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German Pages 552 [553] Year 2022
Wittenberger Bibeldruck der Reformationszeit
Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Bd. 24
Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt
Wittenberger Bibeldruck der Reformationszeit Herausgegeben von Stefan Oehmig und Stefan Rhein
Evangelische Verlagsanstalt · Leipzig
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig Coverbild: Ausschnitt aus der Titeleinfassung zu Martin Luther: Biblia/ das ist/ die || gantze Heilige Sch=||rifft Deudsch. || Mart. Luth. || [...]. – Wittenberg: Hans Lufft, 1534. – Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: Cod. in scrin. : 110. Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-374-06883-8// eISBN (PDF) 978-3-374-06982-8 www.eva-leipzig.de
Vorwort
2022 jährt sich zum 500. Mal Luthers epochale Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen ins Deutsche. Anfang März 1522, bei seiner Rückkehr nach Wittenberg, hatte er die letzten Teile seiner Übersetzung, die er während seines Aufenthalts auf der Wartburg bei Eisenach erstellt hatte, im Gepäck. Bald darauf begann in der Offizin von Melchior Lotter d. J. der Druck. Im September 1522 erschien der umfangreiche Band, für den sich wegen des Termins seines Erscheinens die Bezeichnung „Septembertestament“ eingebürgert hat. Ihm folgte im Dezember 1522 mit dem sog. „Dezembertestament“ ein erster, verbesserter Nachdruck. Dieser Ausgabe schloss sich nach der Übersetzung des Alten Testaments und der anderen Bücher der Heiligen Schrift die Herausgabe der prachtvoll illustrierten Gesamtbibel („Vollbibel“) von 1534 an – gedruckt durch Hans Lufft und vor Nachahmung geschützt durch ein umfassendes, zeitlich unbefristetes kurfürstliches Druck- und Vertriebsprivileg, das im Laufe des 16. Jahrhunderts mehrfach erneuert wurde. Mit ihm stieg Wittenberg für fast ein Jahrhundert zum wichtigsten Druckort für deutschsprachige Bibeln im Reich auf. Zur Erinnerung an diese Ereignisse fand Ende September 2020 in den Räumlichkeiten der Stiftung Leucorea ein zweitägiges Kolloquium zum Thema „Wittenberger Bibeldruck der Reformationszeit“ statt, dessen wissenschaftlicher Ertrag in dem hier vorliegenden Sammelband dokumentiert ist, ergänzt um die Beiträge, die pandemiebedingt nur schriftlich eingereicht werden konnten. Ziel war es, möglichst viele Facetten, die mit dem Wittenberger Bibeldruck in Verbindung stehen und bislang oft keine oder nur wenig Beachtung gefunden hatten, zur Sprache zu bringen. Dementsprechend breit gefächert war auch das Themenspektrum. Es reichte von den vorreformatorischen deutschen Bibeln und Luthers sprachschöpferischen Leistungen bei der Bibelübersetzung (Stephan Füssel) sowie der fortlaufenden textlichen und stilistischen Verbesserung der Lutherbibel bis zum Tode des Reformators (Stefan Michel) über verschiedene Aspekte des Drucks und der Privilegierung einschließlich der Schriftgießerei und des Schriftenhandels (Ulrike Ludwig; Nikolaus Weichselbaumer) sowie der Beigabe von Begleittexten (Ulrich Bubenheimer) bis hin zu der Vorstellung des bedeutendsten Wittenberger Bibeldruckers Hans Lufft (Stefan Oehmig) und den letztlich erfolglosen Gegenmaßnahmen, die der altgläubig bleibende Herzog Georg von Sachsen 5
Vorwort ergriff, um in seinem Herrschaftsbereich den Einfluss der Lutherbibel zurückzudrängen und ihr eine eigene, von Hieronymus Emser verfasste Bibelübersetzung entgegenzustellen (Thomas Fuchs). Ebenfalls ausgiebig behandelt und diskutiert wurde auf der Tagung die Rezeption der Wittenberger Bibelausgaben sowie deren Gebrauch und Lektüre durch Bürgertum und Niederadel, vorrangig im mitteldeutschen Raum (Thomas Lang; Matthias Meinhardt). In zwei Beiträgen konnte die intensive Beschäftigung mit dem Bibeltext von zwei Laien, dem Wittenberger Erzschmied Hans Reichknecht und dem Hallenser Seidensticker Hans Plock, näher vorgestellt werden (Hans-Peter Hasse; Hartmut Kühne / Ruth Slenczka). Dass in Wittenberg im 16. Jahrhundert außer den diversen deutschen Voll- und Teilausgaben der biblischen Bücher auch weiterhin lateinische Bibeln gedruckt wurden, kam ebenso zur Sprache (Stefan Rhein) wie die ebenfalls kaum bekannte Tatsache, dass es das von Johannes Bugenhagen reformierte Lübeck war, wo 1534 die erste lutherische Vollbibel in niederdeutscher Sprache herauskam (Tim Lorentzen). Im Kolophon auf den 1. April 1534 datiert, ging sie der Wittenberger Gesamtbibel um wenige Monate voran. Einen weiteren Schwerpunkt der Tagung bildete die künstlerische Ausgestaltung verschiedener Wittenberger Bibelausgaben mit textergänzenden und texterläuternden Illustrationen, die maßgeblich zu deren kommerziellen Erfolg beitrugen und denen die Beiträge von Esther P. Wipfler, Susanne Wegmann, Ricarda Höffler und Heike Stöcklein gewidmet waren. Am Ende sei allen gedankt, die zum Gelingen des Kolloquiums und nun auch der vorliegenden Publikation beigetragen haben: Unser Dank gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren, die durch ihre Bereitschaft, ihre Referate unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Pandemie für den Druck zu überarbeiten, diesen Band erst möglich gemacht haben. Ein weiterer Dank gebührt der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig für die bewährte Zusammenarbeit. Möge die Lutherbibel ein halbes Jahrtausend nach ihrem Entstehen auch weiterhin breite Beachtung finden und Wirkung entfalten!
Berlin und Wittenberg, im Dezember 2021
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Dr. Stefan Oehmig / Dr. Stefan Rhein
Inhalt
11 STEPHAN FÜSSEL „Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Luthers wegweisende Bibelübersetzung und -gestaltung zwischen Septembertestament 1522 und Vollbibel 1534 37 STEFAN MICHEL Ringen um Anschaulichkeit Die Revisionen der Bibelübersetzung Martin Luthers bis 1546 51 ULRIKE LUDWIG Bibeldruck und kursächsische Kirchenpolitik unter Friedrich dem Weisen, Johann dem Beständigen und Johann Friedrich dem Großmütigen 69 THOMAS FUCHS Verbot und Angebot Herzog Georgs Maßnahmen gegen die Bibelübersetzung Luthers 99 STEFAN OEHMIG Hans Lufft als Wittenberger Buchdrucker und Bürger 163 TIM LORENTZEN Die erste lutherische Vollbibel auf der ersten lutherischen Kanzel Lübeck 1534 191 STEFAN RHEIN Lateinischer Bibeldruck im Wittenberg des 16. Jahrhunderts Eine Annäherung
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Inhalt 215
ESTHER P. WIPFLER Die Bibelillustration im Zeitalter der Reformation im Spannungsfeld von Konfession, Kommerz und Kunst
241 SUSANNE WEGMANN Glockendon interpretiert Cranach? Nikolaus Glockendon illuminiert Johann Friedrichs Septembertestament 263
SASKIA JÄHNIGEN und STEFAN MICHEL Quellen zur Glockendonbibel
267 RICARDA HÖFFLER „durch vnd durch mit gesichten vnd bilden“ Überlegungen zur medienreflexiven Rolle der Holzschnitte zur Johannesoffenbarung in Luthers Septembertestament (1522) 299 HEIKE STÖCKLEIN „Und wenn die Welt voll Teufel wär …“ Von Teufeln und Dämonen im Bibeldruck 327
NIKOLAUS WEICHSELBAUMER Schriftgießerei und Schriftenhandel im Wittenberg des 16. Jahrhunderts
343 ULRICH BUBENHEIMER Paratexte in Martin Luthers Biblia deutsch und Vulgata-Rezeption in Wittenberg Bibelgestaltung durch Produzenten und Rezipienten 367 THOMAS LANG „Jeder mit einer Bibel unter dem Arm“? Auf Spurensuche nach den Lesern der Lutherbibel im mitteldeutschen Bürgermilieu des 16. Jahrhunderts 435 MATTHIAS MEINHARDT Die Heilige Schrift bei Hofe Bibelgebrauch zwischen fürstlicher Repräsentation, Kirchenpolitik und persönlicher Frömmigkeit
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Inhalt 455
HANS-PETER HASSE Die „Reformatorenbibel“ des Wittenberger Erzschmieds Hans Reichknecht
479 HARTMUT KÜHNE und RUTH SLENCZKA Der Hallenser Seidensticker Hans Plock als Bibelleser Glossen und Einträge in seiner Lutherbibel von 1541
531 ABKÜRZUNGEN 533
PERSONEN- UND ORTSREGISTER
551 DIE AUTOREN DES BANDES
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Stephan Füssel
„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Luthers wegweisende Bibelübersetzung und -gestaltung
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Wem die Bibel bisher als ein „Buch mit sieben Siegeln“ erschien und wer bei diesem Thema „im Dunkeln tappte“2, denen kann man mit „Rat und Tat“ und mit „Feuereifer“ zur Seite stehen und ihnen mit „Herzenslust“ einen „Denkzettel“ verpassen, damit sie bei künftigen Diskussionen zu diesem Thema nicht mehr „ihre Hände in Unschuld waschen“ können und damit Bibelkundigen ein „Dorn im Auge“3 sind. Anschließend können sie ihr „Licht leuchten lassen vor den Leuten“ und sich in politische Diskussionen einschalten mit Micha 4,4: „Sie werden die Schwerter zu Pflugscharen umschmieden“ oder als Gläubige mit dem Psalm 23 bekennen: „Der Herr ist mein Hirte“. Diese einleitenden Formulierungen stammen – natürlich – Wort für Wort aus der Luther-Bibel. Die Komposita „Feuereifer“, „Herzenslust“, „Denkzettel“ oder „Morgenland“ sind so selbstverständlich in die Alltagssprache übergegangen, dass man ihnen eine über 500-jährige Herkunft nicht mehr anmerkt, und auch die so eingängigen Formulierungen wie das „Buch mit sieben Siegeln“ (Offb 5,1) oder „seine Hände in Unschuld waschen“ (Mt 27,24) gehören zum Standardrepertoire gehobenen Sprechens.4 An diesem einführenden Beispiel mag man ersehen, welche grundlegende Bedeutung die Luther-Bibel nicht nur für das theologische und kirchliche Denken, sondern auch für die deutsche Sprache und Literatur geschaffen hat. Bertolt Brecht hat bereits 1928 auf die Frage, welches denn wohl das wichtigste deutsche Buch sei, bekannt: „Sie werden lachen, die Bibel!“5 Die bedeutendsten Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt die Pfarrerssöhne, sind mit der Sprache der Luther-Bibel groß geworden und haben ihr eigenes literarisches 1
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Öffentlicher Abendvortrag vom 24. September 2020, der einige zentrale Fragen der Tagung im Überblick behandelte und hier um Belege erweitert erscheint. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. – Im Text wird folgende Abkürzung verwendet: GW = Gesamtkatalog der Wiegendrucke, hrsg. von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd. 1–7, Leipzig 1925–1938; Bd. 8 ff., Berlin 1978 ff. – Online unter: . – Quellennachweis: Abbildungen 1–2 und 4–7 reproduziert nach: Das Buch der Bücher. Die Luther-Bibel von 1534, hrsg. von Stephan Füssel, Köln: Taschen 2002 (u. ö.); das jeweilige Copyright liegt bei den besitzenden Bibliotheken. 5 Mos 28,29. 4 Mos 33,5. Vgl. u. a. Hartmut Günther: Mit Feuereifer und Herzenslust. Wie Luther unsere Sprache prägte, Berlin 2017. Bertolt Brecht, in: Die Dame, Beilage „Die losen Blätter“, Heft 1, Berlin 1. 10. 1928, S. 16.
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Stephan Füssel Verständnis daran geschult. Aber auch die Literatur seit dem 19. Jahrhundert ist ohne die Kenntnis der Stoffe und Motive der Bibel und der eingängigen Sprache Luthers nicht zu verstehen und zu interpretieren, ob von Friedrich Nietzsche, Thomas Mann, Uwe Johnson oder Peter Handke.6 Beim öffentlichen Abendvortrag der Konferenz „Wittenberger Bibeldruck der Reformationszeit“ wurden einige Aspekte der Tagungsdebatten vorgestellt, um aus buchwissenschaftlicher Sicht7 einen Eindruck von der Entstehung und der Weiterentwicklung der Luther-Bibel zu geben und den Zusammenhang zwischen Buchdruck und Bibelübersetzung8 zu erläutern.
1. Die Bibel – eine immerwährende Geschichte ihrer Übersetzung Über 2500 Jahre alt ist das Wort des Psalmisten: „Der Herr gibt das Wort: der Herolde, die es verkünden, ist eine große Schar“ (Ps 68). Wie schon das Alte Testament die Verbreitung des Wortes Gottes in die Hände vieler Verkünder und Übersetzer gelegt hat, so spricht auch das Neue Testament von dem missionarischen Auftrag: „Gehet hinaus in alle Welt und lehret alle Völker“ (Mk 16,15). Und dies durchaus in den jeweiligen Volkssprachen, wie es zum Beispiel beim Pfingstwunder in der Apostelgeschichte mit der Verbreitung von Gottes Botschaft in alle Sprachen der Erde plastisch geschildert wird: „Da wurden sie alle vom Heiligen Geist erfüllt und begannen in fremden Sprachen zu reden, gerade wie der Geist es ihnen eingab“ (Apg 2,4). Die Geschichte der Heiligen Schrift ist die ihrer Sammlung, Bearbeitung, Interpretation und Übersetzung.9 Aus der mündlichen Überlieferung stammende Texte unterschiedlicher Gattungen, historische, prophetische oder lyrische Texte des Alten Testaments wurden in über 1000 Jahren zunächst auf Hebräisch schriftlich fixiert, seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. auch auf Aramäisch (die Bücher Daniel und Esra), dann ins Griechische übertragen (in der Meisterleistung der Septuaginta in der Bibliothek von Alexandria). Hieronymus übertrug seit 383 im Auftrag von Papst Damasus I. (um 305–384) aus den griechischen, hebräischen und aramäischen Urtexten die Bibel ins Lateinische, die in
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Jürgen Ebach und Richard Faber: Bibel und Literatur, München 1995. Vgl. Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg der Reformationszeit, hrsg. von Stefan Oehmig, Leipzig 2015 und aktuell: Wahrheit – Geschwindigkeit – Pluralität. Chancen und Herausforderungen durch den Buchdruck im Zeitalter der Reformation, hrsg. von Hans Martin Lies, Göttingen 2021; darin Stephan Füssel: Gutenbergs Bedeutung für die Geistes- und Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 21–38. Thomas Kaufmann: Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen, Tübingen 2019, hat jüngst die Bedeutung des Buchdrucks als die zentrale Vermittlungsinstanz umfassend und detailliert herausgearbeitet. Stephan Füssel: Luther und die ‚Biblia Deutsch‘, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hrsg. von Horst Albert Glaser, Bd. 2: Von der Handschrift zum Buchdruck, Reinbek 1991, S. 329–342.
