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German Pages 146 Year 2015
Heike Dech Women’s Mental Health
Heike Dech (Prof. Dr. med., Dipl. Psych.ger.) lehrt Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der EFH Darmstadt.
Heike Dech
Women’s Mental Health Soziale Ursachen von Depression in transkultureller Perspektive
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INHALT
I. ALLGEMEINER TEIL 1. Transkulturelle Depressionsforschung und wissenschaftstheoretische Positionen Historische und terminologische Präliminarien Zum Begriff „Kultur“ Wissenschaftstheoretische Überlegungen und Forschungsparadigmata Depressive Symptomatik aus transkultureller Perspektive 2. Koloniale und postkoloniale Depressionsforschung in Afrika Kolonialzeit „Independence shift“ Dezentralisierung und gemeindenahe Psychiatriemodelle Gegenwärtige Situation
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3. Explanatory models: Depressive Erkrankungen in der traditionellen Medizin
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4. Gender als Gesundheitsfaktor: Zur Situation von Frauen in Afrika
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5. Soziokultureller Kontext: Informationen zum Untersuchungsgebiet Kenia Geomorphologie Sozioökonomische Rahmendaten Bevölkerungsgruppen und Sprachen Gesundheitssystem
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II. EMPIRISCHER TEIL 1. Women’s Mental Health: Das Forschungsvorhaben 2. Transkulturelle Forschung: Qualitative und quantitative Methoden zur Untersuchung depressiver Symptomatik im lebensweltlichen Kontext Methodologische Überlegungen Key Informant Survey Untersuchung zur depressiven Symptomatik bei Frauen Offene Beschwerdeliste und Befragung einheimischer Psychiater Zur Auswahl der standardisierten Instrumente Übersetzungsmethoden Klassifikationen/Nosologische Zuordnungen Erfassung psychosozialer Parameter Befragung zu Krankheitserklärungskonzepten und traditionellen Heilern Ethische Aspekte Patientinnenstichprobe und gesunde Kontrollgruppe Auswertungsverfahren 3. Women’s Mental Health: Lebenswelt als Erklärungsmatrix für psychosoziale Entstehungsfaktoren depressiver Störungen Kasuistik 1: Joan W. (Fall-Nr. 108): Kindersorgen Kasuistik 2: Ziporah E. (Fall-Nr. 182): Armut und Erschöpfungsdepression Kasuistik 3: Mary M. (Fall-Nr. 188): Eheprobleme Kasuistik 4: Eunice K. (Fall-Nr. 271): Orientierungskrise Kasuistik 5: Edna T. (Fall-Nr. 48): Schwangerschaftsdepression 4. Auswertung der Studie Key Informant Survey Deskriptive Statistik Alter Familienstand Schulbildung Arbeitstätigkeiten der Frauen Symptomatologie depressiver Störungen Qualitative Methoden: Offene Beschwerdeliste und Befragung von einheimischen Psychiatern
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Quantitative Methoden: Standardisierte Erfassung mit psychiatrischen Skalen Qualität der Übersetzungen der Selbstbeurteilungsskalen (SRQ, BDI) Diagnostische Zuordnungen Spezielle psychopathologische Fragen Psychosoziale Variablen Vergleich psychosozialer Variablen in der Gesamtpatientinnengruppe Vergleich psychosozialer Variablen bei Patientinnengruppe und Kontrollgruppe Krankheitserklärungskonzepte Behandlung bei traditionellen Heilern
91 102 103 103 105 105 106 112 113
III. DISKUSSION Zum Schluß: Diskussion Symptomatische Ausgestaltung depresiver Störungen Verwendbarkeit standardisierter internationaler Skalen Psychosoziale Belastungsfaktoren Subjektive Krankheitserklärungskonzepte Traditionelle Heiler
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Literaturverzeichnis
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I. A LLGEMEINER T EIL
1. T R A N S K U L T U R E L L E D E P R E S S I O N S F O R S C H U N G U N D WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE POSITIONEN Historische und terminologische Präliminarien – Zum Begriff „Kultur“ – wissenschaftstheoretische Überlegungen und Forschungsparadigmata – Depressive Symptomatik aus transkultureller Perspektive
Historische und terminologische Präliminarien Wenn man von vereinzelten früheren Reiseberichten über auffällige und als fremd erscheinende Verhaltensweisen und exotische Heilpraktiken absieht, entstand die transkulturelle Psychiatrie als Fachgebiet um die Jahrhundertwende und zwar quasi als Exportartikel der europäischen Psychiatrie in die kolonisierten Länder (Fanon 1976). Forciert wurde die Etablierung dieses Fachgebietes durch das Interesse der dort arbeitenden Psychiater an kulturbedingten Variationen psychischer Störungen (Hauschild 1980). Emil Kraepelin, der 1904 über seine Forschungen auf Java berichtete, gilt als Begründer der transkulturellen Psychiatrie. Seine Arbeit ist ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Forschung, weil sie die „erste systematisch angelegte Untersuchung zum Kulturvergleich psychischer Krankheiten“ (Pfeiffer 1994) ist. Kraepelin vertritt die Auffassung, daß „ein irgendwie zuverlässiger Vergleich erst dann möglich wird, wenn wir nicht allein Zustandsbilder, sondern wirkliche Krankheitsformen auseinanderzuhalten vermögen“ (Kraepelin 1904). Dieses Postulat öffnete die Tore für weitere Fragestellungen und konzeptionelle Überlegungen in der transkulturellen Forschung. Die Weiterentwicklung dieses Fachgebietes brachte eine Differenzierung einzelner Richtungen hervor, die sich als Subdisziplinen konstituierten und heute unterschiedliche Benennungen tragen: „Vergleichende Psychiatrie“ (Kraepelin 1904), „Kultur und Psychopathologie“ (Engelsmann 1980), „Ethnopsychiatrie“ (Devereux 1974; Wulff 1978), „Transkulturelle Psychiatrie“ (Wittkower 1972; Pfeiffer 1971; Peters 1977), „Comparative Psychiatry“ (Murphy 1982)“, „Cross Cultural Psychiatry“
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(Marsella 1985; Westermeyer 1985) und „New Transcultural Psychiatry“ (Kleinman 1977), um nur die wichtigsten zu nennen. Gemeinsames Merkmal dieser Disziplinen bzw. Subdisziplinen ist das wissenschaftliche Interesse an der „Evaluation solcher soziokultureller Faktoren, die in den Kontext von Ätiologie, Ausdruck (expression), Verlauf, Outcome und Epidemiologie psychischer Erkrankungen“ (Marsella 1988) gestellt werden. So bestimmt eine Definition von Peters (1971) die Spezifik für transkulturell ausgerichtete Forschungsarbeiten als Exploration der „Einflüsse kultureller Gegebenheiten auf Entstehung und Symptomatik einer psychischen Krankheit, die verschiedenen Formen der Behandlung und Nachbehandlung sowie die Arten des Umgangs mit Geisteskranken.“ Einen ähnlichen Wortlaut finden wir bei Wittkowers Definition (1965) des Zweiges der Sozialpsychiatrie, „der sich mit dem kulturellen Aspekt der Entstehung, Häufigkeit, Form und Therapie der psychischen Störungen in verschiedenen Kulturen befaßt.“
Zu m B e g r i f f „ K u l t u r “ Die Definitionsversuche des Begriffs „Kultur“ divergieren je nach Fachrichtung, Sichtweise und Forschungskonzeption des Autors. Sartorius zählte 1994 ganze 60 Begriffsbestimmungen. Murphy (1994) beruft sich auf eine Übersicht von Kroeber und Kluckhohn (1952), die den Kulturbegriff sogar in 164 verschiedenen Ausprägungen vorfinden. Eine transparente Definition stammt von dem transkulturell forschenden Psychiater Marsella (1988). Kultur, so Marsella, ist „gemeinsames und gelerntes Verhalten, das von Generation zu Generation weitervermittelt wird mit dem Zweck individueller und sozialer Entwicklung und Anpassung. Kultur wird external durch Kunstgegenstände, soziale Rollen und Institutionen und internal durch Werte, Glaubensvorstellungen, Haltungen, Bewußtsein und biologische Funktionen repräsentiert“. Ebenso hilfreich für eine Annäherung an den Gegenstand dieser Arbeit ist der Ansatz Fabregas (1992). Der Autor versteht unter „Kultur“ „ein Bedeutungssystem, das erlernt ist und seine Angehörigen mit einem ausgeprägten Realitätssinn ausstattet, der ihnen hilft, Verhaltensformen und affektive Antworten auszubilden“. Nicht zuletzt bildet die Sichtweise Pfeiffers (1994: 10), gemäß der Kultur ein Komplex ist, „der überlieferte Erfahrungen, Vorstellungen und Werte sowie gesellschaftliche Ordnungen und Verhaltensregeln umfaßt“, einen wichtigen Ansatz für die vorliegende Arbeit. 12
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Wissenschaftstheoretische Überlegungen und Forschungsparadigmata Kleinman und Good (1985) betonen, daß das Erkenntnisinteresse transkultureller psychiatrischer Forschung nicht bei einem reinen Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen stehen bleiben darf. Vielmehr habe es sich, so die Autoren, insbesondere auch auf das Verstehen der soziokulturellen Prozesse innerhalb des jeweiligen Landes zu richten. Wie dies geschehen soll, darüber geben im wesentlichen zwei sich konträr gegenüberstehende Ansichten Auskunft. Die Vertreter des Kulturrelativismus sind der Ansicht, daß jede Kultur einzigartig ist und deswegen nur aus sich selbst heraus, immanent beschrieben und verstanden werden kann. Den Vertretern dieser Richtung zufolge sind psychische Störungen gesellschaftliche Konstruktionen wie Sprachsysteme und demzufolge nicht vergleichbar. Prince (1991) zitiert einen grundlegenden Vertreter dieser Auffassung, Franz Boas (1943), welcher betont, daß „zwei kulturelle Elemente nicht das gleiche sind, wenn sie unterschiedliche Dinge für die Völker/Menschen, die sie innehaben, bedeuten“. So könnten psychische Vorgänge, die in in einer Gesellschaft als abnormal angesehen werden, in anderen Gesellschaften als normal beurteilt werden. Die mit dieser theoretischen Position verbundene Rollentheorie geht davon aus, daß eine psychische Krankheit nur existiert, wenn die Kultur diese Rolle bereithält; der Patient verhalte sich also nach einem kulturell anerkannten Muster des Krankseins. Ihren Ursprung hat diese Theorie u.a. im Relativismus der ethnologischen „Kultur und Persönlichkeit“-Schule (Benedict 1934; Mead 1935; LeVine 1973), die die Formbarkeit menschlichen Verhaltens und den kulturellen Determinismus besonders betonte (Hauschild 1980). In dieser Tradition stehend, sieht Littlewood (1990) psychische Störungen als untrennbar mit dem sie hervorbringenden gesellschaftlichen Kontext verbunden und als nur in diesem beschreibbar und verstehbar an. Von ihm werden die großen internationalen vergleichenden psychiatrischen Studien wie die WHO-Schizophreniestudie im Sinne des von Kleinman (1977) geprägten Begriffs der „kategorialen Täuschung“ dahingehend kritisiert, daß dabei westliche diagnostische Kritierien als angeblich kulturfreie Entitäten auf andere bzw. fremde Kulturen angewendet würden. Kleinman (1987a) kritisiert das „stillschweigende Modell der transkulturellen Forschung, welches die biologischen Dimensionen von Krankheiten übertreibt und die kulturellen Dimensionen von Erkrankungen vernachlässigt“. Den hier skizzierten relativistischen Konzepten steht der u.a. von Escobar (1983), El-Islam (1969), und der WHO-Gruppe in deren internatio13
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nalen Studien zur Schizophrenie und Depression und letztlich auch in den internationalen Klassifikationen vertretene universalistische Ansatz einer biologischen, invarianten Kernsymptomatik psychischer Erkrankungen gegenüber. Wenn behauptet wird, diese invariante Kernsymptomatik sei umgeben von einer veränderlichen, pathoplastischen kulturellen Überformung, so korrespondiert dies mit Kraepelins These, daß die charakteristischen Merkmale einer Erkrankung universell aufträten. Kiev (1972) ist der Ansicht, daß die „Teilung des psychologischen Funktionierens in ein organisches Substrat und eine übergelagerte kulturell konditionierte Schicht von Reaktion und Verhalten es uns ermöglicht, zu verstehen, warum die Form psychischer Krankheiten im Grunde genommen auf der ganzen Welt die gleiche bleibt.“ Die sekundären Formen psychischer Krankheit, so etwa der Inhalt der Wahnvorstellungen und Halluzinationen, seien von den pathoplastischen oder kompensatorischen Auswirkungen der jeweiligen Kultur bestimmt. Seit den großen WHO-Studien und auch den mit ethnographischen Methoden gewonnenen Ergebnissen von Murphy (1976), Westermeyer (1979) und Edgerton (1966) läßt sich die relativistische Auffassung der Nichtvergleichbarkeit psychischer Erkrankungen in unterschiedlichen Kulturen oder gar das Infragestellen des Auftretens psychischer Störungen in anderen Gesellschaften nicht mehr halten. So konstatiert Edgerton (1966) nach seinen Feldforschungen in Ostafrika: „what is psychotic for them would be psychotic for us“. Auch Odejide (1979) wendet sich gegen das kulturrelativistische Verständnis. Er weist darauf hin, daß die international bekannten und klassifizierten Erkrankungen auch in Nigeria vorkämen und die Patienten auf die gleichen Psychopharmaka ansprächen. Fabrega (1992): „Vorausgesetzt, daß das Auftreten von (psychischen) Erkrankungen natürlich im Körper verankert ist, ist es vernünftig, daraus zu schließen, daß es universelle Indikatoren von Erkrankungen gibt“. Der Autor gibt zu bedenken, wenn angesichts der vorausgesetzten natürlichen Verankerung psychischer Phänomene, biologische Begriffe in den transkulturellen Diskurs eingebracht würden, so werfe dies zwangsläufig eine Universalismus-Relativismus-Dichotomie auf. Denn, so Fabrega, „Biologie impliziert universelle Mechanismen und Prozesse und deutet auf die Gleichheit in der Krankheitsentstehung und der Krankheitsmanifestation hin. Andererseits impliziert Kultur differierende Konventionen und Bedeutungsinhalte […] und kulturelle Variationen in Auftreten und Interpretation.“ In den letzten Jahren tendieren Autoren dahin, die universalistischen Konzepte mit ihrer Dichotomie von ubiquitärer Form und kulturell über14
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formten Inhalt modifiziert in ein biopsychosoziales bzw. biosoziales Krankheitsmodell (siehe z.B. Marsella 1988; Goldberg 1994) zu integrieren. Wenn also auch das Bemühen der Forscher erkennbar ist, Brücken zwischen den konkurrierenden Schulen zu schlagen, so ist metatheoretisch der Graben zwischen Universalisten und relativistischen Ansätzen keineswegs überwunden. Fabrega stellte noch 1992 die Frage, wie eine Vermittlung zwischen Universalismen und Relativismen herzustellen sei. Analog dem Dualismus der eben beschriebenen Positionen über psychische Erkrankungen in verschiedenen Kulturen werden als gegensätzliche Vorgehensweisen „etische“ und „emische“ Methoden1 unterschieden (siehe z.B. Murphy 1982; Westermeyer 1985; Fabrega 1992). Die der kulturvergleichenden Psychiatrie und quantitativen Empirie entsprechende „etische“ Vorgehensweise untersucht und diagnostiziert psychiatrische Erkrankungen in anderen Kulturen anhand externaler, kulturübergreifender und vom Beobachter eingeführten diagnostischen Konventionen.2 Demgegenüber verwendet die der qualitativen Sozialforschung und der Ethnologie nahestehende „emische“ Vorgehensweise kulturimmanente Konzepte und erfaßt lokale Phänomene in der Besonderheit ihres Auftretens.3 Kleinman (1987b) weist darauf hin, daß die „Wahrheit/Wahrhaftigkeit“ von psychiatrischen Klassifikationen ihre pragmatische Anwendbarkeit, ihre Kohärenz, ebenso wie ihre Korrespondenz mit der Realität sein sollte; es sei also genauso wichtig, was in ihr ausgeschlossen werde, wie was in ihr eingeschlossen werde. Hierin läge die Crux der Unterschiede zwischen den Sichtweisen der klinischen Realität von Psychiatern und Sozialwissenschaftlern, da das Interesse der ersteren auf die „Universals“, also die kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten, gerichtet sei, während die letzteren auf die kulturspezifischen Unterschiede fokussierten.
1 Diese Begriffe wurden in den Sozialwissenschaften geprägt und leiten sich aus Begriffen der „phon-etisch“ und „phonemisch“ der Linguistik her. 2 So etwa sind das in der WHO Pilot Study of Schizophrenia eingesetzte Instrument der Present State Examination oder auch internationale Depressionsinstrumente wie SADD, HDRS als „etische“ Erfassungsmethode einzuordnen. 3 Als „emische“ Methoden sind z.B. die in der Ethnologie verwendete Methode der teilnehmenden Beobachtung, key informant Befragungen, aber auch kulturspezifische Fragebögen wie z.B. die Enugu Somatization Scale (Ebigbo 1982) zu nennen.
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Nach Westermeyer (1985) stellt sich in der Praxis transkultureller Forschung die Alternative zwischen emisch und etisch jedoch nicht in absoluter Ausschließlichkeit. Es sei durchaus sinnvoll, wohl abgewogene Gewichtungen vorzunehmen: nämlich „in welchem Maße etisch und in welchem Maße emisch?“. So wird „im Aufzeigen der kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten und der spezifischen Verschiedenheiten das Wesentliche solcher psychopathologischer Syndrome besser greifbar, und das wiederum (helfe), die Begriffe klarer zu bestimmen“ (Pfeiffer/ Schoene 1980: S.XVIII). Abbildung 1: Dr. Ekpo (Nigeria); Hybridisierungsphänomene
Im zusammenfassenden Rückblick läßt sich zur im obigen in ihren Grundzügen darstellten Kontroverse sagen: In einem mit Absolutheitsanspruch vertretenen Universalismus liegt die Gefahr der Ontologisierung des Beobachteten und des Nivellierens existierender Unterschiede; ein konsequenter Relativismus (in der Praxis-Gestalt des Funktionalismus) hingegen mündet in einer positivistischen Entwirklichung der Wirklichkeit, sobald die Funktionen lediglich selbst genügsam für sich bestehen und nicht auf die Folie übergreifender Konzepte projiziert werden.
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D e p r e s s i v e S y m pt o m a t i k a u s t r a n s k u l t u r e l l e r Perspektive Obwohl in manchen Kulturen kein spezifischer Begriff für Depression existiert, so besteht doch überall eine Symbolisierung, ein Ausdruck, für depressive Affekte (Leff 1994). Bis heute sind transkulturelle Studien zur Symptomatik der Depression dünn gesät. Hervorstehend ist eine von HBM Murphy (1964) organisierte Befragung von Psychiatern in 30 verschiedenen Ländern in unterschiedlichen Kulturen. Mit einem Kurzfragebogen evaluierte er die Frage, ob Unterschiede in der Symptomatologie depressiver Erkrankungen zwischen den einzelnen Erhebungsgebieten zu erkennen sind. Das Resultat zeigte, daß bei depressiven Patienten in 21 Ländern folgende vier Symptome mit signifikanter Häufigkeit auftraten: Depressive Stimmung, Tagesschwankungen, Schlaflosigkeit und Interesseverlust. Besonders aufschluß-reich war der Befund, daß in neun – überwiegend nichtwestlichen – Ländern die genannten Symptome deutlich weniger häufig waren, während körperliche Symptome wie Müdigkeit, Gewichtsverlust, Anorexie und Libidoverlust überwogen. Marsella (1985) weisen später auf die mangelnde Reliabilität als eine methodische Schwäche der Arbeit Murphys hin, indem sie darauf aufmerksam machen, es wäre „ohne vorheriges Training unwahrscheinlich [...], daß Psychiater aus unterschiedlichen Kulturen vergleichbare Interview-Methoden und Kriterien zur Erfassung der Symptomatik anwendeten.“ Trotz dieses sicherlich berechtigten Einwandes wurde die paradigmatische Einschätzung Murphys durch Sartorius et al (1972; 1980; 1983) bestätigt, der die bisher größte und wichtigste internationale Studie zur Symptomatik der Depression im Auftrag der WHO durchführte. Mittels eines eigens hierfür entwickelten Untersuchungsintrumentes, des WHO Schedule for Standardized Assessment of Depressive Disorders (SADD), wurden sowohl charakteristische Symptome gefunden, aber auch Unterschiede in ihren Konstellationen, ihrer Häufigkeit und ihrem Verlauf. Die breit angelegte Vergleichsstudie von 570 Patienten aus fünf verschiedenen Ländern (Kanada, Iran, Japan, Indien, Schweiz) bestätigte im wesentlichen die Ergebnisse Murphys: Es traten beispielsweise bei zwei Dritteln der schweizerischen Stichprobe, jedoch nur bei einem Drittel der iranischen Stichprobe Schuldgefühle als Symptom auf. Somatisierungen hingegen waren bei 57 % der iranischen, aber nur bei 27 % der kanadischen Probanden offensichtlich. Es kristallisierten sich als depressive Kernsyndrome („core symptoms“ ) heraus: Traurigkeit, Freudlosigkeit, 17
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Angst und Anspannung, Energielosigkeit, Interessenverlust, Konzentrationsverlust, Insuffizienzgefühle, Versagensgefühle sowie das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit (Sartorius 1980). Andere Symptome differierten in ihrer Häufigkeit von Land zu Land. Einige seien, so Sartorius, als kulturspezifisch, andere als kulturunabhängig anzusehen. So fanden sich Schuldgefühle deutlich häufiger in der Schweiz (68 %) und in Kanada (58 %) als in Japan (41 % bzw. 48 %) und im Iran (32 %), während wiederum körperliche Symptome im Iran am häufigsten vorkamen (57 %). Ähnliches gilt für Suizidideen, depressiven Wahn und weitere Symptome. Die zentrale Annahme Sartorius ist es, daß diese Symptome durch Pathoplastizität gekennzeichnet sind. Daher sei ihr Vorkommen und Gesamtbild in den verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedlich.
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2. K O L O N I A L E U N D P O S T K O L O N I A L E D E P R E S S I O N S F O R S C H U N G I N A FR I K A
Kolonialzeit In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde von dem Großteil der in Afrika tätigen kolonialen Psychiater das Vorkommen von Depressionen bei Afrikanern als geringfügig eingeschätzt. Prince (1968) faßte nach Durchsicht von 14 zwischen 1895 und 1957 publizierten Arbeiten über Depression in Afrika, die überwiegend auf stationären Erhebungen beruhten, wie folgt zusammen: • Wirkliche endogene Depressionen seien nicht vorhanden oder selten. • Falls sie aufträten, seien sie weniger intensiv und von kürzerer Dauer. • Selbstbestrafung sei extrem selten. • Suizid sei „unüblich“ (unusual). Ganz in dieser Tendenz lag es, als der am Mathari Mental Hospital in Nairobi tätige britische Psychiater Gordon (1936) feststellte, daß es „eine bemerkenswerte Abwesenheit von Depressiven im Krankengut gibt, bis auf eine ‚Kleinigkeit’ (trifle) vom agitierten Typ“, da er nur zwei Fälle von affektiven Störungen unter 120 Aufnahmen fand. Er merkte allerdings einschränkend an, daß für diesen enormen Unterschied zur Depressionshäufigkeit in Großbritannien „eine Antwort nicht möglich ist.“ Denn: „Wir sind zu unwissend über die Psyche der Eingeborenen“. Nicht alle Kolonialpsychiater waren sich der Grenzen der Interpretations-möglichkeiten ihrer Erhebungen so bewußt wie Gordon. Dessen Nachfolger Carothers (1953) konstatierte: „Das Fehlen eines Verantwortungssinnes, die Freiheit von Schuld und die Lebendigkeit von Projektionsmechanismen verleihen dem Afrikaner eine Immunität gegenüber der Depression“. Carothers fand nur 24 Depressionsfälle unter 1508 Aufnahmen im Mathari Mental Hospital. Auch Smartt (1956) fand 24 Depressionsfälle unter 252 Aufnahmen in Tanzania. Ilechukwu (1991) erkennt den historischen Kern solcher Vorurteile gegenüber Afrikanern in der europäischen Tradition der Depressionsbe19
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schreibung, in der Sensitivität stets mit Intellektualität verbunden wurde. Auch werde im topischen Modell der Psychoanalyse Depression aus einem konflikthaften Verhältnis zwischen Ich und Über-Ich hergeleitet. Dieser Annahme zufolge leiden vor allem verantwortungsbewußte Menschen an dieser Krankheit. Ilechukwu merkt mit Blick auf diejenigen, die die Existenz depressiver Erkrankungen leugnen, ironisch an, daß „die afrikanischen Bevölkerungen in der vorkolonialen Ära deswegen wohl immun gegen Depressionen gewesen sein (müssen), während die europäischen Untersucher sie bei ihnen verzweifelt suchten.“ Nach Rwegellera (1981) gibt es folgende Gründe für das Verkennen depressiver Störungen: Frühe Studien bezogen sich auf hochselektierte Krankenhausstatistiken, die Patienten, die dort nicht hingelangten, nicht berücksichtigten. Auch die Art der psychiatrischen Einrichtung, die auf sozial nicht mehr integrierbare Kranke ausgerichtet war, führte dazu, daß ganze Kategorien psychischer Erkrankungen dort nicht behandelt wurden. Desweiteren waren zur kolonialen Zeit, so Rwegellera, noch keine adäquaten Rekrutierungs- und Diagnosemethoden verwendet worden. Dies vermeintlich seltene Vorkommen depressiver Erkrankungen in Afrika sei letzlich Konsequenz westlicher Vorurteile für die das Bild des „glücklichen Wilden“ zentral war, und dieses Bild sei auch für die Sichtweise der kolonialen Psychiater konstitutiv gewesen. Dem bisher Gesagten ist hinzuzufügen, daß bis in die Mitte unseres Jahrhunderts in der europäischen Psychiatrie ein relativ enger Depressionsbegriff vorherrschte: Die psychischen Symptome wurden relativ zu kognitiven und motorischen Symptomen als im Vordergrund stehend angesehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß sich Sprachbarrieren und soziale Barrieren sicherlich nachteilig auf die Diagnostik auswirkten. Weiterhin wurde das Urteil, Afrikaner erkrankten nur ausnahmsweise an Depression, durch ein quasi statistisches Zählverfahren bestimmt, das lediglich registrierte, wie oft die Afrikaner in psychiatrische Krankenhäuser eingewiesen wurden. Ein solches Zählverfahren muß jedoch zu falschen Resultaten führen, da die Bevölkerung ein größeres Maß an Toleranz gegenüber diesen Erkrankungen hat (Orley 1970), so daß Depressive – verglichen mit europäischen Verhältnissen – seltener klinisch untergebracht werden. Auch deshalb ist das o.g. Zählverfahren unzuverlässig, weil Depressive nicht in die zentralen psychiatrischen Verwahranstalten aufgenommen wurden. Diese waren über lange Zeit fast ausschließlich für akut schizophrene, manische und gewalttätige Patienten vorgesehen. All dies führte dazu, daß eine Vielzahl Depressiver im Rahmen klinisch-epidemiologischer Studien nicht erfaßt werden konnte.
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Erste Berichte, die Gegenteiliges verlauten ließen, kamen von der Ethnologin und Psychiaterin Field (1958), die darauf hinwies, daß die Depression bei Afrikanern eine spezifische symptomatische Ausgestaltung aufweise.
