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German Pages [337] Year 2018
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 156
Ann-Cathrin Fiß
»Lobe den Herrn, meine Seele!« Psalm 103 in seinen Kontexten
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament
Begründet von Günther Bornkamm und Gerhard von Rad Herausgegeben von Cilliers Breytenbach, Martin Leuenberger, Johannes Schnocks und Michael Tilly 156. Band
Ann-Cathrin Fiß
„Lobe den Herrn, meine Seele!“ Psalm 103 in seinen Kontexten
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9694 ISBN 978-3-7887-3343-8
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete Fassung der im Wintersemester 2016/17 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Ludwig-Maximilian- Universität München angenommenen Dissertation. Zu ihrer Entstehung haben viele Menschen beigetragen, denen mein aufrichtiger Dank gilt. An erster Stelle danke ich Herrn Prof. Friedhelm Hartenstein, der das Schreiben meiner Dissertation betreut hat. Durch seine Bereitschaft, Denkprozesse in großer Freiheit und Offenheit zu unterstützen und zu fördern, sind wesentliche Erkenntnisse der theologischen Zusammenhänge in Psalm 103 entstanden. Ich danke ihm für das entgegengebrachte Vertrauen und für die Erstellung des Erstgutachtens. Herrn Prof. Christoph Levin danke ich für das Zweitgutachten. Auch die Mitglieder der alttestamentlichen Sozietät der LMU haben durch ihr geduldiges Zuhören und kritisches Nachfragen den Fortgang der Arbeit kontinuierlich vorangebracht. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Jörg Jeremias, der in mir, während meines Studiums in Marburg, die Liebe zum Alten Testament geweckt hat. Herr Prof. Martin Leuenberger und Herr Prof. Johannes Schnocks haben dankenswerterweise die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe WMANT ermöglicht. Für die Korrekturen und das Erstellen des Registers danke ich Elisabeth Görnitz. Große Unterstützung gewährten mir in der Zeit der Promotion auf ihre je eigene, fürsorgliche Art Dr. Ursula Gebhard und Dr. Hans-Bernd Schmitz. Dr. Elisabeth Krause-Vilmar und Silke Duken danke ich für die treue Freundschaft und die Begleitung in allen Lebenslagen. Ebenso danke ich Susanne S chleeger, die stets ein offenes Ohr für die großen und kleinen Nöte im universitären Leben hatte. Ich möchte mich auch bei den Mitgliedern der Kirchengemeinden Ammersee- West und Calden bedanken, die mich herzlich aufgenommen und mir Gelegenheit gegeben haben, meine wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Sprache des Glaubens zu prüfen und zu teilen. Letztlich danke ich Inge Fiss und Hans-Dieter Frank, die mich in großer Selbstständigkeit und Freiheit alle meine Wege und Umwege haben gehen lassen. Ich habe ein Buch über Gnade geschrieben. Im Vertrauen darauf, dass die Gnade Gottes über alle Zeiten und Orte wirkt, widme ich dieses Buch meinem Vater Karl-Heinz Fiss (1941–1988). Haunetal-Wehrda, im September 2018
Ann-Cathrin Fiß
Inhalt
A Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Kurze Darstellung der Forschungsmeinungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Was bedeutet Gnade? Die inhaltliche Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Methodische Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4. Einordnung der Arbeit in die neuere Psalmenforschung. . . . . . . . . . . . . . . 29 B Hauptteil: Exegese von Ps 103 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Kurze Darstellung von Psalm 103. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.1 Text und Übersetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.2 Sprachliche Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.2.1 Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.3 Gliederung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.4 Überlegungen zur Gattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Vv.1–2: Die Aufforderung zum Segnen JHWHs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.1. Die Grundbedeutung von ברךII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .54 2.1.1 Die Segenshandlung als Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.1.2 Segen als kultische Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1.3 Reziprozität: der Akt des Segnens in Psalm 103 . . . . . . . . . . . . . 59 3. Vv.3–5: Die Wohltaten JHWHs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.1 V.3: Sündenvergebung und Heilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.1.1 Die Begriffe Schuld und Vergebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1.2 Die Begriffe Krankheit und Heilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.1.2.1 Dtn 29,21f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.1.2.2 Jeremia 14,18 und 16,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.1.2.3 2Chr 21,19. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.1.2.4 Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Exkurs: JHWH als Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.1.2.5 Das Heilen von Krankheit in Ps 103. . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.1.3 Ps 103 im Kontext von Niedrigkeits- und Majestätsaussagen . 75 3.1.3.1 Niedrigkeit im Hiobbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.1.3.2 Psalm 51. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.1.3.3 Niedrigkeit und Hoheit in 1QH und 1QS . . . . . . . . . . . 80
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Inhalt
3.1.4 Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.2 V.4: Auslösen und Krönen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.2.1 Das Auslösen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.2.2 Das Krönen: Psalm 21. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.2.2.1 Aufbau und Auslegung der Verse 2–8. . . . . . . . . . . . . . 89 3.2.2.2 Aufbau und Auslegung der Verse 9–14. . . . . . . . . . . . . 93 3.2.2.3 Die These der redaktionellen Hinzufügungen. . . . . . . 94 3.2.3 Royalisierung Israels in Ps 103. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.3 V.5: Sättigung und Erneuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Exkurs: Das Motiv des Geiers/Adlers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Vv. 6–18: Die Gnadenformel als Zentrum des Psalms . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.1 Vv.6–7: Auf dem Weg zum Sinai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.2 V.8: Die Gnadenformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2.1 Kurze Darstellung der Formel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2.2 Die Gnadenrede in Ex 34,6f: Datierung und Entwicklung zur Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3 Vv.9–18: Die Auslegung der Gnadenformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.3.1 Die Rahmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.3.2 Die Strophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.3.2.1 Strophe 1 (Vv.11–13): Die Macht der Gnade . . . . . . . . . 121 4.3.2.2 Strophe 2 (Vv.14–18): Die Vergänglichkeit . . . . . . . . . . 123 a) Ps 102. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Jesaja 40. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Psalm 90. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Psalm 104. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5. Ps 103,17–18: Bedingte Gnade?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 Ps 103,17f: Aufbau und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.2 Den „Bund bewahren“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.3 Der Abrahamsbund in Gen 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.4 Sabbatgebot und Bund in Ex 31,12–17. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.5 Jer 14f und Lev 26: Das Bundesgedenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.5.1 Exegese Jer 14,19–22 im Kontext von Jer 14,1–15,9 . . . . . . . . . . . 168 5.5.1.1 Die „Umkehrkomposition“ in Jer 3 . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Exkurs: Dürre und Wasserkonzept in Jer 14,1–6 und Ps 104. . . . 179 5.5.2 Die Bundeskonzeption in Lev 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.5.2.1 Heilvolle göttliche Präsenz und Bundestheologie. . . . 182
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5.5.2.2 Bundesbruch und Bundesgedenken . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.6 Das Nichtvergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5.6.1 Das Nichtvergessen als Leitwort in Dtn 4. . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.6.1.1 „… damit du nicht vergisst die Worte/Taten“ (Dtn 4,9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5.6.1.2 damit ihr nicht vergesst den Bund JHWHs, eures Gottes“ (Dtn 4,23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.6.1.3 „… und er [JHWH] wird den Bund deiner Väter nicht vergessen“ (Dtn 4,31). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.6.2 „… und sie vergaßen seine Taten und Wunder“ (Ps 78,9–11) . 197 5.6.2.1. Vergessen ( )שכחund (preisendes) Erzählen ( ספרpi‘el). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .198 5.6.2.2 „Er aber ist barmherzig …“ (Ps 78,38) – Vergessen und Barmherzigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.6.3 Das Nichtvergessen in Psalm 103 auf dem Hintergrund von Dtn 4 und Ps 78. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.7 Ergebnisse zu den Bundeskonzeptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5.8 Die Bewegung vom Bund zur Gnade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.8.1 Dtn 7,9ff: Die Rede von der Gnade im Deuteronomium . . . . . 204 5.8.2 Allein die Barmherzigkeit: Dan 9. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Exkurs: Bewahrung von Bund und Gnade in Neh 9. . . . . . . . . 208 5.9 Ergebnisse zur Bundesbewahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5.10 Der Anordnungen gedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.10.1. Der Begriff פקדהim Kontext des Kultdienstes der Leviten. . . 212 5.10.2. Ps 19: Der Begriff פקדהim Kontext der nachexilischen Toraweisheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215 5.10.2.1 Weitere Bezüge von Ps 103 zu Ps 19. . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.10.3 Psalm 111. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 5.10.3.1 Die Anordnungen als Zentrum der Schöpfung. . . . . . 221 5.10.3.2 Die Einordnung des Bundes in die Taten JHWHs . . . . 223 5.10.4 Ergebnisse zu den Anordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5.11 Gnade, Bund und Anordnungen in Ps 103. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.11.1 Die Gnade als Handlungsoption der fernsten Zeiten. . . . . . . . . 226 5.11.2 Teilhabe und Verantwortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.11.3 Wer sind die JHWH-Fürchtigen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.11.3.1 Gottesfurcht durch Vertrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 5.11.3.2 Gottesfurcht durch Sündenvergebung. . . . . . . . . . . . . . 230 5.11.3.3 Bundesbewahrung und Gedenken der Anordnungen.234
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5.12 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6. Ps 103,19–22: Der Himmlische Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.1 Der Aufbau von Ps 103,19–22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.1.1 Der Rahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.1.2 Der Mittelteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.2 Bezeichnung und Funktion der himmlischen Wesen. . . . . . . . . . . . . . 240 Exkurs: Die Sabbatopferlieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 6.2.1 Seine Boten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 6.2.2 Helden und Heer: Jl 2,1–11; Jes 13; Jes 40,26; Jes 42,13 . . . . . . . . 245 6.2.3 Helden von Kraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6.2.4 Seine Heerscharen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.2.5 Seine Diener. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 6.2.6 JHWHs Wille/Wohlgefallen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.2.7 Seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft. . . . . . . . . . . . . . 256 6.3 Ergebnisse der Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 6.3.1 Sabbatopferlieder 1 und 12. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 6.3.1.1 Gesetzesgehorsam der Engel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 6.3.1.2 Der Primat der Gnade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.4 Die Funktion der Engel in Hi 33,14–30 und Ps 103 . . . . . . . . . . . . . . . . 263 6.4.1 Begründung der Textauswahl und Fragestellung. . . . . . . . . . . . 263 6.4.2 Hiob 33,14–30: Übersetzung und Gliederung. . . . . . . . . . . . . . . 264 6.4.3 Hi 33,14–30: Analyse und Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 6.4.3.1 Einbettung in den Kontext der Elihu-Reden. . . . . . . . 267 6.4.3.2 Der Konflikt in Hi 33,14–30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 6.4.3.3 Titel und Funktion des Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 6.4.3.4 Das Lösegeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 6.4.4 Ps 103 und Hi 33. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6.4.4.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Sprache und Motivik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6.4.4.2 Hi 33 und Ps 103 – gestörte und ideale Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 a) Kommunikation als „Verfugung des Handelns“ (Assmann) . 276 b) Hi 33: Füreinander-Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 c) Ps 103: Anamnese und Dankbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 6.5 Von der Fürbitte zum himmlischen Gottesdienst. . . . . . . . . . . . . . . . . 279 6.5.1 Die Interzession in Ps 106. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 6.5.1.1 Die Fürbitte des Mose Ps 106,19–23. . . . . . . . . . . . . . . . 279 6.5.1.2 Die Reflexion der Gnade in Ps 106,43–46. . . . . . . . . . . 281
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6.5.1.3 Die Fürbitte des Pinhas in Ps 106,28–31 . . . . . . . . . . . . 284 6.5.2 Die Gerechtigkeit in Ps 103. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 6.5.3 Die Priesterengel in Ps 103. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 6.6 Die Funktion des himmlischen Gottesdienstes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6.6.1 Stabilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6.6.2 Erkenntnis und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 6.6.3 Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Exkurs: Himmlischer und irdischer Kult im Jubiläenbuch . . . . 290
C Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Exegetisch-theologischer Ertrag: Was ist Gnade?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 3.1 Gnade als Fundament der Anthropologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 3.1.1 Sündenvergebung und Heilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 3.1.2 Die Krönung mit Gnade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 3.2 Gnade und Schöpfungstheologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 3.3 Gnade und Gebotserfüllung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3.3.1 Die nachpriesterschriftliche Bundesdiskussion . . . . . . . . . . . . . 303 3.3.2 Der Gebotsgehorsam Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 3.4 Der Gebotsgehorsam der himmlischen Wesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 4. Ausblick: Ein Beitrag zur Psalterexegese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 4.1 Motivverbindungen zwischen Ps 103 und Ps 105 f. . . . . . . . . . . . . . . . . 307 4.1.1 Der Gedanke der Reziprozität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 4.1.2 Die Bundestheologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 4.1.3 Der Weg von der Fürbitte zum himmlischen Gottesdienst . . . . 308 4.2 Psalm 103 als Kopfpsalm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 4.3 Skizze zur Entstehung der Komposition Ps 102–106. . . . . . . . . . . . . . . 309 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2. Textausgaben der außerbiblischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
A Einleitung
„Lobe, den Herrn, meine Seele“ – Psalm 103 gehört zu den Klassikern der Psalmen, die im gottesdienstlich-liturgischen Gebrauch eine Hochschätzung erfahren. Er ist wie Psalm 23 in der Gebetspraxis fest verankert und durch zahlreiche Vertonungen in der geistlichen Musik zum Klingen gebracht worden. Ps 103 kann ohne Zweifel der Status eines „Lieblingspsalms“1 zugesprochen werden, mitunter wird er sogar als „Lieblingspsalm Jesu“2 bezeichnet. Dies liegt wohl vor allem an der Intensität der Bilder und Motive, durch die JHWHs Gnade und Barmherzigkeit ausformuliert werden. Sie beschreiben in ihrer Bezogenheit auf die betende Seele eine Wirkmächtigkeit der Gnadentaten JHWHs, die dort zum Tragen kommt, wo Formen von existenzieller Grundbedürftigkeit erkennbar sind: Vergebung von Schuld, Heilung von Krankheiten, immerwährende Barmherzigkeit im Angesicht geschöpflicher Vergänglichkeit. Der Grundtenor von Psalm 103 besteht in einer tiefen Dankbarkeit, die sich im Gotteslob äußert. Sperrige Aussagen, die für heutige Leser und Beter der Psalmen oft als „schwierig“ oder „fremd“ empfunden wer-
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Vgl. dazu Hubmann, Franz D., Gedanken zu Ps 103, in: ZThK 116, 1994, 464–471; 464; Rendtorff, Rolf, Er handelt nicht nach unseren Sünden. Das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes im Ersten Testament, in: Scoralick, R. (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit. Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungsgeschichte im Judentum und Christentum, SBS 183, Stuttgart 2000, 145–156; 145. Im Folgenden wird bei Erstnennung eines Werkes die gesamte Literaturangabe angegeben, danach mit Kurztiteln zitiert. Betz, Otto, „Jesu Lieblingspsalm. Die Bedeutung von Psalm 103 für das Werk Jesu“ in: Jesus. Der Messias Israels. Aufsätze zur biblischen Theologie, WUNT.1 42, Tübingen 1987,185–201. Betz bezieht seine Aussage vor allem auf die Parallelen, die sich durch die Motivik zum ‚Vater Unser‘ ziehen lassen (z. B. Vergebung, Sättigung, Erlösung, Gottesherrschaft). Zu dieser Thematik vgl. auch Dohmen, Christoph, Vom Sinai nach Galiläa. Psalm 103 als Brücke zwischen Juden und Christen, in: Scoralick, R. (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit. Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungsgeschichte im Judentum und Christentum, SBS 183, Stuttgart 2000, 100–104; Vanoni, Gottfried, „Du bist doch unser Vater“ (Jes 63,16). Zur Gottesvorstellung des Ersten Testaments, SBS 159, Stuttgart 1995, 84 f.
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Einleitung
den,3 sind in diesem Psalm weitestgehend nicht zu finden. Vielleicht ist es gerade diese durchweg von der Gnade JHWHs geprägte Stimmung von Ps 103, die in der alttestamentlichen Wissenschaft zu einer gewissen Unterschätzung des Psalms geführt und eine tiefergehende monographische Bearbeitung bis jetzt verhindert hat.4 Die vorliegende Arbeit soll daher zum einen den weißen Fleck auf der Karte der Psalmenmonographien füllen, zum anderen aber auch einen grundsätzlichen Beitrag zur Theologie in der Zeit des Zweiten Tempels leisten. Obwohl aus den genannten Gründen kaum ein forschungsgeschichtlicher Überblick gegeben werden kann, sollen die Tendenzen in der Auslegung von Ps 103, die sich in Kommentaren und einzelnen kleineren Aufsätzen zeigen, kurz dargestellt werden.
3 4
Vgl. zu dieser Thematik Hartenstein, Friedhelm, Ein zorniger und gewalttätiger Gott? Zorn Gottes, „Rachepsalmen“ und „Opferung Isaaks“ – neuere Forschungen, in: Assel, H./Hartenstein, F., Wirkungsgeschichte „schwieriger Bibeltexte“, VuF 58/2, 2013, 110–127. Diese Vermutung ist auch zu finden bei Hubmann, Gedanken, 464 f.
1. Kurze Darstellung der Forschungsmeinungen
Bernhard Duhm beendet seine Ausführungen zu Psalm 103 in seinem Psalmenkommentar von 1899 mit einem kurzen, zusammenfassenden Ergebnis, das folgendermaßen lautet: Eine geschmackvolle Zusammenstellung von allerhand schönen Sentenzen aus einer ziemlich umfangreichen Lektüre. Nur eschatologische Sätze fehlen; der Dichter ist offenbar mit der Gegenwart zufrieden. Dass der Ps jung ist, liegt auf der Hand.5
Damit hat Duhm auf nonchalante Weise relevante Beobachtungen auf den Punkt gebracht, die aber von ihm leider nicht ausformuliert worden sind: Erstens verweist die „umfangreiche Lektüre“, die dem Psalm zugrunde liegt und tatsächlich aus allen Kanonteilen kommt, entweder auf eine ausgedehnte und vielfältige Wachstumsgeschichte oder auf eine späte Entstehungszeit, die schon eine Art Protokanon kennt. Duhm favorisiert mit seiner Aussage, das junge Alter des Psalms liege auf der Hand, letztere Variante, die auch in der vorliegenden Arbeit begründet vertreten wird. Die „geschmackvolle Zusammenstellung von allerhand schönen Sentenzen“ ist ein prägendes Merkmal des Psalms, allerdings stehen bei der Auswahl und der Kombination der Sentenzen keine ästhetischen Maßstäbe im Vordergrund. Auch verdeckt die Beschreibung des Psalms als Zusammenstellung den hohen Reflexionsgrad, mit dem verschiedene Traditionen verknüpft worden sind, um den zentralen Gedanken der Gnade darzustellen und auszulegen. Tatsächlich scheinen sich die Ausleger von Ps 103 vor allem an der Frage nach Zusammenstellung und/oder Zusammenhang der Vielzahl an Motiven abzuarbeiten. Dies soll ein Überblick über ausgewählte Kommentarliteratur, Aufsätze und thematische Erörterungen aus Monographien zum vierten Psalmenbuch darstellen. In den älteren Kommentaren zum Ende des 19. Jahrhunderts wird Psalm 103 in Einzelbetrachtungen zu den thematischen Abschnitten ausgelegt, nach denen der Psalm gegliedert worden ist. Es sind weniger Formen und Zusammenhänge, auf denen der Schwerpunkt liegt, sondern eher einzelne etymologische und textkritische Fragestellungen.6 Eine Ausnahme ist der Kommentar von Friedrich 5 6
Duhm, Bernhard, Die Psalmen, KHC XIV, Freiburg/Leipzig/Tübingen 1899, 241. Vgl. z. B. Delitzsch, Franz, Biblischer Commentar über die Psalmen, Leipzig 1867, 596–601; Hupfeld, Hermann, Die Psalmen, Band V, Gotha 21871, 89–96. Beide Kommentatoren sprechen sich für eine individuelle Deutung des Psalms aus. Hupfeld bestimmt ihn als Danklied, das „kein Nationalpsalm“ ist, da das „allg. menschl. Verhältnis überwiegt“; aaO., 91. Delitzsch macht keine Angaben zur Form.
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Einleitung
Baethgen7, der eine übergreifende Thematik in der Rettungserfahrung Israels aus dem Exil erkennt. Er deutet den gesamten Psalm als Lob der Gemeinde Israels, auch die Rettungstaten in den Vv.3–5: die Heilung wird zur Heilung von „Exilsleiden“8 und die Erlösung aus der Grube zur Erlösung aus dem Exil. Mit dieser durchgehend kollektiven Auslegung und dem Referenzpunkt der Exilserfahrung setzt sich Baethgen deutlich von seinen Zeitgenossen ab. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerät die formgeschichtliche Methodik stärker in den Blick, so dass versucht wird, den Psalm von seiner Gattung her zu begreifen. Hermann Gunkel9 orientiert sich in seiner Auslegung vor allem an der formgeschichtlichen Vielfalt des Psalms. Er erkennt einen Hymnus des Einzelnen, der dem Charakter eines Dankliedes entspricht (Vv.1–5). Diesem „persönlichen Dankgebet“10 wird ein „Hymnus allgemeineren Inhaltes“11 hinzugefügt (Vv.6–22), der zum einen von der Offenbarung der Gnade Gottes an Israel (Vv.6–13) spricht, zum anderen „eine trübe Betrachtung über den gemeinsamen Ursprung des Menschen“12 (Vv.14–16) darstellt. Im kosmologischen Lobgesang des Schlussteils sieht er einen „echten Hymnen-Gedanken“13, einen Himmel und Erde erfüllenden „Choral“14, an dessen Ende der Beter doch wieder zu sich selber zurückkehrt. Im Gegensatz zu Duhm erkennt Gunkel keine Zusammenstellung von einzelnen Motiven, sondern eine „Geistesart des Dichters“15, die jubelnde Dankbarkeit nach einer Zeit von Schwere und Ernst ausdrückt. Eine kollektive Deutung des Psalms als Hymnus einer Gemeinde lehnt er strikt ab. Zur Datierung äußert er nur, dass der Psalm aufgrund des Zitates von Jes 40,6 ff jünger als Deuterojesaja sein müsse.16 Eine sehr ähnliche Argumentation findet sich bei Rudolf Kittel17, da auch seine Auslegung den Weg des Psalmbeters nachzeichnet. Er zählt den Psalm zur „Gattung der Einzellieder“18 und erklärt den Übergang zu den kollektiven Größen Israel und der Wir-Gruppe im Mittelteil des Psalms mit dem Bestreben des Beters, nicht „bei sich selbst und seinem persönlichen Erleben“19 stehen zu bleiben. Er datiert den Psalm aufgrund der in ihm verwendeten Zitate nachexilisch.20
7 Baethgen, Friedrich, Die Psalmen, HK II/2, Göttingen 1892, 311–314. 8 AaO., 312. 9 Gunkel, Hermann, Die Psalmen, HK II 2, Göttingen 41926, 441–445. 10 AaO., 442. 11 Ebd. 12 AaO., 443. 13 AaO., 444. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Vgl. Ebd. 17 Kittel, Rudolf, Die Psalmen übersetzt und erklärt von D. Rudolf Kittel. Dritte und vierte Auflage, KAT 13, Leipzig 1922, 329–335. 18 AaO., 330. 19 AaO., 332. 20 AaO., 331.
Kurze Darstellung der Forschungsmeinungen
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Anders beurteilt Hans Schmidt21 den Wechsel zwischen Individuum und Kollektiv, indem er den Psalm als eine „Liturgie, einen Wechselgesang zwischen einer Einzelstimme und einem Chor“22 begreift. Einen eher theologisch-systematischen Ansatz verfolgt Friedrich Nötscher.23 Er stellt die Güte JHWHs in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und spricht vom Erbarmen JHWHs angesichts der „menschlichen Hinfälligkeit“24. Diese Beschreibung JHWHs als gnädiger Gott macht den Kern des Psalms aus und verbindet die einzelnen Motive miteinander. Die stärksten literarkritischen Eingriffe in dieser Epoche nimmt Heinrich Herkenne25 vor, indem er an den Vv.17–22 einige Streichungen vornimmt, um eine zweigliedrige Symmetrie der Verse und ein durchgängiges Metrum herzustellen.26 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist bei der Mehrheit der Ausleger weiterhin ein Ringen um die Gattung des Psalms ersichtlich. Der am stärksten rezipierte Psalmenkommentar seit dieser Zeit ist der von Hans-Joachim Kraus.27 Kraus teilt den Psalm in zwei „Hauptstücke“, aus denen er die Gattung ermittelt: ein Danklied in den Vv.3–5 und ein Abschnitt mit „hymnischen Motiven“ in den Vv.6–22.28 Daraus folgt für ihn, Psalm 103 als ein „zum Hymnus tendierendes Danklied“29 darzustellen, das man im Anschluss an Alfons Deissler30 auch „als einen Dankhymnus bezeichnen“31 könnte. Den Sitz im Leben des Psalms bestimmt Kraus im Rekurs auf Klaus Seybold32 als eine Krankheits- und Heilungserfahrung eines einzelnen Beters, die für Dankpsalmen charakteristisch sei. Er geht weiterhin davon aus, dass der Psalm aufgrund der hymnischen Motive, welche die persönliche Einzelerfahrung in einen allgemeineren Kontext von Rettung stellen, „als Formular an heiliger Stätte zur Verfügung stand“33. Zeitlich nimmt er eine nachexilische Entstehung an, die er mit den Zitaten und den aramaisierenden Suffixen begründet.34
21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
33 34
Schmidt, Hans, Die Psalmen, HAT 15, Tübingen 1934, 185–187. AaO., 187. Nötscher, Friedrich, Die Psalmen, EB, Würzburg 1947, 204–206. AaO., 204. Diese theologische Denkfigur nimmt in dieser Arbeit eine wichtige Position ein, um das Verhältnis JHWHs zu seinen Geschöpfen zu beschreiben. Herkenne, Heinrich, Das Buch der Psalmen, HSAT V/2, Bonn 1936, 331–333. AaO., 331. Kraus, Hans-Joachim, Psalmen 60–150, BK XV/2, Neukirchen-Vluyn 72003, 870–876. AaO., 871. AaO., 872. Deissler, Alfons, Die Psalmen, Düsseldorf 61989, 400–404; 402. Kraus, Psalmen, 872. Seybold vermutet, dass Psalm 103 zum Formular einer kultischen Restitution gehört. Die in den Vv.3–5 beschriebenen Wohltaten spiegeln einen (kultisch vermittelten) Heilungsprozess eines Kranken wider, der rückblickend seine Erfahrung von Heilung und Vergebung in einem dankenden Lobhymnus verarbeitet. Vgl. dazu Seybold, Klaus, Das Gebet des Kranken im Alten Testament. Untersuchungen zur Bestimmung und Zuordnung der Krankheits- und Heilungspsalmen, Stuttgart 1973, 142–146. Kraus, Psalmen, 872. AaO., 872.
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Einleitung
Eine sehr ausführliche Übersicht zur formgeschichtlichen Diskussion findet sich bei Leslie C. Allen.35 Ausgehend von J. H. Eaton36 nimmt Allen einen kultischen Gebrauch von Psalm 103 an, der, wie auch schon Hans Schmidt argumentierte, als Liturgie für Vorsänger und Gemeindegesang fungierte und daher sowohl individuelle als auch kollektive Formelemente in sich trägt. Allen gibt allerdings zu bedenken, dass der weisheitliche Tenor der Vv.14–18 nicht unbedingt für eine kultische Herkunft des Psalms spricht.37 Eine Auslegung, die explizit daran orientiert ist, einen durchgehenden Zusammenhang in Psalm 103 zu sehen, ist die von Artur Weiser.38 Weiser erklärt den Zusammenhang des Psalms durch die Bedeutung der Gnade als thematische Verbindung, welche die Geschichte der Glaubenszeugnisse durchzieht: Gerade in dem inneren Zusammenhang zwischen persönlicher Gotteserfahrung und dem Glaubensverständnis der biblischen Zeugnisse der Väter, die zu einem organischen Ganzen verwoben sind, liegt die besondere Eigenart des Psalms, der darin auch heute noch wegweisend für rechtes Verständnis heiliger Schrift sein kann. Mit seinem Jubelgesang auf die Vaterliebe Gottes stellt sich der Dichter in jene große Linie der Zeugen von Gottes Gnadenreich, die von Mose über die Propheten auf Christus hinführt.39
Zwei Sonderpositionen dieser Zeit sind bei Mitchell Dahood40 und Rabbi Samson Raphael Hirsch41 zu verzeichnen. Dahood unterscheidet sich von den anderen Positionen zum einen durch die Datierung, indem er eine nachexilische Abfassung für unwahrscheinlich hält42 und zum anderen durch die eschatologische Deutung von V.5.43 Die Auslegung von Hirsch beschreitet einen eigenen Weg, weil er 35 Allen, Leslie C., Psalms 101–150, WBC 21, Waco, Texas 1983, 16–23; 19 f. 36 „We may reasonably assume that it was composed for use in the great festival, where a phase of absolution and renewal would seem an appropriate setting.“ Eaton, John H., Psalms: Introduction and Commentary, London 1974, 246–248; 246. 37 Vgl. Allen, Psalms, 20 f. Allen bezieht sich hier auf Jürgen Becker, der Psalm 103 wie Ps 33; 111; 119 für eine anthologische Komposition mit weisheitlichen Elementen hält. Vgl. Becker, Jürgen, Gottesfurcht im Alten Testament, Rom 1965, 150. Becker sieht die anthologische Form als Zeichen der nachexilischen Frömmigkeit an: „In besonderer Weise hat sich die weisheitlich-nomistisch orientierte Frömmigkeit der nachexilischen Zeit des anthologischen Verfahrens bedient; es ist geradezu typisch für sie.“ Becker, Jürgen, Israel deutet seine Psalmen. Urform und Neuinterpretation in den Psalmen, Stuttgart 1966, 74 f. 38 Weiser, Artur, Die Psalmen II. Psalm 61–150, ATD 15, Göttingen 101987, 448–454. 39 AaO., 450. 40 Dahood, Mitchell, Psalms III. 101–150, The Anchor Bible 17,1, New York 1970, 23–30. 41 Hirsch, Samson Raphael, The Psalms, Jerusalem/New York 1978, 212–221. 42 Dahood bestreitet, dass es sich um aramaisierende Suffixe handelt und nimmt kanaanäische Archaismen an, aaO., 25. Außerdem thematisiert er die Möglichkeit, dass sich der Verfasser von Ps 103 und von Jes 40 auf dieselbe Quelle beziehen könnten, womit eine Abhängigkeit von Psalm 103 von Jes 40 nicht notwendig und das Kriterium für eine späte Datierung hinfällig wäre, aaO., 24. 43 Die Motive von Sättigung mit Gutem und Erneuerung der Jugend werden als Hinweise für „the everlasting enjoyment of the divine presence in the afterlife“ angesehen, aaO., 26.
Kurze Darstellung der Forschungsmeinungen
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den Psalm konsequent als Davidspsalm meditiert und Ereignisse aus dem Leben Davids zur Deutung heranzieht.44 Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ändert sich der Tenor der Exegesen von Psalm 103, indem die Bedeutung der Gnade als Zentrum des Psalms intensiver thematisiert wird. Den Auftakt macht Hermann Spieckermann mit seinem Aufsatz zur Gnadenformel,45 in dem er auch Psalm 103 thematisiert. Der nachexilische Hymnus hat sein Zentrum in der Gnadenformel (V.8), welche der Dichter mit dem Gedanken der Sündenvergebung umkreist, um schließlich in der Gewißheit ihrer Geltung das ganze Gebet mit der Aufforderung zum Gotteslob zu umklammern.46
Spieckermann nimmt an, dass es einen Grundpsalm gibt, der durch Fortschreibungen in Vv.6 f47 und Vv.15–1848 erweitert wurde. Er führt aus, dass die Gnadenformel wesentlich an die Sündenvergebung gebunden werde und damit eine kritische Auseinandersetzung mit der „doppelten Vergeltungslehre von Ex 34,7“49 stattfinde. Erich Zenger50 schließt an die Überlegungen von Spieckermann an und arbeitet die Bezüge von Ps 103,7 f zu Ex 33–34 heraus. Auch er benennt nicht nur die Übereinstimmungen, sondern auch die eigenen Akzente, die Ps 103 gegenüber Ex 34 setzt, und bezeichnet diese als „‚neue‘ Sinai-Theologie“51 des Psalms. Nach der Psalmenauslegung von Zenger sind drei Aufsätze über Psalm 103 erschienen, von denen zwei sich mit dem strukturellen Aufbau beschäftigen52 und einer dem „theologischen Gedankengang“53 nachspürt. Timothy Willis konzentriert sich auf
44 „David meditates upon three different aspects of his personality. In Verses 1–5 he speaks of himself as a soul, having an individual, direct relationship with God. In Verses 6–18 he views himself as a Jew in his earthly, physical link with the Jewish nation. In Verses 19–22 he regards himself as one creature in the midst of the great community of living things that God has made.“ Hirsch, Psalms, 212. 45 Spieckermann, Hermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“, ZAW 102, 1990, 1–18; 10–12. 46 AaO., 10. 47 Vv.6 f bezeichnet Spieckermann als einen „national-religiös geprägten Einschub“, der formal, stilistisch und inhaltlich nicht an die Vv.1–5 anknüpft, während der Anschluss mit den Vv.8 ff gegeben ist. Der Redaktor von Vv.6 f intendierte einen „sinaigemäßen Vorspann“ für die Gnadenformel. AaO., 10, Anmerkung 29. 48 „Mit dem Ringen um die sündenvergebende Macht der Gnade in V.9–14 haben V.15–18 nicht viel zu tun. Für den hier wahrnehmbaren Eingrenzungs-und Ausgrenzungseifer wird kaum dieselbe Hand verantwortlich sein.“ Ebd. 49 AaO., 12. 50 Zenger, Erich, Ich will die Morgenröte wecken: Psalmenauslegungen, Freiburg/Basel/Wien 1991, 193–203. 51 AaO., 200. Er zählt hier einige Anklänge aus der prophetischen Theologie auf und deutet den Gebrauch der sog. Gnadenformel und ihre Auslegung in Ps 103 als „Gegenposition“ zu Ex 34,7. 52 Vgl. Metzger, Martin, Lobpreis der Gnade: Erwägungen zur Struktur und Inhalt von Psalm 103, in: Weippert, M./Timm, S. (Hg.), Meilenstein. FS H. Donner, ÄgAT 30, 1995, 121–133; Willis, Timothy M., „So Great is his Steadfast Love“: A rhetorical Analysis of Psalm 103, Bib. 72, 1991, 525–537. 53 Vgl. Hubmann, Gedanken.
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Einleitung
den poetologischen Aufbau und die thematische Entfaltung, wobei er vor allem die Struktur der Strophen in den Blick nimmt. Auch er verweist auf die zahlreichen Sinaibezüge, legt seinen Schwerpunkt aber auf die Kombination von Recht und Gerechtigkeit (Ps 103,6).54 Martin Metzger fragt danach, „wie die formale Struktur der inhaltlichen Komposition des Psalms entspricht und wie alle Abschnitte des Psalms inhaltlich aufeinander bezogen sind.“55 Er arbeitet eine Ringkomposition der Vv.1–13 heraus, die sich in Zweizeilern (Vv.6 f und Vv.9 f) und in Dreizeilern (Vv.3–5 und Vv.11–13) um Vers 8 als Zentrum gliedern.56 Die sog. Gnadenformel in V.8 ist, laut Metzger, sowohl strukturell als auch inhaltlich das „Herzstück“57 des Psalms, das von den Stichworten Gnade und Erbarmen gerahmt wird. Die Vv.14–18 zeigen nicht dieselbe strukturelle Verbundenheit wie der erste Teil, sind thematisch in sich stringent und mit dem Vorhergehenden durch die „Schrankenlosigkeit der Gnade“58 in Zeit und Raum verknüpft. Der Schlussabschnitt (Vv.19–22) beschreibt die universale Königsherrschaft JHWHs und ist durch „Wechselbeziehungen“59 mit den beiden anderen Teilen verbunden. Metzger arbeitet durch seine strukturellen, semantischen und inhaltlichen Beobachtungen eine Kohärenz des Psalms heraus, die in allen vorhergehenden Auslegungen so detailliert noch nicht gesehen und analysiert worden sind. Franz Hubmann diskutiert, ob Psalm 103 „von vornherein in anthologischer Art komponiert wurde“60 oder ob es einen Grundbestand gibt, der verschiedene Erweiterungen erfahren hat. Er erkennt keinen Teil, der einmal selbstständig bestanden haben könnte, und kommt zu dem Schluss: „Eine literarkritische Lösung der Spannungen im Text drängt sich somit nicht unbedingt auf.“61 Stattdessen nimmt er an, daß die Gesamtkomposition ein Modell der Welt entwirft, in welchem […] der Mensch als einzelner (V.1–5), als Israelit (V.7), als einer unter den JHWH-Verehrern (V.10–14) und schließlich als hinfälliges Geschöpf allgemein (V.15–16) nur aufgrund der immer wieder erfahrbaren, wesenhaften Barmherzigkeit JHWHs (V.8) bestehen und so sich […] dem himmlischen Lobpreis anschließen kann (V.20–22).62
54 Willis, Steadfast Love, 529 f. 55 Metzger, Lobpreis, 121. 56 Vgl. aaO., 125. 57 AaO., 128. 58 AaO., 131. 59 AaO.,132 ;תz. B. zeigen V.11 und V.19 die Universalität von Gnade und die Universalität von Herrschaft. 60 Hubmann, Gedanken, 467. 61 AaO., 469. 62 AaO., 471.
Kurze Darstellung der Forschungsmeinungen
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Hinsichtlich der verstärkten Konzentration auf die Gnade JHWHs sind auch die beiden Aufsätze von Christoph Dohmen und Rolf Rendtorff zu nennen,63 die im Jahr 2000 in dem Sammelband „Das Drama der Barmherzigkeit Gottes“ erschienen sind. Dohmens Augenmerk liegt im Dialog mit Erich Zenger auf den Sinaibezügen in Psalm 103. Im zweiten Teil des Aufsatzes geht es um die Nähe des Psalms zu den neutestamentlichen Vater-Unser-Bitten, durch welche sich zeigen lässt, „daß sich in diesem Psalm die wichtigsten Themen Jesu nachweisen lassen, so daß dieser Psalm unbedingt zum Hintergrundwissen der Verkündigung Jesu gehört.“64 Auch Rendtorff setzt sich in seinem Aufsatz mit Erich Zengers Auslegung von Psalm 103 auseinander, wobei er allerdings die These der „Gegenposition“ zu Ex 34,7 kritisch betrachtet. Weiterhin bringt er Ps 103 durch die Themen Schuld und Vergebung ( )סלחmit Neh 9 in Verbindung65 und endet schließlich mit Gedanken über die Bundestheologie (Lev 26 und Jer 31), die er mit der durch Vergebung geprägten Gnadentheologie in Beziehung setzt.66 Die Auslegungen in den Kommentaren der letzten 15 Jahre bieten ein heterogenes Bild in der Betrachtung von Psalm 103, vor allem die Frage der Einheitlichkeit betreffend. Weber67, Goldingay68 und Oeming69 vertreten die Position, den Psalm im Ganzen als kohärent zu betrachten. Beat Weber befasst sich mit der Poetologie und dem Aufbau des Psalms, den er als „Crescendo-Struktur“70 beschreibt. John Goldingay diskutiert ausgiebig das Verhältnis von individuellen und kollektiven Formen, die als eng zusammengehörig betrachtet werden.71 Beide machen auf den
63 Dohmen, Christoph, Vom Sinai nach Galiläa. Psalm 103 als Brücke zwischen Juden und Christen, in: Scoralick, R. (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit. Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungsgeschichte im Judentum und Christentum, SBS 183, Stuttgart 2000, 100–104; Rendtorff, Rolf, Er handelt nicht nach unseren Sünden. Das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes im Ersten Testament, in: AaO., 145–156. 64 Dohmen, Sinai, 101. 65 Rendtorff, Evangelium, 150 ff. 66 „,Denn ich will ihre Sünde vergeben und ihrer Verschuldung nicht mehr gedenken.‘ Damit kehren wir an den Anfang unserer Überlegungen zurück. Die gleichen Worte von der Vergebung der Sünden wie in Psalm 103 […]. Der ,neue Bund‘ wird noch einmal endgültig bestätigen, was schon immer wieder erwartet, erhofft und bekannt wurde: Gott ist es, der die Sünde vergibt.“ AaO., 156. 67 Weber, Beat, Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73 bis 150, Stuttgart 2003, 174–178. 68 Goldingay, John, Psalms. Volume 3. Psalms 90–150, BCOT. Wisdom and Psalms, Grand Rapids 2008, 163–177. 69 Oeming, Manfred/Vette, Joachim, Das Buch der Psalmen. Psalm 90–151, NStKAT 13/3, Stuttgart 2016, 83–90. 70 „Die drei Teile haben eine Crescendo-Struktur insofern, als I individuell, II–IV kollektiv und V universell geprägt ist.“ Weber, Werkbuch, 177. 71 „The significance of the individuals lies in their relationship with the community with which Yhwh has been at work over the generations. But conversely, the fact that Yhwh has been so at work with the community over the generations undergirds Yhwh’s involvement with us individuals. It is the community’s memory of those acts of Yhwh […] that makes it possible for individuals to understand what Yhwh does with them, even as it is their own experience of Yhwh’s involvement in their lives that enables them to understand their community’s traditions concerning Yhwh’s acts.“ Goldingay, Psalms, 176.
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Einleitung
Zusammenhang von Ps 102 und Ps 103 aufmerksam, den Weber als „lobpreisende Antwort“72 darstellt und Goldingay als „mirror image“73. Manfred Oeming hält den Psalm für ein „Kompendium alttestamentlicher Theologie“74, in dem „eine systematische Anthologie von alttestamentlichen Gnadenaussagen“75 vorliegt. Erich Zenger referiert zustimmend in dem 2015 erschienenen Kommentar76 die Literarkritik Leuenbergers, der die Vv.15–18 und 19–22 für redaktionell hält.77 Die Gattungsfrage beantwortet er zweigliedrig, da er sowohl die hymnischen Elemente als auch die Danksagungselemente aufzählt, sich aber nicht festlegt.78 Neu an der Auslegung ist die detaillierte Auflistung der Stichwortverbindungen zwischen Ps 102 und Ps 103 sowie Ps 103 und Ps 104.79 Bei den stärker psalterexegetischen Auslegern der letzten Jahre, die vor allem an der Komposition des vierten Psalmbuches interessiert sind, besteht ein deutlicher Konsens in der Auffassung, den Psalm als literarisch gewachsenes Gebilde zu betrachten. Die Konzentration auf die Gnadentheologie des Psalms rückt dabei in den Hintergrund. Eine Ausnahme sind die Ausführungen von Egbert Ballhorn, der die Psalmen in ihren Bezügen zueinander auswertet und keine Redaktionskritik von Psalm 103 durchführt. Er erkennt in Psalm 103 einen Hymnus des Einzelnen, der „den Inhalten nach […] eine Synthese der vorangegangenen Psalmen seit Ps 89, und als solche […] im Zusammenhang des Vierten Psalmbuches zu lesen“80 ist. Die ausführlichste Redaktionskritik von Ps 103 leistet Martin Leuenberger in seiner Untersuchung zum Königtum in den Psalmbüchern IV–V.81 Als Grund, redaktionsgeschichtlich tätig zu werden, nennt Leuenberger „die inhaltlich-konzeptionellen Differenzen und Verschiebungen zwischen den (herauszuarbeitenden) ursprünglichen חסד – Aussagen und ihrer Erweiterung resp. Integration in den jetzigen מלכות – Hymnus.“82 Im Einzelnen hält er die Vv.5–7.15–22a (V.17 teilweise) für redaktionell, so
72 73 74 75 76 77 78 79 80
Weber, Werkbuch, 178. Goldingay, Psalms, 176. Oeming, Psalmen, 83. AaO., 85. Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Psalmen 101–150, HThKAT, Freiburg 2008, 52–67. Vgl. aaO., 56 f. Zu Leuenbergers Argumentation siehe unten. Vgl. aaO., 55. Vgl. aaO., 62 f. Ballhorn, Egbert, Zum Telos des Psalters, Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90–150), BBB 138, Berlin 2004, 122. Einen Zusammenhang speziell zu Ps 89 stellt auch Schnocks fest, der den Anknüpfungspunkt von Ps 103 in der in Ps 89 „verloren geglaubten Gnade JHWHs“ sieht. Schnocks, Johannes, „Verworfen hast du den Bund mit deinem Knecht“ (Ps 89,40). Die Diskussion um den Bund in Ps 89 und dem vierten Psalmenbuch, in: Dohmen, C./Frevel, C. (Hg.), Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel, SBS 211, Stuttgart 2011, 195–202; 198. 81 Leuenberger, Martin, Konzeptionen des Königtums Gottes im Psalter. Untersuchungen zu Komposition und Redaktion der theokratischen Bücher IV–V im Psalter, AThANT 84, Zürich 2004. 82 AaO., 182.
Kurze Darstellung der Forschungsmeinungen
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dass sich als Grundbestand die Vv.1aβ–4.8–13.17*.22b ergeben.83 Psalm 103 besteht also, nach Leuenberger, aus einem älteren Grundpsalm, der die Barmherzigkeit JHWHs preist und Fortschreibungen, die ihn zu einem JHWH-König-Hymnus erweitern und explizit durch Schriftbezüge in den Kontext des vierten Psalmbuches einordnen. Johannes Schnocks84 ist verhaltener in seiner Literarkritik und hält im Anschluss an Loretz85 den Schlussteil des Psalms (Vv.19–22) für eine sekundäre Erweiterung. Als Argument dafür wird die Königsherrschaft JHWHs genannt, die als ein neues, den Vv.1–18 nicht bekanntes Thema angeschlossen wird.86 Während die älteren Ausleger ihre Literarkritik vor allem aus poetologisch-stilistischen Gründen (vor allem als Anpassung an das Metrum und Angleichung an den Distichos) durchführten, überwiegen in den neueren redaktionsgeschichtlichen Arbeiten thematische Gründe, welche den Blick auf die Formierung des vierten Psalmbuches im Ganzen oder Teilkompositionen als Voraussetzung haben. Die Exegese von Psalm 103 in dieser Arbeit schließt sich vor allem an die Auslegungen an, die den Fokus auf die theologische Auswertung der Bedeutung der Gnade als Mittelpunkt des Psalms legen. Die Annahme eines theologischen Zentrums in Psalm 103 ist für die vorliegende Untersuchung von großer Wichtigkeit und einer der stärksten Faktoren für die Begründung der im Folgenden angenommenen Einheitlichkeit des Psalms. Auch die Beobachtung des anthologischen Charakters von Psalm 103, der eine Art Kompendium der Gnadentheologie darstellt, ist von Bedeutung für die Ausarbeitung. Die zahlreichen Bezüge in alle Teile des Kanons werden aufgenommen und im Sinne von gemeinsamen Vorstellungswelten gedeutet. Weiterhin wird in den exegetischen Ausführungen erörtert, dass der Schlussteil durch die ausformulierte Angelologie eine Prägung aufweist, die erstens bisher noch nicht ausgewertet worden ist und die zweitens einen maßgeblichen Anteil zur Deutung des in der sog. Gnadenformel festgestellten Überhanges der Gnade darstellt. Der Schlussteil ist ein grundlegendes Element in der Auslegung des gesamten Psalms. Ihn lediglich als verbindende redaktionelle Hinzufügung anzusehen, steht einem umfassenden Verständnis des Ausmaßes der Gnade in Psalm 103 im Wege. Dieser Gedanke führt zu der genaueren Eingrenzung der inhaltlichen Fragestellung, die in der vorliegenden Arbeit verfolgt wird. 83 V.5 wird aufgrund der Stichwortverbindungen zu Ps 104 als redaktionell angesehen, die Vv.6–8 aufgrund der Begriffe Recht und Gerechtigkeit, die dem חסד-Grundpsalm fremd seien. Die vielen Schriftbezüge und das weisheitliche Thema der Vergänglichkeit seien in den Vv.15–18 redaktionellen Charakters. Im Schlussteil verweisen die fehlenden Begriffe Gnade und Erbarmen auf eine Fortschreibung. Die Redaktionen stehen im Zusammenhang mit der Formierung von Ps 101–106 und dem Abschluss des vierten Psalmbuches. Vgl. aaO., 184–186. 84 Schnocks, Johannes, Vergänglichkeit und Gottesherrschaft. Studien zu Psalm 90 und dem vierten Psalmbuch, BBB 140, Berlin/Wien 2002, 239 f. 85 „Es ist anzunehmen, daß in 103.19.1–103.22.2. ein einmal selbständiges Lied oder ein Teil eines solchen überliefert wird. Das Lied feiert die Proklamation Jahwes als König und stellt deshalb den Rest eines Thronbesteigungsliedes dar.“ Loretz, Oswald, Die Psalmen II. Beitrag der Ugarit-Texte zum Verständnis von Kolometrie und Textologie der Psalmen 90–50, AOAT 207/2, Neukirchen-Vluyn 1979. 86 Schnocks, Vergänglichkeit, 240.
2. Was bedeutet Gnade? Die inhaltliche Fragestellung
In zahlreichen Gesprächen mit Studierenden, gerade mit Studienanfängern, aber auch in der Begegnung mit Mitgliedern von Kirchengemeinden hat sich, meiner Erfahrung nach, herausgestellt, dass das Alte Testament immer noch von vielen Menschen mit einem gewalttätigen und strafenden Gottesbild verbunden ist, während das Neue Testament als Evangelium der heilvollen Zuwendung Gottes zu den Menschen angesehen wird. Diese stereotype Sicht verbindet sich oft mit einer Abwertung des Alten Testamentes und findet sich bei Weitem nicht nur in Diskursen, die von Laien geführt werden.87 Wie lässt sich auf diese hartnäckigen Klischees antworten und was ist ihnen entgegenzusetzen? Es wäre zu einfach und der vielschichtigen Theologie von Psalm 103 unangemessen, ihn durch die Betonung der Barmherzigkeit als ein schlichtes Gegenbild anzuführen und mit ihm darauf zu verweisen, dass es auch ‚solche‘ Texte im Alten Testament gibt, so wie es auch Texte im Neuen Testament gibt, zu denen nur schwer Zugänge gefunden werden können. Schon ein Verständnis der sog. Gnadenformel an sich, welche die theologische Mitte von Ps 103 darstellt, lässt sich nicht über eine schlichte Entgegensetzung erlangen. Die Formel wird durch eine Relation konstituiert, indem Gnade und Zorn in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, welches ein Übergewicht der Gnade und eine Begrenzung des Zorns beschreibt. Das Thema, das die vorliegende Exegese begleitet, besteht eher in der Frage, in welche Kontexte die Rede von der Gnade und der Barmherzigkeit 87 Ich verweise hier auf die jüngste Kanon-Debatte, die von Notger Slenczka und seinen Thesen zur Fraglichkeit des Alten Testamentes als Bestandteil des christlichen Kanons angestoßen worden ist. Das Alte Testament mit einem bestimmten Gottesbild zu verbinden, ist nur ein Aspekt dieser sehr umfassenden Debatte, scheint aber immer dann eine Rolle zu spielen, wenn es um das sog. „Fremdeln“ geht, das Slenczka hinsichtlich der alttestamentlichen Texte wahrnimmt. Das Argument des „Fremdelns“ aufgrund der Abwehr eines im Alten Testament beschriebenen partikularen Heilswillens Gottes, das den Zorn Gottes über seine Feinde einschließt, findet sich in: Slenczka, Notger, Was soll die These: ‚Das AT hat in der Kirche keine kanonische Geltung mehr‘? S. 12, https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/was-soll-die-these.pdf [letzter Zugriff: 20.07.2018]; außerdem in: Ders., „Die Kirche und das Alte Testament“, MJTH 24, Leipzig 2013, 83–119; 119. Gegendarstellungen in Auseinandersetzung mit den Thesen Slenczkas finden sich in: GEP (Hg.), Neue Texte aus der Debatte über die Thesen von Professor Slenczka zum Alten Testament, Band 2, epd-Dokumentation 8, Frankfurt a. M. 2016; Hartenstein, Friedhelm, Zur Bedeutung des Alten Testamentes für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka, ThLZ 140, 2015, 738–751; Janowski, Bernd, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013, 3–30.
Was bedeutet Gnade? Die inhaltliche Fragestellung
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JHWHs eingebunden ist und mit welchen Motiven sie verknüpft wird. Damit verbinden sich zwei weitere Impulse, denen nachgegangen wird: Der erste besteht in der Beobachtung, dass es gerade die Rede von der Gnade JHWHs ist, die in den jungen, nachexilischen Texten des Alten Testamentes eine bedeutsame Denkfigur in Verknüpfung mit verschiedenen Traditionen wird. Der zweite liegt in der Feststellung, dass Gnade nicht gleich Gnade ist. Damit soll gesagt werden, dass vermutlich in den wenigsten Fällen klar ist, worüber wir genau reden, wenn wir über Gnade reden. Aufgrund der Polysemie dieses Begriffes, die auch dem hebräischen Wort חסד, das hier mit Gnade übersetzt wird, zugrunde liegt,88 muss dieser für jeden Kontext neu definiert werden. Was חסדbedeuten kann, möchte ich anhand von Psalm 103 und seiner Kontexte so klar wie möglich auslegen. Eine Besonderheit besteht dabei in der Hinzunahme von ausgewählten Schriften aus Qumran, wie z. B. den Sabbatopferliedern. Sie entspringen mit ihrer Angelologie der Vorstellungswelt einer frühen jüdischen Mystik, in der auch Psalm 103 beheimatet ist. Diese Arbeit soll dazu beitragen, den zusätzlichen Kontext aufzuzeigen, den die Qumranschriften eröffnen und in dem die Theologie eines jungen alttestamentlichen Psalms Konturen gewinnt. Es ist also weniger „die Zusammenstellung der schönen Sequenzen“, die mich in der Exegese leitet, als vielmehr ihr theologischer Zusammenhang.
88 Vgl. zum Facettenreichtum des Begriffes חסדDoob Sakenfeld, Katharine, The Meaning of Hesed in the Hebrew Bible: A New Inquiry, Harvard Semitic Monographs 17, Montana 1978.
3. Methodische Überlegungen
Um den oben beschriebenen Leitgedanken zu verfolgen, hat sich vor allem ein motivgeschichtlicher Ansatz bewährt. In Psalm 103 entstehen Motive, wie z. B. das der Vergänglichkeit oder das der Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit, durch „prägnante Einzelworte und Wortensembles“.89 Die verwendeten Begriffe verweisen wiederum auf unterschiedliche Traditionen, die in alle Kanonteile zurückverfolgt werden können. Einerseits geschieht das natürlich über Stichwortverbindungen, da Motive sich aus einem bestimmten Vokabular zusammensetzen. Andererseits aber auch über ähnliche Terminologien, Konnotationen, theologische Argumentationen. Diese Arbeit sieht sich daher keinem Ansatz verpflichtet, der mit dem Stichwort der „Intertextualität“ und der Einordnung von intertextuellen Bezügen verbunden ist.90 Die Begründung gegen diesen Ansatz liegt in der Eigenart des Psalms, kaum direkte Text-Text-Beziehungen zu verwenden, sondern Verknüpfungen im Vokabular zu schaffen, die eine große Deutungsoffenheit und Multiperspektivität nach sich ziehen. Dies liegt wohl in der „umfangreichen Lektüre“ (Duhm s. o.) begründet, die im Hintergrund des Psalms steht. Hilfreicher als eine strenge Kategorisierung und damit einhergehende Bestimmung von Wertigkeiten der Bezüge ist m. E. für eine Auslegung von Psalm 103 das Denken in „Vorstellungszusammenhängen“.91 Dieser von Odil Hannes Steck geprägte Begriff umfasst sowohl die synchronen Zusammenhänge, wie die sprachliche und inhaltliche Ausprägung einer Vorstellung im Text, als auch die diachrone Fragestellung nach der Herkunft einer Vorstellung und ihrer Entwicklung oder Veränderung. Auf der Darstellung von Vorstellungswelten und der Klärung ihrer Bedeutung für die Theologie des Psalms liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit.
89 Steck, Odil Hannes, Exegese des Alten Testamentes. Leitfaden der Methodik, Neukirchen-Vluyn 141999, 143 f. 90 Unter dem Stichwort der „Intertextualität“ wird in der alttestamentlichen Forschungsliteratur ein weites Spektrum an unterschiedlichen methodischen Zugängen und Arbeitsweisen verhandelt. Ursprünglich bezieht sich der Begriff auf die Arbeiten des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin und der bulgarischen Semiologin Julia Kristeva, deren Theorien vor allem in Frankreich und in Deutschland auf verschiedene Arten angewandt und weiterentwickelt worden sind und schließlich auch für die Exegese von biblischen Texten herangezogen wurden. Ein Überblick zu den Ursprüngen und Entwicklungen des Begriffes der Intertextualität findet sich bei Seiler, Stefan, Text-Beziehungen. Zur intertextuellen Interpretation alttestamentlicher Texte am Beispiel ausgewählter Psalmen, BWANT 202, Stuttgart 2013, 17–24. 91 Steck, Exegese, 143.
Methodische Überlegungen
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Zum Verhältnis der Texte, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, ist noch eine hermeneutische Voraussetzung zu nennen. Das Verhältnis der Texte zueinander wird nicht nur in ihrer Zuordnung als Spender- und Empfängertext gesehen, was eine gewisse Einseitigkeit in die Auslegung mit sich brächte. Es wird mehr im Sinne eines „Diskurses“ begriffen, der an sich eine Mehrdimensionalität von Bedeutung beschreibt. Ricoeurs einfachste Definition des Diskurses lautet: „Jemand sagt jemandem etwas über etwas, nach – phonetischen, lexikalischen, syntaktischen, stilistischen – Regeln.“92 Alle Texte, so Ricoeur, sind demnach als Diskurse zu verstehen, da der Satz ihre Grundeinheit darstellt.93 Weiterhin weisen Texte einen individuellen Werkcharakter unbeschadet ihrer Genre-Zugehörigkeit auf: Ein Text ist […] ein Werk, das heißt, ein einzigartiges Ganzes. Als Ganzes erschöpft sich das literarische Werk nicht in einer Folge von Sätzen, die alle für sich selbst verständlich wären, es ist ein Gefüge von Themen und Äußerungen […]. Darüber hinaus ist […] ein Text eine Art Individuum wie ein Lebewesen oder ein Kunstwerk. Man kann also seine Einzigartigkeit nur erfassen, indem man schrittweise allgemeine Begriffe berichtigt, die auf die Textsorte, die literarische Gattung, die unterschiedlichen Strukturen abzielen, die sich in diesem singulären Text überkreuzen.94
Die exegetische Auslegung von Texten kann daher in ihrem Zusammenspiel der methodischen Analysen bezogen auf den Text als Individuum und als Ausprägung einer Gattung als ein Akt der Diskursivität verstanden werden. Diese Voraussetzung zieht zum einen den Gedanken nach sich, dass aus dem Verhältnis der verglichenen Texte eine Bedeutung entsteht, die auf die Deutung aller Vergleichstexte bezogen werden kann. Deshalb ist es unter Umständen hilfreich, die Interpretationsrichtung ausgehend von jüngeren Texten auf ältere zu lenken, um den Bedeutungsgehalt zu erkennen, den die jüngeren Texte in den älteren gesehen haben. Darin besteht auch der Grund, die Qumrantexte nicht nur als Wirkungsgeschichte zu begreifen, sondern als Element der Auslegung. Diese Möglichkeit findet ihre Begründung in der doppelten Gestalt der Texte, mit Ricoeur gesprochen, als Individuum und als Teil „eines Ganzen“.95 Das Ganze beschreibt im übertragenen Sinne die gemeinsame Vorstellungswelt, zu der die Texte zugehörig sind und in der ein gemeinsamer Gehalt an Deutung in individueller Ausprägung angenommen werden kann.
92 Ricoeur, Paul, Eine intellektuelle Autobiographie, in: Welsen, P. (Hg.), Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), Philosophische Bibliothek 570, Hamburg 2005, 3–78; 32. 93 Die Übertragung des Diskurs-Begriffes geschieht in dem Aufsatz: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, aaO., 109–134; 110 f. 94 AaO., 124. 95 „Das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem ist sogar ein unausweichlich zirkuläres Verhältnis. Die Voraussetzung eines gewissen Ganzen geht der Wahrnehmung einer bestimmten Anordnung der Teile voran, und indem man die Details errichtet, baut man das Ganze auf.“ Ebd.
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Einleitung
Zum anderen setzt ein Diskurs immer eine Multiperspektivität von Deutung frei, da er sich in einer dreifachen Referenz vollzieht: die außersprachliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Textes/Sprechers und die Wirklichkeit desjenigen, an den der Diskurs gerichtet ist.96 Gerade die Methode der Motivgeschichte, die sich auf Vorstellungswelten (der Plural ist aussagekräftig) bezieht, begibt sich in das Geschehen dieser dreifachen Referenzialität. Das bedeutet, dass ein Vorstellungszusammenhang nur schwer erschöpfend dargestellt werden kann und dass es Grenzen in der gesicherten Bestimmung von Abhängigkeiten usw. gibt. Dies gilt gerade für den Umgang mit jungen Texten, die mannigfaltige ältere Texte und Vorstellungen aufnehmen, verknüpfen und dadurch neue Bedeutungen schaffen.97 Diese Einsicht in die Begrenzung bedeutet allerdings nicht, dass der Sinngehalt von Texten und ihren Interpretationen beliebig wäre. Durch eine reflektierte Methodik ist es sehr wohl möglich und notwendig, Gewichtungen und Wertungen vorzunehmen, um verantwortbare und den antiken Diskursen angemessene Ergebnisse zu erzielen.
96 Vgl. dazu aaO., 113 f. 97 Diese Beobachtung spielt vor allem in der Auslegung der Bundeskonzeption (Ps 103,17 f) eine wichtige Rolle und findet dort ihre exegetische Umsetzung.
4. Einordnung der Arbeit in die neuere Psalmenforschung
Der oben beschriebene Zusammenhang von individuellem Einzeltext und seiner Zugehörigkeit zu einem größeren literarischen Kontext ist in den letzten Jahren in der Psalmenforschung immer bedeutsamer geworden, so dass sich die Psalmenexegese vermehrt auch zur Psalterexegese entwickelt hat.98 Jeder Psalm ist ein in sich abgeschlossener Text mit individuellem Profil und zugleich ist er offen für den Textzusammenhang, in dem er im Psalmbuch steht und der ihm eine zusätzliche Bedeutungsdimension gibt.99
Psalterexegese bedeutet, dass das Profil der unterschiedlichen zusammenhängenden Einheiten, die im Psalter vorfindlich sind, mit in die Interpretation einbezogen wird. Als Einheiten sind z. B. die einzelnen Bücher des Psalters zu nennen, aber auch Psalmengruppen und Teilsammlungen, die oft durch gemeinsame Überschriften kompositionell strukturiert worden sind (z. B. Davidspsalmen, Asafpsalmen usw.).100 Ps 103 lässt sich dadurch in verschiedene Kontexte einordnen: in das vierte Psalmenbuch, in die Gruppe der Davidpsalmen, in die Psalmgruppe Ps 102–106 (107)101 und in eine Gruppe von späten Psalmen, die alle die Handlungsoptionen der Gnade und Barmherzigkeit JHWHs in hermeneutisch relevanter Funktion verwenden.102 98 Ein Überblick über diese Bewegung, die Psalmen- und Psalterexegese verbindet, wobei die Psalterexegese als Ergänzung und nicht als Ersatz gedacht ist, ist dargestellt worden von Zenger, Erich, Psalmenexegese und Psalterexegese. Eine Forschungsskizze, in: Ders. (Hg.), The Composition of the Book of Psalms, BEThL CCXXXVIII, Leuven 2010, 17–65. 99 Hossfeld/Zenger, Psalmen, 35. 100 Vgl. zu den Überschriften als Kompositionsmerkmale Zenger, Psalterexegese, 52–57. Als weitere Kompositionsmarker können auch stilistische, terminologische oder thematische Bezüge gelten. AaO., 31. 101 Zwischen den Psalmen 106 und 107 verläuft die Buchgrenze vom vierten zum fünften Psalmbuch. Trotzdem gibt es Bezüge zwischen Ps 103 sowie der gesamten Psalmgruppe 102–106 zu Ps 107. Die Buchgrenze beschreibt an dieser Stelle keine Grenze innerhalb der kompositionellen Zusammenhänge. Vgl. dazu Gärtner, Judith, Die Geschichtspsalmen, FAT 84, Tübingen 2012, 284–290. Vgl. zur Thematik der Buchgrenze, die keine wirkliche Grenze darstellt, auch Ballhorn, Telos, 146. 102 Mit der letzten Gruppe sind die Geschichtspsalmen 78; 105; 106; 136 gemeint, welche Gnade und Barmherzigkeit als „gemeinsamen geschichtshermeneutischen Interpretationsrahmen“ verwenden; Gärtner, Geschichtspsalmen, 375.
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Einleitung
Die vorliegende Arbeit weist vor allem eine Relevanz für die Einbettung des Palms in die beiden letztgenannten Gruppen auf, indem zum einen Motivverbindungen zwischen den Psalmen 102–106 dargestellt und analysiert werden,103 zum anderen eine grundsätzliche Untersuchung zur Gnade als Zentralmotiv in Ps 103 stattfindet. Die Psalmengruppe 102–106 ist im Rahmen der Psalterexegese unter verschiedenen Gesichtspunkten in der Forschung analysiert worden: als JHWH-Königs- Konzeption zur Profilierung eines theokratischen vierten Psalmenbuchs,104 als Reflektion der Güte JHWHs in geschichtshermeneutischer Funktion105 und als Abschluss des vierten Psalmenbuches106 unter Berücksichtigung der Konzeptionen von Vergänglichkeit und Gottesherrschaft.107 Eine explizite psalterexegetische Diskussion wird in der vorliegenden Arbeit nicht geführt, wobei ihre Ergebnisse jedoch aufgrund der ausführlich dargestellten Zusammenhänge und der Neubewertung des Psalms als eines einheitlichen jungen Werkes der Weiterarbeit an diesen psalterkompositorischen Fragestellungen dienen können.
103 Zu nennen sind hier vor allem die Auslegung des Motivs der Vergänglichkeit, die Bedeutung der Schöpfung und die Entwicklung von der Fürbitte zum himmlischen Gottesdienst. 104 Vgl. Leuenberger, Konzeptionen, 125–260. Leuenberger zählt auch Ps 101 zu der Psalmengruppe, da er allerdings nahezu keine thematischen Bezüge zu den folgenden Psalmen aufzuweisen scheint, ist er in den obigen Ausführungen nicht erwähnt. 105 Gärtner, Geschichtspsalmen, 259–290. Der Fokus der Bearbeitung liegt auf der Gruppe Ps 103– 106. Eine redaktionsgeschichtliche Analyse der Psalmen 100–107 hinsichtlich der Bedeutung von Geschichte und Gnade findet sich bei Klein, Anja, Geschichte und Gebet. Die Rezeption der biblischen Geschichte in den Psalmen des Alten Testaments, FAT 94, Tübingen 2014, 270–306. 106 Wilson, Lindsay, On Psalms 103–106 as a Closure to Book IV of the Psalter, in: Zenger, E. (Hg.), The Composition of the Book of Psalms, BEThL CCXXXVIII, Leuven 2010, 755–766. 107 Schnocks, Vergänglichkeit, 252–276.
B Hauptteil: Exegese von Ps 103
1. Kurze Darstellung von Psalm 103
1.1 Text und Übersetzung ת־שׁם ָק ְד ֽשׁו: ל־ק ָר ַ֗בי ֹ ֶא ֵ ֥ הו֑ה וְ ָכ ְ֝ ְ 1ל ָד ִ ֨וד ָבּ ֲר ִ ֣כי ַ ֭נ ְפ ִשׁי ֶאת־יְ ָ מוּליו׃ אַל־תּ ְשׁ ְכּ ִ֗חי ָכּל־גְּ ָ ֽ ִ֝ הו֑ה וְ ָ 2בּ ֲר ִ ֣כי ַ ֭נ ְפ ִשׁי ֶאת־יְ ָ ל־תּ ֲח ֻלאָֽיְ ִכי: ל־ע ֵֹונ ִ֑כי ָ֝הר ֗ ֵֹפא ְל ָכ ַ הסּ ֵ ֹ֥ל ַח ְל ָכ ֲ ַ 3 גֹּואל ִמ ַ ֣שּׁ ַחת ַח ָיּ�֑יְ ִכי ַֽ֝ה ְמ ַע ְטּ ֵ ֗ר ִכי ֶ ֣ח ֶסד וְ ַר ֲח ִ ֽמים׃ ַ 4ה ֵ ֣ עוּריְ ִכי: ַ 5ה ַמּ ְשׂ ִ ֣בּיַ ע ַבּ ֣טֹּוב ֶע ְד ֵי�ְ֑ך ִתּ ְת ַח ֵ ֖דּשׁ ַכּ ֶנּ ֶ֣שׁר נְ ָ ֽ ל־עשׁ� ִ ֽוּקים׃ הו֑ה וּ ִ֝מ ְשׁ ָפּ ִ֗טים ְל ָכ ֲ 6ע ֵ ֹ֣שׂה ְצ ָד ֣קֹות יְ ָ ֹותיו׃ יֹוד ַיע ְדּ ָר ָכ֣יו ְלמ ֶ ֹ֑שׁה ִל ְב ֵנ֥י ִי ְ֝שׂ ָר ֵ֗אל ֲע ִל ֽיל ָ ִ֣ 7 ב־ח ֶסד׃ אַפּ֣יִ ם וְ ַר ָ ֽ הו֑ה ֶ ֖א ֶרְך ַ ַ 8ר ֣חוּם וְ ַחנּ֣ וּן יְ ָ עֹול֣ם יִ ֽטֹּור: א־ל ֶנ ַ֥צח יָ ִ ֑ריב וְ ֖ל ֹא ְל ָ ֽ 9ל ֹ ָ ֣ 10ל ֹא ַ ֭כ ֲח ָט ֵאינוּ ָע ָ֣שׂה ָל֑נוּ וְ ֥ל ֹא ַ֝כ ֲעֹונ ֵֹ֗תינוּ גָּ ַ ֥מל ָע ֵ ֽלינוּ׃ ל־האָ ֶ֑רץ גָּ ַ ֥בר ַ֝ח ְס ֗דֹּו ַעל־יְ ֵראָֽיו׃ ֤ ִ 11כּי ִכגְ ֣בֹ ַהּ ָ ֭שׁ ַמיִ ם ַע ָ ת־פּ ָשׁ ֵ ֽעינוּ: ִ 12כּ ְר ֣חֹק ִ ֭מזְ ָרח ִ ֽמ ַ ֽמּ ֲע ָ ֑רב ִ ֽה ְר ִ ֥חיק ִ֝מ ֶ֗מּנּוּ ֶא ְ ֝הוה ַעל־יְ ֵראָֽיו׃ ל־בּ ִנ֑ים ִר ַ ֥חם ְי ָ ֗ ְ 13כּ ַר ֵ ֣חם אָ֭ב ַע ָ י־ע ָ ֥פר ֲא ָנ ְֽחנוּ׃ י־הוּא יָ ַ ֣דע יִ ְצ ֵ ֑רנוּ ָ ֝ז ֗כוּר ִכּ ָ ִ 14כּ ֖ יָמיו ְכּ ִ ֥ציץ ַ֝ה ָשּׂ ֶ ֗דה ֵכּ֣ן יָ ִ ֽציץ׃ ֱ ֭ 15אנֹושׁ ֶכּ ָח ִ ֣ציר ָ ֑ קֹומֹו׃ ירנּוּ ֣עֹוד ְמ ֽ א־יַכּ ֶ ֖ ה־בֹּו וְ ֵא ֶינ֑נּוּ וְ ל ֹ ִ ֤ ִ 16כּי ֣ר ַוּח ָ ֽע ְב ָר ֣ ֹולם ַעל־יְ ֵראָ֑יו וְ ִ֝צ ְד ָק ֗תֹו ִל ְב ֵנ֥י ָב ִנֽים: עֹול֣ם וְ ַעד־ע֭ ָ הוה ֵמ ָ 17וְ ֶ ֤ח ֶסד יְ ָ ֨ שֹׂותם: וּלז ְֹכ ֵ ֥רי ִ֝פ ֻקּ ָ ֗דיו ַל ֲע ָ ֽ יתֹו ְ ְ 18לשׁ ְֹמ ֵ ֥רי ְב ִר ֑ כוּתֹו ַבּ ֥כֹּל ָמ ָ ֽשׁ ָלה׃ ֽהוה ַ ֭בּ ָשּׁ ַמיִ ם ֵה ִ ֣כין ִכּ ְס ֑אֹו וּ ַ֝מ ְל ֗ 19יְ ָ ֗ מ ַע ְבּ ֣קֹול ְדּ ָב ֽרֹו: הוה ַמ ְלאָ ָ ֥֫כיו גִּ ֣בֹּ ֵרי ֭כֹ ַח ע ֵ ֹ֣שׂי ְד ָב ֑רֹו ִ֝ל ְשׁ ֗ ֹ ָ 20בּ ֲר ֥כוּ יְ ָ ֗ ל־צ ָבאָ֑יו ְ֝מ ָשׁ ְר ָ֗תיו ע ֵ ֹ֥שׂי ְרצֹונֽ ֹו׃ ָ 21בּ ֲר ֣כוּ ְי֭הוָ ה ָכּ ְ הוה׃ ל־מק ֹ֥מֹות ֶמ ְמ ַשׁ ְל ֑תֹּו ָבּ ֲר ִ ֥כי ַ֝נ ְפ ִ֗שׁי ֶאת־יְ ָ ֽ ל־מ ֲע ָ֗שׂיו ְבּ ָכ ְ הוה ָ ֽכּ ַ ָ 22בּ ֲר ֤כוּ יְ ָ ֨
Ps 103,1–22:
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Übersetzung: 1 Von David: Segne, meine Seele, JHWH, und mein gesamtes Inneres1 seinen heiligen Namen. 2 Segne, meine Seele, JHWH, und vergiss nicht alle seine Taten. 3 Er vergibt alle deine Schuld, er heilt deine Krankheiten. 4 Er löst aus dem Grab2 dein Leben aus, er krönt dich mit Gnade und Barmherzigkeit. 5 Er sättigt mit dem Guten deine Dauer3, deine Jugend erneuert sich wie beim Geier. 6 JHWH macht Gerechtigkeitstaten und Rechtsurteile für alle Unterdrückten. 7 Er hat Mose seine Wege wissen lassen, die Kinder Israels seine Taten. 8 Barmherzig und gnädig ist JHWH, langmütig im Zorn und reich an Gnade. 9 Nicht immer wird er streiten und nicht ewig zürnen. 10 Nicht nach unseren Sünden hat er an uns gehandelt, und nicht nach unserer Schuld hat er uns vergolten. 11 Ja, wie hoch (der) Himmel über der Erde (ist), ist seine Gnade mächtig über denen, die ihn fürchten. 12 Wie weit entfernt (der) Sonnenaufgang vom Sonnenuntergang ist, lässt er unsere Freveltaten von uns entfernt sein. 13 Wie ein Vater sich über seine Kinder erbarmt, erbarmt JHWH sich über denen, die ihn fürchten. 14 Denn er kennt unser Gebilde, er ist eingedenk, dass wir Staub (sind). 15 Ein Mensch, wie Gras (sind) seine Tage, wie eine Blume des Feldes so blüht er. 16 Denn ist ein Wind über ihn gezogen, ist er nicht mehr und seine Stätte erkennt ihn nicht mehr. 1 Die vorliegende Pluralform von קרבist ein Hapax Legomenon, weshalb Kraus eine Änderung in die häufiger gebrauchte Singularform vornimmt, vgl. Kraus, Hans-Joachim, Psalmen. 60–150, BKAT XV/2, Neukirchen-Vluyn, 72003, 871. Eine Änderung scheint jedoch nicht notwendig zu sein, da die Gesamtheit der physischen und psychischen Innerlichkeit gut durch den Plural ausgedrückt werden kann. 2 LXX liest „Verderben/Untergang“ (ἐκ φθορᾶς). Allerdings kann dieser Begriff auch Tod/Vergänglichkeit bedeuten. 3 MT gebraucht „deinen Schmuck“ ()ע ְדיֵ ְך, ֶ LXX liest „dein Begehren“ (τὴν ἐπιθυμίαν σου). Hier wird deine Dauer ()עֹוד ִכי ֵ gelesen. Eine ausführliche Diskussion der Varianten findet sich in Punkt 3.3: V.5: Sättigung und Erneuerung.
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17 Aber JHWHs Gnade ist von fernster Zeit bis in fernste Zeit über denen, die ihn fürchten und seine Gerechtigkeitstaten für Kindeskinder. 18 Für die, die seinen Bund bewahren und für die, die seiner Anordnungen gedenken, indem (sie) sie tun. 19 JHWH, im Himmel hat er seinen Thron fest aufgestellt, und seine Herrschaft, über alles herrscht sie. 20 Segnet JHWH, ihr seine Boten, Helden von Kraft, die sein Wort tun, indem sie hören auf die Stimme seines Wortes. 21 Segnet JHWH, sein ganzes Heer, seine Diener, die seinen Willen tun. 22 Segnet JHWH, all seine Werke an allen Orten seiner Herrschaft, segne, meine Seele, JHWH.
1.2 Sprachliche Analyse Psalm 103 besteht aus 22 Versen und kann daher als eine Form der „alphabetisierenden Psalmen“4 angesehen werden, wobei es nicht um eine alphabetische Gliederung an sich geht, sondern um die Darstellung von Gesamtheit. Die 22 Verse als Symbol für die 22 Buchstaben bilden die Ganzheitlichkeit des die irdisch und himmlische Schöpfung umfassenden Gotteslobes ab. Das Metrum wird bestimmt durch das Versmaß 3+3 (Maschal-Vers), allerdings liegt die Struktur des Doppeldreiers nicht allen Versen zugrunde.5
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„,Alphabetisierend‘ hat man Psalmen genannt, die entsprechend der Buchstabenzahl des hebräischen Alphabets aus 22 Versen bestehen, ohne daß die Verse akrostichisch sind, d. h. mit dem jeweils folgenden Buchstaben des Alphabets beginnen. Beispiele sind Ps 33 und Ps 103.“ Becker, Israel deutet, 74, Anmerkung 106. Pieter van der Lugt gibt der Versanzahl so viel Gewicht, dass er den Psalm in zwei Hälften aufteilt (Vv.1–11 und Vv.12–22) und in der Mitte, in V.12b, nicht nur das strukturelle, sondern auch das theologische Zentrum sieht: „V.12b represents the middle colon (23+1+23 cola). This colon is composed of exactly 17 letters and clearly constitues a focal theme of the composition: God removes our sins from us. In other words, v.12b is to be taken as the consciously designed rhetorical centre of Psalm 103.“ Pieter van der Lugt, Cantos and Strophes in Biblical Hebrew Poetry, Psalms 90–150 and Psalm 1, OTS 63, 2014, 130. Die Bestimmung des Metrums in der Kommentarliteratur zu Ps 103 variiert sehr stark. Gunkel erkennt nur in V.19 einen 4+3 Rhythmus, vgl. Gunkel, Die Psalmen, 441 f. Kraus sieht Ausnahmen in Vv.10.16 (4+4), in Vv.11+19 (4+3), in V.22 (2+2+2), vgl. Kraus, Psalmen, 871. Die Unterschiede im Metrum wurden von den früheren Auslegern durch literarkritische Eingriffe ausgeglichen. Vgl. dazu z. B. Kittel, der einen durchgängigen 3+3-Rhythmus rekonstruiert, Kittel, Die Psalmen, 329f; auch Henneke, Psalmen, 333. Einen grundsätzlichen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, das Versmaß in der hebräischen Poesie zu bestimmen, gibt Seybold. Er
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Vv.1–2: Ps 103 beginnt nach der Überschrift, die den Psalm in die Gruppe der Davidspsalmen einordnet, mit der imperativischen Aufforderung zum Segnen, welche die beiden ersten Verse umfasst.6 Der erste Vers beschreibt einen synonymen Parallelismus mit identisch aufgebauten Halbversen. Der zweite Vers fügt in der zweiten Vershälfte einen weiteren Imperativ hinzu, allerdings in der Verneinung. Formal ergibt sich dadurch ein antithetischer Parallelismus, inhaltlich aber beschreiben Segnen und Nicht-Vergessen zwei Aspekte einer Handlung. Durch den Akrostichismus ()ב7 der Versanfänge und die Suffixe der ersten Person singular werden die Verse auch lautmalerisch zu einer Einheit verbunden. Anthropologisch bilden die Begriffspaare „Seele“ und „gesamtes Inneres“ einen Merismus, der die Vollständigkeit des Menschseins abbildet. Dementsprechend zeigt sich eine Ganzheit in den Begriffen heiliger Name und alle Wohltaten auf der göttlichen Seite, welche das Sein und das Handeln JHWHs für den Menschen darstellen. Vv.3–5: Diese Einheit zeigt einen parallelen sprachlichen Aufbau, der durch Partizipialkonstruktionen geprägt wird. Jeder Halbvers (außer die Abweichung in V.5b) beginnt mit einem determinierten Partizip aktiv, an das ein Objekt angefügt ist, welches durch die aramaisierende Form des Suffixes der zweiten Person feminin singular näher bestimmt wird8 und sich auf die נפשaus V.1 bezieht. An das Partizip schließt sich jeweils ein weiteres Objekt an. Nur in V.5b findet sich ein Verbalsatz, der mit einem Subjektwechsel verbunden ist und einen Vergleich beschreibt. Das Objektsuffix ist zu den vorhergehenden identisch. Alle drei Verse beschreiben synonyme Parallelismen, da in allen sechs Gliedern der Einheit die Wohltaten JHWHs ausformuliert werden, die in Bezug zu V.2b gesetzt werden können. Wie auch in den ersten beiden Versen wird durch die bewusste Auswahl der Begriffe der Fokus auf eine Darstellung von Gesamtheit gelegt. Es lassen sich räumlich eine Achse von der Tiefe des Grabes (V.4a) bis zur Höhe des Kopfes (Krönung V.4b) ziehen, zeitlich eine Achse von der umfassenden Lebensdauer (V.5a) zur Verjüngung (V.5b). Stilistisch wird die Verwobenheit von räumlicher und zeitlicher Qualität durch einen Chiasmus von V.4a zu V.5b und V.4b zu V.5a abgebildet, in
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nennt auch die Ansätze in der Forschung, die das Durchführen von literarkritischen Eingriffen aufgrund poetischer Formangleichung wegen der Unsicherheiten in der Bestimmung der Metrik kritisch bewerten. Vgl. Seybold, Klaus, Poetik der Psalmen, PSAT 1, Stuttgart 2003, 102–127. Zenger erkennt hier die Form einer Beraka (Segensspruch), die aus Aufforderung zur Anbetung und Erinnerung der Taten JHWHs besteht, vgl. Zenger, Morgenröte, 197. Der Akrostichismus ist, wie die Analyse zeigen wird, ein sich wiederholendes Stilmittel im Psalm, allerdings nicht in alphabetischer Sortierung. Vgl. zur Beobachtung des Akrostichismus in Ps 103 Seybold, Klaus, Die Psalmen, HAT I/15, Tübingen 1996, 402–405; Weber, Werkbuch, 177. Dahood weist darauf hin, dass es sich bei den Suffixen auch um archaische kanaanitische Formen handeln könnte, die benutzt werden, um poetische Affekte zu erzielen. Damit einhergehend ist seine Kritik an einer nachexilischen Datierung des Psalms aufgrund der Aramaismen, vgl. Dahood, Psalms, 25.
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welchem das Auslösen aus dem Grab/die Verjüngung und Gnade/Gutes zueinander in Bezug gesetzt werden. Hinsichtlich des Lautbildes entstehen Gleichklänge durch den Beginn der Verse mit dem Artikel (ה-Akrostichie) und durch den parallelen Gebrauch von Partizipialformen und identischen Suffixen. Der Zustand des Menschen als vergängliches Geschöpf, der hier im Kontrast durch die Motive der Erlösung aus dem Grab und der Verjüngung anklingt, wird in den Vv.14–16 aufgenommen und ausgeführt. Vv.6–7: Auch V.6 setzt mit einem Partizip ein, das aber keine Determinierung durch den Artikel aufweist, da JHWH als Subjekt genannt wird. Das Objekt wechselt, es ist nicht mehr die נפשals Empfänger der Taten angesprochen, sondern die Unterdrückten. Die Taten JHWHs werden durch das Hendiadyoin „Gerechtigkeitstaten und Rechtsurteile“ ( צדקותund )משפטיםbeschrieben. V.7 besteht aus einem Verbalsatz im Imperfekt, das Subjekt ist noch immer JHWH. Als Objekte werden Mose und Israel genannt. Stilistisch ist die Zusammengehörigkeit von Mose (V.7a) und Israel (V.7b) in einem Chiasmus ausgedrückt, der auch JHWHs Wege (V.7a) und Taten (V.7b) durch Wortstellung und gleiches Suffix aneinanderbindet. Sprachlich ist durch die Partizipien die Verbindung zu den Vv.3–5 gegeben, auch die Gleichklänge durch Endungen und Suffixe und das Stilmittel des Chiasmus werden beibehalten. Dennoch ist durch die explizite Nennung der konkreten Größen JHWH, die Unterdrückten, Mose und Israel ein Unterschied zum allgemein anthropologisch formulierten Begriff meine Seele/mein Leben als Empfänger der Wohltaten JHWHs zu bemerken. Der Mose/Israel-Kontext führt inhaltlich zu V.8, der sog. Gnadenformel, die in Ex 34,6f von Mose gesprochen wird. V.8: In diesem Vers wird der partizipiale Stil der Verse 3–7 nicht fortgeführt. Es wird die sog. Gnadenformel zitiert, die einen Nominalsatz darstellt, der aus vier Adjektiven besteht, welche die Funktion von Prädikatsnomina haben.9 Der Anschluss an das Vorhergehende ist durch die Beibehaltung des Subjektes, JHWH, gegeben, auch durch die Stichwortbeziehungen zu V.4b ( חסדund )רחם. Allerdings liegt die Konzentration in diesem Vers ganz auf JHWH. Er leistet damit eine Verankerung der Reihung der JHWH-Taten (vergeben, heilen, sättigen, erneuern, Recht verschaffen, wissen lassen) in der grundlegenden Feststellung des Überhanges der Gnade in den Handlungseigenschaften JHWHs und schlägt damit eine Brücke zu den Wohltaten in V.2b, die nicht vergessen werden sollen. Die Gnadenformel ist ein verdichtetes, aus der Tradition übernommenes Kompendium der in den Vv.3–7 genannten Eigenschaften JHWHs, welche die vorrangige Aufgabe Israels, JHWH zu loben (Vv.1–2), begründet.
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Vgl. zur detaillierten Stilanalyse der Formel Punkt 4.2 V.8: Die Gnadenformel.
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Vv.9–10: Der Aufbau beider Verse ist parallel und wird bestimmt durch die vierfache Verneinung, die immer am Anfang eines jeden Halbverses steht (לא-Akrostichie). Das finite Verb steht jeweils am Ende des Halbverses, wobei in V.9 Imperfekta verwendet werden und in V.10 Perfekta. Die unterschiedlichen Zeitformen zeigen die zeitliche Dimension der vorher genannten Gnadenformel. Der Überhang an Gnade begrenzt die Dauer des Zorns – begangene Schuld wird nicht für alle Zeiten bestraft. Das Subjekt in beiden Versen ist JHWH, als Objekt wird eine ‚WirGruppe‘ genannt, die durch das Suffix der ersten Person plural beschrieben wird. Es ist anzunehmen, dass das „Wir“ in der Leserichtung des Psalms das Ich (V.1–5) und das Kollektiv (V.6–7) zusammenbringt. Das „langmütig im Zorn Sein“ (V.8b) wird in vierfacher Variation beschrieben, daher kann auch inhaltlich von einem synonymen Parallelismus gesprochen werden. Die ersten beiden Varianten (V.9) legen den Fokus auf die zeitliche Erstreckung, die sich anschließenden (V.10) beschreiben die Qualität des Handelns. Beide Verben aus V.10 ( עשהund )גמלsind Wiederaufnahmen des Gnadenhandelns JHWHs (V.2b גמוליוund V.6a )עשה. Vv.11–13: Alle drei Verse bestehen in ihrer ersten Vershälfte aus einem Infinitiv constructus, der mit der Präposition כeinen Vergleich bildet (כ-Akrostichie), in der zweiten Vershälfte aus Verbalsätzen im Perfekt. Die Zeitform des Perfekts könnte gewählt worden sein, um einen Fall von Koinzidenz zu beschreiben.10 Das Gnadenhandeln JHWHs steht der Art und Weise nach mit dem durch den Infinitiv beschriebenen Zustand in Koinzidenz, so dass beide Vershälften zusammen einen Vergleich formulieren können. Aus diesem Grund lässt sich das Perfekt in der Übersetzung präsentisch wiedergeben, eine Vorzeitigkeit ist hier vermutlich nicht intendiert. Die Form der Koinzidenz zeigt sich auch in der Übereinstimmung des Lexems (sowohl klanglich wie in V.10, als auch lexematisch wie in Vv.12–13). Ist in V.9 die zeitliche Begrenzung des Zorns im Vordergrund, so wird in V.11 die räumliche Erstreckung der Gnade beschrieben, welche der Merismus Himmel und Erde abbildet. JHWHs Gnade ist Subjekt des Satzes – sie scheint also eine eigene Wirkmächtigkeit zu besitzen. Lautmalerisch wird der Zusammenhang von räumlicher Ausdehnung des Herrschaftsbereiches der Gnade und ihrer Qualität durch die ähnlich klingenden Lexeme גבהund גברdargestellt. In V.12 schillert die Beschreibung des Handelns JHWHs zwischen räumlichen und zeitlichen Komponenten. Sonnenauf- und Sonnenuntergang kann sowohl die zeitliche Ausdehnung als auch die Himmelsrichtungen von Osten und Westen meinen. Da in V.11 die vertikale Achse genannt wird, legt es sich nahe, hier die hori-
10 Vgl. zur Funktion des Perfekts zur Darstellung von Koinzidenz: Bartelmus, Rüdiger, Einführung in das Biblische Hebräisch. Mit einem Anhang: Biblisches Aramäisch. Für Kenner und Könner des biblischen Hebräisch, Zürich 1994, 73.
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zontale Achse anzunehmen. Wieder gibt es ein Klangspiel aus den verwendeten Lexemen ( רחקals Infinitiv constructus und als finites Verb im Kausativstamm). Die Adressatengruppe wird wie in V.10 durch das Suffix der ersten Person plural erweckt. Thematisch ist der Zusammenhang zu V.10 an dem Begriff der Freveltaten ( )פשעzu erkennen, der mit den beiden Ausdrücken aus V.10 ( חטאund )עון ein Trikolon der Schuldbegriffe bildet. V.13 schließt die Reihung der Vergleiche mit der Aufnahme des Lexems רחםaus der Gnadenformel in V.8. Das göttliche Erbarmen wird mit der Beziehung eines Vaters zu seinen Kindern verglichen. JHWH als Subjekt wird explizit genannt und auf die aus V.11 bekannte Größe der JHWH-Fürchtigen bezogen. Der Inhalt der drei Vergleiche ist logisch aufeinander bezogen, indem zuerst die Mächtigkeit des Gnadenwirkens genannt wird (Herrschaftsbereich von Himmel und Erde), dann seine Funktion (das Hinwegnehmen von Schuld) und schließlich seine Form des Erscheinens (in Gestalt der familiären Beziehung). Aus einer Perspektive betrachtet, die die Beziehungsstruktur zwischen Israel und JHWH ins Zentrum rückt, ließe sich von einer Klimax innerhalb der Vergleiche sprechen. JHWH kommt seinem Volk immer näher, indem er kraft seiner Gnade das Trennende hinwegnimmt und so nahe ist, wie nur ein Vater (oder eine Mutter) seinen (ihren) Kindern sein kann. Vv.14–16: V.14: Ein Anschluss an die Vv.11–13 wird über das כיerreicht, da alle vier Verse mit einem Kaf-Laut beginnen. Formal liegt in der ersten Vershälfte ein Verbalsatz und in der zweiten Vershälfte ein Partizipialsatz (Partizip passiv) vor.11 Das Perfekt stellt sowohl die Vorzeitigkeit dar als auch den Akt des Erkennens,12 der dem Gedenken vorausliegt und es als dauerhafte Konsequenz nach sich zieht.13 Indem die zeitliche Abfolge bedacht wird, erweist sich das Eingedenksein als Reaktion auf die Erkenntnis. Das Suffix der ersten Person plural zeigt die Bindung zu den vorherigen Versen. Es ergibt sich ein von Vers zu Vers wechselnder Rhythmus zwischen der Gruppe der „Wir“ (Vv.10.12.14) und der Gruppe der JHWH-Fürchtigen (Vv.11.13). Thematisch ist eine Verknüpfung zu V.13 im übergeordneten Motiv des
11 Das Partizip passiv qal von זכרist ein Hapax Legomenon. Dahood liest hier einen Infinitiv mit phönizischer Vokalisation, vgl. Dahood, Psalms, 28. 12 ידעgehört zu den sog. Verba resultativa und könnte daher auch präsentisch übersetzt werden, vgl. Bartelmus, Einführung, 74, Anmerkung 3. 13 In der Regel wird das Partizip aktiv gebraucht, um eine Dauer anzuzeigen, während das Partizip passiv abgeschlossene Sachverhalte bezeichnet. Zu den Grundfunktionen des Partizips vgl. Bartelmus, Einführung, 63–65. Goldingay weist darauf hin, dass, in Anlehnung an das Aramäische, das Partizip passiv zur Beschreibung eines Zustandes gebraucht werden kann, der durch das Subjekt selbst an sich hervorgerufen worden ist, vgl. Goldingay, John, Psalms. Volume 3. Psalms 90–150, BECOT, Grand Rapids 2008, 173. Nach Gesenius/Kautzsch liegt kein Partizip passiv vor, sondern „die gleichlautende Form, die von intransit. Verbis gebildet, inhärierende Eigenschaften und Zustände bezeichnet“ und übersetzt mit „sich erinnernd“. Gesenius, Wilhelm, Hebräische Grammatik. Völlig umgearbeitet von E. Kautzsch, Hildesheim 281962, § 50,3.2, 143.
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Schöpfers zu sehen. JHWH als Schöpfer ist wie ein Vater, erkennt das sterbliche Gebilde seiner Geschöpfe und weiß darauf in seinem Gedenken zu reagieren. Das durch das Lexem זכרbeschriebene Gedenken führt per Stichwortbezug zu V.18, dem Gebotsgehorsam der JHWH-Fürchtigen, die der Anordnungen gedenken, und zum Anfang des Psalms, indem durch den Appell nicht die Wohltaten zu vergessen assoziativ eine Brücke zum Gedenken JHWHs aufgebaut wird. Vv.15–16: In V.15 wird das in V.14 in den Psalm eingeführte Motiv der Vergänglichkeit thematisch fortgeführt. Syntaktisch auffällig ist der casus pendens, bei dem die Betonung auf dem Nomen liegt, das in Frontstellung genannt wird.14 Das finite Verb, hier ein Imperfekt zur Kennzeichnung eines generellen Sachverhaltes, steht erst am Ende des zweiten Halbverses. Wieder dominieren, wie in den Vv.11–13, Vergleiche, die allerdings nicht auf die Gnadenwirksamkeit JHWHs bezogen sind, sondern auf die Sterblichkeit des Menschen. Der starke Kontrast zwischen Machterweis des göttlichen Erbarmens und ohnmächtiger Sterblichkeit des Menschen legt den Fokus auf die Interaktion zwischen dem, der bedürftig ist und dem, der zu geben vermag. In der vegetabilen Metaphorik, der Mensch als verwelkende Blume, dominieren in phonetischer Hinsicht Zischlaute, die ein Klangbild für das Auslöschen des Lebens sein könnten (V.16 beginnt mit dem Wind, der über die Blume hinweggeht). V.16a beginnt mit einem Verbalsatz im Perfekt und schließt dann in der Form des Nominalsatzes eine verneinte Existenzaussage an. Wie in V.14 geht es auch hier darum, die Zeitfolge zu beschreiben, in der das Perfekt die Vorzeitigkeit abbildet und der Nominalsatz einen dauerhaften Zustand kennzeichnet. Die Zeitfolge wird in V.16b durch das Imperfekt fortgeführt, das die Konsequenz aus dem Zustand des Nichtseins beschreibt: auch in Zukunft wird der Mensch, wenn er verstorben ist, nicht mehr gekannt werden. Vv.17–18: Vers 17 ist nicht nur von der Satzlänge auffällig, sondern auch von der Satzart. Es handelt sich um einen Nominalsatz, der beide Vershälften umfasst. Typologisch, funktional und inhaltlich ist er mit V.8 zu vergleichen. Beide Verse beschreiben in einem Nominalsatz die Gnade JHWHs, wobei diese Beschreibung sowohl eine Form von zusammenfassender Unterschrift unter das Vorhergehende ist als auch eine Überleitung zum Nachfolgenden schafft. Wie V.8 beinhaltet auch V.17 eine elementare Kernaussage über die Handlungseigenschaft der göttlichen Gnade, die hier ihre zeitliche Ausdehnung an sich, nicht in Relation zum Zorn wie in V.8, formuliert. Stilistisch ist wieder das Mittel des Kontrastes (wie in den Vv.11–13 zu 14 Groß klassifiziert die Pendenskonstruktion unter der Kategorie „Aufnahme des Pendens in asyndetisch anschließendem Nominalsatz“. In diesem Fall entsteht durch die Isolation des nomen rectum in Frontstellung eine besonders starke Betonung desselben, vgl. Groß, Walter, Die Pendenskonstruktion im Biblischen Hebräisch. Studien zum althebräischen Satz I, Münchener Universitätsschriften, Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament 27. Band, St. Ottilien 1987, 153.155 f.
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V.14) gewählt, indem die von fernster Zeit zu fernster Zeit wirkende Gnade der Kurzlebigkeit des Menschen gegenübergestellt wird. Der Gedanke reicht über das Versende von V.17 hinaus und wird auch syntaktisch in V.18 durch den Anschluss weiterer Objektkonstruktionen fortgeführt.15 Stilistisch ist ein beide Verse umfangender synonymer Parallelismus zu erkennen, der in beiden Gliedern aus Subjekt, Zeitbezug und Objekt besteht (Gnade||Gerechtigkeitstaten; die fernsten Zeiten|| Kindeskinder; die JHWH-Fürchtigen||die Bewahrenden/Gedenkenden). Semantisch sind die Vv.17–18 mit den Vv.6–7 durch Stichwortbezüge (צדקות, )עשה, thematische Anknüpfung (Gesetzesbegriffe: פקודיםund )משפטיםund Aufnahme der durch die Präposition לgekennzeichneten Objektstruktur verknüpft. Das Lexem זכרschafft außerdem einen Bezug zu V.14. V.19: Auch V.19 zeigt wie V.15 einen casus pendens, allerdings ist das betonte Subjekt JHWH, dessen Herrschaft thematisiert wird. Beide Verbformen sind im Perfekt, vermutlich um die für alle Zeiten vollendete himmlische Inthronisation als Zeichen des Königtums JHWHs auszudrücken. Thematisch bilden die beiden Pendenskonstruktionen in V.19 und V.15 einen Gegensatz: der vergängliche Mensch und JHWHs universale Herrschaft. Außerdem ist eine Klimax festzustellen, die sich von individuellen Wohltaten JHWHs über die Handlungen am Volk Israel bis zum universalen Königtum im Verlauf des Psalms aufbaut. Vers 19 ist hinsichtlich seiner Funktion im Textgefüge ein Schwellenvers, der den Mittelteil abschließt und gleichzeitig zum Schlussteil überleitet. Er erweist sich als anschlussfähig an den Mittelteil des Psalms durch die Terminologie des Königtums JHWHs, weil sowohl das Motiv Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit als auch die Gerechtigkeitstaten und die Rechtsurteile für die Unterdrückten auf JHWH als (gerechten und barmherzigen) König verweisen. Mit dem Perspektivwechsel auf die himmlische Welt, dessen Mittelpunkt der königliche Thron darstellt, ist die Überleitung zu Vv.20–22 gegeben. Vv.20–22: Alle drei Verse werden in der ersten Vershälfte mit demselben Imperativ (ב-Akrostichie) eingeleitet (in V.22 in beiden Vershälften). Durch die sechsmalige Lobaufforderung am Anfang (Vv.1–2) und am Schluss (Vv.20–22) wird der Psalm gerahmt und mit Ps 104,1 verbunden. Die Vv.20–21 sind formal parallel aufgebaut und richten sich an die himmlischen Wesen, die durch das Suffix der dritten Person singular zu JHWH in Beziehung gesetzt und durch weitere Appositionen bestimmt werden. Der Ausdruck „Helden von Kraft“ in V.20 ( )גברי כחist ein Hapax Legomenon. Das Lexem ( עשהVv.20.21.22) schafft einen Verweis auf V.18
15 Aufgrund dieser Auffälligkeiten in V.17 und V.18 sind von vielen Exegeten literarkritische Operationen durchgeführt worden, um die vorliegende Satzstruktur anzugleichen. Die verschiedenen Varianten werden in Punkt 5.1 Ps 103,17f: Aufbau und Funktion diskutiert.
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und auf V.6, durch welchen das aktive Tun JHWHs, das der JHWH-Fürchtigen und das der Engel aufeinander bezogen werden. In V.22a wird der Kreis der zum Lob Aufgerufenen auf alle Werke erweitert, um dann in V.22b wieder auf die einzelne Seele reduziert zu werden. Es wäre möglich, die einzelne Seele als einen Fall der Synekdoche anzusehen, indem von der Gattung (alles, was geschaffen ist) auf das Individuum geschlossen wird et vice versa. Angemessener scheint es jedoch zu sein, die Betonung der Gesamtheit des Herrschaftsbereiches JHWHs wahrzunehmen (der Begriff כולwird viermal in den Vv.19–22 verwendet), welche die drei Gruppen der geschaffenen Wesen – Engel, alle Werke, die einzelne Seele – abbilden. Es verhält sich also so, dass die Synek doche, in der Unterart pars pro toto, den Bezug zwischen Ganzheit und spezifischen Erscheinungsformen als Teil der Ganzheit darstellt. Stilistisch sind die Verse 20–22 in jeweils einzelnen versumfassenden Parallelismen verfasst (Vv.20f synonym und V.22 synthetisch), bilden aber auch zusammengelesen einen alle drei Verse umfassenden Parallelismus. Ausgehend vom Lobaufruf könnte dieser als synonym bezeichnet werden, wird aber die Synekdoche bedacht, welche die Ganzheit aller lobenden Wesen darstellt, legt es sich näher, ihn als synthetisch zu bezeichnen. V.22, der innerhalb der überwiegenden zweistichigen Versstruktur aufgrund des Trikolons auffällig ist, spiegelt die in den drei Versen beschriebene Dreigliedrigkeit von Engeln, Menschen und allen Werken auch formal in seinem Aufbau wider. Außerdem ist V.22b identisch mit V.1a, wodurch eine Art perpetuierendes Meditieren des Psalms erzeugt wird, indem wieder auf den Anfang verwiesen wird.
1.2.1 Ergebnisse Der Zusammenhang im Psalm, sowohl von Rahmen und Mittelteil als auch in den zahlreichen Motiven in den Versen des Mittelteils an sich, entsteht grammatikalisch durch den Gebrauch von sich an prägnanten Stellen wiederholenden grammatikalischen Strukturen, z. B. die Nominalsätze in V.8 und V.17 oder die Pendenskonstruktionen in V.15 und V.19, wie auch der Gebrauch von Partizipien, um Handlungsträger und Funktion zu beschreiben (Vv.6.18.20f). Semantisch werden Verbindungen durch Leitworte und Stichwortbezüge sowie durch Wortfelder geschaffen. Folgende Wortfelder sind zu nennen: 1. Gnade: Im Zentrum dieses Wortfeldes stehen die Nomen Gnade (Vv.4.8.11.17 )חסדund Barmherzigkeit (V.4 רחם, als Verb in V.13), die umgeben werden von den Adjektiven barmherzig (V.8 )רחום, gnädig (V.8 )חנוןund reich (V.8 )רב. Weiterhin muss hier die Qualität der Gnade angegeben werden, die zum einen zeitlich, von fernsten Zeiten bis in fernste Zeiten (V.17 )עולם, zum anderen handlungsspezifisch, mächtig (V.11 )גבר, bestimmt wird. Als Gegenüber zur Gnade wird der Zorn genannt, welchem ebenso eine zeitliche, nicht für immer, nicht für fernste Zeiten
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(V.9 לא לעולם,)לא לנצח, als auch eine handlungsspezifische Bestimmung, langmütig (V.8 )ארך16, zugeschrieben wird.17 Durch das Lexem ( גברmächtig) werden die Gnade (V.11) und das Tun der Engel (V.20 Helden von Kraft: )גברי כחmiteinander in Beziehung gesetzt, die beide als himmlische Größen mit einer starken Wirkmächtigkeit ausgestattet sind. 2. Handlung: Dieses Wortfeld wird im Kern geprägt durch das Verb tun/machen ( )עשהin seinen unterschiedlichen Derivaten. Das Partizip aktiv von עשהwird dreimal verwendet, um JHWH und seine Engel als Handelnde darzustellen (Vv.6.20.21). JHWHs Handeln durchbricht den Zusammenhang von Tun und Ergehen (V.10) und zeigt sich daher als Wohltat (Vv.2.6). Das Handeln der Engel ist ganz und gar fokussiert auf die Weisung JHWHs, auch die JHWH-Fürchtigen werden gekennzeichnet durch die Übereinstimmung von Weisung und Tun ( עשהals Infinitiv constructus in V.18). Zusätzlich zur ethischen Dimension des Handelns (V.6) und zum Gebotsgehorsam (Vv.18.20.21) besteht eine weitere Komponente im Schöpfungshandeln. Alle Werke JHWHs ( מעשהV.22) haben die Aufgabe, ihn zu loben. Das Lexem עשהverbindet im Psalm die göttliche, himmlische und irdische Handlungsebene miteinander, wobei jegliches Handeln von JHWH her bestimmt ist (Gebote) und auf ihn hin ausgerichtet wird (Lobpreis). 3. Vergänglichkeit: Eine spezielle Kategorie des Schöpfungshandelns betrifft das Motiv der Sterblichkeit der Geschöpfe. Das Wortfeld wird aufgespannt durch den Gegensatz von Menschenzeit und Gotteszeit, zeigt aber auch Verben der Vermittlung und Kompensation. Die anthropologische Seite ist durch die Metaphorik von flüchtiger und nichtiger Vegetation beschrieben, die göttliche Seite von einer alle Zeiten überdauernden Existenz und umfassenden Herrschaft (besonders deutlich an den Pendenskonstruktionen in V.15 und V.19 und an den zeitlichen Bestimmungen in V.16 und 17). Als den Gegensatz überbrückende Verben können das Erkennen und das Gedenken in V.14 genannt werden sowie das väterliche Erbarmen in V.13. Durch das Erbarmen (V.13) und die Gnade (V.17), welche die Rede von der Vergänglichkeit rahmen, entsteht im Leitwortsystem des Psalms ein Rückbezug auf die Gnadenformel und ihre Auslegung, die vor allem durch das Motiv der Sündenvergebung bestimmt ist. Die Vergänglichkeit kann somit auf menschlicher Seite nicht ohne die Schuldigkeit betrachtet werden und auf göttlicher Seite nicht ohne die Gnadenhandlung der Schuldvergebung. Dies wird auch durch die assoziative Verbindung zu den Vv.3–5 deutlich, indem die Motive Erlösung aus dem Grab und Erneuerung
16 Sicher könnte auch daran gedacht werden, die Bestimmung „langmütig“ zeitlich aufzufassen, allerdings sagt sie doch mehr über die Handlungseigenschaft JHWHs aus, die als geduldig beschrieben werden könnte. 17 Die Begriffe gnädig und barmherzig erfüllen eine Rahmenfunktion um das Zentrum der sog. Gnadenformel. Eine graphische Übersicht findet sich bei Metzger, Lobpreis, 126.
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der Jugend Kontrastbegriffe zur Vergänglichkeit darstellen, welche durch die Schuldvergebung in V.3 eingeleitet werden. 4. Schuld und Vergebung: Die Schuld der im Psalm genannten menschlichen Größe (als „Ich“ und „Wir“) wird in drei Begriffen ausgesagt (Vv.10.12 פשע, חטא, )עון, womit eine umfassende Schuldigkeit ausgesagt wird. Die Reaktion auf diese Schuld wird semantisch und inhaltlich in verschiedenen Komponenten beschrieben: Die Schuld wird vergeben (V.3 )סלח, das bedeutet: eine zeitliche (V.9) und qualitative (V.10) Begrenzung des Zorns, eine Entfernung der Schuld durch die Gnade und zuletzt eine Aufwertung der Lebenszeit durch die Teilhabe an Gnade und Erbarmen (V.13), die sich im Gotteslob kundtut (V.2). Durch die Wortfelder werden der semantische Zusammenhang und das ausgeklügelte Leitwortsystem des Psalms deutlich, der in sich somit eine hohe Kohärenz aufweist. Die Verwobenheit der einzelnen Motive miteinander wird in der folgenden Tiefenexegese anhand von Vergleichstexten weiter erarbeitet, um die jeweiligen Vorstellungswelten und ihre Bezüge zueinander deutlicher zu erfassen.
1.3 Gliederung Die Gliederung ergibt sich aus den aufgezeigten sprachlichen Zusammenhängen, aus den grammatikalischen Strukturen und aus den semantischen Wortfeldern. In der Kommentarliteratur hat sich die Mehrheit der Ausleger für einen strophischen Aufbau des Psalms entschieden.18 Die vorliegende Form der Gliederung
18 Seybold sieht drei Teile mit jeweils einer sechszeiligen Strophe (Vv.1–6;9–14;17–22) und eingefügten Schriftzitaten in Vv.7f und Vv.15f, vgl. Seybold, Die Psalmen, 402. Vier Strophen erkennen: Anderson (Vv.1–2: Hymnic Call; Vv.3–5: The Forgiving And Redeeming God; Vv.6–18: Yahweh’s Covenant Loyalty; Vv.19–22: All The Works Of God Praise Him), vgl. Anderson, A.A., The Book of Psalms, Vol. II. Psalms 73–150, NCB, London 1972, 712–717; Lamparter entwickelt die vier Strophen in Anlehnung an den Choral „Nun lob, mein Seel, den Herren“ (EG 289) von Johann Gramann (Vv.1–5: Wohltaten; 6–12: Gerechtigkeit; 13–18: Barmherzigkeit; 19–22: Herrlichkeit), vgl. Lamparter, Helmut, Das Buch der Psalmen II. Psalm 73–150, Die Botschaft des Alten Testaments. Erläuterungen alttestamentlicher Schriften, Band 15, Stuttgart 1959, 177f; Dahood gliedert den Psalm in Vv.1–5: Danksagung für Wohltaten; 6–10: historische Belegstellen für JHWHs Großmütigkeit; 11–18: Reflektionen über Gott und den Menschen; 19–22: Lobpreis als Ergebnis und Abschluss, vgl. Dahood, Psalms, 24. Fünf Strophen formiert Willis (Vv.1–5;6–10;11–14;15– 19;20–22), vgl. Willis, Timothy M., „So Great is his Steadfast Love“: A rhetorical Analysis of Psalm 103, Bib. 72, 1991, 525–537; 527 f. Gliederungen, die nicht strophisch aufgebaut sind, finden sich z. B. bei: Zenger, der den Vers in drei Teile gliedert (Vv.1–5: Aufgesang; 6–18: Hauptteil; 19–22: Abgesang), wobei er im Mittelteil folgende Struktur erkennt: Vv.6–7: Themenangabe; dann drei sechszeilige Unterabschnitte (Vv.8–10;11–13;14–16) und eine Zusammenfassung in den Vv.17–18, vgl. Zenger, Psalmen, 413 f. Auch Hossfeld sieht drei Teile, nimmt aber keine thematischen Untergliederungen mehr vor (Teil I: Hymnischer Aufgesang und Gnadenformel in den Vv.1–10; Teil II: Ausdeutung von göttlicher Liebe und Erbarmen in den Vv.11–18; Teil III: Hymnischer Abgesang
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stellt vor allem die Konzentration des gesamten Psalms auf die sog. Gnadenformel heraus, indem sich die einzelnen Motive um die Formel herum gruppieren.19 Der Beginn des Mittelteils leistet die Hinführung zur Formel, der zweite Teil des Mittelteils ihre Auslegung. Sowohl in der Hinführung als auch in der Auslegung gibt es Stichwortverbindungen zur Gnadenformel, die über die Begriffe „Gnade, Barmherzigkeit und Zorn“ verlaufen (Fettdruck in der Gliederung). Auch die Stichwortverbindungen zeigen durch die Häufigkeit ihres Vorkommens einen klaren Überhang der Gande, der in der Formel qualitativ bestimmt wird. Der Rahmen des gesamten Psalms trägt die Gnadenformel als innersten Grund in sich, da aus den in ihr beschriebenen Handlungseigenschaften JHWHs der Lobpreis entspringt. A Rahmen: Vv.1–2: Der Lobpreis B Mittelteil: Vv.3–18 Vv.3–7: Die Wohltaten JHWHs als Hinführung zur Gnadenformel Vv.3–5: Die Reihung der Wohltaten für die נפש V.4: Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit Vv.6–7: Die Wohltaten für die Unterdrückten, Mose und Israel V.7: Mose/Sinai-Kontext V.8: Die Gnadenformel Vv.9–18: Die Auslegung der Gnadenformel Vv.9–10: Rahmung durch die Begrenzung des Zorns Vv.11–13: Die Entfernung der Schuld V.11: Die Wirkmächtigkeit der Gnade Vv.14–16: Die Vergänglichkeit V.13: Die Barmherzigkeit JHWHs Vv.17f: Rahmung durch die ewige Gnade A Rahmen: Vv.1920–22: Der Lobpreis in himmlischer und irdischer Welt
und Rahmenvers in den Vv.19–22), Hossfeld/Zenger, Psalmen, 57 f. Konzentrische Gliederungen finden sich bei Metzger, Lobpreis, 125 (für die Vv.1–13); Westermann, ausgewählte Psalmen, 169 und Oeming, Psalmen, 84. 19 Die in Fettdruck gesetzten Stichworte zeigen den direkten sprachlichen Zusammenhang zur Gnadenformel. 20 Wie in der sprachlichen Analyse beobachtet, ist V.19 ein Scharniervers, der sowohl den Mittelteil abschließt als auch den Schlussteil einleitet. Er wird in der Gliederung zum Schlussteil sortiert, da es sich nahelegt, die Szenerie des himmlischen Herrschaftsbereiches als Setting für den in den Vv.20–22 beschriebenen Engelsgehorsam wahrzunehmen.
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1.4 Überlegungen zur Gattung Wie im Forschungsüberblick ersichtlich wurde, hat die Frage nach der Gattung von Psalm 103 seit Gunkel große Aufmerksamkeit beansprucht. Letztlich lässt sich Psalm 103 aufgrund des Reichtums an formaler und inhaltlicher Gestaltung nur schwer in ein kategorial streng geordnetes Gattungssystem einordnen. Der Psalm beginnt formal mit einem individuellen hymnischen Lobaufruf (Aufgesang) an die eigene Seele des Beters, der auch als Beraka21 bestimmt werden kann (Vv.1–2). Es schließen sich hymnische Partizipien an (Vv.3–5), welche die Rettungstaten JHWHs beschreiben. Diese Taten richten sich auf der sprachlichen Oberfläche des Psalms an die individuelle Seele, die in den Vv.1–2 zum Lob aufgefordert wird. Durch dieses individuelle Moment rückt der Psalm in die Nähe der Danklieder eines Einzelnen (Toda). Die Vv.6–7 knüpfen an den partizipialen Hymnenstil an (V.6), der aber durch die Bedrückten/Israel als Empfänger der Rettungstaten JHWHs kollektiv verfasst ist. Ab V.8 wird die Reihe der hymnischen Partizipien beendet durch die sog. Gnadenformel und ihre Auslegung in den Vv.9–13. In den Vv.14–18 schließt sich eine weisheitliche Sentenz an, welche die Vergänglichkeit des Menschen und die Beständigkeit der Gnade JHWHs beschreibt. Der Mittelteil ist durchgängig kollektiv geschrieben (eine Wir-Gruppe, die JHWH-Fürchtigen, die „Gattung“ Mensch). Formal auffällig sind die begründenden כיSätze, die beide Abschnitte durchziehen (Vv.11.14.16). Der Psalm endet in Vv.19–22 mit einem kollektiven hymnischen Lobaufruf (Abgesang). In der Kommentarliteratur hat dieser Befund zu verschiedenen Lösungsvorschlägen geführt, die vor allem davon abhängig sind, wie stark das betende Ich in den Vv.1–5 als individuell gewichtet und die Relation zu den kollektiven Formen bestimmt wird. Umso stärker die Annahme einer persönlich-individuellen Glaubenserfahrung im Mittelpunkt steht, desto größer ist die Tendenz, den Psalm als Danklied anzusehen.22 Es überwiegen allerdings Beschreibungen, welche die Gattung als Mischform ansehen, als ein Danklied in der Form eines Hymnus/hymnischen Dankliedes.23 Als eine Begründung für die Mischform wird von Einzelnen eine Art der Entwicklung vom Danklied zum Hymnus angenommen.24 Innerhalb der Forschungsmeinungen gibt es aber auch die Exegeten, die versuchen, das Verhältnis von Individuum und Kollektiv als eines zu bestimmen, das in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander besteht. Das Individuum lässt sich nicht getrennt
21 Zenger, Morgenröte, 197. 22 Dies lässt sich vor allem an den alten Auslegungen zum Ende des 19. Jahrhunderts sehen, die den Psalm als eine Art „Erfahrungsbericht“ eines individuellen Beters lesen. Vgl. z. B. Delitzsch, Psalmen, 598f; Hupfeld, Psalmen, 91. Etwas später auch Kittel, Psalmen, 330. 23 Gunkel, Psalmen, 442; Deissler, Psalmen, 402; Hossfeld/Zenger, Psalmen, 55; Kraus, Psalmen, 871. 24 Goldingay, Psalmen, 165. Er bezieht sich auf Mowinckel, indem er konstatiert, dass die Rettungserfahrung, die ein Einzelner macht, den Ausgangspunkt für einen Hymnus darstellt.
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vom Kollektiv betrachten, wie das Kollektiv nicht unabhängig von den Individuen bestimmt werden kann.25 Die formgeschichtliche Bewertung der Gewichtung von Individuum und Kollektiv zieht Konsequenzen für die Bestimmung des „Sitzes im Leben“ nach sich. Individuelle Dankliedansätze sehen die Herkunft des Psalms in der Rettungserfahrung eines Einzelnen (z. B. Heilung von schwerer Krankheit), damit verbunden ist die Einordnung in die kultischen Handlungsformen der Restitution und Danksagung.26 In stärker kollektiv orientierten Exegesen steht oft die Annahme einer Funktion des Psalms für gemeindliche Zwecke liturgischer27 oder seelsorglicher28 Art. Eine dritte Gruppe von Auslegern trennt sich von starren Gattungsmustern und betont den von vornherein anthologisch-systematischen Charakter des Psalms, der als eine Art weisheitliches Kompendium gelesen wird.29 Im Folgenden sollen die oben kurz genannten Formelemente noch einmal etwas genauer untersucht werden, um zu einer Position innerhalb der Gattungsfrage zu gelangen. Im Überblick sind die meisten Übereinstimmungen innerhalb der Gattung Hymnus aufzuweisen.30 Allerdings stellt sich gerade bei dieser Gattung das Problem ein, aufgrund der ihr inhärenten Formenvielfalt, eine Art idealtypisches Gattungsmuster herauszuarbeiten.31 Aus diesem Grund plädiert Spie-
25 Hier ist vor allem Gerstenberger zu nennen, Gerstenberger, Psalms, 216. Ihm folgend und den Gedanken von der wechselseitigen Beeinflussung von Individuum und Kollektiv innerhalb der Gemeinde weiterdenkend Goldingay, Psalms, 165.176 f. „The blessings described include ones that apply to the individual’s deliverance (healing and rescue from death), whereas the pattern of God’s acts in relation to Israel are described in different terms, though it still might be that the individual’s self-bidding is the call of a worship leader seeking to involve the whole people in praise for what God has done for them, so that the ‚I‘ and the ‚we‘ are ultimately the same.“ AaO., 165. 26 Diesen Ansatz verfolgt am Stärksten Seybold, Gebet, 142–146. Alle nachfolgenden Auslegungen beziehen sich auf ihn. 27 Dahinter steht die Vorstellung, Psalm 103 als liturgisches Stück zu lesen, das als Wechselgesang für einen Einzelnen und die Gemeinde komponiert ist. Vgl. Schmidt, Psalmen, 187; Allen, Psalms, 20f u. a. m. 28 „Looking at the use of a text in many cases can answer questions of multiplicity of forms or variety of (theological) outlooks. Psalm 103 reflects the views and social realities of a complex body of Yahweh believers in a pluralistic imperial society of the ancient Near East. Individual members of this religious community certainly crave attention in their basic human needs for physical and spiritual well-being, and they get it in this psalm. Psalm 103, in other words, exhibits a lot of pastoral care, which to my mind took place within the worship service or the regular assemblies of the community.“ Gerstenberger, Psalms, 220. 29 Vgl. Becker, Israel deutet, 74f; Oeming, Psalmen, 85. 30 Als Hymnus wird der Psalm von folgenden Auslegern gelesen: Zenger, Morgenröte 195; Leuenberger, Konzeptionen, 179 (beide bestimmen ihn explizit als JHWH-König-Hymnus); Westermann, ausgewählte Psalmen, 168; Gerstenberger, Psalms, 220; Dahood, Psalms, 24 u. a. m. 31 Einen umfassenden Versuch den Hymnus als Gattung zu kategorisieren legt Crüsemann vor, der die drei Grundformen „imperativischer Hymnus“, „partizipialer Hymnus“ und „Hymnus eines Einzelnen“ mit diversen Unterformen herausarbeitet. Crüsemann, Frank, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, WMANT 32, Neukirchen-Vluyn 1969. In dieser Untersuchung wird deutlich, wie viele unterschiedliche Ausprägungen in den Unterformen bestimmt und benannt werden, so dass eine Rückbindung an die Grundformen manchmal ein dif-
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ckermann dafür, der vor allem die starke inhaltlich-theologische Komponente der hymnischen Texte in den Vordergrund stellt, nicht von einer Gattung zu sprechen, sondern „von einer Textgruppe, als deren Intention das Gotteslob durch eine Reihe variabler formaler und inhaltlicher Indikationen erkennbar ist.“32 Diesem Ansatz folgend werden die formalen und inhaltlichen Indikationen, welche Ps 103 in seiner individuellen Gestaltung als hymnischen Text zu erkennen geben, beschrieben. Am deutlichsten zu erkennen sind die Aufrufe zum Gotteslob in den Rahmenteilen des Psalms, die im Anfangs- und Schlussvers (Vv.1.2.22b) als Selbstaufforderung des eigenen Lebens und in den Vv.20–22a als Aufforderung an die himmlischen Wesen und alle Werke ausgesprochen werden.33 Das zweite Formelement besteht in der Reihung von hymnischen Partizipien, die JHWHs Wohltaten an den Menschen aufzählen. Eine Eigenart des Psalms aber ist die enge Verbindung zwischen dem Handeln JHWHs, das durch die Partizipien beschrieben wird, und dem Betenden, der als Suffix der zweiten Person singular das Objekt, an dem gehandelt wird, bestimmt (z. B. der deine Schuld vergibt). So entsteht der Eindruck einer großen Nähe und individuellen Zuwendung JHWHs zu einem einzelnen Beter. Aufgrund der Beschreibung der Rettungstaten wäre zu überlegen, ob Ps 103 nicht doch eine Nähe zum Danklied des Einzelnen aufweist. Es gibt sowohl stilistische als auch inhaltliche Gründe,34 das Ich als Teil des fiziles Unterfangen ist. Eine Kritik am Ansatz Crüsemanns, vor allem was den Rückschluss von in exilisch-nachexilischen Texten vorkommenden Formen auf die der vorexilischen Zeit betrifft, wird geleistet in Spieckermann, Hermann, Alttestamentliche „Hymnen“, in: Burkert, Walter/ Stolz, Fritz, Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich, OBO 131, Göttingen 1994, 97–108; 102. Westermann entscheidet sich für eine gänzlich andere Terminologie, da er einen kategorialen Unterschied in der Bestimmung des Hymnus (formal bestimmt) und des Dankliedes (inhaltlich bestimmt) feststellt, aber keinen inhaltlichen, indem das Danken zum Loben führe und somit die beiden Gattungen nicht getrennt zu betrachten seien. Er nennt daher das Danklied des Einzelnen, dem eine spezielle Rettungstat zugrunde liege, „berichtendes Lob“ und den Hymnus mit der allgemeinen Erfahrung der Taten JHWHs „beschreibendes Lob“. Psalm 103 wird von ihm in die Spätzeit der Gattung „beschreibendes Lob“ eingeordnet, der rudimentär noch die zentralen inhaltlichen Stichworte vom Schöpfer und Herrn der Geschichte ausführe. Vgl. Westermann, Claus, Lob und Klage in den Psalmen. 5., erweiterte Auflage von Das Loben Gottes in den Psalmen, Göttingen 1977, 24–26.102. Siehe auch Westermanns Auslegung von Ps 103, in: Ders., Ausgewählte Psalmen. Übersetzt und erklärt von Claus Westermann, Göttingen 1984, 168. 32 Spieckermann, „Hymnen“, 99. 33 Crüsemann sieht in Ps 103 deswegen zwei verschiedene Formen von Hymnen, „den Hymnus eines Einzelnen“ und „den imperativischen Hymnus“, wobei, nach seiner These, der Aufruf an die eigene Seele eine Umformung des pluralischen Aufrufs sei, dem der Öffentlichkeitscharakter fehle und der sich vom rituellen Kult abgelöst habe. Vgl. Crüsemann, Formgeschichte, 295.301. Bei einem Aufruf an die eigene Seele kann es sich kaum um einen Akt reiner persönlicher Frömmigkeit außerhalb des Kultes handeln. Spieckermann denkt nicht an zwei unterschiedliche Formen, sondern sieht im zentralen Punkt des Gotteslobes die Vereinigung von vergänglichen irdischen Wesen und himmlischen Heerscharen. Vgl. Spieckermann, „Hymnen“, 107. 34 Stilistisch betrachtet, ist die den Psalm prägende Darstellung einer Gesamtheit durch das Mittel der Synekdoche wahrzunehmen: Ich, Wir und die Gottesfürchtigen sind insgesamt als das Kollektiv Israel anzusehen. Israel und die himmlischen Wesen stehen gleichsam für alle Werke, die
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Kollektivs Israel zu begreifen und somit eher gegen ein individuelles Danklied zu votieren. Außerdem sprechen noch andere Gründe dagegen: Die Beschreibung der Rettungstaten ist in so genereller Art gefasst, dass sie mehr ein grundsätzliches Handeln JHWHs an seinen Geschöpfen darstellen als eine einzelne spezifische Rettungstat.35 Auch die Toda-Formel und eine Beziehung zum Opfer sind in Ps 103 nicht zu erkennen. Es bleibt daher hier bei einer Einordnung des Psalms in die Kategorie des Hymnus, die insgesamt eine stärkere Übereinstimmung in den einzelnen Formelementen zeigt.36 Die Partizipien nehmen bekannte hymnische Prädikationen und Motive auf, verwenden aber, was die detaillierte Auslegung zeigt, kreative und neue Kombinationen. Gerade die von Spieckermann beobachtete Konzentration auf den Inhalt des Hymnus als „theologische Reflexion“ der „zwielichtige[n] conditio humana im Lichte der von Gott gestifteten Relation zwischen sich und dem Menschen“37 macht Ps 103 zum Inbegriff eines hymnischen Textes. Im Mittelteil des Psalms ließe sich aus streng formkritischer Perspektive keine gattungstypische hymnisch geprägte Sprache festmachen, er könnte aber als weitergehende Deutung der hymnischen Formelemente am Anfang und am Schluss betrachtet und somit vom Inhalt her als deren sprachlich freier gestalteter Bestandteil angesehen werden. In diesem Sinne betrachtet ihn auch Crüsemann, der durch seine Fokussierung auf die theologische Reflexion der hymnischen Aussagen nah an der Argumentation Spieckermanns ist, obgleich ihre Thesen hinsichtlich der Gattungsfrage divergieren: […] ja der ganze Mittelteil stellt nahezu so etwas wie eine belehrende Reflexion über Jahwes Gnade dar. […] Hier leben die alten hymnischen Redeformen weiter, doch werden sie
JHWH aufgrund seiner Gnade loben. Inhaltlich sind auch in der individuellen Darstellung der Rettungstaten für die Seele kollektive Traditionen im Hintergrund zu erkennen. Vgl. dazu 3.2.1 Krankheit und Heilung. In der Forschung hat vor allem Baethgen die kollektive Deutung, auch in den individuell formulierten Teilen des Psalms, herausgearbeitet. Vgl. Baethgen, Psalmen, 311. 35 Vgl. zu diesem Argument Crüsemann, Formgeschichte, 303. Hinzu kommt, dass die Rettungstat gerade nicht als Ich-Erzählung beschrieben wird, sondern durch die partizipialen Ausdrücke. Die im Wechsel gestaltete doppelte Sprechrichtung, die den Charakter der Danklieder prägt, ist in diesem Psalm nicht vorhanden (die Aufforderung an die eigene Seele im Rahmenteil darf nicht damit verwechselt werden). Vgl. zur doppelten Sprechrichtung, wie sie z. B. in Ps 118 oder Ps 30 vorliegt, Crüsemann, Formgeschichte, 264. 36 Vgl. zur Toda-Formel und zur Opferthematik des Dankliedes Crüsemann, Formgeschichte, 276– 282. 37 Spieckermann, „Hymnen“, 104. Interessanterweise argumentiert gerade Spieckermann, der sonst so stark in individuellen Ausprägungen denkt, was die hymnischen Inhalte in Ps 103 angeht, in erstaunlich engen Kategorien. So weist er die von Westermann gesetzten hymnischen Zentralmotive von „Lob des Schöpfers“ und „Lob des Herrn der Geschichte“ als in Ps 103 fehlend ab und konzentriert sich stattdessen ganz auf die Gnadenformel als Zentrum des Psalms. Vgl. Spieckermann, „Hymnen“, 105 f. Die Auslegung des Psalms in dieser Arbeit wird versuchen zu zeigen, dass und wie die verschiedenen Traditionen gerade von JHWH als Schöpfer und gnädiger Herrscher/ König zusammenhängen.
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mit großer Freiheit gehandhabt. Nur selten werden sie durch Nebeneinanderstellung kombiniert, […], meist ist eine ausgeprägte ästhetische Virtuosität mit einem starken theologischen Aussagewillen am Werk, so daß aus dem freien, schöpferischen Umgang mit den überkommenden hymnischen Formen einige der schönsten wie theologisch großartigsten Psalmen hervorgingen (Ps 8; 103; 104).38
Aus dieser Sichtweise lässt sich annehmen, dass sich im Mittelteil des Psalms doch stärkere hymnische Formen verbergen, als bisher angenommen. Hymnisch auffällig sind die drei כיSätze mit einem Verb im Perfekt in den Vv.11.14.16. Crüsemann, der diese Satzform als Element des imperativischen Hymnus analysiert hat, möchte das כיmehr deiktisch als begründend sehen, räumt aber ein, dass die Präposition כיzum einen eine Vielzahl von Bedeutungsnuancen trägt, zum anderen sich eine begründende Funktion aus dem deiktischen Charakter herausgebildet hat.39 :ל־האָ ֶ֑רץ גָּ ַ ֥בר ַ֝ח ְס ֗דֹּו ַעל־יְ ֵראָֽיו ָ ִ ֤כּי ִכגְ ֣בֹ ַהּ ָ ֭שׁ ַמיִ ם ַע11 11 Ja, wie hoch der Himmel über der Erde ist, ist seine Gnade mächtig über denen, die ihn fürchten.
י־הוּא יָ ַ ֣דע יִ ְצ ֵ ֑רנוּ ֖ ִכּ ׃ ָ ֝ז ֗כוּרי־ע ָ ֥פר ֲא ָנ ְֽחנוּ ָ ִכּ14 14 Denn er hat unser Gebilde erkannt. Eingedenk ist er, dass wir Staub sind.
קֹומֹו׃ ֽ ירנּוּ ֣עֹוד ְמ ֖ ֶ א־יַכּ ִ ֹ ה־בֹּו וְ ֵא ֶינ֑נּוּ וְ ל ֣ ִ ֤כּי ֣ר ַוּח ָ ֽע ְב ָר16 16 Denn ist ein Wind über ihn gegangen, ist er nicht mehr und seine Stätte erkennt ihn nicht mehr.
Aufgrund des hohen theologischen Gehaltes dieser Verse, der als Basis der den Psalm bestimmenden Gnadentheologie angesehen werden kann, steht hier die begründende Funktion der Präposition im Vordergrund. Die Vergänglichkeit und Schuldhaftigkeit des Menschen werden in Beziehung zu JHWHs Gnade und zu seinem Schöpfersein gesetzt, wodurch der Aufruf zum Gotteslob am Anfang und am Ende des Psalms seine Begründung findet. Die Verortung der כיSätze im Mittelteil erlauben sowohl das Erstellen von kleineren thematischen Begründungseinheiten (Schuld – Gnade: Vv.9–11; Vergänglichkeit – Gedenken: Vv.14–16), als auch deren 38 Crüsemann, Formgeschichte, 304. 39 Vgl. zur Funktion des כיSatzes Crüsemann, Formgeschichte, 32–35. Seine These von der deiktischen Funktion des כיbegründet Crüsemann mit der Durchführung der Hymnen im Kult, wobei der כיSatz der Vollzug der Aufforderung, also das von der Gemeinde gesungene oder gesprochene Gotteslob, darstellt.
