Luther auf der Wartburg 1521/22: Bibelübersetzung – Bibeldruck – Wirkungsgeschichte [1 ed.] 9783412520106, 9783412520083


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Luther auf der Wartburg 1521/22: Bibelübersetzung – Bibeldruck – Wirkungsgeschichte [1 ed.]
 9783412520106, 9783412520083

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LUTHER AUF DER WARTBURG 1521/22 BIBELÜBERSETZUNG – BIBELDRUCK – WIRKUNGSGESCHICHTE

Werner Greiling, Uwe Schirmer, Elke Anna Werner (Hg.)

Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation Im Auftrag der »Historischen Kommission für Thüringen« herausgegeben von Werner Greiling und Uwe Schirmer in Verbindung mit Joachim Bauer, Enno Bünz, Ernst Koch, Armin Kohnle, Josef Pilvousek und Ulman Weiß Band 13

Werner Greiling, Uwe Schirmer, Elke Anna Werner (Hg.)

Luther auf der Wartburg 1521/22 Bibelübersetzung – Bibeldruck – Wirkungsgeschichte

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Gedruckt mit Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei, der SparkassenKulturstiftung Hessen-Thüringen sowie der Stadt Eisenach.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill Deutschland GmbH (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Darstellung des Scheinüberfalls auf Martin Luther am 4. Mai 1521. Wartburg-Stiftung Eisenach, Kunstsammlung, Inv.-Nr. DLG-001 Wissenschaftliche Redaktion: Dr. Philipp Walter, Jena Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52010-6

Inhalt

Vorwort........................................................................................................................... 9 I. Spätmittelalterliche Bibelübersetzungen und kritische Editionen vor 1517 Stephan Flemmig Bibelwissenschaften in Spanien................................................................................. 11 Jens H austein Vorreformatorische Übersetzungen der Bibel in die deutsche Volkssprache. Von Otfrid von Weißenburg zum Österreichischen Bibelübersetzer.............................................................................. 43 Achim H ack Bibelübersetzungen vor 1521. Einige übergreifende Beobachtungen...................................................................... 53 II. Sprache und Rezeption H ans-Joachim Solms Einfluss und Bedeutung von Luthers Vollbibel (1534) und des Katechismus auf die Sprachentwicklung in Deutschland..................................... 73 H ans Beelen Die niederländische Statenvertaling (1637). Übersetzungsmethode und sprachliche Wirkung im Vergleich mit der Lutherbibel....................................................................................................... 89 Werner Greiling Kommentierung, Popularisierung, Trivialisierung? Die neunbändige „Schullehrer-Bibel“ (1824–1828) von Gustav Friedrich Dinter............................................................................................ 101 Bridget Heal Zur Rezeption lutherischer Bibelillustration in Renaissance und Barock................................................................................................................... 129

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Inhalt

III. Der Weg zur Vollbibel (1522–1534) Stefan M ichel Die Übersetzung des Neuen Testaments durch Luther auf der Wartburg. Hilfestellungen und Korrespondenzen.................................. 143 Thomas Fuchs Luthers Bibelübersetzung und ihre Bedeutung für den Buchhandel im 16. Jahrhundert............................................................................... 157 A nja Grebe Vom Druck zurück zur Handschrift. Illuminierte Lutherbibeln in der Frühen Neuzeit....................................................................... 177 Nadine Willing-Stritzke Die anhaltischen Prachtbibeln und ihre Ausstattung durch Lucas Cranach d. J..........................................................................................201 Sebastian Dohe Die Illustrationen der Lutherbibel von 1534 oder: Wie viel Cranach steckt in der ersten Vollbibel?...................................................233 IV. Luther auf der Wartburg Christopher Spehr Luthers Reisewege und Kontakte zwischen April 1521 und Invokavit 1522.............................................................................................................257 Uwe Schirmer Die Wartburg und das Amt Eisenach zwischen 1443 und 1525. Anmerkungen zu Verwaltung, Funktionswandel und Alltag............................. 279 Daniel Görres/Thomas K linke Martin Luther als „Junker Jörg“. Zur Entstehung und den Auflagen eines Holzschnitts Lucas Cranachs des Älteren....................................................297 Abendvorträge Johannes Schilling Die Geburt der Biblia Deudsch aus dem Geist des Evangeliums......................... 321

Inhalt

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Elke A nna Werner Cranach, Luther und die Bibel. Zu einer Beziehungsgeschichte in interdisziplinärer Perspektive...................... 341

Abkürzungsverzeichnis............................................................................................. 361 Abbildungsnachweis..................................................................................................363 Ortsregister..................................................................................................................365 Personenregister.......................................................................................................... 369 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren.............................................................. 377

Vorwort

Martin Luthers Aufenthalt auf der Wartburg vom 4. Mai 1521 bis zur ersten Märzwoche des Jahres 1522 gilt als ein Ereignis von geradezu welthistorischer Dimension. Es ist eingebettet in sein Auftreten vor „Kaiser und Reich“ in Worms im April 1521 einerseits und der sich rasant ausbreitenden „Reformation von unten“ im ernestinischen Kurfürstentum Sachsen und den benachbarten Regionen andererseits – vorrangig jedoch in Thüringen. Auf der Wartburg übertrug Luther das Neue Testament ins Deutsche. Anlässlich der 500. Wiederkehr dieses Ereignisses veranstalteten die Historische Kommission für Thüringen, die Stadt Eisenach, die Wartburg-Stiftung und der Städteverbund „Wege zu Cranach“ vom 21. bis 23. Oktober 2021 eine fächerübergreifende Tagung in Eisenach, deren Ergebnisse hier dokumentiert werden. Der vorliegende Band widmet sich den komplexen Konstellationen und Begleitumständen der Bibelübersetzung sowie ihrer sprachgeschichtlichen Dimension, wirft aber auch Fragen der kurz- und längerfristigen Rezeption auf. Neue Forschungsergebnisse und weiterführende Diskussionspunkte betreffen zudem Verdolmetschungen und kritische Editionen der Bibel vor 1517 und den Arbeitsprozess vom „Septembertestament“ (1522) zur Vollbibel (1534), in den weitere Theologen des Wittenberger Kreises einbezogen waren. Im Mittelpunkt jedoch stehen neue Erkenntnisse zur Übersetzung selbst, zu Luthers Leben und Wirken auf der Wartburg sowie zum Druck und zur bildlichen Ausstattung der Bibel. Dabei rückt auch Luthers umfangreiches Netzwerk in den Fokus, zu dem nicht zuletzt Lucas Cranach d. Ä. gehörte. Cranach steuerte Porträts und Illustrationen bei und machte Luthers Bibelübersetzung damit auch zu einem künstlerischen Ereignis. Durch das Zusammentreffen von Allgemein-, Kirchen- und Kunsthistorikern, Theologen und Sprachwissenschaftlern, Archivaren und Museumswissenschaftlern kam es auf der Tagung zu einem überaus produktiven Austausch, der auch die hier vorgelegten Schriftfassungen der Beiträge befruchtet hat. Dabei profitierte die Konferenz zugleich von den wissenschaftlichen Aktivitäten der Reformationsdekade, während der an der Friedrich-Schiller-Universität Jena in enger Kooperation zwischen der „Historischen Kommission für Thüringen“ und der Professur für Thüringische Landesgeschichte ein überaus erfolg- und ergebnisreiches Drittmittelprojekt zur Reformation in Thüringen tätig war. Die dabei etablierte Schriftenreihe „Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation“ bietet auch für diesen Tagungsband den publizistischen Rahmen.

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Vorwort

Die Herausgeber danken all jenen sehr herzlich, die zum Gelingen der Konferenz und des Tagungsbandes beigetragen haben. Für die Initiative zur Tagung sowie ihre organisatorische Vorbereitung und Begleitung gilt dieser Dank zuvörderst dem Team der Eisenacher Stadtverwaltung mit Herrn Dr. Reinhold Brunner und Frau Sophia Spangenberg an der Spitze. In gleicher Weise ist der Wartburg-Stiftung Eisenach herzlich zu danken, namentlich Frau Dr. Grit Jacobs und Herrn Andreas Volkert. Gedankt sei aber vor allem den Referentinnen und Referenten, die sich auf das Thema eingelassen und ihre Beiträge für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben. Den öffentlichen Abendvortrag an historischem Ort, dem Festsaal der Wartburg, hielt Herr Kollege Prof. Dr. Dr. h. c. Johannes Schilling (Kiel) über „Die Geburt der Biblia Deudsch aus dem Geist des Evangeliums“. Auch dieser Text hat Eingang in den Tagungsband gefunden, wofür dem Referenten herzlicher Dank gebührt. Für die finanzielle Unterstützung der Konferenz und der Drucklegung ihres wissenschaftlichen Ertrags ist – wie so oft – der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und der Thüringer Staatskanzlei Erfurt sowie der Stadt Eisenach zu danken. Der Dank der Veranstalter geht an Frau Oberbürgermeisterin Katja Wolf, an den Geschäftsführer der Sparkassen-Kulturstiftung, Herrn Matthias Haupt, sowie an Frau Burghauptmann Dr. Franziska Nentwig für ihre Grußworte. Für die umsichtige Koordinierung von Tagung und Publikation sorgte der Geschäftsführer der „Historischen Kommission für Thüringen“, Herr Dr. Philipp Walter, der auch für Korrektur- und Satzarbeiten zuständig war und die Registerarbeiten beaufsichtigte. Auch an ihn geht ein Dankeschön, ebenso wie an den Böhlau Verlag im Verlagshaus Brill Deutschland GmbH und hier insbesondere an Herrn Daniel Sander (Göttingen) für die professionelle Betreuung der Drucklegung. Und gedankt sei schließlich auch den Herren Jonathan Dreßler, Jonas Kuttig und Robert Proske für die Erstellung der Register.

Jena und Mainz, im Herbst 2022

Prof. Dr. Werner Greiling Prof. Dr. Uwe Schirmer Prof. Dr. Elke Anna Werner

Stephan Flemmig

Bibelwissenschaften in Spanien

1. Einführung Im Jahre 1492, das von den Heeren der Katholischen Könige belagerte Granada fiel, Kolumbus landete auf Guanahani, den Bahamas, an, suchte Königin Isabella I. von Kastilien einen neuen Beichtvater und geistlichen Berater. Ihre Wahl fiel auf Francisco Jiménez (Ximénez) de Cisneros. Geboren 1436, war Cisneros nach einer Karriere als Weltpriester mit fast fünfzig Jahren dem Franziskanerorden beigetreten. Wenige Jahre später, 1495, wurde Cisneros Erzbischof von Toledo; 1507 erhielt er das Amt eines Großinquisitors und die Kardinalswürde. In die politischen Geschehnisse der iberischen Halbinsel war Cisneros als loyaler Diener der Katholischen Könige auf das Intensivste eingebunden. Die Herrschaftszeit von Isabella und Ferdinand – 1475 bis 1516 – war geprägt von tiefgreifenden Wandlungen und Unsicherheiten. Isabella verstarb 1504; in Kastilien übernahm Philipp der Schöne, der Ehemann Johannas der Wahnsinnigen, trotz konkurrierender Ansprüche Ferdinands die Macht. Nach dem Tode Philipps im Herbst 1506 wirkte Cisneros ein knappes Jahr als Regent, bis Ferdinand an die Spitze Kastiliens zurückkehrte. Nach Ferdinands Tod im Januar 1516 übernahm Cisneros, da Karl V. das 20. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, abermals die Regentschaft Kastiliens. In diesem Amt verstarb er im November 1517.1

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Einen guten historischen Überblick zur spanischen Geschichte der Epoche bietet Miguel Ángel Ladero Quesada, Castilla en el tiempo de la Políglota. 1505–1517, in: La Biblia Políglota Complutense en su contexto, coord. de Antonio Alvar Ezquerra, Alcalá de Henares 2016, S. 37–47. Auf Cisneros bezogen weiterhin Jaime Contreras Contreras, La Monarquía de los Reyes Católicos: goticismo político y providencialismo religioso, in: La Biblia Políglota Complutense en su contexto, coord. de Antonio Alvar Ezquerra, Alcalá de Henares 2016, S. 17–26, hier S. 19. Vgl. zu Cisneros weiterhin die monographische Arbeit von Rummel: Erika Rummel, Jiménez de Cisneros: On the Threshold of Spain’s Golden Age (Medieval and Renaissance Texts and Studies 212), Tempe 1999, hier bes. S. 1–107. Auf Deutsch die veraltete Monographie von Johannes B. Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (1436–1517), Erzbischof von Toledo, Spaniens katholischer Reformator (Lebensbilder aus dem Orden des hl. Franziskus 1), Münster 1917.

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Stephan Flemmig

Abb. 1: Die Titelseite des ersten Bandes der Polyglotte

Bibelwissenschaften in Spanien

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Als Franziskaner der strengen Observanz war Cisneros kein Humanist, viel eher ein entschiedener religiöser Reformer.2 Trotzdem bleiben zwei humanistische Werke dauerhaft mit seinem Namen verbunden: die Gründung der Universität von Alcalá de Henares sowie die Complutensische Polyglotte. Die Universität von Alcalá – auf dem Gebiet der heutigen Metropole Madrid gelegen – nahm 1509 ihren regulären Betrieb auf – und dies von Anfang an auf höchstem Niveau. Große Bedeutung hatten die Studien der biblischen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch – denen der Universitätsgründer persönlich höchste Bedeutung zumaß. In diesem Umfeld entstand der Plan einer mehrsprachigen Bibel, deren Spiritus Rector Cisneros war. Beteiligt an dem Vorhaben waren etwa ein Dutzend Gelehrte und Kenner der heiligen Sprachen – Angehörige alter christlicher Familien und Conversos, gebürtige Spanier und Personen aus anderen Regionen Europas. Das zwischen 1514 und 1517 gedruckte Werk trug den Titel Complutensische, bzw. Complutenser Polyglotte – nach Complutum, dem antiken Namen von Alcalá. Die Polyglotte wurde in sechs Bänden publiziert – und gilt als „Monument der Buchdruckerkunst“. In den ersten vier Bänden sind die Bücher des Alten Testaments enthalten (vgl. Abb. 2 u. 3). Auf jeder Seite finden sich in drei Kolumnen der griechische Text der Septuaginta mit einer lateinischen Interlinearübersetzung, der lateinische Text des Hieronymus (die Vulgata), sowie der hebräische Text. Für die Bücher des Pentateuch findet sich überdies am Fuß einer jeden Seite die Übertragung ins Aramäische (der Targum Onkelos) mit einer korrespondierenden lateinischen Übersetzung. Das Neue Testament, publiziert im fünften Band des Gesamtwerkes, stellt die griechische der lateinischen Fassung des heiligen Textes gegenüber (vgl. Abb. 4). Philologen betonen die Reinheit des griechischen Textes, die jene des Erasmus übertrifft. Überdies findet sich im fünften Band, der nicht mehr als 50 Druckfehler aufweist, ein altgriechisch-­ lateinisches Wörterbuch. Im sechsten Band wurden ein hebräisches, ein hebräisch-­aramäisches Wörterbuch, eine hebräische Grammatik sowie weitere philologische Hilfsmittel abgedruckt. Diese ergänzen umfangreiche Lesehilfen in den ersten fünf Büchern der Polyglotte. Aus buchdruckerischer und theologisch-­philologischer Sicht war die Polyglotte also ein beachtlicher Erfolg. In verlegerischer Hinsicht galt das weniger. Finanziert hatte das Projekt Cisneros mit seinem Privatvermögen. Möglich war dies, weil, wie es hieß, der Kardinal reich wie ein Fürst sei, aber arm wie ein Bettelmönch lebe. Aus verschiedenen Gründen verzögerte sich die Veröffentlichung. Erst 1522 kam die Polyglotte in einer Auflage von 600 Stück in den Handel. Zu allem Unglück gingen etwa 2

Contreras Contreras, La Monarquía de los Reyes Católicos (wie Anm. 1), S. 20 f. – Herrn Pedro de Arce Trujillo danke ich für die freundliche Bestätigung, die von der Spanischen Nationalbibliothek zur Verfügung gestellten Digitalisate der Complutensischen Polyglotte im Druck wiedergeben zu dürfen.

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Stephan Flemmig

Abb. 2: Das erste Buch Mose im ersten Band der Polyglotte

Bibelwissenschaften in Spanien

Abb. 3: Das erste Buch Samuel im zweiten Band der Polyglotte

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Stephan Flemmig

zwei Drittel dieser Auflage auf dem Weg nach Italien bei einem Schiffbruch verloren.3 In der deutschsprachigen Forschung ist die Polyglotte durchaus bekannt, fand allerdings als Meilenstein der Bibelwissenschaft nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit. Das Ziel des vorliegenden Beitrages ist deshalb, die Ergebnisse der aktuellen spanischen Forschung zur Polyglotte zusammenzufassen. Dabei stehen drei Aspekte im Mittelpunkt: der historische und der kulturelle Kontext, die Beschäftigung mit der Complutensischen Polyglotte selbst und die Verbreitung und der Einfluss des Werkes über die iberische Halbinsel hinaus.4

2. Der historische und kulturelle Kontext In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts galt das fremdartige Spanien vielen als Peripherie Europas. Das von Heinrich IV. beherrschte Kastilien (1454– 1474), Aragonien unter Johann II. (1458–1479) und die Personalunion beider Reiche unter Isabella und Ferdinand waren besonders für fremde Reisende verdächtig. In der spanischen Gesellschaft waren Mudejaren (Muslime), Juden und Conversos anzutreffen. Die „Ungläubigen“ waren nicht nur allgegenwärtig, sie wurden von vielen christlichen Grundherren, die selbst im orientalischen Stil lebten, auch noch geschützt. Zudem hielten die Mauren das südlich gelegene Königreich Granada besetzt. Als Isabella und Ferdinand 1475 die Regierung übernahmen, war der Jubel der Zeitgenossen – auf der iberischen Halbinsel und außerhalb davon – deshalb groß. Begrüßt wurde nicht nur die Geburt des 3 Alain Milhau, Die Iberische Halbinsel, in: Marc Venard (Hg.), Von der Reform zur Reformation (1450–1530), deutsche Ausgabe bearb. und hg. von Heribert Schmolinsky (Die Geschichte des Christentums: Religion-Politik-Kultur 7), Freiburg 1995, S. 383–414, hier S. 387 f.; André Godin, Humanismus und Christentum, in: Marc Venard (Hg.), Von der Reform zur Reformation (1450–1530), deutsche Ausgabe bearb. und hg. von Heribert Schmolinsky (Die Geschichte des Christentums: Religion-Politik-Kultur 7), Freiburg 1995, S. 612–672, hier S. 630 f. – Heinz Schilling, 1517 – der Mönch und das Rhinozeros, in: Petr Hrachovec/Gerd Schwerhoff/Winfried Müller/Martina Schattkowsky (Hg.), Reformation als Kommunikationsprozess. Die böhmischen Kronländer und Sachsen (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 51), Köln 2021, S. 21–33, hier S. 25; Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 28, 30; Antonio Piñero, La columna del nuevo testamento en la Biblia Políglota Complutense, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 284–292, hier S. 291. 4 Grundlage werden die Beiträge in den zwei aktuellen Sammelbänden zur Complutensischen Polyglotte sein: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1) sowie: Una Biblia a varias voces. Estudio textual de la Biblia Políglota Complutense, ed. de Ignacio Carbajosa y Andrés García Serrano (Studia Biblica Matritensia 2), Madrid 2014.

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Abb. 4: Das Evangelium nach Matthäus im fünften Band der Polyglotte

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Stephan Flemmig

frühmodernen Spanien. Bejubelt wurde auch eine für Spanien eigentümliche Entwicklung, die nun einen neuen Schub erlangte – nämlich die Tendenz des Staates hin zu einer ideologischen Einheit. Konkret bedeutete dies die Einrichtung der Inquisition und die Verfolgung der Juden, die nur oberflächlich zum Christentum konvertiert waren, immer noch jüdischen Bräuchen anhingen (conversos judaizantes) und entehrend als „Marranos“ bezeichnet wurden. Unter diesen Verdacht gerieten weite Teile der so genannten „Neuen Christen“ (cristianos nuevos), der Konvertiten vor allem aus dem Judentum. Von ihnen suchten sich die „Alten Christen“ (cristianos viejos) abzugrenzen, die ihre christlichen Vorfahren hervorhoben sowie die Tatsache, dass diese sich seit undenklichen Zeiten nicht mit jüdischen, maurischen oder konvertierten Familien verschwägert hätten.5 Für die 70er Jahre des 15. Jahrhunderts lässt sich die Zahl der Juden in Spanien mit aller Vorsicht auf 300.000 schätzen. In den folgenden drei Jahrzehnten verließen wohl zwei Drittel von ihnen das Land, eine große Zahl konvertierte. Die Zahl der Conversos in Spanien abzuschätzen, ist unmöglich, da der Begriff keine fest umrissene Wirklichkeit bezeichnete. Als Converso wurde sowohl der Konvertit bezeichnet, der noch jüdische Bräuche pflegte, als auch die Person, die unter ihren entferntesten Vorfahren einen Juden hatte. Ein Converso war also, wer als solcher angesehen wurde. Auch sozial war die Gruppe der Conversos nicht homogen. Sie reichte vom höchsten Adel über das städtische Bürgertum bis hin zum einfachen Handwerker. Entsprechend divers waren auch die Beziehungen der Conversos zum Judentum und ihre Einstellung zur Inquisition.6 Die in der Bevölkerung weitverbreitete Ablehnung der Juden sowie auch der Hass auf diese hatten sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts auf die Conversos verlagert. Viele dieser „Neuen Christen“ hatten außergewöhnliche Karrieren durchlaufen, besetzten wichtige Ämter. Zunehmend waren sie mit einflussreichen Adels- und Bürgerfamilien verbunden. Entsprechend wurden diejenigen der Conversos, die mehr oder weniger offen jüdische Bräuche befolgten, mit zunehmendem Argwohn betrachtet. 1449 kam es in Toledo zu einem Volksaufstand gegen konvertierte Steuereinnehmer. Im Kontext dieser Ereignisse wurde aus der bewaffneten Bevölkerung heraus ein Statut über die „Reinheit des Blutes“ (limpieza de sangre) erlassen, das jeden Judenchristen von öffentlichen Ämtern ausschloss. Papst Nikolaus V. exkommunizierte die Verfasser des Statuts, allerdings beugte sich der kastilische König dem Druck der Bevölkerung und ließ das Statut 1451 wieder zu. In den folgenden Jahrzehnten wiederholten sich Zusammenstöße zwischen „Alten“ und „Neuen Christen“. Abermals wurden 5 6

Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 384–387. Entsprechend häufig konnte der Vorwurf des Judaisierens als politische Waffe instrumentalisiert werden. Vgl. hierzu ausführlich Contreras Contreras, La Monarquía de los Reyes Católicos (wie Anm. 1), S. 17 f., 24 f. Zusammenfassend Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 390–392.

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Statuten zur „Reinheit des Blutes“ erlassen. Vor allem Conversos verfassten in diesen Jahren theologische Abhandlungen, in denen eine Theologie des mystischen Leibes ausgearbeitet wurde, eine Theologie über die Einheit des Menschengeschlechts in Schuld und Sünde. Mit Paulus wurde betont, dass es in der Taufe keine Juden und Heiden mehr gebe. Trotzdem übernahmen zunehmend auch christliche Bruderschaften und Ordensgemeinschaften die Statuten, wandten sie in der Regel aber nicht konsequent an. Von den hochadligen Erzbischöfen wurden die Statuten ganz überwiegend abgelehnt. Die Herrscher, auch die Katholischen Könige, verhielten sich bezüglich der Statuten unschlüssig, waren prinzipiell dagegen, ließen sie aber doch gelten und bestätigten sie teilweise. Die „Reinheit des Blutes“ war vor allem der Adel der Armen.7 Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón waren nach ihrem Herrschaftsantritt nicht bereit, private gegen die Conversos gerichtete Gewalttätigkeiten zu dulden. Um die Ordnung wiederherzustellen, waren sie bestrebt, eine gerechte und starke Institution zu schaffen, die zwischen „falschen“ und „überzeugten“ Conversos unterscheiden sollte. Die neue Institution der spanisch-königlichen Inquisition, 1478 von Papst Sixtus IV. autorisiert, sollte somit die Gewalt des Staates an die Stelle der Gewalt des Pöbels und des Clans setzen. Obwohl die neue spanische wie die mittelalterlich-bischöfliche Inquisition alle Formen der Ketzerei bekämpfen sollte, richtete sie sich seit dem Beginn ihres Wirkens im Jahre 1480 fast ausschließlich gegen die Krypto-Juden. Auch wenn die Inquisition weder antijudaistisch noch antisemitisch war und ungetaufte Juden nicht der kirchlichen Rechtsprechung unterstanden, auch wenn die Inquisition nicht sadistisch handelte, so schuf sie doch eine grausame Gewaltherrschaft und Unterdrückung. Wesentlich hierfür waren der Umfang ihres Wirkens (Schätzungen gehen von 5.000 vollstreckten Todesurteilen aus), der feierliche Schau-Charakter der Audodafés, die Gewissenskontrollen sowie das Klima der Denunziation. Cisneros trug die Inquisition uneingeschränkt mit – trotz seines offenen Geistes und trotz seines Interesses an rabbinischer Auslegung zum Nutzen der Bibelexegese. In der Frage der Evangelisierungsmethoden setzte er auf Härte. Dabei schloss er sich der Auffassung seines Ordensbruders Duns Scotus an, der die Zwangstaufe gerechtfertigt hatte. Gegen die jüdische Bräuche praktizierenden Conversos ging Cisneros als Großinquisitor mit größerer Härte vor, wenn vielleicht auch nicht so streng wie sein Vorgänger Torquemada. Um 1510 war das Geflecht des Krypto-Judentums im Wesentlichen zerschlagen. Die in Spanien verbliebenen Juden wurden am 31. März 1492 aufgefordert, mit einer viermonatigen Frist ihren Besitz zu liquidieren und das Land zu verlassen. Damit wollten die Katholischen Könige die „Neuen Christen“ von jüdischen Einflüssen trennen. Zudem sollte die religiöse Einigung um die Katholischen 7

Contreras Contreras, La Monarquía de los Reyes Católicos (wie Anm. 1), S. 19, 24; Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 392–394.