„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ den nachfolgenden Jahrhunderten zu einer vollständigen Bibel zusammengeführt wurde. Bereits der Gelehrte und Bibliothekar Cassiodor verzeichnete 562 im Monasterium Vivariense in Kalabrien eine vollständige Bibelausgabe. Vor allem die aufblühende theologische Forschung an der Universität Paris hat sich ab 1100 mit der Vereinheitlichung und kritischen Textrevision der Bücher der Hl. Schrift vertraut gemacht. Johannes Gutenberg orientierte sich um 1450 für das erste mit der neuen Technik gedruckte Buch am theologischen und wissenschaftlichen Bedarf der Handschriftenära und wählte daher als Vorlage diese aus dem 4. Jahrhundert stammende „allgemein verbindliche und akzeptierte“ (Vulgata) Bibelübersetzung des Kirchenvaters Hieronymus, und zwar in einer weit verbreiteten und als Grundlage für die theologische Disputation verwendeten Pariser Rezension (Überarbeitung) aus dem 13. Jahrhundert. 1452–1454 druckte er die vollständige lateinische Vulgata in 140 Papier- und 40 Pergamentexemplaren.10 Es war bezeichnend für diese neue Erfindung, dass sie zunächst die alten „Bestseller“ tradierte, d. h. in der Frühzeit der Buchdruckerkunst wurden nur die Texte in Latein und in den Volkssprachen gesetzt und gedruckt, die auch schon in den Handschriften weit verbreitet gewesen waren. Bei der Betrachtung einer Seite der Gutenberg-Bibel sieht man sogleich, dass sie die Handschrift imitiert: im zweispaltigen Blocksatz, bei der Übernahme der Texttype, einer Textura (einer Type, die als Gesamtbild wie zu einem Gewebe geflochten aussieht), schließlich die in Rot geschriebenen bzw. dann gesetzten Überschriften, das nachträgliche Rubrizieren, das Rotmalen zur Betonung von besonderen Worten und Wortanfängen, das Einfügen von Zier-Initialen sowie schließlich das anschließende Illuminieren durch Rankenwerk. Der frühe Buchdruck brauchte viele Jahre, bis er sich von der Handschrift emanzipierte, ein Titelblatt einfügte, die Initialen mitdruckte und durch Register, Seitenzahl und Anmerkungen einen neuen technischen Apparat bot. Die in Mainz gedruckte B42 ist daher nicht nur ein Meilenstein in der Mediengeschichte, sondern auch in der Textgeschichte der lateinischen Bibel. Da sie diese Handschrift 180-mal zur Verfügung stellte, bot sie für die nachfolgende Zeit das entscheidende Referenzobjekt. Bereits die etwa 1458 in Bamberg gedruckte B 36 verwendete wortgetreu die Gutenberg-Bibel, was sich z. B. in der Bibel von Fust und Schöffer in Mainz 1462 (GW 4204), von Arnold Pannartz in Rom 1471 (GW 4210), von Franz Renner 1476 in Venedig (GW 4223) oder bei Froben in Basel 1491 (GW 4269) fortsetzte. Der Theologe Robert Weber sprich daher von einem „Wendepunkt, gewissermaßen einem Endpunkt in der Überlieferung“11, da von 1454 ab fast alle lateinischen Bibeldrucke auf die von Gutenberg gedruckte Textfassung zurückgehen.
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Ders: Die Gutenberg-Bibel von 1454 nach dem Exemplar der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek. Mit einem Kommentar […] zum Bibeldruck, Köln 2018. P. Robert Weber: Der Text der Gutenberg-Bibel und seine Stellung in der Geschichte der Vulgata, in: Johannes Gu-
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Stephan Füssel Die etwa 30.000 unterschiedlichen Titel, die in der Inkunabelzeit von 1450–1500 erschienen, wurden europaweit zu 90 % in lateinischer Sprache gedruckt, etwa 10 % in den unterschiedlichen Volkssprachen.
2. Deutsche Bibeln vor Luther Von allen Büchern, die in deutscher Sprache gedruckt wurden, ragen die achtzehn deutschsprachigen Bibelübersetzungen bei weitem hervor.12 Die erste deutsche Bibel erschien 1466 bei Johannes Mentelin in Straßburg. Die Aufmachung mit wenigem Buchschmuck und ohne Illustrierung macht deutlich, dass es sich um eine Ausgabe für Bibliotheken, d. h. Kloster- und Pfarrbibliotheken, eventuell Ratsbibliotheken handelte. Es gibt keine lesefreundlichen Absätze oder weitere typografische Leseerleichterungen. Diese erste deutschsprachige Bibel beruhte auf einer 100 Jahre alten Übersetzung und war daher bereits zeitgenössisch veraltet und kaum verstehbar. Sie schloss sich so eng an die lateinische Vorlage an, dass der deutsche Text nur verstanden werden konnte, wenn man auch die lateinische Grammatik mit-dachte. Die ersten Verse (Gen 1,3 f.) der Bibel lauteten daher: „Dixitque Deus
fiat lux
et facta lux
Vnd gott der sprach
licht werde gemacht.
Vnd das Licht ward gemacht.
Et vidit Deus lucem
Quod esset bona
vnd gott der sache das licht
das es ward gut.“
Trotz ihrer veralteten Sprache wurde diese Bibel bis 1518 insgesamt 13-mal nachgedruckt. In der 2. und 3. Ausgabe, die 1470 bei Heinrich Eggestein in Straßburg und 1475 bei Jodokus Pflanzmann in Augsburg erschienen, wurden vereinzelt ungebräuchliche Wörter ersetzt, jedoch wurde erst die 4. Ausgabe, die 1475 bei Günther Zainer in Augsburg gedruckt wurde, einer gründlichen Revision unterzogen. In seiner Verlagsanzeige von 1476, einer der ersten gedruckten Buchhändleranzeigen überhaupt, wirbt Zainer offensiv damit:
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tenbergs zweiundvierzigzeilige Bibel. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, München 1979, S. 11–31, hier: S. 13. Walter Eichenberger und Henning Wendland: Deutsche Bibeln vor Luther. Die Buchkunst der achtzehn deutschen Bibeln zwischen 1466 und 1522, 2. Aufl., Hamburg 1983; Stephan Füssel: Das Buch der Bücher. Die Luther-Bibel von 1534. Eine kulturhistorische Einführung zum Reprint der Ausgabe der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Köln /London / Los Angeles 2002 [u. ö].
„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ „Das Buch der deutschen Bibel mit Figuren mit größtem Fleiß korrigieret und gerecht gemacht. Also dass alle fremde Deutsch und unverständliche Wort, so in den erstgedruckten kleinen Bibeln gewesen, ganz ausgetan, und nach dem Latein gesetzt und gemacht seiend.“13
Neben der Modernisierung des Textes gab er zum ersten Mal in einer deutschen Bibel Illustrationen bei: 73 Bildinitialen zu Beginn jedes biblischen Buches; sie illustrieren 45 biblische Szenen und zeigen die Autorenbilder, d. h. die Evangelisten, Propheten und Apostel (vgl. Abb. 1). Vom illustrativen Buchschmuck hin zu erzählenden Holzschnitten, die die Christen nicht nur erbauen, sondern auch zur Bibellektüre anregen und das Verständnis erleichtern sollten, führten eine niederdeutsche (GW 4307) und eine niederrheinische (GW 4308) Bibel, die 1478/79 von Bartholomäus von Unkel (gest. um 1484) und Heinrich Quentell (um 1440 – 1501) im Auftrag eines Verlegerkonsortiums, dem auch der Nürnberger Großdrucker Anton Koberger (um 1440 – 1513) angehörte, in Köln hergestellt wurden. Diese Holzschnitte wurden besonders wichtig, da sie vielfältig weiterverwendet wurden, zum einen wurden die Holzstöcke an Anton Koberger nach Nürnberg verkauft, zum anderen wurden diese Holzstöcke vielfältig nachgeschnitten. Der narrative Charakter dieser Illustrationen und auch ein ausführliches Vorwort, das jeden Christen zur Bibellektüre ermunterte, zeigen die neue Intention der Devotio moderna, die es ermöglichte, auch dem Laien das Wort Gottes nahe zu bringen – 40 Jahre vor Luthers Bestrebungen. Die Herausgeber waren die „Brüder vom Gemeinsamen Leben“ und Kölner Kartäuser, die sich in der Vorrede auf die überlieferten Bilddarstellungen in Klöstern und Kirchen beriefen, die ebenso der Unterrichtung der Gläubigen dienten. Noch größere Verbreitung fanden diese Holzschnitte im Jahr 1483 durch die 9. deutsche Bibel des Nürnberger Großverlegers Anton Koberger. Der Text beruhte auf Zainers Ausgabe, wurde aber nach der Vulgata verbessert, worauf Koberger im Kolophon ausdrücklich hinweist: „Gegen den lateynischen text gerechtfertigt […] und mit schönen figuren.“14 In Augsburg, dem wichtigsten Zentrum des deutschsprachigen Buchdrucks, gab 1487 und 1490 Johannes Schönsperger d. Ä. (um 1455–1521), der spätere (1508) Hofbuchdrucker Kaiser Maximilians I., die 11. und die 12. deutsche Bibel mit reicher Holzschnittillustration heraus, die er der neunten deutschen Bibel Kobergers (und damit der Kölner Bibel) entnahm, wobei er das Format deutlich verkleinerte (von 27 × 39 auf 19,5 × 28 cm). Seine höchst populären, bereits mit Schablonen in der Werkstatt ausgemalten Holzschnitte verhalfen den beiden Auflagen Schönspergers15 zu hohem Ansehen und zeitgenössisch zu einem raschen Verkauf.
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Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts, hrsg. von Konrad Burger, Leipzig 1907, S.17. Blatt 586 verso. Kaufmann: Mitte der Reformation (wie Anm. 8), hier: S. 229–232: Die Schönsperger in Augsburg und Zwickau.
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Stephan Füssel
Abb. 1: Dritte deutsche Bibel, Augsburg: Günther Zainer 1475/76, Band 2, Blatt XV recto. Anfang des Markusevangeliums mit Initiale A (Auferstehung Christi / Simson reißt die Stadttore von Gaza ein; Richter 16,1). Exemplar: SUB Göttingen. Sign.: 2° Bibl. II. 204 Inc.
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Der Meister der Schönsperger-Bibeln schnitt die Holzschnitte aus der Kölner Bibel weitgehend getreu nach, vereinfachte aber und wählte eine gröbere Strichführung, die von vornherein für die Schablonen-Kolorierung vorgesehen war. Auf einigen Holzstöcken signierte er mit ‚HB‘. Schönsperger verkaufte dann seine Holzstöcke dem aus Reutlingen kommenden Drucker Johann Otmar, der damit 1507 die 13. deutsche Bibel (VD16 B 2675) in Augsburg herstellte16 „auf Verlegung und Kosten“ des Buchführers Johannes Rynmann17. Nach dessen Tod 1516 druckte sein Sohn Silvan Otmar18 1518 die 14. und letzte vorlutherische Textversion in oberdeutscher Sprache. Neben diesen 14 neuhochdeutschen Bibeln sind vier niederdeutsche Bibeln bekannt, die beiden erwähnten Kölner Bibeln und eine dritte 1494 in Lübeck bei Steffen Arndes19. Für diese Lübecker Bibel20 (GW 4309) wurde der Text der Kölner Bibel von Heinrich Quentel vollständig durchkorrigiert (diese Satzvorlage befindet sich noch heute in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen). Kurz vor Luthers Neuübersetzung des Septembertestaments erschien am 8. Juli 1522 in Halberstadt bei Lorenz Stuchs21 die vierte niederdeutsche Bibel, die direkt von der Kölner und der Lübecker Bibel abstammt. 112 der 119 Holzschnitte wurden wiederum von den Holzstöcken der Kölner Bibel nachgedruckt. Im 15. Jahrhundert gab es natürlich nicht nur in Deutschland volkssprachige Bibeln,22 sondern u. a. bereits in Italien und in Tschechien. Die erste Bibel in italienischer Sprache, die von dem Kamaldulenserabt Niccolò Malermi23 (1422–1481) übersetzt worden war, erschien am 1. August 1471 – auf Pergament gedruckt – in Venedig in der Werkstatt von Wendelin von Speyer (GW 4311), die mehrfach neu aufgelegt wurde.
Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, 2. überarb. Aufl., Wiesbaden 2015, S. 31 f. 17 Hans-Jörg Künast und Brigitte Schürmann: Johannes Rynmann, Wolfgang Präunlein und Georg Willer – drei Augsburger Buchführer des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen, hrsg. von Helmut Gier und Johannes Janota, Wiesbaden 1997, S. 23–41. 18 Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB), hrsg. von Severin Corsten, Günther Pflug und Friedrich Adolf SchmidtKünsemüller, 2., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 1 ff. Stuttgart 1987 ff.; hierzu Bd. 5 (1999), S. 484. 19 Arndes, Steffen, Wanderdrucker in Italien, 1486–1519 in Lübeck, vgl. ebd., Bd. I (1987), S. 141 f. und Reske: Buchdrucker (wie Anm. 16), S. 605. 20 Nicht zu verwechseln mit der „Lübecker Bibel“ von 1533/34, der ersten mittelniederdeutschen Ausgabe der Lutherbibel, herausgegeben von Johannes Bugenhagen. 21 Wahrscheinlich bei Lorenz Stuchs in der Privatpresse von Ludwig Trutebul (dort nachgewiesen 1519–1523), dessen Typenmaterial von dem Erfurter Drucker Johannes Loersfeld (dort 1523–1527) übernommen wurde, vgl. LGB (wie Anm. 18), Bd. 7 (2007)‚ S. 286 und Reske: Buchdrucker (wie Anm. 16), S. 349 (Stuchs) und S. 219 (Loersfeld). 22 Paul Heinz Vogel: Europäische Bibeldrucke des 15. und 16. Jahrhunderts in den Volkssprachen. Baden-Baden 1962. 23 Michael Kotrba: Malermis italienische Bibel 1471, in: Schatzkammer der Überlieferung. Kostbarkeiten aus der Zen tralbibliothek Zürich, hrsg. von A. Cattani [u. a.] Zürich 1989, S. 30–33. 16
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Stephan Füssel Martinaz Tisnov (Martin von Tischnovitz)24 druckte 1489 in Kutna Hora (Kuttenberg) bei Prag eine Bibel in tschechischer Sprache (GW 4324) im Großfolio-Format mit 116 Holzschnitten, mit groben Umrisskopien nach der Kölner bzw. der Koberger Bibel.