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Verknüpfung und Deutung im Horizont des gesamten Psalms. Kritisch könnte angemerkt werden, dass in V.11 und in V.16 nicht JHWH das unmittelbare Subjekt der Taten ist. Allerdings ist „seine Gnade“ (V.11) durch das Suffix auf JHWH bezogen und bezeichnet zudem noch eine seine Handlungseigenschaften; auch ein „Wind/Hauch“ ( רוחV.16) assoziiert die göttliche רוח, die mit JHWHs Schöpfersein verbunden ist. Die drei כיSätze können daher als ein Beispiel für die große Freiheit in der Formsprache herangezogen werden, welche den Psalm prägen. Wird der Psalm spezifisch als JHWH-König-Hymnus gelesen, wie es von Zenger und Leuenberger gemacht wird, muss deutlich gemacht werden, dass er als ein solcher thematisch ein anderes Profil zeigt als andere Hymnen dieser Art. Die Königsherrschaft JHWHs und die darin enthaltene Rechtsordnung werden dezidiert bestimmt als Gnadenherrschaft.40 Im Hymnus wird diese Gnadenherrschaft nicht nur gepriesen, sondern auch in weisheitlichen Traditionen reflektiert, die bis zum innersten Wesen des Menschen und den darauf reagierenden Handlungsoptionen JHWHs vordringen (begründende Sätze in den Vv.11.14.16). Die von den meisten Auslegern angenommene kultische Verwendung erscheint von hoher Plausibilität, allerdings nicht nur aufgrund des hymnischen Charakters der Danksagung, sondern vor allem durch den Schlussteil, den hymnischen Lobaufruf an die Engel und die gesamte Schöpfung. Es legt sich nahe, darin die Vorstellung einer Partizipation der irdischen Kultgemeinde am himmlischen Geschehen zu erkennen.41
40 „Letztere [gemeint ist die Königsherrschaft JHWHs als Rechtsordnung; Hinzufügung ACF] bildet hier somit den universalen (Ordnungs-)Horizont, in dem der Vollzug des חסדsituiert wird, sich stets neu als beständig wirksam erweist und so die מלכותvon innen her prägt.“ Leuenberger, Konzeptionen, 187. 41 Vgl. dazu Punkt 6 Der Himmlische Gottesdienst.
2. Vv.1–2: Die Aufforderung zum Segnen JHWHs
ת־שׁם ָק ְד ֽשֹׁו׃ ֥ ֵ ל־ק ָר ַ֗בי ֶא ְ֝ הו֑ה וְ ָכ ָ ְ ָבּ ֲר ִ ֣כי ַ ֭נ ְפ ִשׁי ֶאת־י1 :מוּליו ֽ ָ ְאַל־תּ ְשׁ ְכּ ִ֗חי ָכּל־גּ ִ֝ ְהו֑ה ו ָ ְבּ ֲר ִ ֣כי ַ ֭נ ְפ ִשׁי ֶאת־י ָ 2 1 Segne, meine Seele, JHWH und mein ganzes Inneres seinen heiligen Namen. 2 Segne, meine Seele, JHWH und vergiss nicht alle seine Taten.
Die Rahmenverse 1–2 sind wie auch die Rahmung am Schluss in den Versen 20–22 eine Aufforderung an den Beter des Psalms, zusammen mit der gesamten Schöpfung, JHWH zu segnen/loben. Dieser hymnische Aufgesang ist geprägt durch den Imperativ ברכי, der beide Verse (wie auch die Verse 20–22) eröffnet und damit die Thematik des gesamten Psalms festlegt, die durch die Taten JHWHs bestimmt wird, welche das Segnen begründen. Die Aufforderung Segne/Preise ( )ברכיals Imperativ feminin singular ist in Ps 103 und Ps 104 singulär.42 Die Wurzel ברךkommt als Aufforderung noch einmal als Kohortativ der ersten Person singular in Ps 145 vor. Häufiger ist die Pluralform ברכוzu finden, vor allem, um mit der Terminologie Crüsemanns zu sprechen, als Formelement des imperativischen Hymnus: Ps 103,20–22; Ps 66,8; Ps 96,2 und Ps 100,4; außerhalb des Psalters in Ri 5,2.9; 1Chr 29,20; Neh 9,5.43 In den genannten Texten ist die Aufforderung ברכוan Israel (Neh 9 und 1Chr 29,20) und auch an umfassende Größen gerichtet (Ps 66,8: die Völker; Ps 96,1 und Ps 100,1: die ganze Welt; Ps 103,20–22: die himmlischen Wesen und alle Werke; Ps 145,21: alles Fleisch). Gerade das einzelne Gruppen übersteigende Gotteslob steht in Ps 103 im Vordergrund, da durch die Aufforderung zum Segnen/Preisen im Singular und im Plural alle geschaffenen Wesen von der einzelnen Kehle bis zu den himmlischen Heerscharen angesprochen werden.
42 Das Segnen durch die Seele ( )נפשals Subjekt ist außer in Ps 103/104 nur noch in Gen 27 vorfindlich als Segen, den der sterbende Isaak seinem Sohn Jakob gibt (Vv.4.7.10.19.25.31). Es handelt sich bei dieser Erzählung um einen traditionsgeschichtlich stark familienrechtlich geprägten Kontext, der keine weiteren Anknüpfungspunkte zu Ps 103 bietet. So auch Leuenberger, Martin, Segen und Segenstheologien im alten Israel. Untersuchungen zu ihren religions- und theologiegeschichtlichen Konstellationen und Transformationen, AThANT 90, Zürich 2008, 238. 43 Es handelt sich also überwiegend um Texte der nachexilischen Zeit.
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Ferner wird als Objekt des Segnens im Kontext der hymnischen Aufforderungen nicht nur JHWH, sondern auch sein (heiliger) Name genannt.44 Dass der Name in Verbindung mit kultischem Lobpreis steht, begründet sich durch die Kommunikationssituation mit der Gottheit, die Anrufung geschieht über den Namen.45 In Ps 103 bedeutet das Loben des heiligen Namens ein Loben JHWHs, es liegt also eine Gleichsetzung von JHWH und seinem Namen vor, was Hartenstein Identifikation nennt: Unter Identifikation verstehe ich die explizite Gleichsetzung des Namens JHWH mit einer seiner Wirkweisen bzw. Präsenzformen oder mit ihm selbst.46
Besonders deutlich wird der Aspekt der Identifikation JHWHs mit seinem Namen in den Sinai-Kontexten von Ps 103,7–8, die in die Passage Ex 33–34 führen.47 Der JHWH-Name, der in Ex 3,14 in großer Deutungsoffenheit als „ich werde sein, der ich sein werde“ genannt wird, findet in Ex 33,19b eine Konkretisierung in engem Zusammenhang mit der Gnadenrede als „wem ich gnädig sein werde, dem werde ich gnädig sein und wem ich mich barmherzig erweise, dem werde ich mich barmherzig erweisen“.48 Der Appell, den Namen JHWHs zu preisen, findet im Fortgang des Psalms seine Begründung durch das Interpretament der Gnade. Das Adjektiv heilig ( )קדשin Bezug auf den Namen wird in sieben von elf Fällen gebraucht, um vor einer Entheiligung des Namens zu warnen oder sie als geschehene Schuld zu benennen.49 In den beiden Geschichtspsalmen Ps 105,3 und Ps 106,47 wird der heilige Name mit den großen Wunder- und Rettungstaten JHWHs verknüpft, wodurch die dort entwickelte Geschichtstheologie „als Exegese des Jhwh-Namens zu verstehen“50 ist. In der Aufforderung, den heiligen Namen zu
44 (Ps 66,2.4: seinem heiligen Namen singen [ ;]כבוד שמוPs 96,2: seinen Namen preisen; seinem Namen Ehre bringen [ ;]כבוד שמוPs 100,4: Preiset seinen Namen; Ps 103,1: seinen heiligen Namen preisen [ ;]שם קדשוPs 145,1.21: den Namen preisen, den heiligen Namen preisen ];]שם קדשו 1Chr 29,13: deinen ruhmvollen Namen preisen []לשם תפארתך, deinem heiligen Namen ein Haus bauen [ ;]לשם קדשךNeh 9,5: deinen herrlichen Namen preisen [)]כבודך שם. 45 Vgl. zum Verhältnis der Anrufung des Namens und der damit verbundenen Gottesnähe Hartenstein, Friedhelm, Die Geschichte JHWHs im Spiegel seiner Namen, in: Dalferth, I. U./Stoellger, P. (Hg.), Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name, Tübingen 2008, 73–95; 87 f. 46 Hartenstein, Geschichte, 87. 47 In Ps 103,7 liegt eine Text-Text-Beziehung zu Ex 33,13 und in Ps 103,8 zu Ex 34,6 vor. 48 Vgl. zur Bedeutung des Namens im Zusammenhang mit der Gnadenrede Dohmen, Sinai, 94. 49 Im Buch Levitikus geht es um die Notwendigkeit der Reinheit der Opfer und des Haltens der Gebote, um JHWHs Namen nicht zu entweihen (Lev 20,3; 22,2.32). In Ezechiel 39,7.25 prangert JHWH die Schändung seines heiligen Namens an und verkündet, um seines heiligen Namens willen, sich über Israel zu erbarmen. Der Grund seines Zorns lag in der Entweihung seines heiligen Namens durch den Götzendienst und das Begraben der toten Könige in unmittelbarer Nähe von JHWHs Tempel (Ez 43,7f). Amos klagt die Entweihung des heiligen Namens durch Gewalt an den Armen und Prostitution an (Am 2,7). 50 Gärtner, Judith, Die Geschichtspsalmen. Eine Studie zu den Psalmen 78, 105, 106, 135 und 136 als hermeneutische Schlüsseltexte im Psalter, FAT 84, Tübingen 2012, 235. 1
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preisen, sind in Ps 103,1 kultische und geschichtstheologische Aspekte mitzuhören. Das Loben des einzelnen Lebens ist nicht zu trennen vom Loben der Heerscharen, die für den himmlischen Kult verantwortlich sind – von einer individuellen Frömmigkeit außerhalb des Kultes kann daher wohl kaum gesprochen werden. Die Verknüpfung zur Geschichtstheologie der Psalmen 105 und 106, die sich als Kondensat in dem Ausdruck „heiliger Name“ findet, ist zunächst durch die in Ps 103,2 folgende Aufforderung, die Wohltaten JHWHs nicht zu vergessen, gegeben. In der Erinnerung an die (Gnaden-)Taten JHWHs und damit zusammenhängend an die Verfasstheit der Menschen entfaltet sich eine Reflexion der Geschichte, wie sie in Ps 105f ausführlich geschildert ist. Diese wird in Ps 103 durch bestimmte Elemente hervorgerufen, allem voran durch die Gnadenformel in V.8. Es ließe sich überlegen, ob die Rede vom heiligen Namen ( )שם קדשוin Ps 103 aus Ps 105f übernommen worden ist, um eine Verbindung zwischen den Psalmen zu schaffen.51 Es ist nur konsequent, wenn als Organe des Preisens die Kehle und das ganze Innere aufgeführt werden, da das Innere den Zusammenhang der Organe betont und zudem noch das Zentrum des Menschen ausmacht.52 Der segnende Lobpreis in dieser Intensität, vom ganzen Menschen ausgehend, findet seinen Grund in den Taten JHWHs, die das ganze Leben des Menschen in seinem Innersten zusammenhalten. So sind es die Wohltaten ()גמוליו, die nicht vergessen und im Lob vergegenwärtigt werden sollen. Der Begriff גמולist nicht zufällig gewählt, sondern gibt eines der zentralen Themen des Psalms vor und bekommt durch die Wiederaufnahme des Begriffes eine inhaltliche Füllung in V.10: Nicht gemäß an unseren Sünden hat er uns getan, und nicht gemäß unseren Verschuldungen hat er uns vergolten.
Der Tun-Ergehen-Zusammenhang, der stark in der Wurzel ( גמלvergelten) angelegt ist, wird von JHWH zugunsten des Menschen durchbrochen. Ganz in diesem Sinne beginnt auch die partizipiale Reihung der Taten JHWHs mit der Vergebung von Schuld. Von der Vergebung der Schuld als Wohltat, die ein Leitmotiv im Psalm
51 Gerade der Gebrauch der Wurzel קדשist in Ps 106 sehr gut durch die Rückgriffe auf Levitikus und Numeri zu erklären (z. B. Ps 106,16–18 in Bezug auf Num 16,1–35, wo ein Streit um die Heiligkeit JHWHs und der Gemeinde entbrennt, außerdem die Motive von Götzenverehrung/falschen Opfern [Ps 106,28–39], die einer Entweihung des Namens gleichkommen), ergibt sich aber nicht zwangsläufig aus den Motiven in Ps 103. 52 „So verortet also das biblische Denken unterschiedliche Gefühle in den einzelnen Organen des Bauches. Gleichzeitig aber steht der Bauch mit allen Eingeweiden in enger Beziehung zu anderen Organen. […] Herz und Eingeweide, Denken und Fühlen bilden einen gemeinsamen Raum menschlicher Innerlichkeit, aus der heraus wir reagieren und Entscheidungen treffen. […] Auch zur Kehle als Sitz der Seele ergibt sich ein vieldeutiger Bezug durch das Atmen, das Sprechen und den Gesang, das ideale Zusammenspiel von Lunge, Zwerchfell und Kehlkopf, zum Lobe Gottes in den Psalmen […].“ Schroer, Silvia/Staubli, Thomas, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 22005, 57.
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darstellt, wird die Betonung des Nicht-Vergessens deutlich, welches neben dem Preisen den einzigen Imperativ des Psalms darstellt. Um den Sinngehalt der Rahmenverse als Lobaufforderung besser zu verstehen, ist es notwendig, noch einen detaillierteren Blick auf den Vorgang des Lobens an sich, der durch das Verb ברךbestimmt ist, zu werfen.
2.1 Die Grundbedeutung von ברךII Das Lexem ברךII hat die Grundbedeutungen grüßen53, loben/preisen und segnen und deckt von seiner Semantik her einen Bereich ab, der im weitesten Sinne mit „Heilskraft, heilschaffende Kraft“54 umschrieben werden kann. In den älteren Untersuchungen zum Segen wird dieser mit Leben bzw. der „Grundlage des Lebens selbst“55 gleichgesetzt und in besonderer Weise mit der Seele des Menschen verbunden.56 Als grundlegende Funktion des Segens kann die Verbindung zwischen irdischer und himmlischer Sphäre genannt werden, die in der Beschreibung von Segenshandlungen und ihren lebensförderlichen Folgen zum Ausdruck kommt.57 Scharbert legt in seiner Analyse der Funktion des Segens den Schwerpunkt auf zwischenmenschliche Beziehungen, genauer: auf die Sozialstruktur der Solidaritätsgemeinschaft des biblischen Israel.58 Grundsätzlich muss, um die Bedeu-
53 Vgl. zur Bedeutung des Grußes Westermann, Claus, Der Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche, Gütersloh 1981, 61–65. 54 Leuenberger, Segen, 9. 55 Mowinckel, Sigmund, Religion und Kultus, Göttingen 1953, 64. Er bezieht sich hier auf Pedersen. Nach Pedersen ist der Segen „the strength underlying all progress and self-expansion.“ Pedersen, Johannes, Israel. Its Life and Culture I–II, London/Copenhagen 1926, 212. 56 Hier ist vor allem die Untersuchung Pedersens zu nennen. Er hielt den Segen für eine spezielle Kraft der Seele. Als Seele bezeichnet er, entsprechend dem hebräischen Begriff נפש, die Lebenskraft des gesamten Menschen. Der Segen ist zum einen das Innerste dieser Kraft, die dem Menschen Leben verleiht, zum anderen manifestiert sich diese innere Segenskraft nach außen hin in Wohlstand, kriegerischem Erfolg, Fruchtbarkeit usw. Vgl. aaO., 182–195. Dieses Verständnis des Segens ist in den neueren Ansätzen auf breite Kritik gestoßen, da es starke mystische Züge aufweist, die sich nur schwer belegen lassen. Vgl. zur Kritik an Pedersens Segensverständnis: Mitchell, Christopher Wright, The meaning of brk „to bless“ in the Old Testament, SBL Dissertation Series 95, 1987, 19. 57 „In monotheistisch geprägten rel. Symbolsystemen verbinden S. und F. [Segen und Fluch; Hinzufügung ACF.] die göttliche mit der irdischen Dimension. Segen geht von Gott aus und umfaßt das einzelne Individuum, das erwählte Volk, die gesamte Menschheit, die Tiere und die Natur oder die Schöpfung […]. Durch den S. wird einerseits die Zuwendung Gottes und andererseits die Stellung des Menschen als Empfänger dieser transzendenten Gabe zum Ausdruck gebracht.“ Pezzoli-Olgiati, Daria, Art. Segen und Fluch. I. Religionsgeschichtlich, in: RGG4, 1131–1132; 1131. 58 Es wird das Solidaritäts- und Gemeinschaftskonzept untersucht, wobei die Frage nach individuellen und kollektiven Strukturen eine große Rolle spielt. Scharbert wendet sich durch den soziologischen Ansatz seiner Studie vor allem gegen die Deutung von Segen und Fluch als Elemente eines magischen Weltbildes. Vgl. zu den Grundgedanken der Studie Scharbert, Josef, Solidarität
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tung des Segens zu bestimmen, hinsichtlich der Kontexte differenziert werden, in denen er gebraucht wird.59 Für Psalm 103 wird der Fokus auf dem kultischen Gebrauch und der Struktur von Reziprozität liegen. Zur Übersetzung von ברך und dem damit zusammenhängenden Segensverständnis gibt es die These, von ‚Segen‘ zu sprechen, wenn es sich um Menschen als Empfänger handelt und von ‚Loben/Preisen‘, wenn ברךan einer Gottheit getan wird.60 Mit Leuenberger ist deutlich zu sagen, dass innerhalb der alttestamentlichen Texte im hebräischen Sprachgebrauch unter den verschiedenen Nuancierungen kein paradigmatischer theologischer Unterschied in der Bedeutung besteht.61 Innerhalb des mannigfaltigen Bedeutungsspektrums an Texten und Deutungen des Begriffes scheint für Ps 103 besonders die Kategorie der Reziprozität von Segen und Segenshandlungen im Vordergrund zu stehen.62
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in Segen und Fluch im Alten Israel und in seiner Umwelt, Band 1: Väterfluch und Vätersegen, BBB 14, Bonn 1958, 1–23. Leuenberger kritisiert den Ansatz von Scharbert als zu eng gefasst, da das Gottesverhältnis lediglich konstatiert, aber nicht an den von Scharbert herangezogenen Stellen belegt werden kann. Außerdem scheint der Segen eher eine erhaltende statt konstituierende Funktion für Gesellschaften zu haben. Vgl. zur Kritik Leuenberger, Segen, 54. Vgl. dazu die größeren Studien zum Segen, die den Gebrauch des Segens in den verschiedenen Textbereichen betrachten. Üblicherweise: Priesterschrift, Erzelterngeschichten, Deuteronomium, Psalmen, Weisheit. So bei Leuenberger, Segen; Westermann, der Segen (der auch die Propheten mit einbezieht). Dieser These folgt z. B. Mitchell, der seine Annahme durch die verschiedenen Synonyme begründet, die seiner Meinung nach denselben Bedeutungsgehalt haben wie das Lexem brk piel und zumeist mit loben/preisen wiedergegeben werden. „The synonymous collocations of the imperative, like those of the Piel in the vow of praise, indicate that the Piel imperative has the general meaning ‚to praise‘. The synonyms are also used as general expressions for praise, and differ very little in meaning from each other and from the imperative of brk“. Mitchell, Meaning, 141. Ein Überblick der Einordnungen des Segens in verschiedene, auch voneinander abzugrenzende Bereiche findet sich in Frettlöh, Magdalene L., Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 1998, 43–72. Leuenberger führt die nicht notwendige Differenzierung auf die Segensformel „JHWH sei gesegnet“ zurück, die der verbaladjektischen Formulierung „‚voll von Segenskraft sein‘, ‚mit Segenskraft ausgestattet sein‘“ entspricht. „In dieser formal identischen Verwendung von ברךin Bezug auf Menschen und Gottheiten, die man als theologisch-anthropologische Reziprozität von ברךfassen kann, liegt die entscheidende Differenz gegenüber dem deutschen Sprachgebrauch, wo dies meist als ‚Seg(n)en‘ und ‚Lobpreis(en)‘ unterschieden wird.“ Leuenberger, Segen, 9. Aus einer sprachanalytischen Untersuchung von Segen als Sprachhandlung kommt Wagner zu einem sehr ähnlichen Ergebnis, vgl. Wagner, Andreas, Sprechakte und Sprechaktanalyse im Alten Testament. Untersuchungen im biblischen Hebräisch an der Nahtstelle zwischen Handlungsebene und Grammatik, BZAW 253, Berlin/New York 1997, 283–285. Vgl. den kurzen Abschnitt zur Reziprozität bei Leuenberger, Segen, 481f und Frettlöh, Segen, 386 f.
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2.1.1 Die Segenshandlung als Formel Josef Scharbert hat den Gebrauch von ברךII kategorisiert und die Verwendung als Segensformel herausgearbeitet.63 Psalm 103,1f.20ff fällt in seiner Untersuchung in das Schema „A barak jhwh“64 als eine Spielart der Gruppe: „A (inferior) brk B (superiorem)“65. Scharbert stellt heraus, dass es sich bei dem Phänomen des Segens für JHWH von Menschen um eine junge nachexilische Erscheinung im Alten Testament handelt, der vermutlich die ältere bārūk-Formel66 zugrunde liegt. Das Kennzeichen der nachexilischen Verwendung des Segens ist eine gewisse liturgische Erstarrung, die in keinem aktuellen Anlass begründet ist, sondern schlicht ein Teil des Formulars darstellt: Es handelt sich dabei [gemeint sind die jungen kultischen Aufforderungen zum Segnen; Hinzufügung ACF] immer um formelhafte Wendungen ohne aktuellen Bezug. Die Bedeutung „JHWH preisen“ für brk pi gehört also der nachexilischen Kultsprache an, während sie in älterer Zeit nur sporadisch in Fällen, wo die alte bārūk-Formel mit Begründungssatz angebracht war (Gen 24,48), Verwendung fand. […] Schließlich wurden Sätze wie „Ich will/ wir wollen JHWH preisen“, „Preiset JHWH“ u. ä. zu rein liturgischen Formeln, bei denen niemand mehr erwartete, daß man einer solchen Beteuerung oder Aufforderung wirklich nachkam und man nun etwa die bārūk-Formel zu rezitieren hatte.67
Psalm 103,20ff kommt, laut Scharbert, eine Sonderstellung zu, da dies der einzige Beleg im Alten Testament ist, in dem „einfach die liturgische Formel […] auf die außermenschlichen Geschöpfe übertragen ist.“68 Auch der formelhafte Gebrauch in der Durchführung der Segenshandlung hat Auswirkungen, die mit Mitteln der Sprechakttheorie beschrieben werden können. Einen solchen Versuch unternimmt Mitchell, um die Aufforderung zum Segnen (er übersetzt ברךmit ‚preisen‘) zu analysieren. Die Funktion der Aufforderung beschreibt er als zweigliedrig, da sie 63 Vgl. Scharbert, Josef, Art. ברךin: ThWAT I, Stuttgart 1973, 808–841. 64 AaO., 823. 65 Ebd. 66 Die bārūk-Formel (Ptz. passiv von brk im qal) ist, laut Scharbert, ursprünglich von Mensch zu Mensch gesprochen worden, um Solidarität, Freundschaft und Wohlwollen zu bekunden. Dann wurde sie auch auf JHWH bezogen „als Bekenntnis zum Bundesgott Israels“, mit dem JHWH für seine Heils- und Rettungstaten gedankt wurde. AaO., 815 f. 67 AaO., 824 f. Die Formelhaftigkeit der Segenshandlung ist auch schon in der älteren, stark religionsgeschichtlich geprägten Untersuchung zum Segen von Hempel herausgestellt worden: „Die Segnung Jahves im Kultus, durch die ihm ursprünglich, wie durch den Hymnus, die in der Gemeinde lebendigen Segenskräfte zugeführt werden sollen, ist hingegen so stark zur festen Form […] geworden, dass das Part. Pass. Qal bāruch mit menschlichem Subjekt in der späteren Sprache […] verdrängt worden ist, während sich im Hymnus für den Lobpreis Jahves der Imperativ bzw. Kohortativ Piel desselben Verbums […] durchgesetzt hat.“ Hempel, Johannes, Art. Segen und Fluch, in: RGG2 Band 5, Tübingen 1931, 388–394; 393. 68 AaO., 825.
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sowohl einen perlokutiven Akt darstellt, der eine emotionale Reaktion bei anderen auslöst, als auch einen illokutiven Akt, da sich der Beter selbst als Preisender äußert. The imperative obviously has a perlocutionary force, since it seeks to affect the attitude of others. However, it also has an illocutionary force. Uttering the imperative is in itself an expression of praise by the speaker, because he calls for others to praise God along with himself.69
Mitchell geht demnach davon aus, dass die Aufforderung zum Segnen/Preisen eine Wirkung auf die betende Gemeinde hat, die sich in einer Haltung von Dankbarkeit äußert.70 Den Ansatz von Scharbert, den Vorgang des Segnens in den jungen Texten lediglich als eine Form von liturgischer Konvention anzusehen und die gedankliche Fortführung, ihn als Sprechakt auszuwerten, wird in der vorliegenden Arbeit nicht verfolgt. Der formelhafte Charakter wird auf sprachlicher Ebene nicht bestritten, aber es wird die Frage gestellt, ob hintergründig im Akt des Segnens nicht doch ein stärkerer Bedeutungsgehalt für die gesamte thematische Auslegung des Psalms zu finden ist.
2.1.2 Segen als kultische Handlung Die Verankerung des Segens im Kult hat vor allem Sigmund Mowinckel herausgearbeitet.71 Auch wenn seine Untersuchungen schon sehr alt sind – und vor allem in Anknüpfung an Pedersen auch kritisch zu beurteilen – gibt es doch einige Beobachtungen, die für eine Deutung des Segens in Ps 103 als nicht unwesentlich erscheinen. Mowinckel geht von der Prämisse aus, dass der Segen als eine wirkmächtige Lebenskraft im Menschen tätig ist. Allerdings ist diese Kraft nicht naturbedingt vorhanden, sondern konstituiert sich in der Gemeinschaft mit JHWH: Aber diese Kraft haben sie nur deshalb, weil sie Gemeinschaft mit Jahwe haben und diese Gemeinschaft ständig aufrechterhalten und sie im Kultus erneuern. Der Gesegnete ist für Israel nicht mehr der Mann, der viel ‚Mana‘ in sich hat, sondern er ist der ‚Gesegnete Jahwes‘, die segenschaffende Kraft ist der ‚Name Jahwes‘.72
69 Mitchell, Meaning, 141. 70 „The purpose of the imperative is not to elecit a spoken response, but an emotional response. It urges those listening to the song to have an attitude of praise as the song describes God’s goodness.“ Ebd. 71 Vgl. Mowinckel, Religion, 64–66. 72 AaO., 65.
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Auch wenn die in der Seele wohnende Segenskraft ein fragwürdiges, mit mythischen Zügen besetztes Konstrukt ist, ist doch die Funktion des Kultus als Aufrechterhaltung und Erneuerung der die Kultgemeinde stabilisierenden Segenskraft bedenkenswert. Das Heiligtum wird zu dem Ort, an dem die segenswirkende Kraft der Gottheit spürbar und in gewissem Sinne übertragbar wird.73 Mowinckel führt dieses Phänomen auf das Schöpferwirken JHWHs zurück: Das Leben und die Lebenskraft und der Segen sind zu etwas Heiligem geworden, sie haben ihren Ursprung in dem Heiligen, in der Gottheit. Gott ist der Schöpfer und der Erhalter des Lebens. […] JHWH […] schafft das Leben, schafft ständig die Welt und hat die Welt einmal geschaffen. Im Kultus begegnet der Israelit Jahwe als dem, der Leben und Segen schafft und gibt und damit die Welt erhält.74
Mowinckel geht also davon aus, dass der Beter im Heiligtum seine eigenen Lebensvollzüge vor dem Horizont der lebensschaffenden Gottheit deutet und das gelingende und tatkräftige Schaffen auf die Wirkmächtigkeit des vom Schöpfergott verliehenen Segens zurückführt. Die Bitte um Erneuerung und Erhaltung des Segens setzt die Vorstellung voraus, dass die Segenskraft beziehungsabhängig ist. Sie wird nicht einmal verliehen und steht permanent zur Verfügung,75 sondern muss immer wieder neu durch den Kontakt mit der Gottheit entstehen. Segen ist also ein Geschehen von Wechselseitigkeit. Der Beter erkennt die Quelle seiner Lebenskraft im göttlichen Wirken und sucht den Tempel auf, um Zugang zu dieser Quelle zu finden. In der Anerkennung und im Dank für den Segen gibt der Beter der Gottheit etwas von dem zurück, das ihm gegeben worden ist. Diese Anerken73 Vgl. zum Tempel als Herkunftsort von Segen z. B. das Tempelweihgebet 1Kön 8 oder die Segensund Wallfahrtspsalmen (Ps 65; Ps 128,5). Dieser Gedanke spielt eine wichtige Rolle in der Auslegung des Segens von Westermann. Er stellt den Kult als ein Geschehen dar, in dem Segen und Geschichtstraditionen in Relation zueinander gesetzt werden: „Diese geschichtliche Mitte des Gottesdienstes Israels schließt aber nicht aus, daß Gott in ihm als Spender des Segens verehrt und angerufen wurde, daß um den Segen gefleht und daß der Segen erteilt wurde. Sowohl eine Darstellung des israelitischen Gottesdienstes, die allein seine Bedeutung für den Segen hervorkehrt wie eine entgegengesetzte, nach der es bei diesen Gottesdiensten nur um die Geschichtstaten Gottes ging, ist als zu einseitig abzulehnen. Es kann jedenfalls keinen Zweifel geben, daß die Erteilung des Segens in den Gottesdiensten Israels eine wesentliche Bedeutung hatte, und daß es in der Erteilung des Segens um das segnende Wirken Gottes ging.“ Westermann, Der Segen, 39. 74 AaO., 65 f. 75 Diese Vorstellung vom Segen scheint Mitchell zu haben, der die bei Mowinckel angelegte Wechselseitigkeit kritisiert. Sie hängt mit der Bestreitung der These zusammen, dass Menschen in der Lage wären, die Gottheit zu segnen: „Mowinckel […] and Black […] contend that to praise God really means to bless God when brk is used, because brk is also used when God blesses man and men bless other men. They further contend that “blessing God must give something to Got that benefits him, just as God blessing man benefits man […]. Practically all contacts where God is praised using brk describe the reason for the praise as a prior beneficent act by God, or, if the praise is doxological, as a trait of God. Mowinckel’s cultic hypothesis, then, is incorrect. God is not praised in order to elicit greater blessing from God; he is praised because he has already blessed the people.“ Mitchell, Meaning, 171.
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nungsstruktur zeigt sich im dankenden Lobpreis oder im Segen, den der Beter der Gottheit spendet. Mowinckel beschreibt diese Wechselseitigkeit so: Wir begegnen im Alten Testament noch Spuren einer älteren Auffassung, nach der in der wechselwirkenden Gemeinschaft zwischen Gott und Gemeinde im Kultus nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für die Gottheit selbst vermehrter Segen geschaffen wird. […] In den Psalmen begegnen wir ständig der Aufforderung, „Jahwe zu segnen“, und durch den kultischen Lobpreis „gibt“ die Gemeinde „Jahwe Ehre und Macht“ (Ps 29,1). […] im späteren Israel haben diese Ausdrücke einen neuen Sinn erhalten. „Jahwe zu segnen“, bedeutet, ihm zu danken und ihn zu loben, und „ihm Ehre und Macht zu geben“, bedeutet, seinen Ruhm in der Welt zu mehren und damit sein tatsächliches Machtgebiet zu erweitern.76
Ob es tatsächlich um eine Erweiterung des Machtgebietes geht, wäre zu diskutieren. Weiterführender scheint doch der Gedanke eines Kreislaufes oder einer Inganghaltung des Ablaufes von Segen, Manifestationen von Segen (wie Fruchtbarkeit, Heil und Heilung, Wohlstand usw.), Rückgabe des Segens in Form von Dank und Empfangen neuer Segensgüter. Auf diese Art der Wechselwirkung weisen neuere Auslegungen hin, wenn sie vom Segen als Reziprozität sprechen.
2.1.3 Reziprozität: der Akt des Segnens in Psalm 103 Leuenberger stellt fest, dass die gleichbleibende Bedeutung des Lexems ברךII ‚segnen‘ bei unterschiedlichen Objekten (Mensch und Gott) eine „theologisch-anthropologische Reziprozität von “ברך77 voraussetzt. Auf Seiten der Gottheit führt diese zu einem „reaktiven Kraftzuwachs“78 durch die vom Beter ausgehende Segnung, auf Seiten des Beters ist sowohl eine empfangende als auch responsive Haltung zu bemerken, die auf die Heilstaten JHWHs reagiert.79 Die Aufforderung zum Segnen JHWHs entspringt also einer tiefen Einsicht in das Wesen der Wohltaten, die JHWH an Israel vornimmt. Eine Beschreibung findet sich in Psalm 103 direkt nach der Aufforderung in den hymnischen Partizipialaussagen der Taten JHWHs. Sie können zusammenfassend als ein von JHWH geheiltes, aufgewertetes und erlöstes Leben durch die Vergebung von Schuld beschrie76 Mowinckel, Religion, 64 f. Auch in den Psalmenstudien beschreibt er die Wechselseitigkeit: „So machtvoll sind diese Segensworte und die damit zusammenhängenden kultischen Handlungen, daß man sogar überzeugt ist, daß der Gottesbund zwischen Gottheit und Volk, der die Voraussetzung jedes Segens bildet, ein in jeder Beziehung gegenseitiger ist; im Kulte segnet auch das Volk Jahwä und gibt ihm dadurch tatsächlich erhöhte Macht und Segensfülle und ‚Ehre‘ (Seeleninhalt)“. Ders., Psalmenstudien Buch III–IV–V–VI, Nachdruck der Ausgabe Oslo 1921–24, Amsterdam 1961, 132. 77 Leuenberger, Segen, 581. 78 Ebd. 79 Vgl. aaO., 582.
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ben werden. Alle diese Taten werden in Ps 103 vorrangig als Ausdruck der Gnade JHWHs gedeutet. Die Gemeinde reagiert auf diese Taten, die ihrerseits als Segen von JHWH angesehen werden können,80 mit dem Segnen der Gottheit. Gott zu segnen, ist die Gestalt des Gotteslobs, in der das Gelingen der eigenen Existenz trotz Schuld, Gebrechen und (Todes-) Gefahr als Wirkung des göttlichen Segens wahrgenommen wird – und zwar coram Deo. Es ist Ausdruck einer Identität, die sich dort einstellt, wo Menschen ihr Leben in allen seinen Bereichen als durch Gottes Segen ermöglichtes, bewahrtes und immer wieder erneuertes erfahren.81
Der Segen für JHWH ist daher als ein auf die Erfahrung gelingenden Lebens antwortender Segen auszulegen. Die evtl. Zurückhaltung, den Segen des Menschen als ein Handeln anzusehen, das Auswirkungen auf die Gottheit hat,82 wird durch die Beobachtung einer Asymmetrie in der Reziprozität entkräftet. Das asymmetrische Verhältnis zeigt sich vor allem in einer deutlichen Vorrangigkeit des JHWH-Handelns, die sowohl zeitlich als auch auf die Wirksamkeit bezogen zu verstehen ist. Trotzdem ist das menschliche Segnen nicht als wirkungslos zu verstehen, da es zum einen die adäquate Haltung JHWH gegenüber darstellt. Zum anderen zeigt sich in der Segenshandlung Israels, dass es durch JHWHs vorangegangene Segenstat befähigt wird, selbst eine verantwortliche Rolle in der Aufrechterhaltung der von JHWH eingesetzten Schöpfungsordnung zu vollbringen. Das Wahrnehmen der Verantwortung beginnt mit der Anerkennung der eigenen, bedürftigen Geschöpflichkeit (Ps 103,14–16) und damit der Anerkennung JHWHs als desjenigen, der als Schöpfer seine Geschöpfe bewahrt. Diese doppelte Anerkennungsstruktur führt zu einer zwischenmenschlichen Ebene, auf der sich
80 In Psalm 103 werden die Taten nicht explizit als Segenstaten beschrieben, aber gerade das Motiv der Krönung in V.4 und die Verjüngung in V.5 bzw. die Teilhabe an JHWHs Überzeitlichkeit können mit Segen in Verbindung gebracht werden. Dies wird in der Auslegung von V.4 anhand eines Vergleichs mit Psalm 21 aufgezeigt, indem das Thema des Segens noch einmal hinsichtlich der Krönung aufgenommen wird. 81 Frettlöh, Segen, 388. 82 Vgl. aaO, 387 f. Frettlöh diskutiert die Unbehaglichkeit, die der Gedanke auslöst, dass Menschen durch ihr Segenshandeln auf Gott einwirken und seine Taten beeinflussen könnten, was nur schwer mit der Vorstellung eines allmächtigen Gottes in Einklang zu bringen wäre (aaO., 385f). Ihr Weg, die Segenshandlungen an Gott zu deuten, führt über Anerkennungsstrukturen, die sie leider etwas unglücklich mit dem Begriff der ‚Mitarbeit‘ einführt: „Das Segnen Gottes (Gen. Obj.) läßt sich vielmehr als doxologische, von Gott selbst erbetene Mitarbeit des Menschen an der Erlösung verstehen; denn wer Gott segnet, anerkennt Gottes (von ihm selbst zurückgehaltene) Allmacht, zielt auf ihre universale Freisetzung, ihre Realisierung […] und nimmt sie so in Anspruch für die Erlösung der Welt.“ AaO., 387. Der Gedanke einer Mitarbeit an der Erlösung wäre zumindest für eine nachexilische Psalmentheologie ziemlich undenkbar, da sie – wie Ps 103 zeigt – auf ein reines Gnadenhandeln JHWHs zurückgeführt wird. Der Gedanke der Anerkennung allerdings ist weiterführend, da Anerkennung eine Reaktion auf die göttlichen Taten darstellt, keine Hervorbringung. In diesem Sinne argumentiert Frettlöh dann auch im Zusammenhang mit Ps 103; aaO., 387 f.
Vv.1–2: Die Aufforderung zum Segnen JHWHs
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in der Verpflichtung zum Halten der Anordnungen JHWHs (Ps 103,18) auch ein ethischer Kodex zum Umgang mit den Mitgeschöpfen offenbart: die von JHWH durchgesetzte gerechte Ordnung zum Schutz der Bedrückten aufrechtzuerhalten (Ps 103,6f). Das volle Ausmaß des Segnens JHWHs als ein Baustein in der Inganghaltung einer heilvollen Beziehung zwischen ihm und seinem Volk wird allerdings erst durch den Schlussteil des Psalms deutlich, der das Segenshandeln der himmlischen Welt einbezieht und die Form der hier angeklungenen Reziprozität erweitert. Die himmlische Szenerie, die im Zentrum durch JHWHs königlichen Thron geprägt wird,83 öffnet den Blick auf die Größe seines Herrschaftsbereiches, der sich in eine kosmische Dimension ausweitet. Damit dieser Herrschaftsbereich tatsächlich als gesegnet angesehen werden kann, werden die himmlischen Wesen einbezogen. Durch ihr immerwährendes, zuverlässiges Segnen bei gleichzeitiger dauerhafter Umsetzung der von JHWH befohlenen Gebote sind sie die personifizierte Anerkennung JHWHs. Das Segnen der Menschen wird ein Teil dieser von den Engeln konstituierten Stabilität der durch den Segen errichteten heilsamen JHWH-Ordnung. Es geht also beim Gedanken der Reziprozität in Psalm 103 nicht so sehr um ein Vergrößern der Herrschaft JHWHs, wie es bei Mowinckel anklang, sondern um eine Teilhabe und verantwortliche Position Israels in JHWHs vorgegebenen und mit Segen erfülltem Herrschaftsraum.
83 Westermann sieht einen Zusammenhang im königlichen Motiv des Thronens und der Segenstätigkeit, der im heiligen Ort, als Ursprung des Segens besteht: „Der heilige Ort ist es, von dem Segen ausgeht. Der Segen in seiner kultischen Gestalt gehört zum heiligen Ort. Auch das Thronen (Jes 6; 1 Kön 22 und oft) gehört mit dem Segen zusammen; Gott als König ist (wenn auch nicht nur!) der Segnende wie der irdische König der den Segen Vermittelnde ist.“ Westermann, der Segen, 17.
3. Vv.3–5: Die Wohltaten JHWHs
:ל־תּ ֲח ֻלאָֽיְ ִכי ַ ל־ע ֵֹונ ִ֑כי ָ֝הר ֗ ֵֹפא ְל ָכ ֲ הסּ ֵ ֹ֥ל ַח ְל ָכ ַ 3 גֹּואל ִמ ַ ֣שּׁ ַחת ַח ָיּ�֑יְ ִכי ַֽ֝ה ְמ ַע ְטּ ֵ ֗ר ִכי ֶ ֣ח ֶסד וְ ַר ֲח ִ ֽמים׃ ֣ ֵ ַה4 :עוּריְ ִכי ֽ ָ ְה ַמּ ְשׂ ִ ֣בּיַ ע ַבּ ֣טֹּוב ֶע ְד ֵי�ְ֑ך ִתּ ְת ַח ֵ ֖דּשׁ ַכּ ֶנּ ֶ֣שׁר נ ַ 5 3 Er vergibt alle deine Schuld, er heilt alle deine Krankheiten, 4 Er löst aus dem Grab dein Leben aus, er krönt dich mit Gnade und Barmherzigkeit, 5 Er sättigt mit dem Guten deine Dauer, deine Jugend erneuert sich wie beim Geier.
Nach dem hymnischen Auftakt der Aufforderung zum Gotteslob schließt sich die partizipiale Reihung der Ausführung der Taten JHWHs an, die aus sechs Gliedern besteht. Die ersten fünf sind sprachlich parallel aufgebaut: Ein Partizip mit einem Objekt, das durch die aramaisierende Form des Suffixes der zweiten Person feminin singular näher bestimmt wird. Das letzte Glied besteht aus einem Verbalsatz mit neuem Subjekt und einem Vergleich. Alle drei Verse bilden jeweils Parallelismen, dessen Glieder, in der verwobenen Form des Chiasmus gelesen, ihren vollen Sinn entfalten. Ausgeführt werden, stilistisch und inhaltlich eng aufeinander bezogen, die Wohltaten, die JHWH am Betenden, respektive Israel, vornimmt (V.2). Der Abschnitt bildet durch die Anaphern, die Chiasmen und die durch die Suffixe entstandenen Homoioteleuta eine in sich geschlossene Struktur.
3.1 V.3: Sündenvergebung und Heilung84 Die Reihung in den Vv.3–5 beginnt im ersten Parallelismus mit der Vergebung von Schuld und der Heilung von Krankheit durch JHWH, die miteinander in Beziehung gesetzt werden.
84 Gerade in der Erörterung eines in den alttestamentlichen Texten erzeugten Zusammenhangs von Krankheit und Schuld und Vergebung und Heilung muss deutlich gesagt werden, dass es sich um ein zeitgebundenes Konzept handelt, dass dem religiösen Denken dieser Schriften entspringt. Die-
Vv.3–5: Die Wohltaten JHWHs
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So wie Krankheit als Folge von Schuld gedeutet werden kann, ist die Vergebung als Heilung zu verstehen, wobei in beiden Fällen der Bezugspunkt im Gottesverhältnis zu sehen ist: K. [Krankheit; Hinzufügung: ACF] wird nicht wie heute als vorübergehende fehlende Arbeits- oder Leistungsfähigkeit, sondern als viel weitergehende Störung der sozialen Interaktionsfähigkeit, des Status und so letztlich der schöpfungsgemäßen Integrität des menschlichen Lebens und als Störung der schöpfungsgemäßen und in sich guten Ordnung verstanden. […] Körperliche und seelische Integrität sind Ausdruck des Heils und Zeichen göttlicher Zuneigung bzw. Zeichen einer intakten Gottesbeziehung.85
In einem ersten Schritt werden im Folgenden die verwendeten Begriffe von Schuld und Krankheit gedeutet, dann die Zusammenhänge zwischen ihrer Vergebung und Heilung aufgedeckt und untersucht. In einem zweiten Schritt sollen diese Begriffe in ihrer Verwobenheit als Themen von Hoheits- und Niedrigkeitsaussagen in den Blick genommen und erörtert werden. Dazu gehört die Thematisierung von anthropologischen Kategorien, die in Ps 103 in ihrer Bezogenheit auf JHWH ausgelegt werden.
3.1.1 Die Begriffe Schuld und Vergebung Der hier gebrauchte Terminus für Schuld ( )עוןist durch ein breites Vorkommen im Alten Testament belegt (17 mal als Verb, 233 mal als Substantiv).86 Die Grundbedeutung ist „im profanen Sinn ‚verbiegen, beugen, krümmen‘ (Ps 38,7; Jes 21,3) und im übertragenen Sinn das Recht zu ‚beugen‘ (Hi 33,27) oder ‚verkehrten Sinnes‘ zu sein (Spr 12,8)“.87 Bei עוןhandelt es sich um einen dinghaften Begriff: er kann getragen ( )נשאund weggenommen/vergeben werden ()סלח. Er selbst scheint ser Zusammenhang ist nur sehr bedingt auf die Krankheitskonzepte heutiger, postsäkularer Gesellschaften übertragbar und sollte meiner Ansicht nach auch nicht intendiert werden. Zu Grenzen und Chancen dieser Problematik, vgl. Janowski, Bernd, „Heile mich, denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps 31,5). Zum Konzept von Krankheit und Heilung im Alten Testament, in: Thomas, G./Karle, I. (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 47–66; 48.65 f. 85 Frevel, Christian, Art. Krankheit/Heilung, in: Berlejung, A./Frevel, C. (Hg.), HGANT, Darmstadt 42015, 301–305; 301. 86 Vgl. Bieberstein, Klaus/Bormann, Lukas, Art. Sünde, in: Crüsemann, F. u. a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 570–573; 570. Ein besonders häufiges Vorkommen weist der Begriff in exilisch-nachexilischen Texten auf, überwiegend in prophetischen Traditionen. Vgl. Berkenkopf, Christian, Sünde als ethisches Dispositiv. Über die biblische Grundlegung des Sündenbegriffs, Paderborn 2013, 48. 87 Ebd. Ähnlich auch Robert Koch, der das Nomen „ עוןnur noch im übertragenen Sinne“ verstanden wissen will und zwar „in theologischen Zusammenhängen als „Verkehrung“, „Verkehrtheit“ […].“ Koch, Robert, Die Sünde im Alten Testament, Frankfurt 1992, 49.
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Hauptteil: Exegese von Ps 103
keine bestimmte Schuld an sich zu sein. Klaus Koch deutet ihn als die Kraft, die böses Verhalten fördert und den Menschen befähigt, eine Tat zu begehen, durch welche er als Folge Schuld auf sich lädt.88 Knierim beschreibt die Dynamik, die mit der Verwendung dieses Begriffes einhergeht: Es ist ein Begriff, der eine bestimmte konkrete Handlung oder Verhaltensweise nicht konkret benennt, sondern formal disqualifiziert, und der doch seiner Herkunft nach das zu Disqualifizierende nicht abstrahiert, sondern inhaltlich als Tatphänomen festhält.89
In neueren Auseinandersetzungen wird dieser Begriff mit dem „alttestamentlichen Ganzheitsdenken“ in Verbindung gebracht und anhand der Frage, ob dem Tatvorgang des עוןein bewusstes oder unbewusstes Schuldigwerden zugrunde liegt, diskutiert. Das sog „Ganzheitsdenken“ bezeichnet in diesem Sinne die Bedeutungsvielfalt des Begriffes: ‘wn ist als Tat und Tatfolge nur denkbar als ein Zusammenhang von Untat, Schuldigwerden und Bestraftsein. […] Insofern ist ‘wn nicht eine Verkehrung im Sinne einer hartnäckig vertretenen Position oder Opposition, sondern ‘wn ist eine Verkehrung im Sinne einer bewussten Tat, deren Folgen mehr oder minder bedacht und erwartet werden.90
Wie die eigentliche Schuld aussieht, die der עוןauslöst, ist unterschiedlich. Es kann sich sowohl um zwischenmenschliche Schuldverstrickungen handeln (Ps 49; auch Gen 4,13) als auch um kultische Schuld gegenüber Gott (vor allem in den prophetischen Traditionen: Jer 2,22; 16,10.18; Ez 14,3f; 44,10). Das allen Fällen von Schuld gemeinsam zugrunde liegende Element ist die Gottesferne, in die der עוןMenschen setzt, bzw. die von ihnen als solche empfunden wird. Das häufige Vorkommen des Begriffs in Klage- und Dankpsalmen beschreibt die Vielschichtigkeit der Zusammenhänge, in welchen der עוןgenannt wird. Oft dient er als Mittel zur Deutung und Erklärung von gestörten Lebensvollzügen und Konflikten mit sich selbst und mit anderen, z. B. in der Erfahrung von Krankheit und sozialer Isolation (vgl. z. B. Ps 31,11; 32,2.5; 38,5.19 u. a. m.).91 Der עוןkann schon vor der Geburt Besitz von einem Menschen ergreifen und sein ganzes Leben in Gottesferne versetzen, die nur von Gott selbst durch Reinigung vom עוןaufgelöst werden kann (Ps 51,4.7.9). Die Wegnahme des עוןwird in Kategorien von Heilung der gestörten Lebensbereiche beschrieben (Ps 41,5) und mit der wiedererlangten Nähe zu Gott gleichgesetzt, die z. B. mit kultischen Begriffen ausgedrückt wird (Ps 65,5).92 Der Paralle-
88 Vgl. Koch, Klaus Art. עוןin: ThWAT VII, Stuttgart u. a. 1977, 1160–1177; 1164 f. 89 Knierim, Rolf, Die Hauptbegriffe für Sünde im Alten Testament, Gütersloh 1965, 238. 90 Berkenkopf, Sünde, 48. Als Beispiel führt er die Frage Davids an Jonathan: „Was ist meine Schuld?“ an (1 Sam 20,1.8); vgl. aaO., 45. 91 Vgl. Janowski, Bernd, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 32009, 174 f. 92 Vgl. zu den verschiedenen Ebenen der Deutung Janowski, Heile mich, 49 f.
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lismus in Ps 103,3, der die Wegnahme von Schuld mit dem Heilen von Krankheit synthetisiert, bewegt sich also durchaus in der Vorstellungswelt der Psalmen, in welchen die Krankheit als eine Folge des עוןgedeutet wird. Der Terminus סלחfür die Vergebungstat JHWHs, also für die Wegnahme der Schuld, wird in Texten der exilischen und nachexilischen Zeit verwendet93 und zeigt vermehrt eine Verwendung in kultischen Kontexten (besonders in Lev 4–5).94 JHWHs vergebendes Handeln beschreibt zumeist die Voraussetzung, auf der eine Restitution der Gottesbeziehung nach dem Bruch durch Verschuldung stattfinden kann. So ist sie in Jer 31,34 die Grundlage für den „Neuen Bund“ und dient in Jer 50,20 der Begründung für eine Rückkehr aus dem Exil. Nach dem Exil ändert sich der Vergebungsbegriff: Vergebung steht hier nicht für eine Form des Ausgleichs, mit der ein intaktes, gleichwohl sensibles oder störanfälliges Ordnungsgefüge davor bewahrt wird, beschädigt oder gar zerstört zu werden; Vergebung setzt vielmehr gerade dort an, wo ein solches Ordnungsgefüge zerbrochen ist und wo es also keine Erwartungssicherheit und kein Vertrauensverhältnis mehr zwischen den Beteiligten gibt.95
Die durch סלחbeschriebene Vergebung wird auf die Gnade JHWHs zurückgeführt (Ex 34,9; Dan 9,19) – wie sie in der Gnadenrede in Ex 34,6f als Handlungsoption JHWHs festgeschrieben wird – was in Ps 103 detailliert ausgelegt wird (Ps 103,10– 12). Es gibt trotzdem Darstellungen einer Grenze der Vergebung, die durch ein Ausmaß von Schuld beschrieben wird, das die Möglichkeit der Erneuerung einer heilvollen Beziehung zu JHWH ausschließt (vgl. die begrenzte Reichweite der prophetischen Fürbitte im Amosbuch: סלחin Am 7,2). Schüle bringt diese Grenze der Vergebung mit dem „deuteronomistischen Vergebungsbegriff “ in Einklang und führt dafür die Stellen Dtn 29,15–18; 2Kön 24,2 und Jer 5,1–2.7–9 an.96 Die Vergebungstat JHWHs in Ps 103 ist, wie im weiteren Verlauf dargestellt wird, insbesondere mit der Konstitution eines idealen Gottesverhältnisses verbun93 Vgl. dazu Hausmann, Jutta, Art. סלחin: ThWAT V, Stuttgart u. a. 1973, 859–867; 861. 94 Vgl. Schüle, Andreas, An der Grenze von Schuld und Vergebung: סלחim Alten Testament, in: „… der seine Lust hat am Wort des Herrn!“ Festschrift für Ernst Jenni zum 80. Geburtstag, AOAT 336, Münster 2007, 309–329; 312–315. Er macht darauf aufmerksam, dass in der Sinaitora vor allem die נסלח-Formel („und es wird ihnen vergeben“) gebraucht wird, die an das Kriterium der Unabsichtlichkeit gebunden ist. Nur für versehentliche Vergehen (Num 15,22–31 benennt das Problem von versehentlicher und absichtlicher Schuld) „gibt es die Möglichkeit von Sühne und Vergebung; wo allerdings jemand vorsätzlich gegen die Tora verstößt, schmäht er JHWH, was nach Num 15,22–31 zur Folge haben soll, dass der Betreffende ausgerottet wird und seine Schuld ( )עונהauf ihm bleibt.“ AaO., 314. 95 AaO., 317. 96 „Die beiden prophetischen Stellen [gemeint sind: Am 7–9 und Jer 5; Hinzufügung ACF] reflektieren hierbei auf Gott selbst, auf seinen Charakter als gütig und langmütig. Gottes Vergebungsbereitschaft erstreckt sich gleichsam bis an den Punkt, an dem sich Vergebung selbst ad absurdum führt, weil auf Israels Seite nichts mehr ist, woran sie positiv anschließen könnte. Dt 29 setzt dagegen einen anderen Akzent: Vergebung ist hier integriert in den Bundesschluss mit Israel und
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den, welches durch die Gnade JHWHs gewährleistet wird. Die konkrete Ausführung der Wegnahme der Schuld durch JHWH wird in den Vv.10–12 beschrieben. Mit der Schuldvergebung wird in Ps 103,3 ein Leitmotiv genannt, das im Verlauf des Psalms seine weitere Ausarbeitung findet.
3.1.2 Die Begriffe Krankheit und Heilung Der Begriff תחלאים, der hier für die Krankheit verwendet wird, ist eine Nominalform des Lexems חלה I.97 In der Breite der Belege dient die Wortgruppe חלה „zum Ausdruck eines Krankheits- oder Schwächezustands.“98 Während der verbale Gebrauch von חלהund auch der des Nomens חליein erhebliches Bedeutungsspektrum aufweisen,99 scheint das Nomen תחלאיםvon speziellerer Verwendung zu sein. In dieser Form kommt es nur viermal im AT vor im Sinne einer Krankheit, die von JHWH als Strafe für den Abfall von ihm geschickt wird und zum Tode führt (Dtn 29,21; Jer 14,18; 16,4; 2Chr 21,19). Wie der Begriff an diesen vier Stellen verwendet wird, soll im Folgenden dargestellt werden:
3.1.2.1 Dtn 29,21f �ֹוקה ֑ ָ יכם וְ ַ֨הנָּ ְכ ִ ֔רי ֲא ֶ ֥שׁר ֖יָב ֹא ֵמ ֶ ֣א ֶרץ ְרח ֶ֔ וּמוּ ֵמאַ ֲ֣ח ֵר ֙ יכ ֙ם ֲא ֶ ֤שׁר יָ ֙ק ֶ ֵאַח ֗רֹון ְבּנ ֲ אָמר ַה ֣דֹּור ָ ֽה ַ֞ ְ ו21 הו֖ה ָ ֽבּהּ׃ ָ ְר־ח ָ ֥לּה י ִ יה ֲא ֶשׁ ָ ת־תּ ֲח ֻל ֶ֔א ֣ ַ וא וְ ֶא ֙ ת־מ ֞כֹּות ָהאָ ֶ֤רץ ַה ִה ַ ְו ָ֠ראוּ ֶא ל־ע ֶ֑שׂב ֵ הּ ֤ל ֹא ִתזָּ ַר ֙ע וְ ֣ל ֹא ַת ְצ ִ֔מ ַח וְ ֽל ֹא־יַ ֲע ֶל֥ה ָ ֖בהּ ָכּ ֒ ל־אַר ָצ ְ גָּ ְפ ִ ֣רית וָ ֶמ ַל ֮ח ְשׂ ֵר ָ ֣פה ָכ22 וּב ֲח ָמ ֽתֹו׃ ַ אַפֹּו ֖ הוה ְבּ ֔ ָ ְוּצבֹיִ ים ֲא ֶשׁ ֙ר ָה ַפְ֣ך י ְ אַד ָ ֣מה ְ ְ ֽכּ ַמ ְה ֵפּ ַ֞כת ְס ֤ד ֹם וַ ֲעמ ָֹר ֙ה 21 Dann wird das künftige Geschlecht sprechen, eure Söhne, die aufstehen werden nach euch, und der Fremde, der kommen wird aus einem fernen Land, und (wenn sie) sehen die Wunde dieses Landes und seine Krankheiten, die JHWH krank gemacht hat in ihm. 22 Schwefel und Salz verbrannten ihr ganzes Land, es wird nicht besät werden und nicht wird es sprossen lassen, kein Kraut wird auf ihm aufgehen wie bei der Katastrophe von
somit in die Bestimmungen, die das Verhältnis zwischen Gott und Israel regeln. Demnach ist Gott nicht verpflichtet zu vergeben, wenn Israel gegen die im Deuteronomium aufgestellten Satzungen verstößt.“ AaO., 321. 97 Vgl. Seybold, Klaus, Art. חלהin: ThWAT II, Stuttgart u. a. 1977, 960–971; 961. Seybold weist darauf hin, dass wegen „der häufig auftretenden Phonemfolge ḥl“ schwere etymologische Abgrenzungsprobleme auftreten, aaO., 861 f. 98 AaO., 964. 99 Vgl. Paganini, Simon, „Krankheit“ als Element der alttestamentlichen Anthropologie. Beobachtungen zur Wurzel und zu Krankheits-Konstruktionen im Alten Testament, in: Frevel, C. (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament, Quaestiones Disputatae 237, Freiburg/Basel/Wien 2010, 291–299; 292–294.
Vv.3–5: Die Wohltaten JHWHs
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Sodom und Gommora, Adma und Zebojim, die JHWH umgestürzt hat in seinem Zorn und in seiner Wut.
Dtn 29, der Moab-Bund, gilt als ein spätexilisch-frühnachexilischer Zusatz zum Deuteronomium,100 der, wie auch Dtn 4, die Form des zweiseitigen Bundes als eine gescheiterte thematisiert. In seinen Formulierungen knüpft Dtn 29 eng an das ältere Kapitel Dtn 28, die Segen- und Fluchreihe, an. Die Krankheit ist in Dtn 29,21 mit תחלאיםbezeichnet und wird als machtvolles zerstörerisches Handeln JHWHs beschrieben. Das, was diese Krankheit ausmacht, ist ihre Unheilbarkeit. Sie wirkt in einem Ausmaß, das nicht nur das Volk Israel, sondern das gesamte Land betrifft und das einer Rücknahme von Schöpfung gleichkommt – auf dem kranken Land wird nichts mehr wachsen und gedeihen.101 JHWH wird dabei ausdrücklich als derjenige erwähnt, der die Krankheit verursacht hat ( חלאpiel). Der Grund für dieses heftige Strafhandeln JHWHs ist in der Missachtung des Bundes zu suchen: Israel hat den Bund verlassen, anderen Göttern gedient und somit JHWHs Zorn entfacht (Dtn 29,24f). Der Moabbund wird, wie auch der Horebbund in Dtn 4, ganz und gar mit JHWHs Zorn in Verbindung gebracht (Dtn 29,27aβ �ְק ֶצף גָּ ֑דֹול ֣ ֶ וּב ֵח ָ ֖מה וּב ְ )בּאַ֥ף. ְ Das Durchsichtigwerden des Motivs der Krankheit auf den Zustand der Bundeseinhaltung ist für die Deutung von Ps 103 ein interessanter Aspekt, da hier eine hintergründige Verknüpfung von Ps 103,3, dem Heilen von Krankheit, und Ps 103,17f, dem Bewahren des Bundes, entsteht. Die tödliche Krankheit ist in diesem Sinne die sichtbare und erfahrbare Gestalt des JHWH-Zorns über den Bundesbruch; die Heilung ist Zeichen der Gnade Gottes, welche Israel von der Schuld befreit und in Bezug auf die Bundeseinhaltung zu deuten ist. Dtn 29,21ff knüpft an die Fluchreihen in Dtn 28 an, in denen wiederholt beschrieben wird, dass JHWH Land und Menschen Krankheiten bringt, die nicht mehr geheilt werden können (Dtn 28,27 „JHWH wird dich schlagen mit ägyptischem Geschwür, mit Pocken, Grind und Krätze, dass du nicht geheilt werden kannst“; Dtn 28,35 „JHWH wird dich schlagen mit bösen Geschwüren an den Knien und den Waden, dass du nicht geheilt werden kannst, von den Fußsohlen bis zum Scheitel.“). In Dtn 29,21 liegt daher eine Verwendung von תחלאיםvor, 100 Otto hält Dtn 29 für das Werk einer deuteronomistischen Moabredaktion, die das Bundesgeschehen vom Horeb nach Moab verlagert. Vgl. dazu Otto, Deuteronomium, 610–615; zur Literarkritik von Dtn 29 vgl. Braulik in Auseinandersetzung mit den Thesen von D. Kapp: Braulik, Georg, Literarkritik und die Einrahmung von Gemälden. Zur literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Analyse von Dtn 4,1–6,3 und 29,1–30,10 durch D. Kapp, in: Ders., Studien zum Buch Deuteronomium, Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 24, 1997, 29–62. 101 Sebastian Grätz hat in einer Arbeit über den Wettergott die Parallelen von Dtn 28 zum mesopotamischen Adad-Fluch herausgearbeitet und erklärt, dass das Schwefeln und Salzen des Landes, damit nichts mehr wachsen kann, einen Topos der Vergeblichkeitsflüche, die im Kontext des Adad-Fluches anzusiedeln sind, darstellt. Die Behandlung mit Schwefel und Salz, um eine Hungersnot zu provozieren, ist in diesen als Strafhandeln der Wettergottheit Adad anzusehen. Vgl. Grätz, Sebastian, Der strafende Wettergott, BBB 114, Bonn 1998, 87 f.
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Hauptteil: Exegese von Ps 103
die eine Art Sammelbegriff für all die todbringenden Krankheiten an Menschen, Tieren und Pflanzen darstellt, welche ausführlich in den Fluchreihen als Strafe JHWHs beschrieben sind.
3.1.2.2 Jeremia 14,18 und 16,4 Zwei weitere Belege von תחלאיםfinden sich im Jeremiabuch (Jer 14,18; 16,4) in der Klagekomposition (Jer 14,1–15,4) und in dem Selbstbericht Jeremias (Jer 16,1– 9).102 Jer 14,17f: הוה׃ ֽ ָ ְ֖יה ִמ ָסּ ִ ֑ביב ִכּי־א ִ ֹ֥תי ָמ ָ ֖ר ָתה נְ ֻאם־י ָ ְכּשׁ ְֹמ ֵ ֣רי ָשׂ ַ ֔די ָהי֥ וּ ָע ֶל17 :ד־ל ֵ ֽבְּך ִ וּמ ֲע ָל ֔ ַליִ ְך ָע ֥שֹׂו ֵ ֖א ֶלּה ָלְ֑ך ֤ז ֹאת ָר ָע ֵת ְ֙ך ִ ֣כּי ָ֔מר ִ ֥כּי נָ ַג֖ע ַע ֣ ַ ַדּ ְר ֵכּ ְ֙ך18 17 Und du sollst ihnen dieses Wort sagen: „Meine Augen fließen über von Tränen nachts und tags und hören nicht auf, denn (mit) einem großen Zusammenbruch ist sie zusammengebrochen, die Jungfrau, Tochter meines Volkes, ein unheilbarer Schlag, sie ist sehr krank. 18 Wenn ich hinausgehe auf das Feld – Siehe: Erschlagene vom Schwert, und wenn ich in die Stadt komme: Siehe: Erkrankte vor Hunger/Verhungerte. Ja, sowohl Propheten als auch Priester zogen in ein Land und sie kennen (es) nicht.
Jer 14,17f ist Teil eines Dialoges zwischen Jeremia und JHWH, in dem Jeremia die Fürbitte für das Volk verboten wird (Jer 14,11). Jeremia versucht daraufhin, die Schuld des Volkes durch das Auftreten der falschen Propheten zu erklären, welche dem Volk einen Frieden verheißen, den es nicht gibt (Jer 14,14). JHWH aber lässt sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, er bringt als Strafe für die falschen Weissagungen, die er nicht angewiesen hat, Hunger und Schwert zu den Propheten und zu denen, die ihnen zuhören, um sie zu töten. Jer 16,4: דוּ וְ ֣ל ֹא יִ ָקּ ֵ֔ברוּ ֙ יָמתוּ ֤ל ֹא יִ ָ ֽסּ ְפ ֻ֗ מֹותי ַת ֲח ֻל ִ֜אים ֵ֨ ְמ4 וּב ָר ָע ֙ב יִ ְכ ֔לוּ ֽ ָ וּב ֶ ֤ח ֶרב ַ ל־פּ ֵנ֥י ָה ֲא ָד ָ ֖מה יִ ְֽהי֑ וּ ְ ְל ֛ד ֹ ֶמן ַע וּל ֶב ֱה ַ ֥מת ָהאָ ֶֽרץ׃ ְ וְ ָהיְ ָ ֤תה נִ ְב ָל ָת ֙ם ְל ַמ ֲא ָ֔כל ְל ֥עֹוף ַה ָשּׁ ַ ֖מיִ ם 4 Todesarten von Krankheiten werden sie sterben, sie werden nicht betrauert und nicht begraben werden.
102 Vgl. zu einer detaillierten Auslegung der Klagekomposition in Jer 14,1–15,9;16 die Auslegung von Ps 103,17f in dieser Arbeit.
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Sie werden zum Dung auf dem Ackerboden und durch das Schwert und durch den Hunger werden sie umkommen. Und ihre Leichname werden zum Futter für die Vögel des Himmels sein und für das (wilde) Getier des Landes.
Jer 16,4 bezieht sich auf das Verbot zu heiraten und Kinder zu bekommen, das über Jeremia als Zeichen für das Gerichtshandeln JHWHs am Volk verhängt wird. Jeremia soll in Einsamkeit leben, weil alle Mütter, Väter und Kinder in Jerusalem sterben werden. Beide Texte bringen die von JHWH verhängte Krankheit als Strafe für das Volk nicht nur mit dem Tod in Verbindung, sondern darüber hinaus mit dem schutzlosen Ausgeliefertsein der Toten, da sie offen liegen gelassen und nicht begraben werden. Es wird eine Bestrafung beschrieben, die bis über den Tod hinauswirkt.103
3.1.2.3 2Chr 21,19 Die vierte Stelle, an der תחלאיםvorkommt, ist 2Chr 21,19: הו֧ה ְבּ ֵמ ָ ֛עיו ָל ֳח ִ ֖לי ְל ֵ ֥אין ַמ ְר ֵ ֽפּא׃ ָ ְל־ז ֹאת נְ גָ ֨פֹו י ֑ אַח ֵ ֖רי ָכּ ֲ ְ ו18 יָמים ְשׁ ַ֗ניִ ם ֣ ִ וּכ ֵע ֩ת ֵ֨צאת ַה ֵ ֜קּץ ְל ְ יָמים ִמיָּ ִ֡מים ֣ ִ וַ יְ ִ ֣הי ְל19 ם־ח ְלי֔ ֹו וַ ָיּ ָ֖מת ְבּ ַת ֲח ֻל ִ ֣אים ָר ִ ֑עים ָ יָ ְצ ֤אוּ ֵמ ָע ֙יו ִע א־עשׂוּ ל֥ ֹו ַע ֛מֹּו ְשׂ ֵר ָ ֖פה ִכּ ְשׂ ֵר ַ ֥פת ֲאב ָ ֹֽתיו׃ ָ ֨ ֹ וְ ל 18 Und nach all diesem schlug ihn (Joram) JHWH in seinen Eingeweiden mit Krankheit, für die es keine Heilung gab. 19 Und es geschah Tag um Tag und um die Zeit als das Ende zweier Jahre ablief, traten die Eingeweide mit ihrer Krankheit heraus und er starb an böser Krankheit und nicht machte sein Volk für ihn einen Bestattungsbrand wie der Bestattungsbrand seiner Väter.
Erbarmungslos mutet auch die Beschreibung der Krankheit an, mit der König Joram in 2Chr 21 bestraft wird: Aufgrund seiner Anbetung fremder Götter belegt JHWH ihn mit einer Krankheit, die sich über zwei Jahre mit großen Schmerzen erstreckt und die Eingeweide nach außen treten lässt,104 bis Joram unter großen
103 Christoph Barth erklärt, dass die Umstände des Zerfallens nach dem Tod im Alten Testament eine Rolle spielen, vor allem, wenn der Tod als Strafe angesehen wird. Vgl. dazu Barth, Christoph, Die Errettung vom Tode. Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testamentes. Neu hrsg. von Bernd Janowski, Köln 1997, 50 f. 104 Vergleicht man diese Stelle mit Ps 103,1, ist ersichtlich, dass ‚das Innere‘ in einer intakten Gottesbeziehung die Funktion des Gotteslobes erfüllt, während es im Konflikt mit Gott erkrankt, nach außen treten und somit tödlich sein kann. Es sind zwar zwei unterschiedliche Begriffe für das Innere gebraucht ( קרבund )מעה, die aber auch parallel verwendet werden können (Hi 20,14; Jes 16,11).
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Qualen stirbt (2Chr 21,18f). Es handelt sich um eine Krankheit, die, wie es in einem verneinten Partizipialsatz schlicht angemerkt wird, nicht zu heilen ist. Präziser ausgedrückt müsste hinzugefügt werden, dass JHWH die Krankheit, die er geschickt hat, nicht heilen wird, was die Begründung für die Unheilbarkeit darstellt. Auch Jorams Vergehen gegen JHWH ist so schwerwiegend, dass die Konsequenzen bis über den Tod hinaus reichen – zwar wird er begraben, aber nicht, wie es sich für einen König gehört (2Chr 21,20). Als Vorlage der Joram-Erzählung des Chronisten dient 2Kön 8, allerdings wird diese um das Dreifache erweitert. Von der grausamen Krankheit ist in den Königebüchern keine Rede, ebenso wenig wird von einer übermäßigen Fremdgötterverehrung gesprochen. Der Chronist baut den Propheten Elia in seine Erzählung ein, der Joram einen Brief schreibt und ihm vorwirft, er verführe das Volk zur Abgötterei (2Chr 12ff). Deswegen, so schreibt Elia, wird JHWH sein Volk, seine Kinder, seine Frauen, seinen Besitz mit großer Plage schlagen, ihn aber mit schwerer Krankheit. Die qualvolle Krankheit Jorams ist also die explizite Konsequenz dieser speziellen Verfehlung. Der Härtegrad der Schuld, der sich hinter תחלאיםverbirgt, wird klar, wenn man das Schicksal Jorams mit dem des König Asa, seinem Vater, vergleicht, welches vom Chronisten auch eine eigene Prägung bekommt. Von König Asa wird in 2Chr 16 berichtet, dass er an den Füßen erkrankte (חלא V.12)105 und er, obwohl sich seine Krankheit ständig verschlimmerte, nicht JHWH aufsuchte, sondern die Ärzte und alsbald starb (V.13). Das Sterben wird nicht als qualvoll beschrieben (im Gegenteil: er legte sich zu seinen Vätern) und auch das Begräbnis ist einem König standesgemäß (2Chr 16,13f). JHWH schickt in diesem Falle nicht direkt die Krankheit, handelt aber auch nicht als Arzt, wenn er nicht als dieser aufgesucht wird. Das Vertrauen in die falschen Ärzte erweist sich als tödlich. Vergleicht man diese Darstellung des Königs Asa mit der aus den Königebüchern (1Kön 15), ließe sich eine nachgetragene Bestrafung für König Asa vermuten, da dort wohl seine Krankheit erwähnt wird, aber der Passus mit dem Aufsuchen der Ärzte und damit eine theologische Wertung fehlt. König Asa sticht in 1Kön 15 durch das Beendigen der Grenzstreitereien zwischen Israel und Juda hervor, indem er ein Bündnis mit Ben-Hadad, dem Aramäerkönig, eingeht, um Israel zurückzudrängen. Asa wird als ein tapferer Mann beschrieben (V.23), dessen Herz ein Leben lang ungeteilt bei JHWH verweilte (V.15). Die Chronisten deuten das Bündnis mit Ben-Hadad jedoch als Vertrauensverlust zu JHWH und verarbeiten dies durch die Motivik von Krankheit und Heilung, indem sie das fehlende politische Vertrauen auf die Arzt-Patienten- Situation übertragen. Dazu fügen sie eine Episode mit Hanani, dem Seher, ein, der Asa sein Vergehen, das Bündnis mit Ben-Hadad, vor Augen hält, worauf Asa die-
105 Donner deutet an, dass die Füße einen Euphemismus für die Genitalregion darstellen könnten und Asa evtl. ein Leiden an der Prostata hätte haben können. Donner, Herbert, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2, ATD Ergänzungsreihe 4/2, Göttingen 32001, 278.
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sen ins Gefängnis schickt und damit einen weiteren Affront gegen JHWH begeht (2Chr 16,7–10).106 Die kranken Füße stellen nur das vordergründige Leiden dar, während die eigentliche Krankheit tiefgründiger in der Beziehung Asas zu JHWH liegt, die durch mangelndes Vertrauen gestört ist.
3.1.2.4 Ergebnisse Es ist auffällig, dass in allen vier Texten hinter dem Begriff תחלאיםeine unheilbare Krankheit steht, die von JHWH als Strafe geschickt worden ist und die mit dem Tod endet. Die von dieser Krankheit betroffenen Gruppen sind das Volk Israel, Könige sowie das gesamte Land Israel. Es wird deutlich, dass תחלאיםkein individueller Krankheitsbegriff für einen einzelnen Menschen ist, sondern auf ein Kollektiv angewendet wird.107 Es ist also anzunehmen, dass auch in Ps 103 das Kollektiv Israel hinter der Ansprache an die einzelne Seele steht. Eine Auffälligkeit im Begriff תחלאיםliegt weiterhin darin, dass die Bestrafung über den Tod hinaus reicht, weil kein ordnungsgemäßes Begräbnis stattfindet. Dies zeigt einen absoluten Beziehungsabbruch mit JHWH an, der unwiderruflich für alle Zeiten wirkt. תחלאיםscheint also ein Spezialausdruck nachexilischer Zeit zu sein, der im Sinne eines dtn-dtr geprägten Strafzusammenhanges eine Schuld anzeigt, die sich in unheilbarer Krankheit äußert.
Exkurs: JHWH als Arzt108 Die Selbstprädikation JHWHs als Arzt findet sich in der Erzählung von Israel an den Wassern von Mara in Ex 15,22–27. Dort heißt es im Anschluss an die dort stattfindende Gesetzesübergabe in Ex 15,26b: Ich bin JHWH, der dich heilt. Wie 106 Die Einfügung der Propheten in das Chronistische Werk begründet Willi in der Schaffung einer „prophetischen Sukzession“ (229), die in Mose ihre Gründerfigur hat. Da das prophetische Wort, nach Willi, Gotteswort darstellt, stellt der Auftritt der beiden Propheten Elia und Hanani sicher, dass Krankheit und Tod auch wirklich als Zeugnis des mangelnden Vertrauens in JHWH verstanden werden. Willi, Thomas, Die Chronik als Auslegung. Untersuchungen zur literarischen Gestaltung der historischen Überlieferung Israels, Göttingen 1972, 226–229. 107 Die Könige sind durch ihren Status keine Einzelpersonen, sie sind immer im Kontext des gesamten Volkes anzusehen. 108 Das Motiv des Arztes kann hier nur exemplarisch ausgeführt werden, es sei auf die ausführlichen Ausarbeitungen verwiesen von Niehr, Herbert, JHWH als Arzt. Herkunft und Geschichte einer alttestamentlichen Gottesprädikation, in: BZ 35, 1991, 3–17 und Lohfink, Norbert, „Ich bin Jahwe, dein Arzt“ (Ex 15,26). Gott, Gesellschaft und menschliche Gesundheit in einer nachexilischen Pentateuchbearbeitung (Ex 15,25b.26), in: Merklein, H./Zenger, E. (Hg.), „Ich will euer Gott werden“. Beispiele biblischen Redens von Gott, SBS 100, 1981, 13–73. Zum Motiv der Heilung: Scherer, Andreas, Heilung und Heilungsrituale im Alten Vorderen Orient und im Alten Testament, in: Mommer, P./Scherer, A. (Hg.), Geschichte Israels und deuteronomistisches Geschichtsdenken. FS zum 70. Geburtstag von Winfried Thiel, AOAT 380, Münster 2010, 222–240.
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ist diese Aussage innerhalb der Mara-Erzählung zu verstehen? Zunächst muss festgestellt werden, dass die Erzählung in sich nicht kohärent zu sein scheint, da ein deutlicher Unterschied in Sprache und Thematik zwischen den Versen 22–25a.27 und 25b–26 zu erkennen ist. Die Thematik des Wüstendurchzuges und des murrenden Volkes aufgrund des Wassermangels109 wird unterbrochen von einem sehr dichten, theologischen Reflexionstext hinsichtlich der Lebensförderlichkeit der Gesetze und ihrer Notwendigkeit für die Beziehung zu JHWH als heilendem Gott für Israel: Ex 15,25bf: וּמ ְשׁ ָ ֖פּט וְ ָ ֥שׁם נִ ָ ֽסּהוּ׃ ִ ָ ֣שׁם ָ ֥שׂם ל֛ ֹו ֥חֹק25b ֹותיו ָ֔ ֹלהיָך וְ ַהיָּ ָ ֤שׁר ְבּ ֵעינָ ֙יו ַתּ ֲע ֶ֔שׂה וְ ַ ֽה ֲאזַ נְ ָ֙תּ ְל ִמ ְצ ֶ֗ הו֣ה ֱא ָ ְם־שׁ ֨מ ַֹוע ִתּ ְשׁ ַ֜מע ְל ֣קֹול י ָ אמר֩ ִא ֶ ֹ וַ יּ26 הו֖ה ר ְֹפ ֶ ֽאָך׃ ָ ְא־אָשׂים ָע ֔ ֶליָך ִ ֛כּי ֲא ִנ֥י י ֣ ִ ֹ ר־שׂ ְמ ִתּי ְב ִמ ְצ ַ ֙ריִ ֙ם ל ֤ ַ ל־ה ַ ֽמּ ֲח ֞ ָלה ֲא ֶשׁ ַ ל־ח ָ ֑קּיו ָ ֽכּ ֻ וְ ָשׁ ַמ ְר ָ ֖תּ ָכּ 25b Dort setzte er ein für es [das Volk Israel] Satzung und Recht und dort versuchte er es. 26 Und er sprach: Wenn du gewiss hörst auf die Stimme JHWHs, deines Gottes, und das, was gerade ist, in seinen Augen, tust, und wenn du hörst auf seine Gebote und bewahrst alle seine Satzungen, alle Krankheiten, die ich auf Ägypten gelegt habe, nicht werde ich sie auf dich legen, denn ich bin JHWH, der dich heilt.
Diese kurze Sequenz hat es in sich, da in extrem dichter Form verschiedene Traditionsstränge aufgenommen und in einer eigenen Art und Weise kombiniert werden. Vers 25b liest sich wie eine Überschrift für die folgende Moserede, die zweierlei ankündigt: zum einen die Einsetzung von Recht und zum anderen den Plan JHWHs, sein Volk zu versuchen, wobei beide Elemente Auffälligkeiten zeigen. Die Kombination von Satzung und Recht ist bekannt aus dem dtn-dtr Sprachgebrauch, allerdings wird sie dort im Plural gebraucht.110 Der Begriff des „Versuchens“ innerhalb eines überschriftartigen Verses findet sich in Gen 22,1 in der Erzählung von der Opferung Isaaks, in der es letztlich um das Vertrauen Abrahams in die Rettungstaten JHWHs geht, durch welches er sich als gottesfürchtig erweist.111 In diesem Sinne würde das Versuchen in Ex 15,25 eine Brücke zur Selbstprädikation JHWHs als Arzt in V.26 schlagen und das Vertrauen in die Handlungsoptio-
109 Vgl. zu der Wassersymbolik dieser Erzählung Robinson, Bernard, Symbolism in Exod. 15,22–27, in: RevBib 1987, 376–388; 380 f. 110 Vgl. dazu Lohfink, Arzt, 20, Anmerkung 22. 111 Eine Auslegung dieser Erzählung findet sich in den Ausführungen zu den JHWH-Fürchtigen in der Exegese von Ps 103,17f in dieser Arbeit.
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nen JHWHs thematisieren, die sich als heilend erweisen, und nicht in diejenigen, die Krankheit und Tod bringen.112 V.26 liegt in der Struktur eines Kausalverhältnisses von Apodosis und Protasis vor, wie sie z. B. auch in Lev 26 zu finden ist. Interessant ist das Zusammentreffen von verschiedenen Traditionen in Vorder- und Nachsatz. Der Bedingungssatz weist aufgrund seines Inhaltes und der verwendeten Terminologien wieder starke Anklänge an eine dtn-dtr Gesetzesobservanz auf.113 Der Nachsatz, die Selbstexplikation JHWHs als heilender Gott, ist dort allerdings nicht zu finden.114 Der Zusammenhang von Apodosis und Protasis ist nicht leicht zu deuten. Grundsätzlich ist ausgesagt, dass JHWH Arzt sein wird, wenn Israel alle Gebote bewahrt. Wenn Israel aber alle Gebote bewahrt, was in den dtn-dtr Traditionen mit einem gelingenden und daher auch heilen Leben verbunden ist, braucht es keinen Arzt. Die Aussage: „Wenn Israel alle Gebote hält, dann wird JHWH sein Arzt sein“ ergibt keinen Sinn. Sie wäre aber verständlich, wenn in der Forderung der Gebotseinhaltung schon das Scheitern mitgedacht wäre, so dass schon die Einsicht in die Notwendigkeit der Gebotseinhaltung und der Versuch, ihnen gerecht zu werden, eine Begegnung mit JHWH als Arzt ermöglicht. Dies würde die Reflektion des babylonischen Exils als gedeuteter Grunderfahrung des Scheiterns an den Geboten und die Wiederaufnahme des Gottesverhältnisses nach dem Bruch abbilden. Eine zweite Alternative besteht in der Auffassung, dass das Vertrauen in JHWH als Arzt an sich eine Erfüllung der Gebotstradition darstellt. Dies hätte zum einen die Traditionen der Thematik von Krankheit und Heilung im Hintergrund, in denen es hauptsächlich um Vertrauen in JHWH geht (z. B. in den Erzählungen über König Asa und Joram) und würde zum anderen dem Motiv der Versuchung in seiner Auslegung durch Gen 22 entsprechen. Es ist, für welche Alternative man sich in der Deutung auch entscheidet, zusammenfassend festzuhalten, dass es sich bei dieser Selbstexplikation JHWHs um einen jungen Text handelt,115 der die Motivik von Krankheit und Heilung auf verschiedenen Ebenen reflektiert. Grundsätzlich gilt aber auch hier, dass das Verhalten des Volkes Konsequenzen in der Begegnung mit JHWH nach sich zieht, die entweder
112 Ähnlich argumentiert auch Lohfink: „In einem gewissen Sinne wäre das Wort von der Erprobung dann eine Art Theodizee, die einem im Elend lebenden Israel gegeben wird, damit es an seinem Gott nicht verzweifelt und weiß, woran es sich zu halten hat.“ Lohfink, Arzt, 62. 113 Vor allem zu Dtn 13,19. Lohfink macht allerdings in seiner umsichtigen Analyse der Verse schon auf Differenzen aufmerksam, die Ex 15,26 ein eigenes Profil geben, z. B. die Verwendung von Begriffen, die terminologische Überschneidungen von dtn-dtr und P bieten, Änderungen in den grammatikalischen Konstruktionen usw. Vgl. dazu aaO., 34–37. 114 Lohfink nennt hier Lev 26,3–13 und Dtn 4,24.31 sehr vage als „in die Nähe der Priesterschrift gestellt“; aaO., 23. Beide Texte weisen wohl eher eine nachpriesterliche Diskussion auf, welche sich um ein Zusammendenken von dtn-dtr und P-Traditionen bemühen. Ob es sich bei den von Lohfink angegebenen Textstellen wirklich um vergleichbare Explikationen JHWHs handelt, ist fraglich. Zuzustimmen ist aber sicherlich der Grundbeobachtung, dass Ex 15,26 diesen Texten in der Art der Reflexion nahe kommt. 115 Lohfink datiert in die Perserzeit; aaO., 41.
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krankheitsbringend oder heilend sind. Diese Unausweichlichkeit der Begegnung thematisiert besonders der Prophet Hosea, der sich in einem deutlich älteren Text als Ex 15,25f mit der Motivik von Krankheit und Heilung auseinandersetzt. Um das eigentlich gewollte Arztsein auszuüben, muss JHWH, so zeigt es Hos 5,12–13, sogar als Krankheit erscheinen, um das eigenmächtige Handeln seines Volkes zu unterbrechen und sich wieder präsent zu machen. In den Koalitionsbemühungen im Syrisch-Ephraimitischen Krieg setzt Israel sein Vertrauen auf die Hilfe Assurs, so dass JHWH als „Eiter und Knochenfraß“ (Hos 5,12) sein Volk heimsucht. Ganz nach dem Grundsatz similia similibus currentur kann nur JHWH der Arzt von JHWH der Krankheit heilen. Er erzwingt durch sein Handeln in Krankheit im Grunde eine Begegnung mit JHWH dem Arzt. Jeremias spricht in seiner Auslegung zu Hos 5 davon, dass es „kein Vorbei“116 an JHWH gebe. Unter welchen Vorzeichen diese Begegnung stattfindet und welche Art der Veränderung sie bewirkt, liegt zum einen an der Einsicht und Erkenntnisfähigkeit Israels als auch an der Bereitschaft JHWHs, an seinem grundsätzlichen Arztsein festhalten zu wollen, auch wenn diese erst durch Krankheit zum Vorschein gebracht werden kann. Erst durch die Krankheit wird die Notwendigkeit des Arztes bewusst. Das ist für den Propheten, die Kehrseite des Bekenntnisses zu Jahwe als dem alleinigen Retter (13,14): Das Gottesvolk bekommt es so oder so in seiner Not mit seinem Gott zu tun, sei es als heilendem Arzt, sei es – im Falle der Abweisung – als reißendem Löwen [das ist die Steigerung des Krankheitsgedankens in Hos 5,12 f.; Hinzufügung ACF]. Gott ist Israels Grund zum Leben oder aber seine Ursache zum Tod. Ein Sich-Vorbeistehlen an ihm ist unmöglich.117
Alle Belegstellen zur Motivik von Krankheit und Heilung zeigen in Variationen die existenzielle Grundstruktur der Beziehung von JHWH als Arzt zu seinem Volk und darüber- hinaus die damit verbundenen Zumutungen für beide Seiten. Während es zu JHWHs Selbstverständnis gehört, Arzt zu sein (Ex 15,26), muss Israel diese Einsicht immer wieder neu begreifen. In den Stellen allerdings, in denen תחלאיםgebraucht wird, tritt JHWH von seinem Selbstverständnis, Arzt zu sein und heilend einzugreifen, zurück und erscheint nur noch als Krankheit, um aufzuzeigen, dass eine positive Beziehung zu ihm unter den Umständen der Versündigung nicht mehr möglich ist und nicht mehr sein wird. Der Begriff תחלאיםwird daher, im Gegensatz zur gebräuchlichen Verwendung der Motivik von Krankheit und Heilung, nicht mehr eingesetzt, um in eine erneute Gottesbeziehung zu treten und JHWH dem Arzt zu begegnen, sondern wird zur Demonstration des Beziehungsabbruches.118 116 Jeremias, Jörg, Der Prophet Hosea, ATD 24/1, Göttingen 1983, 82. 117 AaO., 83. 118 Soweit geht auch der Prophet Hosea nicht, da auch in dem massiven Auftreten als Krankheit und trotz der Löwendrohung noch die Möglichkeit zur Umkehr zu JHWH intendiert wird. Vgl. dazu die Auslegung zu Hos 5,15 (der Rückzug JHWHs); aaO., 83 f.
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3.1.2.5 Das Heilen von Krankheit in Ps 103 In Ps 103,3 wird das, was den Begriff תחלאיםin den übrigen Belegstellen ausmacht, auf den Kopf gestellt. תחלאיםtritt von der Seite des tödlichen Zorns auf die des göttlichen Erbarmens, indem die Schuld, welche die Krankheit provoziert hat, vergeben und die sonst tödlich verlaufende Krankheit geheilt wird. Statt von einer Bestrafung über den Tod hinaus ist von einer Erlösung des Lebens aus dem Grab die Rede (Ps 103,4). Das qualvoll an seiner schuldbedingten Krankheit verendende, den Tieren zum Fraße überlassene Israel wird durch die Vergebung zu einer majestätischen Größe, gekrönt mit Güte und Erbarmen, für die Dauer seines Daseins mit Gutem und mit jugendlicher Kraft ausgestattet (Ps 103,5). Die Rettungstaten des Hymnus lesen sich nahezu wie eine Umkehrung der Traditionen, die sich mit תחלאיםverbinden. Psalm 103 scheint also explizit auf die spezielle nachexilische Verwendung des Begriffes תחלאיםzu reagieren. Dafür spricht auch, dass es sehr viel näher gelegen hätte, ein anderes Nomen aus der Wortgruppe חלה zu verwenden, wenn ein allgemeiner Ausdruck von Kranksein hätte ausgedrückt werden sollen, z. B. der viel bedeutungsoffenere Begriff חלי. Weiterhin ist die Verwobenheit von תחלאיםund סלחauffällig. Auch סלחbezeichnet im dtn-dtr Verstehenshorizont, dem vermutlich auch תחלאיםentspringt, die Grenze der Vergebungsbereitschaft JHWHs und das (tödliche) Gerichtshandeln JHWHs als Folge der Verschuldung. Beide Begriffe weisen somit einen traditionsgeschichtlichen Hintergrund auf, der einen deutlichen, nicht wiederherstellbaren Beziehungsabbruch im Gottesverhältnis markiert. Beide Begriffe werden in Psalm 103 als eine durch JHWHs Gnade gewährte Aufnahme des Beters in JHWHs eingesetzte, heilvolle Ordnung beschrieben. Die Zusammenstellung der beiden Begriffe und ihre Einordnung in die Gnadentheologie scheint in bewusster Reflektion der vorausgegangenen theologischen Deutungszusammenhänge geschehen zu sein. Die Motivik von Schuld und Vergebung zeigt außerdem eine starke Vernetzung von Aussagen tiefster Niedrigkeit und Erhabenheit, wie sich diese zueinander verhalten, soll im Fortgang erörtert werden.
3.1.3 Ps 103 im Kontext von Niedrigkeits- und Majestätsaussagen Betrachtet man die Beschaffenheit der Mitglieder der theologischen Größe Israel in Ps 103 ohne die Gnadentaten, die JHWH an ihnen vollzieht, zeigt sich ein armseliges Bild. Zurück bleibt ein durch und durch in Schuldverstrickungen gefangenes, sterbliches Israel, von dem nach seinem Tod keine Erinnerung bleiben wird. Gerade die vielfach betonte Wegnahme der Schuld ist ein ausgefeiltes Zentralmotiv des Psalms: Die Vergebung der Schuld in V.3 prägt den gesamten Hymnus, die Gnadenformel verweist auf die Sünde des goldenen Kalbes und die Gnade JHWHs, welche die Versündigung überwiegt (V.8). Die Schuld Israels wird nicht im gleichen Maßstab vergolten (V.10), sie wird sogar von JHWH ferngehalten
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(V.12). Das massive Eingreifen JHWHs ergibt nur Sinn, wenn Israel ein umfassendes schuldhaftes Dasein zugewiesen wird. Es geht hier nicht um einzelne Taten einzelner Personen, sondern um generelle Schuldhaftigkeit. Diese steht im Zusammenhang mit der generellen Sterblichkeit des Menschen. Ein Mensch, der sterblich geschaffen ist, hat keine Möglichkeit mehr, ohne Schuld zu leben, da sein Fleisch-Sein, seine Geschöpflichkeit an sich unvollkommen ist und ihn in Abstand zu seinem Schöpfer setzt. Dieser Gedanke liegt in ausformulierter Form in den Qumranschriften vor, lässt sich aber auch schon im Alten Testament beobachten.119 Markus Witte legt diesen Zusammenhang anhand der Niedrigkeits- und Majestätsaussagen im Hiobbuch aus und nennt Ps 103 als eine motivische Parallele zu Hi 4,17 und 7,1 ff.120
3.1.3.1 Niedrigkeit im Hiobbuch Niedrigkeitsaussagen konstituieren sich, elementar formuliert, durch die kreatürliche Sündhaftigkeit (Bekenntnis von Schuld und kreatürliche Nichtigkeit) auf Seiten des Menschen und der Gerechtigkeit ( )צדקהGottes.121 An Hi 4,17–21 kann gut dargestellt werden, wie diese Argumentation funktioniert: ר־גּ ֶבר׃ ֽ ָ ַֽ ֭ה ֱאנֹושׁ ֵמ ֱאל֣ ַֹוה יִ ְצ ָ ֑דּק ִ ֥אם ֵ֝מע ֵֹ֗שׂהוּ יִ ְט ַה17 :אָכיו יָ ִ ֥שׂים ָתּ ֳה ָ ֽלה ָ֗ ֵ ֣הן ַ ֭בּ ֲע ָב ָדיו ֣ל ֹא יַ ֲא ִ ֑מין וּ ְ֝ב ַמ ְל18 :י־עשׁ ֽ ָ ֵסֹודם ְי ַ֝ד ְכּ ֗אוּם ִל ְפנ ֑ ָ ְר־בּ ָע ָ ֥פר י ֶ אַ֤ף שׁ ְֹכ ֵ֬ני ָ ֽב ֵתּי־ ֗חֹ ֶמר ֲא ֶשׁ19 אבדוּ׃ ֽ ֵ ֹ ִמ ֣בֹּ ֶקר ָל ֶע ֶ֣רב ַיֻכּ֑תּוּ ִמ ְבּ ִ ֥לי ֵ֝מ ִ֗שׂים ָל ֶנ ַ֥צח י20 ֲהלֹא־נִ ַ ֣סּע יִ ְת ָ ֣רם ָ ֑בּם ָי ֗֝מוּתוּ וְ ֣ל ֹא ְב ָח ְכ ָ ֽמה׃21 17 Wie kann der Mensch gerecht sein vor Gott oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat? 18 Siehe, seinen Knechten glaubt er nicht, und seinen Boten wirft er Torheit vor: 19 wieviel mehr denen, die in Lehmhäusern wohnen, deren Fundament aus Staub besteht, man zermalmt sie schneller als Motten. 20 Vom Morgen bis zum Abend werden sie zerschlagen, unbeachtet bis sie zugrunde gehen. 21 Wird nicht ihr Zeltseil herausgerissen? So sterben sie, aber nicht mit Weisheit.
119 Vgl. dazu z. B. Kaiser, Otto, Vom offenbaren und verborgenen Gott. Studien zur spätbiblischen Weisheit und Hermeneutik, BZAW 392, Berlin 2008, 231. 120 Witte, Markus, Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang (Hiob 21–27) und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, BZAW 230, Berlin 1994, 109 f. 121 Vgl. Lichtenberger, Hermann, Studien zum Menschenbild in Texten der Qumrangemeinde, StUNT 15, Göttingen 1980, 74.
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Die Verse setzen ein mit der Frage nach der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott, beantworten sie durch eine Reflexion der kreatürlichen Niedrigkeit (im Staub gegründet) und schließen mit einem „doppelten Vernichtungsbild“ (Vv.20.21).122 Das Bild der Niedrigkeit kann durch unterschiedliche Kontexte ausgestaltet werden, z. B. durch eine kosmologische Ausweitung wie in Hi 15,14–16: י־י ְ֝צ ַ ֗דּק יְ ל֣ וּד ִא ָ ֽשּׁה׃ ִ ה־אנ֥ ֹושׁ ִ ֽכּי־יִ זְ ֶכּ֑ה וְ ִ ֽכ ֱ ָ ֽמ14 ֵ ֣הן ִבּ ְקד ָֹשׁו ֣ל ֹא יַ ֲא ִ ֑מין וְ ָ֝שׁ ַ֗מיִ ם לֹא־זַ ֥כּוּ ְב ֵע ָינֽיו׃15 אַ֭ף ִ ֽכּי־נִ ְת ָ ֥עב ְ ֽונֶ ֱא ָל֑ח ִאישׁ־שׁ ֶ ֹ֖תה ַכ ַ ֣מּיִ ם ַעוְ ָ ֽלה׃16 14 Was ist der Mensch, dass er rein dasteht und dass er gerecht ist, geboren von einer Frau? 15 Siehe, seinen Heiligen glaubt Gott nicht und die Himmel, nicht sind sie rein in seinen Augen. 16 Wieviel weniger der, der abscheulich und verderbt ist, jemand, der Unrecht trinkt wie Wasser.
Wenn nicht einmal die himmlischen Wesen und die gesamte himmlische Sphäre vor JHWH bestehen kann, wie sollte es der Mensch? Noch gegensätzlicher formuliert Hi 25,4–6: ה־יּ֝זְ ֶ֗כּה יְ ל֣ וּד ִא ָ ֽשּׁה׃ ִ וּמ ַ ם־אל ֑ ֵ וּמה־יִּ ְצ ַ ֣דּק ֱאנ֣ ֹושׁ ִע ַ 4 ֝כֹוכ ִ֗בים לֹא־זַ ֥כּוּ ְב ֵע ָינֽיו׃ ָ ְד־י ֵ֭ר ַח וְ ֣ל ֹא יַ ֲא ִ ֑היל ו ָ ֵ ֣הן ַע5 תֹּול ָ ֽעה׃ ֵ וּבן־אָ ָ ֗֝דם ֶ י־אנ֣ ֹושׁ ִר ָ ֑מּה ֱ אַ֭ף ִ ֽכּ6 4 Und wie ist ein Mensch gerecht vor Gott? Und wie ist er rein geboren von einer Frau? 5 Siehe, auch der Mond scheint nicht hell, und die Sterne sind nicht rein in seinen Augen – 6 wieviel weniger der Mensch, eine Made, und das Menschenkind, ein Wurm!
Auch die theologische Argumentation von Ps 103 wird geprägt durch die Gegensätze von menschlicher Niedrigkeit und göttlicher Hoheit, die auf unterschiedliche Weise konstituiert werden: Durch die Zeit: Vergänglichkeit des Menschen und Ewigkeit JHWHs; durch den Raum: Erde/unter der Erde und der Himmel samt himmlischen Wesen, die hier durchweg positiv und mächtig beschrieben sind; und natürlich durch die Handlungsoptionen: Schuld und Gnade/Gerechtigkeit. Es geht in Ps 103 allerdings nicht darum, in grundsätzlicher Art zu beschreiben, was den Menschen an sich ausmacht, er entwirft keine klassische Anthropologie wie z. B. in Ps 8 und Hi 4,17; 15,14; 25,4. Es geht um das Volk Israel, das durch die theologische Dimension der Vergebung neu konstituiert wird. Die Frage, die zu stellen ist, lautet also nicht: Was ist der Mensch? Sondern: Was ist ein Israel, das aus der Zusage der Vergebung lebt?
122 Vgl. Witte, Leiden, 92.
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In dieser Zusage als Basis einer Anthropologie, die freilich nicht unabhängig von JHWHs Tun an Israel in den Blick genommen werden kann, resultiert der große Unterschied zu den Hiob-Texten. Israel muss in Ps 103 nicht in seiner Niedrigkeit verharren, sondern wird in den göttlichen Majestätsbereich aufgenommen. Auf der Bildebene ist das am deutlichsten an Ps 103,4 zu sehen: „Der auslöst dein Leben aus dem Grab, der dich krönt mit Güte und Erbarmen.“ Dem sterblichen Volk wird buchstäblich die Krone aufgesetzt, wodurch es Anteil bekommt an der Königlichkeit Gottes. Dieses Ineinandergreifen von Niedrigkeit und Hoheit prägt den ganzen Psalm, indem JHWH die Schwäche seines Volkes in gewisser Weise kompensiert durch seine Vergebung, sein Gedenken und seine himmlischen Wesen, die es sowohl entlasten als auch an ihrer Nähe zu JHWH partizipieren lassen. Doch geht Ps 103 noch einen Schritt über die von JHWH gewirkte Kompensation der menschlichen Schwäche hinaus, indem er das Gotteslob des Menschen als ideale Beziehung darstellt, durch welches das Volk trotz seiner Niedrigkeit eine adäquate Haltung zu JHWH einnehmen und somit auch aus seinem Schatten heraustreten kann.
3.1.3.2 Psalm 51 Als ein weiterer interessanter Vergleichstext zu Ps 103 und der Frage nach einer Gottesbeziehung trotz eines schuldhaften Menschseins erweist sich Ps 51, dessen Hintergrund der kultische Umgang mit Schuld und die Möglichkeit ritueller Vergebung ist. Auch Ps 51 differenziert zwischen den verschiedenen Arten von Schuldverstrickungen, in denen sich der Mensch befindet: Zum einen benennt er die Tatschuld (Vv.5–6), zum anderen aber auch die allgemeine Schuldhaftigkeit, welche als eine anthropologische Konstante erscheint (V.7).123 Anders als in Ps 103 wird das Schuldigsein nicht an die Vergänglichkeit geknüpft, sondern an die Geburt: חֹול ְ֑ל ִתּי וּ ְ֝ב ֵ֗ח ְטא ֶי ֱֽח ַ ֥מ ְתנִ י ִא ִ ֽמּי׃ ָ ן־בּ ָעו֥ ֹון ְ ֵה7 7 Siehe, in Schuld bin ich geboren worden, und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.
Hartenstein deutet diesen Vers auf dem Hintergrund der „den Psalm prägenden Erkenntnisvorgänge“, welche
123 Vgl. zur Schuldhaftigkeit als conditio humana: Hartenstein, Friedhelm, Gott als Horizont des Menschen. Nachprophetische Anthropologie in Psalm 51 und 139, in: Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 23, Leipzig 2006, 491–512; 506.
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keine Erinnerung beibringen können, die ohne Schulderfahrung wäre. Es gibt keine Möglichkeit, sich aus dem eigenen Verfehlthaben herauszudenken.124
Hinzuzufügen wäre, dass die Geburt, wie auch der Tod, als Grunddaten menschlichen Daseins Komponenten des Schmerzes, des Unfertigen und des Entzogenen in sich tragen und deshalb die Unvollkommenheit des Lebens am stärksten abbilden. Es handelt sich bei diesem Vers nicht nur um ein erkenntnistheoretisches Argument, sondern um eine grundlegende Aussage über die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens an seinen Schaltstellen Geburt und Tod. Dies wird auch an der Form der Bewältigung, die in Ps 51,12–14 genannt wird, deutlich: ֹלהים וְ ֥ר ַוּח ָ֝נ ֗כֹון ַח ֵ ֥דּשׁ ְבּ ִק ְר ִ ֽבּי׃ ֑ ִ א־לי ֱא ֣ ִ ֵל֣ב ָ ֭טהֹור ְבּ ָר12 אַל־תּ ַ ֥קּח ִמ ֶ ֽמּנִּ י׃ ִ יכנִ י ִמ ְלּ ָפ ֶנ֑יָך וְ ֥ר ַוּח ָ ֝ק ְד ְשׁ ָ֗ך ֥ ֵ אַל־תּ ְשׁ ִל ַ 13 יבה ִת ְס ְמ ֵ ֽכנִ י׃ ֣ ָ ָה ִ ֣שׁ ָיבה ִ ֭לּי ְשׂ ֣שֹׂון יִ ְשׁ ֶעָ֑ך וְ ֖ר ַוּח נְ ִד14 12 Ein reines Herz schaffe für mich, Gott, und einen festen Geist erneuere in meinem Inneren. 14 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und den Geist deiner Heiligkeit nimm nicht von mir weg. 15 Lass für mich zurückkehren den Jubel (über) deine Hilfe, und mit einem willigen Geist stütze mich.
Der Beter des Psalms bittet um eine Neuschöpfung, die nicht den ‚Makel‘ der Menschlichkeit trägt. Hartenstein verweist an dieser Stelle auf die Vorlage der prophetischen Heilsankündigungen in Jer 31 und Ez 36 (die Rede vom neuen Herzen).125 Auch wenn die Struktur der allgemeinen Schuldhaftigkeit von Ps 51 vergleichbar zu Ps 103 ist, die Art der Bewältigung legt einen anderen Schwerpunkt als die prophetische Traditionslinie in Ps 51. In Ps 103 wird nicht der Versuch unternommen, den Menschen in den klassisch anthropologischen Kategorien (Herz, Geist, Fleisch usw.) neu zu schaffen, damit er als verbesserte zweite Auflage in das Gottesverhältnis eintreten kann.126 An der Grundausstattung des Menschen wird zwar nichts geändert, es werden aber Bedingungen geschaffen, durch welche er als dieser Mensch, der er ist, vor Gott treten kann. Ps 103 scheint an dieser Stelle eher den Bezug zur Priesterschrift zu suchen, vor allem zur Anthropologie und Theologie der Flutgeschichte. Auch hier ist es nicht der Mensch, der sich ändert (Gott schließt seinen Bund schließlich mit allem 124 AaO., 507. 125 AaO., 508. 126 Auch die Aussage der Erneuerung der Jugend in Ps 103,5 ist so nicht zu sehen, da es eine Art intrinsische Erneuerung ist. „Deine Jugend erneuert sich“ ist also kein Ausdruck einer anderen, von außen eingesetzten Jugend.
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Fleisch, בשרals Ausdruck des sündigen, sterblichen Menschen), sondern Gott und seine Bedingungen für den Menschen. Ein Schlüsselbegriff der priesterlichen Fluterzählung ist das Verb gedenken ()זכר, das im Verlauf der Erzählung den Wendepunkt der Flut markiert (Gen 8,1): ל־ה ַחיָּ ֙ה ֽ ַ ֹלה ֙ים ֶאת־ ֔נ ֹ ַח וְ ֵ ֤את ָכּ ִ וַ יִּ זְ ֤כֹּר ֱא1 ל־ה ְבּ ֵה ָ֔מה ֲא ֶ ֥שׁר ִא ֖תֹּו ַבּ ֵתּ ָ ֑בה ַ ת־כּ ָ וְ ֶא ל־האָ ֶ֔רץ וַ יָּ ֖שׁ ֹכּוּ ַה ָ ֽמּיִ ם׃ ָ וּח ַע ֙ ַ ֹלהים ֙ר ֥ ִ וַ יַּ ֲע ֵ֨בר ֱא 1 Und Gott dachte an Noah und an alle Wildtiere und an alles Vieh, das bei ihm in der Arche war. Und Gott ließ einen Wind über die Erde wehen, sodass die Wasser sanken.
Danach wird es für das Festhalten Gottes am Bund gebraucht (Gen 9,15), dass keine neue Flut mehr die Erde überdeckt. Janowski kommt in seinen Ausführungen zur Bedeutung des Gedenkens in der priesterlichen Flutgeschichte zu folgendem Schluss: Es ist alleine dieses Gedenken, das die Rettung bringt, weil sich in ihm die Umkehr Gottes von der Vernichtung zur Bewahrung der Schöpfung vollzieht.127
Auch in Ps 103,14 stellt das Gedenken JHWHs einen zentralen Wendepunkt dar: „Denn er kennt unser Gebilde, er ist eingedenk, dass wir Staub sind“ – das Gedenken JHWHs findet seinen Ausdruck in der Schuldvergebung als Kompensation der Sterblichkeit. In den bundestheologischen Aussagen des Psalms ist mit der Wendung „den Bund bewahren“ ein Ausdruck verwendet, den die Priesterschrift für Israel als Bundespartner gebraucht. Es legt sich daher nahe, auch den Bund in priesterschriftlichen Kontexten weiter zu analysieren.
3.1.3.3 Niedrigkeit und Hoheit in 1QH und 1QS Witte macht darauf aufmerksam, dass das Sündenbewusstsein in jungen Texten der Niedrigkeitstheologie relativiert wird durch „pneumatologische, erwählungsund prädestinationstheologische“ Aussagen, und bezieht sich dabei vor allem auf die Qumranschriften 1QH (Hodayot) und 1QS (Gemeinderegel).
127 Janowski, Bernd, Das Zeichen des Bundes. Gen 9,8–17 als Schlussstein der priesterlichen Fluterzählung, in: Dohmen, C./Frevel, C. (Hg.), Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel, SBS 211, Stuttgart 2007, 113–121; 121.
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Ob der Begriff „Relativierung der allgemeinen Sündhaftigkeit“, den Witte gebraucht, wirklich den Kern der Sache in den Qumranschriften trifft, muss hinterfragt werden. Präziser stellt es Lichtenberger dar, der in seiner Auslegung der Hodayot und der Gemeinderegel festhält, dass der Mensch zwar in seiner Niedrigkeit bleibt, dass er aber durch die Vergebung Gottes zu einem Wandel und zum göttlichen Lobpreis befähigt wird, der das eigentliche Ziel des göttlichen Handelns am Menschen darstelle.128 Auch hier ist es vermutlich angebrachter, nicht vom Menschen an sich zu reden, denn die Qumran-Texte haben die Qumran-Gemeinschaft als Ansprechpartner vor Augen. Im Folgenden wird also von „der Gemeinschaft“ gesprochen, es sei denn, es ist explizit das Menschsein an sich als Ausdruck der Geschöpflichkeit gemeint. Wie an Ps 103 zu sehen ist, scheint das Ineinander von Niedrigkeit und Hoheit ein komplexer Prozess zu sein, der aus mehreren Komponenten besteht und letztlich die Qualität des Daseins Israels auf eine höhere Ebene hebt. Auch wenn Israel, wie alle geschaffenen Wesen, die Grundkonstanten des Lebens wie Sterblichkeit und Sündhaftigkeit nicht abstreifen kann, wird die Bewältigung dieser unhintergehbaren Gegebenheiten doch gravierend beeinflusst. Im Folgenden wird kurz ein Blick auf die Hodayot und 1QS geworfen, um aus dieser Perspektive noch einmal zu Ps 103 zurückzukommen. Für die Hodayot ist die Grundlage der menschlichen Erkenntnis über das, was den Menschen ausmacht und das, was Gott ausmacht, die Einsicht in die Größe der Schöpfungswerke (ein wichtiger Gedanke, wenn man die Zusammengehörigkeit von Ps 103 und Ps 104 bedenken will). So beginnen die Hodayot mit dem Schöpfungshymnus 1QH 1:1–39 (SE129)/9:3–41 (DJD130), der die Entstehung von Himmel und Erde nach der göttlichen Ordnung ausführlich darstellt (11–17). Gott selbst öffnet der Gemeinschaft die Augen für sein Schöpfungswerk, was zur Einsicht der Niedrigkeit führt (23–25). Doch bleibt der Hymnus nicht bei dieser Erkenntnis stehen. Durch Gottes Gnade und Barmherzigkeit wird den Mitgliedern der Gemeinschaft ihre Schuld vergeben, so dass sie würdig sind, Gottes Größe mit Lobpreis zu begegnen (33–35). Die Schuldvergebung mit dem Ziel, zu der Gemeinschaft zu gehören, die Gott Ehre erweisen kann, ist ein starkes Motiv in den Hodayot und in 1QS131. 1QH XI 20–24: 20 I thank you lord, that you have redeemed my life from the pit and from Sheol-Abbandon, 21 you have lifted me up to an eternal height […].I know that there is hope for one whom 22 you have formed from the dust for an eternal council. And a perverted spirit you have purified from great sin that it might take its place with
128 Vgl. Lichtenberger, Menschenbild, 88. 129 Sukenik’s Edition. 130 Discoveries in the Judaean Desert. 131 8:24–27 (DJD).
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23 the host of the holy ones and enter into community with the congregation of the children of heaven. And you cast for a person an eternal lot with the spirits 24 of knowledge, that he might praise your name in a common rejoicing and recount your wonderful acts before all your works. 1QS XI, 14–15: 14 he will judge me in the justice of his truth, and in his plentiful goodness always atone for all my sins; in his justice he will cleanse me from the uncleanness of 15 the human being and from the sin of the son of man, so that I can give God thanks for his justice and The Highest for his majesty.
Es scheint in den Hodayot und 1QS primär darum zu gehen, dass die Einsicht in die Niedrigkeit des Menschen angesichts der Größe Gottes zu einer Haltung der Mitglieder der Gemeinschaft führt, die über das Bekenntnis der eigenen Niedrigkeit das Handeln Gottes an ihm erwartet. Es geht nicht darum, aus eigener Leistung sündenfrei zu werden, was angesichts der sterblichen Konstitution (wiederholte Betonung des Staubes als Grundsubstanz des menschlichen Wesens) nicht gelingen würde. Alles, was den Abstand zwischen Gott und Mensch geringer macht, muss durch Gott selbst geschehen. Der Akt der Vergebung setzt die Mitglieder der Gemeinschaft erst auf eine Ebene, auf der sie Gott in anbetendem Lobpreis begegnen können. Dieses Denken betrifft auch den Umgang mit der Bundestheologie. Der Eintritt in den Bund in den Hodayot ist zunächst nicht mehr an die Aufgabe der Gemeinschaft gebunden, ihn zu halten, sondern er fungiert wie eine Art Eingangstür in die Gemeinschaft mit Gott, die sich dem öffnet, der dafür erwählt und dem Vergebung gewährt worden ist: 1QH VII 27–30: 27 You alone created 28 the righteous, and from the womb you prepared him for the time of favor []ומרחם הכינוחו למועד רצון, to be attentive to your covenant [ ]להשמר בבריתךand to walk in all (your way), and to advance (him) upon it 29 in your abundant compassion, and to relieve all the distress of his soul for eternal salvation and everlasting peace, without lack. And so you raise 30 his honor higher than flesh.132
Auffällig an dieser Stelle ist das sich überschneidende Vokabular mit Ps 103 (Erbarmen [ רחםVv.4.8.13], fest gründen/bereiten [ כוןV.19], Bund bewahren [ שמר בריתV.21], Wohlgefallen [ רצוןV.21]). Evtl. könnte an eine Abhängigkeit von Ps 103 gedacht werden, wobei die Motive in eine bestimmte Richtung gelesen und entwickelt werden. Aus denen, die JHWH fürchten (Ps 103), werden die
132 Gerade in dieser Aussage wird deutlich, dass Israel aus seiner Niedrigkeit herausgehoben wird und nicht in ihr verharren muss.
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Gerechten (1QH 7:28) im Gegensatz zu den Gottlosen (1QH 7:30). Der Bund kann bewahrt werden, da der Gerechte zuvor zum Wohlgefallen Gottes bereitet wird – der Gedanke von Prädestination und Dualismus lässt sich in dieser ausgeführten Form nicht in Ps 103 feststellen. Bevor zu prüfen ist, was sich von den Hodayot auch schon in Ps 103 ablesen lässt, noch eine weitere Stelle, die den Bund betrifft. In 1QS geht es um die jährliche Neuverpflichtung der Gemeindemitglieder auf den Bund, dem ein Sündenbekenntnis und das Gedenken des göttlichen Erbarmens vorausgehen.133 1QS I,21–II,1: 21 The priests shall recite the just deeds of God in his mighty works 22 and they shall proclaim all his merciful favours towards Israel. And the levites shall recite 23 the inquities of the children of Israel, all they blameworthy offences and their sins during the dominion of 24 Belial. And all those who enter the covenant shall confess after them and they shall say: “We have acted sinfully, 25 we have transgressed, we have sinned, we have committed evil, we and our fathers before us […] II,1 but he has showered on us his merciful favour []ורחמי חסדו גמל עלינו134 for ever and ever […]
Der Ablauf zum Eintritt in den Bund lässt sich hier exakt ablesen: Der Priester erinnert an die Heilstaten Gottes, die er an Israel getan hat, und an Israels Schuldgeschichte. Daran schließt sich ein kollektives Sündenbekenntnis der gegenwärtigen Gemeinde an, die sich in Verbundenheit zu den Vätern sieht und Einsicht in das sich erbarmende Handeln Gottes zeigt, das nicht mit der Schuld abrechnet. Auch in diesem Ritual ereignet sich ein Akt der Selbst- und der Gotteserkenntnis, durch welchen das Gemeindemitglied befähigt wird, in den Bund einzutreten. Der Eintritt in den Bund ist dennoch nicht gleichzusetzen mit einer Befreiung von Bundesverpflichtungen, d. h. dem Tun der Tora. Gerade am Bewahren der Gesetze entscheidet sich schließlich das Leben in der Gemeinde.135 Dem Bund kommt somit eine doppelte Funktion zu: Zum einen kann jedes Mitglied der Gemeinschaft136, das die notwendige Einsicht in Schuld und Vergebung hat, in den Bund eintreten und in Beziehung zu Gott leben. Zum anderen ist, wenn dieser Eintritt geschehen ist, der Bund das Zeichen eines Lebens, das nicht in Beliebigkeit, sondern nach den Regeln der Tora geführt wird. Dies geschieht allerdings in dem Wissen, dass die Gesetze durch die Beschaffenheit des Menschen 133 Vgl. Lichtenberger, Menschenbild, 94 f. 134 Interessant ist an dieser Stelle die Verwendung von גמלin dem Kontext von Gnade und Erbarmen ebenso wie in Ps 103. 135 Vgl. Lichtenberger, Menschenbild, 201. 136 Lichtenberger führt aus, dass die Gemeinde eine starke Beitrittsoffenheit hatte für alle, die bereit waren, nach ihrem Bekenntnis zu leben. Vgl. aaO., 204.
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nicht vollständig eingehalten werden können, weshalb die Vergebung Gottes der stärkste Faktor zur Aufrechterhaltung des Systems wird.
3.1.4 Ergebnisse Blickt man auf Ps 103 aus der Perspektive der Niedrigkeits- und Hoheitsmotive des Alten Testamentes und der jüngeren Qumrantexte, lassen sich folgende Beobachtungen festhalten: Die beiden Topoi der Niedrigkeitstheologie, Sündhaftigkeit und Vergänglichkeit, werden durch das Gnadenhandeln JHWHs miteinander in Beziehung gesetzt (V.13 erweist sich als Scharniervers zwischen Sündenvergebung und Sterblichkeit). Die Hoheit JHWHs steht nicht der Niedrigkeit des Volkes diametral entgegen, sondern wird so mit ihr verklammert, dass dem Volk selbst Hoheit in seiner Niedrigkeit zukommt. Der Schuldvergebung kommt im gesamten Mittelteil des Psalms eine zentrale Bedeutung zu. Schuldvergebung wird in drei Komponenten gedacht: den Einzelnen innerhalb der kollektiven Größe Israel betreffend (Vv.3f); auf Israel und das Sinaigeschehen bezogen (Vv.6–8); in einer weisheitlich anthropologischen Reflektion (Vv.9–12). Dies geschieht in Auseinandersetzung mit einer Form von Tun-Ergehen-Theologie, welche die Schuld in gleicher Intensität bestraft. Ps 103 setzt diesen Tun-Ergehen-Zusammenhang durch die Schuldvergebung als primäre Wohltat an Israel außer Kraft und verkehrt die Traditionen ins Gegenteil, wie vor allem an der Auslegung der Krankheit (Ps 103,3) deutlich geworden ist. Die Reflexion von Schuldvergebung und Bewältigung der Sterblichkeit (JHWHs Gedenken des Todes und sein Gnadenhandeln zu Lebzeiten) ist in der Leserichtung des Psalms das Präludium zur Bundestheologie. Es ist das Israel, dem Vergebung gewährt werden muss, das sich im Bund mit JHWH befindet. Die Ausformulierung der Wohltaten in Ps 103,3–5 ist daher nicht unabhängig von den bundestheologischen Topoi in Vv.17f zu sehen. Der himmlische Gottesdienst am Schluss des Psalms bildet das „Sicherheitsnetz“ und Fundament für das Halten der Gesetze (erneute Auseinandersetzung mit der dtn-dtr Gesetzestheologie). Außerdem ist er notwendiger Bestandteil, um den Menschen auf die Ebene zu bringen, auf der er in einen adäquaten Lobgesang einstimmen kann. Der größte Unterschied zu den späteren Schriften besteht m. E. in dem Dualismus von Gerechten und Frevlern, der in Ps 103 nicht in dieser Weise ausformuliert ist. Es werden zwar die Gottesfürchtigen genannt, doch sind diese nicht komplementär zu einer Gegenpartei entwickelt. Im Zusammenhang mit Ps 104 scheint eher die gesamte Schöpfungsordnung im Mittelpunkt zu stehen, in der alles seinen zugewiesenen Platz hat und das Dasein von störenden Elementen eingegliedert wird (Ps 104,26) oder ein Ende findet (Ps 104,35). Die Gottesfürchtigen konstituieren allerdings auch in Ps 103 die theologische Größe „Israel“, zu
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der alle gehören, die sich in den Kreislauf von Schuldbekenntnis und Schuldvergebung eingliedern. Diese „Israel-Variante“ kommt den Qumrantexten sehr nahe. Dieser Befund spricht dafür, dass sich Ps 103 kritisch mit den alttestamentlichen Traditionen von Niedrigkeit und Hoheit, Schuld und Schuldvergebung auseinandersetzt, wobei er selbst in einer geistigen Welt beheimatet ist, aus welcher sich die Qumranschriften entwickeln. Auch wenn die hier hinzugezogenen Schriften Wirkungsgeschichte von Ps 103 sind, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass sie in Ps 103 eine in sich stimmige Logik erkannt haben und diese weiterführen. Dies würde dafür sprechen, dass Ps 103 kein Produkt eines Wachstumsprozesses ist, sondern alle Teile des Psalms notwendig zu seinem Verständnis sind. Ps 103, gerade in seiner Verbindung zu Ps 104, erweist sich somit als ein Text, der auf der Schwelle zwischen den alttestamentlichen Traditionen und einer frühen jüdischen Mystik steht.
3.2 V.4: Auslösen und Krönen גֹּואל ִמ ַ ֣שּׁ ַחת ַח ָיּ�֑יְ ִכי ֣ ֵ ַה4 ַֽ֝ה ְמ ַע ְטּ ֵ ֗ר ִכי ֶ ֣ח ֶסד וְ ַר ֲח ִ ֽמים׃ 4 Er löst aus dem Grab dein Leben aus. Er krönt dich mit Gnade und Barmherzigkeit.
Nach der Sündenvergebung und der Heilung von Krankheit schließt sich die Tat des Auslösens des Lebens an. Sie steht zum ersten Vers der partizipialen Reihung in enger thematischer Anbindung, da sowohl die Vergebung von Schuld als auch die Heilung existenzielle Kategorien darstellen, in denen es um eine Lebensmöglichkeit für Israel innerhalb des Gottesverhältnisses geht.
3.2.1 Das Auslösen Das Auslösen ( )גאלist ein Terminus technicus aus dem Familienrecht, das dem nächsten Verwandten die Auslösung von z. B. Grundstücken vorschreibt, wenn jemand in einer Notsituation gezwungen ist, seinen Besitz veräußern zu müssen (Lev 25,25.47–49; Ru 4,4.6; Jer 32,7–8).137 Kessler nennt zwei Bedingungen, die für den Rechtsakt des Auslösens gegeben sein müssen: 137 Vgl. zum familienrechtlichen Sitz im Leben des Auslösens Kessler, Rainer, „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“. Sozialgeschichtlicher Hintergrund und theologische Bedeutung der Löser-Vorstellung in Hiob 19,25, in: Gotteserdung. Beiträge zur Hermeneutik und zur Exegese der Hebräischen Bibel, WMANT 170, Stuttgart 2006, 191–206; 193–195.
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Erstens: Der in Not geratene Verwandte ist nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Er hat nichts mehr, womit er sich selbst oder sein Grundstück auslösen könnte. Und zweitens: Der go’el, der zur Hilfe abberufen wird, ist auch wirtschaftlich in der Lage zu helfen.138
In spätexilisch/nachexilischen Texten wird der Begriff des Auslösens auf die Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk übertragen und auf die Situation des Exils bezogen. Israel erscheint als Besitz, der ausgelöst werden muss, und JHWH als derjenige, der als nächster Verwandter der Pflicht des Lösens nachkommen muss. Programmatisch wird der Akt des Lösens zur Beschreibung der Wende zum Heil in Deutero- und dem sog. Tritojesaja verwendet: In dem sog. priesterlichen Heilsorakel139 in Jes 43,1–7 wird die Tätigkeit des Auslösens schöpfungstheologisch begründet, da JHWH in der Selbstvorstellung in V.1 als Schöpfer Israels genannt wird. In V.2 wird die enge Beziehung zwischen dem Löser und Israel als ‚Gegenstand‘ des Lösens durch die Namensnennung und die Zuschreibung als Eigentum ausgedrückt. Das Auslösen des Volkes ist mit der Vergebung von Schuld verbunden, wie Jes 44,22 zeigt. Im sog. Tritojesajabuch wird das Lösen nicht nur als eine Tat JHWHs angesehen, sondern vielmehr als eine Eigenschaft, die ihn, wie der Name, identifiziert: „Du, JHWH, bist unser Vater; unser Erlöser, das ist von alters her dein Name.“ (Jes 66,16) Hier wird auch die familienrechtliche, bedeutsame Rolle der engen Verwandtschaft, die in der Vaterschaft ausgedrückt wird, sichtbar. Durch die Motive der Schuldvergebung, der Vaterschaft sowie die Zuwendung des Schöpfers zu seinem Geschöpf ist der Ausdruck des Auslösens in Ps 103 eng an diese exilisch-nachexilische Übertragung auf die kollektive Größe Israel gebunden. Ein Unterschied besteht in der Wendung das Leben aus der Grube/dem Grab auslösen, mit der etwas anderes gemeint ist als die Rückführung aus dem Exil, die in Deutero- und Tritojesaja den Hintergrund der Vorstellung bildet. שחתkann sowohl die Bedeutung von einer Falle, einer Fanggrube für Menschen und Tiere haben (Ez 19,4; Ps 7,16; 9,16), als auch die des Grabes als Terminologie der Todesmetaphorik (Ps 30,4.10; 16,10; Jes 37,18). Durch den Kontext des gesamten Psalms liegt die Deutung von שחתals Grab näher als die der Fanggrube. Israels Leben wird aus dem Grab ausgelöst, da es aus seiner Schuldverstrickung befreit worden ist, die als eine Form des Todes im Leben empfunden wird.140 Zudem ist die Schuldhaftigkeit des Menschen ein Element seiner Vergänglichkeit, wie die Auslegung der Niedrigkeitsaussagen gezeigt hat. Das Leben aus dem Grab auslösen ist demnach als ein Synonym zu JHWHs Taten in V.3 zu lesen.141 Von der Motivik her ist die engste Parallele zu Ps 103,4 in Thr 3,55–58 zu finden. Dort beschreibt der klagende Beter, dass er in einer Grube gefangen gehalten worden ist (hier nicht als שחתbezeichnet, sondern als )בורund JHWH 138 AaO., 195. 139 Diese Bezeichnung stammt ursprünglich von Joachim Begrich, der einen kultischen Sitz im Leben dieser Gattung annimmt, indem eine priesterliche Zusage auf eine Klage des Beters beschrieben wird. Vgl. Begrich, Joachim, ZAW 1934, Vol.52,1, 81–92. 140 Vgl. zum Motiv des Todes mitten im Leben Janowski, Konfliktgespräche, 253. 141 Die Wendung ‚das Leben auslösen‘ kommt nur noch einmal vor in Thr 3,58.
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ihn von dort gerettet und sein Leben ausgelöst hat ()חיי גאלת. Allerdings ist hier eine Rettungstat aus einer konkreten Notsituation dargestellt, Ps 103 formuliert sehr viel grundsätzlicher.142 Das zweite Glied des Verses beschreibt die Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit. Mit der Auswahl dieser beiden Insignien ist die Leserichtung, welche auf die Gnadenformel zuläuft, klar bestimmt: JHWH stattet den Menschen mit den Handlungsqualitäten aus, die sein Handeln im Innersten prägen. Wie aber verhält sich das Krönen zum Erlösen? Auf der Textoberfläche ist die innere Verwobenheit beider Glieder stilistisch an der chiastischen Wortstellung zu erkennen: Das Bild des Grabes (Grube deines Lebens) bildet mit dem des Krönens eine Achse, die von der Tiefe zum Erhabenen führt, sowohl lokal (das Grab in der Erde, die Krone auf dem Kopf) als auch im übertragenen Sinne (das gefühlte Sterben als das Ende des Lebens, die Krönung als eine Form der Vollendung). Gleichzeitig scheint der Grund des Auslösens in eben den Handlungseigenschaften zu bestehen, die JHWH als engster Verwandter/Vater an Israel in seiner Gnade und in seinem Erbarmen weitergibt (vgl. die Verknüpfung vom Vaterbild mit dem Erbarmen Ps 103,13). Auslösen und Krönen sind zwei Elemente, welche die Nähe zu JHWH beschreiben, die von JHWH selbst hergestellt wird. Um die Handlung des Krönens und die Ausstattung mit Gnade und Barmherzigkeit tiefer zu verstehen, wird Ps 21 zur Deutung herangezogen. Er bietet sich nicht nur wegen des Motivs der Krönung an, sondern auch wegen der in ihm vorliegenden Verbindung der Krönung mit dem Segen JHWHs. Die Ausführungen zum Segen werden an dieser Stelle noch einmal konkretisiert und erweitert.
3.2.2 Das Krönen: Psalm 21 Ps 21 ist ein Königspsalm, in dem die Taten JHWHs am König, die als Segenstaten gedeutet sind, besungen werden. Er ist – bis auf die Ausnahmen in Vv.8.10.14 –143 durchgängig als eine Ansprache an eine zweite Person im Singular geschrieben, wobei in den Vv.2–7 JHWH und in den Vv.9–13 der König gemeint ist. 142 Es wäre auch zu überlegen, ob Ps 103,4 dem Löser-Begriff aus Hi 19,25 nahesteht, da es beim Auslösen dort um eine Wiederherstellung des Gottesverhältnisses geht, die das gesamte Leben Hiobs betrifft. Vgl. dazu Kessler, Erlöser, 202 f. Allerdings scheint der Lösevorgang im Hiobbuch so speziell an das Ausnahmeschicksal Hiobs gebunden und im Buch verankert zu sein (vgl. Hi 3,5: Finsternis und Dunkelheit als Auslösung des Geburtstages von Hiob), dass ein Vergleich schwerfällt. 143 Viele Ausleger sehen aufgrund des Personenwechsels von der zweiten zur dritten Person die Verse 8.10b als redaktionelle Erweiterungen eines vorexilischen Grundpsalms an, z. B.: Kleer, Martin, „Der liebliche Sänger der Psalmen Israels“. Untersuchungen zu David als Dichter und Beter der Psalmen, BBB 108, Bodenheim 1996, 21; Spieckermann, Hermann, Heilsgegenwart, FRLANT 148, Göttingen 1989, 211; Saur, Markus, Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie, BZAW 340, Berlin 2004, 112; Loretz, Oswald, Die Königspsalmen, UBL 6, Münster 1988, 93.
