunc autem hoc nomine se veraciter appellari intelligat, si semet rationabiliter gubernare non ignorat. 18 Hinkmar von Reims, Admonitio ad episcopos et ad regem Carolomannum apud Sparnacum facta, ed. Jacques-Paul Migne, in: Hincmari Rhemensis Archiepiscopi Opera Omnia 1 (Patrologia Latina 125), Paris 1879, 1007–1018, cap. 3, 1009A; wortgleich bei Hinkmar von Reims, De ordine palatii, ed. Thomas Gross/Rudolf Schieffer (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris 3), Hannover 1980, cap. 2, 42, Z. 98–100: Diligenter igitur quisque debet in ordine et professione sua, quo nomine censetur, attendere et magnopere providere, ne a nomine discordet officio. 19 Hinkmar zitiert hier eine Textpassage aus Pseudo-Cyprian; Hinkmar von Reims, Admonitio, cap. 7, 1011A: Qualis denique rex debeat esse, beatus Cyprianus in nono abusionis gradu demonstrat docens: Etenim regem non iniquum, sed correctorem iniquorum esse oportet; inde et in semetipso nominis sui dignitatem custodire debet. Diese Forderungen hinsichtlich der Regierungsweise eines Königs verbindet Hinkmar (Pseudo-Cyprian folgend) untrennbar mit dem Namen, dem Titel des Königs: Nomen enim regis intellectualiter hoc retinet, ut subiectis omnibus rectoris officium procuret; Das Zitat findet sich ebenfalls in Hinkmar von Reims, De regis persona et regio ministerio ad Carolum Calvum, ed. Jacques-Paul Migne, in: Hincmari
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Hinter den Vorstellungen dieser frühmittelalterlichen Autoren steht nach weitverbreiteter Meinung in der Forschung der ordo-Gedanke, nach dem alles und jeder seinen genau bestimmten Platz in der Schöpfung zugewiesen erhält.20 Dementsprechend ist es das Hauptanliegen der Fürstenspiegel dieser Zeit, genau diesen Platz zu finden.21 Durch die Einordnung in die göttliche Ordnung der Dinge, die Einsetzung durch Gott selbst und die Verantwortung für eine bestimmte Art der Amtsführung gewinnt das Königtum eine ethische Ausdeutung, mit der das nomen regis steht und fällt. Das ist natürlich nicht neu und so neben den schon zitierten Augustin und Isidor übrigens auch bei anderen Autoren des frühen Mittelalters zu finden.22 Die letzte Konsequenz, dass ein Königtum vergehen kann, wenn es dem ethischen Maßstab nicht mehr gerecht wird, spricht Jonas von Orléans aus.23 Ein
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Rhemensis Archiepiscopi Opera Omnia 1 (Patrologia Latina 125), Paris 1879, 833–856, cap. 2, 835B. Allerdings wird man konstatieren müssen, dass bei Hinkmar der nomen-res-Automatismus bereits durch eine verhaltensabhängige Komponente aufgeweicht ist. Deutlich wird dies in den Reichsannalen. Die päpstliche Anordnung, so heißt es dort, habe zum Ziel, eine Störung der »Ordnung« (ut non contubaretur ordo) zu verhindern: Annales Regni Francorum, a. 749, 8: Et Zacharias papa mandavit Pippino, ut melius esset illum regem vocari, qui potestatem haberet […] ut non contubaretur ordo, per auctoritatem apostolicam iussit Pippinum regem fieri. Davon zu unterscheiden ist der Verweis auf die »alte Ordnung« bei der Beschreibung der Königserhebung in der Fredegar-Chronik, 102: in sedem regni cum consecratione episcorum et subiectione principum una cum regina Bertradane, ut antiquitus ordo desposcit, sublimatur in regno. Der im letzten Einschub erwähnte ordo meint den Krönungsordo und ist an dieser Stelle nicht als Verweis auf die augustinischen Ordnungsvorstellungen zu sehen, vgl. Achim T. Hack, Zur Herkunft der karolingischen Königssalbung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), 170–190; zustimmend Josef Semmler, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung (Studia Humaniora. Series minor 6), Düsseldorf 2003, 30f. Ebenso auch Florence Close, Le sacré de Pépin de 751? Coulisses d’un coup d’État, in: Revue belge de Philologie et d’Histoire 85 (2007), 835–852, hier 839. Werner A. Schmidt, Verfassungslehren im 9. Jahrhundert: Die Fürstenspiegel und politische Schriften des Jonas von Orléans, Hinkmar von Reims, Sedulius Scottus, Servatus Lupus von Ferrières und Agobard von Lyon, Mainz 1961, 78. Konkret im Zusammenhang mit dem Dynastiewechsel von 751 vgl. Büttner 1965, 159–161 mit weiteren Verweisen auf die ältere Literatur. Allgemein zum ordo-Gedanken im Mittelalter: Wolfgang Hübener, Ordnung, in: Handwörterbuch der Philosophie, Bd. 6, München 1984, 1254–1279. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei Markus Enders, Das metaphysische Ordo-Denken in Spätantike und frühem Mittelalter: Bei Augustinus, Boethius und Anselm von Canterbury, in: Philosophisches Jahrbuch 104 (1997), 335–361. Büttner 1965, 161; Anton 1968, 388; vgl. Otto Eberhardt, Via regia: der Fürstenspiegel Smaragds von St. Mihiel und seine literarische Gattung, München 1977, 450f. Ausführlich auch zur Kenntnis der Schriften Isidors und Augustin am karolingischen Hofe vgl. Semmler 2003, 17–22. Jonas von Orléans, Les métiers de roi. De institutione regia, ed. Alain Dubreucq (Sources chrétiennes 407), Paris 1995, cap. 3, 184: Rex a recte regendo uocatur. Si enim pie et iuste et misericorditer regit, merito rex appellatur; si his caruerit, nomen regis amittit. Antiqui autem omnes reges tyrannos uocabant. Sed postea pie et iuste et misericorditer regentes regis nomen
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König ist dann kein rex mehr, sondern ein Tyrann. Jonas bewegt sich damit weiterhin auf der definitorischen Ebene, die zugleich Legitimation verleiht. In der weiteren Folge seiner Argumentation verweist er auf Salomon, um ein Beispiel zu geben, dass ein König sein Amt auch für sich und für seine Dynastie verlieren kann.24 Damit ist die staatsrechtliche Konsequenz ausgesprochen, die bereits im Jahre 751 schon einmal vollzogen und entsprechend begründet worden war. Bei Jonas von Orléans ist dies allerdings erweitert um die Voraussetzung königlichen Fehlverhaltens im Unterschied zu bloßer Nutzlosigkeit wie im Falle der letzten Merowinger. Der letzte Merowingerkönig galt nur als rex inutilis, nicht als Tyrann. In den Beispielen, die Jonas für Königsabsetzungen anführt, ist es aber immer Gott, der als Akteur benannt wird. Eine Legitimation für irdische Mächte, im Falle einer ungerechten Regierung zu deren Beseitigung zu schreiten, will er nicht postulieren. Und so bleiben die Konsequenzen und überhaupt die Existenz eines Widerstandsrechtes bzw. einer Absetzungsoption unausgesprochen; sowohl bei Jonas wie auch bei Hinkmar, obwohl beide mit dem Beispiel Ludwigs des Frommen einen realen Fall aus ihrer jüngeren Vergangenheit vor Augen gehabt hatten, der Anlass zu einer theoretischen Aufarbeitung und einer eigenen Stellungnahme gegeben hätte.25 Aussagen zu den Konsequenzen fehlen übrigens auch noch einige Jahrhunderte später bei Engelbert von Admont. Denn auch er argumentiert auf der rein definitorischen Ebene. Der Unterschied zwischen der etymologischen Herleitung frühmittelalterlicher Autoren und Engelberts Finalitätsüberlegungen sei hier einstweilen beiseitegeschoben. Nach Engelbert von Admont ist ein Königtum um eines bestimmten Zweckes willen da. Wenn aber der Zweck nicht mehr bestehe, die Verwaltung des Königtums diesem aufhöre gerecht zu werden, dann ende automatisch auch das Königtum selbst.26 Und auch Engelbert schweigt sich zum konkreten Verfahren einer Königsabsetzung aus. Nach diesem zeitlichen Sprung seien noch einige Ergänzungen zu den karolingerzeitlichen Autoren gestattet. Denn neben die am rein Tatsächlichen orientierte Zuschreibung eines nomen regis tritt auch in dieser Zeit das Verständnis vom Königtum als eines mit der Person als solcher nicht identischen Amtes. Der sunt adepti. Impie vel iniuste crudeliterque principantibus, non regis sed tyrannicum aptatum est nomen. Beachte: Jonas nimmt es mit den Bezeichnungen sehr genau; er will auch das Verb regere nicht im Zusammenhang mit den tyranni gebrauchen und handelt von principantibus. 24 Jonas von Orléans, cap. 3, 190. Vgl. auch Schmidt 1961, 32. 25 Schmidt 1961, 36, 83. Vgl. zur Absetzung Ludwigs des Frommen: Bund 1979, 409–413. 26 Engelbert von Admont, De ortu et fine Romani imperii, ed. Herbert Schneider (Monumenta Germaniae Historica. Staatsschriften des späteren Mittelalters I,3), Wiesbaden 2016, cap. 11, 157f.: Ad hoc autem solvendum et sciendum est considerandum, quod cum cessante fine cessent etiam ea, quae sunt propter finem, et regni seu principatus adeptio fit propter ipsius regni vel principatus regimen et administrationem, ut propter finem.
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Herrscher ist der vicarius Dei oder der vicarius Christi bei Smaragdus von St. Mihiel,27 übt somit ein Amt aus, ein ministerium, das von Gott verliehen wurde und das die von Gott selbst verordnete Obrigkeit repräsentiert.28 Für Hinkmar von Reims ist das Grund genug, ein Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrschaft zu verneinen; doch immerhin hält er es für legitim, den Anordnungen derjenigen Personen, die obrigkeitliche Ämter bekleiden, zumindest passiven Widerstand zu leisten – nicht der Obrigkeit als solcher, wohl aber den Anordnungen der konkreten Personen, denn man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen.29 Hinkmar unterscheidet also in Anlehnung an Ambrosius zwischen Amt und Person und weicht damit die nomen-Vorstellungen an einer entscheidenden Stelle auf.30 Das Amt wurde dementsprechend nicht mehr nur mit dem schon beschriebenen abstrakt ethischen Inhalt gefüllt, sondern schon von Hinkmar und seinen Zeitgenossen mit sehr konkreten Aufgabenbeschreibungen versehen. Dies war nicht nur die Meinung eines einzelnen westfränkischen Bischofs. Seine Nachfolger und Amtskollegen sorgten für die Aufnahme längerer Textpassagen über das Amt des Königs in die Überlieferung des Konzils von Trosly zu Beginn des 10. Jahrhunderts. Immer noch auf Isidor aufbauend soll der König nun pax und securitas gewährleisten.31 Es ist die utilitas publica, welche das Ziel und das Leitbild königlichen Regierungshandelns ausmachen soll,32 denn, so heißt dann sehr viel später auch bei Johannes von Salisbury, Ptolemäus von Lucca u. a., der König ist für den Staat da und nicht umgekehrt.33 Das Allgemeinwohl wird damit zum wesentlichen Orientierungspunkt guter Herrschaft. Das Hochund Spätmittelalter bringt aber auch andere Anforderungen an die Königsherrschaft mit sich. Und dies drückt sich bei dem eben schon zitierten Engelbert 27 Smaragdus von St.-Mihiel, Via regia, ed. Jacques-Paul Migne, in: Smaragdi Abbatis Monasterii Sancti Michaelis Virdunensis Opera Omnia (Patrologia Latina 102), Paris 1852, 933–970, hier 958B: Fac quicquid potes pro persona quam gestas, pro ministerio regali quod portas, pro nomine Christiani quod habes, pro vice Christi qua fungeris. 28 Anton 1968, 178, zum Augustinismus 218. 29 Hinkmar von Reims, Epistola XV, ed. Jacques-Paul Migne, in: Hincmari Rhemensis Archiepiscopi Opera Omnia 2 (Patrologia Latina 126), Paris 1879, 94D–99A, hier 98B: Alioquin ut sanctus Petrus dicit: Obedire oportet Deo magis quam hominibus; vgl. Anton 1968, 297. 30 Vgl. Anton 1968, 383. 31 Konzil von Trosly (26. Juni 909), ed. Gerhard Schmitz, in: Monumenta Germanie Historica. Concilia 5, Hannover 2012, 497–562, cap. 2, 508–510. Zunächst wird ausführlich Augustinus zitiert und nochmal auf den Satz rex quippe a regendo vocatur zurückgegriffen (508, Z. 18– 19). Im Folgenden wird eine längere Passage aus Isidors Sentenzen zitiert (509f.), in welchen die Aufgaben und Pflichten eines Königs dargestellt werden. Vgl. Anton 1968, 243. 32 Anton 1968, 254. 33 Susan M. Babbitt, Oresme’s Livre de Politiques and the France of Charles V (Transactions of the American Philosophical Society 75,1), Philadelphia 1985, 77, mit weiteren Nachweisen zu den im Text genannten Autoren.
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von Admont, der im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts schreibt, in einer Auflistung einer Vielzahl von Aufgabenbereichen eines Königs aus, die sich in dieser konkreten Form bei Autoren des 9. und 10. Jahrhunderts selten finden lassen: Bevölkerungspolitik, Landwirtschaft, Finanzen, Warenverkehr, Städtebau, Krieg, Verfassung, Gesetze und vieles mehr.34 Auf diese Ausweitung der königlichen Aufgaben weist auch Karl Ubl in seiner Untersuchung zu dem zitierten Autor hin und führt dies auf die Aristoteles-Lektüre zurück.35 Die königlichen Kompetenzen und Verpflichtungen sind ausgeweitet und differenzierter geworden. Und zugleich verlassen jetzt auch die Überlegungen zur Herrschaftslegitimation die rein definitorische Ebene. Es geht nicht mehr nur darum, ob der König überhaupt königlich handelt; es geht darum, ob er ganz konkreten Anforderungen gerecht wird und wie sich sein Handeln auf die Menschen auswirkt. Die persönliche Verantwortung des Königs nicht mehr nur vor Gott wie bei frühmittelalterlichen Autoren, sondern auch vor den Menschen wird zunehmend zum Erörterungsgegenstand. Die Herrschaft selbst muss sich an der Erfüllung ihrer Aufgaben und ihrer Leistungen für das Allgemeinwohl messen lassen, so sieht es im 14. Jahrhundert auch der Franziskaner Wilhelm von Ockham. Zwar stehe der König normalerweise über seinem Reiche, doch in bestimmten Fällen sei er ihm unterworfen. Im Frühmittelalter wurde die nun folgende Konsequenz in der Theorie noch nicht gezogen, doch Ockham spricht aus, was unter seinen Zeitgenossen nichts Unerhörtes mehr war. Im Falle der Not könne das Reich seinen König absetzen. Was in der Praxis schon häufiger vorgekommen war, legitimiert Ockham nun mit dem Verweis auf das Naturrecht.36 Neben der Bindung von Herrschaft an bestimmte Maßstäbe, an denen sie sich messen lassen muss, um ihre Legitimation nicht zu verlieren, ist auch die theoretische Lösung der Herrschaft von der göttlichen Einsetzung zu beobachten. Dieser Gedankengang ist sogar möglich, ohne die gottgegebene Ordnung selbst in Frage zu stellen. So differenziert beispielsweise Petrus Bertrandus zwischen 34 Engelbert von Admont, De regimine principum, ed. Johannes G. T. Huffnagel, Regensburg 1725, III, c. 4–9, 57–62. Zu Beginn von cap. 4 benennt Engelbert zunächst allgemein die Ziele einer Königsherrschaft (57): Fines autem sunt quatuor, sicut praedictum est, scilicet: vivere commode, secure, juste et honeste. Im Folgenden werden die konkreten Aufgaben daraus abgeleitet. 35 Karl Ubl, Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung (Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Ergänzungsband 37), Wien/München 2000, 75. 36 Wilhelm von Ockham, Octo quaestiones de potestate papae, ed. Hilary S. Offler (Opera politica I), Manchester 1974, II, 8, 83, Z. 48–52: Rex enim superior est regulariter toto regno suo, et tamen in casu est inferior regno, quia regnum in casu necessitatis potest regem suum deponere et in custodia detinere. Hoc enim habet ex iure naturali, sicut ex iue naturali habet quod licet sibi vim vi repellere.
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der Herrschaftsordnung als solcher und der Erlangung sowie dem Gebrauch der Herrschaft durch konkrete Personen, denn weder Erlangung noch Art und Weise der Herrschaft sind zwingend auf Gottes Wirken und Willen zurückzuführen, können im Einzelfall auch als schlecht und unerlaubt eingestuft werden.37 Dass solche Einschätzungen im Hochmittelalter bereits weit verbreitet waren, nicht nur bei den praktisch handelnden politischen Akteuren, sondern auch bei auf den Erhalt einer legitimen göttlichen Ordnung bedachten Theologen, zeigt sich daran, dass nun über die Möglichkeiten der Kontrolle von Herrschaftsausübung spekuliert wird, d. h., es geht um die Frage, wie verhindert werden kann, dass aus einem König ein Tyrann wird. Manche Autoren beschränken sich in ihrer Antwort auf die Forderung, gute Männer in die Ämter zu wählen. Wie dann aber gegen einen trotzdem vorkommenden Missbrauch vorzugehen ist, dazu werden keine Überlegungen angestellt.38 Thomas von Aquin widmet sich dieser Frage etwas ausführlicher und münzt seine Überlegungen nicht nur auf Ämter allgemein sondern speziell auf das Königtum, mit dem er sich in mehreren seiner Schriften befasst. Zu nennen sind sein Königsspiegel ›De regno‹39, sein Kommentar zur ›Politika‹40 des Aristoteles und natürlich wie bei fast jedem Thema die ›Summa Theologiae‹41. Aber auch Thomas geht noch von der grundsätzlichen Unabsetzbarkeit des Königs und der Scheidung von König und Tyrann auf der definitorischen Ebene aus. Sein Postulat besteht in der Mäßigung der Machtbefugnisse des Königs, so dass diesem keine Gelegenheit gegeben wird, in Tyrannei zu verfallen. Thomas, der seine politiktheoretischen Überlegungen ganz innerhalb der aristotelischen Begriffswelt anstellt, schwebt dabei eine gemischte Verfassung vor, bei der die Herrschaftsbefugnisse in das Recht eingebunden sind.42 Gemischt bedeutet dabei eine Mischform aus den aristotelischen Kategorien der Herrschaftseinteilung. Eine gemischte Verfassung soll demnach neben dem 37 Petrus Bertrandus, De origine iurisdictionum, seu de duabus potestatibus I, 2, in: Tractatus illustriumin utraque tum pontificii, tum caesarei iuris facultate iurisconsultum. De Iudiciis, Bd. 3,1, Venedig 1584, fol. 29v°–32v°, fol. 29vb: Dico tamen quam assecutio potestatis, seu dominii et vsus non semper est a deo, videlicet quando modus perueniendi ad potestatem seu dominium vel modus potestatis iam adeptae, vel dominii, est malus vel illicitus. 38 Arthur P. Monahan, Consent, Coercion and Limit: The Medieval Origins of Parliamentary Democracy, Leiden 1987, 96. 39 Thomas von Aquin, De regno ad regem Cypri, ed. Hyacinthe-Françoise Dondaine, in: Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII p.m. edita 42, Rom 1979, 447–471. 40 Thomas von Aquin, Sententia libri Politicorum, ed. Hyacinthe-Françoise Dondaine/LouisJacques Bataillon/René-Antoine Gauthier, in: Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII p.m. edita 48, Rom 1971, 5–215. 41 Thomas von Aquin, Summa Theologiae, in: Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII p.m. edita 4–12, Rom 1888–1906. 42 Vgl. dazu auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2. Auflage, Tübingen 2006, 266.
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monarchischen Element mindestens noch ein aristokratisches enthalten, etwa in Gestalt eines Beraterkreises, dabei kann auch noch ein demokratisches Element hinzutreten, das sich aber bei den meisten Autoren dieser Zeit in einer Fiktion erschöpft, wenn beispielsweise eine Wahl gefordert wird, dabei die Wahl einer Dynastie als ausreichend angesehen wird und die Wahl irgendwo in der Vergangenheit gefunden wird.43 Zweck der Mischform ist die Kontrolle des Monarchen. Zu diesen Maßnahmen der Herrschaftskontrolle gehören Fragen der Amtseinsetzung, also Wahl oder Erbfolge. Dazu gehören Fragen der Gesetzesbindung von Herrschaft und dazu gehört die Frage der Herrschaftsbeteiligung, also Mitbestimmung des Volkes, womit de facto natürlich nur Adel und Klerus gemeint waren, die Einrichtung von Beratergremien und ähnliche damals schon bekannte und praktizierte Instrumente.44 Und auch die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage, ob und wenn ja, wie und unter welchen Voraussetzungen man einen König wieder loswird, war Gegenstand der Überlegungen von Thomas von Aquin. Ein Jahrhundert vor ihm hatte Johannes von Salisbury schon den Tyrannenmord zur Pflicht erklärt,45 wobei auch er Geduld angemahnt hat und vor übereilten Rebellionen gewarnt hatte.46 Zur Frage nach der Art und Weise hat er sich nicht geäußert. Thomas ist in dieser Hinsicht gründlicher.
43 Christian Vogel, Zur Rolle der Beherrschten in der mittelalterlichen Herrschaftslegitimation (Studia Humaniora 45), Düsseldorf 2011, 280–283. 44 Sinn der Gesetzesbindung und der Einrichtung von Beratergremien oder sonstigen Mitbestimmungseinrichtungen, ist es, die Monarchie vor einem Abdriften in die Tyrannis zu bewahren. Zu diesem Zweck soll sie eingebunden werden in eine »gemischte« Verfassung, die neben dem König als monarchischem Element auch aristokratische und demokratische Elemente im Sinne aristotelischer Begrifflichkeit enthält. Vgl. dazu James M. Blythe, Ideal Government and the Mixed Constitution in the Middle Ages, Princeton 1992; Ulrich Meier, Molte rivoluzioni, molte novità. Gesellschaftlicher Wandel im Spiegel der politischen Philosophie und im Urteil von städtischen Chronisten des späten Mittelalters, in: Jürgen Miethke/ Klaus Schreiner (edd.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, 119–176, hier 129–131. 45 Johannes von Salisbury, Policraticus, ed. Katharine S. B. Keats-Rohan (Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 118), Turnhout 1993, III, 15, 230, Z. 11–12: Porro tirannum occidere non modo licitum est sed aequum et iustum. 46 Johannes von Salisbury mahnt zur Vorsicht vor Tyrannenmördern, Policraticus, ed. Clemens C. I. Webb (Ioannis Sarresberriensis episcopi Carnotensis policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII), Bd. 2, London 1909 (ND Frankfurt a. M. 1965), VIII, 20, 377f.: Hoc tamen cauendum docent historiae, ne quis illius moliatur interitum cui fidei aut sacramenti religione tenetur astrictus. Später verweist er auf Gott, der zuerst um Abhilfe gegen einen Tyrannen angegangen werden sollte, ebd., 378: Et hic quidem modus delendi tirannos utilissimus et tutissimus est, si qui premuntur ad patrocinium clementiae Dei humiliati confugiant et puras manus leuantes ad Dominum deuotis precibus flagellum quo affliguntur auertant.
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Als Thomas sich im sechsten Kapitel des ersten Buches seines Fürstenspiegels mit der Tyrannei und den gegen sie zu ergreifenden Maßnahmen befasst, ist das erste, was er anrät, nur solche Männer in leitende Positionen zu befördern, von denen ein Abgleiten in die Tyrannis nicht zu erwarten ist.47 Wenn genau das aber doch geschehen sollte, so sei die Tyrannei erstmal für eine Zeit zu ertragen, da die voreilige Beseitigung der missliebigen Regierung leicht noch schlimmere Zustände herbeiführen könnte, weil Aufständische oft nicht besser sind, als die zu beseitigende Regierung; zumal die Frage, was nach der Tyrannei kommt, in der Regel völlig offen ist. Thomas verweist hier auf die Gefahr des Bürgerkriegs und der Spaltung.48 Wenn aber die Tyrannis unerträglich sein sollte, dann sollen es tugendhafte Männer sein, die das Heft des Handelns ergreifen; keinesfalls aber darf die Entscheidung, einen Tyrannen zu beseitigen, einer Einzelperson überlassen werden. Und das gilt bereits für die Frage, ob man es mit einem König oder schon mit einem Tyrannen zu tun hat. Denn diejenigen, die schnell mit der Waffe bei der Hand sind und den König aus eigenem Antrieb, am Ende aufgrund einer persönlichen Fehde oder dem Gefühl der Zurücksetzung, vorschnell beseitigen wollen, genau diejenigen sind regelmäßig die, denen man die Leitung des Gemeinwesens sicher nicht anvertrauen will.49 Also muss es eine publica auctoritas sein, die für die multitudo entscheidet und tätig wird.50 Und leider hört hier die Ausführlichkeit des Dominikaners auf, denn wer sich hinter dieser auctoritas publica51 verbirgt, muss man raten.52 Immerhin führt er weiter aus, dass man sich dann, wenn der Tyrann einen Vorgesetzten hat, an 47 Thomas von Aquin, De regno, I, 6, 455, Z. 7–10: Primum autem est necessarium ut talis condicionis homo, ab illis ad quos hoc spectat officium, promoueatur in regem, quem non sit probabile in tyrannidem declinare. 48 Ebd., Z. 22–33: Et quidem si non fuerit excessus tyrannidis, utilius est remissam tolerare ad tempus, quam contra tyrannum agendo multis implicari periculis que sunt graviora ipsa tyrannide. Potest enim contingere ut qui contra tyrannum agunt prevalere non possint, […]. Quod si prevalere quis possit aduersum tyrannum, ex hoc multotiens proueniunt grauissime dissensiones in populo, siue dum in tyrannum insurgitur, siue post deiectionem tyranni dum erga ordinationem regiminis multitudo separatur in partes. 49 Ebd., Z. 52–55: Et si sit intolerabilis excessus tyrannidis, quibusdam uisum fuit ut ad fortium uirorum uirtutem pertineat tyrannum interimere, seque pro libertatione multitudinis exponere periculis mortis […] (Z. 77–81) Esset autem hoc multitudini periculosum et eius rectoribus, si priuata presumptione aliqui attemptarent presidentium necem, etiam tyrannorum: plerumque enim huiusmodi periculis magis exponunt se mali quam boni […]. 50 Ebd., 456, Z. 88–90: Videtur autem magis contra tyrannorum seuitiam non priuata presumptione aliquorum, sed auctoritate publica procedendum. 51 Die publica auctoritas wird nicht als Institution begriffen, wenn man der Übersetzung von Stengel folgt: »nach allgemeinem Beschluss«, vgl. Bernhard Stengel, Der Kommentar des Thomas von Aquin zur »Politik« des Aristoteles, Marburg 2011, 239. 52 Böckenförde 2006, 267, vermutet die Stände oder »städtische Zwischengewalten« hinter der auctoritas publica bei Thomas.
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genau diesen halten soll, um Abhilfe zu schaffen.53 Wenn es sich bei dem Tyrann um einen König handelt, fragt man sich, wer dieser Vorgesetzte sein soll. Der Papst jedenfalls wird an dieser Stelle nicht ausdrücklich genannt. Tatsächlich aber war es der Papst, der während der Lebenszeit des Aquinaten in dessen Heimat eingegriffen und Karl von Anjou den Auftrag für seinen Eroberungsfeldzug in Sizilien gegeben hat. Ihn wird man als Vorgesetzten des Königs, auch eines Karl von Anjou, anzusehen haben. Und Karl von Anjou war es, der – so eine gängige Interpretation – in des Aquinaten Fürstenspiegel den Prototyp des Tyrannen verkörperte. Gewidmet war der Fürstenspiegel übrigens dem König von Zypern, einem Konkurrenten des eroberungswütigen Karls um die Jerusalemer Königswürde.54 Thomas beendet schließlich seine Überlegungen zur Beseitigung eines Tyrannen damit, dass er für den Fall des Fehlens eines Vorgesetzten den schon in seiner Zeit etwas altmodischen Rat gibt, sich einfach an Gott zu wenden. Thomas ist jedoch nicht immer so reserviert gegenüber einem aktiven Widerstand gegen tyrannische Herrschaft. In seinem Aristoteleskommentar (II, 8) begnügt sich der Dominikaner damit, die Ansicht des Aristoteles zu erläutern, ohne dieser zu widersprechen.55 Der Eindruck, Thomas habe seine Ansichten geändert, wird durch seine in der Summa geäußerte Einschätzung verstärkt, ein Tyrannenmord sei, obwohl nicht uneingeschränkt zu empfehlen, gleichwohl keine Sünde.56 Voraussetzung dafür, einen missliebigen Herrscher zu beseitigen, ist aber sein Wandel zum Tyrannen, also ein Fehlverhalten, ein gegenüber seinen Unterge-
53 Thomas von Aquin, De regno, I, 6, 456, Z. 114–116: Si uero ius alicuius superioris pertineat multitudini prouidere de rege, expetendum est ab eo remedium contra tyranni nequitiam. 54 Zur Datierung und zur Widmung von ›De regno‹ vgl. Christoph Flüeler, Rezeption und Interpretation der Aristotelischen »Politica« im späten Mittelalter (Bochumer Studien zur Philosophie 19), Amsterdam 1992, Teil 1, 27f. 55 Stengel 2011, 238. Thomas folgte wenn möglich Aristoteles. Stengel (ebd., 240) spricht von einem Nichtwiderspruchsprinzip. 56 In seiner ›Summa‹ schränkt er das Recht zum Widerstand ebenfalls dahingehend ein, dass ein Aufstand keinen größeren Schaden verursachen dürfe als die zu beseitigende Tyrannei selbst; Thomas von Aquin, Secunda secundae Summae theologiae a quaestione I ad quaestionem LVI, ed. Tommaso M. Zigliara/Thomas Caietan/Franciscus de Sylvestris (Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII p.m. edita 8), Rom 1895, qu. 42, art. 2, ad 3, 321: Et ideo pertubatio huius regiminis non habet rationem seditionis: nisi forte quando sic inordinate pertubatur tyranni regimen quod multitudo subiecta maius detrimentum patitur ex pertubatione consequenti quam ex tyranni regimine. Die Abwägung zwischen den Folgen eines Aufstandes gegen die Fortdauer der Tyrannei markiert den gleichen Gedankengang, der den Dominikaner bewog, die gewaltsame Beseitigung eines Tyrannen in seinem Fürstenspiegel in letzter Konsequenz abzulehnen. Die unterschiedlich nuancierte Haltung in den Schriften des Thomas von Aquin wird gleichwohl von einigen Interpreten als Meinungswandel verstanden, vgl. Richard J. Regan, Aquinas on political obedience and disobedience, in: Thought. A Review of Culture and Idea 56 (1981), 77–88, hier 84f.
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benen treuloses oder treuwidriges Verhalten.57 Im Unterschied zur eingangs thematisierten Absetzung des letzten Merowingers ist also ein individuelles Fehlverhalten des Amtsträgers vonnöten, wenn auch für Thomas von Aquin dies auf der begrifflichen Ebene zur Aberkennung des nomen regis, des Königstitels führt; aus dem König wird ein Tyrann. Das grundsätzliche Bedürfnis, einen missliebigen König wieder loszuwerden bei gleichzeitiger Skepsis hinsichtlich der praktischen Durchführung teilt Thomas von Aquin mit Zeitgenossen und späteren Autoren wie beispielsweise Nikolaus von Oresme. Der französische, durchaus königstreue Bischof will der Bevölkerung, der multitude, wie es in seinem in Französisch verfassten Kommentar zur ›Politika‹ des Aristoteles heißt, dieser multitude will er sogar drei wichtige Funktionen zuweisen. Erstens soll sie den König wählen, diesen dann zurechtweisen dürfen und drittens ist sie an der Gesetzgebung zu beteiligen.58 Dies klingt sehr weitreichend.59 Wenn ein Fürst sein Amt missbrauche und den bien publique zerstöre, so stehe es der Menge zu, gegen den Fürsten vorzugehen. Das muss nicht unbedingt ein Aufruhr sein. Die Allgemeinheit hat in der Vorstellung Oresmes zunächst die Möglichkeit und die Aufgabe, den Tyrannen zurechtzuweisen.60 Dennoch äußert er ein grundlegendes Misstrauen gegen diese Menge. Denn selbst wenn diese aus ausreichend vernünftigen Leuten bestehe,61 selbst dann sieht Oresme die Gefahr, von Zwietracht, Spaltung und sonstigen Schwierigkeiten.62 Selbst wenn eine Revolte aus den richtigen Gründen heraus unternommen werde, so solle sie besser unterbleiben, wenn die Durchführung zu größerem Übel führte, als im Falle der Beibehaltung der ungerechten Herrschaft. 57 Vgl. Böckenförde 2006, 267. 58 Nikolaus von Oresme, Le Livre de Politiques d’Aristote. Published from the Text of the Avranches Manuscript 223, ed. Albert D. Menut (Transactions of the American Philosophical Society 60,6), Philadelphia 1970, lib. 3, cap. 17, 142A: Mes tele multitude peut avoir domination quant a III choses, ce est assavoir quant a l’election dez princes toutes foiz que tele election a lieu. Item, quant a la correction des princes ou cas que il abuseroient de leur dignité […] Tiercement, quant a la constitution ou mutation et acceptation des lays. 59 Auch Oresme tritt für eine »gemischte« Verfassung ein, in der die Monarchie Beschränkungen, insbesondere einer Gesetzesbindung unterliegt, vgl. Nikolaus von Oresme, 5, 25, 242b. 60 Nikolaus von Oresme, 5, 1, 204b: Et autres manieres sunt de corrigier princeys que par sedition. […] Et quant tous ensemble ou les deputés a ce funt teles corrections d’une volenté, ce ne est pas sedition et si ne resistent pas a la posté, car il ont puissance souveraine. Im Notfall will Oresme unter Verweis auf das historische Beispiel eines Kaisers Nero auch dessen Absetzung erlauben. Vgl. Meier 1994, 128. 61 Die Menge, so Oresme, dürfe nicht tierisch (bestial) oder knechtisch (servile) sein (Nikolaus von Oresme, 5, 1, 204b). 62 Nikolaus von Oresme, 3, 17, 136b: Item, posé que la communité fust de gens francs et souffisanment raisonnables, encor en elections de princes et en corrections pevent avenir difficultés, descors et divisions perilleuses […] Le peuple est souvent divisé en divers opinions. Vgl. Babbitt 1985, 82f.
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Damit übernimmt er die Argumentation von Petrus von Auvergne und Thomas von Aquin.63 Diese Denkweise zeigt auch im 15. Jahrhundert noch Dietrich von Nieheim, der aber in die Vergangenheit zurückweist und eine Lösung aufzeigt. Der Vorgesetzte kann den König absetzen bzw. dessen Untertanen von ihren Treueiden entbinden.64 Erstmals praktiziert, bzw. beansprucht hat diese Kompetenz bekanntlich Gregor VII.65 Dieser sah im Treueid eine Gegenseitigkeitsverpflichtung begründet. Wenn der König seine Treuepflicht verletze, so liege darin bereits das Recht zum Widerstand begründet, den der Papst durch die Auflösung der eidlichen Bindungen legitimiere. Propagandistische Unterstützung erhielt der Papst durch Manegold von Lautenbach, der für die entsprechende theoretische Begleitmusik sorgte.66 Mit dem Papst war nun also eine Instanz gefunden, um Rebellionen in geordnete Bahnen zu lenken, was für Thomas von Aquin, in dessen Lebenszeit ja beispielsweise die Absetzung Friedrichs II. fällt, jedoch keineswegs vorrangig war. Wie eben erwähnt, schreibt Thomas nur von einem superior, hinter dem man den Papst allenfalls vermuten könnte. Dies mag an der Rolle seiner Familie im Königreich Sizilien und an seiner Feindseligkeit gegenüber den im päpstlichen Auftrag handelnden Karl von Anjou liegen. Andere Autoren hingegen weisen dem Papst die Kompetenz der Königsabsetzung ausdrücklich zu, wie etwa Vinzenz von Beauvais, einem Zeitgenossen des Thomas 63 Nikolaus von Oresme, 5, 1, 203b–205a. Oresme setzt sich hier sehr ausführlich mit der Möglichkeit des Aufruhrs gegen einen Fürsten auseinander. Zu Beginn zitiert er Petrus Alvernia (Auvergne), als er die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufruhr definiert, Nikolaus von Oresme, 5, 1, 203b: Mes se ces iii choses estoient ensemble, ce est assavoir que i homme eust juste cause et puissance de venir a son intention et sans damage du bien commun, il pourroit raisonnablement mouvoir sedition et se il ne le faisoit, il pecheroit. Ce est ce que dit Maistre Pierre d’Auvergne. Der Kernsatz lautet bei Petrus de Alvernia, Expositio in libros III.7 – VIII Politicorum, ed. Raimondo M. Spiazzi, in: Thomas von Aquin, In octo libros Politicorum Aristotelis expositio, Turin/Rom 1966, 141–438, hier 247: Sapiens autem ut plurimum plus diligit bonum commune quam proprium; et ideo non faciat dissensionem. Vgl. auch Babbitt 1985, 83; Sylvain Piron, Nicolas Oresme: violence, langage et raison politique (EUI working paper 97,1), Florenz 1997, 65. 64 Dietrich von Niems Gutachten gegen die Sätze Jean Petits vom erlaubten Tyrannenmord, ed. Hermann Heimpel (Studien zur Kirchen- und Reichsreform des 15. Jahrhunderts, Bd. 1: Eine unbekannte Schrift Dietrichs von Niem über die Berufung der Generalkonzilien [1413/1414]), Heidelberg 1929, Anhang, 63f.: Interficere igitur propria auctoritate tyrannum quantumcumque eciam sevum et perversum contrariatur legi divine […] Sed deponuntur eciam sepe magni reges et principes iniqui et tyrannizantes seu inutiles ad regendum per superiores eorum et hoc iuste fit […] et absolvuntur ibi eorum vasalli et subditi a iuramentis fidelitatis, que eisdem depositis prestiterant. 65 Semmler 2003, 24–29 vermutet eine päpstlicherseits verfügte Lösung der dem König gegebenen Eide auch schon für den Dynastiewechsel von 751, vgl. auch Close 2007, 845. 66 Vgl. auch Rexroth 2004, 35 und 38. Die bekannteste Rechtfertigungsschrift schrieb Manegold von Lautenbach, Liber ad Gebehardum, ed. Kuno Franke, in: Monumenta Germaniae Historica. Libelli 1, Hannover 1891, 308–430.
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von Aquin. Ein Beispiel stellt für ihn übrigens der Dynastiewechsel von 751 dar. Der Papst habe damals Childerich abgesetzt, nur nach dem Rat der Großen des Reiches zwar, doch die Rolle des Papstes ist hier gegenüber der historischen Wirklichkeit deutlich aufgewertet und in ein legalistisch-legitimierendes Denken eingebunden.67 Dem will der vom oben erwähnten Oresme häufig zitierte Marsilius von Padua hingegen gerade keine Kontrolle zubilligen. Da seine Denkweise doch sehr stark der städtischen Struktur seiner Heimat Italien verhaftet ist, kann er in Bezug auf das Königtum nur bedingt zum Vergleich herangezogen werden.68 Statt aber mit Marsilius einen weiteren Denker einzuführen, sei ein flüchtiger Blick auf die spätmittelalterliche Wirklichkeit geworfen – oder vielmehr auf die theoretischlegitimierende Begleitmusik von Herrscherabsetzungen, die andere Akzente erkennen lässt, als dies bei frühmittelalterlichen Autoren in vergleichbaren Situationen durchscheint. Herrscherabsetzungen kamen im Spätmittelalter immer wieder vor (z. B. Richard II., Wenzel etc.), doch bemühte man sich um ein betont rechtsförmliches Verfahren.69 Wichtig war auch eine dazu passende öffentliche Inszenierung.70 Zwar spielte der Tyrannenbegriff weiterhin eine Rolle. Doch die Frage, ob jemand König ist oder nicht, hing nicht mehr allein am Begriff und seiner Definition, nicht mehr am nomen regis, sondern entscheidend war das zur Absetzung durchgeführte Verfahren. Dies mag einerseits eine Folge fortschreitender Institutionalisierung sein, andererseits spielt die Entsakralisierung des Herrscheramtes eine Rolle, wodurch ein König auch breiten Bevölkerungsschichten absetzbar erscheinen konnte, die zudem ein neues Selbstbewusstsein entwickelten und die Absetzung gar als Drohung einsetzten.71 Weitgehend zurückgetreten sind metaphysische Ordo-Vorstellungen. Auffällig gegenüber dem Beispiel von 751 ist die Lösung von Argumentationen, die sich auf der rein definitorischen Ebene bewegen und das nomen regis so eng mit Amtsträger, Amt und Ausübung desselben verbinden, dass schon das bloße 67 Vinzenz von Beauvais, De morali principis institutione, ed. Robert J. Schneider (Continuatio Christianorum Continuatio Medievalis 137), Turnholt 1995, cap. 4, 24, Z. 53–56: Inueniuntur quoque summi ponitifices non solum imperatores Romanorum pro meritis confirmasse uel infirmasse, uerum eciam Hildericum regem Francorum legitur papa deposuisse. 68 Zu Marsilius von Padua vgl. Gianluca Briguglia, Marsilio da Padova, Rom 2013, dort insbesondere ab 36. 69 Karl Schnith, Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter, in: Historisches Jahrbuch 91 (1971), 309–326. 70 Rexroth 2004. 71 Klaus Schreiner, »Correctio principis«. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis spätmittelalterlicher Herrscherkritik, in: Frantisˇek Graus (ed.), Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen 35), Sigmaringen 1987, 203–256, hier 247.
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Auseinanderfallen von einerseits der Realität und andererseits der Vorstellung vom Begriff unmittelbare Auswirkungen haben, die Absetzung eines Königs also nichts weiter ist, als die Anerkennung der Realität. Eine solch enge Verbindung von Begriffen und Sachen begegnet auch in anderen ideengeschichtlichen Zusammenhängen. Erinnert sei etwa an den Universalienstreit, der im zeitlichen Verlauf eine Entwicklung nahm, die zur Zurückdrängung des Realismus durch den Nominalismus führte. Dies lässt durchaus Parallelen – wenn auch keinen unmittelbar nachweisbaren ideengeschichtlichen Zusammenhang – erkennen zu den hier nur oberflächlich skizzierten Themenfeldern der politischen Theorie. Auf einen weiteren Aspekt sei hingewiesen. Mit dem Aufbrechen des skizzierten Zusammenhangs zwischen Begriff und Sache am Beispiel des nomen regis, geht auch eine stärkere Betonung des Individuums und seiner persönlichen Verantwortung einher. Ob man hier eine Brücke wird schlagen können zu frühmittelalterlichen, ausschließlich der Königssippe vorbehaltenen Personennamen (Merowinger, Karolinger), sei hier nur als Frage in den Raum gestellt.
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Mike Janßen
Für den König beten – Eine frühmittelalterliche Legitimationsstrategie
Abstract The religious worship of the ruler has a long tradition across time and geographical borders. In the Frankish Kingdoms, under Merovingian and especially Carolingian rulership between the 6th and the 9th centuries, a special form of liturgical tribute for the kings was established. It blends religious with political elements. Prayers had become an expression of loyality to the king. In the center of the liturgical veneration was the name of the ruler. Speaking out his name in prayers all over the kingdom makes the absent king present to the subjects. Whoever refused to pray for the king had to expect severe penalties. In three case studies, with different types of sources, it will be shown that the intention of placing the name of the ruler in prayers and liturgical books was a conscious strategy to stabilise and legitmate the rulership. On the other side, names were removed from the liturgical writings to topple political enemies into oblivion. The conflict between Charlemagne and the Bavarian dux Tassilo in combination with the emergence of the laudes regiae clearly proofs this phenomen. There has already been an attempt to legitimate the king by liturgical tribures even before Carolingian rulership: The so-called Barberini Ivory testifies Grimoalds endeavour to stabilise the rule by placing the name of the adopted king Childebert II in the diptych. Finally, there will be an analysis of the Carolingian libri vitae, with a focus on the aspect of political legitimation.
Anfang des elften Jahrhunderts berichtet der Historiograph Thietmar von Merseburg vom Versuch des bayrischen Herzogs Heinrich II. sich der Krone des Reiches zu bemächtigen. Heinrichs Vetter, Kaiser Otto II., war unerwartet früh während eines Italienaufenthaltes gestorben, dessen Sohn Otto III. zu diesem Zeitpunkt gerade einmal drei Jahre alt. Heinrich, der sich durch sein Machtstreben den Beinamen ›der Zänker‹ verdiente, versuchte sogleich, sich an die Stelle des noch unmündigen Königs zu setzen.1 Er wählte hierfür den symbolträchtigen Ort Quedlinburg, die Grabstätte seines Großvaters, König Heinrichs I., und ließ sich am Ostersonntag 984 zum König ausrufen: Hac in festivitate idem 1 Der Beiname ›der Zänker‹ bzw. rixosus ist erst bei Aventin im 16. Jh. belegt. Siehe hierzu: Kurt Reindel, Heinrich II., der Zänker, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), 341.
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a suis publice rex appellatur laudibusque divinis attollitur; so der Merseburger Bischof und Historiograph.2 Heinrichs Versuch, sich die Krone zu sichern, scheiterte letztlich, doch veranschaulicht diese kurze Passage, welche symbolische Kraft dem rituellen Akt zugesprochen wurde, den König durch kirchliche Lobgesänge zu küren. Das Königtum war auf einem christlichen Fundament errichtet und durch die Ausrufung des Herrschers in religiösen Kulthandlungen kirchlich legitimiert. Der in den Lobgesängen ausgedrückte Dank an Gott bekräftigte das Einvernehmen aller Anwesenden.3 Heinrich versuchte auf diese Weise seinen Anspruch – scheinbar gestützt durch göttliche Zustimmung – zu untermauern. Religiöse Ehrbezeugungen für den Herrscher haben eine lange Tradition, sowohl zeit- als auch raumübergreifend. Für das frühe Mittelalter sind Huldigungen und Gebete für den Herrscher überliefert. So beschrieb Gregor von Tours bereits im 6. Jahrhundert Gebete pro rege – für den König.4 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass sich die auf den Herrscher bezogene religiöse Verehrung sowohl inhaltlich als auch formal wandelte. Ausgangspunkt der Untersuchung ist das merowingische Frankenreich. Zeitlich reicht sie bis in die zweite Hälfte des neunten Jahrhunderts hinein. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern die Platzierung des Herrschernamens in den Gebeten der Herrschaftssicherung als legitimatorisches Mittel dienen sollte. Sobald ein öffentlich praktiziertes Gebet den Herrscher als Adressaten nennt, verliert dieses seinen rein religiösen Charakter und öffnet eine zusätzliche Ebene: eine politische und der Intention nach eine herrschaftsstabilisierende. Jüngste Forschungen haben hervorgehoben, dass die Namensnennung im Gebet für das europäische Mittelalter, besonders den lebenden Herrscher betreffend, noch nicht hinreichend untersucht sei. »Namen bilden die Voraussetzung dafür, eines Herrschers im Rahmen kultischer Vollzüge zu gedenken, ihn etwa im Gebet vor Gott zu bringen. […] Die Untersuchungen dynastischer Gruppeneinträge in Memorialquellen des früheren Mittelalters haben nicht zuletzt zur Erkenntnis der politischen Relevanz solcher primär auf 2 Thietmar von Merseburg, Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, ed. Robert Holtzmann (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum, Nova series 9), Hannover 1935, hier IV,2, 132–134. 3 Roderich Schmidt, Königsumritt und Huldigung (Vorträge und Forschungen 6), 2. Auflage, Sigmaringen 1981, 129. Thietmar von Merseburg, der Heinrichs Bemühung um die Krone als Treuebruch verstand, zählt die Anwesenden namentlich auf. Ebenso nennt er diejenigen namentlich, die die Messe verließen, da sie dem Akt nicht zustimmen wollten. Wie Anm. 2. 4 Haec eo dicente, omnes populus orationem pro rege fudit ad Dominum. Gregor von Tours, Libri Historiarum X, ed. Bruno Krusch/Wilhelm Levison (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovovingicarum 1,1), 2. Auflage, Hannover 1951, VII,8, 331. Yitzhak Hen, The Christianisation of Kingship, in: Matthias Becher (ed.), Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, Münster 2004, 163–177, hier 172f. nennt weitere Beispiele von Gebeten für den Herrscher aus merowingischer Zeit.
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das Gebet bezogener Strukturen geführt.«5 Ein ritualisiertes Gedenken an verstorbene Mitglieder des regierenden Königshauses wurde stets auch als »Prozeß der Stabilisierung von Monarchie« verstanden.6 Die regierenden Nachfahren waren es schließlich, die dieses Gedenken förderten und somit auch ihre eigene Legitimation.7 Die Erzeugung von Memorialquellen, die der Erinnerung einzelner Personen dienen sollte, muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Gleichzeitig bot die bewusste Auslassung oder gar Entfernung von Namen die Möglichkeit politische Gegner auszustechen und in Vergessenheit geraten zu lassen.8 Dies betrifft insbesondere liturgische Texte, in denen die Personen, für die gebetet werden sollte, namentlich genannt sind. Der Begriff ›Liturgie‹ bezeichnet ein weites Spektrum an kirchlichen Feierformen.9 In dieser Untersuchung ist der Blick auf die liturgischen Formen, die Gebete für den Herrscher beinhalten, fokussiert. Anhand konkreter Fallbeispiele wird aufgezeigt, wie besonders in kritischen Phasen der Herrschaftskonsolidierung die Liturgie ganz bewusst als Legitimierungsstrategie genutzt wurde. Die folgenden Beispiele verdeutlichen auch die Verzahnung der Idealisierung des Herrschers einerseits und der Entfernung politischer Gegner aus den liturgischen Quellen andererseits. In den vergangenen Jahren hat sich die Forschung der politischen Bedeutung religiöser Kulthandlungen zugewandt. Hierbei wurden vor allem einzelne Handschriften analysiert oder bestimmte Phänomene hervorgehoben, so beispielsweise das Entstehen von Verbrüderungsbüchern zu Beginn des neunten Jahrhunderts.10 An dieser Stelle soll der Versuch unternommen werden, die verschiedenen Formen christlicher Herrscherverehrung im frühen Mittelalter aufzuzeigen und das dahinterliegende politische Konzept offenzulegen. Dabei sollen auch verschiedene Gattungen von Quellen zu Wort 5 Wolfram Drews et al., Monarchische Herrschaftsformen der Vormoderne in transkultureller Perspektive (Europa im Mittelalter 26), Berlin/Boston 2015, 310. 6 Drews et al. 2015, 257. 7 Otto Gerhard Oexle, Memoria als Kultur, in: Ders. (ed.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, 9–78, hier 38f. 8 Harriet I. Flower, The art of forgetting (Studies in the history of Greece and Rome), Chapel Hill 2006, 3. Siehe auch: Renate Neumüllers-Klauser, Zum Phänomen der Erasio nominis im Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 147 (1999), 255–272, hier 255. 9 Albert Gerhards/Benedikt Kranemann, Einführung in die Liturgiewissenschaft, 3. Auflage, Darmstadt 2014, 13–15. Zum Begriff »Litanei« siehe: Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, ed. Astrid Krüger (Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel 24), Hannover 2007, 2. 10 Siehe beispielsweise: Maximilian Diesenberger/Rob Meens/Els Rose (edd.), The Prague Sacramentary. Culture, religion, and politics in late eighth-century Bavaria (Cultural encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 21), Turnhout 2016. Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (edd.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/ Weimar/Wien 2015. Peter Erhart/Jakob K. Hüeblin (edd.), Bücher des Lebens – lebendige Bücher, St. Gallen 2010.
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kommen, die alle eines gemein haben: die namentliche Nennung des Herrschers mit dem Ziel, dessen Herrschaft zu legitimieren und somit zu stabilisieren.
Liturgie im Frankenreich Für das 6. Jahrhundert ist eine gezielte Förderung der Entwicklung von Gebeten durch die Könige und Königinnen kaum nachweisbar. Die Historiographie bietet nur wenige Hinweise: so habe der merowingische König Chilperich I. persönlich Lieder und Messen verfasst.11 Die Verweise Gregors von Tours auf die Gebete pro rege belegen jedoch die Verbreitung von Fürbitten für den Herrscher bereits in merowingischer Zeit. Die ältesten nachweisbaren mittelalterlichen Gebetstexte mit Herrscherbezug finden sich in den Beschlüssen der westgotischen Synode von Agde 505. Spätestens 535 wurden diese Segensbitten auch auf den Synoden im merowingischen Reich praktiziert.12 Mit dem Ende des sechsten und dem beginnenden siebten Jahrhundert ist eine deutliche Änderung in diesem Bereich zu erkennen: Die Könige traten verstärkt als Schirmherren für die Entwicklung neuer Gebete und Gesänge ein.13 Dies schlug sich nicht nur in den Gebeten selbst, sondern auch in den in Urkunden niedergeschriebenen Gebetsaufforderungen der merowingischen Herrscher nieder. Die Karolinger übernahmen diese Praxis.14 Auch die vermehrte Gründung von Klöstern spiegelt die verstärkte Bindung von Königtum und Religion wieder.15 Die Könige erhofften sich dadurch den 11 […], et alia opuscula vel ymnus sive missas, quae nulla ratione suscipi possunt. Gregor von Tours, Libri Historiarum X, VI,46, 320. Eine Edition der Werke Chilperichs I. findet sich in: Psalmi III, ed. Walther Bulst (Hymni latini antiquissimi 75), Heidelberg 1956, 119. Siehe auch: Yitzhak Hen, The royal patronage of liturgy in Frankish Gaul (Subsidia 3), London 2001, 25f. 12 Concilium Avernense, ed. Friedrich Maassen, in: Monumenta Germaniae Historica. Concilia 1, Hannover 1893, 65–71, hier 66. Siehe hierzu auch: Eugen Ewig, Der Gebetsdienst der Kirchen in den Urkunden der späteren Karolinger, in: Ders., Spätantikes und Fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1974–2007), ed. Matthias Becher/Theo Kölzer/Ulrich Nonn (Beihefte der Francia 3/3), Bd. 3, Ostfildern 2009a, 365–406, hier 365. 13 Hen 2004, 170. 14 Hen 2004, 175. 15 Eva-Maria Butz, Herrschergedenken als Spiegel von Konsens und Kooperation. Zur politischen Einordnung von Herrschereinträgen in den frühmittelalterlichen Libri memoriales, in: Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (edd.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015, 305–328, hier 306. Siehe auch: Eva-Maria Butz, Die Memoria Ludwigs des Frommen in St. Gallen und auf der Reichenau. Herrschergedenken zwischen Krise und Konsens, in: Thomas Zotz et al. (edd.), 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83), Ostfildern 2016a, 145–159, hier 147. Ewig 2009a, 366. Eugen Ewig, Die Gebetsklausel für König und Reich in den merowingischen Königsurkunden, in: Norbert Kamp (ed.), Tradition
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himmlischen Segen, der ihrer Herrschaft zu Gute kommen sollte.16 Dafür wurde durchaus investiert. Klöster und andere christliche Institutionen wurden reich beschenkt. Aus den 750er Jahre ist die Stiftung eines Altars von König Pippin an die Kirche Sankt Peter in Rom belegt. Durch dieses Präsent erhoffte sich der Frankenkönig ein namentliches Gedenken für die Ewigkeit.17 Dass der Altar später von Sarazenen geraubt wurde, lässt erahnen, dass es sich nicht nur um eine einfache Steinplatte gehandelt haben kann.18 Der israelische Historiker Yitzhak Hen formulierte es folgendermaßen: »Exchanging earthly property for supernatural power.«19 Sichtbar wird dies auch an den erhaltenen Kirchenschätzen, wie kostbaren, aus Elfenbein geschnitzten Diptychen oder mit Juwelen besetzten Psaltern aus karolingischer Zeit. Die Gebete hatten das Wohl des Herrschers in unterschiedlichen Bereichen zum Ziel, sei es auf militärischer, politischer oder eben die Person und Familie des Königs betreffender Ebene. Auch vermehrten Gebete nach mittelalterlicher Auffassung die Fürsprache der Heiligen und Märtyrer bei Gott und erleichterten somit demjenigen, für den gebetet wurde, den Zutritt ins Himmelreich.20 Wichtig scheint die Betonung in den Gebeten, dass der König sein Amt dem Willen Gottes zu verdanken hatte.21 Das Argument einer von Gottes Willen begründeten Herrschaft hatte durchaus Gewicht in einer stark religiös geprägten Gesell-
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als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters [Karl Hauck zum 21. 12. 1981 gewidmet], Berlin 1982, 87–99, hier 96. Eva-Maria Butz, Fundatio, Memoria Caritas. Der Herrscher als Stifter und Wohltäter in der späten Karolingerzeit, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 29 (2010b), 25–37, hier 25f. […] quatenus ex hoc memoria nominis vestri usque in finem mundi in domo Domini celebretur et suffragiis apostolorum et praesentis vitae prospera et aeterne beatitudinis vobis tribuantur gaudia. Codex Carolinus, ed. Wilhelm Gundlach, in: Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 3, Berlin 1892, 469–657, hier 42, 556. Codex Carolinus, 24, 524. Siehe hierzu: Arnold Angenendt, Mensa Pippini Regis. Zur liturgischen Präsenz der Karolinger in Sankt Peter, in: ders./Thomas Flammer/Daniel Meyer (edd.), Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35), Münster 2005, 89–109, hier 93 und 101. Karl der Große schenkte Papst Hadrian eine Grabplatte mit Epitaph, in dem um Gebete für beide gebeten wird. Franz Neiske, Rotuli und andere frühe Quellen zum Totengedenken (bis ca. 800), in: Dieter Geuenich/Thomas Schilp/Uwe Ludwig (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 203–220, hier 204f. Hen 2001, 34. Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter (Mittelalter-Forschungen 48), Ostfildern 2014, 25. Siehe hierzu beispielhaft die Litaneien aus dem Psalter Karls des Großen: Carolo excellentissimo et a deo coronato atque magno et pacificio Romanorum vita et uictoria. Ediert in: Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, Litanei 8, 579. Siehe auch: Hen 2001, 40f.
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schaft.22 In den liturgischen Büchern des merowingischen Galliens tauchen mit dem beginnenden siebten Jahrhundert vermehrt Gebete pro rege auf.23 Mit Karl dem Großen wurde die Förderung von liturgischen Werken durch den König in eine andere Sphäre gehoben. Die ersten karolingischen Herrscher konnten sich auf keine Tradition legitimer Königsherrschaft berufen. Dafür hatte Pippin mit der Absetzung des letzten Merowingers gesorgt. Dieser habe nur noch den inhaltsleeren Titel des rex vor sich hergetragen, wie es Einhard spitzfindig formulierte.24 Pippin suchte früh den Schulterschluss mit Rom und schmiedete eine Allianz zwischen Papsttum und der karolingischen Dynastie. Besonders sein Sohn Karl verstand es dann zunehmend, neben dem religiösen Aspekt auch politische Vorteile aus der Liturgie zu ziehen.25 Die Gottesdienste folgten einem strikten Ablauf, in denen Segensbitten und Gedenkaufforderungen für den Herrscher ihren festen Platz bekamen.26 Auf bischöflichen Versammlungen, Synoden und Konzilen wurde beschlossen, Litaneien, d. h. Bittgebete, und Messen zum Wohl des Herrschers und auch seiner Nachkommen abzuhalten: Ut pro excellentissimo atque gloriosissimo domno nostro Karolo rege seu liberis eius omnes episcopi, presbyteri seu abbates et monachi in unum collecti, in quantum extremitas nostra praevalet, psalmodia, missarum sollemnia atque laetaniarum officia omnipotenti Deo devotissime exsolverent, decrevimus.27 22 Ildar H. Garipzanov, The symbolic language of authority in the Carolingian world (c. 751– 877) (Brill’s series on the early Middle Ages 16), Leiden/Boston 2008, 43f. 23 Hen 2001, 39. Siehe auch: Butz 2016a, 147. 24 Einhard, Vita Karoli Magni, ed. Oswald Holder-Egger (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [25]), 6. Auflage, Hannover/Leipzig 1911, 3. Siehe dazu auch im Beitrag von Christian Vogel in diesem Band, 19–38. 25 Hen 2001, 65. und Hen 2004, 174. Siehe auch: Garipzanov 2008, 44 und Butz 2015, 306. 26 Arnold Angenendt, Prosopographie in der Messe, in: Rainer Berndt (ed.), »Eure Namen sind im Buch des Lebens geschrieben«. Antike und mittelalterliche Quellen als Grundlage moderner prosopographischer Forschung [Ergebnisse der Tagung vom 23. bis zum 25. März 2011] (Erudiri sapientia 11), Münster 2014, 261–279, hier 270f. Siehe auch: Ewig 1982, 87. Zum Ablauf der Messe siehe: Arnold Angenendt, Mediävistik und Liturgie, in: ders./ Thomas Flammer/Daniel Meyer (edd.), Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35), Münster 2005, 397–417, hier 416. 27 Concilia aevi Karolini [742–817], ed. Albert Werminghoff (Monumenta Germaniae Historica. Concilia 2,1), Hannover/Leipzig 1906, 34, c. 2, 250. Siehe auch ebd., 24, c. 5, 208. Weitere Bestimmungen wann für den Herrscher gebetet werden soll finden sich u. a in den Capitularia regum Francorum I, ed. Alfred Boretius (Monumenta Germaniae Historica. Capitularia 1), Hannover 1883, 112, c. 5, 227: Item placuit sancto concilio, quarta et sexta feria a carne et vino cuncto clero abstinendum, et ad nonam letaniam faciendam cum missarum sollemniis pro incolomitate et prosperitate vel firmitate totius sanctae Dei eclesiae vel pro aeterna salute christiani populi et animarum suarum vita perpetua vel pro vita et salute et stabilitate imperii domni regis vel filiorum eius, exceptis tamen diebus a nativitate Domini usque in octavas epyphaniae, et a pascha usque ad sanctam pentecosten, et praecipuis festivitatibus id est sanctae Mariae, sancti Iohannis baptistae, duodecim apostolorum, sancti archangeli Micha-
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Detailliert wurde geregelt, wie Prozessionen abzulaufen hatten. Prozessionen mit Litaneien, besonders in der Fastenzeit, wurden für sämtliche Wochentage festgelegt. Noch aus der Zeit Karls des Großen ist hier die Sonderregelung überliefert, besonders samstags für den namentlich genannten Herrscher zu beten: Nam sabbato tempore Adriani institutum est ut flecteretur pro Carolo rege; antea vero non fuit consuetudo.28 Neben Ostern wurden diese Litaneien bei Taufen, der Kranken- und Sterbenden-Fürsorge, der Weihe von Personen und Orten und auf bischöflichen Versammlungen gesungen.29 Die religiöse Verehrung des Herrschers wurde mehr und mehr intensiviert, sodass im Laufe des 9. Jahrhunderts nicht nur an den besagten hohen Festtagen und Krönungen für den Herrscher gebetet wurde. Gebete für den Herrscher wurden täglich gesprochen.30 Der Umstand, dass mittelalterliche Herrschaft Reiseherrschaft war, führte zudem zu einem erhöhten Aufkommen an Feierlichkeiten im Beisein des Königs. Bei der Ankunft des Herrschers wurden Gottesdienste in den Kirchen der betreffenden Ortschaften abgehalten. Auf diese Weise waren regelmäßige Gebete für den Herrscher in dessen Anwesenheit gewährleistet und diese auch einer gewissen Öffentlichkeit präsent: Processitque in obviam eius inmensa populi turba cum signis adque vixillis, canentes laudes.31 Eine Anerkennung der Herrschaft des Königs wurde so auch vor dem populus inszeniert.32 Die ›Annales Bertiniani‹ berichten von multas et multiplices laudes zu Ehren Kaiser Karls des Kahlen im Rahmen einer Synode.33 Das legitimierende Element dieser Handlungen fasste bereits Klaus Tenfelde treffend zusammen, ohne allerdings speziell auf die Litaneien zur Ehrung des Herrschers einzugehen: »Schon in karolingischer Zeit ist der Adventus nicht nur ein höfisches Zeremoniell unter anderen, sondern das herrschaftskonstitutive Zeremoniell schlechthin insoweit, als es sich, je mehr das
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helis et sancti Martini, vel veneranda festivitate illius parrochie; vel etiam caritatis officium inplendum in adventu fratrum supervenientium, et his qui in hoste vel in itinere sunt constituti vel ad palatium domni regis veniunt vel infirmitate etiam detenti indulgentiam concedimus. Siehe auch: Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 20f. Les Ordines Romani. Du Haut Moyen Age III Les Textes (Ordines XIV–XXXIV), ed. Michel Andrieu (Spicilegium Sacrum Lovaniense. Études et Documents Fascicule 24), Louvain 1951, 260f. Siehe hierzu auch: Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 9. und Butz 2015, 306f. Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 38. Wolfgang E. Wagner, Die liturgische Gegenwart des abwesenden Königs (Brill’s series on the early Middle Ages 19), Leiden/Boston 2010, 19f. Gregor von Tours, Libri Historiarum X, VIII,1, 370. Siehe hierzu auch: Klaus Tenfelde, Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs, in: Historische Zeitschrift 235 (1982), 45–84, hier 54f. Andrea Stieldorf, Reiseherrschaft und Residenz im frühen und hohem Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch 129 (2009), 147–177, hier 170–172. Siehe hierzu auch: Reinhard Elze, Die Herrscherlaudes im Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 40 (1954), 201–223, hier 201. Annales Bertiniani, ed. Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [5]), Hannover 1883, a. 877, 136.
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Land durch Herrscherreisen von Kaiserpfalzen und Klöstern aus regiert wird, in mehr oder weniger Prachtentfaltung bei jedem Einzug eines Herrschers in einen umfriedeten Bezirk wiederholt.«34 Andersherum wurde die Abwesenheit des Herrschers durch Kommemoration aufgefangen. Theologisch betrachtet wurde der Herrscher durch die Nennung seines Namens präsent, ohne physisch anwesend zu sein.35 Die ›Admonitio Generalis‹ Karls des Großen bestimmte nicht nur Geistliche, sondern auch Laien zum Gebetsdienst.36 Die Untertanen verpflichten sich durch das Gebet vor Gott letztlich dem Herrscher gegenüber zur Loyalität. Auf einer Synode an der Jahreswende 818/19 in Aachen wurden die monastischen Reformen Kaiser Ludwigs des Frommen vorläufig zu Ende gebracht und weitere Maßnahmen zur Ordnung kirchlicher Angelegenheiten beschlossen. Neben verschiedenen, auf einem parallel dazu veranstalteten Reichstag verabschiedeten Kapitularien erließ der Kaiser eine Anordnung, die weitgehend auf die Beschlüsse dieser Synode zurückgeht. Zu dieser Versammlung gehört auch eine Bekanntmachung über die Dienste der Mönche in den Klöstern. Die sogenannte ›Notitia de servitio monasteriorum‹ regelte die Leistungspflichten von 48 namentlich genannten Reichsklöstern, welche in drei Gruppen eingeteilt wurden: Klöster, die Heeresdienst und Abgaben leisten mussten; Klöster, die lediglich Abgaben leisteten und schließlich Klöster, die zum Gebet für Kaiser und Reich verpflichtet waren.37 Auch wenn der Gebetsdienst mit dem Militärdienst und der 34 Tenfelde 1982, 55. 35 Otto G. Oexle, Memoria und Memorialbild, in: Karl Schmid/Joachim Wollasch (edd.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (Societas et Fraternitas 48), München 1984, 384–440, hier 385. Siehe auch: Wagner 2010, 18. 36 Die Admonitio Generalis Karls des Großen, ed. Hubert Mordek/Klaus Zechiel-Eckes/ Michael Glatthaar (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris 16), Hannover 2012, 29, 198f. Siehe hierzu: Butz 2016a, 147. und Arnold Angenendt, Karl der Große als »Rex et sacerdos«, in: Ders./Thomas Flammer/Daniel Meyer (edd.), Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35), Münster 2005, 311–332, hier 325. Zu den Reformbemühungen siehe auch: Thomas Ertl, Byzantinischer Bilderstreit und fränkische Nomentheorie. Imperiales Handeln und dialektisches Denken im Umfeld der Kaiserkrönung Karls des Großen, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), 13– 42, hier 33 und 40. 37 Notitia de servitio monasteriorum, ed. Émile Lesne, in: Revue d’histoire de l’église de France 6 (1920), 489–493, hier 491–493. Die aktuellste Edition: Notitia de servitio monasteriorum (819), ed. Petrus Becker, in: Corpus Consuetudinum Monasticarum 1, Siegburg 1963, 484– 499, hier 493–499. Siehe hierzu auch: Butz 2016a, 148. und Notitia de servitio monasteriorum, ed. Walter Kettemann, in: Ders. (ed.), Subsidia Anianensia: Überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte Witiza-Benedikts, seines Klosters Aniane und zur sogenannten »anianischen Reform«. Mit kommentierten Editionen der ›Vita Benedicti Anianensis‹, ›Notitia de servito monasteriorum‹, des ›Chronicon Moissiacense/Anianense‹ sowie zweier Lokaltraditionen aus Aniane, Diss. Duisburg 2000, 536–547, hier 537. Heinrich Wagner sieht durchaus einen Unterschied in der Gruppierung der Klöster und spricht den zum Gebetsdienst verpflichteten Klöstern die Fähigkeit ab, Militärdienst und Abgaben zu
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Abgabe von materiellen Gütern kaum auf eine Stufe gestellt werden kann, müssen die Zeitgenossen darin einen nicht gleichrangingen, aber dennoch vergleichbaren Dienst gesehen haben. Der Stellenwert, der den Gebeten zugesprochen wurde, wird so durchaus greifbar.38 Seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert wurden die Bittgebete für den Herrscher um die laudes regiae ergänzt. Während Litaneien eher durch einen Bußcharakter geprägt waren und Gott um Unterstützung gebeten wurde, waren die laudes regiae im wörtlichen Sinne Lobpreisungen.39 Diese beginnen mit dem dreimaligen Ruf Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat, worauf das Herrscherlob mit anschließenden Gebeten an die Heiligen folgte.40 Die laudes regiae wurden der römischen Allerheiligenlitanei entlehnt, durch die Aufzählung bestimmter Heiliger erhielten sie allerdings eine spezielle fränkische Prägung.41 Durch Übernahme oder Imitation bestehender und funktionierender Mechanismen sollte das religiöse Fundament des karolingischen Königtums zementiert werden – Buße und Selbsterniedrigung wurden ersetzt durch Herrscherlob und Siegesrufe. In den 1940er Jahren sprach Ernst Kantorowicz dieser Entwicklung einen »imperialen Charakter« zu.42 Diese Formulierung wird dem Sachverhalt aus heutiger Perspektive kaum gerecht, doch wird man wohl davon ausgehen können, dass die laudes regiae eher dem Selbstverständnis der karolingischen Könige entsprochen haben.43 Die Entstehung der laudes regiae begann bereits in der Zeit Pippins und die Aufzeichnung derselben wurde unter Karl dem Großen und seinen Nachfolgern weitergeführt.44 Die meisten der erhaltenen laudes regiae aus dem Frankenreich finden sich in Psalterien.45 Der in den laudes namentlich
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leisten. Heinrich Wagner, Zur Notitia de servitio monasteriorum von 819, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 55 (1999), 417–438, hier 418. Karl Schmid, Das liturgische Gebetsgedenken in seiner historischen Relevanz am Beispiel der Verbrüderungsbewegung des früheren Mittelalters, in: Ders (ed.), Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter, Sigmaringen 1983a, 620–644, hier 630. Wagner 2010, 20. Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 22. Drews et al. 2015, 313. Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 32f. Siehe auch: Gisbert Knopp, Sanctorum nomina seriatim. Die Anfänge der Allerheiligenlitanei und ihre Verbindung mit den »Laudes regiae«, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 65 (1970), 185–231, hier 220. Ernst H. Kantorowicz, Laudes regiae. A study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship, With a study of the music of the laudes and musical transcriptions by Manfred F. Bukofzer (University of California Publications in History 33), Berkely/Los Angeles 1958, 14. Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 34. Elze 1954, 204. Siehe auch: David A. Bjork, The early Frankish Kyrie text: a reappraisal, in: Viator 12 (1981), 9–35, hier 13. Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 34. Bernhard Opfermann, Die liturgischen Herrscherakklamationen im sacrum imperium des Mittelalters, Weimar 1953, 23.
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genannte Herrscher wird mit Titulatur genannt, dies gilt auch für seine Ehefrau und Söhne: Karolo excellentissimo et a Deo coronato magno et pacificio rege Francorum et Langobardorum ac patricio Romanorum vita et victoria. […] Pipino et Karolo nobilissimis filiis eius vita […] Pipino rege Longobardorum vita. […] Chlodovio rege Aequitaniorum vita. […] Fastradane regina salut et vita.46
Die Titulatur entsprach häufig jener in den Herrscherurkunden. Die Angleichung in offiziellen Diplomen des Königs und den religiösen laudes lassen die Absicht erkennen, den Herrscher auch in den religiösen Ehrbezeugungen als Amtsträger darzustellen.47 Der in der Titulatur angegebene Verweis auf die Gnade Gottes hat seine Anfänge in der Zeit Pippins. Der Titel rex francorum, den bereits die merowingischen Herrscher nutzten, wurde durch die Bindung zwischen Pippin und dem Papst um die Formel gratia dei erweitert. Karl der Große fügte den Titel rex langobardorum und später nach der Kaiserkrönung augustus hinzu.48 Auf die Bedeutung für die Legitimation durch die Titulatur des damals noch jungen Königshauses hat bereits Herwig Wolfram ausführlich hingewiesen.49
Der Tassilo-Psalter Die zitierten laudes regiae auf Karl den Großen und seine männlichen Nachkommen sind einem Psalter entnommen, der heute in Montpellier aufbewahrt wird. Dieser Psalter hat eine bewegte Geschichte hinter sich, was auch in den ihm zugeschriebenen Bezeichnungen zum Ausdruck kommt: Der Psalter von Montpellier, der Psalter von Mondsee, der Psalter Karls des Großen oder eben auch der Tassilo-Psalter sind geläufige Benennungen. Aufgrund des Schriftbildes konnte das Kloster Mondsee in Bayern als Ausstellungsort identifiziert werden. Auch lassen sich Parallelen zwischen den Miniaturen im Psalter und auf dem sog. Tassilokelch feststellen. Heute befindet sich der Psalter im Besitz der Universität 46 Cod. Montpellier, Bibl. De l′École de Méd. Ms.409, fol. 343–344, abgedruckt in: Opfermann 1953, 101. 47 Siehe hierzu beispielhaft: Karolus serenissimus augustus a deo coronatus magnus pacificus imperator Romanorum gubernans imperium, qui et per misericordiam dei rex F[ranco]rum a et Longobardorum omnibus episcopis abbatibus ducibus comitibus gastaldeis domesticis vicariis seu reliquis fidelibus nostris presentibus et futuris. Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen, ed. Engelbert Mühlbacher (Monumenta Germaniae Historica. Diplomata. Die Urkunden der Karolinger 1), Hannover 1906, 175, 235. 48 Garipzanov 2008, 39. 49 Herwig Wolfram, Intitulatio (Mitteilungen des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband XXI), Graz/Wien/Köln 1967, 214–216.
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von Montpellier, der Kelch seit der Stiftung durch den bayrischen Herzog um 780 im Kloster Kremsmünster.50 Nicht nur handelt es sich um einen der ältesten Psalter; er enthält auch die älteste Überlieferung von laudes regiae, also Lobpreisungen des Königs.51 Das außergewöhnliche ist, dass dem Psalter fünf Seiten entnommen wurden und die genannten laudes regiae zu Ehren Karls des Großen, seiner Gemahlin und seiner männlichen Nachkommen erst nachträglich an dieser Stelle eingefügt worden sind. Dementsprechend konnten im Psalter verschiedene Hände identifiziert werden, wobei die ersten in vorkarolingischem Schrifttyp, die angefügten laudes in karolingischer Minuskel verfasst wurden. Die jüngeren Seiten lassen sich aufgrund der dort genannten Personen, insbesondere durch die als Ehefrau, genauer als regina bezeichnete Fastrada, die Karl nachweislich 783 ehelichte und die 794 verstarb, auf diesen Zeitraum eingrenzen.52 Der Ausstellungsort, das Kloster Mondsee, wurde um 748 von Herzog Odilo gegründet und war Eigenkloster der bayrischen Herzogsfamilie der Agilolfinger.53 Bereits Ende der 1950er Jahre stellte Kurt Holter die These auf, die Entfernung der fünf Seiten sei mit der Entmachtung des agilolfingischen Herzogs Tassilo 788 durch Karl den Großen in Verbindung zu bringen.54 In der Forschung herrscht seither nahezu widerspruchslos die Meinung vor, der Psalter sei gar im Besitz des Bayernherzogs Tassilo gewesen und auf den seit nunmehr 1200 Jahren verschwundenen Seiten habe in irgendeiner Form eine Fürbitte oder Ehrung der Agilolfinger bzw. Tassilos selbst gestanden.55 Letztlich sprechen viele Indizien für Holters Vermutung: So beispielsweise die Tatsache, dass die durch das Heraustrennen der Seiten entstandene Unterbrechung eines Psalms mit den angefügten
50 Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 80. Zum sog. Tassilokelch siehe: Herwig Wolfram, Tassilo III. Höchster Fürst und niedrigster Mönch (kleine bayerische biografien), Regensburg 2016, 28f. Günther Haseloff, Der Tassilo-Kelch (Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 1), München 1951, 17f. 51 Katharina Bierbrauer/P. Michael Hermes, Psalter von Montpellier, in: Christoph Stiegemann/Matthias Wemhoff (edd.), 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, Bd. 2, Mainz 1999, 804–808. Harald Wolter-von dem Knesebeck, Psalter von Montpellier (Mondsee-Psalter oder Tassilo-Psalter), in: Peter van den Brink/Sarvenaz Ayooghi (edd.), Karl der Große. Charlemagne. Karls Kunst. Die Publikationen zu den 3 großen Ausstellungen in Aachen 2014, Dresden 2014, 262–264, hier 262. Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit. Teil II. Die vorwiegend österreichischen Diözesen. Mit 25 Schriftproben, Wiesbaden 1980, 9. 52 Wie Anm. 46. 53 Wolfram 2016, 122–125. Herwig Wolfram, Grenzen und Räume (Österreichische Geschichte 378–907 1), Wien 1995, 130–132. 54 Willibrord Neumüller/Kurt Holter, Der Codex Millenarius (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 6), Graz 1959, 133. Siehe auch: Wolter-von dem Knesebeck 2014, 263. Bischoff 1980, 9. 55 Knopp 1970, 211.
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Seiten nahtlos fortsetzt und in die laudes regiae Karls des Großen einstimmt.56 »Daß der Psalter für ein Mitglied der bayerischen Herzogsfamilie bestimmt war, also vor 788 hergestellt wurde, wie vermutet worden ist, wird durch die gewaltsame Veränderung des Schlusses nur umso wahrscheinlicher gemacht«, urteilte auch Bernhard Bischoff.57 Ausgehend von der These die fehlenden Seiten seien Tassilo gewidmet gewesen und durch die laudes auf Karl den Großen ersetzt worden, kann so von einer damnatio memoriae – also einer Verdammung des Andenkens – gesprochen werden.58 Der Hintergrund der ›Bearbeitung‹ des Psalters reicht in den Sommer des Jahres 788 zurück. Karl der Große hatte eine Reichsversammlung in seiner Pfalz Ingelheim abgehalten. Er hielt dort Gericht gegen seinen Vetter und Vasallen Tassilo III. von Bayern.59 Dieser wurde offiziell wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Das Vergehen fällt noch in die Regierungszeit von Karls Vater König Pippin. Die Strafe wurde letztlich nicht vollzogen: Karl ließ Milde walten und schickte Tassilo in Klosterhaft. Dieses Ereignis – von einigen Historikern als Schauprozess bezeichnet – führte zur Ausweitung von Karls Herrschaft bis nach Bayern.60 Tassilo selbst lässt sich danach in den Klöstern St. Goar, Jumièges und Lorsch nachweisen. Auch seine Ehefrau Liutperga und ihre Kinder wurden in unterschiedliche Klöster verbannt – verteilt im ganzen Reich. Tassilos Tochter Cotani kam nach Notre Dame, seine Tochter Hrodrut, die den Psalter vermutlich mit sich führte, kam nach Chelles. So gelangte der Tassilo-Psalter ins heutige Frankreich.61 Das Skriptorium in Chelles verstand sich darauf, Gebetstexte zu entwerfen: Einige Jahre vor der Krönung Karls war hier bereits das ›Sacramentarium Gelasianum‹ entstanden: Das zweitälteste erhaltene liturgische Buch
56 Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 78. 57 Bischoff 1980, 17. 58 Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 81. Siehe auch: Meta Niederkorn-Bruck, Nomina scripta sunt in coelo, in: Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (edd.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015, 59–86, hier 73. 59 Zu den Ereignissen siehe: Matthias Becher, Zwischen Macht und Recht. Der Sturz Tassilos III. von Bayern 788, in: Lothar Kolmer/Christian Rohr (edd.), Tassilo III. von Bayern. Großmacht und Ohnmacht im 8. Jahrhundert, Regensburg 2005, 39–55, hier 39f. Zum Verwandtschaftsverhältnis siehe: Wolfram 2016, 19f. Rudolf Schieffer, Die Karolinger, 5. Auflage, Stuttgart 2014, 85. 60 Siehe hierzu: Wolfram 2016, 44; Becher 2005, 40. 61 Bernhard Bischoff, Salzburger Formelbücher und Briefe aus Tassilonischer und Karolingischer Zeit (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 4), München 1973, 23. Litanei-Handschriften der Karolingerzeit, 81. Siehe hierzu auch: Wolfram 2016, 46. Über den Klosteraufenthalt finden sich in den Quellen verschiedene Angaben. Dies stellt nach Wolfram keinen Widerspruch da, sondern mag auf verschiedene Abschnitte der Gefangenschaft hindeuten.
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Westeuropas, ebenfalls mit Gebeten für den König, freilich noch ohne konkrete Namensnennung des Herrschers.62 Auf Betreiben Karls wurde die Macht der Herzogsfamilie zerschlagen, die bis dato die Vormacht in Bayern innegehabt hatte.63 Das Andenken Tassilos wurde entfernt, an seine Stelle traten Gebete für Karl den Großen und seine Familie – die laudes regiae. Diese Lobpreisungen stellen eine Sonderform der abendländischen Akklamationen dar, in der Huldigungsrufe auf Christus, den Papst, Heilrufe auf die Herrscher und Bittrufe an die Heiligen vereinigt sind. Im konkreten Fall werden Papst Hadrian, Karl der Große, seine Gemahlin Fastrada sowie seine Söhne Pippin der Bucklige, Karl der Jüngere, Pippin, der später Karlmann heißt, und Ludwig der Fromme namentlich und mit Titulatur genannt.64 In allen drei Buchreligionen unterstreicht der Name die Bedeutung des Individuums. Auch wird der Träger eines Namens zumindest bis zu einem gewissen Grad bestimmten sozialen Gruppen und Schichten zugeordnet werden können.65 Gebete für den Kaiser finden sich bereits in der Antike. Es wurde die Gunst der Götter, Gesundheit und ein langes Leben, eine gerechte machtvolle Herrschaft und die Dauerhaftigkeit der Dynastie erbeten.66 Im 4. Jahrhundert erscheint erstmals der Kaiser im Gebet als Person. Wenn zuvor nur abstrakt für den Amtsträger unter Anrufung des Titels gebetet wurde, erscheint nun der
62 Sacramentarium Gelasianum. Liber Sacramentorum Romanae Aeclesiae Ordinis Anni Circuli, ed. Leo C. Mohlberg (Rerum Ecclesiasticarum Documenta Serie Maior Fontes IV), Rom 1960, XXXV. Zum Gebet siehe Sacramentarium Gelasianum, 217f. Siehe hierzu auch: Garipzanov 2008, 56. 63 Die Rivalität zwischen Agilolfingern und Karolingern entstand bereits im 7. Jahrhundert unter den Vorfahren Karolinger, den Arnulfinger-Pippiniden. Siehe hierzu: Schieffer 2014, 16 und 85. 64 Zum Inhalt des Psalters siehe: Philippe Lauer, Le psautier carolingien du Président Bouhier. (Montpellier, Univ. H. 409), in: Mélanges d′histoire du moyen âge offerts à M. Ferdinand Lot par ses amis et ses élèves, Paris 1925, 359–383, hier 366–373. Zur Edition der laudes regiae siehe Opfermann 1953, 101 und Lauer 1925, 373–381. 65 Steffen Patzold, Namen und Geschichte in der Zeit der Einnamigkeit (ca. 400–1100). Einleitung, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 11–20, hier 11. Siehe auch: Matthias Becher, Die Nachbenennung bei den Merowingern zwischen familiärem Selbstverständnis und politischer Instrumentalisierung, in: Namenkundliche Informationen 103/ 104 (2014), 43–57, hier 44f. und Eugen Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus. Mit genealogischen Tafeln und Notizen, in: Ders., Spätantikes und Fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1974–2007), ed. Matthias Becher/Theo Kölzer/Ulrich Nonn (Beihefte der Francia 3/3), Bd. 3, Ostfildern 2009b, 163– 211, hier 163. 66 Ludwig Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser und Reich. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Staat (Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im Katholischen Deutschland. Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft 75), Paderborn 1937, 22.
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tatsächliche Name des Amtsträgers in den Gebeten.67 Durch die Namensnennung wurde die Person vergegenwärtigt. Beim Lesen des herrscherlichen Namens in der Messe, auch in den entlegensten Teilen des Reiches, wurde dieser präsent, ohne physisch anwesend zu sein.68 Die Praxis, den Namen des Herrschers in den Mittelpunkt zu rücken, lässt sich in diesem Ausmaß für das Mittelalter erst mit Karl dem Großen belegen und es ist eine gewisse Programmatik dahinter zu vermuten. Mit der Nennung der Söhne Karls wird das Gebet auch auf die künftigen Herrscher aus der karolingischen Familie erweitert und somit die Dynastie im Gebet manifestiert.69 Für diese Interpretation mag auch sprechen, dass von Karls Töchtern keine Rede ist. Das Beispiel des sog. Tassilo-Psalters macht sehr deutlich, wie Karl den Konflikt mit Tassilo für seine Legitimationsstrategie nutzte: Zum einen, um dessen Macht zu zerschlagen und zum anderen, um sich und seine Familie zu erhöhen, indem er auch auf das enge Verhältnis zum Papsttum rekurrierte, das gemeinsam mit seiner Familie in die Fürbitten einbezogen wurde. Wie der Psalter nach der Verbannung Tassilos tatsächlich genutzt wurde, muss offenbleiben. Möglicherweise blieb er in Hrodruts Händen und für sie mahnende Erinnerung, indem sie selbst Gebete für den Mann, der ihren Vater stürzte, las oder sie ihr in der Messe vorgetragen wurden. Dass die Bearbeitung des Psalters kein singulärer Vorgang war, zeigt ein heute in Prag befindliches Sakramentar. Dieses war ebenfalls zunächst im Besitz der bayrischen Herzogsfamilie. Erst nachträglich wurden die Namen Karls und seiner Familie in das Gebetsbuch eingetragen.70 Daraus lässt sich rückschließen, dass eine gewisse Systematik hinter der Einarbeitung der Namen in den Gebetsbüchern stand. Die im Prager Sakramentar erhaltene Namensliste ist deutlich schmuckloser gehalten als die im TassiloPsalter überlieferten laudes regiae. Die Seite, auf der die Namen eingetragen wurden, ist, im Gegensatz zu den Seiten im Tassilo-Psalter, nicht nachträglich
67 Biehl 1937, 38. Siehe auch: Butz 2016a, 147. Butz 2015, 305. Zu den Gebeten im 4. Jahrhundert: Ferdinand Probst, Liturgie des vierten Jahrhunderts und deren Reform, Münster 1893, 249. 68 Schmid 1983a, 625. Siehe auch: Butz 2016a, 148. Dies. 2015, 306 und dies., Politische Gegenwarten zwischen Geschichtlichkeit und Zukunfssicherung. Die Zeitebene in den frühmittelalterlichen Libri vitae, in: Anja Rathmann-Lutz/Miriam Czock (edd.), ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750–1350, Köln/Weimar/Wien 2016b, 81–112, hier 82. Wagner 2010, 19. 69 Butz 2015, 307. 70 Klaus Gamber, Das Tassilo-Sakramentar, in: Münchener theologische Zeitschrift. Vierteljahresschrift für das Gesamtgebiet der katholischen Theologie 12 (1961), 205–209, hier 205. Ders., Liturgiebücher der Regensburger Kirche aus der Agilolfinger- und Karolingerzeit, in: Scriptorium. Revue internationale des études relatives aux manuscrits / Centre d’Étude des Manuscrits 30 (1976), 3–25, hier 7f.
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eingefügt worden; sie war ursprünglich leergeblieben.71 Paläographische Befunde haben ergeben, dass es sich um die Hand eines anderen Schreibers als auf den übrigen Seiten des Messbuches handelt.72 Die Namen werden mit verkürzter Titulatur aneinandergereiht in drei Zeilen wiedergegeben: karalus rex · fastraat regina / pippinus rex · ludiuuiic rex · hrod / drud.73 Datiert wird die ›nota historica‹, wie der Eintrag nachträglich bezeichnet wird, auf die Jahre 791/792, also nicht lange nach der Entmachtung der agilolfingischen Familie. Karl verbrachte fast zwei Jahre in Bayern. Es war genau der Zeitraum, in dem auch der TassiloPsalter und das Prager Sakramentar bearbeitet wurden.74 Im gesamten regnum Karls wurde in den Kirchen und Klöstern für den Herrscher gebetet. Das galt nach dem Fall des Langobardenreiches auch für Italien. Durch einen überlieferten Brief Papst Hadrians an Karl den Großen aus den 780er Jahren ist allerdings bezeugt, dass nicht jeder Untertan für den ›neuen‹ König beten wollte: Beim Psalm 31,4 »um deines Namens willen wolltest du mich leiten und führen« habe sich der Abt des Klosters von Volturno geweigert für Karl zu beten. Aber wohl nicht aus religiösen Gründen: Der Abt war ein Angehöriger der ehemaligen oberitalienischen Eliten, welche durch Karl entmachtet worden waren.75 »Die Förderung der Liturgie seit Karl dem Großen diente somit auch der Verbreitung der politischen Vorstellung des Hofes von Frieden, Sieg und Solidarität im Reich und spiegelte für alle in der Messe erlebbar Konsens und Kooperation aller Kräfte.«76 Diente die namentliche Nennung des Herrschers und seiner Familie der Stabilisierung der Herrschaft, barg die bewusste Unterlassung der Lobpreisungen durchaus Potential zur Destabilisierung. Das absichtliche Versäumnis, zumal dieses in einem mehr oder minder öffentlichen Raum
71 Carl I. Hammer, The social landscape of the Praque Sacramentary. The Prosopography of an eighth-century mass-book, in: Traditio 54 (1999), 41–80, hier 46f. 72 Klaus Gamber, Das Prager Sakramentar als Quelle für die Regensburger Stadtgeschichte in der Zeit der Agilolfinger, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 115 (1975), 203–230, hier 205. Alban Dold/Leo Eizenhöfer, Das Prager Sakramentar. [Cod. O. 83 (Fol. 1–120) der Bibliothek des Metropolitankapitels]. Mit zwei Anha¨ ngen: I. Die dem Sakramentar voragehenden Texte u¨ ber die Creatio mundi etc. II. Die auf das Sakramentar folgenden Messperikopen, Bd. 2 (Texte und Arbeiten Erzabtei Beuron 1. Abt. Heft 38–42), Beuron 1949, 19. Rosamond McKitterick, The work of the scribes in the Prague Sacramentary. Prague, Archiv Prazˇského Hradu, MS O. 83, in: Maximilian Diesenberger/Rob Meens/Els Rose (edd.), The Prague Sacramentary. Culture, religion, and politics in late eighth-century Bavaria (Cultural encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 21), Turnhout 2016, 13–43, hier 23. 73 Dold/Eizenhöfer 1949, 22f. Eine Abbildung der sog. Nota historica findet sich bei McKitterick 2016, 24. Zu den genannten Personen siehe: Hammer 1999, 48f. 74 Wolfram 2016, 50. 75 Codex Carolinus, 67, 595f. Siehe hierzu: Butz 2015, 306 sowie Peter Brown/Peter Hahlbrock, Die Entstehung des christlichen Europa (Europa bauen), München 1996, hier 323. 76 Butz 2015, 307.
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stattfand, war vergleichbar mit der Aufkündigung der Loyalität des Untertanen.77 Wie ernst es Karl damit war, zeigt die Absetzung Pothos, des Abtes von Volturno, der sich weigerte für seinen Herrscher zu beten.78
Diptychon Barberini Ein anderes, älteres Beispiel für die Nennung des Herrschernamens im Gebet offenbart das Diptychon Barberini. Bei Diptychen handelt es sich in der Regel um kostbare Elfenbeinschnitzereien, die ihren Ursprung in der Spätantike haben und von Kaisern, Konsuln, hohen Beamten und Priestern beispielsweise beim Amtsantritt verschenkt wurden. Diese Diptychen bestehen aus bis zu fünf Elfenbeinplatten, die sich aufklappen lassen. Einige der spätantiken Diptychen haben sich erhalten und wurden im Mittelalter wiederverwendet. Sie dienten als Buchdeckel oder Hüllen für Psalter und Missale. Die in der Liturgie unmittelbar vor oder während des Hochgebetes verlesenen Diptychen enthielten die Namen Lebender und Toter, derer in der Messe besonders zu gedenken war. Die Namen dieser Auserwählten wurden in den Fürbitten während der Messe verlesen. Dies wurde sowohl in den Kirchen des Westens als auch des Ostens praktiziert.79 Das nur noch fragmentarisch erhaltene, sog. Barberini-Diptychon, entstand in Ostrom und stellt auf der Vorderseite höchst wahrscheinlich Kaiser Justinian I. (527– 565) dar. Vermutlich als Geschenk gelangte es um 613 ins Frankenreich an den merowingischen, genauer gesagt, an den austrasischen Hof.80 Besonders aus kunsthistorischer Perspektive wurde das Diptychon vielfach untersucht.81 Für die hier zu behandelnde Fragestellung ist statt der prächtig gestalteten Vorderseite 77 Drews et al 2015, 317. Siehe hierzu auch: Garipzanov 2008, 44f. und Stuart Airlie, Earthly and heavenly networks in a world in flux. Carolingian family identities and the Prague Sacramentary, in: Maximilian Diesenberger/Rob Meens/Els Rose (edd.), The Prague Sacramentary. Culture, religion, and politics in late eighth-century Bavaria (Cultural encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 21), Turnhout 2016, 203–223, hier 204f. 78 Hubert Houben, Karl der Große und die Absetzung des Abtes Potho von San Vincenzo al Volturno, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 65 (1985), 405–417, hier 407. 79 Heinz Thomas, Die Namenliste des Diptychon Barberini und der Sturz des Hausmeiers Grimoald, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 25 (1969), 17–63, hier 29. 80 Thomas 1969, 18. Siehe auch: Daniéle Gaborit-Chopin, [20] Feuillet en cinq parties dit »ivory Barberini« empereur triomphant, in: Jannic Durrand (edd.), Byzance. L’art byzantin dans les collections publiques françaises (catalogue of an exhibition at the Louvre, 3 November 1992–1 February 1993), Paris 1993, 63–65. 81 Sean-Pierre Sodini, Images sculptées et propagande impériale du IVe au VIe siècle: recherches récentes sur les colonnes honorifiques et les reliefs politiques à Byzance, in: André Guillou (ed.), Byzance et les images. Cycle de conférences organisé au Musée du Louvre par le Service Culturel du 5 ocrobre au 7 décembre 1992 (Conférences et colloques / Louvre), Paris 1994, 41–94.
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die Innenseite des Diptychons von Interesse. Auf den Innenseiten der erhaltenen Plattenteile sind sechs Kolumnen angebracht, die über einhundert Namen enthalten.82 Diese wurden mit Tinte in merowingischer Buchschrift direkt auf das Elfenbein aufgetragen.83 Unter diesen Namen findet sich eine Liste merowingischer Könige.84 Aufgrund der Handschrift und der Tinte lässt sich nachweisen, dass die Namen in einem Zug niedergeschrieben wurden und die austrasischen Herrscher von 575 bis 662 abbilden.85 Ohne in diesem Rahmen zu sehr ins Detail gehen zu können, sei erwähnt, dass zwei Namen in der genannten Königsliste fehlen: die Namen König Dagoberts I. (†639) und König Sigiberts II. (†613). Dies wird mit Sicherheit kein Versehen des Schreibers gewesen sein. Die Nennung Childeberts (III.) († um 662) als Abschluss dieser Königsliste kann als postume Akklamation des austrasischen Herrschers interpretiert werden.86 Der auf dem Diptychon Childeberti genannte König taucht in den fränkischen Königskatalogen als Hildebertus adoptivus auf.87 Ob genannter Hildebertus adoptivus nun Sohn des Hausmeiers Grimoald gewesen ist und vom legitimen König Sigibert III. adoptiert wurde, welcher zu diesem Zeitpunkt keinen männlichen Thronfolger vorweisen konnte, oder doch ein leiblicher Sohn Sigiberts III. gewesen ist und wiederum vom Hausmeier Grimoald aus der Familie der Pippiniden adoptiert wurde, ist indes umstritten.88 Dass jedoch eine Adoption als solche stattgefunden hat, gilt als gesichert. Eduard Hlawitschka geht davon aus, dass es sich bei 82 Ursprünglich müssen bis zu 350 Namen auf dem Elfenbein aufgebracht worden sein. Aufgrund der verblichenen Tinte und Griffeleinritzungen konnten nur noch ca. 150 Namen entziffert werden. Rolf Bergmann, Die Trierer Namenliste des Diptychons Barberini im Musée du Louvre, in: Rudolf Schützeichel/Matthias Zender (edd.), Namenforschung. Festschrift für Adolf Bach zum 75. Geburtstag, Heidelberg 1965, 38–48, hier 39. 83 Thomas 1969, 19. Siehe auch: Franz-Josef Jakobi, Diptychen als frühe Form der GedenkAufzeichnungen. Zum »Herrscher-Diptychon« im Liber Memorialis von Remiremont, in: Frühmittelalterliche Studien 20 (1986), 186–212, hier 187. 84 Thomas 1969, 21. Siehe auch: Bergmann 1965, 43f. 85 Thomas 1969, 35. 86 Thomas 1969, 33. 87 Chronologica regum Francorum stirpis Merowingicae, catalogi, computationes annorum vetustae cum commentariis, ed. Bruno Krusch, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 7, Hannover/Leipzig 1920, 468–516, hier 481. 88 Matthias Becher plädiert dafür, dass Childebert (III.) ein leiblicher Sohn Sigiberts III. gewesen sei und vom Hausmeier Grimoald adoptiert wurde. Matthias Becher, Der sogenannte Staatsstreich Grimoalds. Versuch einer Neubewertung, in: Jörg Jarnut (ed.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, 119–147, hier 134. Mehrheitlich wird die Meinung vertreten, Childebert sei Grimoalds Sohn gewesen, der von Sigibert III. adoptiert wurde. Siehe hierzu: Becher 1994, 119f. Siehe auch: Sebastian Scholz, Die Merowinger, Stuttgart 2015, 228; Ewig 2009b, 176 und Stefanie Hamann, Zur Chronologie des Staatsstreichs Grimoalds, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 59 (2003), 49–96, hier 52, 55. Julia Hofmann, The marriage of Childerich and Bilichild in the context of the Grimoald coup, in: Peritia. Journal of the Medieval Academy of Ireland 17/18 (2003), 382–393, hier 389.
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Childebert (III.) um Grimoalds Sohn gehandelt hat, der den Namen des Vaters trug: Grimoald. Erst mit der Adoption sei dieser Childebert genannt worden, eben in Rückbezug auf Childebert II. (†596), der von seinem Onkel Gunthramm (†592) ebenfalls adoptiert worden war.89 Einigkeit herrscht über die Rolle Grimoalds, der als Hausmeier großen Einfluss auf König Sigibert III. ausübte.90 Nach dem Tod des Königs sorgte er dafür, dass Childebert (III.) und nicht dessen nachgeborener (Stief ?-)Bruder auf den Thron gebracht wurde. König Sigibert III. war unerwartet früh verstorben. Im Jahr 656 erkrankte der gerade einmal Mitte zwanzigjährige Merowinger und erlag nur kurz danach seinem Leiden.91 Die Adoption Childeberts (III.) wurde in der Forschung immer wieder als »Staatsstreich« bezeichnet, woran besonders die neustrisch geprägte Historiographie maßgeblichen Anteil hatte: Decedente vero tempore, defuncto Sighiberto rege, Grimoaldus filium eius parvolum nomine Daygobertum totundit Didonemque Pectavensem urbis episcopum in Scocia peregrinandum eum direxit, filium suum in regno constituens. Franci itaque hoc valde indignantes, Grimoaldo insidias preparant, eumque exementes, ad condempnandum rege Francorum Chlodoveo deferunt. In Parisius civitate in carcere mancipatus, vinculorum cruciatu constrictus, ut erat morte dignus, quod in domino suo exercuit, ipsius mors valido cruciatu finivit.92
Dieser Ausschnitt aus dem ›Liber Historiae Francorum‹ ist der einzige überlieferte Bericht der Ereignisse.93 Demnach musste Childeberts Bruder ebenfalls legitime Anrechte auf den Thron gehabt haben und wurde auf Veranlassung Grimoalds in ein irisches Kloster verbannt.94 Lange Zeit hat Grimoalds Erfolg jedoch nicht gehalten. Er überlebte den früh verstorbenen, adoptierten König Childebert (III.) und wurde letzten Endes von den neustrischen Großen gefangen genommen und, laut ›Liber Historiae Francorum‹, König Chlodwig II., 89 Eduard Hlawitschka, Genealogie und Geschichte der Merowinger und frühen Karolinger, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 43 (1979), 1–99, hier 67. 90 Schieffer 2014, 20. 91 Richard A. Gerberding, The rise of the Carolingians and the Liber historiae Francorum (Oxford historical monographs), Oxford 1987, 50f., plädiert für das Todesjahr 651. Siehe hierzu auch: Hamann 2003, 58. 92 Liber Historiae Francorum, ed. Bruno Krusch, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 2, Hannover 1888, 215–328, 316. Demnach sei Dagobert nach Schottland exiliert worden, richtig ist Irland. Siehe hierzu auch: Gerberding 1987, 57, und Becher 1994, 139f. 93 Neben dem ›Liber Historiae Francorum‹ und den kurzen Einträgen in den Königskatalogen, siehe Anm. 83, berichtet nur die Vita Wilfredi I. episcopi Eboracensis auctore Stephano, ed. Wilhelm Levison, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 4, Hannover 1913, 162–263, von den Ereignissen, bezieht sich aber besonders die Zeit nach dem Sturz Grimoalds. Siehe hierzu auch: Hofmann 2003, 388f. 94 Hamann 2003, 64–66. geht davon aus, dass Dagobert II. unmittelbar auf Sigibert III. folgte und danach erst von Grimoald vertrieben wurde.
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Sigiberts III. Bruder, ausgeliefert. Dieser habe Grimoald wegen seines vermeintlichen Staatsstreiches zum Tode verurteilt. Sein todeswürdiges Vergehen (morte dignus) war demnach die Verbannung des jungen Königssohnes nach Irland, anders ist die Stelle quod in domino suo exercuit wohl nicht zu interpretieren.95 Grimoald hatte durch seinen Coup die Verfügungsgewalt über den königlichen Besitz übernommen. Mit dem Tod Childeberts (III.) zerfiel Grimoalds Machtbasis.96 Über die Umstände von Childeberts (III.) Tod ist nichts Genaues überliefert. In der Forschung herrscht Konsens darüber, dass dieser eines natürlichen Todes gestorben sei.97 Mutmaßlich wurde die Königsliste auf Veranlassung Grimoalds verfasst, wahrscheinlich unmittelbar nach dem Tode Childeberts (III.). Dafür spricht, dass die anderen identifizierten Personen auf der Rückseite des Diptychons 662 bereits alle verstorben waren und es sich um eine reine Totenliste gehandelt haben muss.98 Die Königsliste enthält die Namen Heldeberti, Theudeberti, Theuderici, Chlothari, Sygisberti und Childeberti. Gemeint sind Childebert II. (†595), Theudebert II. (†612), Theuderich (†613), Chlothar (†629), Sigibert III. (†656) und Childebert (III.) (†662). Auffällig ist die Wahl des erstgenannten und des letztgenannten Königs, die beide den Königsnamen Childebert trugen. Wie bereits erwähnt, ist die Liste in einem Zuge niedergeschrieben worden. Nach dem Eintrag Childeberts (III.) wurde kein Raum gelassen, um etwa künftige Herrscher nachzutragen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Childebert II. ganz bewusst an die erste Stelle als ›Spitzenahn‹ gesetzt wurde.99 Dieser wurde ebenfalls in jungen Jahren adoptiert und dann auf den Thron gebracht.100 Diese Parallele sollte genutzt werden, um die Legitimation des adoptierten Königs und damit eben auch die Grimoalds zu stärken. Der Verweis auf die fränkische Geschichte mag ein kluger Schachzug gewesen sein, vorausgesetzt, dass eine Nachbenennung stattgefunden hatte; so wurde Grimoald doch erst nach dem Tod des Königs gestürzt. Immerhin regierte Childebert (III.) sechs bis sieben
95 Chlodwig II. († Okt. 857) müsste zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen sein. Siehe hierzu: Martina Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter, Darmstadt 2003, 75. 96 Becher 1994, 135–137. und Hofmann 2003, 390. 97 Aufgrund der spärlichen Quellenbasis wurde auch die Möglichkeit diskutiert, Grimoald sei vor Childebert (III.) gestorben. Siehe hierzu Scholz 2015, 229 und Schieffer 2014, 20f. Mehrheitlich wird dies als unwahrscheinlich erachtet. Siehe hierzu: Matthias Becher, Merowinger und Karolinger (Geschichte kompakt), Darmstadt 2009, 44; Hartmann 2003, 77. Siehe auch: Thomas 1969, 28, und Hofmann 2003, 389. Eine gute Übersicht über die Ereignisgeschichte bietet Gerberding 1987, 66. 98 Thomas 1969, 46. Siehe auch: Gerberding 1987, 56. 99 Thomas 1969, 36f. 100 Siehe auch Thomas 1969, 40, der allerdings von einer Adoption durch Sigibert III. ausgeht und in Childebert (III.) den leiblichen Sohn Grimoalds sieht.
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Jahre den austrasischen Reichsteil. In dieser Zeit konnte sich auch Grimoald behaupten. Die Auslassungen Dagoberts I. und Sigiberts II. in der Königsliste lassen sich durchaus mit den politischen Umständen in Einklang bringen und geschahen mit Sicherheit bewusst. Sigibert II. regierte nur kurze Zeit im Jahre 613, wurde von Beginn an von den austrasischen Eliten abgelehnt und schon kurze Zeit darauf von ihnen ermordet.101 Dass zu diesen austrasischen Eliten auch Grimoalds Vater Pippin der Ältere zählte, stützt die Vermutung einer absichtlichen Auslassung umso mehr. Im Falle Dagoberts I. ist es anders. Dagobert war nur begrenzte Zeit Unterkönig in Austrasien, bevor er die Herrschaft über das Gesamtreich antrat. Möglicherweise kam es zum Zerwürfnis zwischen Grimoalds Vater Pippin und König Dagobert I., dem er als Hausmeier gedient hatte.102 In den letzten Regierungsjahren Dagoberts I. wird jener Pippin mit keinem Wort mehr in den Quellen erwähnt. Dass dieser allerdings just nach dem Tod Dagoberts I. 639 wieder in Erscheinung trat, weist auf einen Bruch in der Beziehung zwischen König und Hausmeier hin.103 Ein weiterer Aspekt, weshalb Grimoald wenig daran gelegen gewesen sein musste den Namen Dagobert in die Königsliste aufzunehmen, ist die Verbannung des Bruders des adoptierten Königs. Grimoald selbst hatte ihn ins Kloster bringen lassen: Sein Name war – Dagobert. Ein Name, der für Grimoald Erinnerung an die Schmach seines Vaters war. Zugleich hielt der Name Erinnerungen an den potentiellen Thronkonkurrenten lebendig. Der nur auf kurze Zeit begrenzte Erfolg von Grimoalds Politik, ob diese nun als Staatsstreich zu bezeichnen ist oder nicht, spiegelt sich auch im Diptychon Barberini wieder: Grimoald überlebte Childebert (III.) und es kam zum Konflikt mit den Großen, der mit seinem Tode endete. Der Besitz und die Nutzung des Barberini-Diptychon glich nun einer politischen Positionierung. Als Konsequenz wurde der namengebende Teil zerstört.104 Tiefe Furchen wurden in das Elfenbein geritzt und viele Namen unkenntlich gemacht. Beinahe die gesamte Fläche der Innenseite ist zerkratzt worden, bis auf einen kleinen unberührten Teil: Die Königsliste. Nur einer der königlichen Namen ist in gewisser Weise von der gewaltsamen Aktion betroffen. Das C des adoptierten König Childeberts (III.) wurde mit durchzogen. An einen Zufall zu glauben verbietet sich, da nach der Königsliste neu angesetzt wurde, um auch die restlichen Namen unkenntlich zu machen. Das Diptychon wurde daraufhin verklebt. Am wahrscheinlichsten wurde es als Buchdeckel verwendet, die Furchen dienten somit auch der Auf-
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Becher 2009, 21. Schieffer 2014, 15. Becher 2009, 42. Siehe auch Schieffer 2014, 17. Thomas 1969, 46f.
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nahme des immer noch nachweisbaren Klebers.105 Die Königsliste verschwand somit wahrscheinlich in einem Buchdeckel. Die Tatsache, dass die Königsliste bis auf Childebert (III.) verschont wurde, lässt vermuten, dass das Diptychon nicht lange nach dem Tod Grimoalds unkenntlich gemacht wurde. Zumindest muss dem Bearbeiter die Brisanz dieser Liste bewusst gewesen sein. Der Name Grimoalds selbst ist unter den erhaltenen Namen nicht zu finden, was nicht verwundern sollte, handelte es sich doch um eine reine Totenliste.106 Mit dem Bezug auf den König und Namenspatron Childebert II. hatte Grimoald versucht, seinen Kandidaten nachträglich zu legitimieren. Durch die in das Diptychon eingetragene Liste wurden die Namen der Könige, also auch der Childeberts (III.), in der Messe verlesen. Durch die Aufnahme des Namens als vorläufigen Abschluss einer Liste legitimer austrasischer Könige wurde offenbar der Versuch unternommen, den adoptierten Herrscher, der mutmaßlich nicht unumstritten war, nachträglich als rechtmäßigen Herrscher zu positionieren. Da Childebert (III.) immerhin einige Jahre regiert hat, genaueres lässt die Überlieferung nicht zu, scheint besonders dem noch lebenden Grimoald daran gelegen gewesen zu sein, diesen symbolischen Akt zu vollziehen. Auf Childebert (III.) folgte Childerich II., der Bruder König Chlothars III. von Neustrien.107 Dieses Beispiel zeigt bereits für das siebte Jahrhundert den Versuch, politische Legitimität durch religiöse Kulthandlungen zu fördern. Wie auch der TassiloPsalter zeugt das Diptychon Barberini von der Verzahnung von Idealisierung der Einen und des Verschweigens Anderer. Childebert (III.) fällt als Abschluss in der Königsliste eine besondere Bedeutung zu. Um vorhandene Kritik nicht weiter zu befeuern, wurden andere Namen ausgelassen. Das Verschweigen Sigiberts III., besonders aber das Dagoberts I., ist vor dem ereignisgeschichtlichen Hintergrund eng mit der Verbannung Dagoberts II. in Verbindung zu bringen. Die scheinbar schwierige Situation Grimoalds nach dem Tod Childeberts III. unterstreicht die politische Motivation hinter dem vordergründig rein religiös anmutenden Zeugnis.
105 Anthony Cutler, Barberiniana. Notes on the Making, Content, and Provenance of Louvre, OA. 9063, in: Ernst Dassmann (ed.), Tesserae. Festschrift für Josef Engemann (Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 18), Münster, Westf. 1991, 329–339, hier 331. 106 Eine Liste von entzifferten Namen findet sich bei Bergmann 1965, 39–41. 107 Hartmann 2003, 79.