3. Luthers Weg zur Bibelübersetzung Luther war 1512 zum Doktor der Theologie promoviert worden und hatte den Lehrstuhl seines geistlichen Lehrers Johannes von Staupitz übernommen.25 Staupitz hatte Luther im Geiste des Hl. Augustinus und der spätmittelalterlichen Devotio moderna geformt. Als Professor für Bibelauslegung konzentrierte sich Luther in den Folgejahren auf die Deutung der Psalmen und des Römerbriefes. Die paulinische Lehre von Sünde und Gnade stand im Mittelpunkt seiner genauen, streng auf das Wort der Schrift ausgerichteten Untersuchung. Beide Texte ließ er für seine Vorlesung nach der Vulgata mit weitem Zeilenabstand und breitem Rand neu drucken, damit die Studierenden seine Erläuterungen eintragen konnten. Die Psalterausgabe26, die Luther editorisch überarbeitet hatte, trägt das Druckdatum vom 8. Juli 1513 der Wittenberger Druckerei von Johann Rhau-Grunenberg27. Auch die Römerbrief-Vorlesung28 von 1515/16 wurde bei ihm gedruckt.29 Luthers theologischer Neuansatz zeigt sich vor allem in seiner Bewertung der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung des Menschen. Er lehrt, dass Gottes Gerechtigkeit keine richtende, sondern eine schenkende Gerechtigkeit ist, die nun allein vom Glaubenden empfangen werden kann. Seine erste deutschsprachige Schrift handelt daher folgerichtig von den „Sieben puszpsalm“30, wiederum bei Rhau-Grunenberg 1517, in der er den Buß- und Gerichtsernst in den Vordergrund rückt und den Angriff auf die äußerliche Werkgerechtigkeit der bisherigen Theologie vorformuliert.
LGB (wie Anm. 18), Bd. 7 (2007), S. 441 f. Ulrich Köpf: Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502–1602, hrsg. von Irene Dingel und Günther Wartenberg, Leipzig 2002, S. 71–86. 26 Vgl. Jun Matsuura: Psalterdruck und Manuskripte zu Luthers Psalmenvorlesung (1513–15) – ihre Wege durch die Geschichte, in: Meilensteine der Reformation. Schlüsseldokumente der frühen Wirksamkeit Martin Luthers, hrsg. von Irene Dingel und Henning P. Jürgens, Gütersloh 2014, S. 28–45. 27 Christoph Reske: Die Anfänge des Buchdrucks im vorreformatorischen Wittenberg, in: Buchdruck und Buchkultur (wie Anm. 7), S. 35–69, hier: S. 53–64; Ders.: Buchdrucker (wie Anm. 16), S. 1075–1079; Christopher Spehr: Luthers Psalmen-Vorlesung (1513–1515) – Historische und theologische Aspekte, in: Meilensteine (wie Anm. 26), S. 18–27. 28 WA 56, die Nachschriften WA 57, 1. 29 Hans Volz: Die Arbeitsteilung der Wittenberger Buchdrucker zu Luthers Lebzeiten, in: Gutenberg-Jahrbuch 32 (1957), S. 146–154; WA 57; Stefan Strohm und Eberhard Zwink: Ursprung der Biblia Deutsch von Martin Luther. Katalog zur Ausstellung. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Stuttgart 1983. 30 VD 16 B 3483. 24 25
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Er wendet sich gegen die zeittypische Verharmlosung der Sünde und die These, jeder Mensch könne aus eigener Kraft zu Gott finden. Er spricht dagegen von der radikalen Sündhaftigkeit des Menschen und der Notwendigkeit der Gnade für das Heil. Von dieser Position aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt, die Ablasspraxis der Kirche vehement anzugreifen, da sie die Menschen in einer unzulässigen, nämlich käuflichen Heilssicherheit wiege. Die Menschen müssten sich vor dem Gericht Gottes beugen, nur so könnten sie seiner Gnade teilhaft werden. In seinen 95 Thesen, die Luther am 31. Oktober 1517 an den für die Ablasspredigt zuständigen Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg sandte, beklagt er die falsche, verderbliche Sicherheit, die der Ablass vorgaukelt. Werke der Liebe und des Gebetes seien dagegen ungleich höher zu bewerten. Diese 95 lateinisch verfassten Thesen hatten sich rasch in Deutschland verbreitet. Um sie für weitere Kreise verständlicher zu formulieren, gab Luther im März 1518 den „Sermon von Ablass und Gnade“ in Wittenberg, wiederum bei Rhau-Grunenberg, heraus, der auf großes Interesse stieß und in den folgenden zwei Jahren 25-mal nachgedruckt wurde.31 Darin formulierte er in seiner eingängigen Sprache, dass der Ablass nur „faule und unvollkommene Christen“ schaffe und er wendet sich gegen diejenigen, die ihn wegen seiner Thesen einen Ketzer gescholten hätten, es seien „finstere Gehirne, die nie in der Bibel gerochen, die christlichen Lehrer nie gelesen, ihre eigenen Lehrer nie verstanden hätten und in ihren durchlöcherten und zerrissenen Schulmeinungen vor sich hin verwesen“. Es dauerte keine zwei Monate mehr, bis in Rom ein Prozess gegen Luther begonnen wurde. Am Rande des Augsburger Reichstages 1518 verhörte ihn auf Anordnung von Papst Leo X. Kardinal Cajetan. Luther verweigerte aber den Widerruf. Die sich anschließend überstürzenden Gespräche, Vorträge und Predigten fanden 1519 ihren Höhepunkt in der Leipziger Disputation zwischen dem Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck, Andreas Karlstadt und Martin Luther. Luther führte die Rechtfertigungslehre so weit, dass er jede Autorität der Kirche außerhalb der Heiligen Schrift verwarf (sola scriptura), dem kirchlichen Amt folglich lediglich funktionale Bedeutung zuerkannte und schlussfolgerte, dass sich auch Konzilien irren könnten. Zum Widerruf all seiner Thesen innerhalb von 60 Tagen forderte ihn Papst Leo X. mit der Bannandrohungsbulle „Exsurge domine“ 1520 auf, während Luther seine reformatorischen Hauptschriften vorbereitete: „An den Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ und von der „Freiheit eines Christenmenschen“.32 Allein von diesem Traktat erschienen in knapp zwei Jahren 36 Ausgaben in deutscher, niederländischer, englischer, spanischer, tschechischer und lateinischer Sprache.33
Johannes Schilling: Ein Sermon von Ablass und Gnade (1518), in: Meilensteine (wie Anm. 26), S. 108–112 und Claudine Moulin: Materialität und Transformation, in: ebd., S. 113–121. 32 Vgl. Irene Dingel: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). Historische und theologische Aspekte, in: ebd., S. 122–131. 33 Henning P. Jürgens: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). Zur Druckgeschichte, in: ebd., S. 132–149. 31
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Abb. 2: Lucas Cranach d. Ä.: Martin Luther in der ikonographischen Tradition des Evangelisten Matthäus. In: Das Newe Testament Mar Luthers, Wittenberg: Hans Lufft, 1530, Bl. 5 verso. Exemplar: HAB Wolfenbüttel, Sign.: Bibel-S. 792.
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Diese und weitere seiner Schriften ließ der päpstliche Nuntius Girolamo Aleandro in Köln und in Mainz verbrennen; Luther wiederum verbrannte am 10. Dezember in Wittenberg die Bannandrohungsbulle und auch ein Exemplar des Kirchenrechts. Am 3. Januar 1521 sprach Papst Leo X. den Bann gegen Luther aus. Im April 1521 musste sich Luther vor Kaiser Karl V. und dem Wormser Reichstag verantworten. Im Wormser Edikt wurde die Reichsacht über Luther ausgesprochen und der Druck und die Verbreitung seiner Schriften verboten. Luther konnte sich unter dem Schutz von Kurfürst Friedrich von Sachsen als „Junker Jörg“ von Mai 1521 bis März 1522 auf der Wartburg verstecken. Dort entstanden zahlreiche Predigten und Schriften, vor allen Dingen der Abschluss der Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen. Diese erzwungene Verbannung wurde ausgesprochen fruchtbar für sein weiteres Wirken. Auf eine dringliche Bitte Philipp Melanchthons hin verfasste er diese Übersetzung als Grundlage seiner künftigen Lehre, verbunden mit seinem offenen und deutlichen Bekenntnis zur Heiligen Schrift als der höchsten Autorität in Glaubensfragen. Die Aussage von Paulus im Brief an die Römer (10,17): „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi“, führte Luther zur Erkenntnis, dass allein der Bezug auf die Schrift (sola scriptura) die Grundlage der christlichen Lehre sein kann und darf.
4. Luthers Bibelübersetzung Im Zentrum seiner Bibelübersetzung stand die humanistische Hinwendung zu den Quellen, den griechischen und hebräischen Urtexten, im Unterschied zu den vorangegangenen Übersetzungen, die sich allein an der Vulgata orientiert hatten. Als Brücke zum Verständnis diente Luther die griechisch-lateinische Ausgabe des Neuen Testaments von Erasmus von Rotterdam (1466–1536), die im Februar 1516 bei Johann Froben in Basel erschienen war: Sie bietet den griechischen Text und in Parallelkolumnen die lateinische Übersetzung gegenüber. Erasmus wollte damit u. a. die Übersetzungsfehler und -unschärfen der Vulgata bessern und plädiert in seiner Einleitung dafür, dass die Theologen den Text in Hebräisch, Griechisch und Latein rezipieren können müssen, und fordert gleichzeitig, „für die Laien“ Übersetzungen in den Volkssprachen zu erstellen.34
Stefan Strohm und Eberhard Zwick: Ursprung der Biblia Deutsch (wie Anm. 29), S. 13–18: II B: Theologisches Verständnis – Humanistische Methode.
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Stephan Füssel Luther löste sich bei seiner Übersetzung von der sklavischen Nachahmung des lateinischen Sprachstils (wie in den ersten deutschen Bibelübersetzungen), indem er „nicht Wort aus Wort, sondern Sinn aus Sinn“ übertrug. Im „Sendbrief vom Dolmetschen“ fasste er seine Theorie zusammen und griff die „Buchstabilisten“ an: „Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man deutsch reden soll, wie es diese Esel tun, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen. So verstehen sie es denn, und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“35
Zum Beispiel übersetzt er aus dem Lateinischen „ex abundantia cordis os loquitur“ (Mt 12,34) nicht wörtlich: „Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund“36, sondern eingängig: „wes das Herz voll ist, dem gehet der Mund über - das heißt gut deutsch geredet“. Und „ut quid perditio ista unguenti facta est?“ (Mk 14,4) nicht mit: „warum ist diese Verlierung der Salben geschehen?“, sondern im gefälligen Umgangsdeutsch: „es ist schade um die Salbe“37. Die Freiheit in der Formulierung fand da ihre Grenzen, wo die Gefahr bestand, den Sinn zu verfälschen. Die oberste Richtschnur war für Luther, die Meinung des Textes unverfälscht zu übertragen und dies „auf mein bestes Vermögen und auf mein Gewissen“, wie er im „Sendbrief“ ausführt. Er geht davon aus, dass die Schrift selbst ihre beste Interpretin ist und daher bei Übersetzungsproblemen vergleichbare Textstellen herangezogen werden müssen. Daher überprüft er die einzelnen Verse an der Gesamtaussage der Heiligen Schrift, zu deren Verständnis er, im hermeneutischen Zirkel verfahrend, durch Analyse aller Detailfragen gekommen war, jeweils vom Einzelnen zum Ganzen, vom Buchstaben zum Geist. Das zentrale Beispiel für das Ineinander von sprachlicher und theologischer Argumentation ist seine Übersetzung von Röm 3,28: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde, ohne des Gesetzes Werk, alleine durch den Glauben.“ Auf die Vorhaltungen der katholischen Theologen, dass das Wort „allein“ weder in der griechischen noch in der lateinischen Vorlage zu finden sei, verteidigte sich Luther engagiert, dass nur durch die Einführung von „nur“ oder „allein“ ein „Hauptstück christlicher Lehre“ deutlich formuliert werden könne, nämlich die zentrale Botschaft des Paulus, dass Gott nicht durch gute Werke in seinen Gnadenentscheidungen zu beeinflussen sei.
WA 30/II, S. 637. Ebd. 37 Ebd. 35
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Die Einführung modaler Partikel wie „allein, doch, eben, nur, nun, schon“ usw. sind für Luthers an der gesprochenen Sprache orientiertem Stil typisch. Sie lassen neben dem Satzrhythmus, klingenden Worteinheiten, Wiederholungen und anderen Stilmitteln den Predigtcharakter seiner Übersetzung deutlich werden. Er bemühte sich, das Evangelium „sprechen zu lassen“. An Klangfiguren bevorzugte er u. a. Alliterationen (den Gleichklang im Anlaut), z. B. „Der Herr ist mein Hirte“ (Ps 23), „dein Stecken und Stab“ (Ps 23), „lasset euer Licht leuchten vor den Leuten“ (Mt 5,16) oder durch Reim verbundene Worte „Rat und Tat“ (Sprüche Salomons 8,14), „singen und klingen“ (Sirach 39,20). Am Anfang von Luthers Bibelübersetzung stand – wie erwähnt – die Übertragung des Neuen Testaments auf der Wartburg. Die neue Leistung lag aber nicht nur auf der Sprache, sondern vor allem am stimmigen theologischen Gesamtkonzept, das er in interpretierenden Beigaben, in den Vorreden und den Randglossen erläuterte. In der Vorrede grenzt er so das Neue Testament deutlich vom Alten Testament ab, das „Lehre und Gesetz“ sei, das Neue Testament dagegen sei „gute Botschaft, gute Mähre, gute neue Zeitung“, sei erzählte Predigt, die sich dem Glaubenden erschließe. Er erläutert dann die Etymologie vom griechischen Wort „eu-angelion“, gute Botschaft, „davon man singet, saget und fröhlich ist, gleich als da David den großen Goliath überwand“. Die Randglossen bieten sprachliche Erläuterungen, Sacherklärungen und allegorische Auslegungen, die dem Wortsinn der Schrift eine übertragene Bedeutung zuerkennen. Zum Beispiel erläutert Luther beim Gleichnis vom Himmelreich, das mit einem verborgenen Schatz im Acker oder einem Kaufmann, der gute Perlen sucht, verglichen wird (Mt 13, 44–46), den Wert der Heiligen Schrift: „Der verborgen Schatz ist das Euangelium / das vns Gnade und Gerechtigkeit gibt, on vnser Verdienst / Darumb wenn mans findet, macht es Freude / das ist / ein gut frölich Gewissen / welchs man mit keinen Werken zu wegen bringen kann. Dis Euangelium ist auch die Perlen.“
Auch die direkte Auseinandersetzung mit den reformatorischen Gegnern fließt in diese Randglossen ein, wenn er etwa bei denjenigen, die die Gesetze auflösen, statt sie zu erfüllen (Mt 5,19: „Wer nun eines von diesen kleinesten Geboten auflöset / vnd leret die Leute also / der wird der kleinest heißen im Himmelreich“), in der Glosse auf den „Papistenhaufen“ verweist: „[Auflöset] Also thut der Papisten hauff / sagen diese Gebot Christi seien nicht Gebot / sondern Räte.“ In den Randbemerkungen wird hervorgehoben, dass die von Luther geforderte Umkehr zu Christus und seinem jetzt unverfälscht zugänglichen Wort nicht mit einer kleinen Korrektur in den Gewohnheiten zu haben ist, sondern nur mit einem radikalen Bruch mit der alten Kirche und ihren Gewohnheiten.