„Independence shift“ Prince (1968) sieht, wie oben dargestellt, die Einschätzung, Afrikaner seien nur ausnahmsweise depressiv, in den Versorgungsstrukturen und politischen Anschauungen der Kolonialstaatlichkeit begründet. Eine Änderung der Vorurteilsbildung und der Prävalenzrate wird von Prince als „independence shift“ bezeichnet. Der Autor faßte 21 Berichte, die im Zeitraum von 1957 bis 1965, der „Ära der Unabhängigkeit“, über afrikanische Depressionssymptomatik erschienen waren, zusammen. Diese Berichte machten einen Wandel in der Beurteilung der Depressionshäufigkeit in Afrika deutlich. Depressionen seien keineswegs selten, sondern durchaus häufig, doch nähmen sie eine andere Form als in Europa an. Prince nennt, die Publikationen zusammenfassend, folgende Charakteristika: • Der depressive Affekt wird weniger verbalisiert. • Selbstanschuldigungen sind nicht vorhanden, Projektionen hingegen häufig. • Hypochondrie und körperliche Beschwerden beherrschen häufig das klinische Bild. • Suizid ist ungewöhnlich. Der Nigerianer Lambo, einer der ersten einheimischen Psychiater, verfolgt in seinen Publikationen den von Prince konstatierten Wandel der psychiatrischen Sicht mit. Noch 1956 hatte er nur 6 Depressionen bei 146 Patienten diagnostiziert; er war der Ansicht, daß dies darauf beruhe, daß diese depressiven Patienten verwestlicht („westernized“ ) seien. Vier Jahre später, 1960, ändert Lambo jedoch seine Meinung und schreibt mit Blick auf seinen früheren Standpunkt: „Viele leicht Depressive oder Manisch-Depressive wurden in früherer Zeit fälschlicherweise als Psychoneurotiker diagnostiziert, und es ist unsere Anschauung, daß viele nicht progrediente endogen Depressive durch die Bezeichnung der ‚Neurasthenie’ verdeckt bleiben und uns nie erreichen. Auch die meisten der sogenannten nicht behandelbaren Psycho-Neurotiker sind in Wirklichkeit endogen Depressive.“
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Collomb und Zwingelstein (1961) berichten, daß einige senegalesischen Patienten an Depression erkrankt seien, ohne aber dabei unglücklich oder traurig zu wirken. Nach Asunis (1961) Erfahrung zeigen sich Depressionen bei afrikanischen Patienten oftmals in Form von somatischen Beschwerden und Hypochondrie. Mit zunehmender Dezentralisierung der psychiatrischen Versorgung wurden Berichte auf der Basis wirklichkeitsnäherer Daten möglich. Jüngere Untersuchungen ergaben, daß Depression in Afrika ebenso häufig ist wie in westlichen Gesellschaften, aber ein etwas anderes klinisches Bild bietet (Asuni 1961; Baasher 1961; Collomb/Zwingelstein 1961; Gillis 1961; Leighton 1963; Hertz 1964; Buchan 1969; German 1969). Binitie (1972), Ebie (1972) und Olatuwura (1973) fanden unter den veränderten Voraussetzungen sogar eine hohe Depressionsrate. Untersuchungen von Orley und Wing (1979) zufolge traten Depressionen doppelt so häufig bei Frauen in Uganda als bei Frauen in London auf. In Uganda waren zudem die Depressionen schwerer, und ein Schuldwahn ließ sich häufiger diagnostizieren. Es läßt sich sagen, daß zu einer realistischeren Einschätzung des Vorkommens depressiver Störungen in Afrika mehrere Faktoren zu nennen sind: • methodische Verbesserungen; • diagnostische Weiterentwicklungen; • bevölkerungsnähere Versorgungsstrukturen. Was die Symptomatik der Depression in Afrika anbetrifft, so liegen derzeit spezifizierende und verläßliche Untersuchungen nur in einer geringen Anzahl vor. So bleibt die These, daß afrikanische Depressive stärker somatisieren als etwa europäische (Asuni 1961, Collomb/Zwingelstein 1961; Lambo 1960; Ndetei/Muhangi 1979), die von einigen Psychiatern (Ohaeri 1989; Olatawura 1973; Binitie 1975, 1981) bezweifelt wird, überprüfungsbedürftig. Die These einer stärkeren Somatisierung wird etwa von Asuni (1975) vertreten, wenn er z.B. vom „Brain-Fag Syndrom“ (vgl. Prince 1960) und von dem „Central-heat-Syndrom“ (vgl. Ifambumuyi 1981) berichtet. Beide Syndrome werden von Asuni in den symptomatischen Zusammenhang einer depressiven Grundstörung gestellt. Eine solche äußert sich auch im „Suicid-Äquivalent“ (1966, 1975): Der Depressive „rennt in den Busch“, und wird von wilden Tieren getötet. Ilechukwu (1991) schreibt zum Vorkommen von depressiven Schuldvorstellungen: „Es ist bedeutsam, daß mit Äußerungen von Schuld und Selbstbeschuldigungen zusammenhängende depressive Symptome heute 22
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im klinischen Alltag in Afrika häufig angetroffen werden [...], aber ihre relative Häufigkeit in der Patientenpopulation muß erst noch bestimmt werden“. Unklarheit besteht ebenfalls über die Häufigkeit und Intensität depressionsbedingter Suizidalität (German 1972) sowie über die Häufigkeit und Intensität depressiver Stimmungen. Die Vorkommenshäufigkeit letzterer werden von Binitie (1975) in bezug auf Nigeria als eher hoch eingestuft. Anzumerken ist, daß der Großteil dieser Untersuchungen – zumal wenn eine differenzierte Methodik eingesetzt wurde – auf den städtischen Raum beschränkt blieb, und zumeist das hochselektierte Patientenkollektiv von Universitätskliniken betraf.4
Dezentralisierung und gemeindenahe P s y c h i a t r i e m o d el l e Für das Verständnis der im klinischen Alltag auftretenden psychiatrischen Erkrankungen müssen einige soziokulturelle Überlegungen vorangestellt werden: Das subsaharische Afrika weist eine ethnische Multitribalität auf. Weil zudem der Kontinent aus 53 unabhängigen Staaten besteht, verbietet sich jede Verallgemeinerung über „den Afrikaner“ (German 1972; Orley 1968). Hinzukommt, daß der Kulturwandel mit seinen unterschiedlichen Ausprägungsformen, den diversen Lebenswelten, eine schwer erfaßbare Komplexität verleiht. Das Spektrum der Formen der Produktion und Reproduktion des Lebens in Afrika reicht von nomadischer Subsistenzwirtschaft bis hin zur Großstadttechnologie. In Afrika befinden sich die meisten – und gemessen am westlichen Standard – am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Bei einem Bevölkerungswachstum mit Raten von über 3 % (Fischer Weltalmanach 1995) ist fast die Hälfte der Bevölkerung in einem Alter von unter 15 Jahren. Angesichts der Zunahme von Arbeitslosigkeit und Unterernährung ist für die meisten Afrikaner die Zukunftsperspektive entschieden ungünstig. Die in der Klinik zu beobachtenden Erkrankungen von Menschen müssen in diesem Rahmen gesehen werden. Um ein Beispiel zu nennen: Es kann als Resultat von Armut gewertet werden, wenn Schwangere, bedingt durch ungenügende Geburtshilfe, komplizierte Verläufe ihrer Ge4 Als wichtige Ausnahmen sind hier die vielzitierten Studien von Orley u. Wing (Orley/Wing 1979) und Ndetei u. Muhangi (Ndetei/Muhangi 1979) zu nennen.
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burten erleben müssen. Der Mangel an Fürsorge in dieser entscheidenden Phase kann zu frühkindlichen Hirnschädigungen und konsekutiv zu einer höheren Häufigkeit von Epilepsien führen; eine gestiegene Anfälligkeit für psychiatrische Krankheitsbilder als Sekundärfolge kann nicht ausgeschlossen werden. Ebenso erhöhen Unterernährung, Vitaminmangel und die in den Entwicklungsländern häufig auftretenden Meningitiden das Risiko für das Entstehen psychiatrischer Störungen (German 1980). Ebenfalls gehen in Afrika häufig vorkommende Infektionskrankheiten wie Malaria, Typhus, Syphilis und AIDS mit neuropsychiatrischen Symptomen einher. Neben der ökonomischen Armut ist die Auflösung traditioneller Strukturen als ein Faktor zu nennen, der direkt oder indirekt auf die Entstehung psychiatrischer Erkrankungen einwirkt (vgl. Dech 1996, 2003). Kriminalität und Suchtmittelmißbrauch sind weitere Erscheinungen, welche die Entwicklung psychiatrischer Störungen begünstigen (Boroffka 1980). Größere Studien der WHO (WHO 1975, 1978a; Harding 1980) und anderen (German 1987; Ben-Tovim 1982; Ndetei 1979) zeigen, daß 2040 % der Patienten, die eine PHC-Einrichtung aufsuchen, an psychiatrischen Problemen leiden. Diese werden jedoch häufig von den PHC-Mitarbeiter nicht diagnostiziert (Harding 1980; DeJong1986). Nachdem die meisten afrikanischen Länder unabhängig geworden waren, begann, etwa seit Mitte der 70er Jahre, ein gesundheitspolitischer Umorientierungsprozeß mit dem Ziel einer möglichst flächendeckenden Gesundheitsversorgung (vgl. Dech 1997). Die Resourcenlage jedoch war von Anfang an aufs knappste beschränkt. 1975 begann die Arbeit eines WHO-Expertenkomitees (WHO 1975), das die folgenden fünf Zielbereiche für die Sicherstellung einer verbesserten Gesundheitsversorgung in einem Mental Health Care Konzept festlegte: 1. Akute psychiatrische Notfälle. 2. Schwere psychiatrische Störungen. 3. Geistige Behinderung, Epilepsie. 4. Andere psychiatrische Störungen (z.B. Angst und Depression). 5. Psychische Störungen bei Risikogruppen (z.B. bei Obdachlosen und Flüchtlingen. Das 1978 von der WHO formulierte Primary Health Care Konzept spiegelt einen Tendenzwechsel in der Entwicklungspolitik wider: Anstelle des zuvor favorisierten Industrialisierungsmodells bevorzugte die WHO nun ein „Basic Needs Model“ mit den Schwerpunkten „Bildung“ „Er24
KOLONIALE UND POSTKOLONIALE DEPRESSIONSFORSCHUNG IN AFRIKA
nährung“ und „Gesundheit“, die als elementare ökonomische und soziokulturelle Voraussetzungen für die Entwicklung von Menschen verstanden wurden. Das 1978 in der Alma Ata-Konferenz von der WHO verabschiedete Primary Health Care-Konzept ließ eine psychiatrische Versorgung bzw. Mental Health Care zunächst unberücksichtigt. Mental Health Care (MHC) fand erst später als neunter Punkt in dieses Primary Health Care (PHC)-Konzept Eingang. Die bekannte Deklaration dieser WHO-Konferenz definierte soziales Wohlbefinden als eine Voraussetzung für die Gesundheit eines Menschen. Deshalb erhob das entsprechende WHO-Expertenkomitee die Forderung, daß die schon existierenden Gesundheitsleistungen um Mental Health Care erweitert werden sollten; dies insbesondere deshalb, weil es gelte, die ländliche Bevölkerung zu erreichen. Die Komission erarbeitete noch im selben Jahr einen „Mental Health Plan of action“ und gründete die „African Mental Health Action Group“ (AMHAG). Beide Einrichtungen sollten den Erfahrungsaustausch und die gegenseitige technische Unterstützung derjenigen Länder ermöglichen, die sich dieser Gruppe anschlossen. In der Folgezeit führten Pilotprojekte der WHO zu internationalen Aktivitäten. Der Ansatzpunkt waren dabei zunächst die medizinische Infrastrukturen, die der Kolonialzeit entstammten, und die es umzuorganisieren galt. Wie sich dies in der Praxis gestaltete, kann kurz am Beispiel des britischen kolonialen Gesundheitsversorgungssystems verdeutlicht werden: Es gab in ein und derselben zentralen psychiatrischen Einrichtung unterschiedliche Abteilungen bzw. Gebäude für Europäer und Einheimische. Zur Versorgung psychisch Erkrankter wurden nur sporadisch europäische Psychiater eingesetzt. Auch für alle einheimischen Patienten in den Kolonien galt juristisch der British Lunatic Act. 1959 wurde dieser durch den „British Mental Treatment Act“ abgelöst, der – analog zur europäischen Entwicklung im Fach Psychiatrie – eine stärkere Dezentralisierung der Versorgungsstrukturen festlegte. Zwar wurden auch in den Kolonien vereinzelte psychiatrische Einheiten auf Provinzebene geplant und teilweise auch eröffnet, doch blieb das Versorgungsprinzip hier im wesentlichen kustodial. Mit dieser Entwicklung wurde in den britischen Kolonien zumindest schon das antizipiert, was die WHO 15 Jahre später als weltweite Forderung einbrachte. Nach der Unabhängigkeit entstand in den meisten afrikanischen Ländern ein gravierendes Defizit an qualifiziertem einheimischen Personal (Pflegekräfte, Sozialarbeiter, klinische Psychologen, Psychiater). Weil es 25
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vor allem an Ärzten mangelte, förderte man ihre Weiterbildung in Europa (z.B. in London) und in den USA. Wenige Jahre später wurden landeseigene Departments of Psychiatry etabliert, die eine kostengünstigere und realitätsnähere Ausbildung ermöglichten. Erfolg dieser Bemühungen war ein sukzessiver Zuwachs qualifizierten Personals und ein weiterer Schritt hin zur geplanten Dezentralisierung der Versorgungsstrukturen. Die Dezentralisierung der bis dahin bestehenden kustodialen Institution brachte es mit sich, flächendeckende und differenzierte Angebote an Mental Health Care organisieren zu müssen. Hierfür war Planung und vor allem Koordination notwendig. In Kenia wurde versucht, das durch die Etablierung einer eigenen Division of Mental Health im Gesundheitsministerium zu erreichen. Inzwischen hatten auch viele andere Länder ihre gesetzlichen Regelungen zur Patientenversorgung einer Revision unterzogen, um damit mehr den Bedürfnissen der Kranken gerecht zu werden und auf ein Zuviel an Bürokratie zu verzichten. Freilich war dies nicht allein eine Antwort auf den Apell der WHO. Denn innere Probleme wie der steigende Alkohol- und Drogenmißbrauch beförderten die Einsicht in die Notwendigkeit, einen neuen sozialpolitischen Weg einzuschlagen. Übergreifender Leitfaden für die Neuorganisation war die Ausrichtung auf die breite Bevölkerung, in der jedoch der Einzelne ein Mehr an Verantwortung für sich und seine Familie übernehmen sollte (Diesfeld 1989). Insgesamt erwiesen sich die o.g. Entwicklungen als förderlich für eine Weiterentwicklung in Richtung einer offenen Psychiatrie.
G e g e nw ä r t i g e S i t u a t i o n Die beträchtlichen Umwälzungen, die das medizinische System seit seiner Prägung durch die Kolonialzeit erfahren hatte, scheinen spätestens mit Beginn der neunziger Jahre zu einer gewissen Konsolidierung im Gesundheitssystem geführt zu haben. Dennoch müssen chronisch erkrankte Patienten heute wie in früheren Zeiten damit leben, daß es keine sozialstaatliche Unterstützung für ihre Behandlung gibt. Generell mangelt es an Ressourcen für die Versorgung psychisch Kranker, besonders auch deshalb, weil essentielle Medikamente nicht in ausreichender Menge erhältlich sind. MHC ist in den Lehrplänen von Therapeuten und Helfern, die im Gesundheitswesen tätig sind, nicht eingeschlossen. Dies nicht zuletzt auch deswegen, weil ein Mangel an Daten und Statistiken über Mental Health Probleme herrscht. Hinzu kommt die Schwierigkeit der Koordination der 26
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Aufgaben an der Peripherie. Diese könnte verringert werden, wenn die Dezentralisierung weiter voranschritte, um so die Diskrepanz zwischen staatlichem und privatem Sektor zu reduzieren. Schließlich ist zu beachten, daß die Länder Afrikas sich gegenwärtig in einem so raschen Wandlungsprozeß befinden, daß rehabilitative Maßnahmen, die über lange Zeit im Schatten der Stigmatisierung standen, kaum adäquat verfolgt werden können, da auf diesem Gebiet nicht bei allen Beteiligten mit einer Änderung ihrer Einstellung zu den in die Gemeinschaft zu integrierenden Kranken zu rechnen ist.
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3. E X P L A N A T O R Y M O D E L S : DEPRESSIVE ERKRANKUNGEN IN DER TRADITIONELLEN MEDIZIN
Im Gegensatz zu dem klar hierarchisierten, vertikal in verschiedene Funktions- und Versorgungsebenen gegliederten westlich orientierten staatlichen Gesundheitswesen, ist das traditionelle Medizinsystem dezentral im Sinne von Selbstorganisationsprinzipien aufgebaut. Dementsprechend gibt es auch keine standardisierte medizinische Ausbildung in Institutionen nach westlichem Muster. Das Wissen für den Beruf des Heilers wird innerhalb der Großfamilie an einen dafür befähigt erscheinenden Verwandten weitergeben, gelegentlich auch an einen fremden Schüler. Man könnte also die Ausbildungsstruktur durchaus in Begriffen eines Meister-Schüler-Verhältnisses beschreiben. Grob unterscheiden kann man die Gruppe der traditionellen Heiler in die Kräuterheilkundigen – die Herbalisten – und die spirituellen Heiler; letztere genießen besonders hohes Ansehen und sind dazu befähigt, Heilzeremonien durchzuführen und die Ursachen der Erkrankung gemäß des kulturellen Erklärungskontextes herauszufinden. Wenngleich, was den psychiatrischen Bereich betrifft, einige Erkrankungen im traditionellen System als solche erkannt werden, so sind die diagnostischen Zuordnungen jedoch nicht immer und ohne weiteres in westliche Konzepte transponierbar (siehe Dech 1995a). Insbesondere bestehen zumeist andere Erklärungsmodelle hinsichtlich der Ursachen dieser Erkrankungen. Horton (1967) weist darauf hin, daß afrikanische Interpretationen von Krankheiten im wesentlichen auf Personifikationen beruhen. Demgegenüber werden im Westen Krankheiten gemeinhin gemäß der Tradition des modernen Subjektverständnisses als internales, individuelles Geschehen mit einer Beeinträchtigung der Persönlichkeit des Betroffenen angesehen (Waxler 1977).
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Abbildung 2: Traditionelle Kräuterheilkunde
Borga (1982), ein in Ostafrika tätiger Psychiater, hat die Unterschiede zwischen dem afrikanischen medizinischen Modell und dem westlichen wie folgt in einem Schaubild dargestellt. Schaubild: The Western and African Medical Model (nach Borga 1982)
THE WESTERN MODEL: CONTRASTS; SUBDIVISION MICRO MODEL
A MAN IS SICK
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WHICH ORGAN IS ILL?
WHICH PART OF THE ORGAN IS DISORDERED?
EXPLANATORY MODELS
THE AFRICAN MODEL : MACRO MODEL CONNECTION; RELATIONS
A MAN IS SICK
WHICH FAMILY RELATIONS ARE DISTURBED?
WHICH RELATIONS TO THE ANCESTORS ARE DISTURBED?
Das Schaubild ist auch hilfreich, um in generalisierter Form die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der traditionellen und der westlichen Sichtweise des Menschen aufzuzeigen: Während das westliche Medizinmodell primär auf Analyse, Differenzierung und Unterteilung aufgebaut ist, stützt sich das afrikanische traditionelle Modell auf die Beziehungen zwischen den Menschen zueinander und zur Natur. Psychische Erkrankungen sind in traditionellen medizinischen Konzepten sehr wohl bekannt; es existieren in vielen afrikanischen Sprachen Begriffe für psychische Auffälligkeiten. Hinsichtlich depressiver Störungen fällt auf, daß es im Gegensatz zu etwa schizophreniformen Psychosen, weniger direkt entsprechende traditionelle Bezeichnungen gibt. Hierbei mögen traditionelle Kausalitätsvorstellungen einerseits, wie auch eine größere Toleranz gegenüber Leistungseinschränkungen andererseits, eine Rolle spielen (vgl. Dech 1998). Gedrückte Stimmung und Zurückgezogenheit erscheinen ohne konkreten Grund nicht vorstellbar, so daß Depression zumeist mit psychosozialen Problemen in Verbindung gebracht wird. Den Feststellungen mancher Autoren, daß es in afrikanischen Sprachen praktisch keine Begriffe für Depression gebe, kann die Verfasserin jedoch nicht zustimmen. Eine Umschreibung für Depression in Swahili, „mawazo mengi“ (das bedeutet etwa „zu viele Gedanken“, sinngemäß aber „zu viele Sorgen und Grübelneigung“), spiegelt die Ansicht wider, daß Kummer krank macht (Dech 1997). Auch Broadhead und Abas (1994, 1996) berichten von Zimbabwe, daß dort „thinking too much“ als Depression verstanden werde. Gatere (1980) berichtet, daß „gutuka“ (blackness, darkness) die Bezeichnung in Kikuyu für einen depressive Symptome umfassenden Zustand sei, der im Zusammenhang mit moralischer Schuld und damit verbundenem Entzug des Schutzes der Ahnen erklärt werde.
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Depressive Patienten würden jedoch nach Orley (1970) bei den Baganda in Uganda nicht einmal durch traditionelle Heiler behandelt, wohingegen Otsyula (1973) und Broadhead (1994) Gegenteiliges berichten. Rwegellera (1981) zitiert eine Studie von Erinosho und Ayonrinde (1978) in West-Nigeria, nach der nur 6,7-9,2 % der Gemeindemitglieder depressive Patienten als krank, 86,9-88,6 % hingegen als gesund ansehen würden. Reynolds-Whyte (1991) berichtet, daß sich in Tanzania immerhin 58,3 % der befragten Key Informants für eine medizinische Behandlung von Depressionen aussprechen, gegenüber 35,7 % die sich davon keine Hilfe versprechen. Von größter Wichtigkeit ist die soziale Funktion religiöser und traditioneller Heiler sicherlich, insofern sie Selbstorganisation und Kohärenz der Gemeinschaft stärken (Brody 1973). Prince (1968) führt diesen Gedanken mit Blick auf die westafrikanische Kultur der Yoruba näher aus: Auf einen Anstieg von sozialen Auffälligkeiten im Dorf reagiert der religiöse Heiler, indem er das strenge Befolgen religiöser Vorschriften und Verhaltensweisen verordnet; ein Anstieg der sozialen Kontakte, die striktere Vermeidung von Tabus und das Konsolidieren der Verwandtschaftsverhältnisse ist Folge dieser Verordnungen. Das generelle Verfestigen der sozialen Strukturen hilft, die psychische Gesundheit in der Gemeinschaft wiederherzustellen. Die Bedeutung einer solchen traditionellen Behandlungsweise erhellt sich, wenn man mit Mustafa, der bereits 1973 auf diese Tatsache hinwies, an die großen psychischen Belastungen infolge der schnellen sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen in Kenia erinnert (siehe Dech 1996b). Mit der Einführung von Antidepressiva in die Behandlung – hier sind vor allem Amitriptylin und Imipramin von großer Bedeutung – ändert nach einer Einschätzung von Kalunta (1981) die breite Bevölkerung zunehmend ihre Auffassung von der besten Therapiemethode für solche Erkrankungen. Während zuvor entweder Ahnenbeschwörungen oder das Aufsuchen traditioneller Heiler als Methode der Wahl – manchmal wurde dann mit depressiogen wirkenden Kräuterzubereitungen (Rauwolfia serpentina ) behandelt – angesehen wurden, wird der Depression heute der Stellenwert einer auch in der westlich orientierten Gesundheitsversorgung behandelbaren Krankheit eingeräumt. Trotz des kulturellen Wandels meint – und dies wird in der empirischen Studie mit zu überprüfen sein – Gatere (1980), daß selbst noch die meisten Patienten, wenn sie von der modernen Medizin sprechen, ein rein körperliches Behandlungskonzept ins Auge fassen. Deshalb somatisieren sie, wie es die Argumentationslinie von Dhadphale (1989), Ndetei und Muhangi (1979) vertritt. 32
4. G E N D E R A L S G E S U N D H E I T S F A K T O R : ZUR SITUATION VON FRAUEN IN AFRIKA
Im großen und ganzen ist die Situation der Frauen in Afrika typisch für Entwicklungsländer und kann als potenzierte Benachteiligung bezeichnet werden. Frauen sind, wie es in dem oft zitierten UNA-Report formuliert wird, „die Hälfte der Menschheit, leisten zwei Drittel aller Arbeitsstunden, erhalten ein Zehntel des Welteinkommens und besitzen weniger als ein Hundertstel des Eigentums (1980).“ Armut und potenzierte Benachteiligung, gerade auch in Entwicklungsländern, wirken sich auf die Lebensqualität und Gesundheit von Frauen aus. Es ist selbstevident, das Gender ein zentraler Gesundheitsfaktor ist. Auf der biologischen Ebene zeigt sich dies in frauenspezifischen Gesundheitbedürfnissen und Erkrankungen. Auf der psychologischen Ebene zeigen sich genderspezifische Rollenerwartungen, Belastungssituationen, Biographien und Verhaltensmuster. Auf der sozioökonomischen Ebene manifestieren sich Genderfragen im Zugang zu gesunden Lebensbedingungen und zur Gesundheitsversorgung. Dies gilt gleichermaßen für die körperliche wie für die psychische Gesundheit. Für das Verständnis psychosozialer Faktoren bei Depression ist die Betrachtung der soziokulturellen Situation, in der sich die Frauen bewegen daher unerlässlich. Für das Agrarland Kenia ist die Erwerbstätigkeit von Frauen ein elementarer Wirtschaftsfaktor. Neben der Bewirtschaftung von Acker und Feld obliegt den Frauen Handel und Verkauf der Produkte auf dem Markt. In der Subsistenz-Landwirtschaft ist der Großteil der landwirtschaftlichen Produkte für Mann und Kinder bestimmt, während die Einnahmen aus dem Verkauf der Überschüsse als privater Besitz der Frauen angesehen werden. Traditionellerweise ist es daher nicht unüblich gewesen, daß Frauen sich einen gewissen Wohlstand erwirtschaften können. Zusätzlich weist ihnen die Tradition das Recht zu, Landnutzung und Erbe in Anspruch zu nehmen. Ebenfalls sollte nicht die bedeutende Rolle vergessen werden, die der Frau als Ehefrau und Mutter in der Familie zukommt. Nur bei den Nomaden des Landes, beispielsweise bei den Massai, haben die Frauen eine untergeordnete Funktion. 33
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Für den Schutz der Frauen haben die „lineages“5 eine entscheidende Rolle. Es sind dies traditionelle Tragpfeiler des sozialen Zusammenhalts, die das Verwandtschaftssystem stützen. Die Frau, die einer solchen „kingroup“ angehört, hat die Sicherheit, weitgehend sozial integriert zu sein. Dies ist auch dann noch der Fall, wenn sie mit ihrem Ehemann nicht im Heimatdorf wohnt und von ihm sozial und personal abhängig ist (Sacks 1982). Falls eine Frau aber von ihrer Sippe ausgeschlossen wird und keine neue eheliche Heimat finden kann, hat sie mit großen Schwierigkeiten in ihrem privaten oder beruflichen Leben zu rechnen (Gluckmann 1969). Wenn neue „lineages“ entstehen, so geschieht das nicht selten durch die „Ältesten“, die – in der Absicht, Machtpositionen (wieder) zu etablieren – eheliche Verbindungen einleiten. Kinderreiche Ehen genießen in Afrika insofern hohes Ansehen, als sie Verbindungen zwischen verschiedenen „lineages“ festigen (Radcliffe-Brown 1950). Der Ehemann seinerseits sichert sich, indem er den Brautpreis zahlt, das Recht, alle Kinder, die dieser Ehe geboren werden, in seine „lineage“ einzubinden. Die Kinder gehören also gewissermaßen ihm, selbst wenn sie vielleicht andernorts von der Mutter aufgezogen werden. Das gilt herkömmlicherweise auch dann, wenn er eigentlich nicht selbst der biologische Vater aller Kinder ist oder wenn sich das Paar mittlerweile getrennt hat. Anzufügen ist, daß die polygamen Heiratsgepflogenheiten, die es einem reichen Kenianer erlauben, mehr als nur eine Frau zu heiraten, gelegentlich Konkurrenz unter den Frauen hervorbringt. Andererseits kommt es aber auch vor, daß Nebenfrauen durch die erste Frau sogar ermutigt werden, in die existente Ehe zu kommen (Brabin 1984). Diese hier für Kenia skizzierte Grundstruktur besteht in den meisten afrikanischen Ländern. Sie hat sich in diesem Jahrhundert für die Frauen jedoch erkennbar verschlechtert. Denn immer weniger Männer, die mit zunehmender Landflucht ihre Shamba (Bauernhof, Feld, Acker) verlassen haben, kehren zu ihrer Familie zurück. Zwar kann man davon ausgehen, daß etwa 70 % der in den Städten arbeitenden Männer einen Teil ihres Lohnes an ihre Familien auf dem Land überweisen. Dennoch ist die finanzielle Situation der Frauen auf dem Land oftmals sehr unbefriedigend, weil diese Zahlungen auch nicht regelmäßig einkommen. Selbst wenn die Familien Überweisungen erhalten, belaufen sich diese zumeist nur auf recht bescheidene Größenordnungen, denn den Männern bleibt 5 Eine „lineage“ ist eine blutsverwandtschaftliche Gruppe, die ihre Abstammung von einem gemeinsamen und bekannten Ahnen (bzw. Ahnin) ableitet bzw. Nachweisen kann. Die lineage als Gruppe übernimmt wirtschaftliche, religiöse und juristische Funktionen. Mehrere lineages bilden einen Clan und diese wiederum einen Stamm.