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Libri vitae Bei den Libri vitae oder Büchern des Lebens handelt es sich in gewisser Weise um eine Weiterentwicklung der Diptychen.108 Besonders in der Alpenregion wurden diese Gedenkbücher in signifikanter Zahl produziert.109 Sie wurden als irdische Kopie des biblischen Liber vitae verstanden. Man glaubte, dass diejenigen, die auf Erden in das Buch des Lebens eingetragen wurden, auch im himmlischen Buch Gottes Aufnahme fanden und ihnen damit ein Platz im Paradies gesichert sei.110 Bereits 762 war in Attigny ein Gebetsbund entstanden, bei dem sich die anwesenden Geistlichen verpflichteten, im Falle des Todes ihrer Mitglieder der Verstorbenen in 100 Psalmen und Messen zu gedenken.111 Dafür wurden Listen mit den Namen der Geistlichen angelegt, aus denen dann mit der Zeit die sog. Libri vitae entstanden, die nicht nur der Toten, sondern auch der Lebenden gedachten.112 Es sind sechs bzw. acht Libri vitae aus karolingischer Zeit erhalten: Der Liber vitae von St. Peter in Salzburg, das St. Gallener Gedenkbuch, das Liber viventium des Klosters Pfäfers, der Liber memoriales des Frauenklosters von Remiremont, das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, der Memorial- und Liturgiecodex der Abtei San Salvatore in Brescia, das jüngere St. Gallener Gedenkbuch sowie der Liber vitae von St. Peter in Salzburg mit Ergänzungen aus dem 11. Jahrhundert.113 108 Leo Koep, Das himmlische Buch in Antike und Christentum (Theophaneia. Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des Altertums), Bonn 1952, 114. 109 Eva-Maria Butz, The Making of the Carolingian Libri Memoriales: Exploring or Constructing the Past?, in: Elma Brenner/Meredith Cohen/Mary Franklin-Brown (edd.), Memory and commemoration in medieval culture, Farnham/Surrey 2013, 79–92, hier 79. 110 Butz 2013, 80f.; Dies., Adel und liturgische Memoria am Ende des karolingischen Frankenreichs, in: Nathalie Kruppa (ed.), Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalterlichem Adel (Studien zur Germania Sacra 30), Göttingen 2007, 9–30, hier 9 und Karl Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch, in: Michael Borgolte/Dieter Geuenich/Karl Schmid (edd.), Subsidia Sangallensia I. Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen (St. Galler Kultur und Geschichte 16), St. Gallen 1986, 15–38, hier 31. 111 Concilium Attiniacense, ed. Albert Werminghoff, in: Monumenta Germaniae Historica. Concilia 1,1, Hannover/Leipzig 1906, 71f., hier 72. Siehe hierzu: Schmid 1986, 19. 112 Uwe Ludwig, Krise des Karolingerreichs und Gebetsgedenken. Anmerkungen zum Problem der »Großen Personengruppen« in den frühmittelalterlichen Libri Vitae, in: Francois Bougard/Laurent Feller/Regine Le Jan (edd.), Les élites au haut Moyen Âge. Crises et renouvellements […actes de la rencontre de Rome des 6, 7 et 8 mai 2004 organisée par l’Ecole Française de Rome …] (Collection Haut Moyen Âge 1), Turnhout 2006, 439–456, hier 439. 113 Butz 2007, 10f. Siehe auch: Dies. 2013, 79f. Zu den einzelnen Editionen: Libri confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, ed. Paul Piper (Monumenta Germaniae Historica. Necrologia Germaniae Supplement), Berlin 1884 (ND Berlin 1983), Der Salzburger Liber vitae. Diocesis Salisburgensis, ed. Sigismund Herzberg-Fränkel (Monumenta
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Diese Lebensbücher, Fundgrube für prosopographische Forschungen, haben trotz gewisser individueller Unterschiede alle eins gemeinsam: Die Konventualen der eigenen sowie die Mitglieder der verbrüderten Klöster wurden allesamt in das jeweilige Lebensbuch aufgenommen.114 Auch finden sich in diesen Büchern, ähnlich den Diptychen, Herrscherlisten mit dem Zweck, die genannten Könige mit in das Gebet aufzunehmen. Der Verweis auf die Diptychen liegt nahe, zumal versucht wurde diese auch optisch zu kopieren.115 Das im Liber memoriales von Remiremont abgebildete Herrscherdiptychon ist Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden und enthält neben den karolingischen auch die Namen merowingischer Herrscher.116 In der Handschrift wurden die Namen in einen gemalten Rahmen gesetzt, der die Tafeln eines Diptychons imitiert. Alle Namen sind im Genitiv gehalten und direkt an den Text angeschlossen: dem Schlussgebet nach der Kommunion. Dies spricht für den tatsächlichen Gebrauch dieser Bücher.117 Eva-Maria Butz verwies in ihren Studien bereits auf das dahinter liegende politische Konzept: Ein Bezug auf die Merowinger als königliche Dynastie auf der linken Seite steht der zum Zeitpunkt der Entstehung vergleichsweise jungen Dynastie der Karolinger auf der rechten Seite gegenüber:118 Gundramni / Hilperici / Chlotarii / Childeberti / Theudeberti / Theuderici / Sygiberti / it. Childeberti / it. Chlotarii / Dacberti / it. Sygiberti / Chlodouei / Hilderici / Pipini, Dagoberti / Balthilde [links – Anm. d. Verf.] Caroli / it. Pipini / Carlomanni / it. Carlomanni /
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Germaniae Historica. Necrologia Germaniae 2), Berlin 1904 (ND Berlin 2001), Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg. Einführung Karl Forstner, ed. Karl Forstner (Codices Selecti. Phototypice impressi 51), Graz 1974, Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, ed. Johanne Autenrieth/Dieter Geuenich/Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova Series 1), Hannover 1979, Das Martyrolog – Necrolog von St. Emmeram zu Regensburg, ed. Eckhard Freise/Dieter Geuenich/Joachim Wollasch (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova Series 3), Hannover 1986, Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, ed. Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova Series 4), Hannover 2000. Butz 2007, 11. Vergleiche: Liber Memoriales von Remiremont, ed. Eduard Hlawitschka/Karl Schmid/ Gerd Tellenbach, (Monumenta Germaniae Historica. Libri Memoriales 1,1 & 1,2), Dublin/Zürich 1970, 11 (fol. 3v). Siehe auch: Franz-Josef Jakobi, Der Liber Memorialis von Remiremont, in: Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (edd.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015, 87–121, hier 121. Siehe hierzu auch: Butz 2015, 320. Der Liber Memoriales von Remiremont ist im 9. Jahrhundert entstanden, wurde aber über die Jahre immer wieder ergänzt. Die jüngsten Eintragungen sind nach dem Jahr 1000 entstanden. Siehe hierzu: Jakobi 2015, 98. Jakobi 1986, 192f. Zu den einzelnen Namen : Jakobi 1986, 193–197. Eva-Maria Butz, Der von Remiremont, in: Peter Erhart/Jakob K. Hüeblin (edd.), Bücher des Lebens – lebendige Bücher, St. Gallen 2010a, 96–107, hier 104.
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Grimoaldi / Drogonis / Grifonis / it. Grifonis / Caroli / it. Pipinis regis / it. Caroli Imp. Qui obiit V kl. feb. / Hludouuici imp. / Hlotharii Hluthouuici / Caroli Hludouicci / Ermentrudis [rechts – Anm. d. Verf.]119
Der merowingische Teil ist, inklusive der Königin Balthilde, eine reine Herrscherliste, die nicht chronologisch geordnet ist. Die Könige werden nach neustrischem und austrasischem Teilreich getrennt wiedergegeben. Es ist davon auszugehen, dass die im Diptychon eingefasste Namensliste in einem Zug niedergeschrieben worden ist. Es ist die einzige Herrscherliste der in karolingischer Zeit entstandenen Gedenkbücher, die auf die Merowinger Bezug nimmt. Das Gedenkbuch als solches ist um das Jahr 821 als »kaiserliche Massnahme« Ludwigs des Frommen in Auftrag gegeben worden.120 Die Lage, welche das Diptychon enthält, ist auf das Jahr 863 zu datieren. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts wurden rund um das Diptychon weitere Namen nachgetragen.121 Dies spricht dafür, dass das Diptychon seiner Konzeption nach zum Zeitpunkt der Niederschrift als abgeschlossen gegolten hat. Es verdeutlicht auch, wie die Karolinger bei der Namenswahl ihrer Söhne in leicht abgewandelter Form auf die königlichen merowingischen Namen zurückgriffen. Karl der Großen benannte zwei seiner Söhne nach den Königen Chlodwig und Chlothar: Chlodwig wurde zu Ludwig; Chlothar zu Lothar.122 Die gewollte Verbindung, oder besser, die gewünschte Kontinuität von den Merowingern zu den Karolingern findet sich noch bei Hinkmar von Reims, der Karl den Kahlen bei dessen Krönung 869 als Nachfahre Chlodwigs bezeichnete.123 Dessen Name war es auch, der für Verwunderung sorgte: Die Forschung stellte früh die Frage, warum Karls und Ermentrudes Name das Diptychon abschlossen. Das um 620 gegründete Nonnenkloster Remiremont, in dem der Liber memoriales entstanden ist, liegt knapp 150 km südwestlich von Straßburg. Damit war das Kloster dem Reichsteil Lotharingien und somit Lothar II. zugehörig. Weder Lothars II. Name noch der seiner Gemahlin finden im Diptychon Erwähnung.124 Lothar II. wird erst in einem Nachtrag am Rande des Herrscherdiptychons erwähnt. Hingegen endet das Herrscherdiptychon mit den Namen Karls (des Kahlen) und Ermentrudes, seiner Ehefrau. Karl Schmid wies auf die verwandtschaftlichen Beziehungen der Äbtissin Theuthilde zu Karl und Ermentrude hin.125 So liegt die Vermutung nahe, 119 Liber Memoriales von Remiremont, 11 (fol. 3v). 120 Karl Schmid, Ein karolingischer Königseintrag im Gedenkbuch von Remiremont, in: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968), 96–134, hier 97; und Butz 2010a, 97. 121 Butz, 2015, 319f. 122 Butz 2013, 91f. Siehe auch: Drews et al. 2015, 298 und in den Beiträgen von Matthias Becher, 140–144, und Laury Sarti, 160f., in diesem Band. 123 Annales Bertiniani, a. 869, 104. Siehe auch: Schieffer 2014, 12. 124 Butz 2010a, 96. 125 Schmid 1968, 97f.
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dass persönliche Beziehungen den Ausschlag gaben, den westfränkischen Herrscher samt Gemahlin in das Gebetsgedenken des lotharingischen Klosters aufzunehmen. Die Abwesenheit Lothars II. wird mit dessen berühmt berüchtigten Ehestreit in Verbindung gebracht und deutet durchaus auf eine kritische Haltung gegenüber dem streitbaren König. Lothars II. Aufnahme in den Liber memoriales von Remiremont fand erst nach dessen Tod statt.126 Mit aller Vorsicht könnte formuliert werden, dass die Aufnahme in die Libri vitae durchaus auch die Akzeptanz der geistlichen Institutionen gegenüber den betreffenden Personen, in diesem Falle des Königs, zum Ausdruck bringen konnte. Bei der Niederschrift des Herrscherdiptychons wurden sowohl Namen von verstorbenen als auch von lebenden Mitgliedern des Königshauses aufgenommen. Die Abwesenheit Lothars lässt eine andere Erklärung kaum zu. Wie bereits deutlich gemacht wurde, dürfen die Gedenkbücher nicht auf einen rein religiösen Aspekt reduziert werden. In diesen Gedenkbüchern findet sich ein vielfältiges Bezugssystem, eng verwoben mit der politischen Realität und den Konstellationen von Personen und klösterlichen Institutionen.127 Neben den Herrschern und deren Familien wurden in den Gedenkbüchern auch alle wichtigen Berater und Amtsträger, kurz, die politische Elite, aufgelistet.128 Das Interesse, in der Liturgie genannt zu werden, war auch eng damit verbunden, auf diese Weise einen Kontakt zu bestimmten kirchlichen Institutionen herzustellen und gleichzeitig Abhängigkeiten festzuhalten.129 Unter den frühen Karolingern wurden viele Eigenklöster mit der Herrschaftsübernahme zu Königsklöstern. Die Karolinger schufen so ein Netzwerk an Getreuen.130 Diese Konstellationen werden durch den streng hierarchischen Aufbau der Libri vitae verdeutlicht. Die Libri vitae beginnen mit den himmlischen Märtyrern und Heiligen. Anschließend folgen die lebenden Könige, Herzöge, Bischöfe und Diakone. Für die Verstorbenen wurden wiederum Listen in gleicher hierarchischer Form angelegt.131 An dieser Stelle sei ebenfalls darauf verwiesen, dass die Lebensbücher durchaus von regionalen Eigenheiten geprägt waren. Das Beispiel aus Salzburg betrieb eine besonders starke bayrische Erinnerungspolitik: Der von Karl entmachtete Tassilo wurde direkt neben dem König aufgeführt. Auch die Aufnahme der Langobarden Desiderius und Adelgis wirft zumindest Zweifel an der Loya126 127 128 129 130
Liber Memoriales von Remiremont, 11 (fol. 3v). Butz 2016a, 146. Butz 2016a, 153. Niederkorn-Bruck 2015, 74. Mayke de Jong, Carolingian Monasticism: The Power of Prayer, in: Rosamond McKitterick et al. (ed.), The new Cambridge medieval history. Volume II c.700–c.900, Cambridge 1995–2000, 622–653, hier 626. 131 Niederkorn-Bruck 2015, 74.
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lität der Salzburger Brüder gegenüber Karl auf. In der Forschung ist gar von einer »antikarolingischen Provokation« zu lesen.132 Der regionale Aspekt wird auch in anderen Libri vitae sichtbar: der ›Liber viventium Fabariensis‹ erinnert in erster Linie der lokalen Eliten aus dem Raum Alemannien und Rätien.133 Das Herrscherdiptychon aus Remiremont enthält den Namen Karls des Kahlen, obwohl das Kloster wiederum im Einflussbereich Lothars II. gelegen hatte. In später entstanden Libri vitae wurden die Herrscher allesamt erst nach dem Tode eingetragen und in der Regel auch nur, wenn das Kloster in deren Herrschaftsgebiet gelegen hatte. Die Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts führten vermehrt zu problematischen Beziehungen, auch zwischen den verbrüderten geistlichen Einrichtungen. Diese Schwierigkeiten lassen sich auch in den Verbrüderungsbüchern nachverfolgen.134 Die immer weiter um sich greifenden Gebetsverbrüderungen in Form der Libri vitae könne man auch als »Kehrseite der politischen Machtentfaltung auf religiösen Sektor« verstehen, so formulierte es Uwe Ludwig. Letztlich lasse sich, so führt er weiter aus, die Ausbreitung der Gebetsverbrüderungen eng mit den Folgen der expansiven Politik der Karolinger verknüpfen.135 Nachdem das Langobardenreich in Norditalien gefallen war, tauchten sehr schnell italische Konvente im Reichenauer Verbrüderungsbuch auf. Genauso konnte es anderes herum durch sehr weltliche Angelegenheiten zum Abbruch von Gebetsverbrüderungen kommen. Für die 840er Jahre, in denen die Enkel Karls des Großen um ihr Erbe fochten, ist in den Namenslisten der Verbrüderungsbücher eine Stagnation zu erkennen. Mit dem vorläufigen Ende der Differenzen durch den Vertrag von Verdun in den 860er Jahren scheint das Gebetsgedenken wieder aufgenommen worden zu sein. Politische Grenzen spiegelten sich auch in den Gebetsverbrüderungen der Klöster. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts füllten sich die Libri Vitae mehr und mehr mit kleineren Gruppen von Laien. Das Anwachsen dieser Gruppen illustriert das Aufstreben vieler kleinerer, regionaler Machthaber
132 Karl Schmid, Probleme der Erschließung des Salzburger Verbrüderungsbuches, in: Eberhard Zwink (ed.), Frühes Mönchtum in Salzburg (Schriftenreihe des Landespressebüros. Serie »Salzburg Diskussionen« 4), Salzburg 1983b, 175–196, hier 187. Siehe auch: Butz 2016b, 88–93 und Maximilian Diesenberger, Könige und Herzöge im Salzburger Verbrüderungsbuch um 800, in: Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (edd.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015, 329–341, hier 330. 133 Uwe Ludwig, Die beiden St. Galler Libri vitae aus dem 9. Jahrhundert, in: Dieter Geuenich/ Uwe Ludwig (edd.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015, 147–173, hier 168. 134 Butz 2007, 15–17. 135 Ludwig 2006, 439–441.
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als Gegengewicht zur karolingischen Dynastie, deren Ende im östlichen Teil des Frankenreiches 911 besiegelt war.136
Fazit Gebete für den Herrscher finden sich bereits in merowingischer Zeit. Eine gezielte Förderung von dieser Form des Herrschergebetes ist allerdings erst unter den Karolingern deutlich nachweisbar. Klostergründungen und Gebetsaufforderungen in den Herrscherurkunden rahmen die Weiterentwicklung der Liturgie und verdeutlichen zugleich auch ein politisches Interesse hinter den zunächst rein religiös anmutenden Zeugnissen. Die Betonung in den Urkunden und in der Liturgie, der König sei nach Gottes Willen in sein Amt gelangt, ist mit der fehlenden Tradition der seit dem Dynastiewechsel 751 regierenden Herrscherfamilie der Karolinger in Verbindung zu bringen. In den strikt geregelten Gottesdiensten wurden Segensbitten und Gedenkaufforderungen zum festen Bestandteil. Diese dienten der Glorifizierung und somit der Legitimierung nicht nur des amtierenden Herrschers, sondern auch seiner Söhne und somit seiner potentiellen Thronfolger; die Dynastie wurde durch das Gebet manifestiert. Hier tritt ein stark personales Element von Herrschaft zutage. Deutlich wird aber auch, dass die Liturgie eben nur ein Element der Herrschaftssicherung gewesen sein kann. Von vereinzelten Festen hin zum täglichen Gebet, sowohl in Ab- als auch in Anwesenheit des Herrschers, entwickelte sich zu Beginn des neunten Jahrhunderts ein Programm, dass durch sich stetig wiederholende Rituale immer wieder die Zustimmung der einzelnen Untertanen einholen sollte. Das Gebet vor Gott für den Herrscher symbolisiert den Konsens der Untertanen zu dessen Herrschaft. Die überlieferten Erlasse zeugen von der Programmatik: »[…] liturgy as a political machinery of royal propaganda«.137 Entweder wurden nachträglich Versuche unternommen, politische Entwicklungen durch Religion zu stützen oder aber auch künftige Entscheidungen, besonders im Hinblick auf die Thronfolge, frühzeitig durch die Liturgie gestützt. Andersherum gelangte die Kirche durch die gesteigerte Förderung der Herrschaftsträger zu wachsender Autorität. Die Handlungen nach der Verurteilung Tassilos sind ein Paradebeispiel für die nachträgliche Nutzbarmachung religiöser Zeugnisse zur Untermauerung politischer Entscheidungen. Sie verdeutlichen eine Dichotomie der Idealisierung des 136 Ludwig 2006, 442 und 452. Siehe auch: ders. 2015, 172f.; Jens Lieven, Großgruppeneinträge in den Libri memoriales. Anmerkungen zu Bischöfen der späten Karolingerzeit im Kontext großer Gruppen, in: Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (edd.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015, 239–272, hier 254. 137 Hen 2004, 174.
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Herrschers auf der einen Seite und der Verdammung seiner Gegner auf der Anderen. Dass nicht nur ein, sondern mindestens zwei Psalter nachträglich bearbeitet wurden, stützt die These einer systematischen Herangehensweise Karls des Großen. Auch das sog. Diptychon Barberini aus dem 7. Jahrhundert zeugt vom Versuch, politische Realitäten nachträglich zu legitimieren. Dass mit Grimoald ein Vorfahre Karls des Großen diesen Versuch unternahm, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Grimoald suchte aus der Krise heraus nach Möglichkeiten, die eigene Stellung zu festigen und wählte in diesem Fall die Liturgie. Das Barberini-Diptychon verbindet, wie schon der Tassilo-Psalter, Idealisierung und Verdammung in einem Zeugnis. Mit den Libri vitae des beginnenden 9. Jahrhunderts entwickelte sich eine neue Form des personengebundenen Gebetes. Diese waren weniger einer Kontrolle des Herrschers ausgesetzt, regionale Eigenheiten traten hervor, wie das Beispiel des Salzburger Verbrüderungsbuches, aber auch der Liber vitae von Remiremont gezeigt haben. Die zunächst rein spirituell und religiös anmutenden Herrschergebete waren durchaus von politischer Relevanz. Es wurde versucht diese strategisch zu nutzen, um die eigene Stellung zu festigen. Die Frage nach dem Erfolg dieser Strategien steht auf einem anderen Blatt.
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Schlechte Namen, Leserlenkung und Herrscherkritik in antiken chinesischen Texten*
Abstract This paper analyzes the concept, category, and functions of ›bad names‹ (e ming 惡名 or chou ming 醜名) in early Chinese texts by utilizing the theory of reader-response proposed by Wolfgang Iser (1926–2007). Providing evidence that monarchs were intended to form part of the audience of these texts, many of which belonged to the literary genre of mirrors for princes, it argues that the terms e ming and chou ming do not only refer to a notion of ›bad reputation‹, but first and foremost designate a set of derogatory epithets, which served to steer the response of readers, that is, to control early Chinese monarchs, through criticism of former rulers. Probably the best-known and most important representative of these names were bad posthumous names, i. e. ›petty names‹ (xi ming 細名), as they are called in the ›Standards for [the Bestowal] of Posthumous Names‹ (›Shi fa‹ 諡法), which forms chapter 54 of the ›Yi Zhou shu‹ 逸周書 (›Unaffiliated [i. e. Non-Canonized] Documents of the Zhou‹). Since posthumous names, which were said to put the quality of a reign into a nutshell, were conferred by decision of court conferences on recently deceased rulers, authors of early Chinese texts seem to have conceived of bad names as leverage in the hands of remonstrating ministers. Taking advantage of prevalent superstitious beliefs in the magical efficacy of names, they referred to the ›bad names‹ of legendary tyrants to improve the performance of the incumbent or reform his conduct at court.
Die Verworfenheit bestimmter Herrscherfiguren ist in antiken chinesischen Texten so sehr Gemeinplatz, dass sich schon früh skeptische Stimmen zu Wort meldeten. War zum Beispiel Zhou 紂, der letzte Herrscher der Shang 商-Dynastie
* Ich danke dem EB-Verlag, Berlin, und Stephan Conermann als Herausgeber der Reihe Bonner Asienstudien für die Erlaubnis zum Wiederabdruck dieses Aufsatzes, der zuerst an folgendem Ort erschien: Günther Distelrath/Ralph Lützeler/Barbara Manthey (edd.), Auf der Suche nach der Entwicklung menschlicher Gesellschaften: Festschrift für Hans Dieter Ölschleger zu seinem sechzigsten Geburtstag von seinen Freunden und Kollegen (Bonner Asienstudien 11), Berlin 2012, 539–594. Für diese Ausgabe wurde der Beitrag noch einmal ergänzt, verbessert und umfassend überarbeitet. Für Unterstützung bei der Umformatierung danke ich Tobias Wilke.
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(1554–1045 v. Chr.),1 wirklich so schlecht, wie er in der Tradition beschrieben wird? Diese Frage stellten sich Chinesen bereits im Altertum. Manche verneinten sie, so etwa Zi Gong 子貢, der Schüler des Konfuzius, dem folgender Ausspruch zugeschrieben ist: »Die Schlechtigkeit des Zhou war nicht so schlimm, [wie sie dargestellt wird]. Deswegen hält es der Edle für schlecht, sich an tiefliegenden Gewässern aufzuhalten; alles Schlechte unter dem Himmel wird dort angesammelt.«2 Die Folgerung für das Verhalten des Edlen enthält zugleich die Erklärung, warum an der Überlieferung zu zweifeln ist: Wie das Wasser fließt alles, was für schlecht erachtet wird, dem zu, was unten liegt und ohnehin schon als schlecht gilt.3 Deswegen sollte der Edle Tiefliegendes, das heißt, die Höfe von für schlecht erklärten Fürsten, meiden. Schon zur Zeit der sogenannten Streitenden Reiche (Zhanguo 戰國, 481–221 v. Chr.) wusste man sehr wohl zwischen Wahrheit und Propaganda zu differenzieren.4 Dieses Unterscheidungsvermögen der Alten scheint späteren Generationen bisweilen abhanden gekommen zu sein. Bis heute werden antike chinesische Texte als Quellen zur politischen Geschichte oder auch zur Geistesgeschichte herangezogen, ohne dass die Interpreten Erzählstrategien und rhetorische Operationen, mit denen die Adressaten dieser Texte gelenkt werden sollten, hinreichend berücksichtigen – geschweige denn die ursprüngliche Lesesituation rekonstruieren. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des Aufsatzes von Arthur F. Wright zum Stereotyp des schlechten letzten Herrschers in der chinesischen Geschichtsschreibung5 greifen Darstellungen der alten chinesischen Geschichte oftmals immer noch auf die Nachrichten in der Tradition zurück, ohne diese quellenkritisch zu überprüfen und das Körnchen historischer Wahrheit, das hierin vielleicht enthalten ist, von der Propaganda zu scheiden. So 1 Die Datierung übernehme ich von David N. Keightley, The Shang. China’s First Historical Dynasty, in: Michael Loewe/Edward L. Shaughnessy (edd.), The Cambridge History of Ancient China. From the Origins of Civilization to 221 B. C., Cambridge 1999, 232–291, hier 247f. 2 Lunyu 論語 (Die Analekten des Konfuzius), 19.20, in: Liu Baonan 劉寳楠 [1791–1855] (ed.), Lunyu zhengyi 論語正義, in: Zhuzi jicheng 諸子集成, Bd. 1, Shanghai 1986, juan 22, 407: 紂之 不善, 不如是之甚也. 是以君子惡居下流. 天下之惡皆歸焉. 3 Es könnte sich um eine ironische Anspielung auf Kapitel 61 des ›Laozi‹ 老子 (Meister Lao) in der überlieferten Fassung handeln, wo ein mächtiges Land mit einem tiefliegenden Gewässer verglichen wird, das alles andere in sich aufnimmt, vgl. E. Bruce Brooks/A. Taeko Brooks, The Original Analects. Sayings of Confucius and His Successors. A New Translation and Commentary, New York 1998, 188. 4 Brooks/Brooks 1998, 188, datieren das Lunyu-Kapitel ins dritte Jahrhundert v. Chr., bieten aber letztlich keine sehr belastbaren Belege, um diese Datierung zu untermauern; vgl. auch den wenig ergiebigen Überblick zur Datierungsfrage bei Anne Cheng, Lun yü 論語, in: Michael Loewe (ed.), Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide (Early China Special Monograph Series 2), Berkeley 1993, 313–323, hier 314f. 5 Siehe Arthur F. Wright, Sui Yang-ti. Personality and Stereotype, in: Ders. (ed.), The Confucian Persuasion, Stanford 1960, 47–76.
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erfahren wir über die Herrschaft des letzten Shang-Herrschers selbst in sogenannten Standardwerken noch immer nicht mehr, als dass er vor keiner Untat zurückschreckte, schwangeren Frauen den Schoß aufschlitzte, gute Ratgeber verbrannte oder röstete und seine Gefolgsleute zu Hack- oder Trockenfleisch verarbeiten ließ.6 Auch von dem You-König der Zhou (Zhou You wang 周幽王, reg. 781–771 v. Chr.), dem letzten Herrscher der Westlichen Zhou 周 (1045–771 v. Chr.), heißt es selbst an prominenter Stelle noch immer, dass er seiner Dynastie das Grab schaufelte, indem er den Verführungskünsten seiner Konkubine Bao Si 褒姒 erlag und ihr zu Gefallen seine Fürsten mit Leuchtfeuern für dumm verkaufte.7 Es gibt ähnliche Darstellungen aus der alten Geschichte des abendländischen Kulturkreises. Zum Beispiel wurde das Bild von den Tyrannen im antiken Griechenland nachhaltig beeinflusst durch Platons Kritik im letzten Buch der ›Politéia‹, wo der Philosoph die Alleinherrscher im Seelengericht verteufelt, sie ihre eigenen Kinder verzehren und nicht enden wollende Höllenqualen erleiden lässt.8 In diesem Fall liegen allerdings die entgegenlaufenden Traditionen des Herodót und Thukýdides vor, die ein positives Bild unter anderem vom wirtschaftlichen Aufschwung Athens unter der Alleinherrschaft des Peisístratos (gest. 528/527) zeichnen.9 6 Siehe die Darstellung von John Knoblock in der Einführung zum zweiten Band seiner ›Xunzi‹Übersetzung (John Knoblock, Xunzi. A Translation and Study of the Complete Work, Bd. 2, Stanford 1990, 32). Vgl. Shangshu 尚書 (Die ehrwürdigen Dokumente), in: Ruan Yuan 阮元 [1764–1849] (ed.), Shangshu zhushu 尚書注疏, in: Sibu beiyao 四部備要, Taipeh 1965, juan 11, 3a, sowie Shiji 史記 (Aufzeichnungen der Schreiber), 10 Bde., Peking 1959, juan 3, 106. Dass es sich bei dem Katalog der Laster von König Zhou um eine Ansammlung von Allgemeinplätzen handelt, erkannte allerdings schon Gu Jiegang 顧頡剛, Zhou e qishi shi de fasheng cidi 紂惡七 十事的發生次第 (Die 70 Missetaten des Zhou in der Reihenfolge ihrer Erwähnung), in: Ders. et al. (edd.), Gu shi bian 古史辨 (Untersuchungen zur Alten Geschichte), Bd. 2, Hongkong 1962, 82–93; siehe auch Yuri Pines, To Rebel Is Justified? The Image of Zhouxin and the Legitimacy of Rebellion in the Chinese Political Tradition, in: Oriens Extremus 47 (2008), 1–24. 7 Siehe Edward L. Shaughnessy, Western Zhou History, in: Michael Loewe/Edward L. Shaughnessy (edd.), The Cambridge History of Ancient China. From the Origins of Civilization to 221 B. C., Cambridge 1999, 292–351, hier 350; vgl. Shiji 1959, juan 4, 148f. Zum Entzücken von Bao Si habe der You-König die Leuchtfeuer, die seine Lehensfürsten zum Beistand gegen Angreifer aufrufen sollten, immer wieder entzünden lassen, bis die Quan Rong 犬戎 im Jahre 771 v. Chr. schließlich tatsächlich angegriffen hätten, aber keiner der Fürsten ihm mehr zu Hilfe gekommen sei. Die Herrscherdaten für die West-Zhou-Zeit übernehme ich von Edward L. Shaughnessy, Sources of Western Zhou History: Inscribed Bronze Vessels, Berkeley/Los Angeles 1991, 217–287. 8 Siehe Klaus Rosen, Griechische Geschichte erzählt. Von den Anfängen bis 338 v. Chr., Darmstadt 2000, 105; vgl. Politeia 615c–616a, 618a, 619b–d. 9 Siehe dazu Rosen 2000, 104f.; vgl. Herodot I 59 sowie Thukydides VI 53–54. Zur differenzierten Darstellung der Peisistratidenherrschaft bei Thukydides und den Ursprüngen der Tyrannenschelte siehe Pedro Barceló, Thukydides und die Tyrannis, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte 39,4 (1990), 401–425, hier 407–419.
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Aus dem alten China ist bis zum Ende der Späteren Han-Dynastie (220 n. Chr.) keine vergleichbare Tradition über die sogenannten Gewaltherrscher (bao wang 暴王) Jie 桀, Zhou 紂, You 幽und Li 厲 (reg. 853–842) überliefert, wohl aber einige kritische Stimmen zum überwältigend negativen Urteil der Geschichtsschreiber. Außerdem existiert eben die tendenziöse Darstellung selbst, die wir auf ihre innere Glaubwürdigkeit hin untersuchen können. Vor allem aber ist die Kategorie der sogenannten schlechten Namen (e ming 惡名 oder chou ming 醜 名) erhalten. Dabei handelt es sich um eine begrenzte Anzahl von formelhaften Epitheta. Im überlieferten Textkorpus selbst definiert, werden schlechte Namen im Zusammenhang mit der Darstellung bestimmter mythischer Figuren oder historischer Persönlichkeiten verwendet. Offenbar sollten sie die Adressaten antiker chinesischer Texte beeinflussen, wobei dieser Verwendung vermutlich namenmagische Vorstellungen zugrundelagen.10 Ein Verständnis der Termini e ming bzw. chou ming im Sinne von »schlechter Ruf«, wie es in der Sekundärliteratur bzw. in Übersetzungen des Öfteren anzutreffen ist, führt genau an dieser archaischen Vorstellungswelt vorbei und damit in die Irre, weshalb für jeden Beleg sorgfältig abzuwägen ist, ob ein schlechter Ruf im allgemeinen oder schlechte Namen im konkreten Sinne gemeint sind.11 Dabei mag sich der üble Leumund durchaus erst aus der Zuweisung der letzteren ergeben haben. Es sind sogar Anweisungen zum Gebrauch von schlechten Namen als rhetorischen Figuren erhalten, die anzeigen, auf welche Weise und in welche Richtung die Leser dieser Texte gelenkt werden sollten.
10 Siehe hierzu sowie zum gesamten Komplex der Namengebung im vormodernen China Wolfgang Bauer, Der chinesische Personenname: Die Bildungsgesetze und hauptsächlichsten Bedeutungsinhalte von Ming, Tzu und Hsiao-Ming (Asiatische Forschungen 4), Wiesbaden 1959, insbesondere 223–245 zu namenmagischen Vorstellungen und 275–278 zu Beispielen für apotropäische Intentionen bei der Namengebung. In diesem Zusammenhang merkt Bauer 1959, 275, an, dass Namen, die Übel bannen sollen, »mit zu den ältesten überhaupt« gehören. Vgl. auch Wolfgang Behr, What’s in a Name, Again? Über Schall und Rauch in der antikchinesischen Personennamengebung, in: Roland Altenburger et al. (edd.), Dem Text ein Freund: Erkundungen des chinesischen Altertums, Robert H. Gassmann gewidmet, Bern 2009, 15–37, zu der Frage, inwieweit nicht nur morphologische Kriterien, sondern vor allem die lautliche Gestalt eine Rolle bei der Namengebung im antiken China spielte. Hierbei geht Behr 2009, 17, von der These aus, »dass offenbar bis auf den heutigen Tag neben der rein mnemotechnischen eine latent magische Wirkung von lautlichen Korrespondenzen zwischen einzelnen Namenbestandteilen erwartet wird«, und belegt, dass die Vorstellung von der »profunden Wirksamkeit« der »durch die ›Herzensregungen‹ (xin 心) oder ›Emotionen‹ (qing 情) des Menschen geformten Laute« (ebd., 18) bereits in der Zhanguo-Zeit weit verbreitet war. 11 Im Folgenden merke ich an, wenn auch die erstere Deutung möglich erscheint.
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Um die Funktionsweise der Leserlenkung12 in antiken chinesischen Texten im Zusammenhang mit der Darstellung der Gewaltherrscher Jie, Zhou, You und Li zu bestimmen, gilt es allerdings zunächst zu ergründen, wer denn die Leser dieser Texte eigentlich waren. Erst dann ist es möglich, Ursprung und Funktion schlechter Namen zu erklären und in einem weiteren Schritt ihren Gebrauch am Beispiel der vier Gewaltherrscher zu erläutern – und auf diesem Wege interessante neue Perspektiven nicht nur auf die alte chinesische Geschichte, sondern auch auf die antike Rhetorik zu gewinnen.
I.
Lesen im alten China: Politische Schriften und ihre Adressaten13
Die Funktion schlechter Namen ist eng verknüpft mit der spezifischen Lesesituation im alten China. Erst wenn wir wissen, wer las, was man las und zu welchem Zwecke, lassen sich auch Mittel der Leserlenkung erkennen und ihre Zielrichtung und Wirkungsweise beschreiben. Bedeutsam für die Rekonstruktion der Lesesituation im alten China ist die Tatsache, dass alle überlieferten Texte von einem starken Bezug auf die politische und soziale Ordnung ihrer Zeit gekennzeichnet sind. Sogar Schriften, die auf den ersten Blick ganz unpolitisch erscheinen, wie etwa Rechenbücher, meditationstechnische oder heilkundliche Texte, geben durch Rahmenerzählungen, Figurenwahl, Aufbau und Terminologie zu erkennen, dass sie technisches Wissen für Herrscher und ihre Beamten bereitstellen.14 Das gesamte der Überlieferung für wert befundene Wissen, auch das ethische und historische, wurde entweder im Interesse des body politic erzeugt oder im Laufe der Zhanguo-Periode von diesem aufgesogen und auf herrscherliche Bedürfnisse zugeschnitten. Man darf zwar vermuten, dass zumindest die politisch-philosophischen Texte der Konfuzianer und Mohisten ursprünglich von Gelehrten für Gelehrte geschrieben wurden und der real 12 Den Begriff der Leserlenkung übernehme ich von Wolfgang Iser, Realitätsvermittlung und Leserlenkung in Smolletts Humphry Clinker, in: Ders. (ed.), Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, 2. Auflage, München 1979, 94–131. 13 Wichtige Anregungen für den folgenden Abschnitt wie auch etliche Belege zur Geschichte des Lesens im alten China verdanke ich Mark E. Lewis, Writing and Authority in Early China, Albany 1999. 14 So etwa das Rechenbuch ›Zhou bi suan jing‹ 周髀算經 (Leitfaden zum Rechnen anhand des Zhou-Gnomons), die vier meditationstechnischen Kapitel ›Bai xin‹ 白心, ›Nei ye‹ 內業, ›Xin shu shang‹ 心術上 und ›Xin shu xia‹ 心術下 (›Guanzi sipian‹ 管子四篇) sowie das heilkundliche Kapitel ›Shui di‹ 水地 im ›Guanzi‹ 管子 (Meister Guan). Zur politischen Instrumentalisierung von Kontemplation und meditativer Versenkung im Kapitel ›Nei ye‹ (Verdienst des Inneren) vgl. Yuri Pines, Envisioning Eternal Empire. Chinese Political Thought of the Warring States Era, Honolulu 2009, 39–41.
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existierenden Ordnung durchaus kritisch gegenüberstanden. Auch könnte die Lektüre im Umkreis der Schulen, die sich unter dem Namen eines Meisters organisierten, zunächst ein gemeinschaftliches Erlebnis gewesen sein: Demnach hätten sich Anhänger einer Lehrrichtung bei einem Lehrer zusammengefunden, um die auf Bambustafeln geschriebenen Texte zu lesen, auszulegen und weiter zu vermitteln.15 Fraglich bleibt allerdings, ob es in der Umbruchsphase zwischen 771 und 221 v. Chr. tatsächlich unabhängige Intellektuelle gab, die in Fundamentalopposition zu den zunehmend autokratisch geführten Gemeinwesen ihrer Zeit standen und diese einer systematischen Kritik unterzogen.16 Nur allzu leicht geschieht es, dass Eigenschaften wie Offenheit und Pluralismus, die unser eigenes zeitgeschichtliches Blickfeld und Wertesystem prägen, auf altchinesische Gesellschaften übertragen werden. Die Quellen sprechen ihre eigene Sprache. Sie weisen zwar auf eine Umbruchssituation seit der Chunqiu 春秋-Zeit (770–481 v. Chr.) hin, aber zugleich belegen sie mit ihren vielfach rigiden Ordnungsvorstellungen, dass es den Autoren darum ging, der Auflösung einer ursprünglich geschlossenen Gesellschaft entgegenzuwirken.17 So kann es nicht verwundern, dass am Ende einer jahrhundertelangen blutigen Umwandlung einer segmentären Stammes- in eine zentralistisch regierte Ständegesellschaft mit dem Kaiserreich immer noch eine geschlossene Gesellschaft stand. 15 Diese These vertritt Lewis 1999, 55f. Zur Kulturgeschichte des Schreibens im alten China siehe Tsuen-Hsuin Tsien, Written on Bamboo and Silk. The Beginnings of Chinese Books and Inscriptions, 2. Auflage, Chicago 2004. 16 Zu dieser These siehe Lewis 1999, 63–73. 17 Dafür spricht zum Beispiel die wiederholte Forderung nach Wahrung von Grenzen und Hierarchien in frühkonfuzianischen Texten. So heißt es im Kapitel ›Wider die Physiognomie‹ (Fei xiang 非相) des Xunzi 荀子 (Meister Xun), dass der Mensch sich vor allen anderen Wesen dadurch auszeichne, dass er Unterscheidungen (bian 辨) habe, und die wichtigste dieser Unterscheidungen sei die soziale Schichtung (fen 分), siehe Xunzi 荀子 (Meister Xun), in: Wang Xianqian 王先謙 [1842–1918] (ed.), Xunzi jijie 荀子集解, in: Zhuzi jicheng 諸子集成, Bd. 2, Shanghai 1986, juan 3, 50. Siehe auch Jane Geaney, Scham und Verwischung körperlicher Grenzen im frühen Konfuzianismus, in: minima sinica 2 (2001), 21–37. Vgl. die Betonung traditioneller Ordnungsvorstellungen in ›Lunyu‹ 17.3, die sich im dort entworfenen Menschenbild niederschlägt: Die Masse der Menschen sei formbar, nur die »Wissenden der oberen Kategorie« (shang zhi 上知) – hier bezogen auf moralisches Wissen über eine sittliche Lebensführung – und die »Toren der unteren Kategorie« (xia yu 下愚) veränderten sich nicht; siehe Lunyu 1986, 368. Unter anderem mit dem Hinweis auf diese prominente Unterteilung der Menschen in drei Qualitäten rechtfertigte Ban Gu 班固, dass er die in der Grobgliederung ebenfalls dreiteilige ›Tabelle der Menschen aus alter und neuer Zeit‹ (Gu jin ren biao 古今人 表) in seine Dynastiegeschichte der Westlichen Han aufgenommen hatte; siehe sein Zitat der ›Lunyu‹-Passage in der Vorrede zur Tabelle im Hanshu 漢書 (Dokumente der Han), 12 Bde., Peking 1962, juan 20, 861; vgl. Christian Schwermann, ›Dummheit‹ in altchinesischen Texten. Eine Begriffsgeschichte (Veröffentlichungen des Ostasien-Instituts der Ruhr-Universität Bochum 62), Wiesbaden 2011, 184–190. Zum sozialen Wandel siehe zusammenfassend ebd., 10–24.
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Zudem heißt es von den ru 儒, den Gelehrten und Ritualmeistern, denen die Gründung der ersten Schule unter dem Namen des Konfuzius (Kong zi 孔子 [Meister Kong], d.i. Kong Qiu 孔丘) zugeschrieben wird, im letzten ›Zhuangzi‹ 莊 子-Kapitel immerhin, sie seien »Dienstadelige aus Zou und Lu« (Zou Lu zhi shi 鄒 魯之士) und Würdenträger bei Hofe ( jin shen xian sheng 搢紳先生) gewesen.18 Sollte es trotz der belegten Verquickung von politischem Denken und Regierungsmacht jemals so etwas wie geistige Freiheit im frühen China gegeben haben, so war sie spätestens seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. stark eingeschränkt: Aus Prestigegründen traten die Herrscher der Zhanguo-Zeit von nun als Patrone in Erscheinung und banden Gelehrte in großer Zahl an ihre Höfe. Gleichzeitig tritt in den politisch-philosophischen Schriften die Form des Dialoges zwischen Fürst und Meister in den Vordergrund.19 Auch die in den letzten Jahrzehnten in den Gräbern von Shuihudi 睡虎地 und Guodian 郭店 aufgefundenen Bambusmanuskripte belegen, dass die Eliten der ausgehenden Zhanguo-Zeit die Inhalte der tradierten politisch-philosophischen Schriften der verschiedenen Lehrrichtungen rezipierten.20 So ist etwa der Beamtenspiegel ›Wei li zhi dao‹ 為吏之道 (›Über den Weg, ein guter Beamter zu werden‹) aus Shuihudi nicht nur mittelbar von konfuzianischem und daoistischem Gedankengut beeinflusst, sondern enthält auch Parallelstellen zum ›Laozi‹ 老子 (Meister Lao) und zu der konfuzianisch inspirierten Anekdotensammlung ›Shuoyuan‹ 說苑 (›Garten der Erläuterungen‹), die ihn überdies intertextuell mit weiteren tradierten philosophischen Schriften wie ›Xunzi‹ 荀子 (›Meister Xun‹) und ›Huainanzi‹ 淮南子 (›Die Meister aus Huainan‹) vernetzen.21 In Guodian sind zahlreiche Fragmente von konfuzianischen und daoistischen Texten gefunden worden, in denen zen-
18 Siehe Kap. 33 (›Tian xia‹ 天下) des Zhuangzi 莊子 (Meister Zhuang), in: Guo Qingfan 郭慶藩 [1844–1896] (ed.), Zhuangzi jishi 莊子集釋, in: Zhuzi jicheng 諸子集成, Bd. 3, Shanghai 1986 (Shanghai Shudian Chubanshe), 462. 19 Siehe dazu Lewis 1999, 62. Vgl. zum Beispiel ›Mengzi‹ 孟子 (›Meister Meng‹), ›Xunzi‹ 荀子 (›Meister Xun‹), ›Guanzi‹ 管子 (›Meister Guan‹) sowie die Dialoge im ›Mozi‹ 墨子 (›Meister Mo‹). 20 Lewis 1999, 74 behauptet demgegenüber, Texte der Schulen seien in den Gräbern von Yunmeng 雲夢 (d.i. Shuihudi), Baoshan 包山 und Fangmatan 放馬灘 nicht gefunden worden und daher allenfalls von marginaler Bedeutung für die Machtelite gewesen. 21 Siehe Schwermann 2011, 176–178, zur Vortäuschung von Inkompetenz als Teilaspekt der übergeordneten Strategie, die Fülle, das heißt im politischen Kontext zum Beispiel auch die Machtfülle, durch Verzicht zu erhalten, und zu den verschiedenen Versionen der Wanderanekdote vom Neigekrug, die diese Strategie illustrieren soll. Zu der entsprechenden Stelle im Beamtenspiegel siehe ›Wei li zhi dao‹, Leiste 30, Abschnitt 1, bis Leiste 37, Abschnitt 1 in Shuihudi Qin mu zhujian 睡虎地秦墓竹簡 (Beschriftete Bambustäfelchen aus einem Grab des Landes Qin bei Shuihudi), ed. Shuihudi Qin mu zhujian zhengli xiaozu 睡虎地秦墓 竹簡整理小組, Peking 2001 (ND der 1. Auflage von 1990), 83f., 167. Zum Verhältnis zwischen tradierten und ausgegrabenen Texten allgemein sowie zu den methodologischen Konsequenzen siehe Pines 2009, 4–6.
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trale Begriffe dieser Lehren auf die Regierungskunst angewendet werden.22 Einiges spricht also für ein enges Verhältnis zwischen Machtelite und Gelehrsamkeit schon in der Zhanguo-Periode. Darüber hinaus dokumentieren die Quellen einen fortschreitenden Integrationsprozess, an dessen Ende die verschiedenen politisch-philosophischen Lehrrichtungen von der Ideologie des zentralisierten Kaiserreichs aufgesogen wurden. Diese Entwicklung war insofern vorprogrammiert, als sich die Vertreter der Schulen immer mehr den Herrschern und ihren Ministern als Adressaten oder intendierten Lesern ihrer Werke zuwandten.23 Das belegt zum einen die Form des Dialoges zwischen Herrscher und Meister. Darauf verweist zum anderen aber auch der Inhalt von so unterschiedlichen Texten wie ›Mozi‹, ›Laozi‹, ›Xunzi‹, ›Mengzi‹ oder ›Guanzi‹, die immer wieder nach Art des Fürstenspiegels die Tugenden und Untugenden von Herrscherfiguren darstellen. Selbst ›Zhuangzi‹, der angeblich philosophischste und freigeistigste Text des chinesischen Altertums, ist auch in seinen sieben ›Inneren Kapiteln‹ (Nei pian 內篇) durchzogen von Handlungsanweisungen an Herrscher- und Ministerfiguren – man denke nur an das Gespräch zwischen dem Ai-Patriarchen von Lu (Lu Ai gong 魯哀公, reg. 494– 468 v. Chr.) und Konfuzius im fünften Kapitel ›Das Kreditiv der Kraftfülle‹ (De chong fu 德充符).24 Hier propagiert der unbekannte Autor eine Herrschaftslehre, die Ruhe im Angesicht des Wandels und die Fähigkeit der Anpassung an die jeweiligen äußeren Bedingungen vom Fürsten verlangt: Ruhe und Anpassungsfähigkeit sind Ausdruck und Bestätigung der Fülle von Kraft – und Macht.25 22 Siehe zum Beispiel die Texte ›Fünf Phasen‹ (Wu xing 五行) und ›Der Weg von Treue und Zuverlässigkeit‹ (Zhong xin zhi dao 忠信之道) in Guodian Chu mu zhujian 郭店楚墓竹簡 (Beschriftete Bambustäfelchen aus einem Grab des Landes Chu bei Guodian), ed. Jingmen Shi Bowuguan 荊門市博物館, Peking 1998. 23 Ich spreche hier nicht vom impliziten Leser, da dieser von der Literaturwissenschaft als eine der Erzählerfigur entsprechende fiktive Rolle beschrieben worden ist, die in der abendländischen Literatur erst in den subjektiven Erzählformen des 18. Jahrhunderts fassbar wird und hier sogar als Figur im Werk auftreten kann. Siehe die Definition von Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 7. Auflage, Stuttgart 1989, 510. Zur Rezeptionsästhetik vgl. u. a. Iser 1979, Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 4. Auflage, München 1994 sowie Rainer Warning, Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, 4. Auflage, München 1994. 24 Demgegenüber behauptet Lewis 1999, 69f., dass der Regierungsdienst und überhaupt die Vorstellung von Herrschaft in den frühen ›Zhuangzi‹-Kapiteln radikal abgelehnt werden. Zu ›Laozi‹ als herrscherorientiertem Text vgl. Pines 2009, 36–38. 25 Siehe Zhuangzi 1986, 93–98. Vgl. auch die Dialoge zwischen Konfuzius und Yan Hui 顏回, Konfuzius und She gong Zigao 葉公子高 sowie Yan He 顏闔 und Qu Boyu 蘧伯玉 in Kap. 4 (›Ren jian shi‹ 人間世) des ›Zhuangzi‹ (Zhuangzi 1986, 61–77). Auch die Parabeln über die Übertragung der Herrscherwürde (Kap. 1: ›Xiao yao you‹ 逍遙遊 [Zhuangzi 1986, 12f.]; Kap. 26: ›Wai wu‹ 外物 [Zhuangzi 1986, 407]; Kap. 28: ›Rang wang‹ 讓王 [Zhuangzi 1986, 414f.]) handeln vom Umgang mit politischer Macht, wobei die Ablehnung der Königswürde nicht unbedingt wörtlich verstanden werden muss, sondern auch als Bild für die Vorstellung, dass jedem Wesen ein bestimmter Platz und eine bestimmte Aufgabe zukommen und diese
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Texte waren demnach Mittel zur Gewinnung von Wissen und Macht, Macht nicht nur für die Empfänger, die Herrscher, sondern auch für die Erzeuger der Texte, die nach einer Beraterfunktion an Fürstenhöfen strebten.26 Dieses Austauschverhältnis lässt sich am besten an den Werken der sogenannten Legisten illustrieren, zum Beispiel am ›Shang jun shu‹ 商君書 (Dokumente des Fürsten von Shang) oder ›Han Feizi‹ 韓非子 (Meister Han Fei).27 Gerade im Zusam-
Rollen nicht vertauscht werden dürfen, stehen kann oder für die Aufgabe einer bestimmten Vorstellung von Herrschaft. Vgl dazu die berühmte Parabel von König Danfu 亶父, der sein Reich aufgibt und wiedererhält (Kap. 28, ›Rang wang‹, des ›Zhuangzi‹ [Zhuangzi 1986, 415f.]; siehe die Parallelversion in ›Mengzi‹ 1B15, in: Mengzi 孟子 (Meister Meng), in: Jiao Xun 焦循 [1763–1820] (ed.), Mengzi zhengyi 孟子正義, in: Zhuzi jicheng 諸子集成, Bd. 1, Shanghai 1986, juan 2, 97–99, oder auch den Dialog zwischen Xiong Yiliao 熊宜僚 und dem Fürsten von Lu in ›Zhuangzi‹, Kap. 20, ›Shan mu‹ 山木 (Zhuangzi 1986, 294–296). Zum letzteren vgl. Schwermann 2011, 210–212. 26 Das illustriert die ›Shiji‹-Biographie des Su Qin 蘇秦, der sich ein Jahr lang der Lektüre und Rezitation eines Werkes namens ›Yin fu‹ 陰符 (›Das geheime Kreditiv‹) gewidmet haben soll, um die Herrscher seiner Zeit angemessen beraten – und Ruhm und Status für sich selbst gewinnen zu können. Siehe Shiji, juan 69, 2241f. Eine ausführlichere Version findet sich in Zhanguo ce 戰國策 (Strategien der Streitenden Reiche), Bd. 1, Shanghai 1978, Kap. ›Qin 1‹, 85–87, wo die im wahrsten Sinne des Wortes schweißtreibende und bluttriefende Geschichte dieser Lektüre im Detail beschrieben wird: Wenn er einzuschlafen drohte, habe sich Su Qin mit einer Ahle in die Hüfte gestochen, dass das Blut das Bein hinuntergelaufen sei. Nach Ablauf eines Jahres habe er den König von Zhao mit seiner Rezitation des Werkes so beeindruckt, dass dieser ihn als Minister angestellt habe. Der Text ›Yin fu‹, im ›Zhanguo ce‹ als ›Tai gong yin fu‹ 太公陰符 bezeichnet, ist nicht erhalten. Den Titel ›Yin fu‹ 陰符 trägt auch das 24. Kapitel des militärtheoretischen Textes ›Liu tao‹ 六韜. Im ›Yi wen zhi‹ 藝文志, dem ›Literaturkatalog‹ des ›Hanshu‹, welches das ›Liu tao‹ nicht verzeichnet, ist unter den daoistischen Werken ein Buch ›Tai gong‹ 太公 in 237 Kapiteln mit Strategemen, Reden und Texten zur Kriegsführung aufgeführt; eventuell ist es dieses Buch, das im ›Zhanguo ce‹ als ›Tai gong yinfu‹, im Shiji als ›Yinfu‹ bezeichnet wird; siehe Hanshu 1962, juan 30, 1729. Zur möglichen Identität von Teilen dieses nicht überlieferten Buches mit dem ›Liu tao‹ und zu seiner Autorschaft, die traditionell dem Tai gong Wang 太公望 zugeschrieben wird, siehe Schwermann 2011, 120f., Fußnote 488. Tai gong Wang ist der Beiname des Lü Shang 呂尚 bzw. Shi Shang fu 師尚父, der auch den oben erwähnten Text ›Liu tao‹ verfasst haben soll; siehe die kurze Biographie in Shiji 1959, juan 32, 1477–1481; vgl. Volker Strätz, Luh-T’ao. Ein spätantiker Text zur Kriegskunst (Münstersche Sinologische Mitteilungen 1), Bad Honnef 1979, 7f. Der Legende nach soll er als General und Stratege die Truppen des Wu-Königs der Zhou (Zhou Wu wang 周武王) zum Sieg über die Shang geführt haben. Das Werk ›Tai gong yin fu‹ wäre demnach entsprechend der Beschreibung des Buches ›Tai gong‹ im ›Hanshu‹ eine Anleitung zur Kriegsführung und Rhetorik gewesen. Die Vermischung von kriegstheoretischen und rhetorischen Schriften wäre für die Zhanguo-Periode nicht ungewöhnlich, da man Redekunst und Kriegsführung als strategische Künste gleichsetzte; siehe Mark E. Lewis, Sanctioned Violence in Early China, Albany 1990, 101. Zur Figur des Tai gong Wang siehe Sarah Allan, The Identities of Tai Gong Wang 太公望 in Zhou and Han Literature, in: Monumenta Serica 30 (1972–1973), 57–99. 27 Schon die Kapitelüberschriften wie ›Die Regeln der Kriegsführung‹ (Zhan fa 戰法), ›Wie man das Volk schwächt‹ (Ruo min 弱民) oder ›Herrscher und Minister‹ (Jun chen 君臣) im ›Shang jun shu‹ und ›Wie man Menschen verwendet‹ (Yong ren 用人), ›Wie man die Gesetze festlegt‹
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menhang mit letzterem Buch ist die wohl bekannteste Anekdote vom Herrscher als Leser überliefert, die zugleich das Prinzip des Austausches von Wissen und Macht zwischen Erzeuger und Empfänger eines Textes veranschaulicht.28 Durch Vermittlung eines Dritten bekommt der König von Qin 秦, Ying Zheng 嬴政, d. i. Zhao Zheng 趙政, der spätere Erste Kaiser von Qin (Qin shi huangdi 秦始皇帝, wörtlich »Erster Erhabener Höchster von Qin«; reg. 247–221 v. Chr. als König Zheng 政 von Qin, 221–210 v. Chr. als Kaiser von Qin), Han Feis 韓非 Schriften ›Der Zorn eines Einzelnen‹ (Gu fen 孤憤) und ›Fünf Schädlinge‹ (Wu du 五蠹) zu Gesicht. Die Texte über den richtigen Umgang des Herrschers mit seinen Höflingen und die Handhabung von Gesetz und Regierungskunst begeistern den König dermaßen, dass er den Autor, einen Prinzen des Landes Han 韓,29 mit aller Gewalt an seinen Hof bringen will und Han angreift. Unter dem Druck der Ereignisse wird Han Fei, der in Han zunächst keine Anstellung gefunden hat, im Jahre 233 v. Chr. als Gesandter nach Qin 秦 geschickt. Der misstrauische König von Qin stellt ihn zwar nicht gleich als Berater an, aber der enorme Gewinn an Status und Macht, der dem Han Fei aus der Würdigung seiner Texte erwächst, weckt den Neid der Minister Li Si 李斯 und Yao Jia 姚賈. Ihre Intrigen treiben den Autor noch im selben Jahr in den Selbstmord. Offenkundig fungiert der Text hier als Machtinstrument: Dem Autor bietet er die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, dem Leser Anleitungen zur effizienteren Regierung seines Landes. Genaueres zur Lesesituation am Hof des Herrschers erfährt man in einem Dialog im ›Mozi‹ 墨子 (Meister Mo).30 Auf einer Gesandtschaftsreise nach Wei 衞 nimmt Mo Di 墨翟 so viele Bücher mit, dass ihn Xian Tang zi 弦唐子 verwundert nach dem Grund dafür fragt. Mo Di verweist darauf, dass Zhou gong Dan 周公旦 jeden Morgen 100 Bambustafeln Text gelesen und jeden Abend 70 Gelehrte (shi 士) empfangen habe, um dem Himmelssohn als Minister zu assistieren. Diese Angabe soll sich vermutlich auf die Jahre 1045 bis 1043 v. Chr. beziehen, als Zhou gong Dan nach dem Sieg über die Shang den Wu-König der Zhou (Zhou Wu wang 周武王) bei der Regierung unterstützte.31 Sie könnte aber auch noch für die sieben Jahre gelten, in denen Zhou gong Dan anschließend für den minderjährigen Thronfolger, den Cheng-König (Cheng wang 成王, reg. 1042/1035–1006),
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(Ding fa 定法) oder ›Der Herrscher‹ (Ren zhu 人主) im ›Han Feizi‹ verweisen auf die Adressaten. Siehe Shiji 1959, juan 64, 2155; juan 6, 232, juan 15, 754. Siehe Shiji 1959, juan 63, 2146. Siehe Kap. 47, ›Gui yi‹ 貴義, des Mozi 墨子 (Meister Mo), in: Sun Yirang 孫詒讓 [1848–1908] (ed.), Mozi jiangu 墨子閒詁, in: Zhuzi jicheng 諸子集成, Bd. 4, Shanghai 1986, juan 12, 268f. Siehe ›Yi Zhou shu‹ 逸周書, Kap. 36: ›Ke Yin‹ 克殷; Yi Zhou shu 逸周書 (Ungebundene [d. h. nicht kanonisierte] Dokumente der Zhou), in: Sibu beiyao 四部備要, Taipeh 1965, juan 4, 3a; vgl. Shiji 1959, juan 4, 125–127.
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regierte:32 Er hätte dann in der Funktion des Regenten jeden Morgen gelesen und jeden Abend Gelehrte empfangen. Wie dem auch sei: Ob er tatsächlich jeden Morgen 100 Bambustafeln las, konnte der mohistische Autor, der vermutlich in der mittleren oder späten Zhanguo-Periode schrieb, nicht mehr mit Sicherheit wissen. Er behauptet es an dieser Stelle lediglich, um einen ehrwürdigen historischen Präzedenzfall für die Verhältnisse in seiner eigenen Zeit zu schaffen. Für unsere Fragestellung bedeutet das: In der Zhanguo-Zeit wurde es vom Herrscher und seinen höchsten Würdenträgern erwartet oder gefordert, dass sie jeden Morgen fleißig lasen, bis zu 100 Bambustafeln eben, also schätzungsweise 2 000 bis 8 000 Zeichen, je nach Größe der Tafeln. Das würde in etwa dem Umfang des Buches ›Laozi‹ in der Redaktion des Wang Bi 王弼 (226–249) entsprechen – eine beträchtliche Textmenge, wenn man bedenkt, dass die Regierungsgeschäfte selbst und zahlreiche Empfänge auch noch ihrer Erledigung harrten.33 Aber lasen die Herrscher im alten China tatsächlich Schriften zur Regierungskunst, oder spiegeln der Dialog im ›Mozi‹ und die Biographie des Han Fei nur die Erwartungshaltung der zeitgenössischen Autoren wider? Auch hier sprechen die Quellen für eine allmähliche Wandlung der Lesesituation im Laufe der Zhanguo-Periode. Eine Reihe von Texten aus dem vierten und dritten Jahrhundert vor Christus belegen, dass das Lektürepensum bis zur Gründung des 32 Siehe Shiji 1959, juan 4, 131f. Zur Regentschaft des Zhou gong Dan vgl. Edward L. Shaughnessy, The Duke of Zhou’s Retirement in the East and the Beginnings of the Minister-Monarch Debate in Chinese Political Philosophy, in: Ders. (ed.), Before Confucius. Studies in the Creation of the Chinese Classics, Albany 1997, 101–136 (ND aus Early China 18 [1993], 41–72). Zu der These, dass Zhou gong Dan nicht nur die Regierungsgeschäfte für den minderjährigen Cheng-König geführt habe, sondern tatsächlich den Königstitel als Nachfolger seines Bruders, des Wu-Königs, innegehabt habe, siehe Ulrich Unger, Die t’ai-paokuei-Inschrift, in: Wolfgang Kubin/Hans Link/Peter Leimbigler (edd.), China – Kultur, Politik, Wirtschaft. Festschrift für Alfred Hoffmann, Tübingen/Basel 1976, 184–195, hier 187. Zur Chronologie siehe Shaughnessy 1991, 241f. 33 Zur Anzahl der Zeichen im ›Laozi‹ – etwas mehr als 5 000 – siehe die traditionellen Angaben in Shiji 1959, juan 63, 2142. Mozi 1986, juan 12, 269 bietet im Anschluss eine Erklärung dafür, warum Würdenträger und Herrscher soviel lesen sollten: Wenn sie die Texte im Geiste durchgehen würden und mehrmals auf das Feinste und Verborgenste ( jing wei 精微) hin überprüfen würden, so erkennten sie das Essentielle im Hinblick auf »die Dinge, die auf einen gemeinsamen [Ursprung] zurückgehen« (tong gui zhi wu 同歸之物; Anspielung auf den zweiten Teil der ›Überlieferung der angehängten Worte‹ [Xi ci zhuan 繫辭傳] zum ›Yijing‹ 易 經, siehe Zhou yi 周易 (Die Wandlungen der Zhou), in: Gao Heng 高亨 (ed.), Zhou yi Dazhuan jin zhu 周易大傳今注, Ji’nan 1979, juan 5, 570: 天下同歸而殊涂) und könnten lehren, ohne auf Bücher zurückzugreifen. Im Lichte des Kommentars in den ›Wandlungen der Zhou‹ lässt sich die Stelle dahingehend interpretieren, dass es darum geht, aus dem vielfältigen Bücherwissen das Prinzip der Einheit herauszupräparieren, aus der die Vielfalt hervorgeht und zu der sie heimkehrt, und an die Beherrschten zu vermitteln, die von der Vielfalt der in Büchern niedergelegten Meinungen verwirrt zu werden drohen. Letzten Endes soll Bücherwissen also der Überwindung von Bücherwissen und der politischen Einigung der Streitenden Reiche dienen. Zu letzterem Topos siehe Pines 2000.
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Kaiserreichs stark angewachsen sein dürfte. Schon das Spruchgut im ›Laozi‹ ermahnt den Herrscher zum Verzicht auf Bücherwissen und Gelehrsamkeit und verweist damit auf eine zunehmende Rezeption politisch-philosophischer Schriften bei Hofe.34 Legistische Autoren kritisieren nicht nur Bücherwissen im Allgemeinen, sondern wenden sich wiederholt gegen seine Anwendung durch den Herrscher.35 Den deutlichsten Hinweis darauf, dass ein lesender Fürst keine Ausnahmeerscheinung war, liefert ein Dialog im dreizehnten ›Zhuangzi‹-Kapitel ›Der Weg des Himmels‹ (Tian dao 天道): 桓公讀書於堂上. 輪扁斲輪於堂下. 釋椎鑿而上, 問桓公曰: »敢問, 公之所讀者何言 邪?« 公曰: »聖人之言也.« 曰: »聖人在乎?« 公曰: »已死矣.« 曰: »然則君之所讀者, 古 人之糟魄已夫!« Der Huan-Patriarch las oben im Thronsaal eine Schrift. Der Stellmacher Bian zimmerte unten vor dem Saal ein Rad. Er legte Hammer und Beitel beiseite, ging hinauf und fragte den Huan-Patriarchen: »Dürfte ich fragen, wessen Reden die Schrift enthält, die Eure Durchlaucht da liest?« Der Huan-Patriarch antwortete: »Die Reden der Weisen.« Jener fragte: »Sind die Weisen noch am Leben?« Der Huan-Patriarch antwortete: »Sie sind längst tot.« Jener sprach: »Wenn es so ist, dann ist die Schrift, die Ihr lest, nichts weiter als der Treber und Trester der Alten!«36
Wie im ›Mozi‹-Dialog über die Lektüre des Zhou gong Dan wird hier eine Problematik der ausgehenden Zhanguo-Zeit in eine weit entfernte Vergangenheit zurückverlegt. Der unbekannte Autor dieses Textes, der vielleicht sogar erst im
34 Siehe etwa Kap. 47 und 48 des Laozi 老子 (Meister Lao), in: Gao Ming 高明 (ed.), Boshu Laozi jiaozhu 帛書老子校注, in: Xinbian zhuzi jicheng 新編諸子集成, Peking 2004, 50–58. 35 Zur Ablehnung von Gelehrsamkeit und Bücherwissen siehe etwa Kap. 2: ›Ken ling‹ 墾令 des Shang jun shu 商君書 (Die Dokumente des Fürsten von Shang), in: Zhu Shiche 朱師轍 (ed.), Shang jun shu jiegu dingben 商君書解詁定本, in: Yang Jialuo 楊家駱 (ed.), Zhongguo xueshu mingzhu 中國學術名著, Taipeh 1961–1964 (Shijie Shuju), juan 1, 5, sowie Kap. 22: ›Wai nei‹ 外內 (Shang jun shu 1961–1964, juan 5, 82). Die Anwendung von Fachwissen durch den Herrscher verurteilt zum Beispiel ›Lü shi chunqiu‹ 呂氏春秋, juan 17: ›Shen fen lan‹ 審分 覽, Kap. 2: ›Jun shou‹ 君守 ; siehe Lü shi chunqiu 呂氏春秋 (Die Frühlings- und Herbstannalen des Herrn Lü), in: Chen Qiyou 陳奇猷 (ed.), Lü shi chunqiu jiaoshi 呂氏春秋校釋, Bd. 3, Shanghai 1984, 1049f. Zur weiten Verbreitung von Büchern am Ende der Zhanguo-Zeit siehe auch ›Han Feizi‹, Kap. 49: ›Wu du‹ 五蠹 (Han Feizi 韓非子 [Meister Han Fei], in: Wang Xianshen 王先慎 [ed.], Han Feizi jijie 韓非子集解, in: Zhuzi jicheng 諸子集成, Bd. 5, Shanghai 1986, juan 19, 347); hier heißt es außerdem ausdrücklich: »Daher gibt es im Land eines hellsichtigen Herrschers keine Schriften auf Bambusleisten; zur Belehrung nimmt er das Gesetz.« Siehe ebd.: 故明主之國無書簡之文, 以法為教. Deshalb ruft der Autor an anderer Stelle sogar zur Bücherverbrennung (fen shu 焚書) auf, siehe ›Han Feizi‹, Kap. 21: ›Yu Lao‹ 喻老 (Han Feizi 1986, juan 7, 121). Vgl. auch ›Han Feizi‹, Kap. 29: ›Da ti‹ 大體 (Han Feizi 1986, juan 8, 156). 36 Siehe Zhuangzi 1986, 217.
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zweiten Jahrhundert vor Christus schrieb,37 erzählt eine fiktive Geschichte über den zweiten Hegemonen der Chunqiu-Periode, den Huan-Patriarchen von Qi (Qi Huan gong 齊桓公, reg. 685–643), um seine Position in einer zeitgenössischen Auseinandersetzung zu untermauern. Die Kritik am Leseverhalten des HuanPatriarchen richtet sich tatsächlich gegen die Herrscher am Ende der ZhanguoPeriode, die nach dem Geschmack des Autors zu viel lasen – und zu wenig herrschten.38 Er argumentiert in der Einleitung des Dialoges, dass man an Erörterungen (yu 語), wie sie sich in Büchern angehäuft finden, gemeinhin die darin zu erkennenden Absichten (yi 意) schätze: 意有所隨. 意之所隨者, 不可以言傳也, 而世因貴言傳書. 世雖貴之, 我猶不足貴也. 為其貴非其貴也. Absichten haben etwas, dem sie folgen. Zwar kann dasjenige, welchem die Absichten folgen, nicht mit Reden überliefert werden, aber die Welt überliefert dennoch Schriften, weil sie die Reden für wertvoll hält. Obwohl die Welt sie für wertvoll hält, sind sie meiner Meinung doch nicht der Wertschätzung wert. Was [die Welt] für ihren Wert hält, ist nicht ihr Wert.39
Bücher sind demnach viertrangige Darstellungen der Kunst des Herrschens. Sie bestehen aus Erörterungen, die diese Kunst nicht zu vermitteln mögen. An den Erörterungen wiederum schätzt man die Absichten, die auf die Beherrschung dieser Kunst gerichtet sind. Aber selbst aus den Absichten kann die Kunst des Herrschens nicht erschlossen werden. Letztlich lässt sie sich nur in der elementaren persönlichen Erfahrung der Einheit von Handelndem, Handlung und Behandeltem, d. h. in diesem Kontext von Herrscher (Agens), Herrschen (Aktion) und Beherrschten (Patiens), entwickeln. Gute Herrschaft ist tatkräftige und geistesgegenwärtige Herrschaft.40 37 Zur Datierung von ›Zhuangzi‹ siehe Harold D. Roth, Who Compiled the Chuang Tzu?, in: Henry Rosemont, Jr (ed.), Chinese Texts and Philosophical Context. Essays Dedicated to Angus C. Graham, La Salle 1991, 79–128, hier 121f. 38 Ironischerweise legt er diese Kritik am Huan-Patriarchen von Qi dem armen Stellmacher Bian in den Mund, der – das verdeutlicht der Text schon durch die Positionierung der Figur »unten vor dem Thronsaal« – am entgegengesetzten Ende der sozialen Pyramide rangiert. In der ›Tabelle der Menschen aus alter und neuer Zeit‹ (Gu jin ren biao), die ihr Inventar nach konfuzianischen Maßstäben bewertet und klassifiziert, befindet er sich allerdings unter dem Namen Lun Bian 輪邊 in der vierthöchsten Kategorie ›Obere Mitte‹ (shang zhong 上中) und damit eine Kategorie höher als der Huan-Patriarch von Qi (›Mittlere Mitte‹, zhong zhong 中 中); siehe Hanshu 1962, juan 20, 908 und 907. 39 Siehe Zhuangzi 1986, 217. Zu einer ähnlichen Aussage vgl. das Reusengleichnis in ›Zhuangzi‹, Kap. 26: ›Wai wu‹ (Zhuangzi 1986, 407). Vgl. auch den ersten Teil der ›Überlieferung der angehängten Worte‹ (Xi ci zhuan) zu den ›Wandlungen der Zhou‹ (Zhou yi 1979, juan 5, 541): »Der Meister sprach: ›Die Schriften erschöpfen nicht die Reden, die Reden erschöpfen nicht die Absichten.‹« 子曰: »書不盡言, 言不盡意.« 40 Den Wert des geistesgegenwärtigen Handelns im Gegensatz zur Nutzlosigkeit des Bücherwissens betont auch die Geschichte eines Schafhirten, der über der Lektüre seine Herde
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Stellungnahmen wie diese deuten darauf hin, dass die Herrscher der ZhanguoPeriode das schriftlich niedergelegte Wissen ihrer Zeit durchaus zur Kenntnis genommen haben dürften. Sie lasen wohl nicht nur verwaltungstechnische Texte,41 sondern auch politisch-philosophische Schriften, die ihnen moralisches Wissen und Herrschaftslehren vermittelten. Darauf verweist schon der mohistische Dialog, nach dem der Herrscher sein Wissen sowohl aus dem täglichen persönlichen Kontakt mit Gelehrten (shi) als auch aus der Lektüre ihrer Schriften auf Bambusleisten bezogen haben soll. Außerdem habe er sich eben kein umfangreiches verwaltungstechnisches Fachwissen angeeignet, sondern die Essenz ( jingwei 精微) bestimmter Werke für seine Herrschaft genutzt.42 Nach ›Zhuangzi‹ waren dies Texte, welche die Worte der Weisen (shengren 聖人) enthielten. Geht man von der mit shengren betitelten obersten Kategorie der ›Tabelle von Menschen aus alter und neuer Zeit‹ (›Gu jin ren biao‹) in den ›Dokumenten der Han‹ (›Hanshu‹) aus, so waren dies also die Worte von Figuren wie dem mythischen Gelben Kaiser (Huangdi), Zhou gong Dan und nicht zuletzt Konfuzius, die in Werken wie ›Huangdi sijing‹ 皇帝四經, ›Shangshu‹ 尚書 oder ›Lunyu‹ überliefert sein sollen.43 Wenn aber in der ›Zhuangzi‹-Passage auch die Worte von legendären Meistern anderer Lehrrichtungen wie etwa ›Laozi‹ oder ›Mozi‹ gemeint sind – und dieser Vermutung steht nichts entgegen –, dann könnten die Fürsten der Zhanguo-Zeit tatsächlich all die politisch-philosophischen Texte gelesen haben, die ihnen nach Art des Fürstenspiegels Tugenden und Untugenden von früheren Herrschern vorhielten und allgemeine Anleitungen zur Führung der Regierungsgeschäfte an die Hand gaben.
II.
Ursprung und Funktion schlechter Namen
Für unsere Interessen ist es letztlich gleichgültig, ob dies die historische Wirklichkeit war oder eher die Erwartungshaltung der Autoren. Entscheidend ist hingegen, dass die intendierten Leser dieser Texte die Herrscher im alten China waren. Denn das bedeutet, dass die Autoren ihre Texte – und damit auch die verliert; siehe ›Zhuangzi‹, Kap. 8: ›Pian mu‹ 駢拇 (Zhuangzi 1986, 146). Bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass einem gemeinen Bauern an dieser Stelle Lesefertigkeit zugesprochen wird. Es bleibt die Frage, ob dies die historische Realität widerspiegelt, oder ob die absurde Figur eines lesenden Schafhirten lediglich die Nutzlosigkeit des Lesens unterstreichen soll. 41 Zur Kritik daran siehe ›Han Feizi‹, Kap. 32: ›Wai chu shuo zuo shang‹ 外儲說左上 (Han Feizi 1986, juan 11, 212). 42 Siehe ›Mozi‹, Kap. 47: ›Gui yi‹ (Mozi 1986, juan 12, 269). 43 Darauf verweist auch ›Han Feizi‹, Kap. 49: ›Wu du‹ (Han Feizi 1986, juan 19, 347), wo die Lektüre von »Erörterungen der früheren Könige« (xian wang zhi yu 先王之語) kritisiert wird.
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früheste erhaltene historische Tradition – auf diese Adressaten und die Wirkung, die sie bei ihnen erzielen wollten, zugeschnitten haben, dass sie in diesem Interesse nicht nur Geschichtsklitterung betrieben, sondern auch bestimmte Mittel zur Lenkung ihrer Leser eingesetzt haben. Eines dieser Mittel sind die sogenannten schlechten Namen (e ming), deren Ursprung wohl im politischen Bereich, genauer in innenpolitischen Auseinandersetzungen der Zhanguo-zeitlichen Königtümer und des frühen Kaiserreichs zu suchen ist.
Schlechte Namen als Herrschafts- und Verwaltungsinstrumente Aus den Schriften bis zum Ende der Späteren Han-Dynastie lässt sich eine Reihe von politischen Funktionen schlechter Namen ableiten; als Herrschaftsinstrument sind sie zum Beispiel beschrieben im ›Yinwenzi‹ 尹文子. Ein Buch gleichen Namens wird im ›Literaturkatalog‹ (›Yi wen zhi‹) der ›Dokumente der Han‹ (›Hanshu‹) der sogenannten Namenschule (mingjia 名家) zugeschlagen.44 Die heute vorliegende Fassung stellt vermutlich die spätantike Überarbeitung einer älteren Schrift dar, die bereits im dritten Jahrhundert vor Christus an der Akademie von Jixia 稷下 in Qi 齊 entstanden sein könnte.45 Nach Art des Huang-Lao 黃老-Denkens46 propagiert sie eine Herrschaftslehre, die die Ordnungsbegriffe dao 道, fa 法, xing 形 und ming 名 miteinander verknüpft. Das Dao als zentrale Ordnungseinheit bringe die Formen (xing) hervor; allein dem Herrscher komme die Aufgabe zu, diesen Formen wie auch den Diensten seiner Untergebenen Namen (ming) zuzuweisen und dafür zu sorgen, dass Formen, Dienste und Namen einander entsprechen. Die angemessene Zuweisung der Namen und die 44 Siehe Hanshu 1962, juan 30, 1736. 45 Zu einer frühen Datierung der tradierten Fassung siehe Hu Jiacong 胡家聰, Yinwenzi yu Jixia Huang-Lao-xuepai – jian lun Yinwenzi bing fei weishu 尹文子與稷下黄老學派 — 兼論尹文 子並非偽書 (Yinwenzi und die Huang-Lao-Gelehrsamkeit an der Akademie von Jixia. Zugleich eine Widerlegung der These, dass es sich bei der Schrift Yinwenzi um eine Apokryphe handelt), in: Wen shi zhe 文史哲 2 (1984), 21–28. Für eine Datierung erst ins dritte nachchristliche Jahrhundert argumentiert Meng Chuanming 蒙傳銘, Yinwenzi bianzheng 尹文 子辨證 (Untersuchungen zum Yinwenzi), in: Taiwan Shengli Shifan Daxue Guowen Yanjiusuo jikan 臺灣省立師範大學國文研究所集刊 4 (1960), 73–135. Hans-Georg Möller entwickelte die These, dass der Text im dritten Jahrhundert v. Chr. im Zusammenhang des Huang-Lao-Denkens entstanden ist, aber im dritten nachchristlichen Jahrhundert überarbeitet und neu herausgegeben wurde, siehe Hans-Georg Möller, Die Bedeutung der Sprache in der frühen chinesischen Philosophie, Aachen 1994, 5–25. Aufgrund bestimmter stilistischer Eigentümlichkeiten, zum Beispiel der Verwendung von yu 愚 als Antonym von xian 賢 anstelle des älteren bu xiao 不肖, würde ich dazu tendieren, den Text nicht vor das Ende der Zhanguo-Periode zu datieren. 46 Zur Doktrin des Huang-Lao-Daoismus siehe Reinhard Emmerich, Bemerkungen zu Huang und Lao in der Frühen Han-Zeit: Erkenntnisse aus ›Shiji‹ und ›Hanshu‹, in: Monumenta Serica 43 (1995), 53–140.
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Anwendung der Gesetze (fa) auf der Grundlage der Namen solle den Umschlag in die Ordnung des Dao bewirken.47 Gute und schlechte Namen definiert der Text nun folgendermaßen: 善名命善, 惡名命惡. 故善有善名, 惡有惡名. 聖賢仁智, 命善者也. 頑嚚凶愚, 命惡者 也. Gute Namen benennen Gutes. Schlechte Namen benennen Schlechtes. Daher hat das Gute einen guten Namen, hat das Schlechte einen schlechten Namen. »Weisheit«, »Tüchtigkeit«, »Menschlichkeit« und »Gebildetheit« sind Namen, die Gutes benennen. »Unverstand«, »Treulosigkeit«, »Bösartigkeit« und »Ungebildetheit« sind Namen, die Schlechtes benennen.48
Diese nach Antonymen geordneten Namen für Gutes und Schlechtes bilden laut ›Yinwenzi‹ eine elementare Einteilung (fen 分), nach welcher der Herrscher sich bei seiner Regierungstätigkeit richten soll. Deshalb sei es notwendig, die Namen zu unterscheiden (ming bu ke bu bian ye 名不可不辯也). Aufgrund der Einteilung der Namen könne der Herrscher nämlich auswählen (cheng 稱), wem er nahestehe (qin 親), vom wem er sich fernhalte (shu 疎), wen er belohne (shang 賞) und wen er bestrafe (fa 罰). Deshalb sei es ebenso unerlässlich, die Namen und die Auswahl zu prüfen (ming cheng zhe bu ke bu cha ye 名稱者不可不察 也).49 Der hier zusammengefasste politische Zusammenhang und die oben aufgeführten Namen verdeutlichen, dass es um Qualitätskriterien für die Kontrolle des Verwaltungsapparats und die Einstellung von Beamten geht. Die guten und schlechten Namen fungieren als Raster, mit dessen Hilfe der Herrscher seine Untergebenen einstuft und auswählt. Wenig später heißt es denn auch ganz unmissverständlich: »Weil also der Tüchtige zu verwenden ist, lässt der Herrscher ihn nicht unverwendet, und weil der Untüchtige nicht zu verwenden ist, lässt der Herrscher ihn nicht verwendet.«50 Wenn der Herrscher sich bei der Auswahl von Beamten nicht an diese Einteilung halte, sei Unordnung die Folge.51 Deutlich erkennbar ist hier der Einfluss der legistischen Lehre von »Formen und Namen« (xing ming 形名), wonach der Herrscher die Performanz (xing 形) seiner Beamten an ihren Titeln (ming 名), das heißt, den Namen für ihre Funktionen, misst und je nach Beurteilung bestraft oder belohnt.52 47 Siehe ›Yinwenzi‹, Kap. 1: ›Da dao shang‹ 大道上 (Yinwenzi尹文子 [Meister Yinwen], ed. Qian Xizuo 錢熙祚 [1801–1844], in: Zhuzi jicheng 諸子集成, Bd. 6, Shanghai 1986, 1f.). 48 Siehe Yinwenzi 1986, 2. 49 Ebd. 50 Ebd., 4: 故因賢者之有用, 使不得不用. 因愚者之無用, 使不得用. 51 Dies soll die Geschichte eines Herrn Huang (Huang gong 黃公) aus Qi veranschaulichen, der aus Bescheidenheit schlecht von seinen zwei außergewöhnlich schönen, unverheirateten Töchtern spricht; siehe ebd., 6. 52 Zur xing-ming-Doktrin siehe Jean Levi, Quelques aspects de la rectification des noms dans la pensée et la pratique politique de la Chine ancienne, in: Extrême-Orient, Extrême-Occident
Schlechte Namen, Leserlenkung und Herrscherkritik in antiken chinesischen Texten
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Festzuhalten bleibt zunächst, dass schlechte Namen Personen markieren, die nicht dazu taugen, ein Amt zu übernehmen oder weiterhin zu bekleiden. Aus anderen Texten geht darüber hinaus hervor, dass schlechte Namen nicht nur der Klassifizierung von Amtsträgern und -bewerbern dienen, sondern auch ein Mittel der Abschreckung darstellen, das mit Strafen gekoppelt ist. Im ›Han Feizi‹ heißt es zum Beispiel, dass die Namen auf der einen und Strafen sowie Belohnungen auf der anderen Seite einander entsprechen müssen, damit das Volk (min 民), das heißt die Beherrschten aus Sicht der Herrschenden, die politische Ordnung nicht in Frage stellen:53 有重罰者必有惡名. 故民畏. 罰所以禁也. 民畏所以禁, 則國治矣. Wenn es schwere Strafen gibt, dann muss es auch schlechte Namen geben. Also fürchtet sich das Volk. Strafen sind etwas, durch das Verbrechen unterbunden werden. Wenn Volk das fürchtet, wodurch Verbrechen unterbunden werden, dann ist das Land geordnet.
Schlechte Namen können demnach allen Beherrschten vom Herrscher zugeteilt werden und dienen wie die Strafen der Prävention von Straftaten. Es scheint sogar, dass erst die Namen die Furcht vor Strafen erzeugen. Allerdings stellt sich im Anschluss die Frage, warum schlechte Namen die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen vermögen. Liegt hier ein ›vormodernes‹ Sprachverständnis vor, das die Arbitrarität der Zeichen nicht kennt? Werden Namen als dingliche Entsprechungen der Formen aufgefasst oder als Embleme, die ein Schicksal verkünden und das Verhalten der so Bezeichneten dementsprechend beeinflussen?54 Es scheint wenig sinnvoll, von einem modernen Sprachverständnis ausgehend, einen Gegensatz zwischen Konventionalismus heute und Korrelativismus damals in China zu konstruieren.55 Wir Heutigen denken in diesen Kategorien und sollten sie nicht allzu voreilig auf das alte China übertragen. Das Entscheidende ist, dass Zhanguo-zeitliche Texte die Vergabe von 15 (1993), 23–54. Er hält die legistische Lehre von ›Formen und Namen‹ (xing ming), genauer: von ›Performanz und Titel‹, für eine Weiterentwicklung der konfuzianischen Doktrin vom ›Richten der Namen‹ (zheng ming 正名). Nach der fundamentalen sophistischen Kritik an der konfuzianischen Namenpolitik habe ›Han Feizi‹ das solchermaßen problematisierte Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Namen einfach einem Verwaltungsprogramm untergeordnet und dieses mit dem ›Weg des Himmels‹ (tian dao 天道) gleichgesetzt, habe die Sophisten also zum Schweigen gebracht, indem er sich auf das »harte Gesetz der Realität« (la dure loi de la réalité) berufen habe. (Levi 1993, 33–36) 53 Siehe ›Han Feizi‹, Kap. 48: ›Ba jing‹ 八經 (Han Feizi 1986, juan 18, 337). 54 Zu diesen Ansichten siehe etwa Marcel Granet, La pensée Chinoise, Paris 1950 (ND der Erstausgabe von 1934), 40–43, Chad Hansen, Language in the Heart-mind, in: Robert E. Allinson (ed.), Understanding the Chinese Mind. The Philosophical Roots, Hongkong 1989, 75–124, hier 85f., sowie Möller 1994, 169–183. 55 John Makeham, Name and Actuality in Early Chinese Thought, Albany 1994, kommt sogar zu dem fragwürdigen Schluss, dass beide Positionen im alten China vertreten worden seien.
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Namen mit der Sicherung von Herrschaft in Zusammenhang setzen.56 Fruchtbarer wäre es daher, nicht die Frage in den Vordergrund zu stellen, ob die Namen im alten China Zeichen- oder Emblemcharakter hatten, sondern sie – nach Maßgabe der Quellen – schlicht als ordnungspolitische Instrumente anzusehen.57 Die Gültigkeit dieser Institution in Zweifel zu ziehen hätte nicht im Interesse der Herrschenden gelegen. Im Gegenteil, die einschlägigen Passagen zum ›Richten/ Richtigstellen der Namen‹ (zheng ming) oder zu ›Formen und Namen‹ (xing ming) besagen, dass der Herrscher alles unternehmen soll, um den Bestand der Namen über die Zeiten hinweg zu sichern. Er kann ihre Verknüpfung mit Tatsachen (shi 實) erneuern, indem er den Namen neue Formen zuweist, aber die Ordnung der Namen selbst, die Einteilung der politischen Welt, soll über die Zeiten erhalten bleiben.58 56 Siehe zum Beispiel ›Xunzi‹, Kap. 22: ›Zheng ming‹ 正名 (Xunzi 1986, juan 16, 275f.). 57 So heißt es etwa im Kapitel ›Wang zhi‹ 王制 (›Bestimmungen der Könige‹) des ›Liji‹ 禮記 von den Namen: »Wer [unter den alten Königen] Haarspalterei trieb, um die Gesetze zu brechen, wer die Namen in Unordnung brachte, um Veränderungen zu bewirken, oder wer Seitenwege nahm, um die Regierung in Verwirrung zu stürzen, der wurde getötet.« Siehe Liji 禮記 (Aufzeichungen der Riten), in: Ruan Yuan 阮元 [1764–1849] (ed.), Liji zhushu 禮記注疏, in: Sibu beiyao 四部備要, Taipeh 1965, juan 13, 5b: 析言破律, 亂名改作, 執左道以亂政, 殺. Auch Jean Levi kommt zu dem Schluss, dass die konfuzianische Lehre vom ›Richten der Namen‹ (zheng ming 正名) als Regierungsprinzip keine sprachtheoretische Grundlage gehabt habe: »C’est dire que la rectification confucéenne des noms, en tant que principe de gouvernement, n’a rien d’une épistémologie; elle ne repose ni sur une philosophie explicite du langage ni même sur une théorie des rapports entre les mots et les objets. Pour Confucius, le réel, vu uniquement sous son aspect social (même si cet aspect social recèle une dimension cosmique) est une donnée première. Le langage doit en rendre compte fidèlement par l’attribution de la juste terminologie, afin que les conduites puissent être répertoriées, catégoriées et ainsi donc rectifiées su ivant des grilles fournies par la nomenclature des rapports de parenté.« (Levi 1993, 29f.) 58 Siehe ›Xunzi‹, Kap. 22: ›Zheng ming‹ (Xunzi 1986, juan 16, 275f., 279); vgl. ›Yinwenzi‹, Kap. 1: ›Da dao shang‹ (Yinwenzi 1986: 1): »Das, was eine Form hat, muss unbedingt einen Namen haben. Das, was einen Namen hat, muss nicht unbedingt eine Form haben.« 有形者必有名. 有名者未必有形. Zum zheng-ming-Begriff gibt es inzwischen eine reiche Sekundärliteratur; siehe unter anderem Otto Franke, Über die chinesische Lehre von den Bezeichnungen (正 名), in: T’oung Pao, Série II, 7 (1906), 315–350; Jan Julius L. Duyvendak, Hsün-tzu˘ on the Rectification of Names, in: T’oung Pao 23 (1924), 221–254; Roderich Ptak, Einige linguistische Denkansätze im 22. Kapitel des Buches Hsün-tzu, in: Monumenta Serica 37 (1986– 1987), 145–154; Robert H. Gassmann, Cheng-ming. Richtigstellung der Bezeichnungen. Zu den Quellen eines Philosophems im antiken China. Ein Beitrag zur Konfuzius-Forschung (Schweizer Asiatische Studien 7), Bern et al. 1988; John Makeham, Rectifying Confucius’ Zheng Ming, in: Papers on Far Eastern History 38 (1988), 1–24; Redouane Djamouri, Théorie de la »rectification des dénominations« et réflexion linguistique chez Xunzi, in: ExtrêmeOrient, Extrême-Occident 15 (1993), 55–74; Levi 1993; Léon Vandermeersch, Rectification des noms et langue graphique Chinoises, in: Extrême-Orient, Extrême-Occident 15 (1993), 11–21; Makeham 1994; Carine Defoort, Ruling the World with Words. The Idea of Zhengming in the Shizi, in: Bulletin of the Museum of Far Eastern Antiquities 73 (2001), 217– 242.
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Schlechte Namen als sittliche Korrektive Als Ordnungsinstrumente werden gute und schlechte Namen häufig im Zusammenhang mit anderen Formen politisch-sozialer Ordnung wie Gesetzen und den hierin verankerten Belohnungen und Bestrafungen genannt. So auch in einem frühen konfuzianischen Text, der zudem einen ersten Hinweis darauf gibt, was das eigentlich Furchterregende an schlechten Namen sein könnte. In einer Rede, die in dem Ritualbuch ›Liji‹ überliefert ist und die Tugend der Kindesehrfurcht (xiao 孝) behandelt, verknüpft der Konfuzius-Schüler Zeng zi 曾子 die Zuweisung von schlechten Namen mit einem Mangel an Pietät gegenüber den Eltern: 眾之本教曰孝, 其行曰養. 養可能也, 敬為難. 敬可能也, 安為難. 安可能也, 卒為難. 父母既沒, 慎行其身, 不遺父母惡名, 可謂能終矣. 仁者仁此者也. 禮者履此者也. 義 者宜此者也. 信者信此者也. 強者強此者也. 樂自順此生, 刑自反此作. Die grundlegende Lehre für die Menge ist die Pietät, ihre Umsetzung besteht in der Pflege [der Alten]. Die Pflege ist etwas, wozu [ein Sohn] imstande sein mag; die Achtung ist das Schwierige. Die Achtung ist etwas, wozu [ein Sohn] imstande sein mag; das Wohlbefinden ist das Schwierige. Das Wohlbefinden ist etwas, wozu [ein Sohn] imstande sein mag; die Vollendung ist das Schwierige. Wenn Vater und Mutter bereits verstorben sind und [der Sohn] sorgsam mit seinem Leib umgeht und Vater und Mutter keinen schlechten Namen hinterlässt, dann mag es von ihm heißen, er sei imstande gewesen, es bis zum Ende zu bringen. Menschlichkeit ist es, diese Haltung für menschlich zu halten. Sittlichkeit ist es, diese Haltung in die Tat umzusetzen. Rechtlichkeit ist es, diese Haltung für geziemend zu halten. Aufrichtigkeit ist es, diese Haltung für aufrichtig zu halten. Bemühung ist es, sich um diese Haltung zu bemühen. Freude rührt daher, dass [ein Sohn] dieser [Haltung] entspricht. Strafen rühren daher, dass [ein Sohn] dagegen verstößt.59
Wie im ›Han Feizi‹ dienen schlechte Namen zusammen mit Strafen (xing 刑) hier dazu, Verstöße gegen eine Norm zu sanktionieren. Dies mag zunächst verwundern, da es sich ganz offenkundig um einen Text handelt, der der ru-Tradition zuzuordnen ist, verdeutlicht aber letztlich nur, dass die verschiedenen politischphilosophischen Lehrrichtungen der Zhanguo-Zeit auf eine gemeinsame geistesund institutionsgeschichtliche Grundlage zurückgegriffen, dass sie sich darüber 59 Siehe ›Liji‹, Kap. 24: ›Ji yi‹ 祭義 (Liji 1965, juan 48, 3a). Vgl. die leicht abweichenden Versionen in ›Da Dai liji‹, Kap. 52: ›Zeng zi da xiao‹ 曾子大孝 (Da Dai Liji 大戴禮記 [Aufzeichnungen zu den Riten von Dai, dem Älteren], in: Kong Guangsen 孔廣森 [1752–1786] [ed.], Da Dai Liji buzhu 大戴禮記補注, in: Wang Yunwu 王雲五 [ed.], Congshu jicheng jianbian 叢書集成簡 編, Taipeh 1966, juan 4, 52f.) und ›Lü shi chunqiu‹, juan 14: ›Xiao xing lan‹ 孝行覽, Kap. 1: ›Xiao xing‹ 孝行 (Lü shi chunqiu 1984, Bd. 2, 733). Es wäre möglich, den Ausdruck e ming an dieser Stelle als ›schlechten Ruf‹ zu übersetzen, aber vor dem Hintergrund der konfuzianischen Sozial- und Sittenlehre scheint mir dies die Konsequenzen des hier beschriebenen Fehlverhaltens zu verharmlosen.
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hinaus gegenseitig befruchtet haben, und lässt schließlich vermuten, dass schlechte Namen ein sozialpolitisches Ordnungsinstrument gewesen sein müssen, an dessen Wert kaum ein Denker zweifelte. Nach der Rede des Zeng zi zu urteilen, wurde ein schlechter Name jemandem zugeteilt, der sich gegenüber seinen altersschwachen oder bereits verstorbenen Eltern pietätlos verhielt, also zum Beispiel den Opferdienst gar nicht oder nur lieblos versah. Es gilt nun, ein wenig weiter auszuholen und die hier aufscheinende Konzeption der Pietät sowie die ihr zugrundeliegende Vernetzung der Einzelperson mit Vor- und Nachfahren zu beschreiben, um Angriffspunkt und Bedrohungspotential schlechter Namen genauer bestimmen zu können. Die Pietät gegenüber den bereits verstorbenen Eltern ist im vorliegenden Text als sorgsamer Umgang mit dem eigenen Leib (shen xing qi shen 慎行其身) gefasst. Die Vorstellung, dass der eigene Leib das Erbe der Eltern sei, verwendet Zeng zi gleich zu Beginn seiner Rede als Begründung der Pietät: »Was den Leib betrifft, so ist er der von Vater und Mutter hinterlassene Organismus. Im Umgang mit dem von Vater und Mutter hinterlassenen Organismus – wagt es etwa [ein Sohn], dabei respektlos zu sein?«60 Pietät bedeutet demnach, seinen Leib in keiner Weise, weder physisch noch auf Status und decorum bezogen, zu beschädigen, denn dieser ist kein persönliches Eigentum, sondern Hinterlassenschaft der Vorfahren und Teil der Ahnenreihe.61 Dass diese Begründung der Pietät aus dem Ahnenkult abgeleitet ist, zeigt sich sehr schön in der ausführlicheren Parallelstelle in ›Lü shi chunqiu‹. Hier ist folgender ergänzender Ausspruch von Zeng zi überliefert: 曾子曰: »父母生之, 子弗敢殺. 父母置之, 子弗敢廢. 父母全之, 子弗敢闕. 故舟而不 游, 道而不徑. 能全支體, 以守宗廟, 可謂孝矣.« Zeng zi sprach: »Vater und Mutter haben ihn [den Leib des Sohnes] hervorgebracht, der Sohn wagt es nicht, ihn zu töten. Vater und Mutter haben ihn errichtet, der Sohn wagt es nicht, ihn zu verwerfen; Vater und Mutter haben ihn heil gelassen, der Sohn wagt es nicht, ihn zu versehren. Deshalb nimmt er das [Fähr-]Boot, statt zu schwimmen, und folgt dem Weg, statt einen Seitenpfad zu nehmen. Imstande zu sein, an Leib und
60 Siehe Liji 1965, juan 48, 3a: 身也者, 父母之遺體也. 行父母之遺體, 敢不敬乎? Zum Bedeutungsspektrum von shen 身, das sich von ›Leib, Körper‹ über die Verwendung als Reflexivpronomen bis zu ›Person‹ erweiterte, siehe Ulrich Unger, Grundbegriffe der chinesischen Philosophie. Ein Wörterbuch für die Klassische Periode, Darmstadt 2000, 101f. Zu ti 體 mit den Bedeutungen ›Körper‹, ›Organismus‹, ›Körperteil‹, ›Teil‹, ›Gliederung‹ siehe Unger 2000, 114. 61 Hier greift die Doppelbedeutung von ti: 遺體 yi ti lässt sich sowohl als ›hinterlassener Organismus‹ als auch als ›hinterlassener Teil‹ der Eltern verstehen. Zu der Auffassung, dass der Leib kein persönliches Eigentum sei, vgl. auch ›Zhuangzi‹, Kap. 22: ›Zhi bei you‹ 知北遊 (Zhuangzi 1986, 322). Hier ist der Leib freilich nicht die Hinterlassenschaft der Vorfahren, sondern die von Himmel und Erde übertragene Form (tian di zhi wei xing 天地之委形).
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Gliedern heil zu bleiben und auf diese Weise den Ahnentempel zu erhalten, das mag Pietät geheißen werden.«62
Die Einzelperson hat ihre Würde nur als Teil der Geschlechterfolge, deren Würde sie aber umgekehrt auch gerecht werden muss. Wer die Hinterlassenschaft seiner Vorfahren nicht unversehrt weitergibt, dem droht Bestrafung. Verstöße gegen das Prinzip der Kindesehrfurcht werden zudem mit der Zuweisung eines schlechten Namens geahndet. Ein möglicherweise furchterregender Aspekt dieser Strafe scheint nun die Tatsache zu sein, dass sie nicht nur eine Einzelperson, sondern auch deren Eltern und darüber hinaus vermutlich die gesamte Deszendenz betrifft – ähnlich wie im Falle der Sippenhaftung, bei der nicht nur der eigentliche Täter, sondern dessen Verwandtschaft bis zu einem mehr oder minder entfernten Grad belangt wird. So kann auch der schlechte Name einem Glied der Geschlechterfolge in Vergangenheit und jedem in Zukunft angehängt werden, denn der eigentliche Delinquent gilt nur als Teil (ti 體) des genealogischen Organismus. Es reicht deshalb nicht, ihn lediglich persönlich zur Verantwortung zu ziehen. Erst die massive Drohung, das gesamte Geschlecht mit einem schlechten Namen zu brandmarken, lässt die Nachkommen davor zurückschrecken, ihr Leben in einer sozial unverträglichen Weise und ohne Rücksicht auf die bestehende oder zumindest als ideal angesehene ethische Ordnung zu führen.63 Diese moralische Regelungsfunktion schlechter Namen veranschaulicht eine Überlieferung zur Ermordung des Ning Xi 甯喜 im Jahre 546 v. Chr.64 Im ›Zuozhuan‹ 左傳 (Überlieferungen des Zuo) heißt es zur diesbezüglichen Eintragung im ›Chunqiu‹ 春秋 (Frühlings- und Herbstannalen), der Xian-Patriarch von Wei (Wei Xian gong 衞獻公, reg. 576–559, 546–544 v. Chr.) habe seinen Gefolgsmann Ning Xi ermorden lassen, weil dieser die Regierungsgewalt an sich gerissen habe. Allerdings habe der Fürst den Vorschlag des Gongsun Mianyu 公 孫免餘, den Würdenträger zu beseitigen, zunächst abgelehnt, und zwar mit der Begründung, dass er ohne Unterstützung des Ning Xi den Thron von Wei nicht zurückgewonnen hätte und ihm überdies sein Wort gegeben habe; außerdem seien die Folgen einer Ermordung nicht abzusehen, er würde sich nur einen schlechten Namen (e ming) einhandeln.65 Tatsächlich hatte Ning Xi seinen 62 Siehe ›Lü shi chunqiu‹, juan 14: ›Xiao xing lan‹, Kap. 1: ›Xiao xing‹ (Lü shi chunqiu 1984, Bd. 2, 732). 63 Dass die Pietät auch in einem weiter gefassten Sinne als ehrfürchtiger Umgang mit anderen Lebewesen überhaupt verstanden werden kann, belegt Liji 1965, juan 48, 3b. Hier zitiert Zeng zi seinen Lehrer Konfuzius in dem Sinne, dass es gegen die Pietät (xiao) verstoße, wenn man zur falschen Jahreszeit auch nur einen Baum fälle oder ein Tier töte. 64 Siehe ›Chunqiu Zuozhuan‹ 春秋左傳 (Überlieferungen des Zuo zu den Frühlings- und Herbstannalen), Xiang gong 27.3, in: Yang Bojun 楊伯峻 (ed.), Chunqiu Zuozhuan zhu 春秋 左傳注, Bd. 2, Peking 1981, 1126f. 65 Siehe ›Chunqiu Zuozhuan‹, Xiang gong, 27.3 (Chunqiu Zuozhuan zhu 1981, Bd. 3, 1127).
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Fürsten bei der Rückkehr auf den Thron – er war 559 v. Chr. vertrieben66 und 547 v. Chr. wieder eingesetzt worden67 – unterstützt, indem er den Interimsherrscher Piao 剽 durch ein Attentat hatte beseitigen lassen.68 Zuvor hatte der exilierte Fürst dem Ning Xi versprochen, er werde ihm die Regierungsgeschäfte überlassen, falls dieser ihn bei der Rückkehr nach Wei unterstütze.69 Der Fürst von Wei befürchtete also, aufgrund eines Wortbruchs mit einem schlechten Namen gebrandmarkt zu werden, der nach der gerade analysierten ›Liji‹-Stelle Schande nicht nur über ihn selbst, sondern auch über sein Geschlecht gebracht hätte. Die Handlungshemmung, die der Gedanke an den schlechten Namen auslöst, lässt darauf schließen, dass dieser als sittliches Korrektiv für den Herrscher konzipiert war. Es fragt sich allerdings, ob dieser Kontrollmechanismus bei Machtpolitikern wie dem Xian-Patriarchen überhaupt hätte wirksam sein können – nach der vorliegenden Überlieferung zu urteilen, schob der Fürst seine moralischen Bedenken recht schnell beiseite.70 Noch entscheidender ist die Frage, ob der Begriff der schlechten Namen in der Chunqiu-Periode überhaupt bereits existierte. Nach den bislang vorliegenden, teils widersprüchlichen Vorschlägen zur Datierung des ›Zuozhuan‹ wurde das Werk vermutlich in der ersten Hälfte der Zhanguo-Zeit, frühestens am Ausgang der Chunqiu-Periode kompiliert.71 Auch wenn die Möglichkeit besteht, dass dies auf der Grundlage einer
66 Siehe ›Chunqiu Zuozhuan‹, Xiang gong, 14.4, (Chunqiu Zuozhuan zhu 1981, Bd. 3, 1004, 1010–1015). 67 Siehe ›Chunqiu‹, Xiang gong, 26.3; ›Zuozhuan‹, Xiang gong, 26.2 (Chunqiu Zuozhuan zhu 1981, Bd. 3, 1110, 1113). 68 Siehe ›Chunqiu‹, Xiang gong, 26.1; ›Zuozhuan‹, Xiang gong, 26.2 (Chunqiu Zuozhuan zhu 1981, Bd. 3, 1110, 1113). 69 Siehe ›Zuozhuan‹, Xiang gong, 26.2 (Chunqiu Zuozhuan zhu 1981, Bd. 3, 1112). 70 Vgl. auch Zhanguo ce 1978, Bd. 3, 1122f., wo König Xi 喜 von Yan 燕 es im Kapitel ›Yan 3‹ anscheinend gleichgültig hinnimmt, dass ihm ein schlechter Name bzw. Ruf droht, weil ihn sein fähigster Dienstmann Yue Yi 樂毅 verlassen hat. 71 Zur Datierungsfrage siehe den Überblick von Anne Cheng, Ch’un ch’iu 春秋, Kung yang 公 羊, Ku liang 穀梁 and Tso chuan 左傳, in: Michael Loewe (ed.), Early Chinese Texts: A Bibliographical Guide (Early China Special Monograph Series 2), Berkeley 1993, 67–76. Sowohl Karlgren als auch Maspero haben den Text ins fünfte oder vierte Jahrhundert v. Chr. datiert; siehe Bernhard Karlgren, On the Authenticity and Nature of the Tso Chuan (Göteborgs Högskolas Arsskrift 32,3), Göteborg 1926, und Henri Maspero, La composition et la date du Tso tchouan, in: Mélanges Chinois et bouddhiques 1 (1931–1932), 137–215. Nachfolgende Untersuchungen, die sich auch auf astronomische Belege stützten, setzten ein noch späteres Kompilationsdatum im vierten oder sogar dritten Jahrhundert v. Chr. an; siehe etwa Kamata Tadashi 鎌田正, Saden no seiritsu to sono tenkai 左傳の成立と其の展開 (Die Entstehung des ›Zuozhuan‹ und seine Entwicklung), To¯kyo¯ 1963. Erst Yuri Pines, Foundations of Confucian Thought: Intellectual Life in the Chunqiu Period, 722–453 B. C. E., Honolulu 2002a, 26–34, 217–226, sprach sich wieder für eine frühere Datierung in das fünfte oder die erste Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr. aus und argumentierte dabei auch mit lexikalischen und syntaktischen Besonderheiten des Textes. Zweifel an diesem Datierungs-
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älteren mündlichen oder schriftlichen Überlieferung geschah,72 muss man beim gegenwärtigen Stand der Datierungsdiskussion davon ausgehen, dass die Vorstellung von schlechten Namen als Korrektiv mit hoher Wahrscheinlichkeit erst in der Zhanguo-Zeit entwickelt und über die traditionell dem Zuoqiu Ming 左丘明 zugeschriebene Überlieferung zu den Annalen von Lu 魯 deren Berichtszeitraum, eben der Chunqiu-Periode, nachträglich einverleibt wurde.73 Das Motiv dafür liegt auf der Hand: Es ging darum, dem rücksichtslosen Machthunger der zeitgenössischen Herrscher, die sich gegenseitig fast pausenlos mit Vernichtungskriegen überzogen, ein historisch legitimiertes Kontrollinstrument entgegenzusetzen.
Beispiele für die Vergabe schlechter Namen Genau dies versucht zum Beispiel der Berater Sima Cuo 司馬錯 in einer Debatte am Hof von Qin, die im ›Zhanguo ce‹ und in der ›Shiji‹-Biographie des Zhang Yi 張儀 aufgezeichnet ist. Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Sima Cuo und Zhang Yi ist der unmittelbar bevorstehende Angriff von Qin auf das an der Peripherie der Streitenden Reiche gelegene, von Fremdvölkern bewohnte Reich Shu 蜀 im Jahre 316 v. Chr. Während Zhang Yi dem Huiwen-König von Qin (Qin Huiwen wang 秦惠文王, auch Qin Hui wang 秦惠王, reg. 337–311, ab 324 v. Chr. als König) rät, zunächst Han statt Shu anzugreifen, damit zugleich den ZhouKönig in seine Abhängigkeit zu bringen und so die Vorherrschaft unter den Streitenden Reichen zu erringen, drängt Sima Cuo zum Angriff auf Shu, das von Fremdvölkern besiedelt sei, sich im Zustand politischer Anarchie befinde und dessen Annexion Qin deshalb den Ruf einbringen werde, Barbarei zu unterdrücken und Ordnung zu schaffen: 夫蜀, 西僻之國也, 而戎狄之長也, 而有桀紂之亂. 以秦攻之, 譬如使豺狼逐群羊也. 取其地, 足以廣國也. 得其財, 足以富民. 繕兵, 不傷眾而彼已服矣. 故拔一國, 而天下
ansatz äußerte David C. Schaberg in seiner Rezension von Pines 2002a im Journal of Asian Studies 63,3 (2004), 775–777. 72 David C. Schaberg, Foundations of Chinese Historiography. Literary Representation in Zuo zhuan and Guoyu, Cambridge, Mass. 1996 (Ph.D. Harvard University), 13–40, kommt zu dem Schluss, dass der Text auf Grundlage älterer mündlicher Überlieferung, die möglicherweise bis in die Chunqiu-Zeit zurückreiche, im vierten Jahrhundert v. Chr. niedergelegt wurde. Siehe auch David C. Schaberg, A Patterned Past: Form and Thought in Early Chinese Historiography (Harvard East Asian Monographs 205), Cambridge, Mass. 2001, 315–324, zu den möglichen mündlichen Ursprüngen der Anekdotenliteratur in ›Zuozhuan‹ und ›Guo yu‹ 國語 (Reden der Länder). Pines 2002a, 7, 14–26, geht hingegen davon aus, dass das ›Zuozhuan‹ auf älteren schriftlichen Überlieferungen der Chunqiu-Periode basiert. 73 Die traditionelle Auffassung zur ›Zuozhuan‹-Genese ist überliefert in Shiji 1959, juan 14, 509f.
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不以為暴. 利盡西海, 諸侯不以為貪. 是我一舉, 而名實兩附, 而又有禁暴正亂之名. 今攻韓劫天子, 劫天子惡名也, 而未必利也. 又有不義之名, 而攻天下之所不欲, 危. Was nun Shu angeht, so ist es zwar ein Reich im westlichen Hinterland und das Oberhaupt der Rong- und Di-Stämme, befindet sich aber in Anarchie wie unter Jie und Zhou. Wenn Ihr es durch Qin angreifen lasst, so ist das vergleichbar damit, Schakale und Wölfe auf eine Herde Schafe zu hetzen. Nehmt Ihr ihr Land, so reicht das hin, das Land [Qin] zu vergrößern. Erlangt Ihr ihren Besitz, so reicht das hin, das Volk [von Qin] wohlhabend zu machen. Macht das Heer mobil, dann werden jene sich schon bald unterworfen haben, ohne dass Ihr der Allgemeinheit geschadet hättet. Raubt also ein Land, und dennoch wird es die Welt nicht für Gewalt halten. Beutet das westliche Gefilde aus bis zur Neige, und die Fürsten werden es nicht für Habsucht halten. Auf diese Weise führen wir nur einen Schlag, aber [unsere Lage] verbessert sich sowohl dem Namen als auch den Tatsachen nach, und außerdem haben wir den Namen [eines Landes], das Gewalt unterbindet und Anarchie ins Lot bringt. Wenn ihr nun [hingegen] Han angriffet und den Himmelssohn entführtet, so würde die Entführung des Himmelssohns Euren Namen schlechtmachen, aber nicht unbedingt Gewinn abwerfen. Ja, es wäre nachgerade gefährlich, das anzugreifen, was die Welt nicht angegriffen haben will, denn Ihr hättet den Namen eines Herrschers, der sich unrecht verhalten hat.74
Anders als in den oben zitierten Textausschnitten ist e ming hier an der ersten Belegstelle nicht als Nominale aus Adjektivattribut und Nomen zu analysieren, sondern als Verbalphrase »den Namen schlecht machen«.75 Der schlechte Name würde nach Meinung von Sima Cuo daraus resultieren, dass statt eines unzivilisierten Barbarenlandes ein Mitglied des Zhanguo-zeitlichen Bündnissystems annektiert und – das ist das Entscheidende – mit dem Zhou-König das nominelle Oberhaupt der Streitenden Reiche angegriffen werden würde. Diese Tat würde den Huiwen-König in Gefahr bringen, denn er hätte dann »den Namen eines Herrschers, der sich unrecht verhalten hat« (bu yi zhi ming 不義之名) – eine Epexegese zu e ming – und müsste damit rechnen, dass sich die anderen Reiche gegen ihn verbünden würden. Sich »unrecht verhalten zu haben« (bu yi 不義) wäre demnach ein Beispiel für einen schlechten Namen, der einem Herrscher der Zhanguo-Periode zugewiesen werden konnte. Im vorliegenden Fall würde sich dieser Name darauf beziehen, dass eines der Streitenden Reiche, die hier noch in ihrer ursprünglichen Form als Verbund von Unterkönigtümern unter der Oberherrschaft des Zhou-Königs gesehen werden, ein anderes annektiert und den dort residierenden Zhou-König entführt, um so eine Vormachtstellung zu erlangen. Weitere Beispiele für schlechte Namen lassen sich gewinnen, indem man die guten Namen, die der 74 Siehe Zhanguo ce 1978, Bd. 1, 117. Vgl. die leicht abweichende Version in Shiji 1959, juan 70, 2283. 75 Auch hier wäre es möglich, ming als ›Ruf‹, die Verbalphrase entsprechend mit ›dem Ruf schaden‹ zu übersetzen. Dies würde allerdings den Blick darauf verstellen, dass es sich bei den Namen um ein politisches Ordnungsinstrument handelt.