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Stephan Füssel So bemerkt er im Neuen Testament: „Niemand flickt ein alt Kleid mit einem Lappen von newem Tuch / Denn der Lappe reisset doch wider vom Kleid / vnd der riss wird erger“ in der Glosse: „Das ist / Man könne diese newe Lehre nicht mit altem fleischlichen Hertzen begreifen / Vnd wo man sie fleischlichen Leuten predige werde es nur erger“ (Mt 9,16). Und so wie Paulus im Römerbrief formuliert (Röm 10,17): „So kompt der Glaube aus der Predigt / das Predigen aber durch das Wort Gottes“, so gewann auch Luther die Einsicht, dass allein die Schrift (sola scriptura) die Grundlage der christlichen Lehre sein kann. Bereits seine ersten Übersetzungen von Teilen der Bibel, die „Sieben Bußpsalmen“38 (Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg 1517), anschließend die „Zehen gepot gottes mit einer kurtzen außlegung“ (u. a. Nürnberg: Jobst Gutkecht 1518), die „Auslegung deutsch des Vatervnnser fuer dye einfeltigen leyen“ (Leipzig: Melchior Lotter d. Ä., 1518), das „Magnificat“ (1521) oder der „36. Psalm“ machten seine Grundeinstellung deutlich, dass eine in sich stimmige Übersetzung der Bibel „für jedermann“ im Mittelpunkt der gesamten kirchlichen Reform stehen müsste. So ist es auch bezeichnend, dass Luther zunächst das Neue Testament mit der Frohen Botschaft an den Anfang der Bibelübersetzung stellt, um die AlleinGültigkeit der Bibel in Glaubensfragen zu betonen. Zwischen Dezember 1521 und März 1522 übersetzte Luther das Neue Testament zurückgezogen auf der Wartburg und gab es Philipp Melanchthon in Wittenberg zur Korrektur; als Verleger gewann er seine Bekannten Lucas Cranach d. Ä. und Christian Döring.39 Den Druck besorgte in ihrem Auftrag Melchior Lotter der Jüngere40 auf zwei Pressen zwischen dem 5. Mai 1522 und dem 21. September 1522.41
5. Das Septembertestament von 1522 Die Ausgabe enthält nur einen kalligrafischen Titel ohne den Namen des Übersetzers, wohl damit der Kurfürst von Sachsen nicht kompromittiert wurde (vgl. Abb. 3). Der Wert dieser Bibelübersetzung lag in der stringenten theologischen Grunddeutung,42 in Luthers hoher sprachlich-stilistischen Qualität, in der verlässlichen Quellenkritik und in den zahlreichen beigegebenen interpretierenden Erläuterungen.43 Bereits in der „Vorrede auff das Newe Testament“ stellt Luther klar, dass alle Teile der Bibel „Frohe Botschaft“ sind, die „die Gnade 40 41
Auslegung der sieben Bußpsalmen 1517, vgl. WA 1, S. 158–220. Reske: Buchdrucker (wie Anm. 16), S. 1081 f. Ebd., S. 1079 f.; Kaufmann: Mitte der Reformation (wie Anm. 8), S. 370–396, bes. S 374 ff. Heinrich Kühne: Lucas Cranach d. Ä als Verleger, Drucker und Buchhändler, in: Marginalien 47 (1972), S. 59–73, hier: S. 62–64. 42 Sönke Hahn: Luthers Übersetzungsweise im Septembertestament von 1522. Untersuchungen zu Luthers Übersetzung des Römerbriefs im Vergleich mit Übersetzungen vor ihm, Hamburg 1973, S. 228, These 2. 43 Vgl. Heimo Reinitzer: Das Septembertestament (1522) – Theologie, Sprache, Kunst, in: Meilensteine (wie Anm. 26), S. 160–170. 38 39
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“
Abb. 3: Das Newe Testament Deutzsch. Wittemberg: Melchior Lotter d. J., 1522 (sog. Septembertestament), kalligrafisches Titelblatt. Exemplar: RFB Wittenberg, Sign.: Kn 1 (1).
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Stephan Füssel denen verheißen, die glauben und nicht glauben“. „Denn Eu-angelium ist ein Griechisch Wort / und heisset auff Deutsch / gute Botschaft / gute Mehre / gute Newe Zeitung […]“. Und er spricht von der „Gerechtmachung des Sünders vor Gott“, die allein im Glauben und nicht durch Werke geschehe. Luther gibt den Lesern aber auch eine Leseempfehlung und Rangordnung der Texte an die Hand: Das Johannes-Evangelium sei besonders wichtig, da darin weniger von den Werken Christi die Rede ist wie in den anderen Evangelien, sondern von seinen Worten und seiner Predigt. So resümiert er: „Sanct Johannes Euangelii vnd seyne erste Epistel, Sanct Paulus Epistel, sonderlich die zu den Römern, Galatern und Ephesern vvnd Sanct Petrus erste Epistel, das sind die Bucher, die dir Christum zeygen und alles lehren, das dyr zu wissen not und selig ist […].“44 Diese didaktischen Elemente, die sich genauso in den zahlreichen Randglossen wiederfinden, dienten dazu, dass es (die Leitidee des allgemeinen Priestertums aufnehmend) allen Gläubigen möglich wurde, sich selbst das Wort Gottes zu erschließen. Die Glossen geben daher sprachliche Erläuterungen, Sacherklärungen und allegorische Auslegungen, die dem Wortsinn der Schrift eine übertragene Bedeutung zuerkennen. In diesem Kontext betont Luther erneut ausdrücklich die Bedeutung des Buchdrucks als eine spezifische Form der Verkündigung. Die Zeitgenossen waren es bereits seit zwei Generationen gewöhnt, den Buchdruck positiv einzusetzen. Luthers eigenes Bekenntnis belegt dies nachdrücklich: „Einst war die Finsternis in allen Künsten und Wissenschaften so groß, dass niemand sie gebrauchte. Jetzt strahlen und blühen alle Künste. So hat Gott uns die Druckerei dazu geschenkt, hauptsächlich zur Unterdrückung des Papstes.“45 Die Ausstattung des Septembertestamentes war vorbildlich:46 im Groß-Folioformat, mit Autorenbildern am Anfang der jeweiligen Bücher und auch durch Lucas Cranachs Interpretation der Bilder der Apokalypse, die von Dürers Vorbild übernommen wurden.47 Cranach setzte dabei „wörtlich“ einige Übersetzungsleistungen Luthers in seinen Bildern um, ob es sich um den „Kasten“ der Arche Noahs oder den „säulenbeinigen“ Engel handelte, der mit strahlendem Haupt und Beinen wie Säulen gezeigt wird, dem der Apostel Johannes ein Buch reicht, das er dann verzehrt. Der „starke Engel“, so übersetzte Luther, war mit einer Wolke bekleidet, und ein Regenbogen schwebte über seinem Haupt, seinen rechten Fuß setzte er auf das Meer, den linken setzte er auf die Erde.48 WA DB 6/11, 23–32. WA TR 4, 695. 46 Cornelia Schneider: Das Septembertestament (1522) – der mediale Kontext, in: Meilensteine (wie Anm. 26), S. 171– 178. 47 Vgl. Peter Martin: Martin Luther und die Bilder zur Apokalypse. Die Ikonographie der Illustrationen zur Offenbarung des Johannes in der Lutherbibel 1522–1546, Hamburg 1983. 48 Abb. bei Schneider: Septembertestament (wie Anm. 46), Tafel 24, nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bibel-S 4° 257, Bl. bb6v. 44 45
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Cranachs Abbildungen setzten nicht nur neue sprachliche Bilder kongenial um, er pointierte zudem die anti-römische Tendenz, u. a. in der Apokalypse mit der Darstellung der „Babylonischen Hure“, die die Tiara des Papstes trägt. Der Preis des Neuen Testaments mit einem Gulden war nicht gering, er entsprach je nach Ausstattung, gebunden oder ungebunden, etwa dem Zweimonatslohn eines Schulmeisters oder dem Preis eines Kalbs. Dennoch war die 3000er Auflage rasch vergriffen und unmittelbar nach Erscheinen korrigierte Luther weiter die Übersetzung und die zweite Auflage erschien am 19. Dezember 1522, das sog. Dezembertestament, mit mehreren hundert Besserungen in Wortwahl und Syntax, aber auch mit Ergänzungen bei den nachgewiesenen Parallelstellen in den Glossen. Auf Veranlassung von Herzog Georg von Sachsen musste hier die Tiara der babylonischen Hure herausgeschnitten werden (die in der Ausgabe 1534 allerdings wieder aufgenommen wurde). Die Sorge vor Textverfälschungen in den Nachdrucken49 war der Anlass, dass Luther seit 1524 den von ihm autorisierten Ausgaben Schutzmarken beigab. In der Ausgabe „Das Ander teyl des alten testaments“ (Wittenberg bei Lucas Cranach und Christian Döring 1524) hatte er am Ende des Textes ein Wappenschild mit dem Lamm Gottes mit Kelch und Kreuzesfahne und die „Lutherrose“ beigegeben, verbunden mit dem Hinweis: „Dis Zeichen sey zeuge / das solche bucher durch meine hand gangen sind / denn des falschen druckens vnd bucher verderbens / vleyssigen sich ytzt viel.“50 Allerdings erfüllte diese Luther-Rose nicht immer ihren Zweck, da sie von einigen Nachdruckern einfach mit übernommen wurde. Die weiteren Revisionen der Bibelübersetzung Martin Luthers bis 1546 waren vielfältig und umfangreich, wie Stefan Michel in seinem Beitrag in diesem Band differenziert vor Augen stellt.51 Denn Luther war mit seiner ersten Übersetzung keinesfalls zufrieden, sondern revidierte mit dem Professor für Gräzistik, Philipp Melanchthon, und dem Hebraisten Matthäus Aurogallus (i. e. Goldhahn, um 1490–1543) unmittelbar nach seiner Rückkehr in Wittenberg 1522 die Übersetzung. In den Folgejahren hat sich Luther neben vielfältigen anderen Tätigkeiten immer wieder zur Übersetzung des Alten Testaments zurückgezogen. Dies hatte den günstigen verkaufstechnischen Nebeneffekt, dass nicht eine teure Ausgabe des vollständigen Alten Testaments auf einmal auf den Markt kam, sondern erheblich preiswertere Einzeldrucke. 1523 und 24 erschienen der erste, zweite und dritte Teil des Alten Testaments, wobei Luther selbst die Stellen auswählte, zu denen Abbildungen eingefügt werden sollten.52 51 52 49 50
Zum Kontext vgl. Kaufmann: Mitte der Reformation (wie Anm. 8), S. 209–217. WA DB 2, Nr. *22; VD16 B 2009, hier: fol. CCXVIr. Stefan Michel in diesem Band S. 37–50. WA DB 2, S. 217 f.; Philipp Schmidt: Die Illustration der Lutherbibel 1522–1700. Ein Stück abendländische Kulturund Kirchengeschichte, Basel 1962, S. 137–148; Bridget Heal: Die Druckerpresse und die Macht der Bilder, in: Wahrheit – Geschwindigkeit – Pluralität (wie Anm. 7), S. 123–144.
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Stephan Füssel Dies berichtet aus erster Hand der ehemalige Korrektor aus der Werkstatt von Hans Lufft, Christoph Walther: „Der ehrwirdige Herr Doctor Martinus Luther hat die Figuren in der Wittenbergischen Biblia zum Teil selber angegeben / wie man sie hat sollen reissen oder malen / Vnd hat befohlen / das man auffs einfeltigst den inhalt des texts solt abmalen vnd reissen / Vnd wolt nit leiden / das man vberley vnd vnnütz ding / das zum Text nicht dienet / solt dazu schmiren.“53
Die bilderreiche hebräische Sprache des Alten Testaments schien Luther für eine Übertragung ins Deutsche besonders geeignet zu sein. Im Bemühen „rein und klar zu dolmetschen“ erwuchsen jedoch manche Schwierigkeiten; er führte mehrfach aus, dass er manchmal mehrere Wochen an einer Formulierung gearbeitet habe, besonders eindrücklich in seiner „Übersetzungstheorie“, dem „Sendbrief vom Dolmetschen“. Dem fertigen Text sähe man nicht mehr an, was für Schwierigkeiten beim Übersetzen überwunden werden mussten: „Es läuft jetzt einer mit den Augen durch drei, vier Blätter und stößt nicht einmal an, wird aber nicht gewahr, welche Wacken und Klötze da gelegen sind, wo er jetzt drüber hingehet wie über ein gehobelt Brett, wo wir haben müssen schwitzen und uns ängsten, ehe denn wir solche Wacken und Klötze aus dem Wege räumeten, auf dass man könnte so fein daher gehen. Es ist gut pflügen, wenn der Acker gereinigt ist.“54
6. Die Gesamtausgabe von 1534 Nach einem Jahrzehnt der Teilausgaben war die Zeit reif für die Herausgabe einer vollständigen Bibelausgabe. Exakt zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Septembertestaments erschien zur Leipziger Michaelismesse (4.–11. Oktober 1534) die erste „Vollbibel“ in der neuen Überarbeitung in einer Auflage von 3000 Exemplaren. Ein gebundenes Exemplar kostete 2 Gulden und 8 Groschen und damit das Fünffache einer Ausgabe des Neuen Testaments. Nicht nur der Witzenhausener Pfarrer und spätere General-Superintendent von Braunschweig-Calenberg Antonius Corvinus (1501–1554) lobte die „fehlerfreie und ganz vollkommene Übersetzung“ und dass sie „verständigen Menschen beinahe einen Kommentar ersetzen“55 könne – eine später immer wieder zitierte grundsätzliche Einschätzung.