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ַל ְמנַ ֵ֗צּ ַח ִמזְ ֥מֹור ְל ָדִ ֽוד׃1 אד׃ ֹ ֽ ה־יּ�֥גֶ יל ְמ ָ וּע ְת ָ֗ך ַמ ָ ישׁ ֥ ח־מ ֶלְך וּ ִ֝ב ֑ ֶ ֽהוה ְבּ ָעזְּ ָך֥ יִ ְשׂ ַמ ֗ ָ ְ י2 :ל־מ ַנ ְ֥ע ָתּ ֶ ֽסּ ָלה ָ ַתּ ֲאַו֣ת ִל֭בֹּו נָ ַ ֣ת ָתּה לּ֑ ֹו וַ ֲא ֶ ֥ר ֶשׁת ֝ ְשׂ ָפ ָ֗תיו ַבּ3 אשֹׁו ֲע ֶ ֣ט ֶרת ָ ֽפּז׃ ֗ ֹ י־ת ַק ְדּ ֶמנּוּ ִבּ ְר ֣כֹות ֑טֹוב ָתּ ִ ֥שׁית ְ֝לר ֭ ְ ִ ֽכּ4 עֹולם וָ ֶ ֽעד׃ ֥ ָ א ֶרְך ָי ִ֗֝מים ֹ ֥ ַח ִיּ֤ים ָשׁאַ֣ל ִ ֭מ ְמָּך נָ ַ ֣ת ָתּה לּ֑ ֹו5 ישׁוּע ֶ ֑תָך ֥הֹוד וְ ָ֝ה ָדר ְתּ ַשֶׁוּ֥ה ָע ָ ֽליו׃ ָ גָּ ֣דֹול ְ ֭כּבֹודֹו ִבּ6 :ת־פּ ֶנֽיָך ָ יתהוּ ְב ָר ֣כֹות ָל ַ ֑עד ְתּ ַח ֵ ֥דּהוּ ְ֝ב ִשׂ ְמ ָ֗חה ֶא ֣ ֵ י־ת ִשׁ ְ ִ ֽכּ7 וּב ֶ ֥ח ֶסד ֝ ֶע ְלי֗ ֹון ַבּל־יִ ֽמֹּוט׃ ְ יהו֑ה ָ י־ה ֶמּ ֶלְך בּ ֵ ֹ֣ט ַח ַבּ ֭ ַ ִ ֽכּ8 ִתּ ְמ ָצ֣א ָי ְ֭דָך ְל ָכל־א ֶֹיְב֑יָך ְי ִ ֽ֝מינְ ָך ִתּ ְמ ָ ֥צא שׂ ֹנְ ֶ ֽאיָך׃9 :אכ ֵל֥ם ֵ ֽאשׁ ְ ֹ אַפֹּו ַיְב ְלּ ֵע֑ם ְ ֽות ֣ יתמֹו ְכּ ַתנּ֥ וּר ֵא ֮שׁ ְל ֵע֪ת ֫ ָפּ ֶנ֥יָך ְי֭הוָ ה ְבּ ֤ ֵ ְתּ ִשׁ10 אָדם׃ ֽ ָ אַבּ֑ד וְ ֝זַ ְר ֗ ָעם ִמ ְבּ ֵנ֥י ֵ ִ ֭פּ ְריָמֹו ֵמ ֶ ֣א ֶרץ ְתּ11 ל־יוּכלוּ׃ ֽ ָ ִכּי־נָ ֣טוּ ָע ֶל֣יָך ָר ָ ֑עה ָ ֽח ְשׁ ֥בוּ ְ֝מזִ ָ֗מּה ַבּ12 יהם׃ ֽ ֶ ֵל־פּנ ְ כֹונ�֥ן ַע ֵ ית ֶ ֗ריָך ְתּ ָ יתמֹו ֶ ֑שׁ ֶכם ְ֝בּ ֵ ֽמ ֣ ֵ ִ ֭כּי ְתּ ִשׁ13 :בוּר ֶ ֽתָך ָ ְהו֣ה ְבּ ֻע ֶזּ�ָ֑ך נָ ִ ֥שׁ ָירה ֽ֝וּנְ זַ ְמּ ָרה גּ ָ ְוּמה י ָ ֣ר14 1. Für den Chormeister. Ein Psalm von David 2a JHWH, über Deine Kraft freut sich der König, 2b und über Deine Hilfe – wie jubelt144 er sehr. 3a Das Begehren seines Herzens, Du hast (es) ihm gegeben, 3b und das Verlangen seiner Lippen, Du hast es nicht vorenthalten. 4a Ja, Du kommst ihm entgegen mit Segnungen an Gutem, 4b Du setzt auf seinen Kopf eine Goldkrone. 5a Leben erbat er von Dir, Du hast es (ihm) gegeben, 5b eine Länge an Tagen, fernste Zeiten und immerfort. 6a Groß ist seine Herrlichkeit durch Deine Hilfe, 6b Hoheit und Ehre legst Du auf ihn. 7a Denn Du setzt ihn ein (zu) Segnungen für immer, 7b Du machst ihn froh mit Freude vor/von145 Deinem Angesicht. 8a Ja, der König vertraut auf JHWH, 8b und durch die Gnade des Höchsten wird er nicht wanken. 9a Deine Hand wird finden alle Deine Feinde, 9b Deine Rechte wird finden Deine Hasser. 10a Du machst sie wie einen Feuerofen zur Zeit deines Angesichtes, JHWH, in seinem Zorn wird er sie verschlingen 10b und das Feuer wird sie auffressen. 11a Ihre Frucht von der Erde weg wirst Du sie ausrotten 11b und ihren Samen von den Menschenkindern.
144 Aufgrund des Parallelismus zu V.2aα ist wohl mit dem Ketib das Imperfekt zu lesen und nicht der Iussiv. 145 Loretz vergleicht mit Ps 16,11 und spricht sich für die Übersetzung „vor“ aus: Loretz, Königspsalmen, 101. Spieckermann folgt der Lesart des Targums und liest „von“ im Sinne der Veranlassung: Spieckermann, Heilsgegenwart, 209. Saur versteht hier אתals eine Präposition, die eine lokale Nähe angibt: Saur, Königspsalmen, 97.
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12a Denn sie hatten Böses gegen Dich gewandt 12b und Pläne ersonnen, nicht werden sie (sie) ausführen können. 13a Denn Du wirst sie zum Rücken machen/in die Flucht schlagen, 13b mit Deiner Bogensehne wirst Du auf ihr Gesicht zielen. 14a Erhebe Dich, JHWH, in Deiner Macht, 14b Lasst uns besingen und bespielen Deine Heldentaten.
3.2.2.1 Aufbau und Auslegung der Verse 2–8 Die Verse 2 und 7 rahmen den ersten Teil, die Ansprache an JHWH, durch die Nennung der Freude ()שמח, welche JHWH beim König auslöst. Außerdem werden die Stichworte Segnungen ( ברכותV.4) und für immer ( עדV.5) in V.7 wieder aufgenommen, so dass er eine Art Zusammenfassung des ersten Teils bietet. Auch die Verse des Mittelteils sind miteinander durch Stichwortbezüge verschränkt, wodurch der Eindruck eines wohlkomponierten Aufbaus entsteht. Das Geben JHWHs aus V.3 wird in V.5 wiederholt und das Auflegen der Insignien des Königs wird in V.4 und V.6 beschrieben. An dieser Stelle gibt es keine Übereinstimmung in der Terminologie,146 aber einen sachlichen Zusammenhang, weil es in beiden Versen um die ‚Einkleidung‘ des Königs geht. Vers 8 zeigt keinerlei Stichwortbezüge zum Vorherigen und fällt damit nicht nur durch den Personenwechsel auf. Er bietet eine bewusste Deutung des Vorherigen, welche die Konsequenzen der Segenstaten für den König darstellen, was nicht notwendigerweise Zeichen einer redaktionellen Einfügung sein muss, sondern auch an der Grundintention des Psalms liegen kann. In einer kurzen Einzelauslegung der Verse sollen die theologischen Zusammenhänge, die sich mit dem Segen verbinden, betrachtet werden, um dann in einem zweiten Schritt auch die Frage nach der Redaktion zu diskutieren. In V.2 wird die Kraft und die Hilfe JHWHs beschrieben, welche Attribute der großen Macht JHWHs sind, die er selbst als königliche Gottheit hat. Der Zusammenhang von Kraft und Hilfe/Rettung wird besonders deutlich in Ps 74,12f: 12 Gott ist mein König von alters her, er tut Rettungstaten mitten auf der Erde. 13 Du hast das Meer gespalten durch deine Kraft, zerschmettert die Köpfe der Drachen im Meer.
146 Das Aufsetzen der Krone wird mit שיתbeschrieben und die Auflegung der Hoheit mit ( שוהpi’el), der Zusammenhang zwischen Krone und Hoheit wird also lautmalerisch mit ähnlich klingenden Begriffen hergestellt.
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Durch diese Stelle wird ersichtlich, dass sich JHWH durch seine Rettungstaten und seine Kraft als König erweist und von anderen als König anerkannt wird (Gott ist mein König). Die Kraft JHWHs erweist sich also in Taten, die er für das Volk/für einen Einzelnen tut, so dass oft von JHWH als „meiner Kraft“ gesprochen wird (Ps 28,7; 59,10.18). Es ist ferner dieselbe Intensität von Kraft, die für den siegreichen Chaoskampf gebraucht wird (Sieg über die Meeresungeheuer) und die JHWH Menschen verleiht (1Sam 2,10; Ps 29,11; 68,36; 86,16). Das Resultat der Kraft und der Hilfe sind Freude und Jubel dessen, der die Kraft erfahren hat. Zur Freude ist zu sagen, dass damit nie eine rein innerliche Emotion oder ein subjektives Gefühl gemeint ist, sondern die Freude eine nach außen gerichtete Funktion hat. Die Freude führt zum Gotteslob (Ps 5,12; 9,3) und zeigt so sichtbar die Verbundenheit mit JHWH, Grund und Empfänger der Freude. Durch die hör- und sichtbare Freude im Lob wird auch Freude bei denen geweckt, die sich im Elend befinden (Ps 34,3), sie hat also eine vertikale und eine horizontale Komponente.147 Für V.2 lässt sich festhalten, dass er Ausdruck einer idealen Beziehung zwischen der Gottheit und dem weltlichem König ist, indem der König in adäquater Weise auf die Taten JHWHs reagiert. In V.3 wird die Person des Königs stärker in den Blick genommen. JHWH gibt ihm das Begehren seines Herzens und das Verlangen seiner Lippen.148 Das Begehren ist im Alten Testament positiv und negativ konnotiert, abhängig davon, wer was begehrt.149 Das Verlangen der Lippen (V.3b) kommt nur an dieser Stelle vor. Der Inhalt des Begehrens wird in V.5 thematisiert: Der König erbittet ein langes Leben für sich, das ihm in einer exorbitanten Länge gewährt worden ist: Eine Länge an Tagen, fernsten Zeiten und immerfort. Eine Länge an Tagen ist noch vorstellbar, die Begriffe „fernste Zeiten und immerfort“ entziehen sich der menschlichen Vorstellung von Zeit. Im Grunde ist damit eine Aufnahme des Königs in die Sphäre JHWHs durch das Vokabular zeitlicher Dimensionen beschrieben. Vielmehr zieht Jahwe mit dieser Wunscherfüllung das Leben des Königs so entschieden in seine Nähe, wie es der König nicht zu erbitten gewagt hätte. Denn „Länge der Tage“ ist Ewigkeit, Zeit, die nicht vergeht, die anfangs-, ausdehnungs- und endlose Allgegenwart Jahwes selbst. An nichts Geringerem als an dieser Qualität erhält der König Anteil. Als Mensch, der er ist und bleibt, zieht Jahwe ihn – nur dialektisch faßbar – in seine allernächste Nähe.150
147 Im Deuteronomium ist die Freude ein kultischer Begriff, die Anwesenheit JHWHs löst Freude aus. Als Ausdruck der Freude werden das Opfermahl (Dtn 12,18) und das Geben des Zehnten (Dtn 14,26) gewertet. Freude ist ein Zeichen von göttlicher Präsenz (Dtn 12,12), die mit dem Feiern der kultischen Feste verbunden ist (Dtn 16,11.14). 148 Das Begehren und das Erfüllen von Bitten verbindet Ps 21,3.5 mit Ps 20,5 f. 149 Die Frevler und Gottlosen geben sich ihrer Begierde hin, die sie ins Verderben führt (Spr 18,1; Ps 112,10). In Spr 21,25 stirbt der Faule über seinen Wünschen, aber seine Hände wollen nichts tun. Den ganzen Tag begehrt die Gier, aber der Gerechte gibt und versagt nichts. Wenn allerdings die Gerechten begehren, dann wird ihnen gegeben (Spr 10,24) und das Begehren der Elenden wird von JHWH erhört (Ps 10,16). 150 Spieckermann, Heilsgegenwart, 213.
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Der Wunsch nach einem langen Leben zielt so nicht nur auf die Dauer des Lebens, sondern eben auch auf die Qualität des Lebens, die durch die Nähe JHWHs bestimmt wird. Spieckermann erklärt dies mit dem Begriff „Bewahrung der Lebenssphäre“151, den er im Gegensatz zu den Mächten des Todes entwickelt. Die Überzeitlichkeit, die mit dem Begriff ausgedrückt wird, bezieht sich vermutlich nicht nur auf diesen einen König, sondern eher auf die Verheißung einer Dynastie, wie sie z. B. in 2Sam 7 David zugesagt wird.152 Die Beständigkeit des Königtums der Daviddynastie wird in der Nathansverheißung auch auf den Segen JHWHs zurückgeführt (V.29) und damit als Segensgabe verstanden.153 V.4 knüpft an V.2 an, indem die Begegnung von JHWH und dem König, die in V.2 durch Kraft/Rettung und Freude/Jubel charakterisiert war, nun mit dem Begriff des Segens gefüllt wird.154 Die Bewegung JHWHs auf den König zu wird mit der Vokabel „entgegentreten“ beschrieben. In den Psalmen hat das Entgegentreten JHWHs eine positive Wirkung,155 das Entgegenkommen kann aber auch die Bewegung eines Beters auf JHWH zu beschreiben.156 Der Begriff „Segnungen an Gutem/Segensgütern“ scheint zum einen eine Art von Oberbegriff für alles zu sein, was Segen ausmacht (wie z. B. Fruchtbarkeit, Herrschaft, materieller Besitz usw.) und zum anderen speziell mit der Einsetzung des Königs durch JHWH verbunden zu sein, da die Segnung durch den Parallelismus an die Krönung gebunden wird. Die Krone aus Feingold wird zum sichtbaren Zeichen des Segens. Weitere Insignien des gesegneten Königs werden in V.6 ausgeführt: Herrlichkeit, Hoheit und Ehre/Glanz. Bei der Herrlichkeit wird klar gesagt, dass sie durch JHWHs Hilfe/Rettung ihre Größe bekommt (Rückbezug auf V.2) und trotzdem die Herrlichkeit des Königs bezeichnet. Damit in Verbindung stehen Hoheit und Ehre/Glanz, die wie einen Mantel um den König gelegt werden.157 So wie der König Anteil an JHWH durch die Zeitlichkeit bekommt, wird der Anteil hier durch die Insignien/Begleiterscheinungen des Königs beschrieben. Auffällig ist die Vokabel ( שוהpi’el), die für das Auflegen der Hoheit verwendet wird. Die Grundbedeutung ist „gleich, ähnlich sein, sich gleichstellen“, im pi’el „gleich machen, sich gleich machen“. Es wäre zu überlegen, ob nicht in diese Richtung gedacht werden sollte, da JHWH sich den König in gewisser Weise gleicht macht, indem er ihn mit seinen Insignien ausstattet. 151 Ebd. 152 Vgl. 2Sam 7,13.16. 153 Vgl. die Begründungsstruktur in 2Sam 7,29 durch die Präposition לin finaler Funktion. 154 Eine Verbindung von Freude und Segen findet sich auch in Ps 67 und Ps 85. 155 In Ps 59,11 kommt JHWH mit seiner Gnade entgegen, um gegen Feinde zu schützen. In Ps 79,8 wird darum gebeten, JHWH möge mit Barmherzigkeit auf den Beter zugehen. Ps 65,12 verbindet die Fußspuren JHWHs mit Segen. 156 Mi 6,6 zeigt die Annäherung im Kult, die Bewegung zu JHWH durch das Gebet, verbunden mit der Hilfe am Morgen findet sich in Ps 88,14 und Ps 119,147f. 157 Hier entsteht eine Assoziation zu Ps 104,2f, in dem JHWH sich in Hoheit und Ehre/Glanz kleidet und ein Gewand aus Licht trägt.
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Der zusammenfassende Charakter von V.7 ist eingangs schon erwähnt worden. Jetzt wird der König, dem Segensgut entgegengebracht worden ist, selbst zum Segen, d. h. er wird seinem Volk Segensgüter entgegenbringen. Auch hier wird die vertikale Bewegung von JHWH zum König zur horizontalen Bewegung (vom König zum Volk) – wie es auch die Freude ausdrückt, die von JHWHs Angesicht ausgeht, also der direkten Begegnung entspringt und dann weitergegeben wird. An dieser Stelle ist eine Parallele zu Ps 72 festzustellen, in dem König Salomo gepriesen wird. In V.17 werden die Motive von einer Königsherrschaft für fernste Zeiten mit dem Segen verbunden, wobei der König zum Segen für die Völker wird und diese ihm dafür Lobpreis entgegenbringen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Verse 2–7 mit sehr prägnantem Vokabular die große Nähe JHWHs zum König beschreiben, die von JHWH selbst hergestellt wird. Von zentraler Bedeutung sind das Entgegentreten JHWHs und das direkte Handeln am König. Auffällig ist die gehäufte Verwendung von Begriffen, die von wechselseitiger Natur sind: JHWH erweckt Freude, Freude löst Lob aus und wird damit zurück- und weitergegeben; der König wird gesegnet und wird selbst zum Segen. Außerdem spielen Sicht- und Hörbarkeit eine große Rolle – es kann gesagt werden, dass JHWH dadurch einen unübersehbaren, idealen Stellvertreter einsetzt. In Vers 8 wird die Handlung der Einsetzung des Königs durch JHWH durch zwei neue Begriffe gedeutet, die bisher noch nicht vorkamen. Mit ihnen wird das Verhältnis der beiden zueinander beschrieben – die Haltung des Königs ist von Vertrauen (Ptz. von )בטחgeprägt und das Handeln JHWHs wird als Gnade ()חסד bezeichnet. Als Konsequenz des Vertrauens wird das Nicht-Wanken ( )בל ימוטdes Königs genannt, was bedeutet, dass er von JHWH so befestigt wird wie der Erdkreis bei der Schöpfung. Dies wird in Ps 93 mit demselben Vokabular beschrieben (V.1 )בל תמות. Grund der Beständigkeit ist JHWHs Kraft (V.1 )עז, mit der er die Chaosmächte bändigt und somit die Bedrohung fernhält. Aufgrund der Kraft JHWHs, die in Ps 21,2 dem König zugesprochen wird und die in Ps 74 und Ps 93 gebraucht wird, um die Chaoswasser zu bändigen und damit die Beständigkeit des Erdkreises zu garantieren, vertraut der König und wird nicht wanken. Es lässt sich also ein Zusammenhang von V.2 zu V.8 feststellen, der zwar nicht durch eine Übereinstimmung in der Terminologie entsteht, wohl aber durch das Motiv der Festigkeit durch JHWHs Kraft. Eine Verbindung von Gnade und Festigkeit zeigt sich z. B. in Ps 89 und Ps 103, in beiden Psalmen verläuft die Motivik über den Thron, der von JHWH befestigt wird und somit die Stabilität seiner Herrschaft darstellt. Beide Psalmen sind durch die Überschrift als Davidspsalmen gedeutet, weswegen sich wieder der Bezug zu der verheißenen ewigen Herrschaft der Davidsdynastie herstellen lässt. Dieser zeigt sich auch in der Stilisierung des Königs als idealer Beter in V.8, da er durch sein Vertrauen die einzig angemessene Haltung JHWH und seinen Segenstaten gegenüber einnimmt.158 158 Vgl. zum Vertrauen auch Ps 91,2.
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3.2.2.2 Aufbau und Auslegung der Verse 9–14 Der zweite Teil des Psalms beschreibt als konsequente Fortsetzung der Ausstattung des Königs mit Segensgütern die Wirkmächtigkeit des Königs gegen die Feinde. Er beginnt in V.9 mit dem Besiegen der Feinde, das zur altorientalischen Königsideologie gehört.159 Durch den Beginn von Ps 21, der von Kraft und Hilfe JHWHs spricht, klingt dieses Thema schon an. Durch die Übertragung bestimmter Handlungseigenschaften auf den irdischen König ist nun er derjenige, der Rettungstaten tut.160 Interessant ist die Beschreibung, wie der König die Feinde in die Flucht schlägt, da die Hand und die Rechte üblicherweise Termini sind, die JHWHs Einschreiten beschreiben.161 Es zeigt sich schon hier, wie weit die Übertragung von JHWHs Eigenschaften auf den König reicht, was im nächsten Vers fortgeführt wird. V.10 wird üblicherweise als redaktionell beurteilt, da ein Wechsel von der Du-Ansprache an die Person des Königs in die dritte Person zu JHWH vorliegt. Dieser Vers könnte allerdings auch im Sinne der Übertragung und Überlagerung von göttlichen auf königliche Handlungsoptionen ganz bewusst die Verwobenheit des Handelns von JHWH und dem von ihm eingesetzten und ausgerüsteten König zeigen. Das Zorneshandeln des Königs, das in der üblichen Konnotation mit dem Feuer gebraucht wird, wird im Grunde als JHWH-Zorn gedeutet. In der Ausführung im Kampf gegen die Feinde verschmelzen JHWH- und Königshandeln, um die feindlichen Mächte abzuwehren.162 Die Vernichtung der Feinde ist, wie in V.11 zu lesen, nicht auf einen einmaligen Vorgang beschränkt, sondern vollzieht sich in einer gewissen Überzeitlichkeit, da die Frucht und der Same, also auch die nachfolgenden Generationen von Übeltätern, ausgerottet werden, was der Überzeitlichkeit des Königs entspricht. Zum Motiv von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit gehört auch, dass die Feinde vernichtet werden, bevor sie ihre Pläne durchführen (V.12: Perfekt) – ihr Unvermögen ist daher ein generelles (V.12: Imperfekt – sie vermögen es nicht). In V.13 findet ein Rückbezug zu V.9 und V.10 statt, indem ausgeführt wird, was der König mit seiner Hand/seiner Rechten konkret machen wird, nämlich das Zielen mit der Bogensehne (13b). Das zum ‚Rücken-Machen‘ der Feinde beschreibt die Wirkung des Königs: Zur Zeit seines Angesichtes, also wenn er den Feinden 159 Vgl. dazu Loretz, Königspsalmen, 102, der verdeutlicht, dass aus der Würde des Königs die Aufgabe des Herrschers abgeleitet wird, die Feinde des Königtums zu vernichten. So z. B. auch in Ps 101 „Jeden Morgen bringe ich zum Schweigen alle Gottlosen im Lande, dass ich alle Übeltäter ausrotte“. 160 Hartenstein erklärt zu seiner Auslegung von Ps 2,9 – ein Vers, in dem das Zerschlagen der Völker vom König beschrieben wird –, es gehe nicht nur um Destruktion oder Gewalt, sondern um eine Demonstration der „prinzipielle[n; Hinzufügung ACF] Reichweite der Königsmacht“, Hartenstein, Friedhelm, Psalm 2, in: Ders./Janowski, B., Psalmen, BK XV/1, Neukirchen-Vluyn 2015, 81–128. 161 Vgl. dazu Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 123–131.137f. 162 Vgl. dazu die Auslegung von Hartenstein zu Ps 2,12a, in welchem eine sehr ähnliche Verbindung von göttlichem und königlichem Zorneshandeln vorliegt. Hartenstein, Psalm 2, 118 f.
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entgegentritt, wenden sie ihm den Rücken zu und fliehen. Dass dann noch auf ihr Angesicht gezielt wird, spielt auf der einen Seite mit dem Begriff des Angesichtes,163 auf der anderen Seite könnte damit auch eine Omnipräsenz des Königs gezeigt werden. Obwohl die Feinde ihm den Rücken zukehren und vor ihm fliehen, erwartet er sie schon in der anderen Richtung, um auf sie zu zielen. Es wird eine Unentrinnbarkeit beschrieben, die sicherstellt, dass die Feinde auch wirklich keine Chance haben. Durch das Motiv des Angesichtes wird der Psalm durch die ihn prägende Wechselseitigkeit von König und JHWH gerahmt und zusammengehalten. Das Empfinden von Freude des Königs vor JHWHs Angesicht (V.7b) wird zum Ausdruck der Macht des Königs, indem das Angesicht der Feinde von ihm vernichtet wird (V.13). V.14 fällt aus der Konzentration des Geschehens zwischen JHWH und dem König heraus, indem eine Wir-Gruppe sich selbst zum JHWH-Lob auffordert angesichts der Großtaten, die JHWH vollbringt. Auch dieser Vers wird aufgrund des Personenwechsels als redaktionelle Zufügung angesehen. Allerdings ist auch dieser Vers – wie auch V.8 – durch seine Hintergründe mit dem restlichen Psalm verbunden. Das JHWH-Lob ist die Konsequenz der Segensgüter, die durch den König zum Volk gebracht werden. So ist insbesondere eine Beziehung zu V.7 und seinem Kontext Ps 72,17 gegeben. Für den zweiten Teil des Psalms kann abschließend gesagt werden, dass die Beziehung JHWH – König nicht mehr getrennt ausformuliert wird, vielmehr ist eine Verschmelzung der Handlungseigenschaften von König und JHWH durch die am Beginn beschriebene Einsetzung festzustellen.
3.2.2.3 Die These der redaktionellen Hinzufügungen Nach dem kurzen Durchgang durch den Psalm ist eine Auffälligkeit in den Versen 8.10.14 feststellbar, die vor allem durch den Personenwechsel entsteht. Aber gerade dieses Argument ist – wie die Auslegung gezeigt hat – zumindest in den Versen 8.10 nicht unbedingt zur Rechtfertigung literarkritischer Eingriffe geeignet, da es thematisch um die wechselseitige Beziehung zwischen JHWH und dem König geht. Die Personenwechsel können bewusster Ausdruck der Reziprozität sein. Es gibt allerdings noch eine zweite Beobachtung, welche die Verse 8 und 10 miteinander in Beziehung bringt, nämlich die Nennung der Begriffe Gnade ( )חסדin V.8 und Zorn ( )אףin V.10. Saur sieht durch den Begriff חסדdie Gemeinschaft im Mittelpunkt, auf die er seiner Meinung nach verweist:
163 Vor JHWHs Angesicht ist Freude für die, die ihm nah sind, sein Entgegenkommen ist freundlich; für die Feinde aber bedeutet das Angesicht Zorn, wie es die Metapher Feuer zur Zeit des Angesichtes (V.10a) beschreibt. Das Angesicht der Feinde wird vernichtet, damit sie sich nicht mehr feindlich gesinnt nähern können.
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Wo JHWH dem König seine Gemeinschaft anbietet und der König in diesem Gemeinschaftsverhältnis stehen bleibt, da wird der König zum Segen für sein Volk, weil er die Gemeinschaft des Volkes mit Gott begründet, garantiert und in nuce präsentiert. Wo aber das Volk mit JHWH Gemeinschaft hat, da wird auch die Gemeinschaft der Menschen untereinander eine vom חסדbestimmte Gemeinschaft.164
Den Begriff der Gnade ( )חסדauf die Gemeinschaft hin zu reduzieren, scheint im Kontext des Psalms eine Unterbestimmung zu sein. Die Einsetzung des Königs und die damit verbundene Übertragung von Handlungsoptionen JHWHs auf diesen beschreibt eine viel höhere Intensität als der Begriff Gemeinschaft ausdrückt. Auch die Vorstellung der ‚Befestigung des Erdkreises‘, die sich hinter dem Nicht-Wanken des Königs als Ausdruck der Gnade befindet, ist etwas anderes als Gemeinschaft. Es liegt näher, den Ausdruck der Gnade in V.8 mit dem Ausdruck des Zorns in V.10 zusammenzubringen und als eine Art Kurzform der Gnadenformel zu lesen. Gnade und Zorn wird zu einem Merismus, der JHWHs Handlungsoptionen als königlicher Herrscher umfasst. Die Verse 8 und 10 zusammen drücken eine dogmatische Kurzversion dessen aus, was von JHWH und vom König in der Eigenschaft als von JHWH eingesetzter Stellvertreter zu wissen ist. Dieses Wissen reicht aus, um den Jubel der Wir-Gruppe in V.14 zu begründen, da die Taten JHWHs eben nicht auf den König beschränkt bleiben, sondern dem Volk zugutekommen, indem es vor Bedrohung geschützt wird. Der Zusammenhang zwischen den Versen 8.10.14 besteht sowohl im Personenwechsel als auch in der Theologie, was aber noch nicht die These einer redaktionellen Einfügung sichert. Saur hält die von ihm so bestimmten Einfügungen für nachexilisch und sieht ihren Grund in einer Aufwertung des Königtums JHWHs in einer Zeit, in der das weltliche Königtum in Israel untergegangen ist. Dies geschieht, nach Saur, nicht so, dass der irdische König den Hintergrund böte, auf dem JHWH neu in den Vordergrund gesetzt würde, sondern dass die Hoffnung bestünde, JHWH würde einen neuen König einsetzen, eine Art messianische Heilsfigur.165 Diese Begründung klingt an sich plausibel, erklärt aber nicht die Eigenart der Verse 8.10.14, sondern könnte auch auf den ganzen Psalm angewendet werden, womit die These eines vorexilischen Grundpsalms und einer nachexilischen Erweiterung hinfällig wäre. Es wäre ebenso möglich, den Psalm aus der Perspektive der ‚Davidisierung‘166 des hier dargestellten idealen Königs zu lesen und im Ganzen als nachexilisch zu datieren.
164 Saur, Königspsalmen, 111. 165 Vgl. Saur, 112. 166 Vgl. die Davidskontexte in der Auslegung der Vv. 5.7.8.
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3.2.3 Royalisierung Israels in Ps 103 Im Vergleich von Ps 21 mit Ps 103 besteht die deutlichste Analogie in der Wechselseitigkeit und Übertragung von Segenshandlungen zwischen JHWH und seinem Volk167 und der damit verbundenen Motivik von Krönung und Teilhabe an der Überzeitlichkeit JHWHs. In Ps 21,4–7 ist der Kern einer konzentrierten Beschreibung der Bedeutung der Segenshandlungen zu erkennen, die JHWH am König vollzieht. Das erste Gut des Segens (V.4a) ist die Krönung ( )עטרdes Königs (V.4b), die in Verbindung mit der Auferlegung von Hoheit und Glanz (V.6b )הוד והדרzu lesen ist. Die Vorstellung, dass der Akt des Krönens eine Ausstattung mit bestimmten Eigenschaften ist, lässt sich an Ps 8 erkennen.168 In Ps 8,6b wird der Mensch mit Ehre und Herrlichkeit ( )כבוד והדרgekrönt als Zeichen eines Status, der nur ‚wenig niedriger‘ (8,6a) anzusetzen ist als der JHWHs.169 Gottes Krönung seiner Geschöpfe weist eine Anerkennungsstruktur auf verschiedenen Ebenen auf: JHWH erscheint erstens als derjenige, der durch seine Tat in den Status der Akzeptanz versetzt, da die Krönung nicht als das Resultat besonderer Verdienste beschrieben wird, sondern die Schaffung einer Basis für die Nähe zwischen JHWH und seinen Geschöpfen darstellt, die alleine durch ihn selbst hergestellt wird.170 Zweitens geht die Krönung beim Gekrönten mit dem Bewusstsein dieser Statusänderung einher, indem die eigene Existenz als eine anerkannt wird, die durch göttliche Zuwendung konsti-
167 Ps 103,1–5 ist zwar als Aufforderung zum Lob an eine einzelne segnende Seele beschrieben, was allerdings nicht primär als Ausdruck von Individualität zu verstehen ist. Es handelt sich um einen exemplarischen Beter, der nicht unabhängig von einem Kollektiv betrachtet werden kann, zu dem er gehört. Durch die Vorstellungshintergründe, die in den Versen 3–5 verwendet werden, und den ausdrücklichen Israelkontext in den Versen 6–7 ist davon auszugehen, dass es sich um die Größe Israel handelt, die angesprochen wird. Daher wird im Folgenden vom Volk/Israel als Empfänger der Segensgaben gesprochen. 168 Außerdem in Ps 65,12, in welchem das Jahr mit JHWHs Gutem gekrönt wird; in Jer 13,18 ist die Krone der Herrlichkeit vom Haupt des Königs gefallen, was einer Wegnahme der königlichen Eigenschaften gleichkommt. 169 Die Konvergenz zwischen der in Ps 8 beschriebenen Gottähnlichkeit und der Gottebenbildlichkeit in Gen 1,26.28 ist dargestellt bei Schnieringer. „Die Rede von der Gottebenbildlichkeit Gen 1,26.28 konvergiert […] mit Psalm 8,6; es handelt sich um unterschiedliche Realisierungen ein und desselben Gedankens, nämlich, daß der Mensch gottähnlich ist und daß ihm die Gottähnlichkeit – die ihn gleichzeitig zur Repräsentanz Gottes befähigt – in seiner Eigenschaft als König zukommt.“ Schnieringer, Helmut, Psalm 8. Text-Gestalt-Bedeutung, Ägypten und Altes Testament 59, Wiesbaden 2004, 464. Vgl. dazu auch Neumann-Gorsolke, Ute, Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten, WMANT 101, Neukirchen-Vluyn, 2004, 79–86. 170 Die Passivität der Geschöpfe beim Vorgang der ‚Aufwertung des Status‘ lässt sich in Ps 8,6 daran ablesen, dass JHWH als alleiniges Subjekt des Handelns vorkommt. „Vor allem hat das Konzept des Menschen (aller Menschen für die Priesterschrift) seine Grenze im Gegenüber Gottes, den er repräsentiert – und zwar als eine angeschaffene Wesenseigenschaft, unabhängig von seinem konkreten Handeln.“ Hartenstein, Friedhelm/Moxter, Michael, Hermeneutik des Bilderverbotes. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen, ThLZ.F 26, Leipzig 2016, 177 f.
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tuiert wird und JHWH als der erkannt wird, dem diese qualifizierte Konstitution zu verdanken ist.171 Es handelt sich allerdings um eine Identität, die in Ps 8, in Ps 21 und auch in Ps 103 ausdrücklich durch die Krönung als königlich beschrieben wird, was als Konsequenz eine gewisse Verantwortlichkeit nach sich zieht. Ps 21 zeigt deutlich, dass der König nicht für sich König ist, sondern immer für sein Volk. Er muss sich selbst als Segen erweisen, indem er mit und durch JHWH die Aufgaben des Königs, d. h. die Feinde fernzuhalten und den Schutz des Volkes zu garantieren, realisiert. In Ps 8 ist die Folge der Krönung durch die starke Verwobenheit mit dem priesterlichen Schöpfungsbericht in der Aufgabe des verantwortlichen Herrschens über die Schöpfung zu finden.172 In Ps 103,4 sind die Attribute der Krönung Gnade und Barmherzigkeit und beschreiben damit Eigenschaften, die wie הוד,הדר und כבודJHWHs Handeln charakterisieren. Die Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit kann daher in einem doppelten Sinne verstanden werden. Zum einen als eine Zuwendung JHWHs für seine Geschöpfe, was bedeuten würde, dass er weiterhin das Subjekt von Gnade und Barmherzigkeit darstellt. JHWH krönt dein Leben heißt dann, er begegnet dir in Gnade und Barmherzigkeit. Zum anderen ist die Krönung auch als Übertragung anzusehen, was für Ps 103,4 einen Wechsel des Subjektes nach sich ziehen würde. Der Gekrönte selbst wird befähigt, Gnade und Barmherzigkeit auszuüben. Beide Deutungen können nur im Zusammenhang betrachtet werden: Weil JHWH gnädig und barmherzig ist, kann er diese Handlungseigenschaften übertragen und die Fähigkeit ihrer Ausübung verleihen. Der damit einhergehende Paradigmenwechsel von einer königlichen Herrschaft der Hoheit und Ehre bzw. Herrlichkeit zu einer Herrschaft von Gnade und Barmherzigkeit ist auffällig.173 Seine Anknüpfung im Psalm findet er in den Gerechtigkeitstaten, die JHWH durch seine Rechtsprechung für die Bedrückten ausübt (Ps 103,6).174
171 Dies äußert sich in Ps 8,1.10 am hymnischen Auf- bzw. Abgesang, der die Herrlichkeit des JHWHNamens preist und an der Einsicht in die Größe der Schöpfung. Die Haltung des Menschen gegenüber dieser kann nur eine demütige sein, welche um ihre Begrenztheit weiß (Ps 8,4–5). 172 Janowski begründet den Zusammenhang von Verantwortlichkeit und Gottähnlichkeit über die Funktion des Menschen als lebendiges Bild/Statue, die ihm in der Schöpfung zugesprochen wird ( צלםin Gen 1,26a). Die Ähnlichkeit, die der Mensch als ( צלםBild/Statue) hat, weist die Bestimmungen „Repräsentanz“ und „Entsprechung“ auf, worin sich eine „doppelte Verantwortung […] gegenüber seinem Schöpfer (Gottesbezug) wie gegenüber der Schöpfung (Weltbezug)“ zeigt. Janowski, Bernd, Die lebendige Statue Gottes. Zur Anthropologie der priesterlichen Urgeschichte, in: Witte, M. (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. FS für Otto Kaiser zum 80. Geburtstag, BZAW 345/I, Berlin/New York 2004, 183–214; 196. 173 Gerade wenn die starke Verwobenheit des Handelns von König und JHWH im und durch den Zorn in Ps 21,10 bedacht wird, hat die Gnade eher mittelbare Auswirkungen auf das Volk, indem der König und damit seine Herrschaft stabilisiert werden (V.8). 174 Dass sich Gerechtigkeit und Gnade/Barmherzigkeit nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Gegenteil zusammengehörige Begriffe in der Motivik der königlichen Gottheit darstellen, verdeutlicht Janowski, Bernd, Der barmherzige Richter. Zur Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gottesbild des Alten Orients und des Alten Testaments, in: Scoralick, R. (Hg.), Das Drama der Barmherzigkeit Gottes. Studien zur biblischen Gottesrede und ihrer Wirkungsgeschichte in Judentum und Christentum, SBS 183, Stuttgart 2000, 33–91; bes. 55–58. Zur Theologisierung
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Dieser Vers ist der einzige thematische Anhalt im ganzen Psalm, an welchen die Möglichkeit einer aktiven Ausübung von Gnade und Barmherzigkeit als soziale Taten angeschlossen werden kann, der zudem einen neuralgischen Punkt in der Geschichte Israels darstellt.175 Alle anderen Gnadentaten, die im Psalm genannt werden, liegen außerhalb des menschlichen Vermögens. Als wichtigster Faktor ist im Rahmen der Auslegung von Segen als ein Prozess des Ausstattens und Übertragens zu nennen, dass die Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit als Befähigung zur Ausübung dieser Handlungsoptionen angesehen wird. Eine weitere Besonderheit im Vergleich zu Ps 21 und zu Ps 8 hinsichtlich der Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit liegt in der Deutung Israels als Empfänger dieser königlichen Ausstattung. Ist in Ps 8 eine klare anthropologische Aussage über den Menschen als Geschöpf coram deo getroffen worden und in Ps 21 die Stilisierung einer einzelnen idealen Königsfigur im Horizont des davidischen Königtums erfolgt – evtl., um die These von Saur aufzugreifen, als messianische Heilsfigur konzipiert – so handelt es sich in Ps 103 um eine kollektive Größe Israel, die in einer eigenen Form von Geschichtserfahrung mit JHWH beschrieben und gedeutet wird. Die Gnadentaten JHWHs und die Möglichkeit des Volkes, selbst in Gnade zu handeln und dies als Segenstat JHWHs vor JHWH im Lobpreis zu bekennen, sind untrennbar mit dieser Geschichte verbunden. Sie können vermutlich sogar als Quintessenz einer summarisch-theologischen Deutung der geschichtlichen Ereignisse angesehen werden. Der zweite Aspekt, der großen Raum hinsichtlich der Segenshandlungen in Ps 21 einnimmt, besteht in der Ausformulierung der Motivik von Überzeitlichkeit, bzw. Teilhabe des Königs (und seiner Dynastie) an der JHWH-Zeit. An die grundsätzlich formulierte Bitte des Königs nach Leben schließt sich die Gewährung an, die in zeitlichen Kategorien präzisiert wird: eine „Länge an Tagen, fernsten Zeiten und immerfort“ (V.5) werden dem König zugesprochen, so dass er, respektive das von ihm ausgehende Königtum, „für immer“ (V.7b) zu Segenstaten werden kann. Die Teilhabe an der עולם-Zeit bezogen auf die tatsächliche Ausdehnung von Lebens- bzw. Herrschaftszeit ist ungewöhnlich, da die Auswirkungen des עולםBegriffes als Teilhabe sich oft hinsichtlich der Qualität der Lebenszeit zeigen.176
von Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen durch das Motiv der Barmherzigkeit vgl. auch Otto, Eckart, Theologische Ethik des Alten Testamentes, Theologische Wissenschaft 3,2, Stuttgart 1994, 83. 175 Vgl. dazu die Anklage Israels in Am 5,7, die Torgerechtigkeit zu korrumpieren und den Armen keine Rechtsprechung zu ermöglichen (Am 5,12). Vgl. auch die Ausführungen zum Halten der Anordnungen in Ps 103,18, das auf dem Hintergrund von Gnade und Gerechtigkeit geschieht. 176 Dies stellt m. E. das stärkste Argument für die Verheißung einer Dynastie in Ps 21, in Anlehnung an die Davidsdynastie, dar. Die andere Deutungsvariante läge darin, die Messianität eines verheißenen Königs so zu verstehen, dass sie die göttlichen Eigenschaften dergestalt übernimmt, dass es nahezu zu einer Gleichsetzung mit Gott kommt. Dies bestreitet z. B. Spieckermann, indem er den Segen als einen dialektischen Prozess ansieht, der aus „Dedizieren und Identifizieren“ besteht: Spieckermann, Heilsgegenwart, 219. Damit stellt er sicher, dass trotz der Segensgüter, die der König in Ps 21 bekommt, noch immer eine Differenz zwischen Gebendem und Empfangenden besteht:
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Auch in Ps 103 wird die gesteigerte Lebensqualität durch die immerwährende Gnade JHWHs als Segensgabe ausführlich beschrieben, wobei sie grundlegend durch die Sündenvergebung geprägt ist.
3.3 V.5: Sättigung und Erneuerung ַה ַמּ ְשׂ ִ ֣בּיַ ע ַבּ ֣טֹּוב ֶע ְד ֵי�ְ֑ך5 :עוּריְ ִכי ֽ ָ ְִתּ ְת ַח ֵ ֖דּשׁ ַכּ ֶנּ ֶ֣שׁר נ 5 Er sättigt mit dem Guten deine Dauer, deine Jugend erneuert sich wie beim Geier.
In den vorausgehenden Versen 3–4 ist auf grundsätzlicher Ebene die Konstitution des Gottesverhältnisses von JHWH zu Israel beschrieben worden, indem es als Errettung aus dem Tod und Lebensmöglichkeit vor und mit JHWH zur Darstellung kommt. Vers 5 bezieht sich jetzt nicht mehr auf die Lebensmöglichkeit an sich, sondern auf die Gestaltung der Lebenszeit durch Sättigung und Erneuerung der Jugendzeit. Bevor die Verse ausgelegt werden können, muss allerdings das textkritische Problem in V.5a bedacht werden. Der verwendete Begriff im MT meint „deinen Schmuck“ ()ע ְדיֵ ְך, ֶ LXX liest „dein Begehren“ (τὴν ἐπιθυμίαν σου),177 das Targum „die Tage deines Greisenalters/dein Nochsein“178 vermutlich von עדoder עוד,179 Symmachus „dein Verweilen“ (ἐπιμoμὴν σου),180 Kraus u. v. a. m. lesen in Angleichung an Ps 104,33 „deine Dauer“ ()עֹוד ִכי,181 ֵ Delitzsch geht vom Grundbegriff עדי aus, den er aus dem Arabischen als „Backe“ wiedergibt.182 Die Übersetzung „deinen Schmuck“ lässt sich zum einen durch die Verbindung zu Ex 33 bedenken. Dort bezeichnet der Begriff den Schmuck (Ex 33,4.5.6), aus „Aber die Nähe des Königs selbst hat nicht die Grenze zwischen beiden unscharf werden lassen. Die göttlichen Herrlichkeitsprädikationen sind in die königliche Sphäre eingegangen, ohne profan zu werden. Der irdische König ist durch Jahwes Segnung über alles Weltliche hinausgehoben, ohne göttlich zu werden.“ Ebd. 177 Die Herkunft dieser Variante ist nicht klar. Henneke bezeichnet sie als „Notbehelf “, Henneke, Psalmen, 331; Allen schreibt dazu: „LXX ἐπιθυμίαν ‚desire,‘ which usually renders תאוהin the Psalter, most probably here represents simply a guess.“ Allen, Psalms, 18. 178 Evtl. von Prv 16,31; 20,29 abhängig. Vgl. dazu Baethgen, Psalmen, 312. 179 Vgl. Nestle, Eberhard, Ps. 103,5, ZAW 19, 1899. 180 Ebd. 181 Kraus, Psalmen, 871. 182 Delitzsch, Psalmen, 597. Delitzsch schlägt mit seiner Übersetzung von V.5a einen Sonderweg ein: „Der sättigt mit Gutem deine Backe, daß sich verneuet adlergleich deine Jugend.“ Er erörtert, dass der Psalmendichter im Zwiegespräch mit seiner Seele sei und ihr sagt, JHWH sättige sie mit Gutem. „Der D. sagt der Seele, d. i. seiner Person, daß Gott sie mit Gutem sättigt, so daß sie gleichsam die Backen davon voll bekommt“. AaO., 599.
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dem das goldene Kalb angefertigt wird. Durch die starke Bedeutung, welche die Sünde des goldenen Kalbes und vor allem die sich daran anschließende Begrenzung des Zorneshandelns, begründet durch die Gnadenrede, für Ps 103 einnimmt, könnte hier an eine Variante gedacht sein, um die Restitution auszudrücken. ‚Deinen Schmuck mit Gutem sättigen‘ könnte dann im Kontext der Sinaitheologie des Psalms eine Art Chiffre für die Vergebung der Sünde des goldenen Kalbes bedeuten. Auch Dohmen spricht sich an dieser Stelle im Rückgriff auf Hirsch für einen Bezug auf den Sinai aus, der allerdings stärker an dem Begriff gut/Güte ( )טובin Zusammenhang mit Ex 33,19 hängt.183 Den ‚Schmuck mit Gutem sättigen‘, wird ausgehend von der Mosebitte, JHWHs Herrlichkeit zu sehen, als Streben nach sittlicher Vollendung ausgelegt: It is for such striving after moral perfection that God has created the soul. The soul ‚yearns‘ for this ‚ornament‘ of its ennoblement, and the Lord satisfies its yearning. This he does by giving the soul an opportunity, through the constantly changing circumstances amidst which it must live, to put into practice the manifold aspects of this one ‚goodness‘, until such time as, crowned by the ornament of perfection attained here below, it will leave its earthly husk and its link with earthly things, and return to renew its life of youthful vigour in home of its Heavenly Father […].184
Baethgen knüpft auch die Verbindung zum Guten ()טוב, sieht aber den Bezugspunkt in Ex 2,2 und 1Sam 9,2 und stellt fest, dass nicht das Gute, sondern die Schönheit gemeint ist: Schmuck ist metonymisch gesagt für die geschmückte Erscheinung; טובaber ist, wie der Parallelismus zeigt, nicht das Gute, sondern die Schönheit, vgl. Ex.2,2. ISam. 9,2. Israel ist vorgestellt als eine in neuer Jugend strahlende Jungfrau.185
Hupfeld deutet die Lesart ,deinen Schmuck‘ als Anzug/Kleid und bringt sie in Zusammenhang mit Ps 103,5b, der Erneuerung wie bei einem Geier. So wie der Geier/Adler nach der Mauserung ein neues ‚Federkleid‘ bekommt, wird der Beter von JHWH mit Gutem zum Schmuck gesättigt, so dass er wie in einem neuen Kleid erscheint.186 Deissler setzt ‚Schmuck‘ mit Seele gleich und übersetzt „Er sättigt mit Glück deine Seele“187. Er argumentiert:
183 Vgl. Dohmen, Sinai, 98 f. 184 Hirsch, The Psalms, 214 f. 185 Baethgen, Psalmen, 312. 186 Vgl. Hupfeld, Psalmen, 92 f. 187 Deissler, Psalmen, 400.
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In V.5 scheint „Schmuck“ im selben Sinne wie „Herrlichkeit“ (vgl. Ps 16,9 u. a.) als Wort für „Seele“ verwendet zu werden (vgl. die Wendung: „die Seele sättigen“ in Is 58,11).188
Im Psalm selbst hat der Begriff „Schmuck“ einen Anhaltspunkt in der Krönung in V.4b, so dass das Verleihen von Gnade und Barmherzigkeit einer Form des Schmückens gleichkommt. Obwohl die Variante von MT in sich eine Plausibilität aufweist, da sie sowohl im Sinaikontext in Ex 33 verankert ist als auch durch 4b im Psalm integriert ist, liest die große Mehrheit der Ausleger den zeitlichen Ausdruck „deine Dauer“ ()עֹוד ִכי, ֵ wie er auch in Ps 104,33; 146,2 als lebenslange Dauer des Gotteslobes verwendet wird.189 Dieser Lesart folgen Symmachus und Targum und sie ist aufgrund der Parallelstellen in den Psalmen plausibel.190 Außerdem scheint der Begriff der Dauer noch angemessener in den Kontext der Vv.3–5 eingebettet zu sein als ‚Schmuck‘. Es geht in diesen Versen um die Lebensqualität des Beters während der Dauer seines Daseins, um die Wohltaten, die ihm zum Leben gegeben werden. Die ,Dauer mit Gutem zu sättigen‘ ist daher eine Art Zusammenfassung der vorher genannten Taten. Außerdem bildet die Dauer rein sprachlich betrachtet einen Kontrast zur Verjüngung, da es sich einmal um zeitliche Ausdehnung und einmal um zeitliche Verkürzung handelt. Der Begriff lässt sich also inhaltlich und stilistisch als stimmig einfügen. Das Sättigen wird mit dem Verb שבעim Hif ’il beschrieben, das an allen Stellen, in denen es verwendet wird, mit JHWH als Subjekt vorkommt (außer Jes 58,10). JHWH sättigt im herkömmlichen Sinne mit Nahrungsmitteln (Weizen/Brot Ps 81,17; Ps 132,15), aber auch im übertragenen Sinne mit immateriellen Gütern (mit langem Leben Ps 91,16; auch mit Bitternis Hi 9,18). Das Sättigen kann als Demonstration seiner Macht gegenüber den lebensfeindlichen Chaosmächten angesehen werden und ihre Umwandlung in lebensförderliche Prozesse (in Hi 38,27 wird Regen und Gewitter eingesetzt, um in Wildnis und Wüste die Vegetation wachsen zu lassen). Der Vorgang der Sättigung führt auch in die Murrgeschichten in der Wüste, in denen das Volk mit Himmelsbrot gesättigt wird (Ex 16,3). In Ps 103,5 wird die Lebensdauer mit Gutem gesättigt. Die Spur des Guten in Verbindung mit der Lebensdauer führt sowohl in weisheitliche Traditionen (Hi 21,13 und 36,11 „sie werden alt in guten Tagen und glücklich leben“) als auch ins Tempelvokabular (Ps 128,5: „Der Herr wird dich segnen aus Zion, dass du siehst das Gute Jerusalems dein Leben lang“). In Ps 65,5 heißt es: „Wir werden gesättigt ( שבעqal) mit dem Guten deines Hauses, deinem heiligen Tempel.“ Diese
188 AaO., 401. Diese Argumentation ist m. E. eher spekulativ, da in Ps 16,9 ‚Herz‘ das Gegenstück zu ‚Herrlichkeit‘ ist und weder der Begriff ‚Schönheit‘ noch ‚Seele/Leben‘ verwendet wird. Auch Westermann übersetzt mit „der dein Leben mit Gutem erfüllt“, gibt aber keine Erklärung dafür; Westermann, Ausgewählte Psalmen, 167. 189 Leuenberger sieht darin eine redaktionelle Anpassung von Ps 103,5a an Ps 104,33. Vgl. Leuenberger, Konzeptionen, 183. 190 So argumentiert auch Nestle, Ps. 103,5.
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Sättigung bedeutet ein Leben in Fülle, die ausführlich in Ps 65,10–14 formuliert wird, bezogen auf einen unermesslichen Segen, der im Gedeihen der Schöpfung deutlich zu sehen ist. Für Ps 103,5 scheint vor allem diese kultische Verankerung des Sättigungsmotivs eine wesentliche Rolle zu spielen, da die Reaktion darauf, die im Segen für JHWH liegt, ebenfalls in kultischen Kontexten angesiedelt ist. Das lebenslange Sättigen mit Guten führt zum lebenslangen Gotteslob, wie es in Ps 104,33 und Ps 146,2 beschrieben ist. Das Sättigen für die Dauer der gesamten Lebenszeit reiht sich zudem in die Segenstaten ein, welche die Lebensqualität angesichts der Vergänglichkeit des Menschen fördert. Die mit Gutem gesättigte Lebensdauer wird zu einer Gestalt der Teilhabe am עולם, der immerwährenden Lebenszeit JHWHs. Der Ausdruck „das Gute“ ( )הטובmuss aus dem jeweiligen Kontext mit Inhalt gefüllt werden, da die Konnotationen vielfältig sind. Zusammenfassend könnte er das beschreiben, was JHWH an heilvollen Taten am Menschen erbringt, da er auffallend oft mit dem Begriff der Segenstaten verwendet wird. Außerdem wäre zu überlegen, ob er in Ps 103,3 gewählt worden ist, um an die Handlungsoptionen Gnade und Barmherzigkeit anzuschließen, wie es der Kontext der Gottesbegegnung von Mose und JHWH mit der Auslegung des JHWH-Namens durch das Erbarmen und der darauf folgenden Gnadenrede nahelegt. Mose, der in Ex 33,18 darum bittet, die Herrlichkeit JHWHs zu sehen, bekommt zur Antwort, JHWH wolle „sein Gutes“ an ihm vorbeiziehen lassen (Ex 33,19).191 Auch wenn die Verwendung des Begriffes in Ps 103 nicht in dieser Tradition vollständig aufgeht, kann sie doch auf dem Weg zur Gnadenformel in Ps 103,8 mitgehört werden. Als Ausdruck der oben beschriebenen Lebensfülle und ihrer Bedeutung für die Lebensdauer wird die Erneuerung der Jugend in V.5b an das Sättigungsmotiv angehängt. Was ist mit dem Begriff der Erneuerung der Jugend gemeint? Auszuschließen ist wohl der Gedanke einer ewigen Jugend, die nicht altert, da gerade das Altwerden ein Element des Guten darstellt. Die Jugendzeit ( )נעוריםist im Hoseabuch ein besonders wichtiger Faktor in den verschiedenen Stadien der Beziehung, die JHWH zu seinem Volk erlebt. In der im Hoseabuch verwendeten Ehemetaphorik bildet die Jugendzeit das Stadium der ersten ‚Verliebtheit‘ ab, als sich JHWH und Israel noch besonders nahe waren und eine ideale Form von Beziehung pflegten (Hos 2,17), indem Israel JHWH als alleinigen Liebhaber anerkannte und keinen anderen Göttern folgte. Die Erinnerung an die ideale Jugendzeit (Hos 11,1) – nicht in Kategorien von Ehe, sondern von Kindschaft gedacht – ist ein Grund für den
191 Das Vorbeiziehen ( )עברdes Guten kann in den Gegensatz zum Vorbeiziehen JHWHs in Vernichtungsabsicht gesetzt werden, wie es z. B. in Am 8,2 verwendet wird. Die vorausgehenden Amosvisionen zeigen die deutliche Grenze der Fürbitte, so dass Amos nicht mehr zwischen JHWH und seinem Volk vermitteln kann. Der Gottesschau in Ex 33 geht die erfolgreiche Fürbitte des Mose voraus, die den Vernichtungsbeschluss JHWHs verhindern kann. Das Gute in Ex 33,18 kann gerade auf diesem Hintergrund die vom Zorn isolierten gnädigen und vergebenden Handlungseigenschaften beschreiben und auf den festgestellten Überhang der Gnade in der Gnadenrede vorverweisen.
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sog. Herzensumsturz JHWHs192 zum Willen der Selbstbeherrschung und der damit verbundenen Begrenzung des Zorns in Hos 11,8. Die Erneuerung der Jugend in Ps 103,5 könnte daher eben diese Wiederherstellung der besonderen Nähe zu JHWH meinen, welche völlig unverdient an der Gnade JHWHs hängt und wiederum aus der engen Verankerung von Schöpfer und Geschöpf/Vater und Kind resultiert193 (wie auch der Löser-Begriff in V.4).194 Der Vergleich der Erneuerung der Jugend mit dem Geier oder Adler gibt Rätsel auf, die nicht eindeutig lösbar sind, da keine vollständige Einsicht in die Konnotationen besteht, die in Israel mit dem Begriff Geier/Adler ( )נשרverbunden sind. Es lässt sich auch nicht immer eindeutig zuordnen, ob mit נשרder Geier oder der Adler gemeint ist.195
Exkurs: Das Motiv des Geiers/Adlers Für die Gottheiten des Alten Orients hat der Geier/Adler eine hohe Bedeutung. Walter Müller untersucht den Geier und den Adler als altarabische Gottheiten und weist darauf hin, dass „das gemeinsemitische Nomen našru/nišru […] sowohl den Adler als auch den Geier“196 bezeichnet. Hinsichtlich einer Verbindung von Geier/Adler und Lebenszeit erwähnt er Folgendes: Der nasr gilt bei den Arabern als langlebig. So soll Lubad, der siebte und letzte Geier des im Koran (31,12) erwähnten weisen Luqman b. Ād […] eine so lange Lebensdauer erreicht
192 Jörg Jeremias stellt diesen Umsturz im Herzen Gottes und seine Unfähigkeit, seine Geschöpfe, die er liebt, preiszugeben, detailliert dar, vgl. Jeremias, Hosea, 145. 193 Dafür spricht auch, dass ein Charakteristikum der Jugendzeit im Alten Testament darin besteht, sie als besonders schützenswert zu betrachten. „Säuglinge und Kleinkinder bilden das empfindlichste und schützenswerteste Glied in der Generationenkette (Ijob 24,9; Klgl 2,11; Jdt 7,27).“ Frevel, Christian, Art. Alter/Jugend, in: Berlejung, A./Frevel, C. (Hg.), HGANT, Darmstadt 42015, 85–87; 86. 194 An dieser Stelle muss auch auf Jes 54,4–8 hingewiesen werden. In diesen Versen wird die Wiederannahme der verlassenen Frau Zion beschrieben, die JHWHs Frau der Jugend/Jugendliebe war. Die erneute Zuwendung JHWHs begründet sich zum einen in der Verbindung von Schöper- und Lösermotivik (V.5), zum anderen in einer Variation der Gnadenformel (V.7f). Vgl. zur Jugendzeit als Form der ersten Liebe JHWHs und als Begründung für die erneute heilvolle Zuwendung Hermisson, Hans-Jürgen, Deuterojesaja. 3. Teilband. Jesaja 49,14–55,13, BK XI/3, Göttingen 2017, 512. 195 Eine eindeutige Zuordnung von נשרals Geier zeigen sowohl die Stellen Hi 39,27ff und Spr 30,17, in denen der נשרals Aasfresser beschrieben wird, als auch Mi 1,16, wo die kahle Stelle auf dem Kopf des Gänsegeiers betont wird („Lass dir die Haare abscheren und geh kahl um deiner verzärtelten Kinder willen; ja, mach dich kahl wie ein Geier, denn sie sind gefangen von dir weggeführt.“) 196 Müller, Walter M., Adler und Geier als altarabische Gottheiten, in: Kottsieper, I. u. a. (Hg.), „Wer ist wie du, HERR, unter den Göttern?“. Studien zur Theologie und Religionsgeschichte Israels für Otto Kaiser zum 70. Geburtstag, Göttingen 1994, 91–107; 93.
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haben, daß vergleichbar mit unserer Redewendung „alt wie Methusalem“, sprichwörtliche Ausdrucksweisen entstanden wie […] „älter als Lubad“ […].197
Silvia Schroer stützt sich in ihrer Analyse des Bildes der Geierflügel198 in Ex 19,4 und Dtn 32,10 auf die Geiersymbolik Ägyptens, die, laut Schroer, mit Göttinnen verbunden ist, welche „mütterlich-regenerierende Kräfte“199 symbolisieren. Als Aufgabe der Geiergöttinnen nennt Schroer den Schutz des Königs sowie die Begleitung am Lebensende und am Beginn des Lebens.200 Eine Übertragung dieser Funktionen auf Ps 103 scheint eher schwierig zu sein, da die Erneuerung der Jugendzeit im Psalm nicht mit Mütterlichkeit, sondern mit dem Vaterbild in Beziehung gesetzt wird. Es stellt sich auch die Frage, ob eine Paraphrasierung mit Regeneration von Lebenskraft201 wirklich die im Psalm gemachte Aussage wiedergibt. Wenn es sich tatsächlich bei der Erneuerung der Jugendzeit um eine Wiederherstellung eines intakten Gottesverhältnisses handelt, wie es der Kontext der partizipialen Reihung und der des gesamten Psalms nahelegt, ist dies eher nicht der Fall. Auch Othmar Keel knüpft ausgehend vom Motiv der „Flügel Gottes“ die Verbindung zu ägyptischen Vogelgottheiten. Er verweist auf Darstellungen, auf denen vogelgestaltige Götter mit ausgebreiteten Flügeln über dem König schweben, u. a. Nechbet, der als Geier abgebildet wird.202 Laut Peter Riede werden Geier im gesamten Alten Orient aufgrund ihrer Schnelligkeit geschätzt, die wegen ihrer Eigenart, Aas zu fressen, eine wichtige Rolle als „Gesundheitspolizei“203 hatten. Auch Dohmen bezieht sich auf die Eigenschaften eines Geiers in seiner Deutung von Ps 103, benennt aber den Zusammenhang zur Verjüngung mit der Quantität des aufgenommenen Aases. Er stellt dar, dass Geier sehr große Mengen in sehr kurzer Zeit fressen, wobei sie aber erst nach dem Auswürgen des Kropfinhaltes wieder fliegen können. Aus dem Kontrast eines vollgefressenen, sich ungelenk bewegenden Geiers am Boden und den eleganten Flugkünsten in der Luft könnte, nach Dohmen, das Erneuerungsbild stammen.204 197 AaO., 107. 198 Sie geht von der Bedeutung als Gänsegeier aus und nennt als Begründung die in Anmerk. 125 genannten Textstellen, die eine eindeutige Zuordnung zulassen. Vgl. Schroer, Silvia, „Im Schatten Deiner Flügel“. Religionsgeschichtliche und feministische Blicke auf die Metaphorik der Flügel Gottes in den Psalmen, in Ex 19,4; Dtn 32,11 und in Mal 3,20, in: Kessler, R. u. a. (Hg.), „Ihr Völker alle, klatscht in die Hände!“ FS für Erhard S. Gerstenberger zum 65. Geburtstag, Exegese in unserer Zeit 3, Münster 1997, 296–316; 300. 199 AaO., 304. Diesen Gedanken führt sie auch aus, in: Schroer, Silvia, Die Göttin und der Geier, ZDPV 111, 1995, 60–80; 68 f. 200 Schroer, Flügel, 302 f. 201 Schroer spricht im Zusammenhang von Ps 103 von „Regenerationskräften“. Schroer, Göttin, 69. 202 Vgl. Keel, Othmar, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, Neukirchen-Vluyn 1972, 170. 296 (Abbildung 425). 203 Riede, Peter, Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel, OBO 187, Göttingen 2002, 339. 204 Vgl. dazu Dohmen, Sinai, 99 f.
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Aus den verschiedenen Deutungen des Geierbildes lässt sich positiv wohl am ehesten eine grundsätzliche Beobachtung festhalten, nämlich die, dass der Geier, der in unseren Kulturkreisen keine wirkliche Hochschätzung gefunden hat, in den Kulturen des Alten Orients ein mit Gottheiten konnotiertes, mit hoher Wertschätzung versehenes Tier ist. Allerdings ist auch feststellbar, dass keiner dieser Ansätze gesichert auf Ps 103 übertragen werden kann. Aus dem Alten Testament ist die engste Parallele, welche die Kombination von Erneuerung der Jugend und dem Geier/Adler aufweist, Jes 40,30f: חוּרים ָכּ ֥שֹׁול יִ ָכּ ֵ ֽשׁלוּ׃ ֖ ִ וּב ַ וְ יִ ֲֽע ֥פוּ נְ ָע ִ ֖רים וְ יִ ָג֑עוּ30 קֹוי֤ יְ הוָ ֙ה יַ ֲח ִ ֣ליפוּ ֔כֹ ַח יַ ֲעל֥ וּ ֵ ֖א ֶבר ַכּנְּ ָשׁ ִ ֑רים ֵ ְ ו31 יעפוּ׃ ֽ ָ ִוּצוּ וְ ֣ל ֹא יִ ֔ ָיגעוּ יֵ ְל ֖כוּ וְ ֥ל ֹא י ֙ יָ ֙ר 30 Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen. 31 Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie Schwingen hervorbringen wie Geier, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandern und nicht müde werden.
Es handelt sich um ein Disputationswort, das durch die Fragen in Jes 41,27f eingeleitet wird.205 Elliger sieht es im Zusammenhang der Trostbotschaft des Prologes in Jes 40,1: Er tröstet und tut das, indem er zunächst den Blick der Verzweifelnden von ihrem eigenen Schicksal auf das große Werk Gottes lenkt, um ihnen zu zeigen, daß innerhalb dieses Werkes noch Platz genug ist, den Hoffenden Kraft zum Ertragen ihrer Gegenwart zu geben.206
Diese Stelle könnte tatsächlich als Regeneration von Kraft gedeutet werden. Allerdings scheint der Kern der Sache nicht in physischer Stärke zu liegen, sondern in der Kraft, die durch das Vertrauen in JHWH ausgelöst wird.207 Das Vertrauen findet seinen Grund im ewigen Schöpferhandeln JHWHs: Gott, der Ewige, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde (Jes 40,28). Der Verweis auf die überdauernde Gotteszeit garantiert ein Eingreifen JHWHs zu allen Zeiten. Mit dem Bezug auf die fernsten Zeiten ( )עולםist wiederum ein Bezug zum Jesajaprolog gegeben, in welchem das (Trost-)Wort JHWHs für ewig besteht (Jes 40,9). Diese zeitliche Unbegrenztheit JHWHs wird in V.28 auf seine unerschöpfliche Handlungskraft übertragen. Derjenige, der nie müde wird, kann sich um die Müden kümmern und ihnen aufhelfen. Das Geierbild dient vermutlich zur Illustration
205 Vgl. zur Form: Elliger, Karl, Jesaja II, BK XI/1, Neukirchen-Vluyn 1970, 94. Westermann bringt das Disputationswort mit einem „erstarrenden Klagegottesdienst“ im Exil in Verbindung, der vom Propheten wieder zum Leben erweckt werden soll. Westermann, Claus, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66, ATD 19, Göttingen 31976, 52. 206 AaO., 97. 207 Das Motiv der Kraft als Zeichen von Gottesnähe findet sich z. B. in Ps 103,20 in der Bezeichnung Helden von Kraft für die Engel.
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eines Israels, das durch das wiedergewonnene Vertrauen in JHWHs Rettungshandeln neue Hoffnung schöpft. In Jes 40,31 könnte es auch in Kombination mit der Wegmetapher (laufen und wandern) auf die Rückkehr des exilierten Volkes verweisen, die als so unbeschwert beschrieben wird, als flöge das Volk nach Jerusalem zurück.208 Für eine Deutung von Ps 103 lässt sich zunächst festhalten, dass der Psalm sich auch an anderer Stelle, nämlich in der Vergänglichkeitsklage in V.15, auf Deuterojesaja (Jes 40,6–8) bezieht. Ob das Geierbild wirklich aus Jes 40,30f übernommen ist, kann nicht sicher entschieden werden. Eine Übereinstimmung im Motiv ist durch die Aufwertung der Lebenskraft gegeben, die durch JHWHs Rettungstat entsteht (in Jes 40 ist es wohl die erhoffte Rettungstat, in Ps 103 die schon geschehene). Die Steigerung der Lebensqualität wird in beiden Texten mit der Metapher vom Geier versprachlicht, die einem heutigen Verständnis nicht mehr voll zugänglich ist. In Ps 103 wird der Vergleichspunkt der Verjüngung herangezogen, in Jes 40,30 ist es weniger die Verjüngung (es handelt sich um junge Männer, die müde werden), sondern eher die Wiederherstellung von mentaler Stärke (Hoffnung/Vertrauen) und damit zusammenhängend evtl. auch von physischer Kraft.
3.4 Ergebnisse Die Auslegung der partizipialen Reihung, welche die Wohltaten JHWHs an Israel beschreibt, hat Folgendes ergeben: Das Leitmotiv dieses Abschnittes ist die Herstellung eines idealen Gottesverhältnisses, welches durch die Taten JHWHs konstituiert wird. Als Empfänger dieser Taten wird zwar die einzelne Seele genannt, diese ist aber nur innerhalb einer kollektiven Größe Israel zu verstehen. Dies wird aus den zugrunde liegenden Traditionen deutlich, die im Kontext des Volkes anzusiedeln sind (wie z. B. der Begriff der Krankheit, die Krönung und auch die auf ein Kollektiv übertragene Funktion des Auslösens). Die Stellung der Sündenvergebung und der Heilung von Krankheit an erster Position bildet die herausgehobene Funktion als erste und damit bedeutendste Tat JHWHs ab. Beide Handlungen zusammen bilden die Grundlage der Lebensmöglichkeit Israels, auf der sich alle anderen Taten vollziehen. Die Relevanz dieser Taten entsteht durch die Unterbrechung des unheilvollen Tun-Ergehens-Zusammenhanges durch JHWHs Gnade.
208 „V.31b fügt etwas Neues hinzu, sofern hier nun deutlich auf den Weg in die Heimat angespielt wird. Es ist der Weg von dem der Prolog in 40,10–11 sprach. Damit klingt der Schluß von V.12–31 an den Schluß von V.1–11 an; hier wie dort wird auf das Ziel gewiesen, zu dem der Ruf ,Tröstet mein Volk!‘ führen will.“ Westermann, Jesaja, 43. Elliger kritisiert Westermann und hält dagegen: „31b bleibt Metapher wie 30, wo die Jünglinge für die natürliche Kraft stehen, und rundet den Gedanken ab: während bloße natürliche Kraft versagt, ist die aus dem Herren auf Jahwe wachsende Kraft unerschöpflich, und nicht erst bei der Heimkehr, sondern schon jetzt und überhaupt.“ Elliger, Jesaja II, 100.
Vv.3–5: Die Wohltaten JHWHs
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Hinzu kommt eine Form des Aufgehobenseins der Niedrigkeit Israels in der Hoheit JHWHs, welche durch Übertragung von und Teilhabe an JHWHs Eigenschaften geschieht. Die Niedrigkeit, formuliert durch Sündhaftigkeit und Sterblichkeit, wird nicht von Israel weggenommen, sondern durch JHWH selbst in einer Aufwertung der so beschaffenen Lebenszeit kompensiert. Durch diese Lösung unterscheidet sich Ps 103 deutlich von den Niedrigkeits- und Hoheitskonzeptionen des Hiob buches, welche in der Differenz verhangen bleiben. Eine Nähe lässt sich aber durch die Funktion der Vergebung innerhalb dieser Konzeptionen zur Vorstellungswelt der jüngeren Qumranpsalmen, den Hodayot, und auch zur Gemeinderegel feststellen, wodurch die geistige Welt von Ps 103 schärfer profiliert werden kann. Nach der grundsätzlichen Klärung der existenziellen Rahmenbedingungen konzentrieren sich die Taten JHWHs in V.5 auf die Qualität der Lebensdauer, die durch Sättigung und Erneuerung als Zeichen für die Gottesnähe, in Fülle und Kraft erheblich aufgewertet wird. In allen Versen der partizipialen Reihung sind schon Anklänge an die Gnadenrede und ihre Auslegung als Begrenzung des Zorns mitzuhören, die sowohl durch direkte Stichwortbezüge als auch durch die Vorstellungshintergründe geweckt werden. So erweisen sich die Vv.3–5 als stringent in den Psalm eingebettet.
4. Vv. 6–18: Die Gnadenformel als Zentrum des Psalms
4.1 Vv.6–7: Auf dem Weg zum Sinai ל־עשׁ� ִ ֽוּקים׃ ֲ הו֑ה וּ ִ֝מ ְשׁ ָפּ ִ֗טים ְל ָכ ָ ְ ע ֵ ֹ֣שׂה ְצ ָד ֣קֹות י6 ֹותיו׃ ָ יֹוד ַיע ְדּ ָר ָכ֣יו ְלמ ֶ ֹ֑שׁה ִל ְב ֵנ֥י ִי ְ֝שׂ ָר ֵ֗אל ֲע ִל ֽיל ִ֣ 7 6 JHWH macht Gerechtigkeitstaten und Rechtsurteile für alle Unterdrückten. 7 Er hat Mose seine Wege wissen lassen, die Kinder Israels seine Taten.
Die Verse 6f schließen syntaktisch durch das Partizip zu Beginn von V.6 und inhaltlich durch die Nennung von weiteren Wohltaten JHWHs für Israel an die Reihung in den Vv.3–5 an. Sie unterscheiden sich aber durch die Einführung eines neuen Objektes, da nicht mehr die preisende Seele als Empfänger der Taten genannt wird, sondern die Unterdrückten in V.6b sowie Mose und die Israeliten in V.7. Beide Verse zeigen durch die Stichwortbezüge der Begriffe Gerechtigkeitstaten ()צדקות und Kinder ( )לבניsowie durch die Verwendung des Wortfeldes der Gesetzesausdrücke ( )משפטיםeine starke Verbindung zu V.17 f. Durch das Verb tun/machen wird weiterhin eine Brücke vom Tun JHWHs in V.6 über das Tun Israels in V.18 zum Tun der himmlischen Wesen in Vv.20–21 und dem Begriff der Werke in V.22 geschlagen. Insgesamt zeigen die Verse eine starke Verwobenheit zum gesamten Psalm, weswegen eine literarkritische Bewertung als sekundäre Fortschreibung, wie Spieckermann sie vorschlägt, nur schwer gerechtfertigt werden kann.209 Die Gerechtigkeitstaten JHWHs, die in der Rechtsprechung für die Unterdrückten konkretisiert werden, führen vor allem in die prophetischen Traditio-
209 Spieckermann begründet seine Entscheidung mit der „national-religiös“ geprägten Perspektive der Verse, die nicht in einen „Individualpsalm“ gehört. Da schon im vorherigen Kapitel verdeutlicht worden ist, dass von einem Individualpsalm keine Rede sein kann, wird dieses Argument hinfällig. Spieckermann, Barmherzig und gnädig, 10, Anmerk. 29.
Vv. 6–18: Die Gnadenformel als Zentrum des Psalms
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nen und scheinen dort zwei verschiedene Stränge zu verfolgen. Zum einen wird im Schuldaufweis Israel als der Täter der Bedrückung genannt, weil sie Gewalttaten an anderen, häufig an den sog. personae miserae, ausführen.210 Zum anderen ist Israel selbst das Objekt der Bedrückung, die sich in der Exilierung äußert, und wird von JHWH aus der Not befreit. Beide Richtungen scheinen für Ps 103 aufgrund von Stichwortbezügen eine Rolle zu spielen. Das Durchsetzen von Recht und Gerechtigkeit für die Bedrückten ist für das Amosbuch von besonderer Bedeutung. Israel lädt große Schuld auf sich, da es das Recht korrumpiert und die Torgerechtigkeit nicht aufrechterhält, wodurch den Bedrückten die Chance auf Gerechtigkeit verwehrt wird (Am 3,9; 4,1 verwendet עשקin der Anschuldigung, dass die Reichen ihren Reichtum auf Kosten der Armen erlangen, u. a. weil sie das Recht beugen.211 Am 5,7.24 nennt die Missachtung von משפט וצדקהals Schuld bzw. ihre Aufrichtung als einzige Möglichkeit, durch die Israel vielleicht überleben kann). Auf diesem Hintergrund betont Ps 103 die gesicherte Rechtsordnung für die Unterdrückten durch das Handeln JHWHs, setzt es aber durch die Verbindung zu Ps 103,17f auch mit dem Handeln Israels in Beziehung. Der Grund zur Befähigung eines solchen Handelns ist in der Auslegung der Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit JHWHs schon festgestellt und ausgelegt worden. Weiterführend ist auch ein Blick auf die Vorstellungen, in denen Israel selbst Bedrückung angetan wird, aus der es von JHWH befreit wird. Jer 50,33f beschreibt das babylonische Exil und das Bestreben der Babylonier, Israel nicht freizulassen. JHWH aber erweist sich als Erlöser, der für Israel streiten und es hinausführen wird: „Ihr Löser ist stark, JHWH Zebaoth ist sein Name“ (Jer 50,34a). In Jes 52,1–6 wird Jerusalem angewiesen, sich auf die Befreiung vorzubereiten, da JHWH es auslösen wird („umsonst seid ihr verkauft worden und nicht durch Silber werdet ihr ausgelöst“).212 Sowohl die Knechtschaft in Ägypten als auch die assyrischer Herr-
210 Z. B. Jer 7,6; Am 3,9; 4,1. 211 Christoph Levin sieht in dem Ausdruck עשקdie Zugehörigkeit zu der Gruppe der Anawim, die er als eine fromme Gruppierung der Spätzeit ansieht (414). „Die literarische Schichtenfolge verweist sie [die Texte, die die Bedrückung der Armen thematisieren; Hinzufügung ACF] in ein fortgeschrittenes Stadium des Buches. Wegen der engen Verbindung zu den Voraussagen einer weltweiten Endkatastrophe, die besonders in 8,4–8 und 2,6–8.13–15 hervorsticht, stehen sie am ehesten mit der eschatologischen Armenfrömmigkeit der ausgehenden persischen und der hellenistischen Zeit in Zusammenhang, für die wir andernorts genügend Zeugnisse haben.“ Levin, Christoph, Das Amosbuch der Anawim, in: ZTHK 94, 1997, 407–436. Ausgehend von der These einer „Anawim-Bearbeitung“ auf Psalm 103 zu schließen, scheint eher schwierig zu sein, da eine Eingrenzung auf die Gruppe der Armen, die dann wohl mit der Gruppe der JHWH-Fürchtigen gleichzusetzen sind, gegen die dominierende Gnadentheologie des Psalms argumentiert. Selbst die Annahme einer späten Einschreibung einer ‚Anawim-Frömmigkeit‘ in einen vermeintlich älteren Grundbestand kann aufgrund der sorgfältig komponierten inhaltlichen und sprachlichen Zusammenhänge nur schwer begründet werden. 212 Das Auslösen innerhalb der Vorstellungswelt eines Warenaustausches und der Terminus „umsonst“ spielt auch im Hiobbuch eine bedeutsame Rolle, da Hiob nicht mal mehr die Haut am Körper trägt und in dem Moment, als er nicht mehr imstande ist, etwas zu geben, JHWH als Löser erkennt und anerkennt (Hi 19), vgl. dazu Kessler, Erlöser, 203 f.
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Hauptteil: Exegese von Ps 103
schaft wird als Bedrückung und als Lästerung des JHWH Namens beschrieben, so dass JHWH sein Volk am Tag der Befreiung seinen (wahren) Namen erkennen lassen will (V.6 „denn ich bin derjenige, der spricht: Hier bin ich“). Die hier verwendete Namenstheologie scheint mit der Offenbarung des JHWH-Namens in Ex 3,14 und Ex 33,19 zu spielen, indem das „ich werde sein, der ich sein werde“ zum „hier bin ich“ als Faktum der Rettungstat wird. Es gibt also zwei Stellen, in der die Befreiung Israels aus der Bedrückung mit dem Lösermotiv verbunden ist, das in Ps 103,4 genannt wird. Weiterhin gibt es eine Verbindung zur Namenstheologie des Exodusbuches, die für Ps 103 von großem Gewicht ist. Durch diese Referenzstellen scheint Ps 103,6 doch stärker an die vorangegangen Rettungstaten in den Vv. 3–5 angebunden zu sein, als auf dem ersten Blick zu sehen ist. Auch die Nennung des Mose in V.7 ist durch die Vorstellungswelt von Bedrückung als Knechtschaft in Ägypten und Offenbarung des JHWHNamens als Zeichen des rettenden Eingreifens JHWHs nicht mehr überraschend, sondern gewissermaßen angekündigt. Zum ersten Mal liegt mit V.7a im Psalm ein direktes Zitat vor, das Ex 33,13 aufnimmt. Es handelt sich um die Bitte von Mose, JHWH möge ihn seine Wege wissen lassen: אתי ֵ֜חן ְבּ ֵע ֶ֗יניָך ִ וְ ַע ָ֡תּה ִאם־נָ א ָמ ָ֨צ13 א־חן ְבּ ֵע ֶינ֑יָך ֖ ֵ ת־דּ ָר ֶ֔כָך וְ ֵא ָ ֣ד ֲע ָ֔ך ְל ַ ֥מ ַען ֶא ְמ ָצ ְ הֹוד ֵ ֤ענִ י נָ ֙א ֶא ִ ְוּר ֵ֕אה ִ ֥כּי ַע ְמָּך֖ ַהגּ֥ ֹוי ַה ֶזּֽה׃ 13 Und jetzt, wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, lass mich doch deine Wege wissen, dass ich dich erkenne, damit ich Gnade in den Augen finde. Sieh, dass dein Volk dieses Volk ist.
Hinter dem Wissenlassen der Wege kann natürlich grundsätzlich der Wunsch stehen, JHWH nahe sein zu wollen und Zugang zu seinen Plänen zu haben, die er für Israel hegt. Dafür würde die im Vers selbst gegebene Begründung, dass ich dich erkenne, sprechen. Vom Kontext der Kapitel Ex 32–34 kann sich die Bitte auch auf die zurückliegende Fürbitte des Mose beziehen, aufgrund welcher Israel die Sünde des Goldenen Kalbes überlebt hat und nun die Frage im Vordergrund steht, wie es mit dem Volk weitergehen soll. Dieser Rückverweis würde die Bemerkung verständlich machen, JHWH möge sehen, dass es sich um sein Volk handelt. Die dritte Variante wäre, Ex 33,13 im Zusammenhang mit der zweiten Bitte zu sehen, in welcher Mose begehrt, die Herrlichkeit JHWHs zu schauen (Ex 33,18). Der Wunsch des Mose, JHWHs Herrlichkeit zu sehen, eröffnet eine Sequenz in Ex 32–34, die Franz die Gottesschau nennt.213 In ihr werden die Verhandlungen 213 Die Wachstumsgeschichte der Kapitel Ex 32–34 ist in der Forschung umfangreich und kontrovers diskutiert worden und wird hier nicht dargestellt. Sie spielt für den Gebrauch der Gnadenformel in Ps 103 keine Rolle, da Ex 32–34 vermutlich in seiner Endtextgestalt dem Psalm zugrunde liegt.
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zwischen JHWH und Mose nach den Modalitäten der gewünschten Beziehung beschrieben (33,18–23) und auch ihre Ausführung (34,5–8). JHWH gewährt Mose, dass er ihm zwar nicht ins Angesicht sehen, ihm aber hinterherschauen dürfe, nachdem er an ihm vorbeigezogen wäre. Hartenstein verdeutlicht, dass in diesem Zusammenhang unterschiedliche Traditionen zusammentreffen. Die Vorstellung, das Angesicht zu schauen, stammt aus der höfischen Szenerie der Audienzbitte, wobei ihre Verwendung in Ex 33,14 ein Konzept des Angesichtes zeigt, das JHWHs Zuwendung beschreibt.214 In Ex 33,18–23 werden im Vorbeiziehen des Angesichtes Theophanie-Vorstellungen verarbeitet, die „in einer Spannung von Gottesschau und Verschonung“215 bleiben. Die Begegnung zwischen JHWH und Mose, in welcher Mose JHWH durch Schutzfunktionen abgesichert nachsehen darf, gipfelt letztlich in der Gnadenrede in Ex 34,6 f. Diese Abfolge bleibt in Ps 103 durch die sich in V.8 anschließende Gnadenformel erhalten. Auf der Endtextebene von Ex 33–34 ist die Gottesschau verwoben mit Gebotstraditionen, welche die Übergabe von neuen Gesetzestafeln und die Bedingungen für einen erneuten Bundesschluss beschreiben (Ex 34,1–4.28 Gebotsankündigung; Ex 34,11–27 Privilegrecht).216 Die in Ps 103 zitierte Bitte, JHWHs Wege zu wissen, könnte auch diese Konnotation der Gebotsverkündigung in sich tragen, woran das Gedenken der Anordnungen in Ps 103,18 anknüpfen würde. Diese Beobachtung wird durch die Stelle Dtn 5,23–33 verstärkt, in der Mose als Vermittler der Gebote JHWHs eingesetzt wird. Das Halten der Gebote wird durch die Wegmetapher ausgedrückt: Das Volk soll auf den Wegen gehen, die JHWH geboten hat, damit sie in dem Lande, das JHWH ihnen gibt, ein gutes Leben führen können (Dtn 5,33). Es lässt sich daher sagen, dass die Nennung des Mose in Kombination mit dem Terminus ‚Wege wissen lassen‘ aufgrund der Kontexte in Ex und Dtn in Zusammenhang mit der Mittler-Funktion des Mose zu stehen scheint. Diesen Gedanken hat Renate Brandscheidt in ihrer Analyse zu Psalm 90 ausgelegt.217 In der Überschrift von Psalm 90 wird Mose als „Gottesmann“ bezeichnet und somit „das pentateuchische Mosebild des Retters, Befreiers und Gesetzgebers auf das Urbild eines prophetischen Mittlers hin vertieft.“218 Sie erklärt weiterhin, dass diese Mittlerfunktion in Ps 90 und Ps 106 genannt wird, wodurch der „Aufrichtung der Königs-
Darauf lassen zumindest die beiden Zitate von Ex 33,13 und Ex 34,6f und das junge Alter des Psalms schließen. Zur Wachstumsgeschichte sei verwiesen auf: Franz, gnädiger Gott, 154–175. 214 Vgl. Hartenstein, Friedhelm, Das Angesicht JHWHs, FAT 55, Tübingen 2008, 274. 215 AaO., 282. Hartenstein beschreibt, dass das Vorbeiziehen JHWHs eines Schutzmechanismus bedarf, da die Konfrontation mit seinem Angesicht tödlich wäre so wie es Ex 33,18 beschreibt. Dies kann auch in Ex 12,22b.23; Hi 9,11ff gesehen werden. Vgl. aaO., 281 f. 216 Vgl. Franz, gnädiger Gott, 156 f. 217 Brandscheidt, Renate, „Unsere Tage zu zählen, so lehre du“ (Psalm 90,12). Literarische Gestalt, theologische Aussage und Stellung des 90. Psalms im vierten Psalmbuch, TTZ 112, 2004, 1–33; 32 f. 218 AaO., 33.
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herrschaft Jahwes“219 ein Rahmen gegeben wird. Diese Beobachtung kann mit der Nennung der Mittler-Funktion des Mose in Ps 103 ergänzt werden.220 Ps 103,7 deutet den Wunsch des Mose in Ex 33,13 als erfüllt, da aus der Bitte eine Aussage geworden ist: JHWH hat Mose seine Wege wissen lassen und Israel seine Taten. Der Begriff עלילהfür die Taten ist sehr viel weniger gebräuchlich als eine Verwendung der Derivate der Wurzel עשהund wird in den Psalmen fast durchgängig für die Taten JHWHs verwendet, die Israel Einsicht in Größe und Güte JHWHs bringen sollen (gemeint sind sowohl Schöpfungstaten als auch Rettungstaten). Auffällig ist, dass Ps 105,1 mit dem Lobaufruf beginnt, die Taten ()עלילה zu verkünden. Vielleicht sollen die beiden Psalmen bewusst aufeinander bezogen werden, indem in der Leseabfolge der Psalmen in Ps 103–104 JHWHs Rettungsund Schöpfungstaten und das daraus resultierende Lob beschrieben werden und in Ps 105,1 zu deren Verkündigung aufgerufen wird. Insgesamt lässt sich für die Verse Ps 103,6–7 festhalten, dass sie an die Reihung der Wohltaten in den Versen 3–5 anknüpfen, aber den Fokus auf den Sinai richten. Aus der Fülle der verschiedenen Vorstellungswelten, die in den Vv.3–5 angeklungen sind, wird über den Weg von V.6 zu V.7 und die Nennung des Mose die Konzentration auf eine Vorstellungswelt erreicht: die des Sinais und der damit verbundenen Auslegung von Schuld und Vergebung sowie von Zorn und Gnade, die in der Zitation der Gnadenrede aus Ex 34,6f gipfelt. Ex 34,6f: א ֒ ל־פּנָ ֮יו וַ יִּ ְק ָר ָ הו֥ה ַע ָ ְ וַ יַּ ֲע ֨בֹר י6 ב־ח ֶסד וֶ ֱא ֶ ֽמת׃ ֥ ֶ אַפּיִ ם וְ ַר ֖ ַ הוה ֵ ֥אל ַר ֖חוּם וְ ַחנּ֑ וּן ֶ ֥א ֶרְך ֔ ָ ְהו֣ה י ָ ְי נ ֵ ֹ֥צר ֶ֙ח ֶס ֙ד ָל ֲא ָל ֔ ִפים נ ֵ ֹ֥שׂא ָעֹו֛ ן וָ ֶפ ַ֖שׁע וְ ַח ָטּאָ֑ה7 ל־בּ ֵנ֣י ָב ִ֔נים ְ ל־בּנִ ֙ים וְ ַע ָ אָבֹות ַע ֗ וְ נַ ֵקּ ֙ה ֣ל ֹא יְ נַ ֶ ֔קּה פּ ֵ ֹ֣קד ֲעֹו֣ ן ל־ר ֵבּ ִ ֽעים׃ ִ ל־שׁ ֵלּ ִ ֖שׁים וְ ַע ִ ַע 6 Und JHWH zog vorüber an seinem Angesicht. Und er221 rief: 219 Ebd. 220 Dieser Beobachtung kommt eine hohe Relevanz für den Zusammenhang der Psalmen 102–106 zu und wird im Kapitel ‚Von der Fürbitte zum himmlischen Gottesdienst‘ noch einmal thematisiert. 221 Aus dem hebräischen Text geht nicht klar hervor, ob JHWH die Gnadenrede selbst spricht oder Mose sie ihm zuruft. In der Forschung werden beide Positionen vertreten. Michel deutet die Gnadenrede als eine göttliche Selbstexplikation („göttlicher Selbsthymnus in dritter Person“ [113]) und begründet dies mit den aufeinanderfolgenden Narrativen ohne Subjektwechsel. Weiterhin führt er an, dass das Niederwerfen des Mose in V.8 seltsam anmuten würde, wenn er vorher eine längere Auslegung des Gottesnamens unternommen hätte. Michel, Andreas, Ist mit der „Gnadenformel“ von Ex 34,6 (+7?) der Schlüssel zu einer Theologie des Alten Testamentes gefunden?, in: BN 118, 2003, 110–123; 113. Ein umfassender Überblick zu diesem Problem findet sich bei Scoralick, Ruth, „JHWH, JHWH, ein gnädiger und barmherziger Gott …“ (Ex 34,6). Die Gottesprädikationen aus Ex 34,6f in ihrem Kontext in Kapitel 32–34, in: Köckert, M./Blum, E., Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10, VWGTh 18, Gütersloh 2001, 141–154; 149–154. Sie begreift Ex 34,6 als Gottesrede und begründet dies neben sprachlichen Argumenten vor allem durch Kontextbezüge zu Ex 33,19 und Ex 3 (153f). Auch Franz plädiert für die Gottes-
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„JHWH, JHWH, (ist)222 ein Gott barmherzig und gnädig, langmütig im Zorn und reich an Gnade und Treue. 7 Er bewahrt Gnade für Tausende, er trägt Sünde, Schuld und Freveltaten, aber ganz ungestraft lässt er nicht. Er sucht heim Vätersünde an Kindern und Kindeskindern an Dritten und Vierten/an der dritten und vierten Generation.
4.2 V.8: Die Gnadenformel Ps 103,8: ב־ח ֶסד׃ ֽ ָ אַפּ֣יִ ם וְ ַר ַ הו֑ה ֶ ֖א ֶרְך ָ ְ ַר ֣חוּם וְ ַחנּ֣ וּן י7 8 Barmherzig und gnädig (ist) JHWH, langmütig im Zorn und reich an Gnade.
4.2.1 Kurze Darstellung der Formel Wird die Gnadenformel laut gesprochen, fällt der harmonische, getragene Klang auf. Im ersten Teil der Formel sind die beiden Adjektive רחוםund חנוןdurch ein Homoioteleuton eng verbunden. Die langen u-vokalischen Endsilben erzeugen einen feierlichen Charakter. Im zweiten Teil gibt es nicht nur einen inhaltlichen, sondern auch einen lautmalerischen Chiasmus, da sich zwei segolierte Formen und mit kurzen a-Lauten überkreuzen.223 Demnach ist klanglich eine enge Verbindung der zwei Handlungseigenschaften Gnade und Zorn festzustellen, die aber durch die ihnen zugehörigen Adjektive unterschiedliche inhaltliche Gewichtungen bekommen. Die Formel wirkt insgesamt sehr bewusst und konzentriert gestaltet, in ihr findet sich kein Wort mehr als notwendig ist. Die weitreichende Bedeutung des Adjektives רחוםlässt sich ex negativo durch die Stelle Hos 1,6 erklären: Hosea bekommt den Auftrag seiner Tochter den zeichenhaften Namen kein Erbarmen ( )לא רחמהzu geben, der das Ende des Gottes-
rede. Er argumentiert u. a. damit, dass Mose kein Interesse hätte, die Strafe zu erwähnen. „Hier redet JHWH autoritativ. Eine menschliche Bitte würde nur die Gnade anrufen.“ Franz, gnädiger Gott, 164. 222 Michel deutet V.6 als Nominalsatz der Kategorie Klassifikation, der durch die Explikation der Prädikatsnomen zum Typ der Qualifikation übergeht. Michel, Gnadenformel, 114. 223 Vgl. zu den durch die Vokalisierung klanglich hervorgerufenen Phänomenen auch Scoralick, Ruth, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6f und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch, HBS 33, Freiburg 2002, 37.
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verhältnisses zu Israel ankündigen soll.224 רחוםbezeichnet also eine Dimension der schützenden Zuwendung JHWHs zu seinem Volk, die als lebensnotwendig beschrieben werden kann. Scoralick will den beiden Adjektiven mütterliche (durch das Nomen רחם, das auch Mutterschoß bedeutet) und väterliche Konnotationen zuweisen ( רחםist in Ex 22,26 mit dem Vaterbild verbunden), was nicht zwingend zu sein scheint, da in Ps 103,13 רחםproblemlos mit dem Vaterbild gebraucht wird.225 Das Wesentliche scheint doch, mögen es nun mütterliche oder väterliche Konnotationen sein, dass Gnade und Barmherzigkeit eine Relation herstellen zwischen jemandem, der ihrer bedarf und jemanden, der sie zu geben vermag.226 Daran wird deutlich, warum חנוןseinen Sitz in der Gebetssprache hat und die Hoffnung ausdrückt, erhört zu werden.227 Franz erklärt, dass beide Adjektive nur für JHWH belegt und aus prophetischen und kultischen Traditionen hervorgegangen sind.228 Kumpmann sieht einen gewichtigen Faktor im Verständnis von חנון/ חןdarin, dass es als die Art von Gunst aufgefasst [wird; Hinzufügung ACF], die den Schwerpunkt auf den Empfänger legt, ohne die Souveränitat des Höhergestellten damit in Frage zu stellen – eher im Sinne einer „Disposition“.229
In der Formel werden im zweiten Teil die Handlungsoptionen JHWHs durch die Constructus-Verbindungen langmütig im Zorn und reich an Gnade beschrieben. „Noch friedfertiger lässt sich vom Zorn kaum reden“230 schreibt Spieckermann in seiner Auslegung der Formel. Sicher muss ihm in dem Punkt zugestimmt werden, dass der Rede über den Zorn JHWHs innerhalb der Formel weniger Gewicht zukommt als der Gnade.231 Dies geschieht zum einen durch die Verhältnisbestim224 Vgl. zur Auslegung des Namens Jeremias, Hosea, 32. 225 Vgl. Scoralick, Güte, 52. Die Zuschreibung findet sich auch in Vanoni, Vater, 74 f. 226 Kumpmann verdeutlicht, dass „ רחםin einer Rettungstat vor Verderben“ besteht und das Mitleid dessen voraussetzt, der sich erbarmt. Das Lexem ist nie als Imperativ belegt. Vgl. Kumpmann, Christina, Schöpfen, Schlagen, Schützen. Eine semantische, thematische und theologische Untersuchung des Handelns Gottes in den Psalmen, BBB 177, Göttingen 2016, 412. 227 Vgl. Franz, gnädiger Gott, 120. 228 Vgl. aaO., 118–120. 229 Kumpmann, Schöpfen, 417. Vgl. dazu auch Kellenberger, der bemerkt, dass es bei חנןum ein „Machtgefälle“ geht. Er legt dies anhand des (höfischen) Terminus „wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe“ aus, der „mit einem sprachlichem Unterwerfungs-Gestus“ zu vergleichen ist. Kellenberger, Edgar, ֶח ֶסדund sinnverwandte Lexeme im Kontext von Bitte und Aufforderung. Ein semantischer Vergleich, in: Luchsinger, J. u. a. (Hg.), „… der seine Lust hat am Wort des Herrn“ FS für Ernst Jenni zum 80. Geburtstag, AOAT 336, Münster 2007, 185–195; 187. 230 Spieckermann, Gnadenformel, 2. 231 Michel argumentiert gegen einen deutlichen Überhang der Gnade, indem er sich für die Relevanz von V.7d ausspricht. Er sieht in Ex 34,6–7 einen Chiasmus, der durch die Eckpunkte ‚barmherzig und gnädig‘ sowie ‚die Väterschuld heimsuchend‘ konstruiert ist. Gnade und Strafe stehen, so Michel, in demselben Verhältnis (115). „In beiden Fällen geht es um die durchgreifende Wirksamkeit des göttlichen Handelns, im Positiven wie im Negativen, das ist das Entscheidende.“ Michel, Gnadenformel, 116. In diese Richtung argumentiert auch Barbiero, der sich auf die rabbinische
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mungen langmütig (Zorn) und reich (Gnade) und durch den ersten Teil der Formel, in dem die Gnade durch die beiden Adjektive ausgeführt wird. Allerdings ist der Zorn vorhanden, auch wenn er in Begrenzung vorliegt und stellt damit auch eine wirkmächtige Eigenschaft JHWHs dar. Die Strafe gerät keinesfalls aus dem Blickfeld, aber sie wird regelrecht überlagert vom Gott, der „barmherzig, gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Treue“ ist. Gott ist in diesem Modell keine Größe, deren Launen der Mensch ausgeliefert ist. Sein Wort ist bindend und seine Güte überwiegt sein Recht auf Durchsetzung von Strafe.232
Die Gnade JHWHs ( )חסדist im Alten Testament ein außerordentlich oft verwendeter Begriff,233 der in verschiedenen Kontexten gebraucht und dem vermutlich keine Übersetzung wirklich gerecht wird.234
Kritik bezieht, die Barmherzigkeit Gottes zu einseitig zu betonen. Vgl. Barbiero, Gianni, „… aber gewiss lässt er den Schuldigen nicht ungestraft“. Die Gerechtigkeit Gottes und Moses in Ex 32–34, in: Ders., Studien zu alttestamentlichen Texten, SBA 33, Stuttgart 2002, 255–282; 257 ff. 232 Konkel, Michael, Sünde und Vergebung. Eine Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte der hinteren Sinaiperikope (Exodus 32–34) vor dem Hintergrund aktueller Pentateuchmodelle, FAT 58, Tübingen 2008, 289. 233 Er ist 245 mal im AT belegt, davon 127 mal im Psalter (121 Belege sind davon auf Gott bezogen). Vgl. dazu Spieckermann, Hermann, God’s Steadfast Love. Towards a New Conception of Old Testament Theology, in: Biblica 81, 2000, 305–327; 313. 234 An Übersetzungsvarianten sind Begriffe wie Liebe, Huld, Güte und auch Gemeinschaftstreue möglich. Aber all diese Begriffe sind erklärungsbedürftig und weisen ihre Grenzen auf. Was der Begriff חסדtatsächlich bedeutet, kann vermutlich nur durch die genaue Bestimmung des jeweiligen Kontextes, in dem er gebraucht wird, erklärt werden. So fasst es auch Doobs Sakenfield am Ende ihrer ausführlichen Monographie zum Begriff חסדzusammen, indem sie schreibt: „The study of the many contexts in which the word hesed appears can only heighten one’s appreciation of the flexibility of the term not only over the long time span of biblical writing but also within any given period or author. The lack of an adequate English equivalent and the difficulty (and danger) of selecting even a single phrase to convey the concept in all cases also becomes increasingly apparent.“ Doobs Sakenfield, Hesed, 233. Die Entscheidung, חסדin der vorliegenden Untersuchung als Gnade zu übersetzen, ist nicht etwa einer lutherischen Sichtweise des Vergebungsgeschehens geschuldet, sondern eher der Abgrenzung zu anderen Begriffen (z. B. lassen sich die Begriffe Liebe, Güte und Treue anderen hebr. Begriffen adäquater zuweisen). Da der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung auf der spezifischen Bedeutung des Begriffes חסדin Ps 103 und seinen Kontexten liegt, wird auf eine allgemeine Eingliederung des Begriffes in Traditionszusammenhänge verzichtet. Es ist an dieser Stelle auf die einschlägigen Monographien und Aufsätze verwiesen. Zu nennen sind: Glueck, Nelson, Das Wort ḥesed im alttestamentlichen Sprachgebrauche als menschliche und göttliche gemeinschaftsmäßige Verhaltensweise, Gießen 1927. Neben der Auslegung von חסדals Rechts-Pflicht-Verhältnis (20–21) legt Glueck vor allem seinen Schwerpunkt auf die Konstitution von Gemeinschaft, die er unter der Kategorie der „religiösen Bedeutung“ (21) erörtert. Die Gemeinschaft, die JHWH durch seine Gnade bewirkt, sieht er als Gabe an (52), die aber Forderungen nach sich zieht. Er nennt die Erkenntnis, die sowohl Voraussetzung als auch Konsequenz für das göttliche Gnadenwirken ist (53). Weiterhin verweist Glueck auf die Relevanz der Teilhabe an der durch חסדgewirkten Gottesgemeinschaft, die sich im Gottesdienst realisiert (58–69); Kellenberger, Edgar, ḥäsäd wä’ämät als Ausdruck einer Glaubenserfahrung. Gottes Offen-Werden und -Bleiben als Voraussetzung des Lebens, AThANT 69, Zürich 1982. Er legt den
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4.2.2 Die Gnadenrede in Ex 34,6f: Datierung und Entwicklung zur Formel In der Forschung wird die Datierung von Ex 34,6f unterschiedlich vorgenommen, was vermutlich auch mit der komplizierten Wachstumsgeschichte der gesamten hinteren Sinaiperikope Ex 32–34 zusammenhängt. Die ausführlichste Analyse zur Gnadenrede in Ex 34,6f und ihrer Einbettung in Ex 32–34 leistet Franz, der sie in die Zeit zwischen 722 und 622 datiert.235 Er begründet seine Datierung durch die Parallelen zu den Traditionen der Nordreichpropheten, insbesondere zu der Stierbildproblematik Hoseas.236 Ein weiterer Anhaltspunkt sind für ihn die Umformulierungen von Ex 34,6f in Dtn 5,9 und Dtn 7,9.237 In diesen Stellen wird der Inhalt der Gnadenrede thematisiert, allerdings wird ihr Wortlaut nicht genannt. Spieckermann nimmt diese Stellen als Argument für die Spätdatierung der Gnadenrede, die er für ein nachexilisches-spätdeuteronomistisches Werk hält, indem er argumentiert, dass sich die Gnadenrede aus ihnen entwickelt hätte. Dagegen scheint doch sehr stark zu sprechen, dass es zum einen plausibler erscheint die Gnadenrede in Ex 34,6f schon als verschriftlicht anzunehmen, um dann als Ausdruck der dtn-dtr Theologie die Rede von der Gnade bewusst wegzulassen und an dem Vergeltungsgedanken in Ex 34,7 anzuknüpfen. Zum andern ist die Gnadenrede in die Handlungsabläufe in Ex 32–34 narrativ eingebunden und wird noch
Begriff חסדvor allem in der Struktur von Bitte und Erwartung aus. Er betont zum Gebrauch in den Psalmen die göttliche Freiheit, Gnade zu gewähren. Damit richtet er sich gegen eine Engführung des Begriffes als „Bundestreue“ (152). Als Übersetzung schließt er Gnade und Huld aus, da diese zwar die Freiheit Gottes betonen, aber absolutistisch-feudalistische Assoziationen wecken. Freundlichkeit und Herzlichkeit sind zu „leichtgewichtig und wirken zu harmlos“ (16). „Treue und Solidarität sagen nichts aus über das Zustandekommen von ḥäsäd.“ (16) Letztlich entscheidet er sich für Güte, begründet dies aber nicht (16). Zum Kontext von Bittstruktur und göttlicher Freiheit vgl. auch: Kellenberger, ḥäsäd, 190–192; Spieckermann, God’s Steadfast Love: Der Aufsatz ist vor allem für die Bedeutung von חסדin den Psalmen interessant, da Spieckermann sowohl auf Traditionszusammenhänge als auch auf die psalterkompositorische Funktion hinweist. Kritisch zu hinterfragen, ist die literargeschichtliche Zuordnung von חסדals Element bestimmter Traditionen zu bestimmten Zeiten: der Zusammenhang zum Königtums Gottes wird als vorexilisch datiert (Ps 61; 89), die gesteigerte Erkenntnis der Abhängigkeit von Gottes Gnadenwirken wird als Kennzeichen der nachexilischen Zeit ausgelegt (312–316). 235 In diesem Zusammenhang ist auf die redaktionsgeschichtliche Analyse der hinteren Sinaiperikope von Michael Konkel zu verweisen. Er sieht in Ex 32–34 drei Phasen der Entstehung: eine „vordeuteronomistische Komposition als Reflexion des dritten Feldzuges Sanheribs“, „eine deuteronomistische Komposition aus der Zeit Joschijas“, zu der er die Gnadenrede zählt, und „eine Komposition der Perserzeit“ (279–286). In der Gnadenrede sei die Form der neuassyrischen Vasallenverträge überwunden: „JHWH wird durch die Gnadenrede zum Antitypos des assyrischen Großkönigs. Dessen Propaganda inszeniert die sofortige und grausame Bestrafung des abtrünnigen Vasallen. Der Appell an das Erbarmen als Teil des Wesens Gottes hingegen setzt die bisher gültigen Regeln des Vertragsrechts außer Kraft.“ (289) Konkel, Sünde. 236 Vgl. dazu auch Scoralick, Güte, 213; Hartenstein, Angesicht, 269. 237 Vgl. dazu auch die Ausführungen dieser Arbeit innerhalb der Auslegung von Ps 103,17.
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nicht als Formel gebraucht, was sie von allen anderen Belegen, in sie explizit als Formel eingesetzt wird, unterscheidet.238 Die Gnadenrede ist innerhalb der alttestamentlichen Schriften sehr stark rezipiert worden und weist verschiedene Stadien der Entwicklung auf. In der Exilszeit führt die Erfahrung der Katastrophe vor allem zu einer Reflexion der Schuld und zur theologischen Deutung der Geschehnisse in Kategorien von Schuld und Strafe. Die Bundestheologie als ein Vertragsgeschehen von Forderung und Erfüllung gewinnt einen hohen Stellenwert, der in der dtn-dtr Theologie ausformuliert wird. Eine Anknüpfung an die Gnadenrede, welche den Überhang der Gnade und eine Fortführung des Gottesverhältnisses alleine auf JHWHs Handeln zurückführt, erscheint unter diesen Voraussetzungen nicht möglich.239 Erst nach dem Ende des Exils und der Rückkehr der Exilierten gewinnt die Gnadenrede und ihre Theologie eine starke Bedeutung. Vor allem in der Diskussion über Möglichkeiten, die Erfahrung von Bruch und Restitution in der Beziehung Israels zu JHWH zu deuten und an die grundlegenden Traditionen im Glauben Israels anzuknüpfen. Die Rede entwickelt sich in diesem Stadium zur Formel und wird von Franz als „Nachsprechen der Tradition“240 bezeichnet, was bedeutet, dass diese Texte nicht nur Ex 34,6f zitieren, sondern auch den Sinai-Kontext benennen. Unter diese Kategorie fasst er die Belege der Formel in Num 14,18; Ps 86,15 und Ps 103,8. Die Bezeichnung „Nachsprechen der Tradition“ ist zumindest für Ps 103 kein hinreichender Ausdruck, da die Formel im Psalm eine starke eigene Prägung aufweist, was sich z. B. an ihrer ausführlichen Auslegung in den Vv.9–13 zeigt. Ein weiteres Stadium der Entwicklung stellt Franz am Bußgebet in Neh 9 dar, in welchem die Gnadenformel im Zusammenhang mit Geschichtsreflexionen eingesetzt wird und durch die Weglassung von Ex 34,7 eine starke Konzentration auf die Gnade vorgenommen wird.241 Einen eigenen Punkt in der Wirkungsgeschichte der Gnadenformel stellen ihre Verwendung im Zwölfprophetenbuch und ihre Funktion als buchumfassendes Motiv dar.242
238 Daher auch die von Franz geprägte Unterscheidung zwischen Gnadenrede auf Ex 34,6f bezogen und Gnadenformel für die Belege, die Ex 34,6f als Formel zitieren. Vgl. dazu Franz, barmherziger Gott, 111. 239 Vgl. aaO., 194–219. 240 AaO, 223. 241 Vgl. aaO., 235–239. Vgl. zu diesem Gedanken auch die Ausführungen zum Gedenken der Bundesbewahrung in der Auslegung zu Ps 103,17f in der vorliegenden Untersuchung. 242 Vgl. Scoralick, Gottes Güte; Sie stellt das Joel-Buch in den Vordergrund, das auf die Verwendung der Formel in Amos und Hosea großen Einfluss hatte; aaO., 214 f. Vgl. zur Bedeutung der Formel in Joel Müller, Anna Karena, Gottes Zukunft: Die Möglichkeit der Rettung am Tag JHWHs nach dem Joelbuch, WMANT 119, Neukirchen-Vluyn 2008.
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4.3 Vv.9–18: Die Auslegung der Gnadenformel243 Die Verse 9–18 lesen sich wie ein Kommentar zur sog. Gnadenformel in V.8, in dem die beiden Pole Zorn und Gnade an sich, in ihrer Bedeutung für Israel und in ihrem Verhältnis zueinander ausgeführt werden. Durch die bedachte Komposition erscheint die Ausführung wie eine Art in sich geschlossenes Gedicht, das inhaltlich das Übergewicht der Gnade, wie in der Formel in V.8, in Worte und Bilder fasst. Der Aufbau der Komposition besteht aus einem Rahmen mit jeweils zwei Versen (Vv.9–10 und Vv.17–18) und zwei Strophen bestehend aus jeweils drei Versen (Vv.11–13 und Vv.14–16).
4.3.1 Die Rahmung עֹול֣ם יִ ֽטֹּור׃ ָ א־ל ֶנ ַ֥צח יָ ִ ֑ריב וְ ֖ל ֹא ְל ָ ֹ ֽל9 ֣ל ֹא ַ ֭כ ֲח ָט ֵאינוּ ָע ָ֣שׂה ָל֑נוּ וְ ֥ל ֹא ַ֝כ ֲעֹונ ֵֹ֗תינוּ גָּ ַ ֥מל ָע ֵ ֽלינוּ׃10 :ֹולם ַעל־יְ ֵראָ֑יו וְ ִ֝צ ְד ָק ֗תֹו ִל ְב ֵנ֥י ָב ִנֽים ָ ֭עֹול֣ם וְ ַעד־ע ָ הוה ֵמ ֨ ָ ְ וְ ֶ ֤ח ֶסד י17 שֹׂותם׃ ֽ ָ וּלז ְֹכ ֵ ֥רי ִ֝פ ֻקּ ָ ֗דיו ַל ֲע ְ יתֹו ֑ ְלשׁ ְֹמ ֵ ֥רי ְב ִר18 9 Nicht immer wird er streiten und nicht ewig zürnen. 10 Nicht nach unseren Sünden hat er an uns getan, und nicht nach unserer Schuld hat er uns vergolten. 17 Aber JHWHs Gnade ist von fernster Zeit bis in fernste Zeit über denen, die ihn fürchten und seine Gerechtigkeit(staten) für Kindeskinder, 18 für die, die seinen Bund wahren, und für die, die seiner Befehle gedenken, indem sie sie tun.
Die Rahmenverse spiegeln die unterschiedliche Gewichtung von Zorn und Gnade wider, wie sie in V.8b ausgeführt wird. Der Zorn wird dort als eine Handlungsweise beschrieben, die als ארךcharakterisiert wird. Üblicherweise wird die zeitliche Erstreckung von ארךals geduldige Verzögerung des Zorns gedeutet, in dem
243 Die Verse 17f gehören definitiv zur Auslegung der Gnadenformel und erfüllen neben ihrer inhaltlichen auch eine rahmende Funktion im Mittelteil. Allerdings haben die Vv.17f darüber hinaus noch einen Wert, der in der reflektierten Zusammenstellung von priesterlichen und dtn-dtr Traditionen liegt. Dies wird ausführlich im folgenden Kapitel analysiert, so dass die Verse 17f hier genannt, aber nicht in ihrer Tiefe analysiert werden.
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Sinne, dass es lange dauert, bis der Zorn ausbricht.244In Psalm 103 wird ארךin zweifacher Hinsicht verstanden, wie die Auslegung in Vv.9f zeigt.V.9 nimmt ארך aus V.8b auf und interpretiert es durch zwei andere Zeitbegriffe: Nicht für immer ( )לא לנצחund nicht für fernste Zeiten ( )לא לעולםwird JHWH streiten und zürnen. Diese beiden Begriffe deuten darauf hin, dass mit ארךdoch eher die Dauer des Zorneshandelns gemeint ist, und nicht die Zeit, die vergeht, bis es zum Ausbruch des Zorns kommt. Da beide Zeitbegriffe in der Negation vorliegen wird durch sie der Blick auf die Position gestärkt. In diesem Sinn bilden sie den Kontrast zum Rahmenvers V.17 am Schluss des Gedichtes, der von der Dauer der Gnade spricht. Das רבaus der Formel (V.8) wird interpretiert durch den Ausdruck מעולם ועד עולם (von fernsten Zeiten bis in fernste Zeiten). Beide Handlungsweisen JHWHs werden also hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit ausgelegt, wobei das Übermaß an Gnade durch eine Wendung verdeutlicht wird, die außerhalb einer menschlich vorstell- und erfahrbaren Kategorie von Zeit liegt und sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft umspannt. An die beiden Verneinungen (nicht für immer, nicht für fernste Zeiten) in V.9 knüpfen in V.10 zwei weitere an. Sie führen die Rede vom Zorn seiner Ursache zu, die in der menschlichen Schuld zu suchen, aber nicht voll zu vergelten ist. Dass beide Verse zusammen gelesen werden wollen, wird am vierfachen לאersichtlich, mit dem die vier Glieder in einen Zusammenhang gesetzt werden. Beide Verse sind für sich in einem synonymen Parallelismus gestaltet, zusammen ergeben sie einen synthetischen Parallelismus, in dem die zeitliche Begrenzung des Zorns im Kontrast zur Gnade hinsichtlich seiner Intensität, keine volle Vergeltung der Sünden, weitergedacht wird. Von ihrer inneren Logik her sind die beiden Verse vergleichbar mit der Zornesbegrenzung in Ex 34,7, welche von einer Heimsuchung der Schuld bis ins dritte und vierte Glied spricht. Auch dort wird das Zorneshandeln, im Sinne von Bestrafung der Schuld, ausgeführt, aber zeitlich eingegrenzt.245 Nicht für immer und nicht für fernste Zeiten hieße in der Sprache von Ex 34,7 eine generationenübergreifende Heimsuchung der Schuld bis ins dritte und vierte Glied.
244 Franz verweist auf die weisheitliche Verwendung, in der ארךeinen geduldigen und damit weise handelnden Menschen beschreibt, der überlegt und wenig impulsiv handelt. Vgl. Franz, barmherziger Gott, 123 f. 245 Wie genau das Sprachspiel zwischen der Bewahrung von Tausenden durch Gnade und der Vergeltung bis in die dritte und vierte Generation zu bewerten ist, wird konträr diskutiert und hat unterschiedlichste Rechenexempel zur Folge gehabt: Michel versucht den Gegensatz zu relativieren: „Richtiger dürfte sein, dass bei den Tausenden an eine sehr große Nachkommenschaft ohne genaue Spezifizierung von Generationen gedacht ist. Versucht man doch, dies in Generationen auszudrücken, dann ist bei tausend Nachkommen und einem Reproduktionsfaktor 2 an zehn bis elf Generationen zu denken, während bei einem Reproduktionsfaktor 10 vier Generationen für die Vertausendfachung der Nachkommenschaft ausreichen.“ Michel, Gnadenformel, 116. Anders legt Scoralick aus, da sie die Tausende als Generationenzahl begreift und in Jahren ausrechnet. Sie kommt zu einem Verhältnis von 40.000 Jahren Gnadenzeit und 80 Jahren Vergeltung. Vgl. Scoralick, JHWH, 146.
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Das Vokabular, mit welchem die Schuld in Ex 34,7 benannt wird, weist dieselben drei Begriffe auf, die sich in Ps 103 finden lassen ( עוןV.3.10; פשעV.12; חטאV.10).246 Der Gebrauch von drei unterschiedlichen Schuldbegriffen könnte darauf verweisen, dass an dieser Stelle umfassender, über den konkreten Fall des goldenen Kalbes hinausgehend, von massiver Schuld auf allen Ebenen menschlichen Verhaltens gesprochen wird. Dafür spricht auch das Suffix der ersten Person plural (unsere Sünde/unsere Schuld) in den Vv.10.12. Die in den Vv.1–5 konnotierte kollektive Größe Israel, die in V.7 explizit genannt wird, zeigt sich hier in der ‚Wir-Gruppe‘. Allerdings lässt die Zeitform des Perfekts in V.10 („Nicht nach unseren Sünden hat er an uns getan, nicht nach unserer Schuld hat er uns vergolten.“) an eine Schuld denken, die in der Vergangenheit begangen worden ist. V.10 kommt somit eine Art Scharnierfunktion zu, welche die Mose-Israel-Perspektive aus V.7 über die Gnadenformel durch das Perfekt mit V.10 verbindet und durch das Suffix „uns“ die Perspektive erweitert. Die Dynamik des Psalms entwickelt sich dadurch weiter und will nicht bei einer bestimmten Schuld stehen bleiben. Noch wichtiger scheint eine Festschreibung der Reaktion JHWHs auf die Schuldhaftigkeit des Menschen zu sein, die darin besteht, das Übermaß der Gnade festzuhalten. In diesem Zusammenhang verwundert in Ps 103,10 die Verwendung der Wurzel גמלund die mit ihr entstehende Verknüpfung zum Eingangsteil des Psalms (V.2 )גמולnicht: Die Quelle der Wohltaten, die JHWH an den Menschen tut, ist seine Gnade, welche nicht nach menschlichen Maßstäben der Vergeltung zu berechnen ist.
4.3.2 Die Strophen In den Vv.11–13 wird das Gnadenhandeln JHWHs in drei Vergleichen ausgeführt, die alle am Beginn des Verses mit der Präposition כeingeleitet werden. Gerahmt wird dieser Teil durch die Wendung „über die, die ihn fürchten“, die hier erstmalig im Psalm auftritt. Auch die Vv.14–17 zeigen diesen Aufbau: Nach einem כיfolgen zwei Vergleiche mit כ, welche die Vergänglichkeit des Menschen beschreiben (wie Gras, wie 246 Der Begriff עוןist bereits als eine Art Metakategorie der Schuld beschrieben worden, indem er die Macht benennt, die schuldiges Verhalten nach sich zieht. חטאmeint vor allem die Missachtung eines Gemeinschaftsverhältnisses (z. B. durch Diebstahl Gen 31,16; auch Ehebruch 2Sam12,12), zielt also auf eine Schuld innerhalb der Gesellschaft ab. Vgl. dazu Janowski, strafender Gott, 236f; Knierim, Hauptbegriffe, 57 f. פשעscheint ursprünglich ein Rechtsbegriff zu sein, der auch völkerrechtliche Vergehen (wenn ein Volk von einem anderen abfällt) bezeichnet. In einem zweiten Schritt ist er in der prophetischen Verkündigung als verbrecherisches Handeln an Gott und an Menschen untereinander verwendet worden. Auffällig oft ist פשעals Bezeichnung der Schuld in Vergebungsbitten zu finden (Gen 50,17; 1Sam 25,28; Ps 51,3; 1Kön 8,50; Ps 25,7). Vgl. zu dieser Erklärung Knierim, Hauptbegriffe, 114 f.
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eine Blume V.15). In den Vv.14.16 sind klanglich durch das Suffix der zweiten Person plural die gleichen Endlaute zu hören wie in den Vv.10.12. Auch die in den Vv.11.13 gesetzte Binnenrahmung durch die Wendung „über die, die ihn fürchten“ wird aufgenommen und beschließt die Rede von der Endlichkeit des Menschen im Gegensatz zur ewigen Gnade JHWHs. So wirken die Vv.11–17 wie ein aus zwei Strophen bestehendes Gedicht innerhalb des Psalms, in dem die Gnade als Leitmotiv erscheint: Beide Eigenschaften des Menschen, die Schuldhaftigkeit und die Vergänglichkeit, ziehen die Bedürftigkeit an Gnade als den das Menschsein übersteigenden Lebensgrund nach sich, welcher sich sowohl in räumlichen als auch in zeitlichen Dimensionen ausbreitet.
4.3.2.1 Strophe 1 (Vv.11–13): Die Macht der Gnade רח ְס ֗דֹּו ַעל־יְ ֵראָֽיו׃ ַ֝ ל־האָ ֶ֑רץ גָּ ַ ֥ב ָ ִ ֤כּי ִכגְ ֣בֹ ַהּ ָ ֭שׁ ַמיִ ם ַע11 :ת־פּ ָשׁ ֵ ֽעינוּ ְ ִכּ ְר ֣חֹק ִ ֭מזְ ָרח ִ ֽמ ַ ֽמּ ֲע ָ ֑רב ִ ֽה ְר ִ ֥חיק ִ֝מ ֶ֗מּנּוּ ֶא12 ֝הוה ַעל־יְ ֵראָֽיו׃ ֗ ָ ל־בּ ִנ֑ים ִר ַ ֥חם ְי ָ ְכּ ַר ֵ ֣חם אָ֭ב ַע13 11 Ja, wie hoch (der) Himmel über der Erde (ist), ist seine Gnade mächtig über denen, die ihn fürchten. 12 Wie weit entfernt (der) Sonnenaufgang vom Untergang (ist), lässt er unsere Freveltaten von uns entfernt sein. 13 Wie ein Vater sich über seine Kinder erbarmt, erbarmt JHWH sich über denen, die ihn fürchten.
Inhaltlich zeigen die Vv.11–12 in zwei Merismen das Bild einer weltumfassenden Macht JHWHs, die wie ein Achsenkreuz zwischen allen vier Himmelsrichtungen aufgespannt ist: Ihre Größe reicht auf der vertikalen Achse vom Himmel zur Erde und ihr Handlungsvermögen auf der horizontalen Achse vom Osten zum Westen (Sonnenauf- und Sonnenuntergang). Auch der dritte Vergleich ist eine Ausführung der Gnadenformel, fällt inhaltlich aber etwas aus dem Rahmen, indem er die Relation zwischen JHWH und dem Menschen ausführt („Wie ein Vater sich erbarmt“). Dies könnte an der Auslegung des Begriffs רחםliegen, welcher in seiner Grundbedeutung Mutterschoß eher auf der Ebene der persönlichen, familiären Bindung zu finden ist. Alle drei Verse sind stilistisch aufwendig und wirken vor allem durch ihre klangliche Gestaltung. Die gleichen Verbwurzeln (V.12 2 × ;רחקV.13 2 × )רחם werden in jedem Vers zweimal für verschiedene Subjekte gebraucht. Nur in V.11, in dem dies inhaltlich nicht möglich ist, wird ein anderes Verb gewählt, das aber sehr ähnlich klingt ( גבהund )גבר, so dass die einzelnen Elemente der Vergleiche miteinander verbunden werden. Auch die Präposition wird jeweils im zweiten Glied des Verses wiederholt (zwei Mal עלin Vv.11.13 und zwei Mal מןin V.12). Im Vergleich zu Ex 34,6f ist die bildhafte Ausführung dessen, wie mächtig die Gnade JHWHs wirkt, ein neuer Gedanke. Ging es dort hauptsächlich darum, den
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Zorn zu begrenzen, ist dem Psalmisten daran gelegen, JHWHs Gnadenhandeln in grundsätzlicher Art zu formulieren. Neu ist vor allem, dass die Gnade durch das Verb גברals äußerst handlungsstarkes, dynamisches Subjekt beschrieben wird. Das Lexem גברvereint in sich kriegerische und königliche Traditionen, wie es z. B. an den Stellen ersichtlich wird, in denen JHWH als Subjekt erscheint (u. a. Ps 24,8: „Wer ist der König der Herrlichkeit/Ehre? JHWH, stark und mächtig ()גבר, JHWH, ein Held ( )גבורdes Krieges“; Ps 89,14f: „Du hast einen Arm mit Macht ()גברה, deine Hand ist stark und deine Rechte ist hoch. Gerechtigkeit und Recht machen deinen Thron fest, Gnade und Treue gehen vor Dir her“). Aber auch David ist mit diesem Verb verbunden: „Held der Kraft und Mann des Krieges“ (1Sam 16,18; 2Sam 17,8.10), von JHWH zum Helden erwählt (Ps 89,20).247 Was bedeutet es also, wenn JHWHs חסדals eine eigene machtausübende Handlungsweise beschrieben wird? Eine Betrachtung des Nahkontextes (Vv.9f und V.12) stellt heraus, dass das Leitthema in der Sündenvergebung, bzw. in der Nichtbestrafung von Sünden besteht. Dabei ist vor allem der Vergleich mit dem Sonnenaufgang und Untergang in V.12 interessant („Wie weit entfernt der Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ist, lässt er unsere Freveltaten von uns entfernt sein“), weil er sich nicht nur auf Raum und Zeit erstreckt, sondern auch an das Motiv des Sonnenlaufes erinnern lässt. Es scheint daher so zu sein, dass es die Aufgabe der חסדist, Gerechtigkeit durchzusetzen, welche allerdings dadurch bestimmt ist, die Sünden nicht zu ahnden, sondern zu vergeben. Gerade im Gegensatz zum Zorn, der beschränkt wird und eben nicht für immer den Rechtsstreit ausfechten soll, wird allein die Gnade mit königlich-kriegerischen Attributen belegt, die sie angesichts der massiven Nennung von Schuld wohl auch braucht. Vielleicht ließe sich hier von einer Art „Stellvertreterfunktion“ für die göttliche Gerechtigkeit auf der Erde sprechen, die sonst, ausgehend vom Lexem גברentweder den Königen, speziell David, oder eben auch der Sonne/dem Sonnenlauf zugesprochen wird. Natürlich ist die Gnade eine göttliche Handlungsweise, deswegen ist der Begriff der Stellvertretung sperrig, aber sie tritt isoliert wie ein eigenes handlungsfähiges Subjekt auf. Folgt man der Wurzel גברin Ps 103, so fallen die himmlischen Boten in V.20 auf, die als starke Helden ( )גברי כחbezeichnet werden und die Aufgabe bekommen, JHWHs Wort zu tun. Die Verwendung von גברin diesem Psalm ist also ausschließlich für himmlische Größen verwendet, nicht für irdische. JHWHs חסדin Verbindung mit גברkommt außer an dieser Stelle nur noch einmal im AT vor, nämlich in Ps 117,2: „Denn mächtig ist seine Gnade über uns und die Treue JHWHs ist für fernste Zeiten, preist Jah.“ In beiden Fällen ist die Wurzel 247 Vgl. zum Zusammenhang von kriegerischer JHWH-Tradition und königlichem Helden, insbesondere zu David Adam, Klaus-Peter, Der Königliche Held. Die Entsprechung von kämpfendem Gott und kämpfendem König in Psalm 18, WMANT 91, Neukirchen-Vluyn 2001, 193–203. Leider spielt das Lexem גברeine untergeordnete Rolle, da es in Ps 18, auf dem der Schwerpunkt der Untersuchung liegt, nicht vorkommt.
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mit der Präposition עלgebraucht, bezeichnet also das Gefälle von der Größe, die Macht ausübt und derjenigen, über die Macht ausgeübt wird. In Psalm 103 sind es die, die ihn fürchten, in Ps 117 ist ein „Wir“ gemeint, das allerdings durch die Fremdvölker und Stämme/Völker in Ps 117,1 definiert wird. Dieser Unterschied führt in die Frage nach den Adressaten der Gnade, die für Ps 103 im folgenden Kapitel behandelt wird.
4.3.2.2 Strophe 2 (Vv.14–18): Die Vergänglichkeit :י־ע ָ ֥פר ֲא ָנ ְֽחנוּ ָ י־הוּא יָ ַ ֣דע יִ ְצ ֵ ֑רנוּ ָ ֝ז ֗כוּר ִכּ ֖ ִכּ14 יָמיו ְכּ ִ ֥ציץ ַ֝ה ָשּׂ ֶ ֗דה ֵכּ֣ן יָ ִ ֽציץ׃ ֑ ָ ֭ ֱאנֹושׁ ֶכּ ָח ִ ֣ציר15 קֹומֹו׃ ֽ ירנּוּ ֣עֹוד ְמ ֖ ֶ א־יַכּ ִ ֹ ה־בֹּו וְ ֵא ֶינ֑נּוּ וְ ל ֣ ִ ֤כּי ֣ר ַוּח ָ ֽע ְב ָר16 14 Denn, er kennt unser Gebilde, er ist eingedenk, dass wir Staub (sind). 15 Ein Mensch, wie Gras (sind) seine Tage, wie eine Blume des Feldes so blüht er. 16 Denn ist Wind über ihn gegangen, ist er nicht mehr, und sein Ort erkennt ihn nicht mehr.
Die zweite Strophe (Vv.14–18) bringt inhaltlich mit der Vergänglichkeit des Menschen ein neues Thema ein, welches aber durch das כיam Anfang mit der ersten Strophe verbunden wird. Es würde sich ein kausaler Anschluss nahelegen: JHWH ist gnädig und erbarmt sich wie ein Vater, weil er unser Gebilde kennt, welches Staub ist. Zur Beschreibung der Sterblichkeit bedient sich der Psalm der klassischen Motive von Flüchtigkeit und des Verwelkens von Pflanzen, wie auch in Ps 90,5f; 102,12; Jes 40,6–8. Damit einhergehend ist die Nichtigkeit des Lebens ausgesagt, das nichts Bleibendes hinterlässt, nicht einmal die Kenntnis darüber, dass es da gewesen ist. In V.16 liegt mit der Aussage „und sein Ort erkennt ihn nicht mehr“ ein Zitat aus der Vergänglichkeitsklage in Hi 7,10 vor. Hiob fleht, JHWH soll gedenken ()זכר, dass er nur ein Hauch ( )רוחist und seine Augen nichts Gutes ( )טובmehr sehen werden (Hi 7,7). Ebenso wird ihn niemand mehr anschauen und wahrnehmen (Hi 7,8). Wenn jemand gestorben ist, klagt er weiter, kommt er nicht zurück und sein Ort erkennt ihn nicht mehr. Diesen Versen vorausgegangen ist eine schwere Traurigkeit über das kurze Leben, das zudem noch von täglichem Leid und Mühe gezeichnet ist. Hiob sagt, er sei gesättigt von Unrast/Schlaflosigkeit (V.4b )וְ ָשׂ ַ ֖ב ְע ִתּי נְ ֻד ִ ֣דים.248 Psalm 103 liest sich wie eine 248 Janowski bezeichnet diesen Ausdruck als „Topos des ‚verfehlten Lebens‘“, der mit dem Symbol des eilenden Weberschiffchens verwendet wird. Janowski, Bernd, Das erschöpfte Selbst. Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch, in: Schnocks, J. (Hg.), „Wer lässt uns Gutes sehen?“ (Ps 4,7). Internationale Studien zu Klagen in den Psalmen. Zum Gedenken an Frank-Lothar Hossfeld, HBS 85, Freiburg 2016, 95–143;135.
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Antwort auf den beklagenswerten Zustand, weil ausgesagt wird, dass JHWH des sterblichen Gebildes gedenkt ( )זכרund außerdem den Beter so mit Gutem ()טוב sättigt ()שבע, dass sich seine Jugend erneuert. Obwohl die Vergänglichkeit des Menschen bleibt und mit den Worten Hiobs beschrieben wird, ist sie dennoch nicht als Klagegrund verwendet. Die kurze Lebensdauer ist nicht durch Unruhe und dem Gefühl von Nichtigkeit und Krankheit geprägt, sondern gewinnt ihre Kontur angesichts der Gnade JHWHs, die bis in die fernsten Zeiten existiert. JHWH, dessen Existenz keiner zeitlichen Einschränkung unterliegt, der, besser gesagt, außerhalb der Zeit ist, kann die Lebenszeit der Menschen überblicken und ihrer gedenken. Es ließe sich sagen, dass JHWHs Kenntnis der conditio humana (V.14 )ידעder Grund seiner Gnade ist und das Gedenken (V.14 )זכרihre Ausführung. Der Psalm spricht hier eine deutlich andere Sprache als der klagende Hiob, der, wenn es um den sterblichen Menschen, den אנושgeht,249 JHWHs Außerzeitlichkeit als Vorwurf benutzt: Hast du Menschenaugen, oder siehst du, wie ein Sterblicher ( )אנושsieht? Sind deine Tage wie die Tage eines Sterblichen, oder sind deine Jahre wie die Tage eines Mannes, dass du nach meiner Schuld fragst und nach meiner Sünde suchst? (Hi 10,4–6)
Die Überzeitlichkeit JHWHs wird in Ps 103 gerade nicht als Vorwurf verwendet, sondern als eine Eigenschaft, die Auswirkungen auf die Lebensqualität seiner Geschöpfe hat. Allerdings ist es auch in Ps 103 JHWH, der die Menschen sterben lässt. V.16 benennt die רוחJHWHs, die über den Menschen hinwegzieht, so dass er stirbt. Das Verb עברmit der Präposition בweckt Assoziationen eines gewaltvollen tödlichen Einschreitens JHWHs, wie es z. B. in Ex 12,12 (Tötung der Erstgeburt) oder Am 5,17 (Totenklage wegen des Hindurchschreitens JHWHs) beschrieben wird.250 Aufgrund dieser Beobachtung gewinnt der Begründungszusammenhang von V.13 zu V.14 (JHWH erbarmt sich wie ein Vater, weil …) noch ein anderes Gewicht. Weil JHWH seine Geschöpfe sterben lässt, erweist er ihnen im Leben ein Übermaß an Gnade und erbarmt sich ihrer trotz Schuldhaftigkeit. Die Deutung des Todes als Reaktion auf die Schuldhaftigkeit des Menschen und damit als Zorneshandeln JHWHs wird m. E. durch diese Form der Argumentation aufgebrochen und verändert, bleibt allerdings als ein Restbestand noch im Gebrauch des עבר mit der Präposition בsichtbar.