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Huiwen-König von Qin sich laut Sima Cuo durch die Eroberung von Shu sichern würde, ins Negative verkehrt: Gewalt (bao 暴) zu schüren und Anarchie (luan 亂) zu verbreiten wären die Namen für einen Herrscher, der sich nicht an den (offiziellen) sozialpolitischen Ordnungsprinzipien der Zhanguo-Zeit orientiert und sich stattdessen wie die Barbaren in Shu oder eben auch wie die sogenannten Tyrannen Jie und Zhou aufführt. Zur Verwendung der Namen Jie und Zhou an dieser Stelle wird später noch etwas zu sagen sein;76 hier genügt es zunächst, auf die Zhanguo-zeitlichen Begriffe des Gewaltherrschers (bao jun 暴君) und Umstürzlers (luan jun 亂君) verweisen, die mit diesen Namen assoziiert sind und an die Tyrannen und Despoten in der griechisch-römischen Geschichtsschreibung erinnern.77 Weitere Beispiele für schlechte Namen finden sich in einer ›Zuozhuan‹Überlieferung zu einem Ereignis im Jahre 609 v. Chr. Nachdem Kronprinz Pu 僕 von Ju 莒 seinen Vater, den Ji-Patriarchen von Ju (Ju Ji gong 莒紀公, Thronbesteigung spätestens 632 v. Chr.78), umgebracht hat, weil dieser seinen jüngeren Sohn Ji Tuo 季佗 bevorzugt, flieht er mit dem Landesschatz nach Lu und übergibt ihn dem Xuan-Patriarchen von Lu (Lu Xuan gong 魯宣公, reg. 609/608–591 v. Chr.). Dieser befiehlt, ihn im Gegenzug umgehend mit einer Stadt zu beschenken, aber Ji Wen zi 季文子 lässt den Prinzen stattdessen unverzüglich aus Lu ausweisen.79 Auf die erstaunte Frage des Xuan-Patriarchen, warum er seinem Befehl zuwidergehandelt hat, lässt Ji Wen zi sein Verhalten durch den Großchronisten rechtfertigen, der darauf hinweist, dass das Volk von Lu kein Vorbild gehabt hätte und hinsichtlich der Unterscheidung von Gut und Schlecht im Dunkeln gewesen wäre, wenn der Fürst einem Mörder und Räuber Schutz gewährt hätte.80 Deshalb habe Ji Wen zi diesen Mann abgewiesen. Der Chronist vergleicht sein Verhalten mit dem des mythischen Urkaisers Shun, dem es ge-
76 Siehe unten Teil III. 77 Siehe etwa die Unterscheidung zwischen luan jun und ming jun 明君 in ›Han Feizi‹, Kap. 54: ›Xin du‹ 心度 (Han Feizi 1986, juan 20, 365). Die Gewaltherrscher (bao jun) werden im ›Mengzi‹ als atavistische Zerstörer beschrieben, die die zivilisatorischen Errungenschaften ihrer Vorgänger Yao 堯 und Shun 舜 zunichtegemacht hätten, siehe ›Mengzi‹ 3B9 (Mengzi 1986, juan 6, 264f.). 78 Siehe Gassmann 1988, 353. 79 Siehe ›Chunqiu Zuozhuan‹, Wen gong, 18.9 (Chunqiu Zuozhuan zhu 1981, Bd. 2, 629 und 633). Nach einer Überlieferung im ›Guo yu‹, ›Lu yu shang‹ 魯語上 12, änderte der Großchronist einen Brief des Xuan-Patriarchen an Ji Wen zi heimlich ab. Während jener ursprünglich befohlen hatte, dem Prinzen von Ju unverzüglich die Stadt zu übergeben, hieß es in der Fälschung des Großchronisten, Ji Wen zi solle den Prinzen unverzüglich ins Gebiet der YiBarbaren ausweisen. Danach wäre der Chronist die treibende Kraft gewesen, Ji Wen zi lediglich sein Werkzeug. Siehe Guo yu 國語 (Reden der Länder), Bd. 1, Shanghai 1978, 176. 80 Siehe ›Zuozhuan‹, Wen gong, 18.7 (Chunqiu Zuozhuan zhu 1981, Bd. 2, 636).
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lungen sei, die ›vier bösen Sippen‹ (si xiong zu 四凶族),81 untaugliche Nachkommen von legendären Herrschern und Ministern, aus seinem Reich zu vertreiben.82 Neben dem Attribut xiong 凶 enthält die Beschreibung dieser vier ›Schurken-Sippen‹ noch eine Reihe weiterer schlechter Namen, die angeblich vom Volk (min 民) vergeben worden sind:83 昔帝鴻氏有不才子. 掩義隱賊. 好行凶德, 醜類惡物. 頑嚚不友, 是與比周. 天下之民 謂之渾敦. 少皞氏有不才子. 毀信廢忠. 崇飾惡言. 靖譖庸回. 服讒蒐慝, 以誣盛德. 天 下之民謂之窮奇. 顓頊氏有不才子. 不可教訓, 不知話言. 告之則頑, 舍之則嚚. 傲很 明德, 以亂天常. 天下之民謂之檮杌. 此三族也, 世濟其凶, 增其惡名. 以至于堯, 堯不 能去. 縉雲氏有不才子. 貪于飲食, 冒于貨賄. 侵欲崇侈. 不可盈厭, 聚斂積實, 不知紀 極. 不分孤寡, 不恤窮匱. 天下之民以比三凶, 謂之饕餮. 舜臣堯, 賓于四門, 流四凶族, 渾敦, 窮奇, 檮杌, 饕餮, 投諸四裔, 以禦螭魅. Einst hatte Di Hong shi einen untauglichen Sohn.84 Er verdeckte das rechte Verhalten [anderer] und verbarg die Verbrecher. Er frönte schlimmen Lastern und glich einem 81 Zur Sippe (zu 族) als Teilverband des Stammes (zong 宗) innerhalb des Zhou-zeitlichen Verwandtschaftssystems siehe Gassmann 2006, 173–234. 82 Die Passage erinnert an die ›Vier Bestrafungen‹ (si zui 四罪) der berüchtigten Rebellen Huan Dou 讙兜, Gong Gong 共工, Gun 鯀 und San Miao 三苗 in Shangshu 1965, juan 3, 8b–9a. Zahlreiche traditionelle Exegeten, aber auch moderne Interpreten haben die individuellen Sippenahnen der ›vier bösen Sippen‹ (si xiong zu), Hundun, Qiongqi, Taowu und Taotie, im ›Zuozhuan‹ deshalb mit den vier Rebellen Huan Dou, Gong Gong, Gun und San Miao gleichgesetzt. Einen Überblick bietet Rui Yifu 芮逸夫, Sanmiao yu Taotie 三苗與饕餮 (Sanmiao und Taotie), in: Qingzhu Li Ji xiansheng qishi sui lunwenji 慶祝李濟先生七十歲論 文集 (Festschrift für Li Ji zum 70. Geburtstag), Bd. 2, Taipeh 1967, 571–584. Zur gegenteiligen Ansicht siehe die Anmerkungen von Yang Bojun in Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 2, 638–641. 83 Siehe ›Zuozhuan‹, Wen gong, 18.7 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 2, 638–641). Vgl. die Adaption in Shiji 1959, juan 1, 36f. 84 Nach dem Kommentar des Du Yu 杜預 (222–284) ist mit Di Hong shi 帝鴻氏 Huangdi 黃帝 gemeint, bei dem missratenen Sohn des Huangdi habe es sich um Huan Dou gehandelt (vgl. Fußnote 82); siehe Du Yu 杜預 [222–284] (ed.), Chunqiu jingzhuan jijie 春秋經傳集解, in: Sibu beiyao 四部備要, Taipeh 1965, juan 9, 20b. Vgl. auch den Kommentar des Jia Kui 賈逵 (30–101 n. Chr.) zu der entsprechenden Stelle im ›Shiji‹, zitiert von Pei Yin 裴駰 (5. Jh. n. Chr.) in seinem Kommentar ›Shiji jijie‹ 史記集解 (Takigawa Kametaro¯ 瀧川龜太郎, Shiki kaichu¯ ko¯shoo¯ 史記會註考證 [Gesammelte Kommentare und textkritische Untersuchungen zum ›Shiji‹], Bd. 1, To¯kyo¯ 1956, juan 1, 51). Es ließe sich übrigens spekulieren, dass es an dieser Stelle gar nicht um Einzelpersonen gehe und man ›Söhne‹ (zi 子) im erweiterten Sinne von ›Nachkommen‹ verstehen könnte (vgl. zum Beispiel die Verwendung in ›Xunzi‹, Kap. 18: ›Zheng lun‹ 正論 [Xunzi 1986, juan 12, 215]: 聖王之子), zumal im Folgenden auf diese als Sippen (zu) referiert wird. Entsprechend könnte das Wort shi 氏 hier nicht auf Stammesoberhäupter, sondern auf Stammnamen referieren; siehe Gassmann 2006, 193, zu diesen beiden Bedeutungen von shi, vgl. auch Allen J. Chun, Conceptions of Kinship and Kingship in Classical Chou China, in: T’oung Pao 76 (1990), 16–48, hier 33–38, zur Verwendung des Terminus shi als Titel und als Bezeichnung für einen Verwandtschaftsverband. William H. Nienhauser und seine Mitarbeiter übersetzen die ›Shiji‹-Adaption von ›Zuozhuan‹, Wen gong, 18.7 entsprechend: »In the past the Emperor Hung’s 鴻 Clan had sons of poor disposition. […]«. (William H. Nienhauser [ed.], Ssu-ma Ch’ien, The Grand Scribe’s Records, Bd. 1. The Basic Annals of Pre-Han China, übers. v. Tsai-fa Cheng/Zongli Lu/William H. Nienhauser,
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Monstrum.85 Eigensinnige Lügenbolde, die ihre Verwandten nicht schätzten,86 mit diesen ließ er sich ein. Das Volk unter dem Himmel nannte ihn Ungeschlacht.87 Shaohao shi88 hatte einen untauglichen Sohn. Er schmähte die Aufrichtigkeit und verwarf die Treue. Er schmückte sich mit schlechter Rede. Er war zufrieden mit Verleumdungen und vertraute Abtrünnigen. Er folgte Verunglimpfungen, verbarg die Verworfenen und schmähte auf diese Weise die Tugendkräftigen. Das Volk unter dem Himmel nannte ihn
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Jr./Robert Reynolds, Bloomington/Indianapolis 1994, 13). Vgl. Shiji 1959, juan 1, 36: 昔帝鴻 氏有不才子, […]. Allerdings ist die Verwendung von shi als Honorificum für Stammesoberhäupter nach Herrschernamen wie Huangdi, Yao und Shun vielerorts belegt, so zum Beispiel im ›Xi-ci‹-Kommentar zum Orakelbuch Yijing; siehe Zhou yi 1979, juan 5, 561; vgl. auch ›Zuozhuan‹, Zhao gong, 17.3 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 4, 1386–1388). Außerdem signalisiert die Zeichnung der Figuren und ihrer schlechten Taten, die mit Hilfe sprechender Namen charakterisiert werden, dass es hier zunächst um Einzelpersonen gehen dürfte, deren Eigenschaften und schlechte Namen auf die Nachkommenschaft übergehen. Ich folge in meiner Übersetzung daher der Interpretation von Bernhard Karlgren, Legends and Cults in Ancient China, in: Bulletin of the Museum of Far Eastern Antiquities 18 (1946), 199–365, hier 247–249; vgl. auch Übersetzung und Annotation der entsprechenden ›Shiji‹-Passage in Édouard Chavannes (ed.), Les mémoires historiques des Se-ma Ts’ien, Bd. 1, Paris 1895, 77– 79. Yang Bojun erklärt zu der Wendung chou lei e wu 醜類惡物, dass chou und lei hier als Synonyme (›Art‹, ›Kategorie‹) ein zweisilbiges Verb choulei ›von der gleichen Art sein wie‹ bilden, das das Objekt e wu, ›Monstrum‹, regiert; siehe Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 2, 638. Das Wort you 友, das gemeinhin mit ›Freund‹, ›freundschaftlich‹ übersetzt wird, bezeichnet hier eine respektvolle Haltung den nächsten Verwandten gegenüber, siehe Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 2, 639. Zum Freundschaftsbegriff im frühen China siehe Zhu Fenghan 朱鳳瀚, Shang Zhou jiazu xingtai yanjiu 商周家族形態研究 (Studien zu den Familienformationen der Shang- und Zhou-Zeit), 2., durchgesehene Auflage, Tianjin 2004 (Tianjin Guji Chubanshe), 292–297. Das Wort you bezeichnete zunächst eine ritualisierte Beziehung zwischen Blutsverwandten und wurde erst im Laufe der Chunqiu- und Zhanguo-Zeit auf Beziehungen zwischen Personen ausgeweitet, die nicht miteinander verwandt waren; vgl. Yuri Pines, Friends or Foes. Changing Concepts of Ruler-Minister Relations and the Notion of Loyalty in Pre-Imperial China, in: Monumenta Serica 50 (2002b), 35–74, hier 41, Fußnote 17. Der Name Hundun 渾敦 findet sich auch im ›Shanhaijing‹ 山海經, Kap. ›Xishanjing‹ 西山經, als Tiername; siehe Shanhaijing 山海經 (Der Klassiker der Berge und Meere), in: Hao Yixing 郝懿行 [1757–1825] (ed.), Shanhaijing jianshu 山海經箋疏, in: Sibu beiyao 四部備要, Taipeh 1965, juan 2, 22b. Er ist in Shiji 1959, juan 1, 36 wiedergegeben als Hundun 渾沌. Diese Figur ist Gegenstand der berühmten Parabel im siebten ›Zhuangzi‹-Kapitel ›Ying di wang‹ 應帝王 (Zhuangzi 1986, 139). Hier fehlen Hundun die sieben Körperöffnungen für das Sehen, Hören, Essen und Atmen, über die der Leib mit der Außenwelt verbunden ist und Sinneseindrücke empfängt; als Hundun diese Öffnungen gebohrt werden, stirbt es. Anscheinend handelt es sich um eine ironische Kontrafaktur der Geschichte über den untauglichen Sohn des Huangdi. Während dieser im ›Zuozhuan‹ als Bösewicht firmiert, dem die Fähigkeit abgeht, zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden, ist es im ›Zhuangzi‹ gerade sein mangelndes Unterscheidungsvermögen, das Hundun zur idealen Verkörperung des Dao macht. Shaohao 少皞 mit dem Rufnamen Zhi 摯 und dem dynastischen Titel Jintian 金天 war der Legende nach ein Sohn des Huangdi; siehe die Anmerkung von Du Yu (Chunqiu jingzhuan 1965, juan 23, 24b), die sich auf ›Zuozhuan‹, Zhao gong, 17.3 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 4, 1386) bezieht.
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Ungeheuer.89 Zhuanxu shi90 hatte einen untauglichen Sohn. Er konnte nicht belehrt werden und kannte keine gute Rede. Wenn man ihn ermahnte, war er eigensinnig; wenn man ihn schonte, war er treulos. Hellsichtige Tugendkraft verschmähte er herablassend und verwirrte auf diese Weise die Regeln des Himmels.91 Das Volk unter dem Himmel nannten ihn Ungetüm.92 Was diese drei Sippen[, die aus den dreien hervorgingen,] betrifft, so vervielfachten Generationen ihre Bosheiten und vermehrten ihre schlechten Namen. Auf diese Weise ging es bis zu Yao, [aber] Yao konnte sie nicht vertreiben. Jinyun shi93 hatte einen untauglichen Sohn. Er gierte nach Speisen und Trank und trachtete nach Reichtum und Besitz. Er raubte, was er begehrte, und schätzte Verschwendung. Er konnte nicht befriedigt werden, sammelte Reichtümer, häufte Güter an und kannte kein Maß. Er verteilte nichts an Waisen und Witwen und hatte kein Mitgefühl mit Armen und Notleidenden. Das Volk unter dem Himmel verglich ihn mit den drei bösen [Sippenahnen] und nannte ihn Unersättlich.94 Als Shun dem Yao als Minister 89 Qiongqi 窮奇 ist der Name einer menschenfressenden Bestie in ›Shanhaijing‹, Kap. ›Xishanjing‹ und ›Haineibeijing‹ 海內北經 (Shanhaijing 1965, juan 2, 27b; juan 12, 2a). 90 Zhuanxu 顓頊, der Enkel des Huangdi, war der dritte mythische Kaiser, sein Titel lautete Gaoyang 高陽; siehe Shiji 1959, juan 1, 10f.). Vgl. David Hawkes, The Heirs of Gao-Yang, in: T’oung Pao 69 (1983), 1–21. 91 Mit tian chang 天常 sind die ›Fünf Regeln‹ (wu chang 五常) der Menschlichkeit (ren 仁), der Rechtlichkeit (yi 義), der Sittlichkeit (li 禮), des moralischen oder Humanwissens (zhi 智) und der Aufrichtigkeit (xin 信) gemeint. 92 Die Zeichen 檮杌 können auch chouwu, ›Hartholzstamm‹, gelesen werden. Vgl. die Verwendung als Name einer Bestie in ›Shenyijing‹ 神異經, Kap. ›Xihuangjing‹ 西荒經 (Shenyijing 神異經 [Klassiker der Geister und des Außergewöhnlichen], in: Long wei mi shu 龍威 祕書, yi ji 一集, di liu ce 第六冊. o.O, o. J., yi ji 一集, di liu ce 第六冊, 8b.) 93 Der Legende nach war Jinyun 縉雲 Minister unter Huangdi, zugleich Nachfahr von dessen Rivalen Yandi炎帝; siehe den ›Shiji‹-Kommentar des Jia Kui, zitiert von Pei Yin (Takigawa 1956, juan 1, 52); vgl. die Anmerkung von Du Yu (Chunqiu jingzhuan 1965, juan 23, 24b), die sich auf ›Zuozhuan‹, Zhao gong, 17.3 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 4, 1386) bezieht. Karlgren 1946, 220 zählt Jinyun zu den mythischen Kaisern. Zur Rivalität zwischen Huangdi und Yandi, dem Gelben und dem Feurigen Kaiser, siehe Lewis 1990, 174–195. Die beiden Figuren seien ursprünglich brüderliche Verkörperungen von Dürre (Yandi) und Sturm (Huangdi) im archaischen Ritual des Regenmachens zum Ende der Trockenzeit gewesen, daher seien die Beamten des Huangdi auch nach den Namen von Wolken betitelt worden; siehe Lewis 1990, 180, 194f.; vgl. ›Zuozhuan‹, Zhao gong, 17.3 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 4, 1386) und Shiji 1959, juan 1, 6. Der Name Jinyun shi leitet sich nämlich her von dem Amtstitel jinyun 縉雲, ›Rote Wolken‹, eine Bezeichnung für das ›Amt des Sommers‹ (xia guan 夏官); siehe den Kommentar von Ying Shao (應劭, um 140 – vor 204 n. Chr.), zitiert im Subkommentar von Yan Shigu (顏師古, 581–645), zu Hanshu 1962, juan 19 shang, 721: 黃帝 雲師雲名. (Der Kommentar findet sich in Hanshu 1962, juan 19 shang, 722, Fußnote 5.) Das ›Amt des Sommers‹ (xia guan) soll nach ›Zhou li‹ 周禮 (Zhou li 周禮 [Die Riten der Zhou], in: Sun Yirang 孫詒讓 [1848–1908] [ed.], Zhou li zhengyi 周禮正義, in: Sibu beiyao 四部備要, Taipeh 1965, juan 54, 1a) das vierte von insgesamt sechs Ministerien am Zhou-zeitlichen Königshof bezeichnet haben, das für das Kriegswesen zuständig war. 94 Der Ausdruck taotie 饕餮 ist eine Wortschöpfung der Zhanguo-Periode, mit der unter anderem die symbolischen Tierdarstellungen auf Shang- und Zhou-zeitlichen Bronzeinschriften bezeichnet – und damit möglicherweise als Abbildungen von Dämonen fehlgedeutet – wurden. Siehe die berühmte Beschreibung der Tierdarstellungen auf Bronzegefäßen als taotie in ›Lü shi chunqiu‹, juan 16: ›Xian shi lan‹ 先識覽, Kap. 1: ›Xian shi‹ 先識 (Lü shi
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diente, empfing er Gäste an den vier Toren [in der Halle des Lichts{Ming tang 明堂}]95, verstieß die vier bösen Sippen, die Ungeschlachten, die Ungeheuer, die Ungetüme und die Unersättlichen, siedelte sie in die vier Grenzgebiete um und trieb auf diese Weise die Chimei-Dämonen aus.96
Zunächst gilt es, einen scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Während anfangs von den »untauglichen Söhnen« dreier Herrscher und eines Ministers die Rede ist, treffen die späteren Sanktionen ›vier böse Sippen‹ (si xiong zu 四凶族). Dieser Vorgang bestätigt die oben bereits angestellte Vermutung, dass nämlich der schlechte Name von einer Einzelperson auf deren Deszendenz – die Sippe (zu) als Teilverband eines Stammes – übertragen wurde. Noch Generationen nach dem Ableben der vier bösen Sippenahnen werden ihre schlechten Namen, die Zeugnisse ihrer Missetaten, überliefert und sogar vermehrt, und diese Epitheta beziehen sich nun eindeutig auf ihre Abkömmlinge, die geächtet und vertrieben werden. Dank dieser Vermehrung herabsetzender Benennungen über mehrere Generationen bietet die offenkundig von bestimmten politischen Motiven geleitete agitatorische Darstellung der ›vier bösen Sippen‹ einen ganzen Katalog schlechter Namen. Neben den sprechenden Namen Hundun, Qiongqi, Taowu und Taotie, die das monströse Wesen ihrer Träger zum Ausdruck bringen sollen,97 sind dies vor allem die einzelnen Attribute, die zunächst den individuellen
chunqiu 1984, Bd. 3, 947). Zur Funktion der Shang-zeitlichen Tierdarstellungen als metamorphe Symbole herrscherlicher Macht in rituellen Kontexten siehe Elizabeth ChildsJohnson, The Metamorphic Image. A Predominant Theme in the Ritual Art of Shang China, in: Bulletin of the Museum of Far Eastern Antiquities 70 (1998), 5–171, zur Geschichte des taotie-Begriffes und zu weiterführender Literatur dazu Childs-Johnson 1998, 11–16. 95 Vgl. die Parallelstelle im Kapitel ›Shun dian‹ 舜典 des ›Shangshu‹ (Shangshu 1965, juan 3, 1b). Zur Halle des Lichts (Ming tang), in der die Zhou-Herrscher die Ahnenopfer darbrachten und Lehensfürsten empfingen, siehe ›Liji‹, Kap. 14: ›Ming tang wei‹ 明堂位 (Liji 1965, juan 31, 1a– 12a). Vgl. ›Yi Zhou shu‹, Kap. 55: ›Ming tang jie‹ 明堂解 (Yi Zhou shu 1965, juan 6, 25b–26a). Zur Gastfreundschaft im frühen China siehe Maria Khayutina, Host-Guest Opposition as a Model of Geo-Political Relations in Pre-Imperial China, in: Oriens Extremus 43 (2002), 77– 100. 96 Diese und zwei andere Passagen im ›Zuozhuan‹ sind die frühesten Belege für den Ausdruck chimei 螭魅. Vgl. auch ›Zuozhuan‹, Xuan gong, 3.3 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 2, 670) und Zhao gong, 9.3 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 4, 1309). Es dürfte vor allem diese Textstelle sein, die Karlgren 1946, 248 zu der These führte, dass man sich auch die vier Sippenahnen als Dämonen vorgestellt habe. 97 Gu Jiegang 顧頡剛 (1893–1980) war der Ansicht, die Namen der vier individuellen Sippenahnen und ihrer Nachfahren, Hundun, Qiongqi, Taowu und Taotie, gingen auf Flurnamen zurück, die nach der Vertreibung der ›vier bösen Sippen‹ in die entsprechenden Gebiete auf die Verwandtschaftsverbände übertragen worden seien, und begründete diese These mit der Verwendung der Namen Taotie und Qiongqi als Flurnamen in ›Lü shi chunqiu‹, juan 20: ›Shi jun lan‹ 恃君覽, Kap. 1: ›Shi jun‹ 恃君 (Lü shi chunqiu 1984, Bd. 3, 1322). Vgl. Gu Jiegang 顧頡 剛, Gu Jiegang du shu biji 顧頡剛讀書筆記 (Lektürenotizen des Gu Jiegang), ed. Gu Hong 顧
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Sippenahnen der ›vier bösen Sippen‹, dann aber auch ihren Abkömmlingen zugeordnet werden. Diese Attribute lassen sich inhaltlich in 20 Rubriken zusammenfassen, denn sie wiederholen sich zum Teil, wenn auch in leicht unterschiedlichem Wortlaut, so dass die gesamte Passage recht formelhaft wirkt. Allen vier ›Schurken-Sippen‹ gemeinsam ist der schlechte Name der ›Untauglichkeit‹ (bu cai 不才): Als missratene Nachkommen von guten Herrschern oder Ministern sind ihre Angehörigen unwürdig, die Ämter ihrer vorbildhaften Vorfahren zu übernehmen.98 Auch die Kritik, rechtes Verhalten zu unterlaufen und Verbrechen zu decken, wiederholt sich in leicht variierter Form (yan yi yin zei 掩義 隱賊; sou te, yi wu sheng de 蒐慝, 以誣盛德; ao hen ming de 傲很明德) und läuft auf den Vorwurf hinaus, schlechte Ratgeber einzustellen und guten kein Gehör zu schenken. Schließlich zeichnen sich die Sippenahnen zweier Sippen durch schlechte Rede (chong shi e yan, bu zhi hua yan 崇飾惡言, 不知話言) sowie Unaufrichtigkeit aus, die als Treulosigkeit (yin 嚚) oder ›Schmähung der Aufrichtigkeit‹ (hui xin 毀信) gefasst ist. Darüber hinaus ist jedem untauglichen Nachkommen ein bestimmtes semantisches Feld von schlechten Namen zugeordnet. Bei Hundun steht die mangelnde soziale Kompetenz im Vordergrund. Sie verrät sich in seinem Umgang mit eigensinnigen, unverständigen (wan 頑) Menschen, die selbst gegenüber ihren nächsten Verwandten keine Achtung zeigen (bu you 不友),99 und erklärt sich aus seiner moralischen Verdorbenheit, denn er wird mit einem ›Monstrum‹ (e wu 惡物) verglichen und für seine ›Lasterhaftigkeit‹ (hao xing 洪, Bd. 3, Taipeh 1990, 1297. Der umgekehrte Schluss, dass nämlich die Gebiete nach den Namen der Sippen bezeichnet worden sind, ist aber genauso möglich. 98 Zum Konzept der Untauglichkeit oder Missratenheit (bu cai) siehe Schwermann 2011, 107– 109. 99 Hinter dieser Kritik könnte die Vorstellung stehen, dass Blutsverwandte bei der Ämterbesetzung berücksichtigt werden sollten. Wer sich nicht daran hielt, wurde bezeichnet als einer, der seine Verwandten nicht achtete (bu you). In jedem Fall muss die Frage, ob man die Beamten aus dem herrschenden Klan oder den Fremdklanen rekrutieren solle, in der Chunqiu-Zeit ein wichtiges politisches Thema gewesen sein. Die Arbeiten von Barry B. Blakeley zeigen nämlich, dass es zwei einander entgegengesetzte Muster der Ämterbesetzung gab: Während in den Ländern Song 宋, Zheng 鄭, Chu 楚 und Lu 魯 vor allem Blutsverwandte des Herrschers rekrutiert wurden, gelangten in Zhou 周, Qi 齊 und Jin 晉 in erster Linie Angehörige der Fremdklane in die Ämter. Blakeley stellt die Hypothese auf, dass die südlichen Länder Song, Zheng, Chu und Lu noch dem Shang-zeitlichen Muster der Rekrutierung von Beamten aus der Haupt- oder den Nebenlinien des Herrscherklans folgten. Siehe Barry B. Blakeley, Functional Disparities in the Socio-Political Traditions of Spring and Autumn China. Part I. Lu and Ch’i, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 20 (1977), 208–243; Ders., Functional Disparities in the Socio-Political Traditions of Spring and Autumn China. Part II. Chou, Sung, Cheng, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 20 (1977), 307–343 und Ders., Functional Disparities in the Socio-Political Traditions of Spring and Autumn China. Part III. Ch’u and Chin, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 22 (1979), 81–118, hier 107–113.
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xiong de 好行凶德) getadelt. Qiongqi hingegen zeichnet sich vor allem durch sprachliches Fehlverhalten und Manipulierbarkeit aus: Er ist ein Lästermaul (chong shi e yan 崇飾惡言) und vertraut Intriganten ( jing zen 靖譖, fu chan 服 讒). Auf diesem Defizit gründen seine Unaufrichtigkeit und Illoyalität (hui xin fei zhong 毀信廢忠). Die wesentliche Charakterschwäche des Taowu 檮杌 soll vielleicht in der Bedeutung einer möglicherweise assoziierten Alternativlesung seines Namens zum Ausdruck kommen: Als ›Hartholzklotz‹ (Lesung von 檮杌 hier: chouwu) hört er nicht auf den Rat seiner Untergebenen, ist ›unbelehrbar‹ (bu ke jiao xun 不可教訓) und hochmütig (ao 傲). In seinem unverbesserlichen Eigensinn und Unverstand (wan 頑) verletzt er die grundlegenden sozialen Regeln (luan tian chang 亂天常). Ebenso vielsagend ist der Name des letzten Bösewichts: Taotie 饕餮, der Nachkomme des Ministers Jinyun, zeichnet sich vor allem durch Gefräßigkeit (tan yu yin shi 貪于飲食) und Habgier (mao yu huo hui 冒于貨賄) aus. Er erscheint als Räuber und Verschwender (qin yu chong chi 侵欲 崇侈), und seine Maßlosigkeit (bu ke ying yan 不可盈厭, bu zhi ji ji 不知紀極) ist verknüpft mit Erbarmungslosigkeit gegenüber den Bedürftigen (bu fen gu gua 不 分孤寡, bu xu qiong kui 不恤窮匱). Die hier versammelten schlechten Namen lassen sich auf zehn Hauptkritikpunkte reduzieren: Untauglichkeit, Förderung schlechter und Missachtung guter Ratgeber, moralische Verdorbenheit, soziale Inkompetenz, sprachliches Fehlverhalten, Unbelehrbarkeit, Zerstörung der sozialen Ordnung, sinnliche Zügellosigkeit, Habgier und Erbarmungslosigkeit. Dies entspricht den Attributen, die ›schlechten‹ Herrschern wie vor allem den sogenannten vier Gewaltherrschern in antiken chinesischen Texten immer wieder zugeschrieben werden.100 Diese Attribute stimmen mit den oben isolierten schlechten Namen oft bis in den Wortlaut überein,101 und man darf folgern, dass es sich um Epitheta handelt, um 100 Vgl. die Auswertung der Charakteristika des letzten Shang-Herrschers Zhou Xin in Gu 1962/ 1963 und Wright 1960, 61–65. Zur Darstellung des schlechten Herrschers und Ministers im ›Buch der Lieder‹ (Shijing 詩經) siehe auch Gassmann 1988, 20–23. 101 Hier kann nur eine kleine Auswahl an repräsentativen Belegstellen geboten werden. So finden sich schlechte Namen häufig in Ansprachen und Erklärungen im ›Shangshu‹, die den Dynastiegründern zugeschrieben werden. Zum Beispiel wirft Cheng Tang 成湯, der sagenhafte Begründer der Shang-Dynastie, im Kapitel ›Tang shi‹ 湯誓 seinem Vorgänger Jie 桀, dem letzten Herrscher der Xia 夏, vor, er »habe kein Mitgefühl mit unseren Dienstleistenden« (bu xu wo zhong 不恤我眾), siehe Shangshu 1965, juan 8, 1b. (Zum Begriff zhong 眾 siehe Schwermann 2011, 158f., Fußnote 669, sowie Gassmann 2006, 355–363.) Von Zhou, dem letzten Shang-Herrscher, sagt der Wu-König der Zhou im Kapitel ›Mu shi‹ 牧誓, dass er die Ahnenopfer vernachlässige, seine nächsten Verwandten vernichte, auf den Rat von Verbrechern höre und sein Volk unterdrücke; siehe Shangshu 1965, juan 11, 9b–10a. In der Ode ›Sang rou‹ 桑柔 (Mao 257) des ›Shijing‹, laut Vorwort eine Kritik des Rui bo Liangfu 芮伯良夫 am Li-König der Zhou (Zhou Li wang 周厲王, reg. 857/853–842/828 v. Chr.), wird es als Zeichen schlechter Herrschaft gewertet, dass in wechselseitiger Achtung verbundene Verwandte einander verleumden (peng you yi zen 朋友已譖), siehe Mao Shi 毛詩 (Herrn
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Topoi, die auf innenpolitische Konflikte wie etwa die Frage zurückgehen, aus welchem Personenkreis der Herrscher seine Beamten rekrutieren solle, aber keinerlei Aussagekraft im Hinblick auf die Persönlichkeit der kritisierten Herrscherfiguren haben. Vielmehr scheinen schlechte Namen in den frühesten schriftlichen Quellen als Propagandainstrumente eingesetzt zu werden. Darauf lässt auch der Kontext der gerade analysierten ›Zuozhuan‹-Stelle schließen. Schon James Legge (1815–1897) bemerkte, dass Ji Wen zi kein so integrer Würdenträger war, wie es in dieser Rechtfertigung seines Verhaltens den Anschein hat.102 Nach dem Tode des Wen-Patriarchen von Lu (Lu Wen gong 魯文 公, reg. 626–609 v. Chr.) im Frühjahr des Jahres 609 v. Chr. hatte er es zumindest stillschweigend geduldet, dass Xiang zhong 襄仲 den Kronprinzen Ji 及, seinen Bruder Shi 視 sowie einen Gefolgsmann, der diese unterstützte, ermordete und die Usurpation des vakanten Throns durch den Sohn einer Nebenfrau des WenPatriarchen, den späteren Xuan-Patriarchen, einfädelte. Bei einem anschließenden Besuch in Qi ließ Ji Wen zi selbst die so geschaffenen Fakten vermutlich vom Hui-Patriarchen von Qi (Qi Hui gong 齊惠公) absegnen.103 Auch der Großchronist, der möglicherweise die treibende Kraft bei der Ausweisung des Kronprinzen von Ju war, maß offensichtlich mit zweierlei Maß. Während er die Ermordung des Ji-Patriarchen von Ju durch dessen Sohn scharf verurteilte, verdeckte er in der ›Chunqiu‹-Eintragung zur Ermordung des Thronfolgers in Lu die Wahrheit, indem er lediglich dessen Tod vermeldete, nicht aber sein gewaltsames Ende.104 Den Kronprinzen von Lu zu ermorden, um dessen jüngeren Bruder als Thronfolger zu installieren, steht aber der Tat des Kronprinzen Pu von Ju, der seinen Vater tötete, weil dieser einen jüngeren Bruder als Thronfolger bevorzugte, in nichts nach. In beiden Fällen handelt es sich um Machtpolitik, die sich über alle moralischen Bedenken hinwegsetzt. Die offenkundige Verwicklung des Ji Wen zi in die Machtkämpfe am Hof von Lu, seine zwielichtigen Machenschaften nach dem Tod des Wen-Patriarchen und die beschönigende Darstellung des Prinzenmordes durch den Großchronisten verdeutlichen, dass diejenigen, Maos Buch der Lieder), in: Ruan Yuan 阮元 [1764–1849] (ed.), Mao Shi zhushu 毛詩注疏, in: Sibu beiyao 四部備要, Taipeh 1965, juan 18b, 1a und 5a. In der vorangehenden Ode ›Yi‹ 抑 (Mao 256), angeblich ebenfalls eine Ermahnung des Li-Königs, wirft der Sprecher dem Adressaten vor, keine Belehrung anzunehmen (fei yong wei jiao 匪用為教), siehe Mao Shi 1965, juan 18a, 5a und 10b. 102 Siehe James Legge, The Chinese Classics, Bd. 5: The Ch’un Ts’ew with the Tso Chuen, Taipeh 1971 (ND der Erstausgabe von 1872), 283. 103 Siehe ›Chunqiu Zuozhuan‹, Wen gong, 18.5, 18.6 und 18.8 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 2, 628f. und 631f.). 104 Siehe ›Chunqiu‹, Wen gong, 18.6: 冬十月子卒. Vgl. aber den Kommentar dazu in ›Zuozhuan‹, Wen gong, 18.6, wo steht: »Die Aufzeichnung, dass der Sohn [des Wen-Patriarchen] gestorben sei, verdeckt sie [d. h. seine Ermordung].« 書曰子卒, 諱之也. Siehe Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 2, 629 und 632.
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die die Vergabe von schlechten Namen androhten, dies nicht unbedingt mit lauteren Absichten taten. Schlechte Namen waren ein Mittel der Manipulation in innenpolitischen Auseinandersetzungen, mit dessen Hilfe die Dienstleute ihre Herren zu beeinflussen versuchten. Offenbar wollten vor allem die Chronisten ihre Herrscher auf diese Weise zu bestimmten politischen Entscheidungen bewegen.
Schlechte Namen als Propagandawerkzeuge Aus diesem Missbrauch einer Aufsichtspflicht, die sich die Dienstadligen ihrem Standesethos entsprechend selbst auferlegten, erwuchs eine weitere Funktion schlechter Namen im alten China. Als Propagandamittel dienten sie anscheinend auch zur Ausschaltung innenpolitischer Gegner. Man hängte sie Konkurrenten oder anderen missliebigen Personen am Fürstenhof an, um diese von der Thronfolge auszuschließen, für vogelfrei zu erklären und in den Selbstmord zu treiben. Der historische Kern der Geschichte von den ›vier bösen Sippen‹, die schließlich von Shun geächtet worden seien, könnte zum Beispiel die Vertreibung von vier Verwandtschaftsverbänden aus einem frühchinesischen Herrschaftsbereich gewesen sein. Einige weitere Stellen belegen, dass die Verhängung eines schlechten Namens zur Expatriation führte. Dieses Schicksal drohte zum Beispiel 666 v. Chr. Shensheng 申生, dem Erbsohn des Xian-Patriarchen von Jin (Jin Xian gong 晉獻 公, reg. 676–651 v. Chr.).105 Dessen Konkubine Li Ji 驪姬, die ihren eigenen Sohn auf den Thron bringen wollte, verleumdete den Kronprinzen, er habe seinen Vater vergiften wollen. Auf den Rat, seinem Vater die Wahrheit über Li Ji zu enthüllen, reagiert Shensheng pietätvoll: Sein Vater könne ohne Li Ji nicht glücklich sein. Statt in ein anderes Land zu fliehen, begeht der Thronfolger schließlich Selbstmord: »Da ich diesen schlechten Namen trage und auf diese Weise ausreise, wer von den anderen lässt mich einreisen? Ich bringe mich um!«106 In diesem Falle war also der Propagandafeldzug, den die Li-Ji-Clique am Fürstenhof von Jin führte, so erfolgreich, dass der designierte Thronfolger, dem sie den schlechten Namen des gescheiterten Vatermörders angehängt hatten, nicht einmal mehr von anderen Ländern aufgenommen worden wäre und seinem Leben ein Ende setzen musste, wenn er nicht in die Hände seiner Feinde fallen wollte. Zudem illustriert die Geschichte des Shensheng sehr eindrücklich, dass schlechte Namen nicht zur gerechten Bewertung von Persönlichkeiten, sondern 105 Siehe ›Zuozhuan‹, Zhuang gong, 28.2 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 1, 238–241). 106 Siehe Shiji 1959, juan 39, 1645: 被此惡名以出, 人誰內我? 我自殺耳.
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als Waffen in Hofintrigen eingesetzt wurden, die Träger dieser Epitheta also nicht so schlecht gewesen sein müssen, wie Zeitgenossen oder spätere Generationen sie darstellten. So scheinen auch im Falle des Feng Can 馮參 schlechter Name und historische Wirklichkeit nicht übereinzustimmen. Der Sohn des Generals Feng Fengshi 馮奉世, der große Erfolge in Zentralasien errungen hatte, geriet 8 v. Chr. in die Auseinandersetzungen um die Nachfolge des Cheng-Kaisers der Han (Han Chengdi 漢成帝, d.i. Liu Ao 劉驁, reg. 33–7 v. Chr.), da er der Onkel des unterlegenen Kandidaten Liu Xing 劉興, König von Zhongshan 中山, war.107 Nachdem Liu Xin 劉欣, König von Dingtao 定陶, im März des Jahres zum Thronfolger erklärt worden war – er regierte als Ai-Kaiser der Han (Han Aidi 漢 哀帝) von 7 bis 1 v. Chr. –, wurde Feng Can zur Kompensation dafür, dass sein Neffe Liu Xing übergangen worden war, zum Markgrafen erhoben.108 Nach der Thronbesteigung des Liu Xin bezichtigte dessen Großmutter, Nebenfrau des Yuan-Kaisers der Han (Han Yuandi 漢元帝, d.i. Liu Shi 劉奭, reg. 49–33 v. Chr.) aus der 傅 Fu-Sippe, Feng Cans Schwester, Nebenfrau des Yuandi aus der FengSippe und Mutter des bei der Thronfolge übergangenen Liu Xing, den neuen Kaiser verwünscht und eine Verschwörung gegen ihn angezettelt zu haben. Als naher Blutsverwandter sollte auch Feng Can wegen Hochverrats (da ni 大逆) vor Gericht gestellt werden und beging Selbstmord.109 Wie Shensheng wurde er in einen Machtkampf um die Thronfolge verwickelt und von seinen Gegnern mit einem schlechten Namen diskreditiert. Auch er wählte den Freitod, um den bevorstehenden Konsequenzen – der Todesstrafe und einer grausamen, entwürdigenden Hinrichtung zu entgehen. Noch deutlicher als in der Geschichte des Shensheng tritt in der Biographie des Feng Can der Widerspruch zwischen dem schlechten Namen des Hochverräters und der Persönlichkeit hervor, die der Biograph seinem Protagonisten zuschreibt. Die kompromisslose Haltung des Feng Can wird auf seine Wertschätzung von Sittlichkeit und Rechtlichkeit (li yi 禮儀) sowie seine Aufrichtigkeit und Prinzipientreue (heng cao 恆操) zurückgeführt.110 Schon zu Beginn der Biographie betont Ban Gu 班固 (32–92 n. Chr.) seine würdevolle und ernsthafte Haltung (wei ren jin yan, hao xiu rongyi 為人矜嚴, 好修容儀) sowie sein respektvolles und aufrichtiges Verhalten bei Hofe ( jin tui xunxun 進退恂恂).111 Das heißt, 107 Zu dem Konflikt um die Nachfolge des kinderlosen Chengdi siehe Michael Loewe, The Former Han-Dynasty, in: Denis C. Twitchett/John K. Fairbank (edd.), The Cambridge History of China, Bd. 1: The Ch’in and Han Empires, 221 B.C. – A.D. 220, ed. Denis C. Twitchett/Michael Loewe, Cambridge 1986, 103–222, hier 213–218. 108 Siehe Hanshu 1962, juan 79, 3306. Vgl. Michael Loewe, A Biographical Dictionary of the Qin, Former Han and Xin Periods (221 BC – AD 24) (Handbuch der Orientalistik: Abt. 4, China: Bd. 16), Leiden 2000, 97. 109 Siehe Hanshu 1962, juan 79, 3307. Vgl. Hanshu 1962, juan 18, 709. 110 Siehe Hanshu 1962, juan 18, 709. 111 Siehe ebd., juan 79, 3306.
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Feng Can wird als Verkörperung zentraler konfuzianischer Werte, nicht zuletzt der Loyalität, geschildert und erscheint als das genaue Gegenteil dessen, was der ihm zugewiesene schlechte Name zum Ausdruck bringt. Diese Diskrepanz ist letztlich auf die Erzähltechnik des Historikers Ban Gu zurückzuführen: Den schlechten Namen, mit denen die Gegner des Feng Can diesen diskreditierten, setzt er gute Namen (shan ming 善名) entgegen und bringt damit sein Urteil über einen Thronfolgestreit zum Ausdruck. Was für eine Persönlichkeit Feng Can tatsächlich hatte, lässt sich hieraus nicht ableiten. Wohl aber wird auch in diesem Fall deutlich, dass schlechte wie auch gute Namen als Schlagwörter in innenpolitischen Auseinandersetzungen benutzt wurden. Die eindrucksvollste Verwendung dieses Propagandamittels findet sich in der Shiji-Biographie des Gongsun Yang 公孫鞅, des Fürsten von Shang 商 (gest. 338 v. Chr.). In diesem Falle stimmen die Ansichten der Zeitgenossen und des Historikers überein: Das Urteil des Sima Qian 司馬遷 (145–86 v. Chr.) über den Stammvater der Legisten ist eines der vernichtendsten in den Kapiteln mit ›Aufgereihten Überlieferungen‹ (liezhuan 列傳) des ›Shiji‹ und besteht im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung schlechter Namen. Der Geschichtsschreiber wirft dem Politiker unter anderem vor, von Natur aus grausam (ke 刻), rücksichtslos (bo 薄) und unaufrichtig (fu shuo 浮說) gewesen zu sein und illustriert seine gnadenlose Härte (shao en 少恩) in der holzschnittartigen Lebensbeschreibung, die der abschließenden Bewertung vorangeht, mit der Darstellung seiner Gesetzesreformen in Qin. Deshalb habe es sehr wohl seinen Grund gehabt, dass er »schließlich schlechte Namen in Qin erhalten habe«.112 Damit ist freilich die Glaubwürdigkeit von Sima Qians Darstellung in Frage gestellt. Mit seiner Biographie des Gongsun Yang bezieht der Historiker möglicherweise Stellung in einer innenpolitischen Debatte zwischen einer eher technokratisch legistisch und einer eher konfuzianisch ausgerichteten Faktion am Han-zeitlichen Kaiserhof. Seine zweifellos tendenziöse Darstellung von Gongsun Yangs Untergang liest sich folgendermaßen: Weil der Thronfolger seine Gesetze nicht befolgt habe, habe der Fürst von Shang zu Beginn seiner Laufbahn am Hofe von Qin dessen Lehrer verstümmeln und tätowieren lassen.113 Diese Tat soll ihm Jahrzehnte später zum Verhängnis geworden sein. Nach dem Tode seines Mentors, des Xiao-Patriarchen von Qin (Qin Xiao gong 秦孝公, reg. 361–338 v. Chr.), im Jahre 338 v. Chr. unterstellen ihm nämlich seine zahlreichen Gegner bei Hofe Umsturzpläne (yu fan 欲反), und der Thronfolger, der Huiwen-König von Qin, will ihn gefangen nehmen lassen.114 Nach einer abenteuerlichen Flucht wird Gongsun Yang bei einem erfolglosen Aufstand getötet und sein Leichnam auf 112 Siehe Shiji 1959, juan 68, 2237: 卒受惡名於秦, 有以也夫! 113 Siehe ebd., juan 68, 2231. 114 Siehe ebd., juan 68, 2236.
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Befehl des Huiwen-Königs von Streitwagen in Stücke gerissen.115 Der neue Herrscher statuiert damit eindeutig ein Exempel: »Der Hui-König von Qin ließ den Fürsten von Shang zur Abschreckung öffentlich von Streitwagen in Stücke reißen und sprach: ›Niemand rebelliere [ je wieder] wie Yang von Shang!‹ Anschließend löschte er die Familie des Fürsten von Shang aus.«116 Der schlechte Name ›Umstürzler‹ (fanzhe 反者) fungiert hier offenkundig als Agitationsinstrument im innenpolitischen Machtkampf, in der Auseinandersetzung zweier Faktionen am Hof von Qin. Die Zuweisung des schlechten Namens führt zu Vertreibung, Ermordung, zur öffentlichen Zerreißung des Opfers und zur Vernichtung seiner ganzen Familie. Alle Aspekte, die sich zuvor im Zusammenhang mit schlechten Namen herausarbeiten ließen, sind in dieser Überlieferung vertreten: der innenpolitische Konflikt als Auslöser der Namenszuweisung, die Vertreibung des Namensträgers und die Übertragung des Namens auf die gesamte Sippe. Neu sind nur die grausamen Konsequenzen der Namensverleihung: die öffentliche Schändung des Leichnams und die Auslöschung des gesamten Geschlechts. Zusammen mit diesen drakonischen Strafmaßnahmen dient der schlechte Name letztendlich der Abschreckung von Zeitgenossen und kommenden Generationen: Niemand soll jemals wieder eine solche Politik verfolgen wie Gongsun Yang, der weit über seinen Tod hinaus in der Überlieferung des Sima Qian zur Unperson stilisiert wird. Deshalb fürchten sich die Beherrschten vor schlechten Namen genauso wie vor schweren Strafen.117
III.
Schlechte Namen in den Darstellungen der vier Gewaltherrscher
Aber nicht nur das Volk lebte in Furcht und Schrecken vor schlechten Namen; gerade auch den Herrschern und Ministern im antiken China sollten die hier analysierten Beispiele Respekt einflößen. Die Warnung, die Sima Qian dem Huiwen-König von Qin in den Mund legt, ist wie auch die Geschichte von den ›vier bösen Sippen‹ (si xiong zu) letzten Endes an die intendierten Leser dieser Texte gerichtet. Somit werden schlechte Namen vom innenpolitischen Agitationsinstrument zum rhetorischen Mittel, mit dessen Hilfe die Adressaten antiker chinesischer Texte, Herrscher und ihre Minister, dazu überredet werden sollten, ihr Amt auf der Grundlage bestimmter moralischer Prinzipien zu führen.118 115 116 117 118
Siehe ebd., juan 68, 2236f. Siehe ebd., 2237: 秦惠王車裂商君以徇, 曰: »莫如商鞅反者!« 遂滅商君之家. Siehe die oben, Fußnote 53, zitierte Han-Feizi-Stelle (Han Feizi 1986, juan 18, 337). So heißt es in ›Mengzi‹ 3B9 entsprechend von den Annalen des Landes Lu, mit denen Konfuzius Herrscher und Minister durch bestimmte Wortwahl gelobt oder getadelt haben soll: »Konfuzius vollendete das ›Chunqiu‹, und die umstürzlerischen Minister und verbre-
Schlechte Namen, Leserlenkung und Herrscherkritik in antiken chinesischen Texten
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Das zeigt sich besonders deutlich in Darstellungen der vier sogenannten Gewaltherrscher Jie, Zhou, You und Li. Die Beschreibungen ihrer Herrschaft sind gänzlich von dieser Rhetorik bestimmt und dienen im Falle von Jie und Zhou als Negativ-Folien zur positiven Darstellung ihrer Nachfolger, angeblich weiser Herrscher wie Cheng Tang 成湯 oder Wu wang, die als Verkörperungen der propagierten moralischen Prinzipien fungieren. Dabei sollte die Vergabe von stereotypen schlechten Namen an die sogenannten Gewaltherrscher zunächst verschleiern, dass es sich bei ihrer Ablösung tatsächlich um Fälle von Usurpation handelte und dass ihre angeblich so tugendhaften Nachfolger nichts anderes als Umstürzler waren.119 So antwortet Meng zi auf die Frage des skeptischen XuanKönigs von Qi (Qi Xuan wang 齊宣王, reg. 319–301 v. Chr.), ob es angehe, dass ein Untertan seinen Fürsten ermorde, zur Vernichtung der Shang und ihres letzten Herrschers Zhou durch den Wu-König der Zhou, ihren früheren Gefolgsmann, folgendes: 賊仁者, 謂之賊. 賊義者, 謂之殘. 殘賊之人, 謂之一夫. 聞誅一夫紂矣. 未聞弒君也. Wer sich an Menschlichen vergeht, den heißt man Verbrecher. Wer sich an Rechtschaffenen vergeht, den heißt man Mörder. Einen mörderischen, verbrecherischen Menschen, den heißt man einen Ausgestoßenen.120 Ich habe davon gehört, dass [der cherischen Söhne bekamen es mit der Angst zu tun.« Siehe Mengzi 1986, juan 6, 271: 孔子成 春秋, 而亂臣賊子懼. Zur Lob-und-Tadel-Interpretation des ›Chunqiu‹ siehe Ulrich Unger, Das konfuzianische Weltgericht, in: Jahresschrift 1969 der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster, Münster 1969a, 64–77. Vgl. auch Shiji 1959, juan 127, 3219, wo es heißt, dass Reden über Verdienste und Vergehen von Königen der alten Zeit die zeitgenössischen Herrscher belehren, sie in Angst versetzen oder ihre Bewunderung erregen sollten. Im ›Zhuangzi‹, Kap. 29: ›Dao Zhi‹ 盜跖, erfahren wir, dass es sogar Sklaven oder Stallburschen beschämt hätte, wenn ihr Verhalten mit dem von Jie und Zhou verglichen worden wäre; siehe Zhuangzi 1986, 433. 119 Schon in der Zhanguo-Zeit entspann sich offenkundig eine heftige Debatte über die Usurpationsfrage. Der Standpunkt, dass Cheng Tang, der Gründer der Shang-Dynastie, und Wu wang, der Gründer der Zhou-Dynastie, den Thron unrechtmäßig okkupierten, ist unter anderem dokumentiert in: ›Zhuangzi‹, Kap. 28: ›Rang wang‹ (Zhuangzi 1986, 424) sowie Kap. 29: ›Dao Zhi‹ (Zhuangzi 1986, 429f.). (Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund und zu der grundlegenden Kritik des ›Zhuangzi‹ an den Prinzipien des Monarchismus siehe Pines 2009, 79f.) Ein umfänglicher und argumentativ umständlicher Versuch einer Widerlegung findet sich in ›Xunzi‹, Kap. 18: ›Zheng lun‹ (Xunzi 1986: juan 12, 215–218). Vgl. auch die Diskussion über die Legitimität der Dynastiewechsel zwischen den Gelehrten Yuan Gu 轅固 und Huang Sheng 黃生 am Hof des Jing-Kaisers der Han (Han Jingdi 漢景帝, d.i. Liu Qi 劉 啓, reg. 157–141 v. Chr.); siehe Shiji 1959, juan 121, 3122f.). In der Debatte besteht Huang Sheng darauf, dass Cheng Tang und Wu wang die Vergehen ihrer Vorgänger zum Vorwand genommen hätten, um den Thron zu usurpieren. Als Yuan Gu keck erwidert, dass dann auch die Legitimität des Wechsels von der Qin- zur Han-Dynastie in Frage gestellt sei, bricht der Kaiser die Diskussion ab. Vgl. Pines 2008, 22–24. 120 Vgl. die Parallele in ›Yi Zhou shu‹, Kap. 54: ›Shi fa‹ 諡法 (Yi Zhou shu 1965, juan 6, 23a), wo dem Namen des ›Gewaltherrschers‹ You die Bedeutung ›früh verwaist‹ (zao gu 蚤孤) zugeschrieben wird. Vgl. auch ›Xunzi‹, Kap. 15: ›Yi bing‹ 議兵 (Xunzi 1986, juan 10, 182) und
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Wu-König] den Ausgestoßenen Zhou hingerichtet hat. Ich habe nicht davon gehört, dass er einen Fürsten ermordet hat.121
Es wird ein vertrautes, in der Zhanguo-Zeit offenbar höchst produktives Schema erkennbar: Die Beschreibung des letzten Shang-Herrschers ist formelhaft und operiert mit Schlagwörtern, wie sie auch andere Zhanguo-zeitliche Texte verwenden. Offenbar dient die hier dokumentierte Geschichtsklitterung also noch weitergehenden Interessen. Die Rhetorik taucht nicht nur die politischen Umstürze in ein anderes Licht, sondern hat eine darüber hinaus weisende Methode, für deren Gebrauch sogar eine Anleitung überliefert ist. In dieser ›Gebrauchsanweisung‹ wird die Darstellung der vier Gewaltherrscher ausdrücklich als Beispiel für die Zuweisung von schlechten Namen verwendet. Im zweiten Teil der ›Mozi‹-Triade ›Der Wille des Himmels‹ (Tian zhi zhong 天志中) heißt es:122 夫憎人賊人, 反天之意, 得天之罰者誰也? 曰, 若昔者三代暴王桀紂幽厲者, 是也。桀 紂幽厲焉所從事? 曰, 從事別, 不從事兼. 別者, 處大國則攻小國, 處大家則亂小家, 強 劫弱, 眾暴寡, 詐謀愚, 貴傲賤. 觀其事, 上不利乎天, 中不利乎鬼, 下不利乎人. 三不 利無所利. 是謂天賊. 聚斂天下之醜名而加之焉. 曰, 此非仁也, 非義也, 憎人賊人, 反 天之意, 得天之罰者也. 不止此而已, 又書其事於竹帛, 鏤之金石, 琢之槃盂, 傳遺後 世子孫. 曰, 將何以為? 將以識夫憎人賊人, 反天之意, 得天之罰者也. Was nun die angeht, die andere Menschen verachten, die Verbrechen begehen an anderen Menschen, die sich gegen die Absicht des Himmels wenden und die Strafe des Himmels erhalten – wer sind sie? [Wir] sagen, die, die wie die Gewaltherrscher Jie, Zhou, You und Li einst zur Zeit der drei Dynastien sind – die sind es. Wofür haben Jie, Zhou, You und Li sich eingesetzt? [Wir] sagen, sie haben sich für Trennung eingesetzt, nicht für Vereinigung. Wenn es Trennung gibt, dann greifen die, die ein großes Land beKap. 18: ›Zheng lun‹ (Xunzi 1986, juan 12, 216), wo es heißt, dass die Hinrichtung von Gewaltherrschern wie Jie und Zhou wie die Hinrichtung von »alleinstehenden Männern« (du fu 獨夫) sei. Daher übersetze ich den Ausdruck yifu 一夫 an dieser Stelle nicht wie Pines 2008, 15 mit »ordinary fellow« bzw. »gemeiner Kerl«, sondern verstehe ihn als Bezeichnung für einen sozial – und damit auch rechtlich – Geächteten, d. h. wörtlich als »vereinzelten Kerl«. 121 Siehe ›Mengzi‹ 1B8 (Mengzi 1986, juan 2, 86). Vgl. aber den detaillierten Bericht über das Blutvergießen während des Feldzugs zur Jahreswende 1046 v. Chr. und vier Monate später bei der Siegesfeier im April 1045 im 40. Kapitel des ›Yi Zhou shu‹, das den sprechenden Titel ›Der große Beutezug‹ (›Shi fu‹ 世俘) trägt; siehe Yi Zhou shu 1965, juan 4, 9b–12b. Der Text, der in der Zhanguo-Periode unter dem Titel ›Wu cheng‹ 武成 bekannt war, aus den oben genannten politischen Gründen als Fälschung hingestellt wurde (siehe ›Mengzi‹ 7B3, in: Mengzi 1986, juan 14, 565) und bis vor wenigen Jahrzehnten als solche galt, ist von Edward L. Shaughnessy, ›New‹ Evidence on the Zhou Conquest, in: Ders. (ed.), Before Confucius. Studies in the Creation of the Chinese Classics, Albany 1997, 31–67, quellenkritisch untersucht und neu bewertet worden. 122 Siehe Mozi 1986, juan 7, 127f. Zu möglichen Hintergründen der Zusammenfassung von drei Kapiteln unter einem Titel siehe zusammenfassend Carine Defoort, A Translation of the Mozi, in: Monumenta Serica 59 (2011), 491–501, hier 494 sowie Schwermann 2011, 127f., Fußnote 514.
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herrschen, kleine Länder an, dann zerrütten die, die großen Familien vorstehen, kleine Familien, berauben die Starken die Schwachen, tut die Masse den Alleinstehenden Gewalt an, überlisten die Gerissenen die Einfältigen und verhalten sich die Vornehmen hochmütig gegenüber den Niederen. Wenn man sich ihre [das heißt, der Gewaltherrscher] Unternehmungen ansieht, so nutzten sie oben nicht dem Himmel, in der Mitte nicht den Geistern und unten nicht den Menschen. In diesen drei Bereichen keinen Nutzen zu haben bedeutet, niemanden zu haben, dem man nützt. Dies hießen [die Alten] Vergehen am Himmel. Sie sammelten die scheußlichen Namen unter dem Himmel und gaben sie ihnen [den Gewaltherrschern] bei.123 Sie sagten, der hier ist kein Menschlicher, kein Rechtschaffener, einer, der andere Menschen verachtet, an anderen Menschen Verbrechen begeht, der sich gegen die Absicht des Himmels wendet und die Strafe des Himmels erhält. Dabei blieben sie keineswegs stehen, sondern zeichneten außerdem ihre Unternehmungen auf Bambus und Seide auf, gruben sie in Bronze und Stein, schnitten sie in Gefäße ein und überlieferten sie späteren Generationen, Söhnen und Enkeln. [Wir] fragen, warum haben sie das so gemacht? Um sie so kenntlich zu machen, die, die andere Menschen verachten, die Verbrechen begehen an anderen Menschen, die sich gegen die Absicht des Himmels wenden und die Strafe des Himmels erhalten.
Was sich die hier offenkundig als Person gedachte Himmelsgottheit wünscht, ist nichts anderes als die »Rechtlichkeit« (yi 義), die den Gewaltherrschern (bao wang 暴王) abgesprochen wird.124 Deshalb gilt der Himmel auch als Quelle dieser Tugend.125 Während den Gewaltherrschern »scheußliche Namen« beigegeben werden, weil sie dem Willen des Himmels zuwidergehandelt haben, erhalten die weisen Könige (sheng wang 聖王) wie Yao 堯, Shun 舜, Yu 禹, Tang 湯, Wen 文 und Wu 武 die »schönen Namen unter dem Himmel« (tian xia zhi mei ming 天下 之美名), denn sie haben seinem Willen entsprochen. Diese »schönen Namen« sind die exakten Antonyme zu den oben aufgeführten scheußlichen, so dass es also von den »weisen Herrschern« heißt: »Der hier ist ein Menschlicher, ein Rechtschaffener, einer, der andere Menschen schont, der anderen Menschen nutzt, der der Absicht des Himmels folgt und die Belohnung des Himmels erhält.«126 Wieder gewinnt man den Eindruck, als seien die Darstellungen der guten wie der schlechten Herrscher stereotyp und die Epitheta einem begrenzten Formelschatz entnommen. Der Verdacht, dass es sich um eine formelhafte Sprache handelt, die nicht der historischen Wirklichkeit gerecht werden will – also auch nicht als historische 123 Der Ausdruck chou ming 醜名, ›scheußliche Namen‹, steht hier als Synonym für e ming, ›schlechte Namen‹. Meines Wissens ist dies die einzige Verwendung dieser Kollokation. 124 Vgl. die Parallelüberlieferung im ersten Teil der Triade, Kapitel ›Tian zhi shang‹ 天志上 (Mozi 1986, juan 7, 119): 天欲義而惡不義. 125 Siehe Kap. 27: ›Tian zhi zhong‹ (Mozi 1986, juan 7, 123): 然則義果自天出矣. 126 Siehe Mozi 1986, juan 7, 127: 此仁也, 義也, 愛人利人, 順天之意, 得天之賞者也. Zum mohistischen Schlüsselbegriff der ›Schonung‹ (ai 愛) siehe Schwermann 2011, 25f., Fußnote 105.
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Quelle zur Qualität der hier beschriebenen Herrscher herangezogen werden darf –, sondern propagandistische Interessen verrät und der Umsetzung eines bestimmten politischen Programms dienen soll, verstärkt sich, wenn man die anschließende Begründung für diese Form der Namengebung hinzuzieht. Hier heißt es, dass Mo zi die Vorstellung von der ›Absicht des Himmels‹ verwendet habe wie der Wagner seinen Zirkel oder der Tischler seinen Winkel: 故置此以為法, 立此以為儀. 將以量度天下之王公大人卿大夫之仁與不仁. 譬之, 猶 分黑白也. Deshalb hat er diese [die Absicht des Himmels] aufgestellt und sie zur Regel gemacht, diese errichtet und sie zur Messlatte gemacht. Er hat auf diese Weise Menschlichkeit und Unmenschlichkeit der Könige, Fürsten, Großen, Minister und Großwürdenträger unter dem Himmel messen wollen. Wenn man es vergleicht, ist es, als ob man Schwarz und Weiß voneinander schiede.127
Mit einem Wort: In diesen Texten geht es um Schwarzweißmalerei. Um ihre politischen Forderungen durchzusetzen, die auf dem Ideal der gegenseitigen Schonung in einer weitgehend hierarchielosen Gesellschaft fußten, konstruierten die Mohisten einen Gegensatz zwischen Gewaltherrschern, die auf der Grundlage hierarchischer Unterscheidungen regierten, und weisen Herrschern, die nach dem Prinzip der Gleichrangigkeit herrschten. Dieser utopischen Herrschaftsform, die auf ›allseitiger Schonung‹ ( jian ai 兼愛) basieren sollte, schrieben sie den größten Nutzen (li 利) für die Allgemeinheit zu. Sie bezeichneten sie als ›Rechtlichkeit‹ (yi 義) und erhoben sie zur ›Absicht des Himmels‹ (tian zhi yi 天 之意, tian zhi zhi 天之志) und gleichzeitig zur Messlatte (yi 儀) bei der Bewertung von Herrschern. Von einer bestimmten, fest definierten Gruppe von Herrschern behaupteten sie nun, sie hätten diese Norm nicht erfüllt, und charakterisierten sie durch ein begrenztes Inventar sogenannter scheußlicher Namen. Dabei betonten sie, diese seien über Generationen gesammelt und in Bronze und Stein, auf Bambus und Seide verewigt worden, damit die Taten der so Gezeichneten nicht in Vergessenheit gerieten. Bei diesem nicht unwichtigen Detail handelt es sich möglicherweise um eine Fiktion.128 Aber zum einen bestätigt der hier beschriebene Vorgang die Erkenntnis, die in der eingangs zitierten ›Lunyu‹-Stelle dem Zi Gong zugeschrieben wird: Wie das Wasser fließt alles, was für schlecht erachtet wird, dem zu, was
127 Siehe Mozi 1986, juan 7, 129. 128 In Anbetracht des erheblichen Aufwandes an Ressourcen scheint es recht unwahrscheinlich, dass Darstellungen verworfener Herrscher in Bronze gegossen wurden. Zumindest sind solche Inschriften meines Wissens nicht erhalten. Nach Ansicht von Edward L. Shaughnessy handelt es sich bei Bronzeinschriften um panegyrische Geschichtsschreibung, die nur der positiven Ereignisse gedachte, siehe Shaughnessy 1991, 175f.
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unten liegt und ohnehin schon als schlecht gilt.129 Im Laufe der alten chinesischen Geschichte akkumulierten sich die schlechten Namen, die bestimmten Figuren zugeschrieben wurden, so dass sich in verhältnismäßig späten, Han-zeitlichen Texten wie dem ›Shiji‹ Charakterisierungen finden, die nicht nur alle bis dahin angesammelten Epitheta wieder aufgreifen, sondern diese auch noch durch ›Tatenberichte‹ plastisch hervortreten lassen.130 Zum anderen illustriert das mohistische Vorgehen, in welcher Weise schlechte Namen als Mittel zur Leserlenkung dienten. Wie bereits oben bemerkt, sollten sie Herrschern und ihren Ministern, die diese Texte lasen, Respekt einflößen und sie dazu bewegen, bei ihrer Regierungstätigkeit bestimmte sozialpolitische Wertvorstellungen zu berücksichtigen. Durch die allgegenwärtigen Abrechnungen mit Figuren wie den individuellen Sippenahnen der ›vier bösen Sippen‹ (si xiong zu) oder den vier Gewaltherrschern sollten sie in Furcht davor gehalten werden, aufgrund eines bestimmten Vergehens ebenfalls für alle Zeiten als schlechte Herrscher gebrandmarkt zu werden. Diese Bedrohung gewinnt an Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass die Kennzeichnung der Gewaltherrscher im ›Mozi‹ nur als ein Beispiel für die Ver129 Siehe ›Lunyu‹ 19.20 (Lunyu 1986, juan 22, 407). 130 Siehe zum Beispiel die Beschreibung des letzten Shang-Herrschers Zhou in Shiji 1959, juan 3, 105. Die Darstellung gründet auf den Vorwürfen der Brutalität, Unbelehrbarkeit, Arroganz, moralischen Verkommenheit, Zügellosigkeit und Habgier – allesamt Topoi, die auch aus anderen Texten im Zusammenhang mit schlechten Namen bekannt sind. Die Maßlosigkeit des Herrschers wird unter anderem durch die Geschichte vom Fest in Shaqiu 沙丘 illustriert, wo er angeblich Teiche mit Schnaps füllte, Fleisch wie in einem Wald aufhängte, Männer und Frauen nackt darin einander jagen hieß und die ganze Nacht hindurch trank. Vgl. auch die Darstellungen des letzten Xia-Herrschers Jie und der Li- und You-Könige der Zhou. Während Sima Qian im ersten Fall die Kritik an Unfähigkeit, Egoismus und Habgier des Herrschers dem Usurpator Tang in den Mund legt – es handelt sich um eine Adaption des ›Shangshu‹-Kapitels ›Tang shi‹ (siehe Shiji 1959, juan 3, 95) –, dokumentiert er im zweiten Fall die stereotypen Vorwürfe der Habgier, Grausamkeit und Unfähigkeit, Kritik anzunehmen, indem er die Zurechtweisungen des Rui Liangfu 芮良夫 und des Shao gong 召公 in seine Darstellung einflicht, die von Li wang nicht beachtet werden (Shiji 1959, juan 4, 141f.). Im Fall des You-Königs schließlich konzentriert sich Sima Qian ganz auf die Darstellung der Beziehung des Königs zu seiner Konkubine Bao Si 褒姒 und illustriert so die Unfähigkeit des Herrschers, seine sinnliche Zügellosigkeit und seine Neigung, schlechten Ratgebern sein Ohr zu schenken. (Shiji 1959, juan 4, 145–149) Tatsächlich könnten es in diesem Falle die Einsetzung der Bao Si als Hauptfrau und die Absetzung der eigentlichen Hauptfrau und des Thronfolgers gewesen sein, die zum Sturz des Herrschers durch die erzürnten Angehörigen der Hauptfrau führten; siehe Kai Vogelsang, Mit den Waffen der Frauen … Alliancen und Mésalliancen in der Chun Qiu-Zeit, in: Dennis Schilling/Jianfei Kralle (edd.), Die Frau im alten China, Bild und Wirklichkeit: Studien zu den Quellen der Zhou- und Han-Zeit (Münchener Studien 77), Stuttgart 2001, hier 3–10, zum Thema ›Raubehen‹. Auch im Falle des letzten Herrschers der Shang könnte der eigentliche Stein des Anstoßes die Aufwertung einer geraubten Frau namens Da Ji 妲己 und die Zurücksetzung anderer Frauen gewesen sein; siehe Vogelsang 2001, 9 sowie Shiji 1959, juan 3, 105, wo es heißt, dass Zhou nur auf die Worte der Da Ji hörte.
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gabe von schlechten Namen verwendet wird. Tatsächlich handelt es sich bei der vorliegenden Passage, die als Frage-Antwort-Dialog aufgebaut ist, um eine Art von Anleitung zur Anwendung dieses Propagandamittels in Zeiten der Gewaltherrschaft generell. Die Mohisten rufen letztlich dazu auf, mit jedem schlechten Herrscher so zu verfahren wie mit Jie, Zhou, You und Li. So differenziert der dritte Teil der Triade ›Tian zhi xia‹ 天志下 nicht zwischen Gewaltherrschern und weisen Königen, sondern zwischen ›Regierung durch Rechtlichkeit‹ (yi zheng 義 正 [=政]) und ›Regierung durch Gewalt‹ (li zheng 力正 [=政]). Hier heißt es ausdrücklich, dass alle, die ihre Unternehmungen nach Art der ›Regierung durch Gewalt‹ regeln, schlechte Namen (e ming 惡名) erhalten sollen, und zwar die eines Räubers (kou 寇), eines Umstürzlers (luan 亂), eines Banditen (dao 盜), eines Verbrechers (zei 賊), eines Herrschers, der unmenschlich ist (bu ren 不仁), der nicht rechtschaffen ist (bu yi 不義), der illoyal (bu zhong 不忠), nicht gütig (bu hui 不惠), nicht um das Wohl der Beherrschten besorgt (bu ci 不慈) und pietätlos (bu xiao 不孝) ist.131 Das eigentlich Furchterregende an schlechten Namen scheint nun die Aussicht gewesen zu sein, dass man sie nie wieder würde ablegen können, dass sie selbst nach dem Tod der Namenträger in alle Ewigkeit auf unvergänglichen Materialien wie Bronze oder Stein überliefert würden.132 Diese Drohung mag dazu beigetragen haben, dass schlechte Namen als Abschreckungsmittel an Wirksamkeit gewannen, zumal sie in der Vergabe des kanonischen Namens (shi 諡) für einen Fürsten eine adäquate Ergänzung fanden. Denn auch diese Namen, die den Herrschern nach ihrem Tode auf Beschluss von Konsilien verliehen wurden und unter denen sie in der Geschichtsschreibung firmieren, implizieren Lob und Tadel und schreiben den Wert der betreffenden Personen für alle Zeiten fest.133 Dies verdeutlicht schon die Tatsache, dass Namen wie Jie und Zhou auch 131 Siehe Mozi 1986, juan 7, 133. 132 Zum hohen Stellenwert eines guten posthumen Namens siehe ›Lunyu‹ 15.19 (Lunyu 1986, juan 18, 342). Eine frühe Kritik an der anscheinend weitverbreiteten abergläubischen Scheu vor schlechten Namen – in diesem Falle Ortsnamen – findet sich im ›Lü shi chunqiu‹, juan 10: ›Meng dong ji‹ 孟冬紀, Kap. 4: ›Yi bao‹ 異寶 (Lü shi chunqiu 1984, Bd. 2, 551). 133 Siehe Unger 1969a, 69. Daher werden die sogenannten shi oder shihao 諡號 in der Sekundärliteratur auch als posthume Namen bezeichnet. Über die Namenswahl befand im frühen Kaiserreich nach dem Ableben des Monarchen ein Konsilium von Würdenträgern, deren Entscheidung im Rahmen einer Hofkonferenz wohl von einem mündigen Thronerben unter Umständen noch abgeändert werden konnte. Siehe Hans van Ess, The Origin of Posthumous Names in ›Shih-chi‹ 14, in: Chinese Literature: Essays, Articles, Reviews (CLEAR) 30 (2008), 133–144. Zum Ursprung posthumer Namen unter den frühen Westlichen Zhou 周 (1045–771 v. Chr.) siehe Du Yong 杜勇, Jinwen ›sheng cheng shi‹ xinjie 金 文»生称谥«新解 (A New Interpretation of the Use of Posthumous Titles for Living Western Zhou Kings As Seen in the Inscriptions on Ancient Bronze Objects), in: Lishi yanjiu 历史研 究 (Historical Research) 2002,3, 3–12, 190, der die ältere These von Guo Moruo 郭沫若 (1892–1978) widerlegt, die kanonischen Namen seien anfänglich schon zu Lebzeiten ihrer
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als genitivische Adjunkte stehen konnten wie etwa in der oben besprochenen ›Shiji‹-Stelle, wo es von dem Reich Shu heißt, es »befinde sich in Anarchie wie unter Jie und Zhou.« (you Jie Zhou zhi luan 有桀紂之亂).134 Wörtlich müsste man diese Wendung übersetzen: »Es hat die Anarchie von Jie und Zhou.« Auch im ›Han Feizi‹ bezeichnen die Namen Yao 堯 und Jie 桀 als partes pro toto gute und schlechte Herrschaft.135 Eine derartige Verwendung von Herrschernamen allgemein oder von kanonischen Namen im Besonderen dokumentiert, dass diese spätestens seit der ausgehenden Zhanguo-Zeit weit mehr als nur die Namenträger selbst bezeichneten, dass sie darüber hinaus für eine bestimmte Form hoch- oder minderwertiger Herrschaftsqualität standen.136 Genauere Informationen zu den weitergehenden Bedeutungen von kanonischen Namen finden sich in dem Text ›Shi fa‹ 諡法, ›Regeln [für die Vergabe] von kanonischen Namen‹, der als 54. Kapitel des ›Yi Zhou shu‹ überliefert ist. Im Prinzip handelt es sich um eine Liste dieser Namen mit Erläuterungen zu ihrem Gebrauch. Dabei wird zwischen ›großen Namen‹ (da ming 大名) für bedeutende Herrscher und ›kleinen Namen‹ (xi ming 細名), die an unbedeutende Herrscher vergeben werden sollen, unterschieden.137 Maßstab bei der Definition und Bewertung der Namen ist die Frage, inwieweit sich die Namenträger an bestimmten Wertvorstellungen orientieren. So heißt es etwa zu You, dem kanonischen Namen des letzten Herrschers der Westlichen Zhou: »Früh zu verwaisen und den Thron zu verlieren heißt You; verstockt und unzugänglich zu sein heißt You; die Opfer zu stören und die Regeln zu verwirren heißt You.«138 Eine noch schlechtere Bewertung erfährt der Name des Li-Königs: »Die Unschuldigen zu morden und [ihre Leichname] öffentlich zur Schau zu stellen heißt Li.«139 Auch die Namen der beiden anderen Gewaltherrscher, der letzten Könige der Xia- und Shang-Dynastien, Jie und Zhou, sollen angeblich auf diese Weise den
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Träger verliehen worden. Zu einer detaillierten Analyse der Vergabe kanonischer Namen an hohe Würdenträger der Chunqiu- und Zhanguo-Zeit siehe Dong Changbao 董常保, Chunqiu Zuozhuan shihao yanjiu 春秋左傳諡號研究 (Studien zu den kanonischen Namen in ›Chunqiu‹ und ›Zuozhuan‹), Chengdu 2013. Eine illustrative Anekdote zur Vergabe eines kanonischen Namens findet sich in ›Zhuangzi‹, Kap. 25: ›Zeyang‹ 則陽 (Zhuangzi 1986, 391f.). Siehe Shiji 1959, juan 70, 2283. Siehe ›Han Feizi‹, Kap. 15: ›Wang zheng‹ 亡徵 (Han Feizi 1986, juan 5, 81). An einer vorangehenden Stelle hat das Wort jie als Antonym von ruo 弱 die Bedeutung ›stark‹, vielleicht mit der Konnotation der Gewalttätigkeit. Siehe Han Feizi 1986, juan 5, 80. Dass auch ›gewöhnliche‹ Personennamen im alten China mitunter moralische Qualität oder körperliche Eigenschaften der Namenträger bezeichnen, illustriert Paul R. Goldin, Personal Names in Early China. A Research Note, in: Journal of the American Oriental Society 120 (2000), 77–81, an einer Reihe von Beispielen. Siehe auch Schwermann 2011, 104f. Siehe Yi Zhou shu 1965, juan 6, 17b. Siehe ebd., juan 6, 23a: 蚤孤鋪位曰幽, 壅遏不通曰幽, 動祭亂常曰幽. Vgl. Fußnote 120. Siehe ebd., juan 6, 23b: 殺戮無辜曰厲.
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Unwert ihrer Träger zum Ausdruck bringen. So behauptet etwa Pei Yin 裴駰 (5. Jahrhundert n. Chr.) in seinem Kommentar zum ›Shiji‹, dass der Name Zhou 紂 im ›Shi-fa‹-Kapitel des ›Yi Zhou shu‹ folgendermaßen erklärt sei: »Das rechte Verhalten zu zerstören und das Gute zu versehren heißt Zhou«.140 In der heute überlieferten Form enthält der Text diese Glosse allerdings nicht, und auch die Wortwahl lässt darauf schließen, dass es sich um eine spätere Fälschung nach dem Muster der ›Shi-fa‹-Erläuterungen handelt. Verdächtig erscheint zudem, dass Pei Yins Erklärung des Namens Zhou schon in dem Han-zeitlichen Kommentar des Gao You 高誘 (168–212) zur Enzyklopädie ›Lü shi chunqiu‹ eingesetzt wird, in diesem Fall allerdings in Bezug auf den Namen des ersten Gewaltherrschers Jie 桀.141 Bereits Liang Yusheng 梁玉繩 (1745–1819) bezweifelte, dass es sich bei dem Namen Zhou 紂 überhaupt um den kanonischen Namen des letzten ShangHerrschers handelt, der eigentlich Xin 辛 hieß,142 und hielt 紂 für eine Verschreibung seines »guten Namens« ( jia ming 嘉名) Shou 受.143 Tatsächlich könnte Zhou ein Schimpfname sein, der auf ein spät-Zhanguo-zeitliches Wortspiel mit den damals möglicherweise gleichlautenden Wörtern shou 受, AC *d(h)ú, und zhou 紂, AC *d(h)ú, ›Schweifriemen (des Pferdegeschirrs)‹, zurückgeht.144 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die semantische Parallele zwischen zhou, ›Schweifriemen‹, und jie, ›Hühnerstange‹ – in beiden Fällen handelt es sich um Bezeichnungen für Gegenstände, auf denen Tiere ihren Kot hinterlassen –, frappierend erscheint. Weitgehend gesichert ist hingegen, dass die Erklärungen des Gao You und des Pei Yin zu den Namen Jie und Zhou lediglich spät-Han-zeitliche Prägungen nach 140 Siehe Pei Yin, ›Shiji jijie‹, in Takigawa 1956, juan 3, 26: 殘義損善曰紂. 141 Siehe den Kommentar des Gao You zu einer Stelle in ›Lü shi chunqiu‹, juan 2, ›Zhong chun ji‹ 仲春紀, Kap. 5: ›Gong ming‹ 功名 (Lü shi chunqiu 1965, juan 2, 11b): 殘義損善曰桀. Zu dem Namen Zhou erklärt Gao You: »Menschlichkeit zu erniedrigen und Not zu vermehren heißt Zhou.« Siehe Lü shi chunqiu 1965, juan 2, 11b: 賤仁多累曰紂. Das Wort jie 桀 wird im ›Shijing‹ in der Bedeutung ›Hühnerstange‹ verwendet, siehe das Lied ›Junzi yu yi‹ 君子于役 (Mao 66), in: Mao Shi 1965, juan 4a, 4b. Da der Name des letzten Xia-Herrschers eigentlich Lü Gui 履癸 lautete (Shiji 1959, juan 2, 88) und das Wort jie einen Gegenstand bezeichnet, auf dem Tiere ihren Kot hinterlassen, könnte es sich bei Jie um einen später geprägten Schimpfnamen handeln. 142 Siehe Shiji 1959, juan 3, 105. 143 Siehe Takigawa 1956, juan 3, 26. Laut Shuowen jiezi 說文解字 (Erklärung einfacher und Analyse zusammengesetzter Schriftzeichen), in: Wang Ping 王平/Zang Kehe 臧克和 (edd.), Shuowen jiezi xinding 說文解字新訂, Peking 2002, 871, bezeichnet das Wort zhou 紂 eigentlich den Schweifriemen (maqiu 馬緧) des Pferdegeschirrs. 144 Siehe Christian Schwermann, Feigned Madness, Self-Preservation, and Covert Censure in Early China, in: Marc Hermann/Christian Schwermann (edd.), Zurück zur Freude. Studien zur chinesischen Literatur und Lebenswelt und ihrer Rezeption in Ost und West. Festschrift für Wolfgang Kubin (Monumenta Serica Monograph Series 57), Nettetal/Sankt Augustin 2007, 531–572, hier 551, Fußnote 82.
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dem Muster des ›Shi-fa‹-Kanons darstellen. Aber auch der Kanon selbst ist erst relativ späten Datums und stammt vermutlich aus der Zhanguo-Zeit.145 Wieder ist es Ausdruck der Suche nach historischer Legitimierung, wenn der unbekannte Autor die Schöpfung der kanonischen Namen Zhou gong Dan und Tai gong Wang 太公望 zuschreibt, die Wu wang bei der Gründung der Zhou-Dynastie auch in anderen Angelegenheiten tatkräftig zur Seite gestanden haben sollen. Reine Spekulation ist auch die Erklärung zu Beginn des Textes, die kanonischen Namen seien »die Spuren des Wandels« von Herrschern.146 Tatsächlich sagten die Namen You 幽 und Li 厲 ursprünglich vermutlich gar nichts über das Wesen der Namenträger aus. Der kanonische Name Li wird in Zhou-zeitlichen Bronzeninschriften 剌 geschrieben, die korrekte Lesung wäre vielleicht lie, und dabei muss es sich nicht um einen Schimpfnamen handeln.147 Auch die Assoziation des Namens You 幽 mit der Bedeutung ›schwarz‹ des homographen Worts you könnte nach Ansicht von Ulrich Unger mit dem Element nie 涅, ›schwarz‹, im Rufnamen des Königs in Zusammenhang gebracht werden: »Vielleicht wies der Mann bei seiner Geburt ein Muttermal auf ? Man sieht, der ominöse Name wäre vielleicht auch ganz harmlos zu erklären.«148
145 Siehe die Datierung von Edward L. Shaughnessy, I Chou shu 逸周書 (Chou shu), in: Michael Loewe (ed.), Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide (Early China Special Monograph Series 2), Berkeley 1993, 229–233, hier 229f. 146 Siehe Yi Zhou shu 1965, juan 6, 17b: 諡者行之迹也. 147 Information von Ulrich Unger in einem Brief vom 27. August 2001. Als Lesung komme lie in Frage, weil das Attribut lie 烈 ›wacker‹, das in Stiftungsformeln oft im Zusammenhang mit der Ahnenbezeichnung verwendet werde, auch 剌 geschrieben werde. Zu 剌 als Schreibung für 厲 siehe auch Gu 1990, Bd. 5, Teil 2, 3878. Zu sprechenden Rufnamen, die zum Beispiel auf die angebliche Dummheit oder Unwissenheit ihrer Träger anspielen und vordergründig pejorativ wirken, tatsächlich aber positiv konnotiert gewesen sein dürften, siehe Schwermann 2011, 104f. 148 Brief Ulrich Ungers vom 27. August 2001. Zu dem Namen You vgl. auch die früheren Ausführungen des Autors in Ulrich Unger, Aspekte der Schrifterfindung. Das Beispiel China, in: Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg (ed.), Frühe Schriftzeugnisse der Menschheit. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 9. und 10. Oktober 1969, Göttingen 1969b, 11–38, hier 37. Zu Regeln und Kriterien der Namenvergabe in der Zhou-Zeit, insbesondere auch zur Interpretation von körperlichen Merkmalen Neugeborener als Namenindikatoren, siehe Olivia Milburn, The Five Types of Name. A New Methodology for Interpreting Zhou Dynasty Naming Practices, in: Hanxue yanjiu 漢學研究 24,2 (2006), 397– 423.
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Dies alles deutet darauf hin, dass die Deutung der kanonischen Namen als gute oder schlechte eine Entwicklung der Zhanguo-, vielleicht auch schon der Chunqiu-Periode ist.149 Die Tatsache, dass für die gleiche Zeit das Aufkommen schlechter Namen dokumentiert ist, die als Propagandainstrumente in innenpolitischen Konflikten dienten, lässt vermuten, dass diese beiden Erscheinungen in einem engen Zusammenhang stehen. Die spekulative Analyse der Schriftzeichen war keineswegs Selbstzweck; ihre Deutung als »Wesenssymbole«150 nach dem Prinzip, dieses Zeichen bringe folgende Qualitäten, jenes aber folgende Defizite zum Ausdruck, war von einem ähnlichen politischen Motiv geleitet wie die Androhung, einen Herrscher mit einem schlechten Namen zu brandmarken. Da sich in der Chunqiu-Zeit die Fürsten immer stärker vom Königshaus emanzipierten, welches am Ende nur noch dem Namen nach bestand, und ihnen durch Innovationen in Landwirtschaft und Kriegstechnik eine enorme Machtfülle zuwuchs, bedurfte es neuer Kontrollinstrumente, um die nach Auflösung der alten Ordnung ständig im Krieg miteinander liegenden Parteien zur Räson zu bringen. Nachdem die Errichtung von Hegemonien (ba 霸) und der Abschluss von Allianzen keine dauerhafte Beruhigung gebracht hatten, drohte ganzen Regionen, die durch die permanente Aufrüstungspolitik vermutlich völlig erschöpft waren, der wirtschaftliche Kollaps. Die großflächige Verelendung war sicherlich einer der Gründe, warum es Qin als dem stärksten Überlebenden der jahrhundertelangen Vernichtungskriege am Ende recht leichtfiel, ›Alles unter dem Himmel‹ (tianxia 天下), d. h. die damals bekannte Welt, zu einigen. Das soziale und wirtschaftliche Chaos hinterließ zugleich bei Politikern und politischen Denkern einen so nachhaltigen Eindruck, dass sie nicht nur immer vehementer die politische Einigung der chinesischen Welt propagierten, sondern auch auf Druckmittel sannen, um die Herrscher der Zhanguo-Zeit zu bewegen, ihr Amt aufgrund bestimmter ethischer Prinzipien zu führen. Eines davon waren schlechte Namen für schlechte Herrscher, ob nun in Gestalt formelhafter Epitheta oder kanonischer Namen. Zwar belegen die Quellen eindeutig, dass dieses Propagandainstrument auch im innen- oder außenpolitischen Ränkespiel eingesetzt wurde. Am Ende scheint der Missbrauch sogar in gewisser Weise institutionalisiert gewesen zu sein, so dass die Vergabe eines 149 In einer ›Zuozhuan‹-Eintragung für das Jahr 715 v. Chr. findet sich die Bitte um postume Vergabe eines kanonischen Namens (shi), siehe ›Zuozhuan‹, Yin gong, 8.9 (Chunqiu Zuozhuan 1981, Bd. 1, 60). Hier ist allerdings wiederum zu beachten, dass der Text wahrscheinlich erst drei bis vier Jahrhunderte später kompiliert wurde. Inwieweit hierbei eine ältere mündliche oder auch schriftliche Überlieferung berücksichtigt wurde, wie Schaberg 1996, 13–40, Ders. 2001, 315–324, und Pines 2002a, 7, 14–26, meinen, ist unklar. 150 Den Begriff übernehme ich von Unger 1969b, 37.
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schlechten Namens zur Voraussetzung für die Vertreibung oder Ausschaltung eines politischen Gegenspielers avancierte. Deutlich erkennbar ist aber auch der Anspruch, Herrscher, die dem Gemeinwohl schadeten, auf diesem Wege auf einen anderen politischen Kurs zu zwingen. Dabei war den politischen Beratern fast jedes Mittel recht. Sie erfanden zum Beispiel die chinesische Frühgeschichte, nämlich die Geschichte, dass die ersten drei Dynastien fielen aufgrund der Dekadenz ihrer Herrscher, von denen die Schlimmsten, nämlich die Letzten, für ihre Verworfenheit gestraft wurden von ihren tugendhaften Nachfolgern, den Gründern der nächsten Dynastie. Im Hinblick auf den tatsächlichen Hergang der frühen chinesischen Geschichte ist der Wert dieser Quellen daher denkbar gering; für die Zhanguo-Zeit hingegen, aus der sie stammen, besitzen sie eine hohe Aussagekraft. Sie demonstrieren nicht zuletzt, dass Schriften zu dieser Zeit vorwiegend dazu dienten, Herrschaft zu konzipieren, auszuüben und zu sichern, diese aber auch zu kritisieren und zu optimieren.151 Freilich handelt es sich zumeist um sogenannte interne Kritik, die die Wirklichkeit an verschüttet geglaubten Idealen misst, lediglich die Wiederherstellung einer verlorenen Ordnung anstrebt und nicht deren überlieferte Normen in Frage stellt, um das Bestehende grundlegend zu transformieren.152 151 Selbst dort, wo in antiken chinesischen Texten Ansätze zur Emanzipation von der politischen Sphäre zu erkennen sind, steht die Sprache doch immer noch sichtlich im Schatten ihrer altherbrachten Funktion als Herrschaftsinstrument. So findet sich etwa im siebten Kapitel ›Yang Zhu‹ 楊朱 des spätantiken Textes ›Liezi‹ 列子 eine Passage, die die traditionelle Bewertung der Gewaltherrscher Jie und Zhou radikal umkehrt und die ›Zwei Bösewichter‹ (er xiong 二凶) im Gegensatz zu den sogenannten ›Vier Weisen‹ (si sheng 四聖) Shun, Yu, Zhou gong Dan und Kong zi als die glücklichsten, unbeschwertesten Menschen unter dem Himmel darstellt. Zweifellos handelt es sich um eine ironische Kontrafaktur der Einteilung in Gut und Schlecht, auch um einen Angriff auf das gängige Prinzip der Leserlenkung, aber der Text steht letztlich immer noch unter dem Diktat des traditionellen Sprachgebrauchs. Siehe Liezi 列子 (Meister Lie), in: Yang Bojun 楊伯峻 (ed.), Liezi jishi 列 子集釋, Peking 1985 (ND der 2., verbesserten Auflage von 1979), juan 7, 231–233. 152 Siehe Rahel Jaeggi, Was ist Ideologiekritik?, in: Dies./Tilo Wesche (edd.), Was ist Kritik?, Frankfurt am Main 2009, 266–295, hier 285f., zum Begriff der internen im Gegensatz zur externen bzw. immanenten Kritik. Vgl. Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, 261, zur internen im Unterschied zur externen Kritik: »Wie verfährt eine intern ansetzende im Gegensatz zur externen Kritik? Die allgemeinste Erklärung lautet: Der ›Maßstab der Kritik‹ liegt in diesen Fällen nicht außerhalb des kritisierten Sachverhalts oder Gegenstands, sondern in ihm selbst. Im Gegensatz dazu verfährt externe Kritik so, dass sie eine bestehende Situation an Ansprüchen misst, die über die in dieser angelegten Prinzipien hinausgehen, oder sie im Ganzen in Frage stellt. Von den verschiedenen Varianten externer Kritik werden also Kriterien geltend gemacht, die an die Normen und Praktiken einer gegebenen sozialen Formation von außen herangetragen werden. Die Ansprüche, an denen eine bestehende Situation gemessen wird, gehen über die in ihr geltenden Prinzipien hinaus oder teilen diese nicht.« Daher basiere die Strategie interner Kritik auf der Prämisse, dass »bestimmte Ideale und Normen zwar zum Selbstverständnis einer bestimmten Gemeinschaft gehören, de facto
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in dieser aber nicht verwirklicht werden. Die ›Wirklichkeit‹ bestimmter Praktiken und Institutionen wird dann an diesen in ihr bereits enthaltenen, aber nicht realisierten Idealen gemessen.« (ebd., 263)
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Matthias Becher
Die Nachbenennung bei den frühen Karolingern. Familiäres Selbstverständnis versus politische Opportunität
Abstract Regarding the importance of names as a historical source for the early Middle Ages studying the naming practices of the Carolingian family is especially interesting. Karl Ferdinand Werner’s statistical observations concerning the frequent occurrence of names like Charles and Pippin was the basis for assuming a strict and rule based structure and tradition of Carolingian naming depending on matrimonial legitimacy and the naming after predecessors in kingship. But in the early Carolingian family history a number of contradicting examples arise which lead to the question how the known set of names developed and if changes in the tradition over time can be detected. Beginning with the early ancestors Arnulf and Pippin one can assume clearer patterns only as recently as the birth of Charles Martell’s sons. Claims to royal power played a role in these cases explicitly while the question of matrimonial legitimacy was widely disregarded. Moving forward, concerning the naming of Charlemagne’s sons two basic motivations can be deduced: to demonstrate the claim to rule by using royal predecessor’s names on the one hand and to react to short-term political situations on the other hand. Trends deduced by earlier research like the question of a child’s legitimacy and the naming after the direct and close royal ancestors cannot be taken as evidence for the existence of a distinct set of rules or certain pools of names reserved for special categories of descendants as analysis shows. The naming was rather often the result of opportunistic decisions based on current political necessities. Patterns evolved much less programmatically – as one could assume – over time to what is now regarded as Carolingian naming tradition.
Namen bilden gerade für die quellenarme Zeit des Frühmittelalters eine wichtige Quellengruppe.1 Zudem gilt die Namengebung für die eigenen Kinder der For-
1 Dieter Geuenich, Personennamengebung und Personennamengebrauch im Frühmittelalter, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer Grundwissenschaftliche Forschungen 3 = Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 31–46.
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schung als ein äußerst wichtiges Zeugnis für das Selbstverständnis einer Familie.2 Verantwortlich für die Wahl des Namens waren die Eltern und Verwandten eines Kindes, wobei dem Vater sicherlich die entscheidende Stimme zukam. Otfrid von Weißenburg beschreibt in seinem Evangelienbuch die Art und Weise, wie Johannes der Täufer seinen Namen erhalten haben soll, und geht dabei wohl von der Praxis seiner eigenen Zeit aus: Demnach votierten die Verwandten für den Namen des Vaters, die Mutter für Johannes, und am Ende gab der Vater den Ausschlag.3 Die Nachbenennung nach den zum Zeitpunkt der Namengebung zumeist verstorbenen Vorfahren war dabei eine beliebte Option gerade auch in Herrscherfamilien.4 Freilich war dies bei den Merowingern als erster Dynastie des Frankenreiches noch nicht der Fall: In der Gründungsphase des Reiches unter Chlodwig und seinen Söhnen herrschte noch die Namensvariation vor, ergänzt um gelegentliche Nachbenennungen. Deren Bezugspunkte waren allerdings nicht nur Ahnen, sondern auch Seitenverwandte. Namen transportierten dann in aller Regel auch politische Ansprüche.5 2 Dieter Geuenich, Personennamen, -forschung, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), 1903– 1905; Ders., Personennamen und Personen- und Sozialgeschichte des Mittelalters, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1719–1722; Dieter Geuenich, Personennamen und die frühmittelalterliche Familie, Sippe, Dynastie, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1723–1725; Jörg Jarnut, Selbstverständnis von Personen im Lichte frühmittelalterlicher Personennamen, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer Grundwissenschaftliche Forschungen 3 = Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 47–65 (ND in: Jörg Jarnut, Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, ed. Matthias Becher, Münster 2002, 355–373). 3 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, ed. Ludwig Wolff (Altdeutsche Textbibliothek 49), 6. Auflage, Tübingen 1973, I, 9, 5–26, 26f.; ed. Wolfgang Kleiber/Ernst Hellgardt, Bd. 1: Edition nach dem Wiener Codex 2687, Teilbd. 1, Tübingen 2004, 21v–22r; vgl. Jarnut 2002, 365f.; zur Orientierung Otfrids an der Adelsgesellschaft seiner Zeit vgl. Jens Schneider, Auf der Suche nach dem verlorenen Reich. Lotharingien im 9. und 10. Jahrhundert (Publications du CLUDEM 30), Köln et al. 2010, 310–342. 4 Hans-Walter Klewitz, Namengebung und Sippenbewußtsein in den deutschen Königsfamilien des 10. bis 12. Jahrhunderts. Grundfragen historischer Genealogie, in: Archiv für Urkundenforschung 18 (1944), 23–37 (ND in: Ders., Ausgewählte Aufsätze zur Kirchen- und Geistesgeschichte des Mittelalters, ed. Gerd Tellenbach, Aalen 1971, 89–103); Michael Mitterauer, Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters, in: Ferdinand Seibt (ed.), Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, Bd. 1, München 1988, 386–399 (ND in: Michael Mitterauer, Traditionen der Namengebung. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet, Wien/Köln/Weimar 2011, 73–90); Ders., Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993, 308–315. 5 Vgl. Eugen Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus. Mit genealogischen Karten und Notizen, in: Francia 18 (1991), 21–69 (ND in: Ders., Spätantikes und Fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften [1974–2007], ed. Matthias Becher/Theo Kölzer/Ulrich Nonn [Beihefte der Francia 3/3], Bd. 3, Ostfildern
Die Nachbenennung bei den frühen Karolingern
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Unter den Karolingern dominierte hingegen sehr deutlich die Tendenz zur Nachbenennung, wobei Vorbilder nicht nur die Namen der Vorfahren, sondern deutlich auch die der Vorgänger im Königsamt gewesen sind. Daraus lasse sich, so die Forschung, eine schon fast regelhafte Namengebungspraxis der Karolinger seit ihrem Aufstieg zur Königswürde 751 ableiten: Die Namen früherer Könige seien legitimen und damit nachfolgeberechtigten Königssöhnen vorbehalten gewesen.6 In der Tat ist der statistische Befund beeindruckend, auf den Karl Ferdinand Werner hingewiesen hat: Von 41 Fällen »wurde zwölfmal der Name Ludwig, zehnmal Karl, je fünfmal Lothar und Karlmann, viermal Pippin, je einmal Drogo und Bernhard gegeben […].«7 Uneheliche und daher bei der Thronfolge benachteiligte Söhne seien dagegen nach Angehörigen des karolingischen Hauses benannt worden, die nicht zur Königwürde aufgestiegen waren, wie Arnulf, Drogo oder Hugo. Gegen dieses geschlossene und eingängige Bild können jedoch auch gewichtige Einwände formuliert werden. Zum einen waren die Grenzen zwischen ehelichen und unehelichen Verbindungen in der Karolingerzeit längst nicht so streng gezogen, wie dies die Forschung lange Zeit angenommen hat.8 Es gab fließende Übergänge, und die Anerkennung einer Frau als legitime Herrschergemahlin hing von vielen Faktoren wie ihren politischen Verbindungen, aber etwa auch der Existenz männlicher Nachkommen ab. Entsprechend vielfältig gestaltet sich das Bild von den »Chancen und Schicksale(n) ›unehelicher‹ Karolinger 9. Jahrhundert«.9 Zum anderen war die Namengebung der Karolinger
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2009, 163–211); Matthias Becher, Die Nachbenennung bei den Merowingern zwischen familiärem Selbstverständnis und politischer Instrumentalisierung, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 43–57. Karl Ferdinand Werner, Die Nachkommen Karls des Großen (1.–8. Generation), in: Wolfgang Braunfels/Percy Ernst Schramm (edd.), Das Nachleben (Wolfgang Braunfels [ed.], Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 4), Düsseldorf 1967, 403–482, hier 417–422; Peter Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 36), Bd. 3, Göttingen 1972, 109–134 (ND in: Ders., Ausgewählte Aufsätze [Vorträge und Forschungen 28], ed. Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1983, 205– 229, hier 209f.). Werner 1967, 418. Vgl. Andrea Esmyol, Geliebte oder Ehefrau. Konkubinen im frühen Mittelalter (Archiv für Kulturgeschichte, Beihefte 52), Wien/Köln/Weimar 2002; Ines Weber, Ein Gesetz für Männer und Frauen. Die frühmittelalterliche Ehe zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur, 2 Bde. (Mittelalter-Forschungen 24), Ostfildern 2008; allgemeiner dazu vgl. auch Martina Hartmann, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009. Brigitte Kasten, Chancen und Schicksale »unehelicher« Karolinger im 9. Jahrhundert, in: Franz Fuchs/Peter Schmid (edd.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte. Beiheft. Reihe B 19), München 2002, 17–52; vgl. auch Zbigniew Dalewski, Patterns of Dynastic Identity in the Early Middle Ages, in: Acta Poloniae Historica 107 (2013), 5–43, hier 10–12; Sara McDougall, Royal Bastards, The Birth of Illegitimacy c.800–c.1230, Oxford 2017, 66–93.
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nicht ganz so regelhaft, wie von Werner angenommen. Es gibt einige mehr oder weniger bekannte Beispiele dafür, dass sich der Name weder nach der Legitimität oder Illegitimität der Geburt richtete noch den Status einer Person ein für allemal festlegte. Schon Peter Classen verwies auf Bernhard, den um 797 geborenen (illegitimen?) Sohn Pippins von Italien, der anscheinend trotz seines unköniglichen Namens als nachfolgeberichtigt galt; jedenfalls wurde er von seinem Großvater Karl dem Großen 813 zum König von Italien bestimmt.10 Daher sei die konsequente Unterscheidung von königlichen und anderen Namen erst ab der zweiten Hälfte der Herrschaftszeit Karls anzusetzen. Doch nannte Kaiser Lothar I. den Sohn einer Konkubine Karlmann, von dem wir allerdings kaum etwas wissen.11 Karl der Kahle gab seinen Zwillingssöhnen aus seiner Verbindung mit seiner ersten Gemahlin Ermentrud die Namen Pippin und Drogo.12 Und Arnulf von Kärnten wurde zumindest von seinem eigenen Vater Karlmann von Bayern als möglicher Nachfolger angesehen, was an seiner illegitimen Geburt zweifeln lässt. Doch wurde Karlmann von seinem Bruder Ludwig dem Jüngeren gezwungen, die Herrschaft in Bayern an diesen abzutreten, und spätestens ab da galt Arnulf wohl als illegitim.13 Die Namengebungspraxis der Karolinger war also flexibler, als es der statistische Befund Werners auf den ersten Blick nahelegt. Doch die Fragen nach der Entstehung dieser Praxis, nach Veränderungen und individuelle Entscheidungen sind dabei unberücksichtigt geblieben. So stellt sich zunächst die Frage, wie es zu dieser Konzentration auf einen bestimmten Namensbestand gekommen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass das Aufkommen dieser Praxis eng mit dem Aufstieg der Familie zur Königswürde verbunden ist, da die Namengebung der frühen Karolinger noch anderen Kriterien folgte. Damit reagierten die Karolinger auf die 10 Classen 1983, 209 Anm. 28; zu Bernhard vgl. auch Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (Monumenta Germaniae Historica Schriften 44), Hannover 1997, 161–165; sowie unten, 142–144. 11 Zu ihm vgl. Maria Schäpers, Lothar I. (795–855) und das Frankenreich (Rheinisches Archiv 159), Köln 2018, 574f. mit Anm. 976; auf Grund seines Namens wurde eine eheliche Abkunft Karlmanns postuliert, so zuletzt Bernd Isphording, Prüm. Studien zur Geschichte der Abtei von ihrer Gründung bis zum Tod Kaiser Lothars I. (721–855) (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte), Mainz 2005, 351. 12 Vgl. Jane Hyam, Ermentrude and Richildis, in: Margaret Gibson/Janet Nelson (edd.), Charles the Bald, Court and Kingdom, London 1981, 154–168, 156 mit Anm. 36 und 167; Janet Nelson, Charles the Bald, London 1992, 310f.; Franz-Rainer Erkens, Sicut Esther regina. Die westfränkische Königin als consors regni, in: Francia 20 (1993), 15–38, hier 28; Hartmann 2009, 117f.; anders noch Werner 1967, 454, der Karls zweite Gemahlin Richildis für seine Mutter hält. 13 Matthias Becher, Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 665–682.
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Notwendigkeit, die neue Dynastie zu legitimieren und ihre Exklusivität zu betonen. Dies hat die Forschung bislang aus der Namengebungspraxis der karolingischen Könige insgesamt erschlossen, ohne auf mögliche Veränderungen oder Nuancierungen zu achten. Daher ist im Folgenden auch zu fragen, ob diese Namengebungspraxis während der Etablierung der neuen Dynastie tatsächlich so streng und unveränderlich gewesen ist, wie dies von der Forschung angenommen wird, oder ob die bei der Namengebung jeweils aktuellen Anforderungen und Herausforderungen stärker zu berücksichtigen sind. Am Beginn der Familie stehen die beiden Stammväter Arnulf und Pippin, auch wenn jüngst versucht wurde, noch ältere Vorfahren zu identifizieren.14 Die Verbindung ihrer Familie wurde über die Ehe von Arnulfs Sohn Ansegisel und Pippins Tochter Begga hergestellt. Ansegisel ist als domesticus bezeugt, mehr ist über ihn nicht bekannt.15 Ein weiterer Sohn Arnulfs hieß Chlodulf, der bis zu seinem Tod kurz nach 670 als Bischof von Metz amtierte und einen Sohn namens Aunulf hatte. Sieht man einmal von Ansegisel ab, so scheint in Arnulfs Familie das Bestimmungswort ›-ulf‹, »Wolf«, dominierend gewesen zu sein. Pippins Sohn hieß dagegen »Grimoald« und spielte als austrasischer Hausmeier eine zentrale Rolle um die Mitte des 7. Jahrhunderts. Sein angeblich gescheiterter Staatsstreich muss hier aber nicht erneut thematisiert werden.16 Die Pippiniden erlebten mit Grimoalds Niederlage im Kampf gegen den neustrischen Zweig der Merowinger eine herbe Niederlage. Die Familientradition wurde von Pippin, dem Sohn seiner Schwester Begga und des Arnulfingers Ansegisel, fortgesetzt, der seinen Namen mutmaßlich erhalten hat, als Grimoald als Oberhaupt der Familie gelten konnte.17 Die Namengebung nach dem Großvater mütterlicherseits könnte man als 14 Heike Grahn-Hoek, Gundulfus subregulus – eine genealogische Brücke zwischen Merowingern und Karolingern?, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 59 (2003), 1– 47; den besten prosopographisch angelegten Überblick über die frühen Karolinger bzw. Arnulfinger oder Pippiniden bietet nach wie vor Eduard Hlawitschka, Die Vorfahren Karls des Großen, in: Helmut Beumann (ed.), Persönlichkeit und Geschichte (Wolfgang Braunfels [ed.], Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1), Düsseldorf 1965, 51–82. 15 Zum Namen vgl. Gerhard Lubich, Die Namen Ansegis(el), Anschis(us) und Anchises im Kontext der Karolingergenealogien und der fränkischen Geschichtsschreibung, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 58–75. 16 Vgl. Matthias Becher, Der sogenannte Staatsstreich Grimoalds. Versuch einer Neubewertung, in: Jörg Jarnut et al. (edd.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, 119–147; skeptisch dazu Eugen Ewig, Die fränkischen Königskataloge und der Aufstieg der Karolinger, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 51 (1995), 1–28, hier 11 Anm. 67; Stefanie Hamann, Zur Chronologie des Staatsstreichs Grimoalds, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 59 (2003), 49–96; zustimmend: Karl Ubl, Die erste Leges-Reform Karls des Großen, in: Guy Guldentops/Andreas Speer (edd.), Das Gesetz – The Law – La Loi (Miscellanea Mediaevalia 38), Berlin/New York 2014, 75–92, hier 90–92. 17 Rudolf Schieffer, Die Karolinger, 5., aktual. Auflage, Stuttgart 2014, 21, setzt die Geburt zwischen 640 und 650 an.
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Ausweis des größeren Renommees der Pippiniden gegenüber den Arnulfingern werten. Man wird aber bedenken müssen, dass Pippin der Mittlere vielleicht zunächst nur ein jüngerer Sohn war, der auf Grund vorzeitiger Todesfälle die Familie allein fortgeführt hat.18 Pippin der Mittlere selbst nannte seine beiden Söhne von Plectrud Drogo (geb. ca. 670) und Grimoald (geb. ca. 680). »Drogo« ist ein Name, der bis dahin weder in der Familie noch sonst bezeugt ist.19 »Grimoald« erinnerte an den gleichnamigen Hausmeier und Onkel Pippins, der im Jahr 662 gestürzt und hingerichtet wurde.20 Anscheinend war dessen Scheitern kein Grund für Pippin gewesen, den Namen aus dem Gedächtnis der Familie zu streichen. Interessanter sind die Namen der nächsten Generation: Drogo nannte seine Söhne »Arnulf«, »Hugo«, »Pippin« und »Gottfried«. Pate bei dieser Namengebung standen zum einen traditionelle Namen arnulfingischer und pippinidischer Vorfahren sowie Hugobert, der Vater Plectruds.21 Die Herkunft von »Gottfried« ist dagegen nicht zu klären; er verweist vielleicht auf die Verwandtschaft der Anstrudis, Drogos Gemahlin. Grimoald war mit Theudesinda verheiratet, einer Tochter des Friesenfürsten Radbod, aber sein Sohn namens Theudoald stammte von einer Frau, über die sich keine Quellenzeugnisse erhalten haben. Dieser Theudoald wurde nach dem vorzeitigen Tod von Onkel und Vater (714) von seinem Großvater Pippin dem Mittleren zu seinem Nachfolger als Hausmeier bestimmt, obwohl er wohl noch recht jung war.22 Er konnte sich jedoch nach Pippins Tod Ende 714 nur kurz an der Macht halten. Es ist unsicher, ob er in der Schlacht von Compiègne gegen die Neustrier 715 fiel oder erst 741 starb.23 Pippin und Gottfried sind nur 715 bezeugt, Arnulf starb 723 in der Gefangenschaft Karl Martells, während der Geistliche Hugo (gest. 730) 18 Zu denken ist hier an König Heinrich I., der als dritter Sohn nach dem Großvater mütterlicherseits benannt wurde. 19 Der Name findet sich weder bei Hermann Reichert, Lexikon der altgermanischen Namen, 2 Teile (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Schriftenreihe der Kommission für Altgermanistik, Thesaurus Palaeogermanicus 1,1–2), Wien 1987–90; noch bei Egon Felder, Die Personennamen auf den merowingischen Münzen der Bibliothèque nationale de France (Abhandlungen. Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse. Neue Folge 122), München 2002. 20 Wie Anm. 13. 21 Zu ihm Hlawitschka 1965, 74f.; zu den familiären Verbindungen vgl. Matthias Werner, Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger. Die Verwandtschaft Irminas von Oeren und Adelas von Pfalzel. Personengeschichtliche Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Führungsschicht im Maas-Mosel-Gebiet (Vorträge und Forschungen. Sonderband 28), Sigmaringen 1982. 22 Zur Nachfolgeregelung von 714 vgl. Kasten 1997, 82–89. 23 Zu ihm vgl. Roger Collins, Deception and Misrepresentation in Early Eigth Century Frankish Historiography: Two Case Studies, in: Jörg Jarnut et al. (edd.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, 227–247, hier 229–235; Waltraud Joch, Legitimität und Integration. Untersuchungen zu den Anfängen Karl Martells (Historische Studien 456), Husum 1999, 92–102.