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GENDER ALS GESUNDHEITSFAKTOR
unter den Bedingungen, die Städte bieten, eigentlich nur die Möglichkeit, Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten zu übernehmen. Studien belegen, daß demzufolge besonders die Frauen verarmen und nach neuen Wegen zum Überleben suchen müssen (Okpala 1992; Owei/Jev 1992). Abbildung 3: Frauengruppe
Aus all den Komplikationen, die die räumliche Distanz mit sich bringt, folgt, daß die Beziehungen dieser zugezogenen Städter zu ihrer Großfamilie („extended family“) immer häufiger abbrechen. Das hat auf der einen Seite Isolation und Vereinsamung, auf der anderen Seite weiter steigende Armut zur Folge. Die heutige Situation von Frauen in den afrikanischen Entwicklungsländern ist im wesentlichen Resultat eines Prozesses, im Verlaufe dessen die traditionellen soziopolitischen Strukturen – und damit auch die gesellschaftlichen Rollen der Individuen – in den administrativen Sog des Kolonialismus gerieten: Männliche Kolonialbeamte, die aus Kulturen kamen, in denen Frauen zu dieser Zeit abseits des öffentlichen Lebens standen, traten zumeist nur mit männlichen „chiefs“ in Kontakt. Wie sehr das traditionelle System, in dem Frauen ein separater Rechtsraum eingeräumt war, der kolonialen Erosion unterlag, zeigt sich in exemplarischer Weise darin, daß das den jeweiligen „lineages“ gehörende Land mit festgelegtem Nutzungsrecht für die Frauen nun in eine Eigentumsform transformiert wurde, auf die praktisch nur Männern Zugriff eingeräumt wurde
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formiert wurde, auf die praktisch nur Männern Zugriff eingeräumt wurde (Monk/Momsen 1995). So kam es, daß die kolonialen und postkolonialen Landverteilungsprogramme, indem sie den Landtitel der Stämme auf – in der Regel männliche – Individuen übertrugen, Frauen ihrer traditionnellen Bewirtschaftungsrechte verlustig gingen. Die „lineage“ als landbesitzende Einheit hat also durch die Landenteignungen durch die Kolonialzeit an Einfluß verloren. Neben der verwandtschaftlichen Organisation in „lineages“ existieren in afrikanischen Gesellschaften die Organisation in Altersklassen. Diese Altersklassen gibt es sowohl für Männer als auch für Frauen. Initiationsriten, die für Mädchen mit Beginn der Geschlechtsreife durchgeführt werden, sind Zeugnis einer verbindenden „Kultur der Frauen“ mit eigenen Ausdrucksformen. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Riten zeigt sich in der Unterweisung der Geschlechterkomplementarität, der Wiederspiegelung der Sozialordnung und in der Sicherung der weiblichen Fruchtbarkeit. Darüber hinaus sind die weiblichen Riten wichtig zur Traditionsbewahrung, denn die Frauen halten in rituellen Sequenzen bzw. Liedern die Erinnerung an historische Ereignisse lebendig. Soziale Kategorien wie Geschlecht und Verwandtschaft müssen im wirtschaftlichen, politischen und religiösen Zusammenhang betrachtet werden; sind also als Verbindung zwischen privater und öffentlicher Sphäre zu sehen. Heute bestehen Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Formen der Eheschließung – wie traditionell, christlich oder islamisch –, die in vielen afrikanischen Gesellschaften parallel nebeneinander existieren. Für die Fortsetzung der Polygamie sind wirtschaftliche Aspekte wie die Entlastung bei Haushaltspflichten und bei der Kinderversorgung ausschlaggebend, was eine eigenständige, wirtschaftliche Tätigkeit, z.B. im Handel, ermöglicht (Schäfer 1995: 43). Zahlreiche Studien zum Wandel von Ehe- und Familienformen befassen sich mit den sozialen Veränderungen durch die Arbeitsmigration der Männer. Tendenzen, die sich dabei im afrikanischen Gesellschaftsvergleich herausarbeiten lassen, sind das Aufbrechen der verwandtschaftlichen Kontroll- und Unterstützungsformen sowie eine Instablilisierung und Individualisierung der Eheprobleme. Die Geschlechterungleichheit wird zudem durch die Männerabwanderung verstärkt (vgl. Dech 2003). „Der Einfluß der Frauen auf die Ressourcennutzung und auf politische Entscheidungsprozesse ist nach wie vor indirekt. Obwohl Frauenorganisationen die Verhandlungsmöglichkeiten der Frauen und ihren Lebensstandard verbessert haben, konnten sie nicht direkt zur Verbesserung ihrer Mitbestimmung in der lokalen oder nationalen Politik beitragen“ (Moore 1988: 164).
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5. S O Z I O K U L T U R E L L E R K O N T E X T : I N F O R M A T I O N E N ZUM UNTERSUCHUNGSGEBIET KENIA
Geomorphologie – sozioökonomische Rahmendaten – Bevölkerungsgruppen und Sprachen – Gesundheitssystem
Geomorphologie Das ostafrikanische Land Kenia wird von Somalia, Äthiopien und Sudan im Norden, Uganda im Westen und Tansania im Westen und Süden begrenzt. Den östlichen Teil Kenias bildet die etwa 400 km lange Küstenregion am Indischen Ozean. Kenia ist mit einer Fläche von 582.646 km2 doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Das Land liegt mittig auf dem Äquator. Kenias Landfläche weist die unterschiedlichsten Vegetationsformen auf; fast zwei Drittel sind aride und semiaride Gebiete. Hinzu kommen verschiedene Busch- und Savannenformen. Auch haben die Landgebiete, bedingt durch die beträchtlichen Höhendifferenzen und die unterschiedlichen Entfernungen zum Äquator, sehr variierende klimatische Bedingungen: An der Küste etwa sind Temperatur und Luftfeuchtigkeit deutlich höher als im Hochland von Zentralkenia. Die großen und niederschlagsarmen, wüstenähnliche Gebiete des Nordostens können nur für extensive nomadische Weidewirtschaft genutzt werden. Von der Küste her steigt das Tiefland bis auf etwa 1000 m im Nordwesten an und bildet im Zentralteil Kenias auf ca. 2000 m Höhe ein fruchtbares, hügeliges Hochland. Der höchste Berg des Landes ist der 5199 m hohe Mt. Kenya. Westlich vom Mt. Kenya liegt das ca. 4000 m hohe Vulkanmassiv der Aberdares, deren Hänge günstige Bedingungen für die Landwirtschaft bieten. Hinter diesen Bergen schließt sich das Rift Valley, der große ostafrikanische Grabenbruch, an. Dieses Hochplateau wird an der Grenze zu Uganda von einem weiteren Vulkanmassiv, dem 4322 m hohen Mt. Elgon, begrenzt (Vorlaufer 1990: 21). Hier ist der Trans-Nzoia-Distrikt gelegen, in dem wir unsere Untersuchung durchführten. 37
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Abbildung 4: Übersichtskarte Kenia (mit Nairobi in der Bildmitte und Kitale links oben)
Der Trans-Nzoia-Distrikt im Nordosten Kenias, in dem die Untersuchung der vorliegenden Arbeit erhoben wurde, wird gemeinhin als „high-potential-land“ betrachtet. Es hat aufgrund seines humiden bis subhumiden Klimas – mit einer einmodalen Niederschlagsverteilung von März bis Oktober – vor allem in den höheren Lagen Agrarflächen, die für einen kommerziellen, exportorientierten Anbau (Tee, Kaffee usw.) genutzt werden. In den mittleren und unteren Lagen werden alle wichtigen Kulturpflanzen (Mais, Hirse etc.) erwirtschaftet (Vorlaufer 1990: 26). In diesem Untersuchungsgebiet leben etwa 470.000 Menschen. Ihr Haupterwerbszweig ist die Landwirtschaft in Groß- und Kleinfarmen. Die Distrikthauptstadt Kitale, im fruchtbarem Hochland am Mt. Elgon an der Grenze zu Uganda gelegen, ist knapp 400 km von Nairobi entfernt. Kitale ist mit 40.000 Einwohnern zugleich das regionale Handelszentrum und hat einen weiten Einzugsbereich, zu dem die verschiedenen benachbarten Distrikte bis hin zur sudanesischen Grenze gehören.
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SOZIOKULTURELLER KONTEXT
S o z i o ö k o n om i s c h e R a h m e n d a t e n In Kenia waren 1991 10.151.000 Menschen, d.h. 41,6 %, erwerbstätig. Fast vier Fünftel (8,057 Mio.) aller Erwerbspersonen lebten im ländlichen Raum. Die Erwerbspersonenzahl der Städte lag bei 2,094 Mio. Seit 1985 (7,669 Mio.) nahm die Zahl der Erwerbspersonen durchschnittlich um 4,8 % jährlich zu. Die Gesamterwerbsquote erhöhte sich von 38,6 % auf 41,6 %, wobei die Frauenerwerbsquote 1991 mit 41,9 % geringfügig höher lag als die Männererwerbsquote (41,3 %). 1991 schätzte die Weltbank die Zahl der weiblichen Erwerbspersonen auf dem Land auf 4,466 Mio., die Zahl der männlichen Erwerbspersonen im ländlichen Bereich wurde mit nur 3,591 Mio. angegeben. Die Weltbank ging für 1991 davon aus, daß von den knapp 2,1 Mio. städtischen Erwerbspersonen rd. 1,6 Mio. einen Arbeitsplatz hatten und knapp eine halbe Mio. erwerbslos war. Daraus ergab sich für 1991 eine städtische Arbeitslosenquote von 23,5 %, nachdem diese 1985 in den urbanen Zentren bei 16,2 % gelegen hatte (Statistisches Bundesamt 1995: 55). 1992 waren 72,8 % der Beschäftigten im formellen und 27,2 % im informellen Sektor tätig. 49,5 % aller Lohn- und Gehaltsempfänger waren mit steigender Tendenz im Staatsdienst beschäftigt. Demgegenüber stagniert seit Beginn der 90er Jahre die Beschäftigungsquote im privatwirtschaftlichen Sektor. Der Agrarsektor bildet als „die tragende Säule“ der kenianischen Volkswirtschaft mit 26,8 % für fast ein Drittel der Bevölkerung die Existenzgrundlage (Statistisches Bundesamt 1995: 63). 1992 stagnierte die Wertschöpfung des Produzierenden Gewerbes: Mit 25,1 Mrd. Kenianischen Schilling lag sie nicht höher als 1991. Die Gesamtzahl der Industriebetriebe belief sich 1991 auf 629. Dem standen 15 energie- und wasserwirtschaftliche sowie 19 bergbauliche Betriebe gegenüber. Wichtige Zweige des Verarbeitenden Gewerbes sind die Nahrungsmittelindustrie, die Getränkeherstellung und Tabakverarbeitung, die Textilindustrie, die Erdölverarbeitung, die Elektroindustrie, der Maschinenbau, die Metallindustrie, der Fahrzeugbau, das Druckereiwesen sowie die Papierverarbeitung. Seit Anfang der 60er Jahre hat sich der internationale Reiseverkehr zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Zwischen 1980 und 1990 verdoppelte sich die Zahl der Keniabesucher von 400.000 auf 814.000. Der Tourismus hat Kaffee und Tee als vormals wichtigste Devisenbringer abgelöst. Darüberhinaus ermöglichte die Expansion des
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Fremdenverkehrs die Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze besonders an der Küste und in der Hauptstadt Nairobi. In Kenia werden Wasserkraft, geothermische Energie, Brennholz und Holzkohle sowie Biomasse (Dung, landwirtschaftliche Ernterückstände) als Energieträger eingesetzt. Das Land benötigt den Import von Brennstoffen, was die Zahlungsbilanz erheblich belastet und sie zu einer „chronisch defizitären Energiebilanz“ werden läßt: 1992 deckte die Erzeugung von 8,33 Mio. t Rohöleinheiten (RÖE) nur 80 % des Gesamtbedarfs an Primärenergie (10,44 Mio. t. RÖE). Das hatte zur Folge, daß rund 20 % netto importiert werden mußten (Statistisches Bundesamt 1995: 83-83). Die Handelsbilanz Kenias ist stets negativ. Die mit 1,219 Mrd. KS hohen Außenhandelsdefizite1989 und 1990 – als sich die Exporte auf weniger als 50 % der Importe beliefen – erklären sich vor allem aus der starken Einfuhrexpansion, als Folge der zunehmenden Warenbeschaffung im Ausland für extern finanzierte Entwicklungshilfeprojekte. Auf US- Dollarbasis liefen die Einfuhrüberschüsse 1989 und 1990 auf deutlich über 1 Mrd. auf. Bei den Exportwaren dominiert die Ausfuhr von Nahrungsmitteln und Getränken. Kaum Bedeutung für den kenianischen Außenhandel besitzt die Ausfuhr von Maschinen und anderen Kapitalgütern sowie von Transportausrüstungen. Der Exportanteil beider Warengruppen lag 1993 bei jeweils weniger als 1 % der Gesamtausfuhr. Trotzdem hat sich „ein starkes einheimisches Unternehmertum auf kapitalistischer Basis“ entwickelt (Ruppert 1995), das im Vergleich zu anderen ostafrikanischen Staaten das leistungsfähigste ist. Weiterhin gehört Kenia aber zu den 10 Ländern der Erde mit den krassesten sozialen Gegensätzen – kleine reiche Oberschicht und große arme Unterschicht. Was Kenia heute anbetrifft, muß gesagt werden, daß die wesentliche sozioökonomische Zweiteilung Kenias an der Armutsgrenze verläuft und Folge sich verschärfender Einkommensdisparitäten in einer Gesellschaft zunehmender Klassengegensätze ist.
Bevölkerungsgruppen und Sprachen In Kenia lebten zur Jahresmitte 1994 26,97 Mio. Menschen. Zu diesem Zeitpunkt waren 47,8 % bis 15 Jahre, 49,3 % 15 bis 64 Jahre und nur 2,9 % über 65 Jahre alt (Statistisches Bundesamt 1995: 27, 34). Damit zeigt die Alterspyramide die für Entwicklungsländer typische Form: Auf einer breiten Basis der jüngeren Alterskohorten verjüngt sich die Pyra-
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mide nahezu gleichmäßig nach oben. Die Bevölkerungsdichte beträgt 46,3 Einw/km2 , was für afrikanische Verhältnisse hoch ist. Heute leben 18 % der Kenianer in Städten, weit über viermal soviel auf dem Land. Der Verstädterungsgrad ist zwar noch immer niedrig, aber das Verstädterungstempo ist hoch. Denn der krasse Unterschied zwischen der Armut auf dem Lande und den vermeintlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten in der Stadt veranlaßt viele Afrikaner in die großen Städte zu gehen, um die Chancen des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs zu nutzen. Die Bevölkerung ist seit der Erlangung der Unabhängigkeit in steigendem Maße mobiler geworden (Hecklau 1985: 183).6 Kenias Hauptstadt Nairobi im Osten des Hochlandes ist nach einer Volkszählung von 1989 mit 1.346.000 (Zählung 1979: 827.775) die größte Stadt Ostafrikas. Schon 1980 fanden sich 53 % aller Arbeitsplätze in Nairobi; davon entfielen 16 % auf den informellen Sektor, in dem, wie es weltweit der Fall ist, überwiegend Frauen tätig sind (Monk/Hanson 1982). Nairobi ist zugleich eine der wichtigsten Verkehrs-, Handels-, Finanz- und Industriemetropolen des afrikanischen Kontinents und Sitz von Niederlassungen einer Reihe internationaler Organisationen wie z.B. UNO, Privatfirmen, Entwicklungshilfeagenturen u.a. Gemessen am Grad der Verstädterung in den westlichen Industrieländern, in denen ca. 80 % der Bevölkerung in der Stadt leben, ist der Verstädterungsgrad der ostafrikanischen Bevölkerung gering. Männer wandern viel häufiger ab als Frauen. 60 % der verheirateten Männer haben ihre Frauen auf dem Lande zurückgelassen (Wetter 1985). Die Erwerbsbevölkerung hat zwar keine Alterslast zu tragen wie die Bevölkerungen in den Industrieländern, aber der hohe Anteil nicht erwerbsfähiger Kinder ist eine schwere wirtschaftliche Bürde, wenn sie nicht mehr als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beschäftigt werden. Zwar wollen immer mehr Eltern ihren Kindern eine Schul- und Berufsausbildung ermöglichen, doch können nicht genügend Ausbildungsplätze geschaffen werden. Für die öffentlichen Haushalte stellen die steigenden Bildungsausgaben eine große Belastung dar. Hat ein Jugendlicher eine Schulausbildung absolvieren können, so findet er nicht immer eine angemessene berufliche Tätigkeit. In Gestalt der Beschäftigungslosen wächst der Gesellschaft ein Konfliktpotential zu, wie es besonders in Nairobi zu beobachten ist (Hecklau 1989: 181ff.).
6 Während der Kolonialzeit wurde dies politisch nicht gewünscht und von der Kolonialadministration durch Zuzugssperren verhindert.
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Abbildung 5: Traditionelle Lehmbauweise im ländlichen Westkenia
Die selektive Abwanderung (Vorlaufer 1985b: 128-144; ILO 1973: 45) – Kinder, weniger Qualifizierte und Alte bleiben zurück – führt den schon vorhandenen Problemen des ländlichen Raums weitere hinzu, und den Frauen bleibt es allermeist überlassen, den Haushalt zu führen und das Land zu bewirtschaften. Im Zuge der Individualisierung des Grundeigentums kann de jure jeder Bürger – de facto sind es Männer – in Kenia überall Land kaufen. Davon wird in zunehmenden Maß auch Gebrauch gemacht, so daß die tribale Durchmischung der Bevölkerung voranschreitet. Dieser Prozeß ist von der Regierung mit Blick auf die Bildung einer einheitlichen Nation durchaus erwünscht. In Kenia herrscht wie in vielen Ländern Afrikas eine nahezu „babylonische“ Sprachenvielfalt (Hecklau 1993: 76): Bis zu 29 Sprachen und 100 Dialekte in rund 40 Stämmen gibt es. Einige Sprachen haben mehrere Millionen, andere jedoch nur einige hundert Sprecher. Da sich mit Sprache soziokulturelle Identität bildet, sind Sprachen relevante Unterscheidungsmerkmale für die Zugehörigkeit zu einem Stamm.
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Abbildung 6: Großfamilie
Die bevölkerungsreichsten Stämme sind die Kikuyu mit 20,9 % (hauptsächlich in der weiteren Umgebung von Nairobi ), die Luhya mit 13,8 % (weiter westlich um den Mt. Elgon und den Mt. Eldoret) und die Luos mit 12,8 % (hauptsächlich an den Ufern des Viktoria-See). Desweiteren leben in Kenia, vor allem an der Küste, etwa 27.000 arabisch Spre chende (0,1 % der Bevölkerung). Die Zahl der Asiaten beträgt etwas über 80.000 (0,4 %) und die der Europäer etwa 34.000 (0,2 % der Bevölkerung) (Statistisches Bundesamt 1995: 39). Nach der linguistischen Aufgliederung von Heine und Köhler (1981) lassen sich die – genetisch nicht verwandten – Sprachfamilien Bantu, nilotisch und kuschitisch unterscheiden. 65 % der Bevölkerung spricht Bantu, 30 % nilotisch und 3,5 % kuschitisch. Innerhalb des nilotisch sprechenden Bevölkerungsanteils gibt es aufgrund der Vielfalt seiner Dialekte beträchtliche Verständigungsschwierigkeiten (Heine 1980: 33). Die Luhya Sprache in unserem Untersuchungsgebiet gehört zu den Bantu-Sprachen. Die Bantu-Sprachen, von denen es in Kenia vierzehn gibt, zeichnen sich durch zwei Besonderheiten aus: Die Substantiva sind in Klassen geordnet, Singular und Plural werden durch Präfixe gebildet: „Umuntu“ heißt „Person“, „Abantu“ heißt „Personen“ bzw. „Volk“. Aus dem Wortstamm prägte Bleek vor 100 Jahren den Begriff „Bantu“. Die zweite Eigenart der Bantusprachen besteht in der grammatischen Kongruenz von 43
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Adjektiven, Pronomina und Verben mit dem Substantiv, auf das sie sich beziehen (Huntingfort 1982: 80). Wie seine ostafrikanischen Nachbarn Uganda und Tanzania steht auch Kenia vor der Aufgabe, eine gemeinsame Sprache, eine Lingua franca, durchzusetzen, mit der sich die Einwohner landesweit verständigen können. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich an der ostafrikanischen Küste aus der Grammatik und dem Wortschatz der Bantu-Sprachen das Kiswahili als Verkehrssprache entwickelt, in das auch viele Lehnwörter aus dem Arabischen und anderen Fremdsprachen Eingang gefunden haben.7 Die Demographie Kenias weist weltweit eine der höchsten Zuwachsraten auf: Nach der mittleren Variante der Vereinten Nationen wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2025 auf 63,826 Mio. wachsen. Verglichen mit 1994 bedeutet dies mehr als eine Verdoppelung der Einwohnerzahl (+136,7 %). Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate liegt nach dieser Schätzvariante zwischen 1994 und 2025 bei 2,8 %. (United Nations 1995a: 132). Der „Weltentwicklungsbericht“ geht für diese Zeitspanne sogar von einer Rate von 3,5 % und einer Bevölkerung von 73 Mio. aus (1993: 340). Diese Entwicklungsdimension bestimmt – etwa seit der Kolonialzeit – ganz Ostafrika. Im Vergleich dazu mutet die geschätzte Zeitspanne für die Verdoppelung der Weltbevölkerung mit 35 Jahren als geradezu weit an. Abschließend ist zu bemerken, daß die ethnische Heterogenität Kenias korrespondiert mit dem Existieren einer Vielzahl von Religionszugehörigkeiten: 1980 bekannten sich rund 73,3 % der kenianischen Bevölkerung zu den verschiedenen Glaubensrichtungen des Christentums, 18,9 % zu den traditionellen Religionen, 6 % zum Islam und 2,1 % zu anderen Religionen (Statistisches Bundesamt 1995: 40).
Gesundheitssystem Nach der Unabhängigkeitserklärung von 1963 hatte sich die Regierung Kenias verfassungsmäßig dazu verpflichtet, ihrer Bevölkerung eine kostenlose Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, während die Bevölkerungszahl anstieg. Zu diesem Zweck installierte sie ein Gesundheitswe7 So wurden viele Zahlen aus dem Arabischen übernommen, die arabischen Sultanate herrschten an der Küste. Viele technische Begriffe aus den europäischen Staaten fanden Eingang, z.B. „Station-master“ ist der Bahnhofsvorsteher; „Schule“ wurde aus dem Deutschen übernommen.
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sen und zwar stufenweise im Rahmen sogenannter Fünf-JahresEntwicklungspläne und mit Unterstützung einer Reihe gemeinnütziger Organisationen. Auf den staatlicher Sektor entfallen rund 70 % der Krankenhausbetten. Von den Kirchengemeinschaften oder Missionsstationen werden – finanziert vom Gesundheitsministerium – der Rest getragen. In Kenia gab es 1992 301 Krankenhäuser, 477 Gesundheitszentren, 1859 Krankenstationen und Polikliniken (Statistisches Bundesamt 1995: 47). Universitätsklinik und Krankenhaus der höchsten Versorgungsstufe (national referral hospital) ist das Kenyatta National Hospital, das zugleich das größte Krankenhaus im ostafrikanischen Bereich ist. Als ehemalige britische Kolonie ist der Aufbau des staatlichen kenianischen Gesundheitswesens dem britischen National Health Service in seinen Grundstrukturen ähnlich (vgl. Dech 1997). Wie in den meisten Entwicklungsländern existiert neben der staatlichen Gesundheitsversorgung noch ein privater Gesundheitssektor: So gibt es eine ganze Reihe weiterer Kliniken, die teils von kirchlichen Organisationen getragen werden oder private Einrichtungen sind. In allen finanziell gut ausgestatteten Kliniken des privaten Gesundheitssektors praktizieren einheimische Psychiater. Hier sind in erster Linie das Aga Khan Hospital und das Nairobi Hospital zu nennen. Im Bereich der medizinischen Infrastruktur erfolgte in den 80er und frühen 90er Jahren eine starke Expansion. Im afrikanischen Vergleich ist Kenias Bevölkerung relativ gut mit Ärzten und Zahnärzten versorgt. Trotz dieser Bemühungen um Verbesserungen im Gesundheitswesen – die Zahl der registrierten Ärzte erhöhte sich zwischen 1980 und 1992 von 1691 auf 3554 (Statistisches Bundesamt 1995: 47) – wird sich die Versorgungsdichte jedoch aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums in Zukunft eher verschlechtern. 1970 kam ein Arzt auf 9836 Einwohner, 1992 versorgte ein Arzt durchschnittlich 7096 Menschen (ebd.). Nach den statistischen Angaben der Weltbank (Weltentwicklungsbericht 1993) ist dieser negative Trend sogar bereits vorhanden.8
8 Nach den Angaben der Weltbank versorgte – trotz zunehmender Ärztezahl – ein kenianischer Arzt 1970 8000 Einwohner gegenüber 1990 10.130 Einwohnern
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Abbildung 7: Kenyatta National Hospital, Universitätsklinik und National Referral Hospital
Allerdings existiert eine hohe Diskrepanz zwischen der Versorgung in der Stadt und auf dem Land. So fällt der Umstand, daß über 50 % der Ärzte selbständig – häuptsächlich in den Städten Nairobi und Mombasa – praktizieren, um so mehr ins Gewicht. Die Zahlen signalisieren weiterhin eine gravierende Unterversorgung der Landbevölkerung (vgl. Dech 1997). In Nairobi, der Hauptstadt des Landes, befinden sich mehrere Krankenhäuser der Vollversorgung. Die meisten der kenianischen Psychiater arbeiten heute in staatlichen Krankenhäusern, führen aber, wie viele ihrer ärztlichen Kollegen, aufgrund der geringen Gehälter im staatlichen Gesundheitssektor, zusätzlich eine eigene Praxis. In Nairobi gibt es, wie auch andernorts in Kenia, darüber hinaus nicht wenige niedergelassene Psychiater, die in einer Gemeinschaftspraxis mit Ärzten anderer Fachrichtungen praktizieren. Diese Psychiater arbeiten häufig auch als Allgemeinmediziner (General Practitioners). Anzumerken ist, daß der von der Sozialversicherung erfaßte Anteil der Bevölkerung nur 10 % ausmacht (Weltentwicklungsbericht 1993); Leistungen im nichtstaatlichen, privaten Sektor sind also selten durch eine Krankenversicherung abgedeckt, sondern müssen zumeist vom Patienten selbst finanziert werden.