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Stephan Flemmig

Könige, die drei Monate nach der Eroberung Granadas einen messianistischen Schub erhalten hatte, die ideologische Einigung des neuen spanischen Staates befördern. Zahlreiche Prophezeiungen über die Vernichtung des Islams und die Wiedereroberung der Heiligen Stätten durch Ferdinand den Katholischen oder durch Cisneros kursierten. Unzweifelhaft wurde dieser spanische Messianismus von der Monarchie inszeniert, hatte später Folgen für die Mentalität der Mission in der Neuen Welt. Cisneros ließ sich von der Kreuzzugsbegeisterung anstecken: 1509 finanzierte er einen Kreuzzug nach Nordafrika, an dem er mit über 70 Jahren aktiv als Feldherr teilnahm – und der zur Eroberung von Oran führte. In Spanien scheint der Messianismus indes nur zeitweise und lokal weitere Teile der Bevölkerung angesprochen zu haben.8 Viel gegenwärtiger für die Menschen war die Präsenz des Islam in Spanien selbst. Um 1480 stellten die Mauren etwa zehn Prozent der rund fünfeinhalb Millionen Einwohner aller spanischen Königreiche. Ihre regionale Verteilung war indes sehr verschieden. Die Mehrzahl der Christen schien mit dieser Situation zufrieden zu sein. Der König von Granada als Vasall des Königs von Kastilien erkaufte sich seine Unabhängigkeit mit einem enormen Tribut. Als er diesen verweigerte, kam es zu militärischen Spannungen, die indes von wirtschaftlichen und kulturellen Kontakten begleitet wurden. In den anderen spanischen Reichen praktizierten die Mudejaren, die Muslime, den Islam in völliger Freiheit, zahlten dafür Tribut. Ihre soziale Stellung war viel geringer als die der Juden; die Mudejaren waren mehrheitlich Bauern, denn die intellektuellen und religiösen muslimischen Eliten waren während der Reconquista im 13. Jahrhundert geflohen. Vor 1492 gab es keine ernsthaften Versuche, die Mudejaren zu christianisieren. Im Gegenteil, aragonesische oder valencianische Grundherren waren am Erhalt des Status quo interessiert, sahen in Bekehrungsversuchen eine unnötige Provokation und wollten sich den Tribut als Gegenleistung für die freie Religionsausübung erhalten. Nach der Eroberung Granadas Anfang 1492 wurden die bewilligten Freiheiten zunächst gegen Zahlung einer Abgabe auf die Stadt ausgeweitet. Nach und nach wurden die Freiheiten der Mauren allerdings zugunsten der Krone und kastilischer Siedler eingeschränkt. Cisneros begann 1499 mit einer Politik der Zwangsbekehrungen, die 1501 Aufstände in Granada provozierten. Der Vorwurf, dass Cisneros die Verbrennung mehrerer Tausend islamischer Texte befohlen habe, wurde von der neueren Forschung mit guten Gründen zurückgewiesen. Die Muslime Granadas, später auch Kastiliens, wurden schließlich per Dekret vor die Wahl gestellt, entweder zu konvertieren oder 8

Zum auswärtigen Kontext des spanischen Messianismus vgl. Ladero Quesada, Castilla en el tiempo de la Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 38, 41–44. Zu Cisneros siehe Contreras Contreras, La Monarquía de los Reyes Católicos (wie Anm. 1), S. 22–24. Zusammenfassend auf Deutsch Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 389 f., 395–397, 409.

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auszuwandern. Die Mehrheit entschied sich für die Konversion. Allerdings blieben die Morisken, wie sie nun genannt wurden, innerlich Muslime, weiterhin davon überzeugt, dass die Katholischen Könige ihre Vereinbarungen nicht eingehalten hatten. Ihre Überzeugungen verheimlichten sie, um nach dem Rat des Korans ein unnötiges Martyrium zu vermeiden. Cisneros verlieh hingegen seiner Freude über zehntausende (Zwangs-)Taufen und die Umwandlung von Kirchen in Moscheen deutlichen Ausdruck.9 Die Macht der Krone war in Kastilien unter Johann II. und Heinrich IV. sowie in Aragonien unter Johann II. stark geschwächt. An den Auseinandersetzungen verschiedener Parteien war auch die Kirche beteiligt, die sich auch deshalb gegen Begehrlichkeiten der päpstlichen Kurie nicht hatte durchsetzen können. Isabella und Ferdinand begannen hingegen systematisch mit einer autoritären Ordnungspolitik, die auch auf die Kirche zielte. Im Ergebnis entstand eine enge Symbiose zwischen Staat, Gesellschaft und Kirche. Die Katholischen Könige erlangten weitreichende Patronatsrechte; konnten dem päpstlichen Nepotismus und den ehrgeizigen Bestrebungen der Kurie weitgehend erfolgreich Widerstand leisten.10 Über die Ritterorden, ein Erbe der Reconquista, die einen Staat im Staate bildeten und über riesige Ländereien, die Maestraz gos, verfügten, konnten die Katholischen Könige die weitgehende Kontrolle erlangen. Die hochadlige Dominanz im spanischen Episkopat wurde zugunsten des niederen Adels und des Mittelstandes gebrochen. In der Mehrzahl hatten die Bischöfe ein Universitätsstudium absolviert, auch das Ideal eines tugendhaften Seelenhirten fand zunehmende Akzeptanz. Allerdings unterliefen die Katholischen Könige die Residenzpflicht, die sie selbst einforderten, dadurch, dass sie zahlreiche Prälaten, in denen sie zuerst aktive Diener der autoritären Ordnung sahen, in ihre Ratskollegien beriefen. Im Verhältnis zur Kurie war schließlich 9

Detailliert zum Wirken des Cisneros in Granada Nicasio Salvador Miguel, Cisneros en Granada y la quema de libros islámicos, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 153–184, hier S. 153–167. Salvador Miguel widmet sich im Folgenden (S.  167–181) der bis heute kontrovers diskutierten Frage, ob Cisneros die Verbrennung von bis zu mehreren Tausend islamischen Schriften veranlasst habe – und verneint dies. Juan de Vallejo, ein enger Vertrauter des Kardinals, berichtet von der Verbrennung, doch sind Salvador Miguel zufolge seine später verschriftlichten Angaben zum Ereignis und dem Zeitpunkt desselben unklar bzw. falsch, so dass Cisneros nicht eindeutig eine Mitschuld zugesprochen werden kann. Zu Granada in den Jahren 1499–1501 insgesamt Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 390, 398–400. Weiterhin, vorsichtig und ausgewogen argumentierend Rummel, Jiménez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 32–35 sowie veraltet – u. a. die Taufe von 3.000 Muslimen an nur einem Tag sowie die Verbrennung von 5.000 Handschriften erwähnend – Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 35 f. 10 Ausführlich zur Benefizialpolitik der Krone Alfredo Alvar Ezquerra, Reforma eclesial cisneriana in caput et membris: conflictos, adhesiones y resistencias, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 27–36, hier S. 31 f.

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Stephan Flemmig

das königliche Steuerwesen von zentraler Bedeutung. Allein die kastilische Kirche hatte um 1492 geschätzte Einkünfte von eineinhalb Millionen Dukaten, während sich die Einnahmen der Krone wohl auf höchstens eine Million Dukaten beliefen. Unter Verweis auf ihren Kampf gegen Ungläubige und Ketzer erlangten die Katholischen Könige das Zugeständnis, zwei Neuntel des Kirchenzehnten, die tercias reales, einbehalten zu dürfen. Für das Königreich Granada und die Neue Welt erhielten Isabella und Ferdinand den gesamten Zehnt. Hinzu kam der subsidio, eine vom Klerus erhobene Steuer, die den Kampf gegen die Ungläubigen finanzieren sollte. Schließlich erhielten die Katholischen Könige nach harten Auseinandersetzungen auch den Gesamterlös aus der cruzada, einer Kreuzzugsbulle, die zur Finanzierung des Kampfes gegen den Islam verkauft wurde und Laien sowie Klerikern einen vollkommenen Ablass gewährte. Trotz dieser finanziellen Zuwendungen an die Krone flossen weiterhin beträchtliche Summen nach Rom ab – bischöfliche Renten an römische Kardinäle, Zahlungen für Ausfertigungsrechte der Bullen, der Petersablass etc. Diese Zahlungen wurden von Klerus und Laien zunehmend kritisiert.11 Im Bereich der klerikalen Reform konnten die Katholischen Könige und ihre Mitstreiter – an wesentlicher Stelle Cisneros – unbestritten Wesentliches erreichen. An erster Stelle ist hier die Durchsetzung der strengen franziskanischen Observanz zu nennen. Weniger gut untersucht sind die parallel verlaufenden Reformen des Dominikanerordens hin zu einer strengeren Observanz sowie die unterschiedlich erfolgreichen Bemühungen um eine Reform weiterer männlicher und weiblicher Ordensgemeinschaften. Der Versuch, mit Synoden, Strafandrohungen und einer rigiden königlichen Gesetzgebung auch den Weltklerus zu reformieren, war mäßig erfolgreich. Die katechetischen Kenntnisse der Bevölkerung konnten insgesamt wohl verbessert werden; über den Klerus hinaus entstand ein Publikum für die Lektüre geistlicher Schriften. Cisneros selbst war geprägt vom Geist der strengsten franziskanischen Observanz. Als Seelsorger förderte er die Übersetzung von Andachtsbüchern – etwa das „Leben Jesu“ Ludolphs des Kartäusers, die Betrachtungen eines Johannes Climacus, einer Angela von Foligno oder Katharina von Siena. Der Großinquisitor bewies eine große Toleranz mystischen, auch zum Spiritualismus neigenden Frömmigkeitsformen gegenüber. Diese Strömungen waren bei den vom Joachimismus beeinflussten Franziskanern, bei den von Savonarola beeindruckten Dominikanern, bei den Beatas – Franziskaner­ innen und Dominikanerinnen der mendikantischen Drittorden, die im Ruf der Heiligkeit standen – und bei weiteren Laien wirksam.12

11 Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 401–404, 407–409. 12 Alvar Ezquerra, Reforma eclesial cisneriana (wie Anm. 10), S. 29–31; Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 387 f., 404–406; Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 24–26, 31–35.

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Kurzum: Als Isabella und Ferdinand 1475 ihre Herrschaft angetreten hatten, waren die Zweifel der spanischen und nichtspanischen christlichen Beobachter an der Rechtgläubigkeit Spaniens groß. Die Zweifler übersahen allerdings, dass in Spanien schon lange ein Prozess im Gang war, der darauf abzielte, die islamisch-orientalischen und jüdischen Einflüsse zurückzudrängen und sich der Kultur der lateinischen Christenheit anzugleichen. Dieser Prozess fand in der Regierungszeit der Katholischen Könige – unter wesentlicher Beteiligung des Cisneros – seinen Höhepunkt und Abschluss. Die ältere Auffassung spanischer Historiker, die Katholischen Könige hätten ihre Kirche nachhaltig reformiert und dieselbe gleichsam gegen die Reformation „immunisiert“, wurde aufgegeben. Dass die Reformation eine Reaktion auf die Reformbedürftigkeit der römischen Kirche gewesen sei, ist nicht nur für das spanische Beispiel widerlegt worden. Überdies waren in den Reichen der Katholischen Kirche zahlreiche Veränderungen weniger radikal als lange angenommen. Die Erfolge der Schriften eines Erasmus in Spanien nach 1516, das Interesse an den lutherischen Ideen nach 1520, die zeitgleiche Ausbreitung der alumbrados in Kastilien oder die geistigen Unruhen an der Universität Alcalá zeigen, dass viele Spanier den Weg der Reformen weitergehen wollten – wenn auch ohne den Bruch mit Rom.13

3. Das Umfeld und die Anfänge der Complutensischen Polyglotte Wie bereits angedeutet, ist die Geschichte der Polyglotte eng mit der Universitätsgründung in Alcalá verbunden. In dieser Stadt, die dem Erzbischof von Toledo unterstand, hatte König Sancho IV. 1293 ein Studium Generale eingerichtet, das indes keine größere Bedeutung erlangen sollte. Erzbischof Alfonso Carillo de Acuña gründete in Alcalá 1453 ein Franziskanerobservantenkloster – Santa María de Jesús – und erwirkte für dieses von Papst Pius II. 1459 die Erlaubnis zur Einrichtung von drei Lehrstühlen für die Freien Künste und Theologie. Allerdings konnten diese drei Lehrstühle erst 1473 ihre Tätigkeit aufnehmen. Einen weiteren, nun entscheidenden Schub erlangten die Bemühungen um eine Universität in Alcalá dann unter Francisco Jiménez de Cisneros, seit 1495 Erzbischof von Toledo. Als Anhänger eines Ramon Lull und eines Savonarola wusste Cisneros um die Bedeutung einer Universität für die religiöse Reform sowie für Kirche und Krone. Dabei an die Traditionen in Alcalá anzuknüpfen, anstatt sich um eine Gründung in Toledo zu bemühen, war naheliegend. Toledo war eine selbstbewusste Stadt, die den Erzbischöfen bereits vor Cisneros mehrfach Widerstand geleistet hatte. Auf Bitten des Erzbischofs gestat13 Contreras Contreras, La Monarquía de los Reyes Católicos (wie Anm. 1), S. 24; Milhau, Die Iberische Halbinsel (wie Anm. 3), S. 384 f., 406 f.

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tete Papst Alexander VI. im April 1499 die Errichtung des Kollegs San Ildefonso in Alcalá und verlieh diesem das Recht, akademische Grade zu verleihen. Ebendieses Kolleg, dass an die Tradition des 1293 gegründeten Studium Generale sowie an die 1459 päpstlich bestätigten Lehrstühle anknüpfte, wurde die Keimzelle der Universität. Die Einweihung des Kollegs sollte allerdings erst 1508 erfolgen; zwei Jahre darauf wurden Universitätsstatuten publiziert. Von den Katholischen Königen wurde das Kolleg 1512 dann zur Universität erklärt und als solche von Papst Julius II. bestätigt.14 Am Kolleg San Ildefonso wurden, wie einleitend angedeutet, die drei biblischen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch gelehrt. Auch wenn das berühmte Collegium Trilingue erst nach Cisneros Tod, 1528, errichtet wurde, waren somit die Grundlagen für das Projekt der Polyglotte gegeben.15 Wie schon betont, ging die Idee zur Polyglotte unzweifelhaft von Cisneros aus. Der Erzbischof versammelte in seinem Palast in einer „biblischen Akademie“ einen Gelehrtenkreis, der das Projekt im Folgenden wesentlich tragen sollte. Den Plan einer mehrsprachigen Bibeledition hatte Cisneros seinem Notar und späteren Biographen Juan de Vallejo zufolge bereits 1502. Der Erzbischof wollte im Rahmen seiner Reformbemühungen eine mehrsprachige Bibelausgabe schaffen, die die Unwissenheit (la ignorancia) über die Heilige Schrift zunächst beim Klerus, über diese auch bei den Laien überwinden und deren Kenntnisse über die Texte vertiefen sollte.16 Wohl um 1508 begannen die Vorarbeiten zur Polyglotte, die von Anfang an als Gemeinschaftswerk geplant war. Beteiligt waren als Hebräischspezialisten die drei Conversos Alfonso de Zamora sowie die beiden Magister Pablo Coronel und Alfonso de Alcalá. Hinzu kamen die Gräzisten und Latinisten Demetrio Ducas aus Kreta; Hernán Núñez (de Guzmán), genannt „el Pinciano“ oder Comendador aus dem Ritterorden des Hl. Jakob vom Schwert 14 Antonio Ezquerra Alvar, La Universidad de Alcalá a principios del siglo XVI, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 64–73, hier S. 64–67. Ebd., S. 68–72 zu den Statuten der Universität. – Stärker auf die Universitätsgeschichte im Kontext der Stadtgeschichte bezogen M.a Dolores Cabañas González, La ciudad del saber, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 48–63, hier bes. S. 51–57. Zum Einfluss von Lull und Savonarola auf das Reformdenken des Cisneros kurz auch Natalio Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 231–238, hier S. 232. Zur Universität und den Bemühungen des Cisneros ausführlich Antonio Marchamalo Sánchez, La Magistral de Alcalá en la Universidad Cisneriana, 1499–1831, Alcalá de Henares 2017, S. 25–153, hier bes. S. 81–84 zur cisne­ rianischen Gründung. 15 Rummel, Jiménez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 53–57; Jerry H. Bentley, Humanists and Holy Writ, New Testament Scholarship in the Renaissance, Princeton 1983, S. 71. 16 Bentley, Humanists and Holy Writ (wie Anm. 15), S. 71–74; Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 232, 235; Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 284; Marchamalo Sánchez, La Magistral de Alcalá (wie Anm. 14), S. 185.

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(Orden Militar de Santiago de la Espada); Diego López de Zúñiga; Bartolomé de Castro, Juan de Vergara und, zumindest zeitweise, Antonio de Nebrija.17 Cisneros hatte auch Erasmus von Rotterdam eingeladen, sich an dem Projekt zu beteiligen – doch dieser lehnte ab: Non placet Hispania. Die einzelnen an der Polyglotte Mitwirkenden hatten, ihren Sprachkenntnissen entsprechend, je eigene Aufgaben innerhalb des Gesamtprojektes.18 Gleichzeitig wurde der Entstehungsprozess der Edition ständig gemeinsam besprochen, strittige Auslegungen wurden diskutiert, auf die Anwendung der modernsten zeitgenössischen philologischen Kenntnisse und Methoden wurde größter Wert gelegt.19 Nur verwiesen sei außerdem auf die Tatsache, dass die Bearbeiter der Polyglotte auf eine lange bibelkundliche Tradition auf der iberischen Halbinsel zurückgreifen konnten.20 Dank der Zusammenarbeit der genannten Personen und dank ihrer Verwurzelung in der spanischen wissenschaftlichen Tradition sollte die Polyglotte in sich 17 Ausführlich zu den genannten Personen, besonders auch zu den zeitweisen Streitigkeiten unter ihnen, die dazu führten, dass Nebrija spätestens 1515 seine Mitarbeit beendete: Teresa Jiménez Calvente, Quidnam heres stupidusque manes? La Biblia en manos de los grammatici: Antonio de Nebrija y otros eruditos complutenses, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 239–260, hier bes. S. 239–246 sowie Bentley, Humanists and Holy Writ (wie Anm. 15), S. 74–91. Zu den am Projekt beteiligten Personen und weiteren am Kolleg San Ildefonso wirkenden Professoren, deren Mitwirkung an der Polyglotte indes unsicher bleibt, weiterhin auch Marchamalo Sánchez, La Magistral de Alcalá (wie Anm. 14), S. 185; Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 285; María Victoria Spottorno, El texto griego del Nuevo Testamento en la Políglota Complutense, in: Una Biblia a varias voces. Estudio textual de la Biblia Políglota Complutense, ed. de Ignacio Carbajosa y Andrés García Serrano (Studia Biblica Matritensia, 2), Madrid 2014, S. 189–204, hier S. 189 f. 18 Die spanische Forschung konnte herausarbeiten, dass insbesondere Alfonso de Zamora, Pablo Coronel und Alfonso de Alcalá am hebräischen Text arbeiteten: Ignacio Carbajosa, El texto hebreo en la Políglota Complutense, in: Una Biblia a varias voces (wie Anm. 17), S. 93–121, hier S. 97–101. Am aramäischen Text arbeitete wesentlich Alfonso de Zamora, der auch die Übersetzung ins Lateinische verantwortete: Luis Díez Merino, El texto arameo en la Políglota Complutense, in: Una Biblia a varias voces (wie Anm. 17), S. 143–188, hier S. 147–150. Zur Mitwirkung des Nebrija vgl. Luis Vegas Montaner, Las versiones latinas en la Políglota Complutense, in: Una Biblia a varias voces (wie Anm. 17), S. 205–232, hier S. 212–216. 19 Jiménez Calvente, Quidnam heres stupidusque manes? (wie Anm. 17), S. 246–249; Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 233; Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 285 f., 290 f.; Santiago Aguadé Nieto, La Biblia Políglota, los intelectuales y el poder, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 116–152, hier S. 149; Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 40. 20 Vgl. hierzu im Überblick Gemma Avenoza Vera, Los estudios bíblicos en la Península en romance antes de la Biblia Políglota Complutense: otra aproximación a la exégesis, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 77–86.

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die ästhetischen Ideale der Renaissance sowie der mittelalterlichen Gotik vereinen. In ihr verbanden sich die Traditionen einer jüdisch-rabbinischen Exegese der heiligen Texte mit der auf dem hl. Hieronymus basierenden christlichen Bibelexegese, der scholastischen Theologie sowie dem modernen Renaissance­ humanismus.21 Deutlich wird dies zunächst an der Auswahl der dem Projekt zugrunde liegenden Texte sowie an der didaktischen Zielsetzung der Polyglotte.

4. Zur Textauswahl und didaktischen Zielsetzung der Polyglotte Eingeleitet wird die in insgesamt sechs Foliobänden herausgegebene Polyglotte durch einen von Cisneros verfassten, an Papst Leo X. adressierten Prolog. Darin stellt der Kardinal den Inhalt, den Aufbau und die Zielsetzung des Werkes vor. Besonders betonte er seinen persönlichen Anspruch, die ältesten biblischen Handschriften in den verschiedenen Sprachen zu erhalten, damit das Werk den Reichtum der originalen Texte reflektiere – frei von Fehlern der Kopisten. Der Kardinal selbst habe sich, so schreibt er in seinem Prolog weiter, um ebendiese Handschriften bemüht. Aus der Vatikanischen Bibliothek sowie aus Venedig seien griechische Codizes entliehen worden. Andere Handschriften seien teuer erworben worden, damit den Bearbeitern der Polyglotte die ältesten Texte vorliegen.22 Dem somit im Prolog formulierten ambitionierten Anspruch, auf die zu jener Zeit ältesten bekannten Texte zurückzugreifen, wurde weitgehend entsprochen. Für den abgedruckten hebräischen Text wurde gezeigt,23 dass dieser auf zwei in der Historischen Bibliothek der Complutense überlieferten Handschriften aus dem 13. Jahrhundert sowie aus dem 15. Jahrhundert basiert (UCM BH MSS 1 sowie MSS 2). Beide Handschriften sind eng verwandt mit dem um kurz nach dem Jahr 1000 entstandenen Codex Leningradensis, der ältesten datierten Handschrift der hebräischen Bibel. Dieser somit sehr alten hebräischen Textversion wurde bei den Arbeiten an der Polyglotte ein großer, fast schon skrupulöser Respekt entgegengebracht.24 21 Ausführlich hierzu Ignacio Carbajosa, La confluencia de las exégesis judía y cristiana en la Biblia Políglota Complutense, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 105– 115. Kurz auch Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 287 f. sowie Aguadé Nieto, La Biblia Políglota, los intelectuales y el poder (wie Anm. 19), S. 127. 22 Bentley, Humanists and Holy Writ (wie Anm. 15), S. 91; Ignacio Carbajosa, A los 500 años de la Biblia Políglota Complutense. Enseñanzas de un gran proyecto editorial, in: Una Biblia a varias voces (wie Anm. 17), S. 15–42, hier S. 21. 23 Ausführlich zum hebräischen Text der Polyglotte Ignacio Carbajosa, El texto hebreo en la Políglota Complutense, in: Una Biblia a varias voces (wie Anm. 17), S. 93–121. 24 Luis M. Girón Negrón, De la Biblia de Arragel a la Políglota Complutense, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 87–104, hier S. 87.