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einer von dessen wichtigsten Helfern war und mit mehreren Bistümern und Abteien belohnt wurde.24 Bei den Nachfahren Pippins des Mittleren und Plectruds ist also kein rechtes Muster zu erkennen. Die ›neuen‹ Namen Drogo und Gottfried widersprechen der Annahme, die Nachbenennung sei bei den Arnulfingern dominant gewesen. Pippin hatte von einer Frau namens Chalpaida einen weiteren Sohn, den um 690 geborenen Karl, dem die Nachwelt den Beinamen ›Martell‹ gegeben hat.25 Die Familienverhältnisse sind etwas unklar. Möglicherweise waren Pippin und Chalpaida ebenfalls verheiratet, obwohl Pippin auch mit Plectrud verbunden war und es auch keinen Hinweis auf eine Auflösung ihrer Ehe gibt. Allerdings waren Ehen in jener Zeit eher fluide angelegt, so dass Karl zumindest nicht im engeren Sinne als illegitim oder gar als ›Bastard‹ galt.26 Auch der Name »Karl« war neu in der Familie; in der ›Historia vel Gesta Francorum‹ bzw. der Fortsetzung der Fredegarchronik wird die volkssprachliche Herkunft des Namens eigens hervorgehoben.27 Laut Ulrich Nonn ist »als germanische Urbedeutung ›(freier, erwachsener, ganzer) Mann‹ anzusetzen, die sich dann in anord. karl, ae. carl/ceorl, afries. zerl und ahd. karl findet.«28 Der für die Familie ungewöhnliche Name könnte als Indiz für Karls außereheliche Abkunft gewertet werden, was aber nicht zwingend ist. Jedenfalls wurde Karl nach Pippins Sohn zunächst von einer politischen Funktion ausgeschlossen und von Plectrud sogar gefangengesetzt, was darauf schließen lässt, dass sie in ihm eine reale Gefahr für die Ansprüche ihrer eigenen Nachkommen sah. Karl kam jedoch frei und konnte sich während der der sogenannten »pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise« gegen die Konkurrenz sowohl aus der eigenen Familie als auch aus Neustrien durchsetzen.29 24 Zum Verhältnis Karls zu den Nachfahren Plectruds insgesamt vgl. Joch 1999, 102–116. 25 Zu ihm vgl. Paul Fouracre, The Age of Charles Martel, Harlow 2000; Andreas Fischer, Karl Martell. Der Beginn der karolingischen Herrschaft, Stuttgart 2012. 26 Vgl. dazu Waltraud Joch, Karl Martell – Ein minderberechtigter Erbe Pippins?, in: Jörg Jarnut et al. (edd.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, 149–170; Joch 1999, 11–24; Heinrich Beck, Karl, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16 (2., völlig neu bearb. Auflage, 2000), 242–244. 27 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici continuationes, ed. Bruno Krusch, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum II, Hannover 1888, 1– 193, hier c. 6, 172: […] vocavitque nomen eius lingue proprietate Carlo; zur Quelle vgl. Roger Collins, Die Fredegar-Chroniken (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 44), Hannover 2007. 28 Ulrich Nonn, Karl Martell – Name und Beiname, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 575–585, hier 576; vgl. auch Joch 1999, 32f. 29 Vgl. Josef Semmler, Zur pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise 714–723, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 33 (1977), 1–36; Fouracre 2000 57–78; Fischer 2012, 50–66.
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Karl Martell war anscheinend bereits zu Lebzeiten seines Vaters mit einer Frau namens Chrodtrud verheiratet; jedenfalls kam sein ältester Sohn um das Jahr 708 zur Welt. Für diesen variierte Karl den eigenen Namen und nannte ihn Karlmann.30 Damals waren die Aussichten Karls auf eine Herrschaftsbeteiligung und vielleicht sogar seine Akzeptanz innerhalb der Familie nicht besonders gut, da Pippin seine Nachkommen aus der Verbindung mit Plectrud eindeutig bevorzugte. Da Pippin wohl auch ein Wort bei der Benennung seines Enkels Karlmann mitzureden hatte, spiegelt dessen Name Karls Situation im politischen Abseits. Nachdem Pippin der Mittlere Ende 714 gestorben war, gab Karl dann seinem zweiten, wohl gerade geborenen Sohn ambitioniert den prestigeträchtigen Namen des Großvaters. Wahrscheinlich wollte er damit nun seinen Anspruch auf das Hausmeieramt unterstreichen. Es ist unklar, ob sich Karl zu diesem Zeitpunkt bereits in der Haft seiner Stiefmutter befand und ob diese Namengebung möglicherweise sogar als Provokation empfunden wurde. Im Jahr 725 verstarb Karls Frau Chrotrud,31 und noch im selben Jahr heiratete er Swanahild, eine Agilolfingerin und damit Angehörige der bayerischen Herzogsfamilie. Zudem war sie eine Nichte Guntruds, der Gemahlin des Langobardenkönigs Liutprand. Sie war also eine ausgesprochen gute Partie, die Karl Martell nicht etwa nur zu seiner Konkubine machte, wie von der älteren Forschung angenommen wurde, sondern zu seiner vollgültigen Ehefrau nahm.32 Der gemeinsame Sohn erhielt den Namen »Grifo«, über dessen Deutung keine Einigkeit in der Forschung besteht. Besonders Historiker vermuten in dem Namen eine Kurzform von »Grimoald« oder – weniger wahrscheinlich – von »Garibald«,33 während Sprachwissenschaftler ihn als »Greif« oder auch als Kurzform von »Grimpert« deuten.34 Der Name »Grifo« ist vergleichsweise selten; im letzten 30 Vgl. Mitterauer 2011, 76; Beck 2000, 244; Wolfgang Haubrichs, Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ›germanischen‹ gentes. Tradition – Innovation – Differenzen, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (edd.), Verwandtschaft, Name und Soziale Ordnung (300–1000) (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 90), Berlin/Boston 2014, 29–72, hier 62. 31 Zur ihr vgl. Hlawitschka 1965, 78f. 32 Vgl. Hanns Leo Mikoletzky, Karl Martell und Grifo, in: Erika Kunz (ed.), Festschrift Edmund E. Stengel, Münster/Köln 1952, 130–154; Jörg Jarnut, Untersuchungen zur Herkunft Swanahilds, der Gattin Karl Martells, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 40 (1977), 245–249 (ND in: Ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, ed. Matthias Becher, Münster 2002, 101–105); Fischer 2012, 99f. 33 Für Grimoald Classen 1983, 224 Anm. 84; zustimmend: Mitterauer 2011, 77; für eine Kurzform von »Garibald« Joachim Jahn, Ducatus Baiuvariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35), Stuttgart 1991, 279. 34 Vgl. Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Bd. 1: Personennamen, 2. Auflage, Bonn 1900, 674 s.v. ›Grippo‹; vgl. Henning Kaufmann, Ergänzungsband zu Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Bd. 1: Personennamen, München/Hildesheim 1968, 155; Elmar Neuss, Studien zu den althochdeutschen Tierbezeichnungen der Handschriften Paris
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Viertel des 6. Jahrhunderts stand ein Gripo als Gesandter in Diensten König Childeberts II.35 Vieles weist daraufhin, dass Karl Martell seinen jüngsten Sohn neben seinen Söhnen aus erster Ehe für die Nachfolge berücksichtigen und unter dem Einfluss Swanahilds vielleicht sogar als Haupterben einsetzen wollte.36 Doch Karlmann und Pippin bereiteten nach Karls Tod 741 den Ambitionen von Stiefmutter und jüngerem Halbbruder in einem kurzen Bruderkrieg ein rasches Ende. Von Karls Söhnen besaß zunächst nur Karlmann männlichen Nachwuchs. Seinem ältesten Sohn gab er den Namen »Drogo«, die jüngeren bleiben in den erzählenden Quellen ohne Namen. Drogo dürfte noch zu Lebzeiten Karl Martells geboren sein, was erklären mag, dass er bei seiner Geburt nicht den Namen des Großvaters, sondern von dessen Halbbruder erhielt. Nach Karlmanns Abdankung 747 trat Drogo die Nachfolge in dessen Reichsteil an, wurde von Pippin aber bald beiseitegedrängt.37 Dieser nannte seinen ersten, 748 geborenen Sohn »Karl« und knüpfte damit an den berühmten Vater an.38 Den zweiten, 751 geborenen Sohn nannte er »Karlmann«, vielleicht um die Erinnerung an den mittlerweile in das Kloster Monte Cassino eingetretenen Bruder zu überdecken. Eine klare Linie bei der Namengebung der frühen Karolinger lässt sich also erst seit Karl Martell beobachten. Er variierte den eigenen Namen für seinen ältesten Sohn und suchte über den Namen für den zweiten Sohn eine Anbindung an seinen Vater Pippin den Mittleren. Pippin der Jüngere wiederum suchte über die Namen für seine Söhne, sich in die Tradition Karl Martells zu stellen, was auf die politisch angespannte Lage im Reich nach der Abdankung Karlmanns und den kriegerischen Aktionen des 747 freigekommenen Grifo zurückzuführen ist. Nach dem Dynastiewechsel von 751 haben die Karolinger nach vorherrschender Meinung in der Forschung einen festen Namengebungsbrauch entwickelt, bei dem zwischen ehelichen und unehelichen Söhnen unterschieden worden sei. Legitime und damit thronfähige Könige hätten die Namen von früheren Königen wie Pippin, Karl und Karlmann erhalten.39 Uneheliche und damit
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lat. 9344, Berlin lat. 8° 73, Trier R. III 13 und Wolfenbüttel 10. 3. Aug. 4° (Münstersche Mittelalter-Schriften 16), München 1973, 93f. Vgl. Karin Selle-Hosbach, Prosopographie merowingischer Amtsträger in der Zeit von 511 bis 613, Diss. phil. Bonn 1974, 103–106. Vgl. Matthias Becher, Eine verschleierte Krise. Die Nachfolge Karl Martells 741 und die Anfänge der karolingischen Hofgeschichtsschreibung, in: Johannes Laudage (ed.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsschreibung und ihre kritische Aufarbeitung (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln/Weimar/Wien 2003, 95–133. Vgl. Matthias Becher, Drogo und die Königserhebung Pippins, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), 131–152. Zum Geburtsdatum vgl. Karl Ferdinand Werner, Das Geburtsdatum Karls des Großen, in: Francia 1 (1973), 115–157; Matthias Becher, Neue Überlegungen zum Geburtsdatum Karls des Großen, in: Francia 19,1 (1992), 37–60. Vgl. oben, S. 131.
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von der Thronfolge ausgeschlossene Söhne seien dagegen nach Angehörigen des karolingischen Hauses benannt worden, die nicht zur Königwürde aufgestiegen waren, wie Arnulf, Drogo oder Hugo. Das Auswahlkriterium war also, die künftigen Könige mit besonders prestigeträchtigen Namen zu versehen, die zumindest einer ihrer Vorgänger getragen hatte. Mit dieser Exklusivität argumentiert die Forschung gerne, und dabei kann sie viele Beispiele aus der langen Geschichte der zweiten fränkischen Dynastie anführen. Es ist aber denkbar unwahrscheinlich, dass diese Namengebung von Anfang an feststand, sie hat sich erst im Lauf der Zeit entwickelt, wobei sicherlich Pippin, dem ersten König der Dynastie, eine besondere Bedeutung zukommt. Im Jahr 751 setzte Pippin den letzten merowingischen König Childebert III. ab und wurde von den Franken selbst zum König erhoben. Die wohl im Auftrag von Pippins Onkel Childebrand verfasste Historia vel Gesta Francorum betont, dies sei cum consecratione episcoporum et subiectione principum una cum regina Bertradane, ut antiquitus ordo deposcit geschehen.40 Bertrada wurde also zumindest nach Auffassung des Chronisten zusammen mit ihrem Mann in regno erhoben. Der Erhebungsakt galt also dem Königspaar, womit wohl auch den gemeinsamen Söhnen eine herausgehobene Stellung als Thronerben gesichert werden sollte. Damit sollten wohl alle Seitenverwandten Pippins – die Söhne seines Halbbruders Karlmann und sein Halbbruder Grifo – von der Königwürde ausgeschlossen werden.41 Drei Jahre später salbte Papst Stephan II. während seines Besuches im Frankenreich Pippin erneut, dieses Mal unter Einschluss seiner Söhne. Laut der Clausula de unctione Pippini salbte der Papst danach auch die Königin Bertrada et tali omnes interdictu et excommunicationis lege constrinxit, ut numquam de alterius lumbis regem in aevo presumant eligere, sed ex ipsorum, quos et divina pietas exaltare dignata est et sanctorum apostolorum intercessionibus per manus vicarii ipsorum beatissimi pontificis confirmare et consecrare disposuit.42
Aber färbte diese sakrale Überhöhung der königlichen Kernfamilie auch auf ihre jeweiligen Namen ab? Waren Pippin, Karl und Karlmann nun für künftige Könige reserviert, während die Namen der nichtköniglichen Seitenverwandten Personen vergeben wurden, die keinesfalls für das Herrscheramt in Frage kamen, also vor allem für illegitime Söhne des Herrschers?43 Da Pippin allem Anschein nach keine
40 Cont. Fred., c. 33, 182. 41 Becher 1989; McDougall 2017, 74f.; zu Bertrada allgemein vgl. Janet Nelson, Bertrada, in: Matthias Becher/Jörg Jarnut (edd.), Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationstrategien und Erinnerung, Münster 2004, 93–108. 42 Clausula de unctione Pippini, ed. Georg Waitz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 15/1, Hannover 1887, 1. 43 In diesem Sinne Mitterauer 2011, 80.
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unehelichen Söhne hatte, ist die zweite Annahme auf jeden Fall fraglich, setzt sie doch eine sehr weitreichende Planung voraus. Erst 759 wurde dem fränkischen Königspaar ein weiterer Sohn geboren, cui supradicuts rex nomen suum inposuit, ut Pippinus vocaretur sicut pater eius, so die Reichsannalen.44 Noch eindrücklicher formulieren die Lorscher Annalen: Mutavit rex Pippinus nomen suum in filio suo.45 Dies war die erste Nachbenennung nach dem noch lebenden Vater innerhalb der karolingischen Familie.46 Im Falle Pippins war wohl vor allem die Situation unmittelbar nach dem Dynastiewechsel von 751 verantwortlich für seine Entscheidung: Der kleine Junge war sein erster Sohn, der seit seiner Königssalbung zur Welt gekommen war.47 Er dürfte daher als etwas ganz besonderes gegolten haben, weshalb seine Geburt sogar in den hofnahen Reichsannalen vermerkt wurde. Sein Name musste daher sehr sorgfältig ausgewählt werden. Die gängige Erklärung ist, dass der Name Pippin die künftige Rolle des kleinen Karolingers als König betonen sollte, weil es sich um den bis dahin einzigen karolingischen Königsnamen handelt.48 Eine weitere, einfachere Erklärung ist, dass sämtliche Namen von Pippins direkten Vorfahren bzw. nächsten Verwandten bereits vergeben waren: Karl und Karlmann. Da mag der eigene Name eine bessere Alternative gewesen sein als eine Orientierung an Drogo, dem von Pippin entmachteten Neffen, oder Grimoald, dem Halbbruder des Vaters, von Grifo, dem feindlichen Halbbruder ganz zu schweigen. Für die erste Nachbenennung in der Dynastie könnte also schlicht ein gewisser Pragmatismus ausschlaggebend gewesen sein. Am Beispiel Pippins zeigt sich, dass viele Faktoren auf die Namenwahl einwirken konnten – in diesem konkreten Fall neben der Familientradition auch das Königsamt bzw. die Verquickung von beidem. Damit war jedoch noch keine Tradition etabliert, die allenfalls von der nächsten Generation begründet werden konnte. Tatsächlich griffen Pippins Söhne Karl der Große und Karlmann ebenfalls auf den Namen ihres Vaters zurück. Karl nannte seinen ältesten Sohn Pippin und wollte damit, so Johannes Fried, vor allem an den früh verstorbenen Bruder erinnern.49 Nur ein persönliches Interesse Karls des Großen könne erklären, warum dessen Geburt und Benennung in den Reichsannalen überliefert worden 44 Annales regni Francorum, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [6]), Hannover 1895 (ND Hannover 1950), ad 759, 14. 45 Annales Laureshamenses, ed. Georg H. Pertz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 1, Hannover 1826, 22–39, ad 759, 28. 46 Vgl. Mitterauer 2011, 75; Ders. 1993, 387. 47 Und natürlich auch der der Bertrada, die wie Pippin 751 von den Bischöfen konsekriert wurde; laut der Clausula de unctione Pippini, 1, und ed. Bruno Krusch, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 1,2, Hannover 1885, 15f., erneut drei Jahre später vom Papst. 48 Mitterauer 2011, 75; Ders. 1993, 387. 49 Johannes Fried, Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München 2013, 38.
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sei. Die Motivation Karls bei der Namengebung seines ältesten Sohnes wäre damit anders gelagert als von der Forschung gemeinhin angenommen. Gleichwohl dürfte die Persönlichkeit des Königs die seines frühverstorbenen Sohnes derart überstrahlt haben, dass letztlich doch alle Zeitgenossen in ihm den Namenspatron gesehen haben dürften. Daher war es von einiger Relevanz, als auch Karls jüngerer Bruder Karlmann einen seiner Söhne Pippin nannte. Dies kann wohl nur als ein Zeichen der Rivalität zwischen beiden Frankenkönigen gewertet werden, wie Jörg Jarnut überzeugend dargestellt hat.50 In späterer Zeit wurde jedenfalls innerhalb der karolingischen Familie darauf geachtet, dass Vettern nicht denselben Namen erhielten, zumindest solange die jeweiligen Großväter noch lebten. Laut Michael Mitterauer ist dies unter Ludwig dem Frommen zu beobachten, da jeder seiner zu seinen Lebzeiten geborenen legitimen Enkel einen anderen Namen erhielt.51 Vergleichbares ist auch unter Karl dem Großen zu beobachten, zumindest falls man Bernhard von Italien für einen legitimen Sohn Pippins von Italien hält.52 Im Falle der beiden Pippine um 770 blieb die Konkurrenz ihrer Väter jedoch nur eine Episode, weil Karlmann früh verstarb und sein Sohn und ein weiteres Kind bald darauf in Karls Hände fielen und danach nicht mehr in den Quellen erwähnt werden. Die weitere Namengebung seiner Söhne folgt dem bereits bekannten Muster. Karl der Jüngere (geb. 773) erhielt den Namen des Vaters; Karlmann (geb. 777) den seines verstorbenen Onkels; möglicherweise verfolgte er damit das Ziel, dessen ehemalige Anhänger auf seine Seite zu ziehen. Dann wäre er nicht einer grundsätzlichen Namengebungsregel gefolgt, sondern hätte nach politischer Opportunität entschieden. Mit der Geburt von Zwillingssöhnen im Jahr 778 gestaltete sich die Namengebung schwierig. Zum ersten Mal in der jungen Geschichte der Dynastie stand kein Name mehr zur Verfügung, den bereits ein karolingischer König getragen hatte. Karl entschied sich damals nicht für einen »nichtköniglichen« Karolingernamen, sondern für die merowingischen Namen Chlodwig und Chlothar. Diese Ansippung an die Merowinger war allerdings tagespolitisch motiviert, wie Jarnut gezeigt hat.53 Das Jahr 778 war die erste große 50 Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf und seine Folgen. Die Krise des Frankenreiches (768–771), in: Georg Jenal (ed.), Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 37), Stuttgart 1993, 165–176 (ND in: Jörg Jarnut, Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, ed. Matthias Becher, Münster 2002, 235–246), hier 168f., 238f. 51 Mitterauer 1993, 311. 52 Zu ihm vgl. unten, 142–144. 53 Hierzu und zum Folgenden vgl. Jörg Jarnut, Chlodwig und Chlothar. Anmerkungen zu den Namen zweier Söhne Karls des Großen, in: Francia 12 (1984), 645–651 (ND in: Ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, ed. Matthias Becher, Münster 2002, 247–253); dagegen betont Classen 1983, 209, den Willen Karls, allgemein an
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Krise in der Regierungszeit Karls, der seinen Feldzug nach Spanien erfolglos abbrechen und zugleich die Sachsen abwehren musste, die damals zum ersten Mal in seiner Regierungszeit fränkisches Gebiet attackierten. In dieser Situation erinnerte Karl mit den Namen seiner Söhne an Erfolge in den nun gefährdeten Regionen seines Reiches: Chlodwig hatte das Reich nach Süden erweitert, während Chlothar I. die Sachsen besiegt hatte. Die Namengebung war also erneut nicht von einer Regel bestimmt, sondern zwei Faktoren gaben den Ausschlag: Zum einen eine tagespolitische Notwendigkeit und zum anderen das Königtum als traditionsbildende Kraft jenseits der karolingischen Familie. Auch in der folgenden Zeit sind politische Opportunitäten ausschlaggebend bei der Namengebung gewesen. Anlässlich seiner Taufe und seiner Salbung zum König von Italien durch Papst Hadrian im Jahr 781 erhielt Karls Sohn Karlmann einen neuen Namen: Fortan hieß er Pippin.54 Dieser Namenwechsel sollte vermutlich an die Politik seines Großvaters Pippin erinnern, der die Langobarden im Bündnis mit dem Papst zweimal besiegt hatte, während dessen Bruder Karlmann gerade gegen diese Allianz opponiert hatte. Zudem war jener Pippin um das Jahr 738 vom damaligen Langobardenkönig Liutprand adoptiert worden.55 Der Name Pippin stand also für die vielfältigen Beziehungen der Franken nach Süden. Damit aber hatte Karl nun zwei Söhne namens Pippin. Man kann die Umbenennung des jüngeren als deutliche Wendung des Vaters gegen den älteren deuten und damit gleichzeitig als bewusste Entscheidung, einem thronfähigen Sohn einen prominenteren Königsnamen zu geben. Immerhin besaß Karl nun von seiner Gemahlin Hildegard drei Söhne, und damit sank vermutlich die Bedeutung seines Erstgeborenen von einer früheren Frau. Vielleicht wurde damals auch der Buckel Pippins bemerkt, der ihn als Herrscher weiter disqualifizierte.56 merowingische Traditionen anzuschließen. Siehe auch im Beitrag von Laury Sarti in diesem Band, 151–173. 54 Vgl. hierzu und zum Folgenden Classen 1983, 210f.; Arnold Angenendt, Das geistliche Bündnis der Päpste mit den Karolingern, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980), 1–94, hier 70– 80; Gertrud Thoma, Namensänderungen in Herrscherfamilien des mittelalterlichen Europa (Münchener Historische Studien. Abteilung Mittelalterliche Geschichte 3), Kallmünz 1985, 77–83; Dieter Geuenich, Pippin, König von Italien (781–810), in: Hans Rudolf Sennhauser (ed.), Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Großen. Kloster St. Johann in Müstair und Churrätien (Acta Müstair, Kloster St. Johann 3), Zürich 2013, 111–124; Fried 2013, 172. 55 Vgl. Jörg Jarnut, Die Adoption Pippins durch König Liutprand und die Italienpolitik Karl Martells, in: Ders. et al. (edd.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, 217–226; Matthias Becher, Eine Reise nach Rom, ein Hilferuf und ein Reich ohne König. Bonifatius in den letzten Jahren Karl Martells, in: Franz Felten/Jörg Jarnut/ Lutz E. von Padberg (edd.), Bonifatius – Leben und Nachwirken. Die Gestaltung des christlichen Europa im Frühmittelalter (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 121), Mainz 2007, 231–253, hier 244. 56 Zu diesem Beinamen vgl. Christer Bruun, ›Der Buckelige‹ als Spottname in der griechischrömischen Antike und im Mittelalter, in: Classica et Mediaevalia 49 (1998), 95–117.
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Aber es sollte noch mehr als zehn Jahre dauern, bis Pippin der Bucklige sich 792 gegen den Vater erhob und es damit diesem leicht machte, ihn vollends auszuschalten.57 Eine Tendenz zu exklusiven Namen innerhalb der karolingischen Herrscherfamilie kann also durchaus bestätigt werden. Für diese These wurden auch die Namen von Karls unehelichen Söhnen ins Feld geführt: Sie hießen Drogo, Hugo und Theoderich nach Seitenverwandten, die niemals auf den Thron gelangt waren. Doch wurden sie alle erst lange nach den Söhnen Hildegards geboren.58 Die Namen früherer karolingischer Könige standen zum Zeitpunkt ihrer Geburt also nicht mehr zur Verfügung, und einer von ihnen erhielt mit Theuderich immerhin einen Merowingernamen, wenn er nicht nach dem von Karl verehrten Theoderich den Großen benannt worden war. Es scheint also, dass sehr genau zwischen thronfolgefähigen und anderen Söhnen unterschieden wurde. Dennoch ist Vorsicht geboten, wenn man den Namen eine eindeutige Signalwirkung zuschreibt, die das Schicksal ihrer Träger präzise vorzeichnete. Bereits in der Zeit Karls des Großen gibt es ein prominentes Beispiel, das eine solche These zumindest nicht bestätigt. Karls Sohn Pippin von Italien nannte wiederum seinen Sohn Bernhard. Im Jahr 812 erhob Karl der Große den Enkel zum König von Italien. Als Namenspatron des jungen Karolingers gilt der ›ältere‹ Bernhard, ein illegitimer Halbbruder Pippins des Jüngeren.59 Dieser Bernhard hatte in den Anfangsjahren Karls des Großen zu dessen wichtigsten Helfern gehört, und seine Söhne Adalhard und Wala waren einflussreiche Persönlichkeiten am Hof Karls des Großen. Eine an seinem Namen abzulesende »illegitime« Geburt Bernhards wurde angesichts dessen bezweifelt und sogar die Vermutung angestellt, seine Mutter sei nicht nur die rechtmäßige Ehefrau Pippins gewesen, sondern auch eine Tochter des älteren Bernhard namens Theodrada.60 Die enge Verbindung des jüngeren und des älteren Bernhard zeigt sich auch in der wichtigen Rolle Walas und Adalhards, die Karl der Große nacheinander zu den wichtigsten Ratgebern des neuen Königs von Italien bestimmte. 57 Zu dessen Stellung und allmählichem Ausschluss von der Nachfolge vgl. Kasten 1997, 142– 150; Carl I. Hammer, »Pipinus Rex«: Pippin’s Plot of 792 and Bavaria, in: Traditio 63 (2008), 235–276. 58 Werner 1967, 445. 59 Zu ihm vgl. Hlawitschka 1965, 80. 60 Johannes Fried, Elite und Ideologie oder die Nachfolgeordnung Karls des Großen vom Jahre 813, in: Régine Le Jan (ed.), La Royauté et les Élites dans l’Europe Carolingienne (du début du Ixe aux environs de 920) (Centre d’Histoire de l’Europe du Nord-Ouest 17), Villeneuve d’Ascq 1998, 71–109, hier 30–34; vorsichtig zustimmend Dieter Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, Berlin/München 2000, 598; ablehnend Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100) (Millennium-Studien 20), Berlin/New York 2008, 379; dazu wiederum Johannes Fried, Kanonistik und Mediävistik. Neue Literatur zu Kirchenrecht, Inzest und zur Ehe Pippins von Italien, in: Historische Zeitschrift 294 (2012), 115–141, hier 127–139.
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›Bernhard‹ erweiterte also den Bestand königlicher Namen und hätte dies möglicherweise auf Dauer getan und damit die Namengebungspraxis der Dynastie insgesamt nachhaltig verändert, wenn der Name nicht wegen der Spannungen zwischen Ludwig dem Frommen und Bernhard sowie der daraus resultierenden Absetzung des Königs von Italien samt seinem tragischen Ende 818 nicht kompromittiert worden wäre.61 Für mehrere Generationen wurde er konsequent vermieden, sowohl für legitime als auch für illegitime Söhne. Erst Karl III. griff ihn rund ein halbes Jahrhundert später für einen illegitimen Sohn wieder auf. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Namengebungspraxis der Karolinger seit ihrem Aufstieg zur Königswürde 751 bemerkenswert stringent gewesen ist. Nachfolgekandidaten, in aller Regel die Söhne der ersten, als legitim angesehenen Gemahlin des regierenden Königs, erhielten die Namen früherer Könige. Dahinter stand die Hoffnung, dass sie dereinst die Nachfolge antreten würden. Angesichts der Tatsache, dass der frühmittelalterliche Adel laut Karl Schmid auch zur kognatischen Seite hin offen gewesen sei,62 überrascht die Konsequenz, mit der die Karolinger seit ihrem Aufstieg zur Königswürde nicht nur auf die Namen ihrer nichtköniglichen Vorfahren oder Seitenverwandten in männlicher Linie, sondern auch auf die Namen aus der jeweiligen mütterlichen Verwandtschaft verzichteten. Dies und auch die Adaption der merowingischen Königsnamen Chlodwig und Chlothar zeigt, wie sehr das herrscherliche Selbstverständnis die Karolinger leitete. Das führte auch dazu, dass sie anders als noch 61 Jörg Jarnut, Kaiser Ludwig der Fromme und König Bernhard von Italien. Der Versuch einer Rehabilitierung, in: Studi medievali Ser. 3,30 (1989), 637–648 (ND in: Ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, ed. Matthias Becher, Münster 2002, 329–340); Philippe Depreux, Das Königtum Bernhards von Italien und sein Verhältnis zum Kaisertum, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 72 (1992), 1–25; zu den Vorgängen vgl. Steffen Patzold, Zwischen Gerichtsurteil und politischem Mord: Der rätselhafte Tod König Bernhards von Italien im Jahr 818, in: Georg Schild/ Anton Schindling (edd.), Politische Morde in der Geschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn et al. 2012, 37–54; Schäpers 2018, 85–88. 62 Vgl. Karl Schmid, Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel. Vorfragen zum Thema »Adel und Herrschaft« im Mittelalter, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 105 (1957), 1–62; Ders., Über die Struktur des Adels im früheren Mittelalter, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 19 (1959), 1–23; Ders., Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), 225–249; Ders., Heirat, Familienfolge, Geschlechterbewußtsein, in: Il matrimonio nella società altomedievale (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 24), Spoleto 1977, 103–137 (ND dieser Beiträge in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 183–244, 245–267, 363–387 und 388–423); Ders., Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 44), ed. Dieter Mertens/Thomas Zotz, Sigmaringen 1998; Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems (Mittelalter-Forschungen 17), Ostfildern 2005, 306–308.
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die Merowinger die Nachbenennung nach Lebenden den Namen von entfernten Vorfahren oder Verwandten vorzogen. Dennoch waren es Einzelentscheidungen, die zur Ausformung des Namenbestandes führten. Auf der Hand liegt dies bei der Wahl der merowingischen Königsnamen Chlodwig und Chlothar, für die die aktuelle politische Lage im Jahr 778 ausschlaggebend gewesen ist. Von einer langfristigen Namengebungsstrategie sollte daher nicht gesprochen werden, wie das Beispiel Bernhards von Italien lehrt. Was wie eine langfristige Namengebungsstrategie aussieht, erweist sich als das Ergebnis eher kurzfristig angelegter Entscheidungen.
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Die Namen zukünftiger Herrscher. Die Vergabepraxis im byzantinischen Osten und dem karolingischen Westen im Vergleich (717–905)
Abstract Names were deliberately used both in the Byzantine East and in the Frankish West to underline and enforce claims to power. This article studies these two examples by looking at the names given to direct male descendants of rulers eligible for succession to the throne between the eighth and ninth century. It examines the strategies used to designate future rulers in order to emphasize or consolidate the legitimacy of their own rule, and to what extent these may be related to regional tendencies and traditions. Only suitable children are considered who were born either during the reign of their father or within a ruling dynasty. On the Byzantine side, the names of eight rulers and their 21 sons, on the Frankish side, the names of 13 rulers and their 28 sons are considered. Deviating examples are taken into account insofar as they are relevant for the investigation. The study shows that the names given to potential rulers were largely limited in both the Carolingian West and the Byzantine East. This applies in particular to the names of the first-born and future emperors. This selective use of names was possible as the renaming according to living relatives was practiced in both regions and in the period examined here. The two most common imperial names, Constantine and Ludwig, each referred to the founder of their respective realm and thus testify to the importance of institutional continuity. This was considered more important than dynastic continuity. In the Carolingian West, biological factors entailed that Louis had become the most common name for future emperors. It connected the Carolingians with the founder of the Merovingian kingdom. In the East, the name Constantine was used by most of the ruling dynasties. The comparison between the two case studies allows to investigate and to better understand the strategies behind the medieval naming practices, the resulting mechanisms and the motives behind the respective decisions taken. Comparing the differences between the two case studies is particularly illuminating: in Byzantium, the names given to first-born sons was particularly restricted. The reason is that although corulership was common in the Byzantine East, there was only one heir to the throne. In consequence, the names attributed to the later-born could vary much more than those given to the sons born to Carolingian rulers. In contrast, as all legitimate Carolingian sons were potential heirs, their choice of names for first-born sons was slightly larger than in the East, but was applied to all legitimate sons. The comparison also allows to emphasize hitherto overlooked nuances like the distinction between the renaming after the father or grandfather and the renaming after a living or deceased family member, two different criteria that should be clearly distinguished.
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Die strategisch motivierte und damit meist auch beschränkte Auswahl an Namen bei der Geburt zukünftiger Machthaber ist vermutlich fast so alt wie das Herrschertum selbst. Um mögliche Mechanismen hinter der herrscherlichen Namensvergabe besser zu verstehen, möchte dieser Beitrag zwei Fallbeispiele vergleichend diskutieren: das erste Beispiel ist das karolingische Herrscherhaus bis zum Ende des 9. Jahrhunderts, das zweite die byzantinischen Kaiserhäuser, beginnend mit der syrischen Dynastie (717–802) und bis zum Geburtsjahr Konstantins VII. Porphyrogennotos (905–959), dem vierten Makedonenherrscher.1 Nach einer kurzen Bestandsaufnahme wird im Folgenden zu fragen sein, ob spezifische Tendenzen nach der Geburt eines zukünftigen Herrschers bei der Namensvergabe zu erkennen sind, inwiefern Namen jeweils mit dem Ziel vergeben wurden, die Legitimität der eigenen Herrschaft zu unterstreichen und damit zu festigen, und inwiefern die Unterschiede in beiden Fallbeispielen auf unterschiedliche Traditionen, Strategien oder Tendenzen zurückzuführen sind. Die Untersuchung konzentriert sich auf die direkten männlichen Nachkommen, die ehelich gezeugt wurden und damit für die Thronfolge in Frage kamen.2 Hierbei werden nur entsprechende Kinder berücksichtigt, die entweder zur Herrschaftszeit des Vaters oder aber innerhalb einer Herrscherdynastie, als Sohn des zukünftigen Herrschers, geboren wurden. Ausschlaggebend für die Aufnahme ist, dass es für die Namensgeber zur Zeit der Geburt absehbar war, dass das jeweilige Kind später selbst die Herrschaft übernehmen könnte. Da Nachgeborene durch die Möglichkeit eines frühzeitigen Todes des oder der älteren Brüder, und im Karolingerreich angesichts der Tradition der Herrschaftsteilung nach dem Tod des Vaters auch grundsätzlich, als Herrscher in Frage kamen, wurden auch die Nachgeborenen in die Untersuchung miteinbezogen. Insgesamt werden damit auf byzantinischer Seite die Namen von acht Herrschern und deren 21 Söhnen, auf fränkischer Seite die Namen von 13 Herrschern und deren 28
1 Insofern keine weiteren Angaben gemacht werden, sind die hier zugrundeliegenden prosopographischen Daten in Bezug auf das Byzantinische Reich den jeweils einschlägigen Einträgen der Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit Online (PMBZ) entnommen (https:// www.degruyter.com/view/db/pmbz). Die Daten mit karolingischem Bezug entsprechend der von Brepols als Lexikon des Mittelalters & International Encyclopaedia for the Middle Ages (LexMA/IEMA) zur Verfügung gestellten online-Datenbank (http://apps.brepolis.net/lexi ema/test/Default2.aspx). Ich möchte an dieser Stelle Herrn Professor Peter Schreiner sehr herzlich für seine Kommentierung einer früheren Fassung dieses Aufsatzes danken. 2 Im Gegensatz zu den Merowingern, bei denen ausdrücklich auch die Söhne von Konkubinen für die Thronfolge infrage kamen, gibt es unter den Karolingern die Tendenz, diese von der Herrschaft auszuschließen. Siehe Gregor von Tours, Libri historiarum X, ed. Bruno Krusch/ Wilhelm Levison (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 1,1), Hannover 1937, 5.20, 228: ignorans, quod, praetermissis nunc generibus feminarum, regis vocitantur liberi, qui de regibus fuerant procreati.
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Söhnen ausgewertet.3 Hierbei nicht mitgerechnet sind Fälle, in denen der Vater sich erst zu einem späteren Zeitpunkt – z. B. bedingt durch das Fehlen eines legitimen Erben – um die Thronfolge eines unehelichen Sohnes bemühte. Auch diese Beispiele werden in der Diskussion berücksichtigt, insofern sie für die zu beantwortenden Fragen relevant sind. Bei der Namensgebung sind grundsätzlich fünf Vorgehensweisen denkbar: (1) die Vergabe eines neuen/unverbrauchten Namens, (2) die Nachbenennung nach dem Vater oder Großvater, (3) die Nachbenennung nach einem bedeutenden Ahn oder Vorgänger, (4) die Nachbenennung nach einer historisch bedeutenden, aber nicht mit der eigenen Familie, Herrschaftstradition oder Geschichte in Verbindung stehenden Person, oder (5) die Nachbenennung nach einer mythischen oder biblischen Figur. In beiden Regionen sind für die hier behandelten Fälle vorwiegend die zweite und dritte Herangehensweise bezeugt, für die vierte gibt es jeweils ein Beispiel. Unter den 21 byzantinischen Namen die untersucht wurden lässt sich eine recht heterogene Mischung beobachten, aus der nur zwei Namen hervorstechen: Leon, der immerhin drei Mal vergeben wurde, und Konstantinos, der in der Liste insgesamt sechs Mal auftaucht. Der Name Konstantinos stellt damit rund 30 % des untersuchten Namensbestandes dar. Unter den insgesamt sechs Erstgeborenen, die entweder innerhalb einer Herrscherdynastie oder nach der Thronbesteigung des Vaters geboren wurden und damit zum Zeitpunkt ihrer Geburt als zukünftige Kaiser zu verstehen waren, wurden nur zwei Namen vergeben: es handelt sich hierbei um die beiden eben genannten Namen Leon und Konstantinos. Die Namensverteilung bei den Karolingern unterscheidet sich merklich von den byzantinischen Herrschernamen. Unter den 28 untersuchten Personennamen gibt es mit Drogo nur einen Namen der nur einmal auftaucht.4 Mit acht Nennungen am häufigsten vertreten ist der Name Ludwig, gefolgt von Karl mit sieben Trägern; Karlmann mit fünf. Schlusslicht sind die Namen Lothar mit vier und Pippin mit nur drei Benennungen.5 Bei nur zwei der hier einbegriffenen Namensträgern war die zukünftige Kaiserherrschaft bereits bei der Geburt absehbar. Beide Kinder erhielten den Namen Ludwig. Bereits diese oberflächliche Bestandsaufnahme untermauert, dass zum Untersuchungszeitpunkt Namen sowohl im byzantinischen Osten als auch im 3 Siehe Auflistung im Anhang. Jüngst wurde auch für die legitime Geburt Pippins des Buckligen, Bernhards von Italien sowie Arnulfs von Kärnten argumentiert. Diese nicht endgültig geklärten Fälle werden unten diskutiert, wurden aber bei der Zählung nicht berücksichtig. 4 Sollten die jüngeren Thesen einer legitimen Geburt Bernhards von Italiens und Arnulfs von Kärnten den Tatsachen entsprechen, würde sich diese Zahl auf insgesamt drei nur einmal belegte Königsnamen erhöhen. 5 Nicht mitgerechnet sind Pippin der Bucklige sowie der in Pippin umbenannte Karlmann.
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Abbildung 1: Byzantinische Herrschernamen.
Abbildung 2: Karolingische Herrschernamen.
fränkischen Westen sehr bewusst verwendet wurden, um Herrschaftsansprüche zu unterstreichen und/oder diesen Nachdruck zu verleihen. Die potentiellen Namen von Kindern, die zum Zeitpunkt ihrer Geburt für den Herrscherthron vorgesehen waren, waren in beiden Herrschaftsbereichen merklich eingeschränkt. In beiden Fallbeispielen lässt sich eine Präferenz für die Namen erkennen, die in den hier untersuchten Namensbeständen auch insgesamt am häufigsten vertreten sind: Konstantinos und Leon im byzantinischen Osten sowie Ludwig im karolingischen Westen. Diese enge Namensauswahl hat die
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ältere Forschung dazu veranlasst die These aufzustellen, dass die Namengebung im frühen Mittelalter ausdrücklichen Gesetzmäßigkeiten unterläge, die, wenn auch nicht explizit als solche überliefert, so doch den Zeitgenossen bekannt und von diesen auch strikt eingehalten worden seien.6 Diese Ansicht stellte jüngst Matthias Becher infrage, der auf signifikante Abweichungen zu den bisher etablierten Regeln hinwies und zum Schluss kam, dass wir »nicht von einer starren Namengebungsregel der Karolinger ausgehen [sollen], sondern allenfalls von einer Tendenz«.7 Die wenigen Belege für die Namenswahl zur Benennung zukünftiger Kaiser im karolingischen Westen lassen keine weitreichenden Schlüsse zu. Die byzantinische Konzentration auf den Namen Konstantin ist angesichts der im Osten bezeugten Namensvielfalt potentieller Herrscher hingegen aufschlussreich. Dieser 6 So noch Eugen Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus. Mit genealogischen Karten und Notizen, in: Francia 18 (1991), 21–69, hier 21. 7 Matthias Becher, Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 665–682, hier 668 (sowie der Beitrag von Matthias Becher in diesem Band, 129–149). Jüngst gefolgt von Sara McDougall, Royal bastards. The birth of illegitamacy, 800–1230 (Oxford Studies in Medieval European History), Oxford 2017, 66–93. Zur frühmittelalterlichen Namensforschung allgemein, siehe Henry B. Woolf, The Old Germanic principles of name-giving, Baltimore 1939; Horst Ebling/Jörg Jarnut/Gerd Kampers, Nomen et gens. Untersuchungen zu den Führungsschichten des Franken-, Langobarden- und Westgotenreiches im 6. und 7. Jahrhundert, in: Francia 8 (1980), 687–745; Hans Jeske, Namen langobardischer Könige und Herzöge, in: Beiträge zur Namenforschung 31 (1996), 43–56; Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997; Dieter Geuenich, Personennamengebung und Personennamengebrauch im Frühmittelalter, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer Grundwissenschaftliche Forschungen 3 = Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 31–41; HansWerner Goetz, ›Nomen‹. Zur Bedeutung von Personennamen in der frühmittelalterlichen Gesellschaft, in: Dieter Kremer (ed.), Onomastik. Akten des 18. Internationalen Kongresses für Namenforschung. Bd. 6: Namenforschung und Geschichtswissenschaften. Literarische Onomastik. Namenrecht. Ausgewählte Beiträge (Ann Arbor, 1981) (Patronymica Romanica 19), Tübingen 2002, 49–60; Dieter Geuenich, Zu den Namen der Alemannenkönige, in: Albrecht Greule et al. (edd.), Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Haubrichs zum 65. Geburtstag gewidmet, St. Ingbert 2008, 641–654; Dieter Geuenich, Die Sprache und die Namen der frühen Alemannen als Indizien eines Alemannischen Gemeinschaftsbewusstseins, in: Walter Pohl/Bernhard Zeller (edd.), Sprache und Identität im frühen Mittelalter (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 20), Wien 2012, 161–170; Michael Mitterauer, Traditionen der Namengebung. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet, Wien 2011; Hans-Werner Goetz/Wolfgang Haubrichs, Namen und Namengebung in Ober- und Unterschichten des frühen 9. Jahrhunderts in der Île-de-France, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 110–204.
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Name verweist unmissverständlich auf den ersten christlichen Kaiser und Gründer der Hauptstadt Konstantinopel, und damit auf den aus byzantinischer Sicht bedeutendsten römischen Kaiser. Als Leon III., dem Begründer der syrischen Dynastie, ein Jahr nach seiner Kaisererhebung 717 ein Sohn geboren wurde, gab er ihm den Namen Konstantinos.8 In Anbetracht der vorausgegangenen turbulenten Jahrzehnte lässt sich hier der frühe Wille erkennen eine neue Dynastie zu gründen. Die offensichtliche Präferenz für den Namen Konstantinos als Benennung potentieller Kaiser belegt nicht nur in diesem spezifischen Fall das Streben nach einem prestigeträchtigen und traditionsreichen Namen, der die Kontinuität des Kaisertums unterstreicht. Der karolingische Name Ludwig, auf den später näher einzugehen sein wird und der auf den Begründer des fränkischen Großreiches und ersten christlichen Frankenherrscher Chlodwig I. Bezug nahm, lässt ähnliche Bestrebungen erkennen. Der Name Leon verwies auf die mit Leon III. begründete syrische Kaiserdynastie. Sein um 750 geborener und bereits ein Jahr später zum Mitkaiser erhobener Enkel Leon (IV.) wurde offensichtlich nach seinem Großvater benannt.9 Der Name seines Vaters Konstantinos kommt bemerkenswerterweise in dieser Generation nicht vor. Mangelnde Gelegenheit dürfte kaum der Grund gewesen sein, denn Konstantinos V. hatte insgesamt sechs Söhne.10 Der zweite relevante Leon ist der Sohn des unglücklichen Kaisers Konstantinos VI.;11 er starb bereits ein Jahr nach seiner Geburt. Insgesamt wurden die Erstgeborenen damit jeweils nach dem Großvater benannt, wodurch sich in der syrischen Kaiserdynastie die Namen Konstantinos und Leon über fünf Generationen jeweils abwechselten. Die Frage, die sich aufdrängt, ist, warum der Name Konstantinos in einigen Generationen nicht vergeben wurde. Die Nachbenennung nach Lebenden stellte offenbar kein Hindernis dar, denn der im Jahr 771 geborene Konstantinos VI. wurde nach seinem Großvater Konstantinos V. (†775) benannt, als dieser noch lebte. Diese Praxis der Nachbenennung nach Lebenden, mit gleichzeitiger Rotation zweier Herrschernamen, unterscheidet sich merklich von der merowingischen Tradition, die zwar ebenfalls vermehrt Nachbenennungen nach dem Großvater kannte, diese aber nur für die Namen bereits verstorbener Verwandter zuließ. Die Nachbenennung nach dem Großvater (und nicht nach dem Vater) war bei den Merowingern folglich das Ergebnis des Umstandes, dass eine Benennung nach lebenden Verwandten ausgeschlossen war.12 Der Befund im byzantinischen 8 9 10 11 12
Leon III., PMBZ 4242. Leon IV., PMBZ 4243/corr. Siehe Anhang; Konstantinos V., PMBZ 3703/corr. Konstantinos VI., PMBZ 3704/corr. Siehe Ewig 1991; Matthias Becher, Die Nachbenennung bei den Merowingern zwischen familiärem Selbstverständnis und politischer Instrumentalisierung, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 43–57. Becher fügt hinzu, dass laut »Hans-Walter Klewitz […]
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Osten hingegen legt nahe, dass hier nicht der Umstand, dass ein Name bereits von einem lebenden Familienmitglied getragen wurde, sondern der Name des Vaters ein entscheidendes Ausschlusskriterium darstellte. In keinem der untersuchten Fälle erhielt der Sohn den Namen des eigenen Vaters. So erklärt sich auch das Fehlen des Namens Konstantinos unter den sechs Söhnen des Konstantinos V. Durch das Bedürfnis, dem Erstgeborenen einen möglichst prestigeträchtigen und auf die kaiserliche Kontinuität verweisenden Namen zu geben, wurden jene zwei Namen abwechselnd vergeben, die sich aus zeitgenössischer Sicht am besten als Name für einen zukünftigen Kaiser eigneten, ein Phänomen, das in der syrischen Herrscherfamilie durchgehend belegt ist. Der Ausschluss des Vaternamens zur Benennung des Sohnes entspricht nicht der bis dahin im byzantinischen Osten üblichen Praxis. Die Benennung nach dem Vater war bei den byzantinischen Kaisern bis in das spätere 7. Jahrhundert durchaus üblich. Konstantin der Große nannte seinen ersten Sohn bekanntlich nach sich selbst, ebenso Valentinian I. seinen 371 geborenen Sohn.13 Im 7. Jahrhundert findet sich dieses Vorgehen nochmals besonders ausgeprägt in der Herakleischen Dynastie. Kaiser Herakleios (610–641)14 nannte seinen Erstgeborenen Flavios Herakleios – dessen Kaisername war Konstantinos, offiziell: Ἡράκλειος νέος Κωνσταντίνος; heute bekannt als Konstantinos III. –,15 ebenso wie seinen Zweitgeborenen, den er ebenfalls Herakleios nannte – zur besseren Unterscheidung wurde dieser jedoch bereits in den zeitgenössischen Quellen als Heraklonas bezeichnet.16 Eine Generation später nannte Konstantinos III. – mit Taufnamen Flavios Herakleios – seinen Sohn wiederum Flavios Herakleios,17 und auch dieser erhielt bei seiner Erhebung zum Mitkaiser den Namen Konstantinos (= Constans II.).18 Constans II. wiederrum vermachte seinen Kaisernamen sei-
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zwischen 919 und 1250, jeder als Königssohn geborene König nach dem Großvater genannt wurde (Klewitz 1971: 97)« (44); Michael Mitterauer, Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters, in: Ferdinand Seibt (ed.), Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, Bd. 1, München 1988, 386– 399, hier 391f. Flavianus Valentinianus 8, in: Arnold H. M. Jones/John R. Martindale/John Morris (edd.), The Prosopography of the Later Roman Empire. Bd. 1: A. D. 260–395, Cambridge 1971, 934f. Auch Zenons Sohn erhielt den Namen des Vaters. Da dieser vor der Thronbesteigung des Vaters 474 geboren wurde, kann dieser Name nicht mit Blick auf eine mögliche Thronbesteigung erfolgt sein. Zenon 4, in: John R. Martindale (ed.), The Prosopography of the Later Roman Empire. Bd. 2: A. D. 395–527, Cambridge 1980, 1198f. Das Geburtsjahr ist unklar, und auch der Vater nahm diesen Namen erst nach seiner Ankunft in Konstantinopel an, siehe Fl. Zenon 7, PLRE 2, 1200–1201. Heraclius 4, in: John R. Martindale (ed.), The Prosopography of the Later Roman Empire. Bd. 3: A. D. 527–641, Cambridge 1992, 586f. Konstantinos III., PMBZ 3701/corr. Heraklonas, PMBZ 2565/corr. Heraclius Constantinus 38, PLRE 3, 349–351. Constans 2, PLRE 3, 333; PMBZ 3691/corr.
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nem ersten, um die Mitte des 7. Jahrhunderts geborenen, Sohn Konstantinos (IV.), seinen zweiten Sohn nannte er wiederum Herakleios.19 Der Name Herakleios wurde damit über vier Generationen vom Vater auf den Sohn übertragen, wobei dieser Name auch zwei Mal an den Zweitgeborenen ging. Auffällig ist aber, dass diese Namensgleichheit bei regierenden Kaisern offensichtlich durch unterschiedliche Kaiser- resp. Alternativnamen verschleiert wurde, Namen die bereits in den zeitgenössischen Quellen zu finden sind. Ob dies wirklich nur zur besseren Unterscheidung erfolgte oder aber vielmehr darauf zurückzuführen ist, dass bereits im 7. Jahrhundert eine Benennung des Sohnes nach dem Kaiservater aus einem unbekannten Grund unerwünscht war, lässt sich nicht bestimmen.20 Fest steht nur, dass diese Praxis mit der Herakleischen Dynastie ihr Ende fand. Für die Kaiser die bis 717 regierten sind keine Söhne bekannt die innerhalb ihrer eigenen Regierungszeit geborenen sind. Die herausragende Bedeutung, die im byzantinischen Osten dem Namen Konstantinos innerhalb des hier untersuchten Zeitraums zukam, wird durch den Umstand untermauert, dass immer dann, wenn ein (potentieller) Kaiser diesen Namen selbst nicht trug, er seinem Erstgeborenen diesen Namen schenkte. Zwei etwas ungewöhnlichere Beispiele unterstreichen den Stellenwert dieses Kaisernamens. In beiden Fällen war der Vater aus den unteren Gesellschaftsschichten bis zum Kaiserthron aufgestiegen; in beiden Fällen kam der Sohn selbst nie über die Mitkaiserschaft hinaus. Beim ersten Fall handelt es sich um den ersten Sohn des Kaisers Leon V. (813–820).21 Nach seiner Geburt, die vor 810 und damit vor die Thronbesteigung des Vaters 813 datiert, wurde er unter dem Namen Symbatios (Συμβάτιος oder Σαμβάτην) getauft. Als er 813 zum Mitkaiser gekrönt wurde, erhielt er den Kaisernamen Konstantinos.22 Dies ist insofern ungewöhnlich, als dass sein jüngerer, ebenfalls vor 813 geborener Bruder, bereits selbst auf den Namen Konstantinos getauft worden war. Das Problem wurde durch die Umbenennung des Zweitgeborenen gelöst, der nun den immerhin explizit kaiserlichen Namen Basileios erhielt.23 Diese Übertragung des Namens Kostantinos vom zweiten auf den erstgeborenen Sohn unterstreicht, wie wichtig 19 Herakleios, PMBZ 2556/corr. Der letzte sicher belegte Kaisersohn mit dem Namen Herakleios war der erstgeborene Sohn des Konstantinos IV. Siehe Konstantinos IV., PMBZ 3702/corr. Vgl. hierzu Mitterauer 1988, 393. 20 Hilfreich wäre eine Untersuchung der zeitgenössischen Namenspraxis außerhalb des Herrscherhauses, um zu überprüfen, ob eine vergleichbare Veränderung auch dort festzustellen ist. So könnte eingeschätzt werden, inwiefern es sich bei der festgestellten Tendenz innerhalb der Herakleischen Dynastie um eine familienspezifische oder eine allgemeine Tendenz handelte. Fest steht, dass bereits unter den byzantinischen Herrschern des 5. und 6. Jahrhunderts eine Benennung des Sohnes nach dem Vater unüblich war. 21 Leon V., PMBZ 4244/corr. 22 Konstantinos (Symbatios), PMBZ 3925. 23 Basileios, PMBZ 927.
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dieser Name für die Legitimierung eines Mitkaisers und damit auch für die Sicherung der Thronfolge gewesen sein muss – nicht zuletzt dann, wenn der Vater keiner kaiserlichen Familie entsprungen war. Beim zweiten Fall handelt es sich um den um 859 geborenen Sohn des ersten makedonischen Kaisers Basileios I. (866–886).24 Dieser wurde sieben Jahre vor der Thronbesteigung des Vaters geboren und hatte den auch außerhalb des Kaiserhauses beliebten Namen Konstantinos erhalten.25 Eine nachträgliche Umbenennung hat es in diesem Fall folglich nicht gegeben. Da der Name des Vaters Basileios die Vergabe beider damals geläufiger Kaisernamen ermöglichte, erhielt der zweite, nur wenige Monate nach Beginn der väterlichen Mitkaiserschaft geborene, Sohn den Namen Leon. Nennenswert ist auch der Name eines weiteren Sohnes des Basileios I.: Alexander. Dieser Name sollte womöglich dem in Umlauf gebrachten Gerücht Nachdruck verleihen, die neue Herrscherfamilie sei nicht nur mit Konstantin dem Großen, sondern auch mit dem Makedonenkönig Alexander dem Großen verwandt gewesen.26 Da der erstgeborene Konstantinos (†879) frühzeitig starb, war es schließlich der zweitgeborene Leon der 886, als Leon VI., die Nachfolge seines Vaters Basileios antrat.27 Beide Beispiele unterstreichen aber, dass bei der Benennung eines erstgeborenen Kaisersohnes der Name Konstantinos immer die erste Wahl darstellte. Gleichzeitig wurde offenbar darauf geachtet, dass der Zweitgeborene ebenfalls einen möglichst prestigeträchtigen Namen erhielt, denn auch dieser war oft für die Kaiserherrschaft bestimmt, die auch Nachgeborenen, selbst zu Lebzeiten des älteren Bruders, regelmäßig in Form der Mitkaiserherrschaft zuteilwurde. Wie bereits erwähnt, wurden nur zwei Karolingersöhne als potentielle zukünftige Kaiser geboren. Der Umstand, dass dieser Fall nur zweimal eintraf, lässt sich durch mehrere Faktoren erklären: das karolingische Imperium bestand vergleichsweise kurz, vor Dezember 800 konnte niemand als potentieller Kaiser geboren werden, die erstgeborenen Söhne bis Lothar I. wurden aber alle vor 800 geboren, und Ludwig II. hatte nur zwei Töchter.28 Weitere Faktoren sind die recht kurze Dauer der jeweiligen Kaiserherrschaft seiner Nachfolger sowie die Tatsache, dass deren Kinder – mit einer Ausnahme – alle bereits geboren waren, bevor ihr jeweiliger Vater von der eigenen Kaisererhebung ausgehen konnte. Bei den beiden Kaiserkindern handelte es sich um den um 825 geborenen Ludwig II. von Italien, der Sohn Lothars I. (817/840–855), sowie um den 893 geborenen Ludwig das Kind, der einzige legitime Sohn Arnulfs von Kärnten (896–889).29 24 25 26 27 28 29
Basileios I., PMBZ 20837 und 832/add. corr. Siehe die hohe Anzahl an Namensträgern laut PMBZ. Basileios I., PMBZ 20837 und 832/add. corr. Leon VI., PMBZ 24311. Herbert Zielinski, Ludwig II., Kg. v. Italien, Ks., in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 2177. Wilhelm Störmer, Arnulf von Kärnten, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), 1013–1015.
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Als Pippin dem Jüngeren im Jahr 759 ein dritter Sohn geboren wurde, gab er ihm seinen eigenen Namen. Damit brach er mit der erwähnten merowingischen Tradition, die nur die Nachbenennung nach bereits verstorbenen Verwandten zuließ.30 Dieser erste gesicherte Beleg für die karolingische Benennung nach Lebenden erfolgte damit nach Pippins Thronbesteigung und betraf die Namensgebung des ersten als zukünftiger König geborenen Karolingers.31 Im Jahr 771 nahm Karl der Große dann als erster fränkischer Herrscher die Gelegenheit wahr, seinem legitimen Erstgeborenen den eigenen Namen zu vermachen. Auch wenn die Konstruktion des Namens Karlmann, dessen erster Träger der um 714 geborene Sohn Karl Martells war, durchaus als erster Schritt zur Nachbenennung nach Lebenden gedeutet werden kann,32 muss vor allem die tatsächlich vollzogene Nachbenennung nach dem königlichen Vater seit Pippin als bewusste Maßnahme zur Sicherung der karolingischen Königswürde und damit als Wende gedeutet werden.33 Wie Michael Mitterauer bereits dargelegt hat, dürfte diese Benennung der eigenen Kinder nach verwandten Königen die Hervorhebung der Kontinuität des fränkischen Königtums zum Ziel gehabt haben, ein Anspruch, der offenbar wichtiger war als der Verweis auf die eigene Familiengeschichte.34 Eindrücklich lässt sich dies anhand der Namen von Karls viertem und fünften Sohn belegen: Nachdem Karls Frau Hildegard 778 Zwillinge geboren hatte und die drei einzigen karolingischen Königsnamen Pippin, Karl und Karlmann bereits vergeben waren, wurde nicht auf die Namen verstorbener Verwandter, sondern auf Namen von Merowingern zurückgegriffen: der erste wurde mit Ludwig nach Chlodwig I. benannt, sein Zwillingsbruder Lothar nach König Chlothar I., d. h. es wurde auf die Namen der zwei wichtigsten Merowingerkönige zurückgegriffen.35 Obwohl die Benennung nach dem Namen des Vaters unter den 30 Vgl. Mitterauer 1988, 386–390. 31 Mitterauer 1988, 387. Den Namen des Vaters, Karl Martell, vergab Pippin erst nach dessen Tod (388). Siehe auch Wolfgang Haubrichs, Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ›germanischen‹ gentes. Tradition – Innovation – Differenzen, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (edd.), Verwandtschaft, Name und Soziale Ordnung (300–1000) (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 90), Berlin/Boston 2014, 29–72, hier 62f. 32 Mitterauer 1988, 388 vermutet, Karl Martell habe bereits durch das Additiv *mann einen frühen Versuch gestartet, eine auf seinen Namen bezogenen Tradition zu etablieren. Für die Zeit vor der Generation Karls des Großen gibt es nur unwahrscheinliche Beispiele für die Nachbenennung nach Lebenden, siehe ebd. 389f. Hierzu auch Haubrichs 2014, 62; Jörg Jarnut, Karlmann, frk. Hausmeier, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 995f. 33 Mitterauer 1988, 386f., bezeichnet erst die Benennung Karls des Jüngeren als Wende. Siehe auch Haubrichs 2014, 63. 34 Mitterauer 1988, 392. 35 Jörg Jarnut, Chlodwig und Chlothar. Anmerkungen zu den Namen zweier Söhne Karls des Großen, in: Francia 12 (1984), 645–651, hier 645 und 648 geht davon aus, dass der zweite Name sich auf Chlothar I. beziehen muss (nicht Chlothar II.), da er zusammen mit Chlodwig I. zu
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Karolingern sehr häufig war, erhielt diesen in den meisten Fällen einer der Nachgeborenen, wie es bei den Söhnen Ludwigs I. des Frommen, Lothars I., Ludwigs II. des Deutschen sowie Karl II. dem Kahlen der Fall war. Nur Ludwig III. der Jüngere und Ludwig II. der Stammler nannten um 887 resp. im Jahr 863 jeweils ihren Erstgeborenen nach sich selbst. Ursprung der mit der Karolingerherrschaft etablierten Tradition der Nachbenennung nach Lebenden dürfte das Frankenreich selbst sein. Wolfgang Haubrichs hat darauf hingewiesen, dass im langobardischen Lucca bereits 762 eine erste Nachbenennung von Söhnen nach dem Vater nachweisbar sei (allerdings weder im Hochadel noch in der Königsfamilie). Bis 769 folgen weitere Fälle aus Brescia, Pisa und Como. Ab 778 habe es außerdem unter den Alamannen vereinzelt Nachbenennungen nach dem Vater gegeben.36 Offensichtlich war die Tendenz der Lebendnachbenennung im späteren 8. Jahrhundert ein zunehmend verbreitetes Phänomen, inwiefern es diese Praxis bereits vorher gegeben oder ab wann diese Namenstradition außerhalb der Herrscherhäuser eingeführt wurde, kann m. E. angesichts der erst um diese Zeit verbesserte Quellenlage für die Bevölkerungsschichten unterhalb der Elite jedoch kaum abschließend geklärt werden. Als Vorbild für eine neue Namenstradition eines aufsteigenden Herrscherhauses scheinen beide hier genannte Fälle eher ungeeignet. Weniger unwahrscheinlich ist, dass die Karolinger die Nachbenennung nach Lebenden in Anknüpfung an antike oder auch an herakleische Vorbilder übernommen hatten.37 Im Gegensatz zum zeitgenössischen byzantinischen Kaisertum praktizierten diese, wie oben dargelegt, jeweils die Nachbenennung nach Lebenden, und dies ohne den seit der syrischen Kaiserdynastie nachweisbaren Ausschluss des Vaternamens vorzunehmen. Grundlegender für die Einführung der Nachbenennung nach Lebenden dürfte m. E. aber das bereits erwähnte Bestreben sein, die Kontinuität innerhalb des fränkischen – und möglichst karolingischen – Königtums hervorzuheben sowie der Umstand, dass die einzigen zur Verfügung
den beiden berühmtesten und am längsten lebenden Merowingern gehöre und außerdem als großer Sachsensieger galt. 36 Haubrichs 2014, 63f. 37 Haubrichs 2014, 63 stellt ebenfalls eine Verbindung zur antiken Namenspraxis her. Dass die im Römischen Reich gebräuchliche Nachbenennung nach Lebenden in anderen nachrömerzeitlichen Herrschaftsbereichen zumindest vorerst überlebt hat, belegen Martina Hartmann, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009, 180, die auf den ostgotischen Namen Amalafrida-Theodenande verweist, die Tochter des Theodahad (535–536) und der Amalafrida, sowie Mitterauer 1988, 392, Anm. 26, der auf die im burgundischen Königshaus nachweisbare Nachbenennung nach Lebenden verweist, indem Chilperich II. seinen Namen noch zu Lebzeiten seines Onkels Chilperich I. erhalten haben muss. Mitterauer spricht sich außerdem gegen die von Eckhardt vorgeschlagene These aus, das Einsetzen der Nachbenennung nach Lebenden sei auf das Wirken des Bonifatius zurückzuführen (391 und 393f.).
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stehenden Königsnamen aus der eigenen Dynastie bereits von einem lebenden Familienmitglied getragen wurden.38 Im byzantinischen Osten verwies der nicht nur als Benennung für zukünftige Kaiser beliebte Name Konstantinos eindeutig auf den Begründer des christlichen Kaiserreiches Konstantin den Großen, ähnlich wie auch Ludwig an Chlodwig I. und damit an den Urheber des christlichen Frankenreiches erinnerte. Der Umstand, dass im Frankenreich kein karolingischer, sondern mit Ludwig ein ursprünglich merowingischer Name als fränkischer Herrscher- und Kaisername dominieren sollte (diesen Namen erhielten insgesamt fünf Erstgeborene), war um 800 noch nicht absehbar. Im 8. Jahrhundert war der auf Pippin den Älteren zurückgehende Name Pippin weitaus prestigeträchtiger, wie die Namen der Söhne Karls des Großen belegen:39 nachdem sein erster, womöglich unehelicher, Sohn Pippin von der Thronnachfolge ausgeschlossen wurde, sollte sein Name offenbar für die Herrscherdynastie erhalten bleiben. Folglich wurde 781 die Salbung von seinem jüngeren Halbbruder Karlmann zum italischen Unterkönig durch Papst Hadrian I. dazu genutzt, um ihn mit dem offenbar vergleichsweise prestigeträchtigeren Namen Pippin umzubenennen40 – ein Vorgehen, das an den in etwa vergleichbaren Fall des bereits erwähnten Symbatios-Konstantinos erinnert. Für den Umstand, dass die Namen Pippin und Karl als Herrschernamen an Bedeutung verloren, waren vor allem biologische Zufälle verantwortlich. Von den Söhnen Karls des Großen überlebte bekanntlich Ludwig als einziger seinen Vater. Seinem ersten legitimen Sohn gab Ludwig, im Andenken an seinen bereits im Kleinkindalter verstorbenen Zwillingsbruder, den Namen Lothar. Erst die darauffolgenden Söhne erhielten die Königsnamen Pippin und Karl sowie mit Ludwig erneut den Namen des Vaters. Der Erstgeborene Lothar I. folgte seinem Vater auf dem Kaiserthron. Dieser nannte seinen eigenen erstgeborenen Sohn und späteren Kaiser wiederum nach seinem eigenen Vater Ludwig II. Nachdem der Name Ludwig damit bereits mit zwei Kaisern in Verbindung gebracht werden konnte, verdrängte dieser den Namen Pippin fast völlig, und selbst der Name Karl wurde anschließend nur noch an nachgeborene Söhne vergeben. Wie eingangs angedeutet, hatte die scheinbare Selektivität, die bei der Benennung zukünftiger Herrscher angewandt wurde, ihre Grenzen. Ein Blick auf die Namen illegitimer Karolingersöhne bestätigt durchaus, dass die Namen38 Ähnlich Mitterauer 1988, 391. 39 Der Name Karl selbst war vergleichbar neu, sein erster Träger war Karl Martell, siehe Ulrich Nonn, Karl Martell. Name und Beiname, in: Uwe von Ludwig/Thomas Schilp (edd.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62), Berlin/New York 2008, 575–586, hier 575f. 40 Bernd Schneidmüller, Pippin (Karlmann), Kg. v. Italien, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), 2171.
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auswahl zur Benennung legitimer Kinder tendenziell stark eingeschränkt war, und damit, dass es klare Präferenzen für Namen gab welche die institutionelle Kontinuität des eigenen Herrschertums hervorhoben. Und tatsächlich unterschieden sich die Namen illegitimer Söhne meist deutlich von diesen Herrschernamen: diese trugen Namen wie Arnulf, Bernhard, Drogo, Hugo, Ratold oder Zwentibold. Der unter den Kapetingern zum Königsnamen aufsteigende Name Hugo taucht unter den illegitimen Karolingersöhnen insgesamt drei Mal auf. Bemerkenswert ist der Name Theoderich, den der jüngste illegitime Sohn Karls des Großen trug und wohl an den gleichnamigen Ostgotenkönig und Zeitgenossen Chlodwigs I. erinnern sollte. Die Namen Drogo und Arnulf lassen sich auf pippinidische Vorfahren zurückführen: Den Namen Drogo, den ein Sohn Karls des Großen trug, hatte davor bereits der um 670 geborene Sohn Pippins des Mittleren und Plektruds erhalten, und er ist auch noch einmal als Name des 753 verstorbenen Sohnes des fränkischen Hausmeiers Karlmann belegt.41 Wie oben kurz angedeutet, wurden in den vergangenen Jahren mehrere Fälle aufgedeckt, welche nicht in das bis hierhin gezeichnete Muster passen und folglich die von der älteren Forschung postulierte These eines bestehenden Regelwerks zur Bestimmung geeigneter Namen infrage gestellt haben. Für die Hälfte der in der Forschung als nicht-königlich verstandenen Namen gibt es jeweils einen Fall, wo die Legitimität des jeweiligen Namensträgers wahrscheinlich oder zumindest nicht ausgeschlossen ist. Eindrücklich bezeugen dies die Namen der um 872/73 von Richardis, der Frau Karls des Kahlen, geborenen Zwillinge, von denen der eine den Königsnamen Pippin und der zweite den Namen Drogo erhielt. Wie Matthias Becher zu Recht bemerkt hat, gibt es keinen Grund, warum der eine Sohn als legitim und der andere als illegitim gegolten haben soll, und auch die hohe Kindersterblichkeit – beide Kinder starben tatsächlich im Kleinkindalter – macht eine solche Vorabentscheidung sehr unwahrscheinlich.42 Die wahrscheinlichere Ursache für diese Namenswahl ist die schlichte Tatsache, dass bereits alle gängigen Königsnamen unter den Söhnen Karls des Kahlen vergeben waren. Ein neuer Name war damit die einzige mögliche Option. Bezüglich des Umstands, dass diese Kinder in den Quellen zuweilen mit dem Verweis, sie seien die Söhne einer Konkubine, diskreditiert werden, hat Sara McDougall jüngst eingeworfen, dass dies durch den Versuch Ludwigs des Stammlers zu erklären sei, seine Brüder vom Thron auszuschließen.43
41 Siehe Horst Ebling, Drogo, dux der Champagne, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), 1404 und Otto G. Oexle, Drogo, Sohn Karls d. Gr., in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), 1405. 42 Becher 2008, 667. Becher vermutet, dass der Name Drogo an Karls Onkel erinnern sollte, den Erzbischof Drogo von Metz. McDougall 2017, 78, Anm. 64 übernimmt Bechers These, dass beide Söhne legitim waren. 43 McDougall 2017, 78. Siehe auch Becher 2008, 667.
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Der Fall Arnulfs von Kärnten, des Sohnes des ostfränkischen Königs Karlmann (876–880), belegt, dass selbst ein vermeintlich nicht-königlicher Name keinen Ausschluss vom Thron bedeutete. Sein Name geht auf den 640 verstorbenen Bischof Arnulf von Metz zurück, den merowingerzeitlichen Urahn der Karolinger, und dazwischen trug diesen Namen auch ein illegitimer Sohn Ludwigs des Frommen. Matthias Becher hat darauf hingewiesen, dass Arnulf möglicherweise kein illegitimer Sohn war, da auch die für diese gängige Annahme verantwortlichen Quellen unter Ludwig dem Jüngeren vielmehr das Ziel verfolgt hätten, auf diese Weise Arnulf von seinem Erbe auszuschließen. Tatsächlich gäbe es im Handeln seines Vaters Karlmann keinen Hinweis darauf, dass Arnulf kein vollgültiger Königssohn war. Becher vermutet darum, dass der Sturz von Karlmanns Schwiegervater Ernst wohl Auswirkungen auf den Status seiner Tochter (und Mutter Arnulfs – doch auch hier gibt es angesichts einer lückenhaften Quellenlage offene Fragen) gehabt habe, wodurch auch Arnulfs legitime Geburt infrage gestellt wurde.44 McDougall unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass selbst der Verdacht einer illegitimen Geburt offensichtlich kein grundsätzliches Problem für Arnulfs Herrschaft und selbst seine Kaiserkrönung 896 dargestellt habe, wobei die durch die Wikinger verursachten Unruhen sowie der Umstand, dass es keine bessere oder ›legitimere‹ Alternative zu Arnulf gegeben habe, ebenfalls ihren Beitrag zu den damaligen Entscheidungen geleistet haben dürften.45 Das Schicksal, nachträglich als Sohn einer Konkubine und damit als illegitimer Sohn eines Königs dargestellt worden zu sein, teilten der erste Sohn Karls des Großen, Pippin der Bucklige, sowie der Sohn Karlmann-Pippins (781–810) mit dem ungewöhnlichen Namen Bernhard.46 Die Bedeutung des Namens Pippin im 8. Jahrhundert wird durch den Umstand untermauert, dass kurz nach Pippins 44 Becher 2008, 669–678. Becher vermutet, Ludwig habe sich berechtigt gefühlt, Bayern für sich zu verlangen, da Karlmann Karl dem Dicken bereits Italien übertragen habe. Siehe auch Brigitte Kasten, Chancen und Schicksale ›unehelicher‹ Karolinger im 9. Jahrhundert, in: Franz Fuchs/Peter Schmid (edd.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jh. (Beihefte zur Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Reihe B 19), München 2002, 17–52. 45 McDougall 2017, 91–93. McDougall stellt dabei auch die grundsätzliche Frage, ob die bisher postulierte Konzeption einer illegitimen Verbindung dem zeitgenössischen Verständnis entsprochen habe, und stellt fest, dass weniger das kanonische oder das römische Recht als der möglichst hohe soziale Status und das Netzwerk der Ehefrau entscheidende Kriterien dargestellt haben: »Not compliance with Christian doctrine, but rather the lineage and political power of the aristocratic women Carolingians allied themselves with via marriage, defined legitimacy for their children« (82). Ähnlich auch »[comparably low] social status could have defined Waldrada’s ›legitimacy‹ and that of her son« (87). Kasten 2002, kommt ähnlich zum Schluss, dass die Frage der Illegitimität »in erster Linie eine variabel gehandhabte Strategie des Machterhalts« darstelle (52). 46 Diesen Namen trug später auch der illegitime Sohn Karls des Dicken (876–888). Siehe Becher 2008, 668.
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Geburt um 768, als Sohn der Himiltrud, auch der 770 geborene Sohn Karlmanns diesen Namen erhielt.47 Der Königsname Pippins des Buckligen hat in der Forschung mehrmals die Frage aufgeworfen, ob er ursprünglich als legitimer Sohn seines Vaters betrachtet worden sei.48 Tatsächlich wurde Pippin schließlich mit dem Argument von der Thronfolge ausgeschlossen, er sei der Sohn einer Konkubine.49 Wahrscheinlicher ist aber, dass dieser Grund erst nach dem 792 von Pippin geplanten Umsturzversuch gegen seinen Vater angeführt wurde mit dem Ziel, auch ihn als potentiellen Thronnachfolger – über sein Exil im Kloster Prüm hinaus – zu delegitimieren.50 Ganz ähnlich erging es offenbar dem um 797 geborenen Bernhard, dem König von Italien, nachdem auch er, im Anschluss an die 817 in Aachen beschlossene Divisio Imperii, einen Aufstand gegen den Kaiser gewagt hatte. In seinem Fall war es sein Name, der die ältere Forschung dazu veranlasst hat, von einer illegitimen Geburt auszugehen. Wie die Darlegung Steffen Patzolds aufzeigt, widerspricht dieser Annahme aber bereits der Umstand, dass Bernhard die Thronfolge seines Vaters regulär übernahm. Dennoch wurde er in der Divisio Imperii seines Vaters offenbar übergangen,51 ein Umstand, der damit weniger auf seine vermeintliche Herkunft zurückzuführen sein dürfte, als vielleicht auf den Wunsch der in Aachen zusammengetroffenen Mehrheit, nur die Erben Ludwigs des Frommen als Thronfolger zu fördern. In
47 Mitterauer 1988, 387. Zur Rivalität zwischen den beiden Brüdern, siehe Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf und seine Folgen. Die Krise des Frankenreiches (768–771) in: Georg Jenal (ed.), Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 37), Stuttgart 1993, 165–176. 48 Da Pippin recht kurz nach der karolingischen Königserhebung geboren wurde, ist es möglich, dass zu diesem Zeitpunkt noch kaum zwischen Königsnamen und den übrigen Namen unterschieden wurde. 49 Einhardi Vita Karoli Magni, ed. Georg H. Pertz/Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [25]), Hannover/Leipzig 1911, c. 20, 25: Erat ei filius nomine Pippinus ex concubina editus, cuius inter ceteros mentionem facere distuli, facie quidem pulcher, sed gibbo deformis. Dagegen spricht der in dieser Aussage allerdings problematische Brief Papst Stephans III. an Karl und Karlmann, Codex Carolinus, ed. Wilhelm Gundlach, in: Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 3, Berlin 1892, 469–657, Nr. 45, 561: iam Dei voluntate et consilio coniugio legitimo ex praeceptione genitoris vestri copulati estis, accipientes, sicut preclari et nobilissimi reges, de eadem vestra patria, scilicet ex ipsa nobilissima Francorum gentae, pulchrissimas coniuges. 50 Ausführlich zum Umsturzversuch: Carl I. Hammer, ›Pipinus Rex‹. Pippin’s Plot of 792 and Bavaria, in: Traditio 63 (2008), 235–276. Siehe auch Andrea Esmyol, Geliebte oder Ehefrau? Konkubinen im frühen Mittelalter (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 52), Köln 2017, 146–148. 51 Hierzu ausführlich Steffen Patzold, Zwischen Gerichtsurteil und politischem Mord. Der rätselhafte Tod König Bernhards von Italien im Jahr 818, in: Georg Schild/Anton Schindling (edd.), Politische Morde in der Geschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2012, 37–54, besonders 39–45.
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diesem Fall ist es alleine Thegan, der in der Retrospektive Bernhard als Sohn einer Konkubine bezeichnet.52 Ein weiteres interessantes Beispiel für die Benennung eines Herrschersohnes, dessen Geburt nicht ohne Vorbehalte gewesen sein dürfte, ist der um 901 geborene Karl-Konstantin. Er soll Sohn des Buviniden Ludwigs III. des Blinden gewesen sein,53 König und ab 901 auch Kaiser in Italien, und nur über seine Mutter Enkel des Karolingers Ludwig II. von Italien – wodurch dieser Fall etwas aus dem hier gesteckten Rahmen fällt. Der Name Konstantin hat zur Vermutung geführt, dass dieses Kind auch über byzantinische Wurzeln verfügt habe, weshalb die These aufgestellt wurde, dass er der Sohn Ludwigs III. und dessen mutmaßlicher Ehefrau Anna gewesen sei, der Tochter des byzantinischen Kaisers Leon VI. Der Umstand, dass er offensichtlich nie für die Nachfolge seines Vaters vorgesehen war – Karl-Konstantin starb erst 962 als Graf von Vienne – hat die Vermutung gestützt, die Heirat seiner Eltern sei zum Zeitpunkt seiner Geburt zumindest von Seiten einer Partei umstritten gewesen, und er sei folglich als illegitimer Sohn betrachtet worden. Die in der älteren Forschung vertretene These, die in einem Brief angesprochene Heirat zwischen Ludwig III. und Anna sei auch tatsächlich vollzogen worden, wurde allerdings 2000 von Otto Kresten mit guten Argumenten widerlegt,54 wodurch auch Ludwigs Vaterschaft und Verwandtschaft zu Karl-Konstantin infrage gestellt ist. Ohne hier auf die womöglich ohnehin nie abschließend aufzuklärenden Fragen eingehen zu können,55 ist aber bereits die Verbindung der Namen Karl und Konstantin höchst bemerkenswert. Im byzantinischen Osten sind illegitime Kaiserkinder vergleichsweise selten belegt, für den hier untersuchten Zeitraum ließ sich kein Eintrag finden.56 Nur die Herkunft des Kaisersohnes Leon (VI.) war immerhin insofern umstritten, als dass nie endgültig geklärt wurde, ob er der Sohn des Kaisers Michael III. war, oder aber der Sohn von dessen offiziellen Nachfolger Basileios I. Dieser Umstand hatte aber offensichtlich weder auf seine Benennung noch auf seine Rolle als zu-
52 Thegan, Gesta Hludowici imperatoris, ed. Ernst Tremp, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 64, Hannover 1995, 167–259, c. 22, 210: Ipso eodemque anno Bernhardus, filius Pippini ex concubina natus; Patzold 2012, 50; McDougall 2017, 82f. Siehe auch Becher 2008, 666–668. 53 Ludwig III. der Blinde, PMBZ 24756. 54 Otto Kresten, Zur angeblichen Heirat Annas, der Tochter Kaiser Leons VI., mit Ludwig III. ›dem Blinden‹, in: Römische Historische Mitteilungen 42 (2000), 171–211. 55 Die durchaus nachvollziehbare Wiederlegung von Kresten erklärt leider nicht, warum der Name Karl-Konstantin vergeben wurde. 56 Timothy Venning/Jonathan Harris (edd.), Chronology of the Byzantine Empire, Basingstoke 2006 nennt insgesamt nur fünf illegitime Söhne, darunter keinen aus der Zeit zwischen 717 und 905.
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künftiger Kaiser eine Auswirkung, denn er wurde bereits im Alter von drei Jahren von Basileios zum Mitkaiser erhoben.57 Die untersuchten Namen byzantinischer und karolingischer Herrscher belegen, dass diese, nie willkürlich ausgewählt, ihre Träger vielmehr gezielt als zukünftige Herrscher kennzeichnen sollten. Diese Herrschernamen haben offenbar zur allgemeinen Akzeptanz eines Kindes als Nachfolger des Vaters beigetragen, weshalb die Namenswahl als Instrument zur Herrschaftsetablierung, Legitimierung und Festigung eingesetzt werden konnte und wurde. Die Auswahl an Namen war sowohl im Reich der Karolinger als auch im byzantinischen Osten grundsätzlich begrenzt. Dies trifft insbesondere auf die Namen der Erstgeborenen sowie zukünftiger Kaiser zu. Möglich war eine enge Auswahl jeweils durch den Umstand, dass in beiden Herrschaftsbereichen im hier untersuchten Zeitraum die Nachbenennung nach lebenden Verwandten praktiziert wurde. Die beiden häufigsten Kaisernamen Konstantin und Ludwig, welche jeweils auf den Reichsgründer verweisen, bezeugen die Bedeutung von Kontinuität innerhalb der eigenen Herrschaftsinstitution, eine Botschaft, die in beiden Bereichen offenbar wichtiger war als die der dynastischen Kontinuität. Im karolingischen Westen führten zeitgenössische Umstände dazu, dass mit dem häufigsten Herrschernamen eine Verbindung zu den Merowingern hergestellt wurde, im byzantinischen Osten war die Kontinuität des Kaisertums durch das Prinzip des Wahlkaisertums grundsätzlich eine überdynastische Konstante. Der für diese Analyse untersuchte Namensbestand stellt eine recht willkürliche Auswahl dar, die hier erzielten Ergebnisse lassen sich folglich nicht auf andere Dynastien und Epochen übertragen. Wie ein kurzer Blick auf die byzantinische Namenspraxis vor 717 zeigen konnte, wurde der Vatername als Benennung für den Sohn erst mit der syrischen Kaiserdynastie eingeführt und könnte damit ursprünglich eine für diese Familie spezifische Tradition dargestellt haben. Ein Blick in die Zeit nach 905 würde zeigen, dass es keine mit den syrischen Namen vergleichbare Rotation zweier Namen über einen längeren Zeitraum mehr geben sollte und auch der Name Konstantin zunehmend seltener dem Erstgeborenen gegeben wurde. Der Umstand, dass dennoch viele Kaiser diesen Namen trugen, ist nach der syrischen Dynastie wiederum mehr dem biologischen Zufall als einer bewussten Strategie geschuldet. Im Westen haben die Karolinger seit ihrer Thronerhebung mit der merowingischen Namenstradition gebrochen, indem sie nun auch die Namen noch lebender Verwandte an ihre Kinder weitergaben, einschließlich des im zeitgenössischen Byzantinischen Reich ausgeschlossenen Vaternamens. Prominent sollte diese Praxis unter den Ottonen fortgeführt werden, indem der Name Ottos I. über drei Generationen jeweils dem Erstgeborenen übertragen wurde. Im westlichen Haus Kapet hin57 Leon VI., PMBZ 24311.
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gegen sollten sich vor allem die Namen Ludwig und Philipp abwechseln, wenn auch nicht mit den Namen des syrischen Herrscherhauses vergleichbar rotierend. Der Vergleich zwischen zwei Fallbeispielen ermöglicht aber auch grundsätzlich, d. h. über den jeweils untersuchten Zeitraum hinaus, die hinter den mittelalterlichen Namenspraxen liegenden Strategien, die daraus hervorgegangenen Mechanismen sowie die Ursachen für die jeweiligen Entscheidungen und dahinter stehenden Prozesse zu untersuchen und besser zu verstehen. Ein Blick auf die Unterschiede erwies sich in den hier untersuchten Fällen als besonders erhellend: in Byzanz ist eine selektive Auswahl nur in Bezug auf die Namen der erstgeborenen, gelegentlich auch zweitgeborenen, Kaiserkinder festzustellen, wohingegen die Karolinger allen legitimen Söhnen einen der wenigen Herrschernamen vermachten. Grund ist, dass es im byzantinischen Osten zwar die Möglichkeit des Mitkaisertums gab, aber nur einen Thronnachfolger geben konnte. Im Westen hingegen waren alle legitimen Söhne potentielle Thronerben. Dadurch variierten die Namen der Nachgeborenen im Osten viel stärker als im Westen. Der Vergleich ermöglicht auch bisher in der Forschung oft übersehene Nuancen klarer hervorzuheben, so in diesem Fall vor allem die Unterscheidung zwischen der Nachbenennung nach dem Vater oder Großvater und der Nachbenennung nach Lebenden oder Verstorbenen, zwei unterschiedliche Kriterien, die nicht miteinander vermischt werden dürfen.58
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58 So verweist z. B. Mitterauer 1988, 393 auf den 771 und damit noch zu Lebzeiten seines Großvaters Konstantin V. geborenen Konstantin VI. als Beispiel für eine Nachbenennung nach Lebenden.
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Anhang Byzanz Vater (Herrschaftszeit) (1) Leon III. (717–741)
Sohn (Geburtsjahr)0=Konkubine/1ff.=Ehefrau (1) Konstantinos V. (*718)
(2) Konstantin V. (Mitkaiser seit 31. März 720; Hauptkaiser 18. Juni 741–775)
(2) Leon IV. (*750)1 (3) Christophoros (*ca 756/7)3 (4) Nikephoros (*ca 756/8?/vor 763)3 (5) Niketas (*763)3 (6) Anthimos (*768/9)3 (7) Eudokimos (* frühstens 769)3
(3) Leon IV. (751/775–780) (4) Konstantinos VI. (Mitkaiser 776, basileus 780–797)
(8) Konstantinos VI. (*771) (9) Leon (*796–797)
(5) Leon V. (12. Juli 813–820)
(10) Symbatios (Συμβάτιος)-Konstantinos (*ca 800/10, 813 bis 820) (11) Basileios (*vor 813) (12) Gregorios (13) Theodosios
(6) Theophilos (Mitkaiser seit 12. Mai 821; (14) Konstantinos 829–842) (*zwischen 821/2 und 829–830/35) (15) Michael III. (*839/40) (7) Basileios I. (Mitkaiser am 26. Mai 866, 867–886), Beiname: Konstantinos
(16) Konstantinos (*ca 859. September 879)1 (17) Bardas (*wohl vor 866–Kleinkindalter). (18) Leon VI. (*19 September 866)2 (19) Stephanos (*November 867)2
(8) Leon VI. (886–912)
(20) Alexandros III. (*870)2 (21) Konstantinos VII. Porphyrogennetos (*905)0/1
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Laury Sarti
Franken Vater (Herrschaftszeit) (1) Karl der Große (768–814)
Sohn (Geburtsjahr)0=Konkubine/1ff.=Ehefrau Pippin der Bucklige (*um 765/70–811)0/1 (1) Karl der Jüngere (*772/3–811) (2) Karlmann (*777–810)3 (nachbenannt in Pippin) (3) Ludwig der Fromme (778–840)3 (4) Lothar (*778–779/80)3 Drogo (801–855, Bf v. Metz)0 Hugo0 Theoderich0
(2) Karlmann-Pippin (781–810) (3) Ludwig I. der Fromme (781/814–840)
Bernhard (*ca 797–818)0/1? König Italien Arnulf (*ca 794 bis nach 841)0, Graf von Sens (5) Lothar I. (795–855)1 (6) Pippin I. (797–838)1, König von Aquitanien (7) Ludwig ›der Deutsche‹ (806–876)1, Kg des ostfränk. Reiches (8) Karl II. »der Kahle« (823–877)2, Kg westfränk. Reich
(4) Bernhard (813–818) (5) Lothar I. (814/817/840–855)
(9) Pippin (*ca 815–850), Graf (10) Ludwig II. (*ca 825–875), Kaiser und Italien (11) Lothar II. (*ca 835–869), König von Lothringen (12) Karl von der Provence (*ca 845–863), Kg v. Provence und Mittelreich
(13) Karlmann (*853)0 (6) Ludwig II. der Deutsche (817/843–876) (14) Karlmann (829–880)1, Kg von Bayern (15) Ludwig III. der Jüngere (835–882)1 (16) Karl der Dicke (839–888)1 (7) Lothar II. (822/855–869)
Hugo (*um 861–nach 895)0
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Die Namen zukünftiger Herrscher
(Fortsetzung) Franken Vater (Herrschaftszeit) (8) Karl II. der Kahle (843/875–877)
Sohn (Geburtsjahr)0=Konkubine/1ff.=Ehefrau (17) Ludwig II. der Stammler (846–879)1, Kg. 877 (18) Karl das Kind (847/8–866)1, Kg. Aquitanien (19) Karlmann (*ca 848–876)1, 854 Tonsur, 860 Abt (20) Lothar (*unbekannt?-†865 vor 25. Dezember)1, 861 Mönch/Abt (21) Drogo (*872/3)2 (22) Pippin (*872/3)2 (23) Karl (*10. Oktober 876–vor 7. April 877)2
Arnulf von Kärnten (*850–899)0, Hz., Kg., Kaiser (10) Ludwig III. der Jüngere (876–880/882) Hugo (*ca 855/860–880)0
(9) Karlmann (876–880)
(11) Ludwig II. der Stammler (877–879)
(24) Ludwig (*ca 877–879)1 (25) Ludwig III. (863/865–882)1, König (26) Karlmann (866–884)1, König (27) Karl III. der Einfältige (879–929)2 König
(12) Karl III. d. Dicke (876–888) (13) Arnulf von Kärnten (896–899)
Bernhard (*ca. 876–891/892)0 Zwentibold (*vor 889)0 Ratold (*vor 889)0 (28) Ludwig das Kind (*893–911)1
Kapitälchen als Kaisernachfolger vorgesehen. Fett Herrschernamen. Kursiv Geburt vor der Thronbesteigung des Vaters (innerhalb einer Dynastie). Gewellt bemerkenswerte Ausnahme. 1 0 / Ehefrau/unehelicher Sohn.
Annette Schmiedchen
Herrschernamen als Legitimationsinstrument im frühmittelalterlichen Indien (6. bis 10. Jahrhundert)
Abstract Royal names served the legitimation of rule and power in early medieval India. The naming conventions of the West Indian dynasty of the Maitrakas (6th–8th centuries) illustrate their anxiety to homogenise royal names and epithets for the sake of dynastic continuity, as well as the use of coronation names from the 7th century onwards. Under the central Indian Ra¯straku¯tas (8th–10th centuries), it becomes even clearer that royal names and epithets were ˙˙ ˙ related to the concept of an ideal Indian ruler. The specific Ra¯straku¯ta king names ending in ˙˙ ˙ °varsa (»rain[ing]«) allude to their great munificence. Several religiously connoted epithets, ˙ th which were introduced in the 10 century and might be also regarded as coronation names, show the endeavour to effectively tie this dynasty’s history to the world of the gods.
Oskar von Hinüber beklagte 1980, dass »zur Erforschung der indischen Namen kaum die Grundlagen gelegt« seien.1 Rüdiger Schmitt konstatierte 1995, dass diese Klage noch immer aktuell sei;2 und auch seither hat sich der Forschungsstand nicht grundlegend geändert. Prinzipiell stehen für die Namensforschung zum vormodernen Indien – ebenso wie für viele andere Forschungsfelder – zwei Quellengattungen zur Verfügung: normative Texte und Texte aus der Praxis. Zu den normativen Texten zählen in diesem Zusammenhang vor allem die ›Grhyasu¯tras‹, die zu den soge˙ nannten ›Veda¯n˙gas‹, den »Gliedern des Veda« gehören und der indischen Tradition nicht mehr als Offenbarung (s´ruti), sondern nur als Überlieferung (smrti) ˙ gelten.3 Die ›Grhyasu¯tras‹ lehren das Hausritual (abgeleitet von grha = »Haus«) ˙ ˙ und stellen Geschichtsquellen von erstrangiger Bedeutung dar. Sie geben um1 Oskar von Hinüber, Die Kolophone der Gilgit-Handschriften, in: Studien zur Indologie und Iranistik 5/6 (1980), 49–82, hier 53. 2 Rüdiger Schmitt, Alt- und mittelindoarische Namen, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 1, Berlin/New York 1995, 645–657, hier 645. 3 Klaus Mylius, Geschichte der Literatur im alten Indien (Reclam-Reihe 1021), Leipzig 1983, 87–90.
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Annette Schmiedchen
fassend Auskunft über die Lebensführung im alten Indien: von der Empfängnis über die Namensgebung, Initiationsriten, die Hochzeit bis hin zum Totenkult. Wie für zahlreiche andere Quellengattungen ist auch die Datierung der ›Grhyasu¯tras‹ problematisch. Sicher ist jedoch, dass sie bereits im indischen ˙ Altertum, d. h. bis spätestens zur Gupta-Zeit, entstanden sind. Nach indischem Verständnis wohnt dem Namen magische Kraft inne, und der Name ist ein wesenhafter Teil seines Trägers. Der Name wird dem Kind in einem zeremoniellen Vorgang gegeben, und es finden sich sehr detaillierte Vorschriften über Form und Inhalt der Namen für Neugeborene. Auch andere Aspekte der Namensgebung (na¯makarana) werden in den Texten behandelt, beispielsweise ˙ der geeignete Zeitpunkt für diesen Akt.4 Für die Frage, inwiefern Namen als Legitimationsinstrumente dienen konnten, bietet sich ein gezielter Blick auf Herrschernamen an. Hier soll es exemplarisch um indische Königsnamen (in Sanskrit) aus dem frühmittelalterlichen West- und Zentralindien gehen. Inschriften stellen die für solche Untersuchungen prädestinierten Praxistexte dar. Die ungefähr 120 bekannten Kupfertafelurkunden der Maitraka-Dynastie aus Gujarat (6.–8. Jahrhundert) und die etwa 75 erhaltenen Kupfertafelurkunden der Ra¯straku¯ta-Dynastie aus Gujarat und ˙˙ ˙ Maharashtra (8.–10. Jahrhundert) sind für die folgenden Ausführungen ausgewertet worden. Auf Kupferplatten eingravierte Inschriften dokumentieren in der Regel religiöse Stiftungen von Königen. Neben Stiftungsdetails enthält dieser Inschriftentypus Herrschertitulaturen und Königsgenealogien. Auch für Indien ist die Sitte belegt, dass Herrscher bei Regierungsantritt einen ›Thronnamen‹ annahmen. R. Schmitt erwähnt in diesem Kontext den Beinamen »As´oka« (»Ohneleid«) für den altindischen Maurya-König Priyadars´in (Prakrit: Piyadassi).5 Normative Vorgaben zu der Verwendung von Krönungsnamen scheinen aber nicht überliefert zu sein. Personennamen – insbesondere die von Herrschern – sollten von dem Namen einer Gottheit oder eines Weisen abgeleitet sein.6 Zweistämmige Vollnamen sind bei den Königsnamen besonders typisch; die Verkürzung zu Kurzformen, d. h. der Wegfall des Vorder- oder Hintergliedes, war ebenfalls möglich.7 Die vergebenen Namen sollten denen der Vorfahren ähneln; diese Regel galt wohl insbesondere für Königsnamen. Auch war die beispielsweise für die Gupta-Dynastie belegte Nachbenennung eines Enkels nach dem betreffenden Großvater im vormodernen Indien nicht untypisch.8 R. Schmitt hat mit Bezug auf Rudolf Otto Franke festgestellt: »Die semantische Analyse der Namen nach ihrem Inhalt ist von vorneherein dadurch erschwert, 4 5 6 7 8
Schmitt 1995, 647. Ebd., 648f. Ebd., 648. Ebd., 649. Ebd., 648.
Herrschernamen als Legitimationsinstrument
177
daß nicht alle bezeugten Namen analysiert werden können und ›bedeutungsvoll‹ sind. Insbesondere eine Namenwahl, die familiäre Bindungen betont […] durch Nachbenennung nach früheren Familienmitgliedern oder durch Wiederholung eines Namenelementes und die folglich Gestalt annimmt in ›diachronischen‹ […] bzw. ›synchronischen‹ Zeugnissen einer Teilidentität von Namen […], ist bekanntlich für das Aufkommen von Namenformen verantwortlich, deren Elemente ›in durchaus keiner logischen Beziehung zu einander zu stehen brauchen, sondern ohne Rücksichtnahme auf den Sinn ganz willkürlich an einander gefügt werden können‹.«9 Diese Phänomene seien zunächst am epigraphischen Material der Maitrakas vom frühen 6. bis zum zweiten Drittel des 8. Jahrhunderts untersucht, deren Inschriften bis auf einige Schutz- und Fluchverse am Ende durchgängig in Prosa verfasst sind. In den am Anfang stehenden Prosagenealogien wird ein Abriss der Dynastiegeschichte gegeben, wobei diese Passagen im Verlaufe der MaitrakaHerrschaft mehrfach modifiziert wurden, und dies zumindest partiell auf eine Weise, dass sich die Stammbaumkonstruktion mitunter schwierig gestaltet. Aus den ca. 120 bekannten Kupfertafelurkunden der Maitrakas ergibt sich eine Abfolge von insgesamt 19 Herrschern, die jedoch nicht alle eigene Urkunden hinterlassen haben. Zudem nennen die Genealogien einige Dynastiemitglieder, die nicht regiert haben. Namen, Beinamen und Titel der Könige sind auch in den Titulaturen belegt, die sich an die Genealogie anschließen.10 Bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts wirken die urkundlich bezeugten Namen der Maitraka-Könige, bei denen ein starker Hang zur Sekundogenitur sichtbar ist, noch recht zufällig. Vom Dynastiegründer Bhatakka sind keine eigenen Urkun˙ den überliefert. Sein Name ist nur aus den Inschriften seiner Nachfolger bekannt, und zwar zunächst in der Prakrit-Form »Bhatakka« und erst später in der ˙ sanskritisierten Version »Bhata¯rka«, einem aus bhata, »Soldat, Krieger«, und ˙ ˙ 11 arka, »Sonne«, gebildeten Kompositum. Für die Nachkommen des Bhatakka / ˙ Bhata¯rka sind mehrere Namen mit dem zweiten Glied °sena belegt (abgeleitet von ˙ Femininum sena¯, »Heer«), das im alten und mittelalterlichen Indien ein produktives Namensbildungselement darstellte: »Dharasena« (4x), »Dhruvasena« (3x) und »Guhasena« (1x).12 9 Ebd., 650. 10 Vgl. Annette Schmiedchen, Kings, Authors, and Messengers: The Composition of the Maitraka Copper-Plate Charters, in: Bharati Shelat/Thomas Parmar (edd.), New Horizons in Indology (Prof. Dr. H. G. Shastri Commemoration Volume), Ahmedabad 2018, 35–41. 11 Monier Monier-Wiliams, A Sanskrit-English Dictionary, Oxford 1899, 89: »arka, the sun«; 745: »bhata, a mercenary, hired soldier, warrior«; »bhata¯rka, N. of the founder of the Valabhı¯ ˙ dynasty«.˙ 12 Zu Namen auf °sena vgl. Schmitt 1995, 648–650; Oskar von Hinüber, Indische Namen in Zentralasien bis 1000 n.Chr., in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissen-
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Annette Schmiedchen
Stammbaum der Maitrakas von Valabhı¯13 1. Bhaṭakka______________________________________________________ | | | | 2. Dharasena [I.] 3. Droṇasiṃha 4. Dhruvasena [I.] 5. Dharapaṭṭa | 6. Guhasena | _____________________________________________________________ 7. Dharasena [II.] | | 8. Śīlāditya [I.] ____________________ 9. Kharagraha [I.] | | | Ḍerabhaṭa___________________________ 10. Dharasena [III.] 11. Dhruvasena [II.] | | | | Śīlāditya [II.] 14. Khara13. Dhruva12. Dharasena [IV.] | graha [II.] sena [III.] 15. Śīlāditya [III.] | 16. Śīlāditya [IV.] | 17. Śīlāditya [V.] | 18. Śīlāditya [VI.] | 19. Śīlāditya [VII.]
Für weitere belegte Königsnamen aus der frühen Maitraka-Zeit müsste wohl Rüdiger Schmitts oben erwähntes Argument in Anspruch genommen werden, »daß nicht alle bezeugten Namen analysiert werden können und ›bedeutungsvoll‹ sind«.14 Auch wäre denkbar, dass es sich wie bei »Bhatakka« > »Bhata¯rka« ˙ ˙ um Versuche der Sanskritisierung von mittelindischen Prakrit-Namen handelte. Zwei Könige hießen »Kharagraha«, gebildet aus khara, »Esel«, und graha, »ergreifend, fassend«. Je einmal im Stammbaum erscheinen die Königsnamen »Dronasimha« (aus drona, »Trog«,15 und simha, »Löwe«) und Dharapatta (aus ˙ ˙ ˙ ˙ ˙˙ dhara, »Berg«, und patta = »Tafel, Platte; Stirnschmuck«) und der Nicht-Sans˙˙ krit-Name Derabhata (mit dem produktiven zweiten Glied °bhata, das in vielen ˙ ˙ ˙ Sanskritnamen belegt ist).16
13 14 15 16
schaft 11), Bd. 1, Berlin/New York 1995, 661–663. Das erste Glied dhara° bedeutet »tragend, haltend« und »Berg« und kann auch für die Götter Krsna und S´iva stehen; dhruva° bedeutet ˙ ˙ ˙ auch für Brahman, Visnu oder S´iva »feststehend, dauerhaft« und ebenfalls »Berg« und kann ˙˙ stehen; guha° bedeutet »heiliger Platz« und kann auch für Skanda, S´iva, Visnu stehen. ˙ ˙ Die Urkunden selbst enthalten keine Nummerierung der Könige; diese ist sekundär. Siehe oben, Anm. 9. »Drona« ist auch der Name einer Figur aus dem altindischen Epos ›Maha¯bha¯rata‹, und zwar ˙ der Name des berühmten gemeinsamen Waffenlehrers der späteren Kontrahenten, der Pa¯ndavas und der Kauravas. ˙ ˙ den Maitrakas trugen auch zwei ihrer wichtigsten Urkundenverfasser einen Namen auf Unter °bhata, und zwar »Skandabhata«, wörtlich »Soldat des [Kriegsgottes] Skanda«; vgl. Schmied˙ 2018, 37f. ˙ chen
Herrschernamen als Legitimationsinstrument
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Im frühen 7. Jahrhundert taucht im Maitraka-Stammbaum erstmals der Name ´ »S¯ıla¯ditya« auf, der bewusst aus ´s¯ıla, »Ehrenhaftigkeit, guter Charakter«, und a¯ditya, »Sonne« komponiert scheint. Ab S´¯ıla¯ditya [III.], d. h. seit der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, trugen sogar alle weiteren Maitraka-Könige den Namen »S´¯ıla¯ditya«. Aus dem Umstand könnte man schließen, dass es sich bei »S´¯ıla¯ditya« seit der Mitte des 7. Jahrhunderts um einen ausgesprochenen Krönungsnamen handelte. Für eine solche Interpretation spricht auch ein anderer Umstand: In königlichen Urkunden wird regelmäßig ein sogenannter »Bote« genannt, der augenscheinlich eine wichtige Funktion bei der Umsetzung des herrscherlichen Stiftungswillens hatte. Unter den Maitrakas agierte offenbar häufig der jeweilige Kronprinz (yuvara¯ja) als »Bote« (du¯taka). Das sollen einige Beispiele illustrieren: (1.) Am Ende der Herrschaft von Dharasena [II.], d. h. im späten 6. Jahrhundert, lautete der Name seines du¯taka »S´¯ıla¯ditya«; und der Nachfolger dieses Königs war S´¯ıla¯ditya [I.]. (2.) In den letzten Regierungsjahren von S´¯ıla¯ditya [I.] hieß dessen du¯taka »Kharagraha«; und diesem König folgte sein jüngerer Bruder Kharagraha [I.] auf den Thron. (3.) »Dharasena« lautete der Name des du¯taka von König Kharagraha [I.], und sein Nachfolger war sein Sohn Dharasena [III].17 Ab S´¯ıla¯ditya [III.] änderte sich die Situation: die du¯takaNamen lauteten weiterhin »Dhruvasena«, »Kharagraha«, »Dharasena«, doch alle Maitraka-Könige trugen nun den Namen »S´¯ıla¯ditya«. Diese Beleglage könnte ein Indiz dafür sein, dass die späten Maitrakas erst bei der Krönung den Namen »S´¯ıla¯ditya« annahmen. Es stellt sich jedoch die Frage, warum gerade der Thronname »S´¯ıla¯ditya« unter den Maitrakas so beliebt wurde. S´¯ıla¯ditya [I.] (Urkunden aus den Jahren 605–611 n. Chr.) war Zeitgenosse des berühmten nordindischen Herrschers Harsa bzw. ˙ Harsavardhana von Kanauj (606–647 n. Chr.). Der Pilgermönch Xuanzang, der in ˙ der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts von China nach Indien reiste, nannte in seinem Bericht nicht nur Maitraka S´¯ıla¯ditya [I.], sondern auch König Harsa »bei ˙ seinem laudativen Beinamen S´¯ıla¯ditya – ›Sonne der Tugend‹«.18 Als der chinesische Pilger durch den Westen Indiens zog, regierte dort nach seiner Aussage bereits Dhruva[sena] [II.] (Urkunden aus den Jahren 629–642 n. Chr.), einer der Neffen von Maitraka S´¯ıla¯ditya [I.], der mit einer Tochter von Harsa verheiratet ˙ gewesen sein soll.19 In der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts kehrte die Thron17 Ebd., 37. Jedoch nicht immer trat der als du¯taka fungierende Kronprinz auch tatsächlich die Thronfolge an. 18 René Grousset, Die Reise nach Westen oder wie Hsüan-tsang den Buddhismus nach China holte, übers. v. Peter Fischer/Renate Schmidt, München 1986 (frz. Originalausg. Paris 1929), 177. 19 Grousset 1986, 250f.; Samuel Beal, Si-Yu-Ki: Buddhist Records of the Western World. Translated from the Chinese of Hiuen Tsiang (Trübner’s Oriental Series [45]), 2 Bde., London 1884, Bd. 2, 261 und 267; Samuel Beal, The Life of Hiuen-Tsiang. By the Shaman Hwui Li,
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Annette Schmiedchen
folge über S´¯ıla¯ditya [II.], der wohl selbst nicht regiert zu haben scheint, wieder zur direkten Linie von S´¯ıla¯ditya [I.] zurück. Der Thronname »S´¯ıla¯ditya« könnte unter S´¯ıla¯ditya [III.] und seinem Nachfolger als bewusste legitimatorische Bezugnahme auf die direkte Abstammung von Maitraka S´¯ıla¯ditya [I.] eingesetzt worden sein. Eine indirekte Anspielung auf die Heiratsallianz mit Harsa alias S´¯ıla¯ditya von ˙ Kanauj wäre ebenfalls nicht auszuschließen. Diese matrimoniale Verbindung ist allerdings nur aus den Berichten des Xuanzang und seines Begleiters bekannt; sie wird in den Maitraka-Urkunden selbst nicht erwähnt. Überdies betraf sie – aus Perspektive der Abkömmlinge von S´¯ıla¯ditya [I.] – lediglich einen Seitenzweig des Maitraka-Herrscherhauses, d. h. den Sohn (Dhruvasena [II.]) und Enkel (Dharasena [IV.]) eines Bruder (Kharagraha [I.]) von S´¯ıla¯ditya [I.].20 Beinamen auf °a¯ditya, »Sonne«, hatten sich schon vor der Regierungszeit von ´S¯ıla¯ditya [III.] großer Beliebtheit erfreut: S´¯ıla¯ditya [I.] wird auch als »Dharma¯ditya« beschrieben, als »Sonne von Recht und Gesetz (dharma)«. König S´¯ıla¯ditya [I.] war angeblich »einer, dessen zweiter Name (dvitı¯ya-na¯man) ›Dharma¯ditya‹ daher rührte, dass er nach Materiellem (artha), Glück und Wohlstand strebte, ohne den dharma dabei zu verletzen« (dharma¯nuparodhojjvalatarı¯krta¯rtha˙ sukhasampadupaseva¯niru¯dhadharma¯dityadvitı¯yana¯ma¯). König Dhruvasena ˙ ˙ [II.] trug den Beinamen »Ba¯la¯ditya«, »Morgensonne«. Über ihn heißt es unter anderem, dass »sein berühmter Zweitname ›Ba¯la¯ditya‹ passend ist, da die Welt durchzogen sei von der Hingabe (wörtlich ›Röte‹) [seiner] Untertanen, die zum Zeitpunkt [seines sonnenartigen] Aufstiegs entstand« (udayasamayasamupajanitajanata¯nura¯gaparipihitabhuvanasamarthitaprathitaba¯la¯dityadvitı¯yana¯ma¯). König Kharagraha [II.] wird wiederum als »Dharma¯ditya« porträtiert, und zwar als jemand, der »markanter- und berechtigterweise den anderen Namen (aparana¯man) ›Sonne des dharma‹ trug« (spastam eva yatha¯rtham dharma¯ditya¯para˙˙ ˙ na¯ma¯).21 Ab S´¯ıla¯ditya [III.], also seit der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts, wurden, wie bereits erwähnt, alle Maitraka-Herrscher in ihren (offiziellen) Urkunden »S´¯ıla¯ditya« genannt, und es gibt auch keine Hinweise auf Sekundogenitur mehr. So folgten auf S´¯ıla¯ditya [III.] dessen Sohn S´¯ıla¯ditya [IV.], dessen Enkel S´¯ıla¯ditya [V.], dessen Urenkel S´¯ıla¯ditya [VI.] sowie dessen Ururenkel S´¯ıla¯ditya [VII.]. All London 1911, 149. Zu den widersprüchlichen Angaben hinsichtlich dieser Heiratsallianz im Bericht des Xuanzang (Beal 1884) und im Bericht seines Begleiters (Beal 1911), siehe Hans T. Bakker, The World of the Skandapura¯na. Northern India in the Sixth and Seventh ˙ Centuries, Leiden/Boston 2014, 107, Anm. 319. ´ 20 Auch Xuanzang nennt [Maitraka] S¯ıla¯ditya [I.] als Onkel von Dhruva[sena] [II.]; vgl. Beal 1884, Bd. 2, 267. 21 Die Übersetzungen stammen von der Autorin. Zu einem entsprechenden Urkundentext in Sanskrit vgl. z. B. Vajeshankar G. Ojha/Th. von Schtscherbatskoi, Lunsadi Plates of Siladitya II.[sic!]; [Gupta-] Samvat 350, in: Epigraphia Indica 4 (1896/97), 76, Zeile 12; 78, 79, Zeile 47.
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diese Maitraka-Könige benutzten imperiale Titel und bezeichneten sich und ihre Vorfahren als parama-ma¯hes´vara, als »große Anhänger des [Gottes] S´iva«.22 Diese epigraphisch-urkundliche Homogenisierung der Dynastiegeschichte der Maitrakas hatte aber bereits früher begonnen, am Beginn des 7. Jahrhunderts, unter dem König S´¯ıla¯ditya [I.].23 Dieser Herrscher hatte die Genealogiebeschreibung neu fassen lassen. Nun wurde zwar noch der Dynastiegründer genannt, und zwar mit seinem sanskritisierten Namen »Bhata¯rka«, seine Söhne ˙ aber – deren Regentschaft einen klaren Beleg für fortgesetzte Sekundogenitur unter den frühen Maitrakas darstellte – wurden übergangen. Mit Ausnahme des Dynastiegründers Bhata¯rka ließ S´¯ıla¯ditya [I.] all diejenigen Vorgänger tilgen, die ˙ sich nur als Heerführer oder Vasallenfürst, jedoch noch nicht als »Monarch« bezeichnet hatten. Außerdem ließ S´¯ıla¯ditya [I.] – laut urkundlichem Befund selbst ein paramama¯hes´vara24 – nur noch solche Vorfahren aufführen, die sich ebenfalls als »S´iva-Anhänger« betrachtet hatten. Religiöse Epitheta, deren Gebrauch bei vielen mittelalterlichen indischen Dynastien üblich war,25 sind zwar keine echten Beinamen, stehen strukturell und funktional aber zwischen den Herrschertiteln und den Königsnamen. Unter den frühen Maitrakas ist das Bild gemischt: Nach urkundlichem Befund waren die ersten drei Könige »Anhänger des Gottes S´iva«. König Dhruvasena [I.] betrachtete sich als »Visnu-Anhänger« (paramabha¯gavata); Dharapatta, sein jün˙˙ ˙˙ gerer Bruder, wird als »Verehrer des Sonnengottes« (parama¯dityabhakta) vorgestellt. Sein Sohn Guhasena nannte sich einmal sogar »[buddhistischer] Laienanhänger« (paramopa¯saka). Das starke Streben nach Homogenisierung unter S´¯ıla¯ditya [I.] führte schließlich dazu, dass sogar auf die Erwähnung seines eigenen Urgroßvaters Dharapatta, eines parama¯dityabhakta, verzichtet wurde. Sein ˙˙ Großvater Guhasena ist zwar aufgeführt, aber als paramama¯hes´vara, als »Anhänger des S´iva«, nicht als Buddhist.26 Im Folgenden sollen nun die Königsnamen der Ra¯straku¯ta-Dynastie be˙˙ ˙ trachtet werden, wie sie in etwa 75 Kupfertafelurkunden aus dem 8. bis
22 Schmiedchen 2018, 37; Ojha/Schtscherbatskoi 1896/97, 76–80. 23 Zu diesen Vorgängen vgl. Schmiedchen 2018, 39f. 24 Interessanterweise behauptet der chinesische Pilgermönch Xuanzang, Maitraka S´¯ıla¯ditya [I.] habe – ebenso wie Harsa von Kanauj und Maitraka Dhruvasena [II.], die sich in ihren ˙ Urkunden jeweils als paramama ¯ hes´vara bezeichneten – dem Buddhismus nahegestanden; vgl. Beal 1884, Bd. 1, 213f.; Bd. 2, 261 und 267. 25 Vgl. hierzu Annette Schmiedchen, Religious Patronage and Political Power: The Ambivalent Character of Royal Donations in Sanskrit Epigraphy, in: Journal of Ancient Indian History 27 (2010/11), 154–166. 26 Schmiedchen 2018, 39f.