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Wohl gibt es in Kenia mittlerweile 60 Psychiater, und damit hat sich ihre Anzahl in den letzten 15 Jahren verzehnfacht. Sie wurden im Department of Psychiatry in Nairobi ausgebildet. Der Zuwachs ist darauf zurückzuführen, daß die Mediziner seit 1967 im eigenen Lande ausgebildet werden und nicht mehr, wie es zuvor der Fall war, zumeist an der Makerere-Universität in Uganda oder in Großbritannien. Heute gibt es in Kenia insgesamt drei Universitäten, in denen das Studium der Medizin (bis zum Staatsexamen) ergriffen werden kann. Abbildung 8: Mathari Mental Hospital, Nairobi
Als einzige psychiatrische Ausbildungsstätte für Medizinstudenten, Ärzte und Pflegekräfte steht das staatliche psychiatrische Krankenhaus, das Mathari Mental Hospital, das 1910 während der britischen Kolonialherrschaft gebaut wurde, zur Verfügung. Die Bettenkapazität dieses Krankenhauses wurde von 1200 auf 800 im Zuge der Dezentralisierung reduziert. Anders als in einigen anderen afrikanischen Ländern konnte die psychiatrische Versorgung in Kenia inzwischen bis auf das Distriktlevel dezentralisiert werden.
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II. E MPIRISCHER T EIL
1. W O M E N ’ S M E N T A L H E A L T H : DAS FORSCHUNGSVORHABEN
Als quasi programmatisch für das vorliegende Forschungsvorhaben mag eine Äußerung Monks und Momsens (1995) – unter Berufung auf Carney (1988), Mackenzie (1986) und Ulliwishewa (1993) – gelten: „Studien in Afrika und Asien, in denen viele Forschungsmittel und Aufmerksamkeit auf Entwicklungsprobleme gerichtet sind, betonen den ländlichen Zusammenhang, widmen sich teilweise den Wegen, mit denen Politik und Programme die Arbeitslast von Frauen vervielfacht haben, während gleichzeitig ihr Status in der Gesellschaft erniedrigt wurde (z.B. indem Landrechte an Männer vergeben wurden oder durch Vernachlässigung der Bedeutung von Frauen in der Subsistenzproduktion). Es wurde deutlich, daß viele Entwicklungsprojekte scheitern, weil Wissenschaftler und Planer zu wenig die Arbeit von Frauen einbeziehen“.
Die Verfasserin der vorliegenden Untersuchung hatte die Gelegenheit, durch wiederholte Aufenthalte in Kenia, Kultur und medizinische Infrastrukturen des Landes kennenzulernen. Während ihrer neunmonatigen Tätigkeit wurde sie mit der ärztlichen Versorgung am Department of Psychiatry der Universität von Nairobi, Kenyatta National Hospital, und diversen District Hospitals vertraut. Einen speziellen Forschungsimpuls erhielt sie in Anbetracht der Diskrepanz zwischen städtischen und ländlichen Qualitätsstandards der psychiatrischen Versorgung. Nach Kenntnis der Verfasserin liegen bis heute kaum wissenschaftlichen Arbeiten vor, die sich mit Fragen der Symptombeschreibung von Patienten, die in ihrer ländlichen Heimat behandelt wurden, befassen, geschweige denn solche, welche die konkrete Symptomatik mit der soziokulturellen Situation der Patienten korrelieren. Für die Wahl des Kitale District Hospitals im Trans-Nzoia-Distrikt als Erhebungsgebiet sprachen die bestehenden Kontakte mit ärztlichen Kollegen, die am Department of Psychiatry der University of Nairobi ausgebildet waren und ihren Dienst nun auf dem Land aufgenommen hatten.
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Abbildung 9: Kitale Distrikt Hospital, Westkenia
Abbildung 10: Kitale Distrikt Hospital. Im Vordergund zum Trocknen aufgehängte OP-Handschuhe
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WOMEN’S MENTAL HEALTH: DAS FORSCHUNGSVORHABEN
Das spezifische Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit richtet sich auf den möglichen Zusammenhang zwischen depressiver Symptomatik (Schweregrad, Kernsymptome) und psychosozialer Situation von Frauen im ländlichen Ostafrika. Unsere übergeordneten Arbeitshypothesen lauten: • Es gibt kulturspezifische Symptome und es gibt ein depressives Kernsyndrom, das mit dem in anderen Kulturen übereinstimmt. • Somatisierung ist das wichtigste, häufigste und ausgeprägteste Symptom bei afrikanischen Depressiven. Dabei treten psychische Symptome gegenüber körperlichen Symptomen in den Hintergrund. • Internationale Depressionsinstrumente sind sinnvoll einsetzbar, erfassen jedoch nicht unbedingt kulturelle, pathoplastische Ausgestaltungen der Depression. • Es besteht eine positive Korrelation zwischen Depressivität und der ungünstigen psychosozialen Situation ostafrikanischer Frauen. Gerade auch bei psychischen Störungen werden traditionelle Heiler und das westlich orientierte Gesundheitssystem parallel in Anspruch genommen. Um der Fragestellung gerecht zu werden, und im Bewußtsein dessen, daß es sich hier um eine erstmalige Evaluation handeln werde, mußten selbstverständlich einige Vorarbeiten vorgenommen werden.
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2. T R A N S K U L T U R E L L E F O R S C H U N G : QUALITATIVE UND QUANTITATIVE METHODEN ZUR UNTERSUCHUNG DEPRESSIVER SYMPTOMATIK IM LEBENSWELTLICHEN KONTEXT
Methodologische Überlegungen – Key Informant Survey – Rekrutierungsfragen – Erfassung psychosozialer Parameter – Befragung zu Krankheitserklärungskonzepten und traditionellen Heilern (Ethische Aspekte – Patientenstichprobe – Kontrollgruppe – Auswertungsprozeß)
Methodologische Überlegungen Wie schon im allgemeinen Teil der vorliegenden Arbeit vermerkt, ist transkulturelle Depressionsforschung in Ostafrika auf wissenschaftlicher Basis erst in den Anfängen begriffen. Die Konzeptionalisierung unserer empirischen Vorgehensweise geht primär von der Komplexität des Untersuchungsfeldes aus, dessen Bedingungen sowohl hinsichtlich des ländlichen Lebens als auch der Lebenssituation von Frauen bisher kaum untersucht wurden. Im Bemühen, dieser Tatsache möglichst gerecht zu werden, entschieden wir uns dafür, quantifizierende und qualifizierende Untersuchungsverfahren in unsere Studie aufzunehmen. Ein Untersuchungsdesign aus standardisierten Meßmethoden soll mit der offerenen Methodik der Interviews kombiniert werden – einem Vorgehen, das es erlauben sollte, den „Abstand zwischen Forscher und Forschungsobjekten zu verringern“ (Monk/Momsen 1995). Schon Pelto (1970) empfahl im Hinblick auf Untersuchungen in fremden Kulturen verschiedene wissenschaftliche Verfahren eklektizistisch zusammenzustellen. Er hält die Kombination von relativ unstrukturierten Beobachtungen (hohe Validität) und strukturierten Befragungsverfahren, Tests und anderen formalisierten Untersuchungsinstrumenten (hohe Reliablität und Replikabilität) vorteilhaft für die Erfassung der in fremden Kulturen zu beobachtenden Phänomene. Die Erarbeitung dieser Übersichtsuntersuchung erfolgte daher in mehreren Schritten: Zunächst wurden mittels einer Key Informant-Befra55
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gung Informationen zur Abbildung des lebensweltlichen Kontexts in diesem ländlichen Distrikt gesammelt. Darauf aufbauend wurde die Untersuchungsmethode konzeptioniert und durch Entwicklung eines angepaßten psychosozialen Fragebogens und durch die Übersetzung der psychiatrischen Selbstbeurteilungsinstrumente vorbereitet. Für die Patientenerhebung verwendeten wir einen zweistufigen Untersuchungsaufbau: Zuerst erfolgte ein Screening. Im Screening auffällige Frauen wurden mit emischen und etischen psychiatrischen Verfahren (vgl. I.1) eingehend untersucht (siehe Schaubild). Um eventuell aufkommende Unsicherheiten beim Ausfüllen der Selbstbeurteilungsinstrumente zu umgehen und eine möglichst vollständige Informationserfassung zu gewährleisten, sollen diese Fragebögen im Beisein der Untersucher von den Frauen ausgefüllt werden. Schaubild 1: Untersuchungsaufbau Key InformantBefragung
A Survey B Studienvorbereitung
Fragebogenentwick- Key Informantlung, Befragung Übersetzungsprozeduren, Psychiaterbefragung
C Studie
1. Screening
Distriktübersicht
SRQ PSF
2. Psychiatrische Un- emischer Teil tersuchung
Symptomliste, Erklärungskonzepte
etischer Teil Selbstbeurteilungs- BDI Instrumente Fremdbeurteilungs-Instrumente
HDRS Exploration
Im folgenden soll auf die einzelnen Komponenten der Untersuchungsmethode genauer eingegangen werden.
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FORSCHUNGSMETHODEN IM LEBENSWELTLICHEN KONTEXT
Key Informant Survey Es wurden zuerst sogenannte Key Informants (Wig 1980) befragt. Hierzu wurden solche Personen angesprochen, die verschiedene berufliche Positionen innehatten und qualifiziert erschienen, sich substantiell zu äußern. Eine als Key Informant zu bezeichnende Person sollte folgende Kriterien erfüllen (Wig 1980; Penayo 1988): • hat eine vertrauensvolle und respektierte Stellung innerhalb der Gemeinde; • lebt seit mindestens vier Jahren im Untersuchungsgebiet; • hat eine Tätigkeit bzw. Funktion, die sie mit vielen Gemeindemitgliedern in regelmäßigen Kontakt bringt; • ist kooperationsfähig und kooperationsbereit. Abbildung 11: Straßenansicht Kitale, Westkenias
Die Informationen wurden im Sinne einer Key Informant-Befragung zusammengestellt zu folgenden Themenkomplexen: Soziodemographische Informationen, kulturelle Aspekte, allgemeinmedizinische Versorgung, psychiatrische Versorgung, Einstellungen zu psychischen Erkrankungen, Einstellungen zur traditionellen Medizin bzw. traditionellen Heilern, Probleme bei der Integration von Mental Health Care in die ländliche Basisgesundheitsversorgung.
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Unsere lokalen Informanten für diesen Abschnitt waren der ärztliche Leiter des Kitale District Hospitals (District Medical Officer of Health), ein langjährig im Distrikt tätiger Arzt, ein Verwaltungsbeamter dieses Krankenhauses, ein Priester, die Leiterin einer Sekundarschule, ein Sozialarbeiter, eine Stationsschwester und eine Verkäuferin.
U n t e r s u c h u n g z u r d e p r e s s i v e n S y m p t om a t i k bei Frauen Wie aus dem allgemeinen Teil dieser Arbeit hervorgeht, werden depressive Frauen nur in seltenen, schweren Fällen direkt im psychiatrischen System vorstellig, sondern suchen zumeist die allgemeinmedizinische Ambulanz auf. Nach den Erfahrungen der kenianischen Psychiater ist gerade im Bereich depressiver Störungen, mangels Kenntnissen über dieses Störungsbild, die Überweisungspraktik ungenügend. Daher scheint es unumgänglich, depressive Frauen in der allgemeinmedizinischen Ambulanz zu rekrutieren, will man ein repräsentatives Spektrum an Patientinnen untersuchen.
Offene Beschwerdeliste und Befragung einheimischer Psychiater Ziel dieser offenen Methode ist die Erfassung derjenigen Beschwerden bzw. Symptome, die von den Frauen vorgebracht werden, um mögliche kulturspezifische Besonderheiten in der Ausgestaltung und Präsentation depressiver Symptomatik abbilden zu können. Die im Screening auffälligen Patientinnen werden zu Beginn der Untersuchung nach ihren Beschwerden gefragt („what are your problems/complaints?“). Die Beschwerden werden im Wortlaut dokumentiert, um den Charakter der Beschwerden beizubehalten. Gewissermaßen als Gegenprobe werden einheimische Psychiater nach kulturell charakteristischen Beschwerden befragt, die nach ihrer klinischen Erfahrung im Zusammenhang mit depressiven Störungen stehen und häufig von einheimischen Patientinnen geäußert werden. Drei der sechs für diese Untersuchung befragten kenianischen Psychiater hatten über mehrere Jahre in Großbritannien gearbeitet, waren also sowohl mit europäischen als auch afrikanischen Patienten vertraut. Drei Psychiater hatten ihre Ausbildung und klinische Erfahrung in Kenia erworben.
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FORSCHUNGSMETHODEN IM LEBENSWELTLICHEN KONTEXT
Abbildung 12: Kitale District Hospital, wartende Frauen
Zu r A u s w a h l d e r s t a n d a r d i s i e r t e n I n s t r u m e n t e Auswahlkriterien für die Instrumente zur Untersuchung depressiver Symptome waren, daß nur solche in unserer Studie verwendet werden sollten, die bereits in unterschiedlichen Kulturen erprobt und validiert sowie international anerkannt sind. Eine Übersicht zur standardisierten Depressionsmessung auf dem afrikanischen Kontinent findet sich bei Odejide (1986). Was Ostafrika anbetrifft, bestehen durchaus einige Erfahrungen mit der standardisierten Befunderhebung mittels psychometrischer Instrumente. Folgende psychiatrische Instrumente wurden zuvor dort angewendet: Die „Hamilton Depression Rating Scale“ (Dhadphale 1989), das „Standardized Psychiatric Interview“ (Dhadphale 1983, 1984), der „Self-Reporting-Questionaire“ (Dhadphdale 1984; Kiganwa 1992), die „Present State Examination“ (Orley/Wing 1979; Ndetei/Vadher 1981,1982) Hamilton Depression Rating Scale (HDRS) Hamilton entwickelte 1960 eine nach ihm benannte Fremdbeurteilungsskala zur Einschätzung des Schweregrades einer Depression. Die HDRS erfaßt sowohl psychische Symptome wie Verstimmung, Interessensverlust und Schwierigkeiten bei der Arbeit als auch eine ganze Reihe 59
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körperliche Symptome wie z.B. Schlafstörungen und Hypochondrie. Die Zuodnung der Symptome soll durch einen erfahrenen Kliniker auf der Basis seiner psychiatrischen Untersuchung und anderer verfügbarer Informationen vorgenommen werden. Hamilton überarbeitete 1967 seine – von 17 auf 21 Items erweiterte – Skala. Werte bis zu 6 Punkte weisen, so Untersuchungen an westlichen Stichproben, auf Normalität des Probanden hin, 7-17 auf milde, 18-24 auf mäßige und mehr als 25 Punkte auf schwere Depression. Mit der HDRS können Depressive von Normalen und von nicht depressiven, aber anderweitig psychiatrisch erkrankten Patienten getrennt werden. Nach Shaw (1985) besteht ein Zusammenhang zwischen HDRS-Werten und klinischer Beurteilung der Depressionsschwere sowie eine mäßige Korrelation dieser Fremdbeurteilungsskala zu Selbstbeurteilungsskalen wie dem BDI oder MMPI. Beck Depressions Inventar (BDI) Das BDI wurde von Beck 1961 aufgrund klinischer Beobachtungen zur Beurteilung der Symptome depressiver Patienten entwickelt. Es wurde als Lang- und als Kurzform publiziert; beide Varianten korrelieren (mit r = 0.96) hoch miteinander (Beck/Beck 1972). Mittlerweile hat sich die Verwendung des BDI ausschließlich als Selbstbeurteilungsinstrument durchgesetzt; eine Verwendung für Verlaufsuntersuchungen ist ebenfalls möglich. Shaw (1985) zeigen in ihrer Übersicht eine gute Reliabilität und Validität des BDI. Mäßige bis gute Korrelationen dieser Selbstbeurteilungsskala mit Fremdbeurteilungsskalen (HDRS) werden von Schwab (1967) und Williams (1972) berichtet. Marsella (1985) weist daraufhin, daß Patienten in vielen Kulturen kaum vertraut mit Fragebögen sind und demzufolge bei der Verwendung von zu komplizierten Fragebögen leicht fehlerhafte Aussagen entstehen. In unserer Untersuchung verwenden wir deswegen die Kurzform des BDI von 1972. Uns erscheint es günstiger, die Probanden nicht mit einer Überhäufung von Fragen zu belasten, sondern sie mit den wesentlichen Kriterien zu konfrontieren, die für eine Auswertung die höchste Aussagekraft haben. Für die Kurzform des BDI wurden aus der Langform dreizehn Items ausgekoppelt; Selektionskritierum war nach Beck und Beck (1972) die maximale Korrelation mit dem Psychiaterurteil und eine maximalen Trennschärfe. Die Operationalisierungen der Items sind identisch mit der Langform, wodurch eine Vergleichbarkeit mit anderen Studien, in denen die Langform verwendet wurde, möglich ist. Es handelt sich um folgende Items: 60
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Stimmung (1), Hoffnunglosigkeit (2), Versagensgefühle (3), Unzufriedenheit (4), Schuldgefühle (5), Selbsthaß (6), Selbstbestrafung (7), Sozialer Rückzug (8), Entschlußlosigkeit (9), Körperwahrnehmung (10), Arbeitsunfähigkeit (11), Ermüdbarkeit (12) und Appetitverlust (13). Der Gesamtsummenwert der Kurzform des BDI ergibt sich aus der Summe der Itempunkte und reicht somit von 0-39. Damit können Aussagen über die Schwere des depressiven Zustandes gemacht werden. In der westlichen Literatur werden für die Kurzform des BDI folgende Abstufungen des Schweregrades beschrieben: • 0-4 Punkte für den Normalbereich, • 5-7 Punkte als milde Depression, • 8-15 Punkte als mäßige bis schwere Depressionen, und • 16-39 Punkte als schwere Depression. Der BDI gehört zu den international am meisten verwendeten Selbstbeurteilungsinstrumenten zur Erfassung der Intensität von Depressionen. Das Inventar wurde in folgende Sprachen übersetzt und verwendet: Deutsch, spanisch, polnisch, indisch, dänisch, französisch,. finnisch, japanisch, persisch (vgl. Steer 1986), chinesisch (Zheng 1991) und arabisch (Raeder 1991). Nach unserer Kenntnis (Richter, Dech, et.al. 1996) wurde, abgesehen von einer Untersuchung in Ägypten (Raeder 1991), das BDI, wie andere Selbstbeurteilungsskalen auch, im subsaharischen Afrika bisher nicht eingesetzt. Dies könnte damit zusammenhängen, daß es relativ aufwendiger Übersetzungsprozeduren bedarf, um zu einer korrekten sprachlichen Version zu gelangen (siehe Kapitel 3.1.4.3.) Self Reporting Questionnaire (SRQ) Der SRQ wurde in Zusammenarbeit mit der WHO als Sreeninginstrument zur Identifikation psychiatrischer Störungen (suspected psychiatric morbidity/probable psychiatric cases) von Harding (1980) entwickelt und in einer internationalen Studie über psychische Erkrankungen im Bereich der Basisgesundheitsversorgung eingesetzt. Der Fragebogen ist vergleichsweise einfach in der Anwendung und hat sich als nützliches Screeninginstrument in einigen Entwicklungländern mit unterschiedlichstem kulturellen Background erwiesen. Der SRQ existiert in der Form SRQ-20 und SRQ-24. Der häufiger eingesetzte SRQ-20 enthält überwiegend Fragen, die neurotische und depressive Symptome erfassen sollen.9 Wie bei anderen Screenin9 Der SRQ-24 enthält vier zusätzliche Fragen, die mögliche psychotische Symptome erfassen sollen.
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ginstrumenten, etwa dem General Health Questionnaire (Goldberg 1970), kann man bei dem SRQ-20 von einer Sensitivität und Spezifität von 70-80 % ausgehen (Mari/Williams 1985). Bei der Anwendung des SRQ in unterschiedlichen Kulturen zeigte sich, daß der cut-off jeweils zwischen den einzelnen Kulturen etwas variert (Mari 1986); auch ergab die Befragung für Männer und Frauen etwas unterschiedliche Ergebnisse. Daß er als Sreeningsinstrument in afrikanischen Ländern geeignet ist, belegt eine Reihe von Untersuchungen (Dhadphale 1983, 1989; Rahim 1989; Hall 1987; Diop 1982; Tafari 1991). Abgesehen von einer im Sudan erhobenen Studie mit sehr niedrigem cut-off-level, erwies sich im subsaharischen Afrika ein cut-off level zwischen 8/9 positiv beantworteter Fragen als angemessen [7/8 in Zimbabwe (Hall/Williams 1987); 3/4 in Sudan (Rahim 1989); 8/9 in Kenia (Dhadphale 1983,1989); 8/9 in Äthiopien (Kortmann 1988); 9/10 in Äthiopien (Tafari 1991); im Senegal wurde der SRQ-24 verwendet (Diop 1982)]. In Kenia wurde der SRQ von Dhadphale und Kiganwa eingesetzt. Die damals erstellte Übersetzung in Kiswahili wurde in den internationalen Publikationen (Dhadphale 1981, 1983, 1989; Kiganwa 1991) jedoch nicht veröffentlicht. Sie erschien auch der Verfasserin und ihren Mitarbeitern in einigen Punkten als mißverständlich, so daß wir eine gründliche Überarbeitung vornahmen.10
Übersetzungsmethoden Der Grundbedingung transkultureller Forschung, das für die Datenerhebung relevante Untersuchungsmaterial sorgfältig in die Landessprache zu übersetzen, wird in der vorliegenden Studie Rechnung zu tragen versucht. So erfolgte die Übersetzung unserer Testbatterie unter Berücksichtigung der von verschiedenen Forschern vorgeschlagenen Methoden (Harding 1980; Orley/Wing 1979). Natürlich ist Rogler (1989) zuzustimmen, wenn er anmerkt, daß ein Bias, d.h. eine Verzerrung, trotz sorgfältiger Übersetzungsmethoden vorhanden sein kann. Dies kann an den zugrundeliegenden, den Übersetzungsprozeß präformierenden Forschungskonzepten der Originalversion liegen, so daß emische Elemente in der Zielkultur möglicherweise nicht ausreichend beachtet werden.
10 In der Übersetzung des Items 5 (Do your hands shake?) durch Dhadphale, einem damals in Kenia lebenden Inder, entstand in der Swahili-Version sinngemäß etwa „Schütteln Sie oft die Hände?“, also Begrüßungsverhalten anstelle des Händezitterns in der Originalskala.
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Bei den verwendeten internationalen Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen wird die korrekte, autorisierte englische Originalversion eingesetzt. Eine Version in Kiswahili wird für die Selbstbeurteilungsinstrumente BDI und SRQ-20 erstellt, da im Falle des letzteren bereits vorhandene Versionen sprachliche Ungenauigkeiten enthalten (s.o). Für die Übersetzung dieser beiden Selbstbeurteilungsinstrumente entwickelte die Verfasserin eine dreistufige Übersetzungsprozedur: In einem ersten Schritt erfolgte die iterative Rückübersetzung der englischen Originalversion der Selbstbeurteilungsinstrumente in das Kiswahili durch mehrere klinisch erfahrene zweisprachige einheimische Psychiater, einen Sozialarbeiter und einen Ingenieur. Diese wurden angewiesen, die Semiotik höher als die Grammatik zu gewichten (vgl. Kleinman 1987a; Littlewood 1990). Anschließend erfolgte eine ausführliche Diskussion der Unterschiede in den Vor-Übersetzungen, aus der eine einheitliche Version der Skala gewonnen wurde. Diese wurde wiederum in das Englische übersetzt. Es galt ferner zu beachten, daß das Swahili unabhängig vom Bildungsstand sein sollte.11 In einem zweiten Schritt wurde die Skala bei fünf Patienten und fünf Gesunden unterschiedlichen Bildungsniveaus überprüft. Sodann wurden drittens die dabei gewonnen Erfahrungen in einer weiteren Gruppendiskussion ausgewertet; dies führte zu leichten Modifikationen der Skalen. Die so gewonnenen Übersetzungen der Kurzform des BDI und des SRQ-20 wurden in der Untersuchung verwendet. Für die eingesetzten Fremdbeurteilungsinstrumente war selbstverständlich keine Übersetzung in Kiswahili erforderlich, da Studium und Weiterbildung der kenianischen Ärzte bzw. Psychiater englischsprachig erfolgt.
Klassifikationen/Nosologische Zuordnungen Philipp (1991) verglich 19 operationale Definitionen der Depression, die dem Zeitraum 1990-1995 entstammen. Er verwendete hierfür u.a. das DSM-III-R, die ICD-9 und ICD-10, den RDC, die Wiener Kriterien und die Newcastle Scale. In mehr als 50 % der untersuchten Diagnosekriterien fand er folgende Symptome: Objektive Hemmung, Früherwachen und Morgentief, Agitiertheit, Verlust an Vergnügen, Gewichtsverlust 11 Gatere (1980) berichtet von den Problemen beim Einsatz einer SwahiliVersion der Present State Examination im ländlichen Hochland um den Mt. Kenia, die von einem Hochswahili sprechenden Lehrer der Küstenregion und einem ebenfalls Hochswahili sprechenden Radiosprecher übersetzt wurde.
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und Nichtreaktivität der depressiven Stimmung. Philipp kommt anhand der an einer großen Stichprobe erhobenen und mittels Faktoren- und Clusteranalyse untersuchten Daten zu dem Ergebnis, daß die sogenannte endogene Depression quasi eine Spezialform der Major Depression ist. Das Konzept der Major Depression wurde in der amerikanischen Psychiatrie entwickelt und in der ICD-10 übernommen. In den hier verwendeten klassifikatorischen Kriterien der Depression, die gegenüber dem Endogenitätsbegriff der ICD-9 breiter angelegt sind, werden nun die Beschreibung der Symptomatik und der Verlauf von Depressionen stärker gewichtet. In der ICD-10 werden ätiologische Aspekte weniger beachtet als in der Unterteilung in endogene und reaktive Depression in ICD-9. Okasha (1993) hält das Konzept der Major Depression nach den Kriterien der ICD-10 für am besten geeignet in der Anwendung in nichteuropäischen Kulturen; er merkt an, daß nach dem Endogenitätsbegriff der ICD-9 der Großteil seiner depressiven ägyptischen Patienten als an einer atypischen Depression erkrankt klassifiziert werden müßten (vgl. auch Dech 1996a). Wir verwendeten daher die diagnostischen Kriterien des ICD 10.
Erfassung psychosozialer Parameter Bisher gibt es nur wenige Untersuchungen in Afrika, die – abgesehen von Geschlecht, Alter und Schulbildung – eine differenzierte Betrachtung psychosozialer Parameter einbeziehen (z.B. Hollifield 1990 in Lesotho). Da uns kein Instrument zur Erhebung relevanter psychosozialer Parameter praktikabel erschien, das gleichzeitig kulturelle Gegebenheiten der Menschen in einem ländlichen Distrikt Ostafrikas berücksichtigt und zugleich eine größere Stichprobe von Patienten erfassen kann, entwickelte die Verfasserin einen Fragebogen zur standardisierten Erhebung relevanter psychosozialer Parameter bzw. Variablen, die auf die spezifischen Lebensbedingungen der Probanden angepasst wurden. Hierzu wurden ebenfalls sogenannte Key Informanten befragt (siehe 3.1.2.) Unsere lokalen Informanten waren der ärztliche Leiter des Kitale District Hospitals, ein Verwaltungsbeamter dieses Krankenhauses, ein Priester, die Leiterin einer Sekundarschule, ein Sozialarbeiter, eine Stationsschwester und eine Verkäuferin. Gesprächseinleitend wurde die Frage gestellt, welche Ereignisse die Ansprechspartner als für das Leben der Bevölkerung in ihrem Distrikt bedeutsam ansahen und welche Ereignisse 64
FORSCHUNGSMETHODEN IM LEBENSWELTLICHEN KONTEXT
ihrer Ansicht nach als mögliche Belastungsfaktoren bei Erkrankungen eine Rolle spielen; die Bereiche „Familie“, „Partnerschaft“, „finanzielle Situation“, „Arbeit“ und „gesellschaftliche Situation“ sollten dabei zur Sprache kommen. Aus den hierbei gewonnenen Angaben wurde ein Fragebogen konstruiert, der mittels kurzer Fragen psychosoziale Parameter erfassen sollte. Dieser wurde abschließend mit den Key Informants besprochen, was jedoch keine nennenswerte Veränderungen zur Folge hatte.