Christoph Walther: Bericht von unterscheid der Biblien, Wittenberg: Hans Lufft, 1563, Bl. Biiv–Biiir (VD 16 W 946). Sendbrief vom Dolmetschen, 1530, vgl. WA 30/II, S. 336. 55 Füssel: Das Buch der Bücher (wie Anm. 12), S. 45. 53
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Die Planungen für diese Gesamtausgabe reichten mehrere Jahre zurück. Als Verleger war wiederum Christian Döring56 vorgesehen, der seit 1522 gemeinsam mit Lucas Cranach für den Vertrieb des Septembertestamentes und zahlreicher weiterer theologischer Traktate und Bibel-Einzelausgaben verantwortlich war. Durch Luthers Vermittlung erteilte ihm Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen zu Beginn des Jahres 1533 ein zeitlich unbefristetes (!) Privileg, worauf er am 15. April mit dem bewährten Wittenberger Drucker Hans Lufft57 den Druckauftrag vereinbarte. Da Döring aber in finanzielle Schwierigkeiten geriet, verkaufte er am 23. Mai 1533 für die hohe Summe von 800 Gulden das Privileg und den Verlag für die gesamte Hl. Schrift in Deutsch an die Wittenberger Buchhändler und Verleger Moritz Goltz (1495–1548), Christoph Schramm (gest. 1549) und Bartholomäus Vogel (um 1489–1569). Das Verlegerkonsortium hatte damit nicht nur das Privileg, sondern auch seinen gesamten Buchbestand und die Rechte für dessen Vertrieb erworben. Döring verstarb noch im Dezember desselben Jahres in Wittenberg. Dieser ersten Gesamtausgabe fehlt eine einheitliche redaktionelle Überarbeitung: Einzelne Partien sind mehrfach revidiert worden, andere, u. a. das 1. Buch Moses, wurden speziell für diese Drucklegung einer gesonderten Revision unterzogen. Die Blattzählung ist nicht fortlaufend, sondern in sechs unterschiedliche Blöcke eingeteilt: die 5 Bücher Mose, der 2. und 3. Teil des Alten Testaments und schließlich die Propheten, die Apokryphen und das Neue Testament. Die nicht dem mittelalterlichen Kanon entsprechenden Partien der Apokryphen wurden in einer neuen Reihenfolge geboten: „Das sind Bücher, so nicht der Heiligen Schrift gleichgehalten: und doch nützlich und gut zu lesen. 1. Judith, 2. Sapientia, 3. Tobias, 4. Sirach, 5. Baruch, 6. Makkabäer, 7. Stücke in Esther, 8. Stücke in Daniel.“ Die vollständige neue Illustrierung der ersten Gesamtausgabe hatte noch der Verleger Döring 1532 einem in Lucas Cranachs Werkstatt arbeitenden Monogrammisten ‚MS‘ übertragen.58 Luther selbst hat wie stets an den Illustrationen regen Anteil genommen.59 Die 117 neuen Holzschnitte tragen die Jahreszahlen 1532, 1533 und 1534; alle haben ein einheitliches Format von 10,8 × 14,7 cm und ragen damit etwa 1 cm über den Satzspiegel hinaus. Möglicherweise war man bei der Auftragsvergabe von 1532 von einem größeren Satzspiegel ausgegangen. Diese Abbildungen (vgl. die Abb. 4, 5 und 6) „erreichten beinahe eine kanonische Stellung in Wittenberg“60 und wurden für fast alle Gesamtausgaben der deutschen Bibel bis 1546 wiederverwendet. Vgl. Martin Treu: Lucas Cranach und Christian Döring als Wittenberger Verleger. Beobachtungen anhand der Sammlung C. G. Holtzhausen, in: Buchdruck und Buchkultur (wie Anm.7), S. 101–114. 57 Vgl. Uwe Schirmer: Buchdruck und Buchhandel im Wittenberg des 16. Jahrhunderts. Die Unternehmer Christian Döring, Hans Lufft und Samuel Selfisch, in: ebd., S. 169–189, hier: bes. S. 175–184. 58 Versuche, diese Initialen einer bekannten Person zuzuordnen, konnten bisher nicht überzeugen. 59 Schmidt: Illustration der Lutherbibel (wie Anm. 52), S. 137–139. 60 Heal: Druckerpresse (wie Anm. 52), S. 126. 56
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Abb. 4:
Die Flucht von Lot aus dem brennenden Sodom mit den beiden Engeln und seinen beiden Töchtern (1 Mos 19,15 f.), rechts am Rand Lots Frau als Salzsäule (ebd. 19,26), im Hintergrund der Untergang von Sodom und Gomorra (19,24 f.). In: Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittenberg: Hans Lufft, 1534. Bd. I., Blatt XI recto. Exemplar: Stiftung Weimarer Klassik / Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign.: C1, I:58b.
Ein Kennzeichen des Meisters ,MS‘ ist die muntere Bewegtheit der Figuren, die allen Illustrationen eine gewisse Dynamik verleihen. Ebenso typisch ist die bewusst eingesetzte feine Schraffur, die mit ihren gestuften Grauwerten den Bildern eine Tiefenwirkung und damit eine Plastizität verleiht. In den hier gezeigten Abbildungen aus dem Exemplar der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar wurden zeitgenössisch die Holzschnitte und die zahlreichen Initialen von einer Hand kräftig mit Blau, Grün, Rot und Gold übermalt (s. Abb.). Dieses Exemplar zeichnet eine eigene Dignität und Einmaligkeit aus. Es wurde daher bei der UNESCO-Generalkonferenz am 9. Oktober 2015, gemeinsam mit 14 30
„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“
Abb. 5: Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer. In der beherrschenden Mitte Moses mit dem Stab, hinter ihm Aaron mit seiner Kapuze; die den Israeliten nachfolgenden Ägypter kommen im Meer um, rechts am Himmel die die Nacht erleuchtende Wolke (2 Mose 14,16, 20–23, 26–9). In: Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittenberg: Hans Lufft, 1534. Bd. I., Blatt XLIIII recto. Exemplar: Stiftung Weimarer Klassik / Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign.: C1,I: 58b.
Manuskripten, Briefen und Originaldrucken von Martin Luther, zum Weltdokumentenerbe erhoben.61 Fünf Holzstöcke wurden in dieser Ausgabe mehrfach verwendet, u. a. eine Steinigung und die Tempeldarstellung; ein Holzstock, der Paulus mit den zwei Boten zeigt, wurde
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Zum Kontext der Auswahl der Dokumente vgl. Meilensteine (wie Anm. 26); Stephan Füssel: Die Luther-Bibel von 1534 als Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO, in: Ders.: Das Buch der Bücher. Reprint (wie Anm. 11), hier: Neuausgabe Köln 2016, S. 7 f.
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Stephan Füssel
Abb. 6: Das Lamm mit den 144 Tausend / Das zerstörte Rom. In: Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittenberg: Hans Lufft, 1534. Bd. II, Bl. CXCIII recto. Exemplar: Stiftung Weimarer Klassik / Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign.: C1,I: 58C.
sogar viermal verwendet: Je nachdem, um welchen Brief es sich handelt! Wie üblich wurde das Neue Testament bis auf die Evangelistenbilder nicht bebildert, erstmalig erhielten in dieser Ausgabe aber auch die Apokryphen Holzschnittschmuck. Trotz des hohen Preises von zwei Gulden und acht Groschen scheint die (vermutlich) 3000er Auflage sehr rasch vergriffen gewesen zu sein, da 1535, 1536 und 1539 weitgehend unveränderte Nachdrucke in Wittenberg veröffentlicht wurden.62 Erst die Bibelrevisionen der Jahre 1539–154163 erbrachten eine Weiterarbeit an den Texten und zeigten dann auch ein anderes typographisches Bild. Eberhard Zwink: Luthers Revisionen der Bibel 1522–1546, in: Ursprung (wie Anm. 34), S. 72. Ebd. S. 71–78.
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„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Die Ausgabe von 1541, die nach dem großzügigen Format genannte Medianbibel, wurde grundlegend neu überarbeitet, wie es bereits auf dem Titelblatt vermerkt ist (vgl. Abb. 7): „Biblia: das ist: / Die gantze Heilige / Schrifft:Deudsch. / Auffs New zugericht / D. Mart. Luth. / Gedruckt zu Wittem- / berg / Durch Hans Lufft. M.D.XLI.“64 Es wurde nicht nur auf sorgfältigen und fehlerfreien Druck großen Wert gelegt, auch die meisten Abbildungen des Monogrammisten ,MS‘ wurden übernommen und die Titel einfassung und die Hesekiel-Vision erstmals von Lucas Cranach d. J.65 aufgenommen. Auch in diesem Band führt Luther beredt Klage gegen den unberechtigten und unzuverlässigen Nachdruck: „Vnd ist mir offt widerfahren / dass ich der Nachdrucker druck gelesen / also verfelscht gefunden […]“. Als Ausgabe letzter Hand gilt die „Biblia: das ist: die gantze Heilige Schrifft: Deudsch. Auffs New zugericht D. Mart. Luth.“, die wiederum Hans Lufft 1545 in Wittenberg66 herstellte. Da sie die letzte Ausgabe zu Luthers Lebzeiten war, erhielt sie beinahe kanonische Bedeutung und wurde – im Unterschied zu Luthers eigener Intention – Jahrhunderte lang kaum verändert. Einige Korrekturen Luthers wurden aber auch noch in die Ausgabe von 1546 aufgenommen, die postum erschien.67 Zwischen 1522 und 1546 kann man 430 Teil- und Gesamtausgaben nachweisen, sodass etwa mit einer halben Million Luther-Bibeln bis zur Jahrhundertmitte gerechnet werden kann.
7. Wirkungsgeschichte Luther hat die Sprache der sächsischen Kanzlei verwendet und gehofft, damit seine Texte sehr weit verbreiten zu können. In oberdeutschen Städten mussten allerdings seinen Übersetzungen Glossare, mitteldeutsch-oberdeutsche Wörterlisten, beigegeben werden, und in Norddeutschland entstanden in rascher Folge eigene niederdeutsche Fassungen. Aber seine Wortneuschöpfungen, seine Redensarten und die bildreiche Sprache wurden stilbildend, die ja nicht nur in seiner Bibel verwendet wurden, sondern auch in den Nachschriften seiner Predigten, im Katechismus, in seinen Kirchenliedern und in der protestantischen Predigt der nachfolgenden Jahrhunderte.68 Abb. der Medianbibel nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, in: Füssel: Das Buch der Bücher (wie Anm. 12), Kommentar, S. 47. 65 Zwink: Luthers Revisionen (wie Anm. 62), S. 74. 66 Zur Stellung von Lufft und seinen wirtschaftlichen Erfolgen vgl. Schirmer: Buchdruck und Buchhandel (wie Anm. 57), S. 178–184. 67 Füssel: Das Buch der Bücher (wie Anm. 12), S. 46; Zwink: Luthers Revisionen (wie Anm. 62), S. 71. 68 In Rahmen dieses Vortrages konnte nicht auf die reiche Flugblattliteratur, den Kleinen und den Großen Katechismus, die Einblattdrucke mit den Kirchenliedern oder das Gesangbuch eingegangen werden. 64
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Stephan Füssel
Abb. 7:
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Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrift: Deudsch Auffs New zugericht. D. Mart. Luth. Wittemberg: Hans Lufft, 1541 (sog. Medianbibel), kalligrafisches Titelblatt. Exemplar: HAB Wolfenbüttel, Sign.: Bibel-S 2° 27b.
„Nicht Wort zu Wort, sondern Sinn zu Sinn“ Da die Bibel oft das einzige Buch im Haus war, diente sie häufig zum Leseunterricht. 1642 predigte der Rhetoriker und lutherische Theologe Johann Conrad Dannhauer69 in Straßburg über die richtige Lektüre der Christen und verdammt die weitverbreiteten Romane: „Hinweg mit Amadis / Schäffereyen / Eulenspiegel / Gartengesellschaft / Rollwagen / und dergleichen heyllosen Büchern mehr – das Teutsch lernt sich besser in der Bibel vnd den Büchern Lutheri […].“70
Hermann Schüssler: Dannhauer, Johann Konrad, in: NDB 3 (1957), S. 512. Stephan Füssel: Kontinuität und Umbruch. Die Literaturentwicklung von 1450 bis 1600, in: Ders.: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit. Ihr Leben und Werk, Berlin 1993, S. 9–34, hier: S. 32 f.; die Drucklegung von Dannhausers Predigten im Straßburger Münster: Catechismus Milch oder Der Erklärung deß Christlichen Catechismi Erster theil […] durch Johann Conrad Dannhawern […], Straßburg / In Verlegung Friderich Spoors M.DC.XLII, Zitat S. 413; vgl. VD17 23:272883M.
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Stefan Michel
Ringen um Anschaulichkeit Die Revisionen der Bibelübersetzung Martin Luthers bis 1546
Zweifelsohne gehört Martin Luther zu den erfolgreichsten Autoren der Frühen Neuzeit – heute würde man ihn einen Bestsellerautor nennen. Seine Publikationen beeinflussten das Denken und Handeln der Menschen seiner Zeit in vielfältiger Weise. Sie wurden begierig aufgenommen, rasch weitergetragen und häufig nachgedruckt. Sogar über seinen Tod hinaus wurde ihnen von seinen Anhängern Autorität zugeschrieben.1 Luthers Bibelübersetzung nimmt unter seinen Schriften einen besonderen Rang ein. Sie beeinflusste und beeinflusst seit dem 16. Jahrhundert die Interpretation der Heiligen Schrift nicht nur im Luthertum bis dahin, dass manche seiner philologischen Entscheidungen in Wörterbücher eindrangen und so zum Teil sogar unbewusst sein Denken fortschrieben.2 Aus den vielfältigen Fragen, die an Luthers Bibelübersetzung gerichtet werden können, wird in diesem Beitrag jene nach der Revision der Übersetzung zu Lebzeiten des Reformators herausgegriffen. Dabei wird dieser fast ein Vierteljahrhundert andauernde Prozess als Ringen um Anschaulichkeit gedeutet.