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10. Jahrhundert überliefert sind.27 In den Ra¯straku¯ta-Inschriften sind nur die ˙˙ ˙ Herrschertitulaturen in Prosa, die Genealogien jedoch in Versen abgefasst. Eine wichtige legitimatorische Funktion kam auch bei diesem Königshaus den von den Herrschern benutzten Titeln (d. h. Statusbezeichnungen) und Epitheta (Beioder Schmucknamen) zu. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts hatten die Ra¯straku¯tas in Maharashtra die Dynastie der frühen Westlichen Calukyas abgelöst.28 ˙˙ ˙ Mit der Machtübernahme legte sich die Ra¯straku¯ta-Hauptlinie eine imperiale ˙˙ ˙ Titulatur zu. Sie bestand aus den in Indien seit dem späten Altertum, seit der Gupta-Zeit (4.–6. Jahrhundert), überregional benutzten imperialen Titeln maha¯ra¯ja¯dhira¯ja, »Oberkönig der Großkönige«, parames´vara, »Oberherrscher«, und parama-bhatta¯raka »höchster Gebieter«. Zudem übernahmen die Ra¯˙˙ straku¯tas den von ihren Vorgängern eingeführten offiziellen Titel prthivı¯-valla˙˙ ˙ ˙ bha, »Liebling der Erde«.29 Dies weist darauf hin, dass sie sich als legitime Erben des Calukya-Reiches betrachteten. Aus der Wahl dieses Titels geht hervor, welche Bedeutung die Ra¯straku¯tas dem endgültigen militärischen Erfolg über die frühen ˙˙ ˙ Westlichen Calukyas für ihren Anspruch auf imperiale Hegemonie über den gesamten Subkontinent zumaßen.30 Auch bei den Ra¯straku¯tas sind die Prosatitulaturen in den Stiftungspassagen ˙˙ ˙ ihrer offiziellen Urkunden hinsichtlich der Namensgebung aufschlussreich. Mitunter wird explizit erwähnt, dass die Ra¯straku¯tas neben Haupt- (mukhya˙˙ ˙ na¯man) auch Beinamen (gauna-na¯man) trugen.31 Sanskritnamen wie »Indra«, ˙ »Karka«, »Krsna«, »Govinda«, »Dantidurga« und auch »Dhruva« wurden of˙˙ ˙ fenbar bei Geburt an männliche Angehörige der Dynastie vergeben. Anlässlich der Übernahme der Regentschaft scheinen – wie bei anderen mittelalterlichen indischen Herrscherhäusern – diverse Beinamen hinzugekommen zu sein. Dabei setzten die Ra¯straku¯ta-Könige wohl zur selbstdefinito˙˙ ˙ rischen Abgrenzung spezifische Akzente, indem sie sich bewusst gegen Bildungen entschieden, die schon bei anderen zeitgenössischen indischen Königsdynastien verbreitet waren. Diverse südindische Dynastien (die Pallavas, Kadambas und Westlichen Gan˙gas) benutzten zum Beispiel Namen auf °varman.32 Das zweite Glied der so konstruierten Namenskomposita bedeutet »Schutzwehr; [Brust-]Panzer« und diente zur Bildung klassischer Namen für den sogenannten 27 Vgl. hierzu Annette Schmiedchen, Herrschergenealogie und religiöses Patronat: Die Inschriftenkultur der Ra¯straku¯tas, S´ila¯ha¯ras und Ya¯davas (8. bis 13. Jahrhundert) (Gonda In˙˙ ˙2014, 460–485. dological Studies 17), Leiden 28 Ebd., 7. 29 Ebd., 62. 30 Ebd., 441. 31 Ebd., 39 und Anm. 35. 32 Einzige Ausnahme in dieser Hinsicht ist der Name »Dantivarman«; vgl. Schmiedchen 2014, 39, Anm. 36.
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ksatriya-Stand,33 d. h. Angehörige des Adels. Sehr typisch für die Ra¯straku¯tas ˙ ˙˙ ˙ waren Komposita auf °varsa (»Regen, regnend«) und °tun˙ga (»Gipfel«), die fast ˙ ebenso eindeutig wie der Name des Herrschergeschlechts die dynastische Identität markierten. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich vor allem die Epitheta auf °varsa, die auf die Freigebigkeit der Ra¯straku¯tas und auf die herrscherliche ˙ ˙˙ ˙ Kraft als ›Regenmacher‹ sowie auf die maskuline Potenz ihrer Könige anspiel34 ten. Die von den / für die Ra¯straku¯tas offenbar ›erfundenen‹ varsa-Namen ˙˙ ˙ ˙ wurden später von anderen Königen übernommen.35 Stammbaum der Ra¯straku¯tas von Ma¯nyakheta36 ˙˙ ˙ ˙ Dantivarman [I.] | Indra [I.] | 1. Govinda [I.] | 2. Karka [I.]___________ | | 3. Indra [II.] 5. Kṛṣṇa [I.]____ | | | 4. Dantidurga 6. Govinda [II.] 7. Dhruva Nirupama _____________ |__________________________________ | | | | Karka Kambha 8. Govinda [III.] Indrarāja | (Seitenlinie von Gujarat) 9. Amoghavarṣa [I.] | 10. Kṛṣṇa [II.] | __________________________________ Jagattuṅga [II.]__ | | _____ 11. Indra [III.]__ _____________ 14. Amoghavarṣa [III.] | | | | | 12. Amoghavarṣa [II.] 13. Govinda [IV.] 15. Kṛṣṇa [III.] 16. Khoṭṭiga Nirupama [II.] | 17. Karka [II.]
Bei der Zuordnung von Epitheta gab es unter den Ra¯straku¯tas deutliche Ansätze ˙˙ ˙ zu festen Namenskombinationen, die unter legitimatorischen Aspekten ein wichtiges Kennzeichen für dynastische Kontinuität darstellten. Drei Regenten 33 Schmitt 1995, 648. 34 Zu dem letztgenannten Aspekt vgl. Duncan M. Derrett, Bhu¯-bharana, bhu¯-pa¯lana, bhu¯bhojana. An Indian Conundrum, in: Bulletin of the School of Oriental˙ and African Studies 22,1 (1959), 108–123. 35 John F. Fleet, Some Records of the Rashtrakuta Kings of Malkhed: The appellations of the Ra¯shtraku¯tas of Ma¯lkhed, in: Epigraphia Indica 6 (1900/01b), 188, Anm. 5. ˙ ˙ ˙ 36 Die Urkunden selbst enthalten keine Nummerierung der Könige; diese ist – wie bei den Maitrakas – sekundär.
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der Haupt- und zwei der Seitenlinie hießen »Krsna Aka¯lavarsa [S´ubhatun˙ga]«.37 ˙˙ ˙ ˙ Mit »Dhruva« wurden die Beinamen »Dha¯ra¯varsa« und »Nirupama«;38 mit »Karka« ˙ dann »Suvarnavarsa« kombiniert.39 König Indra [III.] nannte man »Nityavarsa ˙ ˙ ˙ Vikramatun˙ga«.40 Lediglich bei den Ra¯straku¯tas, die »Govinda« hießen, ist die ˙˙ ˙ Verwendung nicht konsistent. Ab Govinda [II.] trugen sie den Beinamen »Prabhu¯tavarsa«;41 Govinda [IV.] nannte sich zusätzlich noch »Suvarnavarsa«. Bei ˙ ˙ ˙ Govinda [II.] und Govinda [III.] variierte der Gebrauch der °tun˙ga-Epitheta: ersterer wurde als »Prabhutun˙ga«, letzterer als »Jagattun˙ga« bezeichnet.42 Der Sohn von Govinda [III.] hieß »Amoghavarsa Maha¯ra¯jas´arva Nrpatun˙ga«.43 Amoghavarsa ˙ ˙ ˙ [II.] und Amoghavarsa [III.] sind nur unter diesem (Bei-)Namen bekannt, Amo˙ ghavarsa [IV.] hieß »Karka Nrpatun˙ga«. ˙ ˙ Eine Mittelstellung zwischen diesen persönlichen Beinamen und den Herrschertiteln nahmen Bildungen auf °vallabha ein. Dantidurga führte bereits, als er noch Vasallenfürst der frühen Westlichen Calukyas war, den von diesen vergebenen / übernommenen Titel prthivı¯vallabha, »Liebling der Erde«, in seiner ˙ Prosatitulatur. Das Bildungselement °vallabha ließen einige Ra¯straku¯ta-Könige ˙˙ ˙ aber auch für zusätzliche spezifische Beinamen einsetzen. So wurde Dhruva unter anderem »Kalivallabha« genannt,44 und Amoghavasa [I.] trug den Beina˙ men »Tribhuvanavallabha«, »Liebling der drei Welten«, bzw. »S´rı¯vallabha«, »Liebling des Glücks«. Die Kenntnis der onomastischen Praxis unter den Ra¯straku¯tas speist sich in ˙˙ ˙ erster Linie aus deren Titulaturen, in denen die Epitheta dem jeweiligen Hauptnamen wie Titel vorangestellt wurden. Häufig bestätigen die metrischen Genealogien, für die verschiedene Vorlagen benutzt wurden,45 die Angaben der Prosatitulaturen. In diesen Dynastiebeschreibungen findet sich nur selten mehr als ein Beiname pro Strophe. In der Frühzeit war es üblich, das genealogische 37 Vgl. hierzu Schmiedchen 2014, 40. »Aka¯lavarsa« bedeutet »zur Unzeit regnend« und steht ˙ für jemanden, der es auch außerhalb der Regenzeit »regnen lässt«; »S´ubhatun˙ga« lässt sich übersetzen mit »Glanzgipfel«. 38 »Dha¯ra¯varsa« bedeutet »in Strömen regnend; Regenguss«; »Nirupama« bedeutet »der Un˙ vergleichliche«. 39 »Suvarnavarsa« bedeutet »Goldregen«. ˙ a«˙ = »stetig regnend«, in ähnlichem Sinne wie »Aka¯lavarsa«; »Vikramatun˙ga« lässt 40 »Nityavars ˙ sich übersetzen mit »Kraftgipfel« und ist auch als Königsname im ˙›Katha¯saritsa¯gara‹ belegt; vgl. Monier-Wiliams 1899, 955. 41 »Prabhu¯tavarsa« bedeutet »reichlich regnend«. ˙ bedeutet »Gipfel der Fürsten«; »Jagattun˙ga« bedeutet »Gipfel der Welt«. 42 »Prabhutun˙ga« 43 »Amoghavarsa« bedeutet »fruchtbringender Regen« und »Nrpatun˙ga« »Gipfel der Herr˙ Großkönigen«; vgl. hierzu ˙¯ ra¯jas´arva« bedeutet wohl »S´arva (= S´iva) unter den scher«. »Maha Schmiedchen 2014, 40, Anm. 41. 44 »Kalivallabha« bedeutet »Liebling des Kali-Zeitalters«; zu diesem Beinamen siehe weiter unten, Anm. 52. 45 Zur Klassifizierung dieser Vorlagen durch Nummerierung vgl. Schmiedchen 2014, 20f.
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Gerüst anhand der Hauptnamen zu entwickeln.46 Zusätzliche Strophen konnten dazu dienen, diverse Beinamen zu erklären. Namensreihungen waren in den Prosatitulaturen häufiger als in den metrischen Genealogien, doch schon unter Krsna [I.] zeichnete sich die Tendenz ab, den °varsa-Namen den Vorzug zu ˙˙ ˙ ˙ geben. Das führte dazu, dass in späteren Darstellungen für die Vorfahren nicht mehr ausschließlich der jeweilige Haupt-, sondern häufig nur ein Beiname überliefert wurde. So stellte die Genealogievorlage ›3‹ zwar noch Karka [I.], Indra [II.] und Dantidurga unter ihren Hauptnamen vor, setzte die Aufzählung der darauf folgenden Könige aber dann mit Aka¯lavarsa (= Krsna [I.]), Prabhu¯tavarsa ˙˙ ˙ ˙ ˙ (= Govinda [II.]), Dha¯ra¯varsa (= Dhruva), Prabhu¯tavarsa Jagattun˙ga (= Govinda ˙ ˙ 47 [III.]) und Amoghavarsa [I.] fort. ˙ In den jüngeren Fassungen blieb es nicht bei der einseitigen Präferenz für ° varsa-Bildungen. Vielmehr scheint sich die Praxis durchgesetzt zu haben, aus ˙ einzelnen Namensreihen immer ein ganz bestimmtes Epitheton auszuwählen, wobei auch so die Wiederholung bestimmter Haupt- und Beinamen nicht ganz vermieden werden konnte. Während in den Vorlagen ›4‹ bis ›8‹ Krsna [I.] und ˙˙ ˙ Govinda [II.] unter diesen Namen behandelt wurden, waren für Dhruva die Bezeichnung »Nirupama«, für Govinda [III.] die Benennung »Jagattun˙ga« und für dessen Sohn der Name »Amoghavarsa« am gebräuchlichsten. Die Verwen˙ dung dieser Beinamen führte dazu, dass einige weniger prominente Dynasten nur unter ihren Beinamen bekannt wurden (z. B. Jagattun˙ga [II.] und Nirupama [II.], die weder regiert noch eigene Urkunden hinterlassen haben).48 In den bisherigen Ausführungen wurde der Begriff ›Namensgebung‹ nicht nur in der engeren Bedeutung des in den ›Grhyasu¯tras‹ beschriebenen na¯makarana, ˙ ˙ sondern in einem erweiterten Sinne benutzt. Inwiefern die für (männliche) Mitglieder der Ra¯straku¯ta-Dynastie belegten Namen und Beinamen den von den ˙˙ ˙ Eltern im Rahmen von na¯makarana-Ritualen vergebenen Geburtsnamen ent˙ sprachen, die z. T. geheim waren und erst bei einer upanayana-Zeremonie bekanntgegeben wurden, ist nicht klar.49 Es ist ebenfalls nicht sicher, ob es im 8./9. Jahrhundert unter den Ra¯straku¯tas ˙˙ ˙ bereits ausgesprochene Krönungsnamen gab, die mit der Herrschertitulatur angenommen wurden. Die Tatsache, dass Bildungen auf °varsa und °tun˙ga auch ˙ für Mitglieder der Hauptlinie, die nie regiert haben, für Kronprinzen, für Fürsten der Seitenlinie und für andere Ra¯straku¯ta-Prinzen verwendet wurden,50 spricht ˙˙ ˙ eher dagegen oder zumindest für eine nicht stringente Praxis. Den Charakter von
46 47 48 49 50
Ebd., 41. Ebd., 41. Ebd., 41. Ebd., 44. Ebd., 44, Anm. 49.
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selbstgewählten Herrschernamen hatten eventuell die im 10. Jahrhundert eingeführten religiös konnotierten Beinamen, auf die noch einzugehen sein wird. Zunächst aber sollen einige konkrete Beispiele für die ›Interpretation‹ der Epitheta betrachtet werden: Die Eulogie von Krsna [I.], dessen kompletter Name ˙˙ ˙ »Krsna Aka¯lavarsa S´ubhatun˙ga« lautete, enthält Anspielungen auf dessen Bei˙˙ ˙ ˙ namen und entwirft das Bild eines in jeder Hinsicht idealen Herrschers, wozu neben der Beschreibung seiner Freigebigkeit, Bündnistreue und militärischen Potenz gehört, dass er als großartiger Liebhaber charakterisiert wird: visamesu visamas´¯ılo yas tya¯gamaha¯nidhir daridresu / ˙ ˙ ˙ ˙ ka¯nta¯su vallabhatarah khya¯tah pranatesu ´subhatun˙gah //1.22A// ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ »Er ist berühmt als einer von grimmigem Charakter gegenüber den Grimmigen, als ein Hort der Freigebigkeit gegenüber den Armen, als ein großer Liebhaber (vallabha-tara) gegenüber den Geliebten [und] als ein ›Glanzgipfel‹ (s´ubha-tun˙ga) gegenüber den Untertanen [1.22A].« suhrdi dhanam ripusu ´sara¯m yuvatijane ka¯mam as´arane ´saranam / ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ yah santatam abhivarsann aka¯lavarso bhuvi khya¯tah //1.23A// ˙ ˙ ˙ ˙ »Er ist in der Welt bekannt als ›einer, der es [auch] zur Unzeit (= zu jeder beliebigen Zeit) regnen lässt‹ (aka¯la-varsa), der auf den Freund Reichtum, auf die Feinde Pfeile, auf ˙ die Jungfrauen Liebe, auf den Schutzlosen Schutz stets herabregnen lässt [1.23A].«51
König Dhruva, dessen voller Name »Dhruva Dha¯ra¯varsa Nirupama Kalivalla˙ bha«52 lautete, und der explizit als »guter Herrscher« (su-sva¯min) bezeichnet wird, attestierte man nicht nur Freigebigkeit und Heldenmut, Rechts- und Wahrheitstreue, sondern behauptete auch, dass er »die Erde bis zur Meeresküste regiert«, also den ganzen Subkontinent beherrscht habe.53 Deutlicher als für Krsna [I.] wird für Dhruva postuliert, er habe das ›schlechte Zeitalter‹ außer Kraft ˙˙ ˙ gesetzt und die Verhältnisse eines ›goldenen Zeitalters‹ (krta-yuga) hergestellt: ˙
labdhapratistham acira¯ya kalim sudu¯ram ˙ ˙˙ utsa¯rya s´uddhacaritair dharan¯ıtalasya / ˙ krtva¯ punah krtayugas´riyam apy as´esam ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ citram katham nirupamah kalivallabho [’]bhu¯t //2.9// ˙ ˙ ˙ »Wie wunderbar ist es, dass Nirupama (= Dhruva) ein Kalivallabha wurde, nachdem er das auf der Erde etablierte Kali[yuga] schnell durch [seinen] reinen Lebenswandel sehr weit weg geschafft und auch das Glück des Krtayuga völlig wiederhergestellt hatte ˙ [2.9].«54
51 Ebd., 67. 52 Zu dem letztgenannten, eher ungewöhnlichen Epitheton vgl. John F. Fleet, Nilgund Inscription of the Time of Amoghavarsha I.; A. D. 866, in: Epigraphia Indica 6 (1900/01a), 105, Anm. 9. 53 Schmiedchen 2014, 73, Strophe 1.31. 54 Ebd., 76, Strophe 2.9.
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Nach den geläufigsten indischen Theorien von den vier Weltzeitaltern regierten bereits die Ra¯straku¯tas im ›schlechten Zeitalter‹ (kali-yuga); aber auch wir leben ˙˙ ˙ heute noch in diesem Zeitalter, das im Jahr 3102 v. Chr. begann.55 Am Beginn des 10. Jahrhunderts kam es zu einer markanten Neuerung bei der Ra¯straku¯ta-Hauptlinie: König Indra [III.] führte mit seiner Thronbestei˙˙ ˙ gung im S´aka-Jahr 836 (914/915 n. Chr.) eine ganze Reihe von religiös konnotierten Epitheta und schmückenden Beinamen ein. Mitunter wurden diese in abgewandelter Form auch noch von seinen Nachfolgern benutzten Epitheta, die auf °kandarpa, °caturmukha, °trinetra, °na¯ra¯yana bzw. °ma¯rtanda lauteten ˙ ˙˙ und Bezüge zum Liebesgott Ka¯ma, zu den Göttern Brahman, S´iva und Visnu ˙˙ und zum Sonnengott Su¯rya implizierten, wie ältere Beinamen in den Genealogiestrophen diskutiert. Systematisch wurden sie aber, um den Rahmen der Titulatur nicht zu sprengen, in einem der Titelreihung vorgeschalteten, separaten Prosapassus aufgeführt und erklärt: Spezielle Prosareihen von Beinamen für Indra [III.], Govinda [IV.] und Karka [II.] Indra [III.] Govinda [IV.] Karka [II.]
Kı¯rtina¯ra¯yana Rattakandarpa Ra¯jama¯rtanda Vijaya¯valoka (Ra¯Ur 60);56 ˙ ˙˙ ˙Kı ˙ ¯rtina¯ra¯yana Manujatrinetra Geyacaturmukha Ra¯jama¯rtanda ˙ ˙˙ Rattakandarpa Vikramatun˙ga (Ra¯Ur 63–64) ˙˙ Nityakandarpa Ca¯nakyacaturmukha Vikra¯ntana¯ra¯yana Nrpatitrinetra ˙ ˙ ˙ (Ra¯Ur 67) Nu¯tanapa¯rtha Ahitama¯rtanda Vı¯rana¯ra¯yana Nrpatun˙ga Ra¯jatrinetra ˙˙ ˙ ˙ (Ra¯Ur 75)57
Indra [III.] war der erste Ra¯straku¯ta-Herrscher, der gleich zu Beginn seiner Re˙˙ ˙ gierungszeit die Stammbaumdarstellung für sich und seine Vorfahren neu schreiben ließ. Die metrischen Genealogievorlagen ›4‹ und ›5‹, die bereits seit dem Tage seiner Thronbesteigung verwendet wurden,58 enthalten ausführliche Erläuterungen zu seinen verschiedenen Namen. In Ra¯Ur 60 fasst die Prosapassage, die sich an Strophen der Vorlage ›4‹ anschließt, die entsprechenden metrischen Ausführungen noch einmal zusammen: yas´ ca sakalajalanidhivela¯vana¯ntararamama¯nakinnarakimpurusaka¯ntaka¯minı¯kı¯r˙ ˙ ˙ ttyama¯nakı¯rttanı¯yakı¯rttih kı¯rttina¯ra¯yano nijanirupamaru¯pasaundaryyanirjjitakama˙ ˙ nı¯yakanndarpparu¯padarpporattakandarppah / sakaladurddharariputimirapatala˙˙ ˙ ˙ pa¯tanapatuprata¯paprasarena vira¯jama¯no ra¯jama¯rttandas´ candadorddandmandala˙ ˙ ˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙˙ 55 Vgl. z. B. Axel Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998, 331; Fred Virkus, Die Könige und das verdorbene Zeitalter – politische Propaganda und Weltzeitaltertheorie im frühmittelalterlichen Indien, in: Das Altertum 42 (1997), 207–212. 56 Zu den Inventarnummern der Ra¯straku¯ta-Kupfertafelurkunden (Ra¯Ur) vgl. Schmiedchen ˙˙ ˙ 2014, 10, Anm. 10. 57 Ebd., 44. Zur Bedeutung der einzelnen Beinamen siehe weiter unten. 58 Genealogievorlage ›5‹ scheint ausschließlich für Stiftungen an jinistische Empfänger benutzt worden zu sein; vgl. ebd., 37.
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vis´ra¯[nta]vijayas´rı¯r vvijaya¯valokah sphurada¯ru¯dhavajrapa¯nir vvividhavibudhajana¯´s˙ ˙ ˙ rayan¯ıyas´rı¯h ´srı¯madindrara¯jadeva ityanekavidhadhanyana¯madheyah samabhavat / ˙ ˙ ˙ »Und dieser wurde jemand, der viele verschiedene glückverheißende Namen besitzt: [1.] ›Kı¯rti-na¯ra¯yana‹ (›Ruhmes-Visnu‹), weil sein zu feiernder Ruhm von allen Kinnaras ˙ ˙˙ und Kimpurusas,59 Liebhabern und Geliebten erwähnt wird, die sich in den Wäldern an ˙ den Ufern der Meere vergnügen; [2.] ›Ratta-kandarpa‹ (›Liebesgott der Ra¯straku¯tas‹),60 ˙˙ ˙˙ ˙ weil der Neid auf die Gestalt des entzückenden Liebesgottes durch die eigene, unvergleichliche körperliche Schönheit besiegt ist; [3.] ›Ra¯ja-ma¯rtanda‹ (›Sonnengott der ˙˙ Könige‹), weil er durch ein Übermaß an hellem Glanz herrscht, der den Schleier der Finsternis, [d. h.] alle schwer zu bezwingenden Feinde, zerstört; [4.] ›Vijaya¯valoka‹ (›Ebenbild des Sieges‹), da er die Siegesgöttin in den Gebieten [seines Reiches] durch seine starken Arme zur Ruhe gebracht hat [und] [5.] ›edler Indrara¯jadeva‹, weil in seine Hand ein blitzender Donnerkeil gelangt ist und [seine] Macht verschiedensten weisen Leuten Zuflucht bietet.«61
Ein ähnlicher Abschnitt für König Indra [III.] findet sich auch in Ra¯Ur 63 (und Ra¯Ur 64) im Anschluss an die auf Vorlage ›5‹ beruhende metrische Beschreibung des Stammbaumes der Ra¯straku¯ta-Dynastie: ˙˙ ˙
yas´ ca vinayavinata¯nekabhu¯pa¯lamaulima¯la¯la¯litacarana¯ravindayugalah saundaryya˙ ˙ ´sauryyaca¯turyyauda¯ryyadhairyyaga¯mbhı¯ryyavı¯ryya¯dibhir akhilajana¯´s caryyaka¯ribhir ahitabahunrpais´varyyaha¯ribhir mmaha¯gunair upa¯rjita¯navadyavidyotama¯navividha˙ ˙ na¯madheyah svara¯jyalı¯la¯vinirjitas´atamakhah ´srı¯geyacaturmukhah goda¯nabhu¯mida¯˙ ˙ ˙ nakanakada¯na¯dyaneka¯nu¯nada¯napara¯yanah ´srı¯kı¯rtina¯ra¯yanah samtra¯sitodvrttas´atru˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ varapurola¯sitasita¯tapattrah ´srı¯manujatrinetrah / svakı¯yodayavika¯sita¯´sesavinatajana˙ ˙ ˙ vadanapundarı¯kasandah ´srı¯ra¯jama¯rtandah samutkha¯tasubhagama¯ninı¯maha¯bhima¯˙˙ ˙ ˙˙ ˙ ˙˙ ˙ nasaubha¯gyadarppah ´srı¯rattakandarppah para¯krama¯kra¯ntasamastapa¯rthivottun˙gah ˙ ˙˙ ˙ ˙ ´srı¯vikramatun˙gah samabhavat / ˙ »Und dieser, dessen Fußlotuspaar liebkost wird vom Kopfschmuck vieler Könige, die sich seiner Kontrolle beugen, erlangte verschiedene makellose und glänzende Namen durch große Tugenden, die alle Leute in Staunen versetzen und die Herrschaft vieler feindlicher Könige rauben, wie Schönheit, Mut, Geschick, Freigebigkeit, Festigkeit, Tiefe, Kraft usw.: [1.] ›S´rı¯-Geya-caturmukha‹ (›edler zu preisender Brahman‹), weil er S´atamakha (= Indra) übertrifft durch sein Herrschaftsspiel; [2.] ›S´rı¯-Kı¯rti-na¯ra¯yana‹ ˙ (›edler Ruhmes-Visnu), weil er sich dem vielfältigen und umfangreichen Geben von ˙˙ ´ ´ Kühen, Land, Gold etc. widmet; [3.] ›Srı¯-Manuja-trinetra‹ (›edler Siva unter den Men-
59 Dies sind zwei häufig gemeinsam genannte Gruppen von mythischen Mischwesen, zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Tier; vgl. Monier-Wiliams 1899, 282f. 60 Zur Beziehung zwischen der Prakrit-Namensform »Ratta« und der Sanskrit-Namensform ˙˙ »Ra¯straku¯ta« vgl. John F. Fleet, Some Records of the Rashtrakuta Kings of Malkhed: The ˙˙ ˙ of the Ra¯shtraku¯tas of Ma¯lkhed, in: Epigraphia Indica 7 (1902/03), 214–223. Zur family-name ˙ ˙ ˙ Benutzung der beiden Namensformen in den Inschriften dieser Dynastie vgl. Schmiedchen 2014, 49–53. 61 Ebd., 104. Der letzte Vergleich spielt darauf an, dass dieser Ra¯straku¯ta-König den Namen des ˙˙ ˙ verehrt wurde. Götterkönigs Indra trug, der bereits in vedischer Zeit als Gewittergott
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schen‹), weil er seinen weißen Schirm über den besten Städten der zitternden, stolzen Feinde leuchten lässt; [4.] ›S´rı¯-Ra¯ja-ma¯rtanda‹ (›edler Sonnengott der Könige‹), weil die ˙˙ ›Gesichtslotusse‹ der sich [ihm] unterwerfenden Leute erblühen durch seinen Aufstieg; ´ [5.] ›Srı¯-Ratta-kandarpa‹ (›edler Liebesgott der Ra¯straku¯tas‹), weil Hochmut und Ei˙˙ ˙˙ ˙ telkeit der auf ihre Schönheit eingebildeten Frauen von ihm ruiniert werden; [6.] ›S´rı¯Vikrama-tun˙ga‹ (›edler Gipfel der Kraft‹), weil er alle Könige überragt, indem er sie durch Kraft bezwingt.«62
Demnach wurden unter Indra [III.], dessen Beiname ›Nityavarsa‹ nur in der ˙ Prosatitulatur Verwendung fand, die Epithetareihen erheblich erweitert und quasi systematisch erfasst und erklärt. Mit dem visnuitischen Beinamen »Kı¯rti˙˙ na¯ra¯yana«, »Ruhmes-Visnu«, hatte schon Amoghavarsa [I.], der sich selbst ˙ ˙˙ ˙ »Vı¯ra-na¯ra¯yana«, »Helden-Visnu«, nannte (Strophen 3.47, 4.13), seinen Vater ˙ ˙˙ Govinda [III.] (Strophe 3.23) bezeichnet. Das Epitheton »Ra¯ja-ma¯rtanda«, ˙˙ »Sonnengott der Könige«, erscheint zum ersten Mal im Zusammenhang mit Indra [III.], geht aber wohl auf den von Amoghavarsa [I.] gebrauchten Beinamen ˙ »Ratta-ma¯rtanda«, »Sonnengott der Ra¯straku¯tas«, zurück (3.41),63 der seinerseits ˙˙ ˙˙ ˙˙ ˙ wiederum die Bildung des Epithetons »Ratta-kandarpa«, »Liebesgott der Ra¯˙˙ straku¯tas«, für Indra [III.] inspiriert haben dürfte. In einigen Urkunden wird die ˙˙ ˙ Titelreihe durch die Beinamen »Manuja-trinetra«, »S´iva unter den Menschen«, und »Geya-caturmukha«, »zu preisender Brahman«, vervollständigt. Govinda [IV.] übernahm von seinem Vater Indra [III.], die Tradition, den Strophen der Genealogie eine Aufzählung und Erläuterung seiner Beinamen in Prosa folgen zu lassen: yas´ ca samupahasitaharanayanadahanavihita¯nityakandarpparu¯pasaundaryyadarppah ´srı¯nityakandarppah prabhumantras´aktyupabrmhitotsa¯has´aktisama¯ksiptas´atama˙ ˙ ˙˙ ˙ khasukhas´ ca¯nakyacaturmmukhah prathitaikavikrama¯kra¯ntavasundhara¯hitakarana˙ ˙ ˙ para¯yanah ´srı¯vikra¯ntana¯ra¯yanah svakarakalitahetihaladalitavipaksavaksahsthalakse˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ trah ´srı¯nrpatitrinetrah samabhavat / ˙ ˙ ˙ »Und er (= Govinda [IV.]), der den Stolz des Liebesgottes (Kandarpa) auf [seine] körperliche Schönheit verlacht, die sich als vergänglich (anitya) erwiesen hat durch das Feuer aus dem Auge des Hara (= S´iva),64 wurde [1.] ein ›S´rı¯-Nitya-kandarpa‹ (›edler beständiger Liebesgott‹); er, der das Glück des S´atamakha (= Indra) vernichtet hat durch die Stärke seines Elans, welcher gesteigert worden ist durch die Kraft des Herrschers und [guter] Beratung, wurde [2.] ein ›Ca¯nakya-caturmukha‹ (›Schöpfergott ˙ unter den Ca¯nakyas‹)65; er, dessen Hauptanliegen Wohltaten für die Welt sind, die ˙ 62 Ebd., 105. 63 Ebd., 105. 64 Hier wird darauf angespielt, dass nach der indischen Mythologie Gott S´iva alias »Trinetra« (»Dreiauge, der Dreiäugige«) mit seinem dritten Auge den Liebesgott Ka¯ma alias »Kandarpa« zerstört hat; vgl. Michaels 1998, 241. 65 Hier wird darauf angespielt, dass Teile der indischen Tradition einen Mann namens Ca¯nakya, ˙ Minister des Maurya-Königs Candragupta (4./3. Jh. v. Chr.), für den Autor eines Staats-
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erobert worden ist durch [seine] vorherrschende, einzigartige Macht, wurde [3.] ein ›S´rı¯-Vikra¯nta-na¯ra¯yana‹ (›edler tapferer Visnu‹); er, der die Brust [seiner] Feinde ˙ ˙˙ durchfurcht hat mit den in seinen Händen befindlichen Waffen – wie Felder mit einem ´ Pflug – , wurde [4.] ein ›Srı¯-Nrpati-trinetra‹ (›edler S´iva unter den Herrschern‹).«66 ˙
In der sich an die Epithetareihung anschließenden Titulatur von Govinda [IV.] ist dieser als »Suvarnavarsa« bezeichnet. Das Verhältnis dieses Beinamens zu dem ˙ ˙ sonst mit dem Namen »Govinda« kombinierten Epitheton »Prabhu¯tavarsa« wird ˙ in einer Strophe thematisiert: varsan suvarnnavarsah prabhu¯tavarso pi kanakadha¯ra¯bhih / ˙ ˙˙ ˙ ˙ ˙ ˙ jagad akhilam ekaka¯mcanamayam akarod iti janair uktah //6.23// ˙ ˙ »Obwohl er ein ›Prabhu¯ta-varsa‹ (›reichlicher Regner‹) ist, wird er von den Leuten ˙ ›Suvarna-varsa‹ (›Goldregner‹) genannt, weil er, indem er Goldschauer regnen ließ, die ˙ ˙ ganze Welt zu einer nur aus Gold bestehenden machte. [6.23]«67
Bei Karka [II.] alias Amoghavarsa [IV.] findet sich in Ra¯Ur 75 im Anschluß an die ˙ metrische Genealogie eine Prosa-Eulogie auf diesen Ra¯straku¯ta-König, die den ˙˙ ˙ parallelen Passagen in den Urkunden von Indra [III.] sowie Govinda [IV.] ähnelt und die Beinamen von Karka [II.] erläutert: yas´ ca¯nuparatakanakadha¯ra¯nipa¯topajanitalokaharsah ´srı¯madamoghavarsah / svakau˙ ˙ ˙ ˙ ´salaksiptanis´itas´aravida¯rita¯ra¯tisa¯rthah ´srı¯nu¯tanapa¯rthah / sakalabalavadaritimirabhe˙ ˙ ˙ danapracandah ´srı¯madahitama¯rttandah / svavikramacchalitabalibandhapara¯yanah ´srı¯˙˙ ˙ ˙˙ ˙ ˙ ˙ vı¯rana¯ra¯yanah / sakala¯dira¯jacarita¯tis´ayatun˙gah ´srı¯mannrpatun˙gah / nikhilabhuvana¯˙ ˙ ˙ ˙ ˙ dhipatyapraka¯´sitaika¯tapattrah ´srı¯ra¯jatrinettrah // samabhavat sadartha¯bhidha¯nataya¯ // ˙ ˙ »Und dieser wurde durch adäquate Benennung: [1.] ein ›edler Amoghavarsa‹, da er ˙ Freude bei den Menschen durch unaufhörliche Regenschauer von Gold erzeugt hat; [2.] 68 ´ ein ›Srı¯-Nu¯tana-pa¯rtha‹ (›edler neuer Arjuna‹) , da er die Feindesscharen durch die scharfen Pfeile gespalten hat, die er mit der ihm eigenen Geschicklichkeit abschoss; [3.] ein ›S´rı¯mad-Ahita-ma¯rtanda‹ (›edler Sonnengott für die Gegner‹), weil er erbar˙˙ mungslos ist beim Auflösen der Finsternis (= beim Zerstören) aller mächtigen Feinde; [4.] ein ›S´rı¯-Vı¯ra-na¯ra¯yana‹ (›edler Visnu unter den Helden‹), weil [sein] höchstes Ziel ˙ ˙˙ in der Gefangennahme der Mächtigen besteht, die er ausmanövriert hat durch seine ´ Kraft; [5.] ein ›Srı¯man-Nrpa-tun˙ga‹ (›edler Gipfel unter den Herrschern‹), weil er im ˙ Verhalten alle frühen Könige bei weitem übertrifft [und] [6.] ein ›S´rı¯-Ra¯ja-trinetra‹
rechtslehrbuchs, des ›Kautilı¯ya-Arthas´a¯stra‹ (Endredaktion 2./3. Jh. n. Chr.), halten. Der ˙ Name »Ca¯nakya« taucht jedoch im überlieferten Text nicht auf. Nach Patrick Olivelle ist der ˙ Mythos einer Identität von Ca¯nakya und Kautilya erst in der Gupta-Zeit (4.–6. Jh. n. Chr.) ˙ ˙ entstanden; vgl. Patrick Olivelle, King, Governance, and Law: Kautilya’s Arthas´a¯stra. A ˙ New Annotated Translation, Oxford/New York 2013, 31–38. 66 Schmiedchen 2014, 111f. 67 Ebd., 112. 68 »Pa¯rtha« ist ein Beiname des Arjuna, eines Helden aus dem Epos ›Maha¯bha¯rata‹.
Herrschernamen als Legitimationsinstrument
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(›edler S´iva unter den Königen‹), weil [sein] ein[er] Schirm die Oberherrschaft über die ganze Welt illustriert.«69
Schluss Die untersuchten Beispiele der Maitraka- und Ra¯straku¯ta-Dynastie dürften als ˙˙ ˙ Belege dafür gelten, dass im frühmittelalterlichen Zentralindien Königsnamen als Legitimationsinstrument zwecks Machterhalt und Herrschaftssicherung benutzt wurden. Bei den Maitrakas zeigten sich ab dem 7. Jahrhundert Anzeichen für die Verwendung eines Krönungsnamens, zumindest aber deutliche Tendenzen zur Homogenisierung der Königsnamen und religiösen Epitheta, die wohl in überzeichneter Form auf ausgeprägte dynastische Kontinuität hindeuten sollten. Unter den Ra¯straku¯tas ist noch klarer, dass die Königsnamen als Legi˙˙ ˙ timationsinstrument benutzt wurden. Beinamen und Epitheta waren mit dem Ideal des indischen Herrschers verbunden. Die dynastiespezifischen Beinamen auf °varsa stellten einen idealtypischen Bezug zu der Freigebigkeit eines Herr˙ schers her. Die unter den Ra¯straku¯tas im 10. Jahrhundert eingeführten religiös ˙˙ ˙ konnotierten Beinamen belegen das Bestreben einer dynastischen Anbindung an die Welt der Götter: zur Legitimierung zwecks Machterhalt und Herrschaftssicherung. Diese Bezüge gehen über das Bekenntnis zu bestimmten Göttern weit hinaus; hierbei könnte es sich um Krönungsnamen gehandelt haben. Für beide Dynastien ließ sich jedoch zeigen, dass die Strategien zur Verwendung von Krönungsnamen jeweils einige Zeit reifen mussten, bis sie eingesetzt wurden: Die Maitrakas gingen erst im 7. Jahrhundert dazu über, ihren gekrönten Häuptern den Thronnamen »S´¯ıla¯ditya« zu geben; und die Ra¯straku¯tas verwendeten wohl ˙˙ ˙ nicht vor dem 10. Jahrhundert religiöse Epitheta als Krönungsnamen.
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Annette Schmiedchen
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Tilmann Trausch
Aibak, ʿAlı¯, Alexander. Namen als Beitrag zur Herrscherlegitimation im Sultanat von Delhi
Abstract In the early thirteenth century, former Ghurid military slaves from the inner Asian steppes founded the Sultanate of Delhi. While turko-nomadic traditions shaped the military elites of their realm as well as the elite men’s names for good parts of the thirteenth century, the names of the sultans themselves do not reflect their personal or familiarly background. Quite the contrary, the rulers of Delhi bore names that Quranic figures, famous Muslims from the early days of Islam, figures of Iranian mythology and pre-Islamic Iranian kings have born before them. These names are supposed to identify the sultans as bearers of the two cultural traditions that shape the pre-modern Persianate world, the Arabic-Islamic and the Imperial Iranian tradition. Next to their personal names (ism), the sultans bear agnomen, avonyms, and bynames (laqab) which emphasise their relationship to the Islamic faith as well as various honorific titles that contribute to the name’s legitimatory potential. Additionally, both bynames and titles may be read as an expression of a political program. The sultans identify themselves as »Helper of the Commander of the Faithfull«, »Right Hand of the Califate«, »Shadow of God on the Worlds«, »Second Alexander«, and »Father of the War against the Unbelievers«, thus again drawing both from the Arabic-Islamic and the Imperial Iranian tradition. These names, however, are throne names, and before the sultans ascended the throne in Delhi, they bore other names before them, and usually more than one. When a man who later became sultan in Delhi was renamed or renamed himself, both his personal name and his bynames could be concerned. However, not all of these names are known today, especially the birth names of those sultans with a personal background in Ghurid military slavery. As un-Islamic names, they are not mentioned in the sources. The source material on the sultanate is scarce, heterogeneous, and at times confusing with respect to names. Chronicles dominate the scene, and they repeatedly use names retrospectively, calling a man who would later become sultan by his throne name even in the passages on his youth, which is why his earlier names are lost. Finally, the sources’ use of names shows a direct connection between name and type of text, as there are more or less systematic differences between the historiographic ascriptions and the self-descriptions on coins. This concerns the agnomen (kunya) and certain titles in particular. The onomastics of the sultanate of Delhi is a largely undealt field of research today. Who gave a ruler’s son his name is as unknown as are the procedures of choosing it. Based on the scarce source material, it is quite difficult to assess what exact form of a name a sultan of
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Tilmann Trausch
Delhi bore at a certain point of his life. Thus, one should interpret certain elements of the names of the sultans of Delhi only with great care. However, while these elements may differ in detail and with respect to whom they are ascribed to, their set of arguments is quite stable. According to them, the sultans’ legitimacy arose from their alleged cultural rooting in the Persianate world, their strong connection to the Islamic faith, and their credits for the wellbeing of their Islamic polity in northern India. »Der erhabene Sultan, der Herr der das Glück verheißenden Konjunktion der Welt, der Pol der Welt und des Glaubens, die Säule des Islams und der Muslime, die Zuflucht der Könige und Sultane, der Unterdrücker der Ungläubigen und Beigeseller, der Erwählte des Imams, der Geliebte der Menschheit, der Verteidiger der Glaubensgemeinschaft, der Beschützer der Gemeinschaft der Gläubigen, unterstützt durch den Himmel, siegreich über die Feinde, die Krone der Erhabenheit, der Arm des Kalifats, der den Krieg gegen die Ungläubigen führende Herrscher, der König von Hindustan, der Vater des Ha¯ris Aibak Sultan, der Helfer des Befehlshabers der Gläubigen.«1 ˙ ¯
So tituliert Hasan Niza¯mı¯, Verfasser einer der frühen persischen Prosaerzäh˙ ˙ lungen aus dem Umfeld des Hofes in Delhi (terminus post quem ist das Jahr 1217), einen seiner beiden Protagonisten, den als Qutb ad-Dı¯n Aibak2 bekannten ˙ ersten Sultan von Delhi.3 Es handelt sich hierbei um eine Fremdzuschreibung des Historiographen, allerdings um eine im Auftrag Qutb ad-Dı¯n Aibaks selbst, auf ˙ dessen Anweisung hin Niza¯mı¯s Werk, das Ta¯gˇ al-maʾas¯ır, Die Krone der glor¯ ˙ 4 reichen Taten, geschrieben worden ist. Allein der Wortreichtum zeigt, welche 1 Hasan Niza¯mı¯, Ta¯gˇ al-maʾas¯ır, ed. Mahdı¯ Fa¯mu ¯ rı¯/ʿAlı¯-Riz˙a¯ Sˇa¯dʾa¯ra¯m, Ya¯su¯gˇ 1391 h. sˇ. ¯ ˙ ˙ sulta¯n-i muʿazzam [2012], 133. sa¯hib-qira¯n-iʿa¯lam Qutb ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n rukn al-isla¯m ˙ ˙¯ k wa-s-sala ˙ ˙ ˙ wa-l-muslimı¯n ˙kahf al-mulu ¯ t¯ın qa¯miʿ al-kufra wa-l-musˇrikı¯n safı¯ al-ima¯m raz˙¯ı ˙ al-ina¯m muz˙z˙ahir al-milla mugˇ¯ır al-umma al-muʾaiyad min as-sama˙¯ ʾ al-mansu¯r ʿalı¯ al-aʿda¯ʾ ta¯gˇ al-maʿa¯lı¯ ʿaz˙d al-hila¯fa ˇsahriya¯r-i g˙a¯zı¯ husrau-i hindu¯sta¯n Abu¯ l-Ha¯ris˙ Aibak ˙ ¯ ˘ ¯n. ˘ as-sulta¯nı¯ nas¯ır amı¯r al-muʾminı ˙ in dieser ˙ Form angegeben Namen handelt es sich um Kurzformen der in den Quellen 2 Bei den anzutreffenden Namensvarianten, um die für die Zeitgenossen relevante Schnittmenge zwischen etwa den mitunter ausführlichen Fremdzuschreibungen der Historiographen, bei deren einzelnen Bestandteilen es sich überwiegend um Epitheta ornantia handelt, die von den Sultanen kaum tatsächlich getragen worden sein dürften, und deren Selbstbezeichnungen auf Münzen. Diese Kurzform ist in der Forschung etabliert (für die Sultane Delhis siehe etwa: Peter Jackson, The Delhi Sultanate: A Political and Military History [Cambridge Studies in Islamic Civilisation], Cambridge 1999, 333f.). Auf die Abweichungen von dieser Kurzform wird im Folgenden eingegangen. 3 Für die jüngste politische Geschichte des Sultanats siehe: Jackson 1999. Für eine gekürzte und aktualisierte Fassung siehe: Peter Jackson, Muslim India: The Delhi sultanate, in: David O. Morgan/Anthony Reid (edd.), The new Cambridge history of Islam: Volume 3: The eastern Islamic world, eleventh to eighteenth centuries, Cambridge 2010, 100–127. Speziell zur frühen Geschichte siehe: Sunil Kumar, The Emergence of the Delhi Sultanate. 1192–1286, Ranikhet et al. 2007. 4 Niza¯mı¯ 1391, 226. Siehe einführend zu diesem Werk: Iqtidar H. Siddiqui, Indo-Persian His˙ toriography to the Fourteenth Century, Delhi 2014, 40–54.
Namen als Beitrag zur Herrscherlegitimation im Sultanat von Delhi
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Bedeutung Herrschernamen und -Beinamen, Titeln und Epitheta im Sultanat von Delhi beigemessen wird. Jedoch handelt es sich, dies sei im Hinblick auf die interdisziplinäre Ausrichtung dieses Bandes angemerkt, bei keinem einzigen Bestandteil dieses Namens um einen Personennamen nach mediävistischem Verständnis.5 Die Selbstbezeichnungen der Sultane auf in ihrem Namen geprägten Münzen sind in aller Regel weniger ausladend, jedoch zeigen sich in den wesentlichen Bestandteilen Überschneidungen. Eine unter Qutb ad-Dı¯n Aibaks Nachfolger ˙ Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ geprägte Münze tituliert den Sultan wie folgt: »Der Erhabene Sultan, die Sonne der Welt und des Glaubens, der Vater des Siegreichen, Iltutmisˇ Sultan, der Helfer des Befehlshabers der Gläubigen«.6 Personennamen nach zentraleuropäischem Verständnis fehlen auch hier. Dennoch scheinen die Gemeinsamkeiten zwischen europäischer und nordindischer Namengebung zu überwiegen: Über diese Namensbestandteile werden Zugehörigkeiten beansprucht und artikuliert und dass für ihre Vergabe alleine die elterlichen Präferenzen ausschlaggebend sind, darf ausgeschlossen werden. Auch in Delhi sichern Namen keine Herrschaft und gestürzte und ermordete Herrscher tragen ebenfalls prestigeträchtige Namen. Sie können jedoch auch hier zum sozialen Kapital ihrer Träger beitragen. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden diskutiert werden, wie die Namen der Sultane genutzt werden, um die Legitimität ihrer Träger zu argumentieren.7 5 Zur Struktur der Namen und Titulaturen der Sultane von Delhi sowie der Funktionen einzelner Bestandteile siehe unten, 201–226. Zu mediävistischen Definitionen, auch im Hinblick auf die Unterscheidung von Namen und Titeln, siehe etwa: Dieter Geuenich, Personennamen, -forschung, in: Lexikon des Mittelalters 6 (2003), 1903–1905, hier 1903f.; Walter Koch, Intitulatio, in: Lexikon des Mittelalters 5 (2003), 471f.; Angela Pabst/Ljubomir Maksimovic/ ˇ irkovic´, Titel, in: Lexikon des Mittelalters 8 (2003), 811–814; Herwig Wolfram Simeon C (ed.), Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des 8. Jahrhunderts (Mitteilungen des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 21), Graz et al. 1967; Herwig Wolfram (ed.), Intitulatio II. Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im 9. und 10. Jahrhundert (Mitteilungen des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 24), Wien et al. 1973; Herwig Wolfram/Anton Scharer, Intitulatio III. Herrschertitel und Herrschertitulaturen vom 7. bis zum 13. Jahrhundert (Mitteilungen des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 29), Graz/Wien 1988. 6 Stan Goron/Jaqdish P. Goenka (edd.), The Coins of the Indian Sultanates: Covering the Area of Present-day India, Pakistan and Bangladesh, Neu Delhi 2001, 21: as-sulta¯n al-muʿazzam ˙ ¯n. ˙˙ Sˇams ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n Abu¯ l-Muzaffar Iltutmisˇ sulta¯n na¯sir amı¯r al-muʾminı ˙ ˙ ˙ 7 Eine Frage, die im gegebenen Rahmen ausgeblendet werden muss, ist die, gegenüber welchen sozialen Gruppen genau die Herrschaft der Sultane legitimiert werden soll. Die Zahl der Muslime insgesamt ist verschwindend gering (siehe einführend: Jackson 1999, 278–295; André Wink, Al-Hind: The Making of the Indo-Islamic World. Volume 2: The Slave Kings and the Islamic Conquest. 11th-13th Centuries, Leiden et al. 1997, 1–7.), wer von diesen in ausreichendem Maß das Persische beherrscht, um insbesondere den historiographischen Texten folgen zu können, ist unklar. Dessen ungeachtet entstammen diese Texte offenkundig einem Elitendiskurs und bedienen diesen. Sie richten sich somit an die sozialen Gruppen, aus denen
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Das Sultanat von Delhi ist ein fragiler, aus der Rückschau betrachtet dennoch relativ stabiler Herrschaftsverband, der mindestens bis ins frühe 14. Jahrhundert hinein von überwiegend zugewanderten Eliten aus dem heutigen Afghanistan, dem östlichen iranischen Hochland und Innerasien getragen wird. Es steht stellvertretend für die frühen Transformationsphasen vom sogenannten ›indischen Mittelalter‹ hin zur islamischen Epoche Indiens,8 die erst mit der britischen Kolonialisierung im 19. Jahrhundert ihr Ende findet. Im Hinblick auf die legitimatorische Funktion dieser Namen sind, neben der Möglichkeit, das tatsächliche oder lediglich behauptete Selbstverständnis sowie die politische Programmatik ihrer Träger zu artikulieren, zwei Aspekte von zentraler Bedeutung: Die kulturelle Herkunft ihrer Träger sowie ihr Verhältnis zum islamischen Glauben.
Die persophone Welt vor dem Sultanat von Delhi. Sprachen und kulturelle Traditionen Als persophone Welt wird in der deutschsprachigen Forschung der Raum im westlichen Asien bezeichnet, in dem die persische Sprache sowie die über sie transportierten kulturellen Traditionen im Bereich der höfischen Sphäre eine bedeutende Rolle gespielt haben.9 Dieser umfasst die Regionen zwischen dem mesopotamischen Tiefland und Zentralasien einerseits sowie dem anatolischen Hochland und Nordindien andererseits. Anders als im Westen der islamischen Welt dient ab dem ausgehenden 10. Jahrhundert in den diesen Raum dominierenden Reichen das Persische als Hof- und Verwaltungssprache, an Stelle des bis dahin auch hier dominierenden Arabischen.10 diejenigen kommen, die aus namenssoziologischer Perspektive mutmaßlich auf die Namengebung der Sultane Einfluss haben. 8 Der Beginn dieser Epoche wird in der Forschung unterschiedlich angesetzt, als ihr Ende gilt jedoch in aller Regel die Gründung des Sultanats, zusammengefasst bei: Hermann Kulke, Indische Geschichte bis 1750 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 34), München 2010, 43. 9 Der Begriff ist letztlich deckungsgleich mit dem bekannteren, auf Marshall Hodgson zurückgehenden Neologismus der Persianate World, der in der angelsächsischen Forschung dominiert: Marshall Hodgson, The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilisation. Volume 2: The Expansion of Islam in the Middle Periods, Chicago/London 1974, 293f. Zum Konzept siehe zuletzt die Beiträge in Abbas Amanat/Assef Ashraf (edd.), The Persianate World: Rethinking a Shared Sphere (Iran Studies 18), Leiden 2018 und Nile Green (ed.), The Persianate World: The Frontiers of a Eurasian Lingua Franca, Oakland, CA 2019. 10 Dies hat auch Einfluss auf die auf uns gekommenen Quellen, insbesondere auf die historiographischen Texte, die ab dieser Zeit ebenfalls überwiegend auf Persisch verfasst werden, und so auch in der Zeit des Sultanats. Die Gründe hierfür sind viel diskutiert, siehe etwa: Julie S. Meisami, Why Write History in Persian? Historical Writing in the Samanid Period, in: Carole Hillenbrand (ed.), Studies in Honour of Clifford Edmund Bosworth: Volume 2: The Sultan’s Turret – Studies in Persian and Turkish Culture, Leiden et al. 2000, 348–374.
Namen als Beitrag zur Herrscherlegitimation im Sultanat von Delhi
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Dennoch sind die Eliten der persophonen Welt nicht monolithisch, sondern im Gegenteil sprachlich und kulturell divers. Ein Grund hierfür sind Migrationsbewegungen, zum einen seit der Mitte des 7. Jahrhunderts, zum anderen ab der Mitte des 10. Jahrhunderts. Bei den ersteren handelt es sich um Wanderungsbewegungen arabischer Stammesverbände in das zentraliranische Hochland, nach Zentralasien und Nordindien hinein,11 die heute gemeinhin unter dem Begriff der ›islamischen Expansion‹ subsumiert werden. Bei zweiteren handelt es sich um Wanderungsbewegungen turkstämmiger Gruppen aus Innerasien in Richtung Mesopotamien, Anatolien und, wiederum, des nordindischen Subkontinents. Diese finden zunächst in Form importierter Militärsklaven statt,12 später dann in Form freier Nomaden, die in der Folge eigene Herrschaftsverbände gründen. Als Folge dieser Migrationsbewegungen setzen sich die Eliten vieler Reiche ab dem 11. Jahrhundert aus persisch-, arabisch- und turksprachigen Gruppen zusammen.13 In den Quellen als »Perser«, »Araber« und »Türken« bezeichnet, sind diese Gruppen lange alleine als ethnische Gruppen im modernen Sinn aufgefasst worden. Jedoch ethnisieren auch die Quellen der persophonen Welt in Teilen soziale Phänomene, ist für die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen nicht alleine die biologische Herkunft entscheidend, sondern zudem die Sprache und kulturelle Tradition, in der sich eine Person bewegt – ein »Perser« ist immer auch ein Träger persischer Kultur. Im Sultanat gilt dies etwa für den Dichter Amı¯r Husrau Dihlavı¯, der, obwohl väterlicherseits turkstämmig und mütterlicherseits ˘ aus einer Rajputenfamilie stammend, seine Gedichte überwiegend auf Persisch geschrieben hat und heute als einer der Exponenten persischer Dichtung auf dem Subkontinent gilt.14 Cum grano salis ist das Persische die Sprache der Literatur,15 11 Siehe einführend: Richard N. Frye, The Golden Age of Persia: The Arabs in the East, London 2003; Zur Situation auf dem indischen Subkontinent siehe: André Wink, Al-Hind: The Making of the Indo-Islamic World. Volume 1: Early Medieval India and the Expansion of Islam. 7th-11th Centuries, Leiden et al. 1990, 108–217. 12 Diese Praxis beginnt unter der Dynastie der Samaniden, siehe etwa: Jürgen Paul, The State and the Military: The Samanid Case (Papers on Inner Asia 26), Bloomington 1994. 13 Siehe beispielhaft: David Durand-Guédy, Iranian Elites and Turkish Rulers: A History of Isfaha¯n in the Salju¯q Period (Routledge Studies in the History of Iran and Turkey 6), London et˙ al. 2010. 14 Zu Leben und Werk siehe einführend: Sunil Sharma, Amir Khusraw: The Poet of Sufis and Sultans (Makers of the Muslim World), Oxford 2005. Über das Persische hinaus hat Amı¯r Husrau Gedichte auf Panjabi (Tariq Rahman, Punjabi Language during British Rule, in: ˘ Journal of Punjab Studies 14 [2007], 27–38, hier 27) und Hindustani verfasst (Alyssa Gabbay, Islamic Tolerance: Amı¯r Khusraw and pluralism [Iranian Studies 9], New York 2010, 33). 15 Und damit auch die Sprache der Historiographie, deren Texte die mitunter bedeutendsten Quellen zur Sultanatszeit darstellen. Zur persischen Historiographie siehe überblickshaft: Tilmann Trausch, Persische Historiographie, in: Ludwig Paul (ed.), Handbuch der Iranistik, Bd. 2, Wiesbaden 2017, 67–73.
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des Hofes und der Verwaltung. Das Arabische ist die Sprache der Religion und ihrer Experten und das Türkische ist die Sprache des Heerlagers.16 Da sich diese Sphären im höfischen Bereich überlagern, ist Mehrsprachigkeit dort ein bedeutendes Element. Für Fragen der Herrschaftslegitimation ist entscheidend, dass über die jeweiligen Sprachen auch kulturelle Traditionen transportiert werden, einschließlich unterschiedlicher Herrschaftsdiskurse. Im Falle des Persischen ist dies die monarchische Tradition des vorislamischen Iran (vermittelt in islamischer Zeit vor allem durch die höfischen Traditionen der Ghaznaviden und Seldschuken)17 sowie das, was gemeinhin als iranische Mythologie bezeichnet wird. Im Falle des Arabischen sind es die idealtypischen Vorstellungen islamischer Herrschaft und ihrer rechtgläubigen Herrscher sowie die Traditionen der Frühzeit des Islam. Und im Falle des Türkischen sind es die Steppen- und Nomadentraditionen Innerasiens. Im Zuge der Eroberungen Dschingis Khans und seiner Nachfolger, die von der Mitte des 13. bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts weite Teile der persophonen Welt beherrschen, kommen noch mongolische Elemente hinzu. Dieses Neben- und Miteinander von Sprachen und kulturellen Traditionen zeigt sich auch in den Namen der Sultane von Delhi.
Quellenlage und Namenverwendung Das Quellenmaterial zum Sultanat ist insgesamt überschaubar, heterogen und in Bezug auf Namen unübersichtlich. Es dominiert das chronikale Schrifttum aus dem höfischen Umfeld Delhis, wobei Handschriftenüberlieferung und Textgeschichte in den wenigsten Fällen systematisch untersucht sind. Wo Editionen vorliegen, handelt es sich oft um solche britischer Kolonialbeamter aus dem 19. Jahrhundert,18 die handschriftlichen Variationen nicht immer adäquat Rechnung tragen.19 Dabei können sich Namensbestandteile desselben Trägers in verschiedenen Abschriften durchaus unterscheiden.20 Dies betrifft etwa den 16 Zur Unterscheidung zwischen den türkischen »Leuten des Schwertes« sowie den persischen »Leuten der (Schreib)feder«, die in der persophonen Welt im Bereich der Eliten über Jahrhunderte zentrale Relevanz besitzt, siehe Daniel Pipes, Slave Soldiers and Islam: The Genesis of a Military System, New Haven 1981, 46–52, 151–157. 17 Zu den Herrschernamen der Ghaznaviden und insbesondere der Rum-Seldschuken siehe: Bosworth 1967, 129f. und 181. ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i na¯sirı¯, ed. 18 Etwa: Abu¯ ʿUmar Minha¯gˇ ad-Dı¯n ʿUsma¯n b. Sira¯gˇ ad-Dı¯n al-G ¯ ˙ ˙ William N. Lees (Bibliotheca Indica 42), Calcutta 1864. 19 Die Ausnahmen sind vor allem die neueren und qualitativ deutlich besseren Editionen aus dem Iran, etwa Niza¯mı¯ 1391. ˙ weißt bereits Raverty hin: Abu ʿUmar Minha¯gˇ ad-Dı¯n al-G ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Ta20 Auf dieses Problem ¯ ¨ baka¯t-i-Na¯sirı¯: A general history of the Muhammadan dynasties of Asia, including Hindu˙ ˙
Namen als Beitrag zur Herrscherlegitimation im Sultanat von Delhi
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Namen des zweiten Sultans von Delhi, Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ: Hier weichen die Schreibweisen des letzten Namensbestandteils mitunter deutlich voneinander ab, wodurch die ursprüngliche Form und Bedeutung schwer zu bestimmen ist. Die hier verwendete Form Iltutmisˇ gilt heute als die wahrscheinlichere, nicht zuletzt, da sie sich auch auf den in seinem Namen geprägten Münzen findet.21 Sie bedeutet »Der, der die Leute/das Reich hält«.22 Zudem werden Namen intratextuell bisweilen retrospektiv genutzt, wird ein späterer Herrscher bereits in den Passagen über seine Jugend mit seinen Herrschernamen und -titeln tituliert. Obwohl hier offenkundig Umbenennungen stattgefunden haben, finden die vor dem Herrschaftsantritt getragenen Namen nicht in allen Fällen Erwähnung, und wenn doch, oft in voneinander abweichender Form. Und nicht zuletzt weichen auch die Angaben einzelner Texte zu bestimmten Namensbestandteilen desselben Trägers voneinander ab. Ein Beispiel liefert der Name ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯hs (eingedeutscht Schah, das ˙ persische Wort für »Herrscher«, verwendet meist als Titel), ab dem Ende des 13. Jahrhunderts dritter Herrscher der dritten Dynastie in Delhi. Hierbei handelt es sich um einen Thronnamen, jedoch erwähnen die historiographischen Texte, dass sein Träger vor seiner Inthronisierung noch andere Namen getragen hat. Wie genau diese lauten und wann genau der spätere Sultan sie getragen hat, darüber gehen die Angaben auseinander. Nach ʿAbd al-Malik ʿIsa¯mı¯, Autor des ˙ Futu¯h as-sala¯t¯ın, heißt ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h vor seiner Inthronisierung ˙ ˙ ˙ 23 zunächst ʿAlı¯ Garsˇa¯sp. Nach Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Autor der etwa zehn Jahre nach dem Futu¯h as-sala¯t¯ın (und damit 40 Jahre nach dem Tod dieses Herrschers) ˙ ˙ entstandenen Ta¯rı¯h-i fı¯ru¯z ˇsa¯hı¯ trägt er den Namen ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Garsˇa¯sp,24 hätte ˘ somit zumindest einen Bestandteil seines Thronnamens bereits vor seinem Herrschaftsantritt getragen. Yahya b. Ahmad as-Sı¯rhindı¯ wiederum, Autor der ˙ ˙ über 100 Jahre nach dem Tod ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯hs fertiggestellten ˙ Ta¯rı¯h-i muba¯rak ˇsa¯hı¯, schreibt ihm für die Zeit vor seinem Herrschaftsantritt ˘
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stan. From A. H. 194 (810 A. D.) to A. H. 658 (1260 A. D.) and the irruption of the infidel Mughals into Islam, Bd. 2, transl. by Henry G. Raverty, Calcutta 1881 (ND New Delhi 1970), 797, Fn. 5. Goron/Goenka 2001, 18–25. Die entsprechende Diskussion fasst Digby 1970 zusammen. Schimmel übersetzt den Namen mit »Er ergriff das Land«: Annemarie Schimmel, Von Ali bis Zahra. Namen und Namengebung in der islamischen Welt (Diederichs gelbe Reihe 102), München 1993, 23. ʿAbd al-Malik ʿIsa¯mı¯, Futu¯h as-sala¯t¯ın, ed. A. S. Usha, Madras 1948, 228. Siehe einführend zu ˙ 184–203. ˙ ˙ diesem Werk: Siddiqui 2014, Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯, Ta¯rı¯h-i fı¯ru¯z sˇa¯hı¯, ed. Sayyid Ahmad Ha¯n, Calcutta 1862, 174. Siehe ˘ Siddiqui 2014, 204–224. ˙ ˘ einführend zu diesem Werk:
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den Namen Malik ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n zu,25 erwähnt somit überhaupt keine früheren Namen. Alle Autoren verweisen auf ähnliche oder dieselben Namensbestandteile, jedoch unterscheiden sich ihre Angaben im Detail. Ob ihnen unterschiedliche Informationen vorgelegen haben, Baranı¯ und Sı¯rhindı¯ den Namensbestandteil ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n des Thronnamens retrospektiv verwenden oder sich ʿAlı¯ Garsˇa¯sp tatsächlich bereits vor seinem Herrschaftsantritt als ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n tituliert oder titulieren lässt, ʿIsa¯mı¯ dies jedoch nicht tut, ist anhand der vorliegenden Quellen ˙ nicht zu entscheiden. Es bleibt unklar, welche Namensbestandteile der spätere ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h wann getragen hat. Dies nicht zuletzt deshalb, da ˙ sich im Falle der vor der Inthronisierung getragenen Namen den historiographischen Texten keine Münzinschriften gegenüberstellen lassen.26 In der islamischen Welt ist die Prägung von Münzen im eigenen Namen (sikka) eine der zwei zentralen Insignien selbstständiger Herrschaft, es prägt – zumindest in der Theorie – alleine der aktuelle Herrscher Münzen und diese tragen im Sultanat von Delhi ausschließlich seinen Thronnamen.27 Zuletzt zeigt die Namenverwendung eine aus namentextologischer Perspektive interessante und zudem unmittelbare Verbindung zwischen Namen und Textsorte, die in der Forschung zum Sultanat bislang jedoch kaum thematisiert worden ist. Es finden sich in Bezug auf viele Namensbestandteile deutliche Unterschiede zwischen den Fremdzuschreibungen in historiographischen Texten und den Selbstbezeichnungen auf Münzen. Davon ausgenommen ist lediglich der Kern eines jeden Herrschernamens, im Falle des Sultanats der persönliche Name sowie der Beiname,28 abseits dieses Kerns betrifft dies jedoch die überwiegende Zahl der Herrschernamen Delhis. Angesichts der solcherart beschaffenen und zudem zahlenmäßig begrenzten Quellen sowie der Tatsache, dass die onomastische Forschung zum Sultanat gleichermaßen überschaubar ist,29 müssen namenskundliche Aussagen derzeit 25 Yahya¯ b. Ahmad b. ʿAbd Alla¯h as-Sı¯rhindı¯, Ta¯rı¯h-i Muba¯rak Sˇa¯hı¯, ed. Muhammad Hida¯yat ˙ ˙ ˙ ˘ einführend: Stephan Conermann, Husain, Calcutta 1931, 69. Zu diesem Werkt siehe Indo˙ Persische Chronistik, in: Gerhard Wolf/Norbert H. Ott (edd.), Handbuch Chroniken des Mittelalters, Berlin/Boston 2016, 951–988, hier 956f. 26 Von ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h sind mehr Münzen erhalten als von jedem anderen Sultan, ˙ 2001, 37. siehe: Goron/Goenka 27 Zu sikka als Insignie selbstständiger Herrschaft siehe: Stefan Heidemann, Numismatics, in: Chase Robinson (ed.), The New Cambridge History of Islam: Volume 1: The Formation of the Islamic World, Sixth to Eleventh Centuries, Cambridge 2010, 648–663, hier 649 und 660. 28 Zu diesen siehe unten, 211–213. 29 Es liegen nur sehr wenige Beiträge vor, die sich originär mit Herrschernamen befassen, etwa: Jean Sauvaget, Noms et surnoms de Mamelouks, in: Journal Asiatique 238 (1950), 31–58; Simon Digby, Iletmish or Iltutmish? A Reconsideration of the Name of the Delhi Sultan, in: Iran 8 (1970), 57–64. Generell konzentriert sich die Onomastik zur persophonen Welt auf die
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jedenfalls mit einer gewissen Vorsicht getroffen werden. Der vorliegende Beitrag kann somit nicht mehr sein als ein Problemaufriss. Dies gilt insbesondere für einen der erkenntnisleitenden Aspekte von Nomen et Gens, Personennamen als Indikatoren für ethnische Gruppenzugehörigkeit.30 Zum einen weil die Bedeutung der persönlichen Herkunft der Mutter in der islamischen Welt mutmaßlich geringer ist als in Westeuropa, sind die ethnischen Gruppen im Bereich der Eliten, und so auch die Familien der Herrscher, in sich ohnehin sehr viel heterogener als es die exklusiven Quellenbegriffe »Perser«, »Araber«, »Türken« und »Hindus« vorgeben.31 Zum anderen sind den Möglichkeiten Grenzen gesetzt, von diesen Quellenbegriffen auf den ›ethnischen‹ Hintergrund der Bezeichneten zu schließen, da ein »Perser« auch lediglich ein Träger persischer Kultur sein und ein »Türke« auch schlicht einen Nomaden im Gegensatz zu einem Sesshaften bezeichnen kann. Und nicht zuletzt tragen alle Sultane Delhis arabische und persische Namen, obwohl es sich bei ihnen so gut wie ausschließlich um turkstämmige Zuwanderer aus Innerasien und ihre Nachfahren handelt.
Namensbildung im Sultanat von Delhi Ungeachtet der sprachlichen Vielfalt einzelner Namensbestandteile orientieren sich die Sultansnamen grundlegend an der Struktur arabischer Personennamen, wie dies in weiten Teilen der vormodernen islamischen Welt die Regel ist.32 Arabische Namen enthalten keine Vor-, Zwischen- oder Familiennamen nach dem Muster europäischer Namenssysteme, sondern setzen sich aus Bestandteilen wie dem persönlichen Namen, Beinamen oder Abstammungsbezeichnungen zusammen. Jedoch müssen nicht alle dieser Namensbestandteile in jedem Namen vorkommen und tun dies in der Regel auch nicht. Die Namen der Sultane setzen sich aus den folgenden Bestandteilen zusammen:
vorislamische Zeit, wie vor allem das inzwischen vielbändige Iranische Personennamenbuch zeigt. 30 Etwa: Hans-Werner Goetz/Wolfgang Haubrichs, Personennamen in Sprache und Gesellschaft. Zur sprach- und geschichtswissenschaftlichen Auswertung frühmittelalterlicher Namenszeugnisse auf der Grundlage einer Datenbank (mit Beispielartikeln), Teil 1, in: Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 40 (2005), 1–50, hier 31–34. 31 Siehe hierzu etwa: David Gilmartin/Bruce B. Lawrence (edd.), Beyond Turk and Hindu: Rethinking Religious Identities in Islamicate South Asia, Gainesville et al. 2000. 32 Zu Namen in der islamischen Welt siehe einführend: Wolfdietrich Fischer, Arabische Personenamen, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 1, Berlin/New York 1995, 873–875; Annemarie Schimmel, Islamic Names, Edinburgh 1989; Schimmel 1993.
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Arabische Bezeichnung laqab ()ﻟﻘﺐ
Deutsche Bezeichnung33 Beiname
kunya ()ﮐﻨﯿﺔ
Agnomen, in aller Regel in Form eines Teknonyms Persönlicher Name
ism ()ﺍﺳﻢ nasab ()ﻧﺴﺐ
Beispiel Qutb ad-Dı¯n, »Der Pol des ˙ Glaubens«
Abu¯ ʿAbdalla¯h, »Der Vater ʿAbdalla¯hs«34 Muhammad ˙ Abstammungsbezeichnung, Muhammad b. Tug˙luq, ˙ ammad, Sohn des »Muh meist in Form eines Pa˙ ˙ tronyms, seltener auch Tugluq« eines Avonyms
Die Reihenfolge der einzelnen Namensbestandteile ist festgelegt, laqab – kunya – ism – nasab, Ausnahmen sind selten. Der Beiname, der laqab, ist ein integraler Bestandteil arabisch-islamischer Namengebung, im Sultanat gibt es lediglich einen Sultan, der keinen solchen trägt, Muhammad b. Tug˙luq in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.35 Zudem ˙ findet er stets prominent Erwähnung. Während andere Namensbestandteile in bestimmten Kontexten oder Quellen unerwähnt bleiben können, etwa auf Münzen ein guter Teil der aufwendigen Titulatur aus den Historiographien fehlt, wird der jeweilige Beiname in allen Quellen der Sultanatszeit genannt. Dabei entspricht der laqab in gewisser Weise, sowohl dem römischen Agnomen als auch dem Cognomen,36 womit ebenfalls das Problem der Unterscheidbarkeit gleich benannter Namensträger einhergeht. Das Agnomen, die kunya, ist eine Form eines Epithetons, die insbesondere auf Münzen häufig zu den genannten Namensbestandteilen der Sultane gehört. Theoretisch auf den erstgeborenen Sohn des Namensträgers verweisend,37 kann es auch metaphorisch gebraucht werden und auf ein besonderes Attribut des Trägers hindeuten. In diesem Sinne wird es häufig als nome de guerre benutzt. Die Abstammungsbezeichnung, der nasab, führt den Namensträger zunächst auf seinen Vater und über diesen und dessen Väter bis auf den tatsächlichen oder behaupteten Urahn seiner Familie zurück, wobei nicht immer alle Glieder dieser mitunter sehr langen Ahnenreihe genannt 33 Die Übersetzung der arabischen Namensbestandteile ist in der Literatur nicht immer einheitlich, die hier gewählten Übersetzungen folgen Schimmel 1993. 34 Diese kunya trägt etwa Abu¯ ʿAbdalla¯h Muhammad b. Battu¯ta¯, bekannt als Ibn Battu¯ta¯, Co˙ ˙˙ ˙ das Sultanat einschließt. ˙˙ ˙ Siehe Autor eines Reiseberichts aus dem 14. Jahrhundert, der auch hierzu etwa: Ralf Elger, Die Wunder des Morgenlandes. Reisen durch Afrika und Asien (Neue Orientalische Bibliothek), München 2010. 35 Weder wird ihm ein laqab zugeschrieben (etwa: ʿIsa¯mı¯ 1948; Baranı¯ 1862), noch hat er sich ˙ selbst auf Münzen entsprechend bezeichnet: Goron/Goenka 2001, 50–59. 36 Benet Salway, What’s in a Name? A Survey of Roman Onomastic Practice from c. 700 B. C. to A. D. 700, in: The Journal of Roman Studies 84 (1994), 124–145. 37 In dieser Form hat die kunya in vielen islamischen Gesellschaften eine für ihren Träger besonders ehrende Funktion: Schimmel 1993, 25f.
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werden, insbesondere auf Münzen nicht. Im Fall der Sultane von Delhi findet sich dieser Namensbestandteil generell eher selten und wenn, so wird lediglich der Name des Vaters genannt. Am weitaus häufigsten ist die Verwendung des nasab für den bereits erwähnten Muhammad b. Tug˙luq, »Muhammad, Sohn des ˙ ˙ Tug˙luq«, belegt, sowohl in historiographischen Texten als auch auf Münzen tritt er vor allem unter diesem Namen in Erscheinung. Dass die Ahnenreihen der Sultane insgesamt weniger prominent Erwähnung finden als in anderen Reichen der vormodernen persophonen Welt, lässt sich mit der Tatsache erklären, dass diese auf keine angesehene Herkunft verweisen beziehungsweise sie auch nicht glaubhaft behaupten können. So wird im Falle der sehr kurzen Ahnenreihe Muhammad b. Tug˙luqs auf den ersten (und einzigen) Vorfahren verwiesen, der ˙ unter den Zeitgenossen überhaupt hinlänglich bekannt gewesen sein dürfte: seinen Vater. Grundsätzlich ist die Bedeutung herrscherlicher Genealogien jedoch auch im Sultanat ein Thema. Bei Fahr-i Mudabbirs Sˇagˇara-yi ansa¯b etwa, ˘ welches die Taten Qutb ad-Dı¯n Aibaks in den Jahren von 1206 bis 1210 darstellt ˙ und als früheste persische Prosaerzählung aus Indien gilt,38 handelt es sich um die chronikale Einleitung einer Genealogiensammlung, die die Genealogien des Propheten Muhammad, seiner Gefährten sowie die der verschiedenen Herr˙ scherhäuser der islamischen Welt bis hin zu den Ghuriden umfasst. Theoretisch sind die erwähnten Namensbestandteile stets eindeutig voneinander zu unterscheiden,39 in der Praxis, im Gebrauch in den Quellen, verschwimmen die Grenzen jedoch fortlaufend. In historiographischen Texten etwa ist es nachgerade die Regel, Beinamen als persönliche Namen zu verwenden und dann alleine diese zu nennen.40 In aller Regel nennen die Autoren lediglich zu Beginn ihrer Berichte über den jeweiligen Sultan dessen gesamte Titulatur, so wie Niza¯mı¯ in der eingangs zitierten Passage über Qutb ad-Dı¯n Aibak. ˙ ˙
38 Siehe einführend zu diesem Werk: Siddiqui 2014, 17–28. 39 Allerdings gibt die Forschungsliteratur diese Unterscheidungen nicht immer hinreichend wieder und wo die Namen der Sultane überhaupt behandelt werden, ist der Umgang mit ihnen nicht immer hinreichend reflektiert. Anjum etwa scheidet konsequent die »real names« der Sultane von ihren »titles«: Tanvir Anjum, Nature and Dynamics of Political Authority in the Sultanate of Delhi, in: Quarterly Journal of the Pakistan Historical Society 54,3 (2006), 29– 59, hier 58. Jedoch sind diese Kategorien unscharf definiert, bei den entsprechenden Namensbestandteilen handelt es sich jeweils um eine Mischung aus persönlichen Namen, Beinamen, Patronymen und Teknonymen. Ohnehin scheint die Kategorie der »real names« nur bedingt geeignet. Sind damit, wie anzunehmen ist, Geburts- oder auch nur persönliche Namen gemeint, ließe sich die entsprechende Zuordnung bei einigen der lediglich als persönliche Namen verwendeten Beinamen nur schwer rechtfertigen, etwa bei Iltutmisˇ. ˇ u¯zgˇa¯nı¯, Tabaqa¯t-i na¯sirı¯, ed. ʿAbd al-Haiy Habı¯bı¯, 2 Bde., Kabul 1963– 40 Etwa: Minha¯gˇ ad-Dı¯n G ˙ diesem Werk: ˙ 93–157. ˙ ˙ 64, 415–418. Siehe einführend zu Siddiqui 2014,
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Sprachliche Diversität und die Relevanz der Sprachwahl Die Namen der Herrscher Delhis spiegeln die Vielsprachigkeit der Eliten der persophonen Welt wieder, sie setzten sich aus arabischen, persischen, türkischen und mongolischen Bestandteilen zusammen. Einige Beispiele: 1. Baha¯ʾ ad-Dı¯n, »Die Pracht des Glaubens«, ist ein oft als persönlicher Name verwendeter arabischer Beiname. 2. Ulug˙ Ha¯n-i muʿazzam, »Der erhabene große Befehlshaber«, ist ein ebenfalls ˙˙ ˘ als persönlicher Name verwendeter multilingualer Ehrentitel, der den persönlichen Namen jedoch nicht ergänzt, sondern ersetzt. Er besteht aus dem türkischen Wort ulug˙, »groß«, dem vom mongolischen ha¯qa¯n, »Befehlshaber, ˘ Herr«, abgeleiteten Wort ha¯n sowie dem arabischen passiven Partizip ˘ muʿazzam, erhaben. Verbunden sind die letzten beiden Namensbestandteile ˙˙ durch eine iza¯fa, -i, eine persische enklitische Partikel, welche ein Attribut an ˙ ihr Bezugsnomen bindet. 3. G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban, »Der Beistand des Glaubens Balban«, ist wiederum aus ¯ einem arabischen Beinamen und dem türkischen Wort für den Sperber zusammengesetzt. Sowohl in den historiographischen Texten als auch auf Münzen wird er in aller Regel als persönlicher Name verwendet. Die Beispiele zeigen zudem, dass Umbenennungen im Sultanat eine Rolle spielen. Denn beim Träger dieser Namen handelt es sich um ein und dieselbe Person, den unter seinem Thronnamen G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban bekannten achten Sultan ¯ von Delhi.41 Für die Legitimation der Ansprüche der Herrscher Delhis ist die Gewichtung der einzelnen Sprachen zentral, denn arabische, persische und türkische Namensbestandteile treten nicht zu gleichen Teilen auf. Obwohl es sich bei den Sultanen so gut wie ausschließlich um Turkstämmige handelt, sind im Gegenteil bereits bei den frühen Herrschern Delhis türkische Namensbestandteile die Ausnahme, insbesondere in Bezug auf die Thronnamen. Dies zeigen exemplarisch die Namen der ersten Dynastie, deren Mitglieder zwischen 1210 und 1266 herrschen: 1. Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ – zweiter Sultan und Gründer der ersten Dynastie 2. Rukn ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯h – Sohn Iltumisˇ’
ˇ u¯zgˇa¯nı¯s und Baranı¯s. Sı¯rhindı¯ 41 Diese Darstellung seiner Namen folgt den Zuschreibungen G weicht später hiervon ab, nennt jedoch ähnliche Namensbestandteile. Nach ihm trägt G˙iya¯s ¯ ad-Dı¯n Balban vor seinem Herrschaftsantritt den Namen Malik Balban: Sı¯rhindı¯ 1931, 35. Die Zählung als achter Sultan setzt zudem voraus, Qutb ad-Dı¯n Aibak bereits als ersten Sultan zu ˙ zählen. Tut man dies nicht, wie etwa Jackson (Jackson 1999, 333), wäre G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban ¯ der siebte Sultan.
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Raz˙iyat ad-Dı¯n – Tochter Iltumisˇ’ und einzige Sultanin42 Muʿizz ad-Dı¯n Bahra¯m Sˇa¯h – Sohn Iltumisˇ’ ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h43 – Enkel Iltumisˇ’ ˙ Na¯sir ad-Dı¯n Masʿu¯d Sˇa¯h – Sohn Iltumisˇ’ ˙
Lediglich der Name des Gründers der Dynastie enthält einen türkischen Namensbestandteil, Iltutmisˇ. Während sich die türkisch-nomadische Herkunft im Bereich der militärischen Eliten des Sultanats noch über viele Jahrzehnte auch in den Namen niederschlägt,44 spielt sie auf der Ebene der Herrschernamen schnell keine Rolle mehr. Die späteren Dynastien Delhis stützen dieses Bild. Unter den Sultanen der zweiten Dynastie, die von 1266 bis 1290 herrscht, weist ebenfalls alleine der Thronname ihres Gründers einen türkischen Namensbestandteil auf, G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban, »der Sperber«.45 Auch bei den Herrschernamen der dritten ¯ Dynastie, die von 1290 bis 1320 herrscht, spielen türkische Namensbestandteile eine nachgeordnete Rolle, wobei sich hier, jenseits der persönlichen Namen der Herrscher, ein bislang wenig beachteter, jedoch systematischer Unterschied zwischen Fremdzuschreibungen und Selbstbezeichnungen zeigt. ʿIsa¯mı¯ und ˙ Baranı¯, die umfangreichsten narrativen Darstellungen dieser Dynastie, führen bei den Thronnamen in der Regel den Namen des türkisch-afghanischen Halgˇ¯ı˘ Stammes als Namensbestandteil an, dem die Herrscher entstammen: as-sulta¯n ˙ ˇ ala¯l ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯h Halgˇ¯ı, »Der milde Sultan, die Pracht al-halı¯m G ˙ ˘ 46 der Welt und des Glaubens Fı¯ru¯z Sˇa¯h Halgˇ¯ı«. Auf Münzen fehlt dieser Na˘ mensbestandteil hingegen,47 wie ihre Vorgänger verzichten die Herrscher selbst darauf, ihre turkstämmige Herkunft zu thematisieren. Die Herrschernamen der vierten und letzten Dynastie Delhis vor der Eroberung Timurs 1398 runden das 42 Zur Darstellung der einzigen weiblichen Herrscherin in historiographischen Quellen siehe: Alyssa Gabbay, In Reality a Man: Sultan Iltutmish, His Daughter, Raziya, and Gender Ambiguity in Thirteenth Century Northern India, in: Journal of Persianate Studies 4,1 (2011), 45– 63. 43 Dieser ist nicht identisch mit dem zuvor erwähnten ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h aus dem ˙ späten 13. Jahrhundert, beide tragen lediglich denselben persönlichen Namen und Beinamen. Dass der spätere ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h nach dem Enkel Iltumisˇ’ benannt ist, darf ˙ dabei als ausgeschlossen gelten, insbesondere hinsichtlich seines persönlichen Namens Muhammad. Dieser ist in der gesamten islamischen Welt überaus üblich und weist letztlich auf ˙den Propheten des Islam zurück. 44 Siehe etwa die Namen der führenden Elitenmitglieder unter Iltutmisˇ: Sunil Kumar, When Slaves were Nobles: The Shamsî Bandagân in the Early Delhi Sultanate, in: Studies in History 10,1 (1994), 23–52, hier 32–35. 45 Dies betrifft sowohl die Fremdzuschreibungen der historiographischen Quellen (siehe etwa: Baranı¯ 1862, 24) als auch die Selbstbezeichnungen auf den erhaltenen Münzen (Goron/ Goenka 2001, 31–33). 46 Baranı¯ 1862, 174, 240. Ähnlich ʿIsa¯mı¯ 1948, 211; Anjum folgt dieser Zuschreibung: Anjum ˙ 2006, 59. 47 Goron/Goenka 2001, 35–44.
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Bild ab. Der Dynastiegründer G˙iya¯s ad-Dı¯n Tug˙luq Sˇa¯h trägt mit Tug˙luq ebenfalls ¯ einen türkischen Namensbestandteil, der, hier weicht die Namengebung von der unter früheren Dynastien ab, von seinem Sohn Muhammad b. Tug˙luq, ˙ »Muhammad, Sohn des Tug˙luq«, in Form eines Patronyms (nasab) weiter˙ 48 getragen wird. Hiervon abgesehen spielen türkische Namensbestandteile keine nennenswerte Rolle. Bei den Thronnamen dominieren arabische und persische Namensbestandteile. Die Motivation dieser Namengebung, die für die Herrscherlegitimation letztlich entscheidend ist, ist eindeutig. Die Namen sollen die Verbundenheit ihrer Träger, die als Zuwanderer der ersten, zweiten oder dritten Generation aus den Randbereichen jenseits der islamischen Welt auf keine prominente Herkunft verweisen können, mit der Geschichte der persophonen Welt herausstellen. Mittels der Namen werden ihre Träger innerhalb einer oder gleich innerhalb der beiden Traditionslinien verortet, die diese Welt im Bereich ihrer Eliten seit Jahrhunderten prägen und sie dadurch repräsentieren – die arabisch-islamische und die persisch-iranische. Zentral hierfür ist die Nachbenennung.
Die Nachbenennung persönlicher Namen Das Phänomen, dass innerhalb einer bestimmten Familie bestimmte Namen vergeben werden,49 ist auch in der persophonen Welt zu beobachten,50 wobei solche Nachbenennungen insbesondere bei persönlichen Namen (ism) eine Rolle spielen. So hat etwa die Dynastie der Samaniden zwei Mitglieder mit dem persönlichen Namen Ahmad, »höchst gepriesen«,51 sowie jeweils zwei mit den ˙ 48 Auch dies betrifft sowohl Fremdzuschreibungen (etwa: Baranı¯ 1862, 454) als auch Selbstbezeichnungen (etwa Goron/Goenka 2001, 53). 49 Für den frühmittelalterlichen westeuropäischen Raum siehe diesbezüglich etwa: Jörg Jarnut, Nobilis non vilis, cuius et nomen et genus scitur, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/ Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin et al. 1997, 116–126. 50 Dies gilt bereits in vorislamischer Zeit, wie etwa die Herrschernamen der beiden bedeutendsten vorislamischen Herrscherhäuser der iranischen Welt, die Achämeniden und Sasaniden, belegen: Josef Wiesehöfer, Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr., Düsseldorf 2005, 408 und 412f. Zur islamischen Epoche siehe: Schimmel 1993, 45. 51 Bei diesem Namen handelt es sich um den himmlischen Namen Muhammads, der in der ˙ gesamten islamischen Welt, ebenso wie die anderen Namen des Propheten, häufig vergeben wird, siehe einführend: Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam, München 1995, 159f.
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koranischen Namen Isma¯ʿı¯l und Nu¯h,52 den arabischen Formen von Ismael und ˙ Noah. Unter den Safaviden hingegen tragen drei Herrscher den Namen Isma¯ʿı¯l, zwei den Namen Tahma¯sb und drei den Namen ʿAbba¯s.53 Die Praxis der Namengebung scheint jedoch an weniger strengen Vorgaben orientiert zu sein als im europäischen Raum.54 Die Frage etwa, ob auch die Namen noch lebender Familienmitglieder neu vergeben werden dürfen oder ob dies erst posthum geschehen kann,55 spielt letztlich keine Rolle. Dennoch ist die Frage, nach wem konkret nachbenannt wird, aus transkultureller Perspektive nicht trivial. Dies umso weniger, als sie bereits aus disziplinärer Perspektive oft unzulänglich untersucht und zudem in vielen Fällen anhand der Namen alleine kaum zu entscheiden ist. Eine zentrale Herausforderung liegt in der Tatsache begründet, dass in der islamischen Epoche der persophonen Welt eine Form der Nachbenennung prominent ist, die über einzelne Familien, aber auch über konkrete historische Figuren hinausgeht: Herrscher werden nach imaginierten Vorfahren benannt. Hierbei handelt es sich um die Namen früher Muslime und koranischer Figuren einerseits und um die vorislamischer Herrscher Irans sowie von Figuren der iranischen Mythologie andererseits. Die jeweiligen Namen entstammen somit dem »Namengut« der arabisch-islamischen sowie der persisch-iranischen Tradition.56 Dies führt mitunter zu einem schwer zu greifenden Verhältnis zwischen einem ursprünglichen Namensträger und dem, der später nach ihm benannt wird. Etwa im Fall der angesprochenen Safavidenherrscher: Ob der zweite und dritte Träger des Namens Isma¯ʿı¯l nach ihrem Vorfahren, dem Dynastiegründer, benannt sind, ob der dritte Träger nach dem zweiten benannt ist, der wiederum nach dem Dynastiegründer benannt ist, ob in allen drei Fällen nach der koranischen Figur Isma¯ʿı¯l benannt wird, oder ob all dies bei der Entscheidung der Namengebung ineinander spielt, ist mit letzter Sicherheit nicht zu entscheiden. Da der Name Isma¯ʿı¯l unter den Vorfahren des Dynastiegründers kaum vorkommt,57 liegt für den zweiten und dritten Träger eine Nachbenennung nach dem Dynastiegründer immerhin nahe, der wiederum vermutlich der koranischen Figur nachbenannt ist.
52 Clifford E. Bosworth, The Islamic Dynasties: A chronological and genealogical Handbook (Islamic Surveys 5), Edinburgh 1967, 101. 53 Bosworth 1967, 172. 54 Siehe hierzu einführend: Michael Mitterauer, Traditionen der Namengebung. Namengebung als interdisziplinäres Forschungsgebiet, Wien/Köln/Weimar 2011, 73–89. 55 Siehe hierzu: Mitterauer 2011, 73–89. 56 Zum Begriff siehe: Eugen Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus. Mit genealogischen Karten und Notizen, in: Francia 18,1 (1991), 21–69. 57 Siehe Roger Savory, Iran under the Safavids, Cambridge et al. 1980, 3–20.
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Die arabischen persönlichen Namen der Sultane von Delhi lassen sich in drei Kategorien einteilen, wobei bei den letzten beiden Nachbenennungen eine Rolle spielen. Zum einen gibt es Namen, die auf arabische Wörter mit positiver Bedeutung zurückgehen, wie etwa Mahmu¯d, »Der Gepriesene, Der Lobenswerte«, ˙ oder Masʿu¯d, »Der Glückliche, Der Glückselige«. Diese Namen tragen zwei Herrscher der ersten Dynastie, Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h und ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n ˙ ˙ Masʿu¯d Sˇa¯h. Darüber hinaus gibt es die persönlichen Namen Muhammads und ˙ der frühen Muslime, der ersten Gefährten des Propheten des Islam. Sˇiha¯b ad-Dı¯n ʿUmar Sˇa¯h aus dem frühen 14. Jahrhundert etwa trägt einen Namen, der letztlich auf ʿUmar b. al-Hatta¯b zurückweist, den zweiten der vier rechtgeleiteten Kalifen ˘ ˙˙ des frühen Islam. Und schließlich gibt es einen koranischen Namen, Ibra¯hı¯m, die arabische Form von Abraham. Diesen trägt Rukn ad-Dı¯n Ibra¯hı¯m Sˇa¯h, zweiter Herrscher der dritten Dynastie. Quantitativ halten sich die persönlichen Namen der ersten und zweiten Kategorie die Waage. Von den zwölf Sultanen der vier Dynastien des 13. und 14. Jahrhunderts mit einem arabischen persönlichen Namen tragen sechs einen auf ein arabisches Wort mit positiver Bedeutung zurückgehenden Namen und fünf tragen Namen, die bereits berühmte Figuren der islamischen Frühzeit getragen haben. Bei den persischen persönlichen Vornamen der Sultane wird nach vorislamischen Herrschern sowie einer Figur der iranischen Mythologie benannt, jedoch ist die Beweisführung bei Nachbenennungen nach dem Namengut der persisch-iranischen Tradition noch ungleich problematischer, und dies weit über das Sultanat hinaus. Beim Namen Tahma¯sb etwa handelt es sich um die neupersische Form des avestischen Tahmaaspa, »Der ein starkes Pferd Besitzende«. Der Name verweist somit letztlich auf eine Figur der iranischen Mythologie, die in Bezug auf die Namengebung in der islamischen Epoche der persophonen Welt jedoch keine übermäßig große Rolle spielt. Dass in der frühen Neuzeit der zweite Träger dieses Namens nach dem ersten benannt ist, liegt somit nahe. Dass beide nach der mythischen Figur benannt sind, ist dennoch nicht auszuschließen. Dies zielt auf den Kern des Problems: Die vorislamischen Herrscher Irans und die Figuren der iranischen Mythologie sind im Hinblick auf ihre Namen keine streng voneinander zu trennenden Kategorien, sie fließen im Gegenteil ineinander. Die persönlichen Namen der Sasanidenherrscher etwa, des letzten vorislamischen Herrscherhauses, stehen in der islamischen Epoche stellvertretend für die monarchische Tradition des alten Iran und stellen eine zentrale Legitimationsquelle für Herrscher der östlichen islamischen Welt dar, so auch im Sultanat von Delhi. Hinter vielen dieser Namen steht jedoch bereits zu sasandischer Zeit eine mehrtausendjährige Geschichte, die ihren Ursprung oft in der iranischen Mythologie hat. Ob eine Nachbenennung eines Herrschers der islamischen Epoche auf einen Sasaniden verweisen soll, auf die Figur der iranischen Mythologie, auf die dessen
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Name Bezug nimmt, oder auf einen der mitunter vielen islamischen Herrscher früherer Jahrhunderte, die diesen Namen ebenfalls getragen haben, ist schwer zu beurteilen. Gleiches gilt für die Frage, inwieweit den Zeitgenossen überhaupt bewusst ist, auf wen sich ihre jeweiligen Rückgriffe konkret beziehen, oder ob sie schlicht lokal verankerten Traditionen herrscherlicher Namengebung folgen, ohne expliziten Rückbezug auf einen spätantiken Sasaniden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zeitgenossen hinsichtlich Bildung und kulturellen Wissens mitnichten eine einheitliche Gruppe darstellen: Welchen Anteil an der Entscheidung der turkstämmige, mitunter aus dem Militär hervorgegangene Sultan im frühen Sultanat von Delhi hat und welchen der in der iranischen Tradition sozialisierte Gelehrte aus dem Umfeld seines Hofes, könnte durchaus Einfluss auf die Namenswahl gehabt haben. Zumal im Sultanat die Nachbenennung nach Familienmitgliedern kaum eine Rolle spielt,58 sondern die Nachbenennung nach imaginierten Vorfahren dominiert. Während die Sultane so unverkennbar als Träger und Fortsetzer der arabisch-islamischen und der persisch-iranischen Traditionslinien inszeniert werden, ist damit umso schwieriger zu entscheiden, nach wem konkret nachbenannt wird. Insofern sind die im Folgenden getroffenen Zuordnungen zunächst alleine solche, die aus heutiger Perspektive naheliegend scheinen. Welchen früheren Namensträger ein Zeitgenosse während des Aktes der Namengebung konkret im Blick gehabt hat und wie der entsprechende Name bei verschiedenen sozialen Gruppen konnotiert ist, ist kaum zu entscheiden. Im Fall des persönlichen Namens des vierten Herrschers der ersten Dynastie etwa, Muʿizz ad-Dı¯n Bahra¯m Sˇa¯h, erscheint es naheliegend, einen Verweis auf Bahra¯m V. anzunehmen, einen Sasaniden aus dem 5. Jahrhundert, obwohl auch eine Nachbenennung nach einem der fünf anderen Träger dieses Namens unter den Sasaniden denkbar wäre. Bekannt als Bahra¯m-i Gu¯r,59 ist das Leben Bahra¯ms V. in der persischislamischen Literatur ein vielbehandeltes Thema,60 dementsprechend bekannt dürfte der Name unter entsprechend gebildeten Zeitgenossen gewesen sein. Im 58 Als Ausnahme gilt Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h, letzter Herrscher der ersten Dynastie, der nach ˙ zuvor verstorbenen Bruder Na¯sir ad-Dı¯n Mahmud ˙ seinem kurz ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Aussage nach G ¯ ˙ ˙ ˇ benannt ist: Gu¯zgˇa¯nı¯ 1963, 471f. 59 Die Bedeutung des Beinamens Gu¯r ist umstritten. Oft wird er als »Der Onager[-jäger]« übersetzt und mit der Vorliebe des Herrschers für die Jagd erklärt (Otokar Klíma, Bahra¯m V Go¯r, in: Encyclopaedia Iranica 3, Fasc. 5 [1988], 514–522), jedoch sind auch andere Herleitungen diskutiert worden (etwa: Richard N. Frye, The Political History of Iran under the Sasanians, in: Ehsan Yarshater [ed.], The Cambridge History of Iran: Volume 3 [2]: The Seleucid, Parthian and Sasanian Periods, Cambridge et al. 1983, 116–180, hier 144f.). Zudem ist nicht auszuschließen, dass er durch eine Homonymie entstanden ist (Nikolaus Schindel [ed.], Sylloge Nummorum Sasanidarum. Paris – Berlin – Wien, Band III/1: Shapur II. – Kawad I. / 2. Regierung, Wien 2004, 366f.). 60 Siehe hierzu: William L. Hanaway, Jr., Bahra¯m V Go¯r in Persian Legend and Literature, in: Encyclopaedia Iranica 3, Fasc. 5 (1988), 514–522.
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Fall des Sultanats von Delhi bilden Geschichten über Bahra¯m V. etwa die Rahmenerzählung für Amı¯r Husrau Dihlavı¯s Gedicht Hasˇt Bihisˇt.61 Sein relativer ˘ Bekanntheitsgrad lässt die Nachbenennung nach Bahra¯m V. als ungleich wahrscheinlicher erscheinen als die nach einem der anderen Sasaniden gleichen Namens. Dass ein muslimischer Herrscher nach der zoroastrischen Gottheit des Sieges Bahra¯m benannt ist, auf den dieser Name letztlich zurückgeht, ist demgegenüber unwahrscheinlich. Man darf allerdings annehmen, dass viele der diesbezüglichen kulturellen Traditionen im Rahmen der Namengebung ineinander spielen. Namen von Figuren der iranischen Mythologie entstammen in der islamischen Epoche der persophonen Welt in aller Regel dem Sˇa¯hna¯ma des Abu¯ l-Qa¯sim Firdausı¯,62 so auch im Falle des Sultanats von Delhi. Kayu¯mars, der ¯ persönliche Name des Sˇams ad-Dı¯n Kayu¯mars, des letzten Herrschers der ¯ zweiten Dynastie, weist unzweifelhaft auf die Figur des Gayo¯mart zurück, »Sterbliches Leben«, der in der iranischen Mythologie der erste Mensch und der erste König der Menschen ist, der diesen zunächst die Nahrung und Kleidung bringt und später die Kultur.63 Wiederum rein quantitativ dominieren folglich auch hier die Namen der monarchischen Tradition. Dieser Herausforderungen ungeachtet leitet die Nachbenennungen stets dieselbe Intention. Durch den Rückgriff auf berühmte Figuren, auf das Namengut der arabisch-islamischen oder persisch-iranischen Tradition, soll eine Verbindung zwischen den Herrschern Delhis und den Traditionslinien der persophonen Welt hergestellt werden, so dass die Sultane als Repräsentanten dieser Traditionen agieren können. Dementsprechend gibt es bei den persönlichen Namen auch keinerlei Diskrepanzen zwischen Fremdzuschreibungen und 61 Sharma 2005, 58. 62 Hierbei handelt es sich um ein Epos aus dem Beginn des 11. Jahrhunderts, das in 30.000 Distichen die Geschichte der iranischen Welt von den Urkönigen der Menschheit bis zu den Sasaniden erzählt. Siehe einführend: Bozorg Alavi, Aboʾl-Qa¯sem Mansur Ebn-e Hasan Ferdousi, in: Kindlers Neues Literatur-Lexikon 5 (1998), 479–482. Zu den˙ Namen im˙ Sˇa¯hna¯ma siehe: Mansu¯r Rastga¯r Fasa¯ʾı¯, Farhang-i na¯mha¯-yi Sˇa¯hna¯ma, 2 Bde., Teheran 1370 h. ˙ sˇ. [1992]. 63 Siehe hierzu: Mansour Shaki, Gayo¯mart, in: Encyclopaedia Iranica 10, Fasc. 3 (2001), 345– 347. Alternativ ließe sich Gayo¯mart auch als »Der Mensch aus Erde« übersetzen. Spätere, mittelpersische Quellen sprechen von ihm diesbezüglich zudem als Gilsˇa¯h, »Der Lehmkönig« (Carlo Cereti, Gayo¯mard, in: Encyclopaedia Iranica, online edition, 2015, www.iranicaon line.org/articles/gayomard [18. 09. 2018]). Diese Fremdzuschreibung ist dann auch in den frühen islamischen Historiographien zu finden, etwa in Abu¯ ʿAlı¯ Muhammad Balʿamı¯s ˙ Ta¯rı¯h-i balʿamı¯: Muhammad b. Muhammad Balʿamı¯, Ta¯rı¯h-i balʿamı¯. takmila va targˇuma-yi ˙ ammad T. Baha ˙ ¯ r/Muhammad P. Guna ˘ ¯ ba¯dı¯, Bd. 1, Teheran 1353 h. sˇ. ta¯rı¯h˘-i tabarı¯, ed. Muh ˙ ˙ Andrew C. S. Peacock, Mediaeval Islamic ˘ ˙ 113. Siehe einführend [1974], zu diesem Werk: Historiography and Political Legitimacy: Balʿamı¯’s Ta¯rı¯khna¯ma (Routledge Studies in the History of Iran and Turkey 4), London et al. 2007, 49–75.
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Selbstbezeichnungen. Für die Sultane bedeutet die Nachbenennung nach imaginierten Vorfahren, dass ihre wenig prestigeträchtigen persönlichen Vorfahren bezüglich der Frage ihrer Legitimität in den Hintergrund treten können.
Das Verhältnis zu Welt und Glaube. Die Beinamen der Sultane Neben der vorgeblichen kulturellen Herkunft finden sich in den Namen der Sultane weitere Argumente für die Legitimität ihres Anspruchs, wobei das Verhältnis zum islamischen Glauben das bedeutendste ist. Dieses Verhältnis wird vor allem durch den laqab, den dem persönlichen Namen vorangestellten Beinamen, artikuliert. Der erste Sultan Delhis ist Qutb ad-Dı¯n Aibak, »Der Pol des Glaubens« ˙ Aibak. Sein Nachfolger wird im Jahr 1210 Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ, »Die Sonne des Glaubens« Iltutmisˇ. Und im Jahr 1236 regiert für kurze Zeit Rukn ad-Dı¯n Firu¯z Sˇa¯h, »Die Säule des Glaubens« Firu¯z Sˇa¯h.64 Soweit die Quellen dies zu sagen zulassen, führen die Sultane diese Beinamen ab ihrem Herrschaftsantritt. Sie bilden ein zentrales Element, um den Anspruch ihres Trägers, ein Mann des Glaubens zu sein, in seinem Namen auszudrücken. In den historiographischen Texten lässt sich die Bedeutung dieser Beinamen bereits daran erkennen, dass sie in der Regel die persönlichen Namen der Sultane ˇ u¯zgˇa¯nı¯ etwa tituliert den letzten Sultan der ersten Dynastie lediglich ersetzen. G eingangs mit dessen vollen Namen und Ehrentiteln als as-Sulta¯n al-muʿazzam ˙˙ ˙ Na¯sir ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n Abu¯ l-Muzaffar Mahmu¯d b. as-sulta¯n,65 »Der erhabene ˙ ˙ ˙ ˙ Sultan, der Helfer der Welt und des Glaubens, der Vater des Siegreichen, Mah˙ mud, der Sohn des Sultans [Iltutmisˇ]«. Im Folgenden spricht er ihn alleine mit seinem Beinamen Na¯sir ad-Dı¯n an, seinen persönlichen Namen Mahmu¯d er˙ ˙ wähnt er so gut wie nicht mehr. Auch auf den Münzen zeigt sich die Bedeutung des laqab. Während ein Großteil der von den Historiographen zugeschriebenen Agnomen und Ehrentitel fehlen, ist der laqab, neben dem persönlichen Namen, auf den weitaus meisten Münzen zu finden.66 ˇ u¯zgˇa¯nı¯s einDabei handelt es sich bei dieser Form des Beinamens, wie G führende Titulatur Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯hs zeigt, um eine Kurzform. Die ˙ ˙ Langform lautet Na¯sir ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n, »Der Helfer der Welt und des ˙ Glaubens«, sie verweist somit nicht nur auf den Glauben, sondern auch auf die diesseitige Welt. Diesbezüglich zeigen sich wiederum systematische Unterschiede zwischen Fremdzuschreibung und Selbstbezeichnung. Während die Langform in 64 In der arabisch-islamischen Namengebung gibt es viele unterschiedliche Formen des laqabs, diese Form ist jedoch die einzige, die für die Herrschernamen Delhis relevant ist. Für die anderen Formen siehe: Schimmel 1989, 50–67. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 471. 65 G 66 Goron/Goenka 2001, 1–134.
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den historiographischen Texten lediglich eingangs der Berichte über die jeweiligen Sultane Erwähnung findet und im weiteren die Kurzform dominiert, ist auf den Münzen immer die Langform angegeben.67 Die Bandbreite dieser Beinamen, die Anzahl an arabischen Nomen, die mit ›ad-Dı¯n‹, »des Glaubens«, kombiniert werden kann, ist in der arabisch-islamischen Namensgebung beinahe beliebig groß.68 Dies nicht zuletzt, da solche Beinamen von Menschen unterschiedlicher sozialer Gruppen geführt werden, für die jeweils spezifische Eigenschaften Relevanz besitzen. In Bezug alleine auf Herrscher ist die Bandbreite geringer, da hier nur bestimmte Eigenschaften hervorgehoben werden sollen und dies andere sind als etwa bei Dichtern oder Religionsgelehrten. In aller Regel werden solche Nomen ausgewählt, die Macht, Stärke und Strahlkraft, aber auch innere Ruhe und Standfestigkeit ausdrücken. Bei den Herrschern Delhis ist die Auswahl auf ein bestimmtes Repertoire begrenzt, dementsprechend finden sich auch mehrere »Pole des Glaubens« und »Säulen des Glaubens« unter den Sultanen.69 Anders als bei anderen Beinamen ist die legitimatorische Funktion hier daher auch eher eine abstrakte. Obgleich sie die Macht, Strahlkraft und innere Ruhe des Namensträgers herausstellen, tragen die Beinamen der Sultane weniger durch ihre konkrete Bedeutung als Qutb ad-Dı¯n, »Pol des Glaubens«, oder Rukn ˙ ad-Dı¯n, »Säule des Glaubens«, dazu bei, die Legitimität des Herrschaftsanspruchs des jeweiligen Sultans zu argumentieren, als durch ihr schlichtes Vorhandensein, das den Herrscher als islamischen Herrscher ausweist. Bedingt durch die Tatsache, dass Muslime lange nur eine sehr kleine Minderheit im Sultanat stellen, kommt dieser Betonung einer islamischen Herrschaft insbesondere im 13. Jahrhundert besondere Bedeutung zu.70 67 Siehe etwa die Münzen unter Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h: Goron/Goenka 2001, 29–31. ˙ ˙ 68 Dementsprechend beansprucht keine der vorliegenden Listen Vollständigkeit, siehe etwa: Albert Dietrich, Zu den mit ad-dı¯n zusammengesetzten islamischen Personennamen, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 110 (1961), 45–54; Schimmel 1993, 141–144. 69 So etwa mit Qutb ad-Dı¯n Aibak, erster unabhängiger Herrscher Delhis aus dem frühen 13. ˙ Muba¯rak Sˇa¯h aus dem frühen 14. Jahrhundert zwei »Pole des Glaubens« und und Qutb ad-Dı¯n ˙ ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯h aus der ersten Hälfte des 13. und Rukn ad-Dı¯n Ibra¯hı¯m Sˇa¯h aus mit Rukn dem späteren 13. Jahrhundert zwei »Säulen des Glaubens«, siehe Jackson 1999, 333f. 70 Offenbleiben muss daher die Frage, warum Muhammad b. Tug˙luq als einziger Herrscher Delhis keinen Beinamen trägt, weder auf Münzen˙ noch in den Historiographien. Denn die Feststellung seines Zeitgenossen Baranı¯, der dem Sultan ein generell eher distanziertes Verhältnis zur Religion nachsagt (Baranı¯ 1862, 463–465), lässt sich auf zweierlei Weise einordnen. Man kann ihr mit dem Hinweis begegnen, dass Muhammad b. Tug˙luq vor seinem ˙ Herrschaftsantritt, wiederum nach Baranı¯, doch genau einen solchen Beinamen getragen hat: Fahr ad-Dı¯n, »Der Ruhm des Glaubens« (Baranı¯ 1862, 413). Man kann diesen Beinamen ˘ jedoch auch als Bestätigung der These Baranı¯s sehen: Sobald Muhammad b. Tug˙luq selbst ˙ herrscht, legt er ihn ab.
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Zudem zeigt ihre Verwendung, dass die arabisch-islamische und die persischiranische Tradition einander auch im Sultanat nicht ausschließen. Im Gegenteil vereinen viele Thronnamen – und hier insbesondere der Sultane des 13. Jahrhunderts – einen persischen persönlichen Namen mit einem arabisch-islamischen Beinamen, etwa im Falle der bereits erwähnten Muʿizz ad-Dı¯n Bahra¯m Sˇa¯h, »Der Preiser des Glaubens Bahra¯m Sˇa¯h«, und Sˇams ad-Dı¯n Kayu¯mars, »Die ¯ Sonne des Glaubens Kayu¯mars«. Diese Namen stehen stellvertretend für die ¯ Verbindung altiranischer und islamischer Argumente, mittels derer die Legitimität von Herrschaftsansprüchen in der persophonen Welt über Jahrhunderte herausgestellt wird.71
Ehrentitel als möglicher Ausdruck politischer Programmatik Zudem weisen die Thronnamen Delhis Bestandteile auf, die als direkte Antworten auf konkrete historische Situationen verstanden werden können. Bei diesen handelt es sich nur in Teilen um unmittelbare Bestandteile der Personennamen, sondern meist um Ehrentitel, die diese ergänzen. Insbesondere bei diesen Bestandteilen sind Unterschiede zwischen Fremdzuschreibung und Selbstbezeichnung eher die Regel als die Ausnahme. Während Beinamen immer und stets gleich angegeben werden, unterscheiden sich Ehrentitel in Bezug auf bestimmte Träger je nach Quelle mitunter beträchtlich. Dies betrifft insbesondere das Agnomen (kunya) Abu¯ l-Muzaffar, »Der Vater des ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Siegreichen«. Von den Herrschern der ersten Dynastie etwa schreibt G Tabaqa¯t-i na¯sirı¯ es alleine dem Dynastiegründer Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ zu,72 ˙ ˙ wohingegen es zu den Selbstbeschreibungen beinahe aller Mitglieder dieser Dynastie gehört. Lediglich die Münzen von Iltutmisˇ’ Tochter Raz˙¯ıya führen es nicht an.73 Gleiches gilt für den Gründer der zweiten Dynastie: Während sich Sultan G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban auf Münzen stets mit diesem Agnomen bezeichnet,74 ¯ schreibt Baranı¯s Ta¯rı¯h-i fı¯ru¯z ˇsa¯hı¯ es ihm nicht zu.75 ˘ Der Grund für diese weitestgehend systematischen Unterschiede ist bislang nicht untersucht. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Münzen auf eine höhere 71 Siehe etwa: Sholeh Quinn/Charles Melville, Safavid Historiography, in: Ders. (ed.), Persian Historiography (A History of Persian Literature 10), London/New York 2015, 209–257, hier 209; Blain Auer, Symbols of Authority in Medieval Islam: History, Religion, and Muslim Legitimacy in the Delhi Sultanate (Library of South Asian History and Culture 6), London/ New York 2012, 14. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 440. 72 G 73 Goron/Goenka 2001, 25–31; Jackson 1999, 278. Anjum folgt hier den Zuschreibungen ˇ u¯zgˇa¯nı¯s: Anjum 2006, 58. G 74 Goron/Goenka 2001, 32. 75 Baranı¯ 1862, 24.