Befragung zu Krankheitserklärungskonzepten und traditionellen Heilern Es ist allgemein bekannt, daß Menschen in ostafrikanische Kulturen sich häufig auf übernatürliche Kräfte berufen, wenn sie Naturgegebenheiten und Lebensereignisse erklären wollen. Nicht ganz so bekannt ist hingegen, daß die Menschen, die in diesen Kulturen erkranken, sich nicht nur an traditionelle, sondern auch an westlich orientierte Einrichtungen der Gesundheitsversorgung wenden. Für diese Polypragmatik gibt es von ostafrikanischen Psychiatern vielfache Zeugnisse (siehe auch Dech 1995b). Anders als in einer Untersuchung von Reynolds-Whyte (1991) in Tanzania, in der mittels Fallbeschreibungen die Einstellungen der Bevölkerung zu wichtigen psychiatrischen Erkrankungen ermittelt wurden, sollte es in unserer Untersuchung darum gehen, wie die Patientinnen selbst ihre Beschwerden oder Störungen sehen, d.h. welchen Konstellationen sie diesen attribuieren und welche Entstehungsursache sie hierfür als ausschlaggebend ansehen. Um die Angaben im Rahmen des Möglichen nicht zu präformieren, wurde eine offene Frage gestellt, jeweils in derselben Formulierung: „How do you see the cause of your illness?“. Die Antworten wurden, auch im Falle von mehr als einer Angabe, wörtlich notiert und in der Auswertung gruppiert. Desweiteren wurden die Patientinnen befragt, ob sie in letzter Zeit bezüglich der bestehenden Beschwerden einen traditionellen Heiler aufgesucht hätten. Bei den gesunden Kontrollpersonen ist diese Frage natürlich nicht sinnvoll. Sie werden gefragt, ob sie in den letzten 3 Jahren einen traditionellen Heiler aufgesucht hätten.
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Ethische Aspekte Da depressive Patienten erfahrungsgemäß nur in seltenen, sehr schweren Fällen den psychiatrischen Dienst aufsuchen, erfolgte die Patientinnenrekrutierung in der Allgemeinambulanz des Distriktkrankenhauses in Kitale, Westkenia. An drei Vormittagen der Woche wurden die weiblichen Patienten „gescreent“, wobei zusätzlich eine hierfür angelernte Krankenschwester mithalf, da die Frauen zwar bereitwillig waren, an der Untersuchung teilzunehmen, aber unsicher dabei, alleine den Fragebogen auszufüllen. Auffällige, d.h. über dem „cut off“ liegende Patientinnen wurden am selben Tage noch von Frau Dr. Nato und der Verfasserin gemeinsam untersucht. Nach Ende der Untersuchung wurde mit der Patientin ggf. ein Behandlugskonzept besprochen. Für Anlage und Durchführung unserer Untersuchung erhielten wir die Erlaubnis des District Medical Officer of Health und die Unterstützung des Dept. of Psychiatry, University of Nairobi. Das Forschungsprojekt wurde den Frauen erklärt, wir versicherten uns des Einverständnisses der Patientin mit der Untersuchung und sagten ihnen Anonymisierung der Daten zu. Bis auf vier von 300 Patientinnen in der Screeningstufe waren alle Patientinnen mit der Untersuchung einverstanden.
Patientinnenstichprobe und gesunde Kontrollgruppe Die Stichprobe wurde im Distrikthospital in Kitale erhoben, an dem die Verfasserin mit Unterstützung Frau Dr. Joyce Natos die Untersuchung durchführte. Wir untersuchten in der Allgemeinambulanz des dortigen Distriktkrankenhauses mit dem SRQ als Screeninginstrument 300 weibliche Patienten, wobei aus organisatorischen Gründen nur, regelmäßig, jede dritte der wartenden Frauen angesprochen wurde. Wie oben gesagt, wurden die auffälligen Patientinnen dann weiter untersucht mit offenen und standardisierten psychiatrischen Methoden. Alle Instrumente (SRQ, BDI, HDRS, Psychosozialer FB) wurden ausserdem bei 50 gesunden, altersgematchten weiblichen Kontrollpersonen angewandt. Diese wurden ebenfalls im Trans-Nzoia Distrikt aus Wartenden in einer Behörde und in einer Kirchengemeinde rekrutiert.
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FORSCHUNGSMETHODEN IM LEBENSWELTLICHEN KONTEXT
A u s w e r t u n g s v e r fa h r e n Es wurden die folgenden Gruppierungen vorgenommen: Die Gesamtstichprobe umfaßt alle untersuchten Patientinnen und gesunden Kontrollpersonen (n=350). Die Gesamtpatientengruppe umfaßt alle in der allgemeinmedizinischen Ambulanz des Distriktkrankenhauses untersuchten Patientinnen (n=300). Die Screeninggruppe umfaßt die im SRQ-Screening unauffälligen Patientinnen; zusätzlich wurden dieser Gruppe die 9 falsch positiven Patientinnen zugeordnet (n=248). Die Patientengruppe umfaßt die auffälligen Patientinnen (n=52). Die Kontrollgruppe umfasst die rekrutierten gesunden Kontrollpersonen (n=50). Symptomprofile Für die Darstellung der Symptomprofile wurde die Häufigkeit des Vorhandenseins depressiver Symptome in den verwendeten Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen mit Excel graphisch dargestellt. Im Falle von Skalen mit mehrstufigen Antwortformat (BDI, HDRS) wurden die Angaben dichotomisiert in Vorhanden oder Nichtvorhanden. Faktorenanalyse der Skalen Die Faktorenanalyse ist ein multivariates exploratives Verfahren, welches eingesetzt wird, um mit Hilfe der Korrelationsstruktur eines Variablensatzes Aussagen über Gemeinsamkeiten dieser Variablen zu machen und eine Datenreduktion auf zugrundeliegende Faktoren zu erreichen. Die Variablen werden aufgefaßt als Indikatoren für eine nicht direkt beobachtbare (latente) Hintergrundvariable (Faktor), welche die Ausprägung der beobachtbaren Variablen gleichsinnig beeinflußt. Somit korrelieren jene Variablen sowohl untereinander als auch mit dem gemeinsamen Faktor hoch. Faßt man einen Fragebogen als ein Meßinstrument zur Erfassung verschiedener Persönlichkeitsmerkmale (Faktoren) auf, so ist es für reliable Aussagen im Sinne der klassischen Testtheorie über Unterschiede zwischen Personen notwendig, zuerst mittels einer Faktorenanalyse eindimensionale Subskalen des Gesamtfragebogens zu bilden, welche anschließend für Personenvergleiche herangezogen werden können. Die Homogenität der Subskalen im Sinne des hohen Kovariierens der Items der Skala kann mit Hilfe des Koeffizienten Cronbach-Alpha beurteilt werden und stellt somit ein die Faktorenanlyse ergänzendes Maß zur Beschreibung der Meßgenauigkeit der verwendeten Skala dar.
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In der vorliegenden Untersuchung wurden daher die erhobenen Skalen faktorenanalytisch auf der Grundlage der Hauptkomponentenlösung (Principal Component Analysis) in Subskalen zerlegt, um die einzelnen Gruppen bezüglich der interessierenden Variablen in testtheoretischer Sicht mit relativ geringer Unsicherheit zu vergleichen. Nach der Hauptkomponentenanalyse erfolgte eine Varimax Rotation, die alle Faktoren mit einem Minimumeigenvalue von >1.0 (Kaiser Kriterien) einschloß. Item-Analyse Die Überprüfung der internen Konsistenz der verwendeten Skalen bei der untersuchten Stichprobe erfolgte als Schätzung der Reliabilität mittels des Koeffizienten Cronbach alpha. Desweiteren wurde die Trennschärfe (Korrelation der Item scores mit dem Gesamtscore) überprüft: ein Korrelationskoeffizient größer 0.3 zeigt, daß das Item mit der Gesamtskala konsistent ist. Diskriminanzanalyse Untersuchung der Güte der klassifikatorischen Zuordnung durch die verwendeten Skalen. Die Auswertungen der deskriptiven Statistik und der psychosozialen Variablen erfolgten mit den Prozeduren ANOVA, MANOVA, chi2-Test (Test auf stochastische Unabhängigkeit bei Kontingenztafeln), exakter Test von Fisher (bei niedriger Zellenbesetzung), tTest (Vergleich zweier unabhängiger Gruppen bezüglich einer abhängigen Variable), Duncan-Test (Posthoc Test für Gruppenvergleich nach durchgeführter Varianzanalyse), Spearman Rangkorrelationen (Nichtparametrisches Analogon für Produktmomentkorrelationen), Box-M-Test (Test auf Gleichheit der Varianz-Kovarianz-Matrizen), Mann-Whitney U-Test (Nichtparametrischer t-Test, Vergleich zweier unabhängiger Gruppen bzgl. einer abhängigen Variablen) und Phi (Überprüfung des korrelativen Zusammenhangs der Vierfeldertafel).
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Abbildung 12: Frauen aus Kitale
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3. W O M E N ’ S M E N T A L H E A L T H : LEBENSWELT ALS ERKLÄRUNGSMATRIX FÜR PSYCHOSOZIALE ENTSTEHUNGSFAKTOREN DEPRESSIVER STÖRUNGEN Kasuistiken: Joan W. und ihre Kindersorgen – Ziporah E., Armut und Erschöpfungsdepression – Mary M. und die zweite Ehefrau – Eunice K., Adoleszentenkrise – Edna T., Schwangerschaftsdepression
K a s u i s t i k 1 : J o an W . ( F a l l - N r . 1 0 8 ) – K i n d e r s o r g e n Joan W. ist eine dreißigjährige Kenianerin, die zusammen mit ihrem Ehemann seit fünf Jahren ein kleines, einfaches Gasthaus führt und fast ausschließlich einheimische Kundschaft aus der Umgebung hat. Die kleine Ortschaft ist relativ unspektakulär und etwas abseits der großen Naturparks, wobei Westkenia sowieso fernab der großen Tourismusströme liegt. In dem als Familienbetrieb geführten Gasthaus werden einfache Speisen wie Gemüsesuppe, Hähnchen mit Maisbrei, Süßkartoffeln und Omelett angeboten, also keine spektakuläre Speisekarte, sondern ein recht typisches Angebot in kenianischen Restaurants. Aufgrund der guten Zubereitung wird aber genug einheimische Kundschaft angezogen. In dem gemeinsam geführten Gasthaus steht Joan überwiegend in der Küche, während ihr Ehemann sich um das Organisatorische und die Abrechnungen kümmert; eine jüngere Schwester ihres Mann hilft beim Bedienen der Gäste und in der Küche. Auch noch andere Familienmitglieder bzw. Verwandte ihres Mannes beteiligen sich hier und dort. Joan berichtet, daß sie ihre Tätigkeit ausübt, ebenso wie sie sich nebenher um ihren eigenen Haushalt kümmert. Sie habe zwar viel zu tun, sei aber sehr zufrieden damit gewesen, da sie sowieso ein geselliger Mensch sei. Von ihrer prämorbiden Persönlichkeit wird sie als offen, zugewandt und unternehmungslustig geschildert, insgesamt eher extrovertiert und mit einem großen Freundes- und Bekanntenkreis. Sie ergänzt aber, daß in Zeiten, in denen sie „down“ und „low“ ist, sie sich dann zurückziehe und sich mit Kirchgängerin (stronge church gower). Sie ist aktives Kirchengemeindemitglied, besucht regelmäßig, in letzter Zeit sogar gehäuft Got71
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tesdienste und beteiligte sich am Gemeindeleben, wo sie auch viele ihrer Freunde und Bekannten trifft. Gerne liest sie auch Zeitschriften und Romane. Über das Verhältnis zu ihrem Ehemann sagt sie wenig, es sei gut oder zumindest unproblematisch. Im Gegensatz zu vielen anderen Männnern, erst recht in der Gastronomie, trinke er keinen Alkohol und man komme miteinander zurecht. Die eheliche Partnerschaft ist jedoch durch unerfüllen Kinderwunsch in den letzten Jahren zunehmend belastet: Nach dem erstgeborenen Kind, ein Sohn, der mittlerweile sieben Jahre alt ist, hat das Paar keine weiteren Kinder mehr bekommen, was, wie in Ostafrika üblich, ihr angelastet wurde. Sie hat deswegen in den vergangenen Jahren bereits mehrere traditionelle Heiler aufgesucht (herbelists), jedoch ohne Erfolg. Seit kurzem hat sie sich auch in der gynäkologischen Ambulanz bezüglich ihres Kinderwunsches vorgestellt. Sie erzählt, daß von seiten der Familie ihres Mannes ein hoher Erwartungsdruck auf ihr lastet, besser für Nachwuchs zu sorgen und sich um die Familie zu kümmern. Trotz des Sohnes, die Ehe ja immerhin nicht kinderlos, seien schon Vorschläge von seiten seiner Familie gekommen, eine weitere Frau zu heiraten, die Kinder gebären könne. Die Patientin macht einen gekränkten und verunsicherten Eindruck. Und vielleicht hängen auch die im letzten Jahr intensivierten religiösen mit diesem Thema zusammen. Sie berichtet, daß sie sich in den letzten Monaten zunehmend erschöpft fühlte, obwohl sie eigentlich eine tatkräftige Frau sei. Sie habe Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und könne oft keine Entscheidungen fällen. Sie werde dann auch leicht reizbar, und sie habe das Gefühl, alles wachse ihr über den Kopf. Damit verbunden habe sie oft Einschlafprobleme, obwohl sie abends müde sei. Ihr gestörter Schlaf zeige sich auch daran, daß sie häufig auch sehr früh wieder aufwache. Sie komme innerlich nicht zur Ruhe und mache sich viel Gedanken über die schwierige Familiensituation (hierüber berichtet die Patientin aber erst im weiteren Verlauf der Gespräche). Subjektive Beschwerden, mit denen sie sich vorstellt: Energieverlust, Schwunglosigkeit und Erschöpfungsgefühle. Diffuse, generalisierte Schmerzen im Körper, dazu charakteristische Kopfschmerzen, zuschnürende Schmerzen in der Brust und wandernde Schmerzen unter den Schulterblättern. Sie berichtet, daß sie die genannten Beschwerden wechselstark immer wieder seit drei Jahren hat und bereits in verschiedenen Arztpraxen und auch in der Allgemeinambulanz des Distriktkrankenhauses diesbezüglich untersucht und behandelt wurde mit unterschiedlichen Diagnosen.
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Befragt zu ihren subjektiven Erklärungsansätzen für diese Beschwerden führt sie die hauptsächlich somatischen Symptome auf körperliche Ursachen bzw. körperliche Erkrankungen wie jede andere zurück. Bezüglich des unerfüllten Kinderwunsches hat sie die Vorstellung, daß sie möglicherweise durch ihre Stiefmutter verhext worden sei, keine weiteren Kinder bekommen zu können. Gelegentlich geht ihr aber auch der Gedanke durch den Kopf, wie sie erzählt, keine weiteren Kinder bekommen zu haben, damit zusammenhängen könnte, daß sie einen „Auswärtigen“ geheiratet hat.
K a s u i s t i k 2 : Zi p o r a h E . ( F a l l - N r . 1 8 2 ) – Armut und Erschöpfungsdepression Ziporah, 29 Jahre, ist die fünfte in einer Geschwisterreihe von elf Kindern. Sie hat die für die Europäer beeindruckende Zahl von sieben Schwestern und drei Brüdern. Sie ist in einem kleinen Dorf etwa 20 Kilometer von der Kreisstadt aufgewachsen, wo die Familie für kenianische Verhältnisse zu den Ärmeren gehörte, da ihr Vater nur sehr wenig Land bzw. Äcker besaß und die Subsistenzlandwirtschaft kaum für die große Familie reichte. Früh mußte sie schon in der Landwirtschaft mithelfen und für Schulbildung bestand da wenig Interesse, die Eltern waren mit dem täglichen Existenzkampf beschäftigt und mußten hart arbeiten. So fehlte ihrer Mutter die Zeit, auf die einzelnen Kinder mehr einzugehen und sich um deren Schul- und Ausbildung zu kümmern; immerhin hat sie aber alle Impfungen in der Kindheit erhalten. Es fehlten auch die Finanzen; denn, selbst wenn der Schulbesuch gebührenfrei war, so kosteten die Schulduniform und die Bücher doch erhebliches im Verhältnis zur Kaufkraft der Familie. Ziporah ist daher nur bis zur vierten Klasse in die Schule gegangen um danach in der kleinen Subsistenzlandwirtschaft mitzuhelfen. Eine Ausbildung hat sie nicht gemacht. Mit 20 hat sie dann geheiratet und selbst mittlerweile vier Kinder, wobei das jüngste acht Monate alt ist. Ihr Ehemann ist Gelegenheitsarbeiter und daher häufig über längere Zeiträume nicht zuhause. Sie berichtet, daß er viel und häufig Alkohol trinke, so daß von den wenigen Geld, was er gelegentlich verdiene, kaum etwas an sie und für die Kinder weitergibt. Wenn sie sich darüber beklagt, reagiert er sehr gereizt auf ihre Vorwürfe und geht zu seinen Freunden in die Kneipe. Die eheliche Beziehung ist daher sehr konfliktreich und spannungsgeladen. Ihr Ehemann hat sie insbesondere unter Alkoholeinfluß häufig geschlagen. Auch er steht unter Druck, da er schwer Arbeit findet. Zipo73
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rah fühlt sich durch die emotionale und finanzielle Unberechenbarkeit/Unzuverlässigkeit in den letzten Jahren mehr und mehr zermürbt. Da sie selbst aus sehr bescheidenen, wenig gar ärmeren Verhältnissen kommt, kann sie praktisch nicht auf eigene Ressourcen zurückgreifen, um sich und die Kinder durchzubringen. Wenn die kleine elterliche Farm gerade eben noch gereicht hat, um die elf Geschwister zu ernähren, so reicht der Boden schlichtweg nicht mehr für deren Nachfahren aus. Ziporah arbeitet daher auf umliegenden Farmen mit, um sich und ihre vier Kinder zu ernähren, von denen erst eines zur Schule geht und das jüngste erst acht Monate alt ist. Obwohl sie sich selbst als genügsamen, bescheidenen Menschen ansieht, hat sie das Gefühl, daß sie überfordert ist und daß sie auch zukünftig keine Veränderung bzw. Verbesserung ihrer Situation in Aussicht ist. Sie sei ängstlicher geworden, mache sich leichter Sorgen als früher und obwohl sie abends nach Haus- und Landarbeit müde ist, so liegt doch oft abends wach und kann nicht einschlafen. Durch die beengten Wohnverhältnisse in ihrem Lehmhaus hat sie aber auch keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Sie klag über Schulterverspannungen und häufige Kopfschmerzen und schwere Beine. Aber auch ihr Appetit sei im letzten – halben Jahr schlecht geworden. Oft wisse sie nicht mehr, wie sie alles bewältigen soll, da sie krank sei. Wenn sie sich darüber beklagt, reagiert er sehr gereizt und geht zu seinen Kumpels in die Kneipe.
K a s u i s t i k 3 : M a r y M . ( F a l l - N r . 1 8 8 ) – Eh e p r o b l e m e Seit fast zwei Jahren treten in wechselnder Intensität Beschwerden wie Druck, oben auf den Kopf und ein Stechen zwischen den Schulterblättern auf. Gelegentlich kommt auch ein scharfer Schmerz in der Brust hinzu oder auch ein stechender, manchmal auch schneidender Schmerz in den Schamlippen oder im Unterleib. Sie ermüde dann sehr schnell und könne ihre Hausarbeit kaum bewältigen. Die Beschwerden seien wechselnd und in den letzten Jahren nicht ständig dagewesen. Er phasenweise. Seit drei Monaten fühle sie ein schweres Gewicht auf dem Kopf, wie ganz schwer beladen, in den letzten Wochen habe sie trotzdem nicht mehr geschlafen und eine Taubheit im Körper insbesondere in der Brust verspürt. Außerdem habe sie viel zu viel Gedanken im Kopf. Sie wird von der internistischen Ambulanz, wo sie in den letzten anderthalb Jahren gelegentlich vorstellig war, überwiesen. Sie nimmt den Ambulanztermin zwar war, verhält sich aber eher ablehnend gegenüber dem Gesprächsangebot und gibt anfänglich nur sehr einsilbig Auskunft. 74
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Es hat den Anschein, daß sie sich vor Gerede von Nachbarn und Bekannten und Stigmatisierung fürchtet. Erst als sie eine Krankenschwester sieht, die im gleichen, etwa fünf Kilometer vom Distrikthospital gelegenen Dorf wohnt, faßt sie Zutrauen und öffnet sich. Mary ist die Erstgeborene in einer Familie mit acht Kindern, davon vier Mädchen und vier Jungen. Mit zwei acres ist der Bodenbesitz der Familie eher klein bemessen, doch es reicht für das Auskommen. Der Vater ist Busfahrer; wie in Kenia üblich werden die Felder hauptsächlich von der Mutter bewirtschaftet. Wie ihre Geschwister hat auch ihre Mutter nach der Schule in der Subsistenzlandwirtschaft mithelfen müssen, wobei von den Eltern der Schulausbildung Priorität eingeräumt wurde. Als ebenso pflichtbewußte wie interessierte Schülerin hat Mary recht gute Schulleistungen gezeigt und besuchte eine weitergehende Schule bis zum Abitur. Sie arbeitete anschließend sogar zwei Jahre als (nicht trainierte) als Grundschullehrerin. Durch die hohe Geburtenrate und die damit verbundene Zunahme an Kindern und Jugendlichen wurde aufgrund des Lehrermangels Abiturientinnen für den Grundschulunterricht angeworben. Leider beendete sie diese Tätigkeit schon nach einem Jahr, wie sie heute bedauert, als sie heiratete und war ab da Hausfrau. Mittlerweile hat sie fünf Kinder, die alle gesund sind, sich gut entwickeln und zur Schule gehen. Man merkt ihr an, daß sie stolz darauf ist, daß sich die fünf Kinder in der Schule gut entwickeln. Mehr Kinder möchte sie jedoch nicht haben und benutzt deshalb zur Empfängnisverhütung ein IUP. Sie hängt sehr an ihren Kindern, achtet darauf, daß sie ordentlich gekleidet sind, und strickt, das ist ihr Hobby, eine Menge für die Kinder. Sie ist außerdem aktiv in ihrer Kirchengemeinde und hat dort einige Freundinnen, die sie bei regelmäßigen Aktivitäten trifft. Obwohl sie an sich selbst den Anspruch hat, sich um eine gute Ehe und ein gutes Familienleben zu bemühen, ist sie mit ihrem Ehemann, der bei der landwirtschaftlichen Genossenschaft arbeitet, nicht zufrieden. Er trinkt eine Menge Alkohol und kümmert sich nur wenig um seine Familie, dabei brauche sie das Geld, was er vertrinkt, für die Kinder. In den vergangenen beiden Jahren gab es immer wieder Zeiten, in denen sie sich abgeschlagen, erschöpft, und krank fühlte, und sie wegen „Malaria“ behandelt wurde. In den letzten Wochen fühlte sie sich zunehmend erschöpft und kraftlos und litt unter Kopfschmerzen („Druckgefühl auf dem Kopf und im Kopf“), außerdem Schulterverspannungen und drückende Rückenschmerzen sowie scharfe und schneidende Schmerzen in der Brust. Dabei litt sie unter zunehmenden Einschlaf- und Durchschlafstörungen und Appetitlosigkeit. Sie hat das Gefühl, daß ihr alles wehtut. Auch genitale Schmerzen berichtet sie, die sie als stechende 75
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Schmerzen in der Vulva beschreibt. Dabei wirkt sie von ihrer ganzen Mimik und Gestik her bedrückt. Auf die Frage, was sie selbst als Auslöser ihrer Beschwerden und Sorgen ansehe, meint Mary: Sie denke, daß sie zu viele Gedanken habe (too many thoughts). Sie denke zuviel an ihren Ehemann, zumal er von seinen Verwandten gesagt bekäme, daß er doch eine weitere Frau heiraten solle.
Kasuistik 4: Eunice K. (Fall-Nr. 271) – Orientierungskrise Eunice, 23 Jahre alt, geht es bereits seit zwei Jahren gesundheitlich nicht gut. Zunächst wurde, wie so oft, eine Malaria vermutet und sie nahm Antimalariamittel ein, die in Kenia, wie in vielen afrikanischen Ländern, so gut wie frei erhältlich sind. Sie ist mehrmals auf der allgemeinmedizinischen Ambulanz vorstellig geworden und hat auch selbst AntimalariaMittel gekauft. Obwohl sie zeitweilig das Gefühl hatte, dass es ihr körperlich besser geht, verblieben doch einige Beschwerden unverändert. Sie beschreibt diese Beschwerden zusammenfassend als „sich im Kopf ganz schwer fühlen“ und „durch diesen schweren Kopf Herzklopfen zu bekommen“. Sie leidet unter generalisierten, dumpfen Kopfschmerzen, Nackenverspannung und Schweregefühl im Kopf. Zugleich empfindet sie rasch, insbesondere unter Anforderungen, ein Engegefühl in der Brust, das häufig mit Herzklopfen verbunden ist. Sie beschreibt dies als „Herzstechen“. Generell fühlt sie sich körperlich schwach und hat wenig Appetit. Betrachtet man ihre Biographie, so fällt auf, daß sie die Erstgeborene von insgesamt acht Kindern ist und schon früh Verantwortung übernommen hat für die jüngeren Geschwister. Sie stammt aus einfachen, aber geordneten ländlichen Verhältnissen; die Eltern sind Bauern und betreiben eine Subsistenzlandwirtschaft. Eine Gesundheitsversorgung gibt es in der kleinen Ortschaft nicht, in der sie aufgewachsen ist und heute noch lebt, aber die Kreisstadt (Distrikthauptstadt) ist nur zehn Kilometer entfernt. Sie berichtet, daß beide Eltern sowie ihre Geschwister gesund sind und daß psychische Erkrankungen in der Familie unbekannt seien. Eunice beschreibt sich als fleißige Schülerin, die gerne zur Schule ging, obwohl sie, oder vielleicht gerade weil sie, ihre Mutter schon früh im Haushalt und in der Versorgung der jüngeren Geschwister helfend unterstützen musste. Schwieriger wurde es auf der Oberstufe, als sie dann einen mehrere Kilometer langen Schulweg hatte und überdies 76
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manchmal das Geld knapp war für die Schulbücher. Es gelang ihr nicht, an einem College angenommen zu werden, worauf sie sehr gehofft hatte. Übergangsweise half sie der Mutter im Haushalt und in der Landwirtschaft und hoffte auf andere Bewerbungen, doch leider ohne Erfolg. Mit jeder Absage fühlte sie sich mutloser und lustloser. Sie fühlte sich müde, abgeschlagen und kraftlos, und sie empfand jede neue Anforderung als anstrengend. Ihre Mutter, die zunächst froh war um ihre Unterstützung im Haushalt, fing an, sich Sorgen zu machen. In der Familie entstand die naheliegende Befürchtung einer Malariaerkrankung (Naheliegend deshalb, weil Malaria eine weitverbreitete Erkrankung in Ostafrika ist und weil die subjektiv empfundene Symptomatik des Abgeschlagenseins und Kraftlosseins sich überlappt mit ähnlichen Symptomen bei einer Depression, wenngleich selbstverständlich unterschiedliche Krankheitsursachen zugrunde liegen.)