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Die Geschichte der aramäischen Kolumne – deren genaue Vorlagen unsicher zu bestimmen sind – ist ebenfalls bemerkenswert. In der Polyglotte enthalten ist lediglich der Targum Onkelos zum Pentateuch. Allerdings wurden auch für die weiteren Teile des Alten Testaments aramäische Kolumnen vorbereitet und als Depositum in der Complutense hinterlegt.25 In Bezug auf die griechischen Textvorlagen des Pentateuch, der Geschichtsbücher sowie der Weisheitsliteratur nimmt die Forschung an, dass zwei Handschriften aus dem Vatikan (Vat. gr. 330 und 346) sowie eine nicht näher identifizierbare, vom venezianischen Senat geschickte Handschrift die Grundlagen gebildet haben. Unbekannt bleibt, trotz verschiedener Theorien, welche Vorlagen für die Bücher der Propheten verwendet worden sind.26 Für die Edition des griechischen Textes des Neuen Testaments wurden von den Bearbeitern der Polyglotte Handschriften von höherer Qualität verwendet als die, welche Erasmus von Rotterdam für seine Edition heranzog. Die vom großen Humanisten konsultierten, auf das 12. und 13. Jahrhundert datierenden Texte byzantinischer Herkunft enthielten zahlreiche Fehler und Auslassungen, welche die Arbeit an der erasmianischen Editio princeps bedeutend erschwert hatten. Im Vergleich dazu konnte Cisneros – möglicherweise aus dem Vatikan – Kopien von Handschriften für sein Projekt erwerben, die den Text in einer besseren Qualität überlieferten. Auch daraus resultiert im Vergleich eine höhere Qualität der in der Polyglotte gebotenen Edition des griechischen Textes.27 Die Grundlage für den lateinischen Text der Vulgata bildeten zwei in der Historischen Bibliothek der Complutense überlieferte westgotische Bibeln aus dem 10. und 11. Jahrhundert (UCM BH MSS 31 sowie MSS 32). Ein wesentliches Motiv für die Erstellung der Polyglotte war, den Lesern, die des Lateinischen, vielleicht auch des Griechischen, nicht aber des Hebräischen oder Aramäischen kundig waren, die biblischen Texte in ebenjenen Sprachen zu erschließen. Somit hatte das Lateinische eine „Schlüsselfunktion“. Entsprechend konnten beispielsweise im Pentateuch die lateinischen wörtlichen Über25 Díez Merino, El texto arameo en la Políglota Complutense (wie Anm. 18), S. 144–146. Ebd., S. 148 f. zur Frage nach den Vorlagen. Weiterhin Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm. 22), S. 21 f.; Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 288. 26 Natalio Fernández Marcos, El texto griego del Nuevo Testamento en la Políglota Complutense, in: Una Biblia a varias voces (wie Anm. 17), S. 125–142, hier S. 126–129; Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm. 22), S. 23. 27 Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm. 22), S. 23; Spottorno, El texto griego en la Políglota Complutense (wie Anm. 17), S. 190 f., 196–200 zu den Bemühungen, die Herkunft der Textvorlagen für das Neue Testament zu identifizieren. Zu den Textvorlagen des Erasmus von Rotterdam vgl. Kurt Aland/Barbara Aland; Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 21989, S. 14.

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setzungen des griechischen und aramäischen Textes mit dem bekannten lateinischen Vulgata-Text verglichen werden. Dem hebräischen Text ist hingegen keine wörtliche Übertragung ins Lateinische beigegeben, da in der Vulgata die Übertragung des Alten Testaments durch den Hl. Hieronymus iuxtas Hebraeos gesehen wurde. Möglicherweise war diese Entscheidung, dem hebräischen Text keine wörtliche lateinische Übersetzung beizugeben, auch theologisch motiviert. Somit sollte vielleicht verhindert werden, dass die Vulgata an Autorität verliert – zugunsten von Texten, die nur dem Spezialisten zugänglich sind.28 Für André Godin ist die zentrale Stellung des Vulgata-Textes ein Beleg für den konservativen, ja konfessionellen Charakter der Polyglotte. Vom heiligen Hieronymus stammend repräsentiere er in der mittleren Kolumne abgedruckt, als „Fels“ die römische Kirche. Angesichts des skizzierten didaktischen Ansatzes der Polyglotte kann diese Auffassung indes relativiert werden.29 Dem Leser der Polyglotte wurden trotzdem Hilfsmittel an die Hand gegeben, um die Abhängigkeit des Vulgata-Textes von der hebräischen Fassung nachvollziehen zu können. Dem dienen kleine Buchstaben (von „a“ bis „z“) über einzelnen hebräischen und den entsprechenden lateinischen Wörtern.

Abb. 5: Das erste Buch Mose im ersten Band der Polyglotte (Ausschnitt oberes Drittel) 28 Zur pädagogisch-didaktischen Zielsetzung Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 286 f.; Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm.  22), S. 24.; Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 235. 29 Godin, Humanismus und Christentum (wie Anm. 3), S. 631.

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Somit wurden beide Texte synoptisch verbunden und Entsprechungen für die von Hieronymus verwendeten Ausdrücke kenntlich gemacht. Die genannten Buchstaben über einzelnen hebräischen Worten verweisen zudem auf Glossen, die jeweils am äußeren Rand einer Seite zu finden sind. In diesen werden die Wortstämme der hebräischen Vokabeln oder Namen angeführt. Das semantische Feld dieser Wortstämme wird dann im sechsten Band der Polyglotte weiter konkretisiert, in dem sich ein hebräisch-lateinisches sowie ein hebräisch-aramäisch-lateinisches Wörterbuch befinden (vgl. Abb. 6 u. 7). In ebenjenem Band ist zudem eine hebräische Grammatik enthalten, die in die Grundlagen dieser Sprache einführt (vgl. Abb. 8). Folglich wurde dem Leser zumindest prinzipiell die Möglichkeit gegeben, zu überprüfen, ob Hieronymus für seine lateinische Version die hebräischen Ausdrücke korrekt wiedergegeben hatte.30 Auch im Neuen Testament wurde der Vulgata eine hohe Autorität zugewiesen. Entsprechend verzichteten die Bearbeiter auf eine eigene lateinische Interlinearübersetzung des griechischen Textes. Den Bearbeitern der Polyglotte war natürlich bewusst, dass die Vulgata keine genaue Übersetzung des griechischen Textes war. Trotzdem hielten sie an der Übersetzung des Hieronymus fest. Die Differenzen versuchten sie mit der Korruption des griechischen Textes in der Überlieferung zu deuten.31 Dem Leser wurde aber auch hier die Gelegenheit geboten, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Im Anhang an den Druck des Neuen Testaments finden sich entsprechend ein Lexikon der neutestamentlichen Eigennamen (vgl. Abb. 9) sowie ein umfangreiches Wörterbuch des neutestamentlichen Griechischen (vgl. Abb. 10).32 Als weiteres didaktisches Instrument dienen schließlich Glossen, die auf Parallelstellen in der Heiligen Schrift verweisen. Im Druck des Alten Testaments finden sich diese Glossen am inneren Rand einer jeden Seite; im Neuen Testament jeweils rechts neben dem Vulgata-Text. Aus theologischer Sicht sind diese Verweise besonders von Interesse, da hier heute nicht mehr genannte Bezüge zwischen einzelnen Stellen der Hl. Schrift hergestellt wurden.33

30 Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm. 22), S. 25. 31 Bentley, Humanists and Holy Writ (wie Anm. 15), bes. S. 99–111. Zu den Gründen, im fünften Band ausschließlich den lateinischen Text der Vulgata zugrunde zu legen, weiterhin ausführlich Aguadé Nieto, La Biblia Políglota, los intelectuales y el poder (wie Anm. 19), S. 145 f.; Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm. 22), S. 23. 32 Spottorno, El texto griego en la Políglota Complutense (wie Anm. 17), S. 203 f.; Luis Gil, La columna griega de la Biblia Políglota Complutense, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 261–283, hier S. 264 f. 33 Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm. 22), S. 25.

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Abb. 6: Das hebräisch-lateinische Wörterbuch im sechsten Band der Polyglotte

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Abb. 7: Das hebräisch-aramäisch-lateinische Wörterbuch im sechsten Band der Polyglotte

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5. Der Druck der Polyglotte Das Interesse des Cisneros am Projekt der Polyglotte wird auch anhand der Bemühungen des Kardinals um die Drucklegung deutlich. Hierzu kontaktierte Cisneros den Drucker Arnao Guillén de Brocar, um diesen für das Projekt zu gewinnen. Der aus den französischen Pyrenäen stammende, in Toulouse wirkende Brocar war vermutlich explizit nach Spanien eingeladen worden, wirkte seit 1490 in Pamplona sowie Logroño. Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts entstanden in seiner Werkstatt hauptsächlich Drucke liturgischer Werke. Überdies gab Brocar Werke des spanischen Humanisten Antonio de Nebrija heraus. Ebendieser scheint dann auch den Kontakt mit Cisneros hergestellt zu haben. Der Kardinal lud Brocar ein, in Alcalá eine Werkstatt zu errichten, in der die Polyglotte zum Druck gebracht werden sollte. König Ferdinand verlieh dem nach Alcalá übergesiedelten Drucker 1511 mehrere Privilegien, die dessen Wirken absichern sollten. Wohl unmittelbar darauf begann die Werkstatt des Brocar mit ihrer Tätigkeit. Auf den 10. Januar 1514 datiert das Kolophon des fünften Bandes der Polyglotte, die das Neue Testament enthält. Auf den Druck des fünften folgte der Druck des sechsten Bandes mit dem Vocabularium hebraicum atque chaldaicum totius Veteris Testamenti, dessen Kolophon auf den 17. März 1515 datiert. Der Druck der ersten vier Bände mit dem Alten Testament erfolgte schließlich bis zum 10. Juli 1517.34 Die Typographie der Polyglotte fand in der – besonders spanischen – Forschung große Aufmerksamkeit.35 Auf die einzelnen Befunde kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; nur einige wenige ausgewählte Aspekte seien erwähnt. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Brocar als profunder Kenner des Materials und der verfügbaren Techniken wesentlichen Anteil an der Gestaltung der Polyglotte insgesamt und wesentlicher typographischer Elemente hatte. Bei der Gestaltung der Titelblätter zu den einzelnen Bänden griff Brocar auf Vorlagen seiner Werkstatt zurück und änderte diese nur geringfügig. Damit war eine gewisse Kontinuität zu weiteren von Brocar realisierten Drucken gegeben, die teilweise ebenfalls Auftragswerke des Cisneros waren.36 Auf die Gestaltung der einzelnen Textseiten wurde einleitend bereits verwiesen. Die den Pentateuch 34 Julián Martín Abad, Cisneros y Brocar. Una lectura tipobibliográfica de la Políglota Complutense, in: Una Biblia a varias voces (wie Anm. 17), S. 45–90, hier S. 49–51. Zusammenfassend Ders., La impresión y la puesta en venta de la Biblia Políglota Complutense, in: La Biblia Políglota (wie Anm. 1), S. 295–326, hier S. 295–297. Kißling geht fälschlicherweise von einer deutschen Herkunft des Druckers Brocar (gest. 1523) aus: Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 42. 35 Zusammenfassend und sehr anschaulich mit zahlreichen Abbildungen die Darstellung des wohl besten Kenners der Materie: Martín Abad, La impresión (wie Anm. 34), S. 301–325. 36 Martín Abad, Cisneros y Brocar (wie Anm. 34), S. 51–56.

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Abb. 8: Die Einführung in die hebräische Grammatik im sechsten Band der Polyglotte

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Abb. 9: Das Lexikon der neutestamentlichen Eigennamen

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Abb. 10: Das griechisch-lateinische Wörterbuch im fünften Band der Polyglotte

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enthaltenden Seiten präsentieren im oberen Teil einer jeden Seite in drei Kolumnen von außen nach innen den hebräischen, den lateinischen (Vulgata-) und den griechischen Text der Septuaginta, den Letztgenannten mit einer lateinischen Interlinearübersetzung. Im unteren Teil einer jeden Seite begegnen in einer inneren Kolumne der aramäische Text des Targum Onkelos, in einer äußeren Kolumne dessen lateinische Übersetzung. Auf den äußeren Seitenrändern finden sich jeweils Glossen. In der lateinischen mittigen Kolumne fallen aus der Minuskel „o“ gebildete „Girlanden“ auf.

Abb. 11: Das erste Buch Mose im ersten Band der Polyglotte (Ausschnitt des oberen und unteren Drittels)

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Diese sorgen dafür, dass Parallelstellen im lateinischen und im griechischen Text auf etwa derselben Höhe zu finden sind. Denselben Zweck verfolgen im hebräischen und aramäischen Text eigene Füllzeichen. Jede Seite bildet somit eine in sich geschlossene Einheit, deren verschiedene Kolumnen aufeinander bezogen sind.37 In den Bänden zwei, drei und vier begegnen nur die vorgenannten drei oberen Kolumnen mit dem hebräischen, lateinischen und griechischen Text. Abermals ist dem griechischen Text eine lateinische Interlinearübersetzung beigegeben, ergänzend finden sich Glossen und „Füllzeichen“, um die Belege nebeneinander drucken zu können. Die Seiten des fünften Bandes der Polyglotte schließlich präsentieren in zwei Kolumnen den Text des Neuen Testaments – in einer engeren, jeweils rechts befindlichen Kolumne auf Lateinisch, in einer linken breiteren Kolumne auf Griechisch. Auch hier finden sich im lateinischen Text die genannten „Füllzeichen“.38 Schon aufgrund der Mehrsprachigkeit der Bibelausgabe war die Verwendung einer großen Zahl von Drucktypen, Lettern notwendig. Überdies begegnet in den einzelnen Bänden der Polyglotte eine Vielzahl von Druckermarken sowie von Initialen (vgl. Abb. 12). Die verwendeten Drucktypen, die Druckermarken und Initialen wurden in der Forschung intensiv untersucht. Insgesamt belegen sie einen hohen handwerklichen, aber auch künstlerischen Anspruch sowohl des Auftraggebers Cisneros als auch des Druckers Brocar.39

6. Die Verbreitung und der weitere Einfluss der Polyglotte Die Complutensische Polyglotte erschien zunächst in einer Edition mit zwei Ausgaben. Zum einen wurden etwa 600 Exemplare auf Papier gedruckt, zum anderen einige Exemplare auf Pergament. Dem Druckprozess der Polyglotte ist geschuldet, dass sich die einzelnen Bände in kleinen Details voneinander unterscheiden, so dass die Forschung fünf Ausgaben (Estado A, B, C, D, E) unterscheidet.40 In wirtschaftlicher Hinsicht war das Projekt von Anfang an nicht kommerziell ausgerichtet. Alleine die Druckkosten beliefen sich auf 50.000 (Gold-)Dukaten (escudos de oro). Diesen Betrag übernahm Cisneros persönlich. Weil der Kar37 Ebd., S. 56–58. Zur lateinischen Interlinearübersetzung der Septuaginta und des Targum vgl. Vegas Montaner, Las versiones latinas (wie Anm. 18), S. 220–224. 38 Martín Abad, Cisneros y Brocar (wie Anm. 34), S. 58. Ebd., S. 58–62 zu weiteren typo­ graphischen Details des Drucks, vor allem bezogen auf den hebräischen, aramäischen und griechischen Text. 39 Ebd., S. 65–80. 40 Ebd., S. 80–89. Zusammenfassend Ders., La impresión (wie Anm. 34), S. 297–301.

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Abb. 12: Der Beginn des Buches Jeremia mit vorangestellter Einleitung im vierten Band der Polyglotte

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dinal im November 1517, nur vier Monate nach dem Druck des letzten Bandes verstarb, oblag es seinen Testamentsvollstreckern, den Preis für die Bände der Polyglotte – die zu diesem Zeitpunkt noch als Besitz des Kardinals angesehen wurden – zu bestimmen. Sie taxierten den Wert einer Gesamtausgabe auf sechs­ einhalb Dukaten. Allerdings konnte eine Gesamtausgabe bereits Ende 1523 für weniger als die Hälfte, für drei Dukaten, erworben werden!41 Die Gründe dafür, dass die Polyglotte keine weite Verbreitung fand, sind vielfältig – und wesentlich mit der Tätigkeit des Erasmus von Rotterdam zu erklären. Der Baseler Drucker und Verleger Johann Froben veröffentlichte 1516 die von Erasmus von Rotterdam erstellte Edition des Neuen Testaments. Den Kirchenvätern folgend bezeichnete Erasmus die Edition als Novum Instrumentum. Nach Jahren der Vorbereitung hatte Erasmus im Vergleich zur Vulgata somit eine neue lateinische, dem Griechischen gegenüber getreuere Übersetzung angefertigt. Es handelte sich dabei nicht um eine kritische Ausgabe des griechischen Textes; vielmehr diente der dem lateinischen gegenübergestellte griechische Text lediglich dem Vergleich. Anmerkungen boten zudem philologische Hinweise und patristische Zitate. Schon bald nach dem Druck der Erstauflage formulierte Erasmus seine Unzufriedenheit mit derselben und begann mit der Vorbereitung einer neuen Ausgabe. Diese, nun als Novum Testamentum bezeichnet, erschien 1519 und enthielt mehrere hundert Korrekturen. Auf die Ausgabe von 1519 sollten 1522, 1527 und 1535 noch drei Neuauflagen folgen.42 Die Edition des Neuen Testamentes durch Erasmus war ein verlegerischer Erfolg – zuungunsten der Polyglotte. Alleine die ersten beiden Editionen hatten vermutlich eine Auflage von 3.300 Exemplaren; mit den Editionen von 1522, 1527 und 1535 erhöhte sich die Zahl der Exemplare auf wohl 9.000. Auf Initiative Frobens war dem Erstdruck der erasmianischen Editio princeps von 1516 ein kaiserliches Privileg vorangegangen, das zumindest für das Gebiet des Hl. Römischen Reiches für fünf Jahre andere Drucke des griechischen Textes des Neuen Testaments verbot. Für den Verkauf des fünften Bandes der Polyglotte zumindest in Teilen Europas bedeutete dies natürlich ein Hemmnis. Auch von Rom aus wurde die Veröffentlichung der Polyglotte verzögert. Zum einen war 1515 ein päpstliches, auf zehn Jahre befristetes Privileg zugunsten der Biblia Rabbinica des Daniel Bomberg und Felix Pratensis erlassen worden, die 1516 und 1517 in Venedig erschien. In Venedig wurde 1518 und 1519 überdies die Biblia Aldina 41 Martín Abad, Cisneros y Brocar (wie Anm. 34), S. 89; Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 233; Marchamalo Sánchez, La Magistral de Alcalá (wie Anm. 14), S. 187; Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 42. 42 Bentley, Humanists and Holy Writ (wie Anm. 15), S. 115–122; Godin, Humanismus und Christentum (wie Anm. 3), S. 624; Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 234; Spottorno, El texto griego en la Políglota Complutense (wie Anm. 17), S. 191.

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publiziert, eine Druckausgabe der Septuaginta, die, wie die Polyglotte, auf einer Vielzahl von Manuskripten basierte. Somit gab es bereits Frühdrucke des Alten Testaments. Zum Zweiten verschleppte wohl auch Papst Leo X. die Veröffentlichung der Polyglotte. Die päpstliche Approbation machte er von der Rückgabe der durch Cisneros entliehenen griechischen Handschriften abhängig. Nach dem Tod des Kardinals schien es in Spanien dann an entschiedenen Förderern gefehlt zu haben, die gegen diese Widerstände eine Verbreitung der Polyglotte vorantrieben.43 Die päpstliche Approbation der Polyglotte wurde schließlich am 22. März 1520 erteilt.44 Damit der Papst das Werk sehe, wurde ein großer Teil der Bände – wohl zwei Drittel der insgesamt gedruckten Bände – von Alcalá nach Valencia transportiert und dort auf ein Schiff geladen. Dieses ging jedoch auf dem Weg nach Rom unter.45 Der Verkauf der restlichen Werke setzte, trotz des päpstlichen Privilegs, wohl erst 1522 ein46 und war, wie gezeigt, aus wirtschaftlicher Sicht ein Verlustgeschäft. Diese Faktoren – die rasche Verbreitung der erasmianischen Edition in mehreren Auflagen und der Verlust großer Teile des Druckes der Polyglotte – begünstigten die Durchsetzung der erasmianischen Edition des Neuen Testaments als textus receptus. Bekanntlich sollte Luther bei seiner Bearbeitung des Neuen Testaments auf die zweite Edition des Erasmus von 1519 zurückgreifen; bei der Bearbeitung des Alten Testaments auf den in Soncino 1488 erfolgten Druck der hebräischen Bibel.47 Erasmus selbst verfolgte das Projekt der Polyglotte mit Aufmerksamkeit – und wohl auch mit Gelehrtenneid. Für die vierte Auflage seiner Edition von 1527 griff er auf das spanische Konkurrenzwerk zurück.48 Auf dem Tridentinum wurde in der vierten Sessio 1546 die Vulgata als Grundlage der Schriftauslegung dogmatisiert. Das erasmianische Novum Testamentum wurde 1559 auf den Index Papst Pauls IV. gesetzt.49 Davon profitierte die Poly43 Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation: Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 67), Tübingen 22018, S. 81; Gerhard Römer, Deutsche Bibelübersetzungen vor und nach Martin Luther, in: Heidelberger Jahrbücher XXVII (1983), S. 39–57, hier S. 48, 50; Martín Abad, Cisneros y Brocar (wie Anm. 34), S. 51; Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 290. 44 Kissling, Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (wie Anm. 1), S. 42; Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 290; Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 235. 45 Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 235. 46 Martín Abad, La impresión (wie Anm. 34), S. 295. 47 Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 235. 48 Ignacio J. García Pinilla, La influencia de la Biblia Políglota Complutense, in: La Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 1), S. 327–336, hier S. 327. 49 Kaufmann, Der Anfang der Reformation (wie Anm. 43), S. 82.

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glotte, die ja als lateinischsprachigen Referenztext die Vulgata beibehalten hatte. Der spanische König Philipp II. regte daraufhin eine Neuauflage der Complutense an. Für diese wurden der Hebraist Benedictus Arias Montanus mit der Überarbeitung des Textes, der in Antwerpen wirkende Drucker Christoph Plantin mit dem Druck beauftragt. Im Rahmen der Neuauflage wurde das Werk stark erweitert. Die 1569 bis 1573 im Druck erschienene Neuauflage, die Biblia Regia, umfasste nunmehr acht Bände. Das komplette Alte Testament wurde nun auf Hebräisch, Griechisch, Lateinisch und mit den in der ersten Edition nicht veröffentlichten aramäischen Texten des Targum gedruckt. Das Neue Testament wurde ergänzt um eine Version des Textes in syrischer Sprache. Der beigegebene wissenschaftliche Apparat umfasste nunmehr drei Bände.50 Auf die weitere Geschichte der Polyglotte und ihrer Rezeption ist an dieser Stelle nicht einzugehen.51

7. Fazit Wie Heinz Schilling pointiert formuliert hat, waren 1517 Alcalá, daneben noch Basel, nicht aber Wittenberg das Zentrum der modernen Bibelwissenschaften in Europa.52 Das von Cisneros angeregte Großprojekt einer mehrsprachigen Bibel­ ausgabe kam am Vorabend der Reformation auch zum erfolgreichen Abschluss. Verschiedene Umstände verhinderten indes die weite Verbreitung der Complutensischen Polyglotte – zugunsten der Edition des Neuen Testaments durch Erasmus von Rotterdam. Aufgrund der rascheren Verbreitung der kostengünstigeren Edition des Erasmus sowie die leyenda negra des frühneuzeitlichen, erzkatholisch-rückständigen Spaniens konnte sich die Polyglotte weder im katholischen noch im protestantischen Raum als „führende“ Edition durchsetzen.53 Dennoch steht die Polyglotte geradezu ikonisch für das kulturelle Ideal der von Alcalá ausgehenden cisnerianischen Reform.54 Gerade angesichts der gesellschaftlichen, kulturellen und geistigen Spannungen auf der iberischen Halbinsel 50 Angel Sáenz-Badillos, Benito Arias Montano, Hebraísta, in: Thélème: Revista complutense de estudios franceses 12 (1997), S. 345–359, hier bes. S. 350; Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 236. 51 Vgl. hierzu García Pinilla, La influencia de la Biblia Políglota Complutense (wie Anm.  48), S. 327–335; Carbajosa, Enseñanzas de un gran proyecto editorial (wie Anm. 22), S. 26–42 und Fernández Marcos, La Políglota Complutense en su contexto (wie Anm. 14), S. 235–238. 52 Schilling, 1517 – der Mönch und das Rhinozeros (wie Anm. 3), S. 25. 53 García Pinilla, La influencia de la Biblia Políglota Complutense (wie Anm. 48), S. 327; Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 290 f. 54 Girón Negrón, De la Biblia de Arragel a la Políglota Complutense (wie Anm. 24), S. 97.