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Autorität referieren können. Dies ist bei vielen Münzen aus dem Sultanat der Fall, die auf dem Revers oft auf den abbasidischen Kalifen in Bagdad referieren. Dies könnte es dem Sultan im Gegenzug nötig gemacht haben, das Eigene auf dem Avers ebenfalls deutlich zu betonen – etwa durch das Agnomen Abu¯ l-Muzaffar.76 In Chroniken hingegen entfällt dieser Druck ungeachtet ihres politisch˙ normativen Charakters, da hier die Figur des Sultans die des Kalifen ohnehin überstrahlt. Solche Unterschiede sind etwa aus dem Heiligen Römischen Reich ˇ u¯zgˇa¯nı¯ andererseits den bekannt und werden entsprechend erklärt.77 Dass G Dynastiegründer gegenüber dessen aus der Rückschau wenig erfolgreichen Kindern hervorheben möchte, ist offenkundig.78 Dessen ungeachtet artikulieren Ehrentitel ein Repertoire an Argumenten, mittels derer das legitimatorische Potential eines Herrschernamens erhöht werden kann. Wie andere Sultane auch, führt Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ den Titel Na¯sir Amı¯r al-muʾminı¯n, »Der Helfer des Befehlshabers der Gläubigen«, der ˙ sowohl in historiographischen Texten als auch auf Münzinschriften belegt ist.79 Mit dem Befehlshaber der Gläubigen ist der abbasidische Kalif in Bagdad gemeint. Durch diesen Titel, den Niza¯mı¯ bereits Iltumisˇ’ Vorgänger Qutb ad-Dı¯n ˙ ˙ Aibak zuschreibt,80 bringen die ersten Sultane Delhis zum Ausdruck, als was sie ihre Herrschaft verstanden wissen möchten. Sie präsentieren ihren fragilen und erst kürzlich errichteten Herrschaftsverband umgehend als Statthalter des Kalifats am äußersten Rand der islamischen Welt. Indem sie sich als Vollstrecker des kalifalen Willens inszenieren, profitieren sie im Gegenzug vom legitimatorischen Potential des Kalifats. Auf den Münzen späterer Sultane findet sich dieser Ehrentitel ebenfalls, etwa auf denen Muʿizz ad-Dı¯n Bahra¯m Sˇa¯hs oder Qutb ad-Dı¯n ˙ Muba¯rak Sˇa¯hs, dem fünften Herrscher der dritten Dynastie.81 Weitere Ehrentitel 76 Siehe etwa für Rukn ad-Dı¯n Firu¯z Sˇa¯h: Goron/Goenka 2001, 25. Im Falle Raz˙¯ıyas hingegen liegt ihr Gender als Erklärungsansatz für das Fehlen des entsprechenden Agnomens auch auf den Münzen nahe. 77 So etwa in den beiden Gründungsurkunden Karls IV. für die Karls-Universität Prag, siehe hierzu: Andrea Stieldorf, Arengen und Narrationes in den Gründungsurkunden für mitteleuropäische Universitäten des 14. Jahrhunderts, in: Attila Bárány/Gábor Dreska (edd.), Arcana tabularii. Tanulmányok Solymosi László tiszteletére, Bd. 1, Budapest/Debrecen 2014, 175–186. 78 Das Muster, durch uneingeschränktes Lob für den Dynastiegründer dessen Nachfahren in einem schlechteren Licht erscheinen zu lassen, zeigt sich auch in historiographischen Texten aus anderen Regionen der vormodernen Welt, etwa in der Darstellung Chlodwigs I. und seinen Nachfahren aus dem Geschlecht der Merowinger in der Fredegar-Chronik aus dem frühen 8. Jahrhundert. Siehe hierzu etwa: Alheydis Plassmann, Herkunft und Abstammung im Frühmittelalter, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 37,3 (2007), 9–39. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 440. 79 Etwa: Goron/Goenka 2001, 20f.; G 80 Niza¯mı¯ 1391, 133. Münzen im Namen Qutb ad-Dı¯n Aibaks sind nicht erhalten: Goron/ ˙ ˙ Goenka 2001, 8. 81 Goron/Goenka 2001, 27, 41. Letzterer bezeichnet sich selbst zudem als Abu¯ l-Muzaffar, ˙ während Baranı¯ ihm keinen dieser Ehrentitel zuschreibt: Baranı¯ 1862, 381.
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transportieren in anderer Form dieselbe Botschaft, sie findet sich sowohl in historiographischen Texten als auch auf Münzen: So führen ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h, »Die Erhabenheit des Glaubens Muhammad Sˇa¯h«, der be˙ ˙ deutendste Herrscher der dritten Dynastie, und Qutb ad-Dı¯n Muba¯rak Sˇa¯h auf ˙ einigen Münzen den Ehrentitel Yamı¯n al-hila¯fa, »Die rechte Hand des Kalifats«.82 ˘ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ hingegen schreibt diesen Ehrentitel, G in leicht abweichender Form als Yamı¯n al-hila¯fat Alla¯h, »Die rechte Hand des Kalifats Gottes«, dem ersten sowie ˘ dem letzten Sultan der ersten Dynastie zu, Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ und Na¯sir ˙ ad-Dı¯n Mahmu¯d.83 ˙ Während also erneut Unterschiede zwischen Selbstbezeichnung und Fremdzuschreibung zu konstatieren sind, lässt die in den Chroniken überlieferte Reaktion aus Bagdad erkennen, dass der Titel unter den Zeitgenossen seine Wirˇ u¯zgˇa¯nı¯ zufolge ist die demonstrative Unterordnung in kung nicht verfehlt hat. G Bagdad durchaus wohlwollend aufgenommen worden, zumal eine solche im frühen 13. Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich ist. Dementsprechend wird Iltutmisˇ seine Legitimität als Na¯sir Amı¯r al-muʾminı¯n, »Helfer des Befehlshabers ˙ der Gläubigen«, aus Bagdad durch Ehrenroben bestätigt.84 ˇ u¯zgˇa¯nı¯ der Ehrentitel zill-i Alla¯h fı¯ G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban hingegen wird von G ¯ ˙ 85 l-ʿa¯lamain zugeschrieben, »Der Schatten Gottes auf den [beiden] Welten«. Das Konzept des Herrschers als Schatten Gottes auf Erden wird heute meist auf vorislamisch-sasanidische Herrschaftskonzepte zurückgeführt,86 es findet in der persophonen Welt ab dem 12. Jahrhundert zunehmend als Herrschertitel Ver82 83 84
Goron/Goenka 2001, 37, 41. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 440, 475. Siehe hierzu: Auer 2012, 118. G ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 447. Siehe hierzu Jackson 1999, 38. Ein ähnlich gelagerter Fall findet sich, G wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, im westeuropäischen Raum des frühen 6. Jahrhunderts. Dort wird der Merowingerkönig Chlodwig I. vom römischen Kaiser Anastasios I. lediglich als kaiserlicher Amtsträger betrachtet und erhält daher im Jahr 508 eine entsprechende Ausstattung aus Byzanz zugesandt. Siehe hierzu: Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt, München 2011, 235–239. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1964, 2. Auf den erhaltenen Münzen dieses Herrschers findet sich dieser Titel hin85 G gegen nicht: Goron/Goenka 2001, 31–33. Siehe hierzu: Auer 2012, 118. Eine ebenfalls weitverbreitete Form dieses Titels, der sich in den Texten der Sultanatszeit jedoch nicht findet, ist zill-i Alla¯h fı¯ l-ʿarz˙, »Der Schatten Gottes auf Erden«. ˙ etwa: Said A. Arjomand, The Shadow of God and the Hidden Imam: Religion, Political 86 Siehe Order, and Societal Change in Shiite Iran From the Beginning to 1890 (Publications of the Center for Middle Eastern Studies 17), Chicago et al. 1984, 89–102. Die sasanidischen Herrscher selbst haben diesen Titel jedoch nicht geführt, die Identifizierung eines mutmaßlich sasanidischen Ursprungs, die in den entsprechenden Studien kaum je ausführlich dargelegt wird, geht vermutlich auf den Titel ke¯ cˇihr az yazda¯n zurück, der sich regelmäßig auf sasanidischen Münzen findet. Dieser lässt sich als »Der vom Stamm der Götter ist« oder »Der das Abbild der Götter ist« übersetzen (Henning Börm, Kontinuität im Wandel. Begründungsmuster und Handlungsspielräume der iranischen Monarchie in arsakidischer und sasanidischer Zeit, in: Stefan Rebenich [ed.], Monarchische Herrschaft im Altertum [Schriften des Historischen Kollegs 94], Oldenburg 2017, 545–564, hier 554).
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wendung. Für den so titulierten Herrscher hat das Konzept des »Schatten Gottes auf Erden« den Vorteil, dass sich dadurch das ›islamische‹ Konzept der Delegation von Legitimität umgehen lässt. Nach diesem geht, so die heute weithin anerkannte Sicht vor allem Patricia Crones, alle Legitimität von Gott aus und wird von diesem über den Propheten Muhammad und den Kalifen an den je˙ weiligen Herrschaftsträger delegiert.87 Nach sasanidischer Vorstellung hingegen wird Legitimität von Gott unmittelbar auf den jeweiligen Herrschaftsträger delegiert.88 Auf diese Weise müssen Herrscher weit im Osten der islamischen Welt nicht mehr den Rückgriff auf den Kalifen in Bagdad nehmen, der in der politischen Realität ihrer Reiche oft nur noch eine nachgeordnete Rolle spielt, um die Legitimität ihres Herrschaftsanspruchs zu argumentieren.89 Im Falle der Legitimation von G˙iya¯s ad-Dı¯n Balbans Anspruch könnte noch ein sehr greifbarer ¯ Vorteil hinzugekommen sein: Wenn die Legitimität seines Herrschaftsanspruchs unmittelbar in Gott begründet liegt, treten die Figuren seiner Vorgänger unweigerlich hinter diesen zurück. Bei diesen Vorgängern handelt es sich um die Familie des Na¯sir Amı¯r al-muʾminı¯n, »Helfers des Befehlshabers der Gläubigen«, ˙ Iltutmisˇ, die G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban im Jahr 1266 auf die Seite gedrängt hat, um ¯ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ in selbst Sultan werden zu können.90 Dies könnte der Grund sein, warum G seiner Lobrede auf seinen Patron mit diesem Ehrentitel argumentiert. Der neue Sultan selbst hat nicht zu diesem Mittel gegriffen, in seinen Münzinschriften findet sich zill-i Alla¯h fı¯ l-ʿa¯lamain nicht.91 Aus welchen Gründen bestimmte ˙ Herrscher Delhis, oder ein über deren Taten berichtender Historiograph, in bestimmten Situation oder Medien eher die Funktion des Sultans als Helfer des Kalifen betonen, in anderen hingegen seine Rolle als Schatten Gottes auf Erden, ist bislang nicht systematisch untersucht. ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h greift ebenfalls auf die iranische Tradition ˙ zurück, um einen programmatischen Aspekt seiner Herrschaft zu propagieren: den Erfolg. Indem er, neben Na¯sir Amı¯r al-muʾminı¯n, »Helfer des Befehlshabers ˙ der Gläubigen«, den Titel Sikandar as-sa¯nı¯ in seiner arabischen Form auf ¯¯ 87 Patricia Crone, Medieval Islamic Political Thought (The New Edinburgh Islamic Surveys), Edinburgh 2004. Zur islamischen Staatstheorie siehe zudem: Anthony Black, The History of Islamic Political Thought: From the Prophet to the Present, Edinburgh 2011. Zu einer Kritik dieser These siehe: Almut Höfert, Europa und der Nahe Osten. Der transkulturelle Vergleich in der Vormoderne und die Meistererzählungen über den Islam, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), 561–597; Jürgen Paul, Lokale und imperiale Herrschaft im Iran des 12. Jahrhunderts. Herrschaftspraxis und Konzepte (Iran–Turan 13), Wiesbaden 2016, 24–28. 88 Siehe einführend: Wiesehöfer 2005, 220–228. 89 Vollkommen machtlos, wie die frühe Forschung oft argumentiert hat, sind diese Kalifen jedoch nicht gewesen, siehe: Eric J. Hanne, Putting the Caliph in His Place: Power, Authority, and the late Abbasid Caliphate, Madison et al. 2007. 90 Jackson 1999, 52f. 91 Goron/Goenka 2001, 31–33.
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Münzen prägen lässt, »Der zweite Alexander«, stellt er eine direkte Verbindung zu einer der berühmten Herrscherfiguren der iranischen Tradition her, die in der islamischen Epoche der persophonen Welt als ein idealer Herrscher gilt und zudem als Sinnbild für herrscherlichen Erfolg.92 Auf diese Weise stellt Muhammad Sˇa¯h die Bedeutung seiner Herrschaft bereits in seinem Herr˙ schernamen heraus. Namensbestandteile, die Herrscher als »zweite Alexander, neue Alexander« oder »alexandergleiche Herrscher« bezeichnen, sind in der islamischen Epoche der persophonen Welt nicht selten.93 Als Nachfolger zweier Herrscher, die bereits von Zeitgenossen als eher schwach eingestuft werden,94 lässt sich das Führen dieses Titels durch ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h zudem als ˙ Ausdruck dafür deuten, das seine Herrschaft anders zu bewerten sei. Dabei scheint er diesen Titel bereits von Beginn seiner Herrschaft an geführt zu haben. Die Historiographien ʿIsa¯mı¯s und Baranı¯s, die ihm diesen Ehrentitel in seiner ˙ persischen Form als Iskandar-i sa¯nı¯, »Der zweite Alexander«, ebenfalls zu¯ schreiben,95 sind für diese Frage von begrenztem Nutzen, umso mehr, als sie nur in mitunter deutlich späteren Abschriften erhalten sind. Die früheste Münze jedoch, auf deren Rückseite der Titel Iskandar as-sa¯nı¯ geprägt ist, in einer ¯ persisch-arabischen Mischform, datiert unmittelbar auf den Beginn von ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯hs Herrschaft.96 Über diesen Sultan hinaus findet sich ˙ auch dieses Argument für die Legitimität eines Herrschaftsanspruchs in unterschiedlichen Formen, Qutb ad-Dı¯n Muba¯rak Sˇa¯h etwa führt auf Münzen den ˙ Ehrentitel Sikandar az-zama¯n, »Der Alexander des [dieses] Zeitalters«.97 Ein weiterer programmatischer Aspekt guter Herrschaft ist insbesondere in den Randbereichen der islamischen Welt das Führen von Krieg gegen Nichtmuslime, in den historiographischen Texten der Sultanatszeit als gˇiha¯d und, häufiger, als g˙aza¯ bezeichnet. Während insbesondere letzterer Begriff in den Quellen durchaus unterschiedlich konnotiert und bislang in seiner gesamten 92 Siehe etwa Haila Manteghi, Alexander the Great in the Persian Tradition: History, Myth and Legend in Medieval Iran (Library of Medieval Studies 8), London/New York 2018; Yuriko Yamanaka, From Evil Destroyer to Islamic Hero: The Transformation of Alexander the Great’s Image in Iran, in: Annals of the Japan Association for Middle Eastern Studies 8 (1993), 55–87. 93 Im Falle des Sultanats etwa bezeichnet sich auch Sˇiha¯b ad-Dı¯n ʿUmar Sˇa¯h als zweiten Alexander (Goron/Goenka 2001, 40), ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Sikandar Sˇa¯h aus dem späten 14. Jahrhundert ist sogar mit seinem persönlichen Namen nach Alexander benannt (Goron/Goenka 2001, 76f.). Der eingangs erwähnte Dynastiegründer der Safaviden, Isma¯ʿı¯l I, wird in historiographischen Texten ebenfalls als iskandar-sˇaʾn, »Der Alexandergleiche«, tituliert, siehe etwa: Hasan Ru¯mlu¯, Ahsan at-Tava¯rı¯h, ed. ʿAbd al-Husain Nava¯ʾı¯, 3 Bde., Teheran 1384 h. ˇs. [2005], ˙ ˙ ˙ ˘ 972. 94 Siehe vor allem Baranı¯ 1862, 174–240. 95 ʿIsa¯mı¯ 1948, 300; Baranı¯ 1862, 240. ˙ 96 Goron/Goenka 2001, 38. 97 Goron/Goenka 2001, 41.
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semantischen Breite nicht erfasst ist,98 bildet der Aspekt des ›Kampfes gegen die Ungläubigen‹ in jedem Fall ein zentrales Element. Als legitimatorisches Argument findet dieser Aspekt auch in Herrschernamen Ausdruck, so auch im Sultanat. Bevor er im Jahr 1320 unter seinem Thronnamen G˙iya¯s ad-Dı¯n Tug˙luq Sˇa¯h die ¯ Herrschaft antritt, führt der Gründer der vierten Dynastie Delhis nach Baranı¯s 99 Ta¯rı¯h-i fı¯ru¯z ˇsa¯hı¯ den Namen G˙a¯zı¯ Malik. Der arabische Titel malik weist ihn als ˘ hochrangiges Mitglied der militärischen Eliten seiner Vorgänger aus, die Bezeichnung als g˙a¯zı¯ hingegen als denjenigen, der den Krieg gegen die Ungläubigen, den g˙aza¯, führt. Die Fremdzuschreibung entspricht der Selbstbezeichnung des Herrschers, eine Münze aus dem Jahr 1323/24 gibt die Titulatur des Sultans mit as-sulta¯n al-g˙a¯zı¯ G˙iya¯s ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n Abu¯ l-Muzaffar an, »Der den ¯ ˙ ˙ Krieg gegen die Ungläubigen führende Sultan, der Beistand der Welt und des Glaubens, der Vater des Siegreichen«.100 Auf anderen Münzen findet sich der Hinweis auf den Krieg gegen die Ungläubigen ebenfalls. Nach G˙iya¯s ad-Dı¯n Tug˙luq Sˇa¯hs Tod führt sein Sohn und Nachfolger Mu¯ hammad b. Tug˙luq nach der Zuschreibung ʿIsa¯mı¯s das Teknonym Abu¯ l-Mu˙ ˙ gˇa¯hid, »Der Vater des Kriegers gegen die Ungläubigen«, als Agnomen.101 Auf Dokumenten findet sich dieses Agnomen ebenfalls.102 Baranı¯ nennt dieses Teknonym nicht, schreibt G˙iya¯s ad-Dı¯n Tug˙luq Sˇa¯h jedoch einen Ehrentitel zu, ¯ der letztlich die gleiche Botschaft transportiert: as-sulta¯n al-mugˇa¯hid Abu¯ l-Fath, ˙ ˙ »Der den Krieg gegen die Ungläubigen führende Sultan, der Vater des Sieges«.103 In leicht abweichender Form findet sich dieser Ehrentitel auch auf in Muhammad b. Tug˙luqs Namen geprägten Münzen. Dort wird der Sultan als al-Mu˙ gˇa¯hid fı¯ sabı¯l Alla¯h Muhammad b. Tug˙luq Sˇa¯h tituliert, »Der Krieger gegen die ˙ Ungläubigen auf dem Pfad Gottes, Muhammad, Sohn des Tug˙luq, Sˇa¯h«.104 ˙ 98 Zum Thema aus anderen Regionen der persophonen Welt siehe etwa: Colin Imber, What does ghazi actually mean?, in: Cig˘dem Balım-Harding/Colin Imber (edd.), The Balance of Truth: Essays in Honour of Professor Geoffrey Lewis, Istanbul 2000, 165–178; Ali Anooshahr, The Ghazi Sultans and the Frontiers of Islam: A Comparative Study of the late Medieval and Early Modern Periods (Routledge Studies in Middle Eastern History 9), London et al. 2009; Tilmann Trausch, Ghaza¯ and Ghaza¯ Terminology in Chronicles from the Sixteenth-Century Safavid Courtly Sphere, in: Journal of Persianate Studies 10,2 (2017), 240–268. 99 Baranı¯ 1862, 240. 100 Goron/Goenka 2001, 47. Der Titel as-sulta¯n al-g˙a¯zı¯, »Der den Krieg gegen die Ungläubigen ˙ historiographischen Texten, etwa: Baranı¯ 1862, führende Sultan«, findet sich auch in den 423. 101 ʿIsa¯mı¯ 1948, 421. ˙ 102 Zakir Husain, Tughluq-Period Documents in the Sururu’s Sudur, in: Proceedings of the Indian History Congress 66 (2005/2006), 355–362, hier 355. 103 Baranı¯ 1862, 454. 104 Goron/Goenka 2001, 51.
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Warum gerade diese beiden Herrscher den Krieg gegen die Ungläubigen im Namen führen und nicht andere vor ihnen, ist nicht untersucht. Die Situation im Sultanat ist zu ihrer Zeit keine grundlegend andere als unter ihren Vorgängern. Der ständige und unmittelbare Kontakt mit nicht-muslimischen Mächtigen, als deren Besieger sich ein Sultan auszeichnen und die Legitimität seines Anspruchs entsprechend inszenieren kann, ist im Gegenteil eine Konstante dieses Reiches. So könnte der Grund wiederum ein programmatischer sein, der Sturz von G˙iya¯s ¯ ad-Dı¯n Tug˙luq Sˇa¯hs Vorgänger. Dieser Vorgänger, Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯h, hat sich durch seinen Namen ˙ ˘ ebenfalls sowohl in der islamischen als auch in der iranischen Tradition verortet. Sein arabischer Beiname Na¯sir ad-Dı¯n bedeutet »Der Helfer des Glaubens«, sein ˙ persischer persönlicher Name Husrau ist eine Nachbenennung, die letztlich auf ˘ den Sasaniden Husrau I. aus dem 6. Jahrhundert zurückweist, der in der iranisch˘ islamischen Tradition als das Ideal des gerechten Herrschers gilt.105 Auf seinen Münzen greift Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯h zudem auf das legitimatorische Po˙ ˘ tential des Kalifats zurück, indem er sich als Valı¯ Amı¯r al-muʾminı¯n, »Der Beauftragte des Befehlshabers der Gläubigen«,106 bezeichnet (nicht jedoch, wie die anderen Sultane Delhis, als Na¯sir, »Helfer«, oder Naʾib Amı¯r al-muʾminı¯n, ˙ »Vertreter des Befehlshabers der Gläubigen«).107 Der persönliche Name, den Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯h nach Baranı¯s Zuschreibung vor seiner Umbenennung ˙ ˘ im Rahmen seines Herrschaftsantritts getragen hat, ist in einem islamischen Kontext nicht weniger prestigeträchtig. Bei Hasan,108 »Der Gute«, handelt sich ˙ 105 So etwa im Siya¯satna¯ma des seldschukischen Wesirs Niza¯m al-Mulk, »Die Ordnung des ˙ Persia: 1040–1797 (A History Reiches«. Siehe diesbezüglich etwa: David Morgan, Medieval of the Near East), London et al. 1988, 30. Auch in diesem Fall darf die Nachbenennung des Sultans nach Husrau I. als wahrscheinlicher gelten als die nach einem der anderen sasani˘ dieses Namens. Jedoch scheinen die historische Figur Husraus I. und die dischen Träger literarische Figur des Husrau Anu¯sˇirva¯n, »Die unsterbliche Seele«, der ˘späteren iranischislamischen Tradition ˘nicht in allen Punkten deckungsgleich (etwa: Philipp Bruckmayr, Persian Kings, Arab Conquerors and Malay Islam: Comparative Perspectives on the Place of Muslim Epics in the Islamisation of the Chams, in: Andrew C. S. Peacock [ed.], Islamisation: Comparative Perspectives from History, Edinburgh 2017, 472–493, hier 485 Fn. 2). Welche Vorstellung(en) dieses spätantiken Herrschers in den in der iranischen Tradition sozialisierten Teilen der Eliten des Sultanats existieren und wie der Name Husrau dort ˘ Ghaznakonnotiert ist, ist nicht untersucht. Darüber hinaus tragen bereits Herrscher der viden (neben vielen anderen in der gesamten östlichen islamischen Welt), die Teile der Gebiete erobert haben, die später zum Herrschaftsbereich der Sultane von Delhi gehören, den persönlichen Namen Husrau (Bosworth 1967, 181). Insofern ließe sich auch im Falle ˘ lokal verankerten Traditionen herrscherlicher Namengebung Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯hs mit ˙ ˘ argumentieren. 106 Goron/Goenka 2001, 45. 107 Letztes kommt jedoch deutlich seltener vor, etwa auf einer Münze Fı¯ru¯z Sˇa¯h Tug˙luqs: Goron/Goenka 2001, 64. 108 Baranı¯ 1862, 381.
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wiederum um eine Nachbenennung, die letztlich auf Hasan b. ʿAlı¯ b. Abı¯ Ta¯lib ˙ ˙ zurückweist, den Enkel des Propheten Muhammad.109 ˙ Jedoch zeigt gerade das Beispiel Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯hs, dass das soziale ˙ ˘ Kapital alleine, das ein Herrscher durch den Rückgriff auf das Namengut der persophonen Welt anhäufen kann, im Falle politischer Widerstände nicht ausreicht, um seine Herrschaft zu sichern. Ungeachtet seines Namens ist Na¯sir ˙ ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯h der erste und einzige Sultan Delhis, der nicht turkstämmig ˘ und Nachfahre eines Zuwanderers aus Innerasien ist, sondern ein zum Islam konvertierter Hindu.110 Der Vorwurf, neben seiner angeblichen Rolle als Lustknabe für den früheren Sultan Qutb ad-Dı¯n Muba¯rak Sˇa¯h,111 der sich insbeson˙ dere durch die historiographischen Texte zieht, deren Autoren selbst ausnahmslos Zuwanderer aus den Kernlanden der östlichen Islamischen Welt oder deren Nachfahren sind, ist, dass Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯h nie wirklich von ˙ ˘ seinem alten Glauben gelassen und Hindus am Hof allzu sehr gefördert habe.112 Insofern liegt es nahe, die Betonung des Krieges gegen die Ungläubigen in den Namen seiner beiden Nachfolger als Hinweis auf eine nun wieder andere Politik gegenüber Nichtmuslimen zu werten. Darüber hinaus zeigt der Fall Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯hs, dass es, neben den ˙ ˘ verschiedenen Varianzen zwischen einzelnen Quellen, zeitgenössischen wie späteren, in Bezug auf einzelne Namensbestandteile zudem Unterschiede zwischen den Quellen und der wissenschaftlichen Literatur geben kann. Während etwa Jackson Na¯sir ad-Dı¯n Husrau den Herrschertitel Sˇa¯h zuschreibt – ohne ihn ˙ ˘ dann in seiner Auflistung der Herrscher Delhis als Herrscher aufzuführen –,113 verzichtet Baranı¯ in offenkundig diffamierender Absicht konsequent darauf, sondern bezeichnet den Vorgänger G˙iya¯s ad-Dı¯n Tug˙luq Sˇa¯hs stattdessen mit ¯ dem Titel Ha¯n,114 der im Sultanat eben gerade keinen Herrscher bezeichnet. Auf ˘ seinen Münzen tituliert sich Na¯sir ad-Dı¯n Husrau hingegen, wie zu erwarten ist, ˙ ˘ als Sˇa¯h.115 Da andere Chronisten dies zudem gegebenenfalls anders gehandhabt hätten und es in anderen Studien anders gehandhabt wird als bei Jackson,116 legt 109 Allerdings ist Hasan auch in den Jahrhunderten, die zwischen dem Enkel des Propheten und ˙ usrau Sˇa¯h liegen (und letztlich bis heute), ein vollkommen gängiger Name, Na¯sir ad-Dı¯n H ˙ nur bei Herrschern: ˘ nicht Schimmel 1993, 89f. 110 Baranı¯ 1862, 381. 111 Baranı¯ 1862, 391. Siehe hierzu auch: Khaliq A. Nizami, Royalty in Medieval India, Neu Delhi 1997, 86; Ruth Vanita/Saleem Kidwai, Same-Sex Love in India: Readings from Literature and History, Basingstoke et al. 2000, 113, 133. 112 Baranı¯ 1862, 409–419. 113 Etwa: Jackson 1999, 153. Zu seiner Auflistung der Herrscher siehe: Jackson 1999, 333f. 114 Baranı¯ 1862, 398–423. 115 Siehe etwa: Goron/Goenka 2001, 45. 116 Etwa: Aziz Ahmad, The Role of the Ulema in Indo-Muslim History, in: Studia Islamica 31 (1970), 1–13, hier 5.
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auch das Beispiel Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯hs nahe, sowohl in Bezug auf mut˙ ˘ maßliche ›Regeln‹ der Namensgebung als auch auf konkrete Formen einzelner Herrschernamen eine gewisse Vorsicht walten zu lassen.
Umbenennungen der Sultane von Delhi Ein Sultan kann, wie bereits an den Beispielen G˙iya¯s ad-Dı¯n Balbans und Na¯sir ¯ ˙ ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯hs gezeigt, im Laufe seines Lebens mehr als nur einen Namen ˘ tragen. Dabei kann er sich sowohl selbst umbenennen als auch umbenannt werden und dies in Bezug auf jeden möglichen Namensbestandteil, einschließlich des persönlichen Namens. Dabei können neue Namensbestandteile die alten ergänzen, sie aber auch ersetzen, wobei der genauen Unterscheidung beider Phänomene, wie das Beispiel ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯hs zeigt, durch die ˙ Quellenlage Grenzen gesetzt sind. Zudem lassen sich die Akte der Umbenennung, und vor allem deren exakter Zeitpunkt, nicht immer fassen. Rein quantitativ spielen Umbenennungen im Sultanat eine deutlich größere Rolle als in anderen Reichen der persophonen Welt. Dies gilt insbesondere, jedoch nicht ausschließlich, für die Sultane, die noch persönlich aus dem Militärsklaventum stammen, also Qutb ad-Dı¯n Aibak, Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ und ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯s etwa führt Sultan Iltutmisˇ G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban. Nach der Schilderung G ¯ bereits vor seinem Herrschaftsantritt den Beinamen Sˇams ad-Dı¯n, »Die Sonne des Glaubens«,117 wobei es sich aufgrund der Handschriftenüberlieferung nicht entscheiden lässt, ob es sich hierbei lediglich um eine retrospektive Zuschreibung handelt oder nicht. Diesen Beinamen ergänzt Iltutmisˇ im Zuge seines Herrschaftsantritts durch die Ehrentitel as-sulta¯n al-muʿazzam, »Der erhabene Sul˙˙ ˙ tan«, und Na¯sir amı¯r al-muʾminı¯n, »Der Helfer des Befehlshabers der Gläubigen« ˙ sowie das Agnomen Abu¯ l-Muzaffar, »Der Vater des Siegreichen«.118 Nach Ni˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯, führt Iltutmisˇ za¯mı¯, der sonst dieselben Namensbestandteile nennt wie G ˙ zudem bereits vor seinem Herrschaftsantritt, als er noch ein hohes Mitglied der Eliten Qutb ad-Dı¯n Aibaks ist, den Titel Iskandar-i sa¯nı¯, »Der zweite Alexan¯ ˙ der«.119 Abschließend ist auch hier nicht zu beurteilen, ob es sich um eine Selbstbezeichnung oder eine retrospektive Zuschreibung handelt, allerdings erscheint dieser Titel für jemanden, der nicht selbst herrscht, doch ungewöhnlich. Da er auf den später unter Iltutmisˇ’ Herrschaft geprägten Münzen ebenfalls nicht zu finden ist,120 liegt es nahe, eine retrospektive Zuschreibung anzunehmen. Eine 117 118 119 120
ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 418. Etwa: G ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 440. Etwa: G Niza¯mı¯ 1391, 800. ˙ Goron/Goenka 2001, 18–24.
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solche ließe sich mit den Problemen Niza¯mı¯s, den plötzlichen Tod seines Helden ˙ Qutb ad-Dı¯n Aibak und den Übergang der Herrschaft auf Iltutmisˇ schlüssig in ˙ seine Erzählung einzuordnen, auch gut erklären. Dessen ungeachtet ergänzen im Falle des zweiten Sultans von Delhi die neuen Namensbestandteile die alten. Im Falle G˙iya¯s ad-Dı¯n Balbans hingegen ersetzen die neuen Namensbe¯ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ wird der spätere Sultan in seiner Jugend von standteile die alten. Nach G v ˇ ˇ einem gewissen H a¯ga Gama¯l ad-Dı¯n Basrı¯ gekauft,121 der ihm den Beinamen ˙ ˘ Baha¯ʾ ad-Dı¯n gibt, welcher seinen zuvor getragenen Namen ersetzt. Später wird er ein weiteres Mal umbenannt, von Sultan Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h, der ihm ˙ ˙ den multilingualen Ehrentitel Ulug˙ Ha¯n-i muʿazzam verleiht,122 als der er fortan ˙˙ ˘ in der Tabaqa¯t-i na¯sirı¯ betitelt wird. Abschließend benennt sich der nun neue ˙ ˙ Sultan zu seinem Herrschaftsantritt selbst in G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban um.123 Dass die ¯ früheren Namen des Sultans zu späterer Zeit nicht in Vergessenheit geraten sind, ˇ u¯zgˇa¯nı¯ ebenfalls, da er an entsprechender Stelle den vollständigen belegt G Namen G˙iya¯s ad-Dı¯n Balbans nennt: »Der erhabene Herr, der gerechte und ¯ freigiebige Herrscher, der König der Menschen, Die Pracht des Rechts und des Glaubens, der Helfer des Islams und der Muslime, der Schatten Gottes auf beiden Welten, der Arm des Sultanats und die rechte Hand des Königreichs, der Pol der Erhabenheit, die erhabene Säule, der größte Ulug˙ Qutlug˙, Ulug˙ Ha¯n Balban ˘ as-sulta¯nı¯, Sohn von Sultanen, der Helfer des Befehlshabers der Gläubigen.«124 ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ zu Beginn seiner Lobrede auf den neuen Sultan die Auch hier ergänzt G alten Namensbestandteile mit den neuen, anstatt sie zu ersetzen. In späteren Historiographien hingegen werden die früheren Namen dieses Herrschers nicht mehr erwähnt, Baranı¯ tituliert ihn 100 Jahre später alleine als G˙iya¯s ad-Dı¯n ¯ Balban, der neue Name hat die alten vollständig ersetzt.125 ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1964, 48. Beim Namensbestandteil Basrı¯ handelt es sich um einen weiteren, in den 121 G ˙ Herrschernamen Delhis jedoch nicht vorkommenden integralen Bestandteil arabischer Personennamen, die nisba ()ﻧﺴﺒﺔ, die Beziehung. Sie zeigt an, dass dieser Mann aus Basra am Persischen Golf kommt, oder zumindest eine besondere Beziehung zu dieser Stadt hat: Schimmel 1993, 37–40. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1964, 60. 122 G 123 Baranı¯ 1862, 25. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1964, 2. ha¯qa¯n-i muʿazzam ˇsahriya¯r-iʿa¯dil-i ikra¯m husrau-i banı¯ A¯dam, Baha¯ʾ al-Haqq 124 G ˙˙ ˘ ¯ lamain ʿaz˙d as-salamtana˙ [sic! wa-d-Dı¯n mug˙¯ıs˘ al-isla¯m wa-l-muslimı ¯n, zill-i Alla¯h fı¯ l-ʿa ¯ ˙ am Ulug˙ richtig: saltana], ya[m]ı¯n al-mamlaka qutb˙al-maʿa¯lı¯ rukn al-aʿalı¯ ulug˙-i qutlug˙-i aʿz ˙ ˙ ˙ Ha¯n Balban as-sulta¯nı¯, b. as-sala¯t¯ın zahı¯r amı¯r al-muʾminı¯n [Kommata in der Edition]. Der ˙ as-sulta¯nı¯ weist ˙ ˙ihn als früheren Militärsklaven seines Vorgängers Na¯sir ˘ Namensbestandteil ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h aus,˙ und damit – ungeachtet seines sozialen Status als Unfreier˙ – gleichzeitig ˙als ranghohes Mitglied der Eliten dieses Vorgängers. 125 Baranı¯ 1862, 24–125. Lediglich einmal weicht Baranı¯ von diesem Schema ab und tituliert den Herrscher etwas ausführlicher als as-sulta¯n al-muʿazzam G˙iya¯s ad-Dunya¯ wa-d-Dı¯n Balban, ˙ ˙ seines¯ Beinamens: Baranı¯ 1862, 24. also einschließlich eines Ehrentitels und˙ der Langform Die früheren Namen nennt er auch hier nicht.
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Jedoch sind, insbesondere im Falle ehemaliger Militärsklaven, nicht alle Namen bekannt, die ein späterer Herrscher einmal getragen hat. Im Falle von Qutb ad-Dı¯n Aibak, Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ und G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban betrifft dies ¯ ˙ ˇ u¯zgˇa¯nı¯ über zuallererst ihren Geburtsnamen. Aufgrund dessen, was vor allem G 126 die Herkunft dieser Männer berichtet, ist ein türkischer Geburtsname anzunehmen, als nicht-islamischer Name findet dieser sich in den Historiographien ˇ u¯zgˇa¯nı¯ noch bei Fahr-i Mudabbir oder Niza¯mı¯. jedoch nicht wieder, weder bei G ˙ ˘ Es darf angenommen werden, dass die Autoren die entsprechenden Namen selbst nicht mehr gekannt haben. Auf der anderen Seite nennt aber auch Baranı¯ Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯hs nicht-islamischen Namen nicht, den zumindest des˙ ˘ sen erster in den Quellen erwähnter muslimischer Besitzer, ʿAin al-Mulk Multa¯nı¯, »Das Auge des Reiches, der aus Multan stammende«, der noch zu Baranı¯s Zeit Teil der Eliten des Sultanats ist, noch gekannt haben dürfte. Seine Herkunft aus einer hinduistischen Familie erwähnen die Quellen hingegen durchaus, womit offensichtlich ist, dass der ihm für die Zeit vor seinem Herrschaftsantritt zugeschriebene persönliche Name Hasan ebenfalls das Ergebnis einer Um˙ benennung ist. ˇ u¯zgˇa¯nı¯ nennt, der In G˙iya¯s ad-Dı¯n Balbans Fall ist der erste Name, den G ¯ Name, den der spätere Herrscher von seinem ersten muslimischen Besitzer erhalten hat, der als persönlicher Name verwendete Beiname Baha¯ʾ ad-Dı¯n.127 Im Falle Qutb ad-Dı¯n Aibaks und Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ’ nennen die Quellen nicht ˙ einmal diese Namen, sondern verwenden die jeweiligen Thronnamen retroˇ u¯zgˇa¯nı¯ etwa tituliert die späteren Sultane auch in den Passagen über die spektiv. G Jugendjahre, sowohl vor als auch nach ihrem Verkauf in die Militärsklaverei, als Qutb ad-Dı¯n und Sˇams ad-Dı¯n.128 Gleiches gilt für Fahr-i Mudabbir und Niza¯mı¯. ˙ ˙ ˘ Ersterer tituliert Qutb ad-Dı¯n Aibak bereits in den Passagen über die Zeit vor ˙ dessen Verkauf in die Militärsklaverei mit den Elitentitel Malik Qutb ad-Dı¯n,129 ˙ letzterer als Qutb ad-Dı¯n.130 Jedoch nennt Niza¯mı¯ ihn in der Regel ohnehin nicht ˙ ˙ bei seinem Namen, sondern tituliert ihn mit einem vom persönlichen Namen des Sasaniden Husrau I. abstrahierten persischen Begriff für einen Herrschaftsträger ˘ als Husrau, »großer König«.131 Ob die Historiographen die früheren Namen Qutb ˙ ˘ ad-Dı¯n Aibaks und Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ’ tatsächlich nicht mehr gekannt haben
ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 415f., 440; G ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1964, 47. G ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1964, 47. G ˇ u¯zgˇa¯nı¯ 1963, 415f., 440f. G Edward D. Ross (ed.), Taʿríkh-i Fakhru’d-Dín Mubáraksháh: being the historical introduction to the Book of Genealogies of Fakhru’d-Dín Mubáraksháh Marvar-rúdí completed in A. D. 1206 (James G. Forlong Fund 4), London 1927, 21. 130 Etwa: Niza¯mı¯ 1391, 133. 131 Etwa: Niz˙ a¯mı¯ 1391, etwa 412. ˙ 126 127 128 129
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oder sie sie aus anderen Gründen nicht nennen, ist anhand der vorliegenden Quellen nicht zu entscheiden. Dieser Frage ungeachtet ist die erste Situation der Umbenennung somit der Kauf eines Militärsklaven, über die Umstände der Umbenennung sagen die Quellen jedoch nichts. Die weiteren Namen, Beinamen, Agnomen und als Namen verwendete Ehrentitel erhalten die späteren Herrscher dann im weiteren Verlauf ihrer erfolgreichen Laufbahnen. Jedoch ist auch hier nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob die Quellen alle Namen nennen, die ein späterer Sultan einmal getragen hat, so sie überhaupt einen anderen als seinen späteren Thronnamen nennen. Wo die Quellen die Akte der Umbenennung thematisieren, stehen diese mit konkreten Erfolgen des Namensträgers in Verbindung, etwa erfolgreich geführte Militäroperationen. Aber auch die Vergabe neuer Zuständigkeiten kann mit neuen Beinamen oder Ehrentiteln verbunden sein.132 Und Baha¯ʾ ad-Dı¯n, der ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Schilderung seinen neuen Ehrentitel spätere Sultan, bekommt nach G Ulug˙ Ha¯n-i muʿazzam im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten zwischen seiner ˙˙ ˘ Tochter und dem aktuellen Sultan Na¯sir ad-Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h verliehen.133 Erst ˙ ˙ der letzte Akt der Umbenennung ist dann vergleichsweise genau zu fassen, auch wenn die Quellenberichte auch über diesen nicht allzu viel aussagen. Er findet im Zusammenhang mit dem Herrschaftsantritt statt. Nachdem Na¯sir ad-Dı¯n ˙ Mahmu¯d Sˇa¯h gestorben ist, erklärt sich Ulug˙ Ha¯n-i muʿazzam – ohnehin längst ˙ ˙ ˙ ˘ der starke Mann in Delhi – unter dem Thronnamen G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban zum ¯ neuen Sultan. Aber auch Herrscher, die nicht aus dem Militärsklaventum stammen, können im Laufe ihres Lebens mehrere Namen tragen. Dies zeigen zwei Mitglieder der dritten Dynastie, die im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert herrscht. Dynasˇ ala¯l ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯h, »Die Pracht des Glaubens«, wird Malik Fı¯ru¯z tiegründer G 134 genannt, bevor er seinen Vorgänger Sˇams ad-Dı¯n Kayu¯mars, den Enkel G˙iya¯s ¯ ¯ ad-Dı¯n Balbans, absetzt und sich selbst zum Sultan macht.135 Im Zuge seines Herrschaftsantritts legt er somit den Eliten-Titel malik ab und sich den Beinamen ˇ ala¯l ad-Dı¯n zu. Neue Namensbestandteile ersetzen alte. Dass der persönliche G Name Fı¯ru¯z, »siegreich, glücklich«, den er beibehält, zugleich auch sein Geburtsname ist, ist möglich, anhand der retrospektiven Quellen jedoch wiederum 132 Gu¯zgˇa¯nı¯ führt hierzu zwei Beispiele aus den Eliten des Sultanats an, Malik Ihtiya¯r ad-Dı¯n ˘ Su¯fı¯, »Der Qaraqasˇ, »Die Macht des Glaubens«, und Malik Badr ad-Dı¯n Nusrat Ha¯n Sunqar-i ˙ ˙ ˘ ˇ ˇ Vollmond des Glaubens«: Gu¯zga¯nı¯ 1964, 20, 43. ˇ u¯zgˇa¯nı¯s Darstellung ab, nach ihm lautet der neue 133 Sı¯rhindı¯ weicht auch hier im Detail von G Ehrentitel lediglich Ulug˙ Ha¯n und wird seinem neuen Träger verliehen, als dieser zum Wesir ˘ 37. ernannt wird: Sı¯rhindı¯ 1931, 134 Khaliq A. Nizami, The Early Turkish Sultans of Delhi, in: Mohammad Habib/ Khaliq A. Nizami (edd.), A Comprehensive History of India: Volume 5: The Delhi Sultanate (A. D. 1206–1526), Neu Delhi 1970, 308. 135 Jackson 1999, 82–85.
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nicht zu entscheiden. In jedem Fall handelt es sich erneut um eine Nachbenennung aus dem Namengut der iranischen Tradition: Fı¯ru¯z ist die arabisierte Form des persischen Pe¯ro¯z, der Name eines weiteren Sasaniden aus dem 5. Jahrhundert, auf den dieser Name letztlich verweist. Da der Name Fı¯ru¯z unter den Herrschern der östlichen islamischen Welt vor dem Sultanat zudem sehr viel seltener vorkommt als etwa Husrau, ließe sich zudem argumentieren, dass er im ˘ späten 13. Jahrhundert eher den Texten persischer Literatur entnommen sein dürfte als der gelebten Praxis Nordindiens. ˇ ala¯l ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯hs Neffe ʿAla¯ʾ Der dritte Herrscher dieser Dynastie, G ˇ ad-Dı¯n Muhammad Sa¯h, trägt, zumindest nach ʿIsa¯mı¯, vor seinem Herr˙ ˙ schaftsantritt den aus zwei persönlichen Namen zusammengesetzten Namen ʿAlı¯ 136 Garsˇa¯sp. Bei beiden Namensbestandteilen handelt es sich um Nachbenennungen, eine aus dem Namengut der islamischen Tradition, eine aus dem der iranischen. Seinen Thronnamen führt ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h laut ˙ allen Historiographen erst, nachdem er seinen Onkel gestürzt und ermordet hat. Mit weniger legitimatorischem Potential ausgestattet ist allerdings auch sein alter Name nicht:137 ʿAlı¯ weist letztlich auf ʿAlı¯ b. Abı¯ Ta¯lib zurück, einen der frühesten ˙ 136 ʿIsa¯mı¯ 1948, 228. 137 In˙ der Regel besitzen die neuen Namen jedoch durchaus mehr legitimatorisches Potential als die abgelegten. Muhammad b. Tug˙luq etwa trägt ʿIsa¯mı¯ zufolge zunächst einen Namen, der ˙¯ oder G ˙ (ʿIsa¯mı¯ 1948, 421). Dass es sich hierbei ˇ u¯na¯, G ˇ auna ˇ avana transkribieren lässt sich als G ˙ um seinen Geburtsnamen handelt, ist möglich, jedoch nicht zwingend. Dieser Name wird später durch den Titel malik sowie den Beinamen Fahr ad-Dı¯n, »Der Ruhm des Glaubens«, ergänzt, wobei die Akte der Umbenennung jeweils ˘nicht zu fassen sind. Im Zuge seines Herrschaftsantritts ersetzt er dann alle bisherigen Namensbestandteile durch seinen Thronnamen Muhammad b. Tug˙luq, wobei der Name Muhammad unzweifelhaft über ˙ ˇ u¯na¯/G ˇ auna¯/G ˇ˙ avana. Dies darf ungeachtet größeres legitimatorisches Potential verfügt als G dessen gelten, dass die Bedeutung dieses Namens unklar ist. Da eine arabische oder persische Herkunft unwahrscheinlich ist und die Mutter des späteren Sultans aus einer hinduistischen Familie kommt, wäre ein Ursprung im Sanskrit denkbar. Je nach Vokalisierung ˇ avana etwa könnte eine kämen mehrere Namensvarianten in Betracht: Die Vokalisierung G persische Form des Sanskritwortes yavana sein, welches in dieser Zeit einen Muslim bezeichnet. Allerdings ist es nur als Gruppenbezeichnung für Muslime belegt, während es als Eigenname nicht gebräuchlich ist. Lediglich als Epitheton wäre es denkbar, »Der Muslim«, wobei der persönliche Name weiterhin unbekannt wäre. Dies lässt die Möglichkeit offen, dass Muhammad sein tatsächlicher Geburtsname gewesen ist. Vokalisiert man den Namen ˙ ˇ u¯na¯, könnte er auf die mittelindische Form des sanskritischen des späteren Sultans als G yavana verweisen. Diese wiederum etymologisierten die zeitgenössischen indischen Gelehrten als sanskritisches jyotsna¯(kara), »Mond/Mondstrahl« (zu dieser Namensform siehe: Walter Slaje, Kingship in Kas´mı¯r [AD 1148–1459]: From the Pen of Jonara¯ja, Court Pandit ˙˙ ¯ bidı¯n [Studia Indologica Universitatis Halensis 7], Halle an der Saale to Sulta¯n Zayn al-ʿA 2014, ˙29, Fn. 8, 9). Dies wäre ein tatsächlich möglicher Eigenname für den Sohn einer hinduistischen Mutter, wobei dieser Deutung entgegensteht, dass im zeitgenössischen Indien – sowohl in muslimischen wie in hinduistischen sozialen Gruppen – die Dominanz des Vaters bei der Namensgebung die Norm ist. Ich danke Theresa Wilke, Walter Slaje und Konrad Klaus für ihre indologische Expertise.
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Muslime und zudem der vierte der vier rechtgeleiteten Kalifen des frühen Islam, der zugleich der Cousin des Propheten Muhammad gewesen ist.138 Garsˇa¯sp ˙ verweist auf eine Figur der iranischen Mythologie gleichen Namens, den »Drachentöter« und letzten König des ersten Herrscherhauses der Menschen.139 Auch persönliche Namen können somit von Umbenennungen betroffen sein, im vorliegenden Fall von ʿAlı¯ auf Muhammad, und das obwohl aus legitimato˙ rischer Sicht auch der Name ʿAlı¯ ausgereicht hätte, um seinen Träger als Muslim auszuweisen und einen Bezug zu den frühen Muslimen herzustellen. Zudem ˇ ala¯l ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯hs als auch ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muzeigen die Fälle sowohl G ˇ hammad Sa¯hs, dass die Frage der Geburtsnamen auch bei solchen Sultanen nicht ˙ unproblematisch ist, die selbst nicht aus dem Militärsklaventum stammen. Die Mitglieder dieser dritten Dynastie entstammen einem Nomadenstamm Innerasiens, den Halagˇ,140 der etwa 200 Jahre lang im afghanischen Hochland sie˘ delt, bevor er in das Gebiet des Sultanats zieht und dort später die Herrscher stellt. Die Frage ist nun, ob im sozialen Milieu dieses türkisch-afghanischen Stammes Söhne bereits zu ihrer Geburt prestigeträchtige Namen der iranischen Tradition wie Fı¯ru¯z und Garsˇa¯sp bekommen haben, oder ob dies – im Zuge einer weiteren Umbenennung – erst dann geschieht, wenn es einzelne Mitglieder dieses Stammes in hohe Positionen einer Herrschaft gebracht haben, die sich als Teil ebendieser Tradition präsentiert. Anhand der vorhandenen Quellen ist auch dies nicht zu entscheiden.141
138 Wobei auch ʿAlı¯ in der islamischen Welt ein vollkommen gängiger Name ist (Schimmel 1993, 86–89), der bei den Zeitgenossen ʿAlı¯ Garsˇa¯sps im späten 13. Jahrhundert nicht notwendigerweise und unmittelbar diese Assoziation geweckt haben muss, sondern schlicht als ›üblicher‹ Name angesehen worden sein kann. 139 Siehe hierzu: Prods O. Skjærvø, Karsa¯sp, in: Encyclopaedia Iranica 15, Fasc. 6 (2011), 601– 606. 140 Zur Herkunft dieses Stammes siehe: Sunil Kumar, The Ignored Elites: Turks, Mongols and a Persian Secretarial Class in the Early Delhi Sultanate, in: Modern Asian Studies 41,1 (2009), 45–77, hier 50–53. ˇ ala¯l ad-Dı¯n Fı¯ru¯z 141 Für letzteres spricht der türkische Name Yug˙rusˇ, den Sı¯rhindı¯ dem Vater G Sˇa¯hs zuschreibt: Sı¯rhindı¯ 1931, 61. Zu diesem Namen siehe zudem: Sunil Kumar, TransRegional Contacts and Relationships: Turks, Mongols, and the Delhi Sultanate in the Thirteenth and Fourteenth Centuries, in: Ismail K. Poonawala (ed.), Turks in the Indian Subcontinent, Central and West Asia: The Turkish Presence in the Islamic World, New Delhi 2017, 176.
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Die Herrschernamen Delhis als Beitrag zu einer transkulturellen Onomastik Die Forschung zum Sultanat von Delhi kann auf eine lange Geschichte verweisen,142 die in ihren Anfängen bis in die Zeit der British East India Company zurückreicht. Die Onomastik zum Sultanat jedoch ist ein so gut wie unbearbeitetes Feld. Eingangs stehen zwei Herausforderungen. Zum einen ist dies die schlechte Quellenlage: Die wenigen historiographischen Texte schildern Jahrzehnte aus der Retrospektive und verwenden Namen zudem intratextuell retrospektiv, ihre Aussagekraft ist insbesondere im Hinblick auf Umbenennungen begrenzt. Zum anderen zeigt sich, in namentextologischer Hinsicht interessant, dass die Verbindung zwischen Namen und Textsorte sehr viel enger ist als bislang angenommen. Es gibt bei den weitaus meisten Herrschernamen Delhis Variationen zwischen Fremdzuschreibungen und Selbstbezeichnungen, die Namen der historiographischen Texte unterscheiden sich in Bezug auf einzelne Namensbestandteile beinahe durchgehend von denen der Münzinschriften. Jenseits der persönlichen Namen (ism) sowie der Beinamen (laqab) der Sultane, die immer und stets gleich angegeben werden, zeigen sich in Bezug auf andere Namensbestandteile vielfältige Unterschiede, wobei eine gewisse Systematik zwischen Fremdzuschreibungen und Selbstbezeichnungen nicht zu übersehen ist. Dies betrifft insbesondere die Agnomina und Ehrentitel. Während die Historiographen nur bestimmte Sultane, und hier insbesondere die in ihren Texten als bedeutend charakterisierten Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ, G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban und ¯ ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h, als Na¯sir Amı¯r al-muʾminı¯n, »Helfer des Be˙ ˙ fehlshabers der Gläubigen«, Iskandar-i sa¯nı¯, »Zweiter Alexander«, oder zill-i ¯ ˙ Alla¯h fı¯ l-ʿa¯lamain, »Schatten Gottes auf den Welten«, titulieren, sind diese Ehrentitel auf Münzen weitaus häufiger. Während die Historiographen offenkundig einzelne Sultane herauszuheben versuchen, scheinen die Herrscher selbst auf in ihrem Namen geprägten Münzen eher aus einem gemeinsamen Fundus grundlegender Argumente für die eigene Legitimität geschöpft zu haben. Die Motivation der Namengebung ist dabei eindeutig: Die Sultane sind von bescheidener Herkunft und ihre Namen sollen dazu beitragen, diese nicht über Gebühr zu thematisieren. Obwohl türkische Namensbestandteile innerhalb der Eliten des Sultanats nachgerade die Regel sind, bilden sie bei den Herrschernamen die große Ausnahme. Zudem finden sich solche, mit Ausnahme Muhammad b. Tug˙luqs, nur bei den Sultanen, die einen persönlichen Hinter˙ 142 Für eine Forschungsgeschichte zum Sultanat siehe: Kumar 2007, 7–20. Im Hinblick auf die Werke chronikaler Geschichtsschreibung siehe insbesondere: Auer 2012, 5–9.
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grund im Militärsklaventum haben. Bereits bei ihren Söhnen weist nichts mehr auf den türkischen Hintergrund des Vaters hin. Stattdessen dominieren das arabische und das persische Element. Die Sultane tragen koranische Namen oder die persönlichen Namen berühmter Muslime der Frühzeit des Islam einerseits und die persönlichen Namen vorislamischer iranischer Herrscher und Figuren der iranischen Mythologie andererseits. Ergänzt werden diese persönlichen Namen durch arabische Beinamen sowie durch arabische, persische oder multilinguale Ehrentitel, die das Verhältnis des Herrschers zu seinem Glauben artikulieren oder Auskunft darüber geben, in welchem Licht er seine Herrschaft gesehen haben will, oder zumindest, welche Selbstsicht ihm die Historiographen zuschreiben. Die zentrale Motivation dieser Namengebung ist es, die Namensträger innerhalb der arabisch-islamischen sowie der iranischmonarchischen Tradition zu verorten und sie gleichzeitig als Repräsentanten dieser Traditionen auszuweisen. Die konkrete Form einzelner Namensbestandteile – abseits der persönlichen Namen sowie der Beinamen, die hiervon nicht betroffen sind – kann dabei zwischen einzelnen Texten variieren. ʿIsa¯mı¯ schreibt Muhammad b. Tug˙luq das ˙ ˙ Teknonym Abu¯ l-Mugˇa¯hid zu, der zeitgleich schreibende Baranı¯ tituliert ihn als as-sulta¯n al-mugˇa¯hid Abu¯ l-Fath und auf Münzinschriften bezeichnet sich der ˙ ˙ Sultan als al-mugˇa¯hid fı¯ sabı¯l Alla¯h. Zwar handelt es sich um Unterschiede im Detail, allerdings ist ihnen bereits insofern Rechnung zu tragen, als sie eher die Regel als die Ausnahme sind. Nimmt man an, es habe die eine ursprüngliche Form gegeben, ist diese heute in vielen Fällen nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmbar. Zu anderen Namen oder Namensbestandteilen werden sich vermutlich überhaupt keine definitiven Aussagen mehr treffen lassen, da diese in den Quellen gar nicht erwähnt werden oder alleine retrospektive Zuschreibungen vorliegen, während Selbstbezeichnungen fehlen. Im Hinblick auf die legitimatorische Funktion dieser Namensbestandteile lässt sich jedoch festhalten, dass sie sich zwar je nach Quelle unterscheiden oder unterschiedlichen Trägern zugeschrieben werden, dass die Argumente, die sie für die Legitimität des Anspruchs ihres jeweiligen Trägers anführen, jedoch stets die gleichen sind.143 Das Verdienst Muhammad b. Tug˙luqs ist der Kampf gegen Nichtmuslime. Auf diesen Argu˙ menten basiert die politische Legitimität der Sultane. Ungeachtet dieser Spezifika sultanischer Namen Nordindiens zeigen sich viele mutmaßliche Ansatzpunkte einer transkulturellen Onomastik. Die Namenswahl 143 Dies zeigt etwa ein Blick auf die im vorliegenden Rahmen nicht beachteten epigraphischen Quellen. In diesen können wiederum im Detail abweichende Formen insbesondere von Ehrentiteln vorkommen. Die Argumente für die Legitimität des Anspruchs ihrer Träger sind nichtsdestotrotz auch hier dieselben. Siehe etwa für die Namen der Herrscher der vierten Dynastie: Jabir Raza, Tughlaq Administration in the Light of Epigraphic Evidence, in: Proceedings of the Indian History Congress 69 (2008), 230–239, hier 230f.
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etwa ist auch im Sultanat höchst selektiv, die Menge möglicher Herrschernamen ungleich größer als die der tatsächlich gegebenen. Theoretisch wäre diese im Falle des Sultanats sogar signifikant größer als die solcher Familien, die bevorzugt nach früheren Familienmitgliedern nachbenennen. In der Praxis ist die Auswahl jedoch auch hier höchst selektiv, sowohl in Bezug auf die arabischislamische Tradition als auch auf die persisch-iranische. Nach den weitaus meisten Namen der Sasaniden und der frühen Muslime wird eben nicht nachbenannt. Andere Fragen einer europäisch-mediävistischen Onomastik stellen sich für das Sultanat hingegen nicht. Die Frage etwa, ob im Rahmen von Nachbenennungen auch die Namen noch lebender Familienmitglieder neu vergeben werden können, oder ob ein Name erst erneut vergeben werden darf, wenn sein früherer Träger verstorben ist, ist für die Herrscher Delhis ohne Belang. Die dortigen Nachbenennungen weisen, wo nicht auf mythische oder koranische, da auf historische Figuren zurück, die im 13. Jahrhundert seit langer Zeit verstorben sind, seien es sasanidische Herrscher oder die Träger entsprechender Namen aus früheren Herrscherhäusern der islamischen Welt. Und selbst dort, wo ein persönlicher Name innerhalb einer Familie mehrfach auftrifft, etwa in der dritten Dynastie bei Muhammad b. Tug˙luq und dessen Neffen zweiten Grades Na¯sir ˙ ˙ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h, ist nicht letzterer nach seinem Vorfahren benannt, ˙ sondern tragen beide einen in der islamischen Welt des 14. Jahrhunderts gängigen Namen, der letztlich auf den Propheten des Islam zurückweist. Ungeachtet möglicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede lässt die Quellenlage zum Sultanat von Delhi stand heute zu vielen onomastischen Aspekten hinreichend begründbare Aussagen nur bedingt zu. Wer welchen Namen aus welchem Grund gewählt hat, um einen neugeborenen Sohn eines Sultans zu benennen, ist ebenso unklar wie die Regeln, nach denen Nachbenennungen erfolgen, oder die Frage, wie Namen wie Bahra¯m oder ʿAlı¯ bei den Zeitgenossen konnotiert sind und welche Assoziationen sie gegebenenfalls zu wecken vermögen. Insofern kann der vorliegende Beitrag nicht mehr sein als ein Problemaufriss. Ein solcher läuft stets Gefahr, dem eigenen Fach nicht tiefgründig genug zu sein und zugleich den Fragestellungen anderer Disziplinen, zumal solcher, die auf umfangreiche Literatur bauen können, nicht weit genug entgegenzukommen. Dies ist jedoch eine der zentralen Herausforderung interdisziplinären Arbeitens, die zugleich dessen Reiz ausmacht; umso mehr, als die Namen der Sultane von Delhi eine noch weitgehend unbearbeitete kulturhistorische Quelle zur Sultanatszeit darstellen, der in Zukunft mehr Aufmerksamkeit gebührt.
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Wolfgang Haubrichs
Funktion und Performanz. Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität im frühen Mittelalter Westeuropas
Abstract The article begins with outlining the double structure of Germanic personal names. There are two types: 1) di-thematic ›full-names‹ (Voll-namen), composed like German or English compounds by two lexemes, usually representing words of power and war (e. g. Gund-wine < *gundô ›battle‹ + *-wini- ›friend‹); 2) mono-thematic ›names‹ (Kurz-namen), derived from a single lexeme with the aid of a suffix (e. g. Har-ilo < *harja- ›army‹ + -l-suffix). One of the most prominent functions of the Germanic anthroponymic system was the indication of kinship by retaining one name-element and varying the second element simultaneously (e. g. Hari-pert ›brilliant in the army‹, Cuni-pert ›brilliant in the lineage‹, Gund-pert ›brilliant in battle‹ etc.). Gradually the variation was complemented by naming after a near relative completely, initially after the grandparents, then since the eighth century, following Romance/Latin models, after the father. Another tool for indicating relationship was the ›Stabreim‹ (alliteration), e. g. in the Burgundian Royal genealogy the names beginning with G: Gibicha, Gundi-hari, Gundo-mar, Gundo-bad, Gundo-wech, Godo-mar, Godi-gisel, Gisla-har, Gisla-had etc.; yet another instrument was the semantic variation of names within a family (e. g. in the Langobardic stirps regalis of the Lethingi *Clapo ›the fighter‹, *Dado ›the violent, the batter (?)‹, *Tukilo ›the sword-drawing man‹, Wako ›the alert‹). In the case of the ›Bavarian‹ dynasty of Langobardic kings we could observe how the change of onomastic tradition creates a new identity as their names change from inherited names on *-walda ›ruler‹ to names composed with the element *-berhta- ›brilliant, illustris‹. But there are some more instruments of onomastic differentiating: Kuni-pert ›illustris by his family‹, the rex Langobardorum (688–700), changed the first elements of his and of his daughter’s (Cuninc-perga) name into the unique kuning ›king‹, uniting function and name. In the eighth century a collateral line of the Carolingian family used famous names of the contemporary heroic poetry like (C)Hildebrand, Nibelung, Theoderich, Ekkehard for many generations. Name-elements and whole names were transferred from one family to another to strengthen and legitimate connubial (and political) alliances; for instance, the adoption of Burgundian onomastic material documents the claim of the Merovingians to be the real heirs of the kingdom of Burgundia in the sixth century. Finally we may call it a sort of onomastic propaganda if a noble genealogia programmatically accentuates well defined lexemes in its name-giving, as happened in the instance of the family of the Ostrogothic king Theoderich < *Thiuda-rîka- ›ruler of the people‹ (†526). At first with the concentration on *theuda- ›people, gens‹, then on the lexeme of the name of the
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Wolfgang Haubrichs
stirps Amalorum (< *amala- ›keen, ardent‹), creating at last ethnocentric personal names like Ostro-gotho fem. ›the Ostrogothic woman‹, Thiudi-goto fem. ›Gothic by people‹, *Sueba-goto fem. ›Gothic by origin‹ etc.
Vorbemerkung: Struktur und Funktion germanischer Personennamen Den Erörterungen zum Thema sind zwei Vorbemerkungen vorauszuschicken: Zunächst einmal wird hier vorwiegend von sprachlich germanischen Personennamen die Rede sein. Diese wiederum kennen zwei Haupttypen:1 1) Mono-thematische (oder in deutscher Begrifflichkeit ›ein-stämmige‹) Namen, bestehend aus einem Lexem und einem Suffix. Man nehme z. B. den Namen des Langobardenkönigs (siehe Abbildung 1) Claffo [< *Klapo] rex (›Schläger‹)
Tato [< *Dado] rex (›Täter‹)
Winigis
Zuchilo [< *Tukilo] (›Schwertzücker‹)
Wacho [< *Wako] rex (†540) (›der Tapfere‹) ∞ Austrigusa
∞ Silinda/Sigilenda Walthari rex (†546)
Wisigarda
Walderada
Abbildung 1: Die Dynastie der langobardischen Lethinge im Zeitalter König Wachos (†546)
1 Vgl. zu Struktur, Typologie und Funktion germanischer Personennamen Stefan Sonderegger, Prinzipien germanischer Personennamengebung, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 1–29; Wolfgang Haubrichs, Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ›germanischen‹ gentes: Traditionen – Innovationen – Differenzen, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (edd.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000) (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 90), Berlin/Boston 2014, 29–72; Stephen Wilson, The Means of Naming. A social and cultural history of personal naming in Western Europe, London/New York 1998, 65–85.
Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität
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– Wako, Wacho (um 510–540), Gen. Wachun < germ. *waka- (ahd. wach) ›aufmerksam, wachsam, wacker, tapfer‹2 + Suffix -o der konsonantischen n-Deklination (das häufig ein Nomen agentis, hier im Sinne von ›der Wache, der Tapfere‹ produziert) – Zuchilo (†540) aus der gleichen Dynastie < germ. Verbum *tuk(k)a- (ahd. zuhhen, zucken) ›(das Schwert) zücken‹3 + westgerm. hypokoristisches Suffix -ilo. 2) Di-thematische (oder in deutscher Begrifflichkeit ›zwei-stämmige‹) Namen, wie ein deutsches Kompositum aus zwei Lexemen bestehend – also wie deutsch Dampf-schiff ›Schiff, das durch Dampf angetrieben wird‹ (ähnlich und wohl nach Vorbild von engl. steam-ship). Nehmen wir aus der gleichen langobardischen Dynastie den Sohn Wachos mit Namen – Walt-hari (†546) < germ. *walda- ›herrschen‹4 + *harja- ›Heer-Krieger‹ (vgl. ahd. hari, heri, dt. Heer)5 – insgesamt also mit der Bedeutung ›herrschender Krieger‹, ein guter Königsname. Und nun eine zweite Vorbemerkung: Die strukturelle Komplexität des germanischen Namensystems dient (wie in den meisten Namensystemen) der Differenzierung und Individualisierung von Personen durch Namen. Nehmen wir einmal an, wir haben in einer Sprache ca. 50 Lexeme, die nach kulturspezifischen Vorgaben für die Namengebung benutzt werden können – in Wahrheit sind es erheblich mehr Lexeme, allerdings viele nur recht restringiert gebraucht. Durch variierende Kombination in dithematischen Namen erhalten wir 50 x 50 = 2500 Namen. Dazu kommen monothematische Ableitungen mit ca. sieben Suffixen, also 7 x 50 = 350 weitere Namen. Das sind insgesamt ungefähr 3.000 verschiedene Namen, das ergibt für das frühe Mittelalter die Möglichkeit der onomastischen Differenzierung einer ganz erheblichen Zahl von Kriegern. Dazu kommen, durch grammatische Mittel differenziert, nochmals ebenso viele Frauennamen. 2 Henning Kaufmann, Ergänzungsband zu Ernst Förstemann, Altdeutsche Personennamen, München/Hildesheim 1968, 372f.; Vladimir Orel, A Handbook of Germanic Etymology, Leiden/Boston 2003, 441f.; Friedrich Kluge/Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25. Auflage, Berlin/Boston 2011, 964. 3 Kluge/Seebold 2011, 1017. 4 Kaufmann 1968, 379f.; Orel 2003, 443; Kluge/Seebold 2011, 970. 5 Kaufmann 1968, 174f.; Orel 2003, 163; Kluge/Seebold 2011, 402; Gottfried Schramm, Namenschatz und Dichtersprache. Studien zu den zweigliedrigen Personennamen der Germanen (Ergänzungshefte zur Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiet der indogermanischen Sprache 15), Göttingen 1957, 47f.; Ders., Zweigliedrige Personennamen der Germanen. Ein Bildetyp als gebrochener Widerschein früher Heldenlieder (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 82), Berlin/Boston 2013, 51f., 64, 79.
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Wolfgang Haubrichs
Zum andern vermag das germanische Namensystem gerade durch die Komposition mit zwei Elementen, Namen-Elementen wohlgemerkt, noch eine weitere Personenbeziehung auszudrücken, nämlich Verwandtschaft: Nehmen wir einmal die sogenannte ›bairische‹ Dynastie der Langobarden des siebten Jahrhunderts (siehe Abbildung 2): Ein feststehendes Element der Komposition wird durch ein neu hinzukommendes, wechselndes Element variiert, hier bei der männlichen Deszendenz des dux Gundoald von Asti, Bruder der bairischen Herzogstochter und Nachkommin der lethingischen Dynastie König Wachos mit Namen Theodelinda (589–627), über fünf Generationen hinweg das feste Element -pert < germ. *berhta- ›glänzend, illustris‹6; die Variation erfolgt durch die Namenelemente *hari- ›Heer, Heer-Krieger‹, *gund-, *gunth- ›Kampf‹7, *gôda›gut‹8, *kuni- ›Adelsgeschlecht‹9, *ragin- ›göttlicher, heiliger Rat‹10 und *liut- < germ. *leuda- ›Volk, Mann‹11. Später kann dann noch die Nachbenennung mit vollem Namen hinzukommen, wie bekanntermaßen bei den Karolingern immer wieder zunächst Pippin, Karl, Karl-mann und später, merowingisches Erbe aufnehmend Ludwig, Lothar.12 Dieses Prinzip der Nachbenennung wurde zunächst im Verhältnis von Großeltern zu Enkeln praktiziert, später nach spätantik-lateinischem Vorbild der Name auch vom Vater auf den Sohn (seltener von der Mutter auf die Tochter) vererbt. Die Namengebung mittels fester und variierter Elemente ist also ein System der sprachlichen Bindung von Personen, die durch Verwandtschaft biologisch und sozial gebunden sind. Zur Variation kommt bei germanischen Gruppen ein zweites sprachliches Mittel, ein gewissermaßen poetisches Binde-Mittel hinzu, die Alliteration oder – nach der poetischen Verfahrensweise germanischer Dichtung benannt – Stabreim. Angehörige verschiedener Generationen erhalten stabende Namen, d. h. Namen mit gleichlautenden Anfangsbuchstaben.13 So 6 7 8 9 10 11
Kaufmann 1968, 59; Orel 2003, 42. Kaufmann 1968, 168–160; Orel 2003, 146. Kaufmann 1968, 150f.; Orel 2003, 138; Kluge/Seebold 2011, 381. Kaufmann 1968, 86f.; Orel 2003, 224; Kluge/Seebold 2011, 523 (König). Kaufmann 1968, 283; Orel 2003, 294. Kaufmann 1968, 232f.; Orel 2003, 242; Kluge/Seebold 2011, 574; Wolfgang Haubrichs, ›Leudes, fara, faramanni und farones‹: Zur Semantik der Bezeichnungen für einige am Konsenshandeln beteiligte Gruppen, in: Verena Epp/Christoph H. F. Meyer (edd.), Recht und Konsens im frühen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 82), Ostfildern 2017a, 235– 263, hier 236–247. 12 Vgl. Karl Ubl, Die Karolinger. Herrscher und Reich (Beck Wissen 2828), München 2014, 13– 39. 13 Vgl. zum Stabreim Werner Hoffmann, Altdeutsche Metrik (Sammlung Metzler 64. Abt. E Poetik), Stuttgart 1967, 20–27; Otto Paul/Ingeborg Glier, Deutsche Metrik, 7. Auflage, München 1968, 24–36; zum Stabreim in der Namengebung vgl. Wolfgang Haubrichs, Langobardic Personal Names: Given Names and Name-Giving among the Langobards, in:
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Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität Garibald, -oald dux/rex Baioariorum
Gundoald, dux Asti †612 ------
Theodolinda ........ 1) ∞ Authari rex †590 2) ∞ Agilulf rex †616
[H]Aripert I rex †661 Adaloald rex 616–626
Gundo-bert -------(Fredegar)
Gundiperga ------regina Theodorata ∞ Grimuald I dux Benevent rex 662–671 Garibald rex 671
Perct[h]ari rex Milano †688 ∞ Rodolinda ........ Cuni(nc)pert ------rex 688–700
Cunincperga --------
Liutpert †703
Godepert rex Pavia 663
Wigilinda ........
Gumpert ------
Raginpert I dux Turino †701 [H]Aripert II rex 703–712
Raginpert II comes Orléans Abbildung 2: Die ›bairische‹ Dynastie der Langobarden (7. Jh.)
heißt in dem althochdeutschen, um 830 aufgezeichneten, aber in der Vorlage ins achte Jahrhundert zurückreichenden, heroischen ›Hildebrandslied‹ der Großvater Heri-brand ›Heer-Schwert‹, der Vater Hilde-brand ›Kampf-Schwert‹, der Sohn Hadu-brand ›Streit-Schwert‹.14 Die Variation des Erstelements ist also hier durch den Stabreim verstärkt, die familiäre Bindung noch deutlicher angezeigt worden. Zugleich sind die Namen sprechend, bedeutungsvoll und bewegen sich in einem einzigen Wortfeld, dem der Kriegswaffen.
Giorgio Ausenda/Paolo Delogu/Chris Wickham (edd.), The Langobards before the Frankish Conquest: An Ethnographic Perspective (Studies in historical archaeoethnology 8), Woodbridge 2009, 195–236, hier 213. 14 Elias von Steinmeyer (ed.), Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1916, 1–15 Nr. I; Stephan Müller (ed.), Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie (Althochdeutsch/Neuhochdeutsch – Altniederdeutsch/Neuhochdeutsch), Stuttgart 2007, 28– 33, 285–289; Wolfgang Haubrichs, Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1,1), Tübingen 1995a, 116–127.
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Wolfgang Haubrichs
Auch Kinder können in einer Generation durch stabende Namen verbunden werden. So in der schon angesprochenen Familie des Langobardenkönigs Wacho mit einer von dessen Vater Wini-gis ausgehenden Serie von Namen auf W (siehe Abbildung 1): Wini-gis, Sohn Wacho mit den Töchtern Wisi-garda und Walderada und einem Sohn namens Walt-hari, wobei bei der zweiten Tochter und ihrem Bruder noch die Variation des Zweitelements hinzukommt.
Semantische Variation Das Beispiel der Nutzung des Stabreims in der langobardischen Königssippe der Lethinge im Umkreis des vor der Ausdehnung des Langobardenreiches nach Pannonien noch in Böhmen residierenden Königs Wacho verweist auf einen weiteren Typus von Verwandtschaftsindikation, den der semantischen Variation, d. h. der Variation der lexikalischen Basen von Namen im gleichen Wortfeld, wie das auch bei der Pferd-Variation der mythischen kentischen Landnahme-Heroen Hengist ›Hengst‹ und Horsa ›Ross‹ anzutreffen ist.15 Bei den langobardischen Lethingen vor und mit Wacho wechseln über drei Generationen hinweg Namen aus dem Wortfeld aggressiver, kriegerischer Aktion und Gesinnung: Claffo < *Klapo ›Schläger‹ (mit Verschiebung der Tenuis [t] > [ts], geschrieben zu *klap-, ae. clappian, ahd. klapfôn ›schlagen‹);16 dann die Söhne Tato < *Dado ›Täter‹ (Nomen agentis auf -ôn zu germ. *daedi-, ahd. tât ›Tat‹)17 und der schon genannte Zuch-ilo < *Tuk-ilo ›der (das Schwert) zückt‹ (zu ahd. zucken, mndl. tucken); schließlich der erfolgreiche Enkel Wacho, Wako ›der Wache, Tapfere‹. Mit dem Vater dieses bedeutenden Langobardenkönigs18 treten – wie erwähnt – Stabreim und Variation der Namenelemente an die Stelle der semantischen Variation. Der neue erfolgreiche Zweig der Dynastie gibt sich eine neue Onomastik. Es gibt durchaus weitere Beispiele der semantischen Variation. Besonders interessant für das semantische Verständnis früher germanischer Personenna15 Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, ed. Günter Spitzbart, Darmstadt 1982, 58–61. 16 Kaufmann 1968, 82; Orel 2003, 215; Kluge/Seebold 2002, 494 (klaffen). 17 Kaufmann 1968, 88f.; Orel 2003, 72; Kluge/Seebold 2011, 908. 18 Vgl. Jörg Jarnut, Geschichte der Langobarden (Kohlhammer Urban 339), Stuttgart 1982, 21– 24. Als Vater von Wacho muss entgegen Paulus Diaconus I, 21 nicht Zuchilo angesetzt werden, sondern Wini-gis. In der älteren langobardischen ›Origo‹ heißt es c. 4 eindeutig: Et occidit Wacho, filius Vnichis, Tatonem regem barbane suo cum Zuchilone (»Und es tötete Wacho, der Sohn des Winigis, den König Tato, seinen Onkel, zusammen mit Zuchilo«). Ebenso im Königskatalog des Codex von Modena: octauus Wacho, filius Vnichis, nepus Tatoni. Zuchilo war wohl ein weiterer Onkel des Wacho. Vgl. Origo gentis Langobardorum. Introduzione, testo critico, commento, ed. Annalisa Bracciotti, Roma 1998, 110, 121.
Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität
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men19 ist auch der Fall jenes germanischen Soldaten (6. Jahrhundert) des byzantinischen Heeres, der einmal Hild-(w)ulf ›Kampf-Wolf‹ zu germ. *hildjô ›Kampf‹ und ein andermal Gund-(w)ulf ›Kampf-Wolf‹ zu germ. *gunthô-, *gundi›Kampf, Streit‹ heißen konnte.20 Ein weiterer, freilich langobardisch-romanischer Fall ist jener Audipertus qui et Argentio vocatur aus Pisa 765, dessen germanischer Personenname als ›der für seinen Besitz bzw. Reichtum Berühmte‹ zu deuten ist, dessen romanisches supernomen aber zu argentum (›Silbergeld, Geld‹) zu stellen ist, also mit dem germanischen Namen bedeutungsähnlich ist.21 Ein rein romanischer Fall bietet sich mit dem 615–618 regierenden Papst Deusdedit I. (›Gott gab ihn‹), Sohn des Subdiakons Stephanus, der auch Adeodatus (›von Gott gegeben‹) hieß.22 Dass noch lange bedeutungstragende Namen neu geschaffen werden konnten, zeigt neben christlichen Neuschöpfungen des 8. Jahrhunderts im bairischen Raum und anderswo folgender Fall aus der Zeit um 980: Den Kriegen gegen die mit den Hunnen identifizierten Ungarn verdanken sich die »noms de guerre« des Hunin-gêr (›Hunnen-Speer‹) und seiner Söhne Hunin-wê (›Hunnen-Schmerz‹), Hunin-leit (›Hunnen-Leid‹) und Hunin-tot (›Hunnen-Tod‹).23
19 Vgl. auch Friedhelm Debus, Namen-Bedeutsamkeit und Namen-Inhalt. Zur Semantik der nomina propria, in: Maria Giovanna Arcamone (ed.), Atti del XXII Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche, Bd. 1, Pisa 2005, 437–445. 20 Hermann Reichert, Lexikon der altgermanischen Namen, Bd. 1, Wien 1987, 401, 431; Wolfgang Haubrichs, Identität und Name. Akkulturationsvorgänge in Namen und die Traditionsgesellschaften des frühen Mittelalters, in: Walter Pohl (ed.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des Frühen Mittelalters (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 322. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, 85–105, hier 87; Christa Jochum-Godglück, Germanisch *haifsti-z in Personennamen, in: Maria Giovanna Arcamone (ed.), Atti del XXII Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche, Bd. 4, Pisa 2005, 201–213, hier 211; Christa Jochum-Godglück, ›Wolf‹ und ›Bär‹ in germanischer und romanischer Personennamengebung, in: Wolfgang Haubrichs/Heinrich Tiefenbach (edd.), Interferenz-Onomastik. Namen in Grenz- und Begegnungsräumen in Geschichte und Gegenwart. Saarbrücker Kolloquium des Arbeitskreises für Namenforschung vom 5. – 7. Oktober 2006, Saarbrücken 2011, 447–477, hier 453f. 21 Codice Diplomatico Longobardo, ed. Luigi Schiaparelli, Bd. 2, Roma 1933, Nr. 183. 22 Liber pontificalis, ed. Louis Duchesne (Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire 1), Paris 1886, 319f. 23 Wilhelm Störmer, Hoch- und spätmittelalterliche »Familien«-Namengebungspraxis vornehmlich beim Niederadel in Altbayern und Franken, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer grundwissenschaftliche Forschungen 3. Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 215–235, hier 218.
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Wolfgang Haubrichs
Variation und onomastischer Systemwechsel Identitätsbildung durch onomastischen Systemwechsel lässt sich nicht nur bei den langobardischen Lethingi beobachten, sondern auch in der sog. ›bairischen‹ Dynastie des langobardischen regnum.24 Sie nimmt ihren Ausgang von Garibald/Gar-oald, dem dux oder rex Baioariorum, dessen Tochter Theodo-linda zunächst den langobardischen König Authari (†590) und nach dessen Tod den Herzog von Turin, Agilulf, einen Thüringer (†616), heiratet. Nach dem Tode des gemeinsamen Sohnes Adal-oald (†626) kommt jedoch ein zweiter Zweig der Familie zur Herrschaft, nämlich die Nachkommen von Theodolindes Bruder Gund-oald (†612), der ins Langobardenreich emigriert war und dort das Amt des dux von Asti übernommen hatte. Während die Nachkommen der Theodolinde die alte Namenvariation um das invariante Element *walda- ›Herrscher‹ und die auch im Namen des Bruders präsenten Namenelemente *gundi- und *gar- < *gaira- ›Speer‹ (mit dem G-Stabreim) bewahren, führen die Nachkommen Gundoalds – wie schon eingangs angedeutet – eine über fünf Generationen reichende Genealogie mit Namen auf -bert (langobardisch -pert) ein, bei denen zumeist das erste Element variiert wird (Frontvariation), einmal aber auch eine Kreuzvariation (Inversion) vorkommt: 2x Gundo-bert, 2x Ragin-pert, Gode-pert, Cuni-pert, Liut-pert, 2x Hari-pert mit der Inversion Pert-hari (siehe Abbildung 2).25 Dass diese onomastische Identitätsgebung ein bewusster Akt war, sieht man gut an der femininen Deszendenz des dux von Asti. Hariperts I. (†661) Tochter Theodo-rata, die Grimoald I., den Herzog von Benevent, dann König von 662 bis 671, geheiratet hatte, gab ihrem Sohn, der im Jahre 671 für kurze Zeit die Nachfolge seines Vaters antrat, den an die ursprüngliche Namentradition der bairischen Dynastie anknüpfenden Namen Gari-bald. Man war sich also um die Mitte des siebten Jahrhunderts beider Traditionen der bairischen Dynastie bewusst.
24 Vgl. Wilfried Menghin, Die Langobarden. Archäologie und Geschichte, Stuttgart 1985, 109– 142; Jarnut 1982, 55–79; Haubrichs 2005, 87f. 25 Haubrichs 2005, 87. Zusätzlich bemerkt sei: Es handelt sich bei Berht-hari, Perht-hari, um eine onomastische Inversion von (H)Ari-pert, dem Namen seines Vaters. Die Form Perct(h)ari zeigt im Erstelement den romanischen Lautersatz [ct] für germanisch [ht]. Die ebenfalls vorkommenden Formen Pertharit, Perctarit, sind nichts anderes – wie analog beim Königsnamen Rothari, auch Rotharit – als hyperkorrekte romanische Formen, die auf dem Hintergrund des Verstummens von auslautenden Konsonanten – hier des [t] – im Italoromanischen zu interpretieren sind.
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Programmatischer Namenwechsel In dieser -bert-Familie, der Familie der ›Glänzenden‹ oder illustres, gibt es noch einen ganz besonderen Fall nicht programmatischer Namengebung, sondern programmatischer Umgestaltung eines Namens: Cuni-pert, Sohn des Pert-hari, hat am Anfang seiner Herrschaft noch den korrekt ins onomastische System der Familie eingepassten Namen bewahrt, der ›glänzend, berühmt im kun(n)i, im Geschlecht bzw. in der Sippe‹ bedeutet. Dann aber gestaltete er seinen Namen unerhörterweise auf Münzen, Inschriften, in Diplomen in Cuninc-pert mit der Bedeutung ›glänzend als König‹ um. Dazu muss man wissen, dass es ein Namenelement cuninc, kuning ›König‹ (das etymologisch durchaus zu kuni < germ. *kunja- gehört) nirgendwo in den germanischen Namentraditionen gegeben hat.26 Es ist also ein außerordentlicher, ein planvoller königlicher Akt, den Cunincpert damals vollzog. Konsequenterweise nannte er seine Tochter Cunincperga ›Berge, Schutz des Königs‹, während er seinem Sohn Liut-pert ›berühmt im Volke‹ einen in der familiären Tradition stehenden Namen gab, denn im siebten Jahrhundert war in germanischen Gesellschaften die volle Nachbenennung nach dem Vater noch völlig unüblich. Auf jeden Fall zeigt auch dieser Fall programmatischen Namenwechsels die Bedeutung der Semantik in der Namengebung an.
Königsnamen und Heldennamen: Modelle der Differenzierung Als Pippin der Mittlere, seit 687/88 Hausmeier des Frankenreichs, und seine aus bedeutender rhein-moselländischer Familie stammende Gemahlin Plektrud ihre ersten Söhne benannten, hieß der erste (nach unbekanntem Vorbild) Drogo, der zweite aber nach dem 661/62 ermordeten Großonkel und maior domus Grimoald. Drogo starb bereits 708, sein Bruder Grimoald der Jüngere im gleichen Jahr 714 wie sein Vater. So kam der aus einer Verbindung Pippins mit Chalpeida geborene Karl (später mit dem Beinamen Martell ›der Hammer‹ versehen), 26 Maria Giovanna Arcamone, Antroponimia germanica sulle iscrizioni pavesi dall V all’XI secolo, in: Istituto Lombardo. Accademia di Scienze e Lettere. Rendiconti Classe di Lettere e Scienze Morali et Storicho 103 (1969), 3–48, hier 23–29; Wolfgang Haubrichs, Amalgamierung und Identität. Langobardische Personennamen in Mythos und Herrschaft, in: Walter Pohl/Peter Erhart (edd.), Die Langobarden. Herrschaft und Identität (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 329. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 9), Wien 2005, 67–101, hier 92 Nr. 14; Wolfgang Haubrichs, Sprache und Schriftlichkeit im langobardischen Italien – Das Zeugnis von Namen, Wörtern und Entlehnungen, in: Filologia Germanica – Germanic Philology 2 (2010), 133–201, hier 164f.; Ders., Viri illustres. Romanizzazione e tratti conservativi nei nomi della nobiltà longobarda del VII secolo, in: Maria Giovanna Arcamone (ed.), Atti del XXII Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche, Bd. 4, Pisa 2010, 513–540, hier 527 Nr. 44f.
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nachdem er sich gegen die Witwe Plektrud und deren Enkel Theudoald durchgesetzt hatte, zum Zuge. Seine älteren Söhne nannte er – seinen eigenen Namen variierend – Karl-mann und nach dem Großvater Pippin. Die Namen Karl, Karlmann und Pippin (gelegentlich Drogo) blieben von nun an wirkmächtige signa im von Karl Martell (†741) ausgehenden Hauptstamm der Herrscherfamilie.27 Die anderen alten Namen der Pippiniden – wie Ansegisil, Grimoald, Theudoald, Arnulf, Hugo – wurden, das kaum zufällig, nicht mehr benutzt. Erst mit Karls des Großen Söhnen Ludwig (der Fromme) und Lothar, deren Namen an die Gründerkönige des Frankenreiches anknüpften, wird neues, dauerhaft wirkendes Namengut in die Familie eingebracht.28 Chalpeidas erfolgreicher Sohn Karl hatte einen besonderen, seltenen Namen bekommen, der an ein familiäres (manchmal vielleicht intimes) Wort mit der breiten Bedeutung ›Mann, Geliebter, Kerl‹ anknüpfte und Karl-mann variierte diese Bezeichnung.29 Der vierte Sohn Pippins des Mittleren – aus einer Verbindung mit einer uns unbekannten Frau geboren, aber im karolingischen Haus als germanus Karl Martells und avunculus Pippins des Jüngeren anerkannt – wurde Hildebrand (in westfränkischer Orthographie: Childebrand)30 genannt, dessen Sohn Nibelung, der wiederum zwei Söhne mit Namen Hildebrand und Nibelung hatte. Dem Bruder Karl Martells wurde Burgund als dux anvertraut, er ist zugleich ein Promotor dynastischer Propaganda, der Verfasser oder Koordinator der Fortsetzung des ›Liber historiae Francorum‹ (736–751), welche Chronik wiederum bis 768 vom Sohn Nibelung fortgeführt wurde, mit karolingischer Akzentuierung der Thronerhebung der Söhne Pippins des Jüngeren, Karl (der Große) und Karlmann.31 Léon Levillain hat diese Zusammenhänge in einem berühmten Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel ›Les Nibelungen historiques‹ akribisch, wenn auch zum Teil mit einigen Fragezeichen versehen, dargelegt (siehe Abbildung 3).32 Es ist sehr auffällig, dass in dieser karolingischen Nebenlinie in ihrer Frühzeit bekannte Heldennamen der germanischen heroischen Poesie vergeben wurden: 27 Vgl. Ubl 2014, 15, 24, 59. 28 Vgl. Jörg Jarnut, Chlodwig und Chlothar. Anmerkungen zu den Namen zweier Söhne Karls des Großen, in: Francia 12 (1984), 645–651. Siehe dazu insgesamt auch den Beitrag von Matthias Becher in diesem Band, 129–149. 29 Kluge/Seebold 2011, 487. 30 Die Schreibung mit wie in Childe-rich für Hilde-rich, Chilpe-rich für Hilpe-, Helpe-rich, Chari-bert für Hari-bert usw. 31 Wattenbach-Levison. Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 2, ed. Wilhelm Levison/Heinz Löwe, Weimar 1953, 161f.; Roger Collins, Die Fredegar-Chroniken (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 44), Hannover 2007, 82–146; Ulrich Nonn, Childebrand, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983), 1817. 32 Léon Levillain, Les Nibelungen historiques et leurs alliances de famille, in: Annales du Midi 49 (1937) 337–408; 50 (1938), 5–66; Reinhold Kaiser, Die Burgunder (Kohlhammer Urban 586), Stuttgart 2004, 202f.
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Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität Childebrand I. a. 741, †nach 751 Nibelung I. †nach 768, vor 786 Childebrand II. †826/36 ∞ Dunna
Eccard I. a. 876
Theoderic I.
Nibelung II.
Bernard
Ada
Guinitier Winidhere
Gerberga
Nibelung III.
Theoderic II.
N.
Theotbert
Eccard II.
∞ 1. Albegonde 2. Richilde Theoderic III.
Richard
N.
Guinitier Winidhere
Theoderic IV. Ademar
Hildebrand III.
Ermenold
Theoderic V.
Abbildung 3: »Les Nibelungen historiques«. Genealogie (auszugsweise) nach Léon Levillain (siehe Anm. 32). Die in Kapitälchen gesetzten Namen entsprechen sicheren Verwandtschaftsbeziehungen; die recte gesetzten Namen zeigen wahrscheinliche Beziehungen an; die kursiv gesetzten Namen verweisen auf Konjekturen.
1. Hildebrand (bis zu dreimal), Name des Waffenmeisters Theoderichs des Großen, bzw. Dietrichs in der schon für das achte und neunte Jahrhundert bezeugten Dietrichsage, mit einem Namen auf -brand, wie er gleichzeitig bei den Langobarden häufig war, und Protagonist – wie schon zu erwähnen war – des althochdeutschen, zwischen 830 und 840 in Fulda niedergeschriebenen ›Hildebrandsliedes‹, zugleich wie Deodric mit einem Auftritt im altenglischen ›Waldere‹ (9./10. Jahrhundert) ausgezeichnet.33 2. Nibelung, Name des den Goldschatz der Zwerge besitzenden Fürsten, den nach der ›Nibelungensage‹ der Franke Sigifrid erwirbt, der zugleich aber, wie einschlägige Personennamen und Ortsnamen beweisen,34 ins burgundische Spektrum gehörte, dort, wo die Familie Childebrands, des dux, Funktionen besaß, so dass die Burgunden als neue Besitzer des Schatzes vom nordischen ›Atlilied‹ auch Niflunge genannt werden.35 3. In der vierten Generation und danach tritt bis zu fünfmal Theoderich (frz. Thierry) selbst auf. Man darf daran erinnern, dass Karl der Große die Reiter33 Vgl. Haubrichs 1995a, 84; Ute Schwab, Dietrichs Flucht vor den Ungeheuern im ae. ›Waldere‹, in: Klaus Zatloukal (ed.), 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik (Philologica Germanica 22), Wien 2000, 131–155; Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts, ed. Elisabeth Lienert, Tübingen 2008, 48 Nr. 41. 34 Wolfgang Haubrichs, Historische Kunstfiguren: Burgundische Reminiszenzen in der Nibelungensage, in: Johannes Keller/Florian Kragl (edd.), 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Heldenzeiten – Heldenräume. Wann und wo spielen Heldendichtung und Heldensage? (Philologica Germanica 28), Wien 2007, 43–60. 35 Vgl. Haubrichs 1995a, 92–94.
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Statue Theoderichs trotz dessen Ruf als arianischer Ketzer und gegen manche (unter seinem Sohn Ludwig dem Frommen auch erfolgreiche) Widerstände von Ravenna nach Aachen bringen ließ.36 4. Ekke-hard, frz. Eccard (zweimal), in der Heldensage der treue Hüter der Harlungen, der Neffen des gierigen, tückischen Verwandtenfeindes (und ursprünglich Gotenkönigs) Ermanarich, den Erzbischof Fulco von Reims 893 genauso gegenüber dem ostfränkischen König Arnulf kennzeichnet.37 Er ist – nicht nur bei den Harlungen38 – der Verfolger seiner eigenen progenies. Ebenso vermerkt dies eine Tegernseer Glosse des 10. Jahrhunderts, die zur Vita des von seinem Vater ermordeten wisigotischen Königssohnes Hermanagild (†585) den Namen des Ermanarich notiert.39 Diese Häufung von heroischen Namen in einer Familie ist sicherlich kein Zufall: Die Namengebung dieses karolingischen Zweiges wurde bewusst, aber prominent von der Onomastik der Hauptlinie der Hausmeier und späteren Könige der Pippine, Karle und Karlmanne abgesetzt, differenziert, separiert und mit einer verschiedenen Identität versehen. Dass die Heldennamen dabei durchaus ein hohes semantisches Niveau repräsentieren, mag man der Beschreibung jenes 36 Vgl. The ›De imagine Tetrici‹ of Walahfrid Strabo. Edition and Translation, ed. Michael W. Herren, in: The Journal of Medieval Latin 1 (1991), 118–139; Ders., Walahfrid Strabos ›De imagine Tetrici‹. An Interpretation, in: Tette Hofstra/Richard North (edd.), Latin Culture and Medieval German Europe (Mediaevalia Groningana 11. Germania Latina 1), Groningen 1992, 25–41; Felix Thürlemann, Die Bedeutung der Aachener Theoderich-Statue für Karl den Großen (801) und Walahfrid Strabo (829). Materialien zu einer Semiotik visueller Objekte im frühen Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 59 (1977), 25–65; Edith Marold, Dietrich als Sinnbild der Superbia, in: Heinrich Beck (ed.), Arbeiten zur Skandinavistik. 6. Arbeitstagung der Skandinavisten des Deutschen Sprachgebietes, Frankfurt a. M. 1985, 443– 486, hier 450, 468f.; Dietrich-Testimonien, 52f. Nr. 48. 37 Flodoard von Reims, Die Geschichte der Reimser Kirche, ed. Martina Stratmann (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 36), Hannover 1998 (besonders 383). Vgl. Wolfgang Haubrichs, Ein Held für viele Zwecke. Dietrich von Bern und sein Widerpart in den Heldensagenzeugnissen des frühen Mittelalters, in: Ders. et al. (edd.), Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Eine internationale Fachtagung in Schönmühl bei Penzberg vom 13. bis zum 16. März 1997 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde Bd. 22), Berlin/New York 2000, 330–363, hier 340f.; Haubrichs 1995a, 84–90, 111, 114, 144; Dietrich-Testimonien, 59f. Nr. 61. 38 Haubrichs 1995a, 89–92; Ders. 2000, 346–349; Dietrich-Testimonien, 46f. Nr. 38, Nr. 63, 63f. Nr. 69. Harlungen-Zeugnisse des frühen Mittelalters gibt es mehrere. Bemerkenswert eine Königsurkunde von 832, die für Niederösterreich in der Nähe der Erlauf einen Platz nennt, »der seit alters Harlungenburg« heißt; ferner ein »Harlungenfeld« 853 in der Nähe von Pöchlarn/Bechelaren an der Donau. Vgl. Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378–907, Wien/Berlin 1987, 350; weitere Harlungen-Zeugnisse bei Haubrichs 2000, 361. 39 Haubrichs 2000, 341f.
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nach 800 von Karl dem Großen betriebenen Unternehmens durch seinen Biographen Einhard entnehmen, in dem es um die Sammlung alter, sicherlich heroischer Lieder ging:40 […] barbara et antiquissima carmina, quibus veterum regum actus et bella canebantur, scripsit memoriaeque mandavit. (»[…] er ließ die volkssprachigen uralten Lieder, in denen die Taten und Kriege der VorzeitKönige besungen wurden, aufschreiben und der Memoria [der Nachwelt] überliefern«) Hildebrand im Umkreis Dietrichs, Ekkehard im Umkreis Ermanarichs, Theoderich selbst und Nibelung gehörten sicherlich zu diesen Helden und Vorzeit-Fürsten, von denen man sich ungeheure Taten und Kämpfe erzählte und die zur Memoria des fränkischen Adels gehörten.41
Stabreim, Heldenepos, Namengebung Der Stabreim war das prägende Stil- und Ausdrucksmittel der Heldenepen, die wir im frühen Mittelalter bei Angelsachsen, Sachsen, Franken und Baiern, etwas später – mit offensichtlichen Vorlagen aus Niederdeutschland – im skandinavischen Norden finden.42 Wenn sich Familien zu jener Zeit das onomastische Gewand der Stabreim-Bindung überstreiften, dann erwarben sie damit auch einen Anteil am Renommée und der Geltung der heroischen Epen und Lieder. Und sie fanden Vorbilder in ihnen. Auch im angelsächsischen Heldenepos ›Beowulf‹ (v. 53ff.),43 jetzt – vor allem durch die Arbeiten von Leonard Neidorf – für das achte Jahrhundert gesichert,44 begegnen Genealogien, deren Namen durch Stabreim und Variation verbunden sind: Der aus dem dänischen Königsgeschlecht der Skyldinge stammende Healf40 Wolfgang Haubrichs, Veterum regum actus et bella. Zur sog. Heldenliedersammlung Karls des Großen, in: Walter Tauber (ed.), Aspekte der Germanistik. Festschrift für Hans-Friedrich Rosenfeld (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 521), Göppingen 1989, 17–46; Ders. 1995a, 111–114. 41 Vgl. Haubrichs 1995a, 127–133. 42 Vgl. Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, ed. Gustav Neckel, Bd. 1, 5. Auflage von Hans Kuhn, Heidelberg 1983; Arthur Häny, Die Edda. Götter- und Heldenlieder der Germanen. Aus dem Altnordischen übertragen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen, Zürich 1987, 523–540; Rudolf Simek, Die Edda (Beck Wissen 2419), München 2007, 85–104. 43 Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg. Mit Text und Übersetzung, Einleitung und Kommentar sowie einem Konkordanz-Glossar, ed. Gerhard Nickel, Heidelberg 1976, I, 4–7, 219. 44 Leonard Neidorf, Beowulf before ›Beowulf‹: Anglo-Saxon anthroponymy and heroic legend, in: Review of English Studies 64 (2013), 553–573; Ders., Germanic legend, scribal errors, and cultural change, in: Ders. (ed.), The dating of Beowulf: A reassessment (Anglo-Saxon studies 24), Cambridge 2014, 37–57; Ders., Philology, allegory, and the dating of ›Beowulf‹, in: Studia Neophilologica 88 (2017), 97–115; Ders., Wealhtheow and Her Name: Etymology, Characterization, and Textual Criticism, in: Neophilologus 102 (2018), 75–89.
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dene (›Halb-Däne), mit einem Namen der das kriegerische, ethnische Renommée der Dänen ausdrückte,45 hat die Söhne Heoro-gâr (›Schwert-Speer‹), variierend Hrôth-gâr (›Ruhm-Speer‹) und Halga (›der Unverletzliche‹). Auch in der Generation der Enkel werden Stabreim und Variation fortgesetzt: Heoro-gâr nennt seinen Sohn Heoro-veard (›Schwert-Wart‹), Hrôth-gâr hat die Söhne Hrôth-rîc (›Ruhm-Herrscher‹) und Hrôth-mund (›Ruhm-Schützer‹, Halgas Sohn Hrôth-ulf (›Ruhm-Wolf‹) nimmt ebenfalls das Ruhm-Wort auf. Nicht nur Stabreim und Variation prägen die Namenwelt dieser Familie, die semantischen Werte von Schwert, Speer, des aggressiven Raubtieres Wolf, von Ruhm und Unverletzlichkeit entsprechen den Normen und Werten einer kriegerischen, aristokratischen Gesellschaft. Dass die kriegerische, bis zur Identifikation mit Waffen und streitbaren Tieren führende Bedeutung der germanischen Personennamen auch den Zeitgenossen der Spätantike und des frühen Mittelalters auffiel,46 das bezeugt eine Notiz aus dem ›Opus imperfectum in Matthaeum‹, einem von einem hochgebildeten arianischen Verfasser in den lateinischen Donauprovinzen geschriebenen Kommentar zum Matthaeus-Evangelium aus dem 5./6. Jahrhundert.47 Die erste Homilie des Werkes befasst sich nahezu ausschließlich mit der vom Evangelisten einleitend gegebenen Genealogie Jesu. Der Autor ist geradezu besessen von den hebräischen Namen der Vorväter des Erlösers, unter denen, wie er ausdrücklich feststellt, viele Könige waren. Er gibt die Bedeutung, oft auch mehrere Bedeutungen dieser Namen an, die für ihn stets ein veriloquium (eine Prophezeiung, Voraussage) enthalten. Er entwickelt daraus moralische und spirituelle Exegesen. Schon auf der litteralen Ebene ist für ihn kein Name zufällig. Anlässlich des Salomon-Sohnes Roboam (Rehabeam) schreibt er: Aestimo quod pater quidem eius, sicut omnium regum patres, ex bono proposito ei nomen imposuit (»Ich glaube, dass sein Vater, wie die Väter aller Könige, ihm seinen Namen mit guten 45 Vgl. Wolfgang Haubrichs, Ethnisch signifikante und andere sprechende Namen im wisigotischen Spanien und im gotischen Italien, in: Vahram Atayan/Ursula Wienen (edd.), Sprache – Rhetorik – Translation. Festschrift für Alberto Gil (Rhethos 3), Frankfurt a. M./ Bern 2012, 41–54, hier 50f. 46 Vgl. Gunter Müller, Germanische Tiersymbolik und Namengebung, in: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968), 202–217; Ders., Studien zu den theriophoren Personennamen der Germanen (Niederdeutsche Studien 17), Köln/Wien 1970; Schramm 1957, 77–83; Ders. 2013, 67–73; Wolfgang Haubrichs, Tierische Identitäten. Zur symbolischen Kommunikation in Namen des frühen Mittelalters, in: Judith Klinger/Andreas Kraß (edd.), Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2017c, 229–254, 281–284, hier 244f. 47 Opus imperfectum in Matthaeum, ed. Jacques-Paul Migne, in: Patrologiae cursus completus (Series Graeca 56), Paris 1862, 601–946, hier 626f. Vgl. Hermann Josef Vogt, Opus imperfectum in Matthaeum, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), 1422; Joop van Banning/Franz Mali, Opus imperfectum in Matthaeum, in: Theologische Realenzyklopädie 25 (1995), 304– 307.
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Intentionen gab«). Gerade für die Elite wird aber eine doppelte Bedeutsamkeit unterstellt. Es heißt im Anschluss: Dei autem providentia, sicut et omnium regum nomina, secundum actus eorum proprio dispensavit nomine, sive in bono, sive in malo (»Die Vorsehung Gottes aber gestaltete auch hier den Namen, wie sie die Namen aller Könige nach ihren [künftigen] Taten vergab, sei es im guten, sei es im schlechten Sinne«). In den Namen wirke – so der Kommentar – der Wille und der Wunsch der Väter, aber auch die Providenz Gottes. Bei Amos, dem alttestamentarischen Sohn des Manasse, heißt es: qui interpretatur fortitudo (»der ›Stärke‹ bedeutet«). Der Autor hält dafür, dass Amos den Namen von seinem Vater wegen des Wunsches nach körperlicher Stärke des Sohnes erhielt: vocaverit eum fortitudinem […] causa audaciae corporalis (»er nannte ihn ›Stärke‹ […] wegen seiner [erwünschten] physischen Disposition zur Kühnheit«). Und dann folgt eine Notiz über die Namengebung der ›barbarischen‹ (sicherlich germanischen) Völker: Sicut solent et barbarae gentes nomina filiis imponere ad devastationem respicientia bestiarum ferarum, vel rapacium volucrum, gloriosum putantes filios tales habere, ad bellum idoneos, et insanientes in sanguinem (»So haben auch die ›barbarischen‹ Völker den Brauch, ihren Söhnen auf Verwüstung gerichtete Namen zu verleihen, Namen nämlich von wilden Tieren oder Raubvögeln, indem sie es für rühmlich halten, so geartete Söhne zu haben, die für den Krieg geeignet und wie toll in ihrer Blutgier sind«). Die Namen, die die Lexeme von Wolf, Hund, Eber, Bär, Adler und Rabe enthalten, fallen sämtlich unter diese Kategorie. Erst danach erörtert der Kommentar die Vorsehung Gottes (providentia Dei), die Amos den Namen vielleicht wegen seiner in späteren Taten offenbar werdenden ›bösen Kraft‹ (fortitudo maligna) zuwies. Sehr deutlich wird in diesem gut informierten donauländischen MatthäusKommentar, dass den germanischen Namen Bedeutung, in diesem Fall explizit kriegerische, aggressive Bedeutung zuzuschreiben ist, dass sie wie selbstverständlich als bedeutungstragend angesehen werden und dass sich in ihnen Wünsche der Eltern ausdrückten.48 Zurück zur sprachlichen Struktur der Namengebung: Wie wir schon sahen, liegt auch in der Generationenfolge des ›Hildebrandsliedes‹ eine solche von Stabreim und Variation geprägte, um das Bild des *branda-, des ›flammenden Schwertes‹, zentrierte heroische Namengebung vor: Heri-brand (›Heer48 Vgl. zur semantischen Qualität der germanischen Personennamen Wolfgang Haubrichs, Veriloquium Nominis. Zur Namenexegese im frühen Mittelalter, in: Hans Fromm/Wolfgang Harms/Uwe Ruberg (edd.), Verbum et Signum. Festschrift für Friedrich Ohly, Bd. 1, München 1975, 231–266; Wolfgang Haubrichs, Namendeutung im europäischen Mittelalter, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 1, Berlin/New York 1995b, 351–360.
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Schwert‹), Hilde-brand (›Kampf-Schwert‹), Hadu-brand (›Streit-Schwert‹). Es ist gerade den Techniken der Variation und der Alliteration zu verdanken, dass die verwandtschaftlichen Bindungen von Menschen den Zeitgenossen zumindest für die Oberschicht (ahd. irmin-deot ›Groß-Volk‹) durchsichtig werden konnten, so wie es die bekannte Stelle eben des ›Hildebrandsliedes‹ (v. 8–13) in den Worten des Protagonisten ausdrückt:49 […] fohem uuortum, fireo in folche, ibu du mi enan sages, chind, in chunincriche
her fragen gistuont wer sin fater wari ›eddo welihhes cnuosles du sis. ik mi de odre uuet, chud ist mir al irmindeot‹.
»Er begann zu fragen mit kargen Worten, wer sein Vater wäre, unter den Menschen im Volke, ›oder welchen Geschlechtes bist du? Wenn du mir einen nennst, weiß ich die andern schon, Jüngling: kund ist mir alles Großvolk im Königreich‹.«
Die Passagen aus ›Hildebrandslied‹ und ›Beowulf‹ scheinen ›nur‹ literarische Beispiele zu sein. Aber abgesehen davon, dass zumindest den Skyldingen auch eine dänische außerliterarische Realität entspricht, wird gerade an den literarischen Genealogien deutlich, wie man sich die Konstruktion von Verwandtschaft und Genealogie als Performanz, als Instrument der Außendarstellung von Familie und Gesellschaft vorstellte. Bleiben wir für ein weiteres, diesmal nichtliterarisches Beispiel bei der onomastischen Funktion des Stabreims:50 Im fünften Jahrhundert begegnet, erst am Rhein, dann an der Rhône, die burgundische Königsfamilie der Gibichungen, die sich auf einen sonst nicht näher fassbaren (sprachlich ostgermanischen) Spitzenahn Gibica (›Geber, Spender, der Freigebige‹) zurückführt und in Rechtstradition und Heldensage Spuren bis ins dreizehnte Jahrhundert und darüber hinaus hinterlassen hat (siehe Abbildung 4): Godo-mar (›durch seine Güte bzw. Qualität berühmt, illustris‹) oder Gundo-mar (›im Kampf berühmt‹), Gisla-har (Pfeil- bzw. Speer-Krieger‹), Gundi-har (›Kampf-Heerkrieger‹), Gundo-wech (›Kampf-Krieger‹), Gundo-bad (›Kampf-Streiter‹), Godi-gisel (›guter Pfeil bzw. Speer‹), Gisla-had (›Speer- bzw. Pfeil-Kämpfer‹). Es ist deutlich zu sehen, wie nahe die Namen auch in ihrer Semantik beieinander im Wortfeld von Krieg, Waffen und Kriegsruhm stehen. Auf einem Trierer Grabstein des späten 4. oder frühen 5. Jahrhundert erscheint übrigens fragmentarisch eine weitere Königssippe mit dem kaiserlichen Leibwächter (protector domenicus) namens Hariulfus, Sohn des Hanhavaldus
49 Vgl. Anm. 14. 50 Vgl. Kaiser 2004, 26–37, 176–205.
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Gibica ------------------------------- -----Godo-mar I.
Gisla-har .........
Chilpe-rich I.
Gundo-bad I.
Sigis-mund
Sigi-rich
(Gu[n]d-run)
Gundi-har
Gundo-wech
Godi-gisel .......
Godo-mar III. N.
Tochter ∞ Theuderich I.
Chilpe-rich II.
Crona = Runa Sede-leuba
Gisla-had ........
Godo-mar II.
Chrode-child ∞ Chlodwig
Gundo-bad II.
Abbildung 4: Die Dynastie der burgundischen Gibichungen (5./6. Jh.)
regalis gentis Burgundionum, samt seinem Onkel Reudilo (< Hreud-ilo?), anscheinend ebenfalls mit Stabreim ausgezeichnet, diesmal mit H-Stabreim.51 Der direkte biologische Zusammenhang zwischen den älteren, rheinischen (1./2. Generation) und den jüngeren Gibichungen ist nicht ganz klar, aber letzten Endes angesichts der Berufung des Burgundenkönigs Gundo-bad (›KampfStreiter‹) auf die namentlich genannten antecessores im Königsamt im burgundischen Rechtsbuch des ›Liber Constitutionum‹ (517) doch gesichert.52 Es fällt dabei auf, dass neben dem Stabreim auch die Variation, ja volle Nachbenennung eine bedeutsame Rolle spielen: *gisla- ›Pfeil‹ (3x), *gôda- ›gut‹ (3x) und vor allem *gundi- ›Kampf‹ (5x), wobei das letztere Element auch in der merowingischen Deszendenz der burgundischen Könige aufgenommen wird.53 Die intergentile germanische Heldensage hat die Tradition der burgundischen Könige auf G
51 Kaiser 2004, 24. 52 Vgl. Wolfgang Haubrichs, Ein namhaftes Volk – Burgundische Namen und Sprache des 5. und 6. Jahrhunderts, in: Volker Gallé (ed.), Die Burgunder. Ethnogenese und Assimilation eines Volkes. Dokumentation des 6. Wissenschaftlichen Symposiums der Nibelungengesellschaft Worms e. V. und der Stadt Worms vom 21. bis 24. September 2006 (Schriftenreihe der Nibelungengesellschaft Worms e. V. 5), Worms 2008, 135–184, hier 156–158. 53 Vgl. Eugen Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus, in: Francia 18 (1991), 21–69, hier 42f., 56 Nr. 21, 57 Nr. 23, 57f. Nr. 26.