Kasuistik 5: Edna T. (Fall-Nr. 48) – S c hw a n g e r s c h a f t s d e p r e s s i o n Edna, 28 Jahre alt, war bis vor kurzem eine gesunde junge Frau. Sie kommt aus ganz normalen ländlichen Verhältnissen, ist die älteste von 6 Kindern, die Familie lebt von der eigenen Landwirtschaft. Als älteste hat sie früh Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernommen, da die Bewirtschaftung der Felder vornehmlich Frauenarbeit ist und ihre Mutter daher mit den anderen Frauen auf dem Feld arbeitet. Die Familie besitzt ausreichend Ackerfläche für den Eigenbedarf und den Verkauf auf dem Markt. Darüberhinaus bewirtschaftet sie noch ein Feld mit Kaffeesträuchern für den Verkauf an einen Großhändler, was finanziell nicht viel abwirft, der Familie aber immerhin zusätzliche Einkünfte bringt. Die Familie lebt seit Generationen in dem Dorf in der Nähe der Kreisstadt, ist sozial gut eingebunden und recht gesellig. Edna selbst hatte, abgesehen davon, daß sie als älteste Tochter bereits viel mithelfen mußte, eine ganz normale Kindheit. Sie ging gerne zur Schule und war eine gute Schülerin. Sie wurde jedoch in der Familie gebraucht und hatte selbst kein wirkliches Interesse eine Ausbildung oder einen Collegeabschluß anzustreben. Ihren Mann lernte sie beim Verwandtenbesuch in der Kreisstadt kennen, ihr gefiel seine selbstbewusste und unternehmungslustige Art. Er hat eine Ausbildung als Techniker, arbeitet aber schon einige Jahre als Fahrer für eine Entwicklungshilfeorganisation, wobei ihm seine technischen Kenntnisse natürlich sehr zugute kommen. Seit drei Jahren arbeitet er nun in Nairobi in der Zentrale. Wenngleich die Lebenshal77
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tungskosten in Nairobi wesentlich höher sind, so verdient er jedoch so gut, daß er regelmäßig Geld an Edna sendet und einen kleineren Betrag auch an seine Eltern. Mit der Geburt ihres ersten Kindes, einem Sohn, hat sie einen verbesserten Status in der Familie ihres Mannes erlangt und wird seitdem nicht mehr Edna, sondern Mama George genannt. Als auch ihr zweites Kind ein Sohn war, stieg die Akzeptanz gegenüber ihr noch weiter und sie hatte nun erst das Gefühl, überhaupt beachtet zu werden. Die Geburt eines Mädchens zählt in dieser Hinsicht wenig. Edna ist froh um die regelmäßigen Einkünfte ihres Mannes, als Familienmensch vermisst sie ihren Mann jedoch auch sehr und ist besorgt, daß er sich ihr entfremden könnte. Das Leben in der Großstadt wäre für die ganze junge Familie eigentlich zu teuer, zumindest bliebe dann überhaupt nichts übrig für die Eltern ihres Mannes, geschweige denn für Rücklagen. Wegen der Mithilfe auf dem familieneigenen Feld, aber vielleicht auch aus diesen finanziellen Gründen stand ihre Schwiegermutter dem Thema Nairobi immer sehr kritisch gegenüber. Nun in ihrer dritten Schwangerschaft war sie in den ersten vier bis fünf Monaten sehr gelassen gewesen und hatte auch keine größeren körperlichen Beschwerden gehabt. Seit einigen Wochen machte sie sich jedoch zunehmend Gedanken um ihren Mann, entwickelte Ängste, daß ihm auf seinen vielen Fahrten etwas zustoßen könnte, dann wieder, daß er vielleicht eine andere Frau hätte. Sie fing an zu grübeln und machte sich zunehmend Sorgen um Kleinigkeiten, schlief immer schlechter und sie fühlte sich unnütz und ihren Aufgaben nicht gewachsen. Sie litt unter drückenden Kopfschmerzen, so als würde sie kiloschwere Lasten auf dem Kopf tragen, sie fühlte sich schlapp, erschöpft und krank. Sie mochte kaum etwas essen, was ihrer Schwiegermutter auffiel und diese, auch im Hinblick auf die Schwangerschaft, besorgt machte. Zunächst reagierten Schwägerin und Schwiegermutter eher unwillig als sie die angebotenen Speisen trotz guten Zuredens nicht anrührte und sie sich immer mehr zurückzog. Nach einigen Wochen begann die ganze Familie sich Sorgen zu machen, ob nicht eine schwerwiegende Krankheit die Ursache sei und man vermutete eine Malaria-Erkrankung. Nach einem Anruf bei Ednas Mann in Nairobi, der zusagte, sobald wie möglich ein paar Tage Urlaub zu nehmen, um nach Hause zu fahren, brachte man sie am nächsten Tag zur Ambulanz des Distrikt-Krankenhauses.
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4. A U S W E R T U N G D E R S T U D I E
Wie in Kapitel 7 beschrieben, erfolgte diese explorative Untersuchung in mehreren Schritten. Nach Vorarbeiten (Übersetzung der verwendeten Instrumente, Sammeln von Informationen und Erfassung der lebensweltlichen Mikro- und Makrostrukturen im Untersuchungsgebiet), wurden für die eigentliche psychiatrische Querschnittsuntersuchung verschiedene qualifizierende und quantifizierende Methoden angewendet, deren Ergebnisse im folgenden dargestellt werden sollen.
Key Informant Survey Gerade über Westkenia, fern ab der Landeshauptstadt Nairobi und der touristischen Küste, liegen bisher relativ wenig Untersuchungen vor. Deshalb sahen wir es als notwendig an, zur Vorbereitung der eigentlichen Untersuchung, Informationen über die lebensweltlichen Bedingungen von Frauen im Untersuchungsgebiet und der medizinischen Versorgungsstrukturen zu sammeln. Diese allgemeinen Vorinformationen – wir bedienten uns dabei der sogenannten Key Informant Methode – gingen in den theoretischen Teil dieser Arbeit und Diskussion der Ergebnisse ein.
Deskriptive Statistik Zunächst werden Basisdaten, die bei allen untersuchten Probanden (n=350) erhoben wurden, dargestellt. Die für die Auswertung vorgenommenen Gruppierungen finden sich in I. 2.
Alter Das minimale und maximale Alter ergab sich durch die Eingangskriterien (>18, 1 hervor. Wir entschieden uns daher für eine 3Faktorenlösung. Bei einer 3-Faktorenlösung besteht 41,5 % Varianzaufklärung. Bei einer 3-Faktorenlösung besteht 41,5 % Varianzaufklärung. Tabelle 6: Varianzaufklärung – SRQ SRQ Faktor 1 Faktor 2 Faktor 3
Eigenvalue 4.88495 2.08125 1.34000
% Varianz 24,4 10,4 6,7
Kumulativ % 24,4 34,8 41,5
91
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Schaubild 11: Self Reporting Questionnaire – Symptomhäufigkeit (in %) Patientengruppe (n=52) und Kontrollgruppe (n=50) 22
easily tired
92 14
uncomfortable in stomach
88
thoughts of ending your life
0 40 2
tired all the time
38 6
w orthless person
29 4
loss of interest
44 0
uselessness
29
lassitude
0 21
dificulut to make decisions
18 44 6
difficulties to enjoy
31
crying
0 31 2
unhappy
48 0
trouble thinking clearly
56 8
poor digestion
81
nervous, tense or w orried
20 82 0
hands shake
37
easily frigthened
10 73 10
bad sleep
92
poor appetite
10 88 16
headaches
83 0%
20%
40%
60%
80%
100%
Auf dem 24,4 % der Varianz aufklärenden Faktor 1 laden gemischt Depressionssymptome und Ängstlichkeit; zu letzterem ist auch Händezittern zu rechnen. 92
AUSWERTUNG DER STUDIE
Auf dem 10,4 % der Varianz aufklärenden Faktor 2 laden verschiedene körperliche Symptome, die mit Depression in Zusammenhang stehen können. Auf dem 6,7 % der Varianz erklärenden Faktor 3 laden affektive Veränderungen bei Depression wie Interessensverlust, gedrückte Stimmung und Freudlosigkeit. Item-Analyse des SRQ: Die Überprüfung der internen Konsistenz des SRQ für die gesamte Stichprobe als Schätzung der Reliabilität mittels des Koeffizienten Cronbach alpha ergab .8197. Dieser Wert ist für ein variables bzw. veränderliches Konstrukt wie „Depressivität“ als befriedigend anzusehen und deutet auf eine gute interne Konsistenz der Skala hin. Die Trennschärfe des SRQ (Korrelation der Itemscores mit dem Gesamtscore) zeigt bei einem Korrelationskoeffizient größer 0,3, daß das einzelne Item mit der Gesamtskala konsistent ist. In der vorliegenden Untersuchung ergaben sich Korrelationskoeffizienten zwischen .3321 und .4874, was auf eine mittlere Trennschärfe bei guter Skalenhomogenität hindeutet. Tabelle 7: Faktorenladungen der Varimax-Lösung – SRQ Faktor 1
„Distressed“
Ladung
SRQ 17
tired all the time
.64298
SRQ 5
hands shake
.62858
SRQ 4
easily frightened
.61692
SRQ 14
unable to play a useful part in life
.59625
SRQ 16
worthless person
.57852
SRQ 18
thought of ending your life
.51742
SRQ 8
trouble thinking clearly
.48996
SRQ 6
nervous, tense or worried
.42883
93
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Faktor 2
„Somatisierung“
SRQ 7
poor digestion
.75950
SRQ 2
poor appetite
.67836
SRQ 19
uncomfortable in stomach
.61769
SRQ 3
bad sleep
.61153
SRQ 20
easily tired
.54253
SRQ 1
Headaches
.49191
Faktor 3
„Gedrücktheit“
SRQ 9
Unhappy
.70221
SRQ 11
difficulties to enjoy
.68622
SRQ 15
loss of interest
.64644
SRQ 13
Lassitude
.56002
SRQ 12
difficult to make decisions
.42339
SRQ 10
Crying
.33274
Beck Depressions Inventar Symptomprofil: In der Kurzform der Selbstbeurteilungsskala BDI werden von den Patientinnen Antriebsstörungen (90 %), Erschöpfungsgefühl (88 %) und Appetitlosigkeit (87 %) am häufigsten genannt. Aber auch psychische Symptome wie gedrückte Stimmung (75 %), sozialer Rückzug (75 %) und Unzufriedenheit (83 %) sind häufig. Deutlich geringer sind Schuld- (33 %) und Versagensgefühle (37 %) angegeben worden. Der Kontrast zu den Angaben der gesunden Kontrollgruppe ist im Symptomprofil ersichtlich und in der statistischen Überprüfung signifikant (F=200.39; p=.000). Faktorenanalyse: Alle Items, wie auch aus dem Symptomprofil ersichtlich, trennen deutlich zwischen Patienten und Kontrollpersonen. Die Hauptkomponentenanalyse des BDI brachte 3 Faktoren mit Eigenvalues >1 hervor. In der unrotierten Faktorenlösung laden alle Items hoch auf dem ersten Faktor. Wir entschieden uns daher für eine 1-Faktorenlösung. Bei einer 1-Faktorenlösung besteht 49,3 % Varianzaufklärung.
94
AUSWERTUNG DER STUDIE
Tabelle 8: Varianzaufklärung – BDI BDI Faktor 1
Eigenvalue 6.40900
% Varianz 49,3
Kumulativ % 49,3
Auf dem einzigen Faktor der Analyse (unrotiert) laden sämtliche Items des BDI positiv und bestätigen, wie auch in der Ladungshöhe, ihre Zugehörigkeit zum Konstrukt. Tabelle 9: Faktorladungen – BDI Faktor 1 BDI 12 BDI 5 BDI 11 BDI 8 BDI 2 BDI 6 BDI 3 BDI 4 BDI 13 BDI 9 BDI 1 BDI 7 BDI 10
„Depressivität“ Fatigability guilt feelings work inhibition social withdrawal Pessimism self-hate Failure lack of satisfaction loss of appetite Indecisiveness Mood self-punitive wishes body image
.74890 .71449 .70222 .69185 .65663 .65645 .64460 .61650 .59766 .57592 .53712 .49631 .35940
95
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Schaubild 12: Beck Depressions Inventar (Kurzform) – Symptomhäufigkeit (in %) Patientengruppe (n=52) und Kontrollgruppe (n=50) 16
loss of appetite
87 22
fatigability
88
12
w ork inhibition
90 10
body image
29 14
indecisiveness social w ithdraw al
0
75
0
self-punitive w ishes
33 2
self-hate
44
0
guilt feelings
73
lack of satisfaction
33 4
83 8
failure
37 10
pessimism mood 0%
52
6
75 20%
40%
60%
80%
100%
Item-Analyse des BDI: Die Überprüfung der internen Konsistenz der Skala als Schätzung der Reliabilität mittels des Koeffizienten Cronbach alpha ergab .9112 für die gesamte untersuchte Stichprobe, was auf eine hohe interne Konsistenz hindeutet. Die Trennschärfen der einzelnen BDI Items (Korrelation der Item scores mit dem Gesamtscore) liegen alle deutlich über 0.3 und zeigen, daß die einzelnen Items mit der Gesamtskala konsistent sind. Die Trennschärfen variieren in der vorliegenden Untersuchung zwischen 0.49 und 0.72 und deuten damit auf eine mittlere bis gute Item-Skalen-Homogenität hin.
96
AUSWERTUNG DER STUDIE
Hamilton Depressions Skala Symptomprofil: In dem Fremdbeurteilungsinstrument Hamilton Depressions Skala (HDRS) werden sowohl somatische als auch psychische Symptome der Depression erfaßt. Schuld- (40 %) und Suizidgedanken (38 %) sind auch in dieser Skala deutlich geringer ausgeprägt als etwa gedrückte Stimmung (90 %), Antriebsstörungen (87 %), Schlafstörungen (65-92 %) und Morgentief (77 %). Daß diese Skala zwischen Gesunden und Depressiven trennt, ist im Symptomprofil augenscheinlich und in der statistischen Überprüfung signifikant (F=317.76; p=.000). Faktorenanalyse: Die Hauptkomponentenanalyse der HDRS brachte 3 Faktoren mit Eigenvalues >1 hervor. Wir entschieden uns daher für eine 3-Faktorenlösung. Bei einer 3-Faktorenlösung besteht 65,3 % Varianzaufklärung. Tabelle 10: Varianzaufklärung – HDRS HDRS Faktor 1 Faktor 2 Faktor 3
Eigenvalue 9.22511 3.04866 1.43560
% Varianz 43,9 14,5 6,8
Kumulativ % 43,9 58,4 65,3
97
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Schaubild 12: Hamilton Depressions Skala – Symptomhäufigkeit (in %) Patientengruppe (n=52) und Kontrollgruppe (n=50) 0
obsessional symtoms
12 2
paranoid symtoms
19
depersonalisation diurnal variation insight loss of w eight
0 27 0 77 0 67 0 86 14
hypochondriasis
63 0
genital symtoms
44 20
somatic general
88 14
somatic gastrointest
90 32
anxiety somatic
94 32
anxiety psychic
87 12
agitation retardation
52 0 23 10
w ork
87 2
insomnia late
75 2
insomnia middle
65 10
insomnia early
92
suicide
0
feelings of guilt depressed mood 0%
98
38 4 40 12 90 20%
40%
60%
80%
100%
AUSWERTUNG DER STUDIE
Tabelle 11: Faktorenladungen der Varimax-Lösung – HDRS Faktor 1 HDRS 18 HDRS 16a HDRS 11 HDRS 12 HDRS 4 HDRS 6 HDRS 13 HDRS 7 HDRS 17 HDRS 14
„Somatisierung/Vitalisierung“ Diurnal variation loss of weight Anxiety somatic Somatic symptoms gastrointestinal insomnia early insomnia late Somatic symptoms general work and activities Insight genital symptoms
.85172 .77897 .77639 .74971 .74500 .71616 .69361 .65587 .46835 .41016
Faktor 2 HDRS 21 HDRS 15 HDRS 19 HDRS 3 HDRS 2 HDRS 1 HDRS 20
„Psychische Veränderungen“ obsessional, compulsive symptoms Hypochondriasis depersonalization, derealization Suicide feelings of guilt depressed mood paranoid symptoms
.86607 .82818 .78982 .76479 .72195 .66320 .65480
Faktor 3 HDRS 8 HDRS 9 HDRS 5 HDRS 10
„Psychomotorik“ Retardation Agitation insomnia middle anxiety psychic
.77985 .72505 .59459 .52805
Item-Analyse der HDRS: Die Überprüfung der internen Konsistenz als Schätzung der Reliabilität mittels des Koeffizienten Cronbach alpha ergab .9285 für die gesamte mit dem HDRS untersuchte Stichprobe, was auf eine hohe interne Konsistenz hindeutet. Die Trennschärfe des HDRS (Korrelation der Itemscores mit dem Gesamtscore) zeigt bei Korrelationskoeffizient größer 0.3, daß das einzelne Item mit der Gesamtskala konsistent ist. In der vorliegenden Untersuchung ergaben sich Korrelationskoeffizienten zwischen .3006 und .8057, was auf eine gute Trennschärfe hindeutet. 99
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Skalenmittelwerte Wie aus den Mittelwerten der verwendeten psychometrischen Instrumente in der untenstehenden Tabelle ersichtlich, wurde bei der untersuchten Patientinnenstichprobe insgesamt eine mittelschwere Depressivität gefunden, was zu der Rekrutierung aus einer allgemeinärztlichen Stichprobe im ländlichen Afrika paßt. Der Unterschied des SRQ-Score zwischen der Screeninggruppe und der Kontrollgruppe ist nachvollziehbar, da die sich in der allgemeinmedizinischen Ambulanz vorstellenden (unter dem cut off liegenden) Patienten selbstverständlich auch Befindlichkeitsstörungen haben können, die im SRQ erfaßt werden. Die statistische Überprüfung ergab in Duncan Test und ANOVA einen hochsignifikanten Unterschied zwischen den untersuchten Gruppen. Tabelle 12: Skalenmittelwerte Screening (n= 248)
Patients (n=52)
Controls (n=50)
Duncan F-Wert test F-Prob. 308.54 (.0000)*
(ANOVA)
SRQ
367 (STD 2.3)
11,28 (STD 2.54)
1,48 (STD 1.09)
02 0>2
BDI
–
9,06 (STD 3.81)
1,06 (STD 1.24)
–
200.39 (.0000)*
HDRS
–
18,24 (STD 6.22)
1,84 (STD 1.93)
–
317.76 (.0000)*
Übereinstimmung der verwendeten standardisierten psychiatrischen Instrumente Die konvergente Validität der Skalen untereinander wurde für die Patienten- und Kontrollgruppe mittels des Spearman Rangkorrelationskoeffizienten überprüft, da bei der Stichprobe (n=350) naturgemäß keine Normalverteilung der Variablen vorliegt. Die Übereinstimmung der Skalen für die untersuchte Stichprobe ist, wie in der untenstehenden Tabelle ersichtlich, signifikant und von der Höhe bedeutsam.
100
AUSWERTUNG DER STUDIE
Tabelle 13: Korrelation der Skalen (Spearman; F-Wert, p-Wert) SRQ SRQ BDI HDRS
– – .8825 .000 .9009 .000
BDI .8825 .000 – – .8875 .000
HDRS .9009 .000 .8875 .000 – –
Es ergab sich eine hohe Übereinstimmung des SRQ mit den Depressionsmeßinstrumenten sowohl in der Selbstbeurteilung durch die Patientinnen (BDI), als auch in der Fremdbeurteilung durch Psychiater (HDRS). Die Überprüfung der Gleichheit der konvergenten Validitäten getrennt nach Patienten- und Kontrollgruppe mit dem Box-M-Test (Test auf Gleichheit der Varianz-Kovarianz-Matrizen) ergab einen F-Wert von 22.67 (p=.000); d.h. es besteht eine unterschiedlich hohe Korrelation der Skalen (unterschiedliche Korrelations- bzw. Kovarianz-Strukturen) in den beiden Gruppen: Interessanterweise ist der Zusammenhang von BDI und HDRS in der Patientinnengruppe etwas höher als in der Kontrollgruppe. Dies könnte damit zusammenhängen, daß die gesunden weiblichen Kontrollpersonen etwas inkonsistenter geantwortet haben, da sie bei klinisch und in der Fremdbeurteilung nicht bestehender depressiver Symptomatik sich doch gelegentlich für ein Item in der Selbstbeurteilung entschieden. Diskriminanzanalyse Um die Klassifizierung der Probanden (Patientinnen und Kontrollpersonen) aufgrund der psychometrischen Merkmale und die Güte der Zuordnung durch die verwendeten Skalen zu überprüfen, wurde eine Diskriminanzanalyse durchgeführt. Anhand der Gesamtsummenscores trennen die verwendeten Skalen (SRQ, HDRS, BDI) hochsignifikant zwischen den Patienten und Kontrollpersonen, wobei der F-Wert beim SRQ am höchsten ist, bei der HDRS höher als beim BDI.
101
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Tabelle 14 Wilk’s lambda SRQ-Gesamtscore .1368 HDRS.2394 Gesamtscore BDI-Gesamtscore .3329
F-Wert
p
630.97 317.76
.0000* .0000*
200.39
.0000*
Zusätzlich wurde eine stufenweise Kanonische Diskriminanzanalyse durchgeführt. Für alle 3 Skalen ergab sie bereits in der ersten Stufe, mit Hereinahme des SRQ eine hundertprozentige Varianzaufklärung (Wilk’s lambda: .1368; p: .0000). Die stufenweise Kanonische Diskriminanzanalyse für BDI und HDRS ergab für die HDRS eine Klassifikationsquote von 97,06 % (Wilk’s lambda: .2394; p: .0000), der BDI bringt kaum Zuwachs an Varianzaufklärung. Die nur für den BDI durchgeführte stufenweise Kanonische Diskriminanzanalyse ergibt eine Klassifikationsquote von 92,16 % (Wilk’s lambda: .3329; p: .0000). Die hohe Klassifikationsquote ist durch die Rekrutierung begründet, indem als klinisch-psychopathologisch gesund eingeschätzte afrikanische Kontrollpersonen auf einem Amt und in einer Kirchengemeinde rekrutiert wurden. Ein beispielsweise internistisch oder chirurgisch erkranktes Vergleichskollektiv hätte vermutlich zu niedrigeren Werten geführt. Aufgrund des explorativen Charakters der Untersuchung erscheint uns die verwendete Rekrutierung jedoch sinnvoller als ein klinisches Vergleichskollektiv, da zunächst einmal der diagnostische Wert der Skalen gegenüber einer gesunden Vergleichsstichprobe in diesem kulturellen Setting geklärt werden mußte.
Qualität der Übersetzungen der Selbstbeurteilungsskalen (SRQ, BDI) Aus den hohen Korrelationen der Skalen und den guten Kennwerten (Trennschärfen, Cronbach alpha) können die durchgeführten Übersetzungen der verwendeten Selbstbeurteilungsinstrumente (SRQ, BDI) als gut eingeschätzt werden. Insbesondere der bisher nur in wenigen nichtwestlichen Untersuchungen eingesetzte BDI erweist sich somit als brauchbares Instrument, 102
AUSWERTUNG DER STUDIE
sofern auf eine sorgfältige Übersetzung gemäß der beschriebenen Methodik geachtet wird (vgl. II. 2).
Diagnostische Zuordnungen Wie im Methodenteil ausgeführt, wurden die Patientinnen nach ICD-10 diagnostisch eingeordet. Die neun im Screening mit dem SRQ falsch positiven Patientinnen waren zuvor ausgeschlossen worden. Die Diagnosenverteilung der Patientengruppe ist aus der folgenden Tabelle ersichtlich: Tabelle 15: Diagnosen der psychiatrisch untersuchten Patientinnen (n=52) ICD-10 Diagnose Depressive Episode Rezidivierende depressive Störung Bipolare affektive Störung Dysthymie Angst u. depressive Störung gemischt Anpassungsstörung mit depr. Symptomatik nicht klassifiziert
Schlüsselnr. F 32 F 33 F 31 F 34 F 41.2 F 43.2
N 21 12 1 9 2 5
–
2
Spezielle psychopathologische Fragen Suizidalität: Immerhin 20 von 52 Patientinnen gaben Lebensüberdruß bis hin zu Suizidgedanken an. Die Suizidalität korrelierte in der statistischen Überprüfung mittels t-Test und Mann Whitney U-Test signifikant mit dem Schweregrad der Depression in der Hamilton Depressionsskala (HDRS).
103
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Tabelle 16 N Nicht suizidale Pat. Suizidale Pat.
32 (62 %) 20 (38 %)
Mittelwert HDRS 15.5 21.6
Standardabw. HDRS 4.68 5.57
t-Test: t-Wert: -3.59; DF: 50; p: .001* Mann-Whitney-Test: 2-tailed; p: .0025*
Die Suizidalität korrelierte in der statistischen Überprüfung mittels chi2Test und dem exakten Test von Fisher (Fisher’s exact; wegen ungleicher Zellenbesetzung) signifikant mit dem Kontakt zur Familie. Je verbindlicher die Familienbeziehung ist, desto geringer ist die Suizidalität ausgeprägt; dies bestätigte sich in der Überprüfung des korrelativen Zusammenhangs der Vierfeldertafel (Phi: .0067). Tabelle 17
Nicht suizidale Pat.
Mit Familie Ohne Familie (%) (%) 30 1
Suizidale Pat.
14
6
7 (13,7 %)
44 (86,3 %)
31 (60,8 %) 20 (39,2 %) 51 (100 %)
chi2 -Test: Wert: 7.3594; DF: 1; p: .0067* exakter Test von Fisher: 2-tai; p: .01105* Phi: Wert: -.3799; p: .0067*
Krankheitseinsicht: Ein möglicher Zusammenhang zwischen der Krankheitseinsicht der Patientin in der klinischen Beurteilung und dem Schweregrad der depressiven Symptomatik, gemessen mit der HDRS, wurde statistisch überprüft. Sowohl im t-Test als auch im Mann-Whitney-Test ergab sich kein signikanter Zusammenhang.
T-Test: t-Wert: .64; DF: 49; p: .528 Mann-Whitney-Test: 2-tailed; p: .6231
104
AUSWERTUNG DER STUDIE
P s y c h o s o z i a l e Va r i a b l e n Wie im Methodenteil erläutert, entwickelten wir – basierend auf unserer Key Informant-Befragung – einen kurzen Fragebogen zur standardisierten Erhebung relevanter psychosozialer Parameter bzw. Variablen, der gleichzeitig kulturelle Gegebenheiten der Menschen in einem ländlichen Distrikt Ostafrikas berücksichtigt und zugleich eine größere Stichprobe von Patienten erfassen kann. Dieser Fragebogen wurde bei sämtlichen Patientinnen (n=300) und Kontrollpersonen (n=50) eingesetzt. In der ausführlichen Exploration der im Screening auffälligen Patientinnen wurden zusätzliche psychosoziale Variablen erhoben.