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des frühen 16. Jahrhunderts belegt die Polyglotte eine bemerkenswerte Breite der spanischen Bibelwissenschaften. Vor diesem Hintergrund ist das Bild der Polyglotte zu korrigieren, das noch in der modernen bibelwissenschaftlichen Forschung überaus kritisch gezeichnet wurde.55

55 Piñero, La columna del nuevo testamento (wie Anm. 3), S. 290. Bezogen auf das Neue Testament wurde den Bearbeitern der Polyglotte beispielsweise vorgeworfen, den griechischen Text an den der Vulgata angepasst zu haben; bezogen auf die Septuagina entsprechend an den hebräischen Text. Das Vorgehen bei der Manuskriptauswahl und bei der Gestaltung der Polyglotte wurde in mehrfacher Hinsicht als willkürlich verurteilt. Diese Auffassung findet sich noch in der deutschsprachigen Forschungsliteratur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in der der Edition des Erasmus weitaus mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung zugebilligt wird. Vgl. auch Aland/Aland, Der Text des Neuen Testaments (wie Anm. 27), S. 13 f. Hier wird der Edition des Erasmus weitaus größere Beachtung gewidmet als der nur kurz erwähnten Polyglotte.

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Vorreformatorische Übersetzungen der Bibel in die deutsche Volkssprache. Von Otfrid von Weißenburg zum Österreichischen Bibelübersetzer

Die volkssprachlich-mittelalterlichen Aneignungsformen der Bibel oder einzelner Bibelbücher, vor allem des Psalters, der Apokalypse oder der Evangelien, sind äußerst vielgestaltig und reichen von der schlichten Prosa-Übersetzung über komplex kommentierte Übertragungen hin zur dichterischen Umsetzung in Strophe und Reim. Und auch ihr funktionaler Bezug war unterschiedlich: Sie sollten einerseits die Klosterschüler oder andere geistlich Interessierte zum Erlernen des Lateinischen hinführen, wie es etwa Notker III. von St. Gallen mit seiner kommentierenden Psalter-Übersetzung anstrebte1 und es wohl noch der Sinn der gedruckten vorreformatorischen, deutschen Bibeln war, deren letzte, die Halberstädter Bibel, 1522, also wenige Wochen vor Luthers Septembertestament, erschien. Oder sie sollten anderseits die lateinunkundigen Laien mit dem Wort Gottes in ihrer eigenen Sprache vertraut machen. Bibelübersetzungen waren also entweder auf die Ausgangssprache hin orientiert oder auf die Zielsprache. Letztere stehen damit in einer Tradition, die auf die Übersetzung Luthers hinführen wird. Ich gehe im Folgenden nur auf einige wenige Beispiele aus dieser Traditionslinie ein.2 Neben dem ‚Heliand‘,3 in dem die Evangelienharmonie des Syrers Tatian in altsächsische Stabreime, also eine den laikalen Rezipienten literarisch vertraute Reimform, umgesetzt worden ist, gilt als bedeutendster althochdeutscher Versuch der Vermittlung des Evangeliums an Laien das sogenannte ‚Evangelienbuch‘ Otfrids von Weißenburg aus den 60er Jahren des 9. Jahrhunderts.4 Wich1 2 3 4

Zu Notkers Übersetzungen, ihrem Umfeld und ihrer Zielsetzung vgl. Stefan Sonderegger, Notker III. von St. Gallen (N. Labeo; N. Teutonicus) OSB, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 6, Berlin/New York ²1987, Sp. 1212–1236. Ausführlicher Jens Haustein/Martin Schubert, Die deutsche Bibelübersetzung vor Luther, in: AkademieAktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 62 (2017), S. 21–27. Zu Leistung, Absicht und Umfeld des anonymen Übersetzers vgl. Burkhard Taeger, ‚Heliand‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3, Berlin/New York ²1981, Sp. 958–971. Zur ersten Orientierung vgl. Werner Schröder, Otfrid von Weißenburg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7, Berlin/New York ²1989, Sp. 172–193;

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tig ist dieses Werk, v. a. greifbar im Wiener Codex 2687, nicht nur, weil wir mit ihm eines der wenigen Autographen der deutschen Literatur des Mittelalters vor uns haben, sondern vor allem, weil es vier Widmungsreden enthält. Im lateinischen Approbationsschreiben an seinen Vorgesetzten, den Mainzer Erzbischof Liutbert, äußert sich Otfrid von Weißenburg, geboren um 800, Schreiber, Bibliothekar und Kommentator in seinem Kloster, ausführlich zur Intention seiner Übersetzung wie zu den Problemen der Übertragung des lateinischen Bibeltextes in die deutsche Sprache, ja in Verse. So sollen die mittlerweile kultivierten Franken mit seiner Übersetzung ins Fränkische (Deutsche), das nun gleichberechtigt neben den drei heiligen Sprachen steht, in ihrer eigenen Sprache Gott loben können. Schwierigkeiten bereiten ihm, so führt er aus, neben der ungelenken Grammatik besonders die Laute, die es im Lateinischen nicht gibt, für die er deshalb auch keine Grapheme hat – wie etwa die Verbindung von w und u: „Wie nun allerdings diese unkultivierte Sprache insgesamt bäurisch ist und ungebildet, nicht gewöhnt, sich dem lenkenden Zügel der Grammatik zu fügen, so ist auch bei vielen Wörtern die Schreibung schwierig, sei es wegen der Häufung von Buchstaben, sei es wegen ihrer ungewöhnlichen Lautung. Denn bisweilen fordert sie, wie mir scheint, drei u – die ersten zwei meines Erachtens konsonantisch lautend, während das dritte u den Vokalklang beibehält […].“5

Gemeint sind also Wörter wie wurdan oder Vergleichbares. Auch dass im Deutschen die doppelte Negation wie im Lateinischen keine Aufhebung des negativen Sinnes, sondern seine Verstärkung bedeutet, wird uns ausdrücklich mitgegeben.6 – Aber Otfrid ist nicht nur Vermittler des Bibelwortes, sondern als Gelehrter auch dessen Kommentator. Damit begründet er eine Tradition, die vielfach bis zum Ausgang des Mittelalters fortgeführt wird. Seine Übersetzung der Hochzeit von Kana nach Jh 2,1–11 kommentiert er beispielsweise vor dem Hintergrund der Auslegungstradition7 und unter der Überschrift Spiritaliter so: „Eben jener Vorgang, von dem ich hier oben sprach, steht vielfältiger geistlicher Deutung offen; wenigstens etwas davon möchte ich hier gern vortragen, damit wir nicht als

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kritische Ausgabe: Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch, Bd. 1, Teil 1: Edition nach dem Wiener Codex 2687; Teil 2: Einleitung und Apparat, hg. und bearbeitet von Wolfgang Kleiber, Tübingen 2004; zitiert wird im Folgenden (incl. Übersetzung): Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch. Auswahl, ahd./nhd., hg., übersetzt u. kommentiert von Gisela Vollmann-Profe, Stuttgart 1987. Vollmann-Profe, Evangelienbuch (wie Anm. 4), S. 21. Hujus enim linguae barbaries ut est inculta et disciplinabilis atque insueta capi regulari freno grammaticae artis, sic etiam in multis dictis scripto est propter literarum aut congeriem aut incognitam sonoritatem difficilis. Nam interdum tria u u u, ut puto, quaerit in sono, priores duo consonantes, ut mihi videtur, tertium vocali sono manente […]. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22/23. Literatur dazu ebd., S. 234.

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einzige ausgeschlossen bleiben von dem Genuß, (vielmehr) das Wasser kosten und den Sinn entdecken, so daß du in deinen Gliedern die Freude empfindest, die der heilige Wein gibt. Vernehmt also ohne Umschweif, daß Christus der Bräutigam ist, und seine Vertrauten im Land zur Braut bestimmt hat, die er im Himmelsgemach immerdar erfüllt mit dieser Freude seligen Herzens und ewigen Heils. Ich gebe dir auch eine Erklärung für die steinernen Gefäße: Es sind die festen Herzen der Freunde Gottes. […] Sechs Fässer sind es, damit dir klar werde, daß die Weltzeit gegliedert ist, sechsfach aufgeteilt. Sucht du, alle Weltalter und ihre Wunder zu erforschen, und befaßt du dich mit den Großtaten, die von den Menschen vollbracht wurden, so kannst du daran denken, hier mit frischem Wasser deinen Durst zu löschen und auch die Deinen mit geistlichem Wein zu erfreuen.“8

Dieses – gewissermaßen notwendige, mögliche laikale Irrtümer auffangende und so einer Verpflichtung auf das richtige Verständnis aus berufenem Munde hinführende – Miteinander von Übersetzung und Kommentar wird, wie gesagt, die weitere Tradition der Bibelübersetzung ins Deutsche bestimmen. Dies gilt insbesondere für das sogenannte ‚Jahrhundert der Laienbibel‘, also das 14. Jahrhundert. Zu nennen wären zahlreiche Einzelübersetzungen, gereimt oder in Prosa, aus dem Umfeld des Deutschen Ordens, unter denen die Prophetenübersetzung des Klaus Kranc, von dem wir nur den Namen kennen, herausragt.9 Er übersetzte auf der Basis der Vulgata sämtliche Propheten in deutsche Prosa und kommentiert sie mit Hilfe der ‚Glossa Ordinaria‘, aber auch schon der Postille des Nikolaus von Lyra. Ein Beispiel aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wäre der auch im Hochdeutschen rezipierte niederländische sogenannte ‚Bijbelvertaler van 1360‘, der die Bibel auf der Basis der Vulgata übersetzt und sie anhand der ‚Historia scholastica‘ des Petrus Commestor kommentiert hat. Sein Zielpublikum sind vor allem interessierte Laien und auch er muss sich schon gegen Kritik aus den Reihen der Kleriker verteidigen.10 Vollmann-Profe, Evangelienbuch (wie Anm. 4), S. 81. Thisu selba redina theih zalta nu hiar obana, / breitit siu sih harto geistlichero worto; / Thoh will ich es mit willen hiar etheswaz irzellen, / thaz wir ni werden einon thero goumano adeilon, / Thes wazares gismeken joh wir then sens intheken,  / thaz frowon lidi thine fon themo heilegen wine. / Fernemet sar in rihti, thaz Krist ther brutigomo si, / joh druta sine in lante zi theru bruti ginante, / Thier in himilkamaru irfullit io mit gamanu / blidliches muates joh ewiniges guates. / Zellu ih thir ouh hiar thaz bi thiu steininum faz: / herza iz sint gidigano thero gotes drutthegano. […] Sehsu sint thero fazzo, thaz thu es weses wizo, / thaz worolt ist gideilit, in sehsu gimeinit. / Irsuachist thu thiu wuntar inti ellu woroltalter, / erzelist thu ouh thia guati, waz iagilicher dati: / Tharana maht thu irthenken mit brunnen thih gidrenken, / gifrwen ouh thi thine mit geistlichemo wine. Ebd., S. 80. 9 Vgl. zu ihm, seiner Übersetzung und seinen Quellen Irmgard Meiners, Kranc (Cranc), Klaus, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 5, Berlin/New York ²1985, Sp. 337 f. 10 Vgl. Mikel M. Kors, Bijbelvertaler van 1360 OCart (?), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 11 (Nachträge und Korrekturen), Berlin/New York 8

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Ebenfalls potentiell auf die gesamte Bibel hin ausgerichtet ist das vielfältig und vielfach überlieferte Übersetzungswerk des sogenannten Österreichischen Bibelübersetzers aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts,11 das im Rahmen eines Akademieprojekts zurzeit in gedruckter und digitaler Form in Augsburg und Berlin ediert wird. Der Anonymus, der wohl, worauf Ortsnamen und Lexeme hindeuten, im Herzogtum Österreich gewirkt hat, stellt sich ausdrücklich als ‚Laie‘ vor, der – so in der Einleitung zum ‚Evangelienwerk‘ – nicht geweicht und geordent 12 sei (‚weder geweiht noch ordiniert‘), ja behauptet von sich, dass er an chunsten ein chint 13 und ein vngelert layn14 sei und nie auf hochen schuelen15 gelernt habe. Das mag stimmen, aber eine nicht näher erkennbare Form der Ausbildung muss er genossen haben: Er konnte lateinische Vorlagen übersetzen und mit einschlägigen Kommentaren umgehen.16 Vermutlich hat ihm eine private oder klösterliche Bibliothek zur Verfügung gestanden, zudem habe er, wie er in einer seiner Verteidigungsschriften betont, bei seinem Übersetzungswerk auch Rat und Hilfe wol gelertter lewt erhalten,17 denen er sich gern anvertraut habe. Sie werden ihn auch mit neueren theologischen Hilfsmitteln wie der Postille des Nico²2004, Sp. 249–256. Der ‚Bijbelvertaler‘ unterscheidet explizit eine Übersetzung van woorde te woorde und eine van zinne te zinne (ebd., Sp. 254). 11 Vgl. zur ersten Orientierung den instruktiven Überblick von Gisela Kornrumpf, Österreichischer Bibelübersetzer (um 1330), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. 11 (wie Anm. 10), Sp. 1097–1110. Vgl. auch das in Anm. 2 genannte Akademieheft, in dem das Projekt ausführlich vorgestellt wird (https://www.bbaw.de/forschung/der-oesterreichische-bibeluebersetzer-gottes-wort-deutsch; https://bibeluebersetzer.badw.de/dasprojekt.html; letzter Zugriff: 15.1.2022), und künftig auch die ausführliche Einleitung zur von Freimut Löser und Magdalena Terhorst herausgegebenen Ausgabe des ‚Alttestamentlichen Werks‘ des Österreichischen Bibelübersetzers (im Druck). 12 Das Zitat auch bei Freimut Löser, Verteidigung der Laienbibel: Der Österreichische Bibelübersetzer stellt sich vor, in: AkademieAktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 62 (2017), S. 28–33, spez. S. 30. 13 Ebenfalls Einleitung zum ‚Evangelienwerk‘; Löser, Verteidigung der Laienbibel (wie Anm. 12), S. 30. 14 Der Österreichische Bibelübersetzer hat zwei deutsche und eine lateinische Verteidigungsschrift verfasst; die beiden deutschen Vorreden sind herausgegeben und kommentiert von Freimut Löser/Christine Stöllinger-Löser, Verteidigung der Laienbibel. Zwei programmatische Vorreden des österreichischen Bibelübersetzers der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Konrad Kunze/Johannes G. Mayer/Bernhard Schnell (Hg.), Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters (Fs. für Kurt Ruh zum 75. Geb.), Tübingen 1989, S. 245–313, spez. S. 293. Die Zitate aus dieser Edition sind im Folgenden graphisch leicht vereinfacht. Beide Vorreden werden im Rahmen der Ausgabe des ‚Alttestamentlichen Werkes‘ neu ediert und erweitert kommentiert. 15 Ebd., S. 291. 16 Dazu Kornrumpf, Bibelübersetzer (wie Anm. 11), spez. Sp. 1098. 17 Löser/Stöllinger-Löser, Verteidigung (wie Anm. 14), S. 291.

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laus von Lyra versorgt haben, ja vielleicht haben sie ihn sogar zu seinem auf lateinunkundige Laien ausgerichteten Übersetzungswerk ermuntert. Auch die Hilfe des Heiligen Geistes sei ihm zuteilgeworden – das natürlich ein gängiger Topos im Kontext von Bibelübersetzungen.18 Verfasst hat er einige eschatologische und antijüdische Traktate, übersetzt und kommentiert hat er zunächst in harmonisierender Form die Evangelien inklusive der Apostelgeschichte (Kap. 1–5) und des apokryphen ‚Evangelium Nicodemie‘, dann mehrere alttestamentliche Bibelbücher – wir haben Genesis, Exodus, Tobias, Daniel, Hiob und Proverbia und Eccelessiastes sowie den kommentierten Psalter, ferner eine lateinische und zwei deutsche Verteidigungsreden. Die Texte sind durch zahlreiche Selbstzitate und Verweise untereinander verbunden. Und wie schon Otfrid erklärt und verteidigt der Bibelübersetzer sein Tun. Vorangestellt wird – natürlich – die Absicht, in einer Zeit zurückgehender Lateinkenntnisse die Laien ze andacht zu bringen, sie also mit dem ‚richtigen‘ und ‚unverfälschten‘ Gotteswort bekannt zu machen. ‚Unverfälscht‘ deshalb, weil, so ein zweites Argument, Ketzer (die wir aber nicht kennen) falsche Lehren predigten (u. a. nennt er die Leugnung der Auferstehung) und so der Häresie vorarbeiteten, er hingegen habe aber den Bibeltext nicht nur korrekt übersetzt, sondern auch mit Hilfe approbierter Quellen wie der ‚Glossa ordinaria‘ kommentiert.19 Er habe freilich auch von den zünftigen Theologen Anfechtungen erfahren und deshalb mehrfach sein Werk unterbrechen müssen.20 Aber diese, so ein drittes Argument, agieren gegen sein Tun nur aus Neid und Habgier. Seine Gegner hat ir tumleich hochfart darczü bracht, daz si chranch wider red furczichent vnd sprechent: „Was sull wir nü predigen, seint man die heilig schrifftt auf purgen vnd in stuben vnd in heüsern vnd in dewtscher sprach list vnd hort?“ 21 ‚Die Heilige Schrift auf Deutsch in der Stube lesen‘ – es klingelt einem förmlich in den Ohren. Ich springe deshalb kurz rund zweihundert Jahre weiter in die Mitte des 16. Jahrhunderts. Der neben einer Göttweiger Handschrift des ‚Evangelienwerks‘ unseres Bibelübersetzers wichtigste Codex ist die – digital zugängliche – Schaffhauser Handschrift, Stadtbibliothek, Gen. 8, die wegen ihrer Bebilderung mit mehr als 400 lavierten Federzeichnungen auch von kunsthistorischer Seite viel beachtet worden ist.22 Sie stammt möglicherweise aus Klosterneuburg und ist um 1330/1340 geschrieben worden. Die Handschrift 18 Kornrumpf, Bibelübersetzer (wie Anm. 11), Sp. 1098. 19 Dazu Löser, Verteidigung der Laienbibel (wie Anm. 12), S. 31. 20 Löser/Stöllinger-Löser, Verteidigung (wie Anm. 14), S. 293: Ich hab laider gar zulang gepiten, das ich der heiligen schrifftt chainen tail zu dewtsch bracht han. Das kůmt ein tail von krankchait meins leibs vnd zu vördrist von meiner neyder anfechttüng, den mein arbait laidt vnd zu neid ist vnd mich gern beswert hieten, hieten sew gemöchtt. 21 Ebd., S. 280. 22 Vgl. dazu Martin Roland, Klosterneuburger Evangelienwerk, in: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, Bd. 4,1, München 2008, S. 135– 155.

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hält im Vorderspiegel eine kleine Überraschung bereit. Auf die Innenseite des vorderen Deckels ist ein Luther-Holzschnitt eingeklebt, auf fol. 1 ein zweiter und dieser wohl zuerst.23 Der linke Holzschnitt eines unbekannten Meisters stammt vermutlich aus der Zeit um 1550 und stellt Luther im Gebet vor der Trinität dar. Aus der Wolke des Heiligen Geistes gehen Strahlen auf das Haupt Luthers nieder, die ihn so als Geistträger und damit als Vertreter der rechten Lehre ausweisen. Der Text teilt das Gebet mit, das Luther 1521 auf dem Wormser Reichstag gesprochen haben soll. Darin bittet er um Beistand gegen die vernunfft vnd weißheit der großen Herren. – Der zweite, rechte Holzschnitt stammt vermutlich von Cranach dem Jüngeren und scheint kurz nach dem Tod Luthers 1546 entstanden zu sein. Der mittlere Text gibt das Sterbegebet Luthers wieder, mit dem ja den Altgläubigen die luthersche Standfestigkeit auch im Augenblick des Todes bewiesen werden sollte. Über die Geschichte der Handschrift ist wenig bekannt. Das Wenige, das wir wissen können, müssen wir der Handschrift selbst entnehmen und entstammt im Wesentlichen der Nachschrift eines Valentin Renner. Sie sei, so Renner, irgendwann im Laufe ihrer Geschichte pöslich zergenzt (‚zerstückelt‘) worden; nach einigen weiteren Informationen heißt es: Anno etc. domini 1562 den 20 tag Januarii Vienne hab ich diß puech so schan (‚schon‘) zerschnitten gewest stuckhweis vom Puechfuerer (‚Antiquar‘) am Hochen Markt khaufft (fol. 304v).24 Renner hat also die nicht mehr gebundenen Lagen der Handschrift als zusammengehörig erkannt, gekauft und binden lassen. Die fehlenden Blätter hat er, in der Hoffnung, deren Text nachtragen zu können, durch weiße Papierblätter ersetzt. Hat er aber auch die beiden Lutherholzschnitte, die ja beide erst ab ungefähr 1550 nachweisbar sind, eingeklebt? – Valentin Renner war nachweisbar von 1546 bis 1575 Brückenmeister und Mitglied des Äußeren Rats in Wien und dieser war unter Maximilian II., dem man heimliche protestantische Neigungen nachsagte, fast gänzlich mit Lutheranern besetzt. Erst die Jahre unter Rudolf II. brachten dann wieder Verfolgungen und Vertreibungen für die Protestanten.25 Nach dem Tod Renners zog die Witwe zu den protestantischen Verwandten nach Schaffhausen. Also: Ein Protestant kauft eine Handschrift aus der Zeit um 1330/1340, was Renner wusste, und ‚interpretiert‘ sie ‚prä-lutherisch‘ und dokumentiert dies mit zwei 23 Dazu ausführlicher und mit Nachweisen Jens Haustein, Der Österreischische Bibelübersetzer, Martin Luther und Valentin Renner. Eine Miszelle, in: Ders./Regina D. Schiewer/ Martin Schubert/Rudolf Kilian Weigand (Hg.), Traditionelles und Innovatives in der geistlichen Literatur des Mittelalters (Fs. Freimut Löser zum 65. Geb.), Stuttgart 2019, S. 237–243. Dort auch in Anm. 7 die Internetadresse der Handschrift. 24 Der Text ist ediert von Achim Masser/Max Siller (Hg.), Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa, Heidelberg 1987, S. 87 und auch bei Rudolf Gamper, Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Stadtbibliothek Schaffhausen […], Dietikon-Zürich 1998, S. 80–95, spez. S. 81. 25 Vgl. Haustein, Der Österreichische Bibelübersetzer (wie Anm. 23), S. 241.

Vorreformatorische Übersetzungen der Bibel in die deutsche Volkssprache

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eingeklebten Luther-Holzschnitten. Zudem hat Renner zahlreiche Spuren in der Handschrift selbst hinterlassen: Er hat mehrfach auf die Perikopen hingewiesen und dann, wenn der Evangelientext durch die Glossen unseres Österreichischen Bibelübersetzers unterbrochen war, auf die Seite mit der Fortsetzung des Bibeltextes verwiesen. Ein besonderes Interesse hat die Leidensgeschichte Christi gefunden, auf die mehrfach explizit hingewiesen wird. Am Rande des Berichts vom Abendmahl nach Mt 26,26–29 mit dem Hinweis auf Leib und Blut für alle heißt es: Einsatzung des Sacraments! – Das dezidierte Desinteresse des Protestanten Renner, dem wir die Rettung dieser wichtigen Handschrift des Österreichischen Bibelübersetzers verdanken, an dessen Kommentierungsarbeit, die von Renner nirgendwo glossiert wird, führt wieder auf die Unterschiede zwischen den zumeist kommentierten vorreformatorischen Übersetzungen des Neuen wie auch des Alten Testaments und Luthers Übersetzung. Auf diese Kommentierungsarbeit möchte ich abschließend noch an einem Beispiel kurz eingehen. Der explizite Laienbezug des Österreichischen Bibelübersetzers verbindet sich bei ihm mehrfach mit Polemik gegen zeitgenössische Gelehrte. Das Argument etwa des Passauer Anonymus, dessen Schriften unser Bibelübersetzer gekannt hat, dass layci ydiote seien,26 modifiziert er folgendermaßen: wann sy cristenlichen orden jn den schuelen nicht gelernt habent vnd der rechten pedewttumb an der heiligen lerer geschrift nicht wissen noch kunnen, habent sy den text valschlich aws gelegt.27 Sein Auslegen soll also einem falschen Verständnis der Laien vorbeugen, mehr noch: Ohne Auslegung bleibt die Schrift wirkungslos: Es sprichtt sannd Pauls: „Lieben brüder, alles das geschriben ist, das ist vns zu ler geschriben, das wir mit gedult vnd mit dem tröst der geschrifftt gedingen haben“. Nu was trostes vnd gedingen mug wir vngelert layn von der heiligen schrifftt haben, ob sew vns nicht bedewttet wirt?28 Gelegentlich gehen Polemik gegen seine Gegner und – in durchaus zeittypischer Art und Weise – gegen Juden in der Auslegung (Glosa) der Schrift unmittelbar ineinander über: Aber sprichtt kunig Salomon: „Wer den stain vberwirfftt [‚zu hoch und falsch wirft‘], der wirt von jm verseret“. Glosa: Der stain beczaichent die glaubhefftigen kristen, da die heilig krisstenhait mit erpawn ist […]. Wer die selben stain vberwirfftt, das er durch geittikait vnd durch vnchunst mit argem vorpild von gutem fürsacz vnd von rechtter andacht schaitt, dem wirt das wort „Wee euch“ nachuolgunden, als unser herr Jesus Kristus zu der juden maistern, zu den phariseos vnd gleichsnern sprach: „We euch […], jr versliesst den lewten das himelreich vor mit argem vorpild […]“.29 Die Orientierung des Übersetzers bei seiner Kommentararbeit an der ‚Glossa Ordinaria‘ und am Kommentar des Nikolaus von Lyra ist der Grund dafür, dass 26 27 28 29

Zitiert bei Löser/Stöllinger-Löser, Verteidigung (wie Anm. 14), S. 253. Zitiert nach ebd. Ebd., S. 293. Ebd., S. 284.