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Wolfgang Haubrichs
bewahrt und verbreitet:54 Das nach Attila benannte ›Alte Atlilied‹ der ›Edda‹, das auf eine niederdeutsche Vorlage des 9./10. Jahrhunderts zurückgeht, kennt Giúki (d. i. Gib-icha) mit seinem Sohn und König Gunnar (d. i. Gunda-har), das altnordische ›Sigurdlied‹ auch den zweiten Sohn Gothormr ( d. i. Gundo-mar). Das mittelhochdeutsche ›Nibelungenlied‹ (um 1200/10) hat als Burgundenkönige zu Worms am Rhein die Brüder Gunther und Giselher und den dazu, aber mit GStabreim, neu erfundenen Gêr-nôt, die ›Walther-Sage‹ kennt Gibicho und seinen Sohn Gunther. Der altenglische ›Widsith‹ (8. Jahrhundert) nennt Gificha, Gislhere und Gudhere.
Rezeption von Namen und Namenelementen in verwandten Familien Wie es zu erwarten war, wurden die Techniken der Verwandtschaftsindikation durch Variation, Stabreimbindung und später Nachbenennung in den Familien und Sippen der Herrschaftsträger, besonders in den stirpes regiae, politisch instrumentalisiert.55 Onomastische Kontinuitäten, schon zu sehen an der burgundischen Königssippe, wurden benutzt zur Identitätsbildung und zur Sichtbarmachung politischer, verwandtschaftsgestützter Koalitionen. Ein erstes Beispiel: Die politische Allianz zwischen dem langobardischen Königsgeschlecht der Gausen (langobardische Form für ›Gauten‹), welches das oben bereits erwähnte der Lethinge ablöste und mit Audoin († um 560) die Expansion der Langobarden nach Pannonien vollzog,56 und dem Merowinger Chlothar I. (511–561) wurde auch onomastisch deutlich gemacht (siehe Abbildung 5):57 In beiden Familien war die Namenvariation Praxis. Der Gause Audoin < germ. *Auda-wini- (›Freund des Reichtums, des Glücks‹) gab das Zweitelement germ. *winiz ›Freund‹58 seines Namens an seinen Sohn Alboin < germ. *Alb-wini- (›Freund der Alben, Elfen‹) weiter. Chlot-har (511–561) < germ. *Hluda-harja- (›Ruhm-Krieger‹), Sohn des Chlod-wig (›Ruhm-Kämpfer‹), gab sein traditionelles Erstelement an die Tochter Chlot-swinda (›RuhmStärke‹) weiter.59 Sie wird als Garantin der langobardisch-fränkischen Allianz 54 Haubrichs 1995a, 92f. 55 Vgl. theoretisch zur ›policy of naming‹ Barbara Bodenhorn, »Entangled in Histories«: An Introduction to the Anthropology of Names and Naming, in: Dies./Gabriele vom Bruck (edd.), The Anthropology of Names and Naming, Cambridge 2006, 1–30, hier 11–13. 56 Jarnut 1982, 22–26; Menghin 1985, 33–38. 57 Ewig 1991, 53, 55. 58 Kaufmann 1968, 404–406; Orel 2003, 455. 59 Vgl. zu germ. *swintha-, got. swinths ›stark, ungestüm‹ Kaufmann 1968, 336–368; Orel 2003, 394f.; Kluge/Seebold 2011, 353.
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Gattin Alboins. Die gemeinsame Tochter erhält den programmatischen Namen Alp-swinda < *Alb(a)-swintha- (›Alben-Stärke‹), wobei man sich dabei offensichtlich noch des dämonischen Wesens des mythischen Geschlechts der Alben bewusst war. Audoin rex
∞ Alboin rex †572
Rodelinda ∞
Chlotari rex -----Chlotswinda -------
Alpswinda Abbildung 5: Die Allianz zwischen den langobardischen Gausen und dem fränkischen König Chlothar I. (511–561)
Wie sehr den Angehörigen der herrschenden Familien die Bedeutung ihrer Namengebung bewusst war, zeigt eine Taufepisode, die Gregor von Tours berichtet und die an den eben genannten Merowingerkönig Chlothar I. anknüpft und ihn mit seinem gleichnamigen Enkel (584–629) verbindet.60 Als König Gunthram 591 seinen schon siebenjährigen Neffen, Sohn des Chilperich und der Fredegunde, in einer hochpolitischen Aktion zu Nanterre bei Paris aus der Taufe hebt und damit zu seinem filius spiritualis macht, wird eine doppelte Semantisierung des Namens in eigener Formel betrieben, die gewiss abgesprochen war, da der Knabe seinen Namen Chlot-har schon längst (inoffiziell) trug:61 Post haec autem legatos ad Gunthchramnum regem mittit, dicens: ›Proficiscatur dominus meus rex usque Parisius, et arcessitu filio meo, nepote suo, iubeat eum baptismatis gratia consecrare; ipsumque de sancto lavacro exceptum, tamquam alumnum proprium habere dignetur‹. Haec audiens rex, commotis episcopis, id est / Aetherium Lugdonensim, Siacrium Agustidunensim Flavumque Cavillonensim vel reliquis, quos voluit, Parisius accedere iubet, indecans se postmodum secuturum. Fuerunt etiam ad hoc placitum multi de regno eius tam domestici quam comites ad praeparanda regalis expensae necessaria. Rex autem, deliberatione acta, ut ad haec deberet accedere, pedum est dolore prohibitus. Postquam autem convaluit, accessit Parisius, exinde ad Rotoialinsim villam ipsius urbis properans, evocato puero, iussit baptisterium praeparari in vico Nemptudoro […].
60 Vgl. Jörg Jarnut, Nobilis non vilis, cuius nomen et genus scitur, in: Dieter Geuenich/ Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 116–126, hier 122; Haubrichs 2004, 88f. 61 Gregor von Tours, Historiarum libri decem, ed. Rudolf Buchner (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters 3), Bd. 2, Darmstadt 1974, 390–393.
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Et haec / dicens, legatis discedentibus, rex accedens ad lavacrum sanctum, obtulit puerum ad baptizandum. Quem excipiens, Chlotharium vocitari voluit, dicens: ›Crescat puer et huius sit nominis exsecutur ac tale potentia polleat, sicut ille quondam, cuius nomen indeptus est‹. Quod misterium celebratum, invitatum ad epulum parvolum multis muneribus honoravit. Similiter et rex ab eodem invitatus, plerisque donis refertus abscessit et ad Cavillonensim urbem redire statuit. »Danach schickte sie [Fredegunde] Gesandte an König Gunthramn und sprach: ›Möchte doch mein königlicher Herr nach Paris kommen, meinen Sohn, seinen Neffen, zu sich nehmen und ihn durch das Sakrament der Taufe weihen lassen; und möchte es ihm gefallen, ihn selbst aus dem heiligen Taufbad zu heben und ihn wie seinen Pflegesohn zu halten‹. Als dies der König vernahm, ließ er die Bischöfe Aetherius von Lyon, Syagrius von Autun, Flavius von Chalon und andere, die er hierzu erwählte, aufbrechen und nach Paris gehen; er sagte, er selbst werde alsbald folgen. Es waren auch zu diesem Hoftag viele Große aus seinem Reich erschienen, Hofbeamte und Grafen, um alles Notwendige für die königliche Hofhaltung vorzubereiten. Der König wurde aber, als er schon den Entschluss gefasst hatte, zu der Beratung abzureisen, durch ein Fußübel abgehalten. Als er jedoch hergestellt war, ging er nach Paris und begab sich von dort sofort nach dem Hof von Rueil in dem Gebiet dieser Stadt, ließ den Knaben kommen und befahl, alles in dem Dorfe Nanterre zur Taufe zu rüsten […]. Der König […] trat zu dem heiligen Taufwasser und bot den Knaben zur Taufe dar. Und als er ihn heraushob, ließ er ihn Chlothar nennen und sprach: ›Es gedeihe der Knabe und mache dereinst wahr, was sein Name besagt; auch blühe er in solcher Fülle der Macht, wie einst der, dessen Namen er erhalten hat‹. Nachdem das Sakrament gefeiert worden war, lud er das Knäblein zu Tische und ehrte ihn mit zahlreichen Geschenken. In gleicher Weise wurde auch von diesem der König wieder zum Mahle geladen und ging dann davon, mit reichen Geschenken bedacht, und beschloss zur Stadt Chalon zurückzukehren.«
Das Rituelle der Szene ist überdeutlich: Offizialität und Öffentlichkeit wird durch die Ladung zahlreicher Bischöfe (aus Burgund) und vieler Hofbeamter und comites hergestellt. Die Zeremonie wird höfisch abgeschlossen durch die gegenseitige Einladung zum Mahle und den Austausch reicher Geschenke. Der Name des Täuflings aber wird geradezu wie in einer Zauberformel behandelt, indem er auf die Fülle der Macht des Vorbildes, des Reichseinigers Chlothar I. (seit 558), zugleich des avus, explizit wie in einer historiola (›Vorbilderzählung‹) hingewiesen wird. Noch davor aber wird die appellative Bedeutung des Namens Chlothar < germ. *Hluda-harjaz (›ruhmreicher Heerkrieger‹) beschworen, die der Knabe wahrmachen solle, eine Bedeutung, die wiederum nur aus dem sowohl formalen wie semantischen auf ›Krieg‹ und ›Ruhm‹ bezogenen Geflecht der frühen Merowingernamen verständlich wird: z. B. Chlodio < *Hlud-jôn zu germ. *hlutha-, *hluda- ›hörbar, berühmt‹ (mit der romanischen Wiedergabe von germ. [hl] durch ); Chlodo-vechus < *Hlud(o)-wîhaz zu germ. *hluda- + germ. *wîhan ›kämpfen‹; Chlodo-meres < *Hlud(o)-mêrja zu germ. *hluda- + germ. *mêrja- (›berühmt, bekannt, illustris‹) usw. In seiner doppelten Semantik, die
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das Wesen des großväterlichen Vorbildes und den Inhalt des Namens zugleich offenlegt, repräsentiert der Taufakt Chlothars II. eine wahre Nachbenennung. Ein zweites Beispiel: Neben dem fränkisch-merowingischen Namengut ist auch das burgundische onomastische Erbe in der merowingischen Dynastie rezipiert worden, allerdings auf nicht ganz so einfache Weise (siehe Abbildung 6).62 Sehr deutlich ist, dass die Chlodwig-Familie das burgundische Namengut, vermittelt durch Chilperichs Tochter Chrodechild, die Gemahlin Chlodwigs, nicht unmittelbar aufnahm, sondern vielmehr das merowingische Namenerbe Chlodios und Childerichs, des Großvaters und Vaters Chlodwigs, mit den Namenelementen *hluda- ›berühmt, laut‹, *hildi- ›Kampf‹ und *mêrja- ›berühmt, illustris‹. Erst in der Enkelgeneration der Großmutter Chrodechild erscheinen in Nachbenennung der Name des Urgroßvaters Chilperich und zwei Mal das gibichungische Kenn-Element *gundi- ›Kampf‹, aber dieses in erstaunlicher Ausprägung – mit dem Namen des unglücklichen, von des Aetius Hunnen seinerzeit vernichteten Vorzeitkönigs Gund-hari / Gunther, der wohl längst durch die Heldensage heroisiert war, aber in der burgundischen stirps regalis auffällig gemieden worden war; dazu die Neukreation Gunt-hram < *Gund-hrabna(›Kampf-Rabe‹); schließlich der unglückliche Thronprätendent Gund-oald < *Gund-walda- (›Kampf-Herrscher‹) des Jahres 582.63 Die in Burgund aktualen Namen Gundo-bad und Gundo-wech werden ihrerseits bei den Merowingern zunächst nicht vergeben. Dennoch ist zu fragen, ob nicht die Anknüpfung an das Namengut der Gibichungen erst in der zweiten Generation auf die zunehmenden Hoffnungen des Frankenreiches auf Burgund, die 534 zum Erfolg führten, zurückgeht. Es ist übrigens Gunthram, der 561 das Erbe der Burgunden in ihrem regnum antritt.64
62 Vgl. Ewig 1991, 56 Nr. 21; 57f. Nr. 23f. und 26; 60 Nr. 34. 63 Gregor von Tours, Historiarum libri decem, VII, 14, 106; 35f., 138; 38, 146; IX, 28, 278. Vgl. dazu Ulrich Nonn, »Ballomeris quidam«. Ein merowingischer Prätendent des VI. Jahrhunderts, in: Ewald Könsgen (ed.), Arbor amoena comis. 25 Jahre Mittellateinisches Seminar in Bonn 1965–1990, Stuttgart 1990, 35–39; Ewig 1991, 62f. Nr. 44; Bernard S. Bachrach, The Anatomy of a Little War. A Diplomatic and Military History of the Gundovald Affair (568– 586), San Francisco/Oxford 1994; Constantin Zuckerman, Qui a rappelé en Gaule le Ballomer Gondowald?, in: Francia 25 (1998), 1–18; Haubrichs 2004, 91. 64 Vgl. Ewig 1991, 60 Nr. 34: Gunthram hat dann um 548 auch einen Sohn mit dem bis dahin gemiedenen Namen Gundo-bad.
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Wolfgang Haubrichs Chilperich II. (†493) rex Burgundionum Chlodwig (†511)
Theuderich I. (†534)
∞
Chlodo-mer (†524)
Chrode-child
Childebert (†558)
Chlot-hari (†561)
Sigibert I. (†575)
Chilperich I. (†584)
Gunt-hari
Charibert (†567)
Gunt-hram (†592)
Abbildung 6: Burgundisches Namengut bei den Merowingern des 6. Jahrhunderts
Onomastische Publizistik Am Ende soll an einem quellenmäßig gut belegten Fall gezeigt werden, wie eine Familie – es ist kein Einzelfall65 – Namengebung als Instrument politischer Programmatik und Publizistik für das eigene Ethnos und die eigene Dynastie nutzt: Es handelt sich um die Familie des Ostgotenkönigs Theoderichs des Großen. In ihr wurden ethnozentrische, an das Volk gebundene Namen und stirpozentrische, an Sippe und Familie gebundene Namen programmatisch vergeben. Ethnozentrische Namen werden zum ersten Mal von Theoderich selbst vergeben,66 nämlich bei zwei Töchtern, die hochrangig verheiratet werden: Ostrogotho ›die Ostgotin‹, wird 494 Gattin des späteren burgundischen Königs Sigismund;67 Thiudi-goto ›die Volks-Gotin‹, Halbschwester der Vorgenannten, wurde 65 Vgl. Haubrichs 2005, 86–91; Ders. 2014, 46–53. 66 Wolfgang Haubrichs, Krieg, Volk und Verwandtschaft. Zur Struktur und kulturellen Signifikanz ostgotischer Frauennamen, Archiv für Kulturgeschichte 99 (2017b), 297–339, hier 337–339. 67 Reichert 1987, 538; Haubrichs 2017b, 311f. Nr. 19. Um 250 wird ein (auch in der AmalerGenealogie Cassiodors erwähnter) gotischer Stammesführer mit Namen Ostro-gotha im Zusammenhang mit dem Fall von Philippopolis (Plovdiv, BG) genannt. Vgl. Jana Gruskovà/ Gunther Martin, Ein neues Textstück aus den ›Scythica Vindobonensia‹ zu den Ereignissen nach der Eroberung von Philippopolis, in: Tyche 29 (2014), 29–43; Herwig Wolfram, Ostrogotha – Realität und Mythos, in: Geistes-, sozial-, und kulturwissenschaftlicher Anzeiger. Zeitschrift der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 153 (2018), 93–100. Hier könnte es sich freilich noch um einen Prunknamen im Sinne von ›Glanz-Gote‹ handeln.
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im gleichen Jahr 494 mit dem wisigotischen König Alarich II. vermählt.68 Vermutlich eine Tochter des burgundischen Königs Sigismund (516–523) und der Ostrogotho ist die (im Namen morphologisch bereits frankisierte) Suave-got(t)a ›der Abstammung nach Gotin‹, die 522 mit dem Frankenkönig Theuderich I. (511–534) verheiratet wird.69 Die ethnozentrische Namengebung wird also auch am burgundischen Hof noch eine Generation fortgeführt. Sie erfährt auch eine gewisse Nachfolge im sechsten und siebten Jahrhundert bei den gotischen Schwestervölkern der Gepiden und Wisigoten: Vulthro-gotho, Ultro-gotho ›Ruhm-Gotin‹, Gattin des Frankenkönigs Childebert I. (511–558), entweder gotischer oder wisigotischer Herkunft;70 Austri-gusa < *Austro-guto ›Ost-Gotin‹, gepidische Königstochter, Gattin des langobardischen Königs Wacho (†540);71 Oustri-gothos, Sohn des Gepidenkönigs Elemundos (zu 552);72 Liubi-goto (›geliebte Gotin‹), Gattin des wisigotischen Königs Ervigius (680–687).73 Auffällig ist auch, dass die ethnozentrischen Namen zunächst in herausgehobenen sozialen Kontexten, in Königs- und Fürstenhäusern auftauchten, dann aber vor allem Frauen betreffen, die damit in den ja durchweg politisch motivierten Heiratsbündnissen der Zeit auch in fremder Umgebung die ethnische Signifikanz ihrer Herkunft aufrechterhalten konnten. Dieser Typus ethnischer Namengebung beginnt im Königshaus der Amaler und – da die beiden Töchter bereits 494 verheiratet wurden – noch vor dem Italienzug Theoderichs von 489, wahrscheinlich noch in der Zeit seines Föderatenstatus an der unteren Donau und seiner Ernennung zum Patricius und Reichsfeldherrn Ostroms (ab 476). Es drückt sich in der ethnischen Namengebung ein gesteigertes Selbstbewusstsein der Austrogoti aus, das sich noch in Italien in der sowohl rechtlich-urkundlichen wie liturgischen und kommunikativ-politischen Bedeutung der gotischen Sprache als Element gotischer Identität fortsetzte.74 Stirpozentrische, auf die eigene königliche Familie bezogene Namengebung beginnt bei den Amalern noch früher, wohl in der Elterngeneration Theoderichs. Eine jüngere Schwester Theoderichs hieß Amala-frida (›den Frieden der Amaler 68 Reichert 1987, 664; Haubrichs 2017b, 315f. Nr. 37. 69 Norbert Wagner, Suavegotta und Caretena. Namenkundlich-genealogische Untersuchungen zu zwei Frauen der burgundischen Königsdynastie, in: Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 41 (2006) 29–36; Haubrichs 2017b, 314 Nr. 29. 70 Reichert 1987, 736; Haubrichs 2017b, 317 Nr. 44. 71 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, ed. Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [48]), Hannover 1878, I, 21, 68; Paulus Diaconus, Geschichte der Langobarden. Historia Langobardorum, ed. u. übers. Wolfgang F. Schwarz, Darmstadt 2009, 134, 351. Vgl. Jarnut 1982, 21; Menghin 1985, 32f. 72 Reichert 1987, 739; Haubrichs 2012, 48 Nr. 5. 73 Reichert 1987, 471; Haubrichs 2012, 48 Nr. 6. 74 Vgl. Haubrichs 2012, 48f.
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bewahrend‹), ca. 470–525, Mutter des Theodahad75 und der Amala-berga (›Schutz der Amaler‹), seit 500 in zweiter Ehe verheiratet mit dem wandalischen König Thrasamund, nach dessen Ableben (523) sie ebenfalls bald den Tod fand.76 Amalaberga, Nichte Theoderichs, wurde wiederum mit dem thüringischen König (H)Erminafrid vermählt. Eher unsicher ist, dass die wohl als Dedikantin auf einem Grabsteinfragment aus Genazzano bei Palestrina (I, Lazio) mit an römische Gewohnheiten angelehntem mehrgliedrigem Namen genannte, sicherlich dem Amaler-Hause angehörige Fl(avia) Amala Amalafrida Theodenanda c(larissima) f(emina) mit der Schwester Theoderichs identisch ist.77 Sie dürfte eher eine nach der Großmutter benannte Tochter des amalischen Königs Theodahad (534–536) darstellen.78 Bemerkenswert ist aber auf alle Fälle die Hervorhebung der stirps Amala im Namen – unmittelbar nach dem die Zugehörigkeit zum Königshaus signalisierenden Titel Flavia. Theoderich selbst hatte eine Tochter mit Namen Amala-swintha (›stark wie eine Amalerin‹),79 die 515 mit dem wisigotischen König Eutharicus verheiratet wurde, aus welcher Ehe der spätere König Athalricus und die den Namen der Mutter variierende Mata-swintha entstammten.80 Das stirpozentrische Konzept der Namengebung wurde schließlich auch in der Ehe der obgenannten Thiudigoto und Alarichs II. mit dem Sohn Amala-ricus (›Herrscher der Amaler‹) aufgenommen, der 526–531 als Enkel Theoderichs König der Wisigoten wurde.81 Das Namen-Erstelement *theuda- ›Volk, gens‹ ist gewiss bei allen germanischen gentes häufig anzutreffen, doch ist sein starker und besonderer Gebrauch in der stirps der Amaler auffällig: Schon in der Vatergeneration Theoderichs schaltete König Thiudi-mir ›der im Volke Berühmte‹ (468/69–474) von der Variation des Namenelementes *mêrja-, spätostgermanisch *mir- (›berühmt, illustris‹) – seine Brüder hießen Wala-mir und Widi-mir – auf die Variation des ihm eigenen *theuda- um: Seine Söhne hießen auf Gotisch durchaus komplementär Thiudi-reiks ›Herrscher des Volks‹ und Thiudi-mund ›Schützer des Volks‹;82 die Schwester Theoderichs Amalfrida nannte einen Sohn Theoda-had 75 76 77 78
79 80 81 82
Reichert 1987, 39; Haubrichs 2017b, 308 Nr. 5. Reichert 1987, 39; Haubrichs 2017b, 308 Nr. 4. Reichert 1987, 39; Haubrichs 2017b, 308 Nr. 3. John R. Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire, Bd. 3, Cambridge 1992, 1236; Franz Xaver Zimmermann, Der Grabstein der ostgotischen Königstochter Amalafrida Theodenanda in Gennazano bei Rom, in: Beiträge zur älteren europäischen Kulturgeschichte. Festschrift für Rudolf Egger, Bd. 2, Klagenfurt 1953, 330–354 (nach dem Autor identisch mit Theodenanda, Gattin des Ebremud: vgl. Anm. 84). Reichert 1987, 41–43; Haubrichs 2017b, 309 Nr. 6. Reichert 1987, 495–497; Haubrichs 2017b, 311 Nr. 18. Reichert 1987, 40; vgl. Herwig Wolfram, Die Goten und ihre Geschichte (Beck Wissen 2179), München 2001, 94, 101. Reichert 1987, 692f., 695f.; vgl. Wolfram 2001, 73f.
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›Kämpfer für das Volk‹. Ein weiterer Amaler und Vetter Amalrichs hieß Theudegisil ›Speer, Pfeil des Volkes‹;83 schließlich gehören hierhin die schon genannte Tochter Theoderichs mit Namen Thiudi-goto und die drei (oder zwei) Frauen, die den Namen Theode-nantha ›die im Volke Kühne‹ trugen,84 einmal als Beinamen der Amalafrida auf dem Grabstein von Genazzano, dann die Tochter des Königs Theodahad und weiter die wohl ebenfalls 566 eine Amalerprinzessin repräsentierende Theodenanda der Grabinschrift von San Pietro a Corte zu Salerno (I, Campania). Man findet also im Hause der Amaler seit der Elterngeneration Theoderichs eine programmatische, auf Außenwirkung bedachte Namengebung, welche den ethnischen Zentralbegriff *theuda- ›Volk‹ in den Vordergrund stellte, dann das Geschlecht der Amaler onomastisch inkludierte und mit Theoderich die Gotizität des Hauses mit den Namen Ostro-goto, Thiudi-goto und Suave-got(t)a ausdrücklich signalisierte. Dieses exklusive Namenprogramm wurde ganz wesentlich von den weiblichen Mitgliedern des Hauses getragen. Mit diesem bedeutsamen Fall von politischer Instrumentalisierung familiärer Namengebung möge dieser Beitrag über Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität im frühen Mittelalter schließen.
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Wolfgang Haubrichs
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Namen als Instrumente der Sicherung von Herrschaft und Identität
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Wolfgang Haubrichs
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Dieter Geuenich
Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen
Abstract After general remarks on the meaning of personal names in the early Middle Ages, this article shows examples which demonstrate that in nobility and dynasties there was a link between the choice of a name and a programmatical entitlement to succession. This could be signaled by ›Nachbenennung‹ (›Leitnamen‹), name variation or even by a name change, which, for the most part, was given programmatical meaning. The tradition of giving monks and nuns monastic names at their admission to the monastery, was not common yet during the Middle Ages. On the other hand, epithets appear quite often in historical tradition.
Dass Personennamen im Mittelalter – besonders in der Zeit der Einnamigkeit im frühen Mittelalter – bewusst gewählt und oftmals in programmatischer Absicht vergeben worden sind, ist hinlänglich bekannt und in einschlägigen Untersuchungen schon des Öfteren dargestellt worden.1 Unterschiedliche Gründe, wie 1 Vgl. etwa Hans-Walter Klewitz, Namengebung und Sippenbewußtsein in den deutschen Königsfamilien des 10. bis 12. Jahrhunderts. Grundfragen historischer Genealogie, in: Archiv für Urkundenforschung 18 (1944), 23–37; Adolf Bach, Deutsche Namenkunde, Bd. I/2: Die deutschen Personennamen, 3. Auflage, Heidelberg 1978, 64–67, (§ 328–333) mit weiterer Literatur; Karl Schmid, Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel. Vorfragen zum Thema »Adel und Herrschaft« im Mittelalter, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 105 (1957), 1–62 (ND in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 183– 244, mit weiteren zum Thema wichtigen Beiträgen von Karl Schmid); Gertrud Thoma, Namensänderungen in Herrscherfamilien des mittelalterlichen Europa (Münchener Historische Studien. Abteilung Mittelalterliche Geschichte 3), Kallmünz 1985; Gerd Althoff, Namengebung und adliges Selbstverständnis, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft der Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 127–139; Dieter Geuenich, Personennamengebung und Personennamengebrauch im Frühmittelalter, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer Grundwissenschaftliche Forschungen 3 = Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 31–46, hier 40–42; Christof Rolker/Gabriela Signori (edd.), Konkurrierende Zugehörigkeit(en). Praktiken der Namengebung im europäischen Vergleich (Spätmittelalterstudien 2),
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Dieter Geuenich
Nachbenennung,2 Namenvariation,3 Leitnamen4 und später dann die Vorbilder der Heiligen,5 konnten für die Namenwahl und Namengebung maßgeblich sein. Im Folgenden wird versucht, die verschiedenen Motive für die Namengebung an ausgesuchten Beispielen zu erhellen und, wenn möglich, systematisch zu ordnen. Nach allgemeiner Auffassung wurde der Name im Frühmittelalter bei der Geburt oder der Taufe des Kindes festgelegt.6 Wenn wir also die Gründe für die
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Konstanz 2011; darin u. a. Christof Rolker, Patenschaft und Namengebung im späten Mittelalter, 17–38. Vgl. Karl August Eckhardt, Die Nachbenennung in den Königshäusern der Goten, in: Südostforschungen 14 (1955), 34–55; Friedrich von Klocke, Die Filiation, ihre Konjektur und Injektur, insbesondere mit Rufnamen als »Nachbenennung« im Personenkreis der Familie früherer Zeit, in: Familie und Volk. Zeitschrift für Genealogie 3 (1955), 130–137, 168–171, 202– 204; Wilfried Seibicke, Die Personennamen im Deutschen (Sammlung Göschen 2218), Berlin/ New York 1982, 117–119; Ders., Traditionen der Vornamengebung. Motivationen, Vorbilder, Moden: Germanisch, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1207–1214, hier 1208; Michael Mitterauer, Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters, in: Ferdinand Seibt (ed.), Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, Bd. 1, München 1988, 386–399 (ND in: Michael Mitterauer, Traditionen der Namengebung. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet, Wien/Köln/Weimar 2011, 73–90); Ders., Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993, 367–403 – kritisch dazu die Rezension von Thomas Frank, in: Archiv für Kulturgeschichte 81 (1999), 237–242, besonders 240f.; Matthias Becher, Die Nachbenennung bei den Merowingern zwischen familiärem Selbstverständnis und politischer Instrumentalisierung, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 43–57. Seibicke 1982, 125f.; Hans Werner Goetz, Zur Namengebung bäuerlicher Schichten im Frühmittelalter. Untersuchungen und Berechnungen anhand des Polyptychons von SaintGermain-des-Prés, in: Francia 15 (1987), 852–877; Ders., Zur Namengebung in der alamannischen Grundbesitzerschicht der Karolingerzeit, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 133, Neue Folge 94 (1985), 1–41; Dieter Geuenich, Personennamen und die frühmittelalterliche Familie/Sippe/Dynastie, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1723–1725. Vgl. Karl Schmid, Über die Struktur des Adels im früheren Mittelalter, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 19 (1959), 1–23, hier 13 (ND in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 245–267); Wilhelm Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Fühungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jh., Bd. 1, Stuttgart 1973, 29–69; Dieter Geuenich, Personennamen als Personengruppennamen, in: Proceedings of the 13th International Congress of Onomastic Sciences, Cracow August 21th – 23th, Krakau 1981, 437–445, besonders 442. Vgl. Edmund Nied, Heiligenverehrung und Namengebung. Sprach- und kulturgeschichtlich. Mit Berücksichtigung der Familennamen, Freiburg 1924; Klaus-Walter Littger, Studien zum Auftreten der Heiligennamen im Rheinland (Münstersche Mittelalter-Schriften 20), München 1975; Mitterauer 1993, besonders 330–367. Vgl. Bernhard Jussen, Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 98), Göttingen 1991, 238–242 (mit Hinweis auf Gregor von Tours, Jonas von Bobbio, Missale Gallicanum etc.); Rolker 2011, 17. – Vgl. jedoch unten bei Anm. 52 und Anm. 98.
Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen
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Namenwahl und Namengebung ermitteln wollen, müssen wir in der schriftlichen Überlieferung nach Quellen suchen, die darüber Auskunft geben. Das besondere Augenmerk ist dabei auf Namen zu richten, die Eltern oder Taufpaten dem Kind in programmatischer Absicht gegeben haben, mit dem Motiv also, dass der Name dem Kind als ›Programm‹ für dessen weiteren Lebensweg dienen und diese Absicht für alle sichtbar werden sollte. »Der Akt der Namengebung« wird nach Michael Mitterauer »in vielen Kulturen als die eigentliche soziale Geburt des Menschen aufgefasst [und] definiert die Rolle, die das Kind in seiner Umwelt einnimmt, entwirft ein Programm für seine Zukunft, konzipiert seine Identität.«7 Von diesen Namen zu trennen sind Beinamen, die meist erst im späteren Alter zum Geburts- oder Taufnamen hinzutraten und diesen dauerhaft verdrängen konnten. Da die Beinamen ebenfalls in programmatischer Bedeutung vergeben werden konnten, wird darauf im letzten Abschnitt noch einzugehen sein.
1.
Zur »Bedeutung« der Personennamen im Mittelalter
Die ursprüngliche Bedeutung der Namen, die den Kindern in archaischen Zeiten bei der Namengebung, möglicherweise als Heilswunsch in dichterischer Sagweise,8 mit auf den Weg gegeben wurden, wird in den folgenden Ausführungen kaum eine Rolle spielen. Denn für die Wahl des Namens und die damit verbundene programmatische Bedeutung war die ursprüngliche appellativische Bedeutung der Namen im Mittelalter kaum mehr relevant. Für die Benennung eines Kindes war die semantische Bedeutung des Namens offenbar unwichtig
7 Michael Mitterauer, Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel »heiliger Namen«, in: Edith Saurer (ed.), Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religiöser Mentalitäten (L’homme, Schriften 1), Wien 1995, 47–74 (ND in: Michael Mitterauer, Traditionen der Namengebung. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet, Wien/Köln/Weimar 2011, 45–72, Zitat 45f.); vgl. Jörg Jarnut, Nobilis non vilis, cuius nomen et genus scitur, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 116–126, Zitat 126. 8 Edward Schröder, Die deutschen Personennamen, in: Ludwig Wolff (ed.), Deutsche Namenkunde. Gesammelte Aufsätze zur Kunde deutscher Personen- und Ortsnamen, 2. Auflage, Göttingen 1944, 8: »der Name selbst war ein konzentrierter poetischer Heilwunsch«; Gottfried Schramm, Namenschatz und Dichtersprache. Studien zu den zweigliedrigen Personennamen der Germanen (Ergänzungshefte zur Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiet der indogermanischen Sprache 15), Göttingen 1957, 56: »Sagweisen«, »Heilswünsche«; wieder aufgegriffen in: Ders., Zweigliedrige Personennamen der Germanen. Ein Bildetyp als gebrochener Widerschein früher Heldenlieder (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 82), Berlin/Boston 2013, 5f.
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Dieter Geuenich
geworden,9 und es war ohne Belang, dass beispielsweise Brun(o) »der Braune« bedeutet, dass Welf die Bezeichnung für einen »jungen Hund« ist oder dass Georg, griech. γεωργός, »Bauer« bedeutet. Ähnliches gilt offensichtlich auch für die alten zweigliedrigen Namen: Soweit wir die Namengebungsakte und deren Begründung in den Schriftquellen erfassen können, war es nicht mehr von Belang, ob ein Name wie Sieg-fried als Kopulativ-Kompositum (Dvandva) »Sieg und Friede« oder als DeterminativKompositum »Siegesfriede« (Tatpurusha) zu deuten und zu verstehen ist.10 Denn die Semantik der Namen, die appellativische Bedeutung, die den Namen und Namenwörtern ursprünglich einmal zukam, spielt in den mittelalterlichen Quellen für die Weitergabe der Namen innerhalb von Familien, in Herrscherdynastien und Adelshäusern bis hin zu den Namen von Mönchen und Nonnen – bis auf wenige Ausnahmen, auf die einzugehen sein wird, – ganz offenbar keine Rolle: Brun(o) ist als »geistlicher Leitname der Ottonen und mit ihnen verwandter Familien« von programmatischer Bedeutung,11 Welf als Leitname der Welfen,12 Georg als Name des Heiligen13 als Vorbild, und für die Wahl des Namens Siegfried war allenfalls das Vorbild des Helden aus der Nibelungensage maßgeblich, nicht aber die Etymologie: »Sieg und Friede«. Lediglich in den Beinamen, die meist erst den Erwachsenen, gelegentlich aber auch schon dem Kleinkind beigegeben wurden, spielte die appellativische Bedeutung eine Rolle.14 Die Personennamen wurden, soweit uns die Schriftquellen Einblick in die Motivation der Namengebung gewähren, im Mittelalter nicht mehr – oder nur in seltenen Fällen – auf Grund der etymologischen Bedeutung der Namen und Namenelemente vergeben. Manchmal wurde allerdings in den Quellen nachträglich »etymologisiert«; aber die Bedeutung von ahd. wolf »Wolf« (in Wolfhart, Rudolf usw.) oder ahd. ra¯t »Rat« (in Ratolf, Hartrat usw.) oder auch von ahd. sigu »Sieg« und ahd. fridu »Friede« (im Kompositum Sigfrid) war, soweit die 9 Vgl. bereits Max Gottschald, Die deutschen Personennamen (Sammlung Göschen 422), Berlin 1955, 8; Ernst Schwarz, Alte und neue Fragen der deutschen Personennamenforschung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 17 (1967), 13–25, zum »Sinngehalt der alten zweigliedrigen PN«: 13; Max Gottschald, Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen nach ihrer Entstehung und Bedeutung, 4. Auflage, ed. Rudolf Schützeichel, Berlin 1971, 48f. 10 Vgl. dazu Schröder 1944, 4f. und Schramm 1957, 45f. 11 Vgl. Mitterauer 1993, 473 (Anm. 335): »Bruno, […] geistlicher Leitname der Ottonen und mit ihnen verwandter Familien« mit Hinweis auf Littger 1975, 253: »[…] dieser Name war seit Erzbischof Brun von Köln als Name für Kleriker aus dem Liudolfingischen Haus festgelegt«. Dazu bereits Klewitz 1944, 35–37; zuletzt Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000, 21. 12 Vgl. Bernd Schneidmüller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (Urban-Taschenbücher 465), Stuttgart/Berlin/Köln 2000, 23. 13 Littger 1975, 275. 14 Vgl. unten Abschnitt 6.
Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen
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Schriftquellen darüber Auskunft geben, im Mittelalter kein Motiv für die Namengebung. Eher dürften Vorbilder für die Namenwahl beziehungsweise die Namengebung maßgeblich gewesen sein. Die ursprüngliche Bedeutung der Namen und Namenglieder kann auch schon deshalb für die Vergabe und Weitergabe der Personennamen keine maßgebliche Rolle gespielt haben, weil selbst die Gelehrten und Schriftsteller des 8. und 9. Jahrhunderts die Etymologie der Namen und Namenglieder offenbar nicht mehr zutreffend zu erkennen vermochten. Denn die überlieferten Beispiele zeigen, dass sie deren ursprünglichen Wortsinn nicht mehr verstanden oder – was in unserem Zusammenhang ebenso aussagekräftig wäre – bewusst anders interpretierten und etymologisierten. Der Abt Smaragd von Saint Mihiel († um 830) beispielsweise schrieb dem Namenzweitglied -mir, das in der Schreibung -ma¯r, »berühmt«, in Namen wie Waldemar, Volkmar, Thietmar usw. vorkommt, die Bedeutung von lat. mihi zu: Altmir = vetulus mihi; Rainmir = nitidus mihi.15 Das Zweitglied –munt, das die Bedeutung »Schutz, Beschützer« – wie heute noch in Vor-mund – hat, übersetzte er gewissermaßen »volksetymologisch« mit lat. bucca »Mund«.16 Den Sachverstand der heutigen Germanisten und Namenforscher besaßen die karolingischen Gelehrten offenbar nicht. Der Fuldaer Abt Hrabanus Maurus († 856) übersetzte den Namen Fridu-rih mit lat. ulciscere pactum »räche den Frieden«,17 vermutete also im Namenbestandteil -rı¯h(h)i, »reich/Reich, Macht/mächtig«, das Verbum ahd. rehhan »rächen«. Den Ortsnamen der karolingischen Pfalz Ingelheim am Rhein verstand Richer von Reims in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts als angelorum domus »Engel-heim«.18 Die programmatische Bedeutung der Namen, die im Folgenden in den Blick gerückt wird, ist also nicht im Wortsinn der Namen zu suchen und daraus abzuleiten, auch wenn dieser in Namen wie Bruno, Welf oder Sieg-fried – durchaus noch erkennbar und ›verstehbar‹ war. 15 Hans Ferdinand Massmann, Gotthica Minora 11: Smaragdus, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 1 (1841), 388–393, hier 388. Vgl. Willy Sanders, Die Anfänge wortkundlichen Denkens im deutschen Mittelalter, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 88 (1969), 57–68, hier 63f.; Ders., Zur deutschen Volksetymologie, in: Niederdeutsches Wort 15 (1975), 1–5, hier 2f. Für Sanders »ergibt sich, speziell im Blick auf den onomastischen Bereich, daß schon in der karolingischen Epoche das alte Namengut kaum noch verstanden wurde«. 16 Wie Anm. 15. 17 Hrabani Mauri Carmina XVII: Ad Friduricum episcopum, ed. Ernst Dümmler, in: Monumenta Germaniae Historica. Poetae Latini aevi Carolini 2, Berlin 1884 (ND Berlin 1999), 181f., Vers 23, 182. Vgl. Sanders 1969, Sanders 1975 und Wolfgang Haubrichs, Namendeutung im europäischen Mittelalter, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 1, Berlin/New York 1995, 351–360 (mit weiteren Beispielen), hier 353. 18 Richer von Saint-Remi, Historiae, ed. Hartmut Hoffmann (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 38), Hannover 2000, II, cap. 69, 148, Zeile 6: […] in palatio Angelheim, quod interpretatur angelorum domus […]. Vgl. Bach 1978, I/2. 9f. (§ 238); Sanders 1975, 2.
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Dieter Geuenich
Benennung der Nachfolger im Amt/in der Herrschaft
Pippin der Jüngere nannte seinen 748 geborenen Sohn Karl, und dies wohl kaum wegen der bis heute umstrittenen Etymologie und appellativischen Bedeutung des Namens Karl,19 sondern – in programmatischer Absicht – in Erinnerung an seinen Vater Karl Martell, den Großvater Karls des Großen. Damit wollte Pippin »signalisieren, daß sein Sohn gleichsam in die Fußstapfen des großen Hausmeiers treten würde, und reklamierte damit dessen Ansehen für sich«20. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass, vor allem in den Herrscher- und Adelsdynastien, den Söhnen bestimmte Personennamen in ebendieser programmatischen Absicht gegeben worden sind. Besonders augenfällig ist dies bei den auf die Karolinger folgenden Ottonen, die den Söhnen, die für die Nachfolge im Herrscheramt vorgesehen waren, den Leitnamen »Otto« gegeben haben. So ist Otto II. schon 961, zu Lebzeiten seines Vaters Otto I., zum Mitkönig gewählt und seit 967 als Mitkaiser an der Herrschaft beteiligt worden. Otto II. wiederum ließ seinen Sohn Otto III. 983 schon als Dreijährigen in Verona zum König wählen. Die Bedeutung des Leitnamens Otto für die Ottonen und der mit diesem Namen verbundene Anspruch auf die Sukzession im Königsamt sind hinlänglich bekannt.21
3.
Namengebung in der Familientradition
3.1
Großvater – Enkel
Als dem Salier Heinrich III. (1039–1056) am 11. November 1050 der ersehnte Sohn und präsumtive Nachfolger geboren wurde, nannten ihn die Eltern zunächst nach dem Großvater Konrad,22 so, wie Pippin der Jüngere seinen Sohn nach dem Großvater, Karl Martell, auf den Namen Karl hatte taufen lassen. Die Benennung nach dem Großvater war von alters her eine oft praktizierte Möglichkeit programmatischer Namengebung. Sie ist in vielen Kulturen verbreitet23 und wird bis heute noch in traditionsbewussten Familien praktiziert. 19 Vgl. bereits Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Leipzig 1873, 218; Henning Kaufmann, Untersuchungen zu altdeutschen Rufnamen, München 1965, 215–217; zuletzt Matthias Becher, Karl der Große, München 1999, 42. 20 Becher 1999, 42. 21 Vgl. Althoff 2000; Keller 2001. 22 Klewitz 1944, 31; zu den Saliern: Egon Boshof, Die Salier, Stuutgart/Berlin/Köln/Mainz 1987, 161f.; Johannes Laudage, Die Salier. Das erste deutsche Königshaus, München 2006, 46–48. 23 Vgl. Mitterauer 1993, 391f.; Ders. 1988, besonders 397–399; Wolfgang Haubrichs, Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den ›germanischen‹ gentes:
Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen
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Dahinter steht der Gedanke: Der Großvater (ahd. ano) lebt im Enkel (mhd. eninkel, »der wiedergekommene Ahn«24) fort. Bei der vergleichsweise geringeren Lebenserwartung im Mittelalter lagen der Tod des Großvaters und die Geburt des Enkels nahe beieinander, so dass die Vorstellung, dass der Großvater im Enkel wiedergeboren wird oder in ihm fortlebt, verständlich ist. Die Eltern, Heinrich III. und Agnes von Poitou, wählten also 1050 für ihren erstgeborenen Sohn den Namen des Großvaters, des ersten Salierkönigs Konrad II. (1024–1039). Dass dieser bereits 1039 gestorben war, dürfte für die Weitergabe des Namens an den Enkel nicht unwichtig gewesen sein.25 Noch am Weihnachtsfest 1050 ließ der kaiserliche Vater die anwesenden Großen dem noch ungetauften Sohn die Treue schwören. Am Osterfest 1051 vollzog Erzbischof Hermann in Köln die Taufe. Abt Hugo von Cluny übernahm die Patenschaft; er war es auch, der für die Umbenennung des Kindes in Heinrich, den Namen des Vaters, plädierte und sich damit auch durchsetzte.26 Bereits als Dreijähriger wurde der Sohn, der nun nach dem Vater auf den Namen Heinrich getauft war, im Jahre 1053 in der Königspfalz Trebur zum König gewählt und ein Jahr später in Aachen zum König gekrönt und geweiht. Anders als bei der Benennung nach dem Großvater ergab es sich nun, dass gleichzeitig zwei Familienmitglieder den Namen Heinrich trugen. Vater und Sohn waren aber als König und Mitkönig unterschieden. Damit wurde Heinrich – und nicht Konrad – zum programmatischen Dynastie-Namen der Salier. Denn auch Heinrich IV. (1056–1106) nannte seinen erstgeborenen Sohn Heinrich und den zweitgeborenen Konrad. Da der erstgeborene Heinrich bereits 1071 als Kind starb, ließ der König 1075 seinen zweitältesten Sohn mit dem Namen Konrad als Zweijährigen zum Mitkönig wählen. Nach dessen Abfall vom Vater gelang es ihm im Jahre 1099, den jüngeren Bruder, der wieder den Namen Heinrich trug, zum Mitkönig wählen zu lassen. Mit diesem, mit Heinrich V. (1106–1125), endete dann bekanntlich die Sukzessionsreihe der Salier.27 Auf die Politik und die Krisen der Salier in der Herrschaftsweitergabe vom Vater auf den Sohn ist hier nicht weiter einzugehen; im vorliegenden Zusammenhang geht es nur um die programmatische Bedeutung, die mit den Namen
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Traditionen – Innovationen – Differenzen, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (edd.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000) (Ergänzungsbände zum Relallexikon der germanischen Altertumskunde 90), Berlin/Boston 2014, 29–72. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 21. Auflage, Berlin/ New York 1975, 166. Dazu ausführlich und kritisch Wolfgang Haubrichs, Die Erfindung der Enkel. Germanische und deutsche Terminologie der Verwandtschaft und der Generationen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 120 (2000), 41–80, besonders 71f. Zur Problematik der Benennung nach Lebenden Mitterauer 1988, 386–394. Boshof 1987, 161f. Boshof 1987, 338–341 (»Stammtafel der Salier«).
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der Söhne Heinrich bzw. Konrad zweifellos verbunden war. Die Leitnamen Welf bei den Welfen28 oder Bertold bei den Zähringern29 sowie die Bedeutung des Namens Salomo in der Abfolge der miteinander verwandten Bischöfe von Konstanz30 sind hinlänglich bekannt, so dass auf die Leitnamen als im Sinne der Herrschafts- oder Amtssukzession wichtige programmatische Vorherbestimmungen nicht weiter einzugehen ist. In allen diesen Fällen erweist sich die etymologische Bedeutung der Personennamen ohne Belang; das gilt für Otto, Heinrich, Konrad, Bertold, Salomo und auch für Welf. Die appellativische Bedeutung des Welfennamens war durchaus bekannt und ist in der Geschichtsschreibung dementsprechend erörtert worden. In der ›Historia Welforum‹ wurde sogar behauptet, dass »dieser Name […] von einem vornehmen Römer Catilina auf Grund von Blutsverwandtschaft auf dieses Geschlecht übergegangen«31 sei. Aber nicht die etymologische Bedeutung (catulus hat ebenso wie welf die Bedeutung »junger Hund, Welpe«32) war bestimmend für die Weitergabe des Namens in der Familie, sondern das Signal des Namens für das Fortleben der Dynastie im jeweils nächsten Träger des Namens – etymologisiert wurde in den Genealogiae und Chroniken erst nachträglich. Insofern ist es müßig, etwa nach der Bedeutung der Namen Konrad und Heinrich oder der Namenglieder kuon-rad, hein-rich usw. zu fragen. Die Zeit, in der die Eltern ihrem Kind im Namen einen Heilswunsch mit auf den Weg gaben, war im Mittelalter, dem unsere Beispiele entnommen sind, längst vorüber. Das gilt vermutlich auch bereits für die Merowinger- und die Karolingerzeit. Dass die Namen der Merowingerkönige Chlodwig und Chlothar von den Karolingern als Ludwig und Lothar wieder aufgenommen und an Königssöhne vergeben wur-
28 Dazu zuletzt: Matthias Becher, Der Name ›Welf‹ zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung, in: Dieter R. Bauer/Matthias Becher (edd.), Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, München 2004, 157–198 (mit Quellen und Literatur). 29 Thomas Zotz, Die Zähringer. Dynastie und Herrschaft, Stuttgart 2018, nennt (39 u. ö.) die Zähringer: »Familie der Bertolde«. 30 Zu den Konstanzer Bischöfen aus dem »Haus der Salomone«: Karl Schmid, Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußtsein in frühmittelalterlichen Gedenkbucheinträgen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 21 (1965), 65–69, besonders 69 mit Anm. 180. 31 Genealogia Welforum, ed. Erich König, in: Historia Welforum (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1,1), 2. Auflage, Sigmaringen 1978, 76–81, hier 78f.: Quod nomen […] a Romano nobilissimo Catilina in hanc prosapiam sanguinis ratione descenderit. Vgl. Schneidmüller 2000, 23; Becher 2004, 168f. (zur Entstehung der ›Historia Welforum‹) und ab 180 (zum Catilina-Mythos). 32 Kluge 1975, 850f.; Schneidmüller 2000, 16; Becher 2014, besonders 162f.
Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen
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den,33 ist bezeichnend und wichtig; nicht aber die etymologische Bedeutung der Namen oder Namenbestandteile *hlud-,*-wig und *-hari.
3.2
Namenvariation
Als Vorbilder der Namengebung dienten die Namen der Ahnen, mit denen die Nachgeborenen gekennzeichnet, ausgezeichnet und in eine Traditionsreihe gestellt wurden. In der Merowingerzeit konnten die Familien- und Dynastiezugehörigkeit, und damit auch dynastische Ansprüche, durch Variation der Namenelemente zum Ausdruck gebracht werden. Als bekanntestes und vielzitiertes Beispiel kann hier das Hildebrandslied mit den Namen Heribrant, Hiltibrant und Hadubrant, den Namen von Großvater, Vater und Sohn bzw. Enkel, angeführt werden. Die Namengebungstradition wird in den drei Namen sowohl durch Alliteration (im H- bzw. Ch-Anlaut) als auch durch die Wiederkehr des Zweitgliedes -brant in allen drei Generationen betont. Und so ist die Aufforderung des Vaters an den Sohn zu verstehen, seinen Namen oder den seines Vaters zu nennen: ıbu du mı enan sages, ık mı de odre uuet, chınd, ın chunıncrıche: »Wenn Du mir nur einen (Namen) aus Deiner Familie nennst, weiß ich schon, wer die andern sind, die Angehörigen im Stammesverband«.34 Die Namen im Hildebrandslied weisen, auch wenn das Liedfragment erst in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts aufgezeichnet worden ist, auf die Namengebung der Frühzeit zurück.35 Die Namen sind insofern ›Programm‹, als sie die Benannten als Familienangehörige kenntlich machen und zu erkennen geben. Die Bedeutung der Namen und Namenelemente steht auch hier nicht im Vordergrund, wenngleich alle drei Namen erkennbar dem Wortfeld »Kampf und Krieg«36 angehören. Eugen Ewig und Matthias Becher haben an zahlreichen Beispielen der Namengebung bei den frühen Frankenkönigen auf das Mittel der Namenvariation aufmerksam gemacht.37 Der Hinweis auf die mehrfache Wiederkehr des ersten 33 Dazu unten mit Anm. 51. 34 Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, ed. Elias von Steinmeyer, 2. Auflage, Berlin/Zürich 1963, 2. Übersetzung: Althochdeutsche Literatur, ed. Horst Dieter Schlosser, Frankfurt a. M./Hamburg 1970, 265. 35 Vgl. Elvira Glaser, Hildebrand und Hildebrandslied, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 14, Berlin/New York 1999, 556–561; Horst Dieter Schlosser, Hildebrandslied, in: Lexikon der Mittelalters 5 (1991), 12f. ( jeweils mit weiterer Literatur). 36 Vgl. Christa Jochum-Godglück, Seltene germanische Personennamen im Frühmittelalter, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 21–42, Zitat 22 (mit Hinweis auf die vorgängige Literatur). 37 Eugen Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus. Mit genealogischen Karten und Notizen, in: Francia 18 (1991), 21–96 (ND in:
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Namenbestandteiles der Merowinger (Mero38, Merowech) in den Namen Richomeres, Theudomeres, Marcomeres oder der Zweitglieder -gastes in Nebigastes, Arbogastes, -baudes in Genobaudes, Mallobaudes sowie -vech in Merovechus, Chlodovechus mag hier genügen.39 Die Variation der Namenglieder, das heißt die Wiederverwendung von Bestandteilen der Elternnamen bei der Benennung der Kinder, die familiengebundene Namengebung, die aus einem begrenzten Vorrat von Namenwörtern schöpft, und das Mittel der Alliteration boten hinreichend Möglichkeiten, den Familienzusammenhang erkennen zu lassen.40 Zuletzt haben Hans Werner Goetz und Wolfgang Haubrichs am Beispiel der Namen aus dem Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés und vergleichbarer Namenbestände aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts gezeigt, dass das Mittel der Variation der Namenglieder im romanischen Sprachraum sogar noch im frühen 9. Jahrhundert zur Kennzeichnung von Familienzusammenhängen genutzt wurde.41 Diese Möglichkeiten familialer Namenbindung wurden bereits Jahrhunderte vorher genutzt; die Tradition der Namenvariation konnte aber auch schon damals durch die Benennung nach besonderen Vorbildern durchbrochen werden. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts berichtet der Schriftsteller Ammianus Marcellinus von einem Alemannenkönig Mederich und dessen Sohn Agenarich. Am übereinstimmenden zweiten Namenbestandteil -rich sind Vater und Sohn als solche erkennbar. In den ›Res gestae‹ schreibt Ammian, der König Mederich habe seinen Sohn, »der eigentlich (genitalo uocabulo) Agenarich hieß«, entgegen der Familientradition umbenannt.42 Nachdem er in Gallien den griechisch-ägypti-
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Ders., Spätantikes und Fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften [1974–2007], ed. Matthias Becher/Theo Kölzer/Ulrich Nonn [Beihefte der Francia 3/3], Bd. 3, Ostfildern 2009a, 163– 211); Ders., Die fränkischen Königskataloge und der Aufstieg der Karolinger, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 61 (1995), 1–28 (ND in: Ders., Spätantikes und Fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften [1974–2007], ed. Matthias Becher/Theo Kölzer/ Ulrich Nonn [Beihefte der Francia 3/3], Bd. 3, Ostfildern 2009b, 259–287); Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merwowinger und das Ende der antiken Welt, München 2011, 113–115; Ders. 2014, 43–57. Zu diesem »mythischen Ahn« Mero Ewig 2009a, 169. Ewig 2009a, 164f.; Becher 2014, 46f. Schmid 1957, 51 [233]. Dort auch der oft zitierte Hinweis auf Klewitz 1944, 26, dass in der Zeit der Einnamigkeit »der Name als Bestandteil der mit ihm benannten Person Vor- und Sippenname zugleich war«. Wolfgang Haubrichs/Hans-Werner Goetz, Namenentwicklung und Namengebung in Ober- und Unterschichten des frühen 9. Jahrhunderts in der Île-de-France, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 110–204. Bei den dort zitierten Beispielen ist besonders deutlich, dass die ursprüngliche appellativische Bedeutung der Namenelemente keine Rolle spielte. Ammianus Marcellinus, Rervm gestarvm libri qvi svpersvnt, auszugsweise mit deutscher Übersetzung in: Quellen zur Geschichte der Alamannen von Cassius Dio bis Ammianus Marcellinus, ed. Camilla Dirlmeier/Gunther Gottlieb (Quellen zur Geschichte der Ala-
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schen Serapis-Kult kennen und schätzen gelernt habe, sei der Sohn, der zuvor Agenarich hieß, vom Vater nach dem Gott Serapis/Sarapis in Serapio umbenannt worden.43 Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass, bereits im 4. Jahrhundert, nicht die semantische Bedeutung des Namens für die Benennung des Sohnes maßgeblich war, sondern entweder die Familientradition (durch einen Namen auf -rich) oder die Benennung nach einem Vorbild – hier nach dem Gott des SerapisKultes, von dem der Vater offenbar ergriffen war. Im Namen des Sohnes wurde die traditionelle Familiennamengebung zugunsten der Benennung nach einem Vorbild aufgegeben. Ähnlich wie die spätere Namengebung nach christlichen Heiligen dürfte auch diese Umbenennung in programmatischer Absicht des Vaters erfolgt sein.
4.
Programmatische Umbenennungen
Gertrud Thoma hat in ihrer Studie zu den Namenänderungen in Herrscherfamilien des Europäischen Mittelalters gezeigt, dass die Umbenennungen unterschiedliche Gründe haben konnten.44 Bei den Namenänderungen in den Herrscherdynastien liegt aber stets der Verdacht einer politischen oder dynastischen Motivation nahe, und damit eine programmatische Absicht. Dies gilt beispielsweise für die Umbenennung, die im Umfeld der Königskrönung Rudolfs von Habsburg am 24. Oktober 1273 in Aachen vollzogen wurde. Sowohl Rudolfs Gemahlin Gertrud von Hohenberg als auch die nach ihrer Mutter benannte Tochter Gertrud änderten damals ihre Namen und hießen fortan Anna beziehungsweise Agnes.45 Sie übernahmen damit die Namen der beiden verstorbenen Schwestern des letzten Zähringerherzogs Bertold V., und Thomas Zotz vermutet
mannen I, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Kommission für Alamannische Altertumskunde 1), Sigmaringen 1976, 32–87, hier 49: Serapio […] ideo sic appellatus, quod pater eius diu obsidatus pignore tentus in Galliis, doctusque Graeca quaedam arcana, hunc filium suum, Agenarichum genitali uocabulo dictitatum, ad Serapionis transtulit. Vgl. Dieter Geuenich, Geschichte der Alemannen (Urban Taschenbücher 575), 2. Auflage, Stuttgart/ Berlin/Köln 2005, 43–46. 43 Zum Serapis-Kult: Hans Wolfgang Helck, Sarapis, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike 4 (1979), 1549. 44 Thoma 1985, 2–4, auch mit Kritik an Littger 1975, 254–258. 45 Thoma 1985, 204–206.Vgl. Dieter Mertens, Die Habsburger als Nachfahren und Vorfahren der Zähringer, in: Karl Schmid (ed.), Die Zähringer. Eine Tradition und ihre Erforschung (Veröffentlichungen zur Zähringer-Ausstellung I), Sigmaringen 1986, 151–174, hier 157 mit Hinweis auf zwei vor 1281 geboreneTöchter Albrechts, des ältesten Sohnes Rudolfs I., »die er – zähringisch – Anna und Agnes nannte«.
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mit guten Gründen, dass Rudolf selbst diese Umbenennungen veranlasst hat, um damit »Ansprüche auf das zähringische Erbe am Oberrhein« zu erheben.46 Diesen im Blick auf die dynastischen Interessen der Habsburger zweifellos programmatischen Namenänderungen im 13. Jahrhundert soll ein Beispiel aus der frühen Karolingerzeit im 8. Jahrhundert an die Seite gestellt werden: die in mehrfacher Hinsicht interessengeleitete Umbenennung eines Sohnes Karls der Großen.47 Gemeint ist der Namenwechsel Karlmanns, des zweiten Sohnes Karls aus der Ehe mit Hildegard. Karls erster Sohn aus der später hinsichtlich der Gültigkeit umstrittenen Ehe mit Himiltrud48 war nach Karls Vater, der zwei Jahre (768) zuvor gestorben war, Pippin49 genannt worden. Der zweite Sohn, Karl der Jüngere – der erste Sohn aus der Ehe mit Hildegard – trug des Vaters Namen, der zugleich der Name von Karls des Großen Großvater Karl Martell war. Der 777 geborene Karlmann, um dessen Umbenennung es im Folgenden geht, hatte seinen Namen Karlmann entweder nach Karls Onkel, dem 754 als Mönch gestorbenen Bruder Pippins des Jüngeren, oder nach dem 771 gestorbenen jüngeren Bruder Karls erhalten,50 was angesichts des angespannten Verhältnisses Karls zu diesem allerdings verwunderlich wäre. Noch erstaunlicher ist es aber, dass der kleine Karlmann fast vier Jahre ungetauft blieb, während seine beiden 778 geborenen Zwillingsbrüder Ludwig und Lothar, denen die Merowinger-Namen Chlodwig und Chlothar gegeben wurden,51 schon unmittelbar nach ihrer Geburt getauft worden sind. Karlmanns 46 Zotz 2018, 193. 47 Thoma 1985, 77–83 (mit Diskussion der vorgängigen Literatur); Bernd Schneidmüller, Pippin (Karlmann), Kg. v. Italien 781–810, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), 2171; Rudolf Schieffer, Die Karolinger (Urban Taschenbücher 411), Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 81; Peter Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 36), Bd. 3, Göttingen 1972, 109–134, besonders 118; Dieter Geuenich, Pippin, König von Italien (781–810), in: Hans Rudolf Sennhauser (ed.), Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Grossen. Kloster St. Johann in Müstair und Churrätien (Acta Müstair, Kloster St. Johann 3), Zürich 2013, 111–124. 48 Vgl. Karl Schmid, Heirat, Familienfolge, Geschechterbewusstsein, in: Il matrimonio nella società altomedievale (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 24), Spoleto 1977, 103–137, hier 110–114 (ND in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 388–423); Silvia Konecny, Die Frauen des karolingischen Königshauses. Die politische Bedeutung der Ehe und die Stellung der Frau in der fränkischen Herrscherfamilie vom 7. bis zum 10. Jahrhundert (Dissertationen der Universität Wien 132), Wien 1976, 65f. 49 Zu Pippin dem Buckligen: Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 44), Hannover 1997, 144–149. 50 Dazu und zum Folgenden: Claassen 1972, 115–121; Hägermann 2000, 178; zuletzt: Geuenich 2013, 114 (mit weiterer Literatur). 51 Zu dieser Namengebung Jörg Jarnut, Chlodwig und Chlothar. Anmerkungen zu den Namen zweier Söhne Karls des Großen, in: Francia 12 (1984), 645–651 (mit einem Exkurs: Das Datum
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Abbildung 1: Stammtafel der frühen Karolinger (Auszug mit den im Text erwähnten Familienmitgliedern)
Taufe sollte, so hatte es König Karl mit Papst Hadrian vereinbart, durch den Papst am Osterfest in Rom erfolgen; sie musste aber drei Jahre, jedes Mal wegen anderer Ereignisse, verschoben werden.52 Als Karl dann Ende 780 endlich nach Rom ziehen konnte, nahm er seine Gemahlin Hildegard, seinen zweijährigen Sohn Ludwig und den älteren, aber noch ungetauften Karlmann mit. Am 15. April 781 feierten sie mit Papst Hadrian das Osterfest in Rom.53 Am Vortag, am Karsamstag, wurde Karlmann, an dessen Taufe und Patenschaft der Papst und der König »wie an einer besonderen Bestimmung«54 festgehalten hatten, von Papst Hadrian in feierlicher Liturgie unter dem Namen Pippin aus der Taufe gehoben: Et ibi baptizatus est domnus Pippinus […] ab Adriano papa, qui et ipse eum de sacro fonte suscepit.55 Für den Namenwechsel von Karlmann zu Pippin sind viele Gründe vermutet und erörtert worden. Dass der Papst damit auch »seine hohe Autorität […] in die
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der Geburt und der Taufe Chlodwigs und Chlothars, 650f.) (ND in: Ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, ed. Matthias Becher, Münster 2002, 247–253, Exkurs: 252f.); Becher 1999, 61. Siehe außerdem in den Beiträgen von Matthias Becher, 140–144, und Laury Sarti, 160f., in diesem Band. Der Name Karlmann ist also in diesem Falle kein Taufname, sondern muss dem Knaben bei oder nach der Geburt gegeben worden sein. Die verallgemeinernde Aussage von Rolker 2011, 17: »Mittelalterliche Namen waren Taufnamen« ist also keineswegs selbstverständlich und »trivial«. Annales regni Francorum, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [6]), Hannover 1895 (ND Hannover 1950), ad a. 781, 56. Angenendt 1980, 72. Annales regni Francorum, ad a. 781, 56.
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Waagschale« warf, um den aus der Verbindung mit Himiltrud hervorgegangenen Pippin den Buckligen, wie er in den Quellen wegen seines körperlichen Defekts genannt wird,56 »aus der Reihe der vollbürtigen Kinder Karls zu verdrängen«, mag einer der Gründe sein.57 Bekanntlich wurde dieser älteste Karlssohn Pippin der Bucklige nach einer Rebellion, die allerdings erst elf Jahre später (792) stattfand, in das Kloster Prüm verbannt, wo er 811 gestorben ist.58 Bis zu diesem Zeitpunkt gab es also offenbar zwei Karlssöhne mit dem gleichen Namen Pippin – eine völlig ungewöhnliche Namen-Parallelität,59 die den später erfolgten Ausschluss Pippins des Buckligen von der Thronfolge bereits andeutete und dessen Auflehnung – oder die Rebellion der Kreise, die ihn benutzten, – verständlich macht. Der am Osterfest 781 in Rom erfolgte Namenwechsel dürfte aber vor allem darin seinen Grund haben, dass der Name Pippin als Programm gelten konnte und für den Papst gelten musste.60 27 Jahre zuvor – im Jahre 754 – hatten Karls Vater Pippin und Papst Stephan II. in Quierzy gemeinsam das Osterfest gefeiert.61 Damals war der Papst nach Quierzy gekommen, um Pippins Hilfe gegen die Langobarden zu erbitten. Dabei wurde eine erste compaternitas, eine »geistliche Verwandtschaft«, zwischen Papst und König vereinbart.62 Pippin wurde in Ponthion zum König gesalbt, und diese Salbung wurde damals auf die Königssöhne Karl und Karlmann ausgedehnt. Die in Quierzy getroffenen Vereinbarungen führten aber auch zu Pippins Langobarden-Feldzügen und letztlich zur sogenannten Pippinischen Schenkung, die den Kirchenstaat begründete. Nun, am Osterfest 781, sollte der ›neue‹ Pippin dieses Versprechen einlösen, und folgerichtig wurde er zwei Tage nach seiner Taufe und Umbenennung vom Papst
56 In Einhardi vita Karoli Magni, ed. Rudolf Buchner (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 5), Darmstadt 1968, 163–253, 190f. wird Pippin »schön von Angesicht, aber bucklig« (facie uqidem pulcher, sed gibbo deformans) bezeichnet. Vgl. Kasten 1997, 141–149; Hägermann, 2000, 179–183. 57 Schieffer 1992, 81 (Zitat). Für Hägermann 2000, 180 lag »der eigentliche Grund zur Ausschaltung des Knaben […] in dessen offenbar immer deutlicher zutage tretenden Mißgestaltung«. Zur »langsamen Verdrängung« Pippins Classen 1972, 118–121. 58 Dazu ausführlich Classen 1972, 118–120; Hägermann 2000, 322–326; Schieffer 1992, 87. 59 Vgl. Classen 1972, 109–134, 115: »[…] gleiche Namen bei Brüdern kennen die Franken sonst nicht.« 60 Bernd Schneidmüller 1993, 2171 vermutet, dass die Anregung zur Namensänderung vom Papst ausging. Ähnlich Thoma 1985, 77–83 (mit Quellen und Literatur). 61 Vgl. Jörg Jarnut, Quierzy und Rom. Bemerkungen zu den »promissiones donationis« Pippins und Karls, in: Historische Zeitschrift 220 (1975), 265–297 (ND in: Ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, ed. Matthias Becher, Münster 2002, 201–233). 62 Arnold Angenendt, Das geistliche Bündnis der Päpste mit den Karolingern, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980), 1–94, besonders 70–90.
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in regem super Italiam gesalbt, während sein Bruder Ludwig gleichzeitig die Salbung als König über Aquitanien erhielt.63 Unabhängig davon, ob die Umbenennung und Taufe auf den Namen Pippin primär die Verdrängung Pippins des Buckligen aus der Herrschaftsnachfolge zum Ziel hatte oder ob es der Wunsch des Papstes war, an die Vereinbarungen Pippins zu Quierzy im Jahre 754 zu erinnern und deren Einlösung zu fordern, oder ob es Karl primär um die Zuteilung Italiens an Pippin und Aquitaniens an Ludwig den Frommen ging, oder ob alle drei Gründe zugleich maßgeblich waren: Es dürfte sich 781 zweifellos um eine programmatische Umbenennung gehandelt haben. Aus Anlass dieser feierlichen Taufe in Rom und um das Gedächtnis an dieses Ereignis wachzuhalten, hat das Königspaar Karl und Hildegard damals das berühmte Godescalc-Evangelistar in Auftrag gegeben, wie das Widmungsgedicht am Ende der Handschrift64 angibt: Hoc opus eximium Franchorum scribere Carlus Rex pius, ergregia Hildgarda cum coniuge, iussit.65
Dieses früheste Zeugnis der Hofschule,66 nach Wattenbach-Levison ein »Wunderwerk der Kalligraphie«,67 das nach Hermann Fillitz »an einer entscheidenden Wende der abendländischen Kultur« steht,68 weist zu Beginn sechs ganzseitige Miniaturen auf. In der vom Königspaar in Auftrag gegebenen Handschrift findet sich nach den vier Evangelisten und der Maiestas Domini ein künstlerisch gestalteter Lebensbrunnen (fons vitae). Auf der gegenüberliegenden rechten Seite ist mit goldener Tinte auf purpurgefärbtem Pergament der Beginn der Weihnachtsperikope mit der Geburt Christi eingetragen. Man darf darin wohl nicht 63 Annales regni Francorum 1895, ad. a. 781, 56. 64 Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. nouv. acq. lat. 1203, fol. 126v–127r. 65 Godescalci versus ad Carolem, ed. Ernst Dümmler, in: Monumenta Germaniae Historica. Poetae Latini aevi Carolini 1, Berlin 1881, 87–98, Nr. VII, 9512–13; Fabrizio Crivello/Charlotte Denoël/Peter Orth, Das Godescalc-Evangelistar. Eine Prachthandschrift Karls des Großen. Mit einem Geleitwort von Florentine Mütherich, Gütersloh/München/Darmstadt 2011, 44f. mit der Übersetzung (von Peter Orth): »Karl, der fromme König der Franken, gebot zusammen mit seiner herausragenden Gattin Hildegard […] dieses vortreffliche Werk zu schreiben.« Faksimile: Tafel 22. 66 Vgl. Bruno Reudenbach, Das Godescalc Evangelistar, Ein Buch für die Reformpolitik Karls des Großen, Frankfurt/Mainz 1998; Florentine Mütherich/Joachim E. Gaehde, Karolingische Buchmalerei, München 1979, 32–37; Klaus Schreiner, Hildegardis regina, Wirklichkeit und Legende einer karolingischen Herrscherin, in: Archiv für Kirchengeschichte 57 (1975), 1–70, hier 9f. 67 Wattenbach-Levison. Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 2, ed. Wilhelm Levison/Heinz Löwe, Weimar 1953, 195. 68 Hermann Fillitz, Propyläen-Kunstgeschichte, Bd. 5: Das Mittelalter 1, Berlin 1990, zitiert bei Hägermann 2000, 198.
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nur einen Hinweis auf die Geburt Christi sehen, sondern auch auf den königlichen Täufling, der im Widmungsgedicht als »durch die Quelle der heiligen Taufe wiedergeboren und geläutert« (fonte renascentem et sacro baptismate lotum) bezeichnet wird.69 Durch dieses vom Papst vollzogene Taufritual wurde – wie einst zwischen Karls Vater Pippin und den Päpsten Stephan II. im Jahre 754 und Paul I. im Jahre 75770 – nun zwischen Karl und Hadrian das geistliche Bündnis einer compaternitas geschlossen. Arnold Angenendt hat die Bedeutung und Tragweite der compaternitas als eines Bündnisses hervorgehoben, durch das der Papst und der Frankenkönig als compatres eine geistliche Verwandtschaft eingingen. Der Papst wurde, als er den kleinen Karlmann aus der Taufe hob, zu dessen geistlichem Vater: »Wegen dieser gottgewirkten Verbundenheit war von den Beteiligten ein besonderes Wohlverhalten gefordert, und darin lag die besondere Stärke dieses Bündnisses.«71 Es war mehr als eine bloße Floskel, wenn Hadrian fortan in Briefen, auch an Dritte, Karl als spiritalis compater bezeichnete72 und Hildegard spiritalis commater und den gemeinsamen Sohn spiritalis filius noster nannte. Auf Grund entsprechender Äußerungen in Hadrians Briefen und zahlreicher weiterer Indizien ist davon auszugehen, dass die Verabredung zu diesem Bündnis mit dem Papst bereits im Jahre 774, unmittelbar nach der Eroberung des Langobardenreiches, erfolgt ist, in deren Folge Hadrian auf die Restituierung der entfremdeten Kirchengüter hoffte. Es bedurfte nur noch der Geburt eines Sohnes, um bei dessen Taufe das Hilfs- und Schutzbündnis feierlich zu beschließen. Deshalb wartete Papst Hadrian seit der Geburt Karlmanns sehnsüchtig und ungeduldig auf Karls Rombesuch und das beschlossene Taufzeremoniell, das Karl zu seinem spiritalis compater, Hildegard zur spiritalis commater und den kleinen Karlmann zu seinem geistlichen Sohn machte, den der Papst als seinen filius spiritalis bezeichnete.73 Vor diesem Hintergrund dürfte es leichter verständlich werden, warum Papst Hadrian dem kleinen Karlmann einen neuen Namen gab und ihn als Pippin aus der Taufe hob: 69 Crivello/Denoël/Orth 2011, 46f. (Vers 43). Hägermann 2000, 198 weist auf diese Übereinstimmung hin. 70 Dazu ausführlich Angenendt 1980, 40–63. 71 Angenendt 1980, 93. 72 Codex Carolinus, ed. Wilhelm Gundlach, in: Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 3, Berlin 1892, 469–657, 600 (Nr. 70): DOMINO EXCELLENTISSOMO FILIO ET NOSTRO SPIRITALI CONPATRI, CAROLO REGI FRANCORUM ET LANGOBARDORUM. AC PATRICIO ROMANORUM HADRIANUS PAPA, vgl. auch Nr. 66, 68, 71. Weitere Nachweise: Sigurd Abel/Bernhard Simson, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, Bd. 1, 2. Auflage, Leipzig 1888, 379. 73 Codex Carolinus 1892, (Nr. 72), 603, 31–33: […] una cum excellentissima filia nostra et spiritale commatre, domna regina, seu domno Pippino, excellentissimo rege Langobardorum et proprio spiritali filio nostro […].
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Principis hic Caroli claris natalibus ortam Carlmannum sobolem, mutato nomine Pippin, Fonte renascentem, et sacro baptismate lotum, Extulit albatumsacratis conpater undis […].74
5.
Klosternamen
Mit dem Begriff ›Klosternamen‹75 sind Namen gemeint, die Mönchen oder Nonnen beim Eintritt ins Kloster oder bei der Ablegung der Profess gegeben wurden und die seitdem an die Stelle der Geburtsnamen traten. Da die Klosteroder Ordensnamen von den Novizen frei gewählt beziehungsweise diesen vom Abt oder Ordensoberen gegeben wurden, ist grundsätzlich eine programmatische Sinngebung für die auf diese Weise neu Benannten zu erwarten. Deshalb ist hier noch kurz auf die wenigen frühmittelalterlichen Beispiele einer monastischen Namengebung einzugehen.76 Die Neubenennung mit einem Kloster(eintritts)namen wurde erst im ausgehenden Mittelalter oder zu Beginn der Neuzeit üblich.77 Im Frühmittelalter behielten die Mönche und Nonnen in der Regel ihre Namen, die sie bei der Geburt oder Taufe von ihren Eltern erhalten hatten. Diese Tatsache macht es ja überhaupt erst möglich, die Familienzugehörigkeit und -herkunft von Mönchen und 74 Crivello/Denoël/Orth 2011, 46f. (Vers 41–44, Übersetzung von Peter Orth): »Er hob als Pate Karlmann, den Spross des Fürsten Karl von erlauchter Abkunft, unter dem neuen Namen Pippin, durch die Quelle der heiligen Taufe wiedergeboren und geläutert, mit dem weißen Taufkleid angetan aus dem geweihten Wasser […]«. 75 Zu »Klosternamen«, »Ordensnnamen«, »Mönchsnamen«, »Nonnennamen« gibt es für das Früh- und Hochmittelalter nur wenige Beispiele und entsprechend kaum Literatur: vgl. Mitterauer 1993, Register 505–516; Ders. 2011, Register 24–258. Unter dem vielversprechenden Titel von Christof Rolker, »Man ruft Dich mit einem neuen Namen…«: Monastische Namenspraktiken im Mittelalter, in: Rolker/Signori 2011, 195–214 finden sich einzelne Hinweise, aber auch die Feststellung (198): »eine Verbindung zwischen Namensänderung und Klostereintritt bzw. Profess ist in keinem Fall nachweisbar«; im 12 Jh. »nimmt die Zahl der Belege für einen Namenswechsel bei Ordenseintritt keineswegs zu, sondern eher ab« (201); Ähnliches gilt auch noch für das 13. Jh. (205). – Vgl. auch den Abschnitt »Monastische Tradition und Namensvielfalt: das Aufkommen der Klosternamen«, im Beitrag von Johann Tomaschek, Wandlungen in der Benennung von Ordensangehörigen österreichischer Benediktinerklöster im Mittelalter, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer Grundwissenschaftliche Forschungen 3 = Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 183–212, hier 206–212. 76 Vgl. allgemein zur monastischen Namengebung Bach 1978, I/2, 196f. (§ 439). 77 Vgl. Rolker 2011, 196f. mit Hinweis auf »die quantitiv orientierte onomastische Forschung« zum Früh- und Hochmittelalter; danach »wichen die Rufnamen der meisten Ordensleute und Kleriker nicht von denen ihrer laikalen Umwelt ab«; ebd., 211: »Eine […] Entwicklung hin zu Ordensnamen im modernen Sinn lässt sich nicht vor dem 15. Jahrhundert […] nachweisen.«
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Nonnen zu ermitteln, deren Namen in Verbrüderungsbüchern und Necrologien sowie in Zeugenlisten frühmittelalterlicher Urkunden überliefert sind.78 Nur weil die Mönche nach dem Eintritt ins Kloster ihre Geburtsnamen behielten, lassen sich, zum Beispiel im Kloster St. Gallen, die Ekkeharte, Gozberte und Notkere den Familien zuordnen, aus denen sie stammen.79 So behielten beispielsweise die Karolinger Adalhard und Wala ihre Namen, als sie die monastische Laufbahn einschlugen, und blieben als solche erkennbar;80 auch Hugo von Cluny, der 1039 als Hugo von Semur ins Kloster Cluny eintrat, und Bernhard von Clairvaux behielten ihre Geburtsnamen,81 um nur einige prominente Mönche zu nennen. Aber wie verhält es sich mit »the emperor’s monk«82, dem Grafensohn Witiza, der Benedikt (von Aniane) genannt wurde, oder mit dem Fuldaer Abt Hraban, der als Hrabanus Maurus in die Geschichte einging? Beide Beinamen – Benedictus und Maurus – können in der Tat als programmatisch motivierte Namen verstanden werden, wurden sie doch nach Benedikt, dem Mönchsvater Benedikt von Nursia, beziehungsweise nach dessen Schüler und Nachfolger Maurus gewählt.83 Aber hier handelt es sich nicht um Klosternamen, sondern um Beinamen, die nicht mit dem Eintritt ins Kloster verbunden waren. Sie sind zu beurteilen wie die Beinamen der Heiligen Willibrord/Clemens und Wynfreth/Bonifatius, die ihre Beinamen Clemens beziehungsweise Bonifatius vom Papst mit ihrem Missionsauftrag in Rom erhalten haben.84 Im Falle des ehrenvoll Bene78 Vgl. Karl Schmid, Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), 225–249, besonders 233f. (ND in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 363–387, besonders 371f.); Karl Schmid, Programmatisches zur Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen, in: Frühmittelalterliche Studien 8 (1974), 116–130, besonders 128f. (ND in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 3–17, besonders 15f.). 79 Vgl. Rupert Schaab, Mönch in St. Gallen. Zur inneren Geschichte eines frühmittelalterlichen Klosters (Vorträge und Forschungen 47), Ostfildern 2003, Register: 307 (Ekkehart), 308 (Gozbert) und 311 (Notker). 80 Brigitte Kasten, Adalhard von Corbie. Die Biographie eines karolingischen Politikers und Klostervorstehers, Düsseldorf 1986; Lorenz Weinrich, Wala – Graf, Mönch und Rebell (Historische Studien 385), Lübeck/Hamburg 1963. 81 Neithard Bulst, H. I. von Semur, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 165f.; Günther Binding, B. v. Clairvaux, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), 1992–1997. 82 So im Titel des Buches: Benedict of Aniane. The emperor’s monk. Ardo’s life, übers. v. Allen Cabaniss (Cistercian studies series 220), Kalamazoo/Michigan 2008. 83 Vgl. Walter Kettemann, »Provocatively«? – Zu den Motivationen und historischen Kontexten für die Mönchwerdung Witiza-Benedikts von Aniane, in: Jakobus Kaffanke (ed.), Benedikt von Nursia und Benedikt von Aniane. Karl der Große und die Schaffung des »Karolingischen Mönchtums« (Weisungen der Väter 26), Beuron 2016, 10–58, besonders 55–58: Exkurs Die Namen Witiza-Benedikts von Aniane; Ekkart Sauser, Maurus, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon 22 (2003), 817. 84 Vgl. Günther Binding, B. (Winfried), in Lexikon des Mittelalters 2 (1983), 417–420, hier 418; Stefan Schipperges,Willibrord, in: Lexikon des Mittelalters 9 (1998), 213.
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dictus secundus genannten Abtes von Aniane ist durch seinen Biografen Ardo, allerdings nachträglich, auch die Bedeutung des Namens ins Spiel gebracht worden, wenn er schreibt: »Der verehrungswürdige Mann hieß nicht nur mit Namen Benedictus, sondern er war auch wegen seiner Verdienste ein Gesegneter [des Herrn]«.85 Es lassen sich durchaus einige Beispiele finden, in denen Mönchen, vornehmlich solchen, die fremde, in der klösterlichen Umwelt ungewohnte Namen trugen, betont christliche Namen gegeben worden sind. So gehörte dem Konvent des Eifelklosters Prüm ein Mönch mit dem ungewöhnlichen Namen Zogono an.86 In einer der vier Namenlisten, in denen dieser Mönch des 9. Jahrhunderts aufgeführt ist, findet sich der Zusatz qui vocatur Christianus, in den drei anderen Listenüberlieferungen ist er nur Christianus genannt. Im Kloster St. Gallen sind vor allem den Iren, die im 9. Jahrhundert in größerer Zahl in den Konvent des Gallusklosters eingetreten sind, Beinamen gegeben worden, vermutlich, weil deren irische Namen den Brüdern beim Sprechen und Schreiben Probleme bereiteten. So wurde beispielsweise Flaithemel als Flata-mar sozusagen ›eingedeutscht‹, während der Ire Ilarleh den Beinamen Sedulius und Moengal nach seinem Onkel Marcus87 den Beinamen Marcellus, »kleiner Marcus«, erhielten.88 Bei allen diesen Beispielen handelt es sich jedoch nicht um Klosternamen oder Ordensnamen, wie sie seit dem 16. Jahrhundert beim Eintritt ins Kloster in programmatischer Absicht – mit dem Namen eines Heiligen als Vorbild und Fürbitter bei Gott – vergeben wurden, sondern um Beinamen.
85 Ardo, Vita Benedicti Anianensis, ed. Georg Waitz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 15/1, Hannover 1887, 200–220 (cap. 2); Übersetzung: Kettemann 2016, 18. 86 Dieter Geuenich, Prümer Personennamen in Überleferungen von St. Gallen, Reichenau, Remiremont und Prüm (Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge, Beiheft 7), Heidelberg 1971, 77f. (im Faksimile, 121, links unten). Zum Namen: Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch 1: Personennamen, 2. Auflage, Bonn 1900 (ND München/Hildesheim 1966), 1675f. 87 Ekkehardi Casus sancti Galli: St. Galler Klostergeschichten, ed. Hans F. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 10), Darmstadt 1980, (cap. 2) 18–20: Moengal […] a nostris Marcellus diminutive a Marco avunculo sic nominatus. Im Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, ed. Johanne Autenrieth/Dieter Geuenich/Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova series 1), Hannover 1975, pag. 11C3 ist in einer St. Galler Mönchsliste zwei Zeilen unter Marcellus al. Moengal ein weiterer Ire namens Mealchomber eingetragen, der im St. Galler Professbuch (pag. 17) als Maelchomber eingeschrieben ist. Vgl. dazu Mitterauer 1993, 214: »Die Mael-Namen signalisieren […] den Auftrag, Mönch zu werden.« 88 Vgl. Dieter Geuenich, Sedulius sive Ilarleh. Zu den Beinamen in der frühmittelalterlichen Gedenküberlieferung, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 205–243, hier 209f. (mit weiterer Literatur zu den irischen Namen).
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Beinamen mit programmatischer Bedeutung
Damit kommen wir zum letzten Abschnitt, den cognomina, soweit bei ihnen eine programmatische Motivation für die Namengebung vermutet werden kann. Besonders in den Blick genommen werden sogenannte sprechende Namen mit erkennbarer appellativischer Bedeutung. Ob diese Namen erst sekundär neben einen traditionellen Tauf- oder Geburtsnamen getreten sind – wie Benedictus neben Witiza –, entzieht sich unserer Kenntnis. Die hier exemplarisch89 aufgeführten Namen sind nämlich allein überliefert, also ohne den Taufnamen, dem sie meist erst später ›bei‹-gefügt worden sind. Denn Namen wie Alteblind, Barbatus oder auch Crabart (»Graubart«) dürften wohl kaum einem Kind (in programmatischer Absicht) gegeben oder auch beigefügt worden sein. Sie müssen als Beinamen später zu einem heute nicht mehr bekannten Geburts- oder Taufnamen hinzugetreten sein, nachdem die Namenträger altersblind, bärtig oder graubärtig geworden waren. Dasselbe dürfte für (Bei-)Namen wie Choufman, Lantman, Ministerianus90 oder Jungman, Panzleip, Vetulus91 gelten. Wenn allerdings dem Kind bereits bei der Geburt oder bei der Taufe ein ›sprechender‹ Name gegeben wurde, ist eine programmatische Motivation anzunehmen. Dies scheint bei einigen dieser Namen zumindest möglich zu sein; so erwecken manche von ihnen den Eindruck, als hätten die Eltern schon bei der Geburt entschieden, ihr Kind Gott zu weihen, und für den geistlichen Stand bestimmt: Ancilladei »Dienerin Gottes« (lat. ancilla »Dienerin«, lat. deus »Gott«), Gotesdiu »Gottesdienerin« (ahd. got »Gott«, ahd. diu »Dienerin, Magd«), Gotesman »Mann Gottes« (ahd. got »Gott«, ahd. man »[Dienst-]Mann«), Gotesscalc »Diener Gottes« (ahd. got »Gott«, ahd. scalc »Knecht, Diener«) usw.92 Im Falle Gottschalks des Sachsen (ca. 803–ca. 869)93, von dem wir wissen, dass er von seinen Eltern mit sechs Jahren als puer oblatus dem Kloster Fulda übergeben wurde, mag es sein, dass die Eltern bereits bei der Geburt beziehungsweise der Taufe über seine Zukunft als »Diener Gottes« im Kloster entschieden und dies auch im Namen festgelegt haben. Bekanntlich hat dieser Gottschalk später, als er Profess ablegen sollte, seine Oblation als nicht freiwillig und damit als unrechtmäßig bezeichnet. Gegen den Widerstand seines Abtes Hrabanus Mau89 Über 2.000 Bezeugungen frühmittelalterlicher Beinamen, die ›sprechend‹ sind, d. h. deren appellativische Bedeutung für die Zeitgenossen erkennbar war – und vermutlich auch sein sollte –, sind (mit Quellennachweis) zusammengestellt bei Geuenich 2014, 214–237. 90 Geuenich 2014, 223. 91 Geuenich 2014, 230f. 92 Geuenich 2014, 226f. (mit Quellen- und Literaturnachweisen). 93 Vgl. Klaus Vielhaber, Gottschalk der Sachse (Bonner Historische Forschungen 5), Bonn 1956; Ders., Gottschalk der Sachse, in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), 685f.; Ludwig Hödl, G. (Godescalc) v. Orbais, in: Lexikon des Mittelalters 4 (1989), 1611f.
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rus erreichte er 829 auf einer Mainzer Synode die Aufhebung seines Oblationsgelübdes, nicht jedoch die Rückgabe der Güterschenkung, die der Vater dem Kloster bei der Oblation des Sohnes übertragen hatte. In diesem Falle ist es möglich oder gar wahrscheinlich, dass die Eltern ihrem Sohn den programmatischen Namen Gotes-skalk (»Gottesdiener«) gegeben haben, der seinen Lebensweg bestimmen sollte. In den meisten Fällen dürften aber die Namen mit der Bedeutung »Gottesmann«, »Gottesdienerin«, »Gottesmagd« erst im Erwachsenenalter zum Taufnamen hinzugetreten sein und diesen dann völlig verdrängt haben. Dies dürfte auch für die Namen der Mönche Fratellus, Selpwilus (»aus freiem Willen«), Servusdei zutreffen sowie beim Namen der Nonne Sponsa.94 Diese Namen haben offensichtlich den ursprünglichen Taufnamen verdrängt und sind zum allein maßgeblichen Personennamen geworden – wie die oben erwähnten Personen namens Alteblind, Barbatus und Cra[u]bart oder auch Vetulus (»der Alte«). Denn in den Libri vitae, den Büchern des »ewigen Lebens«, in denen diese Namen überliefert sind, wollte die betreffende Person sicherlich mit dem Namen eingetragen sein, mit dem Gott sie einst beim Jüngsten Gericht namentlich aufrufen wird, und als solcher galt in diesen Fällen ganz offenbar der zum Personennamen gewordene Beiname.
7.
Resümee
Am Anfang dieser Studie stand die vielleicht überraschende These, dass die etymologische Bedeutung der Namen und Namenglieder bei der Wahl des Namens, soweit uns die frühmittelalterlichen Schriftquellen über die Motive der Namenwahl und Namengebung informieren, keine Rolle spielte. »Ursprünglich war jede Namengebung Namenschöpfung gewesen«, schrieb Edward Schröder vor mehr als einem Jahrhundert; aber »schon die Menschen des karolingischen Zeitalters standen dem Sprachschatz, den ihnen ihre altüberlieferten Eigennamen darboten und mit dem sie in Neubildungen weiter wirtschafteten, mit keinem sichereren Verständnis gegenüber, als etwa Klopstock und Schiller dem Heliand oder der Evangeliendichtung Otfrids«.95 Die Welt und die Anschauung, aus der die Namenwörter und deren Zusammensetzungen stammten, war ihnen fremdgeworden. Nirgends wird die appellativische Bedeutung der Namen (oder Namenglieder) Chlod-wig, Chlot-har, Grim-oald, Grifo, Drogo, Pippin, Karl in der Merowinger- und Karolingerzeit thematisiert und erörtert, und auch danach spielt die Bedeutung des Namens Otto in der Ottonenzeit oder die Bedeutung der 94 Geuenich 2014, 228 (mit Quellennachweisen). 95 Schröder 1944, 8 (in einer Göttinger Festrede am 5. Juni 1907).
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zweigliedrigen Namen Kon-rad und Hein-rich in der Salierzeit als Motiv für die Namenwahl keine Rolle. Stattdessen war die Namengebung in den Herrscherhäusern und Adelsdynastien ganz offensichtlich durch die Namenvorbilder in der Familie und in der Verwandtschaft sowie durch die Sukzessionsreihen bestimmt. Denn mit der Wahl eines Leitnamens war, wie an vielen Beispielen gezeigt werden konnte, ein Anspruch verbunden. Die Benennung nach dem Großvater96 ist auch außerhalb der Herrscherdynastien anzutreffen, ebenso die Familienkennzeichnung durch die Beibehaltung eines Namengliedes (Vater Mederich – Sohn Agenarich) oder zusätzlich durch Alliteration Heribrant – Hiltibrant – Hadubrant oder durch Variation innerhalb eines bestimmten Bestandes an Namenwörtern in der Familie. Eine Umbenennung hatte, wie die entsprechenden Beispiele zeigten, stets programmatische Gründe. Sogar in fortgeschrittenem Alter war eine Umbenennung möglich – wie das Beispiel der Gattin und der Tochter des Königs Rudolf von Habsburg erkennen lässt, deren Name Gertrud in Anna beziehungsweise Agnes umgeändert wurde, um dynastische Ansprüche geltend zu machen. Das Beispiel des Saliers Heinrich IV., der zunächst Konrad hieß, und das Beispiel des Karlssohnes Karlmann, der in Pippin umbenannt wurde, lassen die Frage aufkommen, zu welchem Zeitpunkt im Mittelalter über den Namen eines Neugeborenen entschieden wurde. Offenbar haben Karl der Große und Hildegard ihren Sohn fast vier Jahre lang Karlmann genannt, bevor er vom Papst auf den Namen Pippin getauft wurde; das Kaiserpaar Heinrich III. und Agnes hat seinen Sohn Konrad genannt, bevor er von Hugo von Cluny unter dem Namen Heinrich aus der Taufe gehoben wurde. In beiden Fällen hat also bereits vor der Taufe – vermutlich unmittelbar nach der Geburt – eine Namengebung stattgefunden. Gertrud Thoma hat diese erste Benennung – nicht sehr glücklich – ›provisorische Namengebung‹ genannt.97 Diese beiden Beispiele sowie die Umbenennung der beiden Habsburgerinnen namens Gertrud und auch die erst im Erwachsenenalter festgewordenen Beinamen des letzten Abschnitts, welche die Taufnamen offenbar völlig verdrängt haben, lassen die Frage aufkommen, ob allein der Taufakt der Namengebung diente und ob die verallgemeinernde Feststellung »Mittelalterliche Namen waren Taufnamen« – wirklich zutrifft.98 Deutlich wurde jedenfalls, dass der Eintritt ins Kloster oder die feierliche Profess im Mittelalter kein Anlass waren, einen Kloster- oder Ordensnamen anzunehmen. Vielmehr blieben die familiengebundenen Namen auch im Kloster 96 Nach Thoma 1985, 1, hat Klewitz 1944, 27–31, »für die deutschen Könige zwischen 919 und 1250 nachgewiesen, daß jeder als Königssohn geborene nach dem Großvater väterlicherseits benannt war.« 97 Thoma, 1985, 157, 158 und öfter. 98 Rolker 2011, 17.
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maßgeblich. Namenänderungen, wenn etwa Beinamen die ursprünglichen Geburts- oder Taufnamen verdrängten, erfolgten nicht mit dem Klostereintritt; sie waren offenbar jederzeit möglich.
Quellenverzeichnis Althochdeutsche Literatur, ed. Horst Dieter Schlosser, Frankfurt a. M./Hamburg 1970. Ammianus Marcellinus, Rervm gestarvm libri qvi svpervnt, in: Quellen zur Geschichte der Alamannen von Cassius Dio bis Ammianus Marcellinus, ed. Camilla Dirlmeier/ Gunther Gottlieb (Quellen zur Geschichte der Alamannen I, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Kommission für Alamannische Altertumskunde 1), Sigmaringen 1976, 32–87. Annales regni Francorum, ed. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [6]), Hannover 1895 (ND Hannover 1950). Ardo, Vita Benedicti Anianensis, ed. Georg Waitz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 15/1, Hannover 1887, 200–220. Codex Carolinus, ed. Wilhelm Gundlach, in: Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 3, Berlin 1892, 469–657. Einhardi vita Karoli Magni, ed. Rudolf Buchner (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 5), Darmstadt 1968, 163–253. Ekkehardi Casus sancti Galli: St. Galler Klostergeschichten, ed. Hans F. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 10), Darmstadt 1980. Genealogia Welforum, ed. Erich König, in: Historia Welforum (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1,1), 2. Auflage, Sigmaringen 1978, 76–81. Godescalci versus ad Carolem, ed. Ernst Dümmler, in: Monumenta Germaniae Historica. Poetae Latini aevi Carolini 1, Berlin 1881, 87–98. Hrabani Mauri Carmina XVII: Ad Friduricum episcopum, ed. Ernst Dümmler, in: Monumenta Germaniae Historica. Poetae Latini aevi Carolini 2, Berlin 1884 (ND Berlin 1999), 181f. Richer von Saint-Remi, Historiae, ed. Hartmut Hoffmann (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 38), Hannover 2000. Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, ed. Johanne Autenrieth/Dieter Geuenich/Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova series 1), Hannover 1979.
Literaturverzeichnis Sigurd Abel/Bernhard Simson, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, Bd. 1, 2. Auflage, Leipzig 1888. Gerd Althoff, Namengebung und adliges Selbstverständnis, in: Dieter Geuenich/ Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussage-
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Dieter Geuenich
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Dieter Geuenich
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Beispiele programmatischer Namengebung in frühmittelalterlichen Quellen
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Hendrik Hess
Namengebung und die römische Oberschicht in Gallien zwischen imperium und regna im 5. und 6. Jahrhundert
Abstract The act of naming seems like a perfect instrument for a social group to distinguish itself from rival groups and to demonstrate its integrity and standing especially in times of crisis. Earlier research assumes this holds true for Gallo-Roman elites in the 5th and 6th century. The survival of Latin names, which were replaced by Germanic names as recently as the beginning of the 7th century accompanied by only a few early exceptions, was taken as a sign of continuity of the Roman aristocracy and ethnic identity. Analysing the testimony of the two main authors of the time, who themselves were supposedly part of the examined group, Sidonius Apollinaris and Gregory of Tours, the paper argues that the assumption is flawed in several ways. Even in the time of Sidonius the elite’s interaction with actors both with Latin and Germanic names were defined by pragmatism and opportunism increasingly. Ethnic (self-)identification did not play as an important part as widely accepted. Furthermore, the modern sociological notion of identity itself is to be questioned since it causes methodological problems focusing on differences a priori. Besides, the Latin names in the 6th century did not follow the classical Roman system of the tria nomina at all and are hardly a sign of ethnic continuity. On the opposite, the same applies for the few examples of Germanic names in seemingly Roman families considered a sign for acculturation – further evidence concerning the perceived ethnic identity of the bearers of such names is utterly lacking. Therefore, the explanatory potential of onomastic analyses on its own as an indicator for social processes should be reconsidered at least in case of late antique and early medieval (Gallo-Roman) elites.
Machterhalt – um einen Teil des Titels des Sammelbandes aufzugreifen – lag nicht nur im Interesse des Herrschers, sondern auch in dem der Eliten eines Herrschaftsverbandes. Etwa dann, wenn alte aristokratische Gruppen sich in ihrem gesellschaftlichen Status durch politische Umwälzungen, durch aufstrebende oder durch horizontal verdrängende neue oder andere Gruppen bedroht fühlen, kann die programmatische Vergabe von Personennamen leicht zur Stärkung der Integrität und als sichtbares Zeichen nach außen dienen. Gerade, wenn es gilt, die eigene Geschlossenheit und das eigene Selbstverständnis in krisenhaften Zeiten in Form repräsentativer Akte sichtbar zu machen, liegt es
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Hendrik Hess
durchaus nahe zu vermuten, dass dies auch durch die Namenvergabe an die Nachkommen getan wurde – soweit die Theorie. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive sind Personennamen vor allem dann von Interesse, wenn sie den Trägern und denjenigen, die sie vergaben, dazu dienten, sich von anderen gesellschaftlichen Schichten und Funktionsgruppen abzugrenzen und die eigene Exklusivität zu betonen – gerade für das spärlich dokumentierte Frühmittelalter können Namen so wichtige Hinweise für prosopographische Studien, ja überhaupt erst für die Existenz mancher gesellschaftlicher Gruppen geben.1 Namen können in speziellen Fällen durch ihre Sprache, durch ihre Bedeutung, durch verwandte Namen, durch andere Träger des gleichen Namens usw. Zugehörigkeiten andeuten.2 Dass es sich hierbei im Einzelfall 1 Vgl. u. a. Karl Schmid, Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel. Vorfragen zum Thema »Adel und Herrschaft« im Mittelalter, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 105 (1957), 1–62 (ND in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, 183– 244); Hans-Werner Goetz, Zur Namengebung bäuerlicher Schichten im Frühmittelalter. Untersuchungen und Berechnungen anhand des Polyptychons von Saint-Germain-des-Prés, in: Francia 15 (1987), 852–877; Dieter Geuenich, Personennamen und die frühmittelalterliche Familie/Sippe/Dynastie, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1723–1725; Dieter Stellmacher, Namen und soziale Identität. Namentraditionen in Familien und Sippen, in: Ernst Eichler et al. (edd.), Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11), Bd. 2, Berlin/New York 1996, 1726–1731; Werner Bergmann, Personennamen und Gruppenzugehörigkeit nach dem Zeugnis der merowingischen Königsurkunden, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft der Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 94–105; Hans-Werner Goetz/Wolfgang Haubrichs, Namenentwicklung und Namengebung in Ober- und Unterschichten des frühen 9. Jahrhunderts in der Île-de France, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 110–204. 2 Vgl. außerdem zur Bedeutung von Personennamen im europäischen Frühmittelalter u. a. Horst Ebling/Jörg Jarnut/Gerd Kampers, Nomen et Gens. Untersuchungen zu den Frühgeschichten des Franken-, Langobarden- und Westgotenreiches im 6. und 7. Jahrhundert, in: Francia 8 (1980), 687–745; Dieter Geuenich, Personennamengebung und Personennamengebrauch im Frühmittelalter, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer grundwissenschaftliche Forschungen 3, Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 31–46; Jörg Jarnut, Selbstverständnis von Personen und Personengruppen im Lichte frühmittelalterlicher Personennamen, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer grundwissenschaftliche Forschungen 3, Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997b, 47–65; Georg Scheibelreiter, Anthroponymie, Symbolik und Selbstverständnis, in: Reinhard Härtel (ed.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer grundwissenschaftliche Forschungen 3, Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), Graz 1997, 67–84; Hans-Werner Goetz, »Nomen«. Zur Bedeutung von Personennamen in der frühmittelalterlichen Gesellschaft, in: Dieter
Namengebung und die römische Oberschicht in Gallien
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sogar um eine transkulturelle Konstante handelt, demonstrieren nicht zuletzt die Beiträge des vorliegenden Bandes. Zu warnen ist jedoch davor, einzig auf Grund eines Personennamens auf die Identität seines Trägers oder die derjenigen, die ihn vergaben, zu schließen, egal ob es sich um eine ethnische oder anders geartete Zuordnung handelt.3 Bei aller Programmatik, die mit der Vergabe und dem Tragen eines Namens verbunden sein kann, zeigt der vorliegende Beitrag am Beispiel der gallo-römischen Oberschicht in der Zeit zwischen den Machtkomplexen imperium und regna im 5. und 6. Jahrhundert, dass ein Personenname allein noch kein hinreichender Beleg für die Identifikation mit einer Gruppe sein oder anderweitig weitreichende Schlüsse über das Selbstverständnis spätantik-frühmittelalterlicher Akteure erlauben kann. Die Situation der römischen Oberschicht in Gallien nach dem populären Epochenjahr von 476 war zunächst in den Augen der Forschung des beginnenden 20. Jahrhunderts in erster Linie durch weitgehende Kontinuität geprägt. Schon Samuel Dill betont »the old Gallo-Roman population included a large number of senatorial families, […] who still retained high respect and position from birth and wealth« und weist auch darauf hin, dass »Roman names also abound among the counts and dukes and of the dignified officials«4. Karl Friedrich Stroheker konstatiert analog zu den gallo-römischen Eliten: »Diese Aristokratie verschwand keineswegs mit dem Imperium aus Gallien. Sie lebte unter den Westgoten und Burgundern, ja selbst noch unter den Merowingern weiter. […] Es lassen sich gallische Adelshäuser erkennen, die, im vierten und fünften Jahrhundert groß geworden, sich auch unter westgotischer und burgundischer Kremer (ed.), Onomastik. Akten des 18. Internationalen Kongresses für Namenforschung Trier, 12.–17. April 1993. Band VI. Namenforschung und Geschichtswissenschaften. Literarische Onomastik. Namenrecht. Ausgewählte Beiträge (Ann Arbor, 1981) (Patronymica Romanica 19), Tübingen 2002, 49–60. 3 Siehe zur Kritik an einer vorschnellen ethnischen Ausdeutung von Personennamen den Beitrag von Christoph Haack in diesem Band, 315–339. Vgl. auch Patrick Amory, Names, Ethnic Identity, and Community in Fifth- and Sixth-Century Burgundy, in: Viator 25 (1994), 1–30; Hans-Werner Goetz, Gentes in der Wahrnehmung frühmittelalterlicher Autoren und moderner Ethnogeneseforschung. Zur Problematik einer gentilen Zuordnung von Personennamen, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters. Beiträge des Kolloquiums »Person und Name« in der Tagungsstätte der Werner Reimers Stiftung zu Bad Homburg v. d. H., 10.–13. Dezember 1997 (Ergänzungsbände zum Reallexikon zur germanischen Altertumskunde 32), Berlin/New York 2002, 204–220; Hans-Werner Goetz, Probleme, Wege und Irrwege bei der Erforschung gentiler Namengebung, in: Dieter Geuenich/Ingo Runde (edd.), Name und Gesellschaft im Frühmittelalter. Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische, soziale und kulturelle Gruppenzugehörigkeiten (Deutsche Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage 2), Hildesheim/Zürich 2006, 319–335. 4 Samuel Dill, Roman Society in Gaul in the Merovingian Age, London 1926, 220.
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Herrschaft behaupten konnten und dann im sechsten Jahrhundert im Leben des Frankenreichs erneut eine bedeutende Stellung einnahmen.«5 Erst »um die Wende vom sechsten zum siebten Jahrhundert war dann auch im senatorischen Adel Galliens die Verbindung mit der spätrömischen Welt, aus der er stammte, so lose geworden, daß sie sein völliges Aufgehen in der neuen fränkischen Reichsaristokratie nicht mehr länger aufzuhalten vermochte.«6 Um die Prozesse zwischen Persistenz und allmählichem »Aufgehen« nachzuzeichnen, die die römische Oberschicht in Gallien zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert durchlief, werden also u. a. Veränderungen bei der Vergabepraxis von Personennamen7 oder deren Ausbleiben als Indikatoren herangezogen – auch von der jüngeren Forschung. Allerdings wird zum Beleg von Akkulturationsprozessen auf ono-
5 Karl Friedrich Stroheker, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948, 3. 6 Stroheker 1948, 3f. 7 Personennamen aus den germanischen Sprachen werden im Laufe des Frühmittelalters zur überwiegenden Mehrheit in Europa Ebling/Jarnut/Kampers 1980; Jarnut 1997b; Wolfgang Haubrichs, Identität und Name. Akkulturationsvorgänge in Namen und die Traditionsgesellschaften des frühen Mittelalters, in: Walter Pohl (ed.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters (Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 322 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004a, 85–105; Wolfgang Haubrichs, Hybridität und Integration. Vom Siegeszug und Untergang des germanischen Personennamensystems in der Romania, in: Wolfgang Dahmen et al. (edd.), Zur Bedeutung der Namenkunde für die Romanistik. Romanistisches Kolloquium XXII (Tübinger Beiträge zur Linguistik 512), Tübingen 2008, 87–140; mit einem Überblick zu den verschiedenen Facetten der gesellschaftlichen Bedeutung der Namengebung allgemein Goetz 2002; speziell zu christlichen Einflüssen Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993; Andreas Schorr, Personennamen und die Konstruktion der Christenheit. Die Christianisierung der Namen und die Integration heidnischer Elemente in den christlichen Namenschatz, in: Michael Borgolte et al. (edd.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 18), Berlin 2011, 197–208; zur Relevanz für die Oberschicht und zu performativen Aspekten Gerd Althoff, Namengebung und adliges Selbstverständnis, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft der Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 127–139; Jörg Jarnut, Nobilis non vilis, cuius et nomen et genus scitur, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft der Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997a, 116–126; zu Einflüssen von Personennamen der Oberschicht auf Topographie und Raumwahrnehmung Albrecht Greule, Personennamen in Ortsnamen, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft der Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 242–258; Wolfgang Haubrichs, Zur ethnischen Relevanz von romanischen und germanischen Personennamen in frühmittelalterlichen Siedlungsnamen des Raumes zwischen Maas und Rhein, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 65 (2001), 159–183.
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mastischer Ebene immer wieder auf dieselben Einzelbeispiele verwiesen,8 die in ihrer Aussagekraft durch ihre Isoliertheit zweifelhaft bleiben müssen.9 Tatsächlich bieten die überlieferten Quellen zum 6. Jahrhundert nicht viele Belege, was auch das methodische Dilemma und die Problematik der geschichtswissenschaftlichen Auswertung des Namenguts im frühen Frankenreich deutlich macht. Gerade in Verbindung mit ethnographischen Fragestellungen liefern die Quellen zwar eine Vielzahl von Namen fränkischer (germanischer) und lateinischer Etymologie oder Mischformen10, aber selten weitere verwertbare Informationen über ihre Träger. Das gilt vor allem für verlässliche Aussagen über ethnische Affiliation oder Identität. Überhaupt scheint die Frage nach ›Identität(en)‹ – bei aller Konjunktur in der Forschung11 – mindestens in Bezug auf die römische Oberschicht in Gallien an konzeptuelle Grenzen zu stoßen. Vielleicht wird für die Übergangszeit von Spätantike und Frühmittelalter durch die Verwendung des modernen soziologischen Konzepts ›Identität‹ schon von vorneherein das Trennende zu stark betont, Dichotomien etabliert, pointiert und nuanciert, die dem tatsächlichen Selbstverständnis der Zeitgenossen gar nicht entsprechen, und die Betrachtung 8 Vgl. stellvertretend jüngst Erica Buchberger, Shifting Ethnic Identities in Spain and Gaul, 500–700. From Romans to Goths and Franks (LAEMI), Amsterdam 2017, 117–124. Vgl. zuvor schon in Gestalt von Handbuchwissen u. a. Raymond van Dam, Merovingian Gaul and the Frankish Conquests, in: Paul Fouracre (ed.), The New Cambridge Medieval History, Bd. 1: c. 500–c. 700, Cambridge 2005, 193–231, hier 217; Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400–800, Oxford et al. 2005, 176. 9 Vgl. zur grundsätzlichen methodischen Kritik und Erkenntnisreichweite des namenkundlichen Ansatzes gerade in Bezug auf ein Postulat gentilspezifischer Namengebung siehe auch Anm. 3 oben. 10 Vgl. zum Phänomen der »Hybridnamen« u. a. Haubrichs 2004a, 97–105; Ders., Romanogermanische Hybridnamen des frühen Mittelalters nördlich der Alpen, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 41), Berlin/New York 2004b, 179–203. 11 Die wichtigsten Anstöße vor allem zur »ethnischen Identität« stammen von Walter Pohl. Vgl. mit Definitionen die Einleitungen folgender Sammelbände mit einem merklichen Fokus auf die frühmittelalterlichen gentes Walter Pohl/Clemens Gantner/Richard Payne (edd.), Visions of Community in the Post-Roman World. The West, Byzantium and the Islamic World, 300–1100, Farnham/Burlington 2012; Walter Pohl/Bernhard Zeller (edd.), Sprache und Identität im frühen Mittelalter (Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 426 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 20), Wien 2012; Walter Pohl/Gerda Heydemann (edd.), Post-Roman Transitions. Christian and Barbarian Identities in the Early Medieval West (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 14), Turnhout 2013; Walter Pohl/Gerda Heydemann (edd.), Strategies of Identification. Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 13), Turnhout 2013; jüngst auch exklusiv in Bezug auf das Römische Walter Pohl et al. (edd.), Transformations of Romanness. Early Medieval Regions and Identities (Millennium-Studien 71), Berlin/Boston 2018. Zuletzt die Forschungslage zusammenfassend Buchberger 2017, 15–22.
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von Einzel- und Gruppenidentität(en) zu stark miteinander vermischt (›ich‹ im Gegensatz zu den ›Anderen‹, ›wir‹ im Gegensatz zu den ›Anderen‹, ›römische‹ Oberschicht im Gegensatz zu den ›Anderen‹). Daher gilt es nun mit aller Vorsicht zu fragen, ob sich anhand von Personennamen im Gallien des 5. und 6. Jahrhunderts zwischen Imperium Romanum und gentilen regna eine Programmatik ihrer Vergabe erschließen lässt, die auf Versuche des Erhalts einer römischen Oberschicht und Spuren langsamer Transformation hindeutet. Spätestens im 5. Jahrhundert zeigte sich auch die römische Oberschicht von der allgemeinen Krise des Imperium Romanum ergriffen: Sidonius Apollinaris, geboren um 430, Bischof des gallischen Clermont,12 schreibt in einem Brief an seinen Freund Johannes: »Jetzt da die alten Würdengrade aufgehoben sind, durch die einst der Oberste vom Niedrigsten unterschieden wurde, wird in Zukunft das einzige Kennzeichen des Adels die Bildung sein.«13 Die Auvergne befand sich zu diesem Zeitpunkt unter der Herrschaft des visigotischen Königs Eurich; Kaiser Julius Nepos hatte sie 475 an ihn abgetreten. 476, Julius Nepos war inzwischen gestürzt worden, meuterte das römische Heer unter dem Anführer Odoaker, drang in den Kaiserpalast Ravennas ein, erklärte das Schattenkaiserlein Romulus Augustulus für abgesetzt und schickte die kaiserlichen Insignien ins östliche Konstantinopel – ein Kaiser werde im Westen nicht mehr benötigt. Nun, so scheint es, blickten Sidonius und seine Standesgenossen auf eine unsichere Zukunft. Die römische Ämterlaufbahn war ihnen unter der Herrschaft der Visigoten verschlossen, Landgüter und Reichtum waren verloren, reduziert oder bedroht, als einziger Ausweis ihrer nobilitas blieb ihnen ihre Bildung. In ihr sieht Sidonius das Potential, die Integrität seiner gesellschaftlichen Gruppe zu bewahren, auch ohne den traditionellen Bezugsrahmen, den das Imperium, Rom oder der Kaiser zur Verfügung stellten. Über hundert Jahre später eröffnet dann ein anderer gallischer Bischof, Gregor von Tours,14 seine ›Libri historiarum decem‹ mit folgenden Worten, die – hätte er sie lesen können – Sidonius vermutlich einigermaßen schockiert hätten: Er beginne sein Geschichtswerk im Angesicht der Tatsache, dass »die Pflege der schönen Wissenschaften in den Städten Galliens in Verfall geraten, ja sogar im
12 Vgl. zur Biographie des Sidonius Courtenay E. Stevens, Sidonius Apollinaris and his Age, Oxford 1993 (ND Oxford 1979); Jill Harries, Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome. AD 407–485, Oxford 1994. 13 Sidonius Apollinaris, Epistulae et Carmina, ed. Christian Lütjohann (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi 8), Berlin 1887, ep., VIII, 2, 2, 127: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse. 14 Vgl. zuletzt Martin Heinzelmann, Gregory of Tours: The Elements of a Biography, in: Alexander C. Murray (ed.), A Companion to Gregory of Tours (Brill’s Companions to the Christian Tradition 63), Leiden/Boston 2015, 7–34.