249 Vgl. auch Hi 7,1.17. 250 Vgl. zum tödlichen Hindurchschreiten Jeremias, Jörg, Der Prophet Amos, ATD 24,2, Göttingen 1995, 73. Im Gebrauch dieses Begriffs sind auch Anklänge an die Gottesschau in Ex 33,18 zu hören, in der das Verb עברfür das Vorbeiziehen JHWHs gebraucht wird. Die Zwiespältigkeit zeigt auch der Begriff des Windes ()רוח, der die Bedeutung des Lebensatems haben kann, der von JHWH gewährt oder entzogen wird (z. B. Ps 104,29f). Im Sinne eines tödlichen Windes wird רוחin Hiob 1,19 gebraucht, durch ihn sterben Hiobs Kinder.
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Der Vorstellungshintergrund der Vergänglichkeit angesichts der Überzeitlichkeit JHWHs und die Funktion der Gnade soll im Folgenden detaillierter anhand von Ps 102, Jes 40, Ps 90 und Ps 104 dargestellt werden. a) Ps 102 Ps 102 ist ein Klagepsalm, der eine ausgeprägte Vergänglichkeitsmotivik in sich trägt. Die Frage, ob es sich um einen einheitlichen oder einen literarisch gewachsenen Psalm handelt, wird in der Forschung sehr unterschiedlich beurteilt. Die Mehrheit der Ausleger nimmt einen Grundpsalm an, der fortgeschrieben worden ist. Brunert spricht sich in seiner Untersuchung zu Ps 102 für einen individuellen Grundpsalm in den Vv.2–12.25a*.25b.26.27aα.28b aus, der eine Erweiterung durch einen Zionspsalm in den Vv.13–23.29 erfahren hat.251 Auch Seybold nimmt einen Grundpsalm (Vv.1–12.24f) an, der allerdings mehrfache Erweiterungen erfahren hat (Vv.18–23 Dankpsalm; Vv.14–17.29 Gebet für Zion und Vv.13.25b-28 „Anbetung des ewigen Gottes“252). Ein Argument, das gegen eine Trennung von individuellem Grundpsalm und sekundärem Zionspsalm zwischen V.12 und V.13 spricht, besteht in der breit belegten Verknüpfung von Vergänglichkeitsmetaphorik und Überzeitlichkeit JHWHs in jungen Texten (wie Ps 103; Jes 40,6–8; Ps 90) als theologisches Motiv. Oeming argumentiert daher für die Einheitlichkeit des Psalms: Der Wechsel zwischen den Themen – einerseits Schwäche und Hinfälligkeit des Einzelnen und andererseits Stärke und Langlebigkeit Gottes in seinem Heilshandeln für Jerusalem und seiner Schöpfung – ist genauso beabsichtigt. Dieses Kontrastschema ist typisch für die Weisheit.253
Für die Motivik der Vergänglichkeit ist Oeming Recht zu geben, wie die folgende Auslegung zeigen wird. Fraglich bleibt allerdings, wie der Zusammenhang der
251 Vgl. Brunert, Gunild, Psalm 102 im Kontext des Vierten Psalmbuches, SBS 30, Stuttgart 1996, 188 f. Ihr folgt in den Grundzügen auch Schnocks, Vergänglichkeit, 236 f. Zu einer etwas anderen Aufteilung von Grundpsalm und Erweiterung gelangt Brandscheidt, Renate, Psalm 102. Literarische Gestalt und theologische Aussage, in: TThZ 96, 1997, 51–75; 57. Zum Grundbestand zählen für sie die Verse: 2–5*.7–11.13.14*.16–25*.26.27*.28 und zur Erweiterung: 5*.6.12.14c.15.25b.27*.29. Kraus erkennt einen individuellen Klagepsalm (Vv.2–12.24f), der mit hymnischen (Vv.13.26–28) und prophetisch-weissagenden Elementen (14–23.29) versehen worden ist, vgl. Kraus, Psalmen, 864. Zenger teilt den Psalm in einen Grundpsalm auf (Vv.2–12.25), der mit zwei Fortschreibungen versehen worden ist (I: Vv.13–24 mit Redeeinleitung in V.25 und V.29; II: Vv.26–28). Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen, 42. 252 Seybold, Psalmen, 398. 253 Oeming, Psalmen, 80. Auch Körting geht von der Einheitlichkeit des Psalms aus, begründet sie aber darin, dass die Verbindung von Einzelschicksal und kollektives Ergehen der Stadt ein geläufiges Motiv in den Psalmen ist (z. B. Ps 51; 69), vgl. Körting, Corinna, Zion in den Psalmen, FAT 48, Tübingen 2006, 44.
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Motive, die nicht zur Vergänglichkeit gehören – vor allem die für sich ausformulierte Zionsthematik – die zudem einen hohen Grad an Selbstständigkeit aufweist, erklärt werden kann. Steck hat die Motive der Zeitlichkeit und ihre verschiedenen Ebenen einer gegenwärtigen Klage und eschatologischen Zukunftshoffnung, die prophetische und weisheitliche Traditionen miteinander verbindet, ausführlich interpretiert. Er selbst hält den Psalm für ein einheitliches junges Werk, das im Sinne einer „Makroredaktion des Psalters“254 verfasst worden ist. Um den Zusammenhang zwischen Zionsthematik und individueller Klage darzustellen, greift er den Begriff „Beweggründe“ auf, mit dem die Funktion der oft als Fortschreibung angesehenen Verse 13–23.26–28.29 beschrieben wurde.255 Die kollektiv-universale Perspektive, die JHWHs überzeitliche und grenzenlose Herrschaft beschreibt, wird als Beweggrund gebraucht, das im Psalm gegenwärtige Geschick des Beters zu ändern. Die Blickrichtung, mit der Steck den Psalm liest, geht von der Annahme eines noch kommenden Heils aus, das allerdings das geforderte Eingreifen JHWHs in der Gegenwart bestimmt.256 Die Aussagen über JHWHs Zukunft im Blick auf die Schöpfung (V.26–28), als Thronender (V.13), als kollektiv-eschatologisch dereinst Handelnder (V.14–23.29) sind als Aspekte der unermeßlichen Langlebigkeit Gottes in Ps 102 nichts anderes als ein Mittel, damit JHWH den Beter, exemplarisch alle Beter vor (!) der Heilswende (vgl. V.1) vor einem vorzeitigen Lebensende (vgl. Ps 90,10f) doch noch bewahrt!257
Ob das Konzept einer für die Gegenwart bedeutsamen eschatologischen Heilswende, das Steck zur Deutung des Psalms annimmt, tatsächlich aufgeht, soll in der folgenden Auslegung noch einmal diskutiert werden. Zunächst wird eine Arbeitshypothese aufgestellt, die von der Zeitkonzeption betrachtet weniger das Eschaton im Blick hat als mehr die zu allen Zeiten geltende Wirkmächtigkeit JHWHs. Psalm 102 wird daher als eine bewusste Komposition von unterschiedlichen Motiven angesehen, welche die aus dem überzeitlichen Handeln JHWHs in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart resultierende, begründete Hoffnung auf JHWHs rettendes Eingreifen darstellt: Yhwh is eternal, but this does not mean being insulated from time; it rather means being present to all time. […] So far for Yhwh there is a past, a present, and a future. It is possible to speak in terms of what Yhwh will do. The psalm’s conviction is that Yhwh does
254 Steck, Odil Hannes, Der Abschluss der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons, BThS 17, Neukirchen-Vluyn 1991, 160. 255 Steck, Odil Hannes, Zu Eigenart und Herkunft von Ps 102, in: ZAW 102, 1990, 357–372, 359. 256 Vgl. aaO., 364. Aufgrund des Zeitkonzeptes ordnet Steck den Psalm in die späte Weisheit ein und datiert ihn in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts; vgl. aaO., 366. 257 AaO., 364.
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get involved in time, and its challenge is that Yhwh should do so now. It is up to Yhwh to bridge Yhwh’s time and our time.258
Ps 102,11–14.24f:
יכנִ י׃ ֽ ֵ אתנִ י וַ ַתּ ְשׁ ִל ַ֗ ֽי־ז ַֽע ְמָך֥ וְ ִק ְצ ֶפָּ֑ך ִ ֥כּי ְנ ָ֝שׂ ַ מ ְפּ ֵנ ִ 11 יבשׁ׃ ֽ ָ ָי ַ֭מי ְכּ ֵצ֣ל נָ ֑טוּי וַ ֲ֝א ִ֗ני ָכּ ֵ ֥ע ֶשׂב ִא12 עֹול֣ם ֵתּ ֵ ֑שׁב וְ ֝זִ ְכ ְר ָ֗ך ְל ֣ד ֹר וָ ֽד ֹר׃ ָ אַתּה ְי֭הוָ ה ְל ֣ ָ ְ ו13 :אַתּה ָ ֭תקוּם ְתּ ַר ֵ ֣חם ִציּ֑ ֹון ִכּי ֣ ָ מֹועד ֽ ֵ י־בא ֥ ָ ־עת ְ֝ל ֶ ֽחנְ ָ֗נהּ ִכּ ֥ ֵ 14 יָמי׃ ֽ ָ ִע ָנּ֖ה ַב ֶ ֥דּ ֶרְך כּ ִֹ֗חו ִק ַ ֥צּר24 נֹותיָך׃ ֽ ֶ דֹּורים ְשׁ ֣ ִ יָמי ְבּ ֖דֹור ֑ ָ ֽל־תּ ֲע ֵלנִ י ַבּ ֲח ִ ֣צי ֭ ַ א ַֹ֗מר ֵא ֗ ִלי אַ25
11 Angesichts deines Grimms und deines Zorns, denn du hast mich aufgehoben und du hast mich hingeworfen. 12 Meine Tage sind wie ein geneigter Schatten. Und ich, wie Gras vertrockne ich. 13 Und du, JHWH, für fernste Zeiten thronst du und dein Gedenken ist von Geschlecht zu Geschlecht. 14 Du wirst dich erheben und dich über Zion erbarmen, denn (es ist) Zeit, ihrer gnädig zu sein, ja, der Zeitpunkt ist gekommen. 24 Er hat bedrückt auf dem Wege meine Kraft, verkürzt hat er meine Tage. 25 Ich sage: Mein Gott, raffe mich nicht hinweg in der Hälfte meiner Tage. Von Generation zu Generationen sind deine Jahre.
Die Vergänglichkeitsklage in V.12 schließt als Ich-Klage einen dreigliedrigen Klagegang von Ich-Klage (Vv.4–6), Feindklage (Vv.7–9) und Gottklage (Vv.10f) ab.259 V.12 ist durch Stichwort- und Motivverbindungen auf die Ich-Klage des vorherigen Klagegangs bezogen: das Gras (V.12 )עשבtaucht als Vergleich in V.5 auf („versengt wie Gras [ ]עשבund vertrocknet ist mein Herz“). Die Nichtigkeit des kurzen Lebens als Element der Vergänglichkeit wird in V.4 genannt (sie schwinden in Rauch, meine Tage). Die Zweigliedrigkeit von äußerem Zustand (objektiv messbare kurze Lebensdauer in Tagen, V.4)260 und innerem Empfinden (das Vertrocknen des Herzens, V.5) wird in V.12 in einem Vers zusammengefasst. In V.24 wird die Klage erneut aufgenommen und geht in die abschließende Bitte über, JHWH möge den Beter vor dem zu frühen Tod bewahren. An die Bitte schließt sich ein 258 Goldingay, Psalms, 162. 259 Vgl. dazu Janowski, erschöpftes Selbst, 125 f. 260 Dass es nicht nur um kurze Lebenszeit geht, sondern um deutlich verkürzte, arbeitet Schnocks heraus. „In Ps 102 dagegen geht es um den vorzeitigen Tod. Das Ich befürchtet ,in der Mitte meiner Tage‘ (v.25) zu sterben.“ Schnocks, Johannes, Psalmen, Paderborn 2014, 108 f.
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hymnisches Bekenntnis zu JHWH an, in dem die Überzeitlichkeit und Unwandelbarkeit JHWHs im Mittelpunkt stehen (Vv.25b–28). Stilistisch ist der Kontrast zwischen den Tagen als Leitwort des Psalms, das sich durch die Vergänglichkeitsklage zieht (Vv.4.12.24.25)261, und den Jahren JHWHs (Vv.25.28) prägend. Das inhaltliche Verhältnis von Klage/Bitte und Hymnus beschreibt Brunert: Inhaltlich handelt es sich also um eine vertrauensvolle Bitte eines an der Störung seiner gesamten Lebensvollzüge leidenden Menschen, der im Bewusstsein seiner Vergänglichkeit den ewigen Schöpfergott um rettende Zuwendung bittet. Charakteristisch ist die auffällige Ausführlichkeit der Notklage gegenüber der Kürze des Hymnus, dessen qualitative Relevanz aber offensichtlich genügend Hoffnungspotential bereitstellt, um als Gegenpol gegen die in der Notklage sich ausdrückende Verzweiflung fungieren zu können.262
Der Übergang von Klage und Hymnus von V.12 zu V.13 erweist sich als extrem spannungsvoll, da der schon benannte Kontrast zwischen Menschenzeit und JHWH-Zeit als wirkungsvolles Stilmittel angesehen werden kann und damit die Zusammengehörigkeit der beiden Verse zeigt. Gleichzeitig stellt V.13 den Übergang zur kollektiven Zionsthematik und dem universalen Königtum JHWHs dar.263 Noch spannungsvoller wird der Kontrast, wenn V.11 mit in den Blick genommen wird. Mit V.11 zeigt sich, dass von JHWH, dem Herrscher über die Lebenszeit, nicht nur Rettung erwartet wird, sondern dass eben dieser JHWH auch als der Verursacher der Verkürzung und der damit als verschärft wahrgenommenen Notsituation264 angeklagt wird: יכנִ י׃ ֽ ֵ אתנִ י וַ ַתּ ְשׁ ִל ַ֗ ֽי־ז ַֽע ְמָך֥ וְ ִק ְצ ֶפָּ֑ך ִ ֥כּי ְנ ָ֝שׂ ַ ִמ ְפּ ֵנ11 11 Angesichts deines Grimms und deines Zorns, denn Du hast mich aufgehoben und hingeworfen.
Das als Angriff empfundene Verhalten JHWHs wird vom Beter in Zusammenhang mit seinem Zorn gebracht (V.11a). Derselbe Gott, der seinen Zorn am Beter ausgelassen hat, wird nun um Erbarmen in V.14 angerufen:
261 Vgl. Seybold, Psalmen, 398. 262 Brunert, Psalm 102, 188. 263 Vgl. zu der Ambivalenz von versübergreifender Stilfigur und Bruch durch Einführung einer neuen Thematik Körting, Zion, 36. 264 „In Ps 102 – und in vielen anderen Klagen des Psalmenbuches – führt das Wissen um die Begrenztheit der Lebenszeit aber auch zu einer Verschärfung der negativen Wahrnehmung von schlimmen Lebensumständen. Das liegt einerseits sicher daran, dass der etwa in Gestalt von Verarmung oder einer schweren Krankheit bereits in das Leben eingebrochene Tod deutlich an die Vergänglichkeit erinnert […]. Das liegt aber wohl auch an der Überlegung, dass angesichts der begrenzten Lebenszeit lang anhaltende Notsituationen die vielleicht noch zu erwartenden guten Lebensjahre verringern.“ Schnocks, Psalmen, 109.
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אַתּה ָ ֭תקוּם ְתּ ַר ֵ ֣חם ִציּ֑ ֹון ֣ ָ 14 מֹועד׃ ֽ ֵ י־בא ֥ ָ י־עת ְ֝ל ֶ ֽחנְ ָ֗נהּ ִכּ ֥ ֵ ִכּ 14 Du, du wirst dich erheben und dich (über) Zion erbarmen, denn (es ist) eine Zeit, um ihr gnädig zu sein, denn der Zeitpunkt ist gekommen.
Das Stilmittel des Kontrastes erstreckt sich nicht nur auf V.12 und V.13, sondern auch auf V.11 und V.14: Die Anklage des zornigen Gottes mündet in die Anrufung seiner Gnade und Barmherzigkeit. Die Zeit des Zornes muss ein Ende haben, weil die Zeit der Gnade gekommen ist. Die Zeit des Zornes gehört thematisch in die kurze begrenzte Lebenszeit des Beters, die Zeit der Gnade wird in die überzeitliche Herrschaft JHWHs eingeordnet. Dies sollte bedacht werden, wenn die Zeitverhältnisse in V.14 analysiert werden. In V.14a sind zwei Imperfekta gebraucht,265 in 14bα dagegen ein Nominalsatz mit Infinitivkonstruktion und in 14bβ kann die Verbform sowohl ein Perfekt als auch ein Partizip bezeichnen.266 Die Schwierigkeit zu entscheiden, ob eine noch kommende oder eine schon angebrochene Heilszeit vorliegt, wird verschärft durch V.13. V.13 ist sprachlich parallel formuliert,267 an einen Verbalsatz im Imperfekt schließt sich ein Nominalsatz an: „Und du, du thronst für fernste Zeiten, dein Gedenken (ist) von Generation zu Generation.“ Es legt sich nahe, das Thronen im Präsens wiederzugeben, weil die fernsten Zeiten eben nicht nur futurisch begriffen werden, sondern alle Zeiten umfassen. Die Verwendung des sich anschließenden Nominalsatzes bestätigt, dass es keine zeitliche Festlegung gibt; das Gedenken gilt allen Generationen. Beate Ego stellt fest, dass in Ps 102 das himmlische Thronen und das göttliche Eingreifen „unmittelbar aufeinander bezogen“ sind, und setzt die Zeitverhältnisse mit Bezug auf Vv.20–22 in folgende Relation: Im Herabschauen Gottes vom Himmel auf die Erde realisiert sich – so Ps 102,20–22 – seine Zuwendung zu den Elenden seines Volkes, den Gefangenen und den Todgeweihten, die wiederum letztendlich dem Preisen seines Namens auf dem Zion dient. Gottes himmli-
265 Diese können auch als Iussiv übersetzt werden, so Gerstenberger, Psalms, 212. 266 Die Meinungen der Ausleger zur Übersetzung der Zeitformen divergieren stark: Für eine futurische Übersetzung und damit zumeist für eine zukünftige Deutung der Rettungstat plädieren u. a.: Kraus, Psalmen, 867; Weber, Werkstatt, 171, der V.14 als „visionäre Schau“ liest; Steck, Eigenart, 363f, der auch von einer eschatologischen Rettungstat ausgeht; so auch Ego, Beate, „Der Herr blickt herab von der Höhe seines Heiligtums“. Zur Vorstellung von Gottes himmlischem Thronen in exilisch-nachexilischer Zeit, in: ZAW 100, 1998, 556–569; 560. Als gegenwärtige, schon angebrochene Heilszeit wird V.14 gedeutet von: Körting, Zion, 39f; Brüning, Christian, Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Ps 102 als Vergänglichkeitsklage und Vertrauenslied, BBB 84, Frankfurt 1992, 184. 267 Vgl. zu dieser Beobachtung Goldingay, Psalms, 155.
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sches Thronen bildet so geradezu die Garantie für sein eschatologisches Einschreiten und die Voraussetzung für die Erbauung des Zion.268
Ego sieht das Thronen als eine Art ewige Garantie, sich auf das zukünftige Eingreifen JHWHs zu verlassen. Körting macht deutlich, dass die Beweislast auf V.15 liegt, da in ihm der Zion als Trümmerhaufen269 beschrieben wird. Sie erörtert die zeitliche Ambivalenz von Zusage und noch ausstehender Rettungstat letztlich ähnlich wie Ego, indem sie die garantierte Zusage als Trost deutet und den noch kommenden Aufbau als Vertröstung.270 Vertröstung scheint allerdings, im Gegensatz zum Begriff der „Garantie“, den Ego benutzt, erheblich schwächer zu sein und die unverbrüchliche Geltung der Zusage nicht ganz zu erfassen. Um die zeitliche Ausdehnung auch sprachlich festzuhalten, bietet es sich an, die Imperfekta in V.14a futurisch zu übersetzen und die Nominalkonstruktionen in V.14b präsentisch. Zur zeitlichen Dimension muss auch die Qualität des JHWH-Handelns bedacht werden, die mit Erbarmen ( )רחםund Gnädig-Sein ()חנן formuliert wird. Es liegt wie in Ps 103 eine Kombination von Überzeitlichkeit der Königsherrschaft (himmlisches Thronen) und den Handlungsoptionen JHWHs vor, wie sie in der sog. Gnadenformel angelegt ist. In Ps 102 wird die Formel nicht verwendet, aber die zeitliche Begrenzung des Zorns271 im Gegensatz zu ewiger Gnade ist deutlich herauszulesen. Die Vv.11–14 können als eine Variation der sog. Gnadenformel gelesen werden, d. h., dass der Bruch zwischen V.12 und V.13 nicht so stark ist, wie auf den ersten Blick angenommen werden könnte. Weiterhin fällt der Begriff des ‚Gedenkens‘ JHWHs auf ()זכר, das von Generation zu Generation gilt (V.13). Er bildet als Pendant zum ewigen Thronen den verlässlichen Grund für das Erbarmen JHWHs, wird aber nicht näher expliziert. In Psalm 103 ist das Gedenken ( זכרV.14) ebenfalls mit dem Erbarmen verbunden ( רחםV.13) und bildet den Grund für JHWHs Gnadenzusage. JHWH gedenkt der Sterblichkeit seiner Schöpfung (V.14), lässt sie an seiner ewigen Gnade teilhaben (V.17a) und an seinen Gerechtigkeitstaten, die von Generation zu Generation (V.17b) gelten. Werden beide Psalmen zusammen gelesen, erklärt sich von Psalm 103 der Begriff des Gedenkens in Ps 102: er ist die Grundlage für die gna-
268 Ego, Der Herr blickt, 560. 269 Der Trümmerhaufen beschreibt nicht nur den zerstörten Zion, sondern ist auch eine qualitative Umschreibung für lebensfeindliche, Unterwelt ähnliche Räume. Vgl. Riede, Peter, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen, WMANT 85, Neukirchen-Vluyn 2000, 295. 270 „Man könnte sagen, dass der Psalmist den Verheißungen zeitlich Raum schafft, damit sie sich schließlich als wahr erweisen können. Für den Beter bedeutet die Zionspassage somit Trost und zugleich Vertröstung, denn Jhwh wird sich auch ihm zuwenden (v18). An der großartigen Heilszeit, in der die Völker zum Zion kommen werden, hat er jedoch keinen Anteil.“ Körting, Zion, 43. 271 Als Begriff für den Zorn wird allerdings nicht wie in der Formel אףbenutzt, aber der Fakt der Begrenzung scheint von stärkerem Gewicht zu sein als das Vokabular.
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denvolle Zuwendung JHWHs zu seinen vergänglichen Geschöpfen, die er an seiner Gnade teilhaben lässt. Ab Vv.24–26 wiederholt sich die Struktur von Ich-Klage über die von JHWH bewirkte Vergänglichkeit und der Langlebigkeit JHWHs. Brueggemann erläutert, dass in den Versen des Schlussteils die unterschiedlichen Motive von Einzelschicksal und Zionsthematik zusammengebracht werden, indem die Einzelklage aus V.12 und der Generationenbegriff aus V.13 zusammen in einem Vers als Kombination vorliegen (V.25).272 Beide Linien finden dann ihre Zusammenführung im Schöpferhandeln JHWHs, der vor aller Zeit Himmel und Erde gegründet hat.273 Die Gründung von Himmel und Erde vor aller Zeit/zuvor ist als ein Äquivalent zum ewigen Thronen in V.13 anzusehen: Schöpfungs- und Königstheologie überschneiden sich. Innerhalb des Zeitkonzeptes von Ps 102 scheint gerade die Verankerung der ewig bestehenden Ordnung vor aller Zeit/zuvor eine wichtige Rolle zu spielen, weil durch diesen Ausdruck deutlich wird, dass nichts aus der Zeit herausfallen kann. Auch die menschliche Vergänglichkeit ist durch die uranfängliche Schöpfungstat in der JHWH-Zeit aufgehoben. Auch wenn die Klagen des Beters über sein zu kurzes Leben und die Klagen über den zerstörten Zion am Schluss des Psalms zusammengeführt werden, heißt das nicht, dass sie zu einer Klage verschmelzen, bzw. die Einzelklage in der Kollektivklage aufgehoben wird. Sowohl Steck274 als auch Körting erklären die Selbstständigkeit der beiden Größen: Die Hoffnung Zions und des einzelnen sind nicht deckungsgleich. Auch steht Zion nicht als Synonym für den Beter oder für das Volk. Er ist eine eigene Größe im Heilsplan Gottes für Israel. Der Beter aber weiß sich dazu aufgerufen, das, was Zion gilt, auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen.275
Zusammenfassend lässt sich zur Bedeutung der Relation von menschlicher Vergänglichkeit und JHWHs Überzeitlichkeit in Ps 102 sagen, dass sie zwei Funktionen erfüllt: Zunächst wird sie als rhetorisches Argument eingesetzt, um JHWHs Handeln zu bewirken. Auf einer tieferen Ebene zeigt sich in ihr der Grund der Hoffnung des Beters auf JHWHs restituierendes Eingreifen, der in JHWHs ewiger Königsherrschaft und in seinem Schöpfersein verankert ist. Um mit Steck zu sprechen, zieht der Beter aus dem Vertrauen in die ewige Königsherrschaft die ‚Legitimation‘, JHWH durch Anklage zum Eingreifen bewegen zu wollen. Der Klage
272 Vgl. Brueggemann, Walter/Bellinger, William H., Psalms, NCBC, Cambridge 2014, 437. 273 „This third section of the psalm brings together the themes of the first two. Based on a creation theology centered on the reign of YHWH and characteristic of Book IV of the Psalter, the psalm moves from a desperate cry for help to a vision of hope and finally to an echo of the prayer for help and an expression of hope.“ AaO., 438. 274 Es handelt sich nicht um „eine kollektive Hoffnung in Naherwartung, die auch das Betergeschick einschließt.“ Steck, Eigenart, 363. 275 Körting, Zion, 47.
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wird zwar durch das begründete Vertrauen in eine עולם-Teilhabe (Ps 102,13f) ein solides Fundament der Hoffnung gegeben, vollständig gewendet aber wird sie nicht. Die garantierte Zusage einer noch kommenden Restitution ist in den Begriffen der Gnade und des Erbarmens (V.14) verwurzelt. Sie werden zwar nicht in Gestalt der Gnadenformel verwendet, aber ihre Handlungsoptionen werden aufgegriffen und damit wird eine starke Assoziation geschaffen. In der kanonischen Abfolge der Psalmen findet der Umschwung von der Klage zum Lob erst mit Ps 103f statt, wobei ein Anknüpfungspunkt in der Motivik der Vergänglichkeit und ihrer weiteren theologischen Bearbeitung liegt. Ps 103,14–17 erweist sich in der Zusammenstellung Vergänglichkeit und Überzeitlichkeit JHWHs als anschlussfähig an Ps 102. Auch das himmlische Thronen JHWHs als Zeichen seiner ewigen umfassenden Herrschaft in Ps 103,19 ist ein basales Motiv. Der Kontrast zwischen Schöpfer und Geschöpf wird in Psalm 103 weniger als Mittel der Differenz verstanden, wie es die Form der Anklage in Ps 102 nahelegt, sondern durch die Form des hymnischen Lobes als Möglichkeit von beziehungsstiftender Zuwendung. Diese legt sich in Ps 102 und in Ps 103 durch den Begriff des Gedenkens ( )זכרnahe, der immer ein Handeln impliziert. Die Zuwendung findet aber auf dem bleibenden Status quo der Sterblichkeit statt, die zudem, wie in der Auslegung dargestellt, in beiden Psalmen von JHWH verursacht wird. Sie muss sich also innerhalb der Lebenszeit auswirken, und zwar als ihre Aufwertung durch JHWH. In Psalm 102 besteht diese Aufwertung in der Garantie, dass JHWH eingreifen wird. In Psalm 103 ist diese Garantie eingelöst. Sie findet ihre Gestalt in den Wohltaten JHWHs, die aus seiner Gnade resultieren und die durch die hymnischen Partizipien in Ps 103,3–7 als Grundlage des antwortenden Segens ausgeführt werden. Gerade die Schuldvergebung als ein Leitmotiv von Psalm 103 nimmt eine herausragende Rolle in der Aufwertung von Lebenszeit ein, indem sie in einen kausalen Zusammenhang gesetzt werden: Weil JHWH die Menschen als vergängliche Wesen geschaffen hat, vergibt er ihnen ihre Schuld. Die Vergebung kompensiert die Vergänglichkeit, um die kurze Lebenszeit der Geschöpfe in Relation zu ihrem Schöpfer in die göttlichen Handlungseigenschaften zu integrieren.276 Dies bedeutet eine Teilhabe an der Gnade JHWHs, welche die Vergebung bewirkt und eine Handlungseigenschaft für fernste Zeiten darstellt. Die Partizipation an der Überzeitlichkeit JHWHs ist also mittelbar durch das immerwährende Gnadenhandeln der Sündenvergebung ermöglicht. Wie genau sich die Vergebung der Schuld auf Israel auswirkt und mit welchen Vorstellungshintergründen sie in Psalm 103 in einen Diskurs gesetzt wird, hat die Interpretation der Vv.3–5 schon gezeigt. An dieser Stelle soll der Fokus auf die Sündenvergebung als Reaktion auf die Vergänglichkeit gelegt werden. Ein Text, in dem diese Motivik auch in Kombination vorliegt und der zudem hinsichtlich
276 „Hier wird die menschliche Vergänglichkeit zum Begnadigungsgrund für die Menschen.“ Schnocks, Psalmen, 111. Nötscher spicht davon, „dass die menschliche Natur Mitleid erweckt“. Nötscher, Psalmen, 204.
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der Vergänglichkeitsmetaphorik vermutlich einen Spendertext für Ps 103 darstellt, ist der Jesaja-Prolog (Jes 40), insbesondere die Verse 6–8. b) Jesaja 40 Der Prolog des Deuterojesajabuches in Jes 40,1–11 zeigt einen Aufbau in vier Strophen (Vv.1–2; Vv.3–5; Vv.6–8; Vv.9–11), die durch das Wortfeld der Rede miteinander in Beziehung stehen. Der szenische Aufbau des Prologes ist oft gesehen und anhand der Sprecherwechsel gegliedert worden: Die Verse 1–8 beschreiben drei himmlische Szenen, wobei davon auszugehen ist, dass sowohl der Sprecher als auch die Adressaten himmlische Größen sind.277 In den Versen 9–11 wird die Freudenbotin Zion-Jerusalem von einem Sprecher beauftragt, die Szenerie verlässt also den himmlischen Bereich. Der Inhalt des Prologes wird bestimmt durch die Restitution Israels und Jerusalems, nachdem die Schuld abbezahlt worden ist, und die damit angekündigte Rückkehr aus dem Exil. Diese Rückkehr betrifft sowohl Israel als auch JHWH. Es wird eine Art Wende der Zeiten beschrieben, die vom Zorn zum Heil umschlägt und eine Erneuerung des Gottesverhältnisses verheißt. Die Sprache des Prologs ist poetisch und findet eine enge Anlehnung an die Sprache der Psalmen. Besonders auffällig ist der Beginn des Buches in Jes 40,1 mit dem doppelten Imperativ Tröste, tröste, der den Auftrag, der an Israel ausgeführt werden soll, in einem Wort beschreibt.278 In der Forschung wird überwiegend die These vertreten, dass der Prolog des Jesajabuches keine einheitliche Sequenz darstellt, sondern Wachstumsspuren aufweist. Innerhalb der Frage, aus wie vielen Bearbeitungen der Wachstumsprozess besteht, gibt es verschiedene Lösungen.279 Übereinstimmung herrscht aber in der Zuschreibung der Verse 6–8 als sekundäre Fort277 Vgl. zum Aufbau anhand der Sprachhandlungen: Elliger, Jesaja II, 4–10.32–34. Elliger nimmt von der Gattung her in allen drei Passagen Vv.1f; 3–5; 6–8 eine „Befehlsausgabe“ von himmlischen Wesen an, wobei in den Vv.6–8 der Prophet gemeint ist; aaO., 8. Baltzer sieht in Vv.1f Gott als Sprecher, in den Vv.3–5 den „Vezier Gottes“, in den Vv.6–8 einen nicht näher identifizierten himmlischen Sprecher. Vgl. Baltzer, Klaus, Deutero-Jesaja, KAT X /2, Gütersloh 1999, 78. 278 Der Befehl „Tröste, tröste, mein Volk“ ist nicht leicht zu deuten, da nicht deutlich gesagt wird, wer mit wem spricht (siehe vorherige Anmerkung). Zum Gebrauch des Lexems נחםim Pi‘el im Deuterojesajabuch lässt sich sagen, dass immer JHWH als Subjekt der Tröstung genannt ist, vgl. aaO., 82. In Jes 40,1 wird durch den doppelten Imperativ der Kreis derjenigen, die trösten können wie JHWH, vermutlich der himmlische Hofstaat, vergrößert. ‚Trösten‘ ist im Hebräischen mit einer Handlung verbunden, die den Zustand, aufgrund dessen getröstet werden muss, verändert. Vgl. zur Bedeutung des Tröstens und seine Funktion in Deuterojesaja Vincent, Jean M., Studien zur literarischen Eigenart und zur geistigen Heimat von Jesaja, Kap. 40–55, BET 5, Frankfurt u. a. 1977, 215–217. 279 Vgl. zu einem Überblick über die verschiedenen Wachstumsstufen Ehring, Christina, Die Rückkehr JHWHs. Traditions- und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Jesaja 40,1–11, Jesaja 52,7–10 und verwandten Texten, WMANT 116, Neukirchen-Vluyn 2007, 11–17. Sie verdeutlicht im Wesentlichen zwei Strömungen: eine „Maximallösung“, die nur die Verse 6–8 als Zusatz erkennt und die Verse 1–5.9–11 für den Grundbestand des Prologs hält und eine Begrenzung des Grundbestandes auf die Verse 1–5; aaO., 14 f. Vgl. zu den unterschiedlichen Ansichten über den Wachstumsprozess auch Hartenstein, Friedhelm, „… dass erfüllt ist ihr Frondienst“ (Jesaja 40,2).
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schreibung, da die Konzentration auf das Gotteswort in V.8 eine enge Verbindung zu Jes 55,10f aufweist und so eine redaktionelle Rahmung schafft. Gerade diese beiden jungen Verse sind für einen Vergleich mit Ps 103 interessant, da in ihnen eine Vergänglichkeitsmetaphorik gebraucht wird, die Ps 103 aufnimmt und variiert: אָמר ָ ֣מה ֶא ְק ָ ֑רא ֖ ַ ְ ק֚ ֹול א ֵ ֹ֣מר ְק ָ ֔רא ו6 ׃ל־ח ְס ֖דֹּו ְכּ ִ ֥ציץ ַה ָשּׂ ֶ ֽדה ַ ל־ה ָבּ ָ ֣שׂר ָח ִ֔ציר וְ ָכ ַ ָכּ הו֖ה ָנ ְ֣שׁ ָבה ֑בֹּו ָ ְיר ָנ ֵ ֽ֣בל ִ֔ציץ ִ ֛כּי ֥ר ַוּח י ֙ יָבשׁ ָח ִצ ֵ֤ 7 :אָכן ָח ִ ֖ציר ָה ָ ֽעם ֵ֥ עֹולם׃ ֽ ָ ֹלהינוּ יָ ֥קוּם ְל ֖ ֵ ר־א ֱ יָבשׁ ָח ִ ֖ציר ָנ ֵ ֽ֣בל ִ ֑ציץ ְוּד ַב ֵ֥ 8 6 Eine Stimme spricht: „Rufe!“ Und er sagt: „Was soll ich rufen?“ Alles Fleisch (ist) Gras und all seine Gnade ist wie die Blume des Feldes. 7 Gras verdorrt, es welkt eine Blume, denn der Geist JHWHs weht darüber, wahrhaftig, Gras ist das Volk. 8 Gras verdorrt, es welkt eine Blume, aber das Wort unseres Gottes erhebt sich für fernste Zeiten.
Wie in Ps 103 wird in der dritten Strophe des Jesaja-Prologs die Vergänglichkeit des Menschen festgestellt und JHWHs fernsten Zeiten entgegengesetzt. Auch hier liegt keine Klage über die Vergänglichkeit vor, sondern das Fundament dessen, was der Prophet Israel predigen soll. Warum nimmt die schonungslose Aussage der Sterblichkeit eine so hohe Bedeutung ein, dass sie in der Eröffnung des Deuterojesajabuches als grundsätzlicher Inhalt der prophetischen Verkündigung genannt wird – und wie verhält sich dies zum Auftrag des Tröstens, der an erster Stelle steht (Jes 40,1)?280 Auch wenn die Verse 6–8 vermutlich jünger sind als der Rest des Prologes, sind sie doch gut durch Stichwortverbindungen mit diesem vernetzt. Das Rufen ( )קראleitet die Strophen des Prologes in Vv.2.3.6 ein. Der Inhalt des Rufens besteht in V.2 in der Botschaft, dass Jerusalems Schuld abbezahlt und damit das Ende der Zeit der Bestrafung erreicht ist. In den Vv.3–5 wird Die Geschichtshermeneutik Deuterojesajas im Licht der Rezeption von Jesaja 6 in Jes 40,1–11, in: Ders./Pietsch, M., „Sieben Augen auf einem Stein“ (Sach 3,9). Studien zur Literatur des Zweiten Tempels. FS für Ina Willi-Plein zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2007, 101–119; 103 f. 280 Einige Ausleger deuten die Rede von der Vergänglichkeit als Akt der Solidarität des Propheten mit dem leidenden Volk. So z. B. Westermann, Jesaja, 38; in diese Richtung geht auch Oswalt, der sich die Reaktion der Hörerschaft auf die Trostbotschaft vorstellt; Oswalt, John N., The Book of Isaiah. Chapters 40–66, NICOT, Grand Rapids u. a. 1997, 53. Dies scheint zu kurz gegriffen, da die theologische Dimension des Motives an sich nicht in den Blick genommen wird. Außerdem hängt damit eine Sicht auf die Rede der Vergänglichkeit zusammen, wie Elliger verdeutlicht, die diese als „typisches Klagemotiv“ begreift; Elliger, Jesaja II, 9. Die Auslegung wird zeigen, dass die Funktion im Gebrauch der Vergänglichkeitsmetaphorik eine andere ist.
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die Rückkehr JHWHs nach Jerusalem und damit der Beginn der neuen Heilszeit beschrieben. JHWH wendet sich seiner Stadt und seinem Volk zum Heil zu, darin bestehen das Leitthema des Prologes und die eigentliche Botschaft des Propheten. Dies muss Jerusalem ins Herz geredet werden, damit es begreifen kann. Es ist also aufgrund des bewusst gestalteten Aufbaus des Prologes anzunehmen, dass diese beide Inhalte der Prophetenrede mit V.6 in Beziehung zu setzen sind.281 Gestützt wird diese Beobachtung auch durch einen weiteren Terminus des Wortfeldes der Rede, durch den Begriff reden/Wort ()דבר, der den Abschluss der Strophen bildet (Vv.5.8). Die heilvolle Nähe und Zuwendung JHWHs zum Volk zeigt sich in der Aussage, dass alles Fleisch JHWHs Herrlichkeit sehen soll. In ihr wird, wie in der Vergänglichkeitsmetaphorik, eine größtmögliche Wirkung durch das Stilmittel des Kontrastes erzielt: Fleisch als Ausdruck für den sterblichen, sündhaften Menschen, Herrlichkeit als Ausdruck von Würde und Majestät Gottes sind auf den ersten Blick zwei gänzlich voneinander entfernte Größen. JHWH selbst überwindet aber den Abstand, indem er seine Herrlichkeit dem fleischlichen Menschen offenbart. Nicht um den Abstand zu vergrößern, sondern um eine Beziehung zu stiften. Die Vergänglichkeitsmetaphorik in der dritten Strophe ist die Fortsetzung dieser Beziehung, da die Sterblichkeit ihren Platz in der alle Zeiten überdauernden Zusage JHWHs findet, Israel nahe zu sein. Das für fernste Zeiten beständige Wort ‚unseres Gottes‘ kann nur das Trostwort aus V.1 sein, welches von JHWH gesprochen wird.282 Ein Bezug zu Vers 1 wird über die Relation von JHWH und Israel geschaffen, welche durch die Suffixe konstituiert wird: ‚Unser Gott‘ (Suffix
281 Die stringente Verknüpfung der Strophen durch ein gemeinsames Leitmotiv, Stichwortbezüge und gemeinsame Vorstellungshintergründe sprechen m. E. gegen die These von Berges, die dritte Strophe als eine Art skeptischen Einwand der Propheten zu lesen, die ihre Heilsbotschaft durch die Verfasstheit Israels als „Fleisch“ gefährdet sehen (109). Als Argument dafür zieht Berges die Endlichkeit der חסדIsraels an, die er als Zeichen einer „ethisch-religiösen Kurzlebigkeit“ (109) deutet. Er übersieht in der Ausführung seiner These m. E. die Teilhabe am JHWH-Wort, das sich für fernste Zeiten erhebt und als Inhalt die Trostbotschaft der Vergebung in sich trägt. Gerade von dieser Bedeutung des Wortes spricht der gesamte Prolog. Hinter der Vergänglichkeitsmetaphorik eine „Trennung des Gottesvolkes“ (110) anzunehmen, durch welche die eine Gruppe von Geistbegabten sich entfaltet und erblüht und eine andere Gruppe verwelkt und stirbt, würde die Heilszusage ad absurdum führen. Wieso sollte dann allem Fleisch die Herrlichkeit JHWHs offenbart werden? M.E. zielt auch Jes 55,6–11 nicht auf eine Trennung von Gerechten und Frevlern ab, sondern vor allem auf die vergebende Kraft JHWHs, die auch die Frevler zu Empfängern des göttlichen Wortes macht. Alle in Klammern genannten Seitenzahlen beziehen sich auf: Berges, Ulrich, Jesaja 40–48, HThKAT, Freiburg 2008. 282 Elliger plädiert dafür, den Kontext von Jes 40,1–8 innerhalb der Frage nach ‚dem Wort‘ einzubeziehen und die Verbindung zu V.1 herzustellen: „Von da aus ergibt sich fast zwangsläufig und ohne Schwierigkeit die Beziehung des ,Wortes unseres Gottes‘ auf die sehr konkrete Trostbotschaft, die die beiden Engel auf Jahwes persönlichen Befehl unter den Himmlischen gerade ausgerichtet haben und die der Prophet nun weitergeben soll.“ Elliger, Jesaja II, 28. Andere Ausleger begreifen „das Wort“ eher als einen allgemeinen Sammelbegriff für das Wirken JHWHs überhaupt und sehen den Bezug auf V.1 als eine Engführung an. So z. B. Fohrer, Georg, Das Buch Jesjaja. 3. Band Kapitel 40–66, ZBK AT 19,3, Zürich/Stuttgart 1964, 20 f. Westermann bezieht das Wort „auf die Verheißungen […], die Israel einmal empfangen hat.“ Westermann, Jesaja, 38.
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der ersten Person plural) ist das relationale Gegenstück zu ‚mein Volk‘.283 Das Trösten und das bis in fernste Zeiten gesprochene (Trost-)Wort müssen aufeinander bezogen werden. Das Trostwort hat den Inhalt, dass Israels Schuld bezahlt und die Zeit des Frondienstes vorbei ist. Jetzt beginnt eine neue Zeit, eine getröstete Zeit, in der keine Schuld mehr getragen werden muss. In Ps 103 ist es die Teilhabe an der dauerhaften Gnade JHWHs, welche die kurze Lebensdauer Israels qualitativ wertvoll macht. Auch sie ist zuvorderst mit der Schuldvergebung als erste und bedeutungsvollste Wohltat (Ps 103,3) an Israel gebunden. In Jes 40 ist es die unverbrüchliche Zusage des JHWH-Wortes, sich für fernste Zeiten Jerusalem heilvoll zuzuwenden, da ihre Schuld voll vergolten ist. Gnade und Schuldvergebung stehen also in beiden Texten in einem Zusammenhang. Wie verhält sich dazu die Aussage „Wahrlich, Gras ist das Volk“ (V.7b), die ohne Suffix formuliert ist und deshalb aus der Relation ‚mein Volk‘ und ‚unser Gott‘ herauszufallen scheint? Vers 7b ist eine Zusammenfassung284 der in 6a–7a beschriebenen sterblichen Beschaffenheit des Menschen, welche die vorhergehenden, auf ‚alles Fleisch‘ bezogenen Aussagen auf die Gruppe des Volkes fokussiert. Dem Volk ergeht es wie allem Fleisch, es verdorrt, ‚seine Gnade‘ verwelkt. V.6b ist schwer zu verstehen. In der Forschungsliteratur ist ausgiebig diskutiert worden, wie der Begriff חסדin Jes 40,6 gedeutet werden kann. Um zu einem Verständnis zu gelangen, sind zwei Wege beschritten worden: entweder den der textkritischen Änderung von MT oder die Suche nach einer adäquaten Wiedergabe des polysemen Begriffs חסד. Die LXX und im Gefolge die Vetus Latina verstehen חסדals δόξα ἀνθρώπου/ gloria homini, das Targum gibt ‚ תוקפהוןihre Kraft‘ wieder, 1QJesa verwendet die Pluralform חסדיו, die BHS schlägt ‚ הדרוseinen Schmuck/seine Hoheit‘ oder חמדו ‚sein Begehrenswertes/seine Kostbarkeit‘ vor.285 Elliger übersetzt im Anschluss an Kuyper חסדmit ‚Kraft/Stärke‘ und bezieht sich auf die parallele Verwendung von חסדund ( עזKraft) in Ps 59,17f; 62,12f; Ex 15,3 u. a. Er deutet Jes 40,6 im Kontext der Fremdvölker: Bringt man den par.membr. auf einen Satz, so lautet er: das Fleisch mit all seiner Macht ist wie der Wiesenflor. […] Mit diesem Flor wird „das Fleisch“ verglichen, also nicht nur Israel, sondern ganz allgemein der Mensch, aber natürlich nicht als Abstraktum, sondern wie immer im AT in seinen konkreten Bindungen: die Völker.286
283 Baltzer sieht in dem Ausdruck ‚mein Volk‘ in V.1 die Bundesformel. In Dtjes konstituiert sich das Gottesverhältnis als Bundesverhältnis neu, indem JHWH den Ermöglichungsgrund durch Schuldvergebung anbietet. Vgl. Baltzer, Deutero-Jesaja, 80–82. 284 Elliger hält 7b aus sprachlichen und sachlichen Gründen für eine Glosse: „7b stört nicht nur das Metrum als alleinstehender Halbstichus mitten unter lauten Ganzstichen. Vor allem fällt er sachlich aus dem Zusammenhang heraus“, Elliger, Jesaja II, 4. Zur sachlichen Argumentation siehe unten. Gestützt wird diese Beobachtung durch den Befund, dass 7b in der LXX fehlt und in 1QJesa zwischen den Zeilen nachgetragen ist. Baltzer argumentiert gegen die Glosse, dass das Vokabular Deuterojesaja entspricht; Baltzer, Deutero-Jesaja, 91. 285 Ein detaillierter Überblick der Lesarten findet sich bei Vincent, Studien, 241. 286 Elliger, Jesaja II, 24.
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Bei dieser Deutung ergibt sich allerdings ein Problem mit V.7b: „Wahrhaftig, Gras ist das Volk“. Elliger selbst konstatiert, dass der Begriff ( עםVolk) im Singular in Dtjes „in aller Regel ,das Volk‘, nämlich Israel“287 bedeutet. Er löst diese Diskrepanz, indem er V.7b als sekundäre Fortschreibung ansieht, welche den vorherigen Vers falsch verstanden hat.288 Vers 6b auf die Völker zu beziehen, ist schwierig zu begründen, da auch sonst in den Versen 1–11 nicht explizit gegen diese polemisiert wird. Sie scheinen doch, im Gegenteil, ganz auf die Relation Israel-JHWH und die Rückkehr nach Jerusalem fokussiert zu sein. Auch sind die zahlreichen Vergänglichkeitsmotive im AT nicht speziell verwendet, um die Schwäche der Völker darzustellen, sondern um eine Aussage über das grundsätzlich sterblich geschaffene Wesen der Schöpfung zu machen. Es müsste also erklärt werden, warum die Funktion des Motivs an dieser Stelle anders wäre. Auch Oswalt289 bezieht die Rede von der Vergänglichkeit auf die Völker, die Israel umzingeln, vor allem natürlich auf die Babylonier. Der Prophet versucht, so Oswalt, sie trotz ihrer großen Stärke als menschlich wirken zu lassen, um das verlorengegangene Vertrauen Israels in JHWHs viel größere Macht zu stärken.290 חסדübersetzt er als „dependability“ und macht auf die Schwierigkeit aufmerksam, חסדpräzise wiedergeben zu können.291 Diese Deutung macht zum einen wegen der Übersetzung von חסדSchwierigkeiten, die sehr ungewöhnlich und schwer zu belegen ist, zum anderen kann auch er nicht erklären, warum hier die Völker gemeint sein sollten.292 Jan L. Koole293 argumentiert ausgehend von der Beobachtung des Parallelismus von ( כל בשרalles Fleisch) und ( כל חסדוall seine Gnade), an dem er den Kontrast zwischen JHWHs Dauer und der kurzen Lebenszeit des Menschen herausarbeitet. Er sieht in Jes 40,6–8 eine Entsprechung zu Jes 54,8.10; 55,3 und übersetzt daher mit „favour“ (Gunst, Gnade, Huld).294
287 AaO., 25. 288 „Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist also auch in 7b ,das Volk‘ Israel gemeint. Dann beruht der Satz mindestens insofern auf einem Mißverständnis, als das Vorhergehende gerade Israel eben nicht meint, ist also auch von seinem Inhalt her sekundär […]. Jedenfalls lenkt er nach dem Anfang zurück und hält den Fluß des Gedankenganges unnötig auf.“ AaO., 26. 289 Oswalt, Isaiah, 53. 290 Er bezieht sich hinsichtlich dieser Auslegung auf Jes 30,1–17; ebd. 291 „‚dependability‘ or ‚reliability‘ is appropriate for this term and fits the context well here by contrasting the lack of this trait in humanity as compared with God.“ Ebd. Oswald nimmt die Deutung von Kyper auf, der חסדmit „strength“ übersetzt und in seiner Auslegung in Bezug auf Ps 33,6; Ps 78,39 und Jes 31,3 als Ergebnis festhält: „Since it seems clear that the contrast is being made between God and the people at the point of endurability and dependability, we may use the word strength to render the much-labored חסד.“ Kuyper, Lester J., The Meaning of חסדוISA.XL 6, in: VT 13, 1963, 489–492; 492. 292 Auch er denkt, dass in V.7b Israel gemeint ist, was ihm aber nicht problematisch erscheint. Er stellt fest, dass auch Israel sterblich ist und Rettung nur von JHWH kommen kann. „The prophet wants to make clear that the weakness of humanity applies to Israelites as well as to non-Israelites. Salvation is from God alone.“ AaO., 54. 293 Koole, Jan L., Isaiah. Part 3. Volume 1: Isaiah 40–48, HCOT, Kampen 1997. 294 AaO., 66.
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An dieser Stelle die Deutung von חסדüber Jes 54,7 f.10 und 55,3 vorzunehmen, scheint eine weiterführende Spur zu sein, wobei sich die Frage nach dem literarischen Verhältnis der Texte zueinander stellt. Van Oorschot295 rechnet sie, wie auch Jes 40,6–8, einer Redaktion zu, die er „sekundäre Zionsschicht (R2)“ nennt, welche als prophetische Fortschreibung verstanden wird.296 In ihr verheißt die Redaktion der durch das Exil traumatisierten Hörerschaft „Heil als vollendeten und bleibenden Zustand […] verbunden mit der Vernichtung ihrer Feinde.“297 Um das die Fortschreibung prägende Heil zu charakterisieren, arbeitet er die unterschiedlichen Elemente heraus, welche in den zu R2 zugehörigen Texten zu finden sind. Er nennt u. a. die zeitliche Dimension der Heilszeit, die als עולםbezeichnet wird (Jes 40,8b; 51,8; 54,8; 55,3), bundestheologische Motive (Jes 54,10; 55,3)298 und die Thematik der Vergänglichkeit (Jes 40,6–8; 51,7f; 51,12).299 Als äußerer Rahmen der Fortschreibung fungiert Jes 40,3aα.6–8 und Jes 55,10 f. Beide Texte korrespondieren durch das Thema der „Verläßlichkeit und Wirksamkeit des Wortes Jahwes.“300 Van Oorschot datiert die sekundäre Zionsschicht an den Anfang des 5. Jh., hält aber auch eine mehrphasige Entstehung bis weit in das 5. Jh. hinein für möglich.301 Diese redaktionskritischen Zuschreibungen spiegeln keinen Konsens in der Forschung wider. Die größte Differenz zu vielen Auslegern ist die Konstruktion einer eigenen literarischen Schicht durch das Element der Wirksamkeit des Wortes.302 Auch wenn es plausible Bedenken gibt, ob die thematischen Verbindungen, die van Oorschoot sieht, tatsächlich auf unterschiedliche literarische Schichten hinweisen, die sich thematisch sortieren lassen, sind doch die Beobachtungen auf der synchronen Ebene zutreffend. Für die Auslegung des Begriffes חסד in Jes 40,6b und für die Deutung der Vergänglichkeitsthematik im Jesajaprolog im Vergleich zu Psalm 103 lassen sich folgende Konsequenzen ziehen.
295 Oorschot, Jürgen van, Von Babel zum Zion, Eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung, BZAW 206, Berlin/New York, 1993. 296 AaO., 284. 297 AaO., 284 f. 298 Vgl. aaO., 285. 299 Vgl. aaO., 294. Van Oorschot bezieht das Motiv der Vergänglichkeit in Jes 40,6 auch auf die Feinde und bezieht die Verse mit in die Charakteristik der Feindbesiegung als Merkmal der sekundären Zionsschicht ein. 300 AaO., 292. Zu den Texten der Fortschreibung, die auf das Wort konzentriert sind, zählen auch Jes 51,16 und Jes 50,4f; aaO., 294. 301 Vgl. aaO., 290 f. 302 Eine grundlegende Kritik an Oorschot findet sich bei Hermisson: „Was schließlich V.1–5 [gemeint ist: Jes 55,1–5; Hinzufügung ACF] in J. van Oorschots ‚sekundärer Zionsschicht‘ betrifft, so sind die dieser Schicht zugewiesenen Texte zu disparat und auch von 55,1–5 verschieden, als dass man hier schichtspezifische Züge beobachten könnte.“ Hermisson, Deuterojesaja, 588. Auch er sieht einen Zusammenhang von Jes 40,6–8 zu Jes 55,10f, formuliert aber vorsichtiger: „Man könnte auch diesen Vergleich [gemeint ist Jes 55,10f; Hinzufügung ACF] als ein Pendant zum Prolog mit verdorrendem Gras und welkender Blume sehen, doch bleibt das im Ungefähren. Klar ist der Bezug von 55,10f zu dem Grundsatz „Das Wort unseres Gottes steht auf für immer“ in 40,8.“ AaO., 631.
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Nicht nur das ‚Wort‘ JHWHs wird mit der zeitlichen Qualifikation עולםversehen, sondern auch JHWHs Gnade (Jes 54,8: עֹול֖ם ִ ֽר ַח ְמ ִ ֑תּיְך ָ וּב ֶ ֥ח ֶסד ְ „und mit ewiger Gnade erbarme ich mich deiner“). Israel wird dieser Gnade teilhaftig, weil sie von JHWH unverbrüchlich zugesagt wird (Jes 54,10: א־יָמוּשׁ ֗ ֹ „ וְ ַח ְס ִ ֞דּי ֵמ ִא ֵ ֣תְּך ֽלaber meine Gnade wird von dir nicht weichen“; Jes 55,3: „ ַ ֽח ְס ֵ ֥די ָדִ ֖וד ַהנֶּ ֱא ָמ ִנֽיםmeine Gnade[ntaten] Davids, die beständigen). Gnade und Wort überschneiden sich nicht nur in dieser dauerhaften Einsetzung (Jes 40,8), sondern auch in der Wirksamkeit. In Jes 55,10 werden die Auswirkungen des Wortes beschrieben (Fruchtbarkeits- und Sättigungsmetaphorik)303 und seine Tatkraft (Jes 55,11: ח ֔ ַפ ְצ ִתּי ר ָ שׁ ֣ ֶ ת־א ֲ א ֶ ם־ע ָשׂ ֙ה ָ א י ִ ִ ֤כּ „außer wenn es getan hat, woran ich gefallen habe“). Diese starke, eigene Wirkmächtigkeit des Wortes ist zu vergleichen mit der Wirkmächtigkeit der Gnade JHWHs in Psalm 103,11 und mit den Engeln, die JHWHs Gnadenherrschaft durch ihr Tun, das Wohlgefallen weckt, aufrechterhält (Ps 103,20f). JHWHs Wort und JHWHs Gnade scheinen funktional gesehen in Dtjes und in Ps 103 auf derselben Ebene zu liegen: sie sind Begriffe der Teilhabe an JHWHs Rettungstat, die mit einer Entfernung der Schuld zu tun hat, welche das Leben Israels als erlöstes ( )גאלqualifiziert. In Jes 40,6b ist nicht von JHWHs Gnade die Rede, sondern von der menschlichen Gnade. Die Rede von der sterblichen Gnade des Menschen könnte bedeuten, dass der Mensch nicht in der Lage ist, aus eigener Gnade zu leben. Leben in diesem Sinne ist gleichzusetzen mit einem erlösten und von Schuld befreiten Leben, das durch JHWHs Gnade dauerhaft und verlässlich an ihn gebunden ist (Jes 55,3aβb): עֹולם ַ ֽח ְס ֵ ֥די ָדִ ֖וד ַהנֶּ ֱא ָמ ִנֽים׃ ָ ֔ וּת ִ ֣חי נַ ְפ ְשׁ ֶכ֑ם וְ ֶא ְכ ְר ָ ֤תה ָל ֶכ ֙ם ְבּ ִ ֣רית ְ ִשׁ ְמ ֖עוּ3 Hört, dass eure Seele lebt. Ich will mit euch einen Bund für fernste Zeiten schließen, meine Gnade[ntaten] Davids [genitivus objectivus], die beständigen.
Das Volk Israel (Jes 40,7b) ist das sterbliche, nichtige Volk, das wie eine Blume vergeht. Aber das getröstete JHWH-Volk, das mit „mein Volk“ gerufen wird und sich an das Wort „unseres Gottes“ hält, wird in seiner Sterblichkeit an JHWHs Gnade und an JHWHs Wort lebendig sein. Ps 103 erweist sich in hohem Maße an die Theologie Deuterojesajas anschlussfähig, weil die Vergänglichkeitsmetaphorik weniger auf dem Differenzgedanken, sondern mehr auf dem Teilhabegedanken beruht. Die Gnadentheologie, die in Deuterojesaja noch mit der Worttheologie verbunden ist, ist in Psalm 103 zur dominierenden Größe geworden. In beiden Texten handelt es sich in der Verwendung des Vergänglichkeitsmotivs nicht um eine Klage, anders als in Ps 102, sondern um die Darstellung der Relation JHWH –
303 Baltzer weist darauf hin, dass dem Wort „Schöpfungsqualitäten“ zukommt; Baltzer, Deuero-Jesaja, 91.
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Volk, die durch den Gedanken der Teilhabe schon eine Antwort auf den Zustand der Vergänglichkeit gibt.304 Eine ebenso heilvolle Zuwendung JHWHs, bezogen auf eine kurze Lebenszeit, beschreibt Ps 90. c) Psalm 90 Ps 90 ist ein weisheitlich geprägter Psalm, der eine intensive Auseinandersetzung mit der conditio humana in Beziehung zu JHWH zeigt.305 Der Psalm hat in seiner Endgestalt einen kunstvollen Aufbau, der konzentrisch angeordnet ist. Im Zentrum stehen die Vv.11f mit der Bitte um ein weises Herz. Daran gruppieren sich vom Mittelpunkt bis zum äußeren Rahmen jeweils drei Strophen, die thematisch komplementäre Entsprechungen aufzeigen. Die Vv.7–10 und die Vv.13–14 benennen die Klage über den Zorn JHWHs und die Bitte um seine Gnade. In den Vv.3–6 wird die Kürze des menschlichen Lebens beschrieben, in den Vv.15–16 um JHWHs zugewandte Nähe für Generationen gebeten. Die Vv.1b–2 und V.17 bilden einen äußeren Rahmen, der ein Bekenntnis zu JHWHs ewigem Schutz für eine WirGruppe beinhaltet, sowie die Bitte, JHWH möge über diese Wir-Gruppe seinen Glanz legen.306 Die in sich kohärente Komposition bietet guten Grund, den Psalm als einheitlich zu betrachten.307 Die Exegeten, die eine Einheitlichkeit anzweifeln, nehmen zumeist einen Grundpsalm in den Vv.1–2 an und eine (mehrstufige) Erweiterung in den Vv.13–17. Als Gründe werden z. B. der durch die Schlussbitte geschlossene Charakter der Vv.1–12 angegeben, die zudem eine stark weisheitliche Terminologie aufweisen. Die Vv.13–17 führen dagegen mit der Gruppe der „Knechte“ eine Thematik ein, die auf Zion und die Völker fokussiert ist.308 Verschie304 In diese Richtung denkt auch Elliger: „Jedenfalls ist das Bild vom Gras, das verdorrt, nicht ausschließlich Klagemotiv. Es wird ebenso in der Weisheit verwandt: Ps 372 Hi 812 oder in der Verwünschung: Ps 1296 oder im Hymnus: Ps 10315 f. Das Moment der Klage, der Resignation ist ihm offenbar nicht immanent, seinen spezifischen Ton bekommt es immer erst aus dem Zusammenhang.“ Elliger, Jesaja II, 9. 305 Vgl. zur Schwierigkeit, ihn einer Gattung zuzuordnen, Schnocks, Vergänglichkeit, 133–139. 306 Vgl. zur konzentrischen Struktur des Psalms z. B.: Kartje, John, Wisdom Epistemology in the Psalter. A Study of Psalms 1, 73, 90, and 107, BZAW 472, Berlin/Boston 2014, 121; Hossfeld/Zenger, Psalmen, 607. 307 So z. B. Oeming, Psalmen, 18; Schnocks, Vergänglichkeit, 212; Kraus, Psalmen, 795; Seybold, Klaus, Psalm 90 und die Theologie der Zeit (Zeiten), in: Ders., Studien zu Sprache und Stil der Psalmen, BZAW 415, Berlin/New York 2010, 129–143; 130 f. Allerdings nimmt Seybold Umstellungen im Psalm vor: „So gehört, kurz gesagt, V.4 nach vorn zu V.2, der seinerseits wohl den ursprünglichen Anfang gebildet hat, während V.1 eigentlich und dem Sinne nach ganz ans Ende gehört.“ AaO., 132. 308 Vgl. zu dieser Argumentation: Hossfeld/Zenger, Psalmen, 607 f. Brandscheidt sieht einen Grundpsalm mit den Vv.1b–2.3–4a.7–9.11–12.13–14.16, eine erste Erweiterung in Vv.5–6.10.15 und eine zweite Erweiterung in Vv.4b.17aα.17aβ.b. Vgl. Brandscheidt, Unsere Tage, 4. Kartje hält die Vv.13–17 für sekundär, da sich die Bitte, JHWH möge wieder zurückkehren (V.13), auf eine aktuelle Krisensituation bezieht, während die Vv.1–12 die generelle menschliche Sterblichkeit thematisieren. Vgl. Kartje, Wisdom, 122.
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dene Auffassungen gibt es auch zur Frage der Datierung des Psalms, die vor allem darin begründet sind, wie die unterschiedlichen Traditionen gewichtet werden. Schnocks argumentiert über die weisheitlichen Traditionen, die in der Nähe zum Koheletbuch anzusiedeln sind, und datiert Psalm 90 an den Anfang des 3. Jhs. v. Chr.309 Auch Zenger spricht sich für das weisheitliche Profil als Kriterium zur Datierung des (Grund-)Psalms aus, hält ihn aber für älter als Kohelet (5./4. Jh.). Die Erweiterung setzt er in Bezug zur Formation des vierten Psalmenbuches, „näherhin mit der Schaffung der Teilkomposition Ps 90–92 als Ouvertüre zu der dann folgenden Komposition der JHWH-König-Psalmen 93–100.“310 Seybold orientiert sich an der Relevanz der Terminologie: „das Werk unserer Hände“ (V.17), die er mit dem Tempelbau in Verbindung bringt und daher zu dem Schluss kommt, dass Psalm 90 „anlässlich des Wiederaufbaus […] des zweiten Jerusalemer Tempels verfasst worden“ ist.311 Die späteste Datierung findet sich bei Brandscheidt, die sowohl die Grundschicht als auch die Erweiterungen mit der historischen Situation der Ptolemäer- und Seleukidenherrschaft in Palästina in Einklang bringt. Sie ordnet die Verfasser von Psalm 90 in „apokalyptisches Denken verhaftete Kreise“312 ein und bringt die sog. maskilim zur Sprache, die „Verständigen“, die im Danielbuch thematisiert werden.313 Thematisch liegt in Psalm 90 wie auch in Ps 102 ein Zeitkonzept zugrunde, das über 20 Zeitbegriffe aufweist und sich vor allem über die Begriffe Tag ( )יוםund Jahr ( )שנהkonstituiert.314 Die ersten zwölf Verse von Ps 90 stellen den Umstand der Sterblichkeit in der schon beschriebenen Metaphorik von Menschenzeit und Gotteszeit dar. Auch hier werden die fernsten Zeiten JHWHs in Relation zur menschlichen Vergänglichkeit gesetzt (Vv.2–3). Aber bei diesem Gedanken bleibt der Psalm nicht stehen, sondern beschreibt ausdrücklich die Konsequenz, die sich daraus ergibt. Nur im Vergleich zur Überzeitlichkeit JHWHs ist es den Menschen möglich, ihre eigene Lebenszeit als begrenzt wahrzunehmen und sie dementsprechend wertzuschätzen. Der Schwerpunkt der Auslegung, um die Bedeutung der Vergänglichkeit in Ps 90 zu erfassen, soll auf den Vv.12–17 liegen. Gerade das Verhältnis von Zorn und Gnade sowie die Bedeutung an der Teilhabe an der Gnade im Kontext der Sterblichkeit sind von Interesse, um Ps 90 mit Ps 103 zu vergleichen. Ps 90,11–17: אָת ָ֗ך ֶע ְב ָר ֶ ֽתָך׃ ְ אַפָּ֑ך וּ ְ֝כיִ ְר ֶ מי־י ֭ ֵֹוד ַע ֣עֹז ֽ ִ 11 הֹודע וְ ֝נָ ִ֗בא ְל ַ ֣בב ָח ְכ ָ ֽמה׃ ֑ ַ ִל ְמנ֣ ֹות ָי ֵ֭מינוּ ֵכּ֣ן12 ל־ע ָב ֶ ֽדיָך׃ ֲ ד־מ ָ ֑תי וְ ִ֝הנָּ ֵ֗חם ַע ָ שׁוּבה ְי֭הוָ ה ַע ֣ ָ 13 309 Vgl. Schnocks, Vergänglichkeit, 271. 310 Hossfeld/Zenger, Psalmen, 608. 311 Seybold, Psalm 90, 131. 312 Brandscheidt, Unsere Tage, 31. 313 Ebd. 314 Vgl. Seybold, Klaus, Zu den Zeitvorstellungen in Psalm 90, in: Ders., Studien zur Psalmenauslegung, Stuttgart 1998, 147–160; 148.
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ל־יָמינוּ׃ ֽ ֵ ַשׂ ְבּ ֵע֣נוּ ַב ֣בֹּ ֶקר ַח ְס ֶ ֑דָּך וּֽ נְ ַרנְּ ָנ֥ה וְ ֝נִ ְשׂ ְמ ָ֗חה ְבּ ָכ14 יתנוּ ְ֝שׁנ֗ ֹות ָר ִ ֥אינוּ ָר ָ ֽעה׃ ֑ ָ ִימֹות ִענּ ֣ שׂ ְמּ ֵחנוּ ִכּ ֭ ַ 15 יהם׃ ֽ ֶ ֵל־בּנ ְ ל־ע ָב ֶ ֣דיָך ָפ ֳע ֶלָ֑ך וַ ֲ֝ה ָד ְר ָ֗ך ַע ֲ יֵ ָר ֶ ֣אה ֶא16 :שׂה ָי ֵ֭דינוּ כֹּונְ ָנ֥ה ָע ֵל֑ינוּ וּֽ ַמ ֲע ֵ ֥שׂה ָי ֵ ֗֝דינוּ כֹּונְ ֵנֽהוּ ֣ ֵ וּמ ֲע ַ ֹלהינוּ ֫ ָע ֵ ֥לינוּ ֵ֗ יהי ֹ֤נ ַעם ֲאד ָֹנ֥י ֱא ֤ ִ ִ ו17 11 Wer kennt die Kraft deines Zornes und entsprechend der Furcht vor dir deinen Grimm? 12 Zu zählen unsere Tage, so lasse (uns) wissen, dass wir ein weises Herz einbringen. 13 Kehre um, JHWH – wie lange (noch) – und erbarme dich über deine Knechte. 14 Sättige uns am Morgen (mit) deiner Gnade, dass wir jubeln und uns freuen an allen unseren Tagen. 15 Erfreue uns entsprechend der Tage, (an denen) du uns bedrückt hast, (entsprechend) der Jahre, (in denen) wir Böses gesehen haben. 16 Es soll sichtbar werden an deinen Knechten dein Werk und dein Glanz über ihren Kindern. 17 Es sei die Freundlichkeit des Herrn, unseres Gottes, über uns, und das Werk unserer Hände befestige über uns, und das Werk unserer Hände befestige.
Der Zorn JHWHs, dessen Ausmaß von Menschen nicht voll erkannt werden kann, steht in engem Zusammenhang mit der Sterblichkeit. In Vv.7f wird der Bezug explizit hergestellt (Stichwortbezug zu V.11 durch )אף, indem auf die Schuldigkeit des Menschen verwiesen wird. Das „vor sich Stellen der Schuld“ ist ein Terminus aus der Rechtssprache, der besagt, dass die Schuld zum Ankläger wird.315 Jeremias beschreibt die Kausalität von Schuldigkeit, Zorn und Sterblichkeit: Weil vor Gott kein Mensch gerecht ist und schon gar nicht ohne Schuld, wenn Gott selbst das verborgenste Denken und Handeln der Menschen anschaut, ist die Kürze des Lebens und mit ihr der Tod Wirkung des göttlichen Zorns über das Scheitern der Menschen.316
Das Nichtbegreifen der Zorneskraft, von der V.11 spricht, hängt vermutlich mit dem sich selbst Verborgensein der Beter zusammen. Sie selbst haben keinen Überblick über ihre Moralität im Lichte JHWHs, so dass der Zorn ein willkürliches Moment
315 Vgl. Brandscheidt, Unsere Tage, 21. Sie sieht auch V.3 im Kontext des Gerichtes über Israel, da sie die Wurzel ( דכאzermalmen) als Gerichtshandeln JHWHs deutet, so dass es „um den Aufweis der Durchsetzungskraft Gottes gegenüber dem Sünder, dessen Selbstherrlichkeit keinen Bestand hat und mit dem Tod endgültig zunichte gemacht wird“, geht. AaO., 14. 316 Jeremias, Jörg, Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung, BThSt 104, Neukirchen-Vluyn 2009, 25.
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bekommt.317 Von daher wird V.12 verständlicher, der die Bitte beinhaltet, von JHWH hinsichtlich des Zählens der Tage belehrt zu werden, um ein weises Herz zu erlangen. Zunächst hat das Zählen der Tage von seinem Nahkontext her etwas mit dem Annehmen der Sterblichkeit zu tun und dies wiederum führt zu einem besseren Verständnis des göttlichen Zorns. Der Wunsch, JHWH möge das Zählen lehren (Hapax legomenon), trägt allerdings in Verbindung mit dem weisen Herzen noch eine tiefergehende Bedeutung in sich. Kartje hat das Lexem ( מנהzählen) ausgewertet und hebt hervor, dass es z. B. gebraucht wird, um eine Form des Zählens auszudrücken, das nur JHWH beherrscht (z. B. in Gen 13,16 das Zählen der Sterne).318 Es geht dabei weniger um das Feststellen einer korrekten Anzahl, sondern mehr um den Überblick über die von JHWH eingesetzte Ordnung.319 Die Beter bitten daher um eine Einsicht, welche die große Distanz zwischen JHWH und seinen Geschöpfen durch Teilhabe an JHWHs Weisheit verringert. Eine enge Parallele, die in diesem Sinne gelesen werden kann, findet sich z. B. in 1Kön 3,9, wo Salomo um ein hörendes Herz bittet, damit er zwischen gut und böse unterscheiden kann. Ihm wird von JHWH ein weises und verständiges Herz gegeben, das ihm eine Erkenntnis verleiht, die niemand vor und nach ihm haben wird.320 Weisheit verleiht eine Sonderstellung, da spezielles JHWH-Wissen auf Einzelne übertragen, bzw. von JHWH an Einzelne weitergegeben wird. In Ps 90,12 geht es also um sehr viel mehr, als um die Erkenntnis des Sterben-Müssens und die damit verbundene Hochschätzung der einzelnen Lebenstage. Es geht um ein Verständnis der von JHWH eingesetzten Schöpfungsordnung, welches als Teilhabe an JHWHs Weisheit begriffen werden kann. Der Grund besteht im Wunsch einer heilbringenden Nähe zwischen JHWH und den Betern, die durch Schuld und Zorn verhindert worden ist.321 Diese Nähe ändert das Faktum der Vergänglichkeit nicht, sie ändert aber die Lebensqualität der gegebenen Zeit. Im Vergleich zu Ps 103 ist ein kurzer Blick auf die Wurzel ( ידעerkennen/wissen) interessant. In Psalm 103 weiß ( )ידעJHWH um das Gebilde seiner Schöpfung und gedenkt, dass sie Staub ist. Auch hier ist das Wissen vordergründig auf die Vergänglichkeit des Menschen
317 „Wichtig ist hier das Element der Unberechenbarkeit. Es ist Gott selbst, der nicht nur die (bekannten) Sünden der Beter vor sich stellt, sondern der auch Verborgenes – die Parallelen lassen hier besonders an dem Täter unbewusstes Fehlverhalten denken – ans Licht bringt.“ Schnocks, Vergänglichkeit, 174. 318 Vgl. Kartje, Wisdom, 132–137. 319 AaO., 130 f. 320 Vgl. zur Funktion des Herzens und zur Motivik des weisen Herzens Kuroyanagi, Yukihito, Vergänglichkeit des Menschen und Gottes Zeit. Die Theologie der Zeit in Psalm 90 im Vergleich mit Kohelet, Dissertationsschrift, München 2013, 113–125. Er macht auch auf den Gabecharakter aufmerksam: „Das weise Herz ist dem Menschen unverfügbar, es ist ein Geschenk Gottes.“ AaO., 122. 321 Diesen Punkt übersieht Wahl, der V.12 als „Hermeneutik des Todes“ deutet und ihn dementsprechend paraphrasiert: „Zu begreifen, daß der Mensch der Endlichkeit verfallen ist, lehre doch!“ Wahl, Harald Martin, Ps 90,12: Text, Tradition und Interpretation, in: ZAW 106 (1994), 116–123; 121 f.
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bezogen, hintergründig leitet es zur Konsequenz des Erkannthabens über, nämlich zur Gnade als Ausgleich für die kurze Lebenszeit. Diese Gedankenführung ist auch in Ps 90 zu erkennen, da sich in den Vv.13f die Bitte um JHWHs Gnade anschließt. Die Beter erbitten JHWHs Rückkehr und sein Erbarmen. Die Rede von der Rückkehr knüpft durch Stichwortbezug an V.3 an.322 Das als Zorneshandeln JHWHs gedeutete Sterben-Lassen wäre in diesem Fall eine Abkehr JHWHs von seinem heilvollen Zugewandt-Sein. Die Rückkehr ist demnach als die erneute Zuwendung in göttlichem Erbarmen anzusehen. Das Erbarmen wird in V.14 durch das Sättigen mit Gnade am Morgen expliziert. Wie in Ps 103,5, dem Sättigen mit Gutem, kann auch hier eine im Hintergrund stehende Tempeltheologie angenommen werden.323 Der Morgen ist doppeldeutig zu verstehen: Zum einen verweist er in Ps 90 auf V.6, auf das Gras, das am Morgen blüht und am Abend verwelkt.324 Zum anderen ist er verbunden mit dem aufgehendem Licht und damit der lebensförderlichen Kraft, die von JHWH kommt.325 Als Reaktion auf das Sättigen mit Gnade wird in Ps 90,14f die Freude der Menschen genannt. Der Terminus der Freude ( )שמחweist kultische und weisheitliche Konnotationen auf.326 In den Psalmen ist er mit dem Herzen verbunden (Ps 4,8; 16,9; 19,9; 33,21; 86,4; 97,11; 104,14; 105,3), so dass in Ps 90,14f ein Rückbezug auf V.12 vorliegt. Die Weisheit des weisen Herzens besteht darin, dass es nicht nur sein Vertrauen auf JHWHs gnädiges Eingreifen setzt, sondern auch in der Lage ist, verspürte Freude auf JHWHs Schöpfungs- und Rettungstaten zurückzuführen327 und in Relation zum eigenen, vergänglichen Dasein zu setzen.328
322 So Schnocks, Vergänglichkeit, 176; Brandscheidt, Unsere Tage, 27. Sie spricht an dieser Stelle von einer göttlichen Heilswende, welche das Zornesgericht überwindet. 323 Ps 65,5 „Sättigen wollen wir uns am Guten deines Hauses“. Vgl. dazu auch Keel, altorientalische Bildsymbolik, 165. Seybold denkt an einen Frühgottesdienst, vgl. Seybold, Psalmen, 360. 324 „Auf diese Weise wird auch in diesem optimistischen Abschnitt des Psalms nicht geleugnet, daß auf einen blühenden Morgen im Leben der Abend des Vergehens folgt.“ Schnocks, Vergänglichkeit, 176. 325 „der Morgen ist hier Metapher der das nächtliche Unheil und den Tod beendenden Lebensmächtigkeit Gottes“, Hossfeld/Zenger, Psalmen, 612. Keel zeigt den Zusammenhang von Licht, Leben und Sättigung als Vokabular der göttlichen heilvollen Zuwendung, vgl. Keel, Bildsymbolik, 165– 168. Hartenstein spricht in seiner Auslegung zu Ps 27 hinsichtlich der Sättigung in Kombination mit dem Motiv von Fülle von „höchster Lebensintensität“, zu der auch der Freudenjubel gehört. Hartenstein, Angesicht, 96 f. 326 Dtn 12,7.12.18; 14,26; 16,11.14; 26,11; 27,7 u. a. m. 327 Christine Abart hat das Motiv der Freude anhand des Lexems שמחuntersucht und stellt fest, dass die Freude, die im Herzen verspürt wird, sowohl „reflektierte“ Freude sein kann als auch „spontane Emotion“ (132). Sie zeigt sich häufig, nachdem durch JHWH Grundbedürfnisse wie Hunger oder Durst befriedigt worden sind (127). Abart, Christine, Lebensfreude und Gottesjubel. Studie zu physisch erlebter Freude in den Psalmen, WMANT 142, Neukirchen-Vluyn 2015. 328 Darauf weist Janowski hin, der die in der Weisheit verortete Verbindung von Sättigung und Freude anhand des Carpe-Diem-Motivs in Kohelet 9,7–10 auslegt, vgl. Janowski, erschöpftes Selbst, 128–130. An dieser Stelle erörtert er auch das Gegenmotiv in Ps 102, das in der Klage des Beters über „Staubbrot und Tränentrank“ besteht. AaO., 130. Der Wunsch in Ps 90, mit Gnade gesättigt zu werden und dadurch an jedem Morgen Freude zu empfinden, entspricht dem Klageteil in Ps 102,10–12.
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Eine Auffälligkeit in Ps 90 ist der ab V.13 zu beobachtende Wechsel innerhalb der Benennung der Beter, die nun als „Knechte“ bezeichnet werden. Diese Benennung schafft nicht nur einen Bezug zu Ps 102,15, sondern auch zu Ps 86,4f329 und 89,50f: In beiden (Davids-)Psalmen wird um JHWHs Gnade ( )חסדgebeten. Schnocks sieht in der Verwendung des Begriffes „Knechte“ keinen zwingenden Grund, das Werk eines Redaktors anzunehmen, da sie in der Reihenfolge der genannten Gruppen im Psalm – „Menschen“, „Wir“, „Knechte“ – eine Identifikation darstellt, welche die Beziehung der Beter zu JHWH spezieller charakterisiert: Diese Verhältnisbestimmung ist in der Leserichtung des Psalms erst nach den Aussagen der vv.11f möglich und stellt den Ausgangspunkt für die weiteren Bitten um die göttliche Zuwendung dar. Dabei gibt es im Text weder einen Hinweis darauf, daß diese Identifikation einschränkend verstanden werden müßte, so daß nun etwa nicht mehr von „den Menschen“, sondern nur noch von Israel die Rede sei, noch wird man umgekehrt hier die explizite Aussage sehen dürfen, daß alle Menschen sozusagen anonyme Knechte JHWHs seien.330
Die Vv.16–17 zeigen eine Weiterentwicklung der Thematik der JHWH-Nähe, die den Gedanken der Teilhabe an JHWH-Qualitäten, der schon in der Bitte um Weisheit angeklungen ist, vertieft. Der Psalm endet in einer Konzentration auf das Wirken JHWHs innerhalb der Lebenszeit der Psalmbeter, das eine Befestigung des Lebenswerkes beschreibt und seine Stabilität durch die kultische Präsenz JHWHs gewinnt. In V.16 wird darum gebeten, JHWH möge sein Werk sehen lassen. Der Begriff פעלfür das göttliche Wirken ist viel seltener als der Begriff מעשה/עשה. In den Psalmen bezeichnet der Begriff speziell die Rettungstaten JHWHs, die mit Gnade
Die Zweigliedrigkeit von Vertrauen in JHWH bei gleichzeitiger Erkenntnis der von Schuld und Sterblichkeit geprägten menschlichen Existenz weist nicht nur der Begriff der Weisheit aus, sondern auch der Begriff der Gottesfurcht (Ps 90,11): „Vielmehr ist die ‚Furcht Gottes‘, die gleichzeitig ein Wissen vom Abstand zwischen Gott und Mensch und ein Vertrauen in Gott impliziert und die daher ‚das Kopfstück der Erkenntnis‘ (Spr 1,7) ist, Voraussetzung solcher Einsicht.“ Jeremias, Zorn, 26. Das Stichwort der Gottesfurcht, verbunden mit der Erkenntnis über JHWH und der vergänglichen conditio humana, verbindet Ps 90 mit Ps 103. Allerdings verläuft in Ps 103 die Argumentation im Prozess der Erkenntnis über die Gnade, nicht über den Zorn wie in Ps 90,11. 329 Auch die Bitte „Erfreue die Seele deines Knechtes“ ( שמחPs 86,4), das tägliche Rufen nach Gnade (Ps 86,3) und die Bitte um Weisung des Herzens zur Gottesfurcht (Ps 86,11) sind Verbindungslinien zwischen Ps 86 und Ps 90. 330 Schnocks, Vergänglichkeit, 176. In Psalm 103 stellt sich ein ähnliches Problem mit der Nennung der verschiedenen Gruppen – „einzelne Seele“, „Wir“, „JHWH-Fürchtige“ – dar. Auch hier legt es sich nahe, Schnocks zuzustimmen, darin keinen Indikator für redaktionelles Wachstum zu sehen, sondern Relationsbezeichnungen. Es ist auffällig, dass es in beiden Psalmen um den Erkenntnisprozess von JHWHs Handlungsoptionen und der Bedürftigkeit der Beter im Psalm geht. Die Knechte, wie auch die Gottesfürchtigen, setzen ihr Vertrauen auf JHWH und haben somit eine Form von Kenntnis über JHWH erlangt. Auch in dieser Hinsicht scheint Schnocks für Ps 90 Recht zu haben, dass von der Logik des Psalms erst mit den Vertrauens- und Erkenntnisbitten nach V.11 der Titel „Knecht“ einen Sinn ergibt.
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und Macht verbunden sind (Ps 74,12; 31,20; 68,29; 44,2; 77,13). In Ps 104,23 ist der Terminus für das menschliche Tun gebraucht, nämlich für die tägliche Arbeit, die als „schöpfungsgemäße Aufgabe des Menschen verstanden werden“331 kann. Aus anthropologischer Perspektive passt der Begriff zum Appell an JHWH, er möge das menschliche Werk fördern, indem er seine Werke sehen lässt und durch seine Rettungstat ermöglicht, dass seine Geschöpfe ihren zugewiesenen Auftrag innerhalb der Schöpfung ausführen können. In diese Richtung verweist auch die Bitte in V.17, JHWH möge das Werk der Hände ‚über uns befestigen (‘)כון. Das Lexem כוןim Hifil und Polel wird im Kontext von Schöpfungsaussagen gebraucht, meint aber kein originäres Schaffen, sondern „ein Ausstatten und Zurüsten bereits erstellter Größen“332. Das Befestigen des menschlichen Werkes kennzeichnet daher eine Form von Mitwirkung bei der verantwortlichen Aufrechterhaltung der von JHWH eingesetzten Schöpfungsordnung.333 Es stellt sich allerdings die Frage, warum die Präposition „über“ ( )עלin diesem Zusammenhang verwendet wird. Dies könnte in Verbindung mit der Bedeutung von כוןals Befestigung des himmlischen Thrones und damit als Symbol der universalen Königsherrschaft JHWHs, wie sie z. B. in Ps 103,19 und Ps 93,2 vorliegt, zu erklären sein. Der im Himmel situierte Herrschersitz JHWHs garantiert nicht nur die zeitliche Dauerhaftigkeit, die in Ps 102 und Ps 103 durch den Begriff der fernsten Zeiten ( )עולםsymbolisiert wird, sondern auch die räumliche und qualitative Stabilität der Schöpfung, in welcher das Tun der Menschen seinen festen Platz hat. ‚Über uns befestigen‘ bedeutet in diesem Sinne, in JHWHs ewiger und gnadenvoller Herrschaft verankert zu werden. Diese Vermutung wird auch durch die Schlussbitte ‚Es sei die Freundlichkeit/ Schönheit ( )נעםunseres Herrn über ( )עלuns‘ gestützt, der traditionsgeschichtlich in die königliche Audienzszenerie einzuordnen ist.334 Hartenstein verweist in diesem Kontext auf Ps 16,11b335 und hält fest, dass es darum geht, dem Königsgott JHWH „von Angesicht zu Angesicht“ zu begegnen und in dessen Sphäre an Fülle und Segen zu partizipieren.336
Obwohl in den Vv.14–17 überwiegend Vokabular und Motive aus dem kultischen Bereich vorliegen, muss es nicht unbedingt notwendig sein, das „Werk unserer Hände“ konkret als Bau des zweiten Tempels zu verstehen, wie Seybold vorschlägt.337 Es scheint doch stärker der Gedanke der Partizipation an JHWHs
331 Vgl. dazu Krüger, Das Lob, 291. 332 Koch, Klaus, Art. כון, in: ThWAT IV, Stuttgart u. a. 1984, 103 f. 333 Vgl. zu diesem Gedanken Hossfeld/Zenger, Psalmen, 613; Brandscheidt, Unsere Tage, 30. 334 Vgl. Hartenstein, Angesicht, 103–111. 335 „Sättigung an Freuden bei deinem Angesicht, Wonnen/Schönheit/Huld in deiner Rechten für immer!“ Übersetzung von Ps 16,11b aus: AaO., 127. 336 Ebd. 337 „Damit scheint es nur ein Schritt noch zu der Vermutung, dass mit dem ,Werk unserer Hände‘, das ,gefestigt‘ werden soll, eben der neue Tempel gemeint ist.“ Seybold, Psalm 90, 138.
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Gnade im Vordergrund zu stehen, der die kurze Lebenszeit aufwertet. In Ps 90 realisiert sich diese Aufwertung in der Erkenntnis und der Annahme der asymmetrischen Relation zwischen JHWH und den Betern und in der durch JHWH geförderten Schaffenskraft der Beter. Beide Kategorien, Erkenntnis und Tat, sind explizit als Gaben JHWHs zu verstehen, die einen Anteil an seinen eigenen Handlungseigenschaften darstellen und so Gnade und Ewigkeit in der kurzen Lebenszeit der Beter erfahrbar machen. Eine grundsätzliche Einordnung der Sterblichkeit des Menschen im Prozess von Werden und Vergehen innerhalb des Schöpfungshandelns JHWHs ist in Ps 104 zu erkennen. d) Psalm 104 In dem Hymnus Ps 104338 wird detailliert die Ordnung beschrieben, die JHWH für seine Geschöpfe geschaffen hat. Jedes einzelne Lebewesen hat seinen Lebens-
338 Auch für Ps 104 gibt es unterschiedliche Ansätze in der Bewertung der Einheitlichkeit des Psalms. Annette Krüger spricht sich in ihrer Monographie zu Ps 104 dafür aus, den Psalm, außer den Rahmenteilen (Vv.1a.35b), als kohärent zu lesen. Sie begründet dies in ihrer grammatischen und poetischen Analyse, die ergeben hat, dass einige Auffälligkeiten, die gerne als literarkritisches Argument herangezogen werden, stilistisch und thematisch plausibel in die Struktur von Ps 104 eingebunden sind (62–64). Sie datiert den Psalm wegen der Stichwortbezüge, die abhängig von Gen 1 sind, als nachexilisch, aber zeitlich vor dem Hiobbuch, da sie eine Abhängigkeit des Hiobbuches von Ps 104 feststellt (447f). Vgl. Krüger, Lob. Einheitlichkeit wird weiter angenommen von Goldingay, Psalms, 181f und Kraus, Psalmen, 879f, der aber eine vorexilische Entstehungszeit nicht für ausgeschlossen hält (881). Spieckermann erkennt einen Grundpsalm, der JHWH als Herrn über den Kosmos beschreibt und die Ordnung der Welt bewahrt (Vv.1aβ–4.10 f.14–18.20–23.24aαb.27–29a.30.33). In ihm sind „Theophanie-, Schöpfungs-, weisheitliche Ordnungs- und Echnaton-Tradition eingeflossen, ohne daß eine der theologischen Vorgaben das Profil des Textes bestimmen würde.“ (46). Dieser ist aufgrund der hohen theologischen Reflexionskraft am vorexilischen Jerusalemer Tempel entstanden (48). Erweitert wurde er dann von einem nachexilischen Redaktor, der die Thematik der prima creatio in den Psalm nachträglich einschreibt. Er verwendet dazu priesterschriftliche und späte weisheitliche Motive (49). Spieckermann, Heilsgegenwart. Auch Hossfeld nimmt einen Grundpsalm an, der im Wesentlichen der Rekonstruktion von Spieckermann entspricht, der redaktionell erweitert worden ist (75). Er führt außer der theologischen Differenzierung zwischen creatio prima und creatio continua (conservatio und gubernatio) auch den sprachlichen Wechsel von hymnischen Partizipien und perfektischen Verbalformen an (73). Die nachexilische Redaktion hat den Psalm an Ps 103 angeglichen und die beiden Psalmen zu einem Diptychon ausgebaut (88). Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen. Die detaillierteste Wachstumsgeschichte findet sich bei Köckert, der ein dreistufiges Wachstum annimmt. Der Grundpsalm besteht aus einer partizipialen Reihung aus der Königszeit. Sie umfasst die Vv.2b–4.10–13a.14 f.32 und ist durch die Wettergott-Thematik miteinander verbunden (263f). Die partizipiale Reihung wird durch eine Du-Schicht erweitert (Vv.1aβ–2a.20–24a.c.27–29a.30 „wahrscheinlich aber auch V.31.33–34“) (269f). Schließlich gibt es eine nachexilische Fortschreibung, die, wie Spieckermann herausgearbeitet hat, die creatio prima einarbeitet. Dazu kommen redaktionelle Angleichungen an die Nachbarpsalmen. Vgl. Köckert, Manfred, Literargeschichtliche und redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zu Ps 104, in: Kratz, R. u. a. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift. FS für O.H. Steck, BZAW 3000, Berlin 2000, 259–279.
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raum, seine Lebenszeit und seinen Lebensgrund von JHWH zugeteilt bekommen und lebt ganz und gar durch seine Zuwendung als Schöpfer. Der Psalmist preist in Ps 104 die gottgewollte, idealtypische Welt, die jedem Orientierung bietet und den Ort angibt, wo jedes Leben hingehört. JHWH gilt als Garant dieser lebensschaffenden Ordnung und wird vom Psalmisten gepriesen, der auch sein Leben nur von der Zuwendung Gottes her verstehen kann.339
Auch das Sterben der Geschöpfe wird in diese umfassende Ordnung eingegliedert und auf JHWH zurückgeführt. Ps 104,27–30: אָכ ָל֣ם ְבּ ִע ֽתֹּו׃ ְ ֻ֭כּ ָלּם ֵא ֶל֣יָך יְ ַשׂ ֵבּ ֑רוּן ָל ֵ ֖תת ִתּ ֵ ֣תּן ָ ֭ל ֶהם יִ ְלק ֹ֑טוּן ִתּ ְפ ַ ֥תּח ָֽ ֝י ְד ָ֗ך יִ ְשׂ ְבּ ֥עוּן ֽטֹוב׃ שׁוּבוּן׃ ֽ ְל־ע ָפ ָ ֥רם י ֲ ַתּ ְס ִ ֥תּיר ָפּנֶ ֮יָך יִ ָֽבּ ֵ֫הל֥ וּן תּ ֵ ֹ֣סף רוּ ָ֭חם יִ גְ וָ ֑עוּן ְ ֽו ֶא :ְתּ ַשׁ ַלּ֣ח רוּ ֲ֭חָך ָיִבּ ֵר ֑אוּן וּ ְ֝ת ַח ֵ ֗דּשׁ ְפּ ֵנ֣י ֲא ָד ָ ֽמה
27 28 29 30
27 Sie alle warten auf Dich, dass Du ihre Nahrung gibst zu seiner Zeit. 28 Gibst du ihnen, sammeln sie ein, öffnest du deine Hand, sättigen sie sich (mit) Gutem. 29 Verbirgst du dein Angesicht, erschrecken sie, ziehst du ihren Atem ein, vergehen sie und zu ihrem Staub kehren sie zurück. 30 Sendest du deinen Atem, werden sie geschaffen und du machst neu das Angesicht der Erde.
Diese vier Verse bilden die letzte Strophe des Psalms vor dem Schlussteil mit Lobaufruf und Majestätsprädikation. In ihnen sind nicht nur zahlreiche Stichwort bezüge zu den vorherigen Strophen zu sehen, sondern auch zu Ps 90; 102; 103. Der Beginn in V.27 mit ‚Sie alle‘ ( )כלםbezieht sich zurück auf den Bewunderungsruf in V.24, in dem die Anzahl der Werke, die von JHWH in Weisheit geschaffen wurden, gepriesen werden. Es ist demnach davon auszugehen, dass ‚sie alle‘ die Gesamtheit der Geschöpfe meint.340 JHWH gibt allen Lebewesen Nahrung zur rechten Zeit. Der rechte Zeitpunkt341 verweist auf die Tätigkeit JHWHs, seine Schöpfung am
339 Neumann-Gorsolke, Herrschen, 341. 340 Spieckermann möchte an dieser Stelle den Menschen im Vordergrund sehen, da das Warten immer mit Personen als Subjekt gebraucht wird. Vgl. Spieckermann, Heilsgegenwart, 43. Diese Engführung scheint allerdings dem Anliegen des Psalms zu widersprechen, die Eingliederung aller Geschöpfe in JHWHs Ordnung darzustellen. Auch ist zu bedenken, dass sogar die Löwen in V.21b ihre Nahrung ( )אכלםvon JHWH fordern. 341 Vgl. zur Deutung von עתals bestimmten Zeitpunkt Kuroyanagi, Vergänglichkeit, 60 f.
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Leben zu erhalten, wie sie es braucht.342 Die Vorstellung des erwartbaren Eingreifens JHWHs zur richtigen Zeit kann auf dem Hintergrund der alle Zeiten umfassenden JHWH-Zeit verstanden werden. In Ps 102,13f ist der Zeitpunkt ( )עתdes Handelns JHWHs als in der Ewigkeit verankerte Gnadenzeit charakterisiert worden. In V.28 wird die Versorgung durch JHWH mit der Motivik der geöffneten Hand weiter ausgeführt.343 Das Sättigen mit Gutem zeigt eine sprachliche Parallele zu Ps 103,5 und in der Umkehrung als Klagemotiv zu Ps 102,5.10. Der Vorgang der Sättigung mit Gutem bietet eine Art der Zusammenfassung der Nahrungsbelege in Ps 104: Die Menschen werden vom Brot gestärkt (V.15); die Bäume JHWHs sättigen sich am Regen, den JHWH schickt (V.16), und die Löwen fordern ihre Nahrung (V.21). Pflanzen, Menschen und Tiere werden mit Nahrung versorgt. Der Ausdruck „Sättigen mit Gutem“ verweist zum einen auf die leibliche Nahrung (V.27 )אכלם, trägt zum anderen, wie in Ps 90,14–17 und Ps 103,5, tempeltheologische Implikationen der Gottespräsenz in sich. Diese Annahme wird gestärkt durch die Rede von JHWHs Antlitz in V.29.344 Das verborgene Antlitz hat in Ps 104,29 das Erschrecken der Geschöpfe zur Folge. Es wird weiterhin mit dem Entzug des Lebensgeistes parallelisiert, der zum Tod führt. Die Beschreibung des Todes in Ps 104 ist keine Klage, aber sie ist auch nicht friedlich, da das Erschrecken über die Abwendung JHWHs bleibt. Der Terminus „Zorn“ wird nicht genannt, die Darstellung des Todes erscheint auf den ersten Blick als sachlich, doch sind die Termini Verbergen des Antlitzes und Erschrecken nicht als neutral zu werten.345 Hartenstein erklärt die Symbolik des verborgenen Angesichtes in zwei Verwendungsweisen: als verweigerte Audienz und als verweigerter Blickkontakt innerhalb einer Audienzsituation.346 Während das zugewandte Angesicht zu JHWH „Ausdruck von Gnade und Integration in die Sphäre JHWHs“347 bedeutet, stellt das Verbergen u. U. eine Lebensminderung bis hin zur gänzlichen Verachtung dar. […] der Zutritt zum Herrscher entscheidet über die Wiedererlangung eines vollwertigen Status am Hof und ist […] gegebenenfalls eine Sache auf „Leben und Tod“.348
342 Hossfeld verweist auf Dtn 11,13 und Ps 1,3 als Belegstellen für die „regelmäßigen Vorgänge in der Schöpfung“. Hossfeld/Zenger, Psalmen, 84. 343 Vgl. zur Symbolik der geöffneten Hände als Quellen des Lebens Keel, altorientalische Bildsymbolik, 24. Krüger zeigt auf, dass die geöffnete Hand mit JHWH als Subjekt nur in Ps 104,28 und Ps 145,16 vorkommt. Die Geste des Handöffnens, wenn sie von Menschen ausgeführt wird, ist mit dem Geben von Gütern und der Aufnahme von Armen (Dtn 15,8ff) verbunden. Vgl. Krüger, Lob, 350 f. 344 Vgl. zur Tempeltheologie in Ps 104,27–30 Spieckermann, Heilsgegenwart, 45. 345 Hartenstein, der die Rede vom Angesicht JHWHs als Audienzszenerie auslegt, gibt einen Überblick über die Belege, die eine Ablehnung der Audienz, die als eine „verweigerte Gottesnähe“ anzusehen ist, darstellen. Das Verbergen des Angesichtes kennzeichnet dabei die Symbolik der nicht mehr zugänglichen Gottheit. Vgl. Hartenstein, Angesicht, 261. 346 Vgl. aaO., 73–77. 347 AaO., 78 348 AaO., 74 f.
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Die Lebensminderung, die bis an den Tod reichen kann, ist auch im Gebrauch des Verbums ( בהלerschrecken) zu sehen. Krüger arbeitet heraus, dass es sich beim Erschrecken um einen Zustand handelt, der als „Schreckensstarre“ aufgrund einer tiefgehenden Angsterfahrung in Todesnähe angesehen werden kann.349 Ps 104,29 stellt allerdings eine Besonderheit im Alten Testament dar, weil es sich kollektiv um alle Geschöpfe handelt, die vom Verbergen des Angesichtes betroffen sind.350 Die Deutung der Vergänglichkeit als Zorneshandeln oder zumindest als Abkehr der heilsamen Gottesnähe, wie sie in Ps 90 und Ps 102 vorfindlich ist, kann durchaus mit Ps 104 in Beziehung gesetzt werden. Dies wird verstärkt durch V.29b, in dem die Wegnahme des Lebensatems und die darauf folgende Rückkehr zum Staub geschildert werden. Die רוחist in der Metaphorik von Ps 103,16 der Verursacher des Vergehens, in Ps 104 ist es ihre Wegnahme, die zum Tod führt. Das Verbum שוב als Rückkehr zum Staub schafft eine Brücke zu Ps 90,3. Im Gegensatz zu den bisher behandelten Texten zur Vergänglichkeit, die eine Kompensation der Sterblichkeit durch Aufwertung der Lebenszeit aufweisen, zeigt sich in Ps 104 eine andere Form des Umgangs. V.30 führt vom Vergehen zum Werden, das durch die Gabe des Lebensatems erklärt wird. Durch die Sendung der רוחwird Leben geschaffen ()ברא, das Angesicht der Erde wird erneuert. Durch das Vokabular erweist sich V.30 als kunstvoll mit V.29 verbunden. In einem versübergreifenden Chiasmus wird das Verbergen des Angesichtes JHWHs mit dem Neuwerden des Angesichtes der Erde in Beziehung gesetzt. Die beiden Mittelglieder beschreiben den Weg von Tod und Leben. Der Kreislauf von Vergehen und Werden wird also auch sprachlich-stilistisch abgebildet. Die Rückkehr zum Staub gehört zur Motivik des Erdbodens ()אדמה. Der Terminus ‚erneuern‘ ( )חדשverweist in der Leserichtung auf Ps 103,5, wo er parallel zur Sättigung mit Gutem gebraucht wird. Das Erneuern des Angesichtes der Erde wird in Ps 104 unterschiedlich gedeutet,351 ein Vergleichsmoment zu Ps 103,5 scheint in der Zuwendung JHWHs zu seinen Geschöpfen zu liegen. JHWH wendet sich durch seine Wohltaten dem Beter zu, sodass sich seine Jugend erneuert. Dies entspricht einer Neuschaffung im Leben, welche auf die Lebensqualität (nicht auf die Lebensdauer) ausgerichtet ist. In Ps 104 wendet sich JHWH durch Neuschaffung der gesamten Schöpfung zu, indem er sie mit seinem Lebensatem erfüllt und dadurch über die Zeiten erhält. Nicht die Dauer 349 Vgl. Krüger, Lob, 358 f. Auch Goldingay stellt das Erschrecken heraus und beschreibt die Vv.28f als doppelte Prädestination: „The psalm accepts the logic of double predestination. If God gets the credit for giving, God ist also responsible when provision fails.“ Goldingay, Psalms, 193. 350 „Der vom Erschrecken Betroffene ist hier nicht […] der Gottlose, sondern die Gesamtheit der Geschöpfe der Erde. Die Aussage des Angesicht-Verbergens erhält somit eine universale Dimension, die für das Alte Testament einmalig ist.“ AaO., 359. 351 Krüger spricht von einer ständigen Veränderung, bei der „Altes durch Neues ersetzt wird“, Krüger, Lob, 376. Hossfeld deutet das Neuwerden als „Erneuerung von Fauna und Flora in der einen, konstant von Gott erhaltenen Schöpfung“, Hossfeld/Zenger, Psalmen, 86. Spieckermann deutet es als „ständige Bevorzugung des Lebenswillens“, Spieckermann, Heilsgegenwart, 45. Goldingay versteht die Erneuerung im Gegensatz zur Verfluchung des Erdbodens, vgl. Goldingay, Psalms, 194.
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des einzelnen Lebewesens steht im Vordergrund, sondern das Gleichgewicht von Leben und Sterben insgesamt. Der Maßstab der Erneuerung ist in Ps 104 sehr viel umfassender als in Ps 103, der Akt des Gewährens von Erneuerung im Kontext der lebensförderlichen Handlungen JHWHs allerdings vergleichbar. Zusammenfassend ist die Rede von der Vergänglichkeit in Ps 104,27–30 nicht als Klage verfasst, sondern als Beschreibung des Kreislaufes von Werden und Vergehen. Diese Schilderung ist allerdings nicht „wertfrei“, da sie hinsichtlich des Todes implizit durch die Motivik der Abwendung des Angesichtes und des Erschreckens auf JHWHs Handeln im Zorn verweist und hinsichtlich der Erneuerung des Lebens auf seine Zuwendung als Bewahrer der Schöpfung. Im Schlussteil des Psalms352 sind noch zwei weitere Elemente zu finden, die auf dem Hintergrund der Vergleichstexte mit der Vergänglichkeitsthematik in Beziehung stehen: der עולם-Begriff (V.31) und die Reziprozität der Freude (שםח Vv.31.33f). הו֣ה ְבּ ַמ ֲע ָ ֽשׂיו׃ ָ ְעֹול֑ם יִ ְשׂ ַ ֖מח י ָ הו֣ה ְל ָ ְ יְ ִ ֤הי ְכ ֣בֹוד י31 עֹודי׃ ֽ ִ אֹלהי ְבּ ֣ ַ יהו֣ה ְבּ ַח ָיּ֑י ֲאזַ ְמּ ָ ֖רה ֵל ָ אָשׁ ָירה ַל ֣ ִ 33 יהוה׃ ֽ ָ יחי אָ֝נ ִֹ֗כי ֶא ְשׂ ַ ֥מח ַבּ ֑ ִ יֶ ֱע ַ ֣רב ָע ָל֣יו ִשׂ34 31 Die Herrlichkeit JHWHs wird sein für fernste Zeiten, JHWH freut sich über seine Werke. 33 Ich will singen JHWH mein Leben lang, ich will lobsingen meinem Gott in meiner Dauer/für die Zeit meines Daseins. 34 Meine Gedanken sollen ihm wohlgefällig sein, ich freue mich über JHWH.
Die Bedeutung der fernsten Zeiten liegt im Kontext des gesamten Psalms darin, die umfassende Ordnung, die JHWH in räumlichen, zeitlichen und qualitativen Kategorien eingesetzt hat, dauerhaft zu garantieren. Der Terminus Herrlichkeit JHWHs scheint an dieser Stelle doppeldeutig verwendet zu sein. Er zeigt als Attribut JHWHs seine Präsenz und Macht und bildet damit einen thematischen Rück-
352 Im Schlussteil sind einige Beobachtungen zu vermerken, die für ein literarisches Wachstum sprechen könnten. Zu nennen sind z. B. der Wechsel von der zweiten zur dritten Person von V.30 zu V.31 sowie die Zusammenstellung unterschiedlicher Motivik. Seybold, der den Schluss detailliert literarkritisch untersucht, schreibt, „dass Ps 104,31–35 ein sehr lockeres textliches Gefüge darstellt, so dass man besser von Anhängen oder Unterschriften spricht, die sukzessive zu dem Psalmcorpus hinzugekommen sind, und zwar wohl in der Reihenfolge, in der die Verse und Halbverse jetzt stehen.“ Seybold, Klaus, Psalm 104 im Spiegel seiner Unterschrift, in: Ders., Studien zur Psalmenauslegung, Stuttgart 1998, 161–172; 171. Einen Überblick zur Bewertung von V.35a als redaktionelle Zufügung gibt Krüger, Lob, 63. Sie selbst sieht außer dem Rahmen in Vv.1aα.35b keinen Anlass, redaktionelles Wachstum anzunehmen (62). Im Schlussteil sieht sie einen plausiblen thematischen Zusammenhang, der einen Bogen von JHWHs Freude (V.31), über die Schilderung seiner Macht (V.32), zum Lob des Psalmisten (Vv.33–34) schlägt (381). V.35 deutet sie als Wunsch des Psalmisten, der aus der Spannung zwischen dargestellter guter Schöpfungsordnung und erfahrener Wirklichkeit stammt (398).
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bezug zu Vv.1f. Er kann an dieser Stelle aber auch die gute Ordnung als Gesamtheit der Schöpfungswerke meinen. JHWHs Herrlichkeit ist die sichtbare und erfahrbare Fülle seiner Schöpfung, die gleichzeitig durch die Handlungsoptionen, die sich mit seiner Herrlichkeit verbinden, bewahrt wird.353 Hier ist eine Parallele zur Bitte in Ps 90,16 zu ziehen, die im Wunsch besteht, JHWH möge seine Werke und seine Herrlichkeit den kommenden Generationen zeigen. Wie in Ps 90,14–17 ist in Ps 104 eine Motivverbindung zur Freude zu sehen, die in Ps 104 sowohl von JHWH als auch vom Beter des Psalms empfunden wird. So wie JHWH sich für die mit Maßstäben der menschlich erfahrbaren Zeit nicht messbare Dauer seines Daseins über die Werke freut, will sich der Beter über JHWH in der Dauer seines Daseins freuen. Diese Freude über JHWH findet Ausdruck im gesungenen Gotteslob. Die Bitte des Beters am Ende des Psalms ergibt sich aus der Schilderung der Ordnung JHWHs im Psalm, in welchem der Freude eine zentrale Relevanz zukommt (V.15). JHWH versorgt den Beter nicht nur mit Grundnahrungsmitteln, sondern auch mit den Luxusgütern Wein und Öl. Die Freude stammt aus der Fülle, die eine Stärkung des Herzens und ein Erstrahlen der Gesichter zur Folge hat.354 Den Aspekt der Vergänglichkeit betreffend bildet die Freude an der Zuwendung JHWHs ein starkes Gegengewicht zur Schreckensstarre des Todes. Das beängstigende Faktum des Todes wird nicht zurückgenommen oder gemildert, aber die Lebenszeit wird durch die Freude aufgewertet. Die Schöpfungstätigkeit JHWHs, die als Einsetzung, Bewahrung und Erneuerung verstanden wird, hat in Ps 104 im Blick auf die Vergleichstexte die stärkste Ausprägung. Allerdings entsteht durch das Wortfeld des Schaffens, gebildet durch das Lexem עשהund seine Derivate, ein Zusammenhang von Ps 102–104. In Ps 102 werden die Himmel als das Werk von JHWHs Händen bezeichnet (Ps 102,26). Das Schöpfungsthema dient als Argument für die fernsten Zeiten JHWHs, in denen selbst Himmel und Erde als geschaffene Größen zugrunde gehen werden, während JHWH für alle Zeiten bestehen bleibt. Die Dimension des Kontrastes von Zeitlichkeit und Ewigkeit, Schöpfung und Schöpfer, wird so über zwei Stufen entwickelt. Sie wird mit der Klage des Beters über die von JHWH gewirkte kurze Lebensdauer (Vv.24f) begonnen und wird dann mit der Feststellung der Vergänglichkeit von Himmel und Erde und der Beständigkeit JHWHs (Vv.26f) fortgeführt. Ps 103 kennt sowohl die von JHWH herbeigeführte Sterblichkeit seiner Geschöpfe im Bezug zu JHWHs fernsten Zeiten (Ps 103,14–17), als auch das Motiv des Himmels, bzw. der himmlischen Wesen, als Werk. Das Argument, welches beide zusammenbringt, ist, wie bereits beschrieben, die Kausalität von JHWHs geschaffener Vergänglichkeit und
353 „Zum anderen hat sich der כבודJHWHs, seine göttliche Herrlichkeit, in den im Verlauf des Psalms geschilderten Werken JHWHs manifestiert. Dann wäre unter dem כבודJHWHs das Schöpfungshandeln, so dann auch die Schöpfung miteinzubeziehen.“ Krüger, Lob, 381. Sie vergleicht die Funktion der Herrlichkeit mit der in Ps 19,2. Auch an dieser Stelle wird sie mit den Schöpfungswerken parallelisiert. Ebd. 354 Vgl. zur Funktion der Freude und ihrer thematischen Verwobenheit mit der Versorgung der gesamten Schöpfung: Abart, Lebensfreude, 97–114.
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seiner Herrschaft der Gnade. Deshalb besteht die Reaktion Israels in Ps 103 nicht in der Klage über die Vergänglichkeit, sondern im Loben der Gnadentaten. Durch das Lob für den gnädigen Schöpfer und König werden himmlische und irdische Werke vereint (Ps 103,20–22). In Ps 104 wird die Schöpfung an sich ausdifferenziert beschrieben, wobei der Verlauf von Werden und Vergehen einen besonderen Schwerpunkt bildet. Dies betrifft zum einen die Sterblichkeit, zum anderen aber auch die Beschaffenheit der Werke, die jeweils einen Zweck für andere Glieder der Schöpfung erfüllen und so in ihrer Geschöpflichkeit etwas Schöpferisches/ Lebensförderliches in sich tragen.355 Der Gang von Ps 102 bis zu Ps 104 über die Stichwortverbindung des Begriffs עשהzeigt eine Entwicklung von der Klage über die Sterblichkeit und der damit verbundenen großen Distanz zu JHWHs fernsten Zeiten zum Lob der himmlischen und irdischen Werke aufgrund der barmherzigen Herrschaft JHWHs als Kompensation der Vergänglichkeit. Sie mündet schließlich in einer die Lebenszeit umfassenden Freude, welche JHWH und seine Werke miteinander verbindet. Gerade Ps 104 verdeutlicht, dass sich nicht nur die himmlischen Werke, die Engel, in einer großen räumlichen und auf Erkenntnis und Gehorsam beruhenden Nähe zu JHWH befinden, sondern auch die irdischen Werke, die durch ihr lobendes Dasein Wohlwollen und Freude in JHWH hervorrufen.
4.4 Ergebnisse Die Gnadenformel in V.8 hat sich als thematisches Zentrum für die Auslegung des Mittelteils erwiesen. Durch die Hinführung in den Vv.6–7 sind Sinai-Kontexte erweckt worden, die in ihrer Abfolge der Leserichtung von Ex 32–34 entsprechen. Der wichtigste Punkt in der Auslegung der Gnadenformel in den Vv.8–14 ist die Vergebung von Schuld, welche ihr Profil aus den der Formel inhärenten Komponenten Wirksamkeit der Gnade und Begrenzung des Zorns gewinnt. Eine Weiterentwicklung in der Bedeutung der zur Formel gewordenen Gnadenrede zeigt ihre Verwendung hinsichtlich der Vergänglichkeitsmotivik. Sie übersteigt in der theologischen Reflexion den narrativen Raum, der durch Ex 32–34 vorgegeben ist. Die Gnade wird durch ihre Attribute Dauerhaftigkeit ( )עולםund Wirkmächtigkeit ()גבר zu dem Faktor, der den Umgang mit der Vergänglichkeit am stärksten bestimmt. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf den Zusammenhang von Sterblichkeit des Menschen und der Dauerhaftigkeit JHWHs für fernste Zeiten Folgendes festhalten: Alle hier behandelten Texte beschreiben angesichts der Sterblichkeit eine Partizipation an der Dauerhaftigkeit JHWHs, die in verschiedenen Kategorien ausgeführt wird. Für Ps 102 konnte das Vertrauen in eine eschatologische Heilsperspektive festgestellt werden, für Jes 40 die erneute Zuwendung JHWHs nach Abtragung 355 Vgl. zu dieser „Kettenreaktion“ z. B. die Vv.14–15.
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der Schuld, für Ps 90 die Konzentration auf das Handeln der Geschöpfe in Entsprechung zum Schöpfer und für Ps 104 die Eingliederung der Sterblichkeit in die umfassende Schöpfungsordnung und die damit verbundene wechselseitige Freude von Schöpfer und Geschöpf. Alle diese Kategorien beschreiben eine qualitative Aufwertung der begrenzten Lebenszeit, die im Zusammenhang mit der Zuwendung JHWHs zu sehen sind. Ps 103 ist eine wohlbedachte Gesamtdarstellung all dieser unterschiedlichen Motive, die durch das Leitmotiv der Gnade verbunden werden.
5. Ps 103,17–18: Bedingte Gnade?
5.1 Ps 103,17f: Aufbau und Funktion :ֹולם ַעל־יְ ֵראָ֑יו וְ ִ֝צ ְד ָק ֗תֹו ִל ְב ֵנ֥י ָב ִנֽים ָ ֭עֹול֣ם וְ ַעד־ע ָ הוה ֵמ ֨ ָ ְ וְ ֶ ֤ח ֶסד י17 :שֹׂותם ֽ ָ וּלז ְֹכ ֵ ֥רי ִ֝פ ֻקּ ָ ֗דיו ַל ֲע ְ יתֹו ֑ ְלשׁ ְֹמ ֵ ֥רי ְב ִר18 17 Und JHWHs Gnade ist von fernster Zeit bis in fernste Zeit über denen, die ihn fürchten und seine Gerechtigkeit für Kindeskinder, 18 für die, die seinen Bund bewahren und seiner Ordnungen gedenken, in dem [sie] sie tun.
Vers 17 wirkt in der Lesefolge von Ps 103 auffällig, da die Wendung über denen, die ihn fürchten in den vorherigen Versen immer am Versende stand (Vv.11.13). Auch die Struktur des Tristichons hat manche Ausleger zu literarkritischen Eingriffen bewogen, die letztlich auch in den Apparat der BHS aufgenommen worden sind.356 Dort wird vorgeschlagen den Versteil, der die Gottesfurcht nennt, an den Anfang von Vers 18 zu stellen.357 Dieses Vorgehen erscheint mir nicht sinnvoll, da, wenn überhaupt Umstellungen notwendig sein sollten, V.17 im Sinne der refrainartigen Struktur eher an Vv.11.13 angeglichen werden sollte. Dies könnte durch eine Setzung von V.17b an den Anfang von V.18 erreicht werden, zumal der partizipiale Ausdruck am Beginn von V.18 den Gerechtigkeitstaten aus V.17b zuzuordnen ist. Allerdings zeigt sich hier keine Notwendigkeit für Eingriffe in den masoretischen Text, da mit Schnocks die Verse in einem synonymen Parallelismus gelesen werden können. Dabei entsprechen sich JHWHs Gnade (A )חסדund seine Gerechtigkeitstaten (A‘ )צדקתוmit den zugehörigen zeitlichen Bezügen von fernster Zeit bis in fernste Zeit (B )מעולם ועד עולםund Kindeskinder (B‘ )לבני בנים358 und die durch Präpositionen eingeleiteten Adressatenkreise über denen, die ihn
356 Vgl. dazu Metzger, Lobpreis, 130, Anmerkung 22. 357 Dem folgt z. B. Kraus, Hans-Joachim, Psalmen, 870 f. Außerdem entfernt Kraus auch noch die Zeitaussage עולם-מעולם ועד, die er als „Auffüllung“ betrachtet. Ebd. 358 Hier stellt Schnocks die zeitliche Dimension von לבני בניםin den Vordergrund. Als Argumente führt er zum einen den zeitlichen Kontrast zur vorher beschriebenen Vergänglichkeit des Menschen an und zum anderen die Parallelisierung zu der zeitlichen Wendung עולם-מעולם ועד. Vgl. Schnocks, Vergänglichkeit, 153 f.
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fürchten (C )על יראוund für die die seinen Bund bewahren und seiner Ordnungen gedenken (C‘ )לשמרי בריתו ולזכרי פקודיו.359 Auch die inhaltliche Auseinandersetzung wird zeigen, dass die beiden Verse in allen ihren Elementen bewusst Traditionsbereiche aufnehmen und sie miteinander in Beziehung setzen. Auf der Textoberfläche sind die Verbindungslinien deutlich über die Stichwortbezüge zu den Versen 6–8 ( צדקתin V.6; חסדin V.8) und zu den Versen 21–22 ( )עשהzu sehen. Die Verse 17–18 erfüllen also eine wichtige Scharnierfunktion innerhalb des Psalms, indem sie den Mittelteil und Schluss (und damit die gesamte Rahmung des Psalms) miteinander verbinden. Es ist daher in der Exegese die Frage zu klären, wie die Argumentation, durch welche eine Verbindung geschaffen wird, genau aussieht. Dies ist für die gesamte Theologie des Psalms von großer Bedeutung, da nicht weniger auf dem Spiel steht als die Frage, ob die Gnade JHWHs, welche sich durch den ganzen Psalm zieht, an menschliche Bedingungen geknüpft ist oder nicht. Daher soll zunächst nach den Traditionen gefragt werden, in denen das Tun der Adressaten der Gnade formuliert wird (V.18) und die Ergebnisse danach im Kontext der Gnade JHWHs (V.17) ausgelegt werden. Zur Methodik ist hier auf das in der Einleitung dargelegte Verständnis von Vorstellungswelten und das Begreifen von Texten als Diskurse zu verweisen. In Ps 103,17f klingen durch das verwendete Vokabular Traditionen an, die für sich eine lange Entwicklung durchlaufen haben und auch schon in ihrem Verhältnis zueinander in nachexilischen Texten gedeutet worden sind. Zu nennen ist besonders die Rede vom Bund im Verhältnis zum Gebotsgehorsam. Damit die gesamte Vorstellungswelt, die sich hinter diesen beiden Versen befindet und von der Ps 103 ein Teil ist, adäquat dargestellt werden kann, wird die Diskussion über Bund und Gebot, die sich in nachexilischen Texten entwickelt, detailliert erörtert. Weil sich für so junge Texte, die wie Ps 103 zudem als theologisch stark reflektierte Texte anzusehen sind, oft die Schwierigkeit stellt, dass sich direkte sprachliche Abhängigkeiten nicht präzise darstellen lassen, erweist sich die Beschreibung der Vorstellungszusammenhänge als ein förderliches Vorgehen, um Gemeinsamkeiten und Eigenarten des Einzeltextes zu erkennen.
5.2 Den „Bund bewahren“ Die Wortverbindung „Bund bewahren“ ( )שמר בריתkommt 15 mal im Alten Testament vor.360 Sie findet sich sowohl in der zentralen Bundeskonzeption der Priesterschrift, dem Abrahamsbund (Gen 17,9.10), als auch in der dtn-dtr Bundeskonzeption (Dtn 7,9.12; 29,8; 1Kön 8,23; 11,11). Immer, wenn der partizipiale
359 Vgl. ebd. 360 Gen 17,9.10; Ex 19,5; Dtn 7,9.12; 29,8; 1Kön 8,23; 11,11; Ez 17,14; Ps 78,10; 103,18; 132,12; Dan 9,4; Neh 1,5; 9,32; 2Chr 6,14.
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Ausdruck gebraucht wird, ist JHWH Subjekt361 und zwar innerhalb der Formel „JHWH bewahrt den Bund und die Gnade“ (Dtn 7,9; 1Kön 8,23; Dan 9,4; Neh 1,5; 9,32; 2Chr 6,14). Im Rahmen dieser Arbeit können nicht alle diese Belege ausgewertet werden. Die Auswahl der Referenzstellen wird thematisch anhand ihres Potenzials für die Erörterung der Leitfrage der Exegese für Ps 103,17f entschieden: In welchem Verhältnis stehen Bundestheologie und Gesetzestätigkeit zueinander? Hier erweisen sich sowohl die priesterschriftliche Bundestheologie und ihre nachpriesterschriftlichen Interpretationen (Ex 31,12–17 und Lev 26) als auch die nachexilischen Belege der ‚Bundesbewahrungsformel‘ als sinnvolle Diskurstexte, da in beiden Traditionssträngen eine Gewichtung zwischen Gnaden- und Verpflichtungsbund stattfindet.
5.3 Der Abrahamsbund in Gen 17 Die Formulierung Bund bewahren ( )שמר בריתführt u. a. in den Kontext des priesterlichen Abrahambundes und in die Frage, ob der Abrahamsbund als ein reiner Gnadenbund, also bedingungslos, konstituiert ist oder ob sich mit der Verpflichtung zur Beschneidung Gebotsgehorsam verbindet, der auch diesem Bund den Charakter von Konditionierung verleiht? Diese Frage wird in der Forschung zum einen durch literarkritische Operationen beantwortet, indem eine priesterliche Grundschicht herausgearbeitet wird, die einen unkonditionierten Bundesschluss beschreibt, der durch nachfolgende Bearbeitungen immer mehr zu einem gesetzlichen Verpflichtungsbund wird.362 Zum anderen wird sie aber auch durch die Mehrdimensionalität der Bedeutung des Begriffes בריתerörtert, welche erklärt, dass die Vielschichtigkeit in Gen 17 nicht unbedingt eine Folge literarischen Wachstums sein muss.363 In Gen 17,1f wird der Bundesschluss zunächst im Kontext der Mehrungsverheißung mit Abraham geschlossen364 und in V.7 die Teilhabe der Nachkommen am Bundesverhältnis genannt. Ab V.9 wird der Bund dann mit der Beschneidung zusammengebracht, die als Bundeszeichen gilt (V.11) und deren
361 Außer in Dtn 7,12. 362 Vgl. Weimar, Peter, Studien zur Priesterschrift, FAT 56, Tübingen 2008, 203–216; ein detaillierter Überblick über die Forschungsgeschichte zu Gen 17 bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts findet sich bei Grünwaldt, Klaus, Exil und Identität, BBB 85, Frankfurt 1992, 18–26. 363 Vgl. Ziemer, Benjamin, Abram-Abraham. Kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Genesis 14,15 und 17, BZAW 350, Berlin 2005, 291–317. 364 Nihan erklärt, dass die beiden Imperative in Gen 17,1b keine Voraussetzung für den Bund darstellen, sondern formal häufig in göttlicher Redeweise, gerade im Kontext von Segensverheißungen, vorkommen und mehr in den Bereich der Erwartung als in den der Bedingung gehören. Vgl. Nihan, Christophe, The Priestly Covenant, Its Reinterpretations, and the Composition of „P“, in: Shectman, S./Baden, J. S., The Strata of the Priestly Writings. Contemporary Debate and Future Directions, AThANT 95, Zürich 2009, 99.
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Nichteinhaltung mit dem Tod bestraft wird (V.14). Gerade diese Passage wird zum Prüfstein, an welchem der Charakter dieses Bundes erörtert wird: Gen 17,9–14: מר ֹ ֑ יתי ִת ְשׁ ֣ ִ ת־בּ ִר ְ אַתּה ֶא ֖ ָ ְל־אַב ָר ָ֔הם ו ְ ֹלה ֙ים ֶא ִ אמר ֱא ֶ ֹ וַ ֤יּ9 אַתּה וְ זַ ְר ֲעָך֥ אַ ֲֽח ֶ ֖ריָך ְלדֹר ָ ֹֽתם׃ ָ֛ אַח ֶ ֑ריָך ֲ ֖וּבין זַ ְר ֲעָך ֥ ֵ יכם ֶ֔ ֵשׁר ִתּ ְשׁ ְמ ֗רוּ ֵבּינִ ֙י ֵוּב֣ינ ֣ ֶ יתי ֲא ִ֞ ֣ז ֹאת ְבּ ִר10 ִה ֥מֹּול ָל ֶכ֖ם ָכּל־זָ ָ ֽכר׃ יכם׃ ֽ ֶ ֵוּבינ ֵ וּנְ ַמ ְל ֶ֕תּם ֵ ֖את ְבּ ַ ֣שׂר ָע ְר ַל ְת ֶכ֑ם וְ ָהיָ ֙ה ְל ֣אֹות ְבּ ִ ֔רית ֵבּ ִינ֖י11 יָמים יִ ֥מֹּול ָל ֶכ֛ם ָכּל־זָ ָ ֖כר ְלדֹר ֵֹת ֶיכ֑ם ִ֗ ן־שׁמ ַֹנ֣ת ְ וּב ֶ 12 ת־כּ ֶס ֙ף ִמ ֣כֹּל ֶבּן־נֵ ָ֔כר ֲא ֶ ֛שׁר ֥ל ֹא ִ ֽמזַּ ְר ֲעָך֖ ֽהוּא׃ ֶ ֙ ַוּמ ְקנ ִ יְ ִ ֣ליד ָ֔בּיִ ת וּמ ְק ַנ֣ת ַכּ ְס ֶפָּ֑ך ִ ֖יתָך ְ ִה ֧מֹּול יִ ֛מֹּול יְ ִ ֥ליד ֵ ֽבּ13 עֹולם׃ ֽ ָ יתי ִבּ ְב ַשׂ ְר ֶכ֖ם ִל ְב ִ ֥רית ֛ ִ וְ ָהיְ ָ ֧תה ְב ִר ת־בּ ַ ֣שׂר ָע ְר ָל ֔תֹו ְ וְ ָע ֵ ֣רל ׀ זָ ָ֗כר ֲא ֶ ֤שׁר ֽל ֹא־יִ מֹּול֙ ֶא14 יתי ֵה ַ ֽפר׃ ֖ ִ ת־בּ ִר ְ יה ֶא ָ וְ נִ ְכ ְר ָ ֛תה ַה ֶנּ ֶ֥פשׁ ַה ִ ֖הוא ֵמ ַע ֶ ֑מּ 9 Und Gott sprach zu Abraham: Du sollst meinen Bund bewahren, du und deine Nachkommenschaft nach dir für eure Generationen. 10 Das ist mein Bund, den ihr bewahren sollt zwischen mir und zwischen euch und zwischen deiner Nachkommenschaft nach dir: Beschnitten werden soll bei euch alles Männliche. 11 Ihr sollt beschneiden das Fleisch eurer Vorhaut und es soll sein zum Zeichen des Bundes zwischen mir und zwischen euch. […] 13b Und so soll werden mein Bund an eurem Fleisch zum ewigen Bund. 14 Ein unbeschnittener Mann, der nicht beschnitten ist am Fleisch seiner Vorhaut, ausgerottet werden soll dieses Leben von seinen Volksgenossen, meinen Bund hat er gebrochen.
Grundsätzlich ist zur Rolle der Gesetzeseinhaltung in Gen 17 zunächst festzuhalten, dass es sich nicht um eine klassische Form von Gesetzesobservanz handelt, wie sie beispielsweise im Deuteronomium zu finden ist,365 da es sich hier um eine Einzelbestimmung handelt, nämlich die der Beschneidung. Insbesondere die Beschneidung zeichnet sich wiederum dadurch aus, dass sie primär gängige kulturelle Praxis in Israel ist und erst sekundär zu einer Gesetzesvorschrift wird.366 Es wird also die Durchführung einer ohnehin schon üblichen Sitte zum 365 Vgl. dazu Stipp, Hermann-Josef, „Meinen Bund hat er gebrochen“ (Gen 17,4). Die Individualisierung des Bundesbruchs in der Priesterschrift, in: Ders.: Alttestamentliche Studien. Arbeiten zu Priesterschrift, Deuteronomistischem Geschichtswerk und Prophetie, BZAW 442, Berlin/Boston 2013, 117–136; 130 f. Stipp hält fest, dass es sich im dtn-dtr Gebrauch immer um eine Sammlung von Gesetzen handelt, die gehalten werden sollen, z. B. חקות, מצות, משפטיםu. a. 366 Vgl. dazu aaO., 127. Stipp macht hier deutlich, dass die Beschneidung erst mit den Exilserfahrungen von einem kulturellen Brauch zum Identitätsmarker wird. So auch Grünwaldt, Exil, 41: „Denn im Gegensatz zur offiziellen, vom Opferkult geprägten Religion konnten die in der Familie beheimateten religiösen Bräuche auch im fremden Land ausgeübt werden. Zu diesen Bräuchen gehörte auch die Beschneidung selbstverständlich dazu. […] So bekommt die Beschneidung auch als Brauch im Exil einen theologischen Kontext.“
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Glaubenszeugnis und zum Zeichen der Zugehörigkeit zum Bundesvolk erhoben, von Gesetzlichkeit als Bedingung für den Bund kann hier eher nicht gesprochen werden. Wie sieht es allerdings im Umkehrschluss mit der in Gen 17,14 extrem hart anmutenden Strafe der „Ausrottung“ ( כרתnif ‘al) aus, die allen unbeschnittenen Männern droht und die als „Bundesbruch“ bezeichnet wird? Stipp sieht in diesem Vers vor allem das Element der „Individualisierung des Bundesbruchs“ im Vordergrund, da deutlich wird, dass zwar Einzelne aus dem Bundesverhältnis ausgeschlossen werden können, aber nicht das gesamte Bundesverhältnis durch die Verfehlungen Einzelner hinfällig wird: Durch die Individualisierung des Bundesbruches hat die priesterliche Theologie sichergestellt, dass der Bundesbruch nur noch Delikte einzelner meinen kann. Das hat ihm seine ultimative Bedrohlichkeit genommen. Aus der Warte der älteren Bundestheologie muss man bilanzieren: Dieser Bundesbruch ist keiner mehr, er heißt nur noch so.367
Dies ist eine wichtige Beobachtung, wenn bedacht wird, dass dieser Bund als „ewiger Bund“ bezeichnet wird, dessen Dauerhaftigkeit durch zwei Elemente bewahrt wird, durch die Betonung der Generationenfolgen und durch seine Unabhängigkeit von Verfehlungen Einzelner.368 Es lässt sich also festhalten, dass der Bund mit der Bestimmung der Beschneidung gekoppelt wird, deren Einhaltung auch strikt geboten ist, insofern ist er nicht völlig einseitig oder bedingungslos.369 Aber es scheint der Priesterschrift nicht darum zu gehen, den Verpflichtungscharakter in den Vordergrund zu stellen, sondern gerade darum, die Identität des Volkes, nach der Erfahrung des babylonischen Exils, in der Sprache der Bundestheologie zu konstituieren, zu stabilisieren und zu stärken. Ähnlich sind die Ausführungen zum Verhältnis vom Gebot der Sabbatruhe und dem Bund in Ex 31 zu bewerten, die aufgrund der Terminologie der Verben für eine Auslegung von Ps 103,17f aufschlussreich sind.