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er sich an sehr vielen Stellen im Rahmen des Erwartbaren bewegt. Gelegentlich aber sperrt er sich gegen die Tradition und stellt eigene Überlegungen an, die ihn zwar in die Irre führen, die gleichwohl aber einer gewissen Plausibilität nicht entbehren. Ein signifikantes Beispiel ist die Glosa zu Mc 1,6:30 Es sprichet: ‚Waldhonig und locusta was seyn speys.‘ Spricht Crisostimus, locusta sey ain wenigs tyerl und fliege nicht hoch yn der mazz als die haberschreken. Auch spricht Rabanus: Under allen tyern, die da springent, ist locusta das mynnist geslacht. Die warn yn der wuest Judee des lanndes und sind auch hewt da und sind yn der michel (‚Größe‘) als ain vinger und sind leicht zu vahen auf dem krawte. Yedoch, das Johannes dy tyrl oder die vogel hab geezzen, des dunckhet etlichen lerer nicht, wann es ist rayn, so ist es flaisch, so hat es sand Johans nicht gezzen, wann er enpais nie kains fleischs. Ist es aber nicht rayn als haber schrecken, so hat er sein aber (‚ebenfalls‘) nicht geezzen, wann er es nicht verdawt mocht haben […]. Da von jehent ettleich, locusta sey als vil gesprochen als ‚longa hasta‘, das spricht, ains, das da lang sey als ain sper und das ist hol; da wachset suzzer kern ynne als der zukher. Des selben und waldhonigs hab sand Johans gelebt. […] Da von ist nicht wol glaublich, das sand Johans kaynerlay slacht fleysch (‚irgendeine Art von Fleisch‘), rayn oder unrayn, geessen hab (‚Evangelienwerk‘, Gö, Bl. 54rab) Dass schon die mittelalterliche Naturkunde zwischen der Heuschrecke und den Locusten unterschied,31 wie ja auch Chrysostomus an der zitierten Stelle, löst für unseren Bibelübersetzer nicht das Problem, dass er sich Johannes als jemanden vorstellen soll, der Tiere, zudem unreine, gegessen habe. Man wird nicht ausschließen können, ohne dass hier Gewissheit zu erreichen ist, dass er in dieser Situation jenseits der naturkundlichen Abhandlungen auch andere Hilfsmittel zu Rate gezogen hat. In dem um 1410 entstandenen und bis zur Mitte des Jahrhunderts im gesamten deutschen Sprachgebiet verbreiteten ‚Vocabularius Ex quo‘32 hätte er beispielsweise Folgendes lesen können: Locusta est herba, de qua apes

30 Es was auch sand Johans gewannt von kamblein har oder lockhen, und ain schnuer von ainr peltzein hawt uber seine lennde; waldhonig und lucastes ass er (Gö, Bl. 51rb). Ich zitiere aus der in Vorbereitung befindlichen Ausgabe der Erstfassung des ‚Evangelienwerks‘. Da die dort eingeführte Zählung nach Absatz und Satz noch nicht endgültig feststeht, gebe ich stattdessen die Stelle in der Leithandschrift Göttweig, Stiftsbibl., Cod. 222 (rot) / 198 (schwarz) (früher C 2) an. 31 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache, hg. von Franz Pfeiffer, Stuttgart ³1861, S. 150: Von dem locusten […] diu tier gênt scharot (‚scharenweise‘) in ainer hert. dâ von spricht man, der locust hât kainen künig. daz mag man nicht verstên von dem häwschrecken, der auch ze latein locusta haizt, wan die gênt niht scharot dan selten, ainr hupft ân (‚ohne‘) den andern. 32 Vgl. dazu Klaus Grubmüller, ‚Vocabularius Ex quo‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin/New York ²1999, Sp. 469–473; zur Datierung Sp. 471.

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sugunt mel uel eyn hewschrecke.33 Und im Vokabular des Fritzsche Klosener34 aus der Mitte des 14. Jahrhunderts heißt es, nachdem locusta zunächst mit ‚Heuschrecke‘ paraphrasiert wird, anschließend: Sed magister iohannes constancinensis dicit quod sit quedam herba qua pascebatur iohannes in deserto et dicitur quasi longa hasta quia longas habet hastas.35 Die Alternative, hier ‚Heuschrecke‘, dort ‚süßes Rohr‘, die er in seiner Glosa zu Mc 1,6 angibt, ist ihm offenbar mehrfach vorgegeben, aber er wiederholt sie nicht einfach nur, sondern entscheidet sich vor dem Hintergrund seiner Vorstellung vom Leben des Johannes und dessen Ernährungsweise für das ‚süße Rohr‘. Der Bibelübersetzer, der die Heuschrecke als Element der Plage durchaus kennt,36 überträgt seine neutestamentliche Auffassung und Erkenntnis an einer Stelle auch auf das Alte Testament: Ecl 12,5 (Kohelet) übersetzt er folgendermaßen: Alleu hoheu dinch werdent sich fürichtend vnd erchomet di an dem irrem wege. Der mandelchern paüm w rt plüend, di locust w rt gevaistet vnd caparis w rt zestört (‚aufgebrochen‘), swanne der mensch get in daz haüzz seiner ewichait.37 Die Stelle kommentiert er anschließend so: Locusta ist ein gerte, di Ieremyas, der weissag, sach; di w rt geuaistet (‚blühend und fruchtbar‘). Also werdent di geuaistet (‚ernährt‘) mit ewigen freüden, di in der rechtichait auf diser werlde gelebt habent.38 ‚Blühender Mandelbaum, honigsüß werdende Locustgerte und aufbrechende Kaper‘ – man kann sich der Logik dieser Reihe im Vergleich mit der traditionel33 ‚Vocabularius Ex quo‘. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe, gemeinsam mit Klaus Grubmüller hg. von Bernhard Schnell/Hans-Jürgen Stahl/Erltraud Auer/Reinhard Pawis, Bd. 4, Text L–P, Tübingen 1989, S. 1511. 34 Vgl. dazu Gisela Friedrich/Klaus Kirchert, Klosener (Closener), Fritsche (Friedrich), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4, Berlin/New York ²1983, Sp. 1225–1235. 35 Die Vocabulare von Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen, hg. von Klaus Kirchert, Bd. 2, Tübingen 1995, S. 830. – Im 1482 gedruckten ‚Vocabularius teutonico-latinus‘ heißt es hingegen: „locusta: ein kraut davon dy immen das honig saugen; od. klein vogelein davon sich sant Johanns baptist nerte“. Das Zitat bei Lexer (Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bd.e. Leipzig 1872–1878, hier Bd. 1, Sp. 1821) und Diefenbach (Laurentius Diefenbach, Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis, Frankfurt/Main 1857, S. 335). 36 ‚Alttestamentliches Werk‘, Ex 10,4f.: Tustu des nicht, ich sende morgen haberschrekchen in dein gepiet, die daz erdreich pedechen, daz man sein nichtesnicht gesehen mag, vnd wern frezzen alles, daz von dem schower (‚dem Hagel‘, der siebenten Plage) pelieben ist. 37 ‚Altestamentliches Werk‘, Ecl 12,5; Luther (2017) übersetzt die Stelle folgendermaßen: „wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt […].“ 38 Ier 1,11 (Luther 2017): „Und es geschah des Herrn Wort zu mir: Jeremia, was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen erwachenden Zweig.“ Der Bibelübersetzer ‚vernetzt‘ also seine Auffassung von der Locuste auch innerhalb des Alten Testaments.

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len, auch lutherischen Reihe ‚Mandelbaum, Heuschrecke und Kaper‘ kaum entziehen. Mir ging es im Vorangehenden darum, zu zeigen, dass die vorlutherischen Übersetzungen und gerade jene, die explizit auf die Laien und damit die Volkssprache ausgerichtet waren, in vielerlei Hinsicht ihre eigene Bedeutung für die Frömmigkeit vorreformatorischer Laien und ihr Bibelwissen hatten und womöglich darüber hinaus – wie das Beispiel des Valentin Renner zeigt.

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Bibelübersetzungen vor 1521 Einige übergreifende Beobachtungen

Der folgende Beitrag beabsichtigt, einige übergreifende Beobachtungen zu den Bibelübersetzungen vor 1521 vorzustellen. Das scheint schon allein deshalb geboten, weil sich die meisten einschlägigen Untersuchungen mit einzelnen Sprachen beschäftigen und daher komparative Aspekte oft außer Acht lassen. Diese Beobachtungen sind notwendigerweise allgemein gehalten und werden gegebenenfalls durch Beispiele illustriert. In einigen Fällen empfiehlt es sich auch auf Spannungsbögen hinzuweisen, die sich zwischen den extremen Alternativen ergeben.

1. Eine lange Liste Als Martin Luther auf der Wartburg untergetaucht war und seine Zeit dazu nutzte, die Bibel – zunächst teilweise – zu verdolmetschen,1 war die Heilige Schrift bereits in nicht wenige Sprachen übersetzt, nämlich ins Griechische, Aramäische, Lateinische, Syrische, Koptische,2 Armenische, Georgische, Äthiopische, Nubische, Arabische, Persische, Sogdische, Gotische, Kirchenslawische, Irische, Deutsche,3 Englische, Dänische, Norwegische, Schwedische, Niederländische, Französische, Provençalische, Italienische, Spanische, Katalanische, Portugiesische, Tschechische, Polnische, Ungarische und Rumänische.4 1

2 3 4

Aus der sehr umfangreichen Literatur vgl. etwa Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 1–3, Stuttgart 1981–1987, zum Wartburg-Aufenthalt, ebd., Bd. 2, S. 1–63 und 443–448; sowie die Beiträge in dem vorliegenden Band. Außerdem Grit Jacobs (Hg.), Luther im Exil. Wartburgalltag 1521. Katalog zur Ausstellung auf der Wartburg 2021, Regensburg 2021. – Zur Übersetzung der Heiligen Schrift s. zum Beispiel Siegfried Meurer (Hg.), „Was Christum treibet“. Martin Luther und seine Bibelübersetzung (Bibel im Gespräch, 4), Stuttgart 1996. Nämlich ins Sahidische, Bohairische, Fajjumische und eventuell Oxyrhynchische. Und zwar sowohl ins Hoch- wie auch ins Niederdeutsche. Vgl. dazu die detaillierten Nachweise in zwei sehr ausführlichen und materialreichen Le-

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Diese beeindruckende Liste mit immerhin 31 Positionen zeigt, dass Bibelübersetzungen in der Antike und im Mittelalter keine seltene Erscheinung waren. Allerdings verbergen sich hinter diesen Namen oft ganz unterschiedliche Phänomene, beispielsweise was Art, Umfang, Anlass, Folgen etc. der Übersetzung betrifft. Darum soll es unter anderem auf den folgenden Seiten gehen, ebenso wie um die Frage der Überlieferung und des Übersetzers bzw. der Übersetzer.

2. Erbe des Judentums Die Praxis der Bibelübersetzung ist keine „Erfindung“ des Christentums; sie ist vielmehr ein Erbe des antiken Judentums. Ab dem 3. Jahrhundert vor Christus wurden hier die Bücher des (heute so genannten) Alten Testaments unter Einschluss der alttestamentlichen Apokryphen aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt. Der Legende zufolge sollen 72 jüdische Gelehrte an 72 Tagen diese ungeheure Leistung vollbracht haben; ihre Bezeichnung „Septuaginta“ gibt diese Zahl nur ungefähr an (also „etwa Siebzig“).5 Als Ort des Geschehens wird in aller Regel Alexandrien angenommen.6

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xikonartikeln, an denen eine Vielzahl von einschlägig ausgewiesenen Wissenschaftlern mitgearbeitet hat: Franz Brunhölzl u. a., Bibelübersetzungen, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München/Zürich 1983, Sp. 88–106; Sebastian P. Brock u. a., Bibelübersetzungen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, Berlin/New York 1980, S. 160–311. Außerdem Kurt Aland (Hg.), Die alten Übersetzungen des Neuen Testaments, die Kirchenväterzitate und Lektionare (Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung, 5), Berlin/New York 1972. Diese Literatur ist auch dann stets heranzuziehen, wenn nicht explizit auf sie verwiesen wird. – Über nubische Bibelübersetzungen äußert sich Brock u. a., Bibelübersetzungen, S. 208, sehr zurückhaltend. Vgl. daher jetzt Roland Werner, Das Christentum in Nubien. Geschichte und Gestalt einer afrikanischen Kirche (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 48), Berlin 2013, S. 200–202. Die Legende ist zum ersten Mal im Brief des Aristeas zu fassen, vgl. Aristeas, Der König und die Bibel, griech.-dt. hg. von Kai Brodersen, Stuttgart 2008 (dort auch die jüngeren Belege im Anhang). Die Zahl 72 ergibt sich aus jeweils einem halben Dutzend Übersetzern aus jedem der zwölf Stämme Israels. Vgl. Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 163–168; Martin Karrer/Wolfgang Kraus/Siegfried Kreutzer (Hg.), Handbuch zur Septuaginta, Gütersloh 2016–2020 (von den sechs geplanten Bänden sind bisher drei erschienen); Eberhard Bons (Hg.), Historical and Theological Lexicon of the Septuagint, Tübingen 2020 (von den vier Bänden liegt bislang erst einer vor). – Daneben verdienen auch die Targume Beachtung, vgl. Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 216–228; Paul V. M. Flesher/Bruce Chilton, The Targums. A Critical Introduction, Waco 2011. Darunter versteht man „Armaic translations of books of the Hebrew Bible done by Jews during the Rabbinic period“ (ebd., S. 8 und 19), vor allem für den synagogalen Gottesdienst.

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Diese Beobachtungen verdienen umso mehr Beachtung, als die Verhältnisse in der dritten großen monotheistischen Religion, dem Islam, gegensätzlicher kaum sein könnten. Denn die „türkische Bibel“, wie es in der ersten deutschen Übersetzung direkt aus dem Arabischen bei David Friedrich Megerlin im Jahre 1772 heißt,7 wurde zunächst nicht etwa von Muslimen, sondern von Christen übersetzt. Das gilt sowohl für den syrischen (8. Jahrhundert)8 und griechischen (8./9. Jahrhundert)9 als auch für den lateinischen Koran (12. Jahrhundert).10 Alle drei dienten einem offenkundig polemischen Interesse.11

3. Anfänge christlicher Bibelübersetzung – außerhalb Europas Das Problem, in welche Sprache die christliche Bibel zuerst übersetzt worden ist, lässt sich nicht ohne Weiteres lösen. In Frage kommen in erster Linie das Lateinische und das Syrische. 7

Vgl. Die türkische Bibel oder des Korans allererste teutsche Uebersetzung aus der Arabischen Urschrift selbst verfertiget (…) von M. David Friederich Megerlin, Professor, Franckfurt am Mayn (…) 1772. 8 Vgl. Alexander Schilling, Ein Koran-Florilegium in syrischer Überlieferung. Alphonse Mingana und der „Disput gegen die Nation der Araber“ des Dionysios bar Salībī, in: Peter Bruns/Thomas Kremer (Hg.), Studia Syriaca. Beiträge des IX. Deutschen Syrologentages in Eichstätt 2016, Wiesbaden 2018, S. 155–180; Ders., Der Koran des KatholikosPatriarchen. Eine synoptische Analyse der sowohl in Timotheos’ I. Dialog mit al-Mahdī als auch in Dionysios bar Salībīs „Disput gegen die Nation der Araber“ zitierten Koranverse, in: Ders./Matthias Perkams (Hg.), Griechische Philosophie und Wissenschaft bei den Ostsyrern, Berlin 2020, S. 135–156. 9 Vgl. dazu Erich Trapp, Gab es eine byzantinische Koranübersetzung?, in: Diptycha 2 (1980/81), S. 7–17; Schriften zum Islam von Arethas und Euthymios Zigabenos und Fragmente der griechischen Koranübersetzung, griech.-dt. hg. von Karl Förstel, Corpus Islamo-Christianum, Series Graeca, Bd. 7, Wiesbaden 2009; Coranus Graecus. Die älteste überlieferte Koranübersetzung in der Ἀνατροπὴ τοῦ Κορανίου des Niketas von Byzanz. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar hg. von Manolis Ulbricht, Diss. phil. FU Berlin 2015. 10 Es handelt sich um die Lex Sarracenorum des Robert von Ketton, (überarbeitet und) gedruckt von Theodor Bibliander unter dem Titel: Machumetis Saracenorum principis eiusque successorum vitae ac doctrina ipseque Alcoran, Basel 1543 (Zürich ²1550), mit einem Vorwort des Philipp Melanchthon. Zum Corpus Toletanum in toto vgl. Petrus Venerabilis, Schriften zum Islam. Ediert, ins Deutsche übersetzt und kommentiert von Reinhold Glei (Corpus Islamo-Christianum, Series Latina, 1), Altenberge 1985; Thomas E. Burman, Reading the Qur’ān in Latin Christendom, 1140–1560, Pennsylvania 2007, S. 60–121 und 232–257. 11 Deshalb handelt es sich auch nicht um vollständige Übersetzungen, sondern um Florilegien.

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Für das Lateinische liegen Zeugnisse vor allem aus Nordafrika vor.12 So antwortet nach den Akten der Märtyrer von Scili auf die Frage des Prokonsuls Saturninus, welche Gegenstände sich in ihrem Behältnis befänden, der Christ Speratus: „Bücher sowie die Briefe des Paulus, eines gerechten Mannes“. Das Verhör wurde am 17. Juli 180 in Karthago geführt.13 Dass diese biblischen Texte in übersetzter Form vorlagen, ist zwar dringend zu vermuten, wird aber nicht ausdrücklich gesagt. Für die einschlägigen Zitate des afrikanischen Schriftstellers Tertullian (um 200) setzt man im Allgemeinen einen lateinischen Bibeltext voraus. Aber erst die Schriften des ebenfalls in Karthago tätigen Cyprian (gegen 250) erbringen „die Gewißheit, daß und in welcher Form er ein lateinisches Neues Testament in Händen hatte“.14 Die afrikanische Christenheit war allerdings nicht die einzige, die schon im 2. Jahrhundert eine lateinische Literatur hervorgebracht hat. So verfassten etwa die gallischen Gemeinden von Lyon und Vienne im Jahre 178 einen langen Brief an die Christen in Asia und Phrygien, den Eusebius in seine Kirchengeschichte aufgenommen hat;15 nach dem Urteil des bereits zitierten Bonifatius Fischer scheinen „die Bibelzitate aus dem Lateinischen ins Griechische zurückübersetzt zu sein“.16 Von ähnlichem, wenn nicht sogar höherem Alter als die genannten lateinischen Zeugnisse sind die Belege in syrischer Sprache.17 Teile des Alten Testa12 Zum Folgenden vgl. vor allem Bonifatius Fischer, Das Neue Testament in lateinischer Sprache. Der gegenwärtige Stand seiner Erforschung und seine Bedeutung für die griechische Textgeschichte, in: Aland (Hg.), Die alten Übersetzungen des Neuen Testaments (wie Anm. 4), S. 1–92, hier besonders S. 6. 13 Der Text lautet (Abs. 12): „Saturninus proconsul dixit: Quae sunt res in capsa uestra? Speratus dixit: Libri et epistulae Pauli uiri iusti.“ Vgl. Fabio Ruggiero, Atti dei martiri Scilitani. Introduzione, testo, traduzione, testimonianze e commento (Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, 388 = Classe di scienze morali, storiche e filologiche. Memorie, 9, 1, 2), Rom 1991, S. 73 und 109–111; Gerald Bonner, The Scilitan Martyrs and the Pauline Epistles, in: Journal of Ecclesiastical History 7 (1956), S. 141–147. 14 Fischer, Das Neue Testament (wie Anm. 12), S. 6. – Systematisch zur Bewertung der lateinischen Zitate Hermann Josef Frede, Die Zitate des Neuen Testaments bei den lateinischen Kirchenvätern. Der gegenwärtige Stand ihrer Erforschung und ihre Bedeutung für die griechische Textgeschichte, in: Aland (Hg.), Die alten Übersetzungen des Neuen Testaments (wie Anm. 4), S. 455–478 (dort auch zu Cyprian mit der älteren Literatur). 15 Vgl. Eusebius, Kirchengeschichte, hg. von Eduard Schwartz/Theodor Mommsen, Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 9, 2, Leipzig 1903– 1909, hier V, 1–4 (S. 402–435). 16 Fischer, Das Neue Testament (wie Anm. 12), S. 6. 17 Von einem Umschwung um 180 gehen Kurt Aland/Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 1982, S. 62, aus: „Um das Jahr 180 beginnt sich in der Kirche des Westens (und nicht nur in ihr, sondern auch der des syrischen und koptischen Sprachgebietes) ein Umschwung anzubahnen: die Landessprache fängt an, sich durchzusetzen bzw. mindestens nach ihrem Recht zu verlangen“.

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ments in der Peschitta-Version dürften im späten 1. oder 2. Jahrhundert nach Christus entstanden sein, und zwar in einem jüdischen oder judenchristlichen Milieu.18 Hier wird also der Übergang von der einen zu der anderen Religion in besonderer Weise deutlich. Was das Neue Testament betrifft, zeichnet sich die syrische Kirche für längere Zeit durch eine Besonderheit aus: die Tatsache nämlich, dass nicht die üblichen vier Evangelien, sondern eine diese integrierende Evangelienharmonie, das sogenannte „Diatessaron“, Verwendung fand. Ihr Verfasser war der aus Ostsyrien stammende, weit gereiste Tatian, ein Schüler des Theologen und Philosophen Justinus Martyr. Ob sein um 172 fertiggestelltes Hauptwerk ursprünglich auf Syrisch oder auf Griechisch abgefasst war, muss allerdings offenbleiben.19

4. Die letzten mittelalterlichen Belege Richtet man den Blick vom Anfang der Liste auf ihr Ende, so stößt man auf zwei Sprachen des Balkans, die (in sprachtypologischer Hinsicht) unterschiedlicher kaum sein könnten: das Rumänische und Ungarische. Umso erstaunlicher ist es, dass diese beiden Bibelübersetzungen ziemlich viele Gemeinsamkeiten haben. Etwas älter sind die Übersetzungsbemühungen in Ungarn, wo sie bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen. Der entscheidende Motor waren die im Lande ansässigen Franziskaner, die eine Vielzahl von Texten übersetzten bzw. übersetzen ließen. Biblische Bücher sind zwar bezeugt, haben sich aber nicht erhalten. Die zweite Übersetzungswelle folgte dann im 15. Jahrhundert, als die beiden Hussiten Tamás (Thomas) und Bálint (Valentin) „Altes und Neues Testament oder jedenfalls größere Teile davon“ ins Ungarische übertrugen.20 Unter hussitischem Einfluss wurden auch Teile der Bibel ins Rumänische übersetzt, vor allem das Buch der Psalmen und das Neue Testament. Erhalten haben sich die Handschrift des Hurmuzaki sowie Kodizes in Scheia und im Kloster Voronet (in der Bukowina).21

18 Vgl. Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 182–184; Michael P. Weitzman, The Syriac Version of the Old Testament. An Introduction (University of Cambridge Oriental Publications, 56), Cambridge 1999. 19 Vgl. William L. Petersen, Tatian’s Diatessaron. Its Creation, Dissemination, Significance, and History in Scholarship (Vigiliae Christianae Supplements, 25), Leiden/New York/ Köln 1994. 20 Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 266 (hier auch das Zitat). 21 Vgl. ebd., S. 259.