1. Luther übersetzt die Bibel Martin Luther übersetzte bekanntlich auf der Wartburg das Neue Testament ins Deutsche. Erstmals berichtete er in einem Brief vom 18. Dezember 1521 an Johann Lang darüber.3 Wenige Tage zuvor war Luther heimlich in Wittenberg gewesen. Bei diesem Aufenthalt soll ihm Philipp Melanchthon geraten haben, sich an die Übersetzung des Neuen Testaments zu machen. Allerdings gab es wohl schon 1520 in Wittenberg Diskussionen über die Anfertigung einer deutschen Bibelübersetzung,4 sodass damit zu rechnen ist, dass sich Luther Vgl. Bernd Moeller: Das Berühmtwerden Luthers, in: ders.: Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hrsg. von Johannes Schilling, Göttingen 2001, S. 15–41; Stefan Michel: Die Kanonisierung der Werke Martin Luthers im 16. Jahrhundert, Tübingen 2016. 2 Vgl. Hans Förster: Martin Luther und die Veritas Graeca. Eine Positionsbestimmung, in: Kerygma und Dogma 66 (2020), S. 195–219. 3 WA Br 2, S. 413 f., Nr. 445. 4 Vgl. Andreas Karlstadt: Welche bucher Biblisch seint. Disses buchlin lernet vnterscheyd zwueschen Biblischen buch1
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Stefan Michel den Schritt, eine so umfangreiche Übersetzung zu wagen, gut überlegt hatte. Bereits elf Wochen später war das wichtige Werk, trotz anfänglicher Schwierigkeiten, den Text allein neben der Erarbeitung der Adventspostille zu übersetzen,5 in groben Zügen vollbracht. Im Februar 1522 schickte er sogar schon Proben seiner Übersetzung der Evangelien nach Wittenberg.6 Der Wunsch, dorthin zurückzukehren, war schließlich so groß, dass Luther Anfang März 1522 die Wartburg verließ. In welchem Zustand sich das Manuskript befand, das er im Gepäck hatte, ist unbekannt.7 Jedoch setzte sich Luther bereits Ende März 1522 mit Melanchthon zusammen, um die Übersetzung durchzugehen und für die Drucklegung zu bearbeiten. Spalatin wurde zudem brieflich aufgefordert, bei aufkommenden Unklarheiten behilflich zu sein.8 Noch während an der Übersetzung gearbeitet wurde, begann im Mai der Druck des Septembertestaments.9 Zugleich sollte Spalatin Edelsteine schicken, die bei der Übersetzung einiger Abschnitte der Apokalypse als Anschauungsobjekte helfen sollten.10 Nachdem das Septembertestament ausgegangen war, überarbeitete Luther seine Übersetzung nochmals, sodass das Dezembertestament von 1522 bereits über 500 sprachliche Veränderungen zu der vorangehenden Auflage aufwies.11 Auf der Wartburg standen Luther neben der von Erasmus von Rotterdam besorgten griechischen Ausgabe des Neuen Testaments in zweiter Auflage von 1519 noch dessen lateinische Übersetzung sowie eine Vulgata zur Verfügung.12 Wahrscheinlich lag ihm auch eine ern vnd vnbiblischen / darynnen viel geyrret haben / vnd noch jrren / Dartzu weyszet das buchlin / welche bucher / in der Biblien / orstlich seint zuleszen, Wittenberg 1520 (VD16 B 6259), fol. Aiir: „Nachdem ittzt / wie ich bericht / neu und deutsche Biblien / sollen gedruckt werden […].“ Kritisch ediert in: Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Andreas Bodensteins von Karlstadt. Bd. 3: Briefe und Schriften 1520, hrsg. von Thomas Kaufmann, bearb. von Harald Bollbuck, Ulrich Bubenheimer, Stefania Salvadori und Alejandro Zorzin, Gütersloh 2020, S. 519–547, hier: S. 526. 5 WA Br 2, S. 422–424, Nr. 449 (Luther an Nikolaus von Amsdorf, 13. 1. 1522); WA Br 2, S. 424–428, Nr. 450 = MBW 205 (Luther an Melanchthon, 13. 1. 1522). Vgl. Hans Volz in: D. Martin Luther: Biblia. Das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch auffs new zugericht, Wittenberg 1545, hrsg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke und Friedrich Kur, Bd. 3, München 1974, S. 138*–142*; vgl. auch ders.: Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck 1522–1626, Göttingen 1954; ders., Martin Luthers deutsche Bibel. Entstehung und Geschichte der Lutherbibel, hrsg. von Henning Wendland, eingeleitet von Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Hamburg 1978, bes. S. 249 f.; Heimo Reinitzer: Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel 1983, bes. S. 109–116. 6 Vgl. MBW 217 (Melanchthon an Spalatin, 25. 2. 1522). 7 Dass Luther wohl eine Übersetzung des ganzen Neuen Testaments mitbrachte, belegt der Brief Melanchthons an Caspar Cruciger von Anfang März 1522, MBW 219. 8 WA Br 2, S. 489 f., Nr. 470 (Luther an Spalatin, 30. 3. 1522); MBW 224 (Melanchthon an Spalatin, [30. 3. 1522]). 9 MBW 226 (Melanchthon an Georg Sturtz, 5. 5. 1522); WA Br 2, S. 524 f., Nr. 488 (Luther an Spalatin, 10. 5. 1522). 10 WA Br 2, S. 526–529, Nr. 490 (Luther an Spalatin, 15. 5.1522); ebd., S. 532–534, Nr. 492 (Luther an Spalatin, ca. 17. 5. 1522); ebd., S. 556–558, Nr. 507 (Luther an Spalatin, ca. 8. 6.1522). 11 Vgl. Herbert Wolf: Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien, Berlin 1983, S. 81. Siehe auch Sebastian Seyferth: Sprachliche Varianzen in Martin Luthers Bibelübersetzung von 1522–1545. Eine lexikalisch-syntaktische Untersuchung des Römerbriefs, Stuttgart 2003. 12 Vgl. WA Br 2, S. 409–411, Nr. 443 (Luther an Spalatin, ca. 5. 12. 1521); MBW 191 (Melanchthon an Spalatin, 26./27. 12. 1521); Heinrich Bornkamm: Die Vorlagen zu Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, in: ders.: Luther – Gestalt und Wirkungen. Gesammelte Aufsätze, Gütersloh 1975, S. 65–73.
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Ringen um Anschaulichkeit Ausgabe des griechischen Neuen Testaments von Nikolaus Gerbel (um 1485–1560) vor,13 die einen Nachdruck des erasmianischen Textes bot. Ein Wörterbuch im modernen Sinn gab es nicht, das Luther konsultieren konnte. Möglicherweise holte er sich im „Dictionarium Graecum“ des Valentinus Curio Rat, das 1519 in Basel erschien.14 Denkbar wäre auch, dass der Übersetzer das „Lexicon Graecolatinum“15 des Hieronymus Aleander heranzog, das erstmals 1512 in Paris gedruckt wurde. In beiden Fällen hätte Luther die griechischen Wendungen zunächst ins Lateinische übersetzt, um sie dann verdeutschen zu können. Die Übersetzung des Alten Testaments schritt aufgrund des Umfangs und sprachlicher Unklarheiten langsamer voran: Zwar begann Luther, noch während das Septembertestament gedruckt wurde, mit der Übersetzung des Alten Testaments, sodass im Sommer 1523 bereits die fünf Bücher Mose auf Deutsch gelesen werden konnten, allerdings kam der „andere Teil des Alten Testaments“, die Bücher Josua bis Esther enthaltend, erst Anfang 1524 auf den Markt. Der Psalter war ab September 1524 zu erwerben. Ab Oktober 1524 wurde der „dritte Teil des Alten Testaments“, der Hiob bis zum Hohelied umfasste, angeboten. Ab 1526 kamen die einzelnen Prophetenbücher übersetzt aus der Druckerei.16 Auch hierfür holte sich Luther Unterstützung, die ihm der Wittenberger Hebraist Matthäus Aurogallus (um 1490 – 1543) anbot. Erst 1534 konnte Luther die Übersetzung der Bibel abschließen und alle bis dahin erschienenen Teile in einem Band als Vollbibel herausgeben. Bei der Betrachtung der Hilfsmittel, die Luther für die Übersetzung des Alten Testaments zur Verfügung standen, muss man feststellen, dass neben den originalsprachlichen Textausgaben ausschließlich lateinische Hilfsliteratur auf dem Buchmarkt vorhanden war. Zu erinnern ist hier beispielsweise an Johannes Reuchlins (1455–1522) „De Rudimentis hebraicis“ von 1506.17 Man könnte demnach formulieren: Übersetzen war für Luther in erster Linie eine akademische Beschäftigung, die sowohl Lebenserfahrung als auch entsprechende Ausdruckmöglichkeiten oder Sprachkenntnisse voraussetzte, um den biblischen Text in einer verständlichen Alltagssprache wiederzugeben. Luther wollte, wie er im Sendbrief vom Dolmetschen ausführte, gerade nicht der lateinischen Syntax folgen, sondern eine Übersetzung vorlegen, die dem deutschen Sprachgebrauch entsprach.18 Übersetzen war für WA Br 2, S. 396–398, Nr. 435 (Luther an Gerbel, 1. 11. 1521). VD16 C 6452. Diese Sicht vertritt Sören Widmann: Von der Wartburgpostille bis zum Septembertestament 1522. Luther als Übersetzer des Neuen Testaments, in: Eine glossierte Vulgata aus dem Umkreis Martin Luthers. Untersuchungen zu dem 1519 in Lyon gedruckten Exemplar in der Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, hrsg. von Martin Brecht und Eberhard Zwink, Bern [u. a.] 1999, S. 61–93, hier: S. 64. 15 Für die Möglichkeit plädiert Hermann Dibbelt: Hatte Luthers Verdeutschung des Neuen Testaments den griechischen Text zur Grundlage?, in: Archiv für Reformationsgeschichte 38 (1941), S. 300–330, hier: S. 307. 16 Vgl. die Bibliographie, in: WA DB 2, S. 387–542 mit den Ergänzungen in WA 60, S. 360–382. 17 VD16 R 1252. 18 WA 30/II, S. 637: „[…] denn ich habe deutsch, nicht lateinisch noch kriegisch reden woellen, da ich teutsch zu reden ym dolmetzschen furgenommen hatte.“ 13 14
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Stefan Michel Luther „kunst und erbeit“,19 zu der es den Glauben des Übersetzers braucht, der den Text sprachlich verstanden und theologisch durchdrungen haben muss, um ihn in der nötigen Texttreue nicht zu frei zu übersetzen. Luther hatte also einen theologisch gebildeten Übersetzer vor Augen, der nicht nur die Philologie beherrschte.20
2. Quellen über die Revision der Lutherbibel bis 1546 Wollte Luther also eine gute deutschsprachige Bibel herausgeben, die verständlich und anschaulich sein sollte, war er auf die Unterstützung seiner Wittenberger Kollegen angewiesen.21 Dieser von 1521 bis 1546 andauernde Prozess des Übersetzens und Revidierens mit Unterstützung durch andere Gelehrte kann anhand der erhaltenen Revisionsprotokolle und den damit zusammenhängenden Eintragungen in die beiden Handexemplare Luthers, die sich seit 1557 in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB) befinden,22 gut nachvollzogen werden. Diese Quellen wurden nach ihrer Wiederent deckung durch Georg Buchwald (1859–1947)23 1911 und 1923 von Otto Reichert (1879–1931) in den Bänden 3 und 4 der Abteilung „Deutsche Bibel“ der Weimarer Lutherausgabe (WA DB) ediert. Während die Überarbeitungen für die 1520er Jahre nur durch Briefwechsel und Vergleiche der einzelnen Textüberlieferungen erschlossen werden können, liegen ab der Psalterrevision vom Januar bis März 1531 Protokolle vor, die von Georg Rörer (1492–1557) geführt wurden. Diese Quellen erhellen Akteure, Verlauf und zum Teil sogar Prinzipien der Revision umfassend. Der Protokollant Georg Rörer stammte aus dem niederbayerischen Deggendorf und war seit 1525 Diakon an der Wittenberger Stadtkirche.24 Seine Aufgabe bestand darin, die WA 30/II, S. 639. Vgl. Michael Beyer: Übersetzer, in: Das Luther-Lexikon, hrsg. von Volker Leppin und Gury Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, S. 709–711, hier: S. 709. 21 Ab hier stellt der Beitrag eine überarbeitete Fassung des folgenden Aufsatzes dar: Stefan Michel: Die Revision der Lutherbibel zwischen 1531 und 1545. Beobachtungen in den Protokollen von Georg Rörer, in: „Was Dolmetschen für Kunst und Arbeit sei“: Die Lutherbibel und andere deutsche Bibelübersetzungen. Beiträge der Rostocker Konferenz 2013, hrsg. von Melanie Lange und Martin Rösel, Stuttgart 2014, S. 83–106. 22 Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (im Folgenden: ThULB Jena), Ms.Bos.o.17n (Psalterrevision 1531), Ms.Bos.q.24r, fol. 214r–22r (Reinschrift des Psalterrevisionsprotokolls 1531 für Ps 4–18) = WA DB 3, S. XXX–XLII, Ms.Bos.q.24c, fol. 63r–202r (Revisionsprotokoll 1539–1541), Ms.Bos.q.24u, fol. 30r–39r (Revisionsprotokoll 1544/45); Ms.App.24 (Handexemplar Luthers des Alten Testaments [1539]); Ms.App.25 (Handexemplar Luthers des Neuen Testaments [1540]). Die erwähnten Handschriften und Drucke können alle voll digitalisiert unter eingesehen werden. 23 Vgl. Georg Buchwald: Jenaer Lutherfunde, in: Theologische Studien und Kritiken 67 (1894), S. 374–391; ders.: Lutherfunde in der Jenaer Universitätsbibliothek, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 14 (1894), S. 600–603. 24 Zu Rörer vgl. Stefan Michel: Sammler – Chronist – Korrektor – Editor. Zur Bedeutung des Sammlers Georg Rörer (1492–1557) und seiner Sammlung für die Wittenberger Reformation, in: Georg Rörer (1492–1557). Der Chronist der Wittenberger Reformation, hrsg. von dems. und Christian Speer, Leipzig 2012, S. 9–58. 19