Vergleich psychosozialer Variablen in der Gesamtpatientinnengruppe Bei dem Vergleich zwischen SRQ und den erhobenen psychosozialen Belastungsfaktoren zeigte sich, daß das Zusammenleben mit den Angehörigen als protektiver Faktor anzusehen ist (negative Korrelation mit den SRQ). Immerhin 36 % gaben beträchtliche finanzielle Sorgen an, was sich als signifikanter Belastungsfaktor erwies. Unter den sozioökonomischen Gegebenheiten dieses Entwicklungslandes scheint dies durchaus plausibel; da keine Fremdanamnesen erhoben wurden, kann nicht beantwortet werden, inwieweit möglicherweise auch eine depressiv getönte Wahrnehmung zu dieser hohen Zahl beiträgt. Der Verlust von Tieren (agrarische Gesellschaft!) und damit von Besitz und materieller Sicherheit ist wohl in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch der Verlust der Erwerbstätigkeit kann in einem Land, in dem es für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung keine sozialstaatliche Unterstützung gibt, zur Bedrohung der materiellen Existenz werden. Als weitere signifikante Belastungsfaktoren ergaben sich Eheprobleme. In den einzelnen Berichten der Patientinnen wurde deutlich, daß die zentralen Probleme körperliche Gewalt von Seiten des Ehemannes, Alkoholabusus und mangelnde finanzielle Zuwendungen für Frau und Kinder waren. Die als Belastungsfaktor auffälligen Eheprobleme spiegeln sich auch bei der Erhebung der explanatory models wieder (infertility, beating by husband, marital problems). Hier wird sicherlich auch das Spannungsfeld der disparaten Rollenerwartungen, der finanziellen Nöte und der sozialen Benachteiligung ausgetragen. Diese Belastungsfaktoren stimmen weitgehend mit den europäischen Ergebnissen von Brown & Harris (1978, 1993) überein. Im Gegensatz dazu waren psychische Verlustsituationen wie der Tod des Ehemannes oder eines Kindes keine signifikannten Belastungs105
WOMEN’S MENTAL HEALTH
faktoren. Der Verlust von engen Angehörigen scheint durch die immer noch bestehenden Strukturen der Großfamilien wohl eher hingenommen zu werden. Entgegen unseren Erwartungen zeigte sich „displacement“ (Vertreibung) in unserer Stichprobe nicht als ein signifikanter Belastungsfaktor. Tabelle 18: Psychosoziale Variablen und SRQ-Produktmomentkorrelationen (n=300) Variable lives with family marital problems sick children bigger financial problems loss of husband/children loss of job loss of house/farm loss of animals displacement
Presence (%) 90,7 15,4 18,4 36,0
Correlation w. SRQ* -0.13 * 0.16 * -0.041 0.20 *
7,6 3,2 7,2 5,6 11,2
0.08 0.13 * 0.06 0.17 * 0.09
* = Korrelationen größer 0.12 sind signifikant
Vergleich psychosozialer Variablen bei Patientinnengruppe und Kontrollgruppe Neben den bei der gesamten untersuchten Stichprobe (n=350) mittels des Fragebogens erhobenen psychosozialen Variablen erfolgte bei der Patientinnengruppe und der Kontrollgruppe (zus. n=102) während der psychiatrischen Exploration eine ausführlichere Erhebung möglicher psychosozialer Variablen, auf die im folgenden eingegangen werden soll. Eheprobleme, Partnerschaftskonflikte: In der Patientinnengruppe wurden signifikant (p=0.0002) häufiger Partnerschaftskonflikte angegeben als in der Kontrollgruppe. Im einzelnen wurden von den Patientinnen folgende Probleme genannt: Am häufigsten bestanden Beziehungskonflikte bzw. eine gestörte Kommunikation mit dem Partner. Hierzu ist – sozusagen als Spezialfall – ein weiterer häufig genannter Konfliktgrund, die Kinderlosigkeit, zu rechnen. Von mehreren Patientinnen wurden Gewalttätigkeiten des Ehemannes angegeben. Außerdem wurden der Alkoholismus des Ehemannes und die damit verbundenen finanziellen Nöte von
106
AUSWERTUNG DER STUDIE
Frau und Kindern angegeben. Als weiterer Hauptgrund von Partnerschaftskonflikten wurde Geldknappheit bzw. die mangelnde finanzielle Unterstützung des Ehemannes angegeben. Tabelle 19 Variable
Patients
Partnerschaftskonflikte
22
Controls 43,1 %
5
10,2 %
chi2-test (sign.) 13.751 (.0002)*
Kinderlosigkeit: Kinderlosigkeit scheint ein erheblicher psychosozialer Stressor zu sein, da hierfür grundsätzlich die Frau angeschuldigt wird und Schwierigkeiten bzw. einen Statusverlust in der eingeheirateten Familie erleidet. In der Patientinnengruppe war Kinderlosigkeit signifikant (p=0.0039) häufiger (15,7 %) als in der Kontrollgruppe (2,0 %). Dieses Problem zeigt sich ausserdem auch in der Untersuchung auf Familienkonflikte und bei den Krankheitserklärungskonzepten der Patientinnen. Tabelle 20 Variable
Patients
no concep- 8 tion
Controls 15,7 %
1
2,0 %
chi2-test (sign.) 8.355 (.0039)*
Displacement (Vertreibung) und tribal clash: Bezüglich der Frage nach Vertreibung und direktem Betroffensein von Stammeskriegen (tribal clashes) zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen Patientinnen und Kontrollgruppe. Hierbei ist zu bedenken, daß damit nicht nur eine Bedrohung der finanziellen Existenz, sondern bei einzelnen Patientinnen sogar ein Verlust von Angehörigen verbunden war, so hatte z.B. eine Patientin ihren Vater und zwei Brüder verloren.
107
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Tabelle 21 Variable
Patients
Displacement
11
Controls 21,2 %
1
2,0 %
chi2-test (sign.) 9.009 (.0027)*
„Single mother“: Die Zahl der alleinerziehenden Mütter war in der Patientinnengruppe (9,8 %) größer als in der Kontrollgruppe (4,0 %), jedoch ohne signifikanten Unterschied. Der klinische Eindruck der kenianischen Psychiater, daß sich bei depressiven Patientinnen überdurchschnittlich viele alleinerziehende Mütter finden, zeigte sich in unserer Stichprobe nicht. An Problemen, die damit verbunden sind, wurden von den Patientinnen genannt, daß sie kaum finanzielle Unterstützung haben (3) und dadurch bedingte Konflikte mit ihren Angehörigen (1) bzw. Ablehnung durch die Nachbarschaft (1). Tabelle 22 Variable
Patients
single mother
5
Controls 9,8 %
2
4,0 %
chi2-test (sign.) 1.31850 (.2509)
Polygame Ehe: Die Patientinnen- und Kontrollgruppe unterschieden sich nicht bezüglich des Anteils an Probanden, die in einer polygamen traditionellen Eheform lebten. Diese im ländlichen Bereich weiterhin bestehende Eheform scheint also nicht im Zusammenhang mit dem Auftreten einer depressiven Symptomatik zu stehen. Tabelle 23 Variable
Patients
Polygamistic marriage
4
chi2-test (sign.)
Controls 7,8 %
4
8,0 %
n.a.
Anzahl der Geschwister: Wie zu erwarten, unterschieden sich die Patientinnen (7,8) und die Kontrollgruppe (8,2) nur unwesentlich im Mittelwert der Anzahl der Geschwister (inklusive Probandin). Diese recht hohen 108
AUSWERTUNG DER STUDIE
Geschwisterzahlen sind kennzeichnend für ein Entwicklungsland mit hohem Bevölkerungswachstum. Tabelle 24 Variable
Patients
Geschwisterzahl
7,8
Controls –
8,2
–
chi2-test (sign.) n.a.
Kinderzahl: Auch der Mittelwert der Kinderzahl der Patientinnen (3,2 Kinder) und der Kontrollgruppe (2,9 Kinder) unterschieden sich nicht wesentlich, wenngleich die Kinderzahl der Kontrollpersonen etwas niedriger liegt. Hierbei ist zu beachten, daß bei einem Altersdurchschnitt von ca. 31 Jahren der untersuchten Probanden dies natürlich in vielen Fällen nicht die endgültige Kinderzahl ist. Dies erklärt den deutlichen Unterschied zu der Geschwisterzahl der untersuchten Frauen. Tabelle 25 Variable
Patients
Kinderzahl
3,2
Controls –
2,9
–
chi2-test (sign.) 12.865 (.1687)
Schulabbruch: Immerhin 37,3 % der Patientinnen und 30 % der Kontrollpersonen gaben an, daß sie die Schule nicht weiter besuchen konnten. Beim genaueren Erfragen der Gründe fiel auf, daß schlechte schulische Leistungen, die in Mitteleuropa eher das Beenden der Schule bedingen, hier nur eine untergeordnete Rolle bei den Patientinnen spielten (3,9 %), wohingegen finanzielle Probleme von größerer Bedeutung waren (9,6 %). Häufig wurde auch genannt, daß bei begrenzten finanziellen Mitteln der Familie der Ausbildung der männlichen Geschwister der Vorzug gegeben wurde (7,8 %). Anzumerken ist hierbei, daß der Schulbesuch der Kinder für die Familie mit Kosten verbunden ist, da Bücher und Schuluniformen gekauft werden müssen, und auch inzwischen eine Schulgebühr entrichtet werden muß. Bei 2 % der Patientinnen führte eine Schwangerschaft zum Beenden des Schulbesuchs, da in Kenia das Auftreten einer Schwangerschaft zur Entlassung aus der Schule führt. 13,7 % gaben keinen speziellen Grund für das Nicht-weiter-Verfolgen einer
109
WOMEN’S MENTAL HEALTH
schulischen Ausbildung an, sodaß hier vielleicht kein eigentliches Abbrechen der schulischen Ausbildung vorlag. Tabelle 26 Variable
Patients
Schulabbruch
19
Controls 37,3 %
15
30,0 %
chi2-test (sign.) 7.4614 (.0585)
Finanzielle Probleme: Bei einem großen Anteil der Probanden bestanden erhebliche finanzielle Probleme. Tabelle 27 Variable
Patients
financial problems
25
Controls 48,1 %
14
28,0 %
chi2-test (sign.) 4.3507 (.0369)*
Auffälligkeiten in der Kindheit: Auffälligkeiten in der Kindheit wurden bei 15,7 % der Patientinnen gegenüber 6 % der Kontrollgruppe erfaßt. Hierbei handelte es sich um schwerwiegende Erkrankungen, Verlust eines oder beider Elternteile, oder ähnliches. Tabelle 28 Variable
Patients
childhood 8 events
Controls 15,7 %
3
6,0 %
chi2-test (sign.) 2.4408 (.1182)
Psychiatrische Anamnese: Eine psychiatrische Vorgeschichte fand sich immerhin bei 31,4 % der Patientinnengruppe gegenüber 2 % der Kontrollgruppe. Hierunter wurde eine schon länger bestehende Symptomatik, die auch schon zum Aufsuchen traditioneller oder westlicher Medizinsysteme geführt hatte und frühere depressive Phasen gezählt.
110
AUSWERTUNG DER STUDIE
Tabelle 29 Variable
Patients
Psych. Anamn. Pers.
16
Controls 31,4 %
1
2,0 %
chi2-test (sign.) 15.5602 (.0008)*
Psychiatrische Familienanamnese: Hierin unterschieden sich die Patientinnen und Kontrollgruppe nicht. Allerdings war es etwas schwierig, den eigentlichen Verwandtschaftsgrad des betroffenen Familienangehörigen zu explorieren, so daß diese Zahl möglicherweise, trotz höherer Zahl der Familienangehörigen, zu hoch liegt. Tabelle 30 Variable
Patients
Psych. Anamn. Familie
4
Controls 7,8 %
4
8,0 %
chi2-test (sign.) 0.99020 (.6095)
Familienprobleme: Von den Patientinnen wurden in der Exploration signifikant häufiger Konflikte und Probleme in der Familie berichtet. Tabelle 31 Variable
Patients
Familien- 15 probleme
Controls 29,4 %
5
10,0 %
chi2-test (sign.) 5.9907 (.0143)*
Zusammenhang zwischen psychosozialen Belastungsfaktoren und Depressivität: Der Zusammenhang zwischen der evtl bestehenden Häufung von psychosozialen Belastungsfaktoren und dem Schweregrad der Depression anhand des HDRS-Score wurde mittels Spearman Rangkorrelationskoeffizient überprüft. Es zeigte sich eine Tendenz, daß je mehr Konfliktfelder bestehen, desto eher auch ein höherer Wert auf der HDRS bestand; dieser Zusammenhang lag jedoch unter dem Signifikanzniveau.
111
WOMEN’S MENTAL HEALTH
Spearman Korrelationskoeffizient: Wert: .2580; p: .068 Entfernung zum Distriktkrankenhaus: Die Entfernung des Wohnortes zum Distriktkrankenhaus spielt eine wichtige Rolle bei der Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen (Diesfeld 1989, Dech 1997). In unserer Untersuchung betrug die maximale Entfernung 30 km. Es wird tendenziell deutlich, daß Patientinnen im Radius von 20 km die Anfahrt eher auf sich nehmen. Tabelle 32: Entfernung des Wohnorts zum Distriktkrankenhaus Entfer- 0-5 nung in km Pat. 33,3 %
6-10 16,2 %
11-15 14,3 %
16-20
21-25
26-30
19,0 %
11,4 %
5,7 %
K r a n k h e i t s e r k l är u n g s k o n z e p t e Hier sollte erfaßt werden, wie die Patientinnen selbst ihre Beschwerden oder Störungen sehen, d.h. welchen Konstellationen sie diese attribuieren und welche Entstehungsursache sie hierfür als ausschlaggebend ansehen. Um die Angaben im Rahmen des Möglichen12 nicht zu präformieren, wurde eine offene Frage gestellt, jeweils in derselben Formulierung: „How do you see the cause of your illness?“. Die Antworten wurden wörtlich notiert und in der Auswertung gruppiert.
12 Natürlich ist immer auch die Person des Untersuchers für das Antwortverhalten des Befragten bedeutsam. Bei westlichen, aber auch im westlich orientierten Gesundheitssystem arbeitende einheimische Untersucher werden wohl eher westliche Erklärungskonzepte angegeben. Die tatsächliche Zahl von Patienten, die an eine übernatürliche Ursache ihrer Erkrankung glauben könnte etwas höher liegen.
112
AUSWERTUNG DER STUDIE
Tabelle 33: How does the patient view/attribute the cause of her illness? (n=52) Explanatory concepts Like any other illness Malaria Bewitchment Too many thoughts I don’t know Psychosocial problems (e.g. relatives) problems with husband infertility, no conception unclean food, dirty water overburdened, heavy work
21,7 % 16,7 % 13,3 % 10,0 % 10,0 % 8,3 % 6,7 % 6,7 % 5,0 % 1,7 %
Behandlung bei traditionellen Heilern Die ausführlich untersuchten psychisch auffälligen Patientinnen und die gesunden Kontrollpersonen wurden hierzu befragt. Die Patientinnen wurden gefragt, ob sie in letzter Zeit und bezüglich der bestehenden Beschwerden einen traditionellen Heiler aufgesucht hätten. Die gesunden Kontrollpersonen wurden gefragt, ob sie in den letzten Jahren einen traditionellen Heiler aufgesucht hätten. Ein direkter Vergleich zwischen Patientinnen und Kontrollpersonen ist deswegen wenig sinnvoll. Tabelle 34: Inanspruchnahme von traditionellen Heilern
Bejaht Verneint
Patients (n=51) 14 (26,9 %) 37 (73,1 %)
Controls (n=50) 10 (20,0 %) 40 (80,0 %)
Der mögliche Zusammenhang zwischen dem Aufsuchen eines traditionellen Heilers und dem Schweregrad der Depression (in Selbst- und Fremdbeurteilung) wurde mittels t-Test für die Patientinnengruppe überprüft. Es zeigte sich, daß die Patientinnen, die angaben, einen traditionellen Heiler aufgesucht zu haben, im Mittel einen höheren Summenscore in der Hamilton Depressionsskala erreichten, als die Patientinnen, die kei-
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WOMEN’S MENTAL HEALTH
nen Heiler aufgesucht hatten (siehe nachfolgende Tabelle). Die statistische Überprüfung zeigte eine signifikante Korrelation zwischen dem gemessenen Schweregrad der depressiven Symptomatik und dem Aufsuchen eines traditionellen Heilers (p= .013). Tabelle 35 Aufsuchen eines N trad. Heilers nein 38 Ja 13
Mittelwert HDRS 17.11 21.99
Standardabw. HDRS 5.77 6.28
t-Test: t-Wert: -2.58; DF: 49; p: .013*
Auch in der Selbstbeurteilungsskala Beck Depressions Inventar zeigte sich ein höherer BDI-Mittelwert bei den Patientinnen, die einen traditionellen Heiler aufgesucht hatten. Auch hier ergab sich ein deutlicher korrelativer Zusammenhang (p=.046): Tabelle 36 Aufsuchen eines N trad. Heilers nein 38 Ja 13
Mittelwert BDI 8.47 10.92
t-Test: t-Wert: -2.05; DF: 49; p: .046*
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Standardabw. BDI 3.95 2.85
III. D ISKUSSION
ZUM SCHLUSS: DISKUSSION
Bisher gibt es im afrikanischen Bereich kaum psychiatrische Untersuchungen mit einer differenzierten Methodik zur Abbildung depressiver Symptomatik . Daß es so wenige Untersuchungen gibt, hängt sicherlich nicht nur mit den aufwendigen Vorarbeiten, die eine fundierte empirische Untersuchung erfordert, zusammen, sondern auch mit der Schwierigkeit, eine Methodik zu entwickeln, die der Komplexität des kulturellen Settings gerecht wird und zugleich in den dortigen Gegebenheiten umsetzbar ist. Dies betonen Orley und Wing (1979), deren PSEUntersuchung in Uganda auf Orleys ethnographisch-psychiatrischen Voruntersuchungen (1970) aufbaute. Marsella (1988) betont die Wichtigkeit von transkulturellen Untersuchungen, die auf der Symptomebene ansetzen und sich nicht auf vorgefertigte Kategorien stützen. Gerade im Bereich der transkulturellen Forschung sind Methodenvielfalt und Interdisziplinarität erforderlich (Dech 1996, 2003). Die festgelegte Struktur einer standardisierten Erhebung kann kulturspezifische Ausdrucksweisen verbergen, weswegen wir offene, emische Erhebungsmethoden mit heranzogen, wie es von vielen Autoren gefordert wird (Marsella 1985; Westermeyer 1985; Kleinman 1987; Rogler 1989); eine Forderung, der bisher nur von wenigen Untersuchungen entsprochen wurde. Unser Ziel war die Untersuchung depressiver Symptomatik und Symptomkonstellationen (symptom patterns) bei Frauen in einem traditionell geprägten sozialen Setting des noch wenig untersuchten afrikanischen Kulturkreises, der Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren, insbesondere genderspezifischen Aspekten, sowie die Umsetzbarkeit westlicher Konzepte zur Depressionsentstehung und -ausformung. Die empirische Überprüfung der untersuchungsleitenden Hypothesen (vgl. 6.) führte im wesentlichen zu folgenden Schlüssen, die aus den in Kapitel 9 dargestellten empirischen Ergebnissen zu ziehen sind: • Depressive Störungen sind in ähnlicher Häufigkeit wie in vergleichbaren westlichen Untersuchungen anzutreffen, wenngleich mit anderen Schwerpunkten in der symptomatischen Ausgestaltung. Sowohl aus den emischen Erhebungsverfahren (offene Beschwerdeliste, Befragung einheimischer Psychiater) als auch aus den internationalen 117
WOMEN’S MENTAL HEALTH
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Instrumenten (Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen) ging hervor, daß Somatisierung und Hypochondrie im Vordergrund der Beschwerden stehen. Im Gegensatz zu manchen Autoren zeigte sich aber auch häufig die Angabe von psychischen Symptomen. Es zeigte sich eine gute Anwendbarkeit der internationalen Skalen. Insbesondere erwiesen sich die anhand des im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit entwickelten Übersetzungsprocedere übersetzten Selbstbeurteilungsskalen im Hinblick auf die psychometrischen Kennwerte als gut. In industrialisierten Ländern herausgearbeitete Konzepte über depressiogene psychosoziale Belastungsfaktoren (Bedrohungs- und Verlustsituationen) treffen im ländlichen Afrika grundsätzlich zu; daneben sind jedoch kulturspezifische Stressoren zu finden. Bezüglich der subjektiven Krankheitserklärungskonzepte ließ sich eine gewisse Tendenz zur Somatisierung erkennen. Auffällig war, daß sich in der subjektiven Ätiologie Elemente traditioneller Kultur artikulierten, die nicht ohne weiteres in das westliche Krankheitsverständnis zu transformieren sind (z.B. bewitchment). Daneben wurde aber auch auf Elemente aus der – importierten – westlichen Medizin zurückgegriffen, wenn z.B. eine Infektion für die Depression verantwortlich gemacht wurde. Traditionelle Heiler und westliche Medizin werden von den Patientinnen parallel in Anspruch genommen.
Diese und weitere Befunde sollen im folgenden diskutiert werden.
Symptomatische Ausgestaltung depressiver Störungen Aus den spontan von den Patientinnen vorgebrachten und in der offenen Beschwerdeliste erfaßten subjektiven Klagen wird ersichtlich, daß somatische Beschwerden am häufigsten vorkamen. An erster Stelle rangierten die für Depression in Ostafrika charakteristischen Kopfbeschwerden wie Druckgefühle, Schweregefühl und Schmerzen, die sehr oft bildlich geschildert wurden. Unsere Kontrollbefragung einheimischer Psychiater ließ erkennen, daß sie solche Kopfbeschwerden – wie viele andere in der Liste erfaßten Beschwerden – als ein Depressionssymptom verstehen. Es konnte in der vorliegenden Studie erhärtet werden, worauf in der einschlägigen Literatur (Giel 1969; Olatawura 1973; Ndetei 1979; Majodina 1983; Kortmann 1987) gelegentlich verwiesen wird, nämlich die Häufigkeit dieser Kopfbeschwerden als hervorstechendes Symptom bei de118
ZUM SCHLUSS: DISKUSSION
pressiven Störungen. In einer jüngeren Studie über depressive Symptomatik in Nigeria mittels GHQ und CIDI waren Kopfschmerzen ebenfalls mit 90 % das häufigste von den Patienten berichtete Symptom (Gureje/Obikoya 1992). Die Auffassung Ebigbos (1986), wonach Kopfdruck und Kopfbeschwerden bei nigerianischen Patienten als Gefühl des von Aufgaben und Verpflichtungen Erdrücktwerdens zu verstehen sind, hat Gültigkeit sicherlich nicht nur für Westafrika. Man könnte angesichts der Häufigkeit der geschilderten Kopfbeschwerden geradezu von einem für Afrika charakteristischen Depressionsäquivalent sprechen. Neben ubiquitären Symptomen bei Depression wie Schlafstörungen, Appetitverlust, Antriebsstörungen oder vegetativen Störungen wurden des weiteren von den von uns untersuchten Patientinnen genannt: heaviness of the heart, pain migrating in the body, numbness of the body, hotness of the body – Ausdrucksweisen, die als kulturspezifisch zu interpretieren sind. Besonders hotness of the body erinnert an das von Ifabumuyi (1981) in Nigeria beschriebene „central heat syndrome“. Onyemelukwe (1987) sieht die „internal heat”-Beschwerden als ein generelles Symptom von Depression in Nigeria an. Majodina (1983) berichtet von Hitzegefühl und brennenden Körpersensationen bei depressiven Patienten in Ghana. Somatische Symptome hatten 80 % der 50 von Majodina untersuchten depressiven Patienten, wobei hier Kopfschmerzen, brennende Sensationen im Kopf, Hitzesensationen im ganzen Körper, Gelenk-, Rücken- und Hüftschmerzen sowie Herzklopfen am häufigsten genannt wurden. Unsere Beschwerdeliste zeigt einige Ähnlichkeiten mit der von Keegstra (1986). Diese ist nach unserer Kenntnis die einzige bisher für den afrikanischen Raum publizierte, die eine systematische Erfassung der spontan geäußerten Beschwerden vornimmt. Keegstra berichtet bezüglich der präsentierten Beschwerden in seiner äthiopischen Stichprobe, daß nur 2 der 52 untersuchten Patienten mit psychischen Symptomen vorstellig wurden. In seiner Liste der präsentierten Beschwerden stehen Schmerzen und Hitzesensationen des Kopfes ebenfalls an erster Stelle. Somatisierung ist als eine Tendenz, seelische Belastungen sowohl körperlich wahrzunehmen als auch in einer körperlichen Ausdrucksweise zu kommunizieren, ausführlich beschrieben worden (Kirmayer 1984; Escobar 1987; Lipowski 1988). Daß Somatisierung nicht selten Ausdruck einer depressiven Störung oder Angststörung ist bzw. daß eine hohe Komorbidität zu Angststörungen einerseits und somatoformen Störungen andererseits besteht, wurde in mehreren multizentrischen Studien festgestellt (Sartorius/Üstün 1993, 1996). Somatisierungen werden aber gerade im allgemeinmedizinischen Bereich häufig nicht als psychiatri119
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sches Problem erkannt (Schulberg 1985; Goldberg 1988). Dies gilt besonders für die medizinische Versorgungssituation in Entwicklungsländern (Harding 1980), in denen psychische Störungen aufgrund mangelnder Ausbildung des Personals oftmals nicht als solche diagnostiziert und demzufolge nicht adäquat behandelt werden. Während im Hinblick auf die Psychopathologie depressiver Störungen in Afrika von vielen Untersuchern der Somatisierung eine überragende Bedeutung beigemessen wird (Lambo 1960; Asuni 1975; Ndetei/Muhangi 1979), betonen andere Psychiater (Ohaeri 1989; Binitie 1975, 1981), daß auch psychische Symptome vorhanden sind. In unserer Untersuchung wurden psychische Beschwerden kaum spontan vorgebracht, doch traten in der anschließenden standardisierten, psychometrischen Untersuchung wie auch in der klinischen Exploration psychische Symptome in stärkerem Maße hervor. Es ergab sich also keineswegs ein Nichtvorhandensein psychischer Symptome, wie es von Ndetei (1979) berichtet wurde; vielmehr scheint es sich bei den Patientinnenschilderungen, die eingangs der Untersuchung das Somatische akzentuierten, um einen Modus der Beschwerdepräsentation zu handeln, der im Kontext des kulturellen Milieus mit seinen – auch sprachlichen – Spezifika des Symbolisierens depressiver Befindlichkeit zu sehen ist. An anderer Stelle wurde dieses Phänomen mit dem Begriff der kulturspezifischen Präsentiersymptomatik bezeichnet (Dech 1995, 1998). Kurz, es hat den Anschein, als werde von unseren Patientinnen zunächst Depression in ihrer unmittelbaren Leibhaftigkeit erfahren und – im Vergleich zu Erkrankten westlicher, moderner Gesellschaften – weniger „psychisierend“ kommuniziert. Pfeiffer (1996) spricht in diesem Zusammenhang von der „Leibhaftigkeit des depressiven Erlebens“. Angesichts dessen, daß in Ostafrika den Frauen ein hohes Maß an körperlicher Arbeit abverlangt wird, wäre die Erklärung nicht ohne Plausibilität, daß bei der somatisierenden psychopathologischen Ausgestaltung kommunikative Aspekte insofern eine Rolle spielen, als die Patientinnen auf dem Wege der Somatisierung ihrer sozialen Umgebung das Gefühl des Überfordertseins zu verstehen geben. Zu erwägen ist in diesem Zusammenhang auch, ob die Erwartung, im Rahmen der medizinischen Basisversorgung eher Hilfe zu bekommen, wenn Körperliches vorgebracht wird, die beobachtete Präsentiersymptomatik verstärkend beeinflußt. Dhadphale (1983, 1989) nennt als Grund für die Dominanz körperbezogener Symptome in Kenia die dortige Zurückhaltung gegenüber dem spontanen Vorbringen psychischer Befindlichkeitsstörungen. Diese würden erst in einem näheren Gespräch geäußert.
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ZUM SCHLUSS: DISKUSSION
Auf einen weiteren kommunikativen Aspekt machen Kirmayer (1984) und Leff (1994) aufmerksam, indem sie herausstellen, daß in vielen Kulturen die Körpersymbolik auch der Depression die Funktion hat, dem Gegenüber qua Somatisierung den Zustand des „distressed“-Seins mitzuteilen. Ergänzend sei auf andere Symptomlisten hingewiesen, die sich in der Erhe-bungsmethodik von unserer Beschwerdeliste unterscheiden, auch wenn sie mitunter zu ähnlichen Ergebnissen führen. Ein Überwiegen spezifischer somatischer Symptome wurde von Makanjoula (1987) in einer retrospektiven Untersuchung anhand von Krankengeschichten festgestellt. Zu erwähnen wäre des weiteren noch die Studie Awaritefes (1988), der Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und Erschöpfung als die häufigst genannten Symptome fand, allerdings in einer Untersuchung über Angstpatienten. Die Überlappung von Angstund Depressionssymptomatik bei leichten bis mittelschweren Störungen wurde in jüngeren multizentrischen Studien beschrieben (vgl. Sartorius und Üstün 1993, 1996). Eine methodisch nicht näher spezifizierte, aber wohl mit dem semistrukturierten SPI (Standardized Psychiatric Interview, Goldberg 1970) von Dhadphale (1983) in Kenia erhobene Symptomliste zeigt ebenfalls, daß somatische Symptome, Schlafstörungen und Hypochondrie im Vordergrund der depressiven Beschwerden stehen.