367 Stipp, Bund, 134. 368 Vgl. dazu auch Nihan, Priestly Covenant, 102 f. „Israel’s identity is defined first and foremost through lineage and genealogies, as is shown, for example, by the תולדותof Genesis. Annulling the בריתwith Abraham would mean no less than negating Israel’s genealogical relationship with the ancestor.“ (AaO., 103). 369 Eine konsequente Einseitigkeit kann es in der Struktur des Bundes schlechterdings nicht geben, da dieser qua Definition eine Form von Reziprozität in sich trägt. Vgl. dazu die Ausführungen von Knoppers, Garry, Ancient Near Eastern Royal Grants and the Davidic Covenant. A Parallel? JAOS, 1996, 670–697.
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5.4 Sabbatgebot und Bund in Ex 31,12–17 מר׃ ֹ ֽ הו֖ה ֶאל־מ ֶ ֹ֥שׁה ֵלּא ָ ְאמר י ֶ ֹ וַ ֥יּ12 מרוּ ֹ ֑ ת־שׁ ְבּת ַ ֹ֖תי ִתּ ְשׁ ַ מר אְַ֥ך ֶא ֹ ֔ ל־בּ ֵנ֤י יִ ְשׂ ָר ֵאל֙ ֵלא ְ אַתּה ַדּ ֵ֨בּר ֶא ָ֞ ְ ו13 הו֖ה ְמ ַק ִדּ ְשׁ ֶ ֽכם׃ ָ ְיכם ָל ַ ֕ד ַעת ִ ֛כּי ֲא ִנ֥י י ֶ֔ יכ ֙ם ְלד ֹ ֣ר ֹ ֵת ֶ ֵוּבינ ֽ ֵ ִכּי֩ ֨אֹות ִ֜הוא ֵבּ ִינ֤י יוּמת ָ֔ יה ֣מֹות ָ֙ ת־ה ַשּׁ ָ֔בּת ִ ֛כּי ֥קֹ ֶדשׁ ִ ֖הוא ָל ֶכ֑ם ְמ ַ ֽח ְל ֶ ֙ל ַ וּשׁ ַמ ְר ֶתּ ֙ם ֶא ְ 14 מ ֶ ֥קּ ֶרב ַע ֶ ֽמּיהָ׃ ִ אכה וְ נִ ְכ ְר ָ ֛תה ַה ֶנּ ֶ֥פשׁ ַה ִ ֖הוא ָ֔ ל־הע ֶ ֹ֥שׂה ָב ֙הּ ְמ ָל ָ ִ֗כּי ָכּ ל־הע ֶ ֹ֧שׂה ָ יהו֑ה ָכּ ָ יעי ַשׁ ַ ֧בּת ַשׁ ָבּ ֛תֹון ֖קֹ ֶדשׁ ַל ִ ֗ וּביּ֣ ֹום ַה ְשּׁ ִב ַ ה ֒ אכ ָ שׂה ְמ ָל ֣ ֶ ים יֵ ָע ֮ יָמ ִ שׁ ֶשׁת ֣ ֵ 15 יוּמת׃ ֽ ָ אכה ְבּי֥ ֹום ַה ַשּׁ ָ ֖בּת ֥מֹות ֛ ָ ְמ ָל ת־ה ַשּׁ ָ ֛בּת ַ ת־ה ַשּׁ ָ ֑בּת ַל ֲע ֧שֹׂות ֶא ַ וְ ָשׁ ְמ ֥רוּ ְב ֵנֽי־יִ ְשׂ ָר ֵ ֖אל ֶא16 עֹולם׃ ֽ ָ ְלדֹר ָ ֹ֖תם ְבּ ִ ֥רית יָמים ָע ָ ֤שׂה יְ הוָ ֙ה ִ֗ י־שׁ ֶשׁת ֣ ֵ וּב ֙ין ְבּ ֵנ֣י יִ ְשׂ ָר ֵ֔אל ֥אֹות ִ ֖הוא ְלע ָֹל֑ם ִכּ ֵ ֵבּ ִ֗יני17 יעי ָשׁ ַ ֖בת וַ יִּ נָּ ַ ֽפשׁ׃ ִ ֔ יֹּום ַה ְשּׁ ִב ֙ וּב ַ ת־האָ ֶ֔רץ ָ ת־ה ָשּׁ ַ ֣מיִ ם וְ ֶא ַ ֶא 12 Und JHWH sagte zu Mose: 13 Du sollst sagen zu den Israeliten: Meine Sabbate jedoch sollt ihr bewahren, denn es ist ein Zeichen zwischen mir und zwischen euch für eure Generationen, damit ihr erkennt, dass ich, JHWH, derjenige bin, der euch heiligt. 14 Ihr sollt bewahren den Sabbat, denn ein Heiligtum ist er für euch. Wer ihn entweiht, soll gewiss getötet werden, denn jeder, der an ihm Arbeit tut, ausgerottet werden soll sein Leben aus der Mitte seiner Volksgenossen. 15 Sechs Tage wird Arbeit getan, aber am siebten Tag ist Sabbat Sabbaton, ein Heiligtum für JHWH. Jeder, der Arbeit tut am Tag des Sabbats, soll gewiss sterben. 16 Und die Israeliten sollen den Sabbat bewahren, indem sie den Sabbat tun, für ihre Generationen ein ewiger Bund. 17 Zwischen mir und zwischen den Israeliten ist er [der Sabbat] ein Zeichen für die fernsten Zeiten, denn sechs Tage hat JHWH den Himmel und die Erde gemacht und am siebten ruhte er und atmete auf.
Die Sequenz Ex 31,12–17 ist konzentrisch um Vers 15 als Mittelpunkt aufgebaut, in welchem mit dem Begriff Sabbat Sabbaton370 ein Kulminationspunkt erreicht ist. Um V.15 lagert sich in V.14 und in V.16 die Aufforderung zum Bewahren des Sabbats, wobei der Sabbat in V.14 als Heiligtum und in V.17 die Sabbatbewahrung als Bund bezeichnet wird. Die Vv.13.17 nennen beide den Zeichencharakter des Sabbats, allerdings nicht als Bundeszeichen, sondern als Zeichen der Heiligung
370 Benno Jakob deutet den Begriff שבת שבתוןals eine Verknüpfung von Zustand und Zeitraum: „Das bedeutet, daß שבתוןeinen Zustand bezeichnet = Stillstand, Enthaltung von Arbeit, Ruhe, während שבתden Zeitraum, seine Dauer und den ihm anhaftenden Charakter involviert.“ Jakob, Benno, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, 847.
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und der fernsten Zeiten.371 Von Gen 17 herkommend ist zunächst die Struktur vergleichbar, indem der Bund, der in beiden Texten als ewiger Bund bezeichnet wird, mit der Einhaltung eines Einzelgebotes verknüpft ist. Außerdem stellt die Beschreibung für die Strafe der Nichteinhaltung in V.14b ein Zitat aus Gen 17,14b dar. Ein großer Unterschied zwischen den Texten liegt in der Zurückhaltung von Ex 31 hinsichtlich des Begriffes Bund, der nur einmal vorkommt, aber in Gen 17 Leitwortcharakter hat. Dafür kommt der Begriff der Heiligkeit, der in Ex 31 eine prägende Rolle spielt, in Gen 17 nicht vor. Es lässt sich also schon aus diesem oberflächlichem Befund vermuten, dass das Sabbatgebot in Ex 31, obwohl priesterliche Bundestheologie verarbeitet wird, einen anderen Schwerpunkt setzt als Gen 17. Immer noch unter der diese Auslegung bestimmenden Leitfrage nach dem Verhältnis von Bund und Gebot soll die Prägung von Ex 31 herausgearbeitet werden. Welche Bedeutung trägt die Rede vom Bund in Ex 31? In V.16, dem einzigen Vers, in dem der Bund überhaupt vorkommt, wirkt seine Nennung nachgeordnet, da er als Apposition zum Sabbat angehängt ist.372 Im Vordergrund steht primär der Sabbat und die Aufforderung, ihn zu halten, die durch die beiden Verben שמר und עשהformuliert wird. Diese Beobachtung wird dadurch unterstützt, dass der Sabbat eben nicht Bundeszeichen ist, sondern Zeichen der Heiligung des Volkes durch JHWH. Trotzdem wird gerade die durch die Verwendung von zwei Verben fokussierte Gebotseinhaltung des Sabbats mit dem Bund verbunden und zwar mit dem Bund in der Sprache der Priesterschrift. Die Verbindung von Nicht-P-Traditionen und P-Traditionen innerhalb der Bundestheologie, die sich in der Kombination von ewigem Bund mit Sabbatobservanz zeigt, ist oft gesehen und diskutiert worden,373 allerdings scheint bisher nur von Nihan erkannt worden zu sein, dass es nicht primär um die kombinierte Bundestheologie geht, die anhand des 371 Es wäre auch möglich, eine zweiteilige Struktur zu erkennen, die in Vv.13–15 das Arbeitsverbot in den Vordergrund stellt und in den Vv.16–17 die Begründung des Sabbatgebotes hinzufügt. Vgl. dazu Nihan, Christophe, Das Sabbatgesetz Exodus 31,12–17, die Priesterschrift und das Heiligkeitsgesetz, in: Achenbach, R./Ebach, R./Wöhrle, J., Wege der Freiheit. Zur Entstehung und Theologie des Exodusbuches, AThANT 104, Zürich 2014, 131–149; 134. 372 Es ist eine wichtige Beobachtung von Nihan, dass der Bund als Apposition zu עשהzu verstehen ist und nicht als Objekt, da dadurch zwei Dinge deutlich werden. Erstens, der Bund lässt sich nicht als direktes Objekt mit עשהverbinden, da er von Menschen nicht gemacht werden kann. Zweitens, der Bund scheint, zumindest grammatikalisch betrachtet, nicht im Vordergrund zu stehen. Vgl. dazu AaO., 137. 373 Vgl. dazu z. B. die profilierten Positionen von Groß, Walter, „Rezeption“ in Ex 31,12–17 und Lev 26,39–45. Sprachliche Form und theologisch-konzeptionelle Leistung, in: Kratz, R./Krüger, T., Rezeption und Auslegung im Alten Testament und seinem Umfeld, OBO 153, Freiburg 1997, 45–64. Groß sieht hier als Grundlage den Sinai-Bund. Dieser wird aber von einem priesterlichen Autor nahezu unsichtbar gemacht, indem der Sabbat als Aktualisierung des Bundeszeichens eingefügt und so ein Anschluss an den ewigen Abrahamsbund geschaffen wird; aaO., 55 f. Köckert denkt in die gegenteilige Richtung, indem er den priesterschriftlichen ewigen Bund nicht als Verheißungsbund in Ex 31 erkennt, sondern als Ausdruck von Gebot und Israels Gehorsam, womit „die Neuinterpretation des Sabbatgebotes einen großen Schritt in Richtung eines Verständnisses des Gesetzes als Heilsweg“ unternimmt. Köckert, Matthias, Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum Verständnis des Gesetzes im Alten Testament, FAT 43, Tübingen 2004, 101.
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Sabbatgebotes dargestellt wird, sondern um den Sabbat, dessen Bedeutung durch eine Verbindung von P- und Nicht-P-Traditionen gestärkt wird.374 Es ließe sich also zunächst festhalten, dass der Sabbat nicht für den Bund da ist, sondern der Bund für den Sabbat. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, noch einmal einen Schritt zurückzugehen und zu überlegen, ob wirklich von einer Sabbatobservanz gesprochen werden kann, die vergleichbar ist mit einer dtn-dtr Gesetzesobservanz und ob dies an der Verwendung der beiden Verben שמרund עשהfestgemacht werden kann? Um dieser Frage nachzugehen, muss in einem ersten Schritt der thematische Kontext innerhalb der Perikope betrachtet werden, in dem das Sabbatgebot eingebettet ist. Die Rahmung, also die Verse 13 und 17 bieten das Fundament, auf dem der Leser sich zum Mittelpunkt, der durch die Gebotseinhaltung geprägt wird, bewegt. Indem der Sabbat begangen wird, soll an ihm die Heiligung des Volkes durch JHWH erkannt werden.375 Der Sabbat ist also Mittel zum Zweck, den Kern der Beziehung zu JHWH wahrzunehmen, der in der Heiligung besteht. Was aber bedeutet in diesem Kontext „Heiligung“? Eine Antwort könnte in V.17 bestehen, der den Sabbat mit dem Schöpfungshandeln JHWHs begründet. So wie JHWH am siebten Tag geruht und aufgeatmet hat, soll es auch Israel tun – es wird also ein Entsprechungsverhältnis konstituiert. Die Entsprechung von Schöpfer und Geschöpf zeigt sich in der Nachahmung des von JHWH vorgegebenen Rhythmus, der den Lauf des gesamten Kosmos mit jedem einzelnen Menschen verbindet, der in diesem Rhythmus sein Leben gestaltet.376 Aber der Text kennt noch eine andere Zeitdimension, welche die der menschlichen Überschaubarkeit übersteigt. Der Sabbat wird in V.17 als Steigerung von V.13 als Zeichen für fernste Zeit angesehen. Die Generationenfolge, die gerade in Gen 17 ein so großes Gewicht für die priesterliche Konzeption von Identität hat, wird in die zeitlichen Dimensionen JHWHs hineingeholt. Im Vergleich von V.13 mit V.17 gibt es noch eine Auffälligkeit, durch welche der Struktur der Entsprechung oder Korrespondenz noch ein weiteres Ele374 Vgl. Nihan, Sabbatgesetz, 143 f. 375 Im Hintergrund der Heiligkeitsaussagen in Ex 31 stehen vermutlich Passagen aus dem Heiligkeitsgesetz und dem Ezechielbuch, vor allem Ez 20,12.20. Der Sabbat wird im Heiligkeitsgesetz nicht mit dem Bund in Verbindung gebracht, aber die Formulierung „Sabbat bewahren“ (Lev 19,3.30 und 26,3) und „Heiligtum JHWHs“ (LXX-Variante von Lev 23,3a) sowie die karet-Strafe als Todesstrafe (Lev 20,3–5) u. a. sind dort gebräuchliche Termini. Vgl. dazu Nihan, Sabbatgesetz, 134– 137. Außerdem muss natürlich der literarische Ort bedacht werden, an dem das Sabbatgebot ins Exodusbuch platziert worden ist, nämlich am Ende der Bestimmungen zum Bau des Wüstenheiligtums, der Stiftshütte. 376 Die bedeutsame Rolle des Entsprechungsgedankens im Vorgang der Heiligung nennt Blum „Korrespondenzverhalten“ und sieht dieses vor allem in der kultischen Kommunikation verwirklicht, vgl. Blum, Komposition, 318. Sowohl Nihan als auch Grund beziehen sich auf diese von Blum entwickelte Form von Korrespondenz, bleiben aber beim Gedanken der Imitation des Sieben Tage Rhythmus als Welt- und Lebensordnung stehen, ohne ihn mit dem עולםBegriff zu verbinden oder an Teilhabe zu denken. Vgl. Nihan, Sabbatgesetz, 140 und Grund, Alexandra, Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur, FAT 75, Tübingen 2011, 283.
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ment hinzugefügt wird. Die Verse sind in ihrem ersten Versteil, indem der Sabbat als Zeichen genannt wird, chiastisch aufgebaut (die ביןAbfolge von V.13 rückt an den Anfang von V.17), der dann folgende Ausdruck für die zeitliche Erstreckung wird verändert (von לדורתיכםzu )לעולםund zum Abschluss wird in beiden Versen durch die Konjunktion כיeine Begründungsstruktur angehängt. In V.13 liegt diese in der grundsätzlichen Begründung des Sabbats als Zeichen der Heiligung (weil JHWH euch heiligt), in V.17 aber liegt die Begründung des Sabbats als Zeichen in der Zeitstruktur: Weil JHWH in sechs Tagen Himmel und Erde geschaffen und am siebten Tag ausgeruht und aufgeatmet hat, ist der Sabbat ein Zeichen für die fernsten Zeiten. Der Ausdruck לעולםgewinnt so eine doppelte Interpretationsrichtung – zum einen meint er die Beständigkeit des Sabbats nicht nur für Generationen, sondern eben für alle Zeiten, die schon waren und noch kommen werden, zum anderen aber wird die Weltgründung JHWHs in ihrer Ordnung von sechs plus einem Tag hier mit עולםcharakterisiert. Schaffen und Ruhen JHWHs ist zwar in einer von den Menschen erfahrbaren und nachzuahmenden Größe von Zeit strukturiert, geht aber bei weitem nicht darin auf, indem es עולםist. Grund arbeitet die Verbindung von mythischer Anfangszeit und in der Geschichte erfahrbarer Zeit im Sabbat heraus,377 bezieht aber den עולם-Begriff nicht ein. Doch wird nicht gerade das Schaffen der Anfangszeit dadurch geprägt, dass es nicht einfach auf eine Wiederholung des sechs plus einem Tag-Rhythmus angelegt ist, sondern auch auf seine Einbettung in eine umfassende kosmische Ordnung?378 Daran schließt sich ein zweiter Gedanke an, nämlich der der Teilhabe Israels an dieser umfassenden Ordnung. Gerade in der Partizipation scheint sich doch der Sinn des Entsprechungsgedankens voll zu offenbaren. Nur so erklärt sich die Verbindung vom Sabbat als Zeichen der Heiligung und als Zeichen des עולםund die Betonung seiner geforderten Bewahrung. Heiligung bedeutet in dieser Perspektive, dass der Mensch als Geschöpf und damit als vergängliches, begrenztes Wesen teilhat am ewigen Rhythmus von Creatio und Recreatio (Schaffen und Aufatmen) und damit in eine Zeit-, Raum- und Daseinsqualität eingebunden ist, welche die der eigenen auf sich geworfenen Existenz bei Weitem übersteigt.379 Von
377 „Dabei repräsentiert nicht allein der Sabbat die anfängliche Ordnung, sondern die gesamte, von Israel in seiner geschichtlichen Zeit gelebte Zeitstruktur im gesamten Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Auf diese Weise wird eine beständige Verbindung zwischen der anfänglich-mythischen Zeit, der Zeit fundierender Geschichte Israels und der Zeit der Adressat/inn/en hergestellt, ohne dass sie im Sinne mythischer Zeitvorstellungen in eins fallen.“ Grund, Entstehung, 304. 378 Vgl. dazu die Untersuchung von Hartenstein zum Sabbat. In seiner Auslegung des Festcharakters betont er die Funktion der „Symbolisierung“ von Zeit im Ritus. Mit Bezug auf P. Ricoeur wird das Verhältnis von mythischer und profaner Zeitstruktur als Erweiterung und Annäherung des Profanen durch und an den Mythos beschrieben. Hartenstein, Friedhelm, Der Sabbat als Zeichen und heilige Zeit. Zur Theologie des Ruhetages im Alten Testament, in: Das Fest: Jenseits des Alltags, JBTH 18, Neukirchen-Vluyn 2003, 103–131; 109. 379 Ein Begriff, der nicht nur die Zeit-, sondern die eben damit verbundene Lebensqualität betont, ist die seltene Wurzel ( נפשaufatmen), die nur noch in Ex 23,12 gebraucht wird und dort die Recreatio von Lebenskraft und Lebensfreude für die Arbeitstiere, die Sklaven und die Fremdlinge
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hier aus wird auch die Verbindung mit der priesterlichen Bundestheologie (ברית )עולםsichtbar, welche eine dauerhafte Relation zwischen JHWH und seinem Volk garantiert. Vielleicht ließe sich sogar sagen, dass wegen der Bestimmung des Sabbats als Zeichen für fernste Zeiten der Sabbat überhaupt mit dem Bund verbunden worden ist.380 Ähnlich wie in Gen 17, wo die Rede vom Bund gebraucht wird, um den Identitätsmarker der Beschneidung zu profilieren, wird die Bundestheologie hier zu einer Art Vehikel, um den Gedanken der Teilhabe am עולםdurch den heiligen und heiligenden Sabbat zu charakterisieren. Durch das Begehen des Sabbats soll das anfängliche schöpferische Tun JHWHs erinnert, der Akt der Entsprechung vollzogen und die Teilhabe vergegenwärtigt werden, was einen deutlichen Unterschied zum dtn-dtr Gesetzesgehorsam zu markieren scheint. Dies wird gerade auch an der Aufforderung deutlich, den Sabbat nicht nur zu bewahren, sondern auch zu tun (Ex 31,16). Das Verb tun/schaffen ( )עשהin Verbindung mit der Sabbateinhaltung zu gebrauchen, in der es zuvorderst darum geht, das Handeln einzustellen, ist ungewöhnlich.381 Hier einen deuteronomistischen Observanzcharakter zu sehen, der mit Nachdruck die Einhaltung fordert und diese Einhaltung als Tun des Sabbatgebotes deutet, wäre zu oberflächlich gedacht. Im Rahmen einer Deutung des Textes, deren Argumentation durch Entsprechung und Teilhabe bestimmt wird, erfüllt das Verb עשהeine wichtige Funktion: Israels Teilhabe an JHWHs umfassender עולם-Qualität besteht nicht nur in einer ‚passiven‘ Einbindung, sondern in der aktiven Verantwortung ihrer Durchsetzung. Indem Israel selbst den Sabbat „tut/schafft“ (vgl. das sonst nur noch in Dtn 5,15 belegte ungewöhnliche עשהvom Sabbat in Ex 31,16), wird es hier m. E. von Gott an der Aufrechterhaltung der Schöpfungsordnung beteiligt.382
In einem zweiten Schritt wird jetzt auch die Terminologie der Verben זכרund שמר, welche die Sabbateinhaltung beschreiben, erörtert, wobei auch die Sabbatgebote der Dekaloge in ihrer Differenz von ( זכרEx 20,8) und ( שמרDtn 5,12) miteinbezogen werden sollen. Die Einhaltung des Sabbats wird mit zwei unterschiedlichen Verben gefordert: In Ex 31,13.14.16 und Dtn 5,12 mit שמרund in Ex 20,8 mit זכר. Diese beiden Verben werden zweimal mit einer Präzisierung versehen, die in einem mit der Präposition לkonstruierten Infinitiv angehängt wird: In Ex 31,16: Bewahrt beschreibt. Die Teilhabe an JHWHs Aufatmen, in der Unterbrechung des Schaffens, verschafft seinen Geschöpfen eine neue Form von Lebensqualität. 380 Dies entspräche den oben ausgeführten Beobachtungen Nihans, den Sabbat, nicht den Bund, in dieser Perikope im Vordergrund zu sehen. 381 Benno Jakob empfindet den Ausdruck ‚den Sabbat machen‘ als „kühn“ und erklärt ihn durch die Parallele der Verwendung des Verbes עשהbeim Heiligtumsbau in Ex 25ff: „[…] die bevorzugte Wahrung des Sabbat, selbst während der Herstellung des Wüstenheiligtums, der Stiftshütte, schafft (‚macht‘) ein höheres Heiligtum, nicht ein stoffliches, sondern ein geistiges […].“ Jakob, Exodus, 849 f. 382 Hartenstein, Sabbat, 124.
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den Sabbat, indem ihr den Sabbat tut, in Ex 20,8: Gedenkt des Sabbats, indem ihr ihn heiligt. Eine Differenzierung in der Bedeutung zwischen ( שמרbewahren) und ( זכרgedenken) liegt für Grund in einer unterschiedlichen Gewichtung von Kognition und Handeln. Bei זכורdominiert durchgängig die kognitive Dimension des Bedenkens, bei שמורdie praktische Dimension des Bewahrens einer Ordnung. זכורheißt etwas – hier den Sabbat – in seiner Bedeutung vergegenwärtigen, שמורheißt hier dagegen eine (als wertvoll anerkannte) Ordnung zu achten und ihr entsprechend zu handeln.383
Allerdings muss deutlich gesagt werden, dass beide Verben vorrangig einen Handlungsaspekt in sich tragen und es auch bei זכרnicht bei einem rein kognitiven Akt bleibt.384 Außerdem haben beide Verben gemeinsam, dass sie sich auf etwas Vorhandenes beziehen, das gegeben ist, sie implizieren Handlung, aber keinen Prozess von Herstellung.385 Die Verbindung von bewahren und tun ist am häufigsten im Dtn und DtrG zu finden, aber auch im Heiligkeitsgesetz, und bezeichnet dort die Gesetzesobservanz.386 Aus diesem Grund hat Stipp für Gen 17,9–10 (den Bund bewahren) die These aufgestellt, dass es sich um „eine subversive Rezeption deuteronomistischer Bundestheologie“387 handelt, wenn die Begriffe der dtn-dtr Gesetzesobservanz auf gängiges Brauchtum übertragen werden. In Ex 31 handelt es sich zwar nicht wie bei der Beschneidung um gängiges Brauchtum, wohl aber um ein Einzelgebot, im Gegensatz zu einem Gesetzeskorpus, das, wie die Beschneidung auch, in der Zeit der Exilserfahrung Israel eine bestimmte kultische Prägung gibt und somit identitätsstiftend wirkt.388 Ob sich in diesem Fall auch von „Subversion“ sprechen lässt, ist vermutlich zu bezweifeln, aber es zeigt, dass die theologisch prägenden Begriffe von Dtn, DtrG und HG in Texten benutzt werden, die eine andere theologische Zielführung als die Observanz bezwecken.
383 Grund, Entstehung, 163. 384 Vgl. zum Handlungsaspekt von זכרEising, Art. זכר, in: ThWAT, 573. Die von Grund vollzogene Trennung zwischen Kognition und Handlung scheint an dieser Stelle eine neuzeitliche Form von Differenzierung widerzuspiegeln, aber gerade nicht den Zusammenhang von Denken und Handeln im Alten Orient darzustellen. 385 „Obj. von smr kann jedwedes Gut oder jeder Wert sowohl der materiellen wie auch der geistigen Welt sein, der behütet, gehalten oder bewacht werden soll.“ López García, Art. שמר, in: ThWAT, 286. Auch das Gedenken setzt logischerweise ein vorhandenes Objekt, sei es eine Situation, ein Mensch, eine Sache voraus, an das gedacht werden kann. 386 Vgl. dazu z. B. Nihan, Sabbatgesetz, 143. Hier ist auch eine Auflistung der einzelnen Stellen zu finden. 387 Stipp, Bund, 135 f. 388 Vgl. zur Bedeutung des Exils für den Sabbat Grund, Entstehung, 185. Sie vergleicht in Anlehnung an Heines Dictum von der Tora als ‚portatives Vaterland des Judentums‘ den Sabbat als ‚portativen Tempel‘. „Statt des verlorenen geheiligten Orts, der Tempel, gilt nach dem priesterlichen Sabbatverständnis nun eine besondere Zeit als geheiligt, die Israel zusammenhält und eine neue ‚Ortsunabhängigkeit‘ verleiht. […] so ist der Sabbat seit diesen Anfängen eine Art ‚portativer Tempel‘.“
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Es stellt sich allerdings die Frage, warum in den Sabbatgeboten des Dekalogs zwei unterschiedliche Verben gebraucht werden, die das Halten des Sabbats fordern. Hossfeld spricht sich für eine sekundäre Umwandlung des älteren שמרzu זכרin Ex 20,8 aus. Die Voraussetzung für seine Annahme ist eine signifikante Differenz im Bedeutungsgehalt der beiden Verben innerhalb der dtn Paränese, in der זכרein Erinnern an die Vergangenheit bezeichne (Dtn 5,15) und sich deswegen als Aufforderung für das Sabbatgebot nicht eigne. Das שמר ist bewusst gewählt worden, um es gegenüber Dtn 5,15 abzugrenzen.389 Dieses Argument könnte zwar evtl. erklären, warum es das שמרim Sabbatgebot des Deuteronomiums braucht, aber eine Begründung für die angenommene spätere Verwendung von זכרin Ex 20,8 ist es nicht. Grund nimmt eine Entwicklung in der umgekehrten Richtung, eine Umwandlung von זכרzu שמרan, indem sie in Ex 20,8 die „ungewöhnlichere und vermutlich auch ursprünglichere Formulierung“390 sieht, da זכרin der Priesterschrift eher selten Verwendung findet. Aber auch dieses Argument vermag keine wirkliche Sicherheit in der Frage nach den Formulierungsvarianten zu verschaffen. Interessanterweise scheint der Zusatz der Heiligung zum זכרin Ex 20,8 kaum eine Rolle in dieser Diskussion zu spielen. In Num 15,38–41 geht es um die Quasten an den Kleidern, die als Erinnerungszeichen dienen, die Gebote zu halten. Dort heißt es in Vv.40f: „Sondern ihr sollt gedenken ( )זכרund ihr sollt tun alle meine Gebote, dass ihr heilig seid für euren Gott. Ich bin JHWH, euer Gott, der euch aus Ägypten geführt hat, um für euch euer Gott zu sein, ich bin JHWH, euer Gott.“ Diese Passage wird traditionell P zugeschrieben, weist allerdings Parallelen zum Heiligkeitsgesetz auf und könnte auch in Verbindung zu einer H-Redaktion des Numeribuches stehen und damit nachpriesterlich sein.391 Num 15,38–41 und Ex 31,12–17 sind zwei Texte, die Verbindungen zum Heiligkeitsgesetz aufweisen und beide sind vermutlich jünger als die Formen des Sabbatgebotes der Dekaloge.392 Sie zeigen, dass der Gedanke der Heiligung durch Gedenken und Tun zusammengesetzt wird und in zwei Begründungsfiguren verankert werden kann: Schöpfung (Ex 31,17) und Exodus (Num 15,41). Die Rückbindung an die Schöpfung allerdings findet sich innerhalb des Komplexes der Gebotseinhaltung nur in Ex 31,12– 17 und Ex 20,11 (wobei Ex 31 vermutlich abhängig von Ex 20,11 ist), während die Exoduserfahrung sowohl im Deuteronomium als auch im Heiligkeitsgesetz verwendet wird, allerdings wird in Ex 31 das Verb זכרnicht aufgenommen.
389 Vgl. dazu Hossfeld, Frank-Lothar, Der Dekalog: seine späten Fassungen, die originale Komposition und seine Vorstufen, OBO 45, Göttingen 1982, 41. 390 Grund, Entstehung, 164. 391 Vgl. Nihan, Christophe, The Priestly Laws of Numbers, the Holiness Legislation, and the Pentateuch, in: Frevel, C./Pola, T./Schaart, A., Torah and the Book of Numbers, FAT II/62, Tübingen 2013, 109–137; 109. 392 Nihan, Sabbatgesetz, 146 nimmt an, dass Ex 31,12–17 zurückgeht auf eine „das HG zugleich weiterführende und revidierende Bearbeitung des Pentateuch, die priesterlichen Kreisen der spätachäminidischen Zeit in Judäa und Samaria entstammt.“
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Nicht aufgrund der Wurzel זכר, aber aufgrund ihrer Verbindung mit der Aufforderung zu heiligen und ihrer Begründung durch die Schöpfung scheint Ex 20,8–11 jünger zu sein als Dtn 5,1–15. Aus den Verben gedenken und tun alleine eine Entscheidung hinsichtlich der Frage nach Gesetzlichkeit zu treffen, scheint aufgrund ihrer Ähnlichkeit und ihrer Zusammengehörigkeit in kultischen Kontexten nicht möglich zu sein. Zusammenfassend kann für Ex 31,12–17 in der Diskussion um die Beschaffenheit des Bundes also festgehalten werden, dass der Fokus des Textes auf der Einhaltung des Sabbatgebotes liegt, da nur so Entsprechung und Partizipation vergegenwärtigt und realisiert werden können. Der Bund in seiner Struktur eines ewigen Bundes bleibt, wie in Gen 17 auch, davon unberührt. Er ist ein Teil des Begründungszusammenhanges der Partizipation an JHWHs עולם. Als ein dritter Komplex, der eine Auseinandersetzung mit der priesterlichen Bundeskonzeption und Gesetzesobservanz in sich trägt, sollen zwei Texte in ihrem Diskurs miteinander untersucht werden: Jer 14–15 und Lev 26.
5.5 Jer 14f und Lev 26: Das Bundesgedenken Beide Texte verwenden nicht den Ausdruck שמר ברית, sondern legen den Fokus auf זכר בריתund bilden somit eine wertvolle Ergänzung zum Bedeutungsgehalt der Wurzel זכרinnerhalb einer nachexilischen Bundestheologie. Beide Texte sind für eine Auslegung von Ps 103 von Bedeutung, da sie die Frage nach einer Erwartungshaltung an den Bund in einem Zustand von zurückgenommener Gnade JHWHs aufwerfen und somit einen Beitrag zum Zusammenhang von Bund und Gnade leisten.393
393 Im Jeremiatext finden sich außerdem einige wichtige Faktoren zur Bedeutung der Fürbitte, die in der Auslegung des himmlischen Gottesdienstes in Ps 103,19f eine wichtige Rolle spielt und auch zum Zusammenhang von Ps 103 und Ps 104. Er soll aber wegen seiner Verbundenheit zu Lev 26 hier ausgelegt werden, obwohl sich auch die oben genannten Anknüpfungspunkte geeignet hätten. Dies hat allerdings zur Folge, dass der Text nicht nur in seiner Konzentration auf die Bundestheologie hin diskutiert wird, wie es bei den vorherigen Referenztexten der Fall war.
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5.5.1 Exegese Jer 14,19–22 im Kontext von Jer 14,1–15,9 Die Komposition Jer 14,1–15,9394 ist oft in die Gattung der „prophetischen Liturgien“395 eingeordnet worden, wobei fraglich ist, ob es sich tatsächlich um eine „Liturgie“ handelt.396 Sie ist in zwei parallelen Klagegängen aufgebaut, die aus Notschilderung (Jer 14,1–6 [Prophetenrede]; 14,17–18 [Prophetenrede]), Volksklage (Jer 14,7–9; 14,19–22) und Abweisung der Klage (Jer 14,10–16; 15,1–9) bestehen.397 Inhaltlich thematisieren die Notschilderungen unterschiedliche Themen wie Dürre (Jer 14,1–6) und Krieg (Jer 14,18)398 und auch die beiden Klagegänge weisen Varianten im Versuch, die Strafe abzuwenden, auf. Ein wesentlicher Faktor im zweiten Volksklagegang (Jer 14,19–22) macht dabei die Rekurrenz auf die Bundestheologie aus, die für diese Auslegung eine gewichtige Rolle spielt. Es wird also vorrangig gefragt, welche Geltung die Hoffnung auf das Bundesgedenken JHWHs (Jer 14,21) hat und wie sie im gesamten Kontext von Klage und
394 Vgl. zu dieser Abgrenzung der Perikope Beuken, W.A.M/van Grol, H.W.M., Jer 14,1–15,9. A Situation of Distress and its Hermeneutics. Unity and Diversity of Form – Dramatic Development, in: Bogaert, P.-M., Le Livre de Jérémie. Le Prohète et son Milieu. Les Oracles et leur Transmission, Leuven 1981, 297–342. Auch wenn der Ansatz der Kohärenz dieser Perikope nicht geteilt werden kann, werden die sprachlichen Bezüge deutlich herausgearbeitet, die ihren Zusammenhalt und äußere Abgrenzung markieren. Zur Diskussion der literarischen Wachstumsgeschichte vgl. Bezzel, Hannes, Die Konfessionen Jeremias. Eine redaktionsgeschichtliche Studie, BZAW 378, Berlin/ New York 2007, 97–115, bes. 111f; zit. als: Bezzel, Konfessionen. 395 Vgl. zur Einordnung in diese Gattung zum Beispiel die ausführliche Diskussion bei Reventlow, Henning Graf, Liturgie und prophetisches Ich bei Jeremia, Gütersloh 1963, 152 f. Er hält die Komposition nicht nur für eine liturgische Stilform, sondern für eine tatsächliche Klageliturgie, die in Anschluss an Gunkel-Begrich evtl. an einem Klagefest gebetet worden ist; ebd. Auch Weiser spricht von einer Liturgie, nimmt aber unterschiedliche literarische Abfassungszeiten für die beiden Volksklagen an, in: Weiser, Artur, Das Buch des Propheten Jeremia, ATD 20/21, Göttingen 41960, 12. Ein Überblick zur Literatur zu dieser Thematik findet sich bei Schmid, Konrad, Buchgestalten des Jeremiabuches. Untersuchungen zur Redaktions- und Rezeptionsgeschichte von Jer 30–33 im Kontext des Buches, WMANT 72, Neukirchen-Vluyn 1996, 287, Anm. 425. 396 Rudolph bestreitet dies, indem er argumentiert „die entscheidenden Erkenntnisse dieses Kapitels werden in der Zwiesprache zwischen Gott und Prophet gewonnen (deshalb ist es unangemessen, hier von ,Liturgie‘ zu reden).“ Rudolph, Wilhelm, Jeremia, HAT 1/12, 1968, 98. Fischer trifft gar keine Zuordnung und spricht schlicht von „Gebeten“ und „Antworten Gottes“, anhand derer er auch eine Gliederung des Abschnittes vornimmt. Fischer, Georg, Jeremia 1–15, HThKAT, Freiburg 2005, 473. 397 Vgl. zu dieser Gliederung Wanke, Gunther, Jeremia, Teilband 1: Jeremia 1,1–25,15, ZBK 20, 1995, 140. Wanke trennt die Perikope allerdings in Jer 15,4 ab. Diese Gliederung hat den Vorteil, dass sie den parallelen Aufbau zeigt und von großer Übersichtlichkeit geprägt ist. Aufgrund der in der Gliederung zu sehenden Struktur von Klage und Klageabweisung wird der Textzusammenhang Jer 14,1–15,9 hier als Klagekomposition bezeichnet. Dieser Ausdruck spiegelt sowohl inhaltlichen Zusammenhalt als auch literarische Komposition verschiedener Textstücke wider. Zum Charakter dieser Sequenz als Komposition, d. h. aus verschiedenen Stücken zusammengesetzter Text, vgl. auch Carroll, Robert P., Jeremiah. A Commentary, Philadelphia, 1986, 307. 398 Diesbezüglich gibt es die Variante der literarkritischen Scheidung aufgrund der unterschiedlichen Thematik (vgl. z. B. Weiser, Prophet, 128) und eine kohärente Lesart, die mit dem Stichwort „Überblendtechnik“ argumentiert (Fischer, Jeremia, 473).
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Klageabweisung zu verstehen ist. Aus diesem Grund beginnt die Auslegung in der zweiten Volksklage (14,19–22) und schaut von dort auf die gesamte Klagekomposition und ihre Kontexte. Jer 14,19–22: יתנוּ וְ ֵ ֥אין ָ֔ ם־בּ ִצ ֙יֹּון גָּ ֲע ָל֣ה נַ ְפ ֶ֔שָׁך ַמ ֙דּ ַ ֙וּע ִה ִכּ ְ הוּדה ִא ֗ ָ ְאס ָמאַ ְ֜ס ָתּ ֶאת־י ֹ ֨ ֲה ָמ19 וּל ֵ ֥עת ַמ ְר ֵ ֖פּא וְ ִה ֵנּ֥ה ְב ָע ָ ֽתה׃ ְ לֹום וְ ֵ ֣אין ֔טֹוב ֙ ָ ֖לנוּ ַמ ְר ֵ ֑פּא ַקֵוּ֤ה ְל ָשׁ בֹותינוּ ִ ֥כּי ָח ָ ֖טאנוּ ָ ֽלְך׃ ֑ ֵ הו֛ה ִר ְשׁ ֵ ֖ענוּ ֲעֹו֣ ן ֲא ָ ְ יָ ַ ֧ד ְענוּ י20 21 בֹודך ֑ ֶ אַל־תּנַ ֵ ֖בּל ִכּ ֵ ֣סּא ְכ ְ אַץ ְל ַ ֣מ ַען ִשׁ ְמ ָ֔ך ֙ ְאַל־תּנ ִ יתָך֖ ִא ָ ֽתּנוּ׃ ְ אַל־תּ ֵ ֥פר ְבּ ִ ֽר ָ זְ ֕כֹר 19 Hast du Juda wirklich verworfen399 – oder hast du Zion verabscheut400? Warum hast du uns geschlagen, aber keine Heilung für uns? Hoffen auf Frieden, aber kein Gutes, auf eine Zeit der Heilung, aber siehe: Schrecken. 20 Wir haben erkannt, JHWH, unseren Frevel, die Schuld unserer Väter, dass wir gesündigt haben gegen dich. 21 Verwirf nicht um deines Namens willen, entehre nicht den Thron deiner Herrlichkeit. Gedenke401, brich402 nicht deinen Bund mit uns. 22 Gibt es unter den Nichtigen der Völker jemanden, der es regnen lässt oder gibt der Himmel Regengüsse? Bist nicht Du es, JHWH, unser Gott? Wir hoffen auf dich, denn Du hast gemacht alle diese (Dinge).
Die Volksklage in Jer 14,19 beginnt mit der Frage an JHWH, ob er Juda und Zion wirklich verstoßen habe und schließt dann die Frage nach dem Grund (warum?) an, die schon Teil der sich daran anknüpfenden Notschilderung ist. Die Schilderung der Not ist rhetorisch kunstvoll gestaltet und fasst die vorherigen ausführ lichen Beschreibungen der auf verschiedenen Ebenen desaströsen Situation Judas gezielt durch wenige Begriffe zusammen. Auf die Warum-Frage im Perfekt folgen nominale Aussagen, die nicht nur den Zustand Judas wiedergeben, der aus dem Schlag JHWHs resultiert, sondern auch die nicht eingetroffene Erwartungshaltung des Volkes. Statt der erhofften Heilung nichts Gutes, statt des Friedens Schrecken. Schlag und ersehnte Heilung weisen zunächst zurück auf die Prophetenklage in den Versen 17–18, in welcher das Ausmaß der Wunde, die Juda erleiden musste, beweint wird: Vom Schwert getötete Menschen auf den Feldern, Verhungerte in
399 מאסLev 26,15.43.44. 400 געל נפשLev 26,11.15.30.43.44. 401 זכרLev 26,42.45. 402 פררLev 26,15.44.
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den Städten. Diese Situation wird ausführlich in der Klageabweisung in 14,10–16 im Dialog zwischen JHWH und Jeremia geschildert. Das Stichwort des Hungers führt den Lesenden an den Anfang des Kapitels, in die Beschreibung der großen Dürre in den Versen 2–6, welche ganz Juda betrifft. V.22, also der letzte Vers der Volksklage, spannt explizit noch einmal den Bogen zum Anfang, da hier das Motiv des ausbleibenden Regens und JHWHs Herrschaft über diesen thematisiert wird. Die in V.19 verwendeten Begriffe „Schlag“ und „ausbleibende Heilung“ sind Kurzformeln für das Leid Judas auf den Ebenen der von JHWH geschickten Natur katastrophe und der Kriegshandlungen.403 Die Begriffe „Frieden“, aber „kein Gutes“ führen in die prophetische Tradition der Fürbitte. In Jer 14,11 wird Jeremia die Fürbitte verboten mit den Worten: Bete nicht für dieses Volk um Gutes. Jeremia versucht dieses Verbot abzuweisen durch das Argument, dass das Volk von falschen Propheten verführt worden wäre, die beständigen Frieden (V.13) verkündigen und es damit in die Irre führen. Weil das Volk dem falschen Frieden vertraut hat, wird es keinen Frieden erfahren und der Weg, diesen durch die Fürbitte der Propheten wieder herzustellen, wird klar abgelehnt. Nicht nur Jeremia trifft dieses Verbot, selbst wenn Mose oder Samuel vor JHWH treten würden, um für das Volk einzustehen, hätte JHWH kein Einsehen und würde sie wieder wegschicken (Jer 15,1). Als Grund für die Unverhandelbarkeit prophetischer Intervention wird in Jer 15,5–6 die aus der Größe der Schuld resultierende „Erbarmungs-Müdigkeit“ JHWHs angegeben. אל ְל ָשֹׁל֖ ם ָ ֽלְך׃ ֹ ֥ וּמי יָ ֔סוּר ִל ְשׁ ֣ ִ וּמי יָ נ֣ וּד ָלְ֑ך ֖ ִ ִוּשׁ ֔ ַלם ָ מל ָע ַ ֙ליִ ְ֙ך יְ ֣ר ֹ ֤ ֠ ִכּי ִ ֽמי־יַ ְח5 אָחֹור ֵתּ ֵל ִ֑כי ֣ הו֖ה ָ ְ אַ ְ֣תּ נָ ַ ֥ט ְשׁ ְתּ א ִ ֹ֛תי נְ ֻאם־י6 :יתי ִהנָּ ֵ ֽחם ִ יתְך נִ ְל ֵ ֖א ֵ֔ אַשׁ ִח ְ וָ אַ֨ט ֶאת־יָ ִ ֤די ָע ַ ֙ליִ ְ֙ך ָ ֽו 5 Denn wer wird Mitleid haben mit Dir und wer wird Dir Teilnahme erweisen, Jerusalem? Und wer wird hinzutreten, um zu fragen, ob Dir Frieden ist. 6 Du hast mich verworfen, Spruch JHWHs, rückwärts bist Du gegangen und gerichtet habe ich meine Hand gegen Dich, dass ich Dich verderbe. Ich bin müde, mich selbst zu beherrschen/zu reuen.
In V.5 wird das Verbot der Fürbitte dahingegen gesteigert, dass es eine Zeit geben wird, in der dieses nicht mehr nötig sein wird, da niemand mehr versuchen wird, für Jerusalem einzutreten. Niemand wird sich überhaupt nach dem Frieden, also
403 Im Text Jer 14,1–15,9 ist es offengelassen, ob Dürre und Krieg zwei verschiedene Strafhandlungen JHWHs sind, ob der Krieg aus der Dürre resultiert oder ob eine Überlagerung von Kriegs- und Dürrebildern vorliegt, um die Schwere des Schlags darzustellen, der in verschiedenen Ausformungen Juda trifft (so ist es z. B. im Joelbuch der Fall). Aufgrund der inhaltlichen Verwobenheit und der Möglichkeit, dass die Dürre zu Kriegshandlungen geführt hat, ist es schwer zu entscheiden, ob es sich um zwei verschiedene zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Klagen handelt, aber es scheint plausibel zu sein, dass die Kriegsbeschreibungen die Belagerung und Zerstörung Jerusalems thematisieren und die Dürreklage ein älteres Stadium darstellt.
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dem Ergehen der Stadt und damit auch ihrer Bewohner, erkundigen. Die Klageabweisung richtet sich hier nicht an das Volk, sondern an Jerusalem als Wohnort JHWHs. Es ist eine Umkehrung von zionstheologischen Traditionen zu beobachten, indem JHWH selbst den von ihm ausgewählten Residenzort, der durch seine Anwesenheit als Hort der Bewahrung galt, der Zerstörung preisgibt.404 Sprachlich werden eine heilvolle Zuwendung und/oder eine Interzession in drei מיFragen mit einem Trikolon von Verben der Empathie ( )סור לשאל נור חמלdeutlich ausgeschlossen. JHWH trennt sich von seiner Stadt und seinem Volk, es wird in Jer 15,1 formuliert: „Ich bin nicht für dieses Volk“. Der Nominalsatz drückt etwas Statisches aus, als hätte JHWH endgültig eine Entscheidung getroffen. Auch, dass der Ausdruck נפשיan dieser Stelle verwendet wird und nicht eine einzelne Handlungsoption (z. B. meine Gnade usw.) vermittelt den Eindruck von Vollständigkeit. JHWH an sich, mit all seinen Handlungsmöglichkeiten, will nicht mehr mit seiner Stadt und seinem Volk sein. JHWHs Müdigkeit, weil er so oft seinen Gerichtsbeschluss hat abwenden müssen, führt zu einer ausweglosen Lage und beschreibt in diesem Fall eine definitive Unabwendbarkeit des Strafhandelns.405 Der Gedanke des nicht mehr wiederherstellbaren Friedens durch Intervention von Propheten oder JHWH selbst wird in Kapitel 16 wiederaufgenommen und erweitert. Das Schicksal Jeremias, der mit seinem ganzen Leben für seine Botschaft einstehen muss, indem er einsam lebt und seinen prophetischen Aufgaben nicht nachkommen darf (wie klagen, trösten usw.), wird besiegelt und damit begründet, dass JHWH seinen Frieden, Gnade und Barmherzigkeit, vom Volk weggenommen habe (Jer 16,5): אַל־תּ ֵלְ֣ך ִל ְס ֔פֹּוד ֵ ְבֹוא ֵבּ֣ית ַמ ְר ֵ֔ז ַח ו ֙ אַל־תּ ָ הוה ֗ ָ ְאָמר י ֣ ַ ִ ֽכּי־ ֣כֹה5 הוה ֔ ָ ְם־הזֶּ ֙ה נְ ֻאם־י ַ לֹומי ֵמ ֵ֨את ָה ָ ֤ע ִ֜ ת־שׁ ְ י־אָס ְפ ִתּי ֶא ַ֨ אַל־תּ ֹ֖נד ָל ֶ ֑הם ִ ֽכּ ָ ְו ת־ה ַר ֲח ִ ֽמים׃ ֽ ָ ת־ה ֶ ֖ח ֶסד וְ ֶא ַ ֶא 16,5b: Denn ich habe hinweggenommen meinen Frieden von diesem Volk, Spruch JHWHs, Gnade und Barmherzigkeit.
Der Friede wird an dieser Stelle expliziert durch das Wortpaar Gnade und Barmherzigkeit, das ist insofern interessant, da diese beiden Begriffe bis dahin in Kapitel 14–16 nicht gefallen sind. Auch in Jer 16,5 sind sie vermutlich als sehr späte
404 Levin isoliert im Jeremiabuch eine „2.sg.fem.-Schicht“, die er „in die früheste Phase der nachexilischen Bearbeitungsgeschichte“ einordnet. Levin, Christoph, Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt, FRLANT 137, Göttingen 1985, 158 f. An dieser Stelle scheint es sinnvoll, eine Bearbeitung der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems anzunehmen, auch wenn Levin diese Verse nicht aufführt. 405 Vgl. Jeremias, Jörg, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, BThSt 31, Neukirchen-Vluyn 32002, 51.
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erklärende Glosse hinzugefügt worden, da sie in der LXX fehlen.406 Vielleicht scheint ein späterer Redaktor wirklich explizit und für alle verständlich ausdrücken zu wollen, dass JHWHs Gnade und sein Erbarmen als letzte Rettungsmöglichkeit nicht mehr zur Verfügung standen und damit die Preisgabe Judas an die Babylonier unausweichlich war. Zusammenfassend lässt sich zu den Begriffen der Notschilderung, Schlag/ Wunde, Frieden und Gutes sagen, dass sie die Härte und Unabwendbarkeit des Gerichtes zeigen, das nicht nur in der beschriebenen aktuellen Notsituation (Dürre und Krieg) besteht, sondern in einer grundsätzlichen dauerhaften Entsagung der heilvollen Zuwendung JHWHs. Weiterhin führt die Argumentation über eine Logik der Umkehrungen, also „Hoffen auf Frieden, aber nichts Gutes – Zeit der Heilung, aber Schrecken“ in den ersten Klagegang (Jer 14,7–9), in welchem ein ähnliches Muster von Hoffen und Erfahren, Verstehen und Unverständnis auftaucht. In den Warum-Fragen der Klage in Jer 14,8f wirft das Volk JHWH vor, er sei wie ein Fremder im Land, wie ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt (V.8b) und wie ein bestürzter Mann, wie ein kraftloser Held, der nicht zu retten vermag (V.9a). Beide Zuschreibungen, der Fremde und der kraftlose Held, sind Umkehrungen dessen, was das Volk über JHWH wissen sollte. Natürlich können sie als rhetorische Mittel gelesen werden, um JHWH zu provozieren, ihn bei seiner Ehre zu packen und so zum Einschreiten zu zwingen. Allerdings zeigt diese drastische Wortwahl eben auch, wie das Volk JHWH in der Notsituation wahrnimmt: Fern, fremd und schwach. Damit spiegelt die harte Anklage gegen JHWH auch etwas von der Entfremdung des Volkes zu seinem Gott wider. Das Volk, das anderen Göttern hinterherläuft, hat sich so weit von JHWH entfremdet, dass er ihnen fremd und machtlos erscheint. Der Weg zu ihm zurück läge genau in eben dieser Einsicht, die eigenverschuldete Entfernung zu erkennen und aufrichtig den Gott zu suchen, der sich seinem Volk in seiner Zuwendung bekannt gemacht hat. Das Volk aber, das an den fremden Gott appelliert, begegnet eben diesem fremden Gott. Und das Volk, das leichtfertig einen falschen Frieden ersehnt, bekommt diesen in Form von Schrecken. In Jer 14,20 geht es nach der Warum-Frage und der Notschilderung mit dem Schuldbekenntnis weiter. Dies unterscheidet sich leicht vom Schuldbekenntnis im ersten Klageteil, indem zum einen das Verb ידעverwendet wird407, zum anderen gibt es eine Variation in den Begriffen der Schuld. In Jer 14,7 wird der Begriff משובהgebraucht, der ein Leitwort in Jer 3 darstellt und dort die Vergehen des Nordreiches bezeichnet (Jer 3,6.8.11.12), in Jer 14,20 steht neben עוןund חטאdas Nomen רשא. Außerdem wird nicht nur die eigene Schuld bekannt, sondern auch die der Väter. Das Bekenntnis wirkt so weniger spezifisch, da רשא, so ließe sich 406 Vgl. dazu Bezzel, Konfessionen, 113. Stipp, Hermann-Josef, Das masoretische und alexandrinische Sondergut des Jeremiabuches. Textgeschichtlicher Rang, Eigenarten, Triebkräfte, OBO 136, Göttingen 1997, 108. 407 Evtl. stellt dies einen Zusammenhang mit Jer 3,13 dar, indem das Erkennen ( )ידעder Schuld zum Gnadenhandeln JHWHs führt.
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vielleicht formulieren, eine allgemeinere Gottlosigkeit bezeichnet, die Verbrechen auf mehreren Ebenen zusammenfasst (auch Rechtsbruch) und mehr abdecken zu wollen scheint (zeitliches Kontinuum zu den Vätern). An das Bekenntnis schließen sich die Bitten an JHWH an, die ganz verschiedene, aber sehr klassische Traditionsbereiche miteinander verbinden: In V.21 finden sich vier Bitten, die in der ersten Vershälfte aus zwei Vetitiven und in der zweiten Vershälfte aus einem Imperativ und einem Vetitiv bestehen: ‚Verwirf nicht‘, ‚schände nicht‘, ‚gedenke‘ und ‚brich nicht‘, wobei die letzten beiden als Hendiadyoin gelesen werden können. Die ersten beiden Bitten verweisen auf denselben Sachverhalt, sowohl der Name, um dessentwillen nicht verworfen werden soll, als auch der Thron der Herrlichkeit, der nicht geschändet werden soll, sind Vokabular der Tempeltheologie. Obwohl die Tempelzerstörung vermutlich für die Abfassungszeit der Verse 19–22 vorauszusetzen ist,408 rekurrieren die Bitten des Volkes auf die Traditionen, die Gottes Gegenwart in Jerusalem für lange Zeit ausgesagt haben. Name und Thron sind Symbole für JHWHs Präsenz und seine königliche Macht, außerdem stehen beide für die Möglichkeit der Kommunikation mit der Gottheit (vgl. z. B. das Tempelweihgebet in 1Kön 8). Speziell auf den Namen JHWHs wird auch schon im ersten Klagegang in Jer 14,9 verwiesen und eine Art Kurztheologie des Namens entwickelt, dort heißt es: „Und du bist in unserer Mitte, JHWH, dein Name über uns ist er genannt, verlass uns nicht.“ Der über dem Volk genannte Name zeigt die große Verbundenheit und Zugehörigkeit JHWHs zu ihm, er macht es durch die Überschrift seines Namens zu seinem Volk, in dessen Mitte er sich aufhält. Werden die beiden Vetitive mit in die Deutung einbezogen, geht die Argumentation noch in eine andere Richtung. In Ezechiel 36 wird beschrieben, dass durch die Verwerfung des Volkes, also durch die Verbannung, JHWHs Name entheiligt worden ist, da es aus seinem Land fortziehen musste. Die Rückführung des Volkes aus dem Exil geschieht daher nicht aus Mitleid mit dem Volk, sondern aus Gründen der Wiederherstellung des Namens und damit des Ansehens JHWHs. Ebenso auf das Ansehen JHWHs bezogen ist die zweite Bitte, den Thron der Herrlichkeit nicht zu schänden. Das Verb נבלim pi’el wird selten gebraucht, außer an dieser nur noch an drei weiteren Stellen im AT (Dtn 32,15; Mi 7,6; Nah 3,6). Nur in Jer 14,21 und Nah 3,6 ist JHWH Subjekt der Schändung – aus Nah 3,5–7 wird deutlich, dass dieses Verb eine tiefe Beschämung bedeutet. Mit ihm wird die Bloßstellung der Stadt Ninive beschrieben, die vor aller Öffentlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben wird.409 Nach dieser Schande wird niemand mehr mit Ninive Mitleid haben, was in denselben Worten in Jer 15,5 von Jerusalem ausge408 Vgl. dazu Bezzel, Konfessionen, 111. Er sieht in den Volksklagen 14,7–9.19–22 die jüngsten Stücke der Dürreliturgie, die vermutlich erst zu „einem sehr späten Zeitpunkt der Buchwerdung“ in die Komposition Jer 14,1–15,9 eingeschrieben worden sind. Ebd. 409 Vgl. zum Schicksal Ninives in Nah 3,4–7 und der Thematik der von JHWH ausgehenden Gewalt Baumann, Gerlinde, Gottes Gewalt im Wandel. Traditionsgeschichtliche und intertextuelle Studien zu Nahum 1,2–8, WMANT 108, Neukirchen-Vluyn 2005, 180–184.
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sagt wird. Der Gedanke, JHWH könnte seinen eigenen Thron in dieser Art und Weise beschämen, ist im Grunde undenkbar. Es wäre nicht nur eine Katastrophe für das Volk, er würde sich selbst dem Spott aussetzen. Beide Bitten zeigen also die Erinnerung und die Hoffnung auf eine erneute Gegenwart JHWHs, wie sie in der Tempeltheologie Ausdruck gefunden hat, indem sie an JHWHs Ehre und Ansehen appellieren. Die dritte Bitte legt mit der Bundestheologie einen anderen Schwerpunkt. Auffallend ist die sprachliche Struktur mit den beiden Imperativen, die zwar zusammen gelesen werden wollen, da sie beide auf den Bund bezogen sind, aber durch das זכרeine bestimmte Prägung bekommen. Das Brechen des Bundes mit der Wurzel פררwird in der Mehrheit der Fälle vom Volk ausgesagt410, wenn es mit JHWH als Subjekt vorkommt, dann immer in der negativen Aussage, dass JHWH den Bund nicht bricht411, außer in der prophetischen Zeichenhandlung in Sach 11. Es lässt sich sagen, dass der Vetitiv „Brich nicht“ in die gleiche Richtung führt wie auch die anderen Vetitive, indem JHWH veranlasst werden soll, sich selbst nicht zu schädigen, etwa dadurch, dass er im Grunde nicht besser handelt als sein Volk. Der Imperativ זכרaber bringt einen neuen Gedanken. Innerhalb der Perikope führt die Wurzel זכרzurück zu Jer 14,10, der Klagerückweisung, in der JHWH der Schuld gedenken und die Sünden heimsuchen will. Das Volk fleht nun, nicht der Schuld zu gedenken, sondern des Bundes und bedient sich damit eines Terminus der priesterlichen Bundeskonzeption.412 Aufgrund der übergroßen Schuld bleibt ihm auch gar nichts anderes übrig, als auf den priesterlichen Gnadenbund zu verweisen, da das Volk durch sein Verhalten schon längst selbst bundesbrüchig geworden ist. Trotz der harten Konsequenzen, Hunger und Krieg – kein Frieden, nur Schrecken, die das Volk für seine Verfehlungen erfahren hat, stellt das Bundesgedenken noch immer eine zugängliche Handlungsoption dar, da es in der Lage ist, den unheilvollen Zusammenhang von Schuld und Strafe zu durchbrechen und eine Wende des Geschicks herbeizuführen. Wird bedacht, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine nachexilische Einfügung handelt, ist das Bundesgedenken offensichtlich die einzige Kategorie, der zugetraut wird, über den Bruch des Exils hinaus wieder in eine intakte Gottesbeziehung einzutreten. Es scheint hier einen Zusammenhang von Jer 14,1–15,9, insbesondere von Jer 14,19–22 zu Lev 26, insbesondere zu Lev 26,40–46 zu geben, da eine terminologische wie theologische Parallele im Bundeskonzept zu sehen ist. Bevor diese Parallele in Lev 26 ausgearbeitet wird, soll noch ein anderer Text für die Deutung hinzugezogen werden, das Kapitel Jer 3. Jer 3 zeigt vielfältige Verbindungslinien und prägnante Unterschiede zu der Klagekomposition in Jer 14f und auch Bezüge zu Ps 103, die hilfreich sind, der Frage nach der Bundestheo-
410 Gen 17,14; Lev 26,15; Dtn 31,20; Jes 24,5; Jer 11,10; Jer 31,32 u. a. m. 411 Lev 26,44; Jer 33,20. 412 Vgl. dazu die Rolle von זכרals Verb der Rettungstat innerhalb der Sintflutgeschichte und als Begründung des Noahbundes.
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logie und auch die nach einer Bedingtheit des Gnadenhandelns JHWHs zu einer weiteren Klärung zu verhelfen.
5.5.1.1 Die „Umkehrkomposition“ in Jer 3 Die Klagekomposition Jer 14,1–15,9 stellt wie oben ausgelegt ein Bild des Gerichtshandelns in unnachgiebiger Härte dar, die keinerlei rettende Intervention zulässt. Die letzte Hoffnung, die formuliert wird, liegt im Bundesgedenken JHWHs. Mit Jer 3,1– 4,2 findet sich im Jeremiabuch eine nachexilische Textkomposition, die sich als ein Gegenbild zu diesem scheinbar aussichtslosen Zorneshandeln lesen lässt.413 Sie ist vermutlich als Erweiterung und Deutung des Jeremia-Prologes in Kapitel 2 geschrieben worden. Schmid nennt die Sequenz Jer 3,1–4,2 die sog. „Umkehr-Komposition“414, in der Israel Möglichkeiten von Heil aufgezeigt und verheißen werden. Das Kapitel setzt mit einer Schilderung der zerbrochenen Beziehung zwischen JHWH und Israel ein und benutzt dafür das Bild einer geschiedenen Ehe, wobei Israel als die untreue Frau dargestellt wird (3,1–5).415 Schmid verdeutlicht, dass diese Ehemetaphorik im Fortgang von Jer 3 nicht mehr aufrechterhalten werden kann, um eine erneuerte Zuwendung JHWHs zu seinem Volk zu beschreiben, da der Ehebruch diese Möglichkeit nicht zulässt. Es muss demnach eine andere Form der Beziehungsebene gefunden werden: Israel wird nicht als Frau Jhwhs […] restituiert, sondern die Lösung, die *3,1–4,2 in einer kontinuierlich fortschreitenden Argumentation entwickelt, besteht darin, daß Israel neu als Jhwhs Söhne (3,4.19.21f) eingesetzt wird. Die Ehe Jhwhs mit Israel ist unheilbar zerstört, aber als Verhältnis eines Vaters zu seinen Söhnen kann die Beziehung Jhwhs zu Israel wieder „geheilt“ (vgl. [ ארפהsic] 3,22aβ) werden.416
Bruch und Heilung der Beziehung wird aber nicht nur durch den Wechsel der Kategorien von Ehe zu Kindschaft angezeigt, sondern von Seiten JHWHs durch Variationen der Gnadenformel. In Jer 3,4–5a wird Israel von JHWH der Vorwurf gemacht, dass es, obwohl es ihm untreu gewesen ist, zurufe, er solle wie ein Vater sein und nicht für immer zürnen:
413 Vgl. dazu Schmid, Buchgestalten, 277–294. Der Abschnitt ist nach Schmid schwer zu datieren, setzt aber historisch vermutlich das Problem der noch nicht aus der Diaspora heimgekehrten Israeliten voraus (wie in Esr 7f). Die Textbereiche Jer 3,6–11 und Jer 3,14–18 sind vermutlich jüngere Einfügungen; vgl. aaO., 277.293 f. Zum Charakter von Jer 3,14–18 als Glosse auch Levin, Verheißung, 187–190. 414 Schmid, Buchgestalten, 278. 415 Vgl. zu den Parallelen der Ehemetaphorik im Hoseabuch Carroll, Jeremiah, 142 f. 416 Schmid, Buchgestalten, 281.
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Hauptteil: Exegese von Ps 103
אָבי אַלּ֥ וּף נְ ֻע ַ ֖רי אָ ָֽתּה׃ ֑ ִ ֲהל֣ ֹוא ֵמ ֔ ַע ָתּה ָק ָ ֥ראתי ִ ֖לי4 מר ָל ֶנ ַ֑צח ֹ ֖ עֹולם ִאם־יִ ְשׁ ָ ֔ ֲהיִ נְ ֣טֹר ְל5 4 Und jetzt rufst du zu mir: „Mein Vater, du bist der Freund meiner Jugend“? 5a Wird er zürnen bis in fernste Zeiten und bewahren [den Zorn] für immer?
In V.4 ist noch ein Schillern zwischen der Vater-Kind-Relation und der Ehemetaphorik auszumachen, indem JHWH mit Vater angesprochen wird, aber der Ausdruck Freund der Jugend gleichzeitig auf ein Anfangsstadium in der Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk hinweist, in welchem noch alles heil war.417 Der Vers 5a ist der Beschreibung der Begrenzung des Zornes im Anschluss an die Gnadenformel in Ps 103,9 sehr ähnlich, indem beide Zeitangaben und das Verb נטר (zürnen) übereinstimmen.418 :עֹול֣ם יִ ֽטֹּור ָ א־ל ֶנ ַ֥צח יָ ִ ֑ריב וְ ֖ל ֹא ְל ָ ֹ ֽל9 9 Nicht für immer wird er streiten und nicht für fernste Zeiten wird er zürnen.
Es wird Israel in Jer 3,4–5a also eine Hoffnung in den Mund gelegt, die auf die Begrenzung des Zorns rekurriert, wie sie in der Gnadenformel festgelegt ist und gleichzeitig am Vater-Bild anknüpft, also einer Bindung, die aufgrund von engster familiärer Verwandtschaft besteht und damit im Kern bedingungslos ist. JHWH selbst beantwortet diese Frage in Jer 3,12–13 durch die prophetische Rede Jeremias, mit einer weiteren Variation der Gnadenrede, die an Jer 3,5a anknüpft: […]הוה ֥ל ֹא ֔ ָ ְי־ח ִ ֤סיד ֲאנִ ֙י נְ ֻאם־י ָ ֹוא־אַפּיל ָפּ ַנ֖י ָבּ ֶכ֑ם ִ ֽכּ ִ֥ הוה ֽל ֔ ָ ְוּבה ְמ ֻשׁ ָ ֤בה יִ ְשׂ ָר ֵאל֙ נְ ֻאם־י ָ ֣שׁ12 עֹולם׃ ֽ ָ ֶא ֖טֹּור ְל ל־ע֣ץ ַר ֲע ָ֔נן וּ ֵ ת־דּ ָר ַ֜כיִ ְך ַלזָּ ִ ֗רים ַ ֚תּ ַחת ָכּ ְ ֹלהיִ ְך ָפּ ָ ֑שׁ ַע ְתּ וַ ְתּ ַפזְּ ִ ֨רי ֶא ֖ ַ יהו֥ה ֱא ָ אְַ֚ך ְדּ ִ ֣עי ֲע ֵֹ֔ונְך ִ ֛כּי ַבּ13 הֹוה׃ ֽ ָ ְא־שׁ ַמ ְע ֶ ֖תּם נְ ֻאם־י ְ ֹ קֹולי ל ֥ ִ ְב 12 […] Kehre um von deiner Abtrünnigkeit419, Israel, Spruch JHWHs, nicht werde ich fallen lassen mein Angesicht bei/gegen euch, denn gnädig bin ich, Spruch JHWHs, nicht werde ich zürnen bis in fernste Zeiten. 13 Nur erkenne deine Schuld, ja, gegen JHWH, deinem Gott, hast Du gefrevelt, und dass du deine Wege an die Fremden verschwendest
417 Zum Nebeneinander der Motivik von Jugendzeit und Brautzeit vgl. Schmid, Buchgestalten, 283. 418 Dies sieht auch Levin, Verheißung, 185. 419 Vgl. zu der Diskussion über die Übersetzung von משובהals Abtrünnigkeit Schmid, Buchgestalten, 285.
Ps 103,17–18: Bedingte Gnade?
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unter allen grünen Bäumen, und auf meine Stimme habt ihr nicht gehört, Spruch JHWHs.
In diesem prophetischen Umkehr-Wort wird die Begrenzung des Zornes um die Zuschreibung der Gnade JHWHs erweitert. Es liegt hier ein Gnadenhandeln vor, dass mit dem Umkehr-Gedanken kombiniert ist, wobei allerdings nicht in der Kausalität einer Wenn-dann-Folge (wenn das Volk umkehrt, dann ist JHWH gnädig) argumentiert wird. Die Aussage „denn gnädig bin ich“ erweist sich durch die Konjunktion כיals Grund der Umkehr, nicht als deren Folge. Weil JHWH gnädig ist und nicht für fernste Zeiten zürnt, ist eine erneuerte Beziehung zwischen ihm und seinem Volk – dann in der Relation der Kindschaft – überhaupt erst möglich. Als Umkehr, oder anders formuliert, als Rückkehr zu JHWH, wird dem Volk allerdings abverlangt, seine Schuld zu erkennen. Mit der Erkenntnis ist vermutlich auch eine Änderung des Verhaltens impliziert, aber an dieser Stelle nicht explizit gefordert. Der Gedanke der Umkehr wird in Jer 3 durch die Variation der Gnadenformel, vor allem durch die Begrenzung des Zornes, wie sie auch in Ps 103 vorliegt, begründet und damit verändert: die Umkehrforderung wird zur Umkehrmöglichkeit. Dies wird vor allem auf dem Hintergrund von Jer 14f deutlich. In der Klageabweisung in Jer 14,10 liegt eine sehr ähnliche Darstellung der Schuld vor wie in Jer 3,13 („Sie lieben es zu vagabundieren, ihre Füße schonen sie nicht“), doch die Option der Gnade gibt es eben nicht mehr und damit auch keinen Weg zu JHWH zurück, weder durch die eigene vollzogene Umkehr noch durch die Fürbitte anderer. Es ist durchaus denkbar, dass Jer 3 eine Reaktion auf die Aussichtslosigkeit in Jer 14f darstellt und angestrebt wird, eine Erneuerung in der Beziehung zu JHWH zu beschreiben, ohne dass die Schuld des Volkes negiert wird. Eine Wiederherstellung funktioniert nur über den Willen JHWHs, sein Volk, so wie es ist, wieder anzunehmen. Eine Anknüpfung von Jer 3 an Jer 14 in diesem Sinne lässt sich auch in Jer 3,17 feststellen, also in der Sequenz, die vermutlich eine sehr junge Erweiterung in Jer 3 darstellt: הוה ֔ ָ ְירוּשׁ ַ ֙ל ֙םִ ִכּ ֵ ֣סּא י ָ ָבּ ֵע֣ת ַה ִ֗היא יִ ְק ְר ֤אוּ ִל17 ִירוּשׁ ָל֑ם ָ הו֖ה ִל ָ ְל־הגֹּויִ ֛ם ְל ֵ ֥שׁם י ַ ֧יה ָ ֽכ ָ וְ נִ ְקוּ֨ וּ ֵא ֶל אַח ֵ ֕רי ְשׁ ִר ֖רוּת ִל ָ ֥בּם ָה ָ ֽרע׃ ֲ וְ לֹא־יֵ ְל ֣כוּ ֔עֹוד 17 Zu jener Zeit wird man Jerusalem nennen: Thron JHWHs, und es werden in ihr (Jerusalem) gesammelt werden alle Völker, wegen des Namens JHWH in Jerusalem, und sie werden nicht mehr wandeln nach der Verhärtung ihres bösen Herzens.
Hier findet sich die Restitution Jerusalems, die in Jer 15,5f gänzlich ausgeschlossen wird. Sie verläuft über die beiden Motive Thron und Namen, die in der Volksklage in Jer 14,20 dazu verwendet worden sind, um JHWH zu einem Ende seines Gerichtshandelns zu motivieren. Jerusalem wird wieder zur Stadt, in deren Mit-
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Hauptteil: Exegese von Ps 103
telpunkt JHWHs Thron und Namen als Zeichen seiner herrschaftlichen Präsenz wohnhaft sind und nicht nur Israel wird zu ihm umkehren, sondern alle Völker. Als eine weitere Reaktion von Jer 3 auf Jer 14f kann der Begriff der „Heilung“ in Jer 3,22a angesehen werden. שֹׁוב ִ֔בים ֶא ְר ָ ֖פּה ְמשׁוּ ֽבֹ ֵת ֶיכ֑ם ָ שׁוּ֚בוּ ָבּ ִנ֣ים22 22a Kehrt um, abtrünnige Kinder, ich will (euch) heilen von eurer Abtrünnigkeit.
Auch hier ist der Umkehrgedanke zutiefst mit dem Handeln JHWHs verbunden, indem aufgezeigt wird, dass Israel auch nach vollzogener Umkehr nicht in der Lage ist, selbst für eine gelingende Beziehung zu JHWH zu sorgen, es muss von JHWH geheilt werden. Dies entspricht der Motivik von Krankheit und Heilung in Jer 14,17.19; 16,4 – auf die Klage, dass niemand heilen könne, antwortet in Jer 3,22 JHWH selbst mit seiner Zusage. Zusammenfassend fällt ein hoher Grad an Diskursivität auf, wenn die beiden Kompositionen aufeinander bezogen werden. In Jer 3 wird der Erbarmungsmüdigkeit JHWHs und der Aussichtslosigkeit des Gerichtes für das Volk und für Jerusalem eine Form der Lösung angeboten. Anknüpfungspunkte an diese bestehen durch die terminologischen Bezüge in den Motivkomplexen von Gnade und Schuld; Krankheit und Heilung; Thron und Namen. Wird von dieser ‚Lösung‘ her noch einmal zurück auf Jer 14f geschaut, wird aber auch deutlich, dass es einen prägnanten Unterschied gibt. Der Umkehr-Gedanke kommt in Jer 14f nicht vor, dafür ist das Bundesgedenken JHWHs ein sehr gewichtiges Motiv für eine Wiederherstellung des Gottesverhältnisses. In Jer 3 findet dahingegen keine bundestheologische Auseinandersetzung statt, was auffällig ist, da die Umkehrkomposition eine bedeutende Rolle für die Konzeption des Neuen Bundes in Jer 31 spielt.420 Es lässt sich also sagen, dass trotz der starken Berührungspunkte mit Jer 3 die Klagekomposition in Jer 14f eine eigene Lösung hat, die in der Rekurrenz auf das priesterliche Bundesgedenken besteht. Allerdings weisen beide Kompositionen Jer 3 und Jer 14f Motivverbindungen auf, die zu Ps 103 führen, der Schnittpunkt ist die Auslegung dessen, was Gnade bedeutet. Die Rede von der Gnade ist in Jer 3 vor allem mit der Kindschaft verbunden, welche die neue Beziehungsebene zwischen JHWH und Israel darstellt. In Ps 103 wird dieses Motiv auf mehreren Ebenen gebraucht, durch die Wohltat der Erneuerung der Jugendzeit (Ps 103,5), durch den Ausdruck „Söhne Israels“ in Ps 103,7 und die Benennung JHWHs als sich erbarmender Vater über seine Kinder, seine sterblichen Geschöpfe (Ps 103,13). Die Vater-Kind-Motivik wird sowohl geschichtstheologisch im Mose-Exodus-Kontext als auch schöpfungstheologisch als Erbarmen des Schöpfers aufgenommen und ausgeführt. Der Umkehr-Gedanke kommt in Ps 103 nicht vor, das Gnadenhandeln ist ganz durch das Tun JHWHs 420 Vgl. dazu Schmid, Buchgestalten, 292 f.
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motiviert. Diese Richtung ist in Jer 3 schon angelegt, kommt aber in Ps 103 zur vollen Entfaltung. Wie auch die Rede von der Heilung von Krankheiten, die in Ps 103 kategorisch mit der Sündenvergebung verknüpft wird. Auch hier ist der Zusammenhang von Heilung und Vergebung in beiden Jeremia-Kompositionen intendiert (in Jer 14f ex negativo durch die Schuld, die als unheilbare Krankheit gedeutet wird), in Ps 103 präzise ausgearbeitet und in den Horizont der Gnade gesetzt. Insgesamt wird in Ps 103 – vor allem im Zusammenhang mit Ps 104 – ein starkes Gegenbild zu Jer 14f entwickelt. Die hymnische Auslegung der Wohltaten JHWHs in Ps 103,3–5, die er an dem betenden Ich vollzieht, nimmt drei Stichworte aus Jer 14f auf und verkehrt sie ins Gegenteil. Die Sünde wird nicht heimgesucht, sie wird vergeben; die Krankheit führt nicht zum Tode, sie wird geheilt; es wird nicht vor Hunger gestorben, sondern mit Gutem gesättigt. Ps 104 lässt sich vor allem hinsichtlich der Notschilderung der Dürre in Jer 14,1–6 als ein komplementärer Text lesen.
Exkurs: Dürre und Wasserkonzept in Jer 14,1–6 und Ps 104 Jer 14,1–6 beginnt mit der Notschilderung einer Dürrekatastrophe in Juda, unter der die gesamte Schöpfung leidet. Es scheint vor allem darum zu gehen, eine umfassende Gesamtheit der von dem Wassermangel betroffenen Bereiche darzustellen, wobei diese sich von der bevölkerten Stadt über den Erdboden hin zu den Wildtieren erstrecken. In den Bereich der Menschen fallen sowohl die Mächtigen als auch die Kleinen, beide Gruppen sind vom Wasser abhängig und werden unabhängig ihres gesellschaftlichen Status zum Opfer (V.3). Ebenso tragen auch die Landwirte Verluste davon, da ihnen durch den ausbleibenden Regen die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen wird (V.4). Dieser agrarwirtschaftliche Bereich stellt eine Form der Schädigung des Erdbodens dar, eine zweite Schädigung betrifft die unbewirtschaftete Natur (V.5f): auf den Ebenen und den Höhen wächst kein Gras mehr, sodass nur noch kahle Ödnis zu sehen ist. Darunter leiden wiederum die Wildtiere wie die Hirschkühe und die Wildesel (V.5f), die aufgrund des Futtermangels ihre Jungtiere nicht mehr aufziehen können und selbst sterben. Das Ausmaß der Dürre wird also in drei Kategorien konkretisiert, welche die gesamte erfahrbare Welt beschreiben (Zivilisation, Vegetation und Tierreich) und in Merismen (Mächtige und Kleine; bewirtschaftete und unbewirtschaftete Natur; Ebenen und Höhen; Hirschkühe [in den Ebenen] und Wildesel [auf den Höhen]) dargestellt werden.421 421 Eine sehr ähnliche Darstellung einer von JHWH geschickten Dürre findet sich bei Joel 1 f. Der große Unterschied zwischen den Schilderungen ist die Ursache der Dürre, obwohl sie in beiden Texten eine Strafe JHWHs für die Schuld des Volkes ist, variiert die Durchführung. In Jer 14 dominiert die Regenthematik, der Erdboden vertrocknet, da JHWH, welcher der Herr über den Regen ist, diesen zurückhält. Jer 14,22 benennt die Herrschaft über den Regen als Machtausweis JHWHs, das ihn von anderen Göttern unterscheidet, so dass die Argumentation der Dürreproblemtik in
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Ps 104 wird geprägt durch die Einsetzung eines funktionierenden „Wasserkonzeptes“ in creatio prima (Bändigung der Chaoswasser Vv.6–9) und creatio continua und seinen positiven Auswirkungen (Vv.10–17).422 Im Vergleich von Jer 14,1–6 und Ps 104 lassen sich komplementäre Strukturen feststellen: Jer 14,5f – das Sterben der Tiere auf dem Felde und den kahlen Höhen – hat sein entsprechendes Gegenteil in Ps 104,10f – die Quellen in den Tälern, von dem alle Tiere des Feldes (die Hirschkühe auf dem Felde) und das Wild trinken (die Wildesel). Das Ausbleiben des Regens (Jer 14,4) und das Trauern der Ackerleute hat sein Pendant in Ps 104,13f: im Regen, der die Vegetation, speziell das Getreide, wachsen lässt und die Nahrung der Menschen – sowie einen erheblichen Umfang an Lebensqualität – garantiert (das sich freuende und gestärkte Herz der Menschen sowie das schöne Antlitz durch die Erträge des Anbaus [Ps 104,15] stehen im Gegensatz zur Traurigkeit und zum Verhüllen der Häupter der Landwirte in Jer 14,4). Die Komplementarität der Bilder wird nicht oder kaum durch direkte Übereinstimmungen im Vokabular hergestellt, sondern durch die sich entsprechende Motivik. Ps 104 scheint vom Sprachgebrauch grundsätzlicher formuliert worden zu sein und Jer 14 die spezielleren Termini aufzuweisen (Tiere des Feldes in Ps 104,11, Hirschkühe auf dem Feld in Jer 14,4; Wild in Ps 104,11, Wildesel in Jer 14,6; Menschen in Ps 104,15, Landwirte in Jer 14,4; das Befeuchten von oben her in Ps 104,13 und der Regen in Jer 14,4 usw.). Es muss an dieser Stelle nicht an eine direkte Abhängigkeit von Ps 104 zur Dürrebeschreibung in Jer 14,1–6 gedacht sein, aber sicher an eine gemeinsame Vorstellungswelt, die den Kontext von Dürre und lebensspendender Wassermotivik beschreibt. Beide Psalmen und Jer 14f sind geprägt von der Vorstellung der von JHWH eingesetzten Lebenszusammenhänge, die auf verschiedenen Ebenen erfahrbar werden: auf der Ebene des individuellen Ergehens, der sozialen Interaktion, der Naturordnung und der des Gottesverhältnisses. In Jer 14f ist die Auflösung dieser Zusammenhänge durch Schuld zu sehen und in Ps 103–104 das ideale Verhältnis aller Größen zueinander, welches durch JHWH als Schöpfer und gnädiger Herrscher garantiert wird. Für die bundestheologische Fragestellung ist diese Beobachtung ein wichtiger
dieser späteren Hinzufügung durchsichtig wird auf eine Götterpolemik, bzw. die Matrix für die Versündigung des Volkes bietet, das JHWH zugunsten anderer Götter verlässt. In Joel wird eine Heuschreckenplage beschrieben, die bis in kosmische Ausmaße gesteigert (Jl 2,10) sämtliche Vegetation vernichtet, sodass nur noch verdorrte Flächen zurückbleiben. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund ist in Joel der JHWH-Tag, ein Kriegs- und Gerichtsgeschehen, an dem JHWH sein eigenes Volk vernichtet. Die Konsequenzen allerdings sind in beiden Fällen dieselben: die Landwirte sind traurig und die Freude ist zur Klage geworden (Jl 1,11f); Nutz- und Wildtiere verdursten (Jl 1,18.20) und das Volk wird zu kultischer Klage angehalten (Jl 1,14). Auch im Joelbuch wird wie in Jeremia 14 deutlich, dass ein rein äußerlicher Kult nicht mehr helfen wird, die Katastrophe abzuwenden. Lediglich eine Umkehr der inneren Haltung (Jl 1,12 das Zerreißen der Herzen) könnte vielleicht (Jl 1,14) eine Wendung der Not bringen. Vgl. zur Dürre in Joel: Müller, Anna Karena, Gottes Zukunft: Die Möglichkeit der Rettung am Tag JHWHs nach dem Joelbuch, WMANT 119, Neukirchen-Vluyn 2008, 60–68. 422 Vgl. zum Wasserkonzept z. B. Krüger, Lob, 35–46; Spieckermann, Heilsgegenwart, 31–33.
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Faktor, da sowohl in Jer 14f als auch in Ps 103 die Erfahrung der jeweiligen Lebenszusammenhänge, seien sie nun ideal funktionierend oder in Auflösung begriffen, durchsichtig werden auf die Konzeption des Bundes. Ein Text, in dem diese Beobachtung auch eine prägende Rolle spielt, ist Lev 26, der im Folgenden ausgelegt wird.
5.5.2 Die Bundeskonzeption in Lev 26 In Lev 26, dem Abschluss des Heiligkeitsgesetzes,423 werden innerhalb der das Kapitel bestimmenden Diskussion um Formen von Gesetzesobservanz vielgestaltige Bundeskonzeptionen ausgeführt, die sowohl aus deuteronomistischen, priesterschriftlichen als auch aus prophetischen Traditionen424 stammen und sich gegenseitig interpretieren und fortführen. Es soll hier danach gefragt werden, in welchen Kontexten die Rede vom Bund jeweils steht, mit welchen Motiven sie verknüpft ist und welche theologische Funktion sie eigentlich erfüllt. Das Kapitel Lev 26 ist nach einer kurzen Einleitung (Vv.1f) in zwei Teile aufgeteilt: Vv.3–13 und 14–45. Sie sind strukturiert durch ein Konditionalgefüge von Protasis und Apodosis, V.3 beginnt mit der Protasis, „wenn sie in meinen Satzungen wandeln und mein Gebote bewahren …“ und der zweite Teil beginnt in V.14 mit der Protasis, „wenn sie nicht auf mich hören und nicht alle diese Gebote tun, wenn sie meine Satzungen verachten ( )מאסund meine Gesetze verabscheuen (… )געל, so dass sie meinen Bund brechen (“)פרר. In den jeweiligen Apodosen werden dann die positiven bzw. negativen Konsequenzen des Handelns beschrieben. Im Abschluss des zweiten Hauptteils aber, in den Vv.40–45 wird die Kausalität durch die Verwendung von kombinierten bundestheologischen Aussagen in gewisser Art unterminiert. Wie dies genau geschieht, soll die folgende Exegese verdeutlichen.
423 An dieser Stelle ist keine eigene Diskussion der komplizierten Wachstumsgeschichte von Lev 26 vorgesehen. Einen detaillierten Überblick über den Forschungsstand gibt Nihan, Christophe, Heiligkeitsgesetz und Pentateuch. Traditions-und kompositionsgeschichtliche Aspekte von Levitikus 26, in: Hartenstein, F./Schmid, K., Abschied von der Priesterschrift? Zum Stand der Pentateuchdebatte, Leipzig 2015, 186–218. 424 Lohfink stieß mit einem Aufsatz über die Beobachtung der Abänderung der priesterlichen Bundestheologie durch die deuteronomische Theologie der Segen- und Fluchreihen in Lev 26 die Debatte an, wie das Nebeneinander von verschiedenen Bundestraditionen zu bewerten sei. Vgl. Lohfink, Norbert, Die Abänderung der Theologie des Priesterlichen Geschichtswerkes im Segen des Heiligkeitsgesetzes. Zu Lev. 26,9.11–13, in: Gese, H./Rüger, H. P., Wort und Geschichte, Neukirchen-Vluyn 1973, 129–136. Das Ineinander von dtr und priesterschriftlichen Bundeskonzepten wurde dann u. a. von Groß in zwei Aufsätzen bearbeitet, in denen er sich dafür ausspricht, dass sich durch das nachexilische Festhalten an beiden Bundeskonzeptionen ein „umfassender Berit-Begriff abzeichnet, der es nicht mehr als sinnvoll erscheinen lässt, Väter-Berit und Sinai-Berit als getrennte Größen allzu grundsätzlich voneinander zu unterscheiden.“ Groß, Walter, Lev 26,40–45: Berit-Bruch – Bezahlen der Schuld – Gedenken der Väter-Berit – Gedenken auch der Sinai-Berit? in: Ders., Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund, SBS 176, Stuttgart 1998, 85–103; 99. Vgl. auch Groß, Rezeption, 61.
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5.5.2.1 Heilvolle göttliche Präsenz und Bundestheologie Im ersten Hauptteil, in den Versen 3–13, wird der heilvolle Zustand des Landes und seiner Bewohner beschrieben, wenn die Gebote eingehalten werden. Der Regen wird zur rechten Zeit kommen, damit überreiche Ernteerträge produziert werden können (Vv.4–5). Außerdem wird Frieden im Land sein (V.6), so dass niemand von Feinden umgebracht wird (Vv.6–8). Dieser geordnete Zustand von Land und Volk, in dem die Abläufe von Natur und Kultur so geregelt sind, dass das Volk in Fülle und Frieden leben kann, wird in den Versen 9.11–12 mit der Bundestheologie kombiniert. Diese bedient sich zum einen priesterschriftlicher Tradition: Ich will euch fruchtbar machen und euch mehren und meinen Bund mit euch aufrichten (V.9)
und greift zum anderen auf das Ezechielbuch zurück: „Ich werde mich euch zuwenden“ (V.9a) nimmt Ez 36,9 auf. V.11f Ich werde meine Wohnung in eure Mitte geben und will euch nicht verwerfen. Und ich werde euch nicht verabscheuen. Und ich werde sein in eurer Mitte und werde für euch euer Gott sein, und ihr werdet mein Volk sein
gebraucht mit משכןden priesterlichen Heiligtumsbegriff, benutzt ihn aber nicht, um das materiale Heiligtum zu beschreiben, sondern im Sinne einer göttlichen Präsenz wie auch Ez 37,27.425 Die gute Ordnung des Landes wird also durchsichtig gemacht auf JHWHs Präsenz, die mit einer Bundestheologie begründet wird, welche in priesterlichen Kategorien von Schöpfung (Fruchtbarkeit und Mehrung) und Tempel/Kult ( )משכןbeschrieben wird. Werfen wir von hier aus einen Blick zurück auf Jer 14, lässt sich eine ähnliche Kombination erkennen. Jeremia beginnt mit der Dürrebeschreibung (Jer 14,1–6), aufgrund welcher die Ordnung im Land kollabiert. Der erste Klagegang (Jer 14,7–9), der darauf abzielt, die Ordnung wieder herzustellen, konzentriert sich darauf, die göttliche Präsenz wieder spürbar zu machen. Die Umkehrungen beklagen das Fernsein JHWHs (er ist wie ein Gast, wie ein Fremder) und die Vertrauensaussage greift auf das Mitsein JHWHs zurück: Du bist in unserer Mitte ()קרב, JHWH. Nach der Kriegsbeschreibung, im zweiten Klagegang, kommt der Appell an das Bundesgedenken, welcher gerahmt wird durch die Symbole göttlicher Präsenz (Name und Thron, also wieder Tempelvokabular) und JHWHs Schöpfermacht (V.22 JHWH als Herr über den Regen und als derjenige, der dies alles gemacht hat). In beiden Texten ist JHWHs Einhaltung des Bundes Garant für die Ordnung des Landes und seiner Bewohner, für die er als Schöpfer und König sorgt.
425 Vgl. Nihan, Heiligkeitsgesetz, 197.
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5.5.2.2 Bundesbruch und Bundesgedenken In den Apodosen des zweiten Hauptteils in Lev 26 wird ausführlich die Zerstörung von Land und Bevölkerung beschrieben, aber die Möglichkeit, dass JHWH im Gegenzug den Bund brechen würde, wird nicht genannt. Im Gegenteil, ab V.40 wird theologisch sehr dicht thematisiert, wie das Volk trotz seiner Verfehlungen und der Strafhandlungen JHWHs wieder in eine heilvolle Beziehung zu ihm treten kann. Lev 26,40–46: �ְק ִרי׃ ֽ ֶ ר־ה ְל ֥כוּ ִע ִ ֖מּי בּ ֽ ָ לוּ־בי וְ אַ֕ף ֲא ֶשׁ ֑ ִ שׁר ָ ֽמ ֲע ֣ ֶ ת־עֹו֣ ן ֲאב ָֹ֔תם ְבּ ַמ ֲע ָל֖ם ֲא ֲ ת־עֹונָ ֙ם וְ ֶא ֲ וְ ִה ְתוַ ֤דּוּ ֶא40 יהם ֑ ֶ אתי א ָֹ֔תם ְבּ ֶ ֖א ֶרץ א ֵֹיְב ֣ ִ אַף־א ִ֗ני ֵא ֵלְ֤ך ִע ָמּ ֙ם ְבּ ֶ ֔ק ִרי וְ ֵה ֵב ֲ ת־ע ָֹונֽם׃ ֲ אֹו־אָ֣ז יִ ָכּ ַ֗נע ְל ָב ָב ֙ם ֶ ֽה ָע ֵ ֔רל וְ אָ֖ז יִ ְר ֥צוּ ֶא41 יתי יִ ְצ ָ֜חק ִ֨ ת־בּ ִר ְ אַף ֶא ֩ ְיתי יַ ֲע ֑קֹוב ו ֣ ִ ת־בּ ִר ְ וְ זָ ַכ ְר ִ ֖תּי ֶא אַב ָר ָ ֛הם ֶאזְ ֖כֹּר וְ ָהאָ ֶ֥רץ ֶאזְ ֽכֹּר׃ ְ יתי ֧ ִ ת־בּ ִר ְ וְ אַ֨ף ֶא42 יה ָבּ ְה ַשׁ ָמּ ֙ה ֵמ ֶ֔הם ָ ת־שׁ ְבּת ֶֹ֗ת ַ אָרץ֩ ֵתּ ָע ֵ֨זב ֵמ ֶ֜הם וְ ִ ֣ת ֶרץ ֶא ֶ וְ ָה ת־חקּ ַ ֹ֖תי גָּ ֲע ָ ֥לה נַ ְפ ָ ֽשׁם׃ ֻ וּב ַ֔י ַען ְבּ ִמ ְשׁ ָפּ ַ ֣טי ָמאָ֔סוּ וְ ֶא ְ ת־ע ָֹונ֑ם ַי ַ֣ען ֲ וְ ֵ ֖הם יִ ְר ֣צוּ ֶא43 יתי ֖ ִ ֹלּתם ְל ָה ֵ ֥פר ְבּ ִר ָ֔ אַס ִ ֤תּים וְ ֽל ֹא־גְ ַע ְל ִתּ ֙ים ְל ַכ ְ א־מ ְ ֹ יהם ֽל ֶ֗ א ֵיְב ֹ ֽ יֹותם ְבּ ֶ ֣א ֶרץ ָ֞ ם־ז ֹאת ִ ֽבּ ְה ֠ ַוְ אַף־גּ יהם ֽ ֶ ֹלה ֵ הו֖ה ֱא ָ ְ ִא ָ ֑תּם ִ ֛כּי ֲא ִנ֥י י44 גֹּוים ִל ְה ֹ֥ית ָל ֶ ֛הם ִ֗ אתי־א ָֹת ֩ם ֵמ ֶ֨א ֶרץ ִמ ְצ ַ ֜ריִ ם ְל ֵע ֵינ֣י ַה ִ הֹוצ ֽ ֵ שׁר ֣ ֶ וְ זָ ַכ ְר ִ ֥תּי ָל ֶ ֖הם ְבּ ִ ֣רית ִראשׁ ִֹנ֑ים ֲא הוה׃ ֽ ָ ְאֹלהים ֲא ִנ֥י י ֖ ִ ֵל45 הוה ֔ ָ ְת ֲא ֶשׁ ֙ר נָ ַ ֣תן י ֒ ֹ ים וְ ַהתֹּור ֮ ֠ ֵא ֶלּה ַ ֽה ֻח ִ ֣קּים וְ ַה ִמּ ְשׁ ָפּ ִט וּבין ְבּ ֵנ֣י יִ ְשׂ ָר ֵ ֑אל ְבּ ַ ֥הר ִס ַינ֖י ְבּיַ ד־מ ֶ ֹֽשׁה׃ ֖ ֵ ֵבּינ֕ ֹו46 40 Und sie werden bekennen426 ihre Schuld und die Schuld ihrer Väter, in ihrem Untreusein, weil sie mir untreu waren, auch, weil sie mit mir in eine feindliche Begegnung gegangen sind. 41 Auch ich, ich werde mit ihnen in eine feindliche Begegnung gehen, und ich werde sie in das Land ihrer Feinde führen, und dann werden sie ihre unbeschnittenen Herzen demütigen und ihre Sünden bezahlen. 42 Und ich werde gedenken meines Bundes mit Jakob und auch meines Bundes mit Isaak und meines Bundes mit Abraham werde ich gedenken und des Landes werde ich gedenken. 43 Und das Land wird verlassen sein von ihnen und seine Sabbate wird es erstattet bekommen, dadurch, dass es verödet da liegt, und sie werden ihre Schuld abtragen, weil sie meine Gesetze verachtet und sie meine Satzungen verabscheut haben. 44 Auch in diesen Dingen, wenn sie leben im Land ihrer Feinde, ich verachte sie nicht und verabscheue sie nicht, dass sie vernichtet würden, dass gebrochen würde mein Bund mit ihnen, denn ich bin JHWH, ihr Gott.
426 Lev 16,21.
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45 Und ich gedenke für sie meines früheren Bundes, weil ich sie herausgeführt habe aus dem Land Ägypten vor den Augen der Völker, damit ich für sie zum Gott sein würde, ich bin JHWH. 46 Diese sind die Satzungen und die Gesetze und die Weisungen, die JHWH gegeben hat zwischen ihm und zwischen den Israeliten auf dem Berg Sinai in die Hand des Mose.
Der Weg führt über das aufrichtige Bekenntnis der Schuld: „Sie werden bekennen ihre Schuld und die Schuld ihrer Väter“ (V.40). Die Wurzel ידהim Hit’pa’el „bekennen“ führt im Heiligkeitsgesetz in das Geschehen am Versöhnungstag (Lev 16,21), wenn Aaron seine Hände auf den Bock legt, um die Schuld Israels zu bekennen. Evtl. ist im Gebrauch dieser Wurzel in Lev 26,40 schon eine Form von Vergebung mitgedacht, explizit um Vergebung gebeten wird hier wie auch in Jer 14 nicht. Doch das Bekenntnis ist es nicht allein, auch das Bezahlen der Schuld in Form des Exils gehört zur Wiederherstellung des Gottesverhältnisses (V.41, ähnlich Jes 40,2). Groß verdeutlicht, dass das Bezahlen der Schuld keine Voraussetzung für einen Wiedereintritt in den Bund sein kann, da, nachdem eine Berit gebrochen wurde, kein Anspruch mehr auf Wiedereinsetzung besteht. Aber Israel kann durch Bekenntnis und empfangene Strafe die Basis herstellen, auf der JHWH sich erneut zuwendet.427 Das Bezahlen der Schuld könnte allerdings auch noch mit dem Ausdruck פקד עלhif ’il (hier: „verhängen über“) in Lev 26,16 zusammenhängen, mit dem die Strafe für den Bundesbruch ( )פררeingeleitet wird. Dieser Ausdruck fällt im Kontext des dtn-dtr/HG-Sprachgebrauchs, indem der Bundesbruch beschrieben wird, auf, da das Lexem פקדsonst kaum gebraucht wird.428 Im hif ’il-Stamm mit der Präposition עלist es zudem in der Mehrheit der Fälle positiv konnotiert, indem es die Einsetzung von wichtigen Ämtern beschreibt429 und auch die Konnotation von ‚anvertrauender Fürsorge‘ hat. Ellmann weist in ihrer Untersuchung zur Funktion der Erinnerung in priesterlicher und deuteronomistischer Bundestheologie daraufhin, dass das Verb פקדin der Priesterschrift sich in der Struktur des Erinnerns vollzieht: The root pqd occurs frequently and in multiple conjugations in priestly material, mainly in connection with the census, and the organization of the tribes, but only when God is its subject does it imply remembrance or „taking note“. With God, the memory described by pqd is the realization or fulfilment of divine intent. […] Until God takes note, whatever has been committed, whether for good or for bad, remains stored in a nowhere time of
427 Vgl. Groß, Lev 26, 94–96. 428 Von 235 Qal-Belegen gibt es nur zwei im Dtn (Dtn 5,9; 20,9), im HG nur einen (Lev 18,25). Vgl. dazu Franz, gnädiger Gott, 141. Im Hif ’il gibt es keinen dtn und keinen weiteren HG-Beleg. 429 U. a. Josef in Gen 39,4; 41,34; Jeremia in Jer 1,10 und die Wächter in Jerusalem, die über den Wiederaufbau der Stadt wachen in Jes 62,6.
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God’s mind as yet unrealized promised. Once God „takes note,“ whatever action is warranted comes to fruition.430
Durch das Verb פקדwird die Konnektivität von Tun und Ergehen verlässlich aufrechterhalten. Sie ist samt ihrer Ableitungen ein Instrument, um eine verlässliche Ordnung, in der nichts verloren geht oder vergessen wird, durchzusetzen. Interessanterweise lässt die Variabilität in der zeitlichen Struktur von Erinnerung und Tun, welche einen Faktor in der Konstitution von Ordnung darstellt, eine Entscheidungsmöglichkeit offen, die den Tun-Ergehen-Zusammenhang gleichzeitig aufrechterhält und durchbricht. In Ex 32,34 z. B. wird das Strafhandeln in diesen Raum verlagert, der von Ellmann als nowhere time of God’s mind bezeichnet wird, so dass JHWH, in Gestalt eines Boten, seinem Volk erstmal begegnen kann, ohne es im Zorn zu vernichten.431 פקדin der (nichtpriesterlichen) Gnadenrede in Ex 34,7 kann sowohl als zeitliche Verschiebung432 wie auch zeitliche Begrenzung gedeutet werden. Die Ordnung im Sinne von פקדwird aufrechterhalten, aber zeitlich und handlungstechnisch (Überhang der Gnade) modifiziert. In Lev 26 scheint genau diese Funktion der Begrenzung und der Möglichkeit des Eintritts in ein unbelastetes Gottesverhältnis der Nachfolgegenerationen vorzuliegen, indem die Schuld als bezahlt gilt und damit das Maß der Strafe einer Begrenzung unterliegt. Auffällig ist in diesem Kontext der Prozess der Wiederherstellung des Gottesverhältnisses in den Vv.41.43, indem auf Beschneidung und Sabbat rekurriert wird. Zur Restitution gehört die Zeitspanne des Exils, die es gebraucht hat, damit Israel die Beschneidung in einer ‚metaphorisierten‘ Form als Demut der Herzen nachgeholt hat und sich das Land alle seine Sabbate zurückgeholt hat.433 Beide Elemente der Wiederherstellung sind im Horizont der beiden Einzelgebote, die in Gen 17 und Ex 31 als Bundesgehorsam thematisiert worden sind, anzusiedeln, werden aber in einer eher passiven Form für Israel beschrieben, als ein Vorgang, der sich durch den Umstand des Exils und seiner zeitlichen Dauer ereignet. Der Bundesgehorsam ist also für Israel durch das Exil nachgeholt worden, der Schwerpunkt liegt hier ganz auf der Wiederherstellung und nicht auf der Schuld. So wird auch פררals Vokabel des Bundesbruches (vgl. Gen 17,14) zwar wie oben beschrieben in Lev 26 genannt, aber nicht mehr an dieser Stelle. Dieser Bund, an den hier in Lev 26,42f gedacht wird, ist nicht an die Einhaltung von Geboten geknüpft und kann von Israel daher nicht gebrochen worden sein. Das Bezahlen der Schuld in 430 Ellmann, Barat, Memory and Covenant. The role of Israel’s and God’s Memory in Sustaining the Deuteronomic and Priestly Covenants, Minneapolis 2013, 64. Sie verweist hier auf folgende Stellen: Gen 21,1; Ex 20,5; Ex 32,34; Num 14,18; aaO., 55 f. 431 Ex 32,34b: Am Tag meiner Heimsuchung werde ich ihre Sünden heimsuchen. 432 Diesen Ansatz entwickelt Franz, indem er eine Verschiebung von der Vätergeneration auf die Nachkommen erkennt, die das Überleben der Väter trotz großer Schuld garantiert und daher unter der Überschrift „langmütig im Zorn“ als eine Form von Gnade gelesen werden kann. Vgl. Franz, gnädiger Gott, 146. Begrenzung läge in der Festsetzung der Strafdauer auf vier Generationen. 433 Vgl. das Gebot des Sabbatjahres für die Felder in Lev 25,4.
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V.43 ausgedrückt durch das Verb רצה, das auch schon in V.41 verwendet worden ist, geschieht letztlich durch JHWH, der durch das Exil die Ordnung wieder so herstellt, wie er sie eingesetzt hat. Zu dieser Herstellung von einmal eingesetzter Ordnung gehört auch das Bundesgedenken, das ganz in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Es ist mit denselben vier Wurzeln kombiniert, die in Jer 14,19ff JHWH zum Einlenken bewegen sollen ( פרר, זכר, געל,)מאס. Der priesterschriftliche Väterbund, dessen gedacht wird, bekommt allerdings eine Erweiterung hinsichtlich der Bundespartner. Er wird geöffnet für das Land, dessen auch gedacht wird und bemerkenswerterweise für die Exodusgeneration, da JHWH auch seines „früheren Bundes“ ( )ברית ראשניםgedenkt, als er sie aus Ägypten geführt hat (V.45) und dann natürlich für die Exilsgeneration, die hier angesprochen ist. In Lev 26,45 wird mit der Bezeichnung ברית ראשניםalso auf den Sinai-Bund verwiesen, welcher der Priesterschrift entweder nicht bekannt ist oder der von ihr bewusst ausgeblendet wird.434 Diese Beobachtung hat Auswirkungen für die redaktionsgeschichtliche Einordnung der Verse 40ff und ist dann innerhalb der Fragestellung nach der Bundeskonzeption äußerst virulent. Nihan beschreibt das Ineinander von Sinaibund und Väterbund als narrative Kohärenz: Die hier analysierte Auslegung sowie Neudeutung der Bundestheologie von P in Lev 26 ist nicht als eine vor-redaktionelle Anpassung bzw. Harmonisierung von priesterlichem und nichtpriesterlichem Material innerhalb eines noch selbständigen priesterlichen Dokuments zu deuten, sondern scheint die redaktionelle Einbindung der priesterlichen Erzählung mit der nicht-priesterlichen Tradition des Sinaibundes schon vorauszusetzen.435
Wenn sich dies so verhält, dann ist auf redaktionskritischer Ebene erklärt, warum beide Bünde genannt werden, weil schwerlich hinter die redaktionelle Verbindung zurückgetreten werden kann. Terminologisch sind beide Bünde deutlich sichtbar und zwar nicht nur in ihrer Benennung als Väterbund und früherer Bund, sondern auch in dem ganzen Komplex von Schuld, Bundesbruch und Abbezahlen der Schuld. Trotz diffiziler Kombinationen werden die Differenzen nicht unkenntlich gemacht oder aufgelöst. Die Lösung von Groß, dies als eine umfassende Berit zu bezeichnen, in der nicht mehr grundsätzlich unterschieden wird,
434 Vgl. dazu die Diskussion bei Zimmerli, der von einer bewussten Eliminierung des Sinaibundes aus der Priesterschrift ausgeht. Als Grund dafür nennt er: „Was unter Mose am Sinai geschieht, ist in P ganz rein als Einlösung jener frühen Gnadenzusage, auf welcher der Bund allein ruht, verstanden. Die Proklamation des Gottesrechtes und die daraufhin erfolgende Bundesschließung unter den Möglichkeiten von Fluch und Segen ist verdrängt. An seine Stelle ist die große Stiftung des Gottesdienstes, in welcher Gott seine Bundeszusage an Abraham einlöst, getreten.“ Zimmerli, Walther, Sinaibund und Abrahambund, in: Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, München 1963, 205–216; 215 f. 435 Nihan, Heiligkeitsgesetz, 212.
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scheint mit diesem Befund nicht ganz übereinzustimmen. Es ist vielleicht eher eine Struktur festzustellen, die bildlich gesprochen dem der russischen Matrjoschka- Puppen ähnelt und einen Bund im Bund beschreibt. Der Sinai-Bund findet eine feste Verankerung im Väter-Bund, was möglich ist, da beide Bünde einem gemeinsamen Prinzip von eingesetzter Ordnung und deren Einhaltung folgen. Auch der Priesterbund ist, wie gesehen, nicht unkonditioniert und die dtn-dtr Bundeskonzeption verfolgt noch einen größeren Zweck als die bloße Einhaltung von Gesetzen.436 Ihre Unterscheidung liegt nicht in diesem gemeinsamen Prinzip, sondern in der Gewichtung von göttlichen und menschlichen Aufgaben darin. Selbst wenn der Sinai-Bund gebrochen worden ist, fällt das, was er verbürgt, nicht heraus aus der umfassenden priesterschriftlichen Kategorie der von JHWH eingesetzten Ordnung. Dies könnte an der Verankerung des Priesterbundes in der Schöpfung liegen, die in nachpriesterlichen Reinterpretationen des Priesterbundes eine immer höhere Bedeutung einnimmt437 und die sich auch in Lev 26 feststellen lässt.438 Hinzu kommt, dass sich in den nachexilischen Texten immer mehr die Frage in den Vordergrund zu stellen scheint, wozu die Kategorie des Bundes gebraucht wird, nicht die Tatsache, dass es sie gibt. Gerade der Vergleich von Jer 14f mit Lev 26 zeigt deutlich, wozu vermutlich nur die Kategorie des Bundes in der Lage ist. Selbst in einer absolut desaströsen Situation, die von erfahrbarer Gottesferne und der Aussage der Erbarmungsmüdigkeit JHWHs geprägt ist, ist das Bundesgedenken diejenige Kategorie, die ein Eingreifen JHWHs überhaupt noch möglich machen kann. Diese Logik impliziert die Einbindung der Möglichkeit des Scheiterns am Bundesgehorsam und ihre Überwindung durch JHWHs Gedenken, sonst wäre die Rekurrenz auf den Bund in einer solchen Situation völlig unbegründet. Die Einordnung des Sinaibundes in den Väterbund zeigt genau diese Einbindung von Schuld und Strafe in eine umfassende Handlungsdimension JHWHs. In diesem Sinne ist Groß zuzustimmen, wenn er von einer umfassenden Berit spricht. Allerdings scheint der Differenzgedanke, ausformuliert durch Bundesbruch und Strafe, doch ein notwendiger Bestandteil in dieser umfassenden Berit zu sein.
436 Immerhin wird immer wieder die Lebensförderlichkeit der Einhaltung der Gesetze genannt, sie ist nicht nur Bundesverpflichtung, sondern auch im Kontext dessen anzusiedeln, was mit gelingender Lebensführung beschrieben werden könnte, was z. B. in Dtn 8 sichtbar wird. Vgl. zur Lebensförderlichkeit und zur Freude an den Gesetzen Köckert, Leben, 52–55. 437 Vgl. dazu Ex 31,12–17. 438 Dies ist an dem priesterlichen Rekurs auf die Schöpfung in Lev 26,9 zu sehen und in umgekehrter Weise an den Konsequenzen des Bundesbruches, die einer Rücknahme der Schöpfung gleichkommen (z. B. Lev 26,19–20).
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Jer 14,19–22 scheint daher von Lev 26 abhängig zu sein439 und von diesem Standort eine Rückschau auf das Exil zu halten, wobei die Reflexion der Möglichkeiten einer Wiederherstellung der Gottesbeziehung im Mittelpunkt steht.440 Ein weiterer Text, der dazu veranlasst, die Frage nach dem Verhältnis von Väterbund und Sinaibund zu stellen, ist Dtn 4. Zudem spielen in der dort dargestellten Bundesthematik die Topoi ‚erinnern und vergessen‘ eine wichtige Rolle. Anhand eines Vergleichs von Dtn 4 zu Ps 103 soll aufgezeigt werden, dass die Thematik des ersten Rahmenteils des Psalms: „Vergiss nicht all seine Taten“ (Ps 103,2) im Zusammenhang mit der Bundestheologie gelesen werden kann. Weiterhin ist die Forderung nach dem Tun des Gesetzes als Bedingung des Bundes in Dtn 4 aufschlussreich für eine Analyse des hinteren Rahmenteils in Ps 103,20f, in welchem das Lexem עשהein Leitwort für den Engelgehorsam bezeichnet.
5.6 Das Nichtvergessen Ps 103,2: מוּליו׃ ֽ ָ ְאַל־תּ ְשׁ ְכּ ִ֗חי ָכּל־גּ ִ֝ ְהו֑ה ו ָ ְ ָבּ ֲר ִ ֣כי ַ ֭נ ְפ ִשׁי ֶאת־י2 „Segne, meine Seele, JHWH und vergiss nicht alle seine Taten.“
Der Vetitiv „vergiss nicht“ ist in herausgehobener Frontstellung im Psalm ein Appell an die Seele des Betenden. Er folgt im Parallelismus Membrorum auf den zweimaligen Imperativ „Segne“, sodass das Nichtvergessen zunächst als eine Folge des Segens gesehen werden kann (wer JHWH segnet, vergisst ihn nicht). Allerdings ist es nicht mit dem Segnen gleichzusetzen, das Nichtvergessen geht nicht im Segnen auf, sondern transportiert noch einen eigenen Inhalt, der im Folgenden mithilfe zweier Referenztexte (Dtn 4 und Ps 78) bestimmt werden soll.
439 Mark Boda hat die Stichwortbeziehungen zwischen den beiden Texten gesehen, hält allerdings Lev 26 für vorexilisch und konstatiert, dass Jeremia sich auch noch in vorexilischer Zeit darauf bezieht. Diese Datierung scheint mir für beide Texte nicht haltbar zu sein. Vgl. Boda, J. Mark, From Complaint to Contrition: Peering through the Liturgical Window of Jer 14,1–15,4, in: ZAW, Bd. 113, 2001, 186–197, bes. 195 f. 440 Im Kontext des Jeremiabuches ist ein Rückgriff auf Lev 26 interessant, da es aufgrund des Konzepts des Neuen Bundes (Jer 31,31ff) eine andere Lösung hätte geben können, die ihrerseits auch Bezüge zu Lev 26 aufweist. Vgl. dazu Otto, Eckart, Welcher Bund ist ewig? Die Bundestheologie priesterlicher Schriftgelehrter im Pentateuch und in der Tradentenprophetie im Jeremiabuch, in: Ders., Die Tora. Studien zum Pentateuch. Gesammelte Schriften, BZAR 9, Wiesbaden 2009, 561–567, bes. 564–567. Die hier genannte „Theorie der Bundesdiskontinuität“ im Jeremiabuch im Kontrast zu einer „Idee der Kontinuität in Gottes Bundesgedenken“ kann für Jer 14f so nicht bestätigt werden; aaO., 567.
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5.6.1 Das Nichtvergessen als Leitwort in Dtn 4 Ein Text, in dem das Nichtvergessen als Leitwort für das Kapitel prägende theologische Konzeptionen auftritt, ist Dtn 4. Er bietet sich als Vergleichstext nicht nur wegen der Stichwortverbindung שכחan, sondern vor allem wegen der mit dem שכחverknüpften Bundeskonzeptionen. Ein drittes Argument für den Vergleich von Dtn 4 und Ps 103 besteht in der Gestalt von Dtn 4 als ein junger theologischer Reflexionstext, der Paränese und Geschichtsrückblicke miteinander kombiniert, um Aussagen über JHWH und sein Handeln zu treffen.441 Auch wenn die inhaltliche Zuspitzung auf den Dekalog, bzw. das Bilderverbot, in Ps 103 nicht thematisiert wird, ist doch die Art der theologischen Reflexion durch die Verknüpfung verschiedener Traditionen vergleichbar. Vor allem durch die in Dtn 4 vorliegende Spannung von Zorn und Barmherzigkeit als göttliche Handlungsoptionen einerseits und dem Verhältnis zwischen JHWHs Barmherzigkeit und Gehorsam Israels andererseits. Vor der Auslegung der an den Bund geknüpften Passagen zum Nichtvergessen in Dtn 4 sollen kurz Aufbau, Inhalt und Datierungsfragen des ganzen Kapitels thematisiert werden. Gliederung Dtn 4: 4,1–8: Rahmen (Gebote zum Leben) 1–2: Aufforderung zum Befolgen der Gebote 3–4: Rückblick auf Baal-Peor-Episode 5–8: Weisheit und Gottesnähe durch Einhaltung der Gebote 4,9–22: Der Horebbund 9–14: Erinnerung an der Horebbund („… dass du nicht vergisst“) 15–22: Verbot der Verehrung von Bildern und Gestirnen 4,23–31: Der Horeb- und Väterbund 23–24: Horebbund („… dass ihr nicht vergesst“) 23: Ermahnung zum Halten des Bundes 24: JHWH als verzehrendes Feuer und eifernder Gott 25–28: Ankündigung der Verbannung 29–31: Väterbund („… er wird nicht vergessen“) 29–30: Umkehr des Volkes 31: Bundestreue; JHWH als barmherziger Gott 4,32–39: Heil durch die Bindung JHWHs an sein Volk 4,40: Rahmen (Gebote zum Leben) Inhalt und Datierung: Wie schon an der Gliederung zu sehen ist, handelt es sich bei Dtn 4 um ein theologisch sehr dichtes Kapitel, in welchem die Bindung JHWHs zu seinem Volk
441 Vgl. zur Form der Argumentation in Dtn 4 Taschner, Johannes, Die Mosereden im Deuteronomium, FAT 59, Tübingen 2008, 91; zit. als: Taschner, Mosereden.
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Israel und das Verhalten Israels gegenüber JHWH mit verschiedenen Traditionen beschrieben und gedeutet wird. Von der Form her geschieht dies in einer Paränese („Höre, Israel …“ V.1), in der Geschichtsrückblicke mit theologischer Deutung (Horebbund und Bilder-/ Gestirnverehrung) verwoben sind mit der Ankündigung von Heil und der die Zeiten überdauernden Zuwendung JHWHs zu seinem Volk. Diese Paränese verfolgt nicht nur einen Lehrauftrag, sondern scheint auch der Vergewisserung der Gottesnähe und des Trostes nach der Erfahrung des Exils zu dienen (Vv.29–31) und weist so eine gewisse Nähe zu der Theologie Deuterojesajas auf.442 Konstitutiv für dieses Ansinnen ist die Rede vom Bund, die in drei verschiedenen Konzeptionen aufritt, zweimal als Horebbund in jeweils unterschiedlicher Gestaltung und einmal als Väterbund. Allerdings stehen die Bundeskonzeptionen nicht einfach nebeneinander oder gar getrennt voneinander, sondern werden, wie die Einzelauslegung zeigen wird, im dritten Bund und dem damit verknüpften Heilsausblick (Vv.31ff) gebündelt und weitergeführt.443 Die literarhistorische Entstehung dieses Kapitels wird sehr unterschiedlich bewertet, aufgrund der Themen und der Sprache legt sich allerdings eine Ansetzung in nachexilischer Zeit nahe.444 Ein Argument, das lange zu literarkritischen Operationen geführt hat, ist der sehr auffällige Numeruswechsel in der Anrede Israels.445 Otto zeigt, dass dieser Wechsel zwischen singularischer und pluralischer Anrede weder ein literarkritisches Kriterium noch ein bloßes Stilmittel ist, sondern eine Funktion der Hermeneutik des Textes. Durch ihn werden Wechsel in der Perspektive möglich, welche sowohl die Adressaten der jeweiligen erzählten Zeit als auch die der nachexilischen Erzählzeit in Beziehung zueinander setzen. So wird im ersten Teil des Kapitels die singularische Anrede für die sich versündigende, erste Wüstengeneration verwendet, während die pluralische Anrede die Folgegeneration meint. Im zweiten Teil wird die Perspektive geändert, indem die singularische Anrede für den heilsgeschichtlichen Rest verwendet wird, der zu JHWH umkehrt und die pluralische Anrede für die Generation steht, die aufgrund ihres Götzendienstes ins Exil geführt wird.446 Aber der Numeruswechsel
442 Vgl. dazu Veijola, der dies vor allem für die Götzenpolemik in Dtn 4,28 feststellt. Veijola, Timo, Das fünfte Buch Mose. Deuteronomium. Kapitel 1,1–16,17, ATD Teilband 8,1, Göttingen 2004, 110. 443 Otto spricht in dieser Hinsicht von Dtn 4,9–14 und Dtn 4,15–22 als „Vorhallen“ für Dtn 4,23–39 und schildert die Entstehung und den Zusammenhang von „Motivketten“. Otto, Eckart, Deuteronomium 1–11. Erster Teilband: 1,1–4,43, HThKAT, Freiburg 2012, 530. 444 Otto nimmt eine nachexilische Pentateuchredaktion an, die Dtn 4 für den Kontext, in dem das Kapitel steht, geschaffen hat. Otto, Deuteronomium, 532–538. Veijola erkennt eine nomistische Grundschicht (DtrN) in den Vv.1a.10–12a.13–14.22 und eine bundestheologische Bearbeitung (DtrB im ausgehenden 6. Jh.) in den Vv.1b.3 f.9.12b.15.16a.19.20.23abβ.24–29.31 und eine zweite Bearbeitung in den Vv.5–8. Veijola, Deuteronomium, 98. Taschner datiert in die spätexilische/ frühnachexilische Zeit, hält die Vv.29–31 aber für den jüngsten Zusatz. Taschner, Mosereden, 139f (hier findet sich auch ein Überblick über die Forschungsmeinungen). 445 Vgl. dazu Otto, Deuteronomium, 523–525. 446 Otto nennt dies die „amphibolische Qualität“ des Textes. Otto, Deuteronomium, 526.
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schaffe, so Otto, nicht nur Einsicht in die Differenzen der geschichtlichen Abläufe, sondern auch in die Kontinuität des göttlichen Handelns durch die verschiedenen Ebenen von Zeit und Zeitverlauf.447 Gerade in diesem Kapitel, das seine Dynamik durch die verschiedenen Zeitstufen – Rückblicke in die Vergangenheit, Reflexion über frühere und noch kommende Zeiten (Vv.30.32), Heilsankündigungen für die Zukunft – entwickelt, scheint dieser Ansatz eine hohe Plausibilität zu haben.
5.6.1.1 „… damit du nicht vergisst die Worte/Taten“ (Dtn 4,9) Dtn 4,9f: ר־ר ֣אוּ ָ ת־ה ְדּ ָב ִ ֜רים ֲא ֶשׁ ַ ן־תּ ְשׁ ַ֨כּח ֶא ִ אד ֶפּ ֹ ֗ מר נַ ְפ ְשׁ ָ֜ך ְמ ֹ ֨ וּשׁ ְ ֩ ַ ֡רק ִה ָ ֣שּׁ ֶמר ְלָך9 הֹוד ְע ָ ֥תּם ְל ָב ֶנ֖יָך וְ ִל ְב ֵנ֥י ָב ֶנֽיָך׃ ַ ְוּרוּ ִמ ְלּ ָ ֣ב ְב ָ֔ך ֖כֹּל יְ ֵ ֣מי ַח ֶיּ֑יָך ו ֙ וּפן־יָ ֙ס ֶ ֵע ֶ֗יניָך ת־ה ֔ ָעם ָ ל־לי ֶא ֙ ִ הוה ֵא ֗ ַלי ַה ְק ֶה ֜ ָ ְמר י ֹ ֨ ֹלה ֮יָך ְבּח ֵֹר ֒ב ֶבּ ֱא ֶ הו֣ה ֱא ָ ְ י֗ ֹום ֲא ֶ֨שׁר ָע ַ֜מ ְד ָתּ ִל ְפ ֵ֨ני י10 ל־ה ֲא ָד ָ֔מה וְ ֶאת־ ֣ ָ ל־היָּ ִמ ֙ים ֲא ֶ֨שׁר ֵ ֤הם ַחיִּ ֙ים ַע ַ ת־דּ ָב ָ ֑רי ֲא ֶ֨שׁר יִ ְל ְמ ֜דוּן ְליִ ְראָ֣ה א ִֹ֗תי ָכּ ְ אַשׁ ִמ ֵ ֖עם ֶא ְ ְו יהם יְ ַל ֵמּ ֽדוּן׃ ֖ ֶ ְֵבּנ 9 Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, damit du nicht die Worte/Taten vergisst, die deine Augen gesehen haben und damit sie nicht abweichen von deinem Herzen alle Tage deines Lebens. Und du sollst sie wissen lassen deine Kinder und Kindeskinder. 10 Den Tag, als du vor JHWH, deinem Gott, am Horeb standst, als JHWH zu dir sagte: „Versammle für mich das Volk. Ich will es hören lassen meine Worte, dass sie lernen sollen, mich zu fürchten, alle Tage, die sie auf der Erde leben, und sie sollen ihre Kinder lehren.
Das Objekt des Nichtvergessens in Dtn 4,9 besteht in den Worten/den Taten und meint damit die Übermittlung der zehn Gebote am Horeb. Die Konzentration liegt hier auf dem Hören der Worte in bewusster Abgrenzung zum Sehen einer Gestalt („Ihr hörtet die Worte, eine Gestalt saht ihr nicht, nur eine Stimme“ Dtn 4,12b), was mit der Zuspitzung auf das Bilderverbot zu tun hat. Die zehn Gebote werden in Dtn 4,13a zum Inhalt des Bundes: „Er verkündigte euch seinen Bund, den er euch gebot zu tun, die zehn Worte.“ Der Gegenstand des Nichtvergessens ist demnach die auf das Bilderverbot ausgerichtete Horeb-Berit. Die mit dieser Berit einhergehende Verpflichtung erfüllt Israel nicht nur im Tun der Gebote, sondern vor 447 „Der Numeruswechsel wird nicht als ein ‚Stilmittel‘ verwendet, sondern ist ein Element der Textpragmatik, das erst die theologische Dynamik in Dtn 4,1–40 in der Korrelierung vom Handeln Gottes und des Volkes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft freilegt.“ Otto, Deuteronomium, 527. Diese These konnte aufgrund der Beobachtung entwickelt werden, dass die in die Zukunft gerichteten Vv.29–40 durchgehend im Singular formuliert sind, wobei mit dem Wechsel in der Anrede eben mehr gemeint ist als ein Wechsel in der Zeitform, vgl. Otto, Deuteronomium, 526.
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allem durch das Nichtvergessen der Horebereignisse. Der Ort des Nichtvergessens im Menschen ist die „( נפשbewahre deine נפשgut“ V.9a). Seine Art und Weise äußert sich in der Weitergabe der Worte ( ידעim Hif ‘il) an die Kindeskinder (V.9b). Das Nichtvergessen in Dtn 4,9f scheint eine Aktualisierung des Bundesgeschehens zu sein, in dem es erinnert und weitererzählt wird. Als Begründung für die Notwendigkeit der Aktualisierung wird das Lernen der JHWH-Furcht angegeben („dass sie lernen sollen, mich zu fürchten“ V.10b).448 Die Bedeutung der JHWHFurcht scheint durch den Kontext des vorhergehenden Rahmens vor allem darin zu bestehen, leben zu können (Vv.1.4). Die JHWH-Furcht beinhaltet eine Erinnerung an den Bund, das Halten der Gebote und sichert damit das (Über-)Leben.
5.6.1.2 „… damit ihr nicht vergesst den Bund JHWHs, eures Gottes“ (Dtn 4,23) Dtn 4,23f: יכם ֲא ֶ ֥שׁר ָכּ ַ ֖רת ֶ֔ ת־בּ ִ ֤רית יְ הוָ ֙ה ֱאֹל֣ ֵה ְ חוּ ֶא ֙ ן־תּ ְשׁ ְכּ ִ ִה ָשּׁ ְמ ֣רוּ ָל ֶ֗כם ֶ ֽפּ23 ֹלהיָך׃ ֽ ֶ הו֥ה ֱא ָ ְיתם ָל ֶ ֥כם ֙ ֶפּ ֶסל֙ ְתּ ֣מוּנַ ת ֔כֹּל ֲא ֶ ֥שׁר ִצוְּ ָך֖ י ֶ֨ ִע ָמּ ֶכ֑ם וַ ֲע ִשׂ ֹלהי ָך ֵ ֥אשׁ א ְֹכ ָל֖ה ֑הוּא ֵ ֖אל ַק ָנּֽא׃ ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְ ִכּ֚י י24 23 Hütet euch, damit ihr nicht vergesst den Bund JHWHs, eures Gottes, den er mit euch geschnitten/geschlossen hat, dass ihr nicht macht für euch ein Bild irgendeiner Gestalt, wie JHWH, dein Gott, dir befohlen hat. 24 Denn JHWH, dein Gott, ein verzehrendes Feuer ist er, ein eifersüchtiger Gott.
In ähnlicher Ausprägung liegt auch die zweite Mahnung vor, nicht zu vergessen. Hier wird nicht mehr implizit über den Begriff der Worte vom Bund gesprochen, der Bund ist das direkte Objekt des Nichtvergessens. Inhalt des Bundes ist das Bilderverbot, wie es in Vv.9ff schon vorbereitet worden ist. Die Mahnung richtet sich nicht an ein „Du“ wie in der ersten Mahnung, sondern an eine zweite Person plural. Otto argumentiert an dieser Stelle in seiner Hermeneutik des Numeruswechsels, dass ab V.20, die Erwählung des Volkes zum Erbbesitz, nicht mehr die Adressaten
448 Veijola macht darauf aufmerksam, dass die zu lernende JHWH-Furcht einen Traditionsbereich der Weisheit darstellt. Allerdings sieht er einen Unterschied in der dtr Konzeption, welche die Furcht ausschließlich in der Treue zu JHWH und damit vor allem in der Einhaltung des ersten Gebotes begründe, während die Weisheit das gelingende Leben im Allgemeinen als Anzeichen für JHWH-Furcht ansehe. Veijola, Deuteronomium, 100. Der Unterschied wird relativiert, wenn bedacht wird, dass die Weisheit den Ansatz der göttlichen Ordnung in allen Bereichen der erfahrbaren Welt konsequent weiterdenkt und so wahrhaft gelingendes Leben nicht außerhalb der Treue zu JHWH geschehen kann.
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der erzählten Zeit im Vordergrund stehen, sondern die der nachexilischen Erzählzeit. Sie sollen sich nicht mit den götzendienenden Vorfahren (Anrede im Singular in V.3b) und der ersten Generation am Horeb, die nach den Schilderungen von Dtn 1–2 aufgrund ihres Ungehorsams stark dezimiert worden ist (Dtn 1,35; 2,14.16), identifizieren, sondern mit dem auserwählten Volk, das nicht preisgegeben wird.449 In der erzählten Zeit bezieht sich die Aufforderung, den Bund nicht zu vergessen, auf die Zeit nach der Landnahme. Wenn Israel im Land ist, sesshaft wird und Kinder im Land geboren werden und aufwachsen, ist es seine Verpflichtung, daran zu denken, von wem es das Land bekommen hat. Gerade in diesen Passagen wird stark mit den Zeitebenen und ihrer Transparenz auf frühere und spätere Ereignisse gespielt, so dass sich Exodus und Landnahme übertragen lassen auf das Exil und die Rückkehr ins Land. Die Mahnung in V.23 stellt sich wie eine Kurzform der Ausführungen von Vv.9ff dar, erfährt aber in V.24 eine andere Begründung: „denn JHWH, dein Gott, ein verzehrendes Feuer ist er, ein eifersüchtiger Gott.“ Wer den Bund vergisst, wird JHWHs Zorn, umschrieben mit dem verzehrenden Feuer, zu spüren bekommen. Die Wahl der Charakterisierung JHWHs als Feuer und eifersüchtiger Gott hängt vermutlich mit der besonderen Stellung Israels zusammen, die in V.20 zum Ausdruck kommt: Israel wird zu JHWHs Volk und Erbbesitz.450 Die Eifersucht JHWHs zeigt die Rückseite dieser Bindung, die mit der hohen Verpflichtung des Volkes einhergeht, JHWH treu zu sein. Weiterhin weiß der Text schon, dass Israel diese Verpflichtung nicht einhalten konnte und somit dem eifersüchtigen Gott, der sein Volk ins Exil führte, begegnet ist. Die Verknüpfung von Nichtvergessen, Bund und den Handlungseigenschaften JHWHs ist vor allem im Blick auf die dritte Stelle des Nichtvergessens in Dtn 4 interessant.
5.6.1.3 „… und er [JHWH] wird den Bund deiner Väter nicht vergessen“ (Dtn 4,31) Dtn 4,29–31: את ָ וּמ ָ ֑צ ָ ֹלהיָך ֖ ֶ הו֥ה ֱא ָ ְוּב ַקּ ְשׁ ֶ ֥תּם ִמ ָ ֛שּׁם ֶאת־י ִ 29 וּב ָכל־נַ ְפ ֶ ֽשָׁך׃ ְ ֖ל־ל ָב ְבָך ְ ִ ֣כּי ִת ְד ְר ֶ֔שׁנּוּ ְבּ ָכ וּמ ָצ ֕אוָּך ֖כֹּל ַה ְדּ ָב ִ ֣רים ָה ֵ ֑א ֶלּה ְ ַבּ ַצּ֣ר ְל ָ֔ך30 ֹלהיָך וְ ָשׁ ַמ ְע ָ ֖תּ ְבּק ֹֽלֹו׃ ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְאַח ִר ֙ית ַהיָּ ִ֔מים וְ ַשׁ ְב ָ֙תּ ַעד־י ֲ ְבּ יתָך ֑ ֶ ֹלהיָך ֥ל ֹא יַ ְר ְפָּך֖ וְ ֣ל ֹא יַ ְשׁ ִח ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְחוּם י ֙ ִ ֣כּי ֵ ֤אל ַר31 ת־בּ ִ ֣רית ֲאב ֶֹ֔תיָך ֲא ֶ ֥שׁר נִ ְשׁ ַ ֖בּע ָל ֶ ֽהם׃ ְ וְ ֤ל ֹא יִ ְשׁ ַכּ ֙ח ֶא
449 Vgl. Otto, Deuteronomium, 526. 450 In diesem Vers liegt mit der Wendung „damit ihr sein Volk werdet“ die Bundesformel in Verkürzung vor.