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5. Die räumliche Dimension Mit den antiken und mittelalterlichen Bibelübersetzungen wird ein Gebiet abgedeckt, das von Zentralasien (Sogdisch, Arabisch) bis nach Portugal und vom Sudan (Nubisch) bis nach Skandinavien reicht. In Europa sind am Ende des Mittelalters alle großen Sprachen vertreten, nur an den Rändern (Finnisch, Baltische Sprachen etc.) und bei kleineren Sprachgemeinschaften (zum Beispiel Friesisch, Walisisch, Baskisch, Rätoromanisch) bleiben einige Flecken weiß. Zu beachten ist allerdings, dass nicht alle Sprachen dort zu verorten sind, wo man sie viel­leicht zuerst vermuten würde. So wurde die Übersetzung ins Gotische nicht etwa im hohen Norden, sondern auf dem Balkan, genauer in der Provinz Moesia inferior (im heutigen Bulgarien) angefertigt; historisch gesehen steht sie den Übersetzungen ins Armenische, Georgische oder Koptische sehr viel näher als denen ins Englische, Deutsche oder gar in eine skandinavische Sprache. Die ältesten handschriftlichen Zeugnisse stammen allesamt aus Italien – wahrscheinlich vor allem aus Ravenna – und datieren aus der sogenannten Ostgotenzeit (5./6. Jahrhundert).22

6. Die Rolle des Sprachwandels Übersetzungen sind nicht zuletzt auch vom Sprachwandel abhängig. Die Unverständlichkeit einer Sprache (oder zumindest Teile von ihr) ist sicherlich das wichtigste Movens für neue Übersetzungen. Weil zum Beispiel das kirchliche Latein nicht mehr (so gut) verstanden wurde, waren ab einem bestimmten Zeitpunkt Übersetzungen ins Französische, Spanische und Italienische nötig. Spannend ist dabei die Frage, wann das geschah: was das Italienische betrifft, nach spärlichen Anfängen im 13., verstärkt erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Vollbibeln des Nicolo Malermi sowie eines unbekannten Übersetzers, beide innerhalb von wenigen Monaten 1471 in Venedig erschienen).23 Die historische Entwicklung ist auch ein Grund dafür, dass die Bibel in unterschiedlichen Perioden mehrfach in ein und dieselbe Sprache übersetzt wurde. So konnten etwa John Wyclif und seine Mitstreiter wohl kaum noch die altenglischen Bibeltexte verstehen, wenn sie denn überhaupt Zugriff darauf hatten. 22 Vgl. Piergiuseppe Scardigli, Die Goten. Sprache und Kultur, München 1973 (zuerst ital. 1964); Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, München ³1990, S. 84–94 (zuerst 1979). 23 Vgl. Brunhölzl u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), Sp. 103; Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 256 f.

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Und für die althochdeutschen Übersetzungen und Paraphrasen dürfte zur Zeit Luthers das Gleiche gegolten haben. Bisweilen ändert sich freilich nicht die Sprache, sondern sie wird aus vorwiegend politischen Gründen neu etikettiert. Das gilt etwa für die gedruckte Bibel des Bonifacio Ferrer aus dem Jahre 1478, von der sich nur ein einziges Blatt erhalten hat. Traditionellerweise wird sie dem Katalanischen zugerechnet; nachdem jedoch 1982 die Region Valencia autonom und ihre Sprache als (dem Katalanischen gegenüber) eigenständig erklärt wurde, findet sich auch die Klassifizierung als „Valencianisch“ – eine Entscheidung, die nicht jedermanns Zustimmung findet.24

7. Umfang der biblischen Texte Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter wird die Bibel nur selten „in toto“ überliefert; viel häufiger sind einzelne Bücher oder Büchergruppen, wie zum Beispiel die fünf Bücher Mose, die historischen Bücher, die kleinen Propheten, die Evangelien, die paulinischen Briefe usw.25 Das gilt ganz entsprechend auch für die Übersetzungen. So wird zum Beispiel im 14. Jahrhundert der Psalter ins Polnische übersetzt (sog. St. Florianer Psalter), lange vor der Bibel der Königin Sophie.26 In Portugal muss es im selben Zeitraum die Evangelien und die Apos­ telgeschichte gegeben haben sowie eine Übersetzung der Bible Historiale; erhalten haben sie sich jedoch nicht.27 Die Reihe ließe sich lange fortsetzen. Einbändige Vollbibeln, die sogenannten Pandekten, erweisen sich dagegen als ein seltener Sonderfall. Über ihre Existenz wissen wir beispielsweise durch das Zeugnis Cassiodors aus dem 6. Jahrhundert, der in seinem Kloster Vivarium gleich zwei Exemplare davon besaß. Weitere folgen in den nächsten Jahrhunderten, besonders in der karolingischen Epoche. Am bekanntesten sind die Pandekten aus dem Kloster St. Martin in Tours, in dem der angelsächsische Gelehrte Alkuin von 796 bis zu seinem Tod 804 Abt war. Sie hatten ein sehr repräsentatives Format, das zugleich auch die physischen Grenzen derartiger Bücher zeigt 24 Vgl. dazu Hans-Ingo Radaz, „Katalanisch“ oder „Valencianisch“? Zum sprachlichen Sezessionismus im Land Valencia, in: Zeitschrift für Katalanistik 6 (1993), S. 97–120. 25 Vgl. dazu und zum Folgenden Bonifatius Fischer, Bibelausgaben des frühen Mittelalters, in: La bibbia nell’alto medioevo (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’alto Medioevo, 10), Spoleto 1963, S. 519–600. Zur Frage, welche Bücher zur Bibel gehören, vgl. Eckhard Plümacher/Wilhelm Schneemelcher/Gunther Warnke, Bibel I–III, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, Berlin/New York 1980, S. 1–48 (mit Lit.); Aland/ Aland, Text (wie Anm. 17), S. 57–59. 26 Vgl. Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 262. 27 Ebd., S. 258.

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– im Falle der Bamberger Handschrift (Staatsbibliothek, Misc. Bibl. 1) etwa gut 420 Blätter mit einer Größe von circa 47 auf 36 Zentimetern.28

8. Sprachliche und literarische Kontexte Es macht einen nicht unerheblichen Unterschied, in welchem sprachlichen und literarischen Kontext eine bestimmte Bibelübersetzung entstanden ist. So wurde die Heilige Schrift im Falle des Griechischen und Lateinischen in Sprachen übersetzt, die längst in höchster Blüte standen. Mit anderen Worten: Die Bibel war ein Text unter sehr vielen, Teil einer vielfältigen Literatur. Ganz anders in Armenien, dem ersten Reich, das (unter König Tiridates III.) das Christentum zur Staatsreligion erhob. Hier musste nämlich zunächst der Mönch und Priester Mesrop eine Schrift erfinden, die es ihm erlaubte, unter der Ägide des Katholikos Isaak (Sahak) von Armenien und gemeinsam mit anderen die Bibel in seine eigene Sprache zu übersetzen. Das Vorgehen beschreibt sein Schüler Koriun vergleichsweise genau und spart dabei auch nicht die Tatsache aus, dass der erste Text bald schon revidiert werden musste.29 Viele Ähnlichkeiten damit weist das Gotische auf. Auch für diese Sprache musste zunächst eine eigene Schrift entwickelt werden – und hier geschah dies ebenfalls auf der Grundlage des Griechischen –, bevor Bischof Wulfila die Bibel übersetzen konnte. Der genaue Umfang ist zwar umstritten, aber es steht fest, dass das Neue Testament und zumindest Teile des Alten darunter waren. Während jedoch das Armenische im Laufe der Zeit eine vielfältige Literatur hervorbrachte, blieb für das Gotische die Bibel dominierend. Hinzu kamen: die Skeireins (eine Auslegung des Johannesevangeliums), das Fragment eines liturgischen Kalenders sowie diverse Glossen.30 Es ist offensichtlich, dass die Notwendigkeit für die Verschriftlichung der Sprache hauptsächlich aus der christlichen Religion heraus entstand.31 28 Vgl. Bonifatius Fischer, Die Alkuin-Bibel (Aus der Geschichte der lateinischen Bibel, 1), Freiburg i. Br. 1957. Fischer listet 30 Pandekten aus den Abbatiaten von Alkuin bis Vivian auf (S. 13 f.). Der Bamberger Kodex wurde demnach unter Abt Adalhard geschrieben. – Es ist kein Zufall, dass Pandekten heute meist auf Dünndruckpapier (auch als Bibeldruckpapier bezeichnet) und mit kleiner Type gedruckt werden. 29 Vgl. Aland, Übersetzungen (wie Anm. 4), S. 211–213; Brunhölzl u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), Sp. 94; Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 200 f.; Valentina Calzolari, Mesrop (Maštoc), in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 24, Stuttgart 2012, Sp. 749–758. 30 Ob die Wulfila-Bibel nur bei den Goten oder aber auch bei anderen germanischen Stämmen Verwendung fand, ist noch ungeklärt. Positive Belege existieren offenbar nicht. 31 Das Bleitäfelchen aus Hács-Béndekpuszta enthält ebenfalls einen biblischen Text (aus Johannes 17). Außerdem gibt es noch zwei Urkunden mit gotischer Unterschrift. Vgl. Wilhelm

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9. Das Problem der Übersetzer Viele Bibelübersetzungen sind anonym überliefert und wurden auch von den Zeitgenossen nicht mit einem bestimmten Urheber in Verbindung gebracht. In einigen Fällen verhält es sich aber genau umgekehrt: Hier sind die Verfassernamen geradezu synonym mit der Übersetzung in eine bestimmte Sprache, man denke nur etwa an Hieronymus, Wulfila, Mesrop und Isaak, Kyrill und Method, John Wyclif, Jan Hus, Nicolò Malermi oder Primus Truber.32 Wie hoch ihr Anteil an der Arbeit tatsächlich war, ist sehr verschieden und in nicht wenigen Fällen unklar. Ein sehr komplexes Bild zeichnet etwa Koriun in seiner Vita des Mesrop.33 Die starke Personalisierung führte auch dazu, dass die Bibelübersetzer direkt miteinander verglichen wurden. Besonders beliebt waren Wulfila und Luther, die schon Hans Ferdinand Maßmann in der Mitte des 19. Jahrhunderts zueinander in Beziehung setzte.34 Und mit Hinweis darauf meinte noch Piergiuseppe Scardigli mehr als hundert Jahre später: „Nicht zu Unrecht ist Wulfila mit Luther verglichen worden, ja, er fand eine noch schwerere Aufgabe vor als dieser“.35

10. Der jüdische Beitrag Einen nicht unerheblichen Beitrag zur (christlichen) Bibelübersetzung leisteten immer wieder auch jüdische Gelehrte. Zwei sehr unterschiedliche Beispiele aus der Antike und dem Mittel­alter mögen das illustrieren.

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Streitberg, Die Gotische Bibel, Bd. 1: Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Mit Einleitung, Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleineren Dokumenten im Anhang (mit einem Nachwort von Piergiuseppe Scardigli), Heidelberg 72000 (zuerst 1908). – Zum jüngsten Fund, wohl Teil eines Gebets oder einer Predigt, vgl. Carla Falluomini, Zum gotischen Fragment aus Bologna, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 143 (2014), S. 281–305; Dies., The Gothic Fragment from Bologna: Corrections and New Readings, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 146 (2017), S. 284–294. Zu den beiden zuletzt Genannten vgl. Edoardo Barbieri, Malerbi, Nicolò, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 68, Rom 2007, S. 149–151; sowie Mirko Rupel, Primus Truber. Leben und Werk des slowenischen Reformators (Südosteuropa-Schriften, 5), München 1965 (zuerst slow. 1962). Die Vita des Mesrop ist in zwei Fassungen überliefert, vgl. Gabriele Winkler, Koriwns Biographie des Mesrop Maštoc. Übersetzung und Kommentar (Orientalia Christiana Analecta, 245), Rom 1994. Zur Übersetzung berichtet er unter anderem in der 1. Fassung, Kap. 10, 13 und 33 (S. 100 f., 102 f., 112). Nach Koriun erfolgte eine erste Übersetzung aus dem Syrischen, eine zweite aus dem Griechischen. S. dazu auch oben, Anm. 29. Vgl. Hans Ferdinand Massmann, Luther und Ulfila, in: Germania 7 (1846), S. 362–369. Scardigli, Die Goten (wie Anm. 22), S. 95.

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So hat Hieronymus, der Übersetzer der Vulgata, seit seinem Aufenthalt in Palästina offenbar regelmäßig Kontakt mit Juden gehabt. Er erwähnt sie in Briefen und in seinen Vorworten zu den biblischen Büchern. Dabei werden allerdings nur sehr selten Namen genannt, stattdessen ist zum Beispiel von „meinem Juden“ oder von dem „Juden, der uns in der Lektüre des Alten Testaments unterrichtet“, die Rede. Daher ist schwer zu sagen, ob der christliche Asket einen Gewährsmann oder mehrere – manche glauben: insgesamt fünf – zur Verfügung hatte. Hieronymus übersetzte erst in seiner dritten und letzten Schaffensphase aus dem Hebräischen (ab den 390er-Jahren); davor hatte er, wie andere vor ihm, die Septuaginta und die Hexapla zugrunde gelegt.36 Ganz anders die Situation im Spanien des 15. Jahrhunderts. Hier gab Luis de Guzmán, seines Zeichens Großmeister des Ordens von Calatrava, 1422 per Brief bei dem jüdischen Gelehrten und Rabbiner Moses Arragel die Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen ins Kastilische in Auftrag. Die gewünschte Handschrift (die sogenannte Alba-Bibel) wurde im Jahre 1430 fertiggestellt; der Bibeltext wird durch ausführliche Kommentare christlicher (auf der einen Seite) und jüdischer Autoritäten (auf der anderen Seite) ergänzt, außerdem mit über 300 zum Teil aufwändigen Miniaturen geschmückt. Für die christliche Seite war der Franziskaner Arrias de Enciena verantwortlich.37

11. Art der Übersetzung In einem Brief an den Senator Pammachius in Rom unterscheidet Hieronymus grundsätzlich zwei Arten der Übersetzung: Wort für Wort („verbum a verbo“) und sinngemäß („sensum a sensu“).38 Genau diese Alternativen finden sich als 36 Vgl. Ilona Opelt, San Girolamo e i suoi maestri ebrei, in: Augustinum 28 (1988), S. 327–338; Sebastian Weigert, Hebraica veritas. Übersetzungsprinzipien und Quellen der Deuteronomiumübersetzung des Hieronymus (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 207), Stuttgart 2016, S. 68 f. (mit den Zitaten). Zu Hieronymus als „vir trilinguis“ (sowie den Kosten des Sprachunterrichts) s. Stefan Rebenich, Hieronymus und sein Kreis. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen (Historia Einzelschriften, 72), Stuttgart 1992, S. 203–205. Zur Person und zum Werk allgemein vgl. Alfons Fürst, Askese und Wissenschaft in der Spätantike, Freiburg i. Br./Basel/Wien ²2016 (zuerst 2003). 37 Vgl. Jeremy Schonfield u. a. (Hg.), La Biblia de Alba. An illustrated manuscript Bible in Castillian, Madrid 1992 (Faksimile- und wissenschaftlicher Begleitband); Sonia Fellous, Histoire de la Bible de Moïse Arrangel. Quand un rabbin interprète la Bible pour les chrétiens, Tolède 1422–1433, Paris 2001. 38 Hieronymus, Epistulae, hg. von Isidor Hilberg (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinarum, 54), Wien 1910, Nr. 57 „de optimo genere interpretandi“ (S. 503–526), hier S. 508. Dazu Gerhardus J. M. Bartelink, Hieronymus: Liber de optimo genere interpretandi (Epistula 57). Ein Kommentar (Mnemnosyne Supplementum, 61), Leiden 1980, S. 46 f.

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Extrempositionen auch in den antiken und mittelalterlichen Bibelübersetzungen. So weist etwa der Text des Wulfila eine hohe Treue gegenüber der Ausgangssprache – immerhin ist es ja das Wort Gottes – auf, Luther fühlt sich stark der Zielsprache verpflichtet: nichts anderes meint es bekanntlich, dem Volk „aufs Maul (zu) sehen“.39 Hieronymus hatte sich bei der Bibel übrigens für die erste Variante entschieden, und zwar im Gegensatz zu seiner sonstigen Praxis.40 Neben diesen Übersetzungen im engeren Sinne gibt es eine große Fülle weiterer Texte, die die Bibel in einer etwas freieren Form behandeln. Dazu gehören etwa die Evangelienharmonien, unter denen der bereits erwähnte Tatian in besonders viele Sprachen übersetzt worden ist – vom Arabischen und Persischen bis zum Lateinischen und Deutschen.41 Nicht weniger stark vertreten ist die Bibeldichtung, und zwar sowohl in lyrischer als auch in prosaischer Form. Als Beispiel für den ersten Fall ließen sich etwa die altenglischen Gedichte in der Oxforder Junius-Handschrift (zu Genesis, Exodus, Daniel sowie Christus und Satan) anführen,42 für den zweiten die altfranzösische Bible Historiale des Guyart des Moulins, der noch viele weitere Historienbibeln folgen sollten.43 39 So in deutlicher Abgrenzung Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen 1530, hg. von F. Herrmann/Oskar Brenner, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 30, 2, Weimar 1909, S. 627–646: „den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprache fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt darumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den, und mercken, das man Deutsch mit jn redet“. Zur Sache vgl. Birgit Stolt, Luthers Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis, in: Helmar Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Berlin 1983, S. 241–252 und 797–800. 40 Vgl. wie Anm. 38. Grund dafür ist ihm zufolge die geheimnisvolle Anordnung der Heiligen Schrift. – Alte und neue Systematisierungsversuche stellen etwa Rolf Kloepfer, Die Theorie der literarischen Übersetzung: Romanisch-deutscher Sprachbereich (Freiburger Schriften zur romanischen Philologie, 12), München 1967; und Katharina Reiss, Was heißt Übersetzen?, in: Joachim Gnilka/Hans Peter Rüger (Hg.), Die Übersetzung der Bibel – Aufgabe der Theologie. Stuttgarter Symposion 1984 (Texte und Arbeiten zur Bibel, 2), Bielefeld 1985, S. 33–47; Dies., Paraphrase und Übersetzung. Versuch einer Klärung, in: ebd., S. 273–287, vor. 41 Vgl. oben, Anm. 19. 42 Vgl. George Philip Krapp (Hg.), The Junius Manuscript (Anglo-Saxon Poetic Records, 1), London/New York 1931; Roy Michael Liuzza (Hg.), The Poems of MS Junius 11: Basic readings (Basic readings in Anglo-Saxon England, 8), New York/London 2002. Für weitere Beispiele vgl. Fidel Rädle u. a., Bibeldichtung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München/Zürich 1983, Sp. 75–82. 43 Vgl. Samuel Berger, La Bible française au moyen âge. Étude sur les plus anciennes versions de la Bible écrites en prose de langue d’oïl, Paris 1884; Clive R. Sneddon, The ‚Bible du XIIIe siècle‘: its Medieval Public in the Light of its Manuscript Tradition, in: Willem Lourdaux/Daniel Verhelst (Hg.), The Bible and Medieval Culture, Löwen 1979,

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12. Adressaten der Übersetzung Für wen waren die Bibelübersetzungen ursprünglich gedacht? Diese Frage lässt sich sicherlich nicht pauschal beantworten. Aber immerhin kann auch hier die Spannweite der Alternativen aufgezeigt werden. Zu den Besitzern volkssprachlicher Bibeln gehörten die Spitzen der Gesellschaft, nämlich die Könige selbst. König Ludwig IX., der später den Beinamen „der Heilige“ erhielt, besaß eine altfranzösische Bibel, die er unter anderem mit auf den Kreuzzug nahm.44 Der böhmische und zugleich römisch-deutsche König Wenzel gab eine deutschsprachige Bibel in Auftrag, die bis zum Ende des Buches Ezechiel immerhin sechs Bände umfasst; zwei bis drei weitere dürften noch geplant gewesen sein. Die heute in Wien aufbewahrten Handschriften sind mit aufwändigen Miniaturen geradezu übersät und tragen damit dem Repräsentationsbedürfnis eines Herrschers durchaus Rechnung.45 Schon bevor diese königlichen Bibeln entstanden sind, kam es in Europa zu Neuerungen, die Herbert Grundmann in den 1930er-Jahren als ‚religiöse Bewegungen‘ untersucht hat. Gemeint sind damit vor allem die Bettelorden, die religiöse Frauenbewegung und nicht zuletzt die heterodoxen Gruppierungen (die sogenannten „Ketzer“) wie Katharer und Waldenser.46 Beinahe fünfzig Jahre später hat sich Klaus Schreiner mit einem verwandten Thema beschäftigt, nämlich der hoch- und spätmittelalterlichen Laienbildung und ihren kirchlichen sowie gesellschaftlichen Bedingungen.47 S. 127–140. Vgl. auch Brunhölzl u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), Sp. 103; Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 255. Der Bible Historiale liegen unter anderem die De Thou-Bibel, eine vollständige Übersetzung ins Französische, und die Historia Scholastica des Petrus Comestor zugrunde. 44 Vgl. Brock u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), S. 255. Brunhölzl u. a., Bibelübersetzungen (wie Anm. 4), Sp. 103, spricht sogar davon, dass dieser König „eine Bibelübersetzung in Auftrag“ gab. Die Biographie von Jacques Le Goff, Ludwig der Heilige, Stuttgart 2000 (zuerst frz. 1996), nimmt zu dieser Frage nicht Stellung. 45 Die Bibel umfasst 1214 Blätter im Format von 53 auf 37 Zentimeter. Die heutige Bindung geht auf das Jahr 1790 zurück. Vgl. dazu Hedwig Heger/Ivan Hlaváček/Gerhard Schmidt/Franz Unterkircher, Die Wenzelsbibel. Vollständige Faksimile-Ausgabe der Codices Vindobonenses 2759–2764 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Bd. 1–9 (Codices selecti, 70/1–9), Graz 1981–1998, mit ausführlichem Kommentar; resümierend Heimo Reinitzer, Wenzelsbibel, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 10, Berlin/New York ²1999, Sp. 869–875. 46 Vgl. Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die Grundlagen der Deutschen Mystik (Historische Studien, 267), Berlin 1935. 47 Vgl. Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im

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Von zentraler Bedeutung waren dabei, besonders was die Anfänge angeht, die Waldenser. Im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts erteilte der wohlhabende Kaufmann Petrus Waldes den Auftrag, die Evangelien sowie andere biblische und nichtbiblische Bücher ins Französische zu übersetzen. Diese Aufgabe übernahm der Grammatiker Stephan von Anse, sein Diktat schrieb der Kopist und nachmalige Priester Bernhard Ydros nieder. Was war der Grund dafür? Petrus Waldes war nicht (ausreichend) des Lateinischen mächtig, um selbst die Heilige Schrift zu verstehen, und für viele andere Prediger, die ihm folgten, galt dies auch. Sie sollten durch die muttersprachliche Fassung entscheidend unterstützt werden – an eine Bibellektüre jedes einzelnen Laien war dagegen nicht gedacht.48

13. Bibelverbote und die Päpste Mit den Waldensern kommt auch das Papsttum ins Spiel. In einem heute verlorenen Schrei­ben an Innozenz III. berichtete der Bischof von Metz, dass es in seinem Zuständigkeitsbereich Gruppierungen von Laien gebe, die sich aus französischen Bibeln vorläsen, predigten und die entsprechenden Verbote der Priester missachteten. Der Papst will daraufhin unter anderem wissen, „woher die von den Sektierern benutzten Bibelübersetzungen stammen und was ihre Tendenz sei; wie es mit dem Glauben dieser Menschen bestellt sei, die diese Übersetzungen benutzten und warum sie sie benutzten“.49 Die unerlaubte Predigttätigkeit wird dagegen strikt abgelehnt. Bischof Bertram von Metz antwortet ihm in einem ebenfalls verlorenen Schreiben, worauf der Papst drei Zisterzienseräbte mit der Untersuchung der Sache vor Ort beauftragte, die schließlich die Bibelübersetzungen verbrennen ließen.50

späten Mittelalter und in der Reformation, in: Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1984), S. 257–354. 48 Vgl. Grundmann, Bewegungen (wie Anm. 46), S. 442–452; Schreiner, Laienbildung (wie Anm. 47), S. 287; Kurt-Victor Selge, Die ersten Waldenser. Mit einer Edition des Liber Antiheresis des Durandus von Osca, Bd. 1–2 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 37), Berlin 1967, hier Bd. 1, S. 227–231. 49 Grundmann, Bewegungen (wie Anm. 46), S. 98. 50 Vgl. Die Register Innocenz’ III. 2. Band, 2. Pontifikatsjahr (1199/1200): Texte, hg. von Othmar Hageneder/Werner Maleczek/Alfred A. Strnad, Publikationen des österreichischen Kulturinstituts in Rom, Bd. 2, 1, 2, Rom/Wien 1979, hier II, Nr. 132 von Mitte Juli 1199 (S. 271–275); II, Nr. 133 vom 12. Juli 1199 (S. 275 f.); II, Nr. 226 vom 9. Dezember 1199 (432–434). Die beiden Schreiben des Bischofs von Metz lassen sich aus den päpstlichen Briefen sinngemäß erschließen.