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Untergang begriffen ist.«15 Es besteht also eine offensichtliche Diskrepanz zwischen Sidonius’ Forderung für die Zukunft und Gregors späterer Beobachtung der Gegenwart – um bloße leere Worthülsen handelt es sich angesichts der politischen Entwicklungen der Zeit wohl nicht, auch wenn sich beide Autoren hier klassischer Topoi der Ermahnung bzw. Klage bedienen. Die Bildung, die Sidonius noch als letzte Chance für das Überleben seiner gesellschaftlichen Gruppe ansah, liegt nach Gregors Worten im Frankenreich darnieder. Verlor die römische Oberschicht in Gallien ihre soziale Bindung und ihre Macht und spielte damit für die Herrschaft im gallischen Frankenreich keine Rolle mehr? Im späten 5. und frühen 6. Jahrhundert war Gallien durch heterogene politische, religiöse, soziale und kulturelle Dynamiken geprägt. Die Macht und institutionelle Integrität des weströmischen Imperiums schwanden im 5. Jahrhundert zunehmend, so dass Bereiche, die ehemals zum Kerngebiet des Reiches gehörten, zur Peripherie wurden. Parallel dazu begannen Visigoten, Burgunder und Franken, aktiv eigene Machtgebilde auf dem Territorium des weströmischen Reiches zu errichten. Zum Prozess der Formierung und Etablierung dieser regna in Gallien gehörte auch die soziopolitische Ausdifferenzierung gentiler Eliten, weg vom Kriegerideal kampfbasierter Gruppenverbände. Die ›alte‹ römischstämmige Oberschicht musste auf die eine oder andere Weise auf diese Entwicklung reagieren, unabhängig davon, ob man sie bewusst als Bedrohung auffasste, sich unbewusst den neuen und sich wandelnden Gegebenheiten anpasste oder mangels Anpassungsvermögen gesellschaftlich an Einfluss verlor und nicht mehr an Macht und Herrschaft partizipierte.16 Möchte man diese Reaktion der ›alten‹ auf die ›neuen‹ Eliten untersuchen, so scheint es gerade in Bezug auf die römisch-stämmige Oberschicht vielversprechend, sich deren Namengebung zu widmen. Personennamen sollten sich eigentlich hervorragend als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal elitärer Gruppen eignen, sowohl als gleichsam nach außen wirkendes Repräsentationssymbol wie auch als nach Innen konstituierend.17 Prominent ist in diesem Zu15 Rudolf Buchner, Gregor von Tours. Zehn Bücher Geschichten. Erster Band: Buch 1–5 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 2), 8. Auflage, Darmstadt 2000, 3; Gregor von Tours, Libri Historiarum X, ed. Bruno Krusch/Wilhelm Levison (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovovingicarum 1,1), 2. Auflage, Hannover 1951, praef., 1: Decedente atque immo potius pereunte ab urbibus Gallicanis liberalium cultura litterarum […]. 16 Zusammenfassend zur gallischen Geschichte im 5. und 6. Jahrhundert mit Hinweisen auf Quellen, Überblicks- und Spezialliteratur Hendrik Hess, Das Selbstverständnis der gallorömischen Oberschicht. Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours (Ergänzungsbände zum Reallexikon zur germanischen Altertumskunde 111), Berlin/Boston 2019, 40–46, 140–142. 17 Vgl. zur gesellschaftlichen Bedeutung von Personennamen für das Selbstverständnis von Gruppen neben Anm. 2 oben (dort insbesondere Jarnut 1997b) auch Hans-Werner Goetz/
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sammenhang in Bezug auf Spätantike und Frühmittelalter eine Sentenz aus der Enzyklopädie des Isidor von Sevilla: Nobilis non vilis, cuius et nomen et genus scitur.18 – Vornehm und nicht gemein sei der, von dem sowohl Name als auch Abstammung bekannt ist. Im Grunde boten sich den Mitgliedern der römischen Oberschicht in dieser Krisen- und Übergangszeit zwei alternative Reaktionsmöglichkeiten in ihrer Namengebungspraxis: Option a) besteht in der Beibehaltung bisheriger Bräuche, etwa in der Fortführung lateinischer Namen. Option b) wäre: Eine Veränderung tritt ein, etwa in der weitgehend flächendeckenden Einführung germanischsprachigen Namengutes. In beiden Fällen würde sich die Frage nach der Programmatik stellen – geschah die Vergabe also bewusst oder unbewusst? Gerade die römische Namengebungspraxis zeichnete sich in gewissen Zeiten und für gewisse Zwecke durch ein präzises Regelwerk aus, was ein Versprechen nachhaltiger Beständigkeit angesichts von Veränderungen zu geben scheint. Die klassischen tria nomina der senatorisch-römischen Oberschicht, bestehend aus praenomen, nomen gentile und cognomen, also Vorname, ›Geschlechtsname‹ und Beiname,19 waren jedoch bereits spätestens im 3. Jahrhundert n. Chr. aus verschiedenen Gründen aufgebrochen und durch Polyonymie – also Vielnamigkeit, etwa um sich mit möglichst vielen ruhmreichen Vorfahren zu schmücken –, andererseits der lebenspraktischeren Einnamigkeit ersetzt. Im persönlichen Kontakt war es wohl ohnehin durchgängig üblich, nur einen einzigen Namen zu verwenden, der zur Identifizierung genügte. Die Erosion des Systems der tria nomina hatte also u. a. Gründe der Praktikabilität; aber auch die Christianisierung, griechisch-hellenistische Tradition, Einflüsse des Judentums
Wolfgang Haubrichs, Personennamen in Sprache und Gesellschaft. Zur sprach- und geschichtswissenschaftlichen Auswertung frühmittelalterlicher Namenzeugnisse auf der Grundlage einer Datenbank (Teil 1), in: Beiträge zur Namenforschung 40,1 (2005), 1–50, hier 24–38. 18 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, ed. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911, Bd. 1, X, 184. Vgl. auch Jarnut 1997a; Ders. 1997b, 51. 19 Zum römischen Namensystem vgl. Helmut Castritius, Das römische Namensystem – Von der Dreinamigkeit zur Einnamigkeit?, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft der Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997, 30–40; Heikki Solin, Zur Entwicklung des römischen Namensystems, in: Dieter Geuenich/ Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters. Beiträge des Kolloquiums »Person und Name« in der Tagungsstätte der Werner Reimers Stiftung zu Bad Homburg v. d. H., 10.–13. Dezember 1997 (Ergänzungsbände zum Reallexikon zur germanischen Altertumskunde 32), Berlin/New York 2002, 1–17; Stephan Wilson, The Means of Naming. A Social and Cultural History of Personal Naming in Western Europe, London/Bristol, PA 1998, 1–61.
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und nicht zuletzt der germanisch-sprachigen Gruppen werden in diesem Zusammenhang angeführt.20 Zunächst zu dem zu Anfang zitierten Bischof von Clermont, Sidonius Apollinaris: Dieser gab zwischen den Jahren 469 und ca. 480 insgesamt neun Bücher mit kunstvoller epistolographischer Korrespondenz heraus, also genau in jener Phase, in der sich – zumindest im Rückblick – das Schicksal des römischen Imperiums im Westen zu besiegeln schien.21 Unser Gewährsmann selbst heißt mit vollem Namen übrigens Gaius Sollius Apollinaris Sidonius.22 Er ist damit ein Beispiel für die erwähnte, in der Spätantike in der Oberschicht häufig auftretende Vielnamigkeit, deren einzelne Bestandteile auf Verwandte aus den Familien väterlicher- und mütterlicherseits zurückgehen dürften. In den wenigen Zeugnissen, in denen er namentlich auf sich selbst rekurriert, nutzte er ›Sollius‹ oder ›Sidonius‹, genauso wie seine Zeitgenossen ihn auch adressierten. Die invertierte Form ›Sidonius Apollinaris‹ geht auf das 13. Jahrhundert zurück.23 Für seinen Sohn ist im Übrigen nur noch der Name Apollinaris überliefert.24 Als Nachkomme hoher römischer Amtsträger, ehemaliger praefectus urbi Roms und Schwiegersohn des Kurzzeitkaisers Eparchius Avitus war Sidonius sicher einer der angesehensten Aristokraten Galliens seiner Zeit. Personen in den Briefen und seine Adressaten sind in aller Regel durch die Nennung eines einzigen Namens identifiziert. In Sidonius’ Korrespondenz überwiegen lateinische und christliche Namen, aber auch ein gewisser Arbogast zählt zu seinen Briefpartnern.25 Diese Tatsache deutet bereits den politischen Opportunismus an, den Sidonius in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts an den Tag legte. Vom Lobdichter diverser weströmischer Kaiser und hohem weltlichen Würdenträger in Rom durchlief er die Wandlung zum Bischof, vom Unterstützer der Visigoten, die seinen Schwiegervater protegiert hatten, wechselte er als Bischof von Clermont die Seiten und wurde zum erbitterten Feind des visi20 Vgl. dazu Martin Heinzelmann, Bischofsherrschaft in Gallien. Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. Soziale, prosopographische und bildungsgeschichtliche Aspekte (Beihefte der Francia 5), München 1976, 13–22; Ders., Les changements de la dénomination latine à la fin de l’Antiquité, in: George Duby/Jacques Le Goff (edd.), Famille et parenté dans l’occident medieval (Collection de l’école Française de Rome 30), Rom 1977, 19–24; Castritius 1997; Solin 2002; Wilson 1998, 47–61. 21 Vgl. zur Entstehung und zum Quellenwert von Sidonius’ Briefsammlung Hess 2019, 33–37. 22 Vgl. Frank-Michael Kaufmann, Studien zu Sidonius Apollinaris (Europäische Hochschulschriften. Reihe III. Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 681), Frankfurt a. M. et al. 1995, 41 mit Anm. 7; Johannes A. van Waarden, Writing to Survive. A Commentary on Sidonius Apollinaris Letters, Book 7. Volume 1: The Episcopal Letters 1–11 (Late Antique History and Religion 2), Leuven/Paris/Walpole 2010, 4f. 23 Vgl. van Waarden 2010, 5. 24 Vgl. Martin Heinzelmann, Gallische Prosopographie. 260–527, in: Francia 10 (1982), 531– 718, hier 4, 556. 25 Vgl. Sidonius, ep., IV, 17, 68.
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gotischen Königs Eurich, um schließlich – zunächst ins Exil verbannt – in die Heimat auf seinen Bischofsstuhl unter die Herrschaft der Visigoten zurückzukehren, mit denen er sich am Ende doch wieder arrangiert hatte.26 Diesen Pragmatismus und die Zusammenarbeit mit den Barbaren scheint Sidonius auch seinen Standesgenossen anzuempfehlen, zumindest liegt das als einer der Gründe für die Zirkulation seiner Briefsammlung nahe.27 Dafür spricht etwa die Heterogenität in Sidonius’ Darstellung der Visigoten in seinen gesammelten Briefen, die gleichzeitig als Ausdruck eines ganz bewusst propagierten Pragmatismus’ und als literarisierte Form eines zeitgenössischen und lebenspraktischen Bewertungswandels zu interpretieren ist. Das ›Römertum‹ wandelte sich in Gallien in einem langsamen aber stetig fortschreitenden Prozess. Besonders Ethnizität scheint kaum mit Distinktionskraft aufgeladen zu werden, zumindest werden ethnische Unterschiede bei Sidonius und seinen Nachfolgern nicht konsequent polemisch-antithetisch instrumentalisiert, sondern höchstens dann, wenn es gerade opportun erscheint, und dies zunehmend seltener. Stattdessen erwiesen sich personale Verbindungen (amicitia) als wichtiger, dabei spielte die ethnische Herkunft des Gegenübers kaum eine Rolle. Weltliche (und geistliche) Ämter konnten in Gallien auch (und später nur noch) unter ›barbarischer‹ Herrschaft bekleidet werden. Gleichzeitig rückten die Eliten der Visigoten, Burgunder und Franken durch zunehmende Bildung und durch die Besetzung administrativer Stellungen näher an die römische Oberschicht heran. Sollte ihr Überleben sichergestellt werden, galt es sich in Zukunft zu arrangieren – Sidonius’ Pragmatismus legt ein eindrückliches Zeugnis davon ab.28 Das Selbstverständnis der Oberschicht musste sich daher notwendigerweise eher über kulturelle denn über ethnische oder politische Charakteristika definieren, die zudem nicht notwendigerweise mit dem Epitheton ›römisch‹ versehen werden müssen. Als ein Beispiel wäre etwa die Betonung der Bildung aus dem ersten Quellenzitat zu nennen.29 Gerade ihre Bildung erlaubte es den Mitgliedern der gallo-römischen Oberschicht in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, auch in den regna als Bischöfe, Ratgeber und Juristen zu reüssieren. Sie wurden so zu aktiven Mitgestaltern der gentilen Herrschaft und grenzten sich gerade nicht über ihre Bildung als ›römisch‹ ab. Von den visigotischen, burgundischen und fränkischen Königen wiederum wurden ihren Fertigkeiten ein hoher Wert beigemessen. Dies hatte jedoch, wie es scheint, keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Namengebungspraxis der gesellschaftlichen Gruppe. In der Oberschicht des 26 Vgl. zur wechselhaften Biographie des Sidonius und seinem Opportunismus Hess 2019, besonders 30–33, 88–92, 155–117. 27 Vgl. ebd., 88f. 28 Vgl. dazu insgesamt ebd., 48–117. 29 Siehe Anm. 13 oben.
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6. Jahrhunderts waren noch immer viele lateinische Namen vertreten, doch ist dadurch allein nichts darüber ausgesagt, ob sich die Namenträger oder -gebenden auch noch als ›römisch‹ im klassischen Sinne verstanden. Ein Beispiel für die Kontinuität ›römischer‹ Namengebungstradition im 6. Jahrhundert wäre auf den ersten Blick in Gregor von Tours gegeben, dem zweiten Gewährsmann vom Beginn. Der Verfasser der ›Libri historiarum decem‹30 wurde 538 oder 539 in einer Zeit geboren, in der sich das Frankenreich nach der Herrschaft Chlodwigs und seiner Söhne in Gallien etabliert und sowohl das Reich der Visigoten als auch später der Burgunder einschloss. Er stammte aus einer alten und vornehmen auvergnatischen Familie. Leicht ist man versucht, dadurch eine traditionsbewusste römische Prägung der Eltern anzunehmen, die sich auch in der Namengebung durchschlug. Äußerlich betrachtet scheint Gregors voller Name, Georgius Florentius Gregorius, der klassischen Form der tria nomina zu folgen. Allerdings dürfte der römische Brauch bei der Vergabe wohl keine Rolle gespielt haben. Tatsächlich handelt es sich – worauf etwa Wolfgang Haubrichs aufmerksam gemacht hat – um drei Einzelnamen.31 Der erste Name ging auf einen Großvater Gregors zurück; auch Florentius war nicht etwa ein Gentilname, sondern der des Vaters, und Gregorius eine Nachbenennung aus der Familie der Mutter. 573 trat Gregor die Nachfolge Bischof Eufronius’ in Tours an.32 Durch König Sigibert eingesetzt, nahm er fortan direkten Anteil an der wechselvollen Geschichte seines Bistums. Als Inhaber des Bischofssitzes von Tours, der Stadt des heiligen Martin – des wichtigsten gallischen Heiligen –, kam er regelmäßig mit den Mächtigen des Frankenreiches in Kontakt und war so in zahlreiche weltliche und kirchliche Belange verstrickt.33 Er starb vermutlich 594. Viele der zahlreichen Akteure im Frankenreich, die Gregor in seinem Geschichtswerk nennt, tragen lateinische Namen. Anders sieht es dann für das 7. Jahrhundert und in späterer Zeit aus, wo sich germanisches Namengut in allen
30 Zu Entstehung und Hintergründen vgl. Adriaan Breukelaar, Historiography and Episcopal Authority in Sixth-Century Gaul. The Histories of Gregory of Tours Interpreted in their Historical Context (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 57), Göttingen 1994; Martin Heinzelmann, Gregor von Tours (538–594). ›Zehn Bücher Geschichte‹. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert, Darmstadt 1994; Alexander C. Murray (ed.), A Companion to Gregory of Tours (Brill’s Companions to the Christian Tradition 63), Leiden/Boston 2015. 31 Vgl. Haubrichs 2008, 96f. 32 Gregor, Historiae, X, 31, 534: Nonus decimus Gregorius ego indignus ecclesiam urbis Turonicae, in qua beatus Martinus vel ceteri sacerdotes Domini ad pontificatus officium consecrati sunt, […] nanctus sum. 33 Vgl. u. a. Ian Wood, Gregory of Tours, Bangor 1994, 12–21; Stefan Esders, Gallic Politics in the Sixth Century, in: Alexander C. Murray (ed.), A Companion to Gregory of Tours (Brill’s Companions to the Christian Tradition 63), Leiden/Boston 2015, Leiden/Boston 2015, 429– 461; Heinzelmann 2015, 24–30.
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Gesellschaftsschichten durchsetzte.34 Als untrügliche Vorboten dieses Siegeszuges der germanischen Namen werden häufig die gleichen wenigen Beispiele aus der Zeit Gregors angeführt.35 Sicherlich am bekanntesten ist dabei der Fall eines gewissen Gundulf: Gregor berichtet über den Gefolgsmann König Childeberts mit dem germanischen Namen, er sei dux und ehemaliger domesticus senatorischer Herkunft.36 Bei einem eher zufälligen Zusammentreffen erkannte der Bischof von Tours zudem, dass es sich bei Gundulf um seinen Großonkel handeln müsse.37 Des Onkels offensichtlich germanischer Name38 erscheint nun vor dem Hintergrund der Frage nach einer möglichen Programmatik bei der Namengebung erklärungsbedürftig. In der Forschung werden gleich mehrere Gründe für den ungewöhnlich erscheinenden Namen genannt.39 Gundulf bekam von seinen Eltern, Florentinus und Artemia, bei Geburt einen lateinischen Personennamen. Um eine Karriere am fränkischen Hof zu begünstigen, könnte er sich dann später selbst einen neuen germanischen gegeben haben. Oder schon seine Eltern hatten ein Amt am (zur Zeit von Gundulfs Geburt noch burgundischen) Hof für ihren Sohn ins Auge gefasst, das zu erreichen ihm durch die Wahl eines germanischen Namens erleichtert werden sollte. Möglich wäre außerdem, dass die Eltern sich selbst durch die Namenvergabe in ihrer ›gentilen‹ Umgebung günstig stellen wollten. Denkbar ist auch, dass Gundulf und sein Name das Produkt einer ›römisch-gentilen‹ Mischehe waren. Dabei lässt sich keine dieser Hypothesen belegen.40 Eine Namensänderung scheint bei der Vielzahl lateinischer Namensträger, die an den merowingischen Höfen tätig waren, wenig wahrscheinlich, ebenso wie die frühzeitige Vergabe durch die dann sehr weitblickenden Eltern. Zuletzt könnte die Namenswahl auch ganz unprogrammatisch erfolgt sein, ohne dass dabei eine spezifische Agenda verfolgt wurde. Vielleicht gefiel der Name lediglich oder er entsprach einem aktuellen Trend, über dessen genaue Hinter34 Siehe Anm. 7 oben; zudem Jarnut 1997b, 48f. 35 Vgl. zum Folgenden auch Hess 2019, 163–166. 36 Gregor, Historiae, VI, 11, 281: Childebertus, Gundulfum ex domestico duce facto, de genere senatorio, Massiliam dirigit. 37 Vgl. ebd.: Quem benigne susceptum recognosco matris meae avunculum esse, retentumque mecum quinque diebus, inpositisque necessariis, abire permisi. 38 Haubrichs 2008, 97. 39 Vgl. der Überblick bei Buchberger 2017, 117; außerdem u. a. Karl Ferdinand Werner, Bedeutende Adelsfamilien im Reich Karls des Großen. Ein personengeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Königtum und Adel im frühen Mittelalter, in: Helmut Beumann (ed.), Persönlichkeit und Geschichte (Wolfgang Braunfels [ed.], Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1), Düsseldorf 1965, 83–142, hier 99f.; Jarnut 1997b, 50; Haubrichs 2008, 97–99. 40 Vgl. Christa Jochum-Godglück, Germanische Personennamen in romanischen Familien Galliens, in: Wolfgang Hauchrichs/Christa Jochum-Godglück (edd.), Kulturelle Integration und Personennamen im Mittelalter (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 108), Berlin/Boston 2019, 24–44, hier 26–34.
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gründe man sich gar keine Gedanken machte. Mit diesem Befund ist es jedoch denkbar schwierig, auf das Selbstverständnis Gundulfs, seiner Eltern oder ihres Umfelds rückzuschließen, das vor allem von der älteren Forschung – häufig mit Hinweis auf die lateinischen Namen der Eltern und die Verwandtschaft zu Gregor – in einem Zirkelschluss als ehemals klar römisch und nun im Wandel befindlich apostrophiert wurde.41 Ähnliches gilt auch für den anderen häufig angeführten Fall, der die Familie des dux Lupus42 betrifft. Lupus, der selbst mit dem »Wolf« einen Tiernamen trägt und damit schon eine gewisse Nähe zum ›germanischen‹ Brauch der Benennung mit Tiernamen aufzuweisen scheint,43 hat einen Bruder mit dem lateinischgermanischen Namen Magnulf 44, also die Steigerung zu »Groß-« oder »Kraftwolf«, und nennt seinen Sohn Romulf 45. Letzteren, »Rom-« oder »Ehr-wolf«, könnte man gar für die natürliche Verbindung römischer und germanischer Tradition halten.46 Jedoch ist die unhinterfragte Prämisse bei solchen und ähnlichen Deutungen, die sich auf diesen onomastischen Befund stützen,47 dass die Akteure – und hier setzt ein Zirkelschluss ein – in der Regel zunächst (nur) auf Grund ihres Personennamens als ›Römer‹ identifiziert werden und dies umstandslos auf Identität und Selbstverständnis der Namengeber oder Namenträger übertragen wird. Wenn dann die scheinbar ›römische‹ Namentradition abbricht und durch eine ›germanische‹ ersetzt wird, muss damit, um in dieser Logik zu bleiben, auch ein mentaler Wandel bei den Zeitgenossen zu Grunde liegen. Der tatsächliche Stel41 Siehe dazu oben, 297–299. 42 John R. Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire, Bd. 3, Cambridge 1992, 1, 798f. 43 Vgl. zum ›Wolf‹ in der frühmittelalterlichen Personennamengebung Christa Jochum-Godglück, ›Wolf‹ und ›Bär‹ in germanischer und romanischer Personennamengebung, in: Wolfgang Haubrichs/Heinrich Tiefenbach (edd.), Interferenz-Onomastik. Namen in Grenz- und Begegnungsräumen in Geschichte und Gegenwart. Saarbrücker Kolloquium des Arbeitskreises für Namenforschung vom 5.–7. Oktober 2006 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 43), Saarbrücken 2011, 447– 477; zur Familie außerdem Christa Jochum-Godglück, Magnaricus und andere. Doppelt interpretierbare Namen in germanisch-romanischen Begegnungsräumen des frühen Mittelalters, in: Franciszek Grucza (ed.), Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. 17. Diachronische, diatopische und typologische Aspekte des Sprachwandels. Interferenz-Onomastik. Sprachgeschichte und Textsorten. Deutsche Dialekte und Regionalsprachen, Frankfurt a. M. 2013, 129– 134. 44 Vgl. Venantius Fortunatus, Carmina, ed. Friedrich Leo, in: Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi 4,1, Berlin 1881, 1–292, VII, 10, 164. 45 Gregor, Historiae, X, 19, 513. 46 Vgl. zuletzt Helmut Reimitz, History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550–850 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series 101), Cambridge 2015, 210–212; Buchberger 2017, 120–122. 47 Vgl. jüngst die Kritik daran bei Jochum-Godglück 2019, 37.
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lenwert des Namens für das (ethnische) Selbstverständnis wird im Einzelfall allerdings gar nicht mehr hinterfragt. Wie ›römisch‹ waren denn die LupusFamilie, Gundulf und auch Gregor noch? Inwieweit dachten diese »Latenzrömer«48 überhaupt in ethnischen Kategorien, die einer Unterscheidung zwischen ›römisch‹ und etwa ›fränkisch‹ praktische Relevanz (auch im Sinne einer Programmatik der Namengebung) verliehen hätte? Daher muss man sich tatsächlich die Frage stellen, ob mit den aufgezählten Beispielen wirklich, wie jüngst noch einmal konstatiert, »the beginnings of a shift from a Roman to a Frankish identity«49 beobachtet werden können. Für den dynamischen und heterogenen Prozess der Entstehung einer fränkischen Identität im Frühmittelalter liefern Quellen und Forschung zwar zahlreiche Belege, Anhaltspunkte bzw. Hypothesen,50 die ›römische‹ Identität oder ein ›römisches‹ Selbstverständnis werden bei den biologischen Nachkommen der antiken Römer im 6. Jahrhundert dabei jedoch stets a priori vorausgesetzt und kaum hinterfragt.51 Dies sollte aber schon für die Zeit hundert Jahre früher mit Sidonius Apollinaris getan werden, in der die römischstämmigen Zeitgenossen schon keine monolithisch dichotome Betrachtungsweise ethnischer Zuschreibungen hatten. Da es zum Ende des 6. Jahrhunderts keine Anhaltspunkte für eine Persistenz des Selbstverständnisses einer römischen Oberschicht im Frankenreich gibt, wäre es möglicherweise hier treffender, nicht von einem beginnenden »shift« zu sprechen, sondern voraussetzungslos schlicht von »beginnings«. Damit sind die Personennamen in diesem Fall nur ein schlechter, wenn nicht sogar verzerrender, Gradmesser für soziopolitische Veränderungen und keineswegs ein Indikator für ein klares ethnisches Selbstverständnis oder dessen Wandlungsprozess, denn schon die Ausgangsbasis, die Existenz eines ›römischen‹ Selbstverständnisses, ist keineswegs vorauszusetzen. Für die Methodik bleibt festzuhalten, dass namenkundliche Befunde nicht vorschnell für sich stehend geschichtswissenschaftlich ausgewertet werden können, zumindest wenn es um die Identität und das Selbstverständnis der Namengeber und -träger geht, sondern nur im quellenkritischen und abwägenden Vergleich mit paralleler Überlieferung anderer Natur. Weder Personen, die germanische Namen tragen, noch die Vielzahl an römischen Namen zu Zeiten Gregors erlauben für sich allein Kollektivrückschlüsse auf das Gruppenbewusstsein oder auf eine segregierende 48 49 50 51
Vgl. zum Begriff Hess 2019, besonders 170–175. Buchberger 2017, 121. Vgl. zuletzt Reimitz 2015. Jüngst mit Zweifeln an der Nachweisbarkeit der Existenz einer »römischen Identität« in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter auch Ralph W. Mathisen, ›Roman‹ Identity in Late Antiquity, with special attention to Gaul, in: Walter Pohl et al. (edd.), Transformations of Romanness. Early Medieval Regions and Identities (Millennium-Studien 71), Berlin/Boston 2018, 255–273.
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ethnische Selbstzuordnung ihrer Geber oder Träger. Eine Möglichkeit, diesem methodischen Problem zu begegnen, wäre es vielleicht, den Blick von ›Identität(en)‹ gesellschaftlicher Gruppen zwischen Spätantike und Frühmittelalter wegzulenken und ihn stattdessen stärker auf die »Ähnlichkeiten«52 in ihrem Selbstverständnis zu richten. Isidors Nobilis non vilis, cuius et nomen et genus scitur53 lässt sich also kaum verallgemeinern, zumindest nicht in Bezug auf das ethnische Selbstverständnis der Namengebenden oder -träger. Dem ist Sidonius entgegenzuhalten, dem Bildung wichtiger war. Außerdem verweist genus – das Geschlecht – bei Isidor ja auch keineswegs eindeutig auf die ethnische Zuordnung zu einer gens, sondern wohl eher auf die nähere familiäre Abstammung, wie etwa bei Gregor von Tours, dessen drei Namen sich aus dem Sammelbecken seiner Vorfahren zusammensetzten.
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Christoph Haack
Namen und Narrative. Ein Versuch zur ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Personennamen und der »Angelsächsischen Mission« auf Grundlage der Datenbank »Nomen et Gens«
Abstract The paper explores the »power« names have over historians: they influence historical interpretations and shape academic premises. This article uses the historio-linguistic database »Nomen et gens« (NeG) to investigate the interpretation of early medieval names as historical sources. Its objective is twofold: the inquiry aims to revise the interpretation of names as ethnic markers via the case study of the so called »Anglo-Saxon mission« and thereby to present NeG and its possibilities to the medievalist community. The database NeG is a result of the eponymous research project (www.neg.uni-tuebingen.de), reaching back to the first dawns of digital humanities in the 1970s. Its origins are set in the fierce debate on ethnic identity of that time, adding an onomastic dimension to this discussion: Do specific names indicate specific ethnicities? While originally intended to provide a sound data stock for ethnic interpretations of names, NeG quickly became part of the academic deconstruction of ethnicity as an analytical tool. Today it provides a unique – and growing – data of more than 17.250 single references to names in early medieval sources between 400– 800, assigned to 6.500 historical persons, representing 3.100 early medieval names. The paper starts with the original question of NeG concerning names and ethnicity. A first result is predictable in light of the outcome of the debate on ethnicity: ethnic labels like e. g. »goth« or »franc« are attributed only to a very small number of persons, in total 273 out of 6.528. The impact of this at first glance quite unsurprising result is shown by a reconsideration of the so called »Anglo-Saxon mission«: while seen as one of the driving forces of Frankish history in the 8th century, this »mission« is in urgent need of a reevaluation. First of all Anglo-Saxon identity is a construct of modern scholarship, as has been stressed in the last decades. Moreover, the extensive data provided by NeG comprises only 20 persons that were denominated with one of those labels usually perceived as Anglo-Saxon like »Angles« or – even more specific – »Mercians« or »Bernicians«. No more than 8 of these persons were clerics acting in the eastern borderlands of Frankish power in the 8th century, and only 3 of them did use names that would philologically be described as anglic. Only an insignificant small number of »Anglo-Saxons« in the Frankish world can thus be identified. Apparently such an attribution was of very little interest to contemporary authors when writing about single individuals. Ethnic labels like »the Franks« did matter on a higher level of group identities. But historians should cease assigning ethnic labels to persons based on their names and should stop drawing conclusion from these ascriptions. Just as the »Anglo-Saxon« mission was no
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Christoph Haack
mission in its most essential meaning, it was not »Anglo-Saxon«. A re-evaluation could shed new light on the phenomenons of cultural entanglement in the 8th century.
Namen haben Macht. Sie können politische Programme verkünden, Herrschaftsansprüche formulieren, soziale Hegemonie beanspruchen, Positionen legitimieren. Nach all diesen Zusammenhängen und vielen weiteren hat die Tagung gefragt, deren Ergebnisse der vorliegende Band präsentiert. Namen haben aber auch Macht über Historiker.1 Sie können Interpretationen vorgeben und formen, Prämissen evozieren und Vorurteile begründen. Dies ist die Dimension der Macht von Namen, nach der vorliegender Beitrag fragt. Er geht auf das Kooperationsprojekt der zugrundeliegenden Tagung zurück, die Forschungsgruppe »Nomen et Gens«. Konkret ist der vorliegende Aufsatz auf das Problem der ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Personennamen gerichtet, das heißt auf die Frage nach einem Zusammenhang von Namen und ethnischer Identität. Gibt es, anders formuliert, typisch fränkische, angelsächsische oder westgotische Namen? Können wir davon ausgehen, dass ein Mensch, der Witiza heißt, ein Westgote ist? Oder ein Wynfrith ein Angelsachse? Historiker haben das lange angenommen und aus dem Namen einer Person auf ihre Herkunft geschlossen.2 So unmittelbar einleuchtend eine solche Schlussfolgerung aber zu sein scheint, tragen doch auch heute Menschen aus unterschiedlichen Weltgegenden, Regionen oder Staaten unterschiedliche und oft spezifische Namen, so schwer lässt sich solch ein Zusammenhang empirisch fassen. Jeder wird aus der eigenen alltäglichen Erfahrung Gegenbeispiele kennen, in denen die Herkunft eines Namens und die Herkunft seines Trägers auseinanderfallen. Methodisch haben Mediävisten, ausgehend von der Hinterfragung klassischer geschichtswissenschaftlicher Konzepte wie »Volk« und »Rasse«, seit den 1970er Jahren intensiv über Ethnien und Volkszugehörigkeiten diskutiert und schließ-
1 Vgl. als Überblick zur historischen Namensforschung zuletzt Steffen Patzold, Einführung/ Introduction, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 11–20, hier 11–14. Vgl. vertiefend die weiteren Beiträge des Zeitschriftenbandes. 2 Vgl. Dieter Geuenich, Alemannische Personennamen (9.–11. Jahrhundert). Probleme ihrer Erfassung, Überlieferung und ethnischen Zuordnung, in: Jörg Riecke/Albrecht Greule/ Stefan Hackl (edd.), Namen und Geschichte am Oberrhein. Orts-, Flur- und Personennamen zwischen Mainz und Basel (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B. Forschungen 217), Stuttgart 2018, 1–20, hier 2–8. Daniela Fruscione, Wo waren die Langobarden in den italienischen Urkunden? Identität, Verwandtschaft und Namengebung, in: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), 76– 84, hier 76–78.
Ein Versuch zur ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Personennamen
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lich die ethnische Identität und ihre historische Zuweisung als vielfältiges Problemfeld markiert.3 Gleichzeitig bestehen jedoch alte Narrative der Geschichtswissenschaft, die nicht zuletzt auf der Gleichsetzung von Namen und ethnischen Identitäten beruhen, fort. Eine solche von der Forschung ethnisch gefasste historische Formation stellt die »angelsächsische Mission« auf dem Kontinent dar. An ihrem Beispiel möchte ich die These des Fortbestehens historiographischer Deutungsmuster, die unabhängig von der Dekonstruktion ihrer eigentlichen Deutungsgrundlage fortbestehen, verdeutlichen und erneut die Frage nach den Möglichkeiten der ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Personennamen stellen. Dabei bietet die Verwendung der prosopographischen Datenbank »Nomen et Gens« (NeG) als zentrales Analyseinstrument einen neuen Zugang zum Thema.4 Die Datenbank entstand seit den 1990er Jahren als Teilprojekt der gleichnamigen Forschergruppe aus der Frage nach einem Zusammenhang zwischen »Name und Volk«, Name und ethnischer Zugehörigkeit, heraus. Sie bietet ein personen- und namenkundliches Material, wie es in annähernd vergleichbarer Größenordnung bislang nicht verfügbar war. Ich werde die Ausgangsfrage von NeG nach Namen und Ethnien auf den aktuellen Datenbestand anwenden und mit diesem Analyseinstrument nach angelsächsischen Missionaren im Frankenreich suchen. Daraus sind Thesen zur »angelsächsischen Mission« und der ethnischen Interpretation von Personennamen abzuleiten. Diese Thesen sollen weiterhin die Datenbank NeG der Fachöffentlichkeit vorstellen und das Fragepotential, das ihre Daten bieten, exemplarisch ausleuchten.
Die Angelsächsische Mission Als »angelsächsische Mission« bezeichnen Historiker die Aktivitäten von Mönchen und Geistlichen aus den germanischsprachigen Regionen des heutigen Großbritannien, die zwischen etwa 700 und 800 an der Institutionalisierung des Christentums in den östlichen Randzonen des Frankenreichs beteiligt waren.5 Im 3 Zur Übersicht Christian Stadermann, Gothus. Konstruktion und Rezeption von Gotenbildern in narrativen Schriften des merowingischen Gallien (Roma Aeterna. Beiträge zu Spätantike und Frühmittelalter 6), Stuttgart 2017, 26–28. Walter Pohl, Ethnicity, Theory and Tradition. A Response, in: Andrew Gillett (ed.), On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages (Studies in the Early Middle Ages 4), Turnhout 2002, 221– 240, hier 221–224. 4 Nomen et Gens – Datenbank, www.neg.uni-tuebingen.de/?q=de/datenbank (05. 08. 2019). 5 Den jüngsten Definitionsversuch bietet, soweit ich sehe, Michael Imhof, Christianisierung in der Spätantike und im frühen Mittelalter, in: Ders./Gregor K. Stasch (edd.), Bonifatius. Vom angelsächsischen Missionar zum Apostel der Deutschen, Petersberg 2004, 7–38, hier 36f. In vieler Hinsicht grundlegend: Wilhelm Levison, England and the Continent in the 8th Century.
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Lexikon des Mittelalters liest sich die Wirkkraft der »angelsächsischen Mission« noch als »Paarung« einer »eigen- und landeskirchlichen Ordnung mit germanischem Selbstbewusstsein«: »All diese Energien drängten schon in der dritten chr. Generation zur Wirkung nach außen, aber als rational durchdachte, auf die Glaubenspredigt bei den Festlandsgermanen zielende Planung«.6 Maßgeblich für diese Bewegung waren nach gängiger Erzählung die Umstände der Christianisierung der britischen Inseln selbst: Geprägt vom missionarischen Impetus der christlichen Lehren Papst Gregors des Großen (†604) seien bald angelsächsische Mönche ihrerseits aufgebrochen, den Glauben zu verbreiten.7 Einer der ersten dieser Missionare im Grenzgebiet des Frankenreichs war der hl. Willibrord (†739),8 der Gründer des Klosters Echternach im heutigen Luxemburg.9 Ihm seien im 8. Jahrhundert »hunderte« Angelsachsen auf den Kontinent gefolgt.10
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The Ford Lectures Delivered in the University of Oxford in the Hilary Term 1943, Oxford 1946. Vgl. Yitzhak Hen, Wilhelm Levison’s Willibrord and Echternach, in: Matthias Becher/ Yitzhak Hen (edd.), Wilhelm Levison (1876–1947). Ein jüdisches Forscherleben zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und politischem Exil (Bonner Historische Forschungen 63), Siegburg 2010, 187–198. Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bietet James Palmer, Anglo–Saxons in a Frankish World 690–900 (Studies in the Early Middle Ages 19), Turnhout 2009, 9–21. Zum Phänomen daneben zuletzt Christofer Zwanzig, Heidenheim and Samos. Monastic Rememberance of the »Anglo-Saxon Mission« in Southern Germany and the »Mozarabic Resettlement« of Northern Spain Compared, in: José Sánchez-Pardo/Michael G. Shapland (edd.), Churches and Social Power in Early Medieval Europe. Integrating Archaeological and Historical Approaches (Studies in the Early Middle Ages 42), Turnhout 2015, 269–295. Marco Mostert, Communicating the Faith, the Circle of Boniface, Germanic Vernaculars, and Frisian and Saxon Converts, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 70 (2013), 87–130. Dáibhí Ó Cróinín, Willibrord und die frühe angelsächsische Missionierung Kontinentaleuropas, in: Christoph Stiegemann/Martin Kroker/Wolfgang Walter (edd.), Credo. Christianisierung im Mittelalter. Bd. 1: Essays, Petersberg 2013, 239– 249, hier 239–241. Vgl. auch Monika Suchan, Mahnen und Regieren. Die Metapher des Hirten im Frühen Mittelalter (Millennium-Studien/Millennium Studies 56), Berlin/Boston 2014, 111–131. Grundsätzlich in Frage stellt den Begriff Rosamund McKitterick, AngloSaxon Missionaries in Germany. Personal Connections and Local Influences, in: Dies., The Frankish Kings and Culture in the Early Middle Ages (Variorum collected studies series 477), Aldershot 1995, 1–40, hier 27. Theodor Schieffer, Angelsächsische Mission, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), 622–624, hier 622. Suchan 2014, 111. Personennamen sind im Folgenden nach ihrer Schreibweise in der Datenbank »Nomen et Gens« und mit ihrer dortigen ID angegeben, hier: Neg-ID P7705. Ó Cróinín 2013, 239–249. Rolf H. Bremmer, The Anglo-Saxon Continental Mission and the Transfer of Encyclopaedic Knowledge, in: Ders./Kees Dekker (edd.), Foundations of Learning. The Transfer of Encyclopaedic Knowledge in the Early Middle Ages (Mediaevalia Groningana New Series 9), Paris/Leuven/Dudley, MA 2007, 19–50, hier 21: »the massive evangelising project which in the course of some three generations brought hundreds of Anglo-Saxon monks and nuns to the continent and, reversely, some Frisians to England«.
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Den Prototypen des angelsächsischen Missionars, der als Einzelaspekt auch die weitaus größte Aufmerksamkeit der Forschung gefunden hat,11 stellt der hl. Bonifatius dar.12 Geboren um 675 in Wessex, einem Königreich im Südwesten des heutigen England, wurde er zunächst auf den Namen »Wynfrith« getauft.13 Als Kind dem Kloster Exeter übergeben, ging er erst 716 als Missionar auf den Kontinent. Dabei nahm er 718 den ihm wohl von Papst Gregor III.14 verliehenen Namen »Bonifatius« an. Vom Papst wurde er 722 zum Bischof – ohne Bischofssitz – erhoben, 732 zum Erzbischof von Mainz geweiht. Bonifatius suchte engen Anschluss auch an die karolingischen Hausmeier Karl Martell (†741)15 und dessen Sohn Karlmann (†754).16 Zeitweise war Bonifatius einer der wichtigen theologischen Berater dieser Herrscher und eine äußerst einflussreiche Persönlichkeit im Frankenreich. Am 5. Juni 754 wurde er während einer Tauffeier in Friesland erschlagen.17 Zeit seines Lebens blieb Bonifatius brieflich mit seiner Heimat verbunden, außerdem stand er in Kontakt mit Korrespondenzpartnern in Rom, im Umfeld der fränkischen Herrscher und mit zahlreichen Bischöfen und Gelehrten.18 Daher 11 Zur Biographie des Bonifatius vgl. Lutz E. von Padberg, Bonifatius (672 / 675–754), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. völlig überarb. und erw. Auflage, Berlin 2008, 645f.; Ders., Bonifatius. Missionar und Reformer (Beck’sche Reihe/C. H. Beck Wissen 2319), München 2003. Als neuere, detaillierte und quellennahe monographische Biographie vgl. John-Henry Clay, In the Shadow of Death. Saint Boniface and the Conversion of Hessia, 721–754 (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 11), Turnhout 2010. Für einen knappen Überblick mit Literatur und Quellenangaben Janneke Raaijmakers, The Making of the Monastic Community of Fulda, c. 744–c. 900 (Cambridge studies in medieval life and thought. Fourth series 83), Cambridge 2012, 19–26. Zu Bonifatius vgl. auch Heinrich Wagner, Bonifatiusstudien (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 60), Würzburg 2003. 12 P7400. 13 Zu Bonifatius’ Doppelnamen vgl. seinen Brief an Eangyth (P33750) und Heaburg (P33751) von ca. 719: Bonifatius, Epistolae. Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Michael Tangl (Monumenta Germaniae Historica. Epistolae Selectae 5), Berlin 1916, Nr. 14, 21: Benedicto in Deo in fide ac dilectione venerabili Uuynfrido cognomento Bonifatius. 14 P22451. 15 P23022. 16 P7385 und P7387. 17 Willibald, Vita Bonifatii, ed. Georg Heinrich Pertz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptorum rerum Germanicarum [57]), Hannover/Leipzig 1905, c. 8, 49f. 18 Zu den Briefen des Bonifatius vgl. Timothy Reuter, »Kirchenreform« und »Kirchenpolitik« im Zeitalter Karl Martells. Begriffe und Wirklichkeit, in: Jörg Jarnut/Ulrich Nonn/Michael Richter (edd.), Karl Martell in seiner Zeit (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, 35– 59, hier 36–39. McKitterick 1995, 10–15. Nach wie vor in vielen Fällen nicht überholt: Michael Tangl, Studien zur Neuausgabe der Bonifatius-Briefe, in: Neues Archiv 40 (1916), 639–790 (ND in: Ders. [ed.], Das Mittelalter in Quellenkunde und Diplomatik. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Graz 1966, 60–177). Ders., Studien zur Neuausgabe der Bonifatius-Briefe, in: Neues Archiv 41 (1919), 21–101 (ND in: Ders. [ed.], Das Mittelalter in Quellenkunde und Diplomatik. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Graz 1966, 178–240).
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bieten seine Briefe eine herausragende Quelle für die Missionsaktivitäten in den Randbereichen des Frankenreichs, ja sie stellen insgesamt eine der umfangreichsten Quellen für das Frankenreich des mittleren 8. Jahrhunderts dar.19 In seinen Briefen prangerte Bonifatius immer wieder Missstände in den Kirchen des Frankenreiches an, etwa die unwürdige Lebensweise der Bischöfe,20 häretische Lehren,21 das Fehlen wichtiger kirchlicher Institutionen wie regelmäßiger Konzilien,22 die Verbreitung des Konkubinats unter Geistlichen.23 Die Forschung hat diese Vorwürfe abstrahiert und aus ihnen eine allgemeine Zustandsbeschreibung der »fränkischen Kirche« im 8. Jahrhundert abgeleitet.24 Auf diesem Bild wiederum baut die These einer grundlegenden Konfrontation zwischen angelsächsischen »Reformern« und dem verweltlichten »fränkischen Episkopat« auf, dessen kriegerische Lebensweise durch die Reformbemühungen des Bonifatius und seiner Landsleute in Frage gestellt und schließlich in einer Kirchenreform seit dem späteren 8. Jahrhundert überwunden worden sei.25 Als späte Repräsentanten der »Angelsächsischen Mission« gelten der hl. Willibald26 (†786) und der hl. Lul von Mainz27 (†786), Schüler des Bonifatius, die wohl wie er aus dem Königreich Wessex stammten. Mit ihrem Tod seien die angelsächsischen Missionsbemühungen in den maßgeblich von ihrem Einfluss angestoßenen, nun aber eigenständigen Kirchenreformen Karls des Großen aufgegangen.28
19 Vgl. Karl Ubl, Die Karolinger. Herrscher und Reich (Beck’sche Reihe/C. H. Beck Wissen 2828), München 2014, 21. 20 Bonifatius, Epp., Nr. 50, 83. 21 Concilia aevi Karolini [742–817], ed. Albert Werminghoff (Monumenta Germaniae Historcia. Concilia 2,1), Hannover/Leipzig 1906, Nr. 5, 38–40 = Bonifatius, Epp., Nr. 59, 108–120. Der Brief ist in die Akten einer Synode in Rom 745 inseriert und nur in dieser Form überliefert; die Konzilsakten wiederum sind nur auf diese Weise, als Teil des bonifatianischen Briefkorpus, erhalten. Zum Konzil vgl. Synode in Rom 745, www.geschichtsquellen.de/rep Opus_01434.html (05. 08. 2019). 22 Bonifatius, Epp., Nr. 50, 82. 23 Entspricht Bonifatius, Epp., Nr. 59, S. 108–120. Entspricht MGH Conc. 2,1, Nr. 5, 38–40, vgl. zur Überlieferung des Briefs Anm. 21. Bonifatius, Epp., Nr. 50, 82. 24 Reuter 1994, 36–39. 25 Suchan 2014, 130. 26 P22722. 27 P7413. 28 Schieffer 1980, 624. Vgl. Reuter 1994, 37.
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Ethnische Identität und Personennamen Im Jahr 748 schrieb ein römischer Erzdiakon namens Theophylactus29 einen Brief an Bonifatius.30 Der Erzdiakon stellte offenbar eine Art Mittelsmann des Bonifatius in Rom dar und begleitete mit diesem Schreiben eine Antwort des Papstes auf eine Reihe von Anfragen, die jener an den Papst gerichtet hatte.31 Bonifatius war zu dieser Zeit gut siebzig Jahre alt, seit rund 30 Jahren im Frankenreich aktiv und hatte wohl den Höhepunkt seines Einflusses in der fränkischen Welt überschritten. Die Antwort des Papstes jedenfalls fiel zwar freundlich zusprechend, letztlich aber wohl doch enttäuschend für Bonifatius aus. Zacharias lehnte nämlich die Bitte ab, weitere Gesandte zur Unterstützung des alten Erzbischofs über die Alpen zu schicken.32 Theophylactus flankierte diese Absage mit seinem Schreiben, das voll des Lobes für Bonifatius war: »Dem ausgezeichneten Vater und Herrn, dem mit den Abzeichen des Himmels geschmückten Erzbischof Bonifatius Theophylactus, unwürdiger Erzdiakon des heiligen apostolischen Stuhls. […] Wir habe Eure Aufträge, Ausgezeichneter und überragende Leuchte des Priestertums, so wie Ihr sie in einem lichtvollen Schreiben aufgezeichnet uns zur Kenntnis bringt, alle zusammen vor die engelsgleichen Ohren meines seligen Herrn des Papstes gebracht. […] Und er geruht Euch zu versichern, dass Ihr über die Abtrünnigen und Ketzer urteilt, wie es sich gebührt. […] Gott möge unter euer heiligen Zeit die im Westen und ringsum wohnenden Völker auf die Beredsamkeit eurer seligen Verkündung hin ewig blühen lassen im Glauben des heiligen katholischen apostolischen Stuhles.«33
Zwar ist diese Antwort des römischen Erzdiakons hier verkürzt wiedergeben, doch dürfte sein nach heutigen Maßstäben recht weitschweifiger Schreibstil deutlich werden. Der Brief ist damit allerdings ein gutes Beispiel für die Form der 29 P357808. Außerhalb des bonifatianischen Briefkorpus möglicherweise noch als Teilnehmer des »Concilium Romanum« von 743 belegt. MGH Conc. 2,1, Nr. 3c, 27. Zum Konzil vgl. Synode in Rom 743. 30 Bonifatius, Epp., Nr. 84, 188. 31 Tangl 1916, 752–754. 32 Bonifatius, Epp., Nr. 80, 177. 33 Ebd., Nr. 84, 188: Aegregio patri et domino supernis fascibus decorato Bonifatio archiepiscopo Theophylactus indignus archidiaconus sanctae sedis apostolicae. […] Nos quidem, egregie et sacerdotale prefulgidum apex, ut inlustre per pagina exaranda notescendo notescitis, distincte incursa et vigilantius in quo angelicas et beati domini mei et singillatim protulimus aures. Et […] dominus ter beatus in apostolica vos ad presens dignatur informatione firmari, qualiter […] de scysmaticis et hereticis illis seu excommunicatis et ab orthodoxe fidei regula nequiter aberrantibus censeatis, ut convenit […] et vestro sancto sub tempore non tantum occiduas, sed usque quaque floreant nationes. Übersetzung nach Die Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius. Nebst einigen zeitgenössischen Dokumenten, lat.-dt., ed. Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-SteinGedächtnisausgabe 4b), Darmstadt 1968, Nr. 84, 283–285.
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Briefkommunikation in der karolingischen Welt:34 Sie folgte strengen hierarchischen Regeln, die über ihre sprachliche Gestaltung nuanciert zum Ausdruck gebracht wurde; einem Untergebenen schrieb man anders als einer hochrangigen Persönlichkeit wie dem Erzbischof Bonifatius.35 Die materiellen Details einer Botschaft waren dabei oft gar nicht Teil der heute noch erhaltenen Briefe selbst, sondern wurden vom Träger des Schreibens mündlich überbracht. Das bedeutet, dass Einzelheiten, an denen moderne Historiker interessiert sind, vielfach nicht im Brief stehen. Offenbar waren nicht sie die zeitgenössisch wesentlichen Elemente des Briefaustausches. Viel wichtiger war der Brief als Beglaubigung einer Botschaft und als Medium des Austauschs intellektueller Eliten, der maßgeblich darauf gerichtet war, mit Bibel- und anderen Zitaten die eigene Gelehrsamkeit unter Beweis zu stellen und das Gegenüber mit der eigenen sprachlichen Gewandtheit zu beeindrucken. All das ist wichtig, um den Brief des Theophylactus richtig einordnen zu können. Dennoch ist ein Brief immer auch als Ausdruck der Persönlichkeit seines Verfassers interpretierbar und dies ist die Ebene, auf der das Schreiben des Theophylactus an Bonifatius für die Frage nach der ethnischen Interpretation von Personennamen interessant wird. Der Editor der Bonifatiusbriefe, Michael Tangl, zog nämlich aus dem Schreibstil des Absenders in Kombination mit dem Namen »Theophylactus« weitreichende Folgerungen. In einer Fußnote zur Person des römischen Erzdiakons wies er eine bislang gängige Identifizierung als »Angelsachse« zurück. Sie hatte vor allem auf dem umständlichen Schreibstil beruht, der als Adaption des Stils des ersten großen angelsächsischen Gelehrten Aldhelm36 (†709/710) gedeutet wurde.37 Tangl sah in Theophylactus hingegen auf 34 Dazu vgl. jetzt Thomas Deswarte/Klaus Herbers/Cornelia Scherer (edd.), Frühmittelalterliche Briefe. Übermittlung und Überlieferung (4.–11. Jahrhundert) = La lettre au haut Moyen Âge: transmission et tradition épistolaires (IVe–XIe siècles) (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 84), Köln/Weimar/Wien 2018. 35 Vgl. als detaillierte Fallstudie die unterschiedlichen Adressatenniveaus in den Briefen Einhards, Brigitte Kasten, Aspekte des Lehnswesens in Einhards Briefen, in: Hermann Schefers (ed.), Einhard. Studien zu Leben und Werk (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission. Neue Folge 12), Darmstadt 1997, 247–267, hier 249. Hier etwa die Briefe Einhards von 830 an Lothar I. im Kontrast zu den Geschäftsschreiben an Verwalter und andere Funktionsgehilfen, Einhard, Epistolae, ed. Karl Hampe, in: Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 5, Berlin 1899, 105–145, Nr. 11, 114f. (an Lothar I.); Nr. 9, 113 (an den vicedominus von Fritzlar); Nr. 16, 118 (an einen Bischof mit Bitte um Vermittlung bei Lothar I.). Zu Einhards Briefen und seiner Stellung zu Lothar I. vgl. Steffen Patzold, Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard, Stuttgart 2013, 262–268. Die Briefe Einhards siehe jetzt in der neuen Übersetzung mit Kommentar: Annette Grabowsky et al. (edd.), Einhards Briefe. Kommunikation und Mobilität im Frühmittelalter (Acta Einhardi 3), Seligenstadt 2018, hier Nr. 34, 152–157; Nr. 37, 162f.; Nr. 43, 182f. 36 P35392. 37 Heinrich Hahn, Bonifaz und Lul. Ihre angelsächsischen Korrespondenten. Erzbischof Luls Leben, Leipzig 1883, 238 und 246.
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derselben Grundlage einen »Syrer oder Griechen«: »Schwülstige Sprache ließ sich auch noch von anderen Vorbildern als Aldhelm lernen; überdies schrieben die Angelsachsen ein besseres Latein als dieser Grieche oder Syrer«.38 Die aus dem griechischsprachigen Namen des Theophylactus abgeleiteten Folgerungen verband Tangl mit einer abqualifizierenden Wertung, einem »schwülstigen« Schreibstil und schlechtem Latein. Die zugrundeliegende Herkunftsbestimmung aber erfolgte nicht auf Basis einer soliden Untersuchung, sondern war vielmehr eine reine Vermutung, und so verrät sie weit weniger über die Herkunft des römischen Erzdiakons als über Deutungsmuster und Vorurteile deutscher Historiker des Kaiserreichs. Ethnische Zuweisungen wie diese prägen jedoch als Grundlagenforschung aktuelle Arbeiten bis heute. Meist schlicht deshalb, weil sie als kleinteilige Detailinformation nicht hinterfragt werden, auch wenn kaum ein Historiker das methodische Vorgehen hinter diesen Zuschreibungen teilen würde. Eine Herkunftsbestimmung wie diese aber ist keine Lappalie. Denn wie im Falle des Theophylactus ist der Name oft das einzige biographische Detail, das für frühmittelalterliche Personen überliefert ist. Zudem hat die Forschung, zumal die deutschsprachige, bis in die 1960er Jahre hinein ethnische Entitäten mit gentilen Verbänden gleichgesetzt, das heißt mit »Stämmen« oder »Völkern«, in denen sie biologisch wie kulturell homogene Gemeinschaften gesehen hat.39 So haben Historiker wie in diesem Beispielsfall aus Namen oft weitreichende Folgerungen gezogen und etwa aus den Namen rheinischer Bischöfe die Installation einer fränkischen Führungsschicht in der Region im 8. Jahrhundert geschlussfolgert oder Namen als Nachweise für die Ansiedlung fränkischer Besatzungstruppen in Grenzregionen interpretiert.40 Interpretationen wie diese gerieten seit etwa den 1970er Jahren in die Kritik, als Teil einer umfassenden internationalen Diskussion um Ethnien, Identitäten und ihre soziale Konstruktion. Die Debatte darum hat in den letzten Jahrzehnten ein zentrales Feld kulturwissenschaftlicher Forschung zum frühen Mittelalter gebildet.41 In der deutschsprachigen mediävistischen Forschung wurde sie nicht 38 Bonifatius, Epp., Nr. 84, 188 mit Anm. 1. 39 Vgl. Stadermann 2017, 26f. 40 Die militärische Deutung der Namen geht besonders zurück auf die Arbeiten Heinrich Dannenbauers, vgl. etwa Heinrich Dannenbauer, Freigrafschaften und Freigerichte, in: Theodor Mayer (ed.), Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte. Mainauvorträge 1953 (Vorträge und Forschungen 2), Lindau 1955, 57–76, hier 74. Vgl. auch: Das Besitzverzeichnis der Genter Sankt-Bavo-Abtei von ca. 800 (Clm 6333). Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der karolingischen Urbarialaufzeichnungen, ed. Adriaan Verhulst, in: Frühmittelalterliche Studien 5 (1971), 193–234, hier 215–217. 41 Einen konzisen Überblick bietet jetzt Stadermann 2017, 25–33 und 37f. Als tiefschürfende Aufarbeitung der deutschsprachigen Ethnogeneseforschung David Jäger, Plündern in Gallien 451–592. Eine Studie zur Relevanz einer Praktik für das Organisieren von Folgeleistungen
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zuletzt ausgehend von der Personen(namen)forschung, wie sie etwa von Eugen Ewig und seinen Schülern betrieben wurde, geführt.42 Ging es dabei zunächst vor allem um eine methodische Absicherung ethnischer Zuweisungen und Fragen der empirischen und quantitativen Unterfütterung von Ergebnissen, so trugen diese Forschungen schnell dazu bei, das Konzept der ethnischen Identifikation grundsätzlich in Frage zu stellen.43 In den letzten Jahrzehnten ist so immer klarer gefasst worden, dass diese Identitäten komplexe, vielschichtige Akte der Selbstund Fremdwahrnehmung und -zuschreibung sind, die erst in menschlicher Interaktion erzeugt werden und alles andere als eindeutig sind.44 Die Ethnie eines Menschen lässt sich damit nicht anhand eines einzigen »ethnischen Markers« bestimmen, etwa archäologisch an einer bestimmten Fibelform oder einer bestimmten Art der Wurfaxt in seinem Grab.45 Auf Namen übertragen bedeutet das: Auch ein Name ermöglicht aus sich heraus keine eindeutige ethnische Zuweisung. Mit der Datenbank »Nomen et Gens« (NeG) liegt jetzt ein Instrument vor, das jene empirische Basis bereitstellt, deren Erarbeitung ein wichtiger Ausgangspunkt der Diskussion um ethnische Identitäten war. Hat sich die ursprüngliche Fragestellung mit dem Fortgang der Diskussion schnell erweitert, so stellt die Datenbank nun umfangreiches Material für prosopographische und namenkundliche Fragestellungen aller Art zur Verfügung.
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(Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 103), Berlin 2017, 20–51. Besonders zur Konstruktion sozialer Identitäten Helmut Reimitz, History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550–850 (Cambridge studies in medieval life and thought. Fourth series 101), Cambridge 2015, 1–24. Wirkmächtige Arbeiten sind Patrick Geary, Ethnic Identity as a Situational Construct in the Early Middle Ages, in: Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 113 (1983), 15–26. Walter Goffart, The Narrators of Barbarian Historia (A. D. 550–800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon, Princeton 1988. Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, München 1979. Als Zwischenbilanz vgl. Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West 376–568 (Cambridge Medieval Textbooks), Cambridge 2007, 14–19 und 35–45. Aus kritischer Perspektive besonders Charles R. Bowlus, Ethnogenesis. The Tyranny of a Concept, in: Andrew Gillett (ed.), On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages (Studies in the Early Middle Ages 4), Turnhout 2002, 241–256. Als Forschungsrückblick vgl. Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut, Vorwort, in: Dies. (edd.), Nomen et Gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personenamen (Reallexikon zur Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 16), Berlin/New York 1997, V–VIIII. Horst Ebeling/Jörg Jarnut/Gerd Kampers, Nomen et Gens. Untersuchungen zu den Führungsschichten des Franken-, Langobarden und Westgotenreiches im 6. und 7. Jahrhundert, in: Francia 8 (1981), 687–745. Stadermann 2017, 27f. Besonders umstürzend ist die Frage der ethnischen Interpretation in der Archäologie des Frühmittelalters diskutiert worden, vgl. Sebastian Brather, Ethnische Interpretation in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 42), Berlin 2004, 1–10.
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Projekt und Datenbank »Nomen et Gens« Die Datenbank NeG blickt als Teil des gleichnamigen Projekts auf eine lange Projektgeschichte zurück, deren Anfänge bis in die 1970er Jahre zurückreichen.46 Wie der Titel »Name und Volk« andeutet, nahm dieses Projekt seinen Ausgang eben in jenen Fragestellungen nach der Deutung und Bedeutung ethnischer Identität, die in jenen Jahren zu einem der zentralen Diskussionsfelder der spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichte wurde.47 Da die Initiatoren von »Nomen et Gens« Historiker waren, mit der Frage nach einem Zusammenhang zwischen Namen und gentiler Zugehörigkeit aber einen sprachwissenschaftlichen Gegenstand trafen, waren sie der Überzeugung, dass eine Klärung ihrer Frage nur in einem interdisziplinären Ansatz möglich war.48 Die Besonderheit von »Nomen et Gens« besteht so in der Zusammenarbeit von Historikern und Sprachwissenschaftlern, die sich nach umfangreicheren ersten Arbeiten im Lauf der 1990er Jahre zu einer festeren Arbeitsgruppe konstituierten.49 Gleichzeitig setzte die Gruppe mit dem zentralen Ziel, ihre Ausgangsfragestellung über eine empirische, quantitativ ausreichend umfangreiche Datenbasis zu objektivieren, früh auf die – in den 1970er und 80er Jahren neuen – Möglichkeiten der digitalen
46 Zur Geschichte von »Nomen et Gens« Steffen Patzold, Personen, Namen, Lemmatisierung. Namenforschung zwischen Geschichts- und Sprachwissenschaft am Beispiel des Projekts »Nomen et Gens«, in: Namenkundliche Informationen 101/102 (2013), 22–48, hier 23–27. Albrecht Brendler, Le projet Nomen et Gens, in: Bernadette Cabouret-Lauriox (ed.), La prosopographie au service des sciences sociales, Paris 2014, 273–288. Dieter Geuenich/Ingo Runde, Vorwort, in: Dies. (edd.), Name und Gesellschaft im Frühmittelalter. Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische, soziale und kulturelle Gruppenzugehörigkeiten (Deutsche Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage 2), Hildesheim/ Zürich 2006, 7–9. Stefan Sonderegger, Laudation auf die Forschergruppe »Nomen et Gens«, in: Dieter Geuenich/Ingo Runde (edd.), Name und Gesellschaft im Frühmittelalter. Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische, soziale und kulturelle Gruppenzugehörigkeiten (Deutsche Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage 2), Hildesheim/Zürich 2006, 11–22. 47 Hans-Werner Goetz, Gentes in der Wahrnehmung frühmittelalterlicher Autoren und moderner Ethnogeneseforschung. Zur Problematik einer gentilen Zuordnung von Personennamen, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (edd.), Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters. Beiträge des Kolloquiums »Person und Name« in der Tagungsstätte der Werner Reimers Stiftung zu Bad Homburg v. d. H., 10.–13. Dezember 1997 (Reallexikon zur germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 32), Berlin/New York 2002, 204–220. 48 Maßgeblich zunächst Jörg Jarnut und Gerd Kampers, von sprachwissenschaftlicher Seite Wolfang Haubrichs und Dieter Kremer. Dazu kamen bald zahlreiche weitere Wissenschaftler, etwa Hans-Werner Goetz, Dieter Geuenich, Ulrich Nonn, Matthias Springer, Helmut Castritius, Dieter Hägermann. 49 Vgl. Patzold 2013, 25.
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Datensammlung.50 Im Ergebnis entstand als Teil einer DFG-Förderung zwischen 2000 und 2006 eine MYSQL-Datenbank, die online verfügbar ist.51 Diese Datenbank, deren Bestand weiterhin kontinuierlich wächst, stellt eine Datenbasis zur Verfügung, wie sie den Initiatoren von »Nomen et Gens« in den 1980er Jahren vorschwebte. Sie erfasst Personen und Personennamen für die Zeit zwischen 400 und 800, zum Teil zeitlich darüber leicht hinausgehend. Die Datenaufnahme erfolgt in den drei Hauptkategorien Einzelbelege, Personen und Namen (siehe Abbildung 1). Während die Einzelbelege jede Namensnennung in einer beliebigen Quelle darstellen, etwa die Namen in der Adresszeile im Brief des Theophylactus, so stellen die Personen die Zuweisung solcher Namensnennungen zu historischen Personen dar. Personen werden in der Datenbank mit einem »Standardnamen« gekennzeichnet, der weitere Merkmale wie Titel und Sterbedatum enthält, um eine Person eindeutig zu kennzeichnen. Im Fall des Bonifatius zum Beispiel »Bonifatius« . Der Name wiederum gibt die sprachwissenschaftliche Seite des Projekts wieder, indem verschiedene Personennamen auf ein Lemma, ein gemeinsames Schlagwort, zurückgeführt werden. Dieses Lemma stellt die sprachwissenschaftliche Rekonstruktion eines gemeinsamen Ausgangspunktes der unterschiedlichen Ausprägungen eines Namens dar.52 Der Name etwa, den wir als »Theodo« für bairische Herzöge des 7. und 8. Jahrhunderts kennen, ist in der Datenbank in zahlreichen verschiedenen Schreibweisen belegt, wie Teodo, Teuto und Diddo. Die Datenbank geht in der Namensbildung bis auf die Handschriftenebene hinab, indem die Varianten von Namen in unterschiedlichen Handschriften aufgenommen werden. Deshalb sind in der Datenbank auch die jeweiligen Textzeugen einer Quelle aufgelistet und mit ihrem Namenmaterial verknüpft. Auch die Quellen und Editionen sind selbstverständlich nachgewiesen. All die verschiedenen Schreibweisen des Namens »Theodo« sind in der Datenbank NeG unter dem Lemma »Þeudan« zusammengefasst.53 Für Historiker hat das zunächst einmal den 50 Dieter Geuenich/Alfred Lohr, Der Einsatz der EDV bei der Lemmatisierung mittelalterlicher Personennamen, in: Onoma 22 (1978), 554–585. Dieter Geuenich, Eine Datenbank zur Erforschung mittelalterlicher Personennamen und Personengruppen, in: Neithard Bulst/ Jean-Philippe Genet (edd.), Medieval Lives and the Historian. Studies in Medieval Prosopography. Proceedings of the First International Interdiciplinary Conference on Medieval Prosopography University of Bielefeld 3–5 December 1982, Kalamazoo 1986, 405–417. 51 Nomen et Gens, www.neg.uni-tuebingen.de (05. 08. 2019), hier »Datenbank«. 52 In der Datenbank sind zwei unterschiedliche Arten von Lemmata wählbar. Das eine, der »Namen« ist die beschriebene sprachwissenschaftliche Bearbeitung des Namensmaterials. Das andere, als »MGH-Lemma« bezeichnete, gibt die Verschlagwortung wieder, nach denen Namen in der Reihe »Libri memoriales« der MGH geordnet sind. Dieses Lemma erleichtert den Vergleich des Namensbestandes von NeG mit dem der MGH-Bände und weiterer Bestände. 53 Datenbank ID N1002.
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Abbildung 1: Startseite der Datenbank Nomen et Gens. Die Hauptkategorien der Datenaufnahme »Einzelbelege«, »Personen« und »Namen« in der Navigationsleiste. Rechts daneben das Suchfenster.
Vorteil, unterschiedliche Formen desselben Namens unter einem Schlagwort zusammenführen zu können, das nicht willkürlich, sondern nachvollziehbar gebildet ist und weiter, sie überhaupt als Formen desselben Namen zu erkennen. Für Philologen eröffnet diese Lemmatisierung darüber hinaus Möglichkeiten der Analyse von Namen als sprachliche Phänomene.54 Derzeit sind in der Datenbank rund 71.000 einzelne Einzelbelege aufgenommen, die sich gut 29.000 Personen zuordnen lassen und einen historischen Namensbestand von 8.600 Namen repräsentieren. Der Öffentlichkeit steht ein – ebenfalls kontinuierlich wachsender – Ausschnitt dieser Gesamtmenge online zur Verfügung, derzeit 17.250 Einzelbelege, 6.500 Personen und 3.152 Namen.55 Ethnische Zuweisungen werden in NeG nur dann vorgenommen, wenn sie in einer Quelle getroffen werden. Nur wenn also eine Person in mindestens einem Einzelbeleg als francus, langobardus, alamannus oder ähnlich bezeichnet wird, wird ihr die entsprechende Ethnie zugewiesen. Namen und Personen werden damit nicht allein aufgrund einer geographischen Verortung eines Namensbe54 Vgl. Patzold 2013, 40. 55 Wer zu Forschungszwecken an einem umfangreicheren Zugang interessiert ist, kann über [email protected] Kontakt mit dem Projekt aufnehmen.
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Abbildung 2: Ein »Einzelbeleg« zu Bonifatius, hier Annales Mettenses priores, ed. Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [10]), Hannover/ Leipzig 1905, a. 718, 26 (der Quellennachweis ist im Bildausschnitt nicht sichtbar). Per Pfeil markiert: 1) Belegform (die Namensnennung wie im Editionstext der Quelle). 2) der »Standardname« des Bonifatius in der Datenbank. 3) Die Datenbank-ID des Einzelbeleges.
leges ethnisch markiert: Nach dieser Methode sind zum Beispiel nicht alle Bewohner der historischen Region als Aquitanier gekennzeichnet,56 sondern nur diejenigen, die von frühmittelalterlichen Autoren als solche bezeichnet wurden, üblicherweise mit einem Verweis auf die Abstammung, etwa de natione Aquitanum.57 Von den derzeit 6.528 in der frei zugänglichen Version der Datenbank nachgewiesenen Personen sind auf diese Weise nur 273 ethnisch markiert, das heißt 4,2 %. Dieser Befund wird aber noch einmal modifiziert durch ein weiteres Detail die Aufnahmepraxis: Denn als direkte ethnische Zuweisung gilt auch eine Bezeichnung mit einem Amtstitel, wie rex Francorum oder dux Alamannorum. Diese Praxis geht davon aus, dass die Führungspositionen ethnischer Gruppen mit diesen Entitäten identifiziert wurden. Sie schließt an Beobachtungen wie jene zur hohen Bedeutung der »fränkischen Identität« für die Herrschaftsbildung der
56 An diesem Beispiel, den Alemannen, zur Frage, wie man einen Namen als spezifisch zu einer Ethnie gehörig erkennen könne jüngst Geuenich 2018, 4–8. 57 Dieses Beispiel nach Albricus (P33874), einem Bettler der 828 nach Seligenstadt kam, weil er sich von den Reliquien der hl. Marcellinus und Petrus Heilung versprach. Einhard, Translatio et Miracula ss. Marcellini et Petri, ed. Georg Waitz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 15,1, Hannover 1887, 238–264, Buch 3, c. 6, 250.
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pippinidischen Hausmeier und frühen karolingischen Könige an.58 Andererseits hat jüngst Dieter Geuenich diese Art der Identifizierung »gentiler« Personennamen am Beispiel der Alemannen erneut diskutiert und festgestellt, dass ein dux alemannorum keineswegs zwangsläufig als Alemanne gelten könne.59 Eine ethnische Zuordnung »qua Amt« wird deshalb eigens markiert, um deutlich zu machen, auf welcher Grundlage sie zustande kommt. Zuordnungen dieser Art machen einen gewichtigen Teil der insgesamt vorgenommenen ethnischen Zuweisungen aus. Im Fall der »Franken«, die mit 90 Einträgen die im Material am häufigsten belegte ethnische Gruppe sind, entfallen 29 Zuweisungen auf fränkische Könige und Hausmeier. Die Zahl der tatsächlich explizit vorgenommenen ethnischen Zuweisungen in den Quellen ist also noch einmal beträchtlich niedriger, als die – ohnehin geringe – Gesamtmenge der 273 ethnisch markierten Personen zunächst suggeriert. So lässt sich als erstes Fazit festhalten: Ethnische Einordnungen von Einzelpersonen sind in frühmittelalterlichen Texten äußerst selten vorgenommen worden.
Das Problem der ethnischen Deutung am Fallbeispiel: Angelsächsische Missionare im Frankenreich des 8. Jahrhunderts Nach der oben wiedergegebenen Beschreibung der »Angelsächsischen Mission« müssten im 8. Jahrhundert ganze Scharen »angelsächsischer Missionare« im Frankenreich umhergezogen sein. Allerdings hat Rosamond McKitterick schon 1995 »die« Angelsächsische Mission als koordinierten, zielgerichteten Prozess in Frage gestellt, weil es »die« angelsächsische Kirche im 8. Jahrhundert gar nicht gegeben habe.60 Ian Wood hat darauf hingewiesen, dass der historisch sichtbare Kreis der Missionare vor allem aus zwei engen Personennetzwerken um Bonifatius und Willibrord bestehe, sodass man weniger von einer gesamtangelsächsischen Mission sprechen könne als von den Unternehmungen zweier Familienverbände.61 Und auch als »Mission« im eigentlichen Sinne sind die Aktivitäten dieser Gruppen nicht zu bezeichnen, da die Grenzgebiete des Frankenreiches schon lange – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – christlich durch-
58 Karl Ubl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuches. Die Lex Salica im Frankenreich (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 9), Ostfildern 2017, 153–163 und 186–188. Reimitz 2015, 1–4 und 295–308. 59 Geuenich 2018, 6f. 60 McKitterick 1995, 27. 61 Ian Wood, The Missionary Life. Saints and the Evangelisation of Europe 400–1050 (The Medieval World), Harlow 2001, 91f.
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drungen waren.62 Nun wäre es aber auch verkehrt, das hinter der Bezeichnung der »angelsächsischen Mission« liegende Phänomen in Bausch und Bogen in Frage zu stellen. Karl Ubl etwa hat in seiner Arbeit zum »Inzestverbot« eindrucksvoll dargestellt, welche enorme Wirkmacht kultureller Transfer und damit verbunden das Aufeinandertreffen ganz unterschiedlicher theologischer Grundsätze haben konnte,63 und die Verbreitung insularer Schrifttypen in einigen Klöstern des Frankenreiches ist unabweisbar.64 Die Frage ist allerdings, woran man einen »angelsächsischen« Missionar als Individuum erkennt. Eine klassische Antwort darauf wäre: am Namen. Doch haben die Überlegungen zur ethnischen Interpretation oben deutlich gemacht, dass ein Name allein nicht reicht, um eine Person als »Angelsachsen« bezeichnen zu können und dass es zudem methodisch schwierig ist, typische, gentilspezifische Namen auszumachen. Die Auswertung der NeG-Daten hat darüber hinaus gezeigt, wie schwierig es ist, ethnische Zuschreibungen für Personen nachzuweisen. Diesem Befund entsprechend sind in der Datenbank nur zwanzig Personen als Angelsachsen markiert. Drei von ihnen sind in den betreffenden Quellen streng genommen nur als »Bernicier« oder als »Mercier« nachgewiesen:65 Sie sind jeweils Könige der betreffenden Gruppen, also reges Berniciorum und Mertionum, Könige von Bernicia und Mercia – zweier der Königreiche, die Historiker als »angelsächsisch« bezeichnen. Von den übrigen siebzehn als Angelsachsen Bezeichneten sind fünf Könige der »Angeln«, reges anglorum. Die unterschiedlichen Benennungen machen, neben der Schwierigkeit der Zuweisung »per Amt«, noch einmal überhaupt die Schwierigkeit der »ethnischen Deutung« von Namen deutlich, zumal in diesem Fall erst Historiker die »Angel-Sachsen« aus den Quellenbezeichnungen zusammengesetzt haben und darunter noch verschiedene Quellenworte subsumieren.66
62 Zum Christentum im Osten des Frankenreichs vgl. Raaijmakers 2012, 20f. Clay 2010, 177– 184. 63 Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100) (Millennium-Studien/Millennium Studies 20), Berlin 2008, 219–233. 64 Herrad Spilling, Angelsächsische Schrift in Fulda, in: Arthur Brall (ed.), Von der Klosterbibliothek zur Landesbibliothek. Beiträge zum 200jährigen Bestehen der Hessischen Landesbibliothek Fulda (Bibliothek des Buchwesens 6), Stuttgart 1978, 47–98. Ó Cróinín 2013, 239–249. Bremmer 2007, 19–50. Vgl. auch Wolfgang Haubrichs, Die Missionierung der Wörter. Vorbonifatianische und nachbonifatianische Strukturen der theodisken Kirchensprachen, in: Franz Felten/Jörg Jarnut/Lutz E. von Padberg (edd.), Bonifatius. Leben und Nachwirken. Die Gestaltung des christlichen Europa im Frühmittelalter (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 121), Mainz 2007, 121–142, hier 124f. 65 Osred, König von Northumbrien, †716 (P35616). Aethelbald, König von Mercien, †757 (P35386). Ceolred, König von Mercia, †716 (P33745). 66 John Niles, The Idea of Anglo-Saxon England 1066–1901. Remembering, Forgetting, Deciphering, and Renewing the Past (Wiley Blackwell manifestos), New York 2015, 30–35.
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Zu diesen methodischen Schwierigkeiten tritt die geringe Zahl des Befundes: Von den hier erfassten Personen sind nur zehn als Geistliche im Frankenreich aktiv gewesen, kämen also als Missionare in Frage. Einer von ihnen ist allerdings Alkuin (†804),67 der einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit und ein wichtiger Vertrauter und Berater Karls des Großen war. Seine Tätigkeit lässt sich kaum als die eines Missionars im östlichen Grenzraum des Frankenreiches bezeichnen. Ein weiterer der »angelsächsischen« Geistlichen war ein Mann namens Andegarius, ein Abt von Saint-Martin in Tours, der in den Annales Petaviani zum Jahr 790 mit der Bemerkung belegt ist: »In diesem Jahr starb Andegarius, der Abt von Saint-Martin, der aus dem Geschlecht der Angeln stammte (de genere Anglorum), dessen Vater aber, mit Namen Botto, ein Händler in der Stadt Marseille war.«68
Andegarius war also eine Art Einwanderer der zweiten Generation. Er ist zudem mit Saint-Martin in Tours im Kerngebiet fränkischer Herrschaft belegt, nicht in einem kaum christlich durchdrungenen Randgebiet. Es bleiben damit acht »angelsächsische Missionare«, von denen einer Bonifatius selbst ist. Für ihn immerhin ist eine direkte ethnische Einordnung überliefert: Die Annales Mettenses Priores vermerken seine Ankunft im Frankenreich zum Jahr 718 und bezeichnen ihn als natione Anglus.69 Die Quelle berichtet allerdings im Rückblick, sie entstand in den Jahren kurz nach 800 in der Gegend von Paris.70 Die sieben übrigen Angelsachsen lassen sich allein auf Grundlage eines einzigen Briefes des Bonifatius als »Angelsachsen« ansprechen,71 zum großen Teil sind sie auch namentlich allein aus diesem Brief des Bonifatius bekannt.72 Es handelt sich um sieben Bischöfe, die 746 oder 747 als Mitabsender des Bonifatius einen Brief an König Aethelbald73 von Mercien sandten:
67 P21725. 68 Annales Petaviani, ed. Georg H. Pertz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 1, Hannover 1826, 7–18, a. 790, 17: Et Andegarius, episcopus monasterii sancti Martini, obiit 15. Kal. Febr. Fuit autem ex genere Anglorum, sed pater eius, Botto nomine, negotiator fuit in urbe Massilia. 69 Annales Mettenses priores, ed. Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum [10]), Hannover/Leipzig 1905, a. 718, 26. 70 Hartmut Hoffmann, Untersuchungen zur karolingischen Annalistik (Bonner historische Forschungen 10), Bonn 1958, 53–61. 71 Bonifatius, Epp., Nr. 73, 146–155. Zu diesem Brief vgl. Reuter 1994, 51–55. 72 Abel, Erzbischof von Reims (P32834). Burchard, Bischof von Würzburg (P22177). Willibald, Bischof von Eichstätt (P22722). Witta, Bischof von Büraburg (P22248). Nur hier belegt: Leofwine, Bischofssitz unbekannt (P35615). Wera, Bischofssitz unbekannt (P35396). Wærberht, Bischofssitz unbekannt (P35395). 73 P35386.
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»Dem aller teuersten und in der Liebe Christi allen übrigen Königen vorzuziehenden Herrn König Aethelbald, der das ruhmreiche Zepter des Reiches der Angeln führt, Bonifatius, germanischer Legat der römischen Kirche wie auch seine Mitbischöfe Wera, Burchhard, Wærberht, Abel, Willibald, Witta und Leofwine den unvergänglichen Gruß in der Liebe Christi.«74
Trotz der freundlichen Eröffnung ermahnten die Absender Aethelbald im Folgenden scharf und eindringlich zu einer christlicheren Lebensführung. Sie hätten nämlich gehört, der König verkehre geschlechtlich mit verschiedenen Frauen, unter anderem mit Nonnen, breche also die Ehe mit den Bräuten Christi, und würde zudem Kirchengüter entfremden. Und so sei es den Bischöfen ein tiefes Anliegen, dem König seine Vergehen aufzuzeigen, die ihm sicherlich gar nicht in ihrer ganzen Schwere bewusst seien. Während nun in der Adresszeile zwar die Namen der sieben Mitabsender des Bonifatius ebenso wie ihr Rang als Bischof genannt sind, so werden sie dabei nicht als »Angelsachsen« oder wenigstens als »Angeln« bezeichnet. Eine Zuweisung wie jene im Falle des Andegarius, des Abts von Saint-Martin in Tours, ist im ganzen Schreiben nicht zu finden. Ihre Einordnung als Angelsachsen wird so erst in Zusammenschau mit einem weiteren Indiz möglich: Bonifatius sandte 746 oder 747 nicht nur einen Brief an König Aethelbald, sondern noch einen weiteren an einen Priester namens Herefrid.75 Er bat Herefrid darin, die Mahnungen des ersten Briefes beim König zu wiederholen, um nachhaltigen Erfolg zu erzielen. Nach einer einleitenden Grußformel wechselte Bonifatius in diesem Schreiben vom Singular in den Plural und schrieb Herefried: »Außerdem bitten wir acht Bischöfe Dich, liebster Bruder, […] dass Du unsere Mahnworte dem Könige Aethelbald von Mercien erklärend und vorlesend kund tust«.76
So darf man, auch wenn sie hier nicht namentlich genannt sind, die »acht Bischöfe« mit den Absendern des Briefs an Aethelbald gleichsetzen. Im weiteren Verlauf des Schreibens bezeichneten sie sich als »gebürtige Angeln«. Auf diese Weise begründeten sie Herefrid nämlich die Motivation ihrer Mahnungen: »Wir möchten aber, dass Deine Liebe wisse, dass wir diese Mahnworte allein aus der reinen Freundschaft der Nächstenliebe heraus an jenen König gerichtet haben, und weil
74 Bonifatius, Epp., Nr. 73, 146: Domno carissimo et in Christi amore ceteris regibus preferendo inclita Anglorum imperii sceptra gubernanti Aethilbaldo regi Bonifatius archiepiscopus legatus Germanicus Romanae ecclesiae et Uuera et Burghart et Uuerberht et Abel et Uuilbald et Huuita et Leofuuine coepiscopi perennem in Christo caritatis salutem. 75 P35617. 76 Bonifatius, Epp., Nr. 74, 155: Praeterea nos octi episcopi […] te, frater carissime˛, […] deprecamur, ut verba admonitionis nostrae Aethbaldo regi Mersionum interpretando et recitando adnunties.
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wir aus demselben Geschlecht der Angeln stammen, dort aufgewachsen sind und nun nach Weisung des apostolischen Stuhls hier in der Fremde weilen.«77
In der Zusammenschau beider Briefe ist es wohl sinnvoll, die Absender des Briefs an Aethelbald als »Angeln« zu bezeichnen. Eine solche Zuweisung ist damit jedoch komplizierter als man zunächst einmal meinen könnte und die Namen der sieben »Angeln« lassen sich nur aus dem ersten Brief erschließen. Diese Namen klingen zwar zum Teil durchaus angelsächsisch, Waerberht, Witta, Leofwine, doch ist Wynfrith-Bonifatius selbst das prominenteste Beispiel für einen Namenswechsel. Andegar, der Abt von Tours wiederum, trug einen Namen, mit dem er in der Gegend um Tours Ende des 8. Jahrhunderts nicht besonders aufgefallen sein dürfte,78 wurde aber als »Angel« bezeichnet. Es bleibt damit der Befund, dass es äußerst schwierig ist, Angeln oder gar »Angelsachsen« in frühmittelalterlichen Texten zu erkennen, da die Zeitgenossen an solch einer Identifizierung nur selten interessiert waren. Und so lässt sich nur eine Handvoll angelsächsischer Geistlicher in den Randgebieten des Frankenreiches nachweisen.
Fazit: Namen als ethnische Marker und historische Deutungen Soziale Identitäten werden in komplexen Prozessen menschlicher Interaktion generiert. Sie werden wirksam und erhalten Sinn erst in der Interaktion und der Konfrontation von Fremd- und Selbstwahrnehmungen. Sie lassen sich deshalb nicht an einem einzigen Merkmal festmachen, das als eindeutiger »ethnischer Marker« fungieren würde. Das gilt auch für Namen. Abgesehen von der Schwierigkeit, einen Namen als »gentilspezifisch« zu bestimmen, muss ein Name als Marker für Identität wahrgenommen und beansprucht werden. So galt der Tourenser Abt Andegarius als »anglischer Abstammung«, auch wenn er gleichzeitig regional Marseille zugeordnet wurde und keinen seiner Umgebung fremden Namen trug. Auch Bonifatius wäre nur an seinem Namen nicht als »Angel« zu erkennen, sah sich aber auch nach Jahrzehnten im Frankenreich noch 77 Ebd., 155f.: Et notum sit caritati tuae, quia haec verba admonitionis nostrae ad illum regem propter nihil aliud direximus nisi propter puram caritatis amicitiam et quod de eadem Anglorum gente nati et nutriti hic per preceptum apostolice˛ sedis pereginamur. 78 Vgl. als Beleg aus der Gegend von Quierzy eine Urkunde Karls des Großen von 781 (NeG-ID B36011, noch nicht öffentlich zugänglich), Die Urkunden Karls des Großen, ed. Engelbert Mühlbacher, in: Monumenta Germaniae Historica. Diplomata. Die Urkunden der Karolinger 1), Hannover 1906, 77–478, Nr. 138, S. 189. In der Prosopography of Anglo-Saxon England (PASE) ist der Name nicht erfasst, vgl. http://pase.ac.uk/jsp/index.jsp (letzter Zugriff am 24. 9. 2018). Ich danke herzlich auch Wolfgang Haubrichs für eine bestätigende mündliche Auskunft.
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als Teil der Herkunftsgemeinschaft an, zu der er auch König Aethelbald rechnete. Wichtig ist vor allem festzuhalten: Bei aller Bedeutung, die ethnische Identitäten in der fränkischen Welt hatten, wie etwa die der Gens Francorum als Medium herrschaftlicher Konvergenz, so haben frühmittelalterliche Quellenautoren für Einzelpersonen nur selten ethnische Zuweisungen vorgenommen. Diesen Befund stellt die Datenbank »Nomen et Gens« auf eine empirische, nachvollziehbare Grundlage. Dabei wäre die Hoffnung des Historikers an die Sprachwissenschaften weiterhin, auch auf der Grundlage von NeG, die sprachliche Herkunft von Namen (besser) klären zu können. Gleichzeitig ist als zentrales Ergebnis der Diskussion um ethnische Identitäten abzuleiten, dass aus einer sprachlichen Herkunftsbestimmung eines Namens keine ethnische Zugehörigkeit abgeleitet werden kann. Für die »Angelsächsische Mission« bedeutet das: So wenig sie sich als geschlossene Bewegung einer »angelsächsischen Kirche« beschreiben lässt, so wenig ist sie »angelsächsisch« gewesen. Über Zuordnungen wie diese verknüpfen Historiker Personen und Personennamen mit Phänomenen und verstehen das Ergebnis dann zum Beispiel als »angelsächsisch«. Dadurch werden Namen und Phänomene auf Grundlage alter, weit in die Geschichte der Geschichtswissenschaften zurückreichender, Narrative gedeutet. Deutungen von Historikern sind auf diese Weise nach wie vor von theoretisch dekonstruierten ethnischen Interpretationen geformt, weil sie Grundlagenforschungen geprägt haben. Deren Kritik würde neue Perspektiven auf die durch diese Forschung verklammerten Phänomene der fränkischen und angelsächsischen Welt im 8. Jahrhundert ergeben. Wie lässt sich der kulturelle Austausch zwischen Kontinent und britischen Inseln ohne ethnische Interpretation neu fassen? Wie einseitig war die Initiative in diesem Prozess verteilt, in dem »die Franken« oft nach wie vor als unwilliges, feindseliges Objekt einer von außen kommenden »Reform« beschrieben werden? Und nicht zuletzt gälte es auch, das Auseinanderfallen der erkennbar hohen Bedeutung ethnischer Identität als Medium sozialer Kohärenz einerseits, und das geringe Interesse frühmittelalterlicher Autoren an ethnischen Zuweisungen bei der Kategorisierung von Einzelpersonen zu thematisieren. Ein Mittel, solche Fragen zu stellen, ist die Personendatenbank NeG, denn auf ihrer Grundlage lassen sich eingefahrene – aber überholte – Deutungen, wie etwa ethnische, hinterfragen.
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Liste der AutorInnen
Prof. Dr. Matthias Becher Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Dieter Geuenich Schwarzwaldstraße 56 79211 Denzlingen [email protected] Christoph Haack SFB 923 »Bedrohte Ordnungen« Keplerstr. 2 72074 Tübingen [email protected] Prof. em. Dr. Wolfgang Haubrichs Universität des Saarlandes FR Germanistik Gebäude A2 2 Postfach 151150 66041 Saarbrücken [email protected]
342 Dr. Hendrik Hess Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Geschichtswissenschaft Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Konviktstraße 11 53113 Bonn [email protected] Mike Janßen, M. A. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Sonderforschungsbereich 1167 – Geschäftsführung Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] Laury Sarti Historisches Seminar Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Rempartstraße 15 – KG IV 79085 Freiburg [email protected] Prof. Dr. Annette Schmiedchen Institut für Asien- und Afrikawissenschaften Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin [email protected] Christian Schwermann Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 134 44780 Bochum [email protected]
Liste der AutorInnen
Liste der AutorInnen
Dr. Tilmann Trausch Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Sonderforschungsbereich 1167 Poppelsdorfer Allee 24 53115 Bonn [email protected] PD Dr. phil. Dr. iur. Christian Vogel Universität des Saarlandes Historisches Institut Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken [email protected]
343
Namenregister Aufgenommen wurden alle erwähnten historischen Personennamen (auch wenn keine konkrete historische Person angesprochen ist) sowie die wichtigsten erwähnten Varianten und Schreibweisen. Zugrunde liegt dabei ein europäisches Namenverständnis, dies ist jedoch transkukturell keineswegs immer applikabel. Daher sind für die Beiträge aus anderen Räumen in Einzelfällen nur die Personennamen historischer Namenträger aufgenommen.
Adalhard 142, 282 ʿAbba¯s 207 ʿAbd al-Malik ʿIsa¯mı¯ 199, 218 ˙ Abel 332 Abu¯ ʿAbdalla¯h 202 Abu¯ l-Mugˇa¯hid 218, 228 Abu¯ l-Muzaffar 195, 211, 213f., 218, 221 ˙ Abu¯ l-Qa¯sim Firdausı¯ 210 Adaloald 239, 242 Adelgis 64 Adeodatus, siehe Deusdedit Aethelbald 330–334 Aetherius 253f. Aetius 255 Agenarich 274f., 286 Agilulf 239, 242 Agnes 271, 275, 286 Ahmad 206 ˙ ʿAin al-Mulk Multa¯nı¯ 223 Aka¯lavarsa 184–186 ˙ ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Garsˇa¯sp 199 ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Masʿu¯d Sˇa¯h 208 ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h 199f., 205, ˙ 215–217, 221, 225–227 ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Sikandar Sˇa¯h 217 Alarich 257f. Alboin 252f. Aldhelm 322f. Alexander 159, 171, 217, 221, 227 Alexandros 154, 171 ʿAlı¯ b. Abı¯ Ta¯lib 220, 225 ˙ ʿAlı¯ Garsˇa¯sp 199f., 225f. Alkuin 331 Alpswinda 253
Alteblind 284f. Amalaberga 258 Amalafrida 161, 257–259 Amalaricus 258 Amalaswintha 258 Amı¯r Husrau Dihlavı¯ 197, 210 ˘ Ammianus (Marcellinus) 274 Amoghavarsa 183–185, 189f. ˙ Amos 249 Ancilladei 284 Andegarius 331–333 Anna 166, 275, 286 Ansegisel 133, 244 Anstrudis 134 Anthimos 154, 171 Anu¯sˇirva¯n 219 Apollinaris 303 Arbogastes 274, 303 Ardo 283 Argentio, siehe Audipertus Aristoteles 22, 27–33 Arjuna 190 Arnulf 131–134, 138, 159, 163f., 172f., 244, 246 As´oka 176 Athalricus 258 Audipertus 241 Audoin 252f. Augustinus 21–24, 26 Aunulf 133 Austrigusa 236, 257 Authari 239, 242
346 Baha¯ʾ ad-Dı¯n, siehe G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban Bahra¯m 209f., 229 Balthilde 61f. Ban Gu 班固 80, 108f. Bao Si 褒姒 77, 115 Baranı¯, siehe Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯ Barbatus 284f. Bardas 154, 171 Basileios 158f., 166f., 171 Begga 133 Benedikt 282–284, 316 Berhthari, siehe Perthari Bernhard 131f., 140, 142–144, 153, 163– 166, 172f., 245, 282 Bertold 272 Bertrada 20, 24, 138f. Bhatakka, auch Bhata¯rka 177f., 181 ˙ ˙ Bonifatius 161, 282, 316, 319–322, 326, 328f., 331–333 Brun(o) 268f. Burchhard 332 Ca¯nakya 189f. ˙ Cassiodor 256 Chalpaida 135, 243f. Charibert 244, 256 Cheng Tang 成湯, 105, 111, 113 Cheng wang 成王 84 Childebert 55–59, 61, 137f., 256f., 306 Childebrand 138, 239, 244f., 247, 250 Childerich 34, 59, 61, 255 Chilperich 42, 61, 161, 253, 255f. Chlodio 254f. Chlodomeres 254, 256f. Chlodulf 133 Chlodwig, auch Chlodovechus 48, 56f., 61f., 130, 140f., 143f., 156, 160–163, 214f., 251f., 254–256, 272–274, 276f., 285, 305 Chlothar 57, 59, 61f., 140f., 143f., 160, 252–256, 272f., 276f., 285 Chlotswinda 252f. Choufman 284 Christophoros 154, 171 Chrodechild 251, 255 Chrodtrud 136
Namenregister
Claffo 236, 240 Clemens 282, 318, 329 Cotani 50 Crabart 284 Cunincperga 243 Cunipert, auch Cunincpert Cyprian 23
239, 242f.
Da Ji 妲己 155 Dagobert 55f., 58f., 61 Danfu 亶父 83 Dantidurga 182–185 Dantivarman 182f. Deodric, siehe Theoderich Derabhata 178 ˙ ˙ Desiderius 63 Deusdedit 241 Dharapatta 178, 181 ˙˙ Dharasena 177–180 Dharma¯ditya 180 Dhruva 179f., 182–186 Dhruvasena 177–181 Di Hong shi 帝鴻氏 88, 100–102 Dietrich, siehe Theoderich Drogo 62, 131f., 134f., 137–139, 142 Drona 178 ˙ Dronasimha 178 ˙ ˙ Dschingis Khan 198 Du Yu 杜預 100–102 Ebremud 258 Einhard 20f., 44, 247, 322 Ekkehard, auch Eccard 246f., 282 Elemundos 257 Engelbert 25–27 Eparchius Avitus 303 Ermanarich 246f. Ermentrude 62, 132 Erminafrid 258 Ermoldus (Nigellus) 21 Ervigius 257 Eudokimos 154, 171 Eufronius 305 Eurich 300, 304 Eutharicus 258
Namenregister
Fahr ad-Dı¯n 212, 225 ˘ Fahr-i Mudabbir 203, 223 ˘ Fastrada 48f., 51, 53 Feng Can 馮參 108f. Feng Fengshi 馮奉世 108 Fı¯ru¯z 225 Flaithemel 283 Flatamar 283 Flavios 157 Flavius 254 Fratellus 285 Fredegunde 253f. Fridurih 269 Friedrich 12f., 33 Fulco 246 Gaius Sollius Apollinaris Sidonius, siehe Sidonius (Apollinaris) ˇ ala¯l ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯h 205, 224–226 G Gao You 高誘 118 Gaoyang 高陽, siehe Zhuanxu 顓頊 Garibald, auch Garoald 136, 239, 242 Garsˇa¯sp 226 Gayo¯mart 210 G˙a¯zı¯ Malik 218 Genobaudes 274 Georg 268 Georgius Florentius Gregorius, siehe Gregor Gertrud 275, 286 Gibica, auch Gibicha, Gibicho, Gificha, Giúki 250f. Gislahad 250 Gislahar, auch Giselher, Gislhere 250, 252 G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban 204f., 213, 215f., 221–224, 227 G˙iya¯s ad-Dı¯n Tug˙luq Sˇa¯h 218–220 Godepert 239, 242 Godigisel 250f. Godomar 250f. Gong Gong 共工 100 Gongsun Mianyu 公孫免餘 95 Gongsun Yang 公孫鞅 109f. Gotesdiu 284 Gotesman 284 Gotesscalc, auch Gotesskalk 284f.
347 Gothormr, siehe Gundomar Gottfried 134f., Govinda 182–185, 187, 189f. Gozbert 282 Gregor 33, 40, 42, 253, 300f., 305–309, 318f. Gregorios 154, 171 Grifo 62, 136–139, 285 Grimoald 20, 55–59, 62, 66, 133f., 136, 139, 239, 242–244, 285 Gripo 137 Guanzi 管子 79, 81f. Gudhere, siehe Gundihari Guhasena 177f., 181 Gun 鯀 100 Gund(w)ulf 241, 306–308 Gundihari 250–252, 255f. Gundoald 238, 242 Gundobad 250f., 255 Gundobert 239, 242 Gundomar 250, 252 Gundowech 250f., 255 Gunnar, siehe Gundihari Gunther, siehe Gundihari Gunthramm 56, 253–256 Guntrud 136 Hadrian 43, 51, 53, 141, 162, 277, 280 Hadubrand 239, 250, 273, 286 Halga 248 Han Aidi 漢哀帝 108 Han Chengdi 漢成帝 108 Han Fei 韓非, auch Han Feizi 韓非子 83– 85, 91, 93, 110, 117 Han Jingdi 漢景帝 111 Han Yuandi 漢元帝 108 Hanhavaldus 250f. Haripert, auch Haribert 242, 244 Hariulfus 250 Harsa, auch Harsavardhana 179–181 ˙ ˙ Hartrat 268 Hasan 219f., 223 ˙ Hasan Niza¯mı¯ 194 ˙ ˙ Healfdene 247f. Heinrich 12f., 39f., 134, 270–272, 286 Helperich, siehe Chilperich
348
Namenregister
Hengist 240 Heorogâr 248 Heoroveard 248 Herakleios, auch Heraklonas 157f. Herefried 332 Heribrand 273, 286 Hermanagild 246 Hermann 271 Herminafrid, siehe Erminafrid Herodót 77 Hild(w)ulf 241 Hildebrand, siehe Childebrand Hildegard 141f., 160, 276f., 279f., 286 Hiltibrant 273, 286 Himiltrud 165, 276, 278 Hinkmar 23–26, 62 Horsa 240 Hrabanus (Maurus) 269, 282, 284f. Hrodrut 50, 52f., 136 Hrôthgâr 248 Hrôthmund 248 Hrôthrîc 248 Hrôthulf 248 Huan Dou 讙兜 100 Huang gong 黃公 90 Huang Sheng 黃生 111 Huangdi 黃帝, siehe Di Hong shi 帝鴻氏 Hugo 131, 134f., 138, 142, 163, 172f., 244, 271, 282, 286 Hugoberd 134 Hundun 渾敦 100f., 103f. Huningêr 241 Huninleit 241 Hunintot 241 Huninwê 241 Husrau 219, 223, 225 ˘ ˇ ama¯l ad-Dı¯n Basrı¯ 222 Hva¯gˇa G ˙ ˘ Ilarleh 283 Indra 182–185, 187–190 Indrara¯ja 183 Isidor 22–24, 26, 302, 309, Ismael, siehe Isma¯ʿı¯l Isma¯ʿı¯l 207 Jagattun˙ga
183–185
Ji Tuo 季佗 99 Ji Wen zi 季文子 99, 106 Ji 及 106 Jie 桀 78f., 98f., 105, 111f., 115–119, 121 Jin Xian gong 晉獻公 107 Jintian 金天, siehe Shaohao 少皞 Jinyun 縉雲 102, 105 Johannes 26, 29, 130, 300 Jonas 24f. Ju Ji gong 莒紀公 99 Julius Nepos 300 Jungman 284 Justinian 54 Kambha 183 Karka 182–185, 187, 190 Karl 31, 33, 43–54, 61–66, 131f., 134–143, 153, 160–166, 172f., 214, 238, 243–247, 270, 276–281, 285f., 319f., 331 Karlmann 51, 131f., 136–141, 153f., 160, 162–165, 172f., 238, 244, 246, 276–278, 280f., 286, 319 Kharagraha 178–180 Khottiga 183 ˙˙ Konfuzius 76, 81f., 88, 92f., 95, 110f., 121 Kong Qiu 孔丘, siehe Konfuzius Kong zi 孔子, siehe Konfuzius Konrad 270–272, 286 Konstantin, auch Konstantinos 15, 152– 159, 162, 166f., 171 Krsna 183 ˙˙ ˙ Kunipert, siehe Cunipert Lantman 284 Laozi 老子 76, 81f., 85f., 88 Leofwine 331–333 Leon 153f., 156, 158f., 166, 171 Li Ji 驪姬 107 Li Si 李斯 84 Li 厲, auch Li wang 厲王 78, 105, 115, 119 Liu Ao 劉驁, siehe Han Chengdi 漢成帝 Liu Qi 劉啓, siehe Han Jingdi 漢景帝 Liu Shi 劉奭, siehe Han Yuandi 漢元帝 Liu Xin 劉欣, siehe Han Aidi 漢哀帝 Liu Xing 劉興 108 Liubigoto 257
349
Namenregister
Liutperga 50 Liutpert 239, 242f. Liutprand 136, 141 Lothar 13, 62–64, 131f., 153, 159–162, 172f., 238, 244, 272f., 276f., 322 Lu Ai gong 魯哀公 82 Lü Gui 履癸, siehe Jie 桀 Lü Shang 呂尚 83 Lu Wen gong 魯文公 106 Lu Xuan gong 魯宣公 99 Ludwig 15, 21, 25, 46, 51, 53, 62, 131f., 140, 143, 153f., 156, 159–168, 172f., 238, 244, 246, 272f., 276f., 279 Lul 320 Lun Bian 輪邊 87 Lupus 307f. Magnulf 307 Malik Balban, siehe G˙iya¯s ad-Dı¯n Balban Malik Fı¯ru¯z 224 Mallobaudes 274 Manasse 249 Manegold 33 Marcellus, siehe Ilarleh Marcomeres 274 Marcus 283 Marsilius 34 Martin 305 Mataswintha 258 Mederich 274, 286 Mengzi 孟子 81f., 99, 110 Merowech, auch Merovechus 274 Michael 154, 171 Ministerianus 284 Mo Di 墨翟, auch Mozi 墨子 81f., 84–86, 88, 112, 115f., Moengal, siehe Ilarleh Muhammad b. Tug˙luq 202f., 206, 212, 218, ˙ 225, 227–229 Muʿizz ad-Dı¯n Bahra¯m Sˇa¯h 205, 209, 213f. Naʾib Amı¯r al-muʾminı¯n 219 Na¯sir ad-(Dunya¯ wa-d-)Dı¯n Mahmu¯d Sˇa¯h ˙ ˙ 208f., 211f., 215, 222, 224 Na¯sir ad-Dı¯n Husrau Sˇa¯h 219–221, 223 ˙ ˘ Na¯sir ad-Dı¯n Muhammad Sˇa¯h 229 ˙ ˙
Nebigastes 274 Nero 32 Nibelung 244f., 247 Nie 涅, siehe You 幽 Nikephoros 154, 171 Niketas 154, 171 Nikolaus 32 Ning Xi 甯喜 95f. Nirupama 183–186 Niza¯m al-Mulk 219 ˙ Noah, siehe Nu¯h ˙ Notker 282 Nu¯h 207 ˙ Odilo 49 Odoaker 300 Ostrogotha 256 Ostrogotho 256f., 259 Otfried 130, 285 Otto 12f., 39, 167, 270, 272 Oustrigothos 257 Panzleip 284 Paul 280 Pei Yin 裴駰 100, 102, 108 Peisístratos 77 Pe¯ro¯z, siehe Fı¯ru¯z Perthari, auch Perct(h)ari, Pertharit, Perctarit 239, 242f. Petrus 26f., 33, 328 Philipp 168 Piao 剽 96 Pippin 19f., 24, 43f., 47f., 50f., 53, 58, 131– 142, 153, 160, 162–166, 172f., 238, 243f., 246, 270, 276–281, 285f. Piyadassi, siehe Priyadars´in Platon 77 Plektrud 134–136, 163, 243f. Potho 54 Prabhu¯tavarsa 184f., 190 ˙ Prabhutun˙ga 184 Priyadars´in 176 Prthivı¯vallabha 182, 184 ˙ Ptolemäus 26 Pu 僕 99
350 Qi Huan gong 齊桓公 87 Qi Hui gong 齊惠公 106 Qi Xuan wang 齊宣王 111 Qin Huiwen wang 秦惠文王, auch Qin Hui wang 秦惠王 97 Qin shi huangdi 秦始皇帝, siehe Ying Zheng 嬴政 Qin Xiao gong 秦孝公 109 Qiongqi 窮奇 100, 102f., 105 Qutb ad-Dı¯n Aibak 194f., 203f., 211f., ˙ 214, 221–223 Qutb ad-Dı¯n Muba¯rak Sˇa¯h 212, 214f., 217, ˙ 220 Radbod 134 Raginpert 239, 242 Ratold 163, 173 Ratolf 268 Raz˙iyat ad-Dı¯n 205 Rehabeam, siehe Roboam Reudilo 251 Richard 34, 245 Richardis 163 Richer 269 Richomeres 274 Roboam 248 Romulf 307 Romulus Augustulus 300 Rothari, auch Rotharit 242 Rudolf 268, 275f., 286 Rui bo Liangfu 芮伯良夫, auch Rui Liangfu 芮良夫 105, 115 Rukn ad-Dı¯n Fı¯ru¯z Sˇa¯h 204, 211f., 214 Rukn ad-Dı¯n Ibra¯hı¯m Sˇa¯h 208 Salomo(n) 25, 248, 272 Sˇams ad-Dı¯n Iltutmisˇ 195, 199, 211, 213– 215, 221, 223, 227 Sˇams ad-Dı¯n Kayu¯mars 210, 213, 224 San Miao 三苗 100 Sedulius 23, 283 Selpwilus 285 Serapio 275 Servusdei 285 Shao gong 召公 115 Shaohao 少皞 101
Namenregister
Shensheng 申生 107f. Shi Shang fu 師尚父, siehe Lü Shang 呂尚 Shi 視 106 Shou 受, siehe Zhou 紂 Shun 舜 99f., 101–103, 107, 113, 121 Sidonius (Apollinaris) 300f., 303f., 308f. Sigibert 55–59, 61, 256, 305 Sigifrid, auch Siegfried 245, 268 Sˇiha¯b ad-Dı¯n ʿUmar Sˇa¯h 208, 217 Sikandar as-sa¯nı¯ 216f. Sikandar az-zama¯n 217 S´¯ıla¯ditya 178–181, 191 Sima Cuo 司馬錯 97–99 Sima Qian 司馬遷 109f., 115 Skandabhata 178 ˙ Smaragd 26, 269 Sponsa 285 S´rı¯vallabha 184 Stephan 138, 165, 241, 278, 280 Stephanos 154, 171 Su Qin 蘇秦 83 Suavegot(t)a 257, 259 Swanahild 136f. Syagrius 254 Symbatios 158, 162, 171 Tahma¯sb, auch Tahmaaspa 207f. Tai gong Wang 太公望 83, 119 Tang 湯, siehe Cheng Tang 成湯 Taotie 饕餮 100, 102f., 105 Taowu 檮杌 100, 103, 105 Tassilo 48–53, 59, 63, 65f. Tato 236, 240 Theodahad 161, 258f. Theodelinda 238 Theodenande, auch Theodenantha 161, 258f. Theoderich 33, 142, 163, 172, 245–247, 256–259 Theodo, auch Teodo, Teuto, Diddo 326 Theodolinda 239, 242 Theodorata 242 Theodosios 154, 171 Theodrada 142 Theophilos 171 Theophylactus 321–323, 326
351
Namenregister
Theudebert 57, 61 Theudegisil 259 Theuderich 57, 61, 142, 251, 256f. Theudesinda 134 Theudoald 134, 244 Theuthilde 62 Thietmar 39f., 269 Thiudigoto 256–259 Thiudimir 258 Thiudimund 258 Thiudireiks, siehe Theoderich Thomas 22, 28–33 Thrasamund 258 Thukýdides 77 Tribhuvanavallabha 184
Witta 331–333 Wolfhart 268 Wu wang 武王, auch Wu 武 119 Wynfreth, siehe Bonifatius
84, 111, 113,
Xi 喜 96 Xian tang zi 弦唐子 84 Xiang zhong 襄仲 106 Xin 辛, siehe Zhou 紂 Xiong Yiliao 熊宜僚 83 Xuanzang 179–181 Xunzi 荀子 77, 80–82
Vetulus 284f. Vinzenz 33 Volkmar 269 Vulthrogotho 257
Yahya b. Ahmad as-Sı¯rhindı¯ 199 ˙ ˙ Yandi 炎帝 102 Yao Jia 姚賈 84 Yao 堯 99–102, 113, 117 Ying Zheng 嬴政 84 Yinwenzi 尹文子 89f. You 幽 77–79, 111f., 115–117, 119 Yu 禹 113 Yuan Gu 轅固 111 Yue Yi 樂毅 96 Yug˙rusˇ 226
Wærberht 331–333 Wako, auch Wacho 236f., 238, 240, 257 Wala 142, 282 Walamir 258 Waldemar 269 Walderada 236, 240 Walthari 236f., 240 Wang Bi 王弼 85 Wei Xian gong 衞獻公 95 Welf 12f., 268f., 272 Wen 文 113 Wenzel 34 Wera 331f. Widimir 258 Wilhelm 27 Willibald 320f., 331f. Willibrord, siehe Clemens Winigis 236, 240 Wisigarda 236, 240 Witiza, siehe Benedikt
Zacharias 20f., 24, 321 Zenon 157 Zhang Yi 張儀 97 Zhao Zheng 趙政, siehe Ying Zheng 嬴政 Zhi 摯, siehe Shaohao 少皞 Zhou Cheng wang 周成王, siehe Cheng wang 成王 Zhou gong Dan 周公旦 84–86, 88, 119, 121 Zhou Li wang 周厲王, siehe Li 厲 Zhou Wu wang 周武王, siehe Wu wang 武王 Zhou You wang 周幽王, siehe You 幽 Zhou 紂, auch Zhou Xin 紂辛 14, 75–79, 84, 97–99, 103, 105, 111f., 115–119, 121 Zhuangzi 莊子 81–83, 86–88, 101 Zhuanxu 顓頊 102 Zi Gong 子貢 76, 114 Z˙iya¯ʾ ad-Dı¯n Baranı¯ 199f., 204f., 212–214, 217–220, 222f., 228
Ultrogotho, siehe Vulthrogotho Ulug˙ Ha¯n-i muʿazzam, siehe G˙iya¯s ad-Dı¯n ˙˙ ˘ Balban ʿUmar b. al-Hatta¯b 208 ˘ ˙˙
352 Zogono Zuchilo
Namenregister
283 236f., 240
Zuoqiu Ming 左丘明 97 Zwentibold 163, 173