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29 Und von dort aus werdet ihr JHWH, deinen Gott, suchen, und du wirst ihn finden, wenn du ihn suchen wirst mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele. 30 In deiner Not werden alle diese Worte dich finden in späteren Tagen451, und du wirst umkehren zu JHWH, deinem Gott, und hören auf seine Stimme. 31 Denn ein barmherziger Gott ist JHWH, dein Gott, er wird dich nicht verlassen und dich nicht verderben, er wird nicht vergessen den Bund deiner Väter, den er ihnen geschworen hat.
In der Logik von Dtn 4 haben wir es an dieser Stelle mit einem Zeitsprung zu tun. Offensichtlich hat Israel die Horeb-Berit und alles, was sich mit ihr verknüpft, doch vergessen und deswegen den Zorn JHWHs, in Gestalt des Exils, zu spüren bekommen (Vv.27–28). Nun stellt sich die Frage, ob und wie die Beziehung zwischen JHWH und Israel fortgeführt und gestaltet werden kann. Dtn 4,31 findet eine Lösung, das Verhältnis zwischen JHWH und seinem Volk Israel nach dem Bruch zu erneuern und auch weiterzuführen: Jetzt ist es JHWH, der nicht vergisst. Objekt des Nichtvergessens ist die Väter-Berit, die er den Vätern geschworen hat. Die Kategorie des Bundes als Schlüsselbegriff für die Relation JHWH – Israel wird also nicht verlassen, wohl aber modifiziert. Da eine nahtlose Anknüpfung JHWHs an die an Verpflichtungen gebundene Horeb-Berit nicht möglich ist, wird der Rückgriff auf die Väter-Berit getan. Diese bietet sich an, da sie hauptsächlich durch die Aktivität JHWHs aufrechterhalten wird, was der Begriff des Schwörens deutlich macht. JHWH hat diese Berit geschworen, deswegen wird er sie nicht vergessen (vgl. dazu auch Lev 26). Der Grund des Nichtvergessens liegt in JHWHs Barmherzigkeit: „Denn ein barmherziger Gott ist JHWH, dein Gott“ (V.31). Die Horeb-Berit „ist nicht JHWHs letztes Wort, denn in seiner Barmherzigkeit steht JHWH weiterhin zu seiner viel älteren, grundlegenden, nur die Landverheißung enthaltenden und insofern unkonditionierten Berit mit den Patriarchen. Diese Brücke trägt über den Abgrund der vergessenen Horeb-Berit hinweg.“452 Werden die beiden Bundeskonzeptionen aus Vv.23a.24 und V.31 verglichen, so wird der scharfe Kontrast durch die sprachlich im Chiasmus ausformulierten Antithesen deutlich:
451 Die Übersetzung und die Stellung des Ausdrucks spätere Tage ( )באחרית הימיםist nicht eindeutig. Er kann sowohl auf die Not bezogen werden, die in späteren Tagen kommen wird, als auch auf die Umkehr zu JHWH. Otto übersetzt mit am Ende der Tage und hat eine Umkehr vor Augen, die „zwischen den Zeiten“ geschieht, nach der Katastrophe des Exils und vor einer „Vollendung durch die Herzensbeschneidung (Dtn 30,6)“. Otto, Deuteronomium, 580. Franz spricht sich sehr klar dafür aus, dass die späteren Tage einen Ausdruck für das Exil bezeichnen und zusammen mit den früheren Tagen (V.32) die Geschichte vom Anfang der Schöpfung bis zur Katastrophe des Exils umspannen. Franz, Gnadenrede, 218. 452 Groß, Zukunft, 36 f.
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Vv.23a.24
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V.31aα.b
ת־בּ ִ ֤רית יְ הוָ ֙ה ֱא ֹ֣ל ֵה ֶ֔יכם ְ חוּ ֶא ֙ ן־תּ ְשׁ ְכּ ִ ִה ָשּׁ ְמ ֣רוּ ָל ֶ֗כם ֶ ֽפּ יתם ֶ֨ ֲא ֶ ֥שׁר ָכּ ַ ֖רת ִע ָמּ ֶכ֑ם וַ ֲע ִשׂ ֹלהיָך ֵ ֥אשׁ א ְֹכ ָל֖ה ֑הוּא ֵ ֖אל ַק ָנּֽא׃ ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְִ ֚כּי י
ֹלהיָך ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְחוּם י ֙ ִ ֣כּי ֵ ֤אל ַר ת־בּ ִ ֣רית ֲאב ֶֹ֔תיָך ְ וְ ֤ל ֹא יִ ְשׁ ַכּ ֙ח ֶא ֲא ֶ ֥שׁר נִ ְשׁ ַ ֖בּע ָל ֶ ֽהם׃
Hütet euch, damit ihr nicht vergesst den Bund JHWHs, eures Gottes, den er mit euch geschnitten/geschlossen hat, denn JHWH, dein Gott, ein verzehrendes Feuer ist er, ein eifersüchtiger Gott.
Denn ein barmherziger Gott ist JHWH, dein Gott, er wird nicht vergessen den Bund deiner Väter, den er ihnen geschworen hat.
Beginnt V.31 mit der Barmherzigkeit JHWHs, so endet V.24 mit seinem Zorn. Soll in V.23 Israel die Horeb-Berit nicht vergessen, so ist es in V.31 JHWH, der die Väter-Berit nicht vergisst. Die Horeb-Berit wird mit ihnen geschnitten/geschlossen, die Väter-Berit wird für sie/ihnen geschworen. Angesichts dieser konträren Bundeskonzeptionen, der konditionierten Horeb-Berit und unkonditionierten Väter-Berit, in denen sich die Spannung von Zorn und Barmherzigkeit JHWHs widerspiegelt, muss danach gefragt werden, was nach dem Exil von Israel erwartet wird? In welchem Verhältnis steht die Barmherzigkeit JHWHs zu dem Tun des Menschen? Taschner und Braulik stellen fest, dass die Väter-Berit nicht „an den Gehorsam Israels gebunden“453 ist. Lohfink geht in seiner Deutung zu Dtn 4,29–31 noch einen Schritt weiter, indem er die Passage so auslegt, dass selbst der Schritt der Umkehr nicht bewusst von Israel vollzogen werden muss, sondern diese eine Folge der Gnade JHWHs ist, indem seine Worte Israel finden werden.454 Macht die Barmherzigkeit JHWHs also den Gesetzesgehorsam überflüssig, lässt der Rückgriff auf die Väter-Berit die Forderungen der Horeb-Berit ein für alle Mal vergessen? Groß bestreitet für Dtn 4,31 die völlige Ablösung der Barmherzigkeit von einer adäquaten menschlichen Haltung, indem er argumentiert, dass die Väter-Berit einen Neuanfang ermöglicht „unter der Bedingung, daß Israel im Exil von sich aus den ersten Schritt tut und unter intensiver Suche zu YHWH zurückkehrt.“455 So ganz unkonditioniert scheint demnach auch der Gebrauch der Väter-Berit nicht zu sein. Wieder wird deutlich, dass die Differenz zwischen den Konzeptionen – konditioniert versus unkonditioniert – nicht zu scharf bewertet werden kann.
453 Taschner, Mosereden, 143f unter Bezugnahme auf Braulik, Georg, Das Buch Deuteronomium, in: Zenger, Erich, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 52004, 136–155; 145. 454 „Nicht Israel wird Jahwe finden, sondern Jahwes Worte werden Israel finden. Israel muß nicht umkehren, damit Jahwe sich ihm wieder zuwendet, sondern wenn Jahwes Worte Israel finden, dann wird Israel die Gnade der Umkehr gewährt werden. Dann wird es wieder wie einst am Horeb auf Jahwes Stimme hören (vgl. 4,12).“ Lohfink, Norbert, Höre Israel! Auslegung von Texten aus dem Buch Deuteronomium, WB 18, Düsseldorf 1965, 31. Zur Kritik an dieser Auslegung und der damit verbundenen Übersetzung vgl. Groß, Zukunft, 31–36. 455 AaO., 37.
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Groß macht in seinen Ausführungen zu Dtn 4 deutlich, dass das Nebeneinander der Bundeskonzepte Zeugnis einer noch unfertigen Suche ist, wie die Kategorie Bund nach dem Exil verstanden und für theologische Argumentationen gebraucht werden kann. Er weist damit auf die Aufgabe für nachexilische Generationen hin, die älteren Traditionen einer neuen Deutung zu unterziehen und erkennt in den jungen Texten für die Bundestheologie drei Lösungswege: (1) […] alleinige Gründung Israels auf der unkonditionierten Väter-Berit, konkretisiert als Abraham-Berit. (2) Modifizierung der Sinai-Berit, insofern entweder Israel seine Schuld bezahlt oder YHWH Israels Schuld vergibt. (3) Gänzliche Neukonzeption der Sinai-Berit durch Neukonstituierung Israels und Transformation ihrer Konditionierung.456
Wird allerdings der Ansatz von Otto ernstgenommen, dass Dtn 4 nachexilisch im Ganzen bewusst verfasst worden sein könnte, fällt es schwer, die verschiedenen Bundeskonzeptionen als Indiz für eine Suche nach einer Neufindung der Bundestheologie anzusehen und eine Ablösung vom Horebbund zugunsten des Väterbundes anzunehmen. Vielmehr könnte es aufgrund der Hermeneutik von Dtn 4, die, wie bereits festgestellt wurde, darin besteht, Ereignisse zwischen Israel und JHWH in unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten durchlässig zu machen für eine Deutung des kontinuierlichen Handelns JHWHs an seinem Volk, eher darum zu gehen, auch die Bundeskonzeptionen in ihrer Vielfalt und Gemeinsamkeit aufeinander hin deuten. Beide im Chiasmus aufeinander bezogenen Bundesschlüsse ergeben zusammen gelesen ein Bild über die Möglichkeiten in der Relation JHWH-Volk. Die Verwobenheit der Bundeskonzeptionen ist m. E. so zu bewerten wie in Lev 26 auch, als ein umfassender Väterbund, der den Horebbund samt Scheitern integriert, aber nicht nivelliert. Eine wesentliche Rolle spielt in dieser wechselseitigen Auslegung der Bundeskonzeptionen in Dtn 4 die Rede von der Barmherzigkeit Gottes, die für das Dtn und die dtn-dtr Theologie ganz und gar ungewöhnlich ist.457 Franz nimmt an, dass in V.31 sehr wahrscheinlich Ex 34,6f im Hintergrund steht,458 was bedeutet, dass dieselbe Barmherzigkeit, mit der JHWH seinen Bund hält, auch Israel nach der Sünde des goldenen Kalbes am Leben erhält. In dieser Barmherzigkeit liegt das Kontinuum des Gotteshandelns, was nicht bedeutet, dass der Zorn keine Rolle mehr spielen würde. Wie in der Gnadenformel auch, ist der Zorn ein Element der Handlungsoptionen JHWHs, der in der Geschichte mit seinem Volk oft entbrannt ist. Vielleicht lässt sich sagen, dass die Bundeskonzeptionen in Dtn 4 ein neues Fundament bekommen haben, das aus der Gnadentheologie besteht, die in den älteren Texten des Deuteronomiums ausgelassen worden ist. Der Grund dafür 456 AaO., 39. 457 Vgl. zu diesem Gedanken Franz, Gnadenrede, 220 f. 458 „Am Ende der dtr Traditionsbildung – wohl bereits in nachexilischer Zeit – dringt das Bekenntnis zum barmherzigen Gott selbst in einen Textbereich ein, der sich dagegen vielleicht am stärksten gewehrt hatte: das Deuteronomium.“ Franz, Gnadenrede, 220.
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könnte eben die Einsicht in das Vergessen des Volkes sein, welches zwar immer wieder angemahnt, aber nicht behoben werden kann. Letztlich ist es JHWH allein, der seiner Bindung an das Volk gedenkt. Ein weiterer Text, der Zeugnis vom Vergessen des Volkes ablegt, ist Ps 78, dessen Lösung für dieses Problem im nächsten Punkt aufgezeigt wird
5.6.2 „… und sie vergaßen seine Taten und Wunder“ (Ps 78,9–11) Psalm 78, vor allem das Proömium (Vv.1–11) und die sich darauf zurückbeziehenden Verse 37–39, ist als zweiter Referenztext zum Vergessen in Ps 103 gewählt worden, weil hier eine Form des Vergessens vorliegt, die zwar dtn-dtr Vorlagen folgt und doch eine ganz eigene Prägung hat. Außerdem ist das Vergessen auch hier mit der Kategorie des Bundes verknüpft, wobei der Bund, wie im Folgenden zu sehen ist, nicht mehr die zentrale Rolle spielt. Vorweg ist zu Ps 78 zu sagen, dass seine Datierung und die Frage nach Einheitlichkeit in der Forschung sehr konträr diskutiert werden. Überzeugende Argumente zur Datierung nennt Markus Witte, der u. a. aufgrund der Abhängigkeit von spätdeuteronomistischen und priesterschriftlichen Passagen und der Nähe zum Davidsbild der Chronik den Psalm in die Zeit des zweiten Tempels datiert.459 Gute Argumente, den Psalm einheitlich zu lesen, bringt Beat Weber460, der einen überzeugenden strophischen Aufbau des Psalms vorstellt, ihn allerdings als Ganzen in die Zeit um 700 v. Chr. ansetzt, was aufgrund der vielen jüngeren Traditionen, die der Psalm aufnimmt (z. B. scheint die für das Motiv des Vergessens wichtige Verknüpfung mit der Generationenfolge von Dtn 4 und Dtn 6 in Ps 78 bekannt zu sein), weniger plausibel erscheint als der Vorschlag von Witte. Für diese Analyse ist letztlich die Komposition der Endgestalt und die damit zusammenhängende Deutung von Vergessen und Bund wichtig.
459 Vgl. die Übersicht der Argumente für diese Spätdatierung in: Witte, Markus, From Exodus to David – History and Historiography in Psalm 78, in: Calduch-Benages, N./Liesen, J. (Hg.), History and Identity. How Israel’s Later Authors Viewed its Earlier History, DCLY 2006, Berlin/New York 2006, 21–42; 37 f. 460 Vgl. Weber, Beat, Psalm 78: Geschichte mit Geschichte deuten, in: ThZ 56, 2000, Heft 3, 193–214; 194 ff.
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5.6.2.1 Vergessen ( )שכחund (preisendes) Erzählen ( ספרpi‘el) Ps 78,8–11: א־ה ִ ֣כין ִל ֑בֹּו ֵ ֹ מ ֶ ֥רה דּ֭ ֹור ל ֹ ֫ סֹורר וּ ֪ ֵ דֹּור ֮ בֹותם ָ֗ וְ ֤ל ֹא יִ ְהי֨ וּ ׀ ַכּ ֲא8 :רוּחו ֽ ת־אל ֣ ֵ וְ לֹא־נֶ ֶא ְמ ָנ֖ה ֶא י־ק ֶשׁת ָ֝ה ְפ ֗כוּ ְבּי֣ ֹום ְק ָ ֽרב׃ ֑ ָ רֹומ ֵ �ְקי ֥ ֵ י־א ְפ ַ ֗ריִ ם נֹושׁ ֶ ֵ ְ ֽבּנ9 תֹור ֗תֹו ֵמ ֲאנ֥ וּ ָל ֶל ֶֽכת׃ ָ ֹלהים וּ ְ֝ב ֑ ִ ֣ל ֹא ָ ֭שׁ ְמרוּ ְבּ ִ ֣רית ֱא10 שׁר ֶה ְראָֽם׃ ֣ ֶ אֹותיו ֲא ָ֗ ילֹותיו וְ ֝נִ ְפ ְל ֑ ָ וַ יִּ ְשׁ ְכּ ֥חוּ ֲע ִל11 8 Aber sie sollen nicht werden wie ihre Väter, eine widerspenstige und störrische Generation, nicht hat sie ihr Herz festgemacht und nicht waren sie Gott treu in ihrem Geist. 9 Die Ephraimiten waren gerüstete Bogenschützen, sie wandelten sich am Tag des Kampfes. 10 Sie bewahrten nicht den Bund Gottes und sie weigerten sich in seiner Weisung zu wandeln. 11 Sie vergaßen seine Taten und seine Wunder, die er sie hatte sehen lassen.
Mit diesen Versen endet das Proömium von Psalm 78.461 Die Ephraimiten werden als eine Gruppe unter den Erzeltern angeführt, die sich gegen JHWH versündigten, indem sie Bund und Tora missachteten und JHWHs Taten vergaßen. Damit erfüllen sie zwei Funktionen im Psalm, zum einen bilden sie die Negativfolie für das in der Unterweisung in Vv.1–7 gebotene Verhalten, zum anderen wird gerade durch die Verfehlung der Erzeltern die Möglichkeit der Versündigung an JHWH in die Gottesbeziehung integriert.462 Zunächst wird das Vergessen im Blick auf die Vv.1–8 analysiert, danach die Konsequenz anhand der Vv.37–39 verdeutlicht. Ps 78,1–6 ist geprägt durch das Wortfeld „Hören und Weitererzählen“, das sich auf mehreren Ebenen entwickelt. Zuerst mahnt der Sprecher des Psalms, ihm möge zugehört werden. Als Inhalt seines Verkündigens führt er mehrere Begriffe
461 Von vielen Auslegern werden die Vv.9–11 als sekundäre Hinzufügung zum Proömium betrachtet, Gärtner zeigt allerdings überzeugend, wie stark die Verse durch Leitmotive und Stichwortverbindungen sowohl mit Vv.1–8 als auch mit den nachfolgenden Versen verbunden sind, so dass eine literarkritische Scheidung nicht notwendig sein muss. Lediglich V.9 erweist sich mit seiner Konzentration auf das Nordreich als sperrig. Vgl. Gärtner, Geschichtspsalmen, 60; so auch Witte, der als Grund für die Ergänzung der Ephraimiten einen Streit zwischen den Samaritanern und der Jerusalemer Kultgemeinde annimmt, vgl. Witte, Exodus, 39. 462 „Dadurch wird die Möglichkeit des Scheiterns und des Sichverfehlens einer Generation in den Beginn der Geschichte Jhwhs mit seinem Volk integriert und in den folgenden zwei Reflexionsgängen durch die Geschichte ausgeführt.“ Witte, Exodus, 57.
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an: seine Weisung, die Worte seines Mundes (V.1), ein Spruch, Rätsel aus der Vorzeit (V.2), die gehört und verstanden wurden. Ab V.3 richtet sich der Blick in die Vergangenheit, indem unsere Väter als diejenigen genannt werden, welche die Sprüche und Rätsel schon erzählt und verstanden haben. Das Leitwort für dieses Erzählen ist ספר, also das auf Heilstaten JHWHs konzentrierte lobende Weitererzählen, welches in den Vv.3.4.6 vorkommt. Diese Väter haben mit ihren Worten dafür gesorgt, dass auch die nachfolgenden Generationen von JHWHs Ruhmestaten, Macht und Wundertaten hören (V.5), damit sie erkennen und die Worte ihrerseits weitergeben (V.6). Das Ziel der Weitergabe wird in V.7 sehr klar benannt: Die nachfolgenden Generationen sollen dadurch auf Gott ihre Zuversicht setzen, die Taten Gottes nicht vergessen und seine Gebote bewahren. Daran schließt sich in einer Art Antithese das Verhalten der Ephraimiten an, die ziemlich genau das Gegenteil taten: Sie bewahrten nicht den Bund Gottes, wandelten nicht in seiner Weisung und vergaßen seine Taten und Wunder. Das Nichtbewahren des Bundes steht hier nicht im Vordergrund, so wie in den Stellen von Dtn 4,23.31, in denen der Bund das direkte Objekt des Vergessens ist, sondern in einer Reihe mit der missachteten Weisung. Das Vergessen von JHWHs Taten und Wundern in V.11 ist kein drittes Element, das neben der Nichtbewahrung des Bundes und der Missachtung der Weisung zu stehen kommt, eher eine umfassende und zusammenfassende Aussage. Das Vergessen betrifft demnach auch den Bund, aber nicht nur. Der Sache nach bewegt sich das Proömium mit der Aufforderung, die kommenden Generationen zu lehren, in der Thematik von Dtn 4,9.25 und Dtn 6,2, allerdings mit unterschiedlichem Vokabular. Der Begriff ספר, der im Dtn nicht gebraucht wird, legt nahe, dass sich der erzählte Inhalt nicht auf ein Weitergeben der Gebote erstreckt, sondern vor allem auf die kultische Danksagung für individuelle Rettungstaten JHWHs.463 Er richtet sich an zwei Empfänger, zum einen an JHWH, der durch ספרPreisung und Dank erfährt, zum anderen an die Hörerschaft, die ihrerseits in die Lage versetzt wird, zu verstehen, zu partizipieren und weiterzugeben. Ist in Dtn 4 das Ziel der Weitergabe das Lernen der Gottesfurcht, so ist die zentrale Kategorie in Ps 78,1–8 das Erkennen ( ידעVv.3.5.6). Die Heilstaten JHWHs, die er an Einzelnen begangen hat, sollen für alle so zugänglich gemacht werden, dass sie in ein gemeinsames Wissen von JHWH münden. Durch den Begriff ידעwird zugleich eine große Nähe zu JHWH ausgedrückt. Aus der Frontstellung von lobendem Weitererzählen und Vergessen wird deutlich, dass das Vergessen sowohl ein Vergehen gegen JHWH ist, weil ihm der Dank verloren geht, als auch ein Vergehen gegen die folgenden Generationen. Ihnen wird durch das Vergessen der Elterngeneration nicht nur die Möglichkeit genommen, JHWH angemessen nachzufolgen, sondern auch ihre eigene Geschichte,
463 Vgl. zu ספרJanowski, Konfliktgespräche, 245. Hier verbindet Janowski den Begriff mit der öffentlichen Verkündigung einer konkreten Rettungstat im Kult, so dass diese Erfahrung der ganzen Gemeinde zugänglich und von dieser gelobt wird. ספרträgt den Dank in sich.
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die immer eine Geschichte mit JHWH ist, zu verstehen.464 Wenn durch das Vergessen kein ספרmehr stattfindet, bleibt die Beziehung JHWHs zu den Menschen eine Privatangelegenheit, aber wird nie ein die Gemeinde umfassendes kollektives Wissen, durch das sich durch das Erinnern eine Zuversicht auf JHWHs Handeln für die Zukunft einstellen kann. Weil ספרzeitübergreifend funktioniert (Erinnern der vergangenen Taten, gegenwärtiges Lob und dadurch resultierende Hoffnung für die Zukunft), ist auch das Vergessen so zu verstehen, dass nicht einfach etwas fehlt, sondern das dieses Fehlende die Beziehung der zukünftigen Generationen zu JHWH entscheidend prägt.
5.6.2.2 „Er aber ist barmherzig …“ (Ps 78,38) – Vergessen und Barmherzigkeit Ps 78,37–39: יתֹו׃ ֽ ְו ִ֭ל ָבּם לֹא־נָ ֣כֹון ִע ֑מֹּו וְ ֥ל ֹא ֶ֝נ ֶא ְמנ֗ וּ ִבּ ְב ִר37 אַפֹּו ֑ א־י ְשׁ ִ ֥חית ְו ִ֭ה ְר ָבּה ְל ָה ִ ֣שׁיב ַ֫ ֹ וְ ֤הוּא ַר ֨חוּם יְ ַכ ֵ ֥פּר ָע ֹ֮ון ְ ֽול38 ל־ח ָמ ֽתֹו׃ ֲ א־י ִ֝עיר ָכּ ָ ֹ וְ ֽל ֹולְך וְ ֣ל ֹא יָ ֽשׁוּב׃ ֵ ֗ י־ב ָ ֣שׂר ֵ ֑ה ָמּה ֥ר ַוּח ֝ה ָ ַ ֭ויִּ זְ כֹּר ִכּ39 37 Ihre Herzen waren nicht beständig mit ihm und sie waren seinem Bund nicht treu. 38 Er aber ist barmherzig und vergibt Schuld. Nicht wird er verderben und vielmals abwenden seinen Zorn. Nicht wird er entfachen seine ganze Wut. 39 Er gedachte, dass sie Fleisch sind, ein Hauch, der dahingeht und nicht zurückkommt.
Es kann als Besonderheit von Psalm 78 bezeichnet werden, dass er das Vergessen der Taten JHWHs als eine Art anthropologische Konstante versteht, die von Anfang an in der Geschichte JHWHs mit Israel, hier den Erzeltern, verwurzelt ist. So bewundernswert und groß die Taten JHWHs auch sind, der Geschichtsrückblick zeigt, dass Israel sie vergisst, wenn es ihm gut geht.465 Hier wird noch einmal 464 Witte macht in seinen Ausführungen zu Ps 78 auf die Bedeutung des Erinnerns für das Verständnis des eigenen Lebens aufmerksam: „The transmission and remembrance of history (v.5), demanded by God himself, enables the people to participate in history and to integrate it into their own life-story and their own history with God.“ Witte, Exodus, 28. 465 Auch in diesem Motiv knüpft der Psalm an das Deuteronomium an, indem es die Gefahr benennt, dass das Vergessen einsetzt, wenn es den Menschen gut geht und sie ohne Sorge sind. Vgl. Dtn 6,10ff: „Wenn es geschieht, dass JHWH, dein Gott, dich in das Land bringt, […] große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser voller Güter, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast, und wenn du nun isst und satt wirst, so hüte dich, damit du JHWH nicht vergisst.“
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klar, warum es das ספרgegen das Vergessen braucht, denn wenn schon die Erzeltern vergessen, die alles in Echtzeit miterlebt haben, wie sehr wird es die nachfolgenden Generationen betreffen? Erst wenn JHWH seine Tage im Nichts dahinschwinden lässt und ihm den Tod bringt (Vv.33f), dann fragt es nach ihm. Dieses Verhalten aber zeigt eine Ausnahme von den alltäglichen Gewohnheiten, die aus Lügen und Betrügen bestehen (V.36), so dass der Psalmist zu dem Schluss kommt, dass das Herz Israels nicht beständig und es dem Bund nicht treu ist (V.37). Hier lässt sich der Rückbezug zu V.8 und zu V.10 erkennen, zu den Vätern, welche die Wundertaten JHWHs vergessen und nichts weitererzählt haben. V.37 ist eine Zusammenstellung der Folgen, die das Vergessen auslöst. Daran wird deutlich, dass Vv.37f auf dem Hintergrund des Proömiums gelesen werden soll. Das Vergessen wird an dieser Stelle zu einer Wankelmütigkeit im Glauben, der nur dann halbherzig ausgeführt wird, wenn es zu Notsituationen kommt. Anstelle einer Ahndung der Schuld, ist die Reaktion JHWHs auf das Vergessen und das Untreusein seine Barmherzigkeit, welche die Schuld vergibt.466 Wie in Ex 34,6f werden Barmherzigkeit und Zorn in JHWH austariert (die חסדwird in Ps 78 nicht genannt), wobei der Zorn vielmals abgewendet und nicht die ganze Wut entfacht wird. Es lassen sich in der Argumentation Ähnlichkeiten zu Dtn 4,31 feststellen, indem JHWHs Barmherzigkeit in die Lücke springt, die der Bundesbruch geschaffen hat. Allerdings entsteht keine eigene Bundeskonzeption, denn die Barmherzigkeit wird nicht bundestheologisch begründet, sondern mit der Schwachheit des Volkes. Wie auch in Ps 103 ist das Zurückhalten des Zorns die Konsequenz der sterblichen Natur des geschaffenen Menschen. Weil der Mensch Fleisch ist und seine Existenz flüchtig wie ein Windhauch und nicht zurückkehrt, vergibt JHWH seine Schuld. Diese Intensität der Barmherzigkeit, die große Schuld überwindet, scheint nötig zu sein, da Israel, wie oben beschrieben, nur dann JHWH treu sein kann, wenn es existenziellen Bedrohungen ausgesetzt ist (Vv.33f). Es geht also nicht nur um die Schwachheit hinsichtlich der Sterblichkeit, sondern auch um eine Schwachheit im Wesen Israels, in welchem das Vergessen seinen festen Platz hat, wie an den Erzeltern zu sehen ist. Wenn das Volk vergisst, dann ist JHWH derjenige, der gedenkt ( )זכרund Barmherzigkeit ausübt. Dem Vergessen werden in Psalm 78 zwei Konzepte gegenübergestellt, das ספר, das die ideale Haltung JHWH und den kommenden Generationen gegenüber beschreibt und das hier JHWH vorbehaltene זכר. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Psalm 78 das Vergessen eine zentrale Stellung einnimmt, da es grundlegende Auswirkungen auf die Relation JHWHVolk hat, indem es durch die Barmherzigkeit JHWHs und seiner Tätigkeit des זכרausgeglichen wird. Mit einer Spielart der Gnadenformel wird auf das Untreusein gegenüber dem Bund geantwortet, welches ein Beispiel für das unbefestigte Herz der Israeliten ist. Wurde in Dtn 4 der Ort des Vergessens eindeutig der נפש
466 Im Unterschied zu Ex 34,7 und auch zu Ps 103 wird hier als Begriff für die Entsühnung der kultische Terminus כפרpi’el gebraucht, der z. B. das Leitwort in Lev 16 ist.
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zugeschrieben, sind die anthropologischen Begriffe in Ps 78 das Herz, der Geist und das Fleisch. Ein festes Herz und ein JHWH treuer Geist sind die Folge des lobenden Weitererzählens und damit die Gegenspieler des Vergessens, das in der Natur des Fleisches verankert liegt. Die ungewöhnliche Formulierung des Geistes, der treu ist, könnte auf die Geschöpflichkeit des Menschen verweisen, der, da er weiß, dass er von JHWH seinen Lebensatem bekommen hat, sich ihm gegenüber treu verhalten sollte.
5.6.3 Das Nichtvergessen in Psalm 103 auf dem Hintergrund von Dtn 4 und Ps 78 Im Vergleich zu Dtn 4 und Ps 78 fällt zunächst die grammatikalische Form des Nichtvergessens auf, das im Vetitiv als klares Verbot formuliert ist: Du sollst nicht vergessen. In Dtn 4 beschreibt die Kombination mit פןeinen finalen Nebensatz, damit du nicht vergisst und in Ps 78 steht der verneinte Indikativ/Narrativ: Sie werden nicht vergessen/sie vergaßen. Es ist also in Ps 103 die sprachlich schärfste Formulierung vorhanden, die im Kontext mit den Imperativen des Preisens/hymnische Selbstaufforderung verstanden werden muss. Interessant ist in allen Texten die Negation. In Ps 103 hätte der Psalmist passend zu den anderen Imperativen eine positive Formulierung gebrauchen können, wie z. B. gedenke ()זכר, durch die deutlich wird, dass es um dieses bestimmte Verb שכחmit all den Assoziationen geht, die es erweckt. Der darauf folgende Hymnus bietet die Explikation der Taten, die nicht vergessen werden sollen und weist damit Ähnlichkeit zu den Geschichtsrückblicken auf, die in Dtn 4 und in Ps 78467 gemacht werden, allerdings in verdichteter Form. Es wird durch die hymnischen Partizipien eine Art stilisierte Heilsgeschichte JHWHs geboten, die einen großen Raum zur Deutung lässt und sich somit von den konkreten Beschreibungen der Geschichte unterscheidet. Die Rede vom Bund erscheint im Ablauf von Ps 103 erst relativ spät, in Vv.17f, und steht somit nicht unmittelbar bei der Aufforderung des Nichtvergessens. Ist er in Dtn 4,23.31 das direkte Objekt und wird in Ps 78,10 im Zusammenhang mit dem Vergessen der Taten und Wunder JHWHs direkt genannt, weiß Ps 103 dringlichere Themen, an die erinnert werden soll. Aus der Perspektive von Dtn 4 und Ps 78 verwundert es nicht, dass nach dem Signalwort „Vergessen“ der Bund in Ps 103 genannt wird, wohl aber, dass er erst so spät auftaucht. Das zeigt, dass der Bund in seiner Bedeutung den Gnadentaten untergeordnet ist. In der Abfolge von Ps 103 wird erst das grundlegend durch JHWHs Gnade konstituierte Verhältnis zu Israel beschrieben, bevor die Konsequenzen genannt werden, die für Israel daraus entstehen.
467 Vgl. thematische Ähnlichkeiten/Stichwortverbindungen, evtl. durch gemeinsamen dtn-dtr Hintergrund.
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5.7 Ergebnisse zu den Bundeskonzeptionen Die hier behandelten Texte Gen 17; Ex 31,12–17; Lev 26; Jer 14,19–22 und Dtn 4 bilden verschiedene Stadien innerhalb der Auseinandersetzung mit der Bundestheologie in nachexilischen Texten ab.468 Als Ergebnis lässt sich zunächst generell festhalten, dass eine pauschale Zuschreibung in die Kategorien unkonditionierter Priesterbund und konditionierter dtn-dtr Bund zu oberflächlich gedacht ist, da sie weder Dynamik und Kontext der Texte in ihren Eigenarten aufnimmt, noch die starke Überschneidung bei den zugehörigen Verben bewahren und gedenken beachtet. Für den Priesterbund haben sich die Kategorien von Zeit/Ewigkeit und Individualisierung/Generationenfolge als prägend erwiesen. Die P-Bundeskonzeption und ihre Bearbeitung entwirft einen Bund, der in Abläufen von Zeit erfahrbar wird (der Sabbat in Ex 31) und trotzdem nicht in menschlich überschaubaren Zeitfolgen aufgeht (der עולם-Begriff als Charakteristikum der JHWH-Zeit). Dazu gehört auch die Überwindung von Brucherfahrungen durch die Möglichkeit von Fortführung über den Bruch hinaus (Wiederherstellung des Gottesverhältnisses und ihre begründete Hoffnung darauf in Lev 26 und Jer 14f; der Rekurs auf die Barmherzigkeit JHWHs in Dtn 4,31). Dieser Bund zeigt sich an der Einhaltung von Einzelgeboten wie Beschneidung und Sabbat, seine Stabilität aber ist unabhängig von Verfehlungen Einzelner und dadurch dauerhaft für Generationen. Die Methodik, in welcher der Bund sich als stabil und funktionsfähig erweist, ist die der Entsprechung/Korrespondenz von JHWH-Tun und menschlichem Tun (Heiligung) und der Partizipation (Eingebundenheit des Menschen in der von JHWH eingesetzten Weltordnung). Der Rekurrenz auf Schöpfungstraditionen scheint hier eine gesteigerte Bedeutung zuzukommen. Mit einer nachexilischen Neuinterpretation der Bundestheologie sind zwei weitere Phänomene verbunden: Zum einen muss nicht mehr der Bund an sich im Vordergrund stehen, sondern er kann als begründendes Interpretament in theologischen Denkfiguren eingesetzt werden, die mit und nach dem Exil eine große Bedeutung gewinnen, wie z. B. die Frage nach der Identität des Gottesvolkes innerhalb des Völkerkontextes (Beschneidung und Sabbat als ‚Identitätsmarker‘). Zum anderen werden die verschiedenen Formen, in denen der Bund gedacht werden kann, miteinander in Beziehung gesetzt und nach Möglichkeiten von Verhältnisbestimmungen gesucht (Väterbund und Sinaibund). Es findet nicht einfach eine Ablösung und Neueinsetzung von Konzeptionen statt, sondern ein integratives 468 Vgl. zu den Einteilungen Nihan, der die P-Konzeption des ewigen Bundes als Resultat der Auseinandersetzung mit der Exilserfahrung als erstes Stratum einer Interpretation der Bundestheologie ansetzt, worauf Ex 31 und Lev 26 als zweites Stratum folgen, die beide mit Redaktionsprozessen in Verbindung mit dem Heiligkeitsgesetz zusammenhängen. Eine dritte Stufe der Bundestheologie ist mit dem Priesterbund erreicht. Nihan, Priestly Covenant, 126 f. Jer 14,19–22 wird von Nihan nicht behandelt, aber in dieser Arbeit als eine Aufnahme von Lev 26 angesehen.
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Vorgehen. Gründe dafür könnten z. B. in der Gewichtigkeit der Texte liegen, die nicht einfach aufgegeben werden können und im Gedanken von Kontinuität und vor allem Verlässlichkeit der Traditionen, welche das Leben in Beziehung mit JHWH bezeugen.
5.8 Die Bewegung vom Bund zur Gnade „JHWH bewahrt den Bund und die Gnade“ (Dtn 7,9; 1Kön 8,23; Dan 9,4; Neh 1,5; 9,32; 2Chr 6,14) ist eine Wendung, die in unterschiedlichen Variationen in nachexilischen Texten enthalten ist. Die Adressaten des Bewahrens des Bundes und der Gnade werden durch die Präposition ל+ Partizip angeschlossen (Dtn 7,9; Dan 9,4; Neh 1,5: für die, die ihn lieben und seine Gebote bewahren; 1Kön 8,23; 2Chr 6,14: für deine Knechte, die vor deinem Angesicht wandeln; Neh 9,32: ohne Adressat). In der Wendung werden Bund und Gnade nebeneinandergestellt und in der Adressatenschaft trotzdem die Bedingung des Gesetzesgehorsams aufrechterhalten. In der folgenden Auslegung soll die Wendung an sich ausgelegt, aber auch unter Einbeziehung der Kontexte gezeigt werden, wie sich Gnade und Gesetzesgehorsam zueinander verhalten. Dabei werden der vermutlich älteste (Dtn 7,9) und der jüngste (Dan 9) Beleg der Wendung ausgelegt und in einem kurzen Exkurs das Kapitel Neh 9, das zeitlich zwischen den beiden anderen Texten anzusetzen ist, zum Vergleich herangezogen.
5.8.1 Dtn 7,9ff: Die Rede von der Gnade im Deuteronomium ֹלהים ָה ֵאל֙ ַ ֽהנֶּ ֱא ָ֔מן שׁ ֵ ֹ֧מר ַה ְבּ ִ ֣רית וְ ַה ֶ֗ח ֶסד ְלא ֲֹה ָ ֛ביו ֑ ִ ֹלהיָך ֣הוּא ָ ֽה ֱא ֖ ֶ הו֥ה ֱא ָ ְ וְ ָי ַ�֣ד ְע ָ֔תּ ִ ֽכּי־י9 ֹותו ְל ֶ ֥א ֶלף ֽדֹּור׃ ָ וּלשׁ ְֹמ ֵ ֥רי ִמ ְצ ְ אַח ֙ר ְל ֣שׂ ֹנְ ֔אֹו ֶאל ֵ ְל־פּ ָנ֖יו ְל ַה ֲא ִב ֑ידֹו ֤ל ֹא י ָ וּמ ַשׁ ֵלּ֧ם ְלשׂ ֹנְ אָ֛יו ֶא ְ ו־פּ ָנ֖יו ָ ם־ל ֽ יְ ַשׁ ֶלֹּ10 שֹׂותם׃ ֽ ָ ת־ה ִמּ ְשׁ ָפּ ִ֗טים ֲא ֶ֨שׁר אָנ ִ ֹ֧כי ְמ ַצוְּ ָך֛ ַהיּ֖ ֹום ַל ֲע ַ ת־ה ֻח ִ ֣קּים וְ ֶא ֽ ַ ת־ה ִמּ ְצ ָ ֜וה וְ ֶא ַ וְ ָשׁ ַמ ְר ָ֨תּ ֶא11 9 Und Du wirst erkennen, dass JHWH dein Gott ist, er ist der Gott, der treue Gott, der Bund und Gnade bewahrt für die, die ihn lieben und seine Gebote bewahren für tausend Generationen. 10 Und der vergilt denen, die ihn hassen, in ihr Angesicht, indem er einen jeden ausrottet, nicht zögert er bei dem, der ihn hasst, in sein Angesicht vergilt er ihm. 11 Und du sollst bewahren sein Gebot und die Satzungen und die Gesetze, die ich dir heute geboten habe, indem du sie tust.
Dtn 7 ist nach Otto Bestandteil einer nachexilischen Deuteronomiumsredaktion, die das Deuteronomium in den Pentateuch integriert und mit der Sinaiperikope
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verbindet.469 Die Nennung der Wendung der Bundesbewahrung sieht er in Abhängigkeit zum Dekalog in Dtn 5,9,470 verweist aber auf wesentliche bewusste Änderungen: Zum einen ist Dtn 7,9b durch die Bundesbewahrung erweitert worden, die an den Väterschwur aus Dtn 7,8 anknüpft, der wiederum einen Rückgriff auf die priesterliche Bundestheologie in Gen 17 darstellt.471 Der Bund, auf den sich Dtn 7,9 bezieht, ist also der Priesterbund. Die Gnadenzusage findet sich auch schon in Dtn 5,9, schließt sich dort aber an die Strafankündigung an. In Dtn 7,9 wird ihre Position verändert, indem sie vor die Strafankündigung gesetzt wird, um dem Fehlverständnis vorzubeugen, dass „die Strafandrohung einen Vorrang vor der […] ḥaesaed-Zusage habe.“472 Die Dauerhaftigkeit der Gnade wird auf tausend Generationen gesteigert im Gegensatz zum Ausdruck „für Tausende“ in Dtn 5,9 und das Strafhandeln wird nicht mit פקדbeschrieben, sondern mit שלם.473 Mit dem Austausch der Begriffe für das Strafhandeln hängt eine „Tendenz zur Individualisierung der Strafandrohung“474 in Dtn 7,10 zusammen, indem sofort auf den Hass eines jeden Einzelnen reagiert wird und keine Verzögerung im Strafhandeln gewährleistet wird wie in Ex 34,7 und Dtn 5,9. Die Verzögerung des Strafhandelns wurde in Ex 34,7 als ein Zeichen der Langmut im Zorn und daher als ein Handeln der Gnade ausgelegt. Wie ist also die sofortige Vergeltung in Dtn 7,10 zu bewerten? Ist sie durch die Weglassung der Langmütigkeit reiner Ausdruck des Zorns JHWHs geworden? Durch die Form der Individualisierung, jeder Einzelne wird sofort bestraft, wird die Bestrafung für ganze Generationen hinfällig. Allein die Gnade währt für tausend Generationen, nicht aber die Strafe. Das unverzügliche Strafhandeln kann also auch in Dtn 7,10 als Bestandteil der Gnade angesehen werden, indem, wie bei der Individualisierung des Bundesbruches in der Pries-
469 Vgl. Otto, Eckart, Deuteronomium 1–11. Zweiter Teilband: 4,44–11,32, HThKAT, Freiburg im Breisgau, 2012, 857. 470 Es gibt auch Ansätze, welche die Gnadenrede in Ex 34,6f als direkten Spendertext für Dtn 7,9f annehmen. Dies scheint weniger wahrscheinlich, da die bewussten Änderungen des Dekaloges eine große Nähe zum Dtn aufweisen, die Gnadenrede wirkt dagegen vom Textbestand und von der Theologie her weiter entfernt. Auch der Gebrauch der Wurzel אמןist aus dem Dtn selbst zu erklären (Dtn 32,4) und muss keine Aufnahme des Nomens אמתaus Ex 34,6 sein. Daher kann die Bundesbewahrungsformel komplett aus dem Dtn selbst entstanden und nur mittelbar durch Dtn 5,9f mit Ex 34,6f verbunden sein. Dies würde dafür sprechen, Dtn 7,9f als ältesten aller nachexilischen Belege der Bundesbewahrungsformel anzusehen, wie es auch schon Scharbert angenommen hat. Vgl. Scharbert, Josef, Formgeschichte und Exegese von Ex 34,6f und seiner Parallelen, in: Biblica 38, 1957, 130–150; bes. 136 f. Gegenpositionen, die eine direkte Abhängigkeit von Ex 34,6f annehmen, finden sich bei Franz, gnädiger Gott, 216. 471 Otto, Deuteronomium, 869. 472 Ebd. 473 Bei der Wurzel שלםpi’el scheint es um eine Form der Vergeltung zu gehen, die hauptsächlich böses Handeln betrifft und im Sinne von Heimzahlung gebraucht wird. Der Begriff zeigt z. B. auch die Möglichkeit, das Doppelte der Schuld heimzuzahlen (Jer 16,18). Die Offenheit von פקד, sowohl positiv als auch negativ zu wirken und die Möglichkeit des Zeitaufschubs ist mit dieser Vokabel nicht gegeben. 474 AaO., 870.
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terschrift auch, das dauerhafte Gnadenhandeln durch die Taten einzelner Hasser nicht hinfällig werden kann.475 Innerhalb dieser Wendung zur Bundesbewahrung liegt eine Form von kombinierter Theologie vor, wodurch das dtn/dtr Schema von Bewahrung und Strafe modifiziert wird, indem die priesterschriftlichen Kategorien von Dauerhaftigkeit (Bund und Gnade) und Individualisierung aufgenommen und als Gnadenhandeln gedeutet werden. Dass im Deuteronomium überhaupt von Gnade gesprochen wird, ist eine junge Entwicklung, da z. B. die Gnadenrede in der Erzählung vom goldenen Kalb in Dtn 9,8–10,11 bewusst von den dtr Theologen ausgelassen wird.476 Mit der Wendung findet sie dann doch, vermittelt über den Dekalog in Dtn 5, ihren Einzug in dieses auf den Gesetzesgehorsam konzentrierte Buch.
5.8.2 Allein die Barmherzigkeit: Dan 9 Der unstrittig jüngste Beleg der Wendung zur Bundesbewahrung liegt im Danielbuch im Rahmen des Bußgebetes in Kapitel 9 vor.477 Das Gebet soll hier zur Interpretation herangezogen werden, um den Schwerpunkt von Gnade und Barmherzigkeit zu verdeutlichen, der einen Ansatz in der Wendung hat und sich doch von ihr verselbstständigt. Die Ausarbeitung der Bedeutung der Gnade in Dan 9 soll eine hermeneutische Hilfe sein, die Gnadentheologie in Ps 103 durch Parallelen und Abgrenzungen besser konturieren zu können. Das Bußgebet in Dan 9 lässt sich in einen Rahmen (Vv.3–4a; Vv.20–21) und einen Mittelteil gliedern, der die beiden Teile Schuldbekenntnis (Vv.4b–14) und Bitte (Vv.15–19) aufweist. Ein Neuansatz in V.15 zeigt sich durch den Tempusmarker „jetzt aber“ ()ועתה, der die Bitte einleitet, auch wenn noch einmal ein Schuldbekenntnis zwischen Neuansatz und Bitte zu erkennen ist. Das Schuldbekenntnis findet seine Gestalt durch den Rhythmus von Bekenntnis zum gerechten/barmherzigen Gott und Bekenntnis der Schuldhaftigkeit der betenden Gemeinde, wobei eine antonyme Struktur vorliegt („bei Dir … bei uns“). Eingeleitet wird diese Abfolge durch die Bundesbewahrung in V.4, die eine verkürzte Version von Dtn 7,9 darstellt und das Attribut der Treue in die Zuschreibungen „groß und furchtsam“478 verändert: 475 Die Herleitung der sofortigen Vergeltung über die Bedeutung der priesterlichen Individualisierung erscheint plausibler als die von Franz angenommene Herleitung über den Terminus der Treue, die als Zuverlässigkeit im Strafhandeln gedeutet wird. Vgl. Franz, gnädiger Gott, 216 f. 476 Vgl. zur Auslassung der Gnade im Deuteronomium Franz, gnädiger Gott, 194–221. 477 Vgl. zu den Verbindungslinien zu Antiochus IV als Kriterium zur Datierung der Kapitel 8–12 des Danielbuches in die Makkabäerzeit Schmid, Konrad, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 22014, 208 f. 478 Diese Zuschreibungen finden sich in Ps 111,3.9; Neh 9,32. Beides sind Texte, die JHWHs Macht als Schöpfermacht explizieren (Neh 9,6). Der Schwerpunkt bei diesen Attributen liegt auf der Darstellung von JHWHs Größe, die sich im Werk der Schöpfung zeigt. Es geht hier vermutlich eher
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Dan 9,4: ֹלהי וָ ֶא ְתוַ ֶ ֑דּה ֖ ַ יהו֥ה ֱא ָ ָ ֽו ֶא ְת ַ ֽפּ ְל ָל֛ה ַל נֹּורא שׁ ֵ ֹ֤מר ַה ְבּ ִר ֙ית ְ ֽו ַה ֶ֔ח ֶסד ֔ ָ אָנּ֤א ֲאד ֹנָ ֙י ָה ֵ ֤אל ַהגָּ דֹול֙ וְ ַה ָ א ְמ ָ ֗רה ֹ ֽ ָו ֹותיו׃ ֽ ָ וּלשׁ ְֹמ ֵ ֥רי ִמ ְצ ְ ְלא ֲֹה ָ ֖ביו 4 Ach, Herr, der große und furchtbare Gott, der du den Bund und die Gnade bewahrst, für die, die ihn lieben und seine Gebote bewahren.
Darauf folgen das umfassende Bekenntnis der Schuldigkeit auf allen Ebenen des Gottesverhältnisses und der direkte Hinweis auf das Abweichen von den Geboten mit dem Vokabular der Wendung. Es ist also deutlich, dass die betende Kultgemeinde nicht zu den Adressaten der Formel gehört, aber trotzdem den Gott anspricht, der Bund und Gnade bewahrt. Im Fortgang wird zweimal die Gerechtigkeit JHWHs bekannt, mit welcher die Angemessenheit der Strafe (in der erzählten Zeit des Danielbuches das babylonische Exil) betont wird (Vv.7.14). Im Mittelpunkt des Schuldbekenntnisses in V.9 stehen JHWHs Barmherzigkeit und Vergebungstaten: ֹלהינוּ ָה ַר ֲח ִ ֖מים וְ ַה ְסּ ִל ֑חֹות ֵ֔ ַ ֽלאד ָֹנ֣י ֱא9 9 Bei dem Herren, unserem Gott, [sind] die Barmherzigkeit und die Vergebungstaten.
Die beiden Lexeme רחםund סלחsind zusammen mit חסדBestandteil der Gnadenrede in Ex 34,6f, wobei die Vergebung nicht direkt als Handlungseigenschaft JHWHs beschrieben, sondern von Mose erbeten (Ex 34,9) wird. Allerdings ist der Anknüpfungspunkt, um nach massiver Verschuldung Vergebung zu erbitten, das Gnadenhandeln JHWHs. Hier werden die Vergebungen oder Taten der Vergebung JHWH als feste Handlungseigenschaft zugeschrieben, die nahezu formelhaft bekannt werden kann. Die Barmherzigkeit wird als zentraler Terminus im zweiten Teil des Gebetes, in der Bitte, wieder aufgenommen. Inhaltlich richtet sich die Bitte auf die Abwendung des Zorns vom zerstörten Jerusalem (V.16) und damit verbunden auf den Wiederaufbau der Stadt (V.18). Die Begründung, sich überhaupt an den gerecht strafenden Gott zu wenden, um das vom Volk selbstverschuldete Gerichtshandeln zu beenden, verläuft in V.18 über die Barmherzigkeit: ֑יה ָ �ְקחה ֵע ֶ֗יניָך ְוּר ֵא ֙ה ֽשׁ ֹ ְממ ֵֹ֔תינוּ וְ ָה ֕ ִעיר ֲא ֶשׁר־נִ ְק ָ ֥רא ִשׁ ְמָך֖ ָע ֶל ֣ ַ ֹלהי ׀ אָזְ נְ ָ֮ך וּֽ ֲשׁ ָמ ֒ע פּ ֥ ַ ַה ֵ֨טּה ֱא18 ל־ר ֲח ֶ ֥מיָך ָה ַר ִ ֽבּים׃ ַ ינוּ ְל ָפ ֶ֔ניָך ִ ֖כּי ַע ֙ ֵ֙ילים ַתּ ֲחנוּנ ֤ ִ ל־צ ְדק ֵֹ֗תינוּ ֲא ַ֨נ ְחנוּ ַמ ִפּ ִ ִ ֣כּי ֣ל ֹא ַע 18 Denn nicht wegen unserer Gerechtigkeitstaten sind wir Bittende, [ist] unser Flehen vor Deinem Angesicht, sondern wegen Deiner großen Barmherzigkeit.
um die Außenwirkung der Macht JHWHs als um die Darstellung seiner Zuverlässigkeit.
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Die Barmherzigkeit scheint die einzige Option zu sein, durch welche das Beten der Kultgemeinde einen Zugang zu JHWH finden kann, obwohl der Abstand durch die Schuld so groß geworden ist. Die Kategorie des Bundes, die durch die Wendung der Bundesbewahrung das Gebet in V.4b eingeleitet hat, wird nicht wieder erwähnt. Anders als z. B. in Jer 14,19 und Lev 26 stellt der Bund an dieser Stelle keine Figur der begründeten Hoffnung dar, um in ein Gottesverhältnis eintreten zu können. Alleine die Barmherzigkeit JHWHs bleibt übrig.
Exkurs: Bewahrung von Bund und Gnade in Neh 9 Eine etwas andere Gewichtung zeigt das Bußgebet der nachexilischen Kultgemeinde in Neh 9 in der Verwendung der Wendung.479 Sie dient nicht als Einleitung des Schuldbekenntnisses, sondern der Bitte in V.32 und wird in einer Kurzform verwendet, die den gesamten Teil des Strafhandelns weglässt. ֹׁשומר ַה ְּב ִ ֣רית וְ ַה ֶח ֶסד ֣ ֵ ֹּנור ֮א ָ ֹלהינּו ָה ֵ֨אל ַהּגָ ֹ֜דול ַהּגִ ֹּ֣בור וְ ַה ֵ וְ ַע ָ ּ֣תה ֠ ֱא32 32 Und jetzt, unser Gott, der große, heldenhafte und furchtbare Gott, der Bund und Gnade bewahrt […]
Dies lässt sich vermutlich zum einen durch die ausführliche Erwähnung des Abrahambundes erklären, die am Anfang des Gebetes die Größe des Handelns JHWHs beschreibt. Die Wendung wird durch die Einfügungen der Attribute JHWHs und durch die Weglassung des Strafhandelns zu einer Auslegung des Gebetsanfangs in Vv.6–8. Die Attribute groß, heldenhaft und furchtbar sind alle in Verbindung mit der Befehlsherrschaft über das Himmelsheer und der oft kombinierten Schöpfermacht JHWHs zu finden.480 In Neh 9,6 wird die Schöpfung von Himmel und Erde und die Herrschaft über die Gestirne als Alleinstellungsmerkmal gepriesen und somit mittelbar über die unten genannten Texte (Anm. 480) eine Verbindung zu V.32a geschaffen. In Vv.7f wird die Erwählung Abrahams und der Bundesschluss
479 Vgl. zur Abfassungszeit von Neh 9: Gunneweg, Antonius H. J., Nehemia, KAT Band XIX 2, Gütersloh 1987, 129. Als stärkstes Argument für die Datierung von Neh 9 nennt er die zahlreichen Bezugnahmen auf den schon fertigen Pentateuch (124f) und datiert in die Anfangszeit des Hellenismus (31). Pröbstl denkt an eine „nachchr. Bearbeitung des chr. Werkes“ und führt in Bezug auf Anderson und Rensburg außerdem auch die Sprachgestalt an, die für ein spätes biblisches Hebräisch spricht (frühestens 4. Jh.), Pröbstl, Volker, Nehemia 9, Psalm 106 und Ps 136 und die Rezeption des Pentateuchs, Göttingen 1997, 104. Eine viel spätere Datierung findet sich bei Vermeylen, der die in Neh 9,36–37 geschilderte Not auf die Tobiaden bezieht und die Abfassungszeit ins ausgehende 3. Jh. setzt, Vermeylen, Jaques, The Gracious God, Sinners and Foreigners: How Nehemiah 9 Interprets the History of Israel, in: Calduch-Benages, N./Liesen, J. (Hg.) History and Identity. How Israel’s Later Authors Viewed Its Earlier History, Deuterocanonical and Cognate Literature, 77–114, Berlin 2006, 109–111. 480 Vgl. z. B. Jl 2,11; Jes 13,3; Jes 40,26.
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mit ihm thematisiert, der den Bund in V.32a als Abrahamsbund qualifiziert. Der Anfang des Bekenntnisteils und der Anfang der Bitte entsprechen sich. Zum anderen wird die Wendung mit dem Adressatenzusatz in Neh 1,5 gebraucht und durch das Attribut Gott des Himmels erweitert. Hier dient sie als Einleitung eines Schuldbekenntnisses, dass sich wie in Dan 9 auch explizit auf den Gebotsbruch bezieht. In Neh 9,32 in der Einleitung der Bitte werden die durch die Gebotseinhaltung identifizierten Adressaten von Bewahrung des Bundes und Gnade vielleicht weggelassen, um unmissverständlich deutlich zu machen, dass eine Umkehr der Not nicht an diese Bedingung geknüpft sein darf, sondern allein auf der Bewahrung JHWHs liegt, die in seiner Verantwortlichkeit gegenüber seiner Schöpfung und in der Erwählung Abrahams gründet. Der Bund erfüllt in der Logik von Neh 9 noch eine stärkere Funktion des Gnadenhandelns JHWHs als in Dan 9. Gnade und Barmherzigkeit JHWHs sind in den Geschichtsrückblick verlagert, werden dort aber immer an den wichtigen Gelenkstellen in der Geschichte Israels genannt, in denen sich das Volk von JHWH abgesondert hatte, um die eigenen Pläne und Vorstellungen zu verfolgen (Vv.17.19.27.31). Es lässt sich also sagen, dass in Neh 9 das Potenzial der Wendung der Bundesbewahrung erkannt wird, die Logik von Tun und Ergehen zu durchbrechen, sie aber in einer eigenen Interpretation gebraucht wird, die vor allem mit JHWHs (alleiniger) Macht zusammenhängt, die Schöpfung und ihren Lauf in der Geschichte zu beeinflussen. Wozu wird also die Wendung in Dan 9 zitiert? Da sie das Gebet einleitet und damit an pointierter Stelle steht, ist nicht davon auszugehen, dass ihr in einem so sorgfältig komponierten Gebet keine wesentliche Funktion zukommt. An ihr wird zum einen grundsätzlich die Dilemma-Situation in der Relation JHWHs zur Kultgemeinde eröffnet: JHWH bewahrt Bund und Gnade – aber (nur) für die, die seine Gebote halten. Die Anwesenden sind damit durch ihre tiefe Verstrickung in Schuld nicht miteinbezogen. Die Erfahrung der Zerstörung Jerusalems (in der Abfassungszeit die Erfahrung der Tempelentweihung durch Antiochus IV) ist das für alle sichtbare Zeichen des gestörten Gottesverhältnisses. Zum anderen wird es durch dieselbe Wendung ermöglicht, überhaupt vor diesen Gott zu treten, da der Terminus vom Bewahren der Gnade auf eine Tradition verweist, die den Überhang der Gnade immer wieder in den Vordergrund stellt. Dieser Strang wird im Gebet weiterhin ausgeführt, der Bund tritt tatsächlich vollkommen in den Hintergrund. Das Gebet in Daniel 9 wird in der Auslegung oft über den Terminus der Gottesferne und des nahezu unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Gott und Mensch gedeutet.481 481 Vgl. z. B. Wilke, Alexa Friederike, Daniel 9 – eine Einübung in aufrichtige Erniedrigung, BN 155, 2012, 43–56. Wilke hält die wiederholte Form des Schuldbekenntnisses als „Anerkenntnis der für den Menschen unüberwindbaren Diastase zwischen ihm und Gott“, aaO., 54, womit ihr sicher Recht zu geben ist. Doch findet eben diese aufrichtige Anerkenntnis auf dem Fundament von Traditionen statt, die durch den Primat der Gnade eine solche überhaupt erst ermöglichen. Willis spricht von einer Gottesferne in Dan 9, die sich durch die Aufnahme von Lev 26,13–15.31–
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Diese Auslegung übersieht, dass Daniel 9 zum einen literarisch in der Form eines Gebetes im Vollzug von kultischen Handlungen vorliegt, in welchem allein durch die Zielrichtung der Kommunikation zu und mit Gott kaum von einem absoluten Zustand der Gottesferne gesprochen werden kann. In der Hinwendung zu einem grundsätzlich als barmherzig verstandenen Gott bekommt die als Gottesferne gedeutete Erfahrung von Not ihren Ort in Klage und Buße. Außerdem ist schon in der Verwendung der Bundesbewahrung im Deuteronomium die Struktur eines reinen Vergeltungshandelns aufgebrochen und zugunsten der Gnade Gottes geöffnet worden. Sie ist damit Ausdruck eines intensiven Beziehungsgeschehens, das auf der Basis eines beständigen Gottesverhältnisses für fernste Zeiten stattfinden kann, weil die Grunderfahrung der menschlichen Schuld in größere Zusammenhänge eingeordnet wird. Eine These zur Erklärung, warum der Bund keine dominante Kategorie zur Beschreibung dieses Beziehungsgeschehens mehr ist, könnte in der Bedeutung der Engel liegen, die als Vermittlungsinstanz zwischen Gott und Volk immer größer wird, zumal das Danielbuch der Gattung der apokalyptischen Texte zuzuordnen ist. Auch das Gebet in Daniel 9 endet mit dem Auftritt des Engels Gabriel, der Daniel Gottes Liebe zusagt und Heil verheißt (Vv.21–27). Es findet eine Schwerpunktverlagerung in doppelter Hinsicht statt, die Gnade/Barmherzigkeit bekommt eine gewisse Selbstständigkeit und gewinnt an Gewicht und die Engel übernehmen beziehungsstiftende Funktionen, so dass die Kategorie des Bundes in den Hintergrund versetzt wird.
5.9 Ergebnisse zur Bundesbewahrung Die Wendung der Bundesbewahrung ist vermutlich im Kontext der nachexilischen Deuteronomiumsredaktion entstanden und zeigt dort eine Möglichkeit, wie von Gnade gesprochen werden kann, ohne den dtn-dtr Horizont gänzlich zu verlassen. Eine große Affinität zur Gebotstradition bleibt durch die Aufnahmen des Dekaloges erhalten, wird aber an neuralgischen Punkten durchbrochen, um das Gottesverhältnis auch nach dem Exil stabil und dauerhaft neu und in Kontinuität begründen zu können. Die Wendung wurde dann in den Bußgebeten Nehemia 9 und Daniel 9 aufgenommen, verändert und zu unterschiedlichen Zwecken ver-
33 und deuteronomistischer Sprache konstituiert: „The use of cultic traditions from Levitikus, as well as the deuteronomistic and psalmic language, shows that this dislocation [gemeint ist das Exil; Hinzufügung ACF] concerns the cultic absence of the devine as well as the absence of liberating activity for the community.“ Willis, Amy C. Merrill, Dissonance and the Drama of Divine Sovereignty in the Book of Daniel, Library of Hebrew Bible 520, New York/London 2010, 132. Weder in Lev 26 noch in Dtn 7 kann von einer Gottesferne gesprochen werden, beide Texte zielen auf eine Fortführung des Gottesverhältnisses trotz Gerichtshandeln (das keine Gottesferne ist, sondern eine extreme Form von Gotteserfahrung) ab.
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wendet. In Neh 9 ist sie ein Instrument, um der Bitte nach einem Ende der Not einen unkonditionierten Charakter zu verleihen, indem der für das Deuteronomium noch so wichtige Zusatz der gesetzesgehorsamen Adressaten weggelassen wird. Um ein nicht an Bedingungen geknüpftes Ende herbeizuführen, wird die Wendung mit der Verantwortlichkeit JHWHs als Schöpfer und dem Priesterbund zusammengeführt und so eine Motivation geschaffen, die nicht der Gesetzlichkeit unterliegt, aber auch nicht auf reines Gnadenhandeln zurückgeführt werden kann. Dies ist dann allerdings in Dan 9, dem jüngsten der Belege, der Fall, indem die Kategorie des Bundes und des Gesetzesgehorsams ganz verlassen und nur alleine die Barmherzigkeit als Handlungsmotivation Gottes angesprochen wird. Die Wendung ist ganz auf die Seite des Schuldbekenntnisses gerückt. Es lässt sich also eine Bewegung ablesen, die immer mehr die Theologoumena von Gnade und Barmherzigkeit in den Fokus rückt, wobei die Bundestradition nicht verlassen oder abgelöst wird, aber deutlich in den Hintergrund tritt.
5.10 Der Anordnungen gedenken Im zweiten Teil der Adressaten ist mit dem Ausdruck für die, die seiner Anordnungen gedenken, indem (sie) sie tun ( )לזכרי פקדיו לעשותםeine ungewöhnliche Formulierung zu finden, die vom üblichen Vokabular des Wortfeldes der Gesetzestätigkeit abweicht und in der Verbindung mit זכרnur hier vorkommt. Zunächst muss, um einer Bedeutung auf die Spur zu kommen, geklärt werden, wie die Vokabel פקדיםzu verstehen ist. Die Grundform פקדה, die mit dem akkadischen piqittu(m)482 vergleichbar ist, scheint in erster Linie ein Begriff von Organisation zu sein, der vor allem in den Bereichen Verwaltung (Staat und Kult) und Militär (das Mustern und die Aufstellung von Truppen) Verwendung findet. In den Bereich der Organisation fällt auch die Tätigkeit des Inspizierens, die sich am stärksten an der Truppenmusterung zeigt, aber z. B. auch an der Bauaufsicht des Heiligtums, der Überprüfung von Inventar und an genauen Zählungen im Bereich von Kreatur und Natur.483 Auch die Pluralform scheint in diese Richtung zu gehen und trägt die Konnotation des Geordneten und Geprüften in sich. Dies wird vor allem in zwei sehr jungen Traditionsbereichen des Alten Testamentes deutlich, die im Fol482 Vgl. Gesenius18, Artikel פקדה. Im Assyrian Dictionary of the Oriental Institute of the University of Chicago (CAD), Artikel piqittu, 389–391, wird piqittu beschrieben als „administrative term, muster, inspection, checking on an extispicy“: https://oi.uchicago.edu/sites/oi.uchicago.edu/files/ uploads/shared/docs/cad_e.pdf [letzter Zugriff am 20.07.2018]. 483 In Jes 34 wird das Gericht über Edom beschrieben und das Land zurück in eine von Menschen unbewohnbare Einöde versetzt, das von Wildtieren in Besitz genommen wird. Diese Inbesitznahme wird von JHWH genau organisiert (mit der Messschnur abgemessen und ins Buch des Lebens eingetragen), so dass keine einzige Kreatur fehlen oder vermisst werden wird (36,16 )פקד. Die Musterungs- und Zählungsprozesse (z. B. in Num 1,44; 3,39; 4,37 u. a.), die durch פקדausgedrückt werden, sind Ausdruck der detaillierten Kenntnis JHWHs über die Anzahl aller seiner Werke und
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genden näher dargestellt werden sollen, zum einen in den späten Ausführungen zur Levitenordnung des Numeribuches und zum andern in der nachexilischen Toraweisheit der Psalmen.484 Als Übersetzung für die Nominalformen פקדים/ פקדהwird der Begriff Anordnung/en gewählt, da er sowohl organisatorisch/strukturell zu verstehen ist im Sinne der geordneten und geprüften Dinge, Verhältnisse, Situationen usw. als auch den Bezug auf die Tora zeigt, indem er den Bereich von Gesetzen, Rechten, Geboten usw. abdeckt. Die Übersetzung des Verbums פקדvariiert kontextabhängig.
5.10.1 Der Begriff פקדהim Kontext des Kultdienstes der Leviten Das häufigste Vorkommen der Wurzel פקדund ihrer Derivate findet sich im Numeribuch konzentriert auf die Kapitel 1–4 und Kapitel 26, was daran liegt, dass durch sie die Summe und der Akt des Zählens beschrieben wird. Allerdings hat der Begriff vielschichtige Bedeutungsnuancen, wenn zum einen die Aufgaben der Leviten am Kult beschrieben werden und zum anderen die Bedeutung des Mose bei der Organisation des Wüstenheiligtums (Bauaufsicht und Verantwortung für die fertige Stiftshütte). In den Stellen Num 3,32.36 und Num 4,16, in denen es um die innere Organisation des Heiligtums geht, wird der Priester Eleasar mit der Aufsicht betraut (Einsetzung des Kultpersonals und Aufsicht über das Inventar der Stiftshütte). פקדהbezeichnet hier sowohl kultisches Amt ( )פקדת משמרתals auch den Akt der Einsetzung des Amtes. Allerdings reicht der Begriff noch weiter, indem in diesem organisierenden Handeln die Stellvertreterfunktion des Mose für JHWHs Anordnungen erkannt werden kann, was Num 4,46–49, die Zählung und Prüfung der Traglast der Leviten beim Aufbruch des Lagers, verdeutlicht:
Geschöpfe und sind damit Zeichen seiner Macht als Schöpfer. Es ist zu vermuten, dass der Gedanke einer sorgfältigen Inspektion auch hinter der Stelle Jes 40,26, der Befehlsgewalt JHWHs über die Gestirne, anzunehmen ist, auch wenn die Wurzel פקדhier nicht explizit genannt ist. 484 Es ist auch eine deutliche Konzentration des Verbums פקדin den prophetischen Traditionen festzustellen, vor allem bei Hosea und Jeremia. Hier scheint die Wurzel vorrangig in den prophetischen Gerichtsworten benutzt zu werden und damit einen Prozess auszudrücken, der verschiedene Stufen zeigen kann. Die Nuancen der Bedeutungen von פקדreichen von ‚besuchen/aufsuchen‘, also einer Anwesenheit JHWHs, die eine Prüfung nach sich ziehen kann und letztlich auch ein Eingreifen JHWHs bedeutet (‚Heimsuchung‘), das der Korrektur eines falschen Verhaltens und damit auch der Wiederherstellung eines entgleisten Gottesverhältnisses dient. Da allerdings die prophetischen Traditionen, die sich mit dieser Semantik verbinden, für die Interpretation von Ps 103 keine herausgehobene Rolle spielen, wird dieser Strang im Weiteren nicht verfolgt. Die Konzentration liegt ganz auf einem nachexilischen priesterlichen und weisheitlichen Bedeutungsgehalt von פקדund seiner nominalen Ableitungen.
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Das ist die Summe, die Mose gezählt hat […] Über den Mund JHWHs (im Auftrag JHWHs) wurden sie geprüft durch die Hand des Moses ein jeder zu seinem Dienst und seiner Traglast, nach seinen Anordnungen, die JHWH befohlen hat Mose.
Moses Hand führt also die Überprüfung aus, die JHWHs Mund ihm befohlen hat, wobei er durch die Aufgabe des Prüfens eine Form von Vermittlungsfunktion zwischen den Leviten und JHWH einnimmt. Alle hier genannten Stellen, die פקדה/ פקדיםals kultischen Amts- und Ordnungsgedanken gebrauchen, werden als späte Schichten im Numeribuch eingeordnet.485 In ihren Kontext gehört auch Ex 38,21 als einzige Stelle, in der die Leviten im Exodusbuch mit einem kultischen Dienst in Zusammenhang gebracht werden.486 ית ָ֔מר ָ ל־ּפי מ ֶ ֹׁ֑שה ֲעב ַֹד ֙ת ַה ְלוִ ִּ֔ים ְּביַ ֙ד ִ ֽא ֣ ִ קּודי ַה ִּמ ְׁש ָ ּ֙כן ִמ ְׁש ַּכ֣ן ָה ֵע ֻ ֔דת ֲא ֶ ׁ֥שר ֻּפ ַ ּ֖קד ַע ֤ ֵ ֵ ֣א ֶּלה ְפ21 ן־א ֲה ֖ר ֹן ַהּכ ֵ ֹֽהן׃ ַ ֶ ּֽב Dies sind die Aufwendungen der Wohnung, die Wohnung der Verordnung, die geprüft/ abgenommen worden sind über den Mund des Mose (unter) der Dienstleitung der Leviten, durch die Hand Itamars, des Sohn des Aarons, des Priesters.
Klaus Koch beschreibt in diesem Zusammenhang die פקדיםals „,das, was scharf nachgeprüft – geordnet und bereitgestellt wird‘, es umfaßt Menschen und Material.“487 Mose wird hier eine ähnliche Rolle zugewiesen wie in Num 4,49.488 Besonders auffällig ist die Stellung dieser Ergänzung innerhalb der Kapitel 35–40, da sie durch den Gedanken der Prüfung durch Mose eine inhaltliche Zuordnung zu Ex 39,42 schafft, in der das fertige Heiligtum von Mose geprüft, für gut befunden
485 Pola sieht in Num 3–4 eine „Ergängzungsschicht“ zur priesterlichen Grundschicht, die er „Pge“ nennt, um sie von Ps zu unterscheiden: Pola, Thomas, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik von Traditionsgeschichte von Pg, WMANT 70, Neukirchen-Vluyn 1995, 89. Achenbach rechnet diese Texte seiner Theokratischen Bearbeitung (ThB) zu, welche sich im 4. Jh. v. Chr. an die Pentateuchredaktion anschließt und in Num 3–4 die Aufgaben des Stammes Levi in Abgrenzung zu den Priestern ausführt: Achenbach, Reinhard, Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch, BZAR 3, Wiesbaden 2003, 488–498. 486 „In a diachronic respect, it is – as part of vv.21–31 – usually identified as a secondary addition, either attributed with Exod 35:4–40:38 to a later priestly layer PS or HS, or as an addition to the already secondary text. Considering Exod 28:21 as a conceptual intrusion, it can be attributed to the latest strand of the ‚Levitical Story‘ […].“ Frevel, Christian, Ending with the High Priest: The Hierarchy of Priests and Levites in the Book of Numbers, in: Torah and the Book of Numbers, FAT II/62, Tübingen 2013, 138–163; 142 f. 487 Koch, Klaus, Die Priesterschrift. Von Exodus 25 bis Levitikus 16. Eine überlieferungsgeschichtliche und literarkritische Untersuchung, FRLANT 71, Göttingen, 1959, 41. 488 „Er scheint eine Art ‚Treuhänderstellung‘ zwischen dem die Abgabe aufbringenden Volk, den Handwerkern und schließlich Jahwe selbst wahrzunehmen.“ Utzschneider, Helmut, Das Heiligtum und das Gesetz. Studien zur Bedeutung der sinaitischen Heiligtumstexte (Ex 25–40; Lev 8–9), OBO 77, Göttingen 1988, 153.
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und gesegnet wird. Im Rahmen der priesterlichen Korrelation von Errichtung und Vollendung des Heiligtums und der Schöpfung489 gliedert sich der durch die Wurzel פקדund ihre Derivate bestimmte Organisationsgedanke im Numeribuch in diesen Zusammenhang ein. Die detaillierten Auflistungen von Ämtern, Inventar und den dazugehörigen Zahlen und Summen zeigen das Durchdachte und als gut befundene Geprüfte und spiegeln somit im irdischen Bereich die Strukturiertheit des von JHWH geschaffenen Kosmos wider. Dies betrifft auch die Eingliederung von Verfehlungen innerhalb der Ordnung, wie es die Stelle Ez 44,11 zeigt, die, innerhalb der Differenzierung von Zadokiden und Leviten, den Leviten nach ihren Verfehlungen einen Dienst an den Rändern des Tempels zuweist, da sie nicht mehr in die engste Nähe JHWHs, ins Allerheiligste, gelangen sollen. Den Leviten wird hier die Bewachung der Tore übertragen, die mit dem Begriff פקדה beschrieben wird (שערי הבית-)פקדות אל. Auch nach der den Leviten zugeschriebenen Versündigung werden sie nicht ausgegliedert, sondern ihnen wird ein neuer Ort zugewiesen, der zwar nicht mehr in der allermöglichsten Nähe vor JHWH im Allerheiligsten liegt, aber immerhin noch im Bereich des Tempels zu finden ist.490 Einen durch Ordnung konstituierten Raum als Zeichen für Gottes Gegenwart erkennt auch Erhard Blum in der Diskussion um den Sinn der übermäßig detaillierten Beschreibungen in den Anweisungen zur Errichtung und Organisation des Heiligtums in Exodus 25–40 und den Lagerordnungen des Numeribuches: Nimmt man die priesterliche Tradition beim Wort, dann geht es ihr gerade um konkrete Gottesgegenwart, die aber ohne konkrete, „dingliche“ Räume, Institutionen, Regelungen usw. weder für den heiligen Gott noch für das Volk, das dessen Gegenwart ausgesetzt ist, tragbar wäre!491
Eine weitere Facette des Begriffs der פקדים, welche aber genau in diese Thematik der Entsprechung von kosmischer und irdischer Ordnung fällt und der damit verbundenen Erfahrbarkeit von Gottes Gegenwart, zeigt seine Verwendung in Ps 19.
489 Vgl. dazu z. B. Janowski, Bernd, Tempel und Schöpfung, in: JBTh 5, Neukirchen-Vluyn 1990, 37– 69; bes. 61–63. Sehr detaillierte Beobachtungen zur Korrelation von priesterlicher Bundestheologie zu Schöpfung und Heiligtum finden sich bei Ziemer, Benjamin, Schöpfung, Heiligtum und Sabbat in der priesterlichen Bundeskonzeption, in: Berlejung, A./Heckl, R. (Hg.), Ex oriente Lux. Studien zur Theologie des Alten Testaments, Leipzig 2012, 39–58. 490 Aus dieser Perspektive ließe sich bei Ez 44 von der Raumsymbolik her an eine Ähnlichkeit mit Gen 3, der Vertreibung aus dem Garten Eden, denken. 491 Blum, Erhard, Studien zur Komposition des Pentateuch, BZAW 189, Berlin/New York, 1990, 304. Blum wehrt sich an dieser Stelle gegen die Behauptungen, die intensive Konzentration auf Strukturen und Maße seien einer Realitätsferne geschuldet oder Programm zum Wiederaufbau des Tempels. Vgl. aaO., 303 f.
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5.10.2 Ps 19: Der Begriff פקדהim Kontext der nachexilischen Toraweisheit Ps 19 ist ein nachexilischer Weisheitspsalm, der sich formal und inhaltlich in zwei Teile gliedern lässt: Die Verse 2–7 thematisieren Aufbau und Funktion der himmlischen Welt anhand des Sonnenlaufes und die Verse 8–15 die Qualität der irdischen Welt, die aus den Wirkungsweisen der Tora entsteht.492 Im Folgenden soll der Begriff פקדים, der sich im zweiten Teil findet, hinsichtlich des Entsprechungsgedankens von himmlischen und irdischen Abläufen und Funktionen ausgelegt werden. ימת ֶ ּֽפ ִתי׃ ַ הו֥ה ֶ֝נ ֱא ָמ ָ֗נה ַמ ְח ִ ּ֥כ ָ ְימה ְמ ִ ׁ֣ש ַיבת ָנ ֶ֑פׁש ֵע ֥דּות י ָ הו֣ה ְ֭ת ִמ ָ ְורת י ֤ ַ ֹּ֘ת8 ירת ֵע ָינ�ֽיִ ם׃ ֥ ַ הו֥ה ָ֝ב ָ ֗רה ְמ ִא ָ ְי־ל֑ב ִמ ְצַו֥ת י ֵ הו֣ה ְ֭י ָׁש ִרים ְמ ַׂש ְּמ ֵח ָ ְּודי י ֤ ֵ ִּפ ּ֘ק9 הו֥ה ֱא ֶ ֑מת ָ ֽצ ְד ֥קּו יַ ְח ָ ּֽדו׃ ָ ְֹעומ ֶדת ֫ ָל ַ ֥עד ִ ֽמ ְׁש ְּפ ֵטי־י ֪ ֶ ֹהור ֮ה ָ הוה ְט ֨ ָ ְ יִ ְר ַ ֤את י10 צּופים׃ ֽ ִ �ּוקים ִ֝מ ְּד ַ֗בׁש וְ ֹ֣נ ֶפת ֥ ִ ּומת ְ ּומ ַ ּ֣פז ָ ֑רב ִ ַ ֽהּנֶ ֱח ָמ ִ ֗דים ִ֭מּזָ ָהב11 8 Die Torah JHWHs ist vollkommen, sie erquickt die Seele, die Verordnung JHWHs ist beständig, sie macht weise den Einfältigen. 9 Die Anordnungen JHWHs sind recht/gerade, sie erfreuen das Herz, das Gebot JHWHs ist glänzend, es erleuchtet die Augen. 10 Die Furcht JHWHs ist rein und besteht dauerhaft, die Gesetze JHWHs sind Wahrheit, sie sind alle zusammen gerecht. 11 Sie sind köstlicher als Gold und als Feingold, süßer als Honig und Wabenhonig.
Die פקודיJHWHs stehen in einer hymnischen Reihung mit Begriffen, welche Eigenschaften und Wirkungen der Tora bestimmen.493 Auffällig ist die Beschreibung ihres Effektes auf den Menschen in seiner Gesamtheit (V.8 die Tora als umfas492 Vgl. zur zweiteiligen Gliederung Grund, Alexandra, „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes“. Psalm 19 im Kontext der nachexilischen Toraweisheit, WMANT 103, Neukirchen-Vluyn, 2004, 39–43. Einen Versuch, den Psalm konzentrisch zu gliedern, verbunden mit einer Konzentration auf die Bedeutung der Tora, findet sich bei Zenger, Erich, Die Tora als Sonne der Schöpfung (Psalm 19), in: Ders./Löning, K., Als Anfang schuf Gott, Düsseldorf 1997, 178–190; 182 ff. Aufgrund des Entsprechungsgedankens von himmlischer und irdischer Welt, scheint eine zweiteilige Struktur als Gliederung sinnvoller zu sein, da gerade keine Priorisierung stattfindet. 493 Eine genaue Bestimmung dessen, was hier Tora genannt wird, ist vermutlich nicht möglich. Es liegt aber nahe, Tora nicht nur als eine Sammlung von Gesetzen zu begreifen und auch nicht nur als den Pentateuch in seiner Gesamtheit. Sicher spielt der weisheitliche Gedanke, die Tora als umfassende Weisung für die Lebensführung in ihrer Gesamtheit anzusehen, eine große Rolle. Dazu gehören z. B. die Lebensweisheiten, welche die Eltern den Kindern vermitteln (z. B. Spr 1,8; 6,20). Darauf weist auch die Nennung der JHWH-Furcht, die den Beginn der Weisheit darstellt, hin. Tora würde dann eine Form von Gesamtheit des Gotteswillens bedeuten, in welchen der torafromme Beter sein Leben stellt. Vgl. zu einem Überblick über die verschiedenen Nuancen des Torabegriffes im Alten Testament Crüsemann, Frank, Die Tora, Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 7 f.
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sender Begriff samt all ihrer nachfolgenden Aspekte wirkt auf das gesamte Leben des Menschen, das mit נפשbeschrieben wird)494 und auf seine einzelnen Organe der physischen und psychischen Wahrnehmung (V.9a Herz, V.9b Augen, V.11 Geschmackssinn). Den Anordnungen JHWHs wird das Attribut ישרzugewiesen, wodurch Rückschlüsse auf eine funktionale Strukturierung von kosmischen und weltlichen Abläufen in den Kategorien von Gerechtigkeit gezogen werden können. ישרlässt sich mit dem akkadischen Verb ešērum (abgeleitetes Abstraktnomen mi/ ešarum) vergleichen.495 Das bedeutet ‚Akt oder Instrument des Geradewerdens; Instrument, um etwas geradewerden zu lassen‘ also ein[en; Hinzufügung ACF] Akt, durch den die Dinge in Ordnung kommen im Sinne von Gerechtigkeit als einem dynamischen, aktiven Prinzip.496
Das Nomen begegnet häufig in dem akkadischen Binom kittu(m) und mi/ešarum (Wahrheit und Gerechtigkeit), mit welchem der babylonische Sonnengott Schamasch beschrieben wird.497 Gerade die Mythen des Sonnenlaufes sind eng mit der Vorstellung einer göttlich eingesetzten und/oder durchgesetzten Ordnung verbunden, da sich der Lauf der Sonne zum einen in wohlgeordneten, immer regelmäßigen Bahnen vollzieht und dadurch zum anderen himmlische und irdische Welt nach dieser Gesetzesmäßigkeit strukturiert. Assmann verdeutlicht, dass diese Ordnung im ägyptischen Denken zwar auch räumlich zu verstehen ist, mehr aber noch prozessual: Daher würde der Ägypter mit dem, was wir „Kosmos“ oder „Weltordnung“ nennen und wofür es im Ägyptischen – zumindest auf Wortrang – keine äquivalenten Ausdrücke gibt, weniger an einen wohlgeordneten Raum denken als an einen gelingenden Prozeß. In der ägyptischen Konzeptualisierung des Sonnenlaufes als einer Barkenfahrt über den Himmel und durch die Unterwelt artikuliert sich der ägyptische Begriff von Kosmos und Weltordnung.498
Auch wenn Assmann speziell über die ägyptische Form des Sonnenlaufes spricht, ist der Gedanke der Weltordnung, unabhängig von den Terminologien, auf den alttestamentlichen Ordnungsgedanken übertragbar: JHWH als Garant der Ordnung ist für ihre Erschaffung und für ihre Bewahrung und Inganghaltung zuständig. Sowohl in der Schöpfungstheologie als auch in den Königstraditionen, also im 494 Vgl. dazu Grund, Himmel, 228. 495 Auch wenn nicht ganz klar ist, ob das Hebräische an dieser Stelle eine direkte Übernahme des Akkadischen darstellt, vgl. dazu aaO., 224. 496 Ebd. Vgl. zum akkadischen Begriff ešēru(m) auch CAD, Artikel ešērum, 353–362; besonders interessant ist die Bedeutung im Š-Stamm: „to put and keep in good order, to see that justice is done“ aaO, 359. https://oi.uchicago.edu/sites/oi.uchicago.edu/files/uploads/shared/docs/cad_e. pdf [letzter Zugriff am 22.08.2018]. 497 Vgl. Assmann, Jan, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 2001, 183. 498 AaO., 174.
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kosmischen wie auch im sozialen Bereich, ist Ordnung nichts für immer Gegebenes, sondern etwas, das garantiert, eingesetzt, beschützt und am Laufen gehalten werden muss.499 Es muss daher immer mitbedacht werden, dass es sich hier um keinen abstrakten Begriff von Ordnung handelt, sondern immer um Handlungsvorgänge, die organisieren, strukturieren und auch restituieren. In Ps 19 ist der Sonnenlauf in den Vv.5b–7 folgendermaßen beschrieben:500 א ֶהל ָּב ֶ ֽהם׃ ֹ ֥ יהם ַ֝ל ֶּׁ֗ש ֶמׁש ָ ֽׂשם־ ֑ ֶ ּוב ְק ֵצ֣ה ֵ֭ת ֵבל ִמ ֵּל ִ ל־ה ָ֨א ֶרץ ָ֘י ָ ֤צא ַק ָ ּ֗ום ָ ְּב ָכ5 א ַרח׃ ֹ ֽ וְ ֗הּוא ְ ֭כ ָח ָתן י ֵֹצ֣א ֵמ ֻח ָּפ ֹ֑תו יָ ִ ׂ֥שיׂש ְ֝כגִ ֹּ֗בור ָל ֥רּוץ6 ֹצותם וְ ֵ ֥אין ִ֝נ ְס ָּ֗תר ֵ ֽמ ַח ָּמֹתו׃ ֑ ָ ל־ק ְ קּופ ֹ֥תו ַע ָ ּות ְ וצ ֹ֗או ָ ִמ ְק ֵצ֤ה ַה ָּׁש ַ֨מיִ ם ֹֽמ7 5b Für die Sonne hat er an ihnen (den Himmeln) ein Zelt aufgerichtet. 6 Und er ist wie ein Bräutigam, der hinausgeht aus seinem Brautgemach, er freut sich wie ein Held, um zu laufen eine Bahn. 7 Vom Ende der Himmel ist sein Auszugspunkt und sein Wendepunkt über ihren Enden, und es ist nichts, was verborgen bliebe vor seiner Glut.
Auch hier sind beide Faktoren Raum und Handlung zu sehen, die zusammen den gelingenden Ordnungsprozess ausmachen. Die Sonne hat einen von JHWH eingerichteten Wohnort in den Himmeln (V.5b),501 eine festgelegte Strecke, die sie zurücklegt (V.7a) und eine Funktion, die ein richterliches Handeln beschreibt, das nichts übersieht (V.7b).502 Auch der Zusammenhang zwischen Sonnenlauf und Tora, spezieller zu den פקדיםin V.9, entsteht durch Raum/Strecke und Handeln/Funktion. Der Begriff ( ארחPs 19,6b die Bahn des Sonnenlaufes) wird auch für die Art der Gestaltung des Lebensweges, besonders in der Unterscheidung von rechten und falschen Wegen, verwendet. Dies wird vor allem in Ps 119 deutlich, der ארחfünfmal gebraucht, davon dreimal zusammen mit den פקדים. Sie werden in einen Parallelismus mit den 499 Zu denken ist z. B. an die Stelle Gen 8,22, in der nach der weitgehenden Rücknahme der Schöpfungsordnung durch die Flut die Zusage gemacht wird, dass JHWH in Zukunft die Ordnung für alle Zeiten garantieren wird oder an Ps 104, der sowohl die creatio prima preist, mehr aber noch die creatio continua in den Vordergrund rückt. Ein wichtiger Punkt der JHWH-Königspsalmen ist die Garantie von kosmischer und sozialer Ordnung durch JHWHs wirkmächtige Gerechtigkeit. 500 Zu einer detaillierten Auslegung dieser Verse vg. Grund, Himmel, 173–213. Für diese Arbeit werden nur die Aspekte in den Blick genommen, die weiterhelfen, das Bedeutungsspektrum des Begriffes der פקדיםfür Ps 103 auf dem Hintergrund von Ps 19 zu klären. 501 Vgl. aaO., 192–196. Grund stellt besonders die Nähe der Sonne zum Wohnsitz JHWHs heraus und spricht in diesem Zusammenhang von einer „Aufwertung der Sonne – die aber wiederum nur in einem schon recht unangefochtenen Monotheismus einen so vollmundigen, unpolemischen Klang bekommen konnte“ (196). 502 Grund arbeitet mit Textvergleichen zum Hiobbuch die richterliche Instanz anhand der Unmöglichkeit des Verbergens vor Gott heraus (aaO., 209), sieht aber das spezifische Profil von Ps 19,7 in der Gerichtskonnotation, welche die Rede von der Glut (Assoziation zum göttlichen Zorn) auslöst. Sie nennt hier vor allem die Stellen Am 9,1–4; Jes 28,15ff; Hi 14,13f (aaO., 210).
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Pfaden JHWHs gesetzt (V.15) und dienen als Mittel zur Erkenntnis von Lügenpfaden (Vv.104.128), da sie selbst recht ( ישרV.128) sind. So wie die Sonne ihren Lauf in den von JHWH gesetzten regelhaften Bahnen vollzieht, kann also auch der Beter durch die Anordnungen JHWHs seinen Lebenslauf in gerechten Bahnen führen. Eine weitere Brücke vom Sonnenlauf zu den פקדיםkann thematisch über die Freude gebaut werden, da sowohl das Herz dessen erfreut wird, der sich von den Anordnungen JHWHs affizieren lässt, als auch die Sonne, die in Freude ihre Bahn zieht.503 Den freudigen Lauf der Sonne als Vorbild für den Lebensweg des Beters vor Augen zu führen. Darauf verweist […] die thematische Verbindung zu V.9, wonach dem toratreuen Beter durch die Tora Freude zuteil wird.504
Ferner gehört das Attribut ישר, das den פקדיםbeigegeben wird, wie oben ausgeführt zum Vorstellungshorizont des Sonnenlaufes, der wie in Ps 19,7 mit gerechtem richterlichen Handeln konnotiert wird. Durch das Leben nach den gerechten Anordnungen fügt sich der Beter also mit seinem Handeln in die kosmische Ordnung ein, bzw. wird durch die Gabe der Anordnungen, die den Ordnungsprinzipien des Kosmos entsprechen, befähigt, an dieser teilzuhaben: Als Held des Königsgottes bringt die Sonne seine Stabilisierung der Weltordnung und seinen Sieg über das Böse zur Darstellung – als Identifikationsfigur für die Beter/innen vollzieht die Sonne ihren Weg ‚in Gerechtigkeit‘ und lässt sie an der gerechten Weltordnung partizipieren.505
Die Frage, die sich abschließend stellt, betrifft den Zusammenhang der Begriffe פקדים/ פקדהim levitischen Kontext und in Ps 19. Haben die פקדיםJHWHs als Vokabel der weisheitlichen Toratradition eine andere Bedeutung als die פקדהder kultischen Vorstellungswelt des Numeribuches? Zwischen beiden Verwendungen gibt es eine gemeinsame Schnittmenge mit unterschiedlichen eigenen Ausprägungen. Das Gemeinsame besteht sicherlich in der Grundfunktion des Ordnens, die in ihrer Bezogenheit auf JHWHs Schöpfer- und Königtum und seine uranfängliche Ordnungsstiftung die erfahrbare Welt auf ihn hin sinnvoll verstehbar macht. Gleichzeitig führt die Erkenntnis, sich selbst als Teil dieser geordneten Verhältnisse
503 Dass hier zwei unterschiedliche Begriffe für die Freude gebraucht werden, schmälert den Zusammenhang der Verse nicht, da beide Begriffe eine gemeinsame Schnittmenge im Ausdruck der Freude JHWHs an seinen Werken und der Freude der Menschen an JHWHs Taten haben. Werden beide Ausdrücke mit Hilfe einer Konkordanzarbeit verglichen, lässt sich feststellen, dass שיש einen engeren Gebrauch aufweist, da alle Belege entweder die Freude JHWHs meinen oder die Freude über JHWH, während שמחauch rein innerweltliche Freude z. B. an Dingen oder anderen Menschen und auch Bereiche wie Schadenfreude bezeichnen kann. 504 Grund, Himmel, 200. 505 AaO., 201.
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zu begreifen, zu einem entsprechenden Handeln, welches sich nicht nur einfügt, sondern in dieser selbst eine aktive Funktion übernimmt.506 Im Numeribuch entsprechen die Leviten der ihr zugedachten Funktion mit ihrem Tempeldienst und in Ps 19 wird indirekt (durch die Beschreibungen der Auswirkungen der Tora) das Bild eines torafrommen Menschen gezeichnet, der durch sein Leben in und nach den Anordnungen ihre förderlichen Wirkungen erfährt. Beide Gruppen von Adressaten der Anordnungen werden zu sichtbaren Zeugen von JHWHs eingesetzter und in Gang gehaltener guter Ordnung. Dass die פקדים/ פקדהsowohl als ein Synonym für die Tora selbst als auch für kultische Ämterfunktion und Heiligtumsverwaltung gebraucht werden, sind lediglich verschiedene Ausprägungen desselben Grundgedankens.
5.10.2.1 Weitere Bezüge von Ps 103 zu Ps 19 Von Ps 19 herkommend ergeben sich einige Verknüpfungen zu Ps 103, die nicht nur direkt auf die פקדיםbezogen sind, sondern den gesamten Vorstellungszusammenhang von kosmischer Organisation (Gerechtigkeit und Gehorsam der himmlischen Welt) und ihren irdischen Entsprechungen sichtbar werden lassen. Eine erste Beobachtung betrifft die räumliche und funktionelle Ähnlichkeit vom Sonnenlauf in Ps 19 und der Gnade ( )חסדin Ps 103. Die Sonne wird in Ps 19,6b mit einem Helden ( )כגבורverglichen. Dasselbe Lexem, nur in verbaler Form, wird der Gnade in Ps 103,11 ( )גבר חסדוzugewiesen. Auch die räumlichen Ausmaße der Wirkmächtigkeit sind miteinander vergleichbar: Die Bahn des Sonnenlaufes beschreibt die Enden des Himmels, also die größtmögliche Entfernung überhaupt, die für den Menschen vorstellbar (aber nicht erfahrbar) ist. Ebenso wird in Ps 103 die Erstreckung der Gnade JHWHs entfaltet, sie wirkt in Gestalt von Vergebung von Osten/Sonnenaufgang bis zum Westen/Sonnenuntergang (V.12), also im kompletten Ablauf der Sonne. Beide Größen, Sonne und Gnade, sind durch ihre Nähe zu dem im Himmel verorteten Thron JHWHs an seiner königlichen Herrschaftsausübung beteiligt. Hier liegt jedoch auch der jeweils eigene Schwerpunkt der Psalmen. Die Sonne ist durch die Funktion des Aufdeckens durch ihre Glut stark mit einem Richten JHWHs konnotiert, welches die Vollstreckung des göttlichen Zorns über die Frevler ausdrückt. Die Gerechtigkeit der Sonne liegt also in einem genauen Aufdecken von Gut und Böse, welches so umfassend ist, dass nichts verborgen bleibt. Die Konzentration auf die Gnade in Ps 103 stellt vor allem den Vorgang der Sündenvergebung in den Mittelpunkt. Die Gerechtigkeit zeigt sich eben nicht in einem genauen Aufrechnen (Ps 103,10), sondern in
506 Blum nennt diesen Gedanken, bezogen auf die Korrelation von Schöpfung und Bau des Heiligtums, „Schöpfung in der Schöpfung“, in welcher Israel durch die an ihm delegierten Anweisungen selbst schöpferisch tätig werden kann, was einen Faktor in seiner Konstituierung als Gottesvolk ausmacht. Blum, Komposition, 311.
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der Verschiebung der Maßstäbe aufgrund der stärkeren Gewichtung der Gnade507 zugunsten der Geschöpfe JHWHs. Beide himmlischen Größen ordnen die Welt und machen das göttliche Wirken in ihr lesbar,508 aber je auf ihre eigene Art. In Ps 19 wird die Richtung von der Tora zum Menschen beschrieben. In Ps 103,17f wird eine doppelte Perspektive geöffnet, indem auch thematisiert wird, was vom Menschen erwartet wird.
5.10.3 Psalm 111 Psalm 111 ist ein nachexilischer Weisheitspsalm, der in Form eines alphabetischen Akrostichons aufgebaut ist. Er ist aufgrund einer Verbindung der Begriffe Anordnungen ( )פקדיםund Bund ( )בריתaufschlussreich für eine Exegese von Ps 103. Besonders bemerkenswert ist, dass der Begriff der Anordnungen ()פקדים strukturell und thematisch den Mittelpunkt des Psalms bildet.509 Wie dieser Mittelpunkt gestaltet ist, soll im Folgenden ausgelegt werden, wobei der Fokus auf der Zusammenstellung von Bund und Anordnung liegt. ל־ל ָ ֑בב ְּב ֹ֖סוד יְ ָׁש ִ ֣רים וְ ֵע ָ ֽדה׃ ֵ ֹאודה ְ֭יהוָ ה ְּב ָכ ֣ ֶ ַ ֥ה ְללּו ָ֨יּה1 יהם׃ ֽ ֶ ל־ח ְפ ֵצ ֶ רּוׁשים ְל ָכ ִ֗ הו֑ה ְ ֝ד ָ ְׂשי י ֣ ֵ ְ ֭גד ִֹלים ַמ ֲע2 ֹהוד־וְ ָה ָ ֥דר ָ ּֽפ ֳעֹל֑ ו ְ֝ו ִצ ְד ָק ֹ֗תו ע ֶ ֹ֥מ ֶדת ָל ַ ֽעד׃3 הוה׃ ֽ ָ ְ ֵז ֶ֣כר ָ ֭ע ָׂשה ְלנִ ְפ ְלא ָ ֹ֑תיו ַחּנ֖ ּון וְ ַר ֣חּום י4 יֹתו׃ ֽ ֹעול֣ם ְּב ִר ָ ֶ֭ט ֶרף נָ ַ ֣תן ִ ֽל ֵיר ָ ֑איו יִ זְ ּ֖כֹר ְל5 ּ֣כֹ ַח ַ֭מ ֲע ָׂשיו ִה ִּג֣יד ְל ַע ֹּ֑מו ָל ֵ ֥תת ָ֝ל ֶ֗הם נַ ֲח ַ ֥לת ֹּגויִ ֽם׃6 ּקּודיו׃ ֽ ָ ל־ּפ ִ ּומ ְׁש ָ ּ֑פט ֶ֝נ ֱא ָמ ִ֗נים ָּכ ִ ׂשי ָ֭י ָדיו ֱא ֶ ֣מת ֣ ֵ ַמ ֲע7 ׂשּוים ֶּב ֱא ֶ ֥מת וְ יָ ָ ֽׁשר׃ ִ֗ ֹעול֑ם ֲ֝ע ָ מּוכים ָל ַע֣ד ְל ֣ ִ ְס8 ֹנורא ְׁש ֹֽמו׃ ֣ ָ ְיֹתו ָק ֹ֖דוׁש ו ֑ ֹעולם ְּב ִר ֥ ָ ה־ל ְ ְּפ ֤דּות ָׁ֘ש ַל֤ח ְל ַע ֹּ֗מו ִצָ ּֽו9 יהם ְ֝ת ִה ָּל ֹ֗תו ע ֶ ֹ֥מ ֶדת ָל ַ ֽעד׃ ֑ ֶ ׂש ֶכל ֹ֖טוב ְל ָכל־ע ֵֹׂש ֣ ֵ הוה ֗ ָ ְאׁשית ָח ְכ ָ֨מה יִ ְר ַ֬את י ֤ ִ ֵ ֘ר10 1 Lobt Jah! Ich will preisen JHWH mit ganzem Herzen im Kreise der Geraden und der Gemeinde. 2 Groß sind die Werke JHWHs, erforschenswert für alle, die Gefallen an ihnen haben.
507 Vgl. die Begrenzung des Zorns in den Vv.9–10. 508 Vgl. zum Gedanken der Lesbarkeit der Welt Assmann, Ma’at, 195: „Das Prinzip Ma’at stiftet eine Sinnsphäre, in der die Welt auf den Menschen hin lesbar, und der Mensch auf den Kosmos hin organisiert wird.“ Ebd. 509 Eine detaillierte Struktur der konzentrischen Anordnung des Psalms und seiner tragenden Leitbegriffe findet sich bei Scoralick, Ruth, Psalm 111 – Bauplan und Gedankengang, in: Biblica 78, 1997, 190–205; 194. Die Konzentrik umfasst die Vv.3–10, Vv.1–2 sieht sie als Einleitung, die viele Verbindungen zum Hauptteil aufweisen, aber außerhalb der Struktur stehen, vgl. aaO., 198.
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3 Erhaben und prächtig ist sein Handeln und seine Gerechtigkeit besteht für fernste Zeiten. 4 Ein Gedächtnis hat er geschaffen für seine Wundertaten, gnädig und barmherzig ist JHWH. 5 Nahrung hat er gegeben denen, die ihn fürchten, er gedenkt für fernste Zeiten seines Bundes. 6 Die Kraft seiner Werke hat er verkündet seinem Volk, indem er ihnen den Erbbesitz der Nationen gab. 7 Die Werke seiner Hände sind Treue und Recht, beständig sind alle seine Anordnungen, 8 eine Stütze für die fernsten Zeiten gemacht in Treue und Geradheit. 9 Erlösung hat er geschickt für sein Volk, geboten für fernste Zeiten seinen Bund, heilig und furchtbar ist sein Name. 10 Der Beginn der Weisheit ist die JHWH-Furcht, ein kluger Verstand ist allen, die sie tun. Sein Lob besteht für immer.
5.10.3.1 Die Anordnungen als Zentrum der Schöpfung Der Gebrauch des Begriffes ( פקדיםV.7) zeigt große Ähnlichkeit zu dem in Ps 19, indem er in Terminologie von Rechtsprechung beschrieben und in diesem Zusammenhang auch mit dem Attribut recht/gerade ישרbelegt wird. Die פקדיםin Ps 111 sind als Werke JHWHs ausgewiesen, die er in Treue und Recht geschaffen hat, wobei ihnen besonders das Prädikat der Verlässlichkeit zugeschrieben wird. Dies erinnert thematisch, nicht lexikalisch, an die Verlässlichkeit des Sonnenlaufes in Ps 19. Der treue und verlässliche Charakter der Anordnungen findet seine zeitliche Entsprechung im Begriff לעד לעולם, den fernsten Zeiten. Der Ausdruck, dass die Anordnungen eine Stütze für die fernsten Zeiten sind, lässt sich zudem mit dem Thronmotiv in Ps 89 in Verbindung bringen. In Ps 89,5 wird der Thron JHWHs für fernste Zeiten gegründet (עולם- )עדund in V.15 befestigt durch Gerechtigkeit und Recht ( )צדק ומשפטsowie begleitet von Gnade und Treue ()חסד ואמת, die vor dem Thron hergehen. Die Attribute, die sich jeweils mit Thron und Anordnungen verbinden, weisen eine gemeinsame Schnittmenge in Funktion und Dauerhaftigkeit auf. Ps 111 verwendet allerdings nicht das Verb ( כוןbefestigen, gründen), welches in Ps 89 (und auch in Ps 103) mit dem Thron verbunden ist, sondern das relativ selten gebrauchte Nomen Stütze ( סמוכיםPtz ps. pl. von )סמך. Das Verb stützen ( )סמךwird in den Psalmen oft benutzt, um JHWHs rettende und bergende Zuwendung zum Beter auszudrücken (Ps 3,6; 37,17; 54,6; 119,116; 145,14). Wie der Thron als Symbol der gerechten Herrschaft JHWHs das Zentrum von Raum und Zeit bildet, so sind die Anordnungen als Struktur von Kosmos und Welt in Ps 111 anzusehen und auch als Mittelpunkt der Konzentrik sprachlich abgebil-
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det. Die zentrale Funktion des Ordnungsgedankens findet sprachlich weiterhin seinen Niederschlag in der Form des Akrostichons und einer dem Psalm eigenen Bedeutung der vermutlich bewussten Anzahl von bestimmten Begriffen.510 All dem liegt das Schöpfungswerk JHWHs zugrunde, dessen Dynamik, die durch das Verb עשהentsteht, in Psalm 111 stilistisch, semantisch und theologisch zur Darstellung kommt. Im Mittelpunkt stehen die treuen und gerechten Werke der Hände JHWHs (V.7), die auf Verlässlichkeit hin geschaffenen Anordnungen (V.8).511 Sie zeigen sich in der Welt in Form von kraftvollen Werken (V.6), die verkündet werden. Diese Form von Schaffenskraft kommt dem Volk in Gestalt von Gaben und Rettungstaten zugute und führt deshalb zu einer JHWH-Furcht, die selbst ein den Anordnungen entsprechendes Handeln nach sich ziehen512 und den JHWH-Fürchtigen nicht nur Klugheit (V.10), sondern auch Freude an den Schöpfungswerken (V.2) als Ausdruck von Weisheit verleiht.513 Die Konsequenzen daraus sind das Danken und Loben JHWHs (Vv.1.10b), das von den Rändern des Psalms wieder zum Mittelpunkt führt. Der Weg zurück zu den Anordnungen in V.8 geschieht zum einen über die Wurzel ישרin V.1 und in V.8 und zum anderen über das Suffix aus V.10, das sich auf V.7 bezieht.514 Die Möglichkeit, die erfahrbare Schöp-
510 Vgl. dazu Scoralick, Psalm 111, 193. 511 Es gibt eine Diskussion darüber, ob das Partizip passiv עשויםin V.8b gerundivisch übersetzt und interpretiert werden soll, dann würden die Ordnungen als welche gelten, die „zu tun“ wären im Gegensatz zu welchen, die „geschaffen“ wären. Der lexikalische und theologische Hintergrund des Begriffes פקדים, wie er anhand Ps 19 und des Numeribuches erarbeitet worden ist, zeigt, dass beide Varianten möglich sind, indem die Anordnungen sowohl geschaffen als auch durch entsprechendes Handeln einzuhalten sind. An dieser Stelle wird dem Handeln JHWHs der Vorrang gegeben und damit eine Übersetzung als „geschaffen“ bevorzugt, da es um den Erweis der Stabilität und der Funktion seiner Anordnungen geht, was auch der Bezug zu Ps 89 und die Funktion des Begriffs סמוכיםdeutlich macht. Gerade die konzentrische Struktur legt den Schwerpunkt auf die Theozentrik in den Vv.7–8, hier eine Aufforderung an das Volk anzunehmen, würde den Sinn des Aufbaus des Psalms missachten. 512 Das Suffix an עשיהםin V.10 (3. pers. mask. Pl.) ist auf die Anordnungen in V.7b bezogen, vgl. dazu Scoralick, Psalm 111, 200. 513 Die Rahmung von V.2 zu V.10a verbindet den Schöpfungshymnus Ps 104 (V.1 גדלund )הוד והדר mit dem Prolog des Sprüchebuches (Spr 1,1–7). Martin Hengel zeigt auf, dass die Verbindung von Weisheit und Schöpfungslehre im Kontext von griechischen Denkfiguren entstanden ist (283). Er erörtert weiterhin, dass diese Verbindung zwei Konsequenzen zur Folge hatte: Zum einen die „enzyklopädische Betrachtung aller Phänomene der von Gott erschaffenen Welt, da sie Ausdruck der ‚Weisheit‘ Gottes waren. Zum anderen „erhielt der einzelne, der dem religiös und ethisch verpflichtenden Anruf der ‚ḥŏkhmāh‘ – ‚Furcht vor Jahwe ist Anfang des Wissens‘ (Prv. 1,7) – Folge leistete, Anteil an der kosmischen, göttlichen Weisheit.“ Hengel, Martin, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr., WUNT 10, Tübingen 21973, 284. Die Verbindung von Weisheit, Gottesfurcht und Schöpfungstheologie thematisiert auch Spieckermann, Hermann, Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie, FAT 91, Tübingen 2014, 43–45. Zum Motiv der Tora-Weisheit in Ps 111 vgl. Mensah, Michael Kodzo, I turned back my feet to your decrees (Psalm 119,59), Torah in the Fifth Book of the Psalter, ÖBS 45, Frankfurt 2016, 52–54. 514 Daher spricht einiges dafür, die Verse 1 und 2 nicht nur als Rahmen anzusehen, sondern unbedingt dem Aufbau der Konzentrik hinzuzufügen.
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fung JHWHs durchsichtig zu machen auf das gerechte und verlässliche Handeln JHWHs, durchzieht als Leitmotiv den ganzen Psalm. Eine Auffälligkeit, gerade im Vergleich zu Ps 19 und auch zu Ps 119, besteht in der Konzentration von Psalm 111 auf den Begriff der פקדים, der damit aus dem Kreis der Torasynonyme herausgenommen und mit einer Eigenbedeutung versehen wird, die stark schöpfungstheologisch orientiert ist. Dies zeigt Parallelen zum Gebrauch der פקדיםin der Verwobenheit von Heiligtumsbau und Schöpfung im Exodusbuch.
5.10.3.2 Die Einordnung des Bundes in die Taten JHWHs In Ps 111,5.9 wird zweimal der Bund in der Beschreibung als Bund für fernste Zeiten genannt. In V.5 fügt er sich in eine Form von Geschichtsablauf ein, die über das Stichwort der Wundertaten (V.4a) mit einer Variation der Gnadenformel (V.4b) und Versorgung durch JHWH (V.5) gedanklich ins Exodusbuch führt und von dort weitergeht bis zur Gabe des Landes (V.6).515 In V.9 wird die Rede vom Bund in Beziehung zur Erlösung des Volkes gesetzt, also zu einem Handeln JHWHs, das rettend und befreiend wirkt. Zenger sah in Psalm 111 vor allem die Bundestheologie im Vordergrund und stellt eine Überformung von dtn-dtr Bundestheologie durch die Priesterschrift fest.516 Dtn-dtr Bundestraditionen sieht er z. B. in dem Ausdruck „er hat geboten seinen Bund“, für den er zahlreiche Belege angibt. Allerdings ist in keinem dieser Belege das Verb צוהdirekt mit dem Bund verbunden, wie es in Ps 111,9 der Fall ist.517 In den angegebenen dtn-dtr Stellen geht es immer um die Modalitäten, wie der Bund zu halten ist, davon ist in Ps 111 nicht die Rede. In beiden Versen steht
515 Es könnte hier eine Abhängigkeit von Ps 105 zugrunde liegen, in dem die oben genannten Stationen der Geschichte Israels verbunden mit der priesterlichen Bundeskonzeption vorliegen (vgl. zu den Wundertaten Ps 105,2.5; zur Abfolge von Versorgung mit Nahrung und Bund Ps 105,40–42; zur Gabe des Landes als Besitz Ps 105,11.44). Allerdings verwendet Ps 111 primär weisheitliche Terminologie, was z. B. an dem Begriff טרףfür Nahrung deutlich wird. Er zeigt keine lexikalische Verbindung zu der Versorgung mit Manna im Pentateuch, sondern kommt nur in jungen prophetischen und weisheitlichen Traditionen vor (Hi 24,5; Mal 3,10; Spr 31,15). In diesen Belegen geht es immer um die Abgrenzung von Gerechten und Gottlosen (außer in Spr 31,5), so dass vermutlich dieser Gegensatz hier beim Ausdruck der JHWH-Fürchtigen mitgehört werden soll. Auch das Durchsichtigwerden von Schöpfungstheologie in Geschichtstheologie anhand der Zusammenstellung von Ps 104 und Ps 105 könnte sich in Ps 111 niedergeschlagen haben. Vgl. dazu Gärtner, Judith, Die Geschichtspsalmen, FAT 84, Tübingen 2012, 275–284. 516 Vgl. dazu Zenger, Erich, „Er hat geboten in Ewigkeit seinen Bund.“ Weisheitliche Bundestheologie in Psalm 111, in: Dohmen, C./Frevel, C., Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel, SBS 211, Stuttgart 2007, 273–281; 278 f. Er sah Ps 111 sogar als „erstaunliche Bündelung der biblischen Bundestheologie“ an; aaO., 279. 517 In Dtn 4,13 wird צוהals Relativsatz angeschlossen und ist auf das Halten des Bundes bezogen, ebenso Dtn 28,69; Jos 7,11; 23,16; Ri 2,20. In 1Kön 11,11 ist es auf die Satzungen bezogen, in 2Kön 17,25 kommt es gar nicht vor und in 2Kön 18,12 sind die Gebote des Mose gemeint. Es ist wahr-
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die Dauerhaftigkeit im Vordergrund und die Rolle, die JHWH dabei einnimmt (gedenken und gebieten). „Er hat geboten seinen Bund für fernste Zeiten“ muss nicht implizieren, dass die Betonung auf dem Halten für fernste Zeiten liegt, sondern kann auch bedeuten, dass sie auf dem zeitlichen Ausdruck für fernste Zeiten liegt. Die Betonung der Dauerhaftigkeit scheint wie in Ex 31 auch das Verbindungsstück darzustellen, den Bund an andere Terminologien anzuschließen. In Ex 31 ist es der Sabbat, in Psalm 111 sind es die Anordnungen. Weiterhin sieht Zenger in den Anordnungen eine Gestalt des Bundes und setzt dies mit dtr Theologie gleich.518 Allerdings kommt weder der Begriff פקדים im Sinne von umfassenden Anordnungen/Tora in der dtr Theologie vor, noch ist er in Psalm 111 eine Gestalt des Bundes. Eine aktive Auseinandersetzung von priesterlicher und nicht-priesterlicher Bundestheologie kann hier als Thema des Psalms nicht festgestellt werden. Es liegt Bundestheologie in ihrer priesterschriftlichen Gestalt des ewigen Bundes vor, die in den Kontext des Psalms eingeordnet wird. Der Zusammenhang wird durch die zeitliche Zuschreibung der fernsten Zeiten geschaffen, die den Bund mit dem Ordnungshandeln JHWHs verbinden und ihn in dieses eingliedern. Dem Bund kommt also keine Sonderstellung zu, er wird vielmehr ein Ausdruck des Beziehungs- und Gestaltungswillens JHWHs, der neben anderen steht.
5.10.4 Ergebnisse zu den Anordnungen Die Verwendung der Wurzel פקדund ihre Derivate פקדים/ פקדהweisen in priesterlichen und weisheitlichen Traditionen der nachexilischen Zeit eine Vielzahl von Bedeutungen auf. Ihnen allen gemeinsam ist allerdings der Schwerpunkt der organisierenden, strukturierenden und restituierenden Handlungen. Es ist besonders eine Verwobenheit von Schöpfung, Tora und Kult anhand von פקדzu beobachten, die einhergeht mit einer Korrespondenz von JHWHs eingesetzter Schöpfungsordnung im Großen und der Erfahrbarkeit einer verlässlich strukturierten Welt im Kleinen (z. B. Ps 19; Num 38,21). In den Psalmen entwickelt sich der Begriff פקדים von einer Ausdrucksform der Tora (Ps 19; 119) zu der grundlegenden Größe, die das Ganze der Einsetzung und Inganghaltung von JHWHs kosmischer Weltordnung beschreibt (Ps 111). Aufgrund der Affinität des Begriffs zu den Attributen von Gerechtigkeit und Dauerhaftigkeit ist eine Zusammenstellung mit der Bundeskonzeption der Priesterschrift sichtbar (Ps 111). Es lässt sich aber auch eine Verbindung zu dtn-dtr Konzepten schaffen, indem das Verb פקדals inspizierende und prüfende Tätigkeit auch das Einhalten der Gesetze sowie die daraus resul-
scheinlicher in Ps 111,5 eine Abhängigkeit von Ps 105,8 anzunehmen, in dem das צוהdirekt an דבר als Begriff für den Bund angeschlossen ist. In Ps 105,8 ist auch eine Verknüpfung mit זכרzu sehen. 518 Vgl. Zenger, Bundestheologie, 279.
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tierenden Konsequenzen (positiv und bei Nichteinhaltung negativ) beschreiben kann (Ex 34,7 und die Aufnahme im Dekalog in Ex 20,5 und Dtn 5,9; Lev 26,16).519
5.11 Gnade, Bund und Anordnungen in Ps 103 ולם ַעל־יְ ֵר ָ ֑איו ְ֝ו ִצ ְד ָק ֹ֗תו ִל ְב ֵנ֥י ָב ִנֽים׃ ָ ֹ֭עול֣ם וְ ַעד־ע ָ הוה ֵמ ֨ ָ ְ וְ ֶ ֤ח ֶסד י17 ֹׂשותם׃ ֽ ָ ּולז ְֹכ ֵ ֥רי ִ֝פ ֻּק ָ ֗דיו ַל ֲע ְ יֹתו ֑ ְלׁש ְֹמ ֵ ֥רי ְב ִר18 17 Und JHWHs Gnade ist von fernster Zeit bis in fernste Zeit über denen, die ihn fürchten und seine Gerechtigkeit für Kindeskinder, 18 für die, die seinen Bund bewahren und seiner Ordnungen gedenken, in dem [sie] sie tun.
Die Verse Ps 103,17f sind vom Aufbau und Inhalt mit der Wendung der Bundesbewahrung vergleichbar, indem JHWHs Tun am Beginn steht und die Adressaten mit der Präposition לangefügt werden. Allerdings liegt eine Verschiebung in der Terminologie vor, statt von Bund und Gnade ist von Gnade und Gerechtigkeits taten die Rede. Die Wendung Bund bewahren ist in das Element der Adressaten verschoben und die dtn-dtr Gesetzestermini sind dem Ausdruck der Anordnungen gedenken gewichen. Die Gnade ist also an die vorderste Position gerückt und wird durch den Begriff der fernsten Zeiten qualifiziert, während die Bundesbewahrung nicht mehr auf der JHWH-Seite zu finden ist, sondern bei den Empfängern liegt. Unklar ist, ob in Ps 103,17f eine direkte Aufnahme und bewusste Änderung der Wendung vorliegt, oder ob die geprägte Sprache eines mit der Wendung verbundenen Vorstellungszusammenhanges gebraucht worden ist, ohne dass eine direkte Abhängigkeit zu einem bestimmten Text konstatiert werden könnte. In einem ersten Schritt dient der Vergleich mit der Wendung dem hermeneutischen Zweck, die Auffälligkeiten und Prioritäten in der verwendeten Terminologie und ihrer Zusammenstellung deutlich zu machen. Diese entsprechen der Entwicklung der Wendung, indem die Konzentration auf die Gnade als Handlungsoption JHWHs immer größeren Raum einnimmt. Dies soll im Folgenden auf dem Hintergrund der oben analysierten Texte ausgeführt werden.
519 Deissler bestimmt in seiner Auslegung zu Ps 111 den Begriff פקדיםals „Bundessatzung, deren Kern der Dekalog ist“. Dieses Verständnis scheint zu speziell zu sein, da die Verbindung von Anordnungen und Bund doch erst in sehr jungen Texten zu sehen ist und über die Struktur von Zeitlichkeit zu funktionieren scheint. Deissler, Alfons, Psalm 119 und seine Theologie. Ein Beitrag zur Erforschung der anthologischen Stilgattung im Alten Testament, München 1955, 80.
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5.11.1 Die Gnade als Handlungsoption der fernsten Zeiten Die beiden Glieder des Verses in Ps 103,17 stehen zwar hinsichtlich ihres Aufbaus im Parallelismus Membrorum, sind aber durch ihre zeitlichen Zuordnungen nicht als gleichgewichtig anzusehen. Die Gnade JHWHs bekommt die ausführliche zeitumfassende Dimension der fernsten Zeiten zugeschrieben, die sowohl in ihrer Ausdehnung in die Vergangenheit und in die Zukunft durch die Wendung von fernster Zeit bis in fernste Zeit (עולם- )מעולם ועדbeschrieben wird. Sie ist also deutlich als eine Handlungsoption gekennzeichnet, die in die Dimension der JHWHZeit gehört und vom Menschen in ihrem Ausmaß nicht überblickt werden kann. Die Gerechtigkeitstaten werden mit der Generationenfolge kombiniert, also in ein zeitliches Verhältnis gesetzt, welches das menschliche Vorstellungsvermögen noch begreifen kann. Es ließe sich daher formulieren, dass die Gerechtigkeitstaten ein Ausdruck der Gnade JHWHs in der menschlich erfahrbaren Zeit sind. So werden sie auch in Ps 103,6 verstanden, in dem das Tun der Gerechtigkeitstaten JHWHs in der Rechtsprechung für die Unterdrückten konkretisiert wird, also eine sichtbare sozialrechtliche Gestalt bekommt. Beide zeitlichen Ausdrücke spielen eine bedeutende Rolle in der Bundestheologie der Priesterschrift, was am Abrahamsbund in Gen 17 zu sehen ist. Der ewige Bund ()ברית עולם, der mit Abraham geschlossen wird, ist für alle nachfolgenden Generationen und von ihnen zu bewahren. Der Gnade wird mit dem Begriff עולם das ausschlaggebende Attribut des priesterlichen Bundes zugesprochen und auch die Gerechtigkeitstaten werden durch die Generationenfolge mit diesem Bund assoziiert. Zwar wird die Generationenfolge in Ps 103,17 mit לבני בניםund nicht mit דורwie in Gen 17,7 beschrieben, aber dies hat psalmspezifische Gründe. Die Gerechtigkeitstaten und die Generationenfolge durch לבני בניםführt den Leser des Psalms zurück in die Verse 6–7, wobei in V.7 von den Kindern Israels ()לבני ישראל die Rede ist, welche als Empfänger der JHWH-Taten genannt werden. Dass die Stichwortverknüpfung gerade die Verse 17f und 6f miteinander in Beziehung setzt, ist auf dem Hintergrund der Bundestraditionen kein Zufall. Vers 17 weist einen starken Abrahamskontext auf, der nicht nur durch die Terminologie des Abrahamsbundes in Gen 17 entsteht, sondern auch durch die beiden Theologoumena JHWH-Furcht520 und Gerechtigkeit hervorgerufen wird. Ps 103,17 wird also durchsichtig auf Abrahamstraditionen, führt aber durch die Verbindung zu den Versen 6–7 explizit in einen Mose-Israel-Kontext, der in der Gnadenrede vom Sinai kulminiert, wobei der Sinaibund nicht thematisiert wird. Auf eine sehr subtile Art werden hier Erzvätertradition und das Mose-Sinaigeschehen miteinander in Beziehung gesetzt. Dieser Befund ähnelt sehr dem Bestreben der Verfasser von Lev 26, Erzelternbund und Sinaiereignisse zusammen zu denken, nur dass in Ps 103 der Fokus auf der Gnade und nicht auf dem Bund 520 Vgl. unten die Ausführungen zur Gottesfurcht.
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liegt, wie insgesamt in einigen jungen Texten ein Zurücktreten der Bundestheologie beobachtet werden kann (Ex 31; Ps 111). Der priesterliche עולםBundesbegriff wird in Ps 103 auf die Gnade übertragen und diese ist im Psalm wiederum abhängig von der nichtpriesterlichen Gnadenrede vom Sinai (Ex 34,6f). Die Diskussionen um eine nachpriesterliche und nachdeuteronomistische Zusammenführung der unterschiedlichen Traditionen lassen sich auf die hier vorliegende Theologie der Gnade übertragen und weiterführen. Es muss also danach gefragt werden, was die Priorisierung der Gnade JHWHs in dieser integrierenden Form für die Beziehung zwischen JHWH und Israel aussagt.
5.11.2 Teilhabe und Verantwortung Die Gnade ist dadurch hervorgehoben, dass sie mit der Präposition über/vor ()על verbunden ist, während die Gerechtigkeitstaten mit der Präposition für ( )לden Adressaten anschließen. Bei der Gnade ist deutlich eine Bewegung von ‚oben nach unten‘ festzustellen, die in mehreren Dimensionen beschrieben ist. Erstens räumlich, da in V.11 Himmel und Gnade parallelisiert werden und JHWHs Herrschaftszentrale im Himmel angesiedelt ist (V.19 der himmlische Thron). Zweitens als hierarchisch-soziale Beziehungsstruktur, was am göttlichen Erbarmen, das auch mit עלkombiniert ist, in V.13 zu sehen ist. Wie ein Vater sich über seine Kinder erbarmt, erbarmt sich JHWH über denen, die ihn fürchten. Drittens als zeitliche Qualität, da die umfassende immer schon gewesene und immer seiende JHWHZeit als Gnade die Sterblichkeit der Menschen umfängt (Vv.15–17). Die Gabe von Gnade und Barmherzigkeit setzt ein Beziehungsgefälle voraus, von einer Größe, welche die Möglichkeit und den Willen hat, zu gewähren und einer Größe, die dessen bedarf und bereit ist, zu empfangen. Das muss als Grundprinzip der Gnade festgehalten werden, da sie sich dadurch vom Grundprinzip eines Bundesschlusses deutlich unterscheidet. Wie verhält sich das Gewähren von Gnade zum Empfangen einer Adressatengruppe, die bestimmte Bedingungen – Gottesfurcht, das Bewahren des Bundes und das Gedenken und Tun der Anordnungen – erfüllen muss?
5.11.3 Wer sind die JHWH-Fürchtigen? In Ps 103 werden die JHWH-Fürchtigen refrainartig in den Versen 11.13.17 genannt und zwar als Empfänger von Gnade (Vv.11.17) und von Barmherzigkeit (V.13), also den Handlungsoptionen, die in der Gnadenformel in V.8 an Anfangs- und Schlussposition stehen. Was die JHWH-Fürchtigen zu JHWH-Fürchtigen macht, wird nicht ausdrücklich thematisiert. Es muss aus dem impliziten Kontext des Psalms und aus anderen Texten, in denen die JHWH-Furcht in Verbindung mit ähnlichen Motiven und Terminologien gebraucht wird, erschlossen werden. Dies soll
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unter Berücksichtigung von drei Aspekten, die für die Konturierung der JHWHFurcht in Ps 103 wesentlich sind, geschehen.
5.11.3.1 Gottesfurcht durch Vertrauen Die Bedeutung der Abrahamstraditionen für Ps 103 ist hinsichtlich der Bundestheologie schon thematisiert worden, aber auch die Gottesfurcht, die sich mit der Figur des Abraham verbindet, lässt Rückschlüsse auf die Eigenart der Gottesfurcht in Ps 103 zu. Abraham ist das Sinnbild einer Gottesfurcht, die sich im Vertrauen auf Gottes Rettungstaten äußert, wie es in Gen 22, der Bindung Isaaks, eindrucksvoll ausgeführt wird.521 Gen 22 beginnt mit einer Art Überschrift, in der JHWHs Plan, Abraham zu prüfen, genannt wird.522 Daraufhin beginnt die Erzählung mit der Aufforderung JHWHs an Abraham, seinen Sohn Isaak als Opfer darzubringen (V.2) und schildert detailliert die Ausführung der Forderung (Vv.3–10) bis sich schließlich das rettende Eingreifen des himmlischen Boten ereignet und Abrahams Gottesfurcht und damit das Ziel der Prüfung bestätigt wird (Vv.11–12). Die Handlung schließt mit dem Auffinden des Widders als Opfertier und der Benennung des Ortes mit dem Namen „JHWH sieht“. Beides sind Ausdrucksformen für die Rettung Isaaks.523 Die sich anschließende Verheißung (Vv.15–19) ist vermutlich ein späterer Zusatz der Erzählung,524 die mit der Schlussnotiz von der Rückkehr Abrahams (V.19) endet. Es liegt auf einen ersten Blick nahe, die JHWH-Furcht mit dem Gehorsam Abrahams in Verbindung zu bringen, da dieser ihr äußeres Erscheinungsbild darstellt. Abraham gehorcht JHWH selbst bei einer kaum nachvollziehbaren Zumutung wie der Aufforderung, seinen eigenen Sohn zu opfern und erweist sich damit als gottesfürchtig. Allerdings beschreibt dies tatsächlich nur den äußeren Zusammenhang und nicht die innere Motivation der JHWH-Furcht. Jeremias führt den Begriff der JHWH-Furcht auf ein Vertrauen zurück, das sich letztlich von der Hoff521 Außer in Gen 22 ist die JHWH-Furcht auch für die Erzählung von der Preisgabe der Ahnfrau in Gen 20,11 ein wichtiges Motiv. 522 Zur Deutung von Gen 22,1 als Überschrift vgl. Hartenstein, Friedhelm, Die Verborgenheit des rettenden Gottes. Exegetische und theologische Bemerkungen zu Gen 22, in: Heinen, U./Steiger, J. A. (Hg.), Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der frühen Neuzeit, Arbeiten zur Kirchengeschichte 101, Berlin/New York 2006, 1–22. Hartenstein macht deutlich, dass V.1 mit der Angabe der Prüfung als eine Art Hermeneutik für den Leser dient, der die folgende Erzählung unter diesem Aspekt lesen soll und somit von Anfang an mehr weiß als Abraham als ihr Protagonist; aaO., 5. 523 Hartenstein verweist darauf, dass das Sehen JHWHs nicht nur auf die spezielle Rettungstat bezogen ist, sondern ein generelles Vertrauen auf JHWHs rettendes Handeln ausdrückt; aaO., 9 f. Die Bedeutung des Sehens als Leitwort und Lesehilfe der Erzählung (und auch als Verbindung zu der Hagar-Erzählung in Gen 21) ist detailliert herausgearbeitet worden von Jeremias, Jörg, Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22), in: Klein, C./Tobler, S. (Hg.), Spannweite. Theologische Forschung und kirchliches Wirken, Bukarest 2005, 74–84; 81 f. 524 Vgl. zum sekundären Charakter von Vv.15–18 Hartenstein, Verborgenheit, 12.
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nung auf Rettung getragen weiß, auch wenn diese in der Situation der Zumutung nicht ersichtlich ist.525 Dieses Vertrauen in die Rettungstaten negiert allerdings nicht die Ambivalenzen im Gottesbild, da die unsägliche Zumutung von Abraham in ihrer vollen Härte erfahren wird. Hartenstein verdeutlicht, dass sich die Ambivalenz von verborgener und rettender Gotteserfahrung in den unterschiedlichen Gottesnamen widerspiegelt, die eben kein Indiz für Textwachstum sind, sondern in dieser Erzählung sehr bewusst in ihrer Differenz gebraucht werden: In der Erzählung werden zwei Gotteserfahrungen bzw. Wahrnehmungen Gottes einander gegenübergestellt: die des abgründig verborgenen und die des rettenden Gottes. Ersterer wird durch das allgemeine „der Gott“ von Gen 22,1 in der Distanz des Unerforschlichen, ja des Ungeheuerlichen, gehalten, letzterer kann nur mit dem durch ihn selbst als Zeichen seiner bleibenden Zuwendung verbürgten Namen JHWH bezeichnet werden (vgl. Ex 3,14; 33,19; 34,5 ff.).526
Die Gottesfurcht ist diejenige Größe, die in der Situation einer absoluten Extremerfahrung die Spannung zwischen unverständlicher Abgründigkeit und noch nicht einsehbarer Hoffnung auf Rettung aushalten kann. Dies gelingt ihr durch ein Vertrauen, das sich letztlich an den bezeugten Taten JHWHs festhält, die in das Leben und nicht in den Tod führen, auch wenn in der aktuellen Situation der Gefahr davon nichts spürbar ist.527 „Gottesfurcht“ ist nach Gen 22 ein Vertrauen auf Gott, das auch dort noch mit seinem heilvollen Willen rechnet, wo sein Handeln scheinbar sinnlos, ja gottwidrig geworden ist. Das „Vorrecht“ des Gottesvolks nach Gen 22 ist, dass es noch ungleich unverständlichere Seiten Gottes kennen lernt als die anderen Abraham-Kinder –, allerdings auch weit größere Dimensionen eines rettenden Gotteshandelns.528
525 „Gen 22 ist nicht die Erzählung von einem unbedingten und blinden Gehorsam (,Kadavergehorsam‘), sondern eine Erzählung, die von ihrem Ende her gelesen werden will, eine Rettungserzählung.“ Jeremias, „Opferung“, 82. 526 Hartenstein, Verborgenheit, 7. 527 Von der systematischen Theologie her ist die Dialektik von Offenbarung und Verborgenheit Gottes und das damit zusammenhängende Vertrauen, das sich in den Rettungstaten gegründet weiß, von Jüngel in seiner Auslegung der lutherischen Ausführungen zum deus absconditus und seiner Entzogenheit für den Menschen ausgelegt worden. Vgl. dazu Jüngel, Eberhard, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – im Anschluß an Luther interpretiert, in: Ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 202–251. 528 Jeremias, Theologie, 79.