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Wie schon dieses Procedere zeigt, zieht Innozenz III. eine ausführliche Überprüfung dem übereilten Urteil vor.51 Und auch sonst sind es zunächst nicht die Päpste, die Bibeln in der Volkssprache verbieten. Vielmehr tun sich in diesem Punkt die Konzilien hervor wie etwa diejenigen in Toulouse 1229, in Reims 1230, in Trier 1231, in Tarragona 1233/34 oder dann in Oxford 1408. Erst nach der Reformation – und in direkter Auseinandersetzung mit ihr – treten dann stärker die römischen Pontifices wie etwa Paul IV., Pius IV. oder Clemens VIII. in den Vordergrund.52 Obwohl bei weitem nicht alle heterodoxen Gruppierungen zur Laienbibel rieten, wurde die Heilige Schrift in der Sprache des Volkes aus der Sicht der Amtskirche schnell zu einem Synonym für „Häresie“. Mehrere Jahrhunderte zuvor hatten die Päpste schon einmal in die Diskussion um den Gebrauch der Volkssprache eingegriffen. Nachdem nämlich die Brüder Kyrill und Method die Bibel sowie die Liturgie ins Slawische übertragen hatten, stellte sich die Frage, ob diese Sprache im kirchlichen Kontext zu erlauben sei. Hadrian II. und Johannes VIII. sprachen sich 868 und 880 ausdrücklich dafür aus, Johannes X. vier Jahrzehnte später jedoch dagegen. Damit aber nicht genug: Im 11. Jahrhundert nahmen zuerst die Päpste Nikolaus II. und Alexander II. positiv Stellung, Gregor VII. hingegen untersagte 1080 wieder den Gebrauch usw.53 – alles in allem Belege für eher situative Entscheidungen.54

14. Wissenschaftliche Diskussionen Das England des 14. Jahrhunderts war von mehreren Sprachen geprägt, die sich sozial relativ klar zuordnen lassen: Der Klerus und die Universitätsgelehrten lasen 51 Vgl. Grundmann, Bewegungen (wie Anm. 46), S. 97–100; Selge, Waldenser (wie Anm. 48), Bd. 1, S. 290–293. 52 Margaret Deanesly, The Lollard Bible and Other Medieval Biblical Versions, Cambridge 1920, S. 18–88; knapp resümierend Max Seckler, Bibelverbote, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Tübingen 41998, Sp. 1515 f. 53 Die beste Zusammenstellung zur slawischen Liturgie aus päpstlicher Perspektive ist nach wie vor Joseph Augustin Ginzel, Geschichte der Slawenapostel Cyrill und Method und der slawischen Liturgie, Leitmeritz 1857, besonders Anhang S. 43–104; zur Aktualisierung vgl. die einschlägigen Papstregesten. Zu den beiden Protagonisten vgl. Franz Grivec, Konstantin und Method. Lehrer der Slaven, Wiesbaden 1960; Francis Dvornik, Byzantine Mission among the Slavs: SS. Constantine-Cyril and Methodius, New Brunswick 1970. 54 Die Aufnahme des Slawischen widersprach der klassischen Dreisprachentheorie (s. dazu unten); ihre Gegner verwenden dafür den Ausdruck „Drei-Sprachen-Häresie“, vgl. Georg Kretschmar, Kirchensprache, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin/ New York 1990, S. 74–92, hier S. 80 f.

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die Bibel auf Latein in der Übersetzung des Hieronymus; der anglonormannische Adel samt königlichem Hofstaat und den Spitzen von Verwaltung und Justiz bevorzugte die Heilige Schrift (sowie ihre Nachdichtungen) in französischer Sprache; der größte Teil der Bevölkerung, der vor allem Englisch sprach, hatte keinen direkten Zugang zum Alten und Neuen Testament. Das änderte sich erst durch zwei Übersetzungen, die aus dem Umkreis des John Wyclif stammen: eine ältere wortwörtliche Übertragung („Early Version“) und eine jüngere, sinngemäße Fassung („Later Version“).55 Wyclif selbst dürfte dabei bestenfalls der Initiator des Unternehmens gewesen sein, die Übertragungen wurden hingegen von Nicholas von Hereford, John Purvey, John Trevisa und anderen vorgenommen.56 Mit dem Oxforder Gelehrten John Wyclif und seinen Mitstreitern kommt eine Institution in den Blick, die nicht untypisch für die Reformatoren des späten Mittelalters ist: die Universität (man denke nur an Jan Hus in Prag oder Martin Luther in Wittenberg). Ein wichtiger Teil dieses universitären Lebens waren die wissenschaftlichen Kontroversen, die oft schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Dazu gehörte auch die Frage, ob die Bibel in die Sprache des Volkes übersetzt werden solle oder nicht. So sprechen sich etwa der Franziskaner William Butler („Contra translacionem anglicanam“) und der Dominikaner Thomas Palmer („De translacione scripture sacre in linguam barbaricam“) gegen jede Übersetzung ins Englische aus, der Kanzler der Universität Oxford Richard Ullerston („De translatione sacre scripture in vulgare“) und andere hingegen dafür.57 55 Inzwischen spricht man auch von einer „Early Early Version“ sowie einer „Later Later Version“; vgl. resümierend Henry Ansgar Kelly, The Middle English Bible. A Reassessment, Philadelphia 2016, S. 129–135, 139 f. Ältere Bezeichnungen wie Wyclif-Bibel und Lollarden-Bibel werden heutzutage abgelehnt. Die Mittelenglische Bibel ist in über 250 Exemplaren überliefert. 56 Mary Dove, Wyclif and the English Bible, in: Ian Christopher Levy (Hg.), A Companion to John Wyclif. Late Medieval Theologian, Boston 2006, S. 365–406; Dies., The First English Bible. The Text and Context of the Wicliffite Versions, Cambridge 2007; Kelly, Middle English Bible (wie Anm. 55). 57 Vgl. Deanesly, Lollard Bible (wie Anm. 52), S. 399–418, 418–437 und 437–445; zu den Argumenten Margaret Deanesly, Arguments against the Use of Vernacular Bibles, Put forward in the Controversy over their Lawfulness, 1400–1408, in: The Church Quarterly Review 91 (1920/21), S. 59–77; Kelly, Middle English Bible (wie Anm. 55), S. 50–70; zur Datierung Cornelia Linde, Arguing with Lollards. Thomas Palmer, O. P., and De translatione scripture sacre in linguam barbaricam, in: Viator 46 (2015), S. 235–254; Anne Hudson, The Debate on Bible Translation, Oxford 1401, in: Dies., Lollards and their Books (History Series, 45), London 1985, S. 67–84, und jetzt: From the Vulgate to the Vernacular. Four Debates on an English Question c. 1400, hg. von Elizabeth Solopova/ Jeremy Catto/Anne Hudson, British Writers of the Middle Ages and the Early Modern Period, Bd. 7, Toronto/Oxford 2020 (einschließlich einer mittelenglischen Adaption der Determinatio Ullerstons). – Als Traktat aus dem deutschsprachigen Raum vgl. „De libris teutonicalibus“ des Theologen und Schriftstellers Gerhard Zerbold von Zutphen; dazu

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15. Buchdruck – Bibeldruck Durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wurde die Verbreitung der Bibel und in Verbindung damit auch ihre Übersetzung massiv beschleunigt. Das erste Buch, das Johannes Gutenberg Mitte der 1450er-Jahre druckte, war selbstverständlich eine Bibel – eine Vulgata in rund 180 Exemplaren, wahlweise auf billigerem Papier oder teurerem Pergament (42-zeilige Bibel).58 Nicht einmal fünfzehn Jahre später erschien die erste deutsche Übersetzung im Druck und kostete – ohne Einband – zwölf Gulden. Sie stammte aus der Werkstatt des Johannes Mentelin in Straßburg, der nacheinander und parallel Notar, Kalligraph, Drucker und Buchhändler war (61-zeilige Bibel). Auch er hatte sechs Jahre vor seiner deutschen bereits eine lateinische Bibel herausgebracht.59 Der Erfolg des neuen Verfahrens lässt sich am leichtesten an einer Reihe von Zahlen ablesen. So wurden in der Zeit vor Luther 14 hochdeutsche (Mentelin-) und vier niederdeutsche Bibeln gedruckt, außerdem 13 italienische (seit 1471), eine französische (um 1498), zwei katalanische (1478 und 1498),60 drei tschechische (1488, 1489 und 1506) sowie eine niederländische (1477), außerdem zahlreiche Teildrucke. In der gleichen Zeit wurden 94 lateinische Vollbibeln in Deutschland, 27 in Italien und zehn in Frankreich (und dazu viele Teilbibeln) aufgelegt, außerdem einige Alte Testamente in hebräischer Sprache (in Socino, Brescia, Neapel und Venedig seit 1488) sowie ein griechisches (und lateinisches) Neues Testament (Basel 1516 und mehrfach).61

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Schreiner, Laienbildung (wie Anm. 47), S. 295. Natürlich sind auch die Vorworte zu den Bibelübersetzungen einschlägig. Was den Text, die Pariser Version der Vulgata, betrifft, vgl. Heinrich Schneider, Der Text der Gutenbergbibel. Zu ihrem 500jährigen Jubiläum untersucht (Bonner Biblische Beiträge, 7), Bonn 1954. Vgl. zu ihm Karl Schorbach, Der Straßburger Frühdrucker Johann Mentelin (1458– 1478). Studien zu seinem Leben und Werk, Mainz 1932; Peter Amelung, Mentelin, Johannes, in: Neue Deutsche Biographie 17, Berlin 1994, S. 89–91. Den Preis verzeichnet übrigens der Augsburger Chronist Hector Mülich in seinem Exemplar dieser Bibel. – Mentelin hat die Bibel nicht selbst übertragen, sondern verwendete eine Übersetzung des 14. Jahrhunderts aus dem Raum Nürnberg. Oder eine Valencianische und eine Katalanische. Vgl. Hans Volz, Bibel und Bibeldrucke in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert (Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft, 70), Mainz 1960; Paul Heinz Vogel, Europäische Bibeldrucke des 15. und 16. Jahrhunderts in den Volkssprachen. Ein Beitrag zur Bibliographie des Bibeldrucks (Bibliotheca bibliographica Aureliana, 5), Baden-Baden 1962; resümierend Ferdinand Geldner, Bibeldruck, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München/Zürich 1983, Sp. 82 f. – Die umfangreichste Sammlung von Bibeldrucken in Europa besitzt die Landesbibliothek in Stuttgart; ein umfangreicher Katalog ist seit 1983 im Entstehen. Vgl. dazu Eberhard Zwink, 14000 Bände in 300 Sprachen: Die Bibel-

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16. Volkssprachen und wissenschaftliche Ausgaben Die allermeisten Übersetzungen der Bibel waren Übersetzungen in die jeweilige Sprache des Volkes. Sie wurden immer dann erforderlich, wenn sich das Christentum in neue Gebiete ausbreitete oder ältere Übersetzungen (oft nach vielen Jahrhunderten) nicht mehr verständlich waren. Das Gegenkonzept dazu sind die „wissenschaftlichen“ Ausgaben und unter diesen ganz besonders die Polyglotten. Ein frühes Beispiel dafür ist die berühmte Hexapla aus der Mitte des 3. Jahrhunderts, die auf einen der gelehrtesten Theologen der Antike, auf den aus Alexandria stammenden Origenes, zurückgeht. Sie enthält sämtliche Bücher des Alten Testaments, und zwar in sechs parallelen Kolumnen: 1. den hebräischen Text in vormasoretischer und 2. in griechischer Schrift, 3. die griechische Übersetzung des Aquila, 4. des Symmachus, 5. des Origenes sowie 6. des Theodotion. Das auf mehr als ein Dutzend Bände angelegte Werk gilt als ein Meilenstein der antiken Textkritik.62 Dass solche Großunternehmungen nicht oft wiederholt werden konnten, versteht sich beinahe von selbst. Eine neue Motivation entstand jedoch spätestens mit dem Buchdruck, der unter anderem die Complutensische Polyglotte hervorgebracht hat. Diese steht im Zusammenhang mit der 1499 gegründeten Universität im kastilischen Alcalá de Henares (lat. Complutum) und wurde von Kardinal Francisco Jiménez de Cisneros, seines Zeichens Erzbischof von Toledo, finanziert. Das Alte Testament wird hier in drei parallelen Spalten (Hebräisch, Griechisch und Lateinisch) präsentiert, die am unteren Rand noch durch das Aramäische ergänzt werden,63 das Neue Testament nur noch in zwei (Griechisch und Lateinisch). Eine Wiedergabe des Textes in der Volkssprache gibt es bezeichnenderweise nicht.64 Gleichwohl kamen Bibel-Polyglotten in der folgenden Zeit geradezu in Mode. Und sie über­trafen alles, was bisher üblich war. Einen Höhepunkt stellte in dieser Hinsicht die Biblia Sacra Ebraice, Chaldaice, Graece etc. des Elias Hutter aus Görlitz dar, der nach dem Studium in Jena an der Universität Leipzig Hebräisch unterrichtete. Er druckte das Alte Testament in immerhin sechs (Hebräisch, sammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, in: Bibel und Kirche 48 (1993), S. 79–85. 62 Vgl. Alison Salvesen, Origene’s Hexapla and Fragments (Texte und Studien zum Antiken Judentum, 58), Tübingen 1998. 63 Dabei wird das Griechische durch eine lateinische Interlinearversion, das Aramäische durch eine ebenfalls lateinische Übersetzung ergänzt. Auf diese Weise finden sich auf jeder Seite drei lateinische Fassungen. 64 Vgl. dazu Adrian Schenker, Polyglotten, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 27, Berlin/New York 1997, S. 22–25, besonders S. 22 f.; Antonio Alvar Ezquerra (Hg.), La Biblia Políglota Complutense en su contexto, Alcalá de Henares 2016.

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Aramäisch, Griechisch, Lateinisch, Deutsch und Französisch), das Neue in sogar zwölf Sprachen ab (Griechisch, Lateinisch, Syrisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Dänisch und Tsche­ chisch).65

17. Heilige Sprachen Neben der nicht unerheblichen Zahl an antiken und mittelalterlichen Bibelübersetzungen ist es in der Zeit vor Luther doch bei der massiven Dominanz der Heiligen Schrift in lateinischer Sprache geblieben, zumindest in Westeuropa. Warum hielt sich das Lateinische aber derart hartnäckig, nachdem es schon längst keine Volkssprache mehr war? Die Gründe dafür sind ohne Zweifel zahlreich. Ein wichtiger unter ihnen ist sicherlich das Phänomen der Heiligen Sprachen, das es nicht nur im Christentum, sondern auch im Judentum und Islam (und nicht nur dort, man denke etwa auch an das Sanskrit im Hinduismus) gibt. Es wird dabei davon ausgegangen, dass das Wort Gottes nicht in einer beliebigen Sprache offenbart wurde; diese ursprüngliche Sprache bleibt maßgebend, vor allem im Bereich der Liturgie. Selbst bei Gläubigen, die sie nur sehr mangelhaft beherrschen, steht sie für die altehrwürdige Tradition.66 Im Christentum ist die Frage allerdings komplexer: Die häufigste Liturgiesprache des europä­ischen Mittelalters, das Lateinische, gehört gerade nicht zu den Ursprachen der Bibel. Eine Verbindung stellt die Theorie von den drei Heiligen Sprachen her, die seit dem 4. Jahrhundert vertreten wird. Ausgehend von Johannes, Kapitel 19, Vers 19 bis 20, hat Isidor von Sevilla mit der ihm eigenen Prägnanz ihre klassische Formulierung geprägt: „Tres sunt autem linguae sacrae: Hebraea, Graeca, Latina, quae toto orbe maxime excellunt. His enim tribus linguis super crucem Domini a Pilato fuit causa eius scripta.“67 65 Die Bibel ist nach dem Publikationsort auch als Nürnberger Polyglotte bekannt. Zu ihrem Verfasser vgl. Hans Arens, Hutter, Elias, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 103 f. Das Neue Testament wurde von dem Gelehrten selbst ins Hebräische übersetzt. 66 Vgl. Gregor Kalivoda u. a., Heilige Sprachen, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1326–1334. 67 Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, hg. von Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, hier Buch 9, 1, 3 (sine pagina). Vgl. dazu Michael Richter, Concept and Evolution of the „Tres Linguae Sacrae“, in: Ernst Bremer u. a. (Hg.), Language of Religion – Language of People. Medieval Judaism, Christianity and Islam (Mittelalterstudien, 11), München 2006, S. 15–23. – Für den Islam s. Hanna E. Kassis, „We have sent it down as an Arabic Qur’an“. An Examination of Sources and Implications, in: ebd., S. 61–75.

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18. Eine Statistik zum Schluss Die Übersetzungen Martin Luthers und der übrigen Reformatoren waren zwar ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte der Bibel, aber keineswegs ihr Endpunkt. Deshalb lohnt sich ein kurzer Blick auf die Gegenwart, genauer auf eine Handvoll Zahlen, die die aktuelle Situation umschreiben. Sie gehen auf die Deutsche Bibelgesellschaft mit Sitz in Stuttgart zurück, die sich wiederum auf den Weltverband der Bibelgesellschaften bezieht. Demnach war Stand Januar 2021 die Heilige Schrift in 704 Sprachen komplett übersetzt, in 1.571 immerhin das Neue Testament, in weiteren 1.160 lediglich Teile der Bibel. Zusammengefasst heißt das: In 3.435 Sprachen liegt mindestens ein biblisches Buch vor. In beinahe 4.000 Sprachen fehlt aber bis dato jedwede Übersetzung.68 Aus derselben Quelle geht hervor, dass deutschsprachige Bibeln in mehr als 35 vollständigen Varianten vorliegen – eine Vielfalt, wie sie sonst nur noch die Weltsprache Englisch kennt. Dass dies auch etwas mit der reformatorischen Tradition, aber eben nicht nur mit dieser zu tun hat, muss man zumindest stark annehmen.

68 Vgl. Die komplette Bibel gibt es jetzt in 704 Sprachen, Pressemitteilung des epd vom 24. März 2021 bzw. der KNA vom 25. März 2021.

Hans-Joachim Solms

Einfluss und Bedeutung von Luthers Vollbibel (1534) und des Katechismus auf die Sprachentwicklung in Deutschland

Bevor man – und zwar ganz unabhängig von Luther – darüber nachdenkt, ob und in welcher Weise bestimmte Personen oder Ereignisse als mögliche Einflussfaktoren der Sprachentwicklung bestimmt werden können, muss zuerst einmal geklärt sein, welches denn die wesentlichen Veränderungen innerhalb der Sprachentwicklung tatsächlich waren, auf die hin z. B. das konkrete Handeln einer einzelnen Person als ursächlich für die Entwicklung angenommen werden kann.1 Ein Beispiel: Für das frühe Althochdeutsche im beginnenden 9. Jahrhundert ist eine enorme und rasante Zunahme volkssprachiger Textlichkeit zu beobachten. Sucht man nach Erklärungen, dann ist sehr plausibel zu erweisen, dass es die sog. ‚Allgemeine Vermahnung‘, die admonitio generalis Karls des Großen von 789 gewesen ist, die die Herausbildung einer indigenen Textlichkeit wesentlich initiiert und entscheidend befördert hat. Also stellt sich nun die (forschungsgeschichtlich selbstredend evidente) Frage, ob – ganz analog – auch für Luther im Allgemeinen und dann vielleicht sogar auch besonders bezogen auf die Ereignisse ‚Katechismus‘ und ‚1534er-Vollbibel‘ ein nachhaltiger Einfluss auf den Gang der Sprachentwicklung in Deutschland festzumachen ist. Dabei ist diese hinsichtlich mindestens zweier Dimensionen zu unterscheiden: Erstens ist die funktionale Entwicklung der Sprache im Kontext der durch sie erst möglichen gesellschaftlichen Kommunikation und d. h. die Entwicklung des Sprachgebrauchs zu betrachten; zweitens ist die Entwicklung des Wortschatzes, die Entwicklung der strukturellen Eigenschaften in Lautung, Schreibung, Grammatik und Syntax und d. h. die Entwicklung des Sprachsystems in den Blick zu nehmen. Über diese beiden Dimensionen hinaus sind grundsätzlich weitere Zusammenhänge zu berücksichtigen, die hier jedoch ausgeklammert bleiben

1

Hinsichtlich der knappen und eher kursorischen Einschätzung der sprachgeschichtlichen Bedeutung Luthers entspricht/folgt die Darstellung in Teilen Hans-Joachim Solms, Luther und die deutsche Sprache, in: Landesamt für Denkmalschutz und Archäologie Sachsen-Anhalt (Hg.), Martin Luther – Aufbruch in eine neue Welt, Dresden 2016, S. 124–131 sowie Ders., Martin Luther, geb. Luder, und der volkssprachliche Aufbruch, in: Andrea Seidel/Hans-Joachim Solms/Jörn Weinert (Hg.), Allein das Wort. Deutsche Literatur des Reformationsjahrhunderts in Sachsen-Anhalt, Sandersdorf-Brehna 2016, S. 18–35.

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müssen, so z. B. die aktuell wieder stärker fokussierte Frage nach einer sprachund kultur(raum)eigentümlichen Konzeptualisierung. Es ist undenkbar, Martin Luther und den Protestantismus mit all seinen historischen Weiterungen in den Blick zu nehmen, ohne zugleich auch die besondere Form der vom Reformator so prominent verwendeten deutschen Sprache zu assoziieren, sie sogleich und notwendig mit in den Vordergrund zu rücken. Denn sein Eintreten für die Volkssprache und ihre durch ihn geprägte besondere Form gilt als ein wesentlicher Grund dafür, dass seine Texte eine solch massenhafte Verbreitung und Rezeption erfahren haben, dass Luther seine nicht hoch genug einzuschätzende Wirkung hat haben können. So mutmaßte der 2015 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete deutschsprachige Schriftsteller und Orientalist Narvid Kermani, dass sich der „Protestantismus […] ohne die poetische Kraft der Lutherbibel niemals ausgebreitet“ hätte.2 Im Vordergrund steht somit ihre so bezeichnete „poetische Kraft“ und also ihre wesentlich die Sinne ansprechende Form, die als Voraussetzung und als Garant der so enormen Rezeption des durch sie transportierten Inhalts angenommen wird. Ein solches Votum Narvid Kermanis zeigt aber auch, dass es in derart populären Einschätzungen zu Luther und seiner Sprache erststellig kaum um Einzelheiten der grammatisch-syntaktischen Gefügtheit oder der lexikalischen Materialität dieser seiner Sprache, sondern dass es sehr viel stärker um den Stil seiner Sprache und also darum geht, dass und inwiefern mittels ihrer besonderen Gefügtheit „in Syntax, Wort und Stil“3 die jeder Sprache immer auch eigene poetische Sprachfunktion4 so außergewöhnlich realisiert wurde. Dieser „Sprachmächtigkeit [Luthers], seinem ingenium bonum, wie er es nennt“ ist ebenso nachzuspüren wie auch der grammatisch-syntaktischen Gefügtheit oder lexikalischen Materialität der Sprache Luthers,5 da immer noch die ebenfalls populäre Vorstellung herrscht, dass sich die deutsche Sprache in der bis heute gegebenen Form wesentlich Martin Luther dankt.6 Eine hochoffizielle Bestätigung dieser populären Vorstellung lieferte der damalige Bundespräsident Karl Carstens in seiner Festansprache anlässlich der 1983 begangenen Feierlichkeiten zum 500. Geburtstag Martin Luthers: Darin 2 Narvid Kermani, Religion ist eine sinnliche Erfahrung, in: DIE ZEIT 34 (20.8.2015), S. 38. 3 Werner Besch, Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung, Berlin 2014, S. 37. 4 Neben u. a. der referentiellen oder appellativen Funktion (Theodor Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, Heidelberg 1994, s. v. Sprachfunktionen). 5 Besch, Luther und die deutsche Sprache (wie Anm. 3), S. 49 u. 135. 6 Zum Forschungsstand vgl. Christine Ganslmayer, Luther als Bibelübersetzer. Neue sprachwissenschaftliche Perspektiven für die Luther-Forschung, in: Mechthild Habermann (Hg.), Sprache, Reformation, Konfessionalisierung (Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte, 9), Berlin/Boston 2018, S. 58–61.