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Ringen um Anschaulichkeit Revisionen des Bibeltextes und anderer Texte vor allem Luthers korrekt an die Druckerei zu übermitteln und dort die Richtigkeit des Drucks zu überwachen. Seit 1527 war Rörer in verschiedenen Wittenberger Druckereien als Korrektor tätig und stieg dann 1537/38 zum „obersten“ Korrektor in der Druckerei von Hans Lufft auf. In dieser Funktion sorgte er dafür, dass die Drucke fehlerfrei und in der gebotenen Ordnung hergestellt wurden.25 Er stellte die Vorlage für den zu druckenden Text bereit und prüfte die ersten Probedrucke sorgfältig. Später bezeichnete er sich entsprechend selbstbewusst als „Corrector der Bibel“. Luther vertraute Rörer, dass er die vorgenommenen Korrekturen am Bibeltext gewissenhaft notierte und anschließend in die jeweils neue Ausgabe der Bibel übertrug. Die Protokolle sind eine Mischung aus Diskussionsbericht über exegetische Ansichten oder Übersetzungsmöglichkeiten und Ergebnisbericht über die endgültig festgelegte Übersetzung. Sie sind formal sehr unterschiedlich: Während die Protokolle der Jahre 1539 bis 1541 auf den Tag genau datiert sind, sodass der Fortschritt der Arbeit gut nachvollzogen werden kann, setzte Rörer entsprechende Datierungen im Protokoll der Psalterrevision von 1531 nur spärlich ein. Alle Revisionsprotokolle gewähren jedoch einen guten Einblick in den Ablauf der einzelnen Sitzungen, obwohl Rörer oft nur mit wenigen – häufig lateinischen – Stichpunkten die Ergebnisse der detaillierten Diskussionen festhielt und demnach kein Verlaufsprotokoll schrieb. Vor allem verraten die Protokolle, dass diese Arbeit ein Gruppenereignis war,26 bei der sich Luther aber die letzte Entscheidung vorbehielt, da es „seine“ Übersetzung war, über die beraten wurde. Gleichzeitig durften freilich alle Anwesenden ihre Anmerkungen und Ergänzungen liefern. Oft diskutierte er mit Melanchthon schwierige Stellen bzw. Rörer hielt vorrangig diese Diskussionen fest. Vielleicht meinte er, dass die beiden wichtigsten Männer aus dem Kreis der Wittenberger Theologen miteinander ein gelehrtes theologisches Gespräch führten, das für die Weiterarbeit noch bedeutsam sein könnte und vielleicht sogar der Nachwelt überliefert werden sollte. Die Protokolle verdeutlichen das gemeinsame Ringen um ein Verständnis schwieriger Bibelstellen innerhalb des versierten Beraterkreises um Luther. Neben Melanchthon
Eine gewisse Aufsichtsfunktion – im Sinne von Zensur oder wenigstens Vorzensur – ist freilich hierbei nicht von der Hand zu weisen. Vgl. zur Zensur in Wittenberg Hans-Peter Hasse: Bücherzensur an der Universität Wittenberg im 16. Jahrhundert, in: 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation, hrsg. von Stefan Oehmig, Weimar 1995, S. 187–212; ders.: Melanchthon und die Zensur theologischer Bücher, in: Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas, hrsg. von Irene Dingel und Armin Kohnle, Leipzig 2011, S. 199–212. 26 Dies deckt sich sehr gut mit neueren Einsichten der reformationsgeschichtlichen Forschung, dass die Wittenberger Theologen eine gemeinsame „Kollektivautorität“ (z. B. Eike Wolgast: Luther, Jonas und die Wittenberger Kollektivautorität, in: Justus Jonas [1493–1555] und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation, hrsg. von Irene Dingel, Leipzig 2009, S. 87–100) oder „Gruppenidentität“ (z. B. Hans-Peter Hasse: Luther und seine Wittenberger Freunde. Zum Erscheinungsbild einer Gruppe in der Kunst und Publizistik des 16. Jahrhunderts. Wartburg-Jahrbuch Sonderband 1996, Eisenach 1996, S. 84–119) bildeten. Vgl. dazu auch Ulinka Rublack: Die Reformation in Europa, 2. Aufl., Frankfurt /M. 2006, S. 67; Irene Dingel: Luther und Wittenberg, in: Luther Handbuch, hrsg. von Albrecht Beutel, Tübingen 2005, S. 173. 25
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Stefan Michel bildeten der Theologe Caspar Cruciger27 und der Hebraist Matthäus Aurogallus28 mit dem Protokollanten Rörer den engeren „Revisionsbeirat“, zu dem gelegentlich Johannes Bugenhagen,29 Veit Dietrich,30 Bernhard Ziegler,31 Justus Jonas32 und Johann Forster hinzustießen. Zudem ist auch einmal die Anwesenheit von Jakob Schenck und Anton Lauterbach erwähnt.33 Johannes Mathesius (1504–1565), der zwischen 1540 und 1542 in Wittenberg studierte, muss mindestens einmal bei der Revision zwischen 1539 und 1541 in dieser Runde anwesend gewesen sein, weil es von ihm eine eindrückliche und historiographisch wirksame Schilderung dieses Ereignisses gibt, auf die alle weiteren Darstellungen bis zur Wiederentdeckung der Revisionsprotokolle in der Sammlung Rörers am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgehen: „Als nun erstlich die gantze deutsche Bibel außgangen war, vnd ein tag leret immer neben der anfechtung den andern, nimmt Doctor [Martin Luther] die Biblien von anfang wider für sich mit grossem ernst, fleyß vnnd gebete vnnd vbersihet sie durchauß, vnnd weyl sich der Sone Gottes versprochen hatte, er wölle darbey sein, wo jr etlich inn seinem namen zusammen kommen vnd vmb seinen geyst bitten, verordnet D. Luther gleich ein eygen Sanhedrim, von den besten leuten, so desmals verhanden, welche wöchlich etlich stunden vor dem abendessen inn Doctors Kloster zusamen kamen, nemlich: D. Johan Bugenhagen, D. Justum Jonam, D. Creutziger, Magister Philippum, Mattheum Aurogallum, darbei M. Georg Rörer, der Corrector, auch war; offtmals kamen frembde Doctoren vnd gelerte zu disem hohen werck, als Doctor Bernhard Ziegler, D. Forstemius. Wenn nun Doctor [Martin Luther] zuuor die außgangen Bibel vbersehen vnd darneben bey Juden vnnd frembden sprachkündigen sich erlernet vnd sich bey alten Deutschen von guten worten erfragt hatte, Wie er jhm etlich Schöps abstechen ließ, damit jn ein Deutscher Fleischer berichtet, wie man ein jedes am Schaf nennete, Kam Doctor inn das Consistorium mit seiner alten Lateinischen vnd newen Deutschen Biblien, darbey er auch stettigs den Hebreischen text hatte. Herr Philippus bracht mit sich den Greckischen text, Doctor Creutziger neben dem Hebreischen die Chaldeische Bibel. Die Professores hatten bey sich jre Rabinen, D. Pommer [Bugenhagen] het auch Lateinischen text für sich, darinn er sehr wol bekant war. Zuuor hat sich ein jeder auff den text gerüst, dauon man rathschlagen solte, Greckische vnnd Lateinische neben den Jüdischen außlegern vbersehen. Darauff proponirt dieser President ein text vnd ließ die stimm herumb gehen vnd höret was ein jeder darzu zu reden hette, nach eygenschafft der sprache oder nach der alten Doctoren außlegung.
Vgl. als Beispiel von 1531: ThULB Jena, Ms.Bos.o17n, fol. 6r (am Rand) = WA DB 3, S. 7,16. Vgl. z. B. ThULB Jena, Ms.Bos.q.24c, fol. 102r = WA DB 3, S. 330,15 f. 29 Vgl. einen Beitrag Bugenhagens zur Übersetzung von 1. Kö 6 in: ThULB Jena, Ms.Bos.q.24c, fol. 122v = WA DB 3, S. 420,28 f. 30 Vgl. WA DB 3, S. 43,23. 31 Vgl. WA DB 3, S. 3,24 32 Vgl. WA DB 3, S. 66, Anm. 1; S. 114,2. 33 Vgl. WA DB 3, S. 388. 27
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Ringen um Anschaulichkeit Wunder schöne vnnd lehrhafftige reden sollen bey diser arbeyt gefallen sein, welcher M. Georg [Rörer] etliche auffgezeichnet vnd die hernach als kleine glößlein vnd außlegung auff den rand zum text gedruckt sein.“34
Zweifelsohne stellt der Bericht eine Quelle ersten Ranges dar, aus der man erfährt, dass Mathesius die Revisionsprotokolle Rörers kannte. Mathesius wusste, dass Rörer diese nicht nur für die Korrektur des Bibeltextes, sondern auch für die Gestaltung der Glossen in der Bibel heranzog. Zudem wird der Ablauf der Sitzungen deutlich: Man traf sich im ehemaligen Augustinerkloster und war sich der gelehrten Arbeit bewusst, die im Glauben verrichtet wurde. Alle Mitglieder des Revisionsbeirats waren vorbereitet. Luther führte als „Präsident“ den Vorsitz und gab vor, worüber gesprochen werden sollte. Man konzentrierte sich auf die Philologie, wobei viele Diskussionen in den Bereich der Theologie führten. Die Gelehrten konsultierten verschiedene Textvarianten oder alte Auslegungen. Im Umfeld dieser Revisionsrunden könnte Luther in ihren Berufen erfahrene Menschen wie einen Fleischer befragt haben, um von ihnen deutsche Spezialausdrücke zu erfahren. Diese Anstrengungen dienten der Erhöhung der Anschaulichkeit der Übersetzung, denn nur so konnte eine allgemeinverständliche Bibelübersetzung erarbeitet werden.
3. Etappen der Bibelrevision Die Revision der Lutherbibel verlief zu Luthers Lebzeiten in mehreren Etappen, in denen jeweils nur Teile der Übersetzung durchgesehen wurden: Die erste Revision des Neuen Testaments führten Luther und Melanchthon 1529 durch. Dabei prüften und verbesserten sie die Übersetzung zur Vorbereitung der Neuausgabe von 1530 nochmals gründlich.35 Allerdings wurde darüber kein Protokoll angefertigt bzw., wenn es eines gab, dann blieb es nicht erhalten. Trotzdem gibt es in Briefwechseln sichere Hinweise auf diesen Korrekturgang.36 Die erste protokollierte Korrektur fand von Mitte Januar 37 bis Mittwoch, den 15. März 1531,38 statt und betraf den ganzen Psalter,39 bevor also im selben Jahr eine Neuausgabe des Johannes Mathesius: Luthers Leben in Predigten, hrsg. von Georg Lösche, 2. Aufl., Prag 1906, S. 315–317 = WA DB 3, S. XV f. 35 WA DB 2, S. 480–482, Nr. *331 = VD16 B 4398. 36 So bat Melanchthon seinen Freund Joachim Camerarius am 24. 7. 1529 um Hilfe bei der Übersetzung einiger Worte: MBW.T 3, S. 551 f.,53–58, Nr. 807. 37 Am 15. 1. 1531 erwähnte Luther diese Revision erstmals in einem Brief an Wenzeslaus Link (vgl. WA Br 6, S. 16–18, Nr. 1772). Am 21. 1. 1531 berichtete er an Nikolaus Hausmann ebenfalls über die Psalterrevision (vgl. WA Br 6, S. 22 f., Nr. 1775). 38 Rörer vermerkt am Ende der letzten Sitzung (WA DB 3, S. 166): „Finis, die 15 Marcij quae erat mercurij, deo laus et gloria.“ 39 WA DB 3, S. 1–166 = ThULB Jena, Ms.Bos.o.17n, fol. 1–112. Vgl. auch Albert Hass: Der Einfluß des Psalmen-Revisi34
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Stefan Michel Psalters auf den Markt kam.40 Ziel war es, den Psalter, den Luther als wichtigstes Gebetbuch betrachtete, in ein besseres Deutsch zu bringen.41 Zwar dokumentierte Rörer nicht durchgehend genau, an welchen Tagen die Sitzungen stattfanden, trotzdem zeigen die vorhandenen Datierungen einen raschen Fortschritt, sodass mit mindestens 22 Sitzungen gerechnet werden kann.42 Die letzten Sitzungen verliefen unter dem Zeitdruck der parallel verlaufenden Drucklegung des Psalters43 vermutlich etwas kürzer, dafür traf sich der Revisionsbeirat häufiger. In den Diskussionen stand das Ringen um Anschaulichkeit im Mittelpunkt. In der Ausgabe des Psalters von 1524 lautete beispielsweise Psalm 24,7 noch: „Yhr thore hebt auff ewre heubter, vnd erhebt euch yhr thure der wellt, das ereyn gehe der konig der ehren.“44 Darüber diskutierte man nun im Januar 1531. Dabei war man sich einig, dass die Tür von dem, der in dem Psalm als Kommender angesprochen wird, größer gemacht wird, weil sie zu eng und zu niedrig ist. „Es kompt ein grosser konig, er wird oben anstossen, brecht die stein aus, machst thor hoch, brecht thor auff.“45 Schließlich kam man auf die Variante: „Macht die thor weit“.46 Zudem musste das Verb geändert werden, weil es sich um einen König handelte: „Einziehen ist nomen pompae.“47 Am Ende lautete der Vers fortan: „Machet die thore weit, und die thüre jnn der welt hoch, das der König der ehren ein zihe.“48 Damit ging man über zu Psalm 25, dessen Anfang seit 1524 lautete: „Zv dyr HERR erhebe ich meyne seele.“49 Da man sich bei Psalm 24 bereits über das Verlangen nach Gott ausgetauscht hatte, erinnerte man sich: „Nach dir verlangt [sehne] mich, herr [nach dir, herr].“50 Entsprechend lautete nun der Beginn des Psalms recht plastisch: „Nach dir HERR verlangt mich.“51
42 43 40 41
46 47 48 49 50 51 44 45
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ons-Protokolls von 1531 auf die endgültige Verdeutschung des Lutherschen Psalters. Beilage zum Programm des Königlichen Bismarck-Gymnasiums zu Pyritz Ostern 1912, Pyritz 1912. In dem von dem Weimarer Hofprediger Johann Stoltz angefertigten Verzeichnis der Predigten Rörers (RSB Zwickau, Ms. 33, fol. 48v–49r = WA DB 3, S. XVI) heißt es dazu: „Annotationes vber alle psalmen, da die Herren D. M. L., Phil. M., C. Creuziger etc. zum andern mal den psalter furgenommen haben zu dolmetzschen. Da siehet man, wie viell mühe vnd arbeit Sie es gekostet hat, den psalter in deutsch Sprach zu bringen: in parvo libello signato litera P [= ThULB Jena, Ms.Bos.o.17n].“ VD16 B 3297. So die Beschreibung des Ziels durch Luther im Brief an Link (WA Br 6, S. 17,31): „[…] ut purius Germanum sonet.“ Vgl. WA DB 3, S. XXI. Der Druck könnte sogar schon im Januar 1531 begonnen haben. Reichert bringt dafür das Beispiel, dass eine Stelle in Ps 14 nicht mehr geändert werden konnte, weil der Druck schon abgeschlossen war, vgl. WA DB 3, S. XXVI und S. 55,30. WA DB 10/I, S. 172. WA DB 3, S. 17,26 f. WA DB 3, S. 17,28 f. WA DB 3, S. 17,29 f. WA DB 10/I, S. 173. WA DB 10/I, S. 172. WA DB 3, S. 17,32. WA DB 10/I, S. 173.