V e rw e n d b a r k e i t s t a n d a r d i s i e r t e r i n t e r n a t i o n a l e r Skalen Für die standardisierte, psychometrische Erfassung der Symptomprofile afrikanischer Depressiver wurde die Häufigkeit des Vorhandenseins depressiver Symptome in den verwendeten Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen graphisch dargestellt. Die in der offenen Liste der spontan vorgebrachten Beschwerden erfaßte und in der Befragung von einheimischen Psychiatern bestätigte Somatisierungstendenz (emischer Teil der Untersuchung), spiegelte sich auch in den Symptomprofilen der verwendeten internationalen Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen (Self Reporting Questionnaire, Beck Depressions Inventar, Hamilton Depressions Skala) (etischer Teil der Untersuchung) wider. Im Gegensatz zu der großen Anzahl westlicher Studien wurden bisher nur wenige statistische Analysen durchgeführt, die auf die Bestimmung der Hauptkomponenten (Faktorenanalyse) depressiver Symptomatologie in nichtwestlichen Kulturen bzw. Entwicklungsländern abzielten 121
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(Basoglu 1984; Bertschy 1992; Binitie 1975; El-Islam 1988; Guelfi 1987; Keegstra 1986; Majodina 1983; Sen 1987; Zheng 1991), weshalb hier in dieser vergleichenden Diskussion auch Publikationen aus anderen nichtwestlichen Kulturkreisen herangezogen werden. Der Self Reporting Questionnaire (SRQ) ist zwar häufig in Afrika eingesetzt worden, jedoch eher zu praktisch-klinischen und epidemiologischen Zwecken (Dhadphale 1983, 1989; Diop 1982; Hall 1987; Kiganwa 1991; Kortmann 1988; Rahim 1989; Tafari 1991). In seiner Untersuchung an indischen Patienten weist Sen (1987) auf den engen Zusammenhang zwischen SRQ und HDRS hin, wie er sich auch in unserer afrikanischen Untersuchung ergab. In Sens Hauptkomponentenanalyse des SRQ wurden sieben Faktoren in der rotierten Lösung isoliert. Der erste und zweite Faktor war in dieser indischen Untersuchung eine Angst-Depressions-Komponente, während somatische Symptome sich unterschiedlich zu unserer afrikanischen Untersuchung erst in den weiteren Faktoren finden. In seiner mit einem ähnlichen Rekrutierungsschema durchgeführten Studie hatten bemerkenswerterweise 23 % der untersuchten Frauen eine deutliche depressive Symptomatik auf der HDRS; in unserer Untersuchung waren es 17,3 %. Bisher liegen kaum Veröffentlichungen über den Einsatz des Beck Depressions Inventar (BDI) in nichtwestlichen Kulturen vor, vermutlich wegen der Notwendigkeit einer Übersetzung dieser Selbstbeurteilungsskala. Untersuchungen im subsaharischen Afrika mit dem BDI sind nach unserer Kenntnis bisher nicht publiziert worden, so daß Arbeiten aus anderen Kulturen herangezogen werden. Eine gute Diskriminationsfähigkeit des BDI (Langform) zwischen depressiven und nicht depressiven ägyptischen Patienten belegt die Untersuchung von Raeder (1990, 1991); dies zeigte sich ebenfalls in unserer afrikanischen Stichprobe. Allerdings wird von einer Reliabilitätsüberprüfung und Faktorenanalyse des BDI dort nicht berichtet. Die Unterschiede zur deutschen Vergleichsgruppe der Depressiven bestanden im wesentlichen in der höheren Skalierung der ägyptischen Patienten bei den auf körpernahe Symptome abzielenden Items des BDI. Keinen Einfluß auf den Schweregrad der Depressivität hatte das Geschlecht der Probanden. Eine auf die Spezifik einer Kultur zugeschnittene Erfassung von Depressionssymptomen hält Raeder im Hinblick auf ägyptische Depressive für „überflüssig“, wenngleich er einräumt, „daß der BDI doch in gewissem Umfang emic, d.h. auf die westliche Kultur abgestimmt ist“. Auch meint er, daß Selbstbeurteilungsskalen im transkulturellen Vergleich gegenüber der Fremdbeurteilung „erhebliche Vorteile hinsichtlich der Validität und der damit verbundenen Reliabilität und der Forschungsökonomie aufweisen“; denn die „optima122
ZUM SCHLUSS: DISKUSSION
le Methode“ einer „multimodalen Diagnostik wird sich in transkulturellen Designs nur ausnahmsweise realisieren lassen“. Die Verfasserin hält ein mehrdimensionales bzw. multimethodales Untersuchungsdesign gerade in der transkulturellen psychopathologischen Forschung für unabdingbar, um zu zuverlässigen Aussagen zu kommen (Dech 1995, 1996). Wie im theoretischen Teil dieser Arbeit dargestellt, sollten Selbstbeurteilungsskalen durch Fremdbeurteilungskalen abgesichert werden und vice versa, genauso wie internationale Skalen durch kulturspezifische Methoden überprüft werden sollten. Daß sich ein solches „multimodales Design“ selbst im ländlichen Bereich in Schwarzafrika verwirklichen läßt, zeigt die vorliegende Untersuchung. Anders als Raeder gelangte Kinzie (1982), der vietnamesische Flüchtlinge in den USA mit dem BDI untersuchte, zu der Einschätzung, mit dem BDI sei eine korrekte Messung des Schweregrades der Depression bei Patienten aus nichtwestlichen Kulturen nicht möglich. Aus diesem Grunde entwickelte Kinzie eine kulturspezifische Depressionsskala. Auch Zheng (1991), der die Verwendbarkeit des BDI (Langform) im Vergleich mit einer eigens entwickelten kulturspezifischen Skala in China untersuchte, betont, daß mehrere Items der chinesischen Version des BDI – trotz korrekter Übersetzung – nicht ausreichend reliabel und valide waren (crying spells, irritability, loss of libido). Die Reliabilität der kulturspezifischen Skala war – wie zu erwarten – höher (Cronbach alpha = .91) als die der chinesischen Version des BDI (Cronbach alpha = .85). Die zur Überprüfung der Validität durch Hauptkomponentenanalyse ermittelten Faktoren des BDI werden in Zhengs Publikation nicht im einzelnen berichtet; es wird lediglich darüber Auskunft gegeben, bei einer Varianzaufklärung von 55 % seien 3 der 6 Faktoren (Langform) nicht ausreichend interpretierbar und insbesondere depressive Stimmung und Entscheidungslosigkeit nicht klar zuzuordnen gewesen. Zheng sieht daher die kulturspezifische Skala als günstiger für die Erfassung von depressiven Symptomen bei chinesischen Patienten an. Die obengenannten Untersuchungen basierten auf der Langform des BDI, die acht zusätzliche Items (sense of punishment, self accusations, crying spells, irritability, sleep disturbance, weight loss, somatic preoccupation und loss of libido) enthält. Da laut Beck und Beck (1972) Kurzund Langform hoch miteinander korrelieren ist ein – vorsichtiger – Vergleich zwischen beiden Skalen möglich. Im Gegensatz zu Kinzie, aber mit größeren Vorbehalten als Raeder, halten wir den BDI für brauchbar in nichtwestlichen Kulturen. Wie aus unserer offenen Beschwerdeliste ersichtlich, sind jedoch kulturell charakteristische Symbolisierungen depressiver Störungen, insbesondere 123
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charakteristische körperliche Ausdrucksweisen, im BDI nicht hinreichend repräsentiert. Die Skala sollte folglich unbedingt nicht nur durch eine Fremdbeurteilungsskala, sondern insbesondere auch durch kulturspezifische Untersuchungsmethoden ergänzt werden, da kulturell charakteristische Depressionssymptome auf dieser amerikanischen, anhand des Beckschen Konzepts depressiver Kognitionen entwickelten Skala möglicherweise nicht ausreichend abgebildet werden. Bezüglich der Reliabilität liegt der in unserer Untersuchung ermittelte Cronbach alpha mit .91 ebenso hoch wie der Wert der kulturspezifischen Skala von Zheng. Dies könnte durch Unterschiede in den bei Selbstbeurteilungsskalen besonders einflußnehmenden Übersetzungsprozeduren bedingt sein; denn Zheng orientierte sich stärker an der Methode der iterativen Rückübersetzung und blieb daher vermutlich den amerikanischen Ausdrucksformen näher, während wir der Semantik von kulturspezifischen Ausdrucksformen eine größere Bedeutung beimaßen, als wir versuchten eine kulturell verständliche Version des BDI zu entwickeln. Eine weitere Erklärung für die vergleichsweise hohe Reliabilität unserer BDI-Version könnte allerdings auch im Wegfall „ungünstiger“, in der Kurzform des BDI nicht vorhandener, Items liegen. In der von Hamilton (1960) mittels der von ihm entwickelten Hamilton Depressions Skala untersuchten Stichprobe ergab sich – nach Extraktion klinisch unbrauchbarer Faktoren – wie in unserer Untersuchung, eine Dreifaktorenlösung. Im Gegensatz zu den von Hamilton untersuchten westlichen Patienten, bei denen auf Faktor 1 psychische Symptome wie gedrückte Stimmung, Schuldgefühle und Suizidgedanken luden, fanden sich in unserer afrikanischen traditionell geprägten Stichprobe körpernahe Symptome bei Depression auf Faktor 1, der auch bei weitem die größte Varianzaufklärung ergab. Demgegenüber luden in der von uns untersuchten Stichprobe psychische Symptome auf Faktor 2, wohingegen in Hamiltons Stichprobe somatische Symptome diesen Faktor bildeten. In Afrika wurde die HDRS lediglich von Binitie (1975) und Dhadphale (1983, 1989) angewandt (n=27). Binities Untersuchung ist jedoch insofern nicht ganz unproblematisch, als er seine Daten wohl erst im Nachhinein aus einer PSE-Erhebung in diese Skala transponierte und somit nicht gemäß den Vorgaben verfuhr; ferner finden sich bei Binitie keine Angaben zur Größe der nigerianischen Stichprobe. Trotzdem ergaben sich bei der westafrikanischen Stichprobe Binities ebenfalls somatische Symptome auf Faktor 1. Dhadphale führte bei der von ihm in Kenia erhobenen, kleineren Stichprobe keine Faktorenanalyse durch. In der vergleichenden Untersuchung zur depressiven Symptomatik bei ambulanten türkischen und britischen Patienten (Ulusahin 1994), bei 124
ZUM SCHLUSS: DISKUSSION
der die HDRS und das CID verwendet wurden, zeigte sich in der Faktorenanalyse bei den türkischen Patienten Somatisierung als erster Faktor, während, so Ulusahin, depressive Kernsymptome, und zwar vornehmlich psychische, den ersten Faktor bei der britischen Stichprobe bildeten. Somatisierung zeigte sich bei der britischen Vergleichsgruppe erst im vierten Faktor. Möglicherweise ist die türkische Stichprobe Ulusahins nicht ohne Vergleichswert für unsere afrikanische, da es sich dort ebenfalls um ambulante Patienten aus einem ländlichen, traditionellen Milieu handelte; dies um so mehr als faktorenanalytische Untersuchungen über Depression in traditionellen Kulturen sehr rar sind. Ebenfalls faktorenanalytisch, jedoch mittels SADD, wurden zwei Studien in Afrika (Ghana und Äthiopien) durchgeführt: Keegstra (1986) fand bei seinen 52 untersuchten ambulanten Patienten ein Vorherrschen somatischer Symptome, die er als „depressive Kernsymptome bei äthiopischen Patienten“ – im Gegensatz zur westlichen Kernsymptomatik – kennzeichnet. Majodina (1983) fand in seiner Untersuchung mittels SADD in Ghana einen deutlich höheren Anteil an psychischen Symptomen (76-100 %) als in unserer Studie, was mit der unterschiedlichen Rekrutierung zusammenhängen könnte. Er untersuchte teilweise stationäre psychiatrische Patienten, die in Afrika nur die schwerst depressiv Erkrankten. sind. So erörtert Ilechukwu (1991), ob bei zunehmender Depressionsschwere möglicherweise ein deutlicheres Hervortreten psychischer Symptome aufträte. Während anfänglich noch über sehr geringe Suizidraten in Afrika berichtet wird (Lambo 1960; Asuni 1961), läßt sich diese Einschätzung bezüglich der Suizidalität heute nicht mehr halten (vgl. Hoffmann 1993). In der Untersuchung von Orley und Wing (1979) findet sich zwar keine genauere Angabe zu Suizidalität, sie berichten jedoch von einem extrem hohen Anteil von Schuldgefühlen bei der von ihnen untersuchten ugandischen Stichprobe. Bertschy (1992) berichtet von seiner in Benin mit der CPRS erhobenen, überwiegend männlichen Stichprobe, daß Suizidgedanken von einem Drittel der Patienten angegeben wurden, bei einem Vorherrschen (90 %) von somatischen Symptomen. Während in unserer Stichprobe Suizidalität auf dem 2. Faktor der HDRS lud, fand sich Suizidalität in Binities Kollektiv (1975) sogar auf Faktor 1. Ein Zusammenhang zwischen Schweregrad der Depression und Krankheitseinsicht fand sich in unserer Untersuchung nicht, wohingegen aber bei stärkeren Symptomen eher ein traditioneller Heiler aufgesucht wurde (s.u.).
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Psychosoziale Belastungsfaktoren Die Bedeutung psychosozialer Belastungsfaktoren bei der Entstehung und dem Verlauf depressiver Störungen ist spätestens seit den Untersuchungen von Brown und Harris (1978, 1996) evident. Bisher gibt es nur wenige psychiatrische Untersuchungen in Afrika, die – abgesehen von Geschlecht, Alter und Schulbildung – eine differenzierte Betrachtung psychosozialer Parameter einbeziehen (z.B. Hollifield 1990 in Lesotho). Ausgehend von den Konzepten von Brown und Harris (1978), die Kindheitstraumata, Verlustsituationen und Bedrohungssituationen als entscheidende Belastungsfaktoren betonen, entwickelten wir einen kurzen Fragebogen zur standardisierten Erhebung relevanter psychosozialer Parameter bzw. Variablen, der gleichzeitig kulturelle Gegebenheiten der Menschen in einem ländlichen Distrikt Ostafrikas berücksichtigt und zugleich eine größere Stichprobe von Patienten erfassen kann. Für die Konstruktion unseres Fragebogens wurden zuvor ebenfalls sogenannte Key Informanten über die spezifischen Lebensbedingungen im Untersuchungsgebiet befragt. Folgende psychosozialen Variablen waren signifikant unterschiedlich zwischen den untersuchten Patientinnen und den Kontrollpersonen: Partnerschaftskonflikte, Kinderlosigkeit, displacement (Vertreibung), schwere finanzielle Probleme, psychiatrische Vorgeschichte und Familienprobleme. Demgegenüber ergaben sich keine deutlichen Unterschiede bei den psychosozialen Variablen: single mother, polygame Eheform, Kinderzahl der Patientin, Anzahl der Geschwister, Schulabbruch und Auffälligkeiten in der Kindheit. In einer von Ndetei (1982) mittels einer modifizierten PSE-Kurzform erhobenen Studie ergaben sich als signifikant häufiger mit Depression assoziierte Variablen nur die stationäre Aufnahme in einem Krankenhaus (was nur bei einer sehr schweren Erkrankung erfolgt), und Begebenheiten bezüglich der Ausbildung wie Schulwechsel und Umzug in die Großstadt zum Universitätsbesuch. Der Verlust von nahen Angehörigen war in Ndeteis Untersuchung – ähnlich unseren Ergebnissen – kein signifikanter depressiogener Belastungsfaktor. Es wurde deutlich, daß die im Hinblick auf depressiogene psychosoziale Belastungsfaktoren in industrialisierten Ländern festgestellten Bedrohungs- und Verlustsituationen (vgl. Brown/Harris 1978, 1996; Paykel 1994) grundsätzlich auch hier zutreffen, daß daneben jedoch kulturspezifische Besonderheiten bzw. Stressoren bestehen – wie z.B. der enorme soziale Druck, erst durch Kindergebären als Person anerkannt zu sein, und die ökonomisch existentiellen Nöte, daß einerseits die Frauen für das 126
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Aufziehen der Kinder (aus denen sie ihrer soziale Anerkennung gewinnen) und damit die Erhaltung der Familie verantwortlich sind, ihnen andererseits durch die veränderten politischen Gegebenheiten (Landrecht) dazu die Grundlage entzogen wurde. Es fanden sich außerdem Belastungsfaktoren, die mit der Situation in einem Entwicklungsland (Verarmung, Unruhen, rascher sozialer Wandel) zusammenhängen.
Subjektive Krankheitserklärungskonzepte Ganz analog der mit emischen und etischen Methoden erhobenen Symptomatik, vermuteten die Patientinnen zumeist, ihre Erkrankung habe Gründe im Somatischen, was daraus hervorgeht, daß sie ihre Erkrankung in ihrer subjektiven Ätiologie quasi mit „Krankheit überhaupt“ gleichsetzten: Das am häufigsten genannte Erklärungsmuster, die Depression sei entstanden „like any other illness“ impliziert ein eher somatisches Krankheitskonzept, natürlich auch die erwartete Behandlung, wenn ein Patient ein Krankenhaus aufsucht. Nur am Rande sei hier auf die fraglos vorhandenen Interdependenzen zwischen Behandlungsangebot und Therapieerwartung einerseits sowie Krankheitserklärungskonzepten andererseits hingewiesen (vgl. Dech 1997, 1998). Dhadphale (1983) und Ovuga (1986) betonen in diesem Zusammenhang, daß das Präsentieren von somatischen Symptomen mit der Erwartungshaltung der Patienten zu tun hat, auf diese Weise eher Hilfe zu bekommen. Die Kategorie „like any other illness“ weist Ähnlichkeiten mit „I don’t know“ auf. Beide sind letztlich Äußerungsformen einer Unfähigkeit zur konkretisierbaren Kausalitätsrekonstruktion und damit sicherlich nicht untypisch für depressive Erkrankungen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß auch die Erwartung, vom Behandler die Diagnose gestellt zu bekommen und auf diese Weise eine Entlastung zu erfahren, im Falle dieser beiden Kategorien eine Rolle spielt. Wenn von Patientinnen die Vermutung ausgesprochen wird, vielleicht an Malaria erkrankt zu sein, so ist dies ein durchaus naheliegendes Erklärungsmodell, zeigt diese Infektionskrankheit doch, abgesehen von Fieber und Schüttelfrost, auch Symptome wie Erschöpfungsgefühl, Antriebstörungen und Energielosigkeit. Zugleich erfährt die Patientin durch diese Kausalattribuierung die Möglichkeit eines sekundären Krankheitsgewinns, wenn ihr als „wirkliche Kranke“ von der Umgebung Schonung gewährt wird. Nach den Erfahrungen der einheimischen Psychiater wird diese Malaria-Vermutung sehr häufig von depressiven Patienten angegeben (Ndetei/Muhangi 1979, Dhadphale 1989) und weiterhin vom allge127
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meinmedizinischen Personal in Unkenntnis dieser Differentialdiagnose falsch eingeschätzt. Mbanefo (1971) fand in einer Studie in allgemeinmedizinischen Ambulanzen, daß psychiatrische Erkrankungen gleichhäufig wie Erkrankungen an Malaria vorlagen (15 %). Aber keineswegs nur somatisch orientierte, körperbezogene, sondern auch psychogene, konfliktorientierte Attribuierungen der Beschwerden wurden in unserer Studie häufig genannt: Eheprobleme und familiäre Probleme. Hierbei handelte es sich häufig um Alkoholmißbrauch des Ehemannes und die damit verbundenen finanziellen Engpässe für Frau und Kinder, oder auch die Entfremdung bei räumlicher Trennung der Ehepartner. Zu Konfliktpunkten gehört auch die Angabe „no conception“ bzw. „infertility“, da hierfür grundsätzlich die Frau angeschuldigt wird und Schwierigkeiten bzw. einen Statusverlust in der eingeheirateten Familie erleidet. Das Ansehen der Frau bestimmte sich in traditionellen afrikanischen Gesellschaften weitgehend aus ihrer innerfamiliären Reproduktionsfunktion heraus (Meyer-Mansour 1985). Durch ihre biologische Reproduktionsfunktion, und besonders in Bezug auf männliche Nachkommen, wurde und wird der Erhalt der patrilinear organisierten Großfamilien gesichert. Kinderreichtum ist, wie in allen Entwicklungsländern, zugleich die Altersversicherung. Nicht mit der Heirat, sondern erst nach der Geburt gesunder Kinder/Söhne erwirbt eine Frau soziales Ansehen in der eingeheirateten Familie. Kinderlosigkeit, aber auch geringe Kinderzahl oder ausschließliche Geburt von Mädchen, wird weiterhin als schweres Unglück angesehen und ist ein Grund für das Heiraten einer zweiten Frau oder nicht selten ein Scheidungsgrund. Infertility/no conception ist als schwerwiegender psychosozialer Stressor zu werten. In der Kategorie „to many thoughts“ verbirgt sich das Symptom des depressiven Grübelns, was hier aber als Auslöser für die Beschwerden empfunden wird. Es spiegelt ebenso die weitverbreitete Einstellung, daß Kummer krankmacht, wieder. Immer wieder wird in der Literatur referiert, daß in afrikanischen Kulturen kein Konzept über depressive Erkrankungen existiert. Dem können wir sowohl aus unserer klinischen Erfahrung als auch von Seiten dieser Studie nicht zustimmen, wird doch gerade das Nennen von „to many thoughts“ als ein Synonym für Depression verstanden. Hierbei handelt es sich sicherlich um depressive Störungen, bei denen kognitive Störungen im Vordergrund der Symptomatik stehen. Die Einschätzung Marsella’s von 1979, daß in vielen Kulturen kein traditionelles Konzept über depressive Störungen existiert, ist uns für den afrikanischen Raum nicht nachvollziehbar, mehren sich doch die Berich128
ZUM SCHLUSS: DISKUSSION
te darüber, daß eine zumindest depressionsähnliche Symptomatik sehr wohl im traditionellen System erkannt und behandelt wird (Gatere 1980; Leff 1994; Broadhead 1996; Dech 1995a). Bemerkenswerterweise wurden sozio-ökonomische Belastungen von den Patientinnen selbst nicht als Auslöser genannt, während diese in der statistischen Untersuchung depressiogener psychosozialer Belastungsfaktoren signifikant waren. 13 % gaben übernatürliche Kräfte als Ursachen ihrer Erkrankung an (bewitchment). Dieser Anteil liegt etwas höher als in dem Bericht von Reynolds-Whyte (1991), die mittels Fallbeschreibungen die Einstellungen der Bevölkerung zu wichtigen psychiatrischen Erkrankungen in Tanzania untersuchte. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen (Dhadphale 1983; Makanjoula 1987). Den Berichten aus Ostafrika von Edgerton (1971), Otsyula (1973) und Gatere (1980) zufolge, daß viele Patienten beide Systeme polypragmatisch in Anspruch nehmen, kann man vermuten, daß dieser Anteil noch höher liegen könnte, aber bei Untersuchern in der nach westlichem Muster organisierten Basisgesundheitsversorgung nicht angegeben wird (vgl. Dech 1995a). Zwar ist das Ausüben der traditionellen Heilkunde in Kenia nicht mehr illegal, doch besteht vermutlich weiterhin eine Zurückhaltung, diese traditionellen Kausalitätsvorstellungen im staatlichen Gesundheitssystem anzusprechen.
Traditionelle Heiler Wie aus unserer Key Informant-Befragung hervorging, werden psychische Erkrankungen – wobei hier zuvorderst psychotische Erkrankungen verstanden werden – häufig als eine Bestrafung von den Göttern angesehen, z.B. dafür, daß man bestimmte soziale Verpflichtungen gegenüber den Ahnen nicht erfüllt habe. Wenngleich, was den psychiatrischen Bereich betrifft, einige Erkrankungen im traditionellen System als solche erkannt werden, so sind die diagnostischen Zuordnungen jedoch nicht immer und ohne weiteres in westliche Konzepte transponierbar (vgl. Dech 1996b). Daß der „systemische“ Ansatz des traditionellen afrikanischen Systems gerade in der Behandlung psychiatrischer Störungen sehr erfolgreich ist, zeigen Machleidt und Peltzer (1994). Bisher blieb die Kooperation zwischen westlichen und traditionellen Medizinern jedoch auf Einzelprojekte (Lambo 1966; Koumare 1989; Collomb 1974) beschränkt. Daß eine westlich orientierte staatliche Gesundheitsversorgung und traditionelle Heilkunde nicht unvereinbar sind, zeigt sich schon daran, daß viele afrikanische Pa129
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tienten beides nebeneinander für sich nutzen (vgl. Dech 1995, 1998). Gesundheitspolitisch wurden bisher keine Konzepte zur Integration erarbeitet; der Status traditioneller Heiler ist in den meisten Ländern bisher ungeklärt oder sogar illegal. Deswegen ist das Aufsuchen traditionellen Heiler in dieser Untersuchung von den Probanden möglicherweise seltener, denn es der Realität entspricht, angegeben worden. In ähnlichen Befragungen (Reynolds-Whyte 1991; Broadhead 1994) wurden von den Probanden vergleichbare Angaben gemacht. Es seien abschließend einige weiterführende Gedanken erlaubt: Wie Haltenhof (1996) bemerkt, kommen depressive Verstimmungszustände vermutlich bei Menschen aller Zeiten und Kulturen vor. Allerdings zeigen sich kulturell unterschiedliche Ausformungen und „Veränderungen in der Gestaltung depressiver Affektivität (Krambeck 1996)“. Wie im ersten und zweiten Kapitel dargelegt, haben koloniale Vorurteile lange den Blick dafür verstellt, daß depressive Störungen in Afrika genauso häufig wie in abendländischen Gesellschaften vorkommen. Darüberhinaus sind durch die koloniale Erosion und Verarmung der afrikanischen Gesellschaften noch zusätzliche Belastungsfaktoren hinzugekommen, die in bisherigen Behandlungskonzepten nicht genügend Berücksichtigung gefunden haben. Die Etablierung einer westlichen, rein somatisch ausgerichteten Entwicklungsmedizin hat zur Konsequenz, daß immerhin 1/5 bis 1/4 der Patienten nicht adäquat ( und sicherlich nicht kostengünstiger) behandelt wird (vgl. Dech 2003). Gerade im ländlichen Bereich stellen die weitgehend noch existierenden Familienbeziehungen und -verpflichtungen eine wichtige Ressource für Mental Health Care dar; unter der Bedingung jedoch, daß es für die Angehörigen Beratungsangebote bezüglich des Umgangs mit psychischen Erkrankungen gibt. Eine weitere wichtige Ressource sind im psychosozialen Bereich tätige, nichtstaatliche Organisationen und Projekte (NGO), mit denen Kooperationen oder Vernetzungen etabliert bzw. intensiviert werden sollten.
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Weitere Titel dieser Reihe:
Verena Dreißig Interkulturelle Kommunikation im Krankenhaus Eine Studie zur Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patienten mit Migrationshintergrund Oktober 2005, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-392-5
IFADE (Hg.) Insider – Outsider Bilder, ethnisierte Räume und Partizipation im Migrationsprozess Oktober 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-382-8
Gabriele Alex, Sabine Klocke-Daffa (Hg.) Sex and the Body Ethnologische Perspektiven zu Sex, Geschlechtlichkeit und Körper September 2005, ca. 160 Seiten, kart., ca. 14,00 €, ISBN: 3-89942-282-1
Martin Baumann, Samuel M. Behloul (Hg.) Religiöser Pluralismus Empirische Studien und analytische Perspektiven
Karin Scherschel Rassismus als flexible symbolische Ressource Eine Studie zu rassistischen Argumentationsfiguren September 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-290-2
Sabine Ipsen-Peitzmeier, Markus Kaiser (Hg.) Zuhause fremd Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland September 2005, 415 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-308-9
Ulrike Niedner-Kalthoff Ständige Vertretung Eine Ethnographie diplomatischer Lebenswelten August 2005, 110 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN: 3-89942-371-2
Karsten Kumoll »From the Native’s Point of View«? Kulturelle Globalisierung nach Clifford Geertz und Pierre Bourdieu März 2005, 166 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-289-9
September 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-350-X
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Weitere Titel dieser Reihe: Katharina Lange »Zurückholen, was uns gehört« Indigenisierungstendenzen in der arabischen Ethnologie
Mark Terkessidis Die Banalität des Rassismus Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive
März 2005, 272 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 3-89942-217-1
2004, 224 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-263-5
Marc Boeckler Geographien kultureller Praxis Syrische Unternehmer und die globale Moderne
Doris Weidemann Interkulturelles Lernen Erfahrungen mit dem chinesischen ’Gesicht’: Deutsche in Taiwan
März 2005, 340 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-333-X
2004, 346 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-264-3
Heiner Bielefeldt, Jörg Lüer (Hg.) Rechte nationaler Minderheiten Ethische Begründung, rechtliche Verankerung und historische Erfahrung
Robert Pütz Transkulturalität als Praxis Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin 2004, 294 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-221-X
2004, 182 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 3-89942-241-4
Julia M. Eckert (Hg.) Anthropologie der Konflikte Georg Elwerts konflikttheoretische Thesen in der Diskussion 2004, 336 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-271-6
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de