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Auch Blum sieht das Motiv des Vertrauens als Basis der Gottesfurcht an und bringt es in Zusammenhang mit der Bindung eines Vaters zu seinem Kind. Er bezieht sich dabei auf den Vers Gen 22,8, in dem Abraham die Frage Isaaks nach dem Opfertier (V.7) in die Verantwortlichkeit Gottes legt und antwortet, dass dieser sich schon ein Opfertier ersehen würde. Abraham verhält sich demnach selbst in seiner Relation zu JHWH wie ein Kind, das vertrauensvoll die Antwort bei seinem Vater sucht. Das Leitwort sehen ( )ראהkönnte, nach Blum, in diesem Kontext durch den Gleichklang ein Wortspiel und damit eine unterschwellige Anspielung auf das Verb fürchten ( )יראsein.529 In Ps 103 ist im Gegensatz zu Gen 22 nicht die Situation einer konkreten Gefahr geschildert, aber die Rettungstaten JHWHs in Ps 103,3–5 beschreiben auf einer grundsätzlich existenziellen Ebene, die Bewegung vom Tod ins Leben. Auch wenn es sich hier um eine theologisierende Übertragung der Bilder handelt, ist kategorial doch dieselbe Figur eines Vertrauens in die Rettungstaten JHWHs zu erkennen, welche als Basis der Gottesfurcht in Ps 103 angenommen werden kann. Dies wird gestützt durch den Zusammenhang der beiden Motivkomplexe von JHWH-Namen und JHWH als Vater, die in Gen 22 als Elemente der Konstitution von Gottesfurcht festgestellt worden sind. In Ps 103 sind beide Motive eng mit Gnade und Barmherzigkeit verbunden: die Offenbarung von JHWH-Namen in seiner Dechiffrierung als göttliches Erbarmen (Ex 33,19) und damit innerster Grund des JHWH-Lobes wird durch die starke Kontextualität von Ps 103,6–8 mit Ex 32–34 als ‚Subtext‘ mitgelesen und gedeutet und das Vaterbild ist direkt mit dem Erbarmen verbunden (Ps 103,13). Die Gottesfurcht in Ps 103 entsteht demnach in der Wechselbeziehung vom Empfangen der Gnade/Barmherzigkeit und dem Vertrauen auf ein Handeln JHWHs, das im Wesentlichen durch diese Eigenschaften geprägt wird.
5.11.3.2 Gottesfurcht durch Sündenvergebung Es ist noch ein zweiter wichtiger Faktor zur Einordnung der Gottesfurcht in Ps 103 zu nennen, der in der Sündenvergebung besteht. Ein wichtiger Referenztext, der genau diesen Zusammenhang von Vergebung und Gottesfurcht herstellt, ist Ps 130. Der nachexilische Psalm gehört wirkungsgeschichtlich in die Gruppe der sieben Bußpsalmen,530 ist im Psalter in die Gruppe der Wallfahrtslieder eingeordnet, beschreibt von seiner Gattung her eine große Affinität zu den Klagepsal-
529 Blum, Erhard, Die Komposition der Vätergeschichte, WMANT 57, Neukirchen-Vluyn 1984, 323 f. 530 Vgl. zur hohen Bedeutung des Psalms für die Kirche, insbesondere für die liturgische Verwendung Jeremias, Jörg, Psalm 130 und Luthers Nachdichtung, in: Theologische Beiträge 20, 1989, 284–297.
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men, hebt aber vor allem die Elemente des Vertrauens hervor.531 Im Anfangsteil des Psalms wird der eindringliche Klageruf des Beters, ihn aus den „Wassertiefen“ zu erhören (Vv.1–2) auf die Grundsituation des Menschen in seiner generellen Schuldhaftigkeit vor Gott gedeutet (V.3).532 Kein Mensch, so lautet die Grundeinsicht des Psalms, könnte im Angesicht Gottes bestehen, wenn dieser die Schuld anrechnen würde. Nach dieser Feststellung ändert sich der Klage- und Bittduktus des Psalms in eine Aussage von großer Gewissheit, durch welche der unheilvolle Zusammenhang von Schuld und Todesgefahr durchbrochen wird. In V.4 heißt es: יחה ְ֝ל ַ֗מ ַען ִּתּוָ ֵ ֽרא׃ ֑ ָ י־ע ְּמָך֥ ַה ְּס ִל ִ ִ ּֽכ4 4 Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Dieser Vers kann als die theologische Mitte des gesamten Psalms bezeichnet werden, da alleine die Vergebung JHWHs den Menschen aus dem Zustand von Gottesferne – und damit einem Zustand, der im Alten Testament als Todesgefahr gilt – befreien und eine heilvolle Gottesbeziehung schaffen kann. Deswegen ist die Vergebung diejenige Tat, die im Menschen eine entsprechende Haltung Gott gegenüber bewirkt, nämlich die Gottesfurcht.533 Auf Seiten JHWHs wird in Ps 130,7 die Gnade als diejenige Größe genannt, welche die Vergebung herbeiführt. Dass die Vergebung als die Rettungstat schlechthin angesehen wird, zeigt der Begriff Erlösung, mit der sie hier gleichgesetzt wird (V.8):534 הו֥ה ַה ֶ ֑ח ֶסד וְ ַה ְר ֵ ּ֖בה ִע ֹּ֣מו ְפ ֽדּות׃ ָ ְי־עם־י ִ יַ ֵ ֥חל יִ ְׂש ָר ֵ֗אל ֶאל־יְ ֫הוָ ה ִ ּֽכ7 ְ֭והּוא יִ ְפ ֶ ּ֣דה ֶאת־יִ ְׂש ָר ֵ ֑אל ִ֝מ ּ֗כֹל ֲעֹונ ָ ֹֽתיו׃8 7 Denn bei JHWH ist die Gnade, groß ist bei ihm die Erlösung. 8 Er erlöst Israel von all seiner Schuld.535
531 „Die dem Psalmisten vertraute Gattung des Klageliedes ist dazu geeignet, seine Situation der Verlorenheit und Entfremdung aufzugreifen. Doch wird diese Gattung im Verlauf des Psalms von innen heraus aufgesprengt und auf ein neues Aussageziel hingeordnet: dem Glaubenden, den die Isolation von Gott grund- und haltlos werden läßt, in einer erneuerten Gottesbeziehung neu Beheimatung und Identität zu schenken.“ Daher „wird man den Psalm […] als Vertrauenspsalm weisheitlicher Prägung zu verstehen haben.“ Sedlmeier, Franz, „Bei dir, da ist die Vergebung, damit du gefürchtet werdest“. Überlegungen zu Ps 130, in: Biblica 73, 1992, 473–495; 482. 532 Eine detaillierte Auslegung, die erklärt, dass es sich bei den Wassertiefen nicht um eine bestimmte konkrete, individuelle Bedrängnis handelt, sondern um eine permanente grundsätzliche Gefahr der Entfernung von Gott durch menschliche Schuld an sich, findet sich bei Jeremias, Psalm 130, 287. 533 „‚Gottesfurcht‘ ist eine nicht mehr zu steigernde Beschreibung eines intakten Gottesverhältnisses.“ AaO., 290. 534 Zum seltenen und insgesamt nur in jungen Texten zu findenden Begriff der Erlösung vgl. Sedlmeier, Vergebung, 480. 535 Sedlmeier sieht die Vv.7–8 als eine redaktionelle Hinzufügung an einen Grundpsalm bestehend aus den Vv.1–6 an. Er begründet dies mit dem Auftauchen der kollektiven Größe Israel im Gegensatz zum „Ich“ in den Vv.1–6. M.E. ist dieses Argument nicht ausreichend, um redaktionelles Wachs-
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Auch in diesem Psalm ist die Gottesfurcht eine Haltung, die beim Beter durch die vorausgegangene Tat JHWHs überhaupt ermöglicht wird. Durch den Kontext von Schuld und Vergebung wird deutlich, dass der Mensch in seiner Grundverfassung von Schuldhaftigkeit gar nicht in der Lage wäre, gottesfürchtig zu leben, wenn an ihm nicht das erlösende Handeln geschehen würde, durch das er vor JHWH bestehen und befreit leben kann. Jeremias hebt hervor, dass die Vergebung keine Tat ist, die einmal geschieht und dann für alle Zeit gültig ist, sondern dass sie eher als eine Art Prozess anzusehen ist, in den der Betende immer wieder bewusst eintreten muss: Das Wort, auf das der Beter mit seinem ganzen Leben harrt, ist nicht wie in den älteren Psalmen die Zusage der definitiven Beendigung einer Einzelnot, sondern ist als Zusage der Vergebung ein Wort, auf das der Betende ständig angewiesen ist, ohne das er nicht leben könnte, weil er ohne es aus dem heilvollen Kontakt mit Gott herausgerissen wäre.536
Zwischen Ps 130 und Ps 103 sind sehr starke Parallelen hinsichtlich der theologischen Bearbeitung des Zusammenhanges von Schuld und Vergebung festzustellen, die zum einen terminologische Berührungspunkte aufweisen, zum anderen aber den gesamten Komplex der Gewichtung der Vergebungstat als Gnadenhandeln für das Gottesverhältnis betreffen. Zentral zum Verständnis beider Texte ist sicher auch der Aspekt der Darstellung eines idealen Gottesverhältnisses, in welchem die Gottesfurcht als adäquate Antwort auf das Rettungshandeln JHWHs angesehen wird. Zum Bild eines Ideals gehören die Beschreibung auf der Ebene von anthropologischen und theologischen Grundkonstanten und die Durchlässigkeit der genannten Gruppen von Empfängern in den Psalmen, da ein Idealbild nicht durch individuelle Einzelfälle entsteht. So, wie in Ps 130 das Entstehen und die Konsequenzen der Gottesfurcht von der Seele eines einzelnen Beters auf Israel übertragen werden kann, sind in Ps 103 die Übergänge vom Ich zu einem Wir, zu der Gruppe der Gottesfürchtigen permeabel und konstituieren eine Gemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit durch die Einsicht in JHWHs Gnadentaten besteht.537
tum zu konstatieren, da der einzelne Beter nicht aus der Gruppe Israel herausfällt, sondern zu ihr gehört. Es geht ja gerade darum, dass die Gruppe, die hier Israel genannt wird, aus der Einsicht in Schuld und Vergebung als eine Gruppe von JHWH-Fürchtigen konstituiert wird. Die Ausweitung vom Ich zum Kollektiv gehört zur theologischen Dynamik des Psalms. 536 Jeremias, Psalm 130, 291. 537 Da JHWH-Furcht durch Erkenntnis in die Taten JHWHs besteht, können auch Nichtisraeliten zu JHWH-Fürchtigen werden, wie es z. B. die Seeleute im Jonabuch illustrieren (Jo 1,14f). Allerdings ist die Zugehörigkeit zu den JHWH-Fürchtigen und damit zu den JHWH-Verehrern nicht gleichzusetzen mit einer Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel. Zu diesem Ergebnis kommt Haarmann, der die Hinwendung der Völker zu JHWH untersucht hat. Er hält fest: „Die Kategorie der JHWH-Verehrer der Völker bringt zum Ausdruck, dass der eine Gott JHWH auch Menschen aus der Völkerwelt zu sich hinwendet und auch ihnen der Eintritt in die Gottesbeziehung offensteht. Auch unter den Voraussetzungen des Monotheismus wird so die Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern durch den Topos der Erwählung fortgeführt. Die JHWH-Beziehung steht aber
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In Ps 103 laufen die beiden Stränge von Erkenntnis der anthropologischen und göttlichen Konstanten und die damit verbundene Erkenntnis in die Gnadentaten in der direkten Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit der Geschöpfe an sich zusammen. Sowohl die Rettung aus Todesgefahr als auch die Deutung der Schuld als tödliche Dimension bedingen implizit die Auseinandersetzung mit dem Tod. In Ps 103 aber ist die Vergänglichkeit an sich ein starkes Thema (Ps 103,15–16). Gottesfurcht in Ps 103 ist demnach das Vertrauen darauf, die eigene Endlichkeit des Lebens in JHWHs immerwährender Gnadenzeit aufgehoben zu wissen, welche die Unmöglichkeit eines Zustandes der Exteriorität von der heilvollen Machtsphäre JHWHs bedingt.538 Zusammenfassend wird festgehalten, dass die Gruppe der Gottesfürchtigen in Ps 103 durch die Gnadentaten JHWHs konstituiert wird. Aufgrund des Zusammenhangs der Gnade mit der anthropologischen Verfasstheit des Menschen, bestimmt durch Vergänglichkeit und Schuld, ist die Gottesfurcht ein Prädikat, das potenziell in allen Geschöpfen JHWHs angelegt ist. Das bedeutet, dass die Gottesfurcht nicht durch Gesetzesobservanz entsteht, sondern durch Einsicht in eben diese Verfasstheit und in das rettende Gotteshandeln. Die Vorrangigkeit der Gnade ist unbedingt als ausschlaggebender Impuls zur Gottesfurcht festzuschreiben. Gottesfurcht beschreibt primär eine Haltung als Antwort auf JHWHs Gnade, nicht eine Haltung als Weg zur Gnade. Damit trifft m. E. eine Deutung der Gottesfürchtigen als eine Gruppe von „Gerechten“, die sich durch einen besonders leistungsorientierten Typus von Frömmigkeit auszeichnen, nicht zu. Levin sieht in der Gesetzesobservanz einen Charakterzug einer Gruppe der jüdischen Frömmigkeit im 2. Jh. v. Chr. (speziell der Asidäer), die sich durch die strenge Einhaltung der Gebote bewusst von anderen Juden abgrenzen wollte und sich selbst als „Gerechte“ bezeichnete.539 Diese Gruppe habe, so Levin, in ihrem Sinne den Psalter dahingehend bearbeitet, dass ihnen, den Gerechten, im Gegensatz zu den Frevlern eine besondere Stellung zukomme. Wobei sie von sich nicht nur als „Gerechte“ sprechen, sondern zahlreiche Synonyme benutzen, wie z. B. die Gottesfürchtigen.540 Mit Levin wäre es möglich, das Auftreten der Gottesfürchtigen und ihre Zuschreibung zu den Gesetzestreuen als eine späte Bearbeitung von Ps 103 zu verstehen, welche den
allen, Israeliten und JHWH-Verehrern der Völker offen.“ Haarmann, Volker, JHWH-Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alttestamentlichen Überlieferungen, AThANT 91, Zürich 2008, 282. 538 Ps 103 bewegt sich wie Ps 130 und auch Ps 111 durch die Notwendigkeit der Einsicht in die beschriebenen Zusammenhänge von Schuld und Vergebung, Vergänglichkeit und Ewigkeit usw. in einer weisheitlichen Konzeption von Gottesfurcht, welche die Erkenntnis als wichtigstes Instrument auf dem Weg zu ihr ansieht (Spr 1,7); vgl. dazu Spickermann, Hermann, Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie, FAT 91, Tübingen 2014, 45–54. 539 Vgl. Levin, Christoph, Das Gebetbuch der Gerechten. Literargeschichtliche Beobachtungen am Psalter, in: Ders., Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament, BZAW 316, Berlin/New York 2003, 291–313; 305. 540 Vgl., aaO., 307.
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Psalm in das Konzept des „Gebetbuches der Gerechten“541 eingliedert. Im Sinne der oben beschriebenen Herleitung der Gottesfurcht ist eine Zuordnung zu diesem Konzept nur schwer denkbar, da der Gottesfurcht in Ps 103 keinerlei apologetische Funktion zukommt und eine bewusste Tendenz zur Abgrenzung von den Frevlern, die in den anderen von Levin herangezogenen Psalmen den Kontrast zu den Gerechten bildet, überhaupt kein Thema darstellt.
5.11.3.3 Bundesbewahrung und Gedenken der Anordnungen Wie bereits dargestellt, legen es der עולם-Begriff und die Generationenfolge nahe, von der priesterlichen Bundestheologie als Hintergrund für die Bundesbewahrung auszugehen. Wie fügt sich dann aber der zweite Teil der Adressaten ein, der diejenigen beschreibt, die der Anordnungen gedenken, indem sie sie tun? Zunächst sind die Parallelen in der Formulierung des Sabbatgebotes in Ex 31,16; Ex 20,8 und Dtn 5 auffällig, welche im Gebrauch der Verben bestehen. Mit זכרwird das Sabbatgebot in Ex 20,8 eingeleitet und die Infinitivkonstruktion לעשותfindet sich in Ex 31,16 und Dtn 5,15. Mit dem Tun der Anordnungen verhält es sich ähnlich wie mit dem Tun des Sabbats. Es ist ein ungewöhnliches Tun, da die Anordnungen nach dem Befund der untersuchten nachexilischen Texte nicht einfach nur einzelne Gesetzesvorschriften darstellen. Für das Tun reiner Gesetzesvorschriften hätte es aus der dtn-dtr Terminologie eine ganze Reihe von Begriffen gegeben, wie sie z. B. in der Wendung zur Bundesbewahrung gebraucht werden. Wie der Sabbat sind auch die פקדיםeng mit schöpfungstheologischen Vorstellungen konnotiert, dies konnte vor allem an Ps 111 und auch an Ps 19 durch den Zusammenhang mit dem Sonnenlauf gesehen werden. Dient der Sabbat als Mittel zur Erkenntnis und zur Teilhabe an der mythischen JHWH-Zeit, durch die alle kosmologischen Abläufe strukturiert werden, scheinen die Anordnungen auf die Organisation abzuzielen, die sich in der wohlgeordneten Schöpfung zeigt. Dies betrifft sowohl die Beständigkeit und Weisheit, mit der JHWH die Abläufe der Natur eingerichtet hat, als auch die sozialen Bestimmungen des Handelns, die sich in Kategorien von Gerechtigkeit vollziehen sollen. Durch die Verbindung der Anordnungen mit dem Adjektiv ( ישרgerade/gerecht), die in Ps 19,9; 119,128; 111,7f zu sehen ist, zeigt sich motivisch ein Zusammenhang zu den Gerechtigkeitstaten in V.17 und damit auch zu der Rechtsprechung für die Unterdrückten in V.6. Es lässt sich also davon ausgehen, dass das Gedenken und Tun der Anordnungen ein dementsprechendes soziales Verhalten zur Folge hat, das allerdings nur im Spiegel der JHWH-Taten ausgeführt werden kann. Weil JHWH seine Gerechtigkeitstaten ausübt und diese durch das Gotteslob immer wieder erneut verkündet werden, weiß Israel um die Bedeutung dieser Taten und wird befähigt, sie selbst auszuführen. Ganz ähnlich lässt sich auch hinsichtlich der Einsetzung und Inganghaltung einer heilvollen 541 AaO., 311.
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Schöpfungsordnung argumentieren. Israel selbst kann zwar keine Schöpfungswerke entstehen lassen und wird die Phänomene der geschaffenen Natur nie bis ins Letzte ergründen können, wohl aber erkennen, dass sich alles aufgrund des sorgfältigen Inspizierens und Organisierens JHWHs in geordneten Bahnen vollzieht. Das Gedenken und Tun der Anordnungen bedeutet also auch, sich als Teil dieser so gearteten Schöpfung zu verstehen und den Status als Geschöpf anzuerkennen, der vor allem durch die Sterblichkeit geprägt ist (Ps 103,15f). Werden beide Stränge bedacht, scheint es kein Zufall zu sein, dass Gedenken und Tun zum einen in dieser Reihenfolge gebraucht werden und zum anderen in Zusammenhang miteinander gebracht werden. Im Gedenken ist der Prozess angelegt, der von der Erkenntnis zur Tat führt.542 Die Anordnungen sind zum einen Strukturen, die gegeben sind und erkannt werden müssen und können und zum anderen daraus resultierende Forderungen. Es zeigt sich also eine Komplexität von umfassenden Erkenntnis- und Handlungsprozessen, die viel mehr beinhalten als eine schlichte Aufforderung, Gebote zu halten.543 Darauf weist vor allem die Stichwortbeziehung der Wurzel זכרzu V.14 hin, das Gedenken JHWHs der Sterblichkeit des Menschen. Das Gedenken der פקדיםvon Israel kann nicht unabhängig von dem theologischen Zusammenhang betrachtet werden, der zwischen den von JHWH als vergänglich geschaffenen Geschöpfen und seinem Gnadenhandeln an ihnen vorliegt. Das Tun der Anordnungen wird dadurch zu einem Handeln, das sich im Vertrauen auf eine Teilhabe an der ewigen Gnade JHWHs vollzieht. Es ist durch dieses Fundament gänzlich anders zu bewerten als ein Tun, das dazu führen soll, die Gnade JHWHs zu erwirken. Eine in priesterlichen Traditionen gedachte Form der Bundesbewahrung steht daher nicht im Kontrast zum Gedenken und Tun der Anordnungen, zumal beides in den gemeinsamen Horizont des Gnadenhandelns eingebettet ist.544 Es stellt sich die Frage, warum die Bundesbewahrung an dieser Stelle überhaupt noch genannt wird? Geht man einen Schritt zurück in die Texte, die wie Jer 14 und Lev 26 damit ringen, wie der Bund nach der als Schuld gedeuteten Katastrophe des Exils als entscheidender Faktor in der Wiederherstellung eines heilvollen Gottesverhältnisses gedeutet werden kann, ist mit Ps 103 ein Schritt darüber hinaus getan. Eine nahezu ideale Form des Gottesverhältnisses, die in Ps 103 im 542 Dies konnte an Ps 111 gesehen werden – vermutlich wie an keinem anderen Psalm – indem an dem Verb עשהsowohl strukturell als auch inhaltlich der Prozess gezeigt werden konnte, wie sich aus dem Handeln JHWHs die Handlungskompetenz Israels entwickelt. 543 Die Verantwortlichkeit im Handeln für die Inganghaltung der von JHWH eingesetzten Abläufe, welche die göttliche Schöpfung widerspiegeln, hat sich bei dem Begriff פקדim Kontext des levitischen Kultdienstes und der Rolle des Mose als Stellvertreter JHWHs beim Heiligtumsbau gezeigt. 544 Den Gedanken der den ganzen Psalm bestimmenden Gnade, von der her die Bundestheologie und das Tun der Anordnungen gedacht werden, übersieht Schnocks, wenn er an dieser Stelle die auf die Seite Israels verlagerte Bundesbewahrung als Gesetzesobservanz deutet. Vgl. Schnocks, Johannes, „Verworfen hast du den Bund mit deinem Knecht“ (Ps 89,4). Die Diskussion um den Bund in Ps 89 und dem vierten Psalmbuch, in: Dohmen, C./Frevel, C. (Hg.), Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel, SBS 211, Stuttgart 2007, 195–202; 199.
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Gotteslob ausgedrückt wird, wird ganz am Gnadenhandeln JHWHs festgemacht und nicht mehr an der Bundestheologie. Ist in Lev 26 und Jer 14 der Väterbund noch der einzige Hoffnungsgrund, dem zugetraut wird, das Gottesverhältnis zu garantieren, wird die Bundesbewahrung als Ausdruck des Vertrauens in die Gnade, die JHWH als Schöpfer und gerechter König Israel zukommen lässt, auf die Seite Israels verlagert. Diese Form der Bundesbewahrung kann durchaus verwirklicht werden, denn wie das Tun der Anordnungen besteht auch sie vorrangig in der Teilhabe und erst in einem zweiten Schritt in der Verantwortung. Für alle drei Texte Lev 26, Jer 14 und Ps 103 ist das Verb זכרentscheidend, das in Lev 26 und Jer 14 für das Bundesgedenken JHWHs gebraucht wird und in Ps 103 für das Gedenken der Anordnungen von Israel und dem Eingedenksein JHWHs hinsichtlich der Sterblichkeit seiner Geschöpfe Verwendung findet. In allen drei Texten ist der Akt des JHWH-Gedenkens die eigentliche Tat der Konstitution und Restitution einer gelingenden Relation zu seinem Volk. Weiterhin war in Lev 26 und Jer 14 die Verknüpfung der Motivik von Bundestheologie und Präsenz JHWHs durch die tempeltheologischen Symbole Thron/Wohnung und Namen festzustellen, die auch in Ps 103 erkennbar ist. Ps 103,19 schließt an die Bundesbewahrung in V.18 an durch die Feststellung, dass JHWH seinen Thron im Himmel festgemacht habe und sein Königreich über alles herrsche. Wird die Motivkombination von Bundestheologie und Präsenz JHWHs, wie sie in Jer 14 und Lev 26 vorliegt, bedacht, ergeben die beiden Verse einen sinnvollen Zusammenhang. Durch die Präsenz und die Herrschaft JHWHs und zwar über den ganzen Kosmos, die in Ps 103 explizit als Gnadenherrschaft charakterisiert wird, ist der Bund so beschaffen, dass er die Menschen in diese Präsenz einbindet. Die besondere Prägung von Ps 103 besteht darin, dass der himmlische Hofstaat, der um JHWHs Thron versammelt ist, die wichtige Funktion erfüllt, das irdische Israel mit in diese JHWH-Präsenz hineinzunehmen, was im folgenden Kapitel detailliert ausgeführt wird. Der heilige Name JHWHs als weiteres Zeichen der Anwesenheit JHWHs wird mit dem gesamten Inneren/der gesamten Mitte des Menschen gelobt (Ps 103,1). Diese Aussage schließt an die Beschreibung der Präsenz JHWHs in Jer 14,9 „Und du bist in unserer Mitte, JHWH, dein Name, über uns ist er genannt“ an. In Ps 103 hat das betende Ich seine Mitte zum Namen hin ausgerichtet und so JHWH zur Mitte seines Lebens gemacht. Insgesamt wird also deutlich, dass die Bundestheologie in den hier behandelten nachexilischen Texten nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Spannung von priesterlichen und dtn-dtr Traditionen besteht, sondern auch in eine größere Motivik eingebunden ist, die ihrerseits im Diskurs der Texte untereinander Anknüpfungspunkte bietet, die sogar relevanter sein können als die Rede vom Bund an sich (zu nennen ist hier sicher auch Ex 31). Für Ps 103 spielt die gesamte Motivik, die an diesen Texten herausgearbeitet worden ist, eine wichtige Rolle und die Rede vom Bund ist nur ein Element unter anderen geworden.
Ps 103,17–18: Bedingte Gnade?
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5.12 Ergebnisse Die in der Überschrift gestellte Frage, ob die Gnade in Ps 103 an Bedingungen geknüpft ist, kann nach dieser Erörterung mit einem klaren ‚Nein‘ beantwortet werden. Auch wenn auf den ersten Blick angenommen werden könnte, die Gnade müsste durch Bundesbewahrung und Gesetzesfrömmigkeit erarbeitet werden, muss diese Sicht durch den Hintergrund von Ps 103,17f, der durch die Traditionen der Kontexte entsteht, revidiert werden. Außerdem spricht die starke Verbindung der Verse 17–18 zum Mittelteil des Psalms für eine stringente Auslegung der Gnadentheologie, die nicht durch eine dtn-dtr Hintertür wieder umgegangen wird. Überhaupt scheint ein Denken in sich einander ausschließenden oder zumindest stark voneinander abgrenzenden, konkurrierenden Vorstellungen von priesterlicher Gnadentheologie und dtn-dtr Vergeltungshandeln in Ps 103 überwunden zu sein. Die Konzeption der Gnade bietet die Möglichkeit eines theologischen Gesamtentwurfes, der die geschichtlichen Erfahrungen von Anspruch und Scheitern im Gottesverhältnis integrieren kann, aber darüber hinaus trägt. Dies wird möglich durch die grundsätzliche Festschreibung des Überhangs der Gnade und ihre Auswirkung an der Grundverfasstheit des ihrer bedürftigen Menschen. Am Begriff der Gnade zeigt sich die theologische Leistungsfähigkeit, verschiedene an sich mit hoher Geltung verbundene Vorstellungen zusammenzudenken und ihnen in ihrem Zusammenspiel eine neue Prägung zu geben. Zu nennen sind hier die Auseinandersetzung mit der Bundestheologie in Väter- und Sinaitraditionen im Zusammenspiel mit dem nach vielen Seiten schillernden Begriff der Anordnungen, der sowohl priesterlich-weisheitliche Toratraditionen als auch starke schöpfungstheologische Implikationen verbindet. Aus diesem Konglomerat heraus entsteht eine aufwendige Theologie, die eben nicht auf der Oberfläche von Ps 103,17f stehen bleibt, sondern durch die protokanonischen Texte hindurch gelesen werden muss. Wie diese Theologie allerdings in ihrem gesamten Erscheinungsbild aussieht, wird erst durch den im Alten Testament einzigartigen Schlussteil des Psalms deutlich, der im folgenden Kapitel die Exegese vervollständigt und ihre Profilierung aufzeigt.
6. Ps 103,19–22: Der Himmlische Gottesdienst
6.1 Der Aufbau von Ps 103,19–22 Im Schlussteil des Psalms wird in vier sehr dichten Versen die Szenerie eines himmlischen Gottesdienstes beschrieben, in dessen Zentrum JHWH als König und Schöpfer und seine ihn preisenden himmlischen Wesen stehen. Die Vv.19–22 bestehen aus einem Rahmen (Vv.19.22), der mit V.22 in Entsprechung zu Vv.1–2 auch die Grenzen des ganzen Psalms markiert, und einem Mittelteil (Vv.20–21). Vers 19 erfüllt eine doppelte Funktion: Zum einen knüpft er durch das Thronmotiv thematisch eng an Vv.17f an, da eine Verbindung von Gottespräsenz und Bundestheologie festgestellt worden ist. Er ist daher durchaus als stringenter Abschluss des Mittelteils anzusehen. Zum anderen dient er aber auch als Einleitung in die Szenerie der himmlischen Welt, die im Schlussteil entwickelt wird. Aus diesem Grund wird er in der Gliederung zu den Schlussversen gezählt, aber unter dem Vorbehalt der engen Zusammengehörigkeit mit dem Mittelteil.
6.1.1 Der Rahmen Das Thema des Rahmens ist die Königsherrschaft JHWHs, die vom Himmel in universaler Macht ausgeübt wird, wobei der Thron ( )כסאals Herrschersitz JHWHs im Himmel fest installiert ( )כוןist. In V.19 wird die Leserichtung ganz in den Himmel gelenkt, bis sie über die „Werke“ in V.22, eine Größe, die sowohl himmlische als auch irdische Werke meint, wieder zum einzelnen menschlichen Individuum zurückgeführt wird ( נפשיV.22). In V.22 steht durch die Konzentration auf die „Werke“ JHWH nicht nur als König, sondern auch als Schöpfer im Mittelpunkt. Beide Rahmenverse zusammen verhindern jeglichen Zweifel, dass es irgendeinen Bereich geben könnte, der nicht vom Gotteslob erfüllt ist, denn JHWHs Herrschaft herrscht über alles (V.20) und an allen Orten seiner Herrschaft wird JHWH von allen Werken gepriesen (V.22). Die Ausübung der Herrschaft und ihre Auswirkung, nämlich das Lob des Herrschers und das dem zugrunde liegende Motiv der Beziehung von Schöpfer und Geschöpf, sind einander so zugeordnet, dass der Schlussteil des Psalms ein ideales Verhältnis beider Größen abbildet.
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Durch den Abschluss des Psalms mit dem Lobpreis der einzelnen Seele kann sich jeder Beter als einen Teil der gesamten Schöpfung verstehen und ist durch den gemeinsamen Lobpreis nicht nur funktional mit den himmlischen Wesen verknüpft, sondern partizipiert auch an ihrem Idealzustand. Die einzelne Seele in V.22 ist noch immer, wie schon ausgeführt, nicht unabhängig von der kollektiven Größe Israel zu sehen. Durch ihre Eingliederung in die Abfolge der Schöpfungsordnung von himmlischen Wesen, über alle Werke der Schöpfung zur einzelnen Seele, wird allerdings durch die Betonung der Geschöpflichkeit eine Möglichkeit zur Identifikation mit allen Betern des Psalms geschaffen. Durch ihre Nennung am Schluss wird außerdem wieder auf den Anfang des Psalms verwiesen, so dass gleich erneut in den segnenden Lobpreis und in eine Meditation über dessen Grund eingestimmt werden kann.
6.1.2 Der Mittelteil Der Mittelteil ist ganz den himmlischen Wesen gewidmet, die in den Vv.20–21(22) in einer für das AT ungewöhnlichen Vielfalt beschrieben werden. In nur drei Versen finden sich fünf verschiedene Bezeichnungen für die Engel (Boten, Helden, Heerscharen, Diener, Werke), deren Titel und Funktion in einen Parallelismus gesetzt sind: 20 Preist JHWH (a), seine Boten (b), Helden von Kraft (b‘), die sein Wort tun, indem sie auf die Stimme seines Wortes hören (c). 21 Preist JHWH (a), all seine Heerscharen (b), seine Diener (b‘), die seinen Willen tun (c).
Es lässt sich ein synthetischer Parallelismus erkennen, da sowohl die Bezeichnungen als auch die Schwerpunkte der genannten Funktionen der Engelgruppen unterschiedliche sind. Beide Verse zusammen bilden eine umfassende Schau auf die Tätigkeit und Verschiedenheit der Aufgaben, die JHWHs himmlische Engelschar in Ps 103 erfüllt. Auch der Rahmenvers V.22 beginnt noch parallel zu V.20f, weitet aber die Perspektive vom Himmel zurück auf die Erde und erweist sich so als Brücke vom Mittelteil zum Abschluss des Psalms und erneut zu seinem Anfang: 22 Preist JHWH (a), alle seine Werke (b), an allen Orten seiner Herrschaft. Preise meine Seele, JHWH.
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6.2 Bezeichnung und Funktion der himmlischen Wesen Ausgehend von der Beobachtung, dass die Auswahl und Zusammenstellung der Engelbezeichnungen für das AT ungewöhnlich ist, werden die einzelnen Titel genauer auf ihre Herkunft und Funktion befragt.545 Aufgrund der vielschichtig ausgearbeiteten Angelologie zur Zeit des zweiten Tempels werden auch die Sabbatopferlieder sowie weitere Texte aus anderen Qumranschriften hinzugezogen. Ausschlaggebend für dieses Vorgehen ist die Beobachtung, dass einige der Titel aus Ps 103 wie die Kombination גברי כחund die Bezeichnung משרתfür die himmlischen Diener im AT nur in Ps 103/104 vorkommen, aber in den Qumrantexten zahlreicher belegt sind. Die Vielzahl an Titeln für die Engel sowohl in den alttestamentlichen Texten als auch in den Sabbatopferliedern wird in dieser Untersuchung nicht als poetisches Stilmittel gesehen, sondern funktional differenziert betrachtet.546 Die folgende Auslegung wird zeigen, dass Ps 103 in seiner Endgestalt als ein Text angesehen werden kann, der auf der Schwelle steht – im Dialog mit zahlreichen alttestamentlichen Texten zu sehen ist, aber auch eine große Nähe zu einer frühen Form der jüdischen Mystik aufweist. Das Verhältnis von Sabbatopferliedern und Ps 103 wird nicht vorrangig wirkungsgeschichtlich behandelt, obwohl der Psalm vermutlich auch als Spendertext für die Lieder fungiert hat. Es wird eher eine gemeinsame Vorstellungswelt angenommen, in welcher die Ideen und Motive des himmlischen Kultes samt den Engeln und ihren Funktionen entstehen und wachsen konnten (in der auch Hi 33 beheimatet ist). Die Frage, die sich im Folgenden stellt, ist demnach die nach der gemeinsamen „geistigen Welt“547. Welche Traditionen finden sich in ihr, wie werden sie aus- und umgestaltet und wie kommt es zur Ausbildung von bestimmten Motiven? Methodisch ist hier festzuhalten, dass die Texte aus dem frühen Judentum, die hier als Diskurstexte herangezogen werden (die Sabbatopferlieder und das Jubiläenbuch), nicht als reine Wirkungsgeschichte betrachtet werden. Ausgehend von der These, dass Ps 103 durch die ausformulierte Angelologie derselben Vorstellungswelt angehört, in der auch die Diskurstexte beheimatet sind, ist ein Verständnisgewinn zu verzeichnen, der aus der Erörterung des größeren Kontextes – eben der gesamten Vorstellungswelt – entsteht. Aus einem späteren Stadium der Weiterentwicklung der Motivik, wie sie z. B. in den immer stärker betonten 545 Einen allgemeineren Überblick über die Funktion der Engel im Judentum und im frühen Christentum gibt Bietenhard, Hans, Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum, WUNT 2, Tübingen 1951. 546 Alexander begründet die Vielzahl der Titel in den Sabbatopferliedern darin, dass sich in ihnen das Abbild des himmlischen Reichtums widerspiegle, allerdings schließt er auch ein bewusstes Einsetzen der Titel an einigen Stellen nicht aus. Vgl. Alexander, Philip, The Mystical Texts, Library Of Second Temple Studies 61, London, New York 2006, 56. Aufgrund der Zuordnung von unterschiedlichen Funktionen der Engel und der, wie sich zeigen wird, bewussten Zusammenstellung in Ps 103 lassen sich m. E. die Titel nur schwer auf ein Stilmittel reduzieren. 547 Steck, Exegese, 126.
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Entsprechungsverhältnissen von himmlischem und irdischem Kult erkannt werden kann, sind Rückschlüsse für das Anfangsstadium zu ziehen. Auch hier geht es primär, wie auch bei der Darstellung der Bundeskonzeptionen, um die Darstellung der Vorstellungszusammenhänge, welche die Texte der gemeinsamen Vorstellungswelt prägen, nicht um direkte sprachliche Abhängigkeiten.
Exkurs: Die Sabbatopferlieder Die stärksten Parallelen zum himmlischen Gottesdienst in Ps 103 sind in den Sabbatopferliedern (Shirot ‘olat ha-Shabbat) zu finden.548 Dabei handelt es sich um einen Zyklus von 13 Liedern, welche die liturgische Ordnung für die ersten 13 Sabbat-Gottesdienste des Jahres darstellen.549 Zur Entstehung kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob die Lieder das Produkt der Qumransekte oder vorqumranisch zu datieren sind.550 Sie sind als Engelliturgie bezeichnet worden, da sie den genauen Ablauf des himmlischen Gottesdienstes beschreiben. Dabei sind die Lieder konzentrisch angeordnet551, beginnen im ersten Lied mit der Einsetzung der Priesterengel, bilden im siebten Lied mit einer siebenmaligen Aufforderung zum Gotteslob den Höhepunkt und enden im dreizehnten Lied mit der detaillierten Beschreibung eines festlichen (Lob-)Opfergottesdienstes.552 Einige Forscher betrachten die Lieder von ihrer Gattung her als „liturgische Aufforderung“, da die Gemeindemitglieder, die weiter keine Rolle in den Liedern spielen, die Engel zum Lobpreis aufrufen.553 Wie genau die Funktion dieser Lieder in Relation zur Gemeinde bestimmt werden kann, ist nicht eindeutig zu beantworten. Hinsichtlich dieses Themas haben sich in der Forschung mehrere kontroverse Diskussions-
548 Schwemer weist auf die zeitliche und thematische Nähe von den Sabbatopferliedern und späten Psalmen hin und nennt dabei auch Ps 103,19–22 aufgrund des Schwerpunktes der Königsherrschaft JHWHs, welches das Leitthema in den Sabbatopferliedern darstellt. Dies ist ungewöhnlich, da das Thema der Königsherrschaft in der Tempelliturgie den Psalmen für die jeweiligen Wochentage vorbehalten ist. Vgl. Schwemer, Anna Maria, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatopferliedern von Qumran, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991, 45–118; 49–52.60. 549 Gefunden wurden die Handschriften in Form von Fragmenten in Qumran Höhle 4 und 11, ein großes Fragment auch in den Grabungen von Masada. Carol Newsom hat alle bisher bekannten Teile der Lieder zusammengestellt, übersetzt, kommentiert und 1985 herausgegeben. Newsom, Carol, Songs of the Sabbath Sacrifice: A Critical Edition, Harvard Semitic Studies 27, 1985. 550 Vermutlich sind sie eher älter als die Qumrangemeinschaft, stellen aber doch einen wichtigen Text für diese dar. Vgl. Schäfer, Peter, Die Ursprünge der jüdischen Mystik, Berlin 2011, 188; bes. Anmerk. 45. 551 Vgl. die Skizzen bei Newsom, Songs, 13.16. 552 Vgl. zur Argumentation, dass es sich in den Sabbatopferliedern nicht um Schlachtopfer handeln kann, Schwemer, König, 112; bes. Anmerk. 182. 553 Vgl. Schäfer, Ursprünge, 188.
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punkte ergeben:554 So bleibt die Frage letztlich ungeklärt, ob die Mitglieder der Gemeinde durch eine Form mystischen Erlebens am himmlischen Kult partizipieren555, oder ob der himmlische Opfergottesdienst als Ersatz für den irdischen dient und eine Überschneidung von himmlischem und irdischem Kult nur durch das Verlesen der Liturgie entsteht.556 Dabei spielt auch eine Rolle, wie der Charakter der Lieder angesehen wird, eher als eine Form von geistlichen meditativen Exerzitien oder als kultisch-performativ.557 Eine ausgewogene und vermittelnde Argumentation in dieser Debatte nimmt Alexander ein, indem er auf den Zusammenhang von religiöser Erfahrung und Exegese hinweist: […] the Sabbath Songs are ergative: they are meant to be performed, a performance calculated precisely to assist the worshipper in appropriating and interiorizing the text. Even if their descriptive content originated in pure exegesis, the performance of that description completely changes the situation; it has the potential to transmute description into experience. […] the function of reciting these numinous songs was probably to induce visionary experience: through reciting them the worshipper on earth was transported to participate in the worship of the angels in heaven.558
554 Einen kurzen Überblick über den Stand der Diskussion gibt Ego, Beate, Le „Temple imaginaire“: Himmlischer und irdischer Kult im antiken Judentum am Beispiel der Sabbatopferlieder, in: VuF, 56. Heft 2, Gütersloh 2011, 58–62. 555 Diese These vertritt z. B. Newsom: „During the course of this thirteen week cycle, the community which recites the composition is led through a lengthy preparation. The mysteries of the angelic priesthood are recounted, a hypnotic celebration of the sabbatical number seven produces an anticipatory climax at the center of the work, and the community is then gradually led through the spiritually animate heavenly temple until the worshippers experience the holiness of the merkabah and of the Sabbath sacrifice as it is conducted by the high priests of the angels.“ Newsom, Songs, 19. Vgl. zum Gedanken der Partizipation weiterhin: Ego, Beate, Der Gottesdienst der Engel – von den biblischen Psalmen zur jüdischen Mystik. Traditionskritische Überlegungen zu den Sabbatopferliedern von Qumran, in: ThLZ 140/9, 2015, 886–893. 556 Schäfer gesteht eine gewisse Art der Partizipation zu, die aber nur den Lobpreis, nicht das Opfer, betrifft: „In diesem Sinne hat das Opfer im Himmel dasjenige auf Erden ersetzt, da keine Hoffnung auf eine Wiederherstellung des vorschriftmäßigen Opferbetriebes im Jerusalemer Tempel mehr besteht. Oder anders gesagt: Was das Opfer betrifft, sind die Engel im Himmel an die Stelle der Menschen auf Erden getreten; von einer Gemeinschaft zwischen Engeln und Menschen bleibt in den Liedern nicht viel übrig: daher die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit, mit der die Qumrangemeinde die Engel auffordert, ihre Pflicht zu tun.“ Schäfer, Ursprünge, 206. 557 Dieser Frage widmet sich vor allem Johann Maier, der Newsom vorwirft, eine Konzentration auf den meditativen Charakter übersehe den Aspekt der Inszenierung und somit die stabilisierende Funktion für den Kult. Vgl. Maier, Johann, Zu Kult und Liturgie der Qumrangemeinde, RQu 14, 1989/90, 543–586. Einen Überblick über diese Diskussion ist zu finden bei: Hamacher, Elisabeth, Die Sabbatopferlieder im Streit um Ursprung und Anfänge der jüdischen Mystik, JSJ 1996, 119–154, 124 f. 558 Alexander, Mystical Texts, 96 [Hervorhebung im Original].
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Die Frage, wie sich himmlischer und irdischer Kult zueinander verhalten, bzw. welche Funktion der himmlische Gottesdienst erfüllt, wird auch an Ps 103 zu stellen sein. Ein erster Schritt in diese Richtung besteht in der Analyse der einzelnen Titel.
6.2.1 Seine Boten מלאךim AT: Der Begriff מלאךist zunächst der unspezifischste Begriff für die Engel, der die meisten Variationen im Gebrauch aufweist.559 Allein von der Bedeutung des Überbegriffs „Bote“ liegt es nahe, als Grundfunktion die Vermittlung zwischen JHWH und den Menschen anzusehen. Die Verortung, sich zwischen Himmel und Erde zu bewegen, zeigt z. B. das Traumbild aus Gen 28, in welchem die Boten auf der sog. Himmelsleiter auf- und absteigen. Die Boten sind in vielen Texten allerdings sehr viel mehr als „nur“ die Überbringer von Nachrichten, indem sie sowohl hinsichtlich ihrer Funktion als auch der Reaktion, die sie auslösen, Ähnlichkeiten mit JHWH aufweisen. In Ex 33 beschließt JHWH, nachdem das Volk sich das goldene Kalb gemacht hatte, nicht mit ihnen weiterzuziehen, da er sie aufgrund seines Zorns vernichten würde.560 Stattdessen sendet er einen Boten aus, der vor ihnen herzieht. Der Bote übernimmt demnach nicht nur die Aufgabe JHWHs, er ist eher eine personifizierte Form von JHWHs Gnade, da JHWH seinen Zorn bei sich behält und nicht ausübt.561 Die Übertragung eines fast gegensätzlichen Auftrags zeigt die Geschichte von der Auffindung des Tempelplatzes in 2Sam 24,15ff, in der JHWH die Pest über Israel kommen lässt und dafür den Engel/Boten des Verderbens aussendet und wieder zurückholt. Auch an dieser Stelle ist zu beobachten, dass das Ringen zwischen voller Bestrafung der Schuld und Selbstbeherrschung562, ähnlich wie in Ex 33, zwar in JHWH selbst passiert, die Ausführung der jeweiligen Handlungen aber durch einen Boten ausgelagert wird. Beide Beispiele verdeutlichen, wie eng JHWH und seine Boten zusammenge hören. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass die Reaktion auf die Boten, z. B. die Furcht oder ein Bekenntnisakt, diejenige ist, die sonst JHWH auslöst.563 Die 559 Eine genaue Auswertung der מלאךBelege findet sich in Mach, Michael, Entwicklungsstadien des jüdischen Engelglaubens in vorrabbinischer Zeit, Tübingen 1992, 37–51. 560 „ […] יתיָך ֑ ִ ם־ק ֵשׁה־ ֔עֹ ֶרף ֶ ֧רגַ ע ֶא ָ ֛חד ֶ ֽא ֱע ֶ ֥לה ְב ִק ְר ְבָּך֖ וְ ִכ ִלּ ְ אַתּם ַע ֣ ֶ […]“ Ex 33,5. 561 Diese Beobachtung ist auch für die sog. Gnadenformel interessant, da in Ex 33,5 zwar nicht direkt von Zorn und Gnade gesprochen wird, aber durch die zeitliche Ansage des Augenblicks die kurze Dauer des Zorns mitgehört werden kann, während das beständige Begleiten durch den Engel die lange Dauer der Gnade in sich trägt. 562 Vgl. zum Begriff der Selbstbeherrschung und zur Wendung „des Übels gereuen lassen“ (2Sam 24,16) Jeremias, Jörg, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, BTHSt 31, Neukirchen-Vluyn 32002, 46.66–68. 563 Vgl. z. B. Gen 16,10–14; Ri 13,21f; Ex 3,2–4.
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Wahrnehmung des Menschen scheint also nicht zwischen Boten und JHWH zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass in der Zeit des Zweiten Tempels an zwei Stellen Priester mit dem Titel מלאךbezeichnet werden.564 In Qoh 5,5 geht es um die Ernsthaftigkeit, mit der Gelübde eingehalten werden und die damit verbundene kultische Reinheit vor dem Priester. Derjenige, der ein Gelübde abgelegt hat, soll nicht in die Situation kommen, vor einem Priester – dem Boten Gottes – einzugestehen, dass er sein Gelübde nicht gehalten und sich somit versündigt hat. Dann würde Gott zürnen und Verderben bringen. Der Bote Gottes ist in priesterlicher Funktion damit betraut, auf die Reinheit der Gemeindeglieder zu achten, bzw. als göttliche Strafinstanz zu wirken. Noch deutlicher wird das Wirken des priesterlichen Gottesboten in der Strafrede gegen die Priester in Mal 2 ausgeführt. In den Versen 5–7 wird auf den Bund JHWHs mit Levi rekurriert, welcher das Idealbild des Verhältnisses zwischen JHWH und dem Priester beschreibt: תֹּורת ֱא ֶמ ֙ת ָהיְ ָ ֣תה ְבּ ֔ ִפיהוּ וְ ַעוְ ָל֖ה לֹא־נִ ְמ ָצ֣א ִב ְשׂ ָפ ָ ֑תיו ַ֤ 6 ישֹׁור ָה ַלְ֣ך ִא ִ֔תּי וְ ַר ִ ֖בּים ֵה ִ ֥שׁיב ֵמ ָעֹוֽ ן׃ ֙ וּב ִמ ְ ְבּ ָשׁל֤ ֹום תֹורה ַיְב ְק ֣שׁוּ ִמ ִ ֑פּיהוּ ֖ ָ ְרוּ־ד ַעת ו ֔ ַ ֹהן יִ ְשׁ ְמ ֙ ֵ י־שׂ ְפ ֵ ֤תי כ ִ ִ ֽכּ7 ה־צ ָב ֖אֹות ֽהוּא׃ ְ הו ֽ ָ ְִ ֛כּי ַמ ְלאְַ֥ך י 6 Treue Weisung war in seinem Mund und Ungerechtigkeit konnte nicht gefunden werden auf seinen Lippen. In Frieden und Aufrichtigkeit ging er mit mir und viel Schuld wendete er ab/hielt er zurück. 7 Denn die Lippen des Priesters bewahren die Erkenntnis, damit sie Weisung suchen können aus seinem Mund, denn der Bote JHWH-Zebaoths ist er.
Die Aufgabe des Priesters ist es nach Mal 2,7, die Erkenntnis zu bewahren, damit bei ihm Weisung gesucht werden könne, weil er der Bote JHWH-Zebaoths ist. Hier bekommt also ein irdischer Priester eine himmlische Prädikation zugesprochen, da er durch seine Toraweisheit und Gotteserkenntnis in große Nähe zu JHWH gerückt ist. Das Stichwort der Nähe zu JHWH, in Maleachi bezogen auf die Erkenntnis und in Qoh 5 auf die kultische „Exekutivgewalt“, könnte die Brücke zu den früheren Botenkonzeptionen im AT darstellen, in denen bestimmte Handlungsoptionen JHWHs auf den Boten übertragen worden sind. Für Ps 103 ist die Verbundenheit des Boten mit der Erkenntnis der Tora und den kultischen Aufgaben ein wichtiger Zusammenhang, da sich Verbindungslinien zu den anderen Engelstitulaturen aufweisen lassen. Zum einen als Anknüpfungspunkt zu den parallel gesetzten mit weisheitlichen Traditionen verbundenen „Helden von Kraft“ und zu den kultischen „Dienern“ in V.21. Gerade die Hinzufügung, seine Boten, die sein Wort tun, verweist in die Richtung der Priester mit Torakenntnis. Der 564 Vgl. zu den beiden Stellen auch Mach, Entwicklungsstadien, 49 f.
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Begriff der Tora selbst wird in Ps 103 zwar nicht genannt, aber außer im Schlussteil an zwei weiteren Stellen assoziativ geweckt: in V.18 werden die פקודים, die in Ps 119 als Synonym für die Tora gebraucht werden, erwähnt und in V.7, JHWH hat Mose seine Wege wissen lassen ()ידע, wird an die JHWH-Erkenntnis erinnert. Auffällig ist, dass in Ps 103 die ursprüngliche Botenfunktion, zwischen JHWH und den Menschen zu vermitteln, nicht explizit genannt wird. Der Psalm bleibt oberflächlich zunächst bei den Beschreibungen der Engel ganz im himmlischen Geschehen verhaftet. Trotzdem ist die Rede von einer Verschmelzung der Konzeption der Boten mit dem himmlischen Hofstaat für Ps 103, wie Mach sie vornimmt565, m. E. nicht ganz zutreffend. Gegen Machs Annahme spricht, dass jede Bezeichnung der Engel im Psalm für sich betrachtet auf unterschiedliche Traditionen anspielt und innerhalb der Verse selbst in der Funktion variiert wird. Bei den מלאךals priesterliche Engel ist die Parallele zu den Sabbatopferliedern gegeben, die den Botentitel im Vergleich zum AT eher sparsam verwenden. מלאךin den Sabbatopferliedern: Der Ausdruck מלאךkommt sechsmal in den Sabbatopferliedern vor, aber immer nur im Plural und nur in einer Constructus-Verbindung, wobei das Nomen rectum die genauere Funktion in der Versammlung der Engel anzugeben scheint.566 Einmal werden die מלאכי דעתinnerhalb einer Aufzählung erwähnt (11QShirShabb 2–1–9 5), deren Titel an Mal 2,7 erinnert. Am sichersten hinsichtlich ihres Einsatzgebietes sind die קודש מלאכיzu bestimmen, da sie in Verbindung zum Thronwagen stehen (4Q405 19 7) und von flammender Erscheinung sind (4Q405 22 9). An dieser Stelle ist der Anknüpfungspunkt eher Ps 104, der aber wiederum mit den Titulierungen Boten und Diener an Ps 103 anschließt. Ps 104,3–4 beschreibt JHWH, der die Wolken als sein Fahrzeug einsetzt, auf den Flügeln des Windes geht und Winde zu seinen Boten und Feuerflammen zu seinen Dienern macht. Auch wenn hier nicht der Thronwagen wie in den Sabbatopferliedern beschrieben wird, könnte an die Begleitfunktion von Feuer und Wind gedacht werden.
6.2.2 Helden und Heer: Jl 2,1–11; Jes 13; Jes 40,26; Jes 42,13 Bevor die Titel Helden von Kraft und Heer(scharen) in ihrer jeweiligen spezifischen Funktion in Ps 103 analysiert werden, kommen die Texte in den Blick, welche die Titel zusammen in Kombination verwenden und etwas über die Relation zwi-
565 „Der Bote verliert dabei [gemeint ist die Verschmelzung der Konzeption des Boten und des himmlischen Hofstaates; Hinzufügung ACF] seinen ausgesprochenen Boten-Charakter und wird zu einem Teil der ,himmlischen Schar‘, wie umgekehrt die Hofstaat-Mitglieder nun in Funktionen und Attributen des Boten begegnen. […] Einzelne Psalmenverse, die bereits zitiert wurden, reihen die ,Boten‘ in den himmlischen Rat ein (Pss 103,20ff; 148,1f; vgl. Ps 89,6–9).“ Mach, Entwicklungsstadien, 52. 566 Die sechs Verbindungen sind aufgelistet in der Konkordanz zu den Engelbezeichnungen in Newsom, Songs, 24.
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schen JHWH und seinen Heerscharen aussagen. Die Wortkombination גברund ( צבאund Synonyme) im Bereich der himmlischen Größen führt vor allem in die Beschreibung von apokalyptischen Kriegsheeren in der JHWH-Tag-Tradition. Zu nennen sind hier insbesondere Jl 2,1–11 und Jes 13. In Jl 2,11 ruft JHWH sein mächtiges Heer zusammen, um an seinem Tag für JHWH den Kampf zu führen: קֹולֹו ִל ְפ ֵנ֣י ֵח ֔ילֹו ִ ֣כּי ַ ֤רב ְמא ֹ֙ד ַמ ֲח ֵ֔נהוּ ִ ֥כּי ָע ֖צוּם ע ֵ ֹ֣שׂה ְד ָב ֑רֹו ֙ יהוה נָ ַ ֤תן ֗ ָ ַ ֽו11 ילנּוּ׃ ֽ ֶ וּמי יְ ִכ ֥ ִ אד ֹ ֖ נֹורא ְמ ֥ ָ ְהו֛ה ו ָ ְִ ֽכּי־גָ ֧דֹול יֹום־י 11 JHWH erhebt seine Stimme vor seinem Heer, ja, sehr groß ist sein Kriegslager, ja, mächtig ist der Ausführende seines Wortes. Ja, groß ist der Tag JHWHs und sehr furchtbar, wer kann ihn aushalten?
Die parallele Formulierung in Psalm 103,20, welche das Ausführen seines Wortes betrifft ()עשי דברו, ist sofort zu sehen. In Ps 103,20 sind es die Helden von Kraft, die in ihrer Heldenhaftigkeit eben auch als mächtig ( )עצוםbeschrieben werden könnten. Das Heer, dessen Anführer JHWH ist, wird zwar nicht mit צבאbeschrieben, aber dafür mit vielen Synonymen567: Die Soldaten dieses Heeres laufen wie Helden (Jl 2,7 )גבריםund steigen auf Mauern wie Krieger (Jl 2,7 )אנשי מלחמה. Ihre Marschordnung ist so gut formiert, dass sie wie eine undurchdringliche stets vorwärtsschreitende Armee erscheinen, die durch nichts aufgehalten werden kann (Jl 2,7–9). Außerdem sprengt ihre zeitliche Dimension (Jl 2,2: „… ihm gleich gab es nichts seit Urzeit und wird es nach ihm nicht geben bis zu den allerfernsten Geschlechtern“568) und räumliche Auswirkung (Jl 2,3: „Wie der Garten Eden ist das Land vor ihm und hinter ihm eine öde Wüste“569) jegliche Vorstellungskraft. Dieses Heer ist nicht nur von unschlagbarer Durchsetzungskraft und erweist sich als gehorsames und effektives Vollstreckungsorgan des göttlichen Wortes, sondern wird mit Attributen ausgestattet, die sonst JHWH zukommen: zum einen die zeitliche Analogielosigkeit (Jl 2,2) und zum anderen die Verwandlung von lebensfreundlicher Schöpfung in Chaos/Ödnis (Jl 2,3). Es lässt sich, wie bei der Konzeption der Boten, eine so große Nähe zu JHWH und seinem Heer feststellen, dass sich seine Handlungsvollzüge in diesem wider-
567 Der verwendete Oberbegriff ist Volk ()עם, was aber vermutlich an der Anknüpfung an Jl 1 liegt. Dort werden die zerstörerischen Heuschrecken als großes und mächtiges Volk beschrieben (Jl 1,6). Vgl. dazu auch Jeremias, Jörg, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, ATD 24,3, Göttingen 2007, 24. 568 Übersetzung: Jeremias, Joel, 20. 569 Übersetzung: Ebd.
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spiegeln. Eine ähnliche Konstellation, innerhalb der gleichen Traditionslinie, findet sich in Jes 13,3.4bβf.: אַפּי ַע ִלּ ֵיז֖י גַּ ֲאוָ ִ ֽתי׃ ִ ֔ בֹּור֙י ְל ַ ִאתי ג ִ ֖יתי ִל ְמ ֻק ָדּ ָ ֑שׁי ַגּ֣ם ָק ָ ֤ר ִ ֲא ִנ֥י ִצֵוּ3 הו֣ה ְצ ָב ֔אֹות ְמ ַפ ֵ ֖קּד ְצ ָ ֥בא ִמ ְל ָח ָ ֽמה׃ ָ ְ ]…[ י4 ל־האָ ֶֽרץ׃ ָ וּכ ֵל֣י זַ ְע ֔מֹו ְל ַח ֵ ֖בּל ָכּ ְ ָבּ ִ ֛אים ֵמ ֶ ֥א ֶרץ ֶמ ְר ָ ֖חק ִמ ְק ֵצ֣ה ַה ָשּׁ ָ ֑מיִ ם יְ הוָ ֙ה5 3 Ich habe befohlen meinen Heiligen, auch habe ich meine Helden gerufen für meinen Zorn/um meinen Zorn zu vollstrecken, meine stolz Frohlockenden. 4bβ […] JHWH Zebaoth mustert ein Kriegsheer. 5 Kommende aus fernen Ländern, vom Ende des Himmels, JHWH und die Werkzeuge seines Zorns, um zu verderben die ganze Erde.
Auch in diesem JHWH-Tag-Text sammelt JHWH sein Kriegsheer um sich, um Verderben über Babel zu bringen. An Jes 13,3 lässt sich ablesen, dass die Heiligen und Helden nicht nur mit der Aufgabe der Kriegsführung betraut sind, sondern auch mit dem Lobpreis wie in Ps 103. JHWH tritt als befehlsgewaltiger Herrscher auf, der die himmlischen Heerscharen wie Werkzeuge einsetzen kann, um seinen Zorn auszuführen. In Jes 42,13 erscheint JHWH selbst, ohne sein himmlisches Heer, als Krieger und Held: יְ הוָ ֙ה ַכּגִּ ֣בֹּור יֵ ֵ֔צא ְכּ ִ ֥אישׁ ִמ ְל ָח ֖מֹות יָ ִ ֣עיר ִקנְ אָ֑ה13 ֹיְביו יִ ְתגַּ ָ ֽבּר׃ ֖ ָ יָ ִ ֙ר ַ ֙יע אַף־יַ ְצ ִ ֔ר ַיח ַעל־א 13 JHWH wie ein Held zieht er aus, wie ein Kriegsmann entfacht [in] Eifer/Kriegslust. Er schreit Zorngeschrei, über seine Feinde erhebt er sich.
Auch im Fortgang dieser Passage, die keine JHWH-Tag-Tradition aufweist, übersteigen die Auswirkungen JHWHs als Krieger und Held menschliche Dimensionen570: Veränderungen der Landschaft (Jes 42,15: Berge werden zur Ebene, Seen und Flüsse trocknen aus) und der Verhältnisse (Jes 42,16: Finsternis der Blinden wird zu Licht). In allen drei Texten, in denen es um den Einsatz der himmlischen Streitkräfte geht, wird von einer die menschliche Erfahrungswelt übersteigenden Zerstörungskraft berichtet, die keinen Zweifel an der kriegerischen Durchsetzungsfähigkeit JHWHs offenlässt. In Jes 40,26 wird der Schwerpunkt allerdings in eine etwas andere Richtung verlagert:
570 Vgl. die kosmischen Veränderungen in Jl 2,10 und Jes 13,10.13: Beben von Himmel und Erde, Verfinsterung der Gestirne.
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Hauptteil: Exegese von Ps 103
מֹּוציא ְב ִמ ְס ָ ֖פּר ְצ ָבאָ֑ם ֥ ִ י־ב ָ ֣רא ֵ֔א ֶלּה ַה ָ אוּ ִמ ֙ אוּ־מ ֨רֹום ֵעינֵ ֶיכ֤ם ְוּר ָ ְשׂ26 אַמּיץ ֔כֹּ ַח ִ ֖אישׁ ֥ל ֹא נֶ ְע ָ ֽדּר׃ ֣ ִ ְשׁם יִ ְק ָ ֔רא ֵמ ֤ר ֹב אֹונִ ֙ים ו ֣ ֵ ְל ֻכ ָלּ ֙ם ְבּ 26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht. Wer hat diese geschaffen? Derjenige, der herausgehen lässt nach der Anzahl ihr Heer. Er ruft sie alle beim Namen, von großer Macht und stark an Kraft, es fehlt nicht einer.
Es geht an dieser Stelle um die Schöpfertätigkeit JHWHs, der sein (astrales) Heer, die Gestirne, schafft und am Firmament auf- und abgehen lässt. Albani spricht an dieser Stelle von einer „schöpfungstheologischen Depotenzierung der Gestirne“571 und liest sie als Polemik gegen Marduk, den babylonischen Götterkönig, der über den Himmel herrscht.572 Jes 40,26 zeigt deutlich, wie eng das Schöpfersein JHWHs mit seiner fortdauernden Herrschermacht zusammenhängt, indem auch hier die Befehlsgewalt über sein Heer betont wird (vgl. auch Jes 45,12). Die Truppen reihen sich im absoluten Gehorsam auf, wenn sie gerufen werden, ohne dass auch nur ein Sternlein fehlen würde.573 Diese Texte, in denen die Titel Heer und Helden für die himmlischen Wesen gebraucht werden, entstammen Kriegstraditionen, die JHWHs Macht darstellen. JHWH selbst ist Schöpfer dieses Heeres und erweist sich somit auch den Göttern der Umwelt als überlegen, sowohl als Krieger als auch als Befehlshaber.
6.2.3 Helden von Kraft גברי כחim AT: Der Ausdruck Helden von Kraft ( גברי כחV.20) ist in dieser Kombination singulär im AT. Die geläufige Constructus-Verbindung ist Helden des Krieges/des Kampfes ( חיל גברי/)מלחמה, in welcher der militärische Kontext klar im Vordergrund steht. Der Begriff גברbeinhaltet militärische Einsatzfähigkeit, das Nomen rectum der
571 Albani, Matthias, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, Bd. 1, Leipzig, 2000, 184. 572 Vgl. dazu auch Hartenstein, Friedhelm, JHWH, Erschaffer des Himmels. Zu Herkunft und Bedeutung eines monotheistischen Kernarguments, in: ZThK 110, Heft 4, 2013, 383–409; 400–404. 573 Albani verdeutlicht, dass der Fokus auf der Macht JHWHs und nicht auf der schöpferischen Zuwendung (er kennt jeden Stern beim Namen) liegt: „Es geht um einen Machterweis. Nirgendwo sonst in DtJes findet man in einer unmittelbaren Wortfolge eine solche ungefüge Ballung der Begriffe für ‚Macht‘ bzw. ‚Kraft‘ im Hinblick auf Gott wie hier – und dies, obwohl DtJes sonst nicht sparsam damit umgeht!“ Albani, Der eine Gott, 125.
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Verbindung כחkann sowohl JHWHs Kraft574 beschreiben als auch die menschliche Kraft. כחals Begriff für die menschliche Kraft wird vor allem verwendet, wenn sich Menschen auf die eigene Leistung und Stärke verlassen und nicht auf JHWH. Nur aus der eigenen Kraft heraus zu handeln ist angesichts JHWHs Macht nutzlos (Ps 33,16; Mi 3,8 als positives Beispiel) und ein Zeichen von Hybris (Jes 10,12–14 und Sach 4,6). Die himmlischen Helden von Kraft erweisen sich deswegen als Helden, weil sie ganz und gar aus JHWHs Kraft leben, an ihr partizipieren und sie nutzen, „um sein Wort zu tun, indem sie auf die Stimme seines Wortes hören.“ In der Konzentration auf das Tun und das Hören des Wortes schwingt eine Doppeldeutigkeit mit, die zum einen die Stimme des Befehlshabers, der sein Heer herausruft und ausziehen lässt (vgl. Jl 2,11; Jes 40,26), meinen kann, zum anderen natürlich den Toragehorsam benennt, das Tun der Gesetze JHWHs. Im Blick auf die Beschreibung der Helden in den explizit kriegerischen Texten, vor allem in Jl 2,1–11, ist der Gebrauch in Ps 103 auffallend friedlich, nahezu gezähmt. Die Verbindung von Toraweisheit und Kraft/Macht ist auch ein starkes Motiv in den Qumrantexten, in denen sich der Ausdruck גברי כחwiederfindet. גברי כחin Qumrantexten: Die Gemeinderegel 1QS, die vermutlich um 100 v. Chr. verfasst ist, zeigt die exponierte Stellung der Erkenntnis Gottes, die durch die Tora offenbart wird. Diese selbst wird als eine Quelle der Macht ( )גברהbezeichnet. Dass die Mitglieder der Qumrangemeinde in der Lage sind, diese Offenbarung zu sehen und dadurch Gott nahe zu kommen, verbindet sie mit den Engeln.575 1QS XI, 5–7: „Ewig Seiendes (6) schaute mein Auge: Kenntnis, welche verborgen vor Mensch(en), Wissen und Klugheit, (verborgen) vor den Menschensöhnen, Gerechtigkeits-Quelle und Sammlung von (7) Macht []גברה.“576
Ähnliche Terminologie weisen die Hodayot, eine Sammlung von Psalmen, auf, die ca. 30 v. Chr. entstanden sind.577 Sie sind für eine Auslegung von Ps 103 von Interesse, da der spezielle Ausdruck גברי כחin ihnen zweimal vorkommt: In 1QH XVI 12 und 1QH XVIII 36–37. Der erstgenannte Psalm lehnt sich vom Motiv der
574 Im Pentateuch ist sie die Kraft, mit der JHWH Israel aus Ägypten geführt hat (Ex 32,11; Num 14,13; Dtn 4,37; 9,29), bei Jeremia ist die Schöpfungskraft JHWHs gemeint: Jer 10,12; 27,5; 32,17; 51,15. In Jes 40,29–31 wird כחgebraucht, um die Umkehrung der Verhältnisse in einer Art der Neuschöpfung zu beschreiben: Die Müden und Schwachen werden durch JHWHs Kraft gestärkt. 575 Vgl. zur Auslegung von 1QS XVI Schäfer, Ursprünge, 183 f. Als Grundlage des Geheimnismotives für die Tora benennt er z. B. Ps 119,18; ebd. Die Parallele zu Ps 119 ist für Ps 103 nicht uninteressant, da dieser durch den Begriff der פקודיםauch mit Ps 103 verbunden ist. 576 Übersetzung aus: Maier, Johann, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer. Band I: Die Texte der Höhlen 1–3 und 5–11, München 1995, 198. 577 Vgl. zu den Hodayot und dem Problem der Gattungen Maier, Qumran-Essener, 47 f.
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Tora und der daraus resultierenden Erkenntnis Gottes als Geheimnis/Mysterium eng an der Sprache von 1QS XVI an. Die Toraerkenntnis ist wie eine Quelle, die im dürren Land Bäume prächtig gedeihen lässt.578 Die Helden von Kraft werden gebraucht, um die Früchte vor Fremden zu beschützen, die nicht in der Lage wären, Gottes Geheimnis zu erkennen: ואתה [א]ל שכתה בעד פריו ברז גברי כח12 ורוחות קודש ולהט אש מתהפכת בל י[בוא ז]ר במעין היים ועם עצי עולם13 … לא ישתה מי קודש14 „12. […] And you, [O G]od, have hedged in its fruit by means of the mystery of strong warriors []גברי כח 13. and spirits of holiness, and the whirling flame, so that no [stran]ger might [come] to the fountain of life, nor with the eternal trees 14. drink the waters of holiness …“579
Die Helden von Kraft können demnach als die Wächter der Toramysterien bezeichnet wären. In der zweiten Hodayot-Stelle ist nicht auf die Funktion der Heldenengel verwiesen, aber sie tauchen in einer Reihung auf, die der in Ps 103 sehr ähnlich ist. Es geht darum, dass der Beter des Psalms in die Unterwelt geführt wird, in der Gott Gericht spricht, welches auch die Engel betrifft: „35. […] my groaning reaches to the deep 36. and searches thoroughly through the chambers of Sheol. And I tremble when I hear of your judgments upon the strong warriors []גברי כח 37. and your case against the host of your holy ones [ ]צבא קדושיכהin the heavens […] 38. and the judgment upon all of your creatures []…[ ]מעשיכה.“580
Es lässt sich dieselbe Reihung von Helden der Kraft, (heilige) Heerscharen und alle Werke ablesen wie in Ps 103. Auch das Motiv einer omnipräsenten Herrschaft JHWHs ist in 1QH XVIII erkennbar, da JHWH über seine himmlischen und irdischen Größen in der Sheol Gericht spricht. In den Sabbatopferliedern kommt der Titel גבורי כחnur einmal vor, allerdings in der Wendung ( גבורי עוז4Q402 1 4), die aufgrund des Kontextes eindeutig auf i
578 Vom Alten Testament her ist eine starke motivliche Parallele zu Ps 1 zu erkennen, in welchem der torafürchtige Beter wie ein Baum gepflanzt an Wasserbächen aufblüht. 579 Übersetzung aus: Schuller, Eileen/Newsom, Carol, The Hodayot, Thanksgiving Psalms. A Study Edition Of 1QHa, SBL 36, Atlanta 2012, 51. 580 Schuller, Hodayot, 59.
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militärischen Gebrauch verweist, nachdem in Fragment 4 ein apokalyptischer Krieg beschrieben wird.581 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verbindung גבורי כחzwar einen kriegerischen Hintergrund aufweist, in Ps 103 aber eher in einem weisheitlichen Sinne eingesetzt wird, welcher die Erkenntnis und das Tun der Tora, das Wort Gottes, als die Quelle für wahre Stärke erkennt. So scheint der Ausdruck auch in den Qumranschriften verstanden und benutzt worden zu sein. Trotzdem bleibt גבורי כחein Ausdruck der Macht und Durchsetzungskraft, allerdings auf die Gnade und nicht auf den Zorn bezogen. JHWHs Gnade ist es, die mit Macht herrscht ()גבר, über die, die JHWH fürchten (V.11). Auch hier ist eine Verbindung von kriegerischer und weisheitlicher Tradition zu sehen, wie sie im Schlussteil von Ps 103 vorkommt: Die himmlischen Helden der Kraft scheinen nicht nur unter der Herrschaft der Gnade zu leben, weil sie gottesfürchtig sind, indem sie JHWHs Wort ausführen, sondern auch an ihr zu partizipieren und durch ihr Tun an ihrer Durchsetzung beteiligt zu sein.
6.2.4 Seine Heerscharen צבאim AT: Bei der Frage nach der Bedeutung des Begriffes צבאbesteht die Schwierigkeit darin, dass es keine weitere Bestimmung gibt (z. B. Heer der Heerscharen, Heer des Himmels oder Heer des Kampfes). Wie auch bei dem Titel der Helden scheint es so zu sein, dass die Funktion, Kriege zu führen, in Ps 103 nicht im Vordergrund steht, da es dafür im Psalm keinen Anknüpfungspunkt gibt. Eher scheint der Aspekt des Gehorsams durch das Attribut die seinen Willen tun und damit zusammenhängend JHWHs Souveränität als Herrscher im Vordergrund zu stehen. Allerdings bildet der Psalm nicht das Ringen ab, JHWH durch die Herrschaft über die himmlischen Wesen gegenüber anderen Göttern zu profilieren (wie in Jes 40,26; 45,12). Auch die Schaffung des Heeres wird nicht explizit erwähnt (wie in Gen 2,1; Ps 33,6; Neh 9,6) – all diese Kämpfe scheinen schon ausgefochten, so dass die treue Untergebenheit des Heeres schlicht und nahezu in hymnischer Form statuiert werden kann. Die Schöpfungsthematik ist im Psalm allerdings nicht ganz ausgeklammert, da die himmlischen Wesen wie die Menschen auch den Werken JHWHs zugerechnet werden (Ps 103,22). Es sind also beide Stränge, Schöpfung und königlicher Befehlshaber (dem im Kult gehuldigt wird), die bei der Terminologie des Heeres in Ps 103 zusammenkommen. In dieser Hin-
581 Vgl. dazu Gzella, Holger, Beobachtung der Angelologie der Sabbatopferlieder im Spiegel ihrer theologischen Voraussetzungen, in: Ephemerides Theologicae Lovanienses, Tomus LXXXVIII, 2002, 469–481; 473 f. Er verdeutlicht an diesem Fragment, dass die Engel in den Sabbatopferliedern nicht nur kultische Funktionen haben.
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sicht steht Ps 103 vor allem Ps 33,6.9 in seiner Konzentration auf das „machtvolle königliche Befehlswort“582 nah: ל־צ ָבאָֽם׃ ְ וּב ֥ר ַוּח ֗ ִ֝פּיו ָכּ ְ ִבּ ְד ַ ֣בר ְי֭הוָ ה ָשׁ ַ ֣מיִ ם נַ ֲע ֑שׂוּ6 :מד ֹ ֽ וּא־צ ָ ֗וּה ַו�ֽיַּ ֲע ִ֝ אָמר וַ ֶיּ ִ֑הי ֽה ֣ ַ ִ ֤כּי ֣הוּא9 6 Durch das Wort JHWHs ist der Himmel gemacht und durch den Atem seines Mundes sein ganzes Heer. […] 9 Ja, wenn er spricht, dann geschieht es, wenn er befiehlt, dann steht es da.
Außerdem ist Neh 9,6 mit dem Schöpfungshandeln JHWHs und der Aufgabe des himmlischen Lobpreises des Heeres zu nennen: ת־ה ָשּׁ ַמיִ ם ְשׁ ֵ֨מי ַה ָשּׁ ַ֜מיִ ם ַ ית ֶ ֽא ָ אַתּ ָע ִ֡שׂ ֣ ָ ֒ה־הוּא יְ הוָ ֮ה ְל ַב ֶדָּך ֣ אַתּ ָ 6 שׁר ָבּ ֶ֔הם ֣ ֶ ל־א ֲ יה ַהיַּ ִמּ ֙ים וְ ָכ ָ֙ ל־א ֶ ֤שׁר ָע ֶ ֙ל ֲ ל־צ ָבאָ֗ם ָהאָ ֶ֜רץ וְ ָכ ְ וְ ָכ וּצ ָ ֥בא ַה ָשּׁ ַ ֖מיִ ם ְלָך֥ ִמ ְשׁ ַתּ ֲחִ ֽוים׃ ְ ת־כּ ָלּ֑ם ֻ אַתּה ְמ ַח ֶיּ ֣ה ֶא ֖ ָ ְו 6 Du JHWH, Du allein, Du hast den Himmel gemacht, den Himmel der Himmel und das ganze Heer, die Erde und alles, was auf ihr ist, die Meere und alles, was in ihnen ist. Du gibst ihnen allen Leben und das Heer des Himmels, vor dir verneigt es sich.
Albani argumentiert, um die himmlischen Heerscharen mit den Gestirnen in Beziehung zu setzen, mit dem Begriffen: „Raum, Zeit, Ewigkeit und Ordnungsmacht“583. Im Blick auf das himmlische Heer in Ps 103 lassen sich diese Aspekte der Gestirne gut übertragen. JHWH ist universaler Herrscher, der sein Heer überall, im Himmel und auf der Erde, einsetzen kann. Es leistet seine Dienste stetig und ist Bestandteil seiner Herrschaft von und bis in fernste Zeiten. Gerade dem Heer kommt durch seine pflichtgetreue und gehorsame Ausübung des Willens JHWHs eine nicht zu unterschätzende Komponente in der Sicherung und in der Durchsetzung der göttlichen Ordnung zu. Bei einer Änderung des Blickwinkels nicht auf die himmlische, sondern auf die irdische Verwendung des Begriffs, ließe sich noch eine Verbindung zu kultischen Traditionen durch die geforderte Reinheit des Heerlagers herstellen.584 Gehorsam
582 Hartenstein, Erschaffer, 403 f. Hier macht Hartenstein deutlich, wie die jüngeren Texte aus den deuterojesajanischen Formulierungen schöpfen und sie weiterentwickeln. 583 Albani, Der eine Gott, 257 f. 584 Vgl. z. B. die Vorschriften in Dtn 23,10–15 zu Verunreinigungen des Lagers. Otto zeigt die Abhängigkeit dieser Stelle von der Heiligkeitskonzeption in Dtn 7,6 und erklärt die Übertragung auf das Heerlager: „Wie der Redaktor auf Dtn 20,1–20, die Abgrenzung Israels als heiliges Volk nach außen, Dtn 21,10–14 folgen lässt, so schließt sich an Dtn 23,10–15 eine Überlieferung zur Reinheit des Heerlagers an, die den Binnenaspekt der Heiligkeit in den Blick nimmt. […] Die Reinheit als Ausdruck der Heiligkeit des Lagers ist gefordert, weil JHWH in seiner Mitte ist. Diese Vorstel-
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und Reinheit sind ferner die beiden Komponenten, die in den Qumrantexten eine hohe Bedeutung haben. צבאund andere militärische Bezeichnungen in den Sabbatopferliedern und 1QM: Zunächst ist festzustellen, dass die Bezeichnung צבאfür die Engel in den Sabbatopferliedern nicht vorkommt, stattdessen gibt es einige wenige Stellen mit militärischer Terminologie, die aus der Beschreibung der Lagerorganisation Israels in Num 2;10 stammen.585 Die Übertragung dieser Einteilung auf die Engel ist auch in der Kriegsrolle 1QM zu sehen586, die aber auch den Begriff צבאfür die apokalytischen Kriegsengel gebraucht.587 Warum in den Sabbatopferliedern der Begriff צבאnicht benutzt wird, darüber lässt sich nur spekulieren; vermutlich hat es etwas damit zu tun, dass die Durchsetzung der Königsherrschaft JHWHs in den Sabbatopferliedern eher in der liturgischen Vereinigung zwischen Engeln und Menschen und im Gehorsam zum göttlichen Wort verwirklicht wird als mit kriegerischen Mitteln.588
6.2.5 Seine Diener משרתim AT: Mit der Wendung „seine Diener, die seinen Willen tun“ bewegt sich der Psalm sowohl in kultischen als auch königlichen Traditionen. Die Grundfunktion des Dienens ist erwartungsgemäß zwischen einem König und seinen Bediensteten zu suchen (z. B. 2Sam 13,17; 1Kön 10,5; Est 2,2; 6,3). Auch JHWH hat Diener, die allerdings das Kultpersonal darstellen, die Priester und Leviten. In 1Chr 16,4 wird die Aufgabe der Diener, JHWH Lobpreis darzubringen, erwähnt: Und er gab vor die Lade JHWHs (einige) von den Leviten als Diener, damit sie rühmen, preisen und loben JHWH, den Gott Israels.
Nur die Priester und die Diener aus den Leviten dürfen in das Haus JHWHs gehen, da sie heilig sind (2Chr 23,6). In Jes 61,5f wird die Begrenzung auf die Leviten lung wurzelt in dem bereits in Dtn 7,21; 20,4 entfalteten Gedanken, JHWH ziehe inmitten seines Volkes in den Kampf.“ Otto, Eckart, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsform in Juda und Assyrien, BZAW 284, Berlin/New York 1999, 231–233; 232. 585 Vgl. Newsom, Songs, 29. Sie führt folgende militärische Begriffe auf: ( מחני אלוהים4Q400 2 2), ( דנליהם4Q405 22 14), ( פקודיהם4Q405 22 14). 586 Vgl. Newsom, Songs, 320. 587 Vgl. Schäfer, Ursprünge, 169–177. 588 Im Gegensatz zu kosmischen Kämpfen „scheint ShirShabb eher die Reinheit und Heiligung der Welt durch Gesetzesgehorsam zu fokussieren (4Q400 1 i,5ff; 4Q402 4 3ff).“ Gzella, Angelologie, 475. i
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aufgehoben und ganz Israel zur Priesterschaft berufen, während die Fremden die landwirtschaftliche Arbeit verrichten: Fremde werden eure Herden weiden, Ausländer werden eure Bauern und Winzer. Ihr aber werdet Priester JHWHs genannt, Diener unseres Gottes wird man zu euch sagen […].
JHWH macht nicht nur Menschen zu Dienern, sondern auch Feuerflammen (Ps 104,4), wobei das Feuer auch ein Zeichen für JHWHs Heiligkeit ist (Ex 3; 19) und somit zu den kultischen Begriffen gezählt werden kann. Der משרתals Begriff für den himmlischen Diener kommt nur in Ps 103 (bzw. Ps 104,4) vor, erklärt sich aber sowohl durch die Betonung der Königsherrschaft JHWHs als auch durch eine Übertragung der Kultbegriffe auf den himmlischen Gottesdienst, wie es vor allem in den Sabbatopferliedern zu sehen ist. משרתin den Sabbatopferliedern: In den Sabbatopferliedern ist die Verwendung der Bezeichnung „Diener“ für die priesterlichen Engel ähnlich zu der Funktion der Priester und Leviten in der Chronik. Diener werden die Engel genannt, die direkt im Innersten des Heiligtums vor JHWH, dem König, ihren Dienst tun: … ]קורב במקדש מלכותו] משרתי פנים בדביר כבודו „Und sie wurden zu Priestern für ihn [im inneren Heiligtum seiner Königsherrschaft], Diener des Angesichtes589 im Debir seiner Herrlichkeit …“ (4Q400 1 i 4)
כוהני קורב משרתי פני מלך קודש[
]קדשים
„Priester im Inneren, Diener vor dem König der Heiligkeit.“ (4Q400 1 i 8)
]…[ כסאיכה כבוד מלכותו וכל עדת משרתי „[…] heilige Throne seiner Königsherrschaft und die ganze Versammlung von Dienern.“ (4Q405 23 i 3)
589 Der Ausdruck Diener des Angesichtes lässt an die in der jüdischen Mystik häufig gebrauchte Bezeichnung Engel des Angesichtes denken. Im Jubiläenbuch ist von Angesichtsengeln die Rede, welche vermutlich, nach Schäfer, die vier höchsten Engel meinen, die in der direkten Nähe zu Gott sind. Vgl. zur Funktion und Herkunft der Angesichtsengel Schäfer, Ursprünge, 181–183. Newsom ist sich nicht sicher, ob die Bezeichnung Diener des Angesichtes ein eigener Titel ist oder nur eine Modifikation darstellt zur Wendung dienen vor. Vgl. Newsom, Songs, 98.
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6.2.6 JHWHs Wille/Wohlgefallen Verstärkt wird der kultische Hintergrund noch durch den Begriff רצון, der im AT häufig mit der Opferpraxis verbunden ist.590 Ein Opfer findet dann Wohlgefallen vor JHWH, wenn es kultisch rein ist (Lev 1,3; 19,5; 22,19.20.21.29). Im sog. Tritojesaja können auch Opfer von Fremden Wohlgefallen vor Gott finden (Jes 56,7; 60,7). In den Psalmen müssen Opfer nicht nur materiell sein, sondern auch in einer inneren Haltung und im Gebet bestehen (Ps 19,15; 51,19) und trotzdem Wohlgefallen hervorrufen. Aus diesem Grund lässt sich vermuten, dass sich hinter dem Tun des göttlichen Willens in Ergänzung zum Tun des Wortes die Opfertätigkeit in Form des Gotteslobes verbirgt, weil in Ps 103 sowohl die himmlischen Wesen als auch jeder einzelne Mensch, wie überhaupt alle Schöpfungswerke, aufgerufen werden. Der Aufruf zum irdischen und himmlischen Lob sowie das Tun des göttlichen Willens als eine Kategorie des Opfers führen in die Thematik der „Metaphorisierung“591 von Kultbegriffen. Dabei ist es wichtig, festzuhalten, dass es nicht nur um eine innere Haltung oder eine Form von persönlicher Frömmigkeit geht, die keine weiteren Konsequenzen hätte.592 Dies zeigt ein anderer Aspekt, der sich mit dem Begriff רצוןverbindet. רצוןist auch eine Aussage über die Qualität der Königsherrschaft JHWHs, da er einen Handlungsmodus in JHWH selbst bezeichnet. Wenn JHWH aus seinem רצוןheraus handelt, qualifiziert dieser die Zeit als eine des Wohlgefallens/der Gnade (Jes 49,8 ;רצון בעתJes 61,2 ;רצון שנהPs 69,14 )רצון עת. Das Handeln im Modus des רצוןwirkt stärkend (Ps 89,18), beschützend (Ps 5,13) und versorgend (Ps 145,16) und zeigt die Zugewandtheit und Verantwortung JHWHs als Schöpfer und König.593 Wie stark רצוןals Äquivalent zur Gnade gesehen wird, zeigt Ps 30,6 – eine Variation der sog. Gnadenformel:
590 Vgl. zum kultischen Hintergrund Radebach-Huonker, Christiane, Opferterminologie im Psalter, FAT 2. Reihe, Bd. 44, Tübingen 2010, 72. 591 Vgl. zu diesem Begriff Hartenstein, Friedhelm, „Spiritualisierung“ oder „Metaphorisierung“? Zur Erforschung der Transformation von Kultbegriffen in den Psalmen, VuF 56, Heft 2, Gütersloh 2011, 52–58. 592 Gerade diesen Aspekt hebt Radebach-Huonker hervor, indem sie betont, dass der „spiritualisierte Opferkult“ zwar eine Reaktion auf die Zerstörung des Tempels und die Exilszeit, bzw. die Diasporasituation, darstellt, aber deswegen kein privater Ersatzkult geworden ist. „Die Ausrichtung auf Gebet und Gotteslob ermöglicht einen Kult, der unabhängig von äußerlichen Veränderungen und nicht an den Zweiten Tempel als Vollzugsort gebunden ist. Die Fokussierung auf Gebet und Loben Gottes bedeutet dabei eine Individualisierung des Kultes, jedoch kein Abgleiten der persönlichen Beziehung zu Gott in eine strikt private Frömmigkeit, da das Gotteslob öffentlichen Charakter hat und eine wichtige Rolle für das Volk Israel spielt.“ Radebach-Huonker, Opferterminologie, 235 f. 593 Wie stark der Begriff רצוןmit der Ausübung von königlicher Herrschaft verbunden ist, zeigt auch seine Verwendung in den Sprüchen. In Pr 14,35; 16,15; 19,12 wird die Erweckung des Wohlgefallens durch Gehorsam, Klugheit und Frömmigkeit mit lebensbringender Gnade identifiziert.
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אַפֹּו ַח ִיּ֪ים ִבּ ְר ֫צֹונ֥ ֹו ָ ֭בּ ֶע ֶרב יָ ִ ֥לין ֶ֗בּ ִכי וְ ַל ֥בֹּ ֶקר ִר ָנּֽה׃ ֮ ִ ֤כּי ֶ ֨רגַ ע ְבּ6 „Denn einen Augenblick in seinem Zorn, ein Leben (lebenslang) in seinem Wohlgefallen. Am Abend übernachtet das Weinen, aber zum Morgen ist Freude.“
Die Funktion der Heerscharen, die vor allem im Gehorsam liegt, und der Diener, JHWHs Willen zu tun und damit seinen Wohlgefallen zu erwecken, ist mehr als eine Floskel und betrifft nicht nur die himmlische Atmosphäre. Sie kann vielmehr als eine Maßnahme zur Stabilisierung der durch Gnade geprägten Königsherrschaft angesehen werden, deren (irdische) Ausführung im restlichen Psalm in verschiedenen Kategorien expliziert wird.
6.2.7 Seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft מעשהim AT: In der Grundfunktion bezeichnet מעשהalles, was geschaffen ist, sowohl von Menschen als auch von JHWH. Das von JHWH Geschaffene umfasst die Räume Himmel und Erde sowie die darin befindlichen Lebewesen. Dass auch die himmlischen Wesen unter die Titulatur מעשהgefasst werden, hat vor allem die Auslegung des Begriffes des Heeres gezeigt. Anhand Ps 33,6 („Die Himmel sind durch das Wort JHWHs gemacht und ihr ganzes Heer durch den Atem seines Mundes.“) lässt sich sehen, dass die Engel genau wie die Menschen durch den Atem JHWHs lebendig werden (Gen 2,7). Ps 103 scheint es mit der Nennung der מעשהam Herausstellen von Gemeinsamkeiten der himmlischen und irdischen Wesen zu liegen, die beide unter der Königsherrschaft JHWHs versammelt sind und immerhin dieselbe Funktion des Lobens haben. Dies ist ein wichtiger Faktor für die Selbsterkenntnis des einzelnen Menschen als Geschöpf in einer ihn in Zeit und Raum umgebenen und ihn überdauernden von JHWH geschaffenen Welt. מעשהin den Sabbatopferliedern: An drei Stellen findet sich die Bezeichnung מעשהfür die Engel, einmal wie in Ps 103 mit dem Suffix der 3. pers. sg. („seine Werke“) in 4Q403 1 i 35 und zweimal innerhalb einer Constructus-Verbindung ( כבודו מעשיin 4Q405 23 ii 12594 und מעשי רוחin 4Q400 1 i 5).595 In 4Q403 geht es um die Mächtigkeit Gottes, die an der Schöpfung der göttlichen Wesen demonstriert wird und durch die Gott sich als mächtigste Größe der Himmlischen erweist: 594 Hier wird die Einsetzung der Engel als himmlische Priester, in der eine Gruppe aus den מעשי רוח besteht, und die Übergabe der Gesetze an sie beschrieben. Newsom gibt zu denken, ob מעשי רוח wirklich die Bezeichnung für die Engel ist, der Begriff könnte auch den Inhalt des Gesetzes meinen, der alle geistigen Angelegenheiten betrifft. Vgl. Newsom, Songs, 99. Dass der Begriff noch zwei weitere Male für die Engel gebraucht wird, spricht m. E. eher für die Titulatur der Engel. 595 Zur Auflistung der Stellen vgl. Newsom, Songs, 27 f.
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הו[א אל אלים] לכול ראשי מרומים מלך מלכ[ים] לכול34 סודי עולמים ברצון דעת לאמרי פיהו יהיו כ[ול אלי רום] למוצא שפתיו כול רוחי עולמים35 ]בר] צון דעתו כול מעשיו במשלחם36 ]
„34. For H[e is God of gods] of all the chiefs of the heights of heaven and King of ki[ngs] of all the eternal councils. {by the intention of} 35. {his knowledge} At the words of His mouth come into being [all the lofty angels]; at the utterance of His lips all the eternal spirits; [by the in] tention of His knowledge all His creatures 36. in their undertakings.“596 (4Q403 1 i 34–36)
Im weiteren Verlauf wird die Reaktion auf die Mächtigkeit Gottes beschrieben, die im immerwährenden Lobgesang besteht. In diesen Kontext, der Aufgabe des Lobgesangs, ist auch 4Q405 23 ii 12 zu verorten. In einem weiteren Lied wird die Schöpfertätigkeit Gottes explizit beschrieben, ohne die Engel direkt als Werke zu bezeichnen. Da beide Texte zusammen Aufschluss über den Zusammenhang sowohl von Gottes König- und Schöpfersein geben als auch über die Relation Gott-Engel-Menschen – beide Motive sind ebenfalls prägend für Ps 103 – soll auch der zweite Text in die Untersuchung aufgenommen werden. Das Ende des fünften Sabbatopferliedes, 4Q402 4 12–15 spricht vermutlich in Abhängigkeit von Deuterojesaja597 von der alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu allen Zeiten umfassenden Schöpfertätigkeit Gottes in Verbindung mit dem Gedanken der Prädestination. כיא מאלוהי דעת נהיו כול [הוי עד ומדעתו] כול12 ]ומזמותיו היו כול תעודות עולמ]ים עושה ראי [שונ]ות13 []לתעודותיהם ואחרונות [ ]למועדיהם ואין בידעים נגלי פלא]להבין לפני ע[שותו ובעשותו לא ישכילו כול14 ] [עושי צדק מה יזום כיא ממעשי כבודו ה]מה לפני[היותם ממחשבתו15 ע
„12. for from the God of knowledge came into being everything [which exists forever. And from his knowledge] 13. [and His purposes have come into existence all the things which were eternally appointed.] He makes the fo[rm]er things [in their seasons and the latter things] 14. [in their due time. And there are none among those who have knowledge who] can discern [His wondrous revelations] before [He makes them. And when he acts, those who do righteousness cannot comprehend]
596 Übersetzung von Newsom, Songs, 212. 597 Newsom nennt Jes 44,6; 66,2 als Referenztexte; Songs, 161. Es wird nicht wörtlich zitiert, aber die prägenden Motive, z. B. das Frühere und das Spätere, sind übernommen und zu einem neuen Text verarbeitet worden. Vgl. dazu auch Schwemer, König, 85.
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15. [that which He purposes. For they are part of His glorious works;] before [even they existed, they were part of His plan.]“598
Schwemer weist darauf hin, dass in dieser Passage, in der es um Gott als Schöpfer geht, dieser weder als König bezeichnet wird noch von seiner Königsherrschaft die Rede ist.599 Dies beobachtet sie auch in dem Lied 4Q403, in dem Gott zwar als König der Könige tituliert wird, der Schwerpunkt seines Handelns aber, die Schöpfertätigkeit, mit dem Titel Elohim verbunden ist.600 Dieser Unterschied ist, nach Schwemer, von Bedeutung, weil durch ihn die Beziehung von Gott und seinen Engeln deutlich festgelegt wird als die des Schöpfers und seiner Geschöpfe. Auch wenn die Engel in den Sabbatopferliedern häufig als Elim bezeichnet werden und die Frage diskutiert wird, ob ihnen selbst Verehrung von den Menschen zukommt601, so ist der Unterschied zwischen Gottes Göttlichkeit und den Engeln, den Göttlichen, immer noch der zwischen Schöpfer und Geschöpfen. Die Engel entstehen gemäß dem Schöpferwillen der Vorsehung Gottes.602
Weiterhin zeigt Schwemer auf, dass Gottes Königsherrschaft sich in und aus seinem Schöpfersein erweist und er aufgrund dieser Doppelfunktion im gottesdienstlichen Lob gepriesen wird. Beide Komponenten müssen sich wechselseitig durchdringen, um Gottes Handeln in Schöpfung und Geschichte beschreiben zu können.603 Genau an diesem Punkt überschneidet sich Ps 103 mit den Sabbatopferliedern, da sich der Rahmen des Schlussteils eben aus dieser Wechselseitigkeit von Königund Schöpfersein zusammensetzt und außerdem beide Elemente auf ihre spezifische Art im Psalm expliziert werden. Brooke verweist auf das Ineinander von Geschichts- und Schöpfungstraditionen in den Qumrantexten, wobei er gerade die Bedeutung JHWHs als Schöpfer als eine Art integrativen Faktor betont. Die von JHWH eingesetzte Ordnung der Schöpfung erlaubt letztlich die Partizipation der Gemeinschaft am Gotteslob der Engel: The cognitive dissonance that may result from their having a minority perspective in late Second Temple period Judaism, and unfulfilled expectations, is accommodated through the
598 Übersetzung Newsom, Songs, 156. 599 Vgl. Schwemer, König, 85 f. 600 Schwemer, König, 96. 601 Für die Sabbatopferlieder ist die Frage nach dem Status der Engel nicht so leicht zu beantworten. Sie sind Geschöpfe und sind Gott dadurch untergeordnet. Trotzdem werden sie als die Göttlichen bezeichnet, was vor allem für die Beziehung zu den Menschen, also der Qumrangemeinde, interessant ist. Eine Übersicht zu dieser Diskussion findet sich bei Schwemer, König, 100, Anmerk. 153. Vgl. zu diesem Thema auch Gzella, Angelologie, 476f, der die Geschöpflichkeit der Engel in den Vordergrund rückt und für eine Art Vorbildfunktion der Engel für die Menschen plädiert. 602 Schwemer, König, 101. 603 Vgl. ebd.
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sense of proximity of the creator through his angelic agents. Since the principal function of angels is to praise God, so the lifestyle of the members of the community is dominated not by the living out of divine action in the world, even though they consider themselves to be the elect, but the Torah-based worship in which the histories of the world, Israel, and the community are integrated under the dominant perspective of the divinely ordered cosmos. All is oriented toward God as universal creator and based in a wider field of thought than ever came to be the contents of the canon.604
6.3 Ergebnisse der Titel Die Untersuchung der einzelnen Titel für die Engel hat gezeigt, dass ihre Zusammenstellung nicht zufällig erfolgt, sondern im Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Funktion zu sehen ist. Die Titel Boten und Helden von Kraft weisen beide eine Affinität zur Toraweisheit auf und zeugen von einer großen Nähe zu JHWH (Übertragung von Handlungen, Partizipation an JHWHs Kraft, Kenntnis der Tora). Ihre in Ps 103 genannte Funktion „sein Wort tun, indem sie auf die Stimme seines Wortes hören“ spiegelt wider, was in den Titeln angelegt ist und was sich auch mit ihrem Gebrauch in späteren Texten deckt. Bemerkenswert ist dabei, dass der Titel Helden von Kraft im AT nur in Ps 103 vorkommt, aber in den Hodayot dreimal verwendet wird. Die Titel Heerscharen und Diener sind eng mit der Königsherrschaft JHWHs verbunden. JHWH ist Befehlshaber und Dienstherr, der in besonderer Verantwortung sein „Personal“ führt. In den Titeln sind zudem kultische Hintergründe zu sehen (Reinheit und Aufgaben der Priester im Allerheiligsten). Die genannte Funktion „seinen Willen tun“ zeigt die Verbindung beider Stränge: durch den Gehorsam und eine adäquaten Ausübung des Kultes wird JHWHs Wohlgefallen erweckt, was sich in der Ausübung seiner Herrschaft niederschlägt. Der Ausdruck Diener für die (priesterlichen) Engel begegnet im AT nur in Ps 103/104, wird aber in den Sabbatopferliedern aufgenommen. Der Begriff Werk bezeichnet sowohl die himmlischen und irdischen Lebewesen und betont einerseits die Unterordnung unter den Schöpfer, andererseits aber auch seine besondere Zuwendung (Barmherzigkeit) und Teilhabe an göttlicher Lebensqualität (Freude). Auffällig ist, dass den Werken in Ps 103 keine weitere Funktion als das Loben zukommt, die Beschreibung eines spezifischen Handelns scheint somit im Schlussteil des Psalms den himmlischen Größen vorbehalten zu sein. Im Folgenden soll das Profil von Ps 103, das sich durch die Untersuchung der Titel ergeben hat, mit dem Inhalt von zwei Sabbatopferliedern verglichen werden.
604 Brooke, George J., Reading the Dead Sea Scrolls, Essays in Method, SBL Early Judaism and Its Literature 39, Atlanta 2013, 226 f.
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6.3.1 Sabbatopferlieder 1 und 12 6.3.1.1 Gesetzesgehorsam der Engel
Hinsichtlich der Konzentration auf die Ausführung des göttlichen Wortes und Willens bieten sich vor allem das erste und das zwölfte Sabbatopferlied zum Vergleich an. Das erste Lied 4Q400 1 i ist schon in der Analyse der Titel herangezogen worden, es beschreibt die Einsetzung der himmlischen Priesterengel in ihr Amt. Das zwölfte Lied entspricht, da es auf das Ende des Zyklus zugeht, thematisch dem Gehorsam der Engel im ersten Lied. Das Erfüllen der göttlichen Satzungen scheint also konstitutiv für das Amt der himmlischen Priester zu sein, sonst würde es nicht an so exponierten Stellen beschrieben werden. 4Q400 1 i 4–6.15f: בעדה לכול אלי4 5 [דעת ובסודי כול רוחות] אלוהים חרת חוקיו לכול מעשי רוח ומשפטי5 ( לקרובי דעתvac) [כבודו לכול מיסדי] דעת עם בינות כבודו אלוהים6 [וחוקי קוד]שים חרת למו בם יתקדשו כול קדושי עד ויטהר טהורי15 [אור לגמו]ל כול נעוי דרך ויכפרו רצונו בעד כול שבי פשע16 א
ד
ש
„4. … In the assembly of all the elim of 5. [knowledge and in the councils of all the] godlike [spirits] He inscribed His statues for all spiritual creatures and [His glorious] judgments 6. [for all who establish] knowledge, the people (who possess) His glorious insight, the godlike beings who draw near to knowledge. […] 15. [Statutes of holi]ness He inscribed for them. By these all the eternally holy ones sanctify themselves. And he purifies the pure ones 16. [of light in order that they may requite] all whose way is perverted. But they propitiate His good will605 for all who repent of sin.”606
An diesen Versen lässt sich die enge Überschneidung mit Ps 103 gut erkennen, da sie die Zweigleisigkeit der Bestimmungen – Gesetz und kultische Reinheit – aufnehmen. Zweimal wird darauf verwiesen, dass Gott seine Satzungen an die Engel übergeben/dauerhaft festgeschrieben hat (Vv.5.15). Die Satzungen werden durch das Verb חרת, das nur in Ex 32,16 vorkommt, mit den zehn Geboten in Beziehung gesetzt. Diese könnten auch in Ps 103,20 mitgehört werden, allerdings nicht durch den direkten Verweis auf Ex 32, sondern in Verknüpfung zu Dtn 4. Aber durch die Nennung des Mose in Ps 103,7 und mit der Gnadenformel in Ps 103,8 ist das
605 Schwemer weist darauf hin, dass רצוןkeine Präposition trägt und deshalb schwer zu übersetzen ist. Sie plädiert aber wegen des Kontextes dafür, „daß die Engel Gottes Willen entsprechend handeln.“ Schwemer, Gott als König, 79, Anmerk. 109. 606 Übersetzung von Newsom, Songs, 93.
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Geschehen am Sinai im Psalm präsent. In Vv.15f wird die Funktion der Engel, die sich an die Gesetzesübergabe knüpft, konkreter ausgeführt. Da hier die Satzungen mit dem Attribut der Heiligkeit versehen werden, sind auch die daran gebundenen Aufgaben der Engel kultischer Art. Sie sind zuständig für die Reinheit im Heiligtum, bei sich selbst und bei den Menschen und entsühnen diejenigen, die bereit sind, sich von ihren Vergehen abzuwenden. Dies ist eine der wenigen Stellen in den Sabbatopferliedern, an der explizit die irdischen Menschen, gemeint ist die Qumrangemeinde607, genannt werden.608 Ps 103,21 ist mit der Beschreibung der Diener, die JHWHs Willen tun sehr dicht an 4Q400 1 i 15f, so dass sich die beiden Verse wie eine Aufschlüsselung dessen lesen, was sich hinter der Wendung in Ps 103 verbirgt. Die Übergabe der Satzungen an die Engel wird im zwölften Lied noch einmal aufgenommen: ואין במה דולג עלי חוק ולוא על אמרי10 נו לוא ירוצו מדרך ולוא יתמהמהו מגבולו- מלך בלי יתכו11 לוא ירומו ממשלוחתו ][ לוא ישפל [ו12 „10. … There is none among them who omits a law; and never against the commands 11. of the King do they set themselves. They do not run from the way or tarry away from His territory. They are not too exalted for His missions; 12. they are not too lowly.“609 (4Q405 23 i 10–12)
Der Fokus des übernommenen Motivs liegt eindeutig auf dem generellen Gehorsam der Engel, nicht auf ihrer konkreten (kultischen) Funktion. Sie weichen den Satzungen nicht aus, überheben sich nicht über diese oder unterlaufen sie in irgendeiner Weise und erweisen sich damit als perfekte Diener des Königs. In Ps 103 wird der Gehorsam der Engel nicht in dieser ausführlichen Form thematisiert. Ihre Funktion wird äußerst prägnant in sehr wenigen Worten beschrieben, wobei die Betonung ganz auf dem liegt, was sie konkret tun: das Wort und den Willen JHWHs ausführen.
6.3.1.2 Der Primat der Gnade Es gibt noch eine zweite auffällige Parallele von Lied 1 und Lied 12 zu Ps 103, welche das Gottesbild betrifft. In beiden Liedern enden die Ausführungen zum
607 „פשא שבי, a phrase deriving from Isa 59,20, becomes [….] a title for the sect.“ Newsom, Songs, 105. 608 Schwemer erklärt, dass die Menschen nur in den ersten beiden Liedern genannt werden, der Schwerpunkt liegt ganz auf dem himmlischen Tempel und auf der himmlischen Liturgie. Vgl. Schwemer, König, 61. 609 Übersetzung Newsom, Songs, 324.
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Gehorsam der Engel in einer Aussage über den Primat der Barmherzigkeit in der Ausübung der Königsherrschaft Gottes: 4Q400 1 i 18: [ח ]סדיו לסליחות רחמי עולמים ובנקמת קנאתו18 ס
„18. […] His [lo]ving kindness [ ]חסדיוfor an eternal compassionate forgiveness [ ;]רחמי עולמיםbut in the vengeance of His jealousy“610
4Q405 23 i 12: 12 כ[י]א ירחם בממשלת עברת כל[ת חרו]נו לוא ישפוט במושבי אף כבודו12 נ
„12. S[ure]ly He will show compassion [( ]ירחםeven) in the dominion of the fury of His [annihilating wr]ath. He will not judge while His glorious anger abides.“611
Beide Verse geben Auskunft über das Verhältnis von Zorn und Gnade im Handeln Gottes und ähneln dabei durch die Betonung des Übergewichtes der Barmherzigkeit der alttestamentlichen sog. Gnadenformel, die hier vermutlich in leichter Umwandlung zitiert wird. Beachtenswert ist vor allem der Ort, an dem die Aussage über die Zornesbegrenzung in den Sabbatopferliedern zu finden ist. Es mutet auf den ersten Blick eher seltsam an, dass sie genau hinter der Beschreibung des mustergültigen Gehorsams der Engel gebraucht wird. Warum sollte hier vom Zorn die Rede sein? Auch, wenn es sich hier schlicht um die Übernahme eines Traditionsstückes handeln sollte, lohnt es sich, der Frage nach dem Zorn nachzugehen. Sie könnte zweierlei bedeuten: In der Übergabe der Gesetze ist schon das Scheitern an ihnen mitgedacht, wie es durch den Zusammenhang zu Ex 32(–34) – Übergabe der Tafeln, Abfall Israels von Gott, Gnadenformel – naheliegt. Oder, aufgrund der Gehorsamkeit der Engel wird die Gnade in Gott hervorgerufen. Dies beträfe dann in einem hohen Ausmaß die Qumrangemeinschaft auf der Erde, da sie gewissermaßen vom ergebenen Dienst der Engel abhängig wäre.612 Dafür spräche auch der Fortgang in Lied 2, welches darauf verweist, dass die Gemeinschaft, zumin-
610 Übersetzung Newsom, Songs, 93. 611 Übersetzung Newsom, Songs, 324. 612 Die wichtige Rolle der Engel als eine Form von Vermittlungsinstanz von Gnade betont auch Alexander, der die Stelle in den Kontext der Opfertheologie setzt: „The angelic priests gather up the offerings, the adoration and the praise of the earthly congregation, and present them to God, and having gained God´s favour and made atonement, they turn and convey God´s good pleasure by blessing humanity in his name. Behind the language of Sabbath Songs lies a sophistical sacramental theology, which sees the earthly, material sacrifices as symbolizing in a form appropriate to our embodied state the spiritual offerings of the true sanctuary in heaven […].“ Alexander, Mystical Texts, 59.
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dest was den Kult betrifft, im Schatten der Engel steht und ihnen unterlegen ist.613 Die Partizipation der Mitglieder der Gemeinschaft am himmlischen Gehorsam würde damit ein Bewusstsein der eigenen Schwäche und eine daraus resultierende Dringlichkeit der Aufforderung des Lobens voraussetzen. Das gemeinsame Lob von Engeln und Gemeinschaft wäre eine Art der Möglichkeit, am himmlischen Kult teilzunehmen. Durch die Erwähnung des Zorns gerät diese Form der Bedürftigkeit der Gemeinschaft nicht aus dem Blick. In Ps 103 ist die sog. Gnadenformel in das Zentrum des Psalms gesetzt, wobei die Themen Gnade und Vergebung Leitmotive sind, die den ganzen Psalm durchziehen. JHWH selbst erscheint als derjenige, der Israel seine Schuld vergibt. Die Mittlerfunktion der Engel scheint in dieser Hinsicht nicht so stark ausgeprägt zu sein. Allerdings könnte das Vokabular in Ps 103,21 darauf schließen lassen, dass die Engel JHWH bei dieser Tätigkeit unterstützen. Die Problemlage ist der der Sabbatopferlieder sehr ähnlich, da sich auch in Ps 103 die Frage stellt, wie sich, trotz des direkten Vergebungshandelns JHWHs, das Tun der Engel und das Tun Israels zueinander verhalten. Diese Frage bekommt umso mehr Gewicht, als diese Konzentration auf das Tun der Engel in anderen alttestamentlichen Texten, in denen der himmlische Kult eine Rolle spielt, nicht vorliegt. Andere vergleichbare Texte nennen nur den Lobpreis als Aufgabe der Engel, wobei dieser, außer als Argument für die Überlegenheit JHWHs, nicht weiter expliziert wird (z. B. Ps 29,1f; Ps 89,6; Ps 148; Neh 9,6). Es gibt jedoch einen Text, der auch ein spezifisches Tun eines Engels an einem Beter in den Mittelpunkt stellt, der im Folgenden untersucht werden soll.
6.4 Die Funktion der Engel in Hi 33,14–30 und Ps 103 6.4.1 Begründung der Textauswahl und Fragestellung Das Kernthema in beiden Texten ist die sich erbarmende Zuwendung JHWHs zu den Menschen, die konkret als Heilung von Krankheit und der damit verbundenen Sündenvergebung (Deutung von Krankheit als Schuld) in der Welt wahrnehmbar wird. In Ps 103 bestimmt diese Thematik in verschiedenen Variationen den gesamten Psalm, wobei der Lobpreis JHWHs aufgrund der gesammelten Erfahrungen, die mit JHWH gemacht worden sind, im Mittelpunkt steht. In Hi 33 wird das Handeln JHWHs exemplarisch an der umfassenden Heilung eines Kranken
613 „6. How shall we be considered [among] them? And how shall our priesthood (be considered) in their habitations? And our ho[lines – how can it compare with] their [surpassing] 7. holiness? [What] is the offering of our mortal tongue (compared) with the knowledge of the el[im? …]“ Newsom, Songs, 111.
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vorgeführt. Auf der Ebene der motivischen und sprachlichen Gestaltung finden sich in beiden Texten große Übereinstimmungen, auch in den weniger gebräuchlichen Beschreibungen der Rettung eines kranken Beters. Wirklich auffällig allerdings ist, dass sowohl in Ps 103 als auch in Hi 33 die Ebene der Engel eingezogen wird, wobei es nicht nur um das Vorhandensein der himmlischen Wesen als Hofstaat eines himmlischen Königs geht, sondern um deren Funktion innerhalb der Ausübung von JHWHs Gnade. So wie es bei der Rettung des Beters in Hi 33 um ein exemplarisches Schicksal geht, ist auch die Funktion eines bestimmten Engels ausgeführt, während in Ps 103 eher ein Überblick über die himmlische Welt gegeben wird. Die Perspektive, unter der beide Texte in einen Dialog treten sollen, betrifft die Frage, warum das Auftreten der Engel (in diesen jungen Texten) als Bindeglied in der Relation Mensch-Gott notwendig wird? In einem ersten Schritt werden die Übersetzung und eine kurze Analyse von Hi 33,14–31 dargestellt, um dann anhand von Gemeinsamkeiten und der je eigenen Profile beider Texte die Frage nach den Engeln zu erörtern.
6.4.2 Hiob 33,14–30: Übersetzung und Gliederung Hi 33,14–30: שׁוּרנָּ ה׃ ֽ ֶ ְר־אל וּ ִ֝ב ְשׁ ַ֗תּיִ ם ֣ל ֹא י ֑ ֵ אַחת יְ ַד ֶבּ ֥ ַ י־ב ְ ִ ֽכּ14 ל־אנָ ִ ֑שׁים ֲ ַבּ ֲחל֤ ֹום ֶחזְ י֬ ֹון ֗ ַליְ ָלה ִבּנְ ֹ֣פל ַ ֭תּ ְר ֵדּ ָמה ַע15 נוּמֹות ֲע ֵל֣י ִמ ְשׁ ָ ֽכּב׃ ֗ ִ֝בּ ְת תּם׃ ֹ ֽ מ ָס ָ ֣רם יַ ְח ֹ ֖ וּב ְ אזֶ ן ֲאנָ ִ ֑שׁים ֹ ֣ אָ֣ז ִי֭גְ ֶלה16 אָדם ַמ ֲע ֶ ֑שׂה וְ גֵ ָו֖ה ִמ ֶגּ ֶ֣בר יְ ַכ ֶ ֽסּה׃ ֣ ָ ְ ֭ל ָה ִסיר17 י־שׁ ַחת וְ ַ֝חיָּ ֗תֹו ֵמ ֲע ֥בֹר ַבּ ָ ֽשּׁ ַלח׃ ֑ ָ ִ יַ ְח ֣שׂ ְֹך ַ ֭נ ְפשֹׁו ִמנּ18 ל־מ ְשׁ ָכּ ֑בֹו וְ ֖ר ֹיב ֲע ָצ ָ ֣מיו ֵא ָ ֽתן׃ ִ הוּכ֣ח ְ ֭בּ ַמ ְכאֹוב ַע ַ ְ ו19 וְ ִ ֽז ֲה ַ ֣מתּוּ ַחיָּ ֣תֹו ָל ֶ֑חם וְ ֝נַ ְפ ֗שֹׁו ַמ ֲא ַ ֥כל ַתּ ֲאָ ֽוה׃20 מֹותיו ֣ל ֹא ֻר ּֽאוּ׃ ָ֗ וּשׁ ֥פּּי ֝ ַע ְצ ֻ יִ ֶ֣כל ְבּ ָשׂ ֣רֹו ֵמ ֑ר ֹ ִאי21 : וַ ִתּ ְק ַ ֣רב ַל ַ ֣שּׁ ַחת נַ ְפ ֑שֹׁו וְ ַ֝חיָּ ֗תֹו ַ ֽל ְמ ִמ ִ ֽתים22 אָדם יָ ְשׁ ֽרֹו׃ ֣ ָ ם־י֤שׁ ָע ֨ ָליו ַמ ְלאְָ֗ך ֵמ ֗ ִליץ ֶא ָ ֥חד ִמנִּ י־אָ ֶ֑לף ְל ַה ִגּ֖יד ְל ֵ ִא23 אתי ֽכֹ ֶפר׃ ִ אמר ְ ֭פּ ָד ֵעהוּ ֵמ ֶ ֥ר ֶדת ָ֗שׁ ַחת ָמ ָ ֥צ ֶ ֹ וַ יְ ֻח ֶ֗נּנּוּ וַ ֗יּ24 לוּמיו׃ ֽ ָ ימי ֲע ֥ ֵ ֻ ֽר ֲט ַפ֣שׁ ְבּ ָשׂ ֣רֹו ִמ ֹ֑נּ ַער ָי ֗֝שׁוּב ִל25 רוּעה וַ ָיּ ֶ֥שׁב ֶ֝ל ֱאנ֗ ֹושׁ ִצ ְד ָק ֽתֹו׃ ֑ ָ ל־א ֨ל ַֹוהּ וַ יִּ ְר ֵ֗צהוּ וַ ַיּ ְ�֣רא ָ ֭פּנָ יו ִבּ ְת ֱ יֶ ְע ַ ֤תּר ֶא26 א־שׁוָ ה ִ ֽלי׃ ֥ ָ ֹ יתי וְ ל ִ אתי וְ יָ ָ ֥שׁר ֶה ֱע ֵ ֗ו ִ אמר ָ ֭ח ָט ֶ ֹ ל־אנָ ִ֗שׁים וַ ֗יּ ֲ יָ ֤שׁ ֹר ַע27 ָפּ ָ ֣דה ַ ֭נ ְפשׁי ֵמ ֲע ֣בֹר ַבּ ָ ֑שּׁ ַחת וְ ַחיָּ תֹי ָבּ ֥אֹור ִתּ ְר ֶ ֽאה׃28 ם־גּ ֶבר׃ ֽ ָ ל־אל ַפּ ֲע ַ ֖מיִ ם ָשׁל֣ ֹושׁ ִע ֑ ֵ ל־א ֶלּה יִ ְפ ַע ֭ ֵ ן־כּ ָ ֶה29 :י־שׁ ַחת ֵ֝ל ֗אֹור ְבּ ֣אֹור ַ ֽה ַחיִּ ים ֑ ָ ִ ְל ָה ִ ֣שׁיב ַ ֭נ ְפשֹׁו ִמנּ30
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14 Denn Gott spricht durch eine Weise und durch eine zweite614, nicht beachtet615 man sie. 15 Durch einen Traum, eine Nachtvision, indem er einen tiefen Schlaf auf Menschen fallen lässt im Schlummer auf dem Lager. 16 Dann öffnet er ein Ohr der Menschen und durch Mahnung an sie616 erschreckt er, 17 um abzuwenden einen Menschen (von) einer Tat617 und Hochmut von einem Mann bedeckt618 er. 18 Er bewahrt seine נפשvor dem Grab, und sein Leben vor dem Dahinziehen durch eine Waffe.619 19 Und er wird ermahnt werden durch Schmerz auf seinem Bett und Streit/Kampf (ist) in seinen Gebeinen unaufhörlich. 20 Es verekelt ihm sein Leben das Brot und seine נפשdie Speise des Begehrens/Lieblingsspeise.620 21 Sein Fleisch schwindet dahin von Ansehnlichkeit und seine Gebeine werden kahl, die (vorher) nicht gesehen worden waren621. 22 Seine Seele nähert sich dem Grab und sein Leben den Todbringenden622.
614 Die Präposition בwird als instrumentalis verstanden, da die Frage verhandelt wird, wie Gott zu den Menschen spricht. Sie findet ihre Konkretion in V.15 (im Traum) und in V.10 (durch Schmerzen). 615 Vgl. zu der Möglichkeit der unpersönlichen Übersetzung Gesenius-Kautzsch § 144b.d. 616 Änderung der Punktation in die Defektivform von מוסר, vgl. Strauß, Hans, Hiob. 2. Teilband 19,1–42,17, BKAT, Band XVI/2, Neukirchen-Vluyn 2000, 248. Das Suffix wird als genitivus objectivus begriffen. 617 In dieser Variante wird V.17a als finale Erweiterung zu V.16 verstanden. Subjekt des Handelns bleibt Gott, אדםist Objekt. Es bleibt die Schwierigkeit der fehlenden Präposition מן, die in dieser Kombination von סורmit Objekt ( )מעשהzu erwarten wäre. 618 Oftmals wird die Wurzel כסהpi’el (bedecken) geändert in ( כלהaustilgen) oder in ( כסחabhauen), vgl. Lauber, Stefan, Weisheit im Widerspruch. Studien zu den Elihu-Reden in Ijob 32–37, BZAW 454, Berlin 2013, 58 f. Für die Beibehaltung von כסהspricht, dass es einen sinnvollen Inhalt ergibt. Hochmut erweist sich in der nach außen sichtbaren Haltung, wird er bedeckt oder verborgen, hat er sein Wesen verloren. 619 Was sich hinter dem Ausdruck בשלח מעברverbirgt, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Wahl denkt an den Tunnel von Siloah und übersetzt mit „den Unterweltsfluß zu durchqueren“. Wahl, Hans-Martin, Der gerechte Schöpfer. Eine redaktions- und theologiegeschichtliche Untersuchung der Elihureden – Hiob 32–37, BZAW 207, Berlin/New York 1993, 60, Fußnote 53. Dies würde gut in den Parallelismus Membrorum passen und evtl. zusammen mit den Todbringenden aus V.22 ein Wortfeld der Unterwelt ergeben, stellt aber trotzdem eine unsichere Deutung dar. 620 Die Übersetzung dieses Verses ist von Lauber übernommen, dem es gelingt, V.20 ohne Textänderung überzeugend zu übersetzen. Lauber, Weisheit, 59. 621 Zur Vorzeitigkeit der perf. pu’al Form von ראהals Relativsatz vgl. Strauß, Hiob, 249; Lauber, Weisheit, 60. 622 Es wird nicht ganz deutlich, wer oder was mit den Todbringenden gemeint ist. Oeming verweist auf die in akkadischen Texten vorkommenden mušmituti „Todbringer“ hin und argumentiert, die Vorstellung, „dass die Sterbenden im Prozess des Sterbens in die Sphäre von Todesgeistern geraten“, sei auch im AT vertreten. Dies belegt er mit den Stellen 2Sam 24,16; 1Chr 21,15; Ps 78,49, in
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23 Wenn es über ihm [dem Menschen]/vor ihm [Gott]623 einen Boten gibt, einen Fürsprecher, einen von tausend, um zu verkünden zugunsten624 des Menschen seine (dessen) Geradheit/Rechtschaffenheit, 24 wird er (Gott)625 sich seiner erbarmen und sprechen: „Kaufe ihn los vom Herabsteigen in die Grube. Ich habe ein Lösegeld gefunden.“ 25 Frisch sein wird sein Fleisch vor Jugend, er wird zurückkehren zu den Tagen seiner Jugendkraft. 26 Betet er zu Gott, ist der ihm wohlgefällig. Er sieht626 sein Angesicht mit Jubel und er (Gott) gibt dem Menschen seine Gerechtigkeit zurück. 27 Gerade/Rechtschaffen627 ist er vor den Menschen und spricht: „Ich habe gesündigt und das Gerade gekrümmt, aber er behandelte mich nicht entsprechend.“ 28 Ausgelöst hat er meine Seele vor dem Hineinfahren in das Grab, so dass mein Leben das Licht schaut628. 29 Siehe all diese Dinge macht Gott zwei-, dreimal mit einem Mann, 30 dass er zurückkehren lässt seine Seele aus der Grube, damit er leuchte im Licht der Lebenden.
denen der המשחית מלךvorkommt. Vgl. Oeming, Manfred, Elihus Auswege – der Antimonolog, in: Oeming, Manfred/Schmid, Konrad, Hiobs Weg. Situationen von Menschen im Leid, BThSt 45, Neukirchen-Vluyn 2001, 83, Fußnote 23. Dieser ist m. E. weniger ein Todesgeist als ein von JHWH geschickter Bote, der als personifizierter Zorn einen Auftrag ausführt. In Hi 33,22 scheint es eher um eigenständige Größen der Unterwelt zu gehen, was sich durch die Parallelisierung mit dem Grab/der Grube nahelegt. 623 Die Präposition עליוwird von den meisten Auslegern mit für ihn übersetzt. Die Grundbedeutung über anzunehmen, erscheint mir sinnvoll, da im Kontrast zu V.22 (dem Nahen ins Grab, also nach unten) die Aufmerksamkeit nun nach oben, ganz auf das himmlische Geschehen gelenkt wird. Sinnvoll wäre auch die Lösung von Hartenstein, der mit vor ihm (Gott) übersetzt und es mit dem Thronbereich Gottes begründet, in dem die himmlischen Heerscharen vor Gott stehen. Vgl. Hartenstein, Angesicht, 87. In beiden Varianten liegt der Schwerpunkt darauf, dass die Präposition עלin das himmlische Geschehen der Fürsprache des Boten vor Gott einführt, wie es im Fortgang des Verses expliziert wird. 624 Vgl. zum Gebrauch des Dativus Commodi als Übersetzung der Präposition לaaO., 87, Fußnote 45. 625 Spätestens jetzt ist das Suffix auf Gott zu beziehen, da es aufgrund der Textdynamik wenig Sinn macht, wenn der Bote sich erbarmt, nachdem er schon die Rechtschaffenheit verkündet hat. Zudem wäre es eine Umkehrung der himmlischen Funktionen, wenn sich der Bote erbarmt und an Gott Aufträge erteilt. 626 ראהhier im Hif ‘il mit Gott als Subjekt zu lesen (vgl. Lauber, Weisheit, 61), ist nicht notwendig, wenn der Parallelismus aufrechterhalten wird, der im ersten Glied das Tun des Beters und im zweiten Glied das Tun Gottes beschreibt. 627 Das Adjektiv ישרanzunehmen legt sich aufgrund des Kontextes nahe, in dem das Wortfeld der Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielt (Vv.23.26.27 [2x]), vgl. Hartenstein, Angesicht, 89. 628 Hartenstein macht darauf aufmerksam, dass es sich bei der Konstruktion ב+ ראהum eine intensivere Form des Sehens handelt und übersetzt daher „schaut mit Lust“, ebd.
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Gliederung: V.14: Exposition: Konflikt – Unverständnis für das Handeln Gottes V.15–18: Erste Weise des Redens: Traum 15–16: Methode: Mahnung im Traum 17: Zweck des Erschreckens: Änderung des Verhaltens 18: Grund: Errettung aus dem Grab V.19–21: Zweite Weise des Redens: Krankheit 19a: Methode: Mahnung durch Krankheit 19b: Stadium I: Streit/Kampf in den Gebeinen 20: Stadium II: Ekel vor Nahrung 21: Stadium III: Abmagerung als sichtbares Zeichen der Krankheit 22: Nahen des Grabes V.23–24: Einsatz des Mittlerengels 23: Einführung des Mittlerengels 24: Erbarmen Gottes: Befreiung aus dem Grab V.25–28: Restitution auf drei Ebenen 25: Mensch: Wiederherstellung der Gesundheit 26: Mensch-Gott: Wiederherstellung der Kommunikation 27–28: Mensch-Mensch: 27: Wiederherstellung des Ansehens (Reue und Zeugnis der Gerechtigkeit Gottes) 28: Verkündigung der Rettung aus dem Grab V.29–30: Schluss: Erkenntnis – Einsicht in das rettende Handeln Gottes
6.4.3 Hi 33,14–30: Analyse und Auslegung 6.4.3.1 Einbettung in den Kontext der Elihu-Reden Die Elihu-Reden bestehen aus einem Komplex von vier Reden (Erste Rede: Hi 33; Zweite Rede: Hi 34; Dritte Rede: Hi 35; Vierte Rede: Hi 36,1–21) und einem Lehrhymnus (Hi 36,22–37.13), der durch einen Prolog (Hi 32) und einen Epilog (Hi 37,14–24) gerahmt wird. Übereinstimmend vertritt die Forschung die These, dass die Reden einen nachträglichen Zusatz zum Hiobbuch bilden. Uneins ist man dagegen in der Frage nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Reden.629 Für eine Datierung der Endredaktion im 3. Jh. v. Chr. gibt es gute Gründe, die sich vor allem aus einer Analyse der weisheitlichen Argumentationsstruktur ergeben und aus der Kenntnis griechisch-hellenistischen Literatur.630
629 Vgl. den Forschungsüberblick in Lauber, Weisheit, 2–40. 630 Vgl. Wahl, Schöpfer, 207; Lauber, Weisheit, 437–440.
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So gesehen wird auch die Kernthematik der Reden verständlich, welche mit der Frage ringt, wie die Wirksamkeit Gottes in der Welt zu erkennen und zu deuten ist. Nach Lauber treffen in den Ausführungen Elihus zwei unterschiedliche Konzepte weisheitlicher Traditionen aufeinander: Zum einen die Überzeugung der grundsätzlichen Verstehbarkeit des göttlichen Handelns durch die richtige Deutung der Erfahrungen (Hi 32–36,21), zum anderen die grundsätzliche Entzogenheit Gottes (36,22–37,13).631 Genau in diese Fragestellung nach Verstehbarkeit und Entzogenheit Gottes lässt sich die Perikope Hi 33,14–30 einordnen und auslegen, was im Folgenden geschehen soll.
6.4.3.2 Der Konflikt in Hi 33,14–30 V.14 benennt in einem Vers den dem Kapitel zugrunde liegenden Konflikt: Er besteht darin, dass Gott auf verschiedene Arten mit den Menschen spricht, diese es aber nicht beachten. Die verwendete Wurzel ( שורhinblicken, etwas genau ansehen) ist eine Vokabel des Hiobbuches (10 von 16 Belegen finden sich dort) und verweist auf eines der Grundthemen des Buches. שורwird in Hiob benutzt, um der Vergänglichkeitsklage Ausdruck zu verleihen und zwar sowohl für gerechte als auch für gottlose Menschen. Beide Gruppen ereilt das gleiche Schicksal, sie sterben und keiner wird sie mehr ansehen können.632 Das Nicht-Ansehen bedeutet nicht nur den physischen Tod, sondern auch den sozialen. Indem der Sterbende nicht mehr gesehen wird und seine Stätte ihn nicht mehr kennt, wird seiner nicht mehr gedacht, so dass auch die Erinnerung an ihn mit ihm zusammen stirbt. In den Elihu-Reden drückt die Vokabel שורexplizit die Relation zwischen Gott und Mensch aus. In dem Redegang Hi 35,1–16 wird sie dreimal verwendet: Hiob soll in den Himmel schauen und die Wolken hoch über ihm ansehen (V.5 )שור, um den Abstand zwischen Gott und den Menschen zu erkennen. Dies ist ein Bild für die Größe und Macht Gottes, die sich nicht mit kleinen Dingen abgibt („Gott wird Nichtiges nicht erhören, und der Allmächtige wird es nicht ansehen [ “]שורV.13). Das Nicht-Sehen bezeichnet also die Kluft eines aufgrund seiner Erhabenheit entzogenen Gottes und eines nicht begreifenden Menschen. In den darauf folgenden, vermutlich sekundären Versen (35,14f) wird trotzdem die Hoffnung geäußert, dass Gott sich in Zukunft der Sache Hiobs annehmen werde, auch wenn er diesen jetzt nicht sieht ()שור.633 Wird das Nicht-Sehen/
631 Vgl. Lauber, Weisheit, 406 f. Ob dies wirklich zwei unterschiedliche Konzepte sind, die zudem noch etwas schematisch auf zwei Textblöcke aufgeteilt werden können, oder eher zwei Aspekte ein und derselben Fragestellung, die in Variation in allen Reden auftauchen, soll an dieser Stelle nicht diskutiert, wohl aber angemerkt werden. 632 Hi 7,7 und Hi 20,9 parallelisieren das Sterben des Gerechten und des Gottlosen. Sie werden von anderen nicht mehr gesehen und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. 633 Vgl. zu dieser Passage Lauber, Weisheit, 246.
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Nicht-Beachten der Redeweisen Gottes auf diesem Hintergrund gelesen, so werden zwei Dinge deutlich: Zum einen ist das Nicht-Beachten nicht nur als Schuld der Menschen zu bewerten, da sich Gott in der Argumentation Elihus als entzogen erweist. Als Konsequenz braucht es einen extremen Grad an menschlichen Erfahrungen (Todesnähe), der so viel Tiefe mitbringt, dass er auf JHWH hingedeutet werden kann, bzw. als JHWHs Handeln in der Welt begriffen wird. Der Grund für die Art eines existenziell bedrohlichen Gotteshandelns ist paradoxerweise die Wiederherstellung von Gottesnähe und heilvoller Kommunikation (V.26). Aus der Erfahrung der Rettung heraus ändert sich dann auch das Verhalten des Beters: Nachdem seine Rechtschaffenheit bezeugt wurde, tritt er selbst als Zeuge des erbarmenden Handelns auf, das ihm widerfahren ist (V.27f). Zusammenfassend wird aus der Wurzel שורin Hi 33,14 die Abgründigkeit des Ringens ersichtlich, wie Gott erkennbar und zugänglich werden kann. Durch das fünfmalige Wiederholen des Nomens Grab/Grube ( )שחתwird die Ernsthaftigkeit und Notwendigkeit des Konfliktes und seiner Lösung sichergestellt. Der Weg dorthin scheint unausweichlich zu sein, ausschließlich am Wahrnehmen und Erkennen des göttlichen Willens als letzte Station vor dem Grab öffnet sich ein Ausweg. In den Abgrund, der zwischen der Erhabenheit JHWHs und einer gewissen Verstocktheit des Menschen, ihn zu erkennen, besteht, wird in Hi 33 ein Bindeglied in Form des Engels eingezogen, dessen Aufgabe in der Vermittlung zwischen Mensch und JHWH besteht. Der Erfolg dieser Vermittlung wird auf den drei Ebenen (Mensch; MenschGott; Mensch-Mensch) sichtbar, wobei vor allem der Wiederherstellung des Gotteskontaktes besondere Bedeutung zukommt. Diese zeige sich, laut Hartenstein, in der Möglichkeit, wieder Zugang zum Gottesdienst zu bekommen und Mitglied der Kultgemeinschaft zu sein.634
6.4.3.3 Titel und Funktion des Engels In nur zwei Versen wird das Auftreten und Wirken des Engels beschrieben, das die lebensrettende Wende für den Beter bringt. Der Engel trägt die Titel מלאךund מליץ, wobei letzterer nur an dieser Stelle im AT vorkommt. Das Ptz hif ’il von ליץist in seiner Grundbedeutung ein Verb der Kommunikation und beschreibt eine Form der Redeäußerung. Welcher Art diese Äußerung sein kann, variiert in einer erheblichen Breite: Von Spotten (Ps
634 „Aufgrund der Erhörung seiner Klage – und nur dann – kann der Leidende sicher sein, wieder Zugang zum Thron Gottes zu haben, erneut ‚sein Angesicht unter Jubelruf schauen‘ zu dürfen (V.26). Die Begriffe » עתרflehen, beten« und » תרועהJubelruf« zeigen, daß Kult und Gottesdienst der reguläre Ort sind, an dem diese Erfahrung der »Gottesschau« ihren Haftpunkt hat.“ Hartenstein, Angesicht, 91.