Ringen um Anschaulichkeit Neben diesen grundsätzlichen Hinweisen auf die inhaltliche Entwicklung der Bibelrevision finden sich in den Protokollen auch persönliche Zeugnisse über die Stimmung in der Runde. So wird etwa Erleichterung deutlich, wenn die Arbeit einmal leichter von der Hand ging oder schneller voranschritt. Zu Beginn der Revision von Ps 86 vermerkte Rörer folgende Worte Luthers: „Da kompt ein leicht pselmichen, gebetlein.“52 Als an Ps 121 nichts geändert werden musste, notierte der Protokollant: „Der ghets fein fein hin durch, est primus, qui non fuerit correctus.“53 Als man am 9. Februar festgestellt hatte, dass die nun folgenden Psalmen 73 und 74 schwer zu übersetzen seien – „Da komen II schwere psalmen. Asaph credo fuisse, persianam et horatianam dictionem habent.“54 –, beendete man kurzerhand die Sitzung und setzte am 13. Februar an dieser Stelle mit frischen Kräften die Revision fort. Schließlich geben die Protokolle sogar vereinzelt Einblick in die verwendeten Bibeltexte. Neben der Ausgabe von Luthers Übersetzung der Psalmen aus dem Jahr 1528,55 die gründlich durchgearbeitet wurde, lagen mindestens eine lateinische56 und eine hebräische57 Bibelausgabe auf dem Tisch, die kontinuierlich diskutiert wurden. Wahrscheinlich zog man auch die Septuaginta zum Vergleich heran. Jedoch gab man eindeutig dem masoretischen Text der Hebraica den Vorzug,58 wobei die Diskussionen mehrheitlich in der Sprache der Gelehrten verliefen. Dadurch wurde dem lateinischen Text ein Vorrang eingeräumt, weil er den anwesenden Gelehrten in Form der Vulgata präsent war. Diesen Text kannte Luther zu großen Teilen auswendig. Der zweite Korrekturgang der Bibel begann am 24. Januar 1534 und diente der Vorbereitung des Drucks der ersten Vollbibel, die im Herbst 1534 bei Hans Lufft erschien. Das Revisionsprotokoll Rörers zu diesen Sitzungen ging verloren. Lediglich eine Notiz gibt Auskunft über das Ereignis: „Anno D. M. 34 am 24. Januarii habenn gedachte hernn [Luther, Melanchthon und Cruciger] von neuem die gantze bibell durch auß furgenomen zu corrigiren, die selbige ann viellenn ortenn deutlicher vnd klerer ins deutsch gebracht
WA DB 3, S. 108,15. WA DB 3, S. 155,109. 54 WA DB 3, S. 84, 13–15. Rörer hatte sogar schon die Überschrift „LXXIII. PSALMVS“ geschrieben, war also willig und darauf vorbereitet, das Protokoll weiterzuführen. 55 Zu denken ist an die Ausgabe des Psalters, die bei Hans Lufft erschienen war, vgl. WA DB 2, S. 438, Nr. *29. 56 Vgl. z. B. die Übersetzung von Ps 18 (in der lateinischen Zählung 17): WA DB 3, S. 6,2 und 8. Hier werden Übersetzung zweier Wörter aus der Vulgata diskutiert (Ps 18,2 [diligam] und 8 [commota]). 57 Vgl. ebenfalls die Übersetzung von Ps 18: Bei v. 23 schreibt Rörer über das deutsche Wort „Gesetz“ den hebräischen Begriff „( “מקחWA DB 3, S. 7,22). Weitere Beispiele finden sich schnell, vgl. z. B. WA DB 3, S. 35,5. 58 Vgl. WA DB 3, S. 103,2 mit Anm. 1; 106,8 f. mit Anm. 1. Möglicherweise spielte die Septuaginta in der Übersetzung des Psalters von 1524 eine größere Rolle. 52
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Stefan Michel den zuuor. Sonderlich aber haben sie viell zu thun gehabt mit den prophetenn in deutsche sprache recht [zu] bringenn von Jeremia an bis zu ende der propheten. Den Esaias vnd Danile sindt etliche Jahr zuuor deutsch inn druck ausgangenn. Jesus Syrach hatt sie sonderlich viell mühe gekostet, das er klar gut deutsch redett.“ 59
Ziel der Revision war demnach, die Verständlichkeit und Anschaulichkeit der Übersetzung zu erhöhen. Die Bibel sollte in einem „klaren“ Deutsch erscheinen, das man ohne Hinzunahme anderer Hilfsmittel verstand. Von 1539 bis 1541 nahmen sich Luther und sein „Revisionsbeirat“ in mindestens 44 Sitzungen nochmals die gesamte Bibel ohne die Apokryphen vor, was als dritter Korrekturgang anzusehen ist.60 Neben einem Protokoll wurden Korrekturen in Luthers Handexemplar des Alten Testaments, einem Druck aus dem Jahr 1539, eingetragen.61 Erste Ergebnisse flossen in die „aufs neue zugerichtete“ Bibelausgabe von 1541/40 ein,62 die die Korrekturen bis zum Buch 2. Könige enthielt. Den vollen Ertrag der Revision bot aber erst die Medianbibel vom Herbst 1541.63 Mit großer Energie arbeiteten die Revisoren den Text durch.64 Wie üblich wies Luther Vorschläge entweder unter dem Hinweis „Nein, das wil ich nicht haben“65 zurück oder stimmte ihnen bereitwillig zu. Wie bei den anderen Revisionsgängen lag als Hilfsmittel die „Biblia cum postillis“ des Franziskaners Nikolaus von Lyra († 1349) auf dem Tisch.66 Neben die Revisionsprotokolle tritt ab 1540 eine besondere Quelle: Rörer gab den Wittenberger Bibeldrucken „Postfationen“ bei,67 die über die Veränderungen der jeweiligen Auflage Auskunft gaben. Er sprach darin den Leser direkt an und berichtete über die Verbesserungen oder Ergänzungen. Außerdem nutzte er diese Nachworte zu allgemeinen Ermahnungen über die Bedeutung der deutschen Bibelübersetzung, aus der man nun Gottes heilsames Wort selbst erfahren könnte.
RSB Zwickau, Ms. 33, fol. 49r–v = WA DB 3, S. XVI = WA DB 4, S. XVIII. ThULB Jena, Ms.Bos.q.24c, fol. 63r–202r = WA DB 3, S. 169–577 (mit WA DB 4, S. 419–435) und 4, S. 1–278, 313– 418. Ursprünglich bildete das von Rörer überlieferte Protokoll einmal ein selbständiges Heft. In RSB Zwickau, Ms. 33, fol. 49v = WA DB 3, S. XVI heißt es dazu (ich zitiere aus der Handschrift): „Anno D. M. 39 haben sie [die erwähnten Revisoren Luther, Melanchthon und Cruciger] noch einst die Bibel von anfang biß auff die apocripha vberlauffenn vnd etliche worter vnd spruche deutlicher im Deutschenn gegebenn, wie im buch zu sehenn ist, darinnen die predigtenn, die derselbige Man [Luther] anno 41 vnd 42 gethan hatt, quere fol. 71.“ 61 ThULB Jena, Ms.App.24. 62 WA DB 2, S. 634, Nr. *68. 63 WA DB 2, S. 637–640, Nr. *69. 64 Vgl. WA DB 4, S. XXIX f. 65 WA DB 3, S. 379,36. 66 WA DB 3, S. 154,27; 169,4; 342,22; 368,2; 403,26; 543,28; WA DB 4, S. 94,16; 105,1; 134,21; 175,18; 194,11; 219,23. 67 Vgl. WA DB 7, S. XIII (1540); WA DB 8, S. LXXVII–LXXXIV (1543); WA DB 7, S. XV f. (1545); WA DB 6, S. LIII f. (1546). 59
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Ringen um Anschaulichkeit Ein vierter und letzter Korrekturgang, der beim Römerbrief einsetzte und bis 2. Kor 3 reichte, fand im Herbst 1544 und vielleicht auch noch im Frühjahr bis Sommer 1545 statt. Korrekturen wurden dabei von Luther, Rörer und vereinzelt auch Melanchthon teils in das in Jena erhaltene Handexemplar Luthers des Neuen Testaments von 1540 eingetragen,68 das Luther Rörer selbst übergeben hatte, um es bei seiner Arbeit in der Druckerei zu benutzen. Rörer führte zusätzlich auch ein Protokoll dieses Revisionsgangs,69 das aber eher spezielle Diskussionen festhielt. Dieses Protokoll wäre also zu befragen, wenn man wissen wollte, wie eine Textänderung erzielt wurde. Alle Korrekturen dieses Revisionsgangs fanden erst in die nach Luthers Tod erschienene Bibelausgabe von 1546 Eingang.70 Der Druck dieser Bibel begann zwar noch zu Luthers Lebzeiten, hatte aber den Makel, dass er erst nach dessen Tod fertiggestellt wurde.
4. Luther als Wortschöpfer Wollte der Wittenberger Reformator eine allgemeinverständliche volkssprachliche Bibelübersetzung vorlegen, aus der das Wort Gottes klar und ohne Hilfsmittel zu vernehmen war, musste er sich entscheiden, wie hebräische und griechische Wendungen im Deutschen am besten wiederzugeben waren. Für manche Worte musste er länger suchen und überlegen, bis eine endgültige Entscheidung gefallen war. Entsprechend besteht die Möglichkeit, dass Luther manche Worte erst in der deutschen Sprache durch seine weitverbreitete Bibelübersetzung etablierte. 1965 bezeichnete der in Yale lehrende Germanist Heinz Bluhm (1907–1993) Luther treffend als einen „Creative Translator“.71 Diese Aussage steht im Kontext germanistischer Lutherforschungen, die seit dem 19. Jahrhundert andauern und den Wittenberger Reformator als wichtigen Impulsgeber für die Entwicklung der deutschen Sprache feiern. Bereits an seinem Grabe wurde Luther durch Philipp Melanchthon unter anderem mit diesen Worten gelobt: „[D]amit die reine Christliche Lere / auch auff die Nachkomen fort gepflantzet und erhalten werden möge / hat er der Propheten / und Aposteln Schrifft / in Deudsche sprach verdolmetschet / so liecht und klar / das diese dolmetschung viel mehr liechts und verstands gibt dem Christlichen Leser / denn vieler ander grosse Bücher und Comment.“72
70 71 72 68 69
ThULB Jena, Ms.App.25 = WA DB 4, S. 281–310, 313–418. ThULB Jena, Ms.Bos.q.24u, fol. 30r–39r = WA DB 4, S. 313–381. WA DB 2, S. 688 f., Nr. *82. Heinz Bluhm: Martin Luther. Creative translator, St. Louis / Mo. 1965. Philipp Melanchthon: Oratio uber der Leich des Ehrwirdigen herrn D. Martini Luthers […]. Verdeudscht aus dem Latein durch D. Caspar Creutziger, zitiert nach: „Vom Christlichen abschied aus diesem tödlichen leben des Ehrwir-
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Stefan Michel Damit beginnt bereits im 16. Jahrhundert die Verehrung Luthers als „Schöpfer der deutschen Sprache“. Berühmt ist das in aufklärerischem Pathos vorgetragene Diktum Johann Gottfried Herders (1744–1803) aus dem Jahr 1767: „Er ists, der die Deutsche Sprache, einen schlafenden Riesen, aufgewecket und losgebunden; er ists, der die Scholastische Wortkrämerei, wie jene Wechslertische, verschüttet: er hat durch seine Reformation eine ganze Nation zum Denken und Gefühl erhoben.“73 Neuere germanistische Forschungen relativieren solche Urteile und stellen etwas nüchterner heraus, dass wohl kaum ein Autor des 16. Jahrhunderts die deutsche Sprache so beeinflusst hat wie Luther. An dieser Stelle kann nur ein flüchtiger Blick auf Luther als Wortschöpfer geworfen werden. Dieses Vorgehen ist im Kontext einer Beschäftigung mit der Revision von Luthers Bibelübersetzung bis 1546 durchaus angebracht, da es beispielsweise möglich ist, dass durch Luthers Kollegen bestimmte Ausdrücke in die Wittenberger Bibelausgabe gelangt sind. Gerade durch wiederholte Überarbeitungen kam es zu einer sprachlichen Veränderung des deutschen Textes,74 deren Ursprünge bislang nicht vollständig nachverfolgt wurden. Oft wird der Reformator wie zuletzt im Kontext des Lutherjubiläums von 2017 als origineller Sprach- oder Wortschöpfer gepriesen.75 Doch was ist an dieser Aussage dran? Natürlich reagierte Luther auch auf die Veränderung der Sprache im 16. Jahrhundert und nahm Schreibweisen anderer Autoren auf.76 Seinen Übersetzungsprinzipien folgend – frei um der Verständlichkeit willen, an der biblischen Vorlage orientiert um der Genauigkeit willen und mit theologischem Sachverstand77 – nahm er Präzisierungen an seiner Übersetzung vor. Man trifft selbstverständlich auf Formulierungen, die offenbar von der ersten Übersetzung an perfekt waren, die also nicht geändert werden mussten. Sie dürften fast alle von Luther selbst stammen. Hier wäre an die Wendung „ein Herz und eine Seele“ in Apg 4,32 zu erinnern, die seit 1522 in den Drucken zu finden war. Gleiches gilt für die Formulierungen „Perlen vor die Säue werfen“ (Mt 7,6) oder „sein Licht unter einen Scheffel stellen“ (Mt 5,15). Die Wendung „im Dunkeln tappen“ in 5. Mose 28,29 lag seit 1523 vor. Interessant sind die Wandlungen des Ausdrucks „Lästermaul“ in Spr 4,24: 1524 hieß
digen Herrn D. Martini Lutheri“. Drei zeitgenössische Texte zum Tode D. Martin Luthers, mit einer Einführung von Peter Freybe […] und einem Nachwort […] von Siegfried Bräuer, Stuttgart 1996, S. 82. 73 Johann Gottfried Herder: Über die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, als Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. Dritte Sammlung, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877 (Neudruck Hildesheim und New York 1967), S. 372. Vgl. zu den Urteilen über Luthers Bibelübersetzung: Winfried Kolb: Die Bibelübersetzung Luthers und ihre mittelalterlichen deutschen Vorgänger im Urteil der deutschen Geistesgeschichte von der Reformation bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Luthers, Saarbrücken 1972. 74 Vgl. Seyferth: Sprachliche Varianzen (wie Anm. 11), S. 230. 75 Vgl.