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nannte er Luther den ‚Schöpfer‘, den ‚Vater und Begründer unserer Sprache‘. Mit dieser nur wenig differenzierten Einschätzung zeigte sich der Bundespräsident zwar nicht auf der Höhe der aktuellen Forschung, hatte jedoch eine gängige Einschätzung aufgenommen, die zum kulturellen Gedächtnis nicht nur vieler Deutscher gehört. Dabei ist sie „Ausdruck protestantischer Hypostasierung“7 und perpetuiert und fokussiert eine insbesondere bis ins 19. Jahrhundert reichende Einschätzung des Stellenwertes einer eine nationale Identität definierenden Einheitssprache, wobei nur folgerichtig mit ‚Deutsch‘ und in Absehung aller sprech- wie schreibsprachlich gegebenen Differenzierungen (u. a. der Dialekte) und in Absehung auch der heute herausgebildeten verschiedenen nationalen Varietäten (u. a. als österreichisches oder schweizerisches Deutsch) allein die als weitgehend homogen verstandene, die überdachende Schriftsprache gemeint ist. Auf diese bezogen verwundert dann die bis heute gängige Einschätzung der Leistung Luthers nicht, da Luther doch seiner insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugeschriebenen Bedeutung für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache wegen zum Teil des Gründungsmythos der deutschen Nation im 19. Jahrhundert wurde. Jacob Grimm, einer der herausragenden Gelehrten und zudem auch einer der herausragenden republikanischen Patrioten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte in diesem Zusammenhang von der neuhochdeutschen Schriftsprache als einem ‚protestantischen Dialekt‘ gesprochen. Selbst Thomas Mann, der in seiner berühmten 1945 in der Bibliothek des US-Kongresses (auf englisch) gehaltenen Rede ‚Deutschland und die Deutschen‘ bekannte,8 ‚Luther nicht zu lieben‘, gestand ihm aber zu, „durch seine gewaltige Bibelübersetzung die deutsche Sprache erst recht geschaffen“ zu haben.9 Dadurch, so urteilte der SPIEGEL mit Verweis auf Thomas Mann noch 2013,10 sei Luther „zum Vater einer einheitlichen deutschen Schriftsprache“ geworden.11 Und als der Bundespräsident Richard von Weizsäcker am Reformationstag 2009 mit der Martin-­LutherMedaille der Evangelischen Kirche Deutschlands geehrt wurde, da formulierte 7 8

Besch, Luther und die deutsche Sprache (wie Anm. 3), S. 11. Nach Ausweis der selbständigen Publikation der Rede (Thomas Mann, Rede über Deutschland und die Deutschen, Berlin 1947, S. 4) hielt Thomas Mann sie am 6. Juni 1945 anlässlich seines 70. Geburtstages. Dagegen notiert der einschlägige Wikipedia-­ Eintrag den 29. Mai (https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschland_und_die_Deutschen, letzter Zugriff: 6.12.2021). Eine erste deutsche Veröffentlichung erfolgte „1945 im Oktober-Heft der Neuen Rundschau, Bermann-Fischer Verlag Stockholm“ (Mann, Rede über Deutschland, S. 4). 9 Mann, Rede über Deutschland (wie Anm. 8), S. 14. 10 Ausgabe vom 13.7.2013. 11 So auch noch in einem Radiobeitrag vom 12.7.2015: http://rundfunk.evangelisch.de/ kirche-im-radio/feiertag/aus-der-asche-wird-ein-schwan-entstehen-7480 (letzter Zugriff: 02.02.2022).

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er in einer Dankesrede12 seine eigene Überzeugung durch den Hinweis auf einen Ausspruch des ehemaligen französischen Staatspräsident François Mitterrand bei dessen Besuch der Wartburg unmittelbar nach der Wiedervereinigung: „Endlich zu Luther [… , habe er gerufen,] zum Vater der deutschen Sprache, zur Quelle der deutschen Kultur!“. Eben dies, das hat die Forschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwiesen,13 war Luther nicht. Wenn er denn auch nicht der ‚Vater‘, der ‚Schöpfer‘ der heutigen Schrift- und Standardsprache war, so schmälert dies seine Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Sprache in keiner Weise. Denn sicher ist, dass eine heutige deutsche Schriftsprache ohne ihn anders aussähe. Von ihm und seinem Werk ging die wesentliche Wirkung aus, welche dafür sorgte, dass manche und völlig unabhängig von ihm entstandene Entwicklungen sich durchsetzten, eben weil er in seinem Werk bestimmte Formen, Wörter o. Ä. verwendete. Ganz unabhängig von seinem eigenen Wollen und Willen hat er mit seinem Werk die Weichen insbesondere für die Emanzipation der Volkssprache ‚Deutsch‘ gegenüber dem allumfassenden Latein,14 für die letztendlich erst späterhin erfolgte Herausbildung eines ‚einheitlichen‘ Deutsch sowie auch für eine Vielzahl bis heute erhaltener Eigentümlichkeiten dieses einheitlichen Deutsch gestellt, so u. a. die Substantiv­großschreibung sowie auch die Zusammenschreibung der Partikelverben.15 Damit ist er die bedeutendste Persönlichkeit in der Geschichte (nicht nur) der deutschen Sprache seit dem Mittelalter, für manchen ist er gar „[d]er genialste Sprachschöpfer aller Zeiten“.16

12 Dankesrede zur Verleihung der Martin Luther-Medaille der EKD am Reformationstag 2009, Emden, s. https://www.ekd.de/091031_von_weizsaecker_emden.htm (letzter Zugriff: 18.01.2022). 13 Vgl. dazu insbesondere die Forschungen von Werner Besch, vgl. die zusammenfassende Darstellung in Werner Besch, Die Rolle Luthers für die deutsche Sprachgeschichte, in: Ders. et al. (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Teilbd., Berlin u. a. 22000, S. 1713–1745, hier S. 1716. 14 Ganz sicherlich hat Luther in seinem sprachlichen Handeln nicht bewusst auf eine ‚einheitliche‘ deutsche Sprache gezielt. Denn die Sprache war ihm nichts als das Mittel zum Zweck, er war „in allen Ritzen und an allen Ecken und Enden seines Textspektrums Theologe, und zwar in Einheit mit einer entsprechenden, also theologisch begründeten oder als begründet geglaubten Mission“ (Oskar Reichmann, Grundfragen sprachhistorischer Semantik. Mit Veranschaulichungen am Beispiel Martin Luthers, in: Habermann [Hg.], Sprache, Reformation, Konfessionalisierung [wie Anm. 6], S. 1–26). 15 Hans-Werner Eroms, Martin Luthers grammatische Erben, in: Norbert Richard Wolf (Hg.), Martin Luther und die deutsche Sprache – damals und heute (Schriften des europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften, 7), Heidelberg 2017, S. 69–94, hier S. 73; Peter Eisenberg, Das Fest der Linguisten. Wie Luther die Pfingstgeschichte schreibt, in: ebd., S. 95–112, hier S. 100 f. 16 Christian Feldmann, Der genialste Sprachschöpfer aller Zeiten, in: FAZ vom 12.6.2017.

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Angesichts der zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlichen Wertungen der Bedeutung Luthers ist immer wieder deutlich zu machen,17 auf welche der entscheidenden Innovationen der Sprachentwicklung hin ein bestimmter Einfluss Luthers festgehalten werden kann. Vor dem Hintergrund der geschilderten und z. T. prominenten Einschätzungen sowie der vorab vorgenommenen Unterscheidung der Ebenen des Sprachgebrauchs und des Sprachsystems sei zuerst die des Sprachgebrauchs näher beleuchtet. Dabei sei die evidente und zugleich nicht triviale Feststellung vorangestellt, dass Luther mitten in die als ‚frühneuhochdeutsch‘ bezeichnete Sprachepoche hineingehört, gemeint ist die Zeit der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zum Übergang ins 18. Jahrhundert. Schon der Epochenbegriff ‚Frühneuhochdeutsch‘ macht dabei deutlich, dass sich die nähere Bestimmung und auch Bewertung dieser Epoche teleologisch und also vom Standpunkt des heutigen ‚Neuhochdeutschen‘ her ergibt: Gemeint ist das heute gültige und mit Ausnahme einiger (nationalsprachlicher) Varianten in Österreich, in der Schweiz und Liechtenstein, in Luxemburg oder in Teilen Belgiens oder Südtirols weitgehend einheitliche (Schrift-)Deutsch, gemeinhin ‚neuhochdeutsche (nhd.) Schriftsprache‘ genannt. Diese nhd. Schriftsprache wird erst in der Zeit des Frühneuhochdeutschen, in dessen Mitte Martin Luther steht, herausgebildet. Das historisch Neue und das Wesentliche dieser nhd. Schriftsprache ist ihre gegenüber früheren Sprachzuständen gegebene Einheitlichkeit, ihre Über­ regionalität, ihre Polyfunktionalität. Frühere Formen einer volkssprachigen Schriftlichkeit waren demgegenüber fundamental verschieden. Solche früheren Formen waren regional klein- bis großräumlich gebunden und dialektal geprägt, sie waren zudem auf wenige Textbereiche begrenzt. So lassen sich im deutschsprachigen Raum für das dem Lutherjahrhundert vorausliegende 15. Jahrhundert mehrere großlandschaftliche Kanzleisprachen sowie sieben verschiedene, regionale „Typen von Druckersprachen“ unterscheiden.18 Die einzelnen regionalen Schreibsprachen waren z. T. so verschieden,19 dass man tatsächlich von der einen in die andere übersetzen musste. Neben dieser uneinheitlichen Kleinräumigkeit fand eine volkssprachige Schriftlichkeit zudem nur in wenigen Lebensbereichen Anwendung. Denn die überaus meisten literaten Bereiche und d. h. die Bereiche der Religion, der Wissenschaft oder der Verwaltung waren gänzlich lateinisch. Gemessen an diesen beiden Parametern der regionalen Begrenztheit sowie der 17 Vgl. dazu etwa Arno Schirokauer, Frühneuhochdeutsch, in: Klaus-Peter Wegera (Hg.), Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache (Dokumentation Germanistischer Forschung, 7), Frankfurt a. M. u. a. 22007, S. 169–224. 18 Frédéric Hartweg/Klaus-Peter Wegera, Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Germanistische Arbeitshefte, 33), Tübingen 22005. 19 Sehr anschaulich wird dies im Vergleich von Texten verschiedener regionaler Herkunft, wie sie Reichmann/Wegera bieten. Vgl. Oskar Reichmann/Klaus-Peter Wegera (Hg.), Frühneuhochdeutsches Lesebuch, Tübingen 1988.

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lateinischen Literarizität bedeutete die im Frühneuhochdeutschen stattfindende Herausbildung eines einheitlichen (Schrift-)Deutsch erstens die „Überwindung [… dieser] fremden Sprache“ Latein und d. h. die Verallgemeinerung einer volkssprachigen Schriftlichkeit in alle literaten Kommunikationsbereiche hinein; sie bedeutete zweitens die Überwindung ihrer regionalen (dialektalen) Gebundenheit: Und beides – die Gewinnung ehedem lateinischer Kommunikationsbereiche sowie die Gewinnung einer Über­regionalität – wird erst „im Verlauf des Frühneuhochdeutschen unumkehrbar […]“ erreicht.20 Nur rhetorisch schließt sich hier die allgemeine Frage an, ob und in welcher Weise Luther in dieser Situation ein gewollt oder ungewollt aktiv Treibender war? In Anlehnung an die vorab bereits gegebene Einschätzung ist die Antwort unwidersprochen eindeutig.21 Luther war maßgeblich derjenige, der dazu beigetragen hat, dass die indigene Schriftlichkeit im weiteren Verlauf des Frühneuhochdeutschen Eingang in eine Vielzahl von Lebensbereichen erfuhr, dass dadurch eine die gesamtgesellschaftliche Organisation bis heute grundsätzlich prägende und nicht mehr wegzudenkende „Verschriftlichung des Lebens“ einsetzte:22 Gemeint ist die Tatsache, dass sich die Organisation nahezu aller Lebensbereiche über die und mittels der Schrift durchsetzte. Nun könnte man es mit der Nennung dieser kommunikationsgeschichtlichen, der Entwicklung des Sprachgebrauchs und Luthers Anteil daran genug sein lassen. Damit würde man ihm aber nur z. T. und vielleicht sogar nur zum kleineren Teil gerecht werden, weil diese spezifisch kommunikationsgeschichtliche Sicht auf die Sprachentwicklung die – außerhalb der Theologie liegende – sprachliche Wirkungsgeschichte Luthers unzulässig verkürzte. Denn unmittelbar zu dieser kommunikationsgeschichtlichen Entwicklung waren dann auch sozial- und schließlich gesellschaftsgeschichtliche Prozesse korreliert, bei denen Luther somit im Sinne einer (mittelbaren) Verursachung immer auch mitgedacht werden muss. So ergab sich sozialgeschichtlich – gefördert u. a. auch durch den pädagogischen Impuls der Reformation – eine „Demotisierung“ der Schriftpraxis,23 eine durchgreifende gesellschaftliche Verallgemeinerung der Schriftpraxis in der Lebenswirklichkeit der Masse der Bevölkerung. Gesellschaftsgeschichtlich wurde insbesondere seit dem 16. Jahrhundert deutlich, dass sich nun ein über die jeweilige Region hinausgehendes ‚Volk‘ herausbildete: Wenn für die Situation bis zum 20 Fritz Tschirch, Geschichte der deutschen Sprache. II: Entwicklungen und Wandlungen der deutschen Sprachgestalt vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart (Grundlagen der Germanistik, 5), Berlin 31989, S. 95–97. 21 Vgl. Anm. 16 die Einschätzung von Feldmann. 22 Johannes Erben, Frühneuhochdeutsch, in: Ludwig Erich Schmitt (Hg.), Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1500, Bd. I: Sprachgeschichte, Berlin 1970, S. 393. 23 Utz Maas, Lesen – Schreiben – Schrift. Die Demotisierung eines professionellen Arkanums in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59 (1985), S. 55–81.

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15. Jahrhundert formuliert werden kann, dass das „Volk [… noch] keine Kommunikationsgemeinschaft“ bildete,24 so änderte sich dies grundlegend seit dem 16. Jahrhundert: Und es ändert sich wesentlich durch Luther. Diese knappen Hinweise sollen deutlich werden lassen, dass solche kommunikations-, sozial- und auch gesellschaftsgeschichtlichen Prozesse in einem unmittelbaren oder zumindest mittelbaren Zusammenhang zu der in das Frühneuhochdeutsche gehörenden sprachgeschichtlichen Entwicklung stehen. Und bezogen darauf besteht in der Forschung der bereits vorab geschilderte Konsens, dass es das sprachliche Wirken Martin Luthers war, welches „Deutschland im Laufe der Zeit zur sprachlichen Einheit“25 verhalf. Insofern ist ihm eine kaum zu unterschätzende Bedeutung nicht nur für die Entwicklung der deutschen Sprache selbst zuzuweisen, sondern auch und besonders für alle weitergehenden und wesentlich über die Sprache vermittelten weiteren geschichtlichen Zusammenhänge. Dabei ist die Einsicht, dass Luther einen solch historischen Einschnitt für die deutsche Sprachgeschichte darstellte, schon den Gelehrten der Frühen Neuzeit deutlich. Als Beispiel diene nur Justus Georg Schottelius, der in seiner ‚Ausführlichen Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache‘ den Beginn der vierten von ihm identifizierten Epoche der deutschen Sprachgeschichte mit „Herrn Luthero“ ansetzt.26 Kann man aber, so stellt sich nun die Frage, die Bedeutung, die man Luther für all diese Entwicklungen zuschreibt, tatsächlich auf bestimmte Ereignisse herunterbrechen, kann man Meilensteine und Wegmarkierungen bestimmen, die sich auf das schließlich erreichte Ziel hin bezogen als Wendepunkte oder auch als jeweils neue Entwicklungsstufen erweisen? Eine Antwort darauf ist für die Entwicklung des Sprachgebrauchs zweifellos einfacher zu geben als für die Entwicklung des Sprachsystems. Und hier nun führt der Weg über das Septembertestament von 1522 hin zum Katechismus. Das Septembertestament 1522 kann als die besondere und herausragende Innovation auf dem Weg hin zu einer Demotisierung der volkssprachigen Schriftlichkeit angesehen werden. So wie Karls des Großen admonitio generalis von 789 den Prozess der Verschriftsprachung des Deutschen wesentlich in Gang gesetzt hatte, so wirkte das Septembertestament in mehrfacher Weise: Einerseits wirkte es durch seinen enormen 24 Michael Giesecke, ‚Volkssprache‘ und ‚Verschriftlichung des Lebens‘ in der frühen Neuzeit. Kulturgeschichte als Informationsgeschichte, in: Ders., Sinnenwandel – Sprachwandel – Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt/M. 1992, S. 73–121, hier S. 75. 25 Besch, Die Rolle Luthers (wie Anm. 13), S. 1715. 26 Justus Georg Schottelius. Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. 1663. hg. von Wolfgang Hecht. I. Teil, Tübingen 21995, S. 49: Die vierdte Denkzeit wird mit Herrn Luthero einfallen / der zugleich alle Lieblichkeit Zier / Ungestüm und bewegenden Donner in die Teutsche Sprache gepflanzet / die rauhe Bürde in vielen jhr abgenommen / und den Teutschen gezeiget / was jhre Sprache / wenn sie wolten / vermögen könte […].

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Erfolg und andererseits dann auch als Initialzündung für weitere Unternehmungen dieser Art. Selbstverständlich gab es deutschsprachige Bibeldrucke bereits auch vor Luther: Immerhin erschienen zwischen 1466 und 1522 schon 14 hochdeutsche und 14 niederdeutsche gedruckte Bibeln.27 Luther aber gelang mit dem Septembertestament „der erste Bestseller der Druckgeschichte“.28 Das Erscheinen des Septembertestamentes erzeugte einen Zustand öffentlicher Erregtheit. So war die Druckauflage von geschätzten 3.000–5.000 Exemplaren trotz des enorm hohen Preises innerhalb weniger Wochen vergriffen.29 Und weit über Wittenberg hinaus wurde der Text auch überall im Reich sogleich nachgedruckt. Die Nachfrage war dermaßen dringend, dass auch in Gegenden großer regionaler Sprachunterschiede und d. h. in Gegenden, in denen viele der für Luther so geläufigen Wörter gar nicht verstanden wurden, die originale Sprachform Luthers unübersetzt gleich nachgedruckt wurde; zum notwendigen Verstehen wurden entsprechende Glossare beigefügt. So zählt Sonderegger30 neben dem schon 1523 in Basel erschienenen Nachdruck Adam Petris31 allein bis 1529 weitere 18 glossierte oberdeutsche Nachdrucke des Lutherschen Textes. Es waren aber nicht nur die Nachdrucke, über die Luther wirksam wurde. Für die Sprachentwicklung bedeutsam wurde auch, dass Luther zum Beispiel und Anreger wurde: So folgte im reformatorischen Zusammenhang 1524 ff. die Bibel der Zürcher Prädikanten, als gegenreformatorische Korrekturbibel erschien 1527 Hieronymus Emsers Neues Testament. All solche Nachfolger konnten aber kaum die Wirkung erreichen, die Luther selbst erreicht hatte. So berichtete Johannes Cochläus, der ein ‚entschiedener Luthergegner‘ war, 1549 im Rückblick auf diese Zeit: Ehe denn aber Emsers Arbeit [also 1527] an den Tag gegeben, war Luthers Neues Testament durch die Buchdrucker dermaßen gemehrt und in so großer Anzahl ausgesprengt, also daß auch Schneider und Schuster, ja auch Weiber und andere einfältige Idioten, soviel deren dies neue lutherische Evangelium angenommen, wenn sie auch nur ein wenig Deutsch auf einem Pfefferkuchen lesen gelernt hatten, diesselbe gleich als einen Bronnen aller Wahrheit mit höchster Begierde lasen.32 27 Stefan Sonderegger, Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen, in: Werner Besch et al. (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 1. Teilbd., Berlin u. a. 21998, S. 229–284, hier S. 231 u. 257. 28 DER SONNTAG, Ausgabe vom 13.9.2021. 29 Der jüdische Bibelübersetzer Franz Rosenzweig (1886–1929) gibt an, ein Exemplar habe so viel gekostet wie ein Pferd (vgl. Christopher Wells, Deutsche Sprachgeschichte, Tübingen 1990, S. 329, Anm. 13). 30 Sonderegger, Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen (wie Anm. 27), Abb. 15.4., S. 238. 31 Einen Auszug liefern z. B. Hartweg/Wegera, Frühneuhochdeutsch (wie Anm. 18), S. 95. 32 Zitiert nach Besch, Die Rolle Luthers (wie Anm. 13), S. 1718.

Luthers Vollbibel (1534) und die Sprachentwicklung in Deutschland

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Diese Wirksamkeit auch im öffentlichen Diskurs erweist schließlich auch eine Untersuchung von 455 „Flugblättern von Anhängern und Gegnern der Reformation der Jahre 1423–1525“, in denen jeweils auf die Bibel Bezug genommen wurde; hier zeigt sich, dass die entsprechenden Textstellen aus dem NT in knapp 2/3 der Flugblätter „nach der Lutherfassung“ zitiert wurden.33 Allein dies schon lässt evident werden, dass und wie seine Sprache sehr rasch zum Alltag einer breiten Öffentlichkeit wurde, oder, wie Wolf es formulierte, dass seine Sprache eine Öffentlichkeit „zum Teil erst als Bewegung mitkonstituiert[e]“.34 Noch stärker aber ist der Einfluss im privaten Alltag abseits der öffentlichen Diskurse und der sie tragenden Bildungsschichten. Und damit ist man beim Katechismus, dem Großen wie dem Kleinen. Nach textlichen Vorläufern schon von 1520 erscheinen 1529 zuerst der sog. ‚Kleine Katechismus für die gemeine Pfarrherr und Prediger‘35 und kurz darauf dann auch der ‚Deudsch‘ oder ‚Große Katechismus‘36. In dieser „stark praxisorientierten“37 Textsorte zeigt sich in der Einschätzung Sondereggers „erst recht […] die pragmatisch-kommunikative Ausrichtung“ des Lutherschen Wirkens.38 Im knappen Frage-Antwort-Schema werden die Hauptstücke des Glaubens lehrhaft mit kurzen Sätzen abgehandelt. Luther selbst forderte und sorgte dafür, dass diese Sätze zum selbstverständlichen Sprachalltag der Menschen wurden. „Pflicht und Zwang“ forderte er ein, diese Texte „nachzusprechen und auswendig zu lernen in evangelischer Unterrichtung und im Gottesdienst“.39 Sein Text sei ein vnterricht fur die kinder vnd einffeltigen, so schrieb Luther 1529 in der Vorrede (Aii r) des Großen Katechismus; ein kinderlere, nannte er den Text, so ein yglicher Christ zur not wissen sol; Derhalben sol man iunge leute / die stücke so inn den Catechismum […] gehören / wol vnd fertig lernen lassen […]. Auch auf die Frage, wie das zu geschehen, gab Luther in der Vorrede eine Antwort (2. Vorrede, Aiii v): DAs sind die neotigsten steucke, die man zum ersten lernen mus von wort zu wort verzelen [d. h. ‚aufzählen‘], Und soll die kinder dazu gewehnen teglich, wenn sie des morgens auffstehen, zu tisch gehen und sich abends schlaffen legen, das sie es meussen auffsagen, und yhn nicht essen noch zu trincken geben, sie hettens denn gesagt. Desgleichen ist auch ein yglicher hausvater schuldig mit dem gesind, knecht und megden zu halten, das er sie nicht bey sich halte, wo sie es nicht keonnen odder lernen weollen. Denn es ist

33 Hans Volz, Martin Luthers deutsche Bibel. Entstehung und Geschichte der Lutherbibel, Hamburg 1978, S. 193, zitiert nach Besch, Die Rolle Luthers (wie Anm. 13), S. 1718. 34 Dieter Wolf, Lexikologie und Lexikographie des Frühneuhochdeutschen, in: Besch et al. (Hg.), Sprachgeschichte, 2. Teilbd. (wie Anm. 13), S. 1554–1584, hier S. 1568. 35 WA 30/1, S. 239 f. 36 WA 30/1, S. 123 f. 37 Hannes Kästner/Bernd Schirok, Die Textsorten des Mittelhochdeutschen, in: Besch et al. (Hg.), Sprachgeschichte, 2. Teilbd. (wie Anm. 13), S. 1365–1384, hier S. 1377. 38 Sonderegger, Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen (wie Anm. 27), S. 261. 39 Besch, Die Rolle Luthers (wie Anm. 13), S. 1734.

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Hans-Joachim Solms mit nichte zuleiden, das ein mensch so rohe und wilde sey und solches nicht lerne, weil ynn diesen dreyen steucken keurtzlich, greoblich und auffs einfeltigste verfasset ist alles, was wir ynn der schrifft haben.

Gemäß dieser klaren Anweisung des Reformators gehörte, wie v. Polenz schreibt, das Auswendiglernen des Katechismus „zum protestantischen Bildungsinhalt“, für den zu sorgen jedoch nicht die Hausväter allein verantwortlich waren.40 Vielmehr führte der dem Protestantismus eigene Bildungsimpetus zu einer Institutionalisierung in der Vermittlung der entsprechenden Bildungsinhalte: „Die protestantische Kirche, und nach ihrem Modell dann auch die altgläubige, oktroyierte ein neues Schulsystem, die [wesentlich auf eine Lesekompetenz abzielende] Katechismusschule“.41 Doch wurde der Katechismus nicht nur dort, sondern in der Folge auch in den sog. deutschen Schulen zum zentralen Unterrichtsgegenstand. So hat Van der Elst in seiner Arbeit zur Nürnberger Sprachgeschichte darauf hingewiesen, „daß Luthers Katechismus […] auf Wunsch des Rates zur Pflicht in den dt. Schulen wurde“.42 Dass dies seine Wirkung hatte, mag man leicht erschließen. Und also war es wesentlich auch der memorierte und immer wieder aufs Neue nachgesprochene Katechismus, über den „die Sprache der Schrift (als Schriftsprache) in Gedächtnis und Mund des evangelischen Volkes [kam]“43 und „einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung einer einheitlichen Schreibsprache in den protestantischen Territorien“44 leistete. Insofern jedoch im Katechismus, wie Luther schrieb und vorab auch zitiert (Aiii v), eben nur das ku