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119,51; Pr 3,34; 14,9; 19,28; Hi 16,20) über Redeführer sein (Jes 43,27) bis Vermitteln/Mittelsmänner (2Chr 32,31) und Übersetzen (Gen 42,23). Wird damit zunächst die allgemeine Funktion der Kommunikation durch den Titel des Engels zugrunde gelegt, gibt die spezifische Tätigkeit des Engels einen Hinweis darauf, wie diese Art der Kommunikation beschaffen ist. Der Engel verkündet vor Gott die Rechtschaffenheit des Menschen, d. h. er tritt für den Menschen ein und bezeugt seine Geradheit, so dass Gott Erbarmen zeigt.635 Daraufhin wird dem Engel die Aufgabe erteilt, den Menschen aus seinem Elend zu befreien. Erst aufgrund der gestörten Kommunikation zwischen erhabenem Gott und dem aus verschiedenen Gründen unverständigen Menschen wird die Funktion des Engels, ein vermittelndes Bindeglied in der Kommunikation zu sein, sinnvoll. Auffällig ist an dieser Stelle, dass das Tun des Engels nicht in der Terminologie der Rechtsprechung beschrieben wird636, sondern durch das Verkünden eher prophetische und königliche Traditionen aufgenommen werden. Zusammen mit der Reaktion JHWHs, die nicht in einem Rechtsurteil, sondern im Erbarmen besteht, könnte davon ausgegangen werden, dass die Fürsprache des Engels eben doch mehr umfasst als eine Art Rechenschaftsbericht, so dass an die Fürbitte gedacht werden könnte. Interessanterweise sind Aktion des Engels und Reaktion JHWHs in eine Kausalkonstruktion gesetzt, wenn es einen Engel gibt […], dann wird Gott sich erbarmen […]. Der Wenn-Satz – und damit die Voraussetzung des göttlichen Erbarmens – bezieht sich also auf das Vorhandensein des Engels und nicht auf eine Handlung des Beters (Reue, Umkehr usw.). Diese Struktur ruft Anklänge an die prophetische Fürbitte637 hervor (z. B. Ex 34,8f; Am 7,2.5), welche das Überleben des Volkes in einer existenziellen Gefahr sichert. Auch in diesen Situationen hängt das Geschick des Volkes nicht primär an seiner Reue oder Umkehr, obwohl es sich stark verschuldet hat, sondern an der Argumentation des Fürbitters, welche das göttliche Erbarmen erweckt.638 Janowski beschreibt zusammenfassend: 635 Diesen Aspekt lässt m. E. Wahl außer Acht, wenn er die Funktion des Engels als die eines Dolmetschers bestimmt, der nur die göttliche Art des Sprechens (Erschrecken und Krankheit) für den Beter übersetzt, so dass dieser Reue und Umkehr zeigt: „ […] der Heimgesuchte hat die von Gott gesandten Zeichen – die Träume und das Leid – durch den Dolmetscher, den angelus interpres, verstehen und die zur Umkehr befreiende Buße leisten können“. Wahl, Schöpfer, 67. 636 Vgl. mit Hi 16,19–21. Hier rechnet Hiob mit einem Zeugen im Himmel, der ihm vor Gott Recht verschafft. 637 Die Fürbitte als Aufgabe der Engel zeigen auch zwei Passagen aus dem Testament Levi, in denen es heißt: „Im (Himmel) über allen verweilt die große Herrlichkeit, hoch über jeder Heiligkeit. Im nächsten (darunter) sind die Erzengel, die Dienst tun und zum Herrn Sühne darbringen für alle (unwissentlichen) Verfehlungen der Gerechten.“ (TestLev 3,4f) „Ich bin der Engel, der für das Geschlecht Israels bittend eintritt, damit es nicht zertreten wird.“ (TestLev 5,6) Übersetzung von Becker, Jürgen, Die Testamente der zwölf Patriarchen, in: Kümmel, W. G. u. a. (Hg.), Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Unterweisung in lehrhafter Form 3, Gütersloh 2001, 49 f. 638 Weder Mose noch Amos begründen ihre Fürbitte mit einer Umkehr des sündigen Volkes, sondern mit menschlicher Schwäche, welche als erlösungsbedürftig erscheint (Ex 34,9: „… weil es ein halsstarriges Volk ist …“; Am 7,2.5: „… weil es klein ist.“).
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Dieser Grundstruktur interzessorischen Handelns zufolge, ist der Interzessor ein Mittler, der stellvertretend in den durch moralische, religiöse oder rechtliche Verschuldung zwischen Gott und Mensch entstandenen „Riß“ tritt […] in der Absicht, durch sein „Dazwischentreten“ den Vernichtungswillen Jahwes abzuwenden […] und so ein heilvolles Gott-Mensch-Verhältnis zu ermöglichen.639
Der Unterschied zu den prophetischen Texten der Fürbitte ist, dass in Hi 33 die Schuld des Beters nicht so klar zu definieren ist und auch nicht von einer Vernichtung des Beters aus dem göttlichen Zorn heraus die Rede ist. Die Nicht-Erkenntnis JHWHs, die auch seine Versuche, sich dem Beter zu erkennen zu geben, an eine hermeneutische Grenze kommen lassen, scheint das Grundproblem in der Kommunikation zwischen Gott und Beter zu sein. Der Engel tritt also in die Lücke der Welt- und Gotteserkenntnis, die als Gottesferne gedeutet und deswegen auch himmlisch gefüllt wird. Diese Beobachtung wirkt sich auch auf die Perspektive aus, mit der die Frage nach dem Finden des Lösegeldes untersucht wird.
6.4.3.4 Das Lösegeld In der Erörterung der Frage nach dem Lösegeld sollen zwei unterschiedliche Ansätze kurz vorgestellt und diskutiert werden, um einer Antwort näher zu kommen. Janowski deutet das Lösegeld klar als Lebenswandel des Beters, der sich wieder zu Gott hin ausrichtet: Bei dem vom Fürsprecherengel bei dem Todkranken gefundenen „Lösegeld“ […] handelt es sich weder um die Krankheit oder das Leiden […] noch um ein Sühnopfer des Kranken noch gar um ein vom angelus intercessor stellvertretend beigebrachtes Lösegeld, sondern allein um das die Interzession ermöglichende Bußverhalten des Kranken, d. h. um dessen Umkehr.640
Für diese Deutung spricht zunächst, dass sich auch schon die LXX in Hi 33,23 auf die Umkehr des Beters konzentriert und den Text dahingehend verändert hat: ἐὰν ὦσιν χίλιοι ἄγγελοι θανατηφόροι, εἷς αὐτῶν οὐ μὴ τρώσῃ αὐτόν· ἐὰν νοήσῃ τῇ καρδίᾳ ἐπιστραφῆναι ἐπὶ κύριον, ἀναγγείλῃ δὲ ἀνθρώπῳ τὴν ἑαυτοῦ μέμψιν, τὴν δὲ ἄνοιαν αὐτοῦ δείξῃ
639 Janowski, Bernd, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament, WMANT 55, Neukirchen-Vluyn 1982, 150. 640 Janowski, Sühne, 149 f.
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Wenn tausend todbringende Engel da wären, keiner von ihnen würde ihn verwunden, wenn er erkennt/sich vornimmt, das Herz zu wenden zum Herren, dem Menschen seinen Tadel/ Vorwurf verkündigen, den Unverstand dessen (des Menschen) zum Vorschein bringen.
Wie zu sehen ist, geht die LXX allerdings soweit, dass sie den Fürsprecherengel ganz eliminiert und mit den Todbringenden aus V.22 gleichsetzt.641 So wird eine positive Vermittlungsinstanz zwischen Mensch und Gott komplett ausgeschlossen und der Schwerpunkt ganz auf die Umkehr des Beters gelegt. Die Logik der LXX-Variante wird daher gleichzeitig zu einem Argument gegen die Umkehr als Lösegeld: Hängt das Erbarmen Gottes nur an der Umkehr des Beters, braucht es keine dritte Instanz mehr, die Fürbitte einlegt. Ist der Sinn einer Interzession nicht gerade der, dass sie den Tun-Ergehens-Zusammenhang außer Kraft setzt und nicht ein weiteres Glied in seiner Kette wird? Ein weiteres Anzeichen, im Lösegeld die Haltung des Beters zu sehen, besteht in der Verwendung des Begriffs כפרin Hi 36,18. In dieser letzten Rede des Elihu wird die Möglichkeit von Einsicht und Gehorsam des Menschen behandelt, wodurch sich der Unterschied von Frommen und Gottlosen offenbart. Wie in Hi 33 ist es Gott, der das Ohr der Menschen zur Warnung öffnet (Hi 36,10 vgl. Hi 33,16), damit sie sich vom Übel abwenden (Hi 36,10). Die Rede vom Lösegeld fällt in diese grundsätzliche Diskussion und dessen hohe Summe wird angeführt als ein Grund, welcher der Umkehr im Wege stehen könnte: מכוּ׃ ֹ ֽ וּמ ְשׁ ָ ֣פּט יִ ְת ִ ֑את ִ ֖דּין ָ ין־ר ָ ֥שׁע ָמ ֵל ָ וְ ִד יתָך֣ ְב ָ ֑ס ֶפק וְ ָרב־ ֗ ֝כֹּ ֶפר אַל־יַ ֶ ֽטּךָּ ׃ ְ י־ח ָמה ֶפּן־יְ ִ ֽס ֭ ֵ ִ ֽכּ ל ֹא ְב ָ ֑צ ר וְ ֝ ֗כֹל ַמ ֲא ַמ ֵצּי־ ֽכֹ ַח׃ ֣ ֲהיַ ֲע ֣ר ְֹך שׁוּ ֲ֭עָך אַל־תּ ְשׁאַ֥ף ַה ָלּ֑יְ ָלה ַל ֲעל֖ ֹות ַע ִ ֣מּים ַתּ ְח ָ ֽתּם׃ ִ ל־זה ָבּ ַ ֥ח ְר ָתּ ֵמ ֽעֹנִ י׃ ֝ ֶ֗ י־ע ַ אַל־תּ ֶפן ֶאל־אָ֑וֶ ן ִ ֽכּ ֵ֣ ִ ֭ה ָשּׁ ֶמר
17 18 19 20 21
17 Aber weil du erfüllt/voll bist [vom] Richten eines Frevlers [wie ein Frevler], greifen Urteil und Gesetz zu. 18 Ja Zorn, nicht soll er dich anstiften zum Klatschen in die Hände642und die Menge des Lösegeldes soll dich nicht verleiten. […] 20 Lechze nicht nach der Nacht, [in der Völker hinaufziehen sollen anstelle von ihnen.]643
641 Vermutlich ist hier der Gedanke des nahenden Grabes so weit gedacht, dass sich der Mensch schon in der Unterwelt, im Hades, befindet und dort den Engeln begegnet, die nach seiner Schuld suchen und Gericht über ihn sprechen. Vgl. dazu Cimosa, Mario/Bonney, Gillian, Angels, Demons and the Devil in the Book of Job, in: Kraus, W./Karrer, M. (Hg.), Die Septuaginta – Texte, Theologien, Einflüsse, WUNT 252, Tübingen 2010, 543–561; 551. 642 Das Klatschen in die Hände gilt als Geste der Lästerung. 643 Diese Vershälfte ergibt ohne weitreichende Textänderungen keinen Sinn und wird oft weggelassen, vgl. zu diesem Problem und der Übersetzung Lauber, Weisheit, 95, Fußnote 264. Da der Schwerpunkt meiner Argumentation auf der ersten Vershälfte liegt, wird das Problem des Textverständnisses hier nicht diskutiert.
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21 Hüte Dich, wende dich nicht dem Unheil zu, denn gegen dieses wählst du aus dem Elend.644
Trotz der nur schwer zu übersetzenden Passagen in diesen Versen könnte die Ursache für das hohe Lösegeld auf dem Hintergrund der Umkehr in der mühevollen Anstrengung liegen, welche der Sinneswandel mit sich bringt. Ein Mensch, dessen Leben und Handeln durchdrungen, sogar angefüllt ist von der scheinbaren Leichtigkeit der Gottlosigkeit, neigt aus der Perspektive eines weisheitlich geschulten Menschen zu grotesken Fehlschlüssen. Dies zeigen vor allem die Begriffe des Lechzens nach der Nacht und das Wählen aus dem Elend, die im vollen Gegensatz zum Leben aus dem Licht (Hi 33,28.30) und dem Schöpfen aus der Fülle des Guten (Hi 36,16) stehen. Die Überwindung des im Menschen angehäuften gottlosen Verhaltens, also das Lösegeld, scheint zu schwer und die gewohnten Muster (Handeln aus Zorn) zu verlockend zu sein, so dass eine Umkehr kein leichtes Unterfangen darstellt. Eine so deutliche Verbindung zwischen Lösegeld und Umkehr des Beters wie in Hi 36,18 ist in Hi 33,24 nicht klar erkennbar, weil das Auftreten des Engels als dritte Komponente neben dem Beter und dem Erbarmen Gottes genannt wird. Es ist zwar eine veränderte Haltung des Beters im Textverlauf zu beobachten, die in einem doppelten Erkenntnisfortschritt (Selbst- und Gotteserkenntnis) besteht und sich im Bekenntnis des Beters zeigt: „Ich habe gesündigt […], aber er behandelte mich nicht entsprechend.“ (V.27) Aber dieser Erkenntnisprozess, der im gewissen Sinne als Umkehr angesehen werden könnte, ist definitiv in der Handlungsabfolge des Textes eine Konsequenz der Rettungserfahrung und nicht eine Bedingung von der Art eines Lösegeldes.645 Eine ganz andere Vorstellung vom Lösegeld – abgekoppelt vom Umkehrgedanken des Beters – entwickelt Oeming, indem er sich auf den Ausdruck Lösegeld finden ( )מצאkonzentriert.646 Er argumentiert mit der Tradition eines Gnadenschatzes im Himmel, der sich sowohl aus dem Überhang an guten Taten anderer Menschen als auch aus der Überfülle der göttlichen Gnade zusammensetzt, und der vom Engel im Himmel gefunden und Gott als Lösegeld für die Befreiung des Beters angeboten wird.647 Gott lässt sich durch den Fürbittengel, der eigentlich in die Sphäre Gottes gehört, mit Hilfe der vorgewiesenen Verdienste der „Heiligen“, der „Gerechten“ […] Vergebung abringen. Im Letzten ist das gesamte Heilshandeln Werk Gottes; Gott versöhnt sich mit sich selbst (2 Kor 5,19). Der Fürbittengel ist nichts als eine Metapher für diese Seite der Wirklichkeit Gottes.648 644 V.21b ist schwer zu verstehen, kommt aber m. E. ohne Textänderungen aus. Mit dem על זהkönnte gemeint sein: Wenn der Mensch entscheidet, sich zum Unheil hinzuwenden, dann ist er ganz im Bereich des Elends, kann also das Gute nicht mehr wählen. 645 Vgl. Hartenstein, Angesicht, 91. 646 Vgl. Oeming, Antimonolog, 79–93. 647 Vgl. aaO., 88 f.91. 648 AaO., 92.
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Ob es sich wirklich in Hi 33 um einen Gnadenschatz im Himmel handelt, der als Lösegeld fungiert, wird sich wohl kaum entscheiden lassen, da die Information über das Geschehen zwischen Engel und JHWH zu spärlich sind. Die Stärke dieses Ansatzes liegt m. E. allerdings darin, dass Oeming der Frage nachgeht, warum das Geschehen der Rettung des Beters in diesem Text die Figur des Engels notwendigerweise braucht, nämlich zur Deutung einer Wirklichkeit, die sich ohne ihn nicht erschlossen hätte. Gleichwohl betrifft in der Vorstellungswelt des Textes die Funktion des Engels nicht nur den Erschließungsvorgang der erfahrenen Wirklichkeit, sondern auch den Ermöglichungsgrund des Erbarmens. Im Lösegeld eine Form von deuteronomistischer Umkehrthematik sehen zu wollen, erweist sich durch oben genannte Argumente als schwierig, da es noch ein „Mehr“ beinhalten muss, das sich der Logik des Tun-Ergehens-Zusammenhangs entzieht. Wahrscheinlicher ist es, das Zeugnis des Engels an sich als Lösegeld anzunehmen. Schließlich hat sich der מליץunter tausend Engeln finden lassen, um für den Beter einzutreten.
6.4.4 Ps 103 und Hi 33 6.4.4.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Sprache und Motivik Ps 103 beginnt dort, so lässt es sich wohl formulieren, wo Hiob 33 aufhört. Der geheilte Beter könnte nahtlos in das universale Loblied von Ps 103 einstimmen. Der Psalm gibt eine Antwort auf das Ringen um die Frage der Erfahrbarkeit von JHWHs Wirken in der Welt. In den Rettungstaten, die Ausdruck von JHWHs ewiger Gnade sind, ist es erkennbar. Genau das hat der Beter in Hi 33 am eigenen Leib erfahren. Gerade in diesem Komplex von Krankheit und Heilung sowie Schuld und Vergebung finden sich mehrere sprachliche Übereinstimmungen in den beiden Texten: Einige Glieder der hymnischen partizipialen Reihung von Ps 103,3–5 finden sich, aufgrund der verschiedenen Gattungen in etwas anderer sprachlicher Form, in Hi 33 wieder: Das Auslösen ( )גאלdes Lebens aus dem Grab ( )שחתin Ps 103,4 besitzt große Ähnlichkeit zum Leitmotiv in Hi 33,18.22.24.28.30, wobei die engste Parallele wohl das Loskaufen ( )פדהaus dem Grab ( )שחתin Hi 33,28 ist. Das Sättigen mit Gutem (Ps 103,5) ist vom Motiv her betrachtet in Hi 33,20f in Umkehrung vorhanden, indem der Beter selbst vor der Lieblingsspeise Ekel empfindet und bis auf die Knochen abmagert. In beiden Texten ist von der Erneuerung der Jugend (נער in Ps 103,5 und Hi 33,25) zu lesen. Hinsichtlich der Sündenvergebung verwendet das Bekenntnis des Beters in Hi 33,27 eine ähnliche Formulierung wie in Ps 103,10: „Ich habe gesündigt ( )חטאund das Gerade gekrümmt ()עוה, aber er behandelte mich nicht entsprechend.“ (Hi 33,27) „Nicht nach unseren Sünden ( )חטאhat er uns getan und nicht nach unserer Schuld ( )עוןhat er uns vergolten.“ (Ps 103,10) Außerdem gibt es eine Übereinstimmung, die zwischen dem rehabilitierten Beter (Hi 33,26) und den Engeln (Ps 103,21) besteht, welche mit dem Lexem רצה ausgedrückt wird. So wie die Engel durch ihren Gehorsam JHWHs Wohlwollen
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( )רצוןerwecken, so erlangt auch der Beter durch sein Bitten einen funktionierenden Gotteskontakt, der sich im Kult widerspiegelt. Der beiden Texten gemeinsame kultische Hintergrund kommt im himmlischen Gottesdienst und in der irdischen Partizipation durch den gemeinsamen Lobpreis (Ps 103) sowie in der Gottesschau (Hi 33,26.29) zum Ausdruck. Die Kultmetaphorik ist in Hi 33 ausgeprägter als in Ps 103,649 wobei beide Texte den irdischen Tempel und seine Priester nicht erwähnen. Dies verweist auf ein tiefer liegendes Problem, denn der Ort des Wohnens JHWHs ist sowohl in den Elihu-Reden als auch in Ps 103 der Himmel, was Folgen für den Gotteskontakt hat, die ganz unterschiedlich behandelt werden. Für Elihu ist das himmlische Wohnen JHWHs deutlich mit Schwierigkeiten behaftet: 5 Blicke den Himmel an und siehe und erblicke die Wolken, höher sind sie als du! 6 Wenn du gesündigt hast, was tust du an ihm? Und wenn deine Verbrechen zahlreich sind, was tust du ihm? 7 Und wenn du gerecht bist, was gibst du ihm oder was nimmt er aus deiner Hand?“ (Hi 35,5–7)
In Ps 103,11–12.19 heißt es: 11 Ja, wie hoch (der) Himmel über der Erde (ist), ist seine Gnade mächtig über denen, die ihn fürchten. 12 Wie weit entfernt (der) Sonnenaufgang vom Untergang ist, lässt er unsere Freveltaten von uns entfernt sein. 19 JHWH, im Himmel hat er seinen Thron fest aufgerichtet, und seine Herrschaft, über alles herrscht sie.
In Ps 103 führt die Entfernung zwischen Himmel und Erde nicht zur Unterbrechung des Gotteskontaktes, sondern sie wird überbrückt durch die Gnade JHWHs, welche aktiv Vergebung stiftend in das Tun Israels eingreift. Außerdem dient die Nennung des Himmels als Wohn- und Herrschaftsort JHWHs der Darstellung seines unbegrenzten Herrschaftsbereiches, der durch das gemeinsame Lob von himmlischen und irdischen Wesen zusammengehalten und vereint wird. Es gibt also einen Unterschied im Umgang mit der himmlischen Wohnstätte JHWHs, der zwischen der Klage über die entzogene Erhabenheit (Elihu-Reden, insbesondere Hi 33) und dem Lobpreis der omnipräsenten Herrschaft der Gnade festgemacht werden kann. Beide Texte benutzen allerdings das Bindeglied der himmlischen Wesen, um zwischen Himmel und Erde zu vermitteln. Die Texte funktionieren wie ein Spiegelbild von gestörter und idealer Kommunikation, in beiden Fällen kommen den Engeln wesentliche Aufgaben zu. Im ersten Fall leistet der Vermittler Engel die Wiederherstellung des Gotteskontaktes (verbunden mit Heilung und Wiederaufnahme in die Kultgemeinde) und im
649 Vgl. Hartenstein, Angesicht, 91.
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zweiten erfüllen die versammelten himmlischen Wesen zum einen eine Vorbildfunktion, gewährleisten durch ihr Tun aber auch eine kontinuierliche Gottesnähe, an welcher die Beter partizipieren können. Wie die Strukturen der Kommunikation zwischen dem Beter und JHWH mit Hilfe der Engel genauer aussehen, soll im Folgenden erläutert werden.
6.4.4.2 Hi 33 und Ps 103 – gestörte und ideale Kommunikation a) Kommunikation als „Verfugung des Handelns“ (Assmann) Kommunikation betrifft Sprache und Handlung, das Ineinandergreifen beider Stränge macht ihr Wesen aus. Jan Assmann spricht mit einem ägyptischen Begriff von der „kommunikativen Verfugung des Handelns“.650 Dieser Ausdruck erstreckt sich sowohl auf die Dimension der Zeit als auch auf die der Sozialität und Solidarität. Die zeitliche Ausrichtung zeigt sich in der Bedeutung der Erinnerung, „der Präsenthaltung der Vergangenheit, des ,Gestern‘ […]“651, denn durch die Kontinuität von Gestern und Heute kann eine konsistente Form der Kommunikation entstehen. Das soziale Moment besteht in der zugewandten Wechselseitigkeit von Sprachhandlungen, welche als „Reziprozität“652 oder „Füreinander-Handeln“653 beschrieben wird. Die Trennung zwischen diesen beiden Ebenen ist eine künstliche, da sie nur im Ineinander-Verwoben-Sein bestehen. Die funktionierende Verfugung und deren Resultat, hier ideale Kommunikation genannt, bestimmt Assmann als das Wesen von Ma’at (Gerechtigkeit): Was wir […] für unsere Frage nach dem Wesen von Ma’at festhalten wollen, ist die Verknüpfung des Gegenseitigkeitsprinzips („Handeln für den Handelnden“) mit der Zeitdimension („Rückkehr zum Gestern“). Ma’at erscheint hier als die Ordnung bzw. „Verfugung“ des Handelns in der Zeitdimension, also als eine Art Prozeß, der durch Appräsentation des Gestern im Heute in Gang gehalten werden muß. Es muß garantiert sein, daß auch heute gilt, was gestern galt, […]. Ma’at ist also eine den Tag übergreifende, gestern und heute verknüpfende Konsistenz des Handelns, eine Form von aktiver Erinnerung oder erinnernder („anamnetischer“) Aktivität, die Vertrauen und Gelingen ermöglicht.654
Dieser Ansatz scheint besonders geeignet zu sein, um die Strukturen von Kommunikation in den beiden Texten zu analysieren, da sich beide Stränge – Füreinander-Handeln und Zeitlichkeit – aufdecken lassen.
650 Assmann, Ma’at, 61. 651 Ebd. 652 AaO., 64. 653 „Gemeint ist ,solidarisches Handeln‘ im Eingedenksein empfangener Wohltaten und der kommunikativen Verklammerung allen Handelns in der Zeitdimension.“ Ebd. 654 AaO., 69.
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b) Hi 33: Füreinander-Handeln In Hi 33 zeigt keine der Handlungsaufforderungen JHWHs an den Beter, Erschrecken im Traum und Krankheit, das gewünschte Resultat, weil sie nicht als solche verstanden und gedeutet werden. Das Nichthandeln des Beters erzeugt einen Bruch in der Kommunikation, die so keinen Fortgang mehr finden kann, das wechselseitige Füreinander funktioniert nicht mehr. Der Engel springt mit seinem Handeln in genau diese Leerstelle. Im Detail betrachtet besteht die Vermittlungsfunktion des Engels in Hi 33 aus vielen verschiedenen Elementen: Von der räumlichen Dimension her gesehen scheint die doppelte Übersetzungsmöglichkeit der gewählten Präposition עלmit dem Suffix der 3. Person mask. in Hi 33,23 kein Zufall zu sein. Der Engel befindet sich über dem Beter und vor Gott, d. h. er hat im wahrsten Sinne des Wortes eine Zwischenposition und ist damit in der Lage, direkter auf beide Kommunikanten zuzugreifen. Dies ist ein wichtiger Faktor hinsichtlich der Klage über einen Gott, der zu weit entfernt und nicht fassbar ist. Wie der Titel מלאך מליץ nahelegt, ist der Engel Bote und Übersetzer, wobei das Übersetzen unterschiedliche Facetten in sich trägt. Der Übersetzungsvorgang wirkt sich auf den Beter so aus, dass dieser das Geschehen, Krankheit und Heilung in ihren leiblichen und geistlichen Horizonten, auf göttliches Wirken hin durchsichtig machen kann. Es geht nicht nur um das Ereignis an sich, sondern eben immer auch um die Deutung dessen und damit in die Einordnung von größeren Zusammenhängen. Vor dem göttlichen Thron äußert sich das Übersetzen formal in der noch ausstehenden Antwort, die JHWH vom Beter mit seinen Kontaktaufnahmeversuchen gefordert hatte. Dies geschieht in gewisser Weise mit einem Vorsprung an Vertrauen auf die noch kommende Reaktion des Beters und wird so zur Fürsprache, zum Bezeugen einer vorweggenommenen Rechtschaffenheit des Beters, um ihn zu rehabilitieren. Und das ist vermutlich der ausschlaggebende Punkt: der Engel erwirkt durch sein Einstehen für den Beter das göttliche Erbarmen. Aufgrund dieser Wirkmächtigkeit des Engels, die in der Überbrückung der Leerstelle in der Kommunikation besteht, kann diese behoben werden. Von hier aus gewinnt der Charakter der Gnade, die mit Macht herrscht, aus Ps 103,11 eine Konkretion in der Handlungsfähigkeit des Engels. Selbst wenn die Figur des Engels eine hermeneutische Hilfskonstruktion ist, eine, um mit Oeming zu sprechen, Metapher für die Seite in der Wirklichkeit Gottes, welche die Gnade gegen alle Vorbehalte hervorbringt, so ist doch das Resultat der Rettung eine für den Beter reale Erfahrung. Die Kontinuität in der Kommunikation ist wieder gewährleistet, indem der Beter seinerseits die anfänglich gewünschte Handlung vornimmt, indem er sein Leben, insbesondere die Rettung, auf Gott bezieht und durch sein Zeugnis und Lob ins wechselseitige Füreinander eintritt. c) Ps 103: Anamnese und Dankbarkeit Ps 103 ist in mehrfacher Hinsicht ein Musterbeispiel für eine gelungene Kommunikation, wobei die „anamnetische Aktivität“ sofort ins Auge fällt. Im Mittelpunkt steht das Präsentwerden des Gestern: „Vergiss nicht, all seine Taten.“
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(Ps 103,2) Durch die Erinnerung an das Gnadenhandeln JHWHs entsteht Dankbarkeit, welche wiederum zu Handlungen motiviert, die ihrerseits Dank oder Wohlwollen erzeugen.655 In Ps 103 ist die stärkste Äußerung der Dankbarkeit das Lob, mit dem JHWH gepriesen wird. An dieser Stelle kommen auch die Engel ins Spiel, die JHWH einen ununterbrochenen Lobgesang entgegenbringen. Durch ihr stetiges Tun leisten sie genau die Inganghaltung, von der Assmann hinsichtlich der Appräsentation des Gestern im Heute spricht, da JHWH zu jedem Zeitpunkt aufgrund seiner Taten ein zu lobender Gott ist und ihm dieses Lob verlässlich zugesprochen wird. Dadurch, dass die Menschen am himmlischen Lobgesang partizipieren, sind sie mit aufgenommen in den Prozess der Kommunikation, wobei der Aspekt der Reziprozität, der in Hi 33 eine so große Rolle spielt, in den Blick kommt. Es ließe sich überlegen, ob auch der Rekurs auf Mose in dieser zeit- und handlungsübergreifenden Kommunikationsstruktur zu deuten ist. Es sind eben nicht nur die Engel, sondern auch irdische Gestalten, die aufgrund ihrer besonderen Nähe zu JHWH eine besondere Aufgabe und Wirkmächtigkeit haben. Indem er Fürsprache für das Volk gehalten hat, erwirkte er einen Fortgang in der Geschichte des Volkes mit seinem Gott und öffnete die Erkenntnis in das gnädige Wesen JHWHs (Gnadenformel, Ex 34,7). In der immer neuen Vergegenwärtigung dieser Tat im Beten des Psalms wird das Vertrauen in die Möglichkeit eines gelingenden Gotteskontaktes gestärkt. Die Person des Mose und was sich mit ihm verbindet ist also ein Element in dem Vorgang, der mit Assmann als kommunikative Verfugung des Handelns bezeichnet werden kann. Um den Zusammenhang von fürbittendem Handeln und dem himmlischen Gottesdienst in Ps 103 weiter zu klären, soll im folgenden Punkt die Interzessionsthematik in Ps 106 zur Hilfe herangezogen werden. Ps 106 bietet sich für einen Vergleich mit Ps 103 an, da sich zwischen beiden Psalmen durch Stichwortbezüge und übereinstimmende Motivik interessante Verbindungslinien ergeben.656
655 Für Assmann entspringt aus dem Dank, also die Reaktion auf eine zurückliegende Handlung, das „verantwortliche Handeln“, das sich im Füreinander zeigt. Vgl. Assmann, Ma’at, 63. 656 Vgl. zum Zusammenhang insbesondere von Ps 103–106 Gärtner, Geschichtspsalmen, 269–275.
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6.5 Von der Fürbitte zum himmlischen Gottesdienst Die Thematik der Interzession soll an drei ausgewählten Perikopen aus Ps 106, der Mose-Fürbitte, der Pinhas-Fürbitte und der Gnadenreflexion, ausgelegt und in Beziehung zu Ps 103 gebracht werden.
6.5.1 Die Interzession in Ps 106 Im Umgang mit der Schuldgeschichte des Volkes Israel in Ps 106 ist die Interzession eine Bewältigungsstrategie, die das System von Tun und Ergehen durchbricht und damit die Möglichkeit des Überlebens für das Volk schafft. Dies wird in zwei zusammenhängenden, aber stark mit jeweils eigener Profilierung ausgestatteten Episoden ausgeführt.657 Zum einen wird das Einschreiten des Mose nach der Anfertigung des Goldenen Kalbes in Ps 106,19–23 beschrieben und zum anderen das priesterliche Handeln des Pinhas in Folge des Anhängens des Volkes an Baal Peor in Ps 106,28–31. Beide Fürbitten sollen in ihrer jeweiligen Form der Profilierung vorgestellt und daran illustriert werden, dass sich zwei Linien in die zentralen Themen von Ps 103 ziehen lassen, nämlich in die Gnadenrede und in den Gehorsam des himmlischen Hofstaates.
6.5.1.1 Die Fürbitte des Mose Ps 106,19–23 ׂשּו־עגֶ ל ְּבח ֵ ֹ֑רב ַ֝וּיִ ְׁש ַּת ֲחו֗ ּו ְל ַמ ֵּס ָ ֽכה׃ ֥ ֵ יַ ֲע ֹבודם ְּב ַת ְב ִנ֥ית ֝ ׁ֗שור א ֵ ֹ֥כל ֵ ֽע ֶׂשב׃ ֑ ָ ת־ּכ ְ וַ ּיָ ִ ֥מירּו ֶא יעם ע ֶ ֹׂ֖שה גְ ד ֹֹל֣ ות ְּב ִמ ְצ ָ ֽריִ ם׃ ֑ ָ ֹמוׁש ִ ָׁ֭ש ְכחּו ֵ ֣אל ם־סּוף׃ ֽ ִַ֭נ ְפ ָלֹאות ְּב ֶ ֣א ֶרץ ָ ֑חם נ֝ ָור ֹ֗אות ַעל־י יֹרו ָע ַ ֣מד ַּב ֶּפ ֶ֣רץ ְל ָפ ָנ֑יו ְל ָה ִ ׁ֥שיב ֲ֝ח ָמ ֹ֗תו ֵ ֽמ ַה ְׁש ִ ֽחית׃ ֗ מ ֶ ׁ֤שה ְב ִח ֹ ֘ לּולי ֵ ֡ ידם ֥ ָ אמר ְ ֽל ַה ְׁש ִ֫מ ֶ ֹ וַ ּ֗י
19 20 21 22 23
19 Sie machten ein Kalb am Horeb, und sie verneigten sich vor einem Gussbild.658 20 Sie haben getauscht ihre Herrlichkeit mit einem Bild eines Stiers, der Gras frisst. 21Sie haben vergessen Gott, ihren Retter, der Großes getan hat in Ägypten,
657 Vgl. für einen Überblick über Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Episoden Gärtner, Geschichspsalmen, 219–222. 658 Vgl. zur Übersetzung „Gussbild“ sowie zur Bilderthemtik von Ps 106 Gärtner, Geschichtspsalmen, 211 f.
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22 Wundertaten im Lande Chams, furchterregende Dinge am Schilfmeer. 23 Und er sagte zu, sie zu vertilgen, wenn nicht Mose wäre, sein Erwählter: Er trat in die Bresche vor seinem Angesicht, um abzuwenden seinen glühenden Zorn vom Verderben.
Die Mose-Fürbitte wird in den Kontext des goldenen Kalbes gesetzt, allerdings wird die Schuld anders begründet als am Sinai in Ex 32. Gärtner arbeitet mit Bezug auf Hartenstein heraus, dass die in „Ex 32 […] enthaltene Ambivalenz der Kultbilder negiert“659 und der Stier ausschließlich in seiner Geschöpflichkeit dargestellt wird. Der Fokus liegt also auf der „Verwechselung von Schöpfer und Geschöpf “660. Dass so etwas passieren kann, liegt nach Ps 106,21 am Vergessen des Volkes. Weil es die Rettungstaten JHWHs nicht erinnert, hat es kein Verständnis mehr für die Wirkmächtigkeit seines Gottes und betet einen wirkungslosen Stier an, der als Geschöpf auf derselben Ebene anzusiedeln ist wie es selbst auch. Das Vergessen wird zur Basis des schuldhaften Handelns und wirkt zugleich wie ein Nährboden, aus dem immer wieder neue Schuld wächst. Die Fürbitte des Mose wird daher nicht nur konkret auf das goldene Kalb bezogen, sondern tritt generell in den Riss, der durch das Vergessen zwischen JHWH und seinem Volk entstanden ist. Sie ist auch durch das spezifische Vokabular nicht an die Mose-Fürbitte am Sinai angelehnt ( חלהgnädig stimmen eingeleitet), sondern durch den prophetischen Ausdruck des „in den Bresche Springens/oder in den Riss Tretens“661 formuliert. Ps 103 nennt im Gefolge des Lobaufrufes als einzigen weiteren Imperativ im Psalm das Nicht-Vergessen der Wohltaten JHWHs. Durch das Lexem שכחlässt sich eine Verbindung zu Ps 106 herstellen, da hier das Vergessen als ‚Keim allen Übels‘ gedeutet wird.662
659 Ebd. 660 Ebd. 661 Zum Ausdruck „in die Bresche springen“ im Rahmen der prophetischen Interzession vgl. Schroeder, Christoph, „Standing in the Breach“. Turning away the Wrath of God, Interpretation 52/1, 1998, 16–23. Schroeder erklärt, dass nicht nur die spezifische Schuld bei der Interzession im Blick ist, sondern vielmehr der umfassende Horizont der Herstellung von Gemeinschaft in horizontaler und vertikaler Dimension gemeint ist; aaO., 20. 662 Es ist wahrscheinlich, dass beide Psalmen unterschiedliche Hintergründe mit der Wurzel שכחverbinden, da Ps 106 stark an Jer 2,11 und der dort beschrieben Vertauschung der Götter orientert ist, worauf sich das Vergessen bezieht. In Ps 103 ist vermutlich, wie noch gezeigt wird, ein bundestheologischer Hintergrund anzunehmen. Beide Psalmen sind sich aber einig in der Relevanz des Vergessens bzw. Nicht-Vergessens für das Gottesverhältnis.
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6.5.1.2 Die Reflexion der Gnade in Ps 106,43–46 מּכּו ֹ ֗ ָיַמ ֣רּו ַב ֲע ָצ ָ ֑תם ַ֝וּי ְ ְּפ ָע ִ ֥מים ַר ֹּ֗בות יַ ִּ֫צ ֵיל֥ם ְ֭ו ֵה ָּמה43 ַּב ֲע ָֹונֽם׃ ת־רּנָ ָ ֽתם׃ ִ ַ֭וּיַ ְרא ַּב ַּצ֣ר ָל ֶ ֑הם ְ֝ב ָׁש ְמ ֹ֗עו ֶא44 יֹתו ַ֝וּיִ ּנָ ֵ֗חם ְּכ ֣ר ֹב ַח ְסֹּדו ֑ וַ ּיִ זְ ּ֣כֹר ָל ֶ ֣הם ְּב ִר45 יהם׃ ֽ ֶ ל־ֹׁשוב ֵ ֹאותם ְל ַר ֲח ִ ֑מים ִ֝ל ְפ ֵנ֛י ָּכ ֣ ָ וַ ּיִ ֵ ּ֣תן46 43 Viele Male rettete er sie, aber sie lehnten sich auf mit ihren Plänen und sie versanken in ihrer Schuld. 44 Er sah auf ihre Not, während er ihre Klage hörte. 45 Er gedachte seines Bundes für sie und er beherrschte sich selbst gemäß seiner Gnadenfülle. 46 Und er erwies ihnen Barmherzigkeit vor allen, die sie weggeführt hatten.
Die Schuldgeschichte in Ps 106 endet mit dem Zornesausbruch JHWHs, der das Exil („er gab sie in die Hand von Völkern“ V.41) zur Folge hat und geht dann über in die vorliegende Beschreibung der Barmherzigkeit. Es sind zwei Anknüpfungspunkte an die Mosefürbitte in den Versen 19–23 zu vermerken. Zum einen wird der göttliche Zorn nur an diesen beiden Stellen erwähnt, im Anschluss an das Vergessen und das Anfertigen des goldenen Kalbes und am Ende des Lasterkataloges in den Versen 34–42.663 Der zweite Punkt betrifft die Leseabfolge der hinteren Sinaiperikope, in der JHWHs Gnade durch die Fürbitte des Mose erweckt wird. Aber auch hier wird das Sinaigeschehen in spezieller Art gedeutet und nicht direkt zitiert. Das Gnadenhandeln JHWHs wird mit dem priesterlichen Bundesgedenken eingeleitet und mit der Reue/Selbstbeherrschung fortgeführt, welche durch die Gnadenfülle bedingt wird. Die Barmherzigkeit wird noch einmal mit der Situation des Exils verbunden, indem die ins Exil führenden Völker, die zuerst Instrument des Zorns waren, jetzt Zeugen der Barmherzigkeit Gottes sind. Gärtner erörtert, dass die auf eigene Art interpretierte Gnadenformel durch den Terminus der Reue starke Ähnlichkeit mit Joel 2,13 und Jona 4,2 aufweist, aber den Zorn auslässt, da dessen Langmütigkeit schon in der Schuldgeschichte ausführlich entfaltet worden ist.664 Jona 4,2 ל־ּכן ִק ַ ּ֖ד ְמ ִּתי ֥ ֵ ל־א ְד ָמ ִ֔תי ַע ַ ֹיותי ַע ֙ ִ ד־ה ֱ ֹלוא־ז֣ה ְד ָב ִ ֗רי ַע ֶ אמר ָא ָּנ֤ה יְ הוָ ֙ה ֲה ַ֗ ֹ הוה וַ ּי ֜ ָ ְוַ ּיִ ְת ַּפ ֨ ֵּלל ֶאל־י ל־ה ָר ָ ֽעה׃ ָ ב־ח ֶסד וְ נִ ָ ֖חם ַע ֶ֔ ל־חּנ֣ ּון וְ ַר ֔חּום ֶ ֤א ֶרְך ַא ֨ ַּפיִ ֙ם וְ ַר ַ יׁשה ִ ּ֣כי יָ ַ ֗ד ְע ִּתי ִ ּ֤כי ַא ָּת ֙ה ֵ ֽא ָ ִל ְב ֣ר ֹ ַח ַּת ְר ִ ׁ֑ש Ich habe erkannt, dass Du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig im Zorn und reich an Gnade und lässt Dich des Übels gereuen.
663 Vgl. dazu Gärtner, Geschichtspsalmen, 228. 664 AaO., 232 f.
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Joel 2,13f חּום ֔הּוא ֶ ֤א ֶרְך ַא ֨ ַּפיִ ֙ם ֙ י־חּנ֤ ּון וְ ַר ַ הו֣ה ֱא ֹֽל ֵה ֶיכ֑ם ִ ּֽכ ָ ְיכם וְ ׁ֖שּובּו ֶאל־י ֶ֔ ל־ּבגְ ֵד ִ וְ ִק ְר ֤עּו ְל ַב ְב ֶכ ֙ם וְ ַא13 ל־ה ָר ָ ֽעה׃ ָ ב־ח ֶסד וְ נִ ָ ֖חם ַע ֶ֔ וְ ַר יכם׃ ֽ ֶ ֹלה ֵ יהו֖ה ֱא ָ ֹיוד ַע יָ ׁ֣שּוב וְ נִ ָ ֑חם וְ ִה ְׁש ִ ֤איר ַ ֽא ֲח ָר ֙יו ְּב ָר ָ֔כה ִמנְ ָ ֣חה וָ ֶ֔נ ֶסְך ַל ֖ ֵ ִ ֥מי14 13 Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider und kehrt zu JHWH, eurem Gott, denn gnädig und barmherzig ist er, langmütig im Zorn und reich an Gnade und er lässt sich des Übels gereuen. 14 Vielleicht wird er umkehren und reuen.
Hinsichtlich der Auslassungs des Zorns ist Gärtner voll zuzustimmen, ob Ps 106 sich tatsächlich auf Jl 2 und Jo 4 bezieht, ist noch einmal zu erörtern. Dagegen sprechen die Schwierigkeiten, die jeweiligen Kontexte, in denen die Formeln stehen, mit Ps 106 in Zusammenhang zu bringen. Beide Prophetentexte thematisieren stark den Gedanken einer Umkehr des sich verschuldigenden Volkes. Im Jonabuch ist es die Umkehr der Bewohner Ninives, welche den Umschlag vom Zorn zur Gnade verursacht. Joel ermutigt Israel, von Herzen zu bekennen und sich Gott zuzuwenden, damit er selbst sich in Gnade dem Volk zuwendet. Zudem kommt das prophetische Vielleicht, die Unsicherheit, ob ein Sinneswandel in JHWH tatsächlich noch erwirkt werden kann. Der Umkehr-Gedanke spielt weder in Ps 105 noch in Ps 106 eine Rolle. Im Gegenteil, das Volk versinkt in seiner Schuldhaftigkeit, die als bodenlos beschrieben wird (V.43 „und sie versanken in ihrer Verschuldung“). Der einzige Grund für das Überleben liegt in der zweimaligen Interzession (Mose und Pinhas), welche die Gnade JHWHs erwirkt und letztlich in JHWH selbst, der überhaupt die Möglichkeit von (unverdienter) Gnade eröffnet. Auch im Rahmen der Interzession wird nicht mit einer Besserung des Verhaltens argumentiert, sie besteht in beiden Fällen allein im bloßen Faktum des Eintretens des Interzessors. Vielleicht sollte die Gnadenrede in Ps 106,45f viel stärker mit der aus dem Psalm schon bekannten Mosefürbitte in Beziehung gesetzt werden und zwar mit der Passage aus Ex 32.665 Dort heißt es: Ex 32,12–14: ֹּלתם ֵמ ַ ֖על ְּפ ֵנ֣י ָ֔ יא ֙ם ַל ֲה ֤ר ֹג א ָֹת ֙ם ֶ ּֽב ָה ִ ֔רים ּו֨ ְל ַכ ָ וצ ִ מר ְּב ָר ָ ֤עה ֹֽה ֹ ֗ אמ ֨רּו ִמ ְצ ַ ֜ריִ ם ֵלא ְ ֹ ָל ָּמ ֩ה י12 ל־ה ָר ָ ֖עה ְל ַע ֶ ּֽמָך׃ ָ ָ ֽה ֲא ָד ָ ֑מה ׁ֚שּוב ֵמ ֲח ֹ֣רון ַא ֔ ֶּפָך וְ ִהּנָ ֵ ֥חם ַע ּוליִ ְׂש ָר ֵ֜אל ֲע ָב ֶ ֗דיָך ֲא ֶׁ֨שר נִ ְׁש ַ ּ֣ב ְע ָּת ָל ֶה ֮ם ָּבְך֒ וַ ְּת ַד ֵּב֣ר ֲא ֵל ֶ֔הם ַא ְר ֶּב ֙ה ְ זְ ֡כֹר ְל ַא ְב ָר ָה ֩ם ְליִ ְצ ָ֨חק13 ּתן ְלזַ ְר ֲע ֶ֔כם וְ נָ ֲחל֖ ּו ְלע ָ ֹֽלם׃ ֙ ֵ ׁשר ָא ַ֗מ ְר ִּתי ֶא ֣ ֶ ל־ה ָ֨א ֶרץ ַה ּ֜ז ֹאת ֲא ָ ֹכוכ ֵ ֖בי ַה ָּׁש ָ ֑מיִ ם וְ ָכ ְ ֶ ֽאת־זַ ְר ֲע ֶ֔כם ְּכ ל־ה ָר ֔ ָעה ֲא ֶ ׁ֥שר ִּד ֶ ּ֖בר ַל ֲע ֹׂ֥שות ְל ַע ֹּֽמו׃ ֣ ָ הו֑ה ַע ָ ְוַ ּיִ ָּנ ֶ֖חם י
665 Vgl. zur Mosefürbitte in Ex 32 Aurelius, Eric, Der Fürbitter Israels. Eine Studie zum Mosebild im Alten Testament, CB 27, Stockholm 1988, 57–88.
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12 Warum sollten die Ägypter sagen: Aus dem Übel hat er sie herausgeführt, um sie zu töten in den Bergen, um sie vom Erdboden weg zu vertilgen. Lass ab von Deiner Zornesglut und lass Dich des Übels für Dein Volk gereuen. 13 Gedenke an Abraham, an Isaak und an Israel, deine Knechte, denen Du geschworen hast und zu denen du gesagt hast: Ich will mehren eure Nachkommen wie die Sterne des Himmels und dieses ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben und sie sollen (es) besitzen für fernste Zeiten. 14 Da reute es JHWH des Übels, das er ausgesprochen hatte, seinem Volk zu tun.
Dieser Text verbindet das Motiv der Reue mit dem Gedenken an die Erzväter. Auch wenn der Bund an dieser Stelle nicht erwähnt wird, ist das Gedenken an die Erzväter in Ps 105,8–10 explizit mit dem Bund verbunden. Aus Ex 32,12 lässt sich auch Ps 106,46 erklären, das Erbarmen angesichts aller, die sie weggeführt hatten. So wie das Ansehen JHWHs vor Ägypten geschützt werden soll, damit sie seine Handlungen nicht in Zweifel ziehen, wird allen Fremdvölkern JHWHs großes Erbarmen durch seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung/Reue vorgeführt. An Ex 32 lässt sich besser anknüpfen als an Jl 2,13 und Jo 4,2, weil es sich um einen narrativen Text handelt, während die Propheten die Rede von der Gnade schon als Formel benutzen. In Ps 106 handelt es sich auch um eine Narration, nicht um eine Formel. Die Stichworte der Gnadenfülle und der Barmherzigkeit können aus der Gnadenformel in Ex 34,6 übernommen worden sein. Dann würde in Ps 106,45f eine Kombination aus Mosefürbitte und Gnadenformel vorliegen. Daran erweist sich Ps 103 in einem hohen Maße anschlussfähig, der sowohl in Vers 7 als auch in Vers 8 direkte Text-Text-Beziehungen zu Ex 33,13 und Ex 34,6 aufweist. Mit 106,19–23.45–46 und Ps 103,7–8 ist die fortlaufende Perikope Ex 32–34 (Fürbitte, das Wissenlassen der Wege und die Gnadenformel) in Grundzügen nachgezeichnet. So vielschichtig und schillernd Ps 103 in der Mehrheit seiner Motive ist, an dieser Stelle scheint es ein wichtiges Anliegen zu sein, dass der Leser zurück an den Sinai geht (und nirgendwo anders hin). Wenn über eine Hierarchisierung der zahlreichen Bezugstexte nachgedacht wird, steht Ex 33–34 an oberster Spitze. Nur der Bundesschluss ist in Ps 105–106 und Ps 103 nicht an den Sinai gebunden, sondern an die Erzväter, wie für Ps 103 schon gezeigt worden ist. Der Unterschied in Ps 103 bezüglich der Gnade zu Ps 106 besteht im Thema des Exils, das in Ps 106 an die Reflexion der Gnade gebunden ist, in Ps 103 aber nicht direkt vorkommt. Dies könnte dem zeitlichen Abstand der Psalmen geschuldet sein. Ps 103 ist ein Kind der post-nachexilischen Zeit und zeigt dies gerade in der Verarbeitung junger Traditionen, wie der einer ausgearbeiteten Angelologie der frühjüdischen Mystik. Der Zusammenhang von Fürbitte und dem Gottesdienst der Engel wird durch die zweite Form der Interzession in Ps 106 deutlicher.
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6.5.1.3 Die Fürbitte des Pinhas in Ps 106,28–31 אכ ֗לּו זִ ְב ֵ ֥חי ֵמ ִ ֽתים׃ ְ ֹ ַ֭וּיִ ָּצ ְ֣מדּו ְל ַ ֣ב ַעל ְּפ ֹ֑עור ַ֝וּי ץ־בם ַמּגֵ ָ ֽפה׃ ָ֝֗ יהם וַ ִּת ְפ ָר ֑ ֶ ַ֭וּיַ ְכ ִעיסּו ְּב ַ ֽמ ַע ְל ֵל מד פִ֭ ֽ ינְ ָחס וַ יְ ַפ ֵּל֑ל ַ֝ו ֵּת ָע ַ֗צר ַה ַּמּגֵ ָ ֽפה׃ ֹ ֣ וַ ּיַ ֲע ד־ֹעולם׃ ָֽ �ָקה ְל ֥ד ֹר ָ֝ו ֗ד ֹר ַע ֑ ָ וַ ֵּת ָ ֣ח ֶׁשב ל֭ ו ִל ְצד
28 29 30 31
28 Sie ließen sich für Baal Peor einspannen und aßen Totenopfer. 29 Sie verärgerten ihn mit ihren Taten und eine Plage brach unter ihnen aus. 30 Und es trat hin Pinhas und betete/hielt Fürbitte, dass die Plage gehemmt wurde. 31 Es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet für Generation zu Generation bis in fernste Zeiten.
Ps 106 bezieht sich hier auf Num 25,666 einem Kapitel, in welchem der Götzendienst Israels für Baal Peor und das Einschreiten des Pinhas ausführlicher beschrieben werden. Allerdings legt Ps 106 diese Episode mit neuen Schwerpunkten aus. Der Konflikt in Num 25, auf dem Hintergrund des grundsätzlichen Problems der Fremdgötterverehrung, liegt in der Missachtung des Verbotes von Mischehen. Ein Israelit bringt eine Midianiterin ins Lager, woraufhin der Priester Pinhas beide mit einer Lanze ersticht und so den Zorn JHWHs vom Volk abwendet und Sühne schafft. Daraufhin wird ihm von JHWH ein Friedensbund gegeben, der für ihn und für seine Nachkommen nach ihm ein Bund des ewigen Priesteramtes sein wird (Num 25,11–13). Im Verhältnis der Texte zueinander weisen zwei Beobachtungen Relevanz für den Vergleich mit Ps 103 auf. Ps 106 benennt das Einschreiten des Pinhas mit zwei Verben, die dem Bereich der prophetischen Fürbitte zuzordnen sind: עמד, das Stehen vor JHWH, das die Mittlerinstanz zwischen JHWH und dem, für den es einzustehen gilt, beschreibt667 und פלל, die Sprachhandlung des fürbittenden Gebetes.668 Die kämpferische Auseinandersetzung aus Num 25 wird in Ps 106 also in eine prophetisch-priesterliche Gebetshandlung transformiert und Pinhas in eine Reihe von Fürbittern für das Volk eingeordnet. Das ewige Priestertum, das in Num 25 dem Pinhas und seinen Nachfolgern zugesprochen wird, ist in Ps 106 mit der Aufgabe des interzessorischen Eintretens der Priester verbunden. Dieses Ein-
666 Vgl. zur Abhängigkeit von Ps 106 von Num 25: Thon, Johannes, Pinhas ben Eleasar – der levitische Priester am Ende der Tora. Traditions- und literarkritische Untersuchung unter Einbeziehung historisch-geographischer Fragen, ABG 20, Leipzig 2006, 40 f. 667 Jer 15,1; Jer 15,19. 668 Jer 37,3; 42,2.20. Es lässt sich hier eine starke Verwobenheit von prophetischen und priesterlichen Traditionen feststellen, wobei anzunehmen ist, dass in Ps 106 die prophetischen Traditionen auf den Priester Pinhas übertragen werden.
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treten wird in Ps 106 von der bestimmten Schuld, das Vergehen gegen das Mischehenverbot, abgekoppelt. Zwar wird noch der Götzendienst aufgenommen, vermutlich um diese Fürbitte an die des Mose in den Versen 19–23 anzuschließen,669 das Verärgern JHWHs durch die Taten des Volkes verweist allerdings auf größere Schuldzusammenhänge. Die zweite Beobachtung betrifft die Deutung des ewigen Priestertums durch das Attribut der Gerechtigkeit in Ps 106, das in Num 25 nicht vorkommt. Der Terminus „ihm zur Gerechtigkeit anrechnen“ verbindet Pinhas mit Abraham, dessen Glauben in Gen 15,6 ihm zur Gerechtigkeit angerechnet worden ist. Gärtner sieht das Motiv der Verbindung zwischen Abraham und Pinhas an dieser Stelle im Vertrauen. So wie Abraham sein Vertrauen in JHWH nicht verloren hat, trotz einer scheinbar den Verheißungen widersprechenden Realität, bleibt auch Pinhas trotz Götzenverehrung des Volkes standhaft.670 Die jeweiligen Bundesschlüsse mit Abraham und mit Pinhas sind ein weiterer Grund, einen Bezug zwischen beiden herzustellen, doch scheint die Bundesthematik nicht im Vordergrund zu stehen (dieses Thema wird in Ps 105,8f verhandelt). Insgesamt scheint in Psalm 106 ein großes Interesse vorzuliegen, das Priesteramt in der Linie von Aaron über Pinhas zu den Folgegenerationen aufzuwerten und mit Gewicht zu versehen. Aaron wird in Ps 106 zwar nur einmal in V.16 genannt, aber dafür mit dem Titel „der Heilige JHWHs“ ( )קדוש יהוהversehen. Von diesen beiden Beobachtungen her lassen sich zwei Bezüge zu Psalm 103 herstellen, einer verläuft über die Spur der Gerechtigkeit und der zweite über die Aufwertung des Priesteramtes.
6.5.2 Die Gerechtigkeit in Ps 103 Die Bedeutung der Gerechtigkeit in Ps 103 und ihre Abrahamsthematik ist schon detailliert im vorherigen Kapitel ausgeführt worden und soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Im Gegenüber zu Ps 106 lässt sich eine Form der Öffnung feststellen: Die Teilhabe an der Gerechtigkeit, die bisher exzeptionellen Größen wie Abraham und Pinhas als Gründer eines ewigen Priesteramtes zugesagt worden ist, wird in Ps 103 auf eine größere Gruppe bezogen, die JHWH-Fürchtigen. Mit ihnen ist, wie bereits dargestellt, keine exklusive Elite-Truppe des Glaubens gemeint, sondern alle, die sich zum gnädigen Gott bekennen. Es ist keine Vermittlung der Gerechtigkeit durch wenige auserwählte Gerechte mehr notwendig, da sie direkt in den Prozess der Konstitution des Gottesverhältnis Israels eingebettet ist. Die zweite Linie von Ps 106 zu Ps 103 führt von der Aufwertung des Priesteramtes, die sich in Ps 106 beobachten ließ, zum himmlischen Hofstaat in Ps 103.
669 Verwechslung zwischen Schöpfer und Geschöpf, Essen, Unwirksamkeit der toten Götter. 670 Vgl. Gärtner, Geschichtspsalmen, 222.
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6.5.3 Die Priesterengel in Ps 103 Die Titel der Engel in Ps 103,20f führen in priesterliche Traditionen zurück, was z. B. die Auslegungen des Boten ()מלאך671 und des Dieners ()משרת672 gezeigt hat. In Reinform ist die Verschmelzung von Priestern und Engel in den Sabbatopferliedern gesehen worden, die mit der Einsetzung von Priesterengeln beginnen. Interessant für den Vergleich zu Ps 106 ist, dass der Grund für die Hochschätzung der Priester bzw. Priesterengel in Ps 103 viel stärker zum Vorschein kommt. Der himmlische Dienst ist innerhalb der Theologie von Ps 103 ein unverzichtbares konstitutives Element für die Stabilität des Gnadenhandelns JHWHs und für die Partizipation der Menschen an dieser Gnade. In Ps 106 ist der Schwerpunkt ein anderer, indem das interzessorische Einschreiten des Priesters zunächst ein Instrument darstellt, um den Zorn abzuwenden und die Schuldgeschichte des Volkes punktuell zu durchbrechen. Erst am Ende des Psalms wird dieses Handeln durchsichtig auf das Gnadenhandeln JHWHs, eben durch die Reflexion der Gnade in den Versen 43–46. Eine weitere Ausdeutung des Motivs der priesterlichen Interzession wird am speziellen Tun der Engel in Ps 103 sichtbar. Auffällig ist, dass die Fürbitte, die durchaus in den Aufgabenbereich der Engel fällt und durch den Bezugstext in Hi 33 auch implizit für Ps 103 mitgelesen werden kann, nicht explizit genannt wird. Stattdessen konnten zahlreiche Bezüge zum deuteronomisch-deuteronomistischen Sprachgebrauch aufgedeckt werden, indem die Engel genau den Gebotsforderungen entsprechen, die von Israel gefordert, aber nicht eingehalten werden konnten. Während die Interzession als letzte Maßnahme eintritt, wenn das Urteil des Zornes bereits beschlossen und ausgesprochen ist, ist der Engelgehorsam eine strukturelle, dauerhaft installierte Maßnahme aufgrund der Erkenntnis in die anthropologisch verankerte Schuldhaftigkeit des Menschen. Mit dem Vokabular der Fürbitte gesprochen, treten die Engel nicht immer wieder neu in den entstandenen Riss zwischen Gott und Mensch, sondern sie bauen eine Brücke darüber. Hier lässt sich wohl von einer direkten Aufnahme und Weiterentwicklung des Motivs der Fürbitte aus Ps 106 und seinen Kontexten sprechen. Die in Ps 106 schon angezeigte Aufwertung des Priesteramtes wird zum himmlischen Priesterdienst, der ein fester Bestandteil der Gnadenordnung JHWHs ist. Die Fürbitte muss in Ps 103 nicht mehr genannt werden. Im beschriebenen Idealzustand des himmlischen Gottesdienstes und der Partizipation Israels kommen Situationen, die dieser bedürften, nicht mehr vor. Die Beschaffenheit und Wirkung des himmlischen Gottesdienstes wird im Folgenden zusammenfassend dargestellt.
671 Vgl. Kohelet 5,5 oder Mal 2,5–7 (Kultreinheit, Toraerkenntnis, Abwendung von Schuld). 672 1Chr 16 (Lobgesang).
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6.6 Die Funktion des himmlischen Gottesdienstes 6.6.1 Stabilisation Betrachtet man die Schlussverse in Ps 103, so fällt auf, dass das eigentliche Tun der Worte JHWHs in den Himmel verlegt wird. Es sind die himmlischen Helden von Kraft, die sein Wort tun, indem sie auf die Stimme seines Wortes hören, und die Heerscharen, seine Diener, die seinen Willen tun (Vv.20f). Dies ist besonders erstaunlich, da dieses himmlische Tun ein Spiegelbild zum gebotenen irdischen Tun ist, wie z. B. die Auseinandersetzung mit der dtn-dtr Gebotsforderung gezeigt hat: Israel soll hören ( שמעDtn 4,1)/die Worte hören (Dtn 4,10.12) und die Gebote tun ( עשהDtn 4,1.5.6.14). עשהist in Ps 103,20f als Partizip aktiv verwendet und sieht als Attribut zu den Titeln Bote/Held und Heer/Diener aus wie ein weiterer Titel: Ausführende seines Wortes und Ausführende seines Willens. Dies unterstützt durch die sprachliche Gestalt den Eindruck eines dauerhaften, zuverlässigen Ausführens der Ordnungen und Gebote JHWHs. Der ineinander verschmelzende Übergang von Titel und Funktion macht die Wichtigkeit dieser Tätigkeit deutlich, weil genau für diesen speziellen Bereich die Engel eingesetzt werden. Es sind also zwei Unterschiede zum Tun der Engel im Schlussteil und dem Tun Israels in V.18 zu beobachten. Obwohl in allen Versen dasselbe Lexem verwendet wird, lässt sich das himmlische Tun allein durch die Formgleichheit des Partizips stärker zum Tun JHWHs (Partizip in V.6) sortieren. Außerdem weist das Tun im Schlussteil tatsächlich starke Züge zum dtn-dtr Sprachgebrauch auf, während das Tun Israels in V.18 als Teilhabe und Befähigung interpretiert worden ist. In welcher Art und aus welchen Gründen ist das Tun der Engel als Tun des Gesetzes beschrieben? Von Texten wie Dtn 4 und Ps 78 herkommend scheint es so zu sein, als wäre aus der Erfahrung, dass die Worte nicht gehört und nicht getan werden, der Gehorsam in gewissem Sinne transzendiert worden. So wird sichergestellt, dass JHWHs Wort auf jeden Fall Durchsetzung findet, auch wenn es den Menschen schwerfällt. Psalm 103 gelingt damit ein ähnlicher Kunstgriff wie in Ps 78, in welchem das Vergessen in die Gottesbeziehung integriert und damit eine Grundlage zur Bewältigung des Ungehorsams geschaffen wird. In dieselbe Richtung verweist auch das Ergebnis, das die Auslegung der Titel in Verbindung mit der Gnadenformel gebracht hat: Der Engelgehorsam scheint eine stabilisierende Funktion für die Herrschaft JHWHs und ihren „Modus“ der Gnade zu haben. Er beschreibt durch seine sprachliche Gestalt einen hohen Grad an Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit. Der himmlische Gottesdienst stellt somit einen tragenden Balken in der Königsherrschaft JHWHs dar – da die ideale Umsetzung von Tora und Kult dort ihren festen Platz hat. Überhaupt ist der Schlussteil des Psalms als ein Zeugnis von Festigkeit (der fest aufgerichtete Thron V.19), Dauer (starker Nominalstil durch Partizipien und
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Verwendung von Abstrakta673) und omnipräsenter Herrschaft JHWHs (an allen Orten) zu lesen.
6.6.2 Erkenntnis und Teilhabe Die Beter des Psalms gehen in ihrem Gebet einen Weg, der sie durch diese umfassende Königsherrschaft führt. Ihnen werden die Heilstaten bewusst gemacht, die JHWH an Israel ausführt. Sie werden durch die Geschichte JHWHs mit seinem Volk geführt, die in der Gnadenformel einen Kristallisationspunkt findet. Nach dem Gang durch die Heilstaten JHWHs wird der Beter in die Reflexion der eigenen Beschaffenheit geführt, die vor allem durch die von JHWH bewirkte Vergänglichkeit geprägt ist. In diesen Kontext steht auch die Bindung der Gnade an den Gesetzesgehorsam, was zunächst, ohne die tieferen Zusammenhänge zu betrachten, besonders prekär erscheint, da hier eine doppelte Fragilität entsteht: Zum einen die des sterblichen Menschenlebens, zum anderen aber auch die Möglichkeit des Scheiterns an den Anforderungen des Gesetzes und damit das vermeintliche Verwirken der Gnade. Aus dieser Tiefe wird der Beter sich zugleich einer doppelten Gestalt der Gnade bewusst, derer er teilhaftig wird. Zum einen in Gestalt der Sündenvergebung und der Befähigung, das Leben aus der Gnade JHWHs zu leben und danach zu handeln. Zum anderen in der Gestalt einer Integration in das Tun der Engel durch den Lobgesang. Die Beschreibung der Engel in dem Idealzustand eines JHWH gegenüber adäquaten Verhaltens fördert damit eine Art dialektischen Erkenntnisprozess beim Beter: Sie gewährt einen Einblick in eine vollkommene Beziehung zwischen JHWH und seinen Geschöpfen, die Einsicht, dass dieser Zustand von Menschen nicht erreicht werden kann (aufgrund von Sterblichkeit und Schuldhaftigkeit) und damit die Anerkennung einer zugesprochenen Gnade JHWHs. Die Aufforderung zum Lob der Engel ist ein Ausdruck von Einsicht und Akzeptanz, aber auch ein Zeichen von Integration und Partizipation. Indem sich die irdischen Geschöpfe in den himmlischen Lobpreis einreihen und damit dieselbe Haltung einnehmen wie sie, werden auch sie zu einem unverzichtbaren Teil der Königsherrschaft JHWHs. Das Lob der Schöpfung ist ein sicht- und hörbarer Indikator für das Funktionieren der von JHWH eingesetzten Ordnung. Deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn im Gegenzug zum himmlischen Hofstaat die (irdischen) Werke und die individuelle נפשim Schlussteil nicht das Attribut des Tätigseins bekommen. Ihre Aufgabe ist einzig und allein das Preisen. Unter Bezugnahme auf Alexander ist auch in diesem Fall festzuhalten, dass die Exegese eines Textes und vielmehr noch das Rezitieren eines Psalms als Gebet nicht ohne Einfluss auf die religiöse Erfahrung und Haltung bleiben, so dass die Funktion der Partizipation am himmlischen Kult mehr ist als ein bloßes Gedankenspiel. 673 Vgl. zu der Verwendung von Abstrakta auch Schwemer, König, 60.
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6.6.3 Reziprozität Der Gedanke der Partizipation am himmlischen Gottesdienst und der Wechselseitigkeit in den kultischen Vollzügen von Segnen und Loben sowie im Gebotsgehorsam wird in den Schriften des Frühjudentums detailliert ausformuliert. Beate Ego hat in ihrer Analyse rabbinischer Texte und Material aus der Hekhalot-Literatur das Verhältnis von himmlischem und irdischem Kult ausführlich bearbeitet.674 Im Vergleich zu Psalm 103 sind vor allem ihre Ergebnisse hinsichtlich der temporalen und räumlichen Kongruenz675 der gemeinsamen Gottesdienste von Engeln und Menschen interessant. Durch das Singen des Lobgesangs zur selben Zeit hat die irdische Gemeinde am Gesang der Engel Anteil: Die Grenzen zwischen Himmel und Erde lösen sich auf, die beiden Bereiche durchdringen einander, die Immanenz öffnet sich hin zur Transzendenz.676
Gerade der Faktor der Gleichzeitigkeit des Lobgesangs ist in Ps 103 durch die Imperative Segnet/Preiset gegeben, die sowohl an Engel als auch an Menschen gerichtet sind. Auch die räumliche Kongruenz ist zu bedenken, da JHWHs Thron als Zentrum seines gesamten Herrschaftsgebietes anzusehen ist, das Himmel und Erde umfasst. Durch das universale Königtum JHWHs sind beide Bereiche miteinander verbunden. Trotz der Gemeinsamkeiten kommt dem Engelgottesdienst eine stärkere Geltung zu, die, laut Ego, mit der Tempelzerstörung zusammenhängt: Eine Priorität der himmlischen Welt formulieren dann all die Texte, die für die Zeit nach der Tempelzerstörung eine Substitution des irdischen Kultus durch den Opferdienst und Lobpreis der Engel annehmen. Die Funktion dieses himmlischen Gottesdienstes ist in doppelter Hinsicht zu bestimmen: Einerseits entlasten die Engel Israel von der Pflicht der täglichen Opfer, die ja auf Grund ihrer Sühnewirkung geradezu lebensbegründende und lebenserhaltende Kraft haben; andererseits bezeugt der himmlische Lob- und Preisgesang der Myriaden von Engeln die auch nach der Katastrophe der Tempelzerstörung fortbestehende Ehre und Herrlichkeit Gottes.677
674 Vgl. Ego, Beate, Im Himmel wie auf Erden. Studien zum Verhältnis von himmlischer und irdischer Welt im rabbinischen Judentum, WUNT, 2. Reihe 34, Tübingen 1989. 675 Die räumliche Kongruenz ist an Texten zu sehen, in denen sich Israel während des Lobgesanges in der himmlischen Welt befindet, z. B. im Midrasch Konen. Vgl. aaO., 64 f.69. 676 AaO., 69. 677 AaO., 169. Allerdings kann Ego auch eine Form der Gegenbewegung dokumentieren. Sie nennt einen Midrasch (MTeh 104 § 1 [220a]), der Ps 103 kommentiert und in ihm eine zeitliche Priorität Israels bezüglich des Lobgesangs erkennt. Zuerst loben die Menschen Gott, erst dann die Engel – dies zeigt die Überlegenheit Israels. Vgl. aaO., 137 f.
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Diese Form der Priorität des Engelgottesdienstes lässt sich auch im Jubiläenbuch finden. Als Beispiel soll die Einsetzung des Sabbatgebotes herangezogen werden. Dieser Text ist ausgewählt, um zu zeigen, dass die Thematik des himmlischen Gottesdienstes und der Reziprozität von Lobgesang und Gebotsgehorsam im 2. Jh. v. Chr. nicht nur die Sabbatopferlieder betrifft.678 Er zeigt zudem eine starke Parallele zum Verständnis des Segens als wechselseitiges Geschehen, wie es zu Psalm 103 in dieser Arbeit ausgelegt worden war. Weiterhin ist die Verbindung von Heiligung, Schöpfung und Gotteszeit anhand des Sabbatgebotes schon in der vorliegenden Arbeit ausgelegt worden, so dass sich die Deutung des Jubiläenbuches als sinnvoller Anknüpfungspunkt erweist.
Exkurs: Himmlischer und irdischer Kult im Jubiläenbuch Das Jubiläenbuch präsentiert die Geschichte Gottes mit Israel als Rezeption der Bücher Genesis bis Levitikus von der Erschaffung der Welt bis zur Sinaioffenbarung. Durch die Rahmenhandlung in I,1–4.17–19 wird deutlich, dass es sich um eine Offenbarung an Mose handelt, die ihm durch den Angesichtsengel am Sinai mitgeteilt wird.679 Im Jubiläenbuch spielen die Gesetzesanordnungen eine herausgehobene Rolle. Sie sind auf den „Tafeln des Himmels“ festgehalten und enthalten die Bestimmungen, die von den Erzvätern praktiziert worden sind. Einen besonderen Status innerhalb der Gesetze wird dem Sabbatgebot, dem Wöchnerinnengesetz und den Bekleidungsanordnungen zugesprochen, die in der Schöpfungsgeschichte verankert werden.680 Das Sabbatgebot wird, um Parallelen zur Theologie von Ps 103 aufzuzeigen, hinsichtlich der Funktion der Engel und ihrer Relation zum Gebotsgehorsam der Menschen ausgelegt und hinsichtlich der Struktur des Segens. Das Sabbatgebot: Jub 2,16–22681
678 Die Datierung des Jubiläenbuches wird von der Mehrzahl der Forscher zwischen 167–140 v. Chr. angesetzt. Die Begründung liegt vor allem in der zu erkennenden Auseinandersetzung mit der Religionspolitik von Antiochus I. Vgl. dazu: Berger, Klaus, Das Jubiläenbuch, in: Kümmel, W. G. u. a. (Hg.), Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Band II, Gütersloh 1981, 299f; Doering, Lutz, The Concept of the Sabbath in the Book of Jubilees, in: Albani, M. u. a. (Hg.), Studies in the Book of Jubilees, TSAJ 65, Tübingen 1997, 179–205; 202; Scott, James M., On Earth as in Heaven. The Restoration of Sacred Time and Sacred Space in the Book of Jubilees, JSJS 91, Leiden/Boston 2005, 219. 679 Vgl. als Überblick über die wichtigsten theologischen Topoi des Buches z. B. Kugel, James L., A Walk through Jubilees. Studies in the Book of Jubilees and the World of its Creation, SJSJ 156, Leiden/Boston 2012, 1–17; Segal, Michael, The Book of Jubilees. Rewritten Bible, Redaction, Ideology and Theology, SJSJ 117, Leiden/Boston 2007, 2–41; zum hermeneutischen Verhältnis von Offenbarung und Geschichte im Jubiläenbuch vgl. Berger, Jubiläenbuch, 279. 680 Vgl. zu Status und Funktion dieser Gesetze Ego, Beate, Heilige Zeit – heiliger Raum – heiliger Mensch. Beobachtungen zur Struktur der Gesetzesbegründung in der Schöpfungs- und Paradiesgeschichte des Jubiläenbuches, in: Albani, M. u. a. (Hg.), Studies in the Book of Jubilees, TSAJ 65, Tübingen 1997, 207–219. 681 Übersetzung aus Berger, Jubiläenbuch, 329 f.
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16 Und er beendete all sein Werk am sechsten Tag, alles, was in den Himmeln und was auf der Erde und in den Meeren und in den Abgründen und im Licht und in der Finsternis und in allem. 17 Und er gab uns als großes Zeichen den Sabbattag, damit wir arbeiten sechs Tage die Arbeit, aber, daß wir Sabbat halten am siebenten Tag von aller Arbeit. 18 Und allen Engeln des Angesichtes und allen Engeln der Heiligung, den beiden großen Geschlechtern, uns sagte er dieses, daß wir Sabbat feiern sollten mit ihm im Himmel und auf der Erde. 19 Und er sagte zu uns: „Siehe, ich will schaffen und erwählen mir ein Volk mitten aus meinen Völkern. Und sie werden mir Sabbat halten. Und ich werde sie heiligen mir zu einem Volk. Und ich werde sie segnen. Wie ich geheiligt habe den Tag des Sabbats und ihn mir heiligen werde, so will ich es segnen. Und sie werden mir mein Volk sein und ich werde ihr Gott sein. 20 Und ich habe auserwählt den Samen Jakobs unter allem, was ich gesehen habe, und habe ihn mir aufgeschrieben als erstgeborenen Sohn. Und ich habe ihn mir geheiligt in die Ewigkeit der Ewigkeiten; und den Tag des Sabbats werde ich ihnen zeigen, damit sie Sabbat halten.“ 21 Und er machte an ihm ein Zeichen, nach welchem sie Sabbat halten sollten mit uns am siebenten Tag, zu essen und zu trinken und ihn zu segnen, der alles geschaffen hat, wie er gesegnet und geheiligt hat sich das Volk, das aus allen Völkern hervorragt, damit sie Sabbat halten in Gemeinschaft mit uns, 22 aufsteigen zu lassen seine Gebote als schönen Duft, der angenehm sein sollte vor ihm alle Tage.
Das Sabbatgebot wird zuerst den Engeln gegeben, sie sollen am siebten Tage die Arbeit niederlegen und den Sabbat halten. Schon in dieser ersten Übergabe des Gebotes ist die gemeinschaftliche Komponente entscheidend: Der Sabbat soll mit JHWH gefeiert werden im Himmel und auf der Erde. (18)682 In der Feier des Sabbats realisiert sich die Kultgemeinschaft mit JHWH, da er den Sabbat nicht nur begründet hat, sondern auch selbst hält und damit eine Möglichkeit zur Partizipation schafft. In einem zweiten Schritt wird das Sabbatgebot an Israel, das auserwählte Volk, weitergegeben. Durch das Halten des Sabbats erweiset es sich als geheiligtes und gesegnetes Volk. Die Sabbatruhe ist das äußere Zeichen der Zugehörigkeit zu JHWH, die mit der Bundesformel bestätigt wird.683 (19) Das Sabbatgebot wird nicht einseitig als Gesetz verordnet, JHWH selbst ist an der Umsetzung beteiligt. Heiligung und Segnung werden doppeldeutig beschrieben, so dass sie
682 Vgl. zu dieser Beobachtung und dem Bezug zu Gen 2,2b.3a Ruiten, Jaques van, Angels and Demons in the Book of Jubilees, in: Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook, 2007, 585– 610; 591. 683 „There is, therefore, an element of reciprocity: In the human sphere, the sabbath is established for Israel, and Israel’s election aims from the very beginning at its sabbath observance. Israel’s identity and its sabbath observance are unseparably connected by the fact that both are founded in the first sabbath.“ Doering, Concept, 187.
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nicht nur als Folge der Einhaltung des Gebotes, sondern auch als Ermöglichungsgrund erscheinen. Wie JHWH den Sabbat geheiligt und gesegnet hat, so wird er auch das Volk heiligen und segnen. (19) JHWH wird ihnen den Sabbat zeigen, damit sie ihn halten. (20) Die Beteiligung JHWHs am Einhalten der Gebote im Zusammenhang mit dem Segen zeigt auch die Darstellung des Jakob- und Levisegens in Jub 22,10; 31,13–17.684 Mit dem Segen bekommt Jakob die Befähigung, JHWHs Willen auszuführen und nach seinen Geboten zu handeln: Mein Sohn Jakob, der Gott aller segne dich, und er stärke dich, Gerechtigkeit zu tun und seinen Willen vor ihm. (Jub 22,10)
Levi wird durch den Segen in die Nähe JHWHs gebracht, damit er, wie die Angesichtsengel, vor ihm dienen kann:685 Und dich und deinen Namen bringe er nahe zu sich aus allem, was Fleisch ist, daß er diene in seinem Heiligtum wie die Engel des Angesichtes und wie die Heiligen. (Jub 31,14)
Der Segen JHWHs bedeutet eine bestimmte Qualifikation hinsichtlich der Gebotsausübung. Durch die Befähigung erweisen sich die Gesegneten wiederum selbst als Segen, nicht nur für die Völker (Jub 22,11; 31,17.20), auch für JHWH, da ihm adäquat entsprechend seiner eingesetzten Ordnung gedient werden kann. Diese qualifizierende Funktion des Segens betrifft die Erzväter, aber durch den Sabbat auch ganz Israel. In V.21 wird die Gemeinschaft der Sabbatfeiernden zusammenfassend ausformuliert: Die Engel, Jakob und Israel essen und trinken miteinander und segnen durch die Feierlichkeiten JHWH so wie er gesegnet und geheiligt hat sich das Volk, das aus allen Völkern hervorragt, damit sie Sabbat halten in Gemeinschaft mit uns, aufsteigen zu lassen seine Gebote als schönen Duft, der angenehm sein sollte vor ihm alle Tage. (21f)
Diese Verwobenheit von irdischem und himmlischem Tun im Kontext des Gesetzesgehorsams wird als „imitatio angelorum“686 bezeichnet:
684 Vgl. zum Gedanken der Kultgemeinschaft durch den Segen Ruiten, Angels, 593. 685 „The idea that Levi and his descendants serve on earth in a way that mirrors the priestly function of the highest orders of angels in heaven goes along with the theme in Jubilees as a whole that the cultus should be ‚on earth as in heaven.‘“ Scott, On Earth, 34. 686 „Jubilees draws a parallel between Israel and the angels. Just as the angels keep sabbath with God, so Israel keeps sabbath with the angels.“ Ruiten, Angels, 591; Ego, Heilige Zeit, 216.
Ps 103,19–22: Der Himmlische Gottesdienst
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Die ersten Weisungen Gottes an sein Volk werden nicht aus einem irdischen, sondern aus einem himmlischen Geschehen abgeleitet. Durch das Tun dieser Gebote fügt sich Israel in die göttliche Schöpfungsordnung ein und partizipiert so am Bereich der Transzendenz.687
An dieser Stelle ist der stärkste Vergleichspunkt zu Ps 103 zu sehen: Das gemeinschaftliche Segnen von Engeln und Menschen schafft Nähe zu JHWH und ist gleichzeitig die Reaktion auf seine segensreichen Wohltaten. Das Halten der Gebote, zu dem JHWH Engel und Menschen durch seinen Segen befähigt, kehrt zu ihm als wohlgefälliger Duft zurück. Es lässt sich sagen, dass Psalm 103 mit seiner Segenstheologie, die sich in der Wechselseitigkeit von Wohltaten von JHWH und Aufforderung zum Segen für JHWH zeigt,688 eine Spur legt, die in jüngerer Zeit detailliert ausformuliert wird. Zu dieser anfänglichen Spur gehört auch der Gebotsgehorsam Israels, der in das Gnadenhandeln JHWHs eingebettet ist und von den Engeln garantiert gewährleistet wird. Der Übergang zu der Angelologie des frühen Judentums mit den Funktionen Partizipation, Entlastung und Stabilisation ist mit Psalm 103 deutlich markiert.
687 Ebd. 688 Doering sieht im gemeinsamen Appell an Menschen und Engel, JHWH zu segnen (Jub 2,21), die Partizipation am Lobpreis der Engel: „As against these texts, witch establish the community with the angels either through meditation of the heavenly cult or through joining the angelic praise, Jubilees speaks, in a slightly different manner, of the common sabbath rest of angels and Israel. Only in the duty ‚bless the creator of all‘ (Jub.2:21) may be seen an expression of Israel’s participation in the angelic praise.“ Doering, Concept, 188.
C Schluss
1. Rückblick
Die vorliegende Untersuchung zeigt eine Tiefenexegese von Ps 103, die mit einem methodischen Schwerpunkt in der Motivgeschichte erarbeitet worden ist. Nach einem kurzen Anfangskapitel, das einen Überblick über den Psalm (Übersetzung, sprachliche Analyse und Gliederung) zeigt, schließt sich im zweiten Kapitel die Analyse der ersten Rahmenverse (Vv.1–2) an. Thematisch ist die Bedeutung der Segenshandlung als ein Prozess der Wechselseitigkeit ausgelegt worden. Das dritte Kapitel zeigt die Auseinandersetzung mit der Reihung der Wohl taten JHWHs (Vv. 3–5), wobei der Schwerpunkt der Auslegung in der Klärung des Zusammenhanges von Vergebung und Heilung besteht, da dieser als maßgeblich für die Deutung der gesamten Reihung erkannt worden ist. Die Analyse ist durch eine Darstellung der Niedrigkeits- und Hoheitsmotivik des Hiobbuches und ausgewählter Qumranschriften erweitert worden. Anhand der Motivik von Krönung und Segen als wechselseitiges Geschehen in Ps 21 konnte die Auslegung vertieft und vor allem das königliche Bild der Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit (V.4) gedeutet werden. Der Weg zur Gnadenformel und ihre Auslegung wird im vierten Kapitel beschrieben, in welchem der Sinaikontext des Psalms dargestellt wird. Als ein die Theologie des Psalms auf besondere Weise prägendes Motiv steht die Auslegung der Vergänglichkeit im Zusammenhang mit der Gnadenformel im Fokus. Daran schließt sich die Deutung der Vv.17f in Kapitel fünf an, das einen Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit darstellt, da in diesen Versen verschiedene Traditionsstränge zusammengeführt werden. Besondere Beachtung ist dem nachpriesterschriftlichen bundestheologischen Diskurs und der Verbindung von Erzväter- und Sinaitraditionen gewidmet worden. Auch die Auslegung der im Psalm refrainartig vorkommenden Gottesfurcht wird im Zusammenhang mit der Bundes- und Gesetzesbewahrung in diesem Kapitel erarbeitet. Der Schluss der Tiefenexegese besteht in der Deutung des himmlischen Gottesdienstes in den Vv.19–21, wobei die Funktion der Engel und ihre Bedeutung für den gesamten Psalm im Mittelpunkt stehen. Die Auslegung wird durch die Hinzunahme der Sabbatopferlieder aus Qumran und exkursartig durch das Jubiläenbuch erweitert, die hinsichtlich der Angelologie mit Ps 103 verglichen werden können. Zusammenfassend konnte beobachtet werden, dass das Motiv der Gnade JHWHs, das zentral in Ps 103,8 in der Gnadenformel verankert ist, für den Zusammenhang der Motive eine relevante Rolle spielt. Durch dieses Leitmotiv werden die einzelnen Sequenzen des Psalms oft auf hintergründige Art miteinander verknüpft
Rückblick
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und aufeinander hin ausgelegt. Literarkritische Eingriffe würden diesen Zusammenhang zerstören und die Theologie des Psalms missachten. Der Psalm lässt sich als ein reflexiver Text beschreiben, der im Diskurs mit anderen, vor allem jungen Texten (Dtn 4; Lev 26; Jes 40,6–8; Ps 19; 90; 111) eine profilierte Gnadentheologie entwickelt. Erst vom Schlussteil des Psalms, der Funktion der Engel innerhalb der Gnadenherrschaft JHWHs (Entlastung, Teilhabe und Stabilität), lässt sich die weitgehende Relevanz der göttlichen Gnade für Israel in der Tiefe verstehen. Es gibt daher plausible Gründe, die Einheitlichkeit des Psalms zu vertreten. Sollte der Schlussteil allerdings tatsächlich eine redaktionelle Anfügung sein, wie in den jüngeren redaktionsgeschichtlich orientierten, psalterexegetischen Auslegungen postuliert wird, muss bedacht werden, dass die ersten Ausleger des Psalms die Theologie von Ps 103 genau in dieser Hinsicht verstanden und fortgeführt haben. Auf der Endtextebene ist der Schlussteil von erheblichem hermeneutischem Gewicht, wie auch immer die Kohärenz des Psalms bewertet wird.
2. Datierung
Die Ergebnisse der Exegese lassen keinen Zweifel daran, dass es sich bei Ps 103 um einen einheitlichen jungen Psalm handelt. Die Gründe für das junge Alter lassen sich auf mehreren Ebenen feststellen: An der Sprachgestalt der Vv.3–5, die aramaisierende Formen der Suffixe aufweist. Weiterhin am Gebrauch von Terminologien und sprachlichen Wendungen, die erst in nachexilischer Zeit belegt sind (z. B. סלח, תחלאים, פקודים, )הגואל משחת חייכי. Das wichtigste Argument aber besteht in den Vorstellungszusammenhängen, die sich erst in der Perserzeit entwickeln und in Ps 103 schon in gedeuteter Form vorliegen. Dazu zählen die Auseinandersetzung mit einer nachpriesterlichen Bundeskonzeption, die weisheitliche Frage nach dem Zusammenhang von Vergänglichkeit und Überzeitlichkeit JHWHs, die Betonung der Schöpfung als Begründung des Gnadenhandelns und vor allem die ausformulierte Angelologie. Gerade der letzte Punkt zeigt, dass Psalm 103 schon in den Bereich der frühen Formen von jüdischer Mystik einzuordnen ist. Im Psalm selbst gibt es keinen Hinweis auf bestimmte historische Ereignisse, die einen Hinweis auf eine genaue Abfassungszeit geben. Anzunehmen ist die zweite Hälfte des 3. Jh. v. Chr., in der sich vermutlich auch der Abschluss des vierten Psalmenbuches vollzogen hat.1
1
Vgl. Schnocks, Vergänglichkeit, 271.
3. Exegetisch-theologischer Ertrag: Was ist Gnade?
„Barmherzig und gnädig ist JHWH, langmütig im Zorn und reich an Güte.“ Die sog. Gnadenformel ist wohl das prominenteste Bekenntnis zum gnädigen Gott im Alten Testament. Sie begegnet dem Leser in einer Vielzahl von unterschiedlichen Texten und Kontexten und gibt ihm daher die Aufgabe, immer wieder neu danach zu fragen, wie der Begriff Gnade im jeweiligen Zusammenhang gebraucht ist und was er tatsächlich bedeutet. In der vorliegenden Untersuchung ist dies exemplarisch an Ps 103 durchgeführt worden. Dabei ließen sich unterschiedliche Vorstellungszusammenhänge erkennen, in welchen die Gnade eine bedeutsame Funktion ausübt, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden sollen.
3.1 Gnade als Fundament der Anthropologie Die klassische anthropologische Frage „Was ist der Mensch?“ beantwortet Psalm 103 nur zwischen den Zeilen, wobei diese Antwort ein sehr klägliches Bild abgibt. Die dritte Strophe der als Kirchenlied bekannten Vertonung des Psalms von Johann Gramann könnte dieses Bild nicht treffender formulieren: Er kennt das arm Gemächte / und weiß, wir sind nur Staub, / ein bald verwelkt Geschlechte, / ein Blum und fallend Laub: / der Wind nur drüber wehet, / so ist es nimmer da, / also der Mensch vergehet, / sein End, das ist ihm nah.2
Hinzu kommt, dass die Sterblichkeit nur einen Aspekt der conditio humana in Ps 103 darstellt, ein zweiter besteht in der Sündhaftigkeit. Drei der Hauptbegriffe, die das Alte Testament für die Beschreibung von schuldhaften Taten gegenüber JHWH und der Gesellschaft verwendet, werden in Ps 103 genannt (Vv.10.12). Der Grund für die grundsätzliche Schuldhaftigkeit besteht eben in der Vergänglichkeit des Menschen. Weil er aus Staub geschaffen (V.14) und seine Existenz daher von flüchtiger und nichtiger Konsistenz ist, bleibt der Mensch als Geschöpf ein
2 Gramann, Johann, Nun lob, mein Seel, den Herren. Psalm 103, in: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, Nördlingen, Nr. 289.
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sich entzogenes und daher unvollkommenes Wesen. Allerdings wird die festgestellte Schuld in Ps 103 nicht eingesetzt, um einen Schuldaufweis zu erbringen und eine Anklage zu führen, sondern um die umfassende Vergebungstat JHWHs zu verdeutlichen. Die Theologie des Psalms bleibt nicht bei der Feststellung der Verfasstheit des Menschen stehen, vielmehr nimmt sie diese zum Ausgangspunkt, um ein Handeln JHWHs zu beschreiben, das den Status seiner Geschöpfe aufwertet. Die Anthropologie bekommt ein neues Fundament: Aus der Frage „Was ist der Mensch?“ wird „Was ist ein Israel, das aus der Vergebung JHWHs lebt und sich dessen bewusst ist?“ In der Exegese ist herausgearbeitet worden, dass die Vorstellungshintergründe des Psalms das Kollektiv Israel betreffen. Daher ist davon auszugehen, dass die einzelne Seele, die in den Vv.1–5 genannt wird, nicht als ‚Mensch an sich‘ im Vordergrund steht, sondern in ihrer Eingebundenheit in das Volk Israel, das in V.6 explizit genannt wird. Wie die Aufwertung der Lebensqualität Israels zu verstehen ist, konnte besonders an drei Motiven gezeigt werden: An der Sündenvergebung als Heilung, an der Krönung mit Gnade und der damit verbundenen Teilhabe Israels an der Überzeitlichkeit JHWHs.
3.1.1 Sündenvergebung und Heilung Der erste Parallelismus Membrorum in V.3 besteht aus der Zusage von Sündenvergebung und Heilung von Krankheit. Wie tiefgehend diese Zusage reicht und auf welchem Hintergrund sie zu lesen ist, ist anhand des Begriffes „( תחלאיםKrankheit“) in V.3b erläutert worden. Er kommt nur an vier Stellen im AT vor im Sinne einer Krankheit, die von JHWH als Strafe für die Abkehr von ihm geschickt wird und zum Tode führt (Dtn 29,21; Jer 14,18; 16,4; 2Chr 21,19). In Dtn 29,21 betrifft die Krankheit das ganze Land, wobei ihr Ausmaß einer Rücknahme der Schöpfung gleichkommt, da es unheilbar und unwiederbringlich von JHWH in seinem Zorn zerstört worden ist. Als Grund wird das Verhalten Israels angeführt, das den Bund verlassen und anderen Göttern gedient hat. In Jeremia 14,18 und 16,4 wird die Bevölkerung Jerusalems von JHWH mit der Krankheit geschlagen, da sie auf falsche Propheten vertraut und nicht auf JHWH. Sie führt dazu, dass die Menschen tot auf den Straßen und den Feldern liegen. Sie werden nicht begraben, vielmehr sollen ihre Leichname den wilden Tieren zum Fraß dienen (Jer 16,4). Die Krankheit, die JHWH dem Volk Israel schickt, ist also nicht nur eine Bestrafung zum Tod, sondern wirkt sogar noch über den Tod hinaus und kann deswegen als besonders qualvoll angesehen werden. In 2Chr 21,19 wird König Joram mit einer Krankheit in seinen Eingeweiden von JHWH bestraft, da er das Volk zur Abgötterei verführt hätte. Die Eingeweide, also das Zentrum des Menschen, das in Ps 103 für das Gotteslob zuständig ist, treten heraus und Joram stirbt einen schmerzvollen Tod. Er wird zwar begraben, aber nicht so, wie es sich für einen König gehört (2Chr 21,20).
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Alle vier Belege von תחלאיםbeschreiben keine individuelle Krankheit, sondern eine Bestrafung des ganzen Volkes bzw. des ganzen Landes. Dieses Strafhandeln kann nicht abgewendet werden, führt immer zum Tod und wirkt über den Tod hinaus. Während das Motiv der Krankheit in den meisten alttestamentlichen Texten dazu gebraucht wird, um JHWH als Arzt zu erkennen und dadurch eine neue Beziehung zu stiften, ist תחלאיםdie explizite Vokabel für den Beziehungsabbruch. Ps 103 entwirft in V.3 mit dem Zusammenhang von Sündenvergebung und Heilung von Krankheit einen Gegenentwurf zum Strafhandeln JHWHs, der stärker nicht sein könnte. Auch das Auslösen aus der Grube (V.4a), das Sättigen mit Gutem (V.5a) und die Erneuerung der Lebenskraft (V.5b) sind extreme Gegenbilder zu den eben genannten Texten. Durch JHWHs vergebendes Handeln kommt es zu einer Unterbrechung des unheilvollen Kreislaufes von Schuld und Strafe, der Tun- Ergehens-Zusammenhang wird an dieser Stelle von JHWH außer Kraft gesetzt. Die Gnade, welche die Vergebung JHWHs auslöst, wird daher als eine äußerst wirkmächtige Kraft beschrieben. Ihr Herrschaftsbereich umfasst Zeit und Raum der gesamten erfahrbaren Welt und ihre Stärke ist vergleichbar mit der eines Kriegshelden (V.11). Die aus der Gnade resultierende Vergebung der Schuld bildet die Basis der von JHWH konstituierten idealen Relation des Volkes zu ihm.
3.1.2 Die Krönung mit Gnade Die Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit (V.4) beschreibt durch ihre aussagekräftige Bildsprache am deutlichsten, was die Aufwertung der Lebensqualität bedeutet. Sie ist in der vorliegenden Untersuchung durch die Kategorien „Anerkennung und Befähigung“ in Auseinandersetzung mit dem Königspsalm Ps 21 interpretiert worden. Der Prozess der Anerkennung umfasst innerhalb der von JHWH vorgenommenen Statusänderung eine Einsicht in die Notwendigkeit dieser Handlung, also in die eigene Bedürftigkeit, und eine Akzeptanz dessen, der sie vornimmt. Diese Einsicht führt im Alten Testament und noch stärker in den Qumranschriften in die Vorstellungszusammenhänge von Hoheit und Niedrigkeit. Das Hiobbuch zeigt, dass es aufgrund der Erkenntnis von Hoheit und Niedrigkeit nicht zwangsläufig zu Anerkennungs- und Akzeptanzprozessen kommen muss. Die Differenzerfahrung kann auch zur Klage über die geschöpfliche Nichtigkeit und über einen als fern gedeuteten Gott führen. Anhand der Niedrigkeitsklagen in Hi 4,17–21; 15,14–16; 25,4–6 konnte die Relevanz der Gnade für die Beziehungsstruktur in Ps 103 dargestellt werden, da ihre Hauptfunktion die Vermittlung, nicht die Darstellung der Differenz zwischen JHWH und Israel ist. Diese Logik lässt sich sehr deutlich an ausgewählten Qumrantexten zeigen, wie z. B. an den Dankpsalmen, den Hodayot. Sie argumentieren in diesem Sinne, indem sie wiederholt betonen, dass die Einsicht in die Niedrigkeit des Menschen angesichts der Größe Gottes zu einer Haltung des Menschen führt, die über das
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Schluss
Bekenntnis der eigenen Niedrigkeit das Handeln Gottes an ihm erwartet. Es geht nicht darum, aus eigener Leistung sündenfrei zu werden, was angesichts der sterblichen Konstitution (wiederholte Betonung des Staubes als Grundsubstanz des menschlichen Wesens) nicht funktionieren könnte. Alles, was den Abstand zwischen Gott und Mensch geringer macht, muss durch Gott selbst geschehen. Der Akt der Vergebung setzt den Menschen überhaupt erst auf eine Ebene, auf der er Gott in anbetendem Lobpreis begegnen kann (vgl. z. B. 1QH XI 20–24). Die Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit in Ps 103 kann als ein Ausdruck dieser Dialektik von Hoheit und Niedrigkeit angesehen werden. Allerdings verbindet sich mit diesem Motiv ein weiteres Thema, da die Attribute der Gnade und Barmherzigkeit, die der Krönung beigelegt werden, auffällig sind. Sie beschreiben eine Übertragung der Handlungsoptionen JHWHs, durch die er selbst ausdrücklich als Gott Israels identifiziert wird, was an der Gnadenformel und an der Auslegung seines Namens durch diese (Ex 33,18) deutlich wird. Mit der Übertragung geht, so hat es die Auslegung von Ps 21 gezeigt, eine Befähigung einher, diese Handlungseigenschaften auch anzuwenden. Israel wird also durch die Krönung befähigt, selbst gnädig und barmherzig zu sein und so eine Form von Stellvertretung JHWHs zu übernehmen. Die Gnade, mit der Israel gekrönt wird, ist eine Handlungseigenschaft JHWHs, die mit dem עולם-Begriff der fernsten Zeiten charakterisiert wird. An dieser Überzeitlichkeit JHWHs, die den Rahmen der menschlich vorstellbaren Zeitspannen bei Weitem überschreitet, partizipiert Israel mittelbar durch die Übertragung der Gnade und durch die Befähigung ihrer Ausübung. Die Teilhabe an diesen fernsten Zeiten bedeutet allerdings keine Verlängerung der Lebenszeit, sondern die qualitative Nähe zu JHWH, welche ein grundsätzliches Angenommensein Israels beschreibt. Dies hat sich als ein wesentliches Argument zur Deutung der Vergänglichkeitsmotivik in Ps 102–104; Ps 90 und Jes 40 erwiesen.
3.2 Gnade und Schöpfungstheologie Die Partizipation an den Handlungseigenschaften JHWHs und die damit einhergehende Statusänderung ist nicht mit den Kategorien einer Neuschöpfung zu vergleichen in dem Sinne, dass die Grundkonstanten des Lebens verändert würden. Israel bleibt in seiner menschlichen Verfasstheit trotz der Krönung mit Gnade und Barmherzigkeit sündig und sterblich. Im Unterschied zu Ps 51, der ebenfalls von einer umfassenden Schuldhaftigkeit qua menschlicher Beschaffenheit ausgeht, wird Israel in Ps 103 nicht mit einem reinen Herzen und einem festen Geist neu ausgestattet, sondern seine Schuld wird von JHWH weit entfernt an die Peripherien der Erde verlagert (V.12), so dass der wirkmächtige Kreislauf von Schuld und Strafe nicht mehr in Gang gesetzt werden kann. Auch die Vergänglichkeit wird, wie beschrieben, nicht aufgehoben, aber sie wird mit dem Erbarmen JHWHs bedacht. JHWH erbarmt sich wie ein Vater über seine Kinder (V.13), was bedeutet, dass er
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ihr vergängliches Gebilde erkennt und ihrer Sterblichkeit gedenkt. Dieses Gedenken JHWHs ( )זכרführt, wie die Exegese gezeigt hat, in die priesterliche Flutgeschichte. Auch das Menschenbild der Flutgeschichte ist sowohl vor als auch nach der Flut illusionslos von Schuld und Sterblichkeit geprägt. Nach der Flut gibt es einen Neuanfang, dieser betrifft aber nicht die anthropologische Verfasstheit der Menschen, sondern die Bedingungen, unter denen sie leben und überleben können (z. B. die Kanalisierung von Gewalt durch das Töten von Tieren Gen 9,2 f). Dass es überhaupt zu einem neuen Anfang kommen konnte, liegt allein an JHWHs Rettungswillen. Der Wendepunkt von der Vernichtung zur Rettung wird durch das Gedenken JHWHs initialisiert: „Und Gott dachte ( )זכרan Noah und an alle Wildtiere und an alles Vieh, das bei ihm in der Arche war. Und Gott ließ einen Wind wehen über die Erde hin, so dass das Wasser sank.“ (Gen 8,1) Nach der Rettungstat kommt es zum Bundesschluss mit allem Fleisch (בשר-)כל – es wird also die Bezeichnung für alle Lebewesen gewählt, die vor allem die Vergänglichkeit und Schuldhaftigkeit in den Vordergrund stellt. Die Verwendung der Wurzel זכרin Ps 103 hat sich als hoch anschlussfähig an diese Theologie erwiesen, weil das Gedenken in Ps 103,14 einen Wendepunkt für Israel bezeichnet. Das Eingedenksein der Vergänglichkeit führt zu der im Vorherigen ausgeführten Sündenvergebung und somit zur Rettung Israels vor JHWHs Zorn. Das Gedenken JHWHs ist allein abhängig von seiner Gnade, es ist nicht motiviert durch Israels Verhalten und wird begründet durch die Relation des Schöpfers zu seinem Geschöpf. Weil JHWH Israel sterblich geschaffen hat, gedenkt er seiner und lässt es an seinen Handlungseigenschaften partizipieren. Durch die schöpfungstheologischen Traditionen werden eine Form der Subversion des Vergeltungsgedankens und eine Kompensation der begrenzten Lebenszeit beschrieben.
3.3 Gnade und Gebotserfüllung Trotz der weitreichenden Beschreibungen der Gnade als nicht an Leistungen gebundenes Handeln JHWHs an Israel kommen mit den Vv.17f Zweifel an dieser Unbedingtheit auf, da sie auf den ersten Blick an die Bundesbewahrung und die Gebotseinhaltung gebunden zu sein scheint. In der Auslegung dieser Verse konnte durch eine Analyse der bundestheologischen Traditionen und des Begriffes der Anordnungen gezeigt werden, dass es sich auch hier um ein Korrespondenzverhalten, also um einen Akt von Teilnahme und Befähigung handelt.
3.3.1 Die nachpriesterschriftliche Bundesdiskussion Die Konzentration auf den עולם-Begriff in Kombination mit der Generationenfolge, der Bundesbewahrung ( )שמרund dem Begriff des Gedenkens ( )זכרführt
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Schluss
in die priesterschriftliche Bundestheologie (Gen 17) und in ihre Interpretationen (Ex 31,12–17; Lev 26; Jer 14,19–22; Dtn 4). Anhand von Gen 17 und Ex 31,12–17 konnte herausgearbeitet werden, dass auch der Priesterbund nicht gänzlich unkonditioniert sein kann, da der Terminus „Bund“ an sich eine Form der Reziprozität voraussetzt, die mit unterschiedlichen Gewichtungen versehen werden kann. Als prägende Motive haben sich die Überzeitlichkeit JHWHs und die Individualisierung des Bundesbruches herausgestellt, durch die dem Bund eine dauerhafte Stabilität unabhängig von den Vergehen einzelner zukommt. Die Figur des ewigen Bundes ( )ברית עולםaus Gen 17 wird in Ex 31,12–17 zu einem Interpretament des Sabbats. Dies geschieht durch die Verbindung von עולםals universale Überzeitlichkeit im Mythos der Weltgründung und der dort situierten Einsetzung des Sabbats. In der Bewahrung des Sabbats durch Israel findet eine Vergegenwärtigung und Inganghaltung des Rhythmus der mythischen JHWH-Zeit statt, an der Israel partizipiert. Das Bundesgeschehen an sich tritt in den Hintergrund und scheint nur noch in der Funktion vorzuliegen, dem Sabbat Bedeutung zu verleihen. Insgesamt konnte an den jungen nachexilischen Texten beobachtet werden, dass die bundestheologischen Diskussionen in den größeren Kontext der Frage gestellt werden, wie nach dem Bruch des Exils und einer Restitution des Gottesverhältnisses die verschiedenen Konzeptionen zusammenhängend gedeutet werden können. Gerade für Lev 26 und Dtn 4 konnte ein bundestheologisches Ineinander von Erzväter- und Sinaitraditionen festgestellt werden, wobei dem Ezväterbund die Funktion der Kontinuität zukommt, in welcher die Möglichkeit des Scheiterns (Sinaibund) integriert werden kann. Ps 103 geht in der Deutung noch einen Schritt weiter, indem die aus Sinaikontexten entspringende Gnadentheologie der Rede vom Bund nicht nur thematisch vorgeschaltet wird, sondern auch seine Terminologie auf die Gnade übertragen werden. Die Vorrangstellung der ewigen für Generationen geltenden Gnade stellt die Voraussetzung dar, dass Israel den Bund mit JHWH bewahren und der Anordnungen gedenken kann.
3.3.2 Der Gebotsgehorsam Israels Der Ausdruck, der in Ps 103,18 verwendeten Anordnungen ( )פקדיםist im Alten Testament für die Aufforderung zur Gebotseinhaltung auffällig. Die Auslegung des Begriffes hat gezeigt, dass er in nachexilischen priesterlichen und weisheitlichen Traditionen vor allem die Aspekte eines organisierenden, strukturierenden und restituierenden Handelns in sich trägt. Zu seiner Untersuchung wurden u. a. die Psalmen 19 und 111 herangezogen, wobei in beiden Psalmen eine Verbindung zu schöpfungstheologischen Vorstellungen aufgezeigt werden konnte. Die Anordnungen scheinen auf die Organisation abzuzielen, die sich in der wohlgeordneten Schöpfung zeigt und sowohl die Abläufe der Natur als auch soziale Bestimmungen in Kategorien von Recht und Gerechtigkeit umfasst. Die Anordnungen beschreiben also nicht nur die Strukturen, die JHWH in seiner Schöpfungsord-
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nung eingesetzt hat, sondern auch die Forderungen, die daraus entstehen. Das Gedenken und Tun der Anordnungen bedeutet für Israel sich als einen Teil der Schöpfung zu verstehen und als dieser verantwortlich im Sinne einer Spiegelung des JHWH-Handelns zu agieren. Das Verb tun/machen hat sich als ein aufschlussreiches Leitwort im Psalm erwiesen, das eine Verknüpfung vom Tun JHWHs, dem Tun Israels und dem Tun der himmlischen Wesen zeigt, das nicht unabhängig voneinander betrachtet werden kann.
3.4 Der Gebotsgehorsam der himmlischen Wesen Die Besonderheit von Psalm 103 liegt in der Beschreibung der himmlischen Welt im Schlussteil. Die Engel werden in den Versen 20–22 in einer für das AT ungewöhnlichen Vielfalt beschrieben. In nur drei Versen finden sich für sie fünf verschiedene Bezeichnungen mit unterschiedlichen Funktionen. Zur Bedeutung der Titel und Ausarbeitung der Funktionen ist ein Vergleich mit den Sabbatopferliedern aus Qumran erarbeitet worden. Einige der Titel wie die Kombination גברי כחund die Bezeichnung משרתfür die himmlischen Diener kommen im AT nur in Ps 103/104 vor, lassen sich aber in der vielschichtig ausgearbeiteten Angelologie der frühen jüdischen Mystik verstärkt finden. Die Untersuchung der Titel für die Engel, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen wiedergegeben werden soll, hat gezeigt, dass die Zusammenstellung in Ps 103 aufgrund ihrer Funktion geschehen ist. Die Titel Boten und Helden von Kraft weisen beide eine Affinität zur Toraweisheit auf: Im AT werden in Qoh 5,5 und Mal 2,6–7 die Priester als Boten bezeichnet, welche die göttlichen Gebote weitergeben und durchsetzen. Die Helden von Kraft sind in den Hodayot die Wächter der Toramysterien (in 1QH XVI 12). Ihre in Ps 103 genannte Funktion „sein Wort tun, indem sie auf die Stimme seines Wortes hören“ spiegelt die Konzentration auf die Erfüllung der Tora wider. Die Titel Heer und Diener sind eng mit der Königsherrschaft JHWHs verbunden. JHWH ist Befehlshaber und Dienstherr, der in besonderer Verantwortung sein „Personal“ führt. Die Diener sind in den Sabbatopferliedern die Engel, die direkt im Allerheiligsten ihren Dienst vor JHWH ausüben (in 4Q400 1 i 4 und 4Q400 1 i 8). Die genannte Funktion „seinen Willen tun“ verweist sowohl auf die gehorsame und wirkungsvolle Ausführung des JHWH-Wortes (die Effizienz des Heeres wird vor allem an den militärischen Kontexten deutlich wie z. B. in Jl 2 und Jes 13) als auch auf die Reinheit des kultischen Dienstes (z. B. Lev 22,19.20.21.29; Jes 56,7). Der Begriff Werk bezeichnet die himmlischen und die irdischen Lebewesen und betont einerseits die Unterordnung unter den Schöpfer, andererseits aber auch seine besondere Zuwendung und Teilhabe an göttlicher Lebensqualität (Ps 104,31.33 Freude an den Werken und Freude der Werke). Auffällig ist, dass den Werken in Ps 103 keine weitere Funktion als das Loben zukommt, die Beschreibung eines
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Schluss
spezifischen Handelns scheint somit im Schlussteil des Psalms den himmlischen Größen vorbehalten zu sein: Das eigentliche Hören und Tun der Worte JHWHs ist in den Himmel verlegt. Dies ist besonders erstaunlich, da dieses himmlische Tun ein Spiegelbild zum gebotenen irdischen Tun ist, wie es vor allem aus dem Deuteronomium bekannt ist. Israel soll hören / die Worte hören und die Gebote tun. Die Wurzel עשהist in Ps 103,20f als Partizip aktiv verwendet und unterstützt durch die sprachliche Gestalt den Eindruck eines dauerhaften, zuverlässigen Ausführens der Ordnungen und Gebote JHWHs. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der himmlische Gottesdienst der Engel zwei grundsätzliche Funktionen erfüllt: Zum einen garantiert er die Stabilität der Königsherrschaft JHWHs, denn durch den Engelgehorsam wird gewährleistet, dass die von JHWH eingesetzte Ordnung aufrechterhalten wird. Während Israel immer wieder an den Gebotsforderungen scheitert, erwirken die Engel eine kontinuierliche Inganghaltung von JHWHs Wohlgefallen und tragen durch ihr Tun dazu bei, dass JHWH seinerseits in Gnade und Barmherzigkeit handeln kann. Des Weiteren sind die Engel nicht nur für die Gebotserfüllung, sondern auch für den Lobgesang zuständig. Sie erkennen die gute Ordnung JHWHs an und reagieren adäquat durch ihr Gotteslob. An dieser Stelle schafft Ps 103 die Verbindung zu den irdischen Geschöpfen, denn der Imperativ „Lobe JHWH“ ist an alle Werke gerichtet. Durch den gemeinsamen Lobpreis von Engeln und Menschen kann Israel an der Gottesnähe der himmlischen Wesen partizipieren. Der dauerhafte himmlische Lobgesang nimmt Israel mit auf und lässt es teilhaben an der idealtypisch gelingenden Gottesbeziehung der Engel. Vom Zentrum des Gottesthrones im Himmel aus, vor dem die Engel dienen, bis in die äußersten Peripherien der Geschöpflichkeit wird durch den Lobpreis diese funktionierende Beziehung erfahrbar. Zusammenfassend hat die Untersuchung die Vielschichtigkeit der Motivik gezeigt, durch welche das Gnadenhandeln JHWHs in Ps 103 beschrieben wird. Die Gnade ist dabei nicht mehr eine Handlungseigenschaft unter anderen, sondern die entscheidende Form der Zuwendung JHWHs zu seinem Volk. Die Dynamik des Psalms wird dadurch von einer Reziprozität bestimmt, in welcher die Taten JHWHs eine Reaktion Israels bewirken, die wiederum ihren Anteil zur Inganghaltung der Gottesbeziehung beiträgt. Deutlichster Ausdruck dieser reziproken Struktur sind die Segenshandlungen, die sich im Gotteslob äußern. Im gemeinsamen Gotteslob der himmlischen und irdischen Welt zeigt sich der Inbegriff dessen, was überhaupt über JHWH und Israel und ihre Beziehung zueinander ausgesagt werden kann.
4. Ausblick: Ein Beitrag zur Psalterexegese
In der Einleitung ist der Beitrag erwähnt worden, den die vorliegende Untersuchung für eine psalterexegetische Analyse der Psalmengruppe Ps 102–106 leisten kann. Im Ausblick soll an diesen Gedanken angeknüpft und Beobachtungen zusammengestellt werden, aus der eine Arbeitshypothese zum zukünftigen Weiterdenken entwickelt wird.3
4.1 Motivverbindungen zwischen Ps 103 und Ps 105 f Insgesamt hat sich in der Exegese von Psalm 103 ein besonders auffälliger Zusammenhang zu Ps 105f gezeigt, der an drei ausgewählten prägnanten Motivverbindungen dargestellt werden soll:
4.1.1 Der Gedanke der Reziprozität Ps 106 endet in Vv.47 f mit einem Zitat aus 1Chr 16,35f, indem die Wurzel ברך (preisen, segnen) verwendet wird („Gesegnet sei JHWH, der Gott Israels“). Ps 103 setzt mit dem Aufruf zum Segnen/Preisen ein („Segne, JHWH, meine Seele“). In Ps 105 und Ps 106 kommt diese Wurzel sonst nicht vor, sondern der Aufruf הודו, also die Wurzel ידה. Der große Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen liegt darin, dass ברךein Begriff der Reziprozität ist und sowohl von JHWH in Richtung seiner Geschöpfe ausgesagt wird als auch von den Geschöpfen in Richtung JHWH. Es gibt allerdings keinen Beleg, in dem JHWH Subjekt von ידהist und seine Geschöpfe preist. Für Ps 103 ist der Gedanke der Reziprozität wie oben ausgeführt wesentlich, auf JHWHs Wohltaten wird durch Lob geantwortet, was wiederum neue Wohltaten zur Folge hat. Gerade Ps 104 ist Schöpfung gewordener Ausdruck des JHWH-Segens in Form der Wohlordnung der belebten Welt. Die
3
Ich beschränke mich hier auf Beobachtungen, die noch nicht in den Beiträgen, die in der Einleitung zur Psalmengruppe 102–106 genannt worden sind, analysiert wurden. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit verstehen sich in Bezug auf diese Thematik als eine Ergänzung zu der ausführlichen Diskussion von Gärtner, Geschichtspsalmen.
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Schluss
Anknüpfung an das ברךund nicht an das ידהscheint bewusst geschehen zu sein, um einen Zusammenhang zwischen den Psalmen 103–106 zu schaffen. Hinzu kommt die Verbindung zwischen Ps 105,1 und Ps 103,6 durch den Begriff der Taten, die in Ps 103 an Israel durch JHWH vollzogen werden und zu deren Lob in Ps 105 aufgerufen wird. Der Begriff עלילהzur Benennung der Taten wird in den Psalmen 102–106 nur in diesen beiden Versen verwendet, obwohl es ein die Psalmen durchziehendes Leitwortsystem der Taten gibt, das aber von dem Verb עשהund seinen Ableitungen dominiert wird.
4.1.2 Die Bundestheologie Die Bedeutung der Bundestheologie ist für Ps 103 bisher deutlich unterschätzt bzw. überhaupt nicht ausgearbeitet worden. In der Exegese wurde herausgearbeitet, wie verschiedene Traditionsstränge in einem postpriesterschriftlichen Diskurs miteinander in Zusammenhang gebracht und durch die Gnadentheologie neu interpretiert werden können. Dieses Ringen mit den bundestheologischen Konzeptionen findet sich vor allem in Ps 105,8–11, in welchem die priesterliche Gnadenbundtheologie mit den Erzvätern in Zusammenhang mit der Schuldgeschichte des Volkes gebracht wird und die Fäden zuletzt in JHWHs Gnadenhandeln verbunden werden (Ps 106,45f). Die komplette geschichtstheologische Auseinandersetzung mit der Bundestheologie in Ps 105 und Ps 106 wird in Ps 103,17f in eine Kurzformel gebracht, die nur von der Gnadenformel her verständlich wird.
4.1.3 Der Weg von der Fürbitte zum himmlischen Gottesdienst Das Überleben des Volkes nach großer Versündigung wird in Ps 106 an die Fürbitte des Mose (Vv.19–23) und des Pinhas (Vv.30f) gebunden, womit eine Aufwertung des Priesteramtes einhergeht. Diese gesteigerte Wertschätzung der Priester zeigt sich, wie in der Arbeit dargestellt worden ist, im himmlischen Gottesdienst der Priesterengel. Von Ps 106 zu Ps 103 lässt sich die Weiterentwicklung einer Tradition erkennen, die mit der Fürbitte beginnt und zum himmlischen Gottesdienst führt.
4.2 Psalm 103 als Kopfpsalm Aufgrund dieser Ergebnisse hinsichtlich der Bezüge von Ps 105–106 zu Ps 103 lässt sich die These aufstellen, dass Ps 103 eine Funktion als Kopfpsalm innehat. Der Begriff ist eine Anlehnung an die Theorie von Jan Kreuch, der in seiner Untersuchung zum Assurzyklus im Jesajabuch die Struktur dahingegen erfasst hat,
Ausblick: Ein Beitrag zur Psalterexegese
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dass Jes 28 einen Kopftext darstellt, der Bezüge aus den Folgekapiteln in sich aufnimmt, deutet und selbst auch aufgrund der Leserichtung die Deutung der Folgekapitel prägt.4 Die Motivverbindungen zwischen Ps 105f und Ps 103 zeigen deutlich, dass die Richtung, in der die Motivik aufgenommen wird, von ‚hinten nach vorne‘ funktioniert, da Ps 103 entweder eine Weiterentwicklung und/oder eine Form von systematisierten Kurzformeln zeigt, die auch aus einem Begriff bestehen können und in Ps 105f ausführlicher in der Darstellung der geschichtlichen Abläufe beschrieben werden. In dieser Funktion als Kopfpsalm ist, so die Arbeitshypothese, Ps 103 als jüngster Psalm vor die schon vorhandenen Zwillingspsalmen 105f eingefügt worden. Vielleicht, das lässt sich an dieser Stelle allerdings nur mutmaßen, ist er sogar explizit für diesen Kontext geschrieben worden. Allerdings stellt sich die Frage, wann und warum der enge Zusammenhang durch Ps 104 erweitert worden ist? Ps 104 ist durch die Rahmung mit Ps 103 verbunden worden, wobei die Szenerie der himmlischen Welt den Anfang der Schöpfungstätigkeiten JHWHs, der in der Errichtung seiner himmlischen Wohnung besteht, in Ps 104 beschreibt. Die Schöpfungsordnung stellt einen stringenten Anschluss an Ps 103 dar, in dem schöpfungstheologische Argumentationen eine relevante Rolle spielen. Außerdem gibt es auch hier Motivverkettungen, die von Ps 102 über Ps 103 bis zu Ps 104 führen (z. B. das Vergänglichkeitsmotiv und die damit als Aufwertung der Lebenszeit gedeutete wechselseitige Freude von Schöpfer und Geschöpf). Ps 104 leistet wiederum, nach Gärtner, die schöpfungstheologische Fundierung der Geschichtshermeneutik in den Psalmen 105f. Insgesamt sind aber die stärksten Verbindungen zwischen Ps 103 und Ps 105f zu beobachten.
4.3 Skizze zur Entstehung der Komposition Ps 102–106 Ich nähere mich einer Beschreibung der Entstehung der Komposition von ihrem Ende her und nehme dabei die Ergebnisse von Judith Gärtner auf. 1. Ps 105 bildet mit Ps 106 einen Doppel- oder Zwillingspsalm, deren „Geschichtsentwürfe sprachlich und konzeptionell so aufeinander bezogen sind, dass am Ende des vierten Psalmenbuches ein großer Parallelismus der Heilsgeschichte entsteht.“5 2. Ps 103 wird als Kopfpsalm vor die Zwillingspsalmen gestellt, vielleicht sogar für diesen Zusammenhang geschrieben. Seine Platzierung an dieser Stelle muss auch mit Ps 102 in Verbindung gebracht werden, da das Gotteslob in Ps 103
4 5
Kreuch, Jan, Unheil und Heil bei Jesaja. Studien zur Entstehung des Assur-Zyklus Jesaja 28–31, WMANT 130, 2011. Gärtner, Geschichtspsalmen, 136.
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Schluss
den fehlenden Stimmungsumschwung von Ps 102 nachträgt. Es ist von wechselseitigen Anpassungen auszugehen, um nicht nur eine konzeptionelle Verbindung zwischen den beiden Psalmen zu schaffen, sondern auch eine, welche die Motivik umfasst (Vergänglichkeit und Überzeitlichkeit). Ps 102 scheint vermutlich in einer Grundfassung Ps 103 vorzuliegen, da es wahrscheinlicher ist, dass ein Klagepsalm um das Lob ergänzt wird, als dass ein in sich vollständiger Hymnus um eine Klage erweitert wird. 3. Als letzter Psalm wird Ps 104 in die Komposition eingefügt. Er stellt die Ausformulierung der in Ps 103 bedeutsamen Schöpfungsordnung von himmlischer und irdischer Welt dar und schafft zugleich die konzeptionelle Grundlage für die Geschichtspsalmen Ps 105f. Ein wichtiges Thema stellt für Gärtner die sog. Entgrenzung dar: „Denn beide Psalmen (104 und 105) entgrenzen die am Tempel erfahrene Fürsorge und Nähe ins Kosmische, so dass Jhwh in den kosmischen Vollzügen so erfahrbar wie im Tempel ist.“6 Sie geht also davon aus, dass eine bewusste Zusammenstellung von Ps 104 und Ps 105 naheliegt, fragt sich aber, ob Ps 104 eine redaktionell zusammengestellte Psalmengruppe aus Ps 103.105.106 schon voraussetzt. Letztlich kommt sie zu dem Schluss, dass Ps 104 als letzter eingefügt worden ist. Diese Annahme kann durch die Untersuchung von Ps 103 bestätigt werden. 4. Es wird eine redaktionelle Verbindung zu Ps 104 durch die Anfügung des Rahmens an Ps 104,1.35 geschaffen. Auch die Erwähnung des Windes als Bote und der Flammen als Diener in Verbindung mit dem Ptz. עשהkönnte in diesem Vorgang aus Ps 103 in Ps 104 eingefügt worden sein. Damit wird ein Zusammenhang erstellt, der JHWHs gesamte Schöpfertätigkeit und vor allem die weisheitliche Wohlordnung des Kosmos als Resultat der Gnade JHWHs deutet. Der Zusammenhang zwischen Schöpfung und Gnade, wie er vor allem in den jüngeren Qumrantexten wie den Hodayot oder der Gemeinderegel ausgearbeitet worden ist, besteht darin, dass der Mensch angesichts der Größe der Schöpfungswerke seine eigene Niedrigkeit und damit die Angewiesenheit auf die Gnade JHWHs erkennt und sie auch zugesprochen bekommt. Dieser Erkenntnisprozess lässt sich an der Zusammenstellung von Ps 103 und Ps 104 erkennen. Um die Arbeitshypothese zu prüfen, müssten die Psalmen 102 und 104 noch einmal aus der durch diese Arbeit neu gewonnenen Perspektive auf Ps 103 untersucht werden. Insgesamt wird auf der Endtextebene eine Komposition geschaffen, die zum Abschluss des vierten Psalmenbuches das hymnische Gotteslob als Antwort auf JHWHs Gnadentaten in Schöpfung und Geschichte zum Klingen bringt.
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AaO., 280.
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39,4 41,34 50,17
184429 184429 120246
Exodus 2,2 100 3 112221 3,2–4 243563 3,14 52, 110, 229 12,12 124 12,22f 111215 15,3 136 15,22–27 71f 15,25f 72, 74 15,26 71, 73, 73113.114, 74 16,3 101 19,4 104 19,5 156360 20,5 185430, 225 20,8 164–166, 234 20,8–11 167 20,11 166 22,26 114 23,12 163379 25ff 164381 25–40 214 31 159, 161f, 161373, 165f, 185, 203, 203468, 224, 227, 236 31,12–17 157, 160–164, 161371.373, 166f, 166392, 187437, 203, 304 31,16 234 32–34 110, 110213,116, 116235, 153, 230
326
Register
32,7–14 280 32,11 249574 32,12–14 282f 32,16 260 32,34 185, 185430.431 33 99, 101, 102191, 112221 33,4–6 99 33,5 243560 33,13 5247, 110, 111213, 112 33,14 111 33,18 102, 102191, 110, 111215, 124, 302 33,18–23 111 33,19 52, 100, 102, 110, 112221, 229f 33–34 19, 52, 111, 116, 283 34 19 34,1–4.28 111 34,5–7 229 34,5–8 111 34,6 5247, 283, 112221, 205470 34,6f 36, 65, 111f, 111213, 114231, 116f, 117238, 121, 196, 201, 205470, 207, 227 34,7 19, 1951, 21, 116f, 119f, 185, 205, 225 34,8f 270 34,9 65, 207 34,11–27 111 35–40 213 35,4–4,38 213486 38,21 213, 213486 38,21–31 213486 39,42 213
Levitikus 1,3 4–5 16,21 18,25 19,3.30 19,5 20,3
255 65 184 184428 162375 255 5249
162375 20,3–5 22,2.32 5249 22,19–21 255 22,19–21.29 305 22,29 255 23,3 162375 25,4 185433 25,25.47–49 85 26 21, 73, 157, 167, 167393, 174, 181, 181423.424, 183, 185–188, 188439.440, 194, 196, 203, 203468, 210481, 235f, 297, 304 26,3 162375, 181 26,3–13 73114, 182 26,9 187438 26,11.15.30.43f 169400 26,13–15.31–33 209481 26,14 181 26,15 174410 26,15.43f 169399 26,15.44 169402 26,16 184, 225 26,19f 187438 26,39–45 161373 26,40–45 181 26,40–46 174, 183–186 26,42.45 169401 26,44 174411
Numeri 1–4 212 1,44 211483 3f 213 3,32.36 212 3,39 211483 4,16 212 4,37 211483 4,46–49 212 4,49 213 14,13 249574 14,18 117, 185430 15,22–31 6594
Register
15,38–41 16,1–35 25,11–13 26 38,21
166 5351 284 212 224
Deuteronomium 1–2 193 1,35 193 2,14.16 193 4 67, 67100, 188–191, 189441, 190443.444, 193f, 196f, 199, 201–203, 287, 297, 304 4,1 190, 287 4,3 193 4,9ff 192 4,9.25 199 4,10.12 287 4,12 195454 4,13 223517 4,20 192f 4,23f 192–195 4,23.31 199, 202 4,24.31 73114 4,27f 194 4,28 190442 4,29–31 193–196 4,31 201, 203 4,32 194451 4,37 249574 5 206, 234 5,1–15 167 5,9 116, 184428, 205, 225 5,9f 205470 5,12 164 5,15 164, 166, 234 5,23–33 111 6 197 6,2 199 6,10ff 200465 7 204, 210481 7,8 205 7,9 116, 157, 204–206
327
205470 7,9f 7,9ff 204 7,9.12 156, 156360 7,10 205 7,12 157361 8 187436 9,8–10,11 206 9,29 249574 11,13 149342 12,7.12.18 144326 12,12 90147 12,18 90147 13,19 73113 14,26 90147, 144326 15 149343 16,11.14 90147, 144326 20,9 184428 23,10–15 252584 26,11 144326 27,7 144326 28 67, 67101 28,27 67 28,35 67 28,69 223517 29 67, 6596, 67100 29,8 156, 156360 29,15–18 65 29,21 66f, 300 29,21f 66f 29,21ff 67 29,24f 67 29,27 67 30,6 194451 31,20 174410 32,4 205470 32,10 104 32,15 173
Josua 7,11 23,16
223517 223517
328
Register
Richter 2,20 5,2.9 13,21f
223517 51 243563
Ruth 4,4.6
85
1. Samuel 2,10 9,2 16,18 25,28
2. Samuel 7 7,13.16 7,29 12,12 13,17 17,8.10 24,15ff
90 100 122 120246
91 91152 91, 91153 120246 253 122 243
1. Könige 3,9 143 8 5873, 173 8,23 156, 156360, 157, 204 8,50 120246 10,5 253 11,11 156, 156360, 223517 15 70 15,15 70 15,23 70 22 6183
2. Könige 8 17,25 18,12 24,2
1. Chronik 16,4 16,35f 29,13 29,20
70 223517 223517 65
253 307 5244 51
2. Chronik 6,14 156360, 157, 204 12ff 70 16 70 16,7–10 71 16,12f 70 16,13f 70 21 69 21,18f 69f 21,19 66, 69 21,19f 300 21,20 70 23,6 253
Esra 7f
175413
Nehemia 1,5 156360, 157, 204, 209 9 21, 51, 117, 208–211, 208479 9,5 51, 5244 9,6 206478, 208, 251f 9,6–8 208 9,17.19.27.31 209 9,32 156360, 157, 204, 206478, 208f 9,36f 208479
Register
Ester 2,2 6,3
253 253
Hiob 1,19 124250 3,5 87142 4,17 76f 4,17–21 76, 301 7,1.17 124249 7,1ff 76 7,7 123, 268632 7,8 123 7,10 123 8,12 140304 9,11ff 111215 9,18 101 10,4–6 124 14,13f 217500 15,14 77 15,14–16 77, 301 16,19–21 270636 19 109212 19,25 87142 20,14 69104 21,13 101 24,5 223515 24,9 103193 25,4 77 25,4–6 77, 301 32–37 267f 33 240, 286 33,7 63 33,14–30 263–278 33,23 277 36,11 101 38,27 101 39,27ff 103195
329
Psalmen 1 250578 1,3 149342 2,9 93160 2,12 93162 3,6 221 4,8 144 5,12 90 5,13 255 7,16 86 8 49, 77, 96–98, 96169 8,1.4–5.10 97171 8,6 96, 96169.170 9,3 90 9,16 86 10,16 14990 16,9 101, 101188, 144 16,10 86 16,11 88145, 146, 146335 18 122247 19 214f, 217500, 218–221, 223f, 222511, 234, 297, 304 19,2 152353 19,5–7 217f 19,6 219 19,7 217500 19,8–11 215–218 19,9 144, 234 19,15 255 20,5f 90148 21 6080, 87–89, 93, 96–98, 98176, 296, 301 21,2–7 87 21,2–8 89–92 21,3.5 90148 21,5.7f 95166 21,8.10 87143 21,8.10.14 87, 94f 21,9–13 87 21,9–14 93f 21,10 94163, 97173 23 13 24,8 122 25,7 120246
330
Register
27 144325 28,7 90 29,1 59 29,11 90 30 4835 30,4.10 86 30,6 255f 31,5 64 31,11 64 32,2.5 64 31,20 146 33 1837, 344 33,6 137291, 251f, 256 33,9 252 33,16 249 33,21 144 34,3 90 37,2 140304 37,17 221 38,7 63 38,5.19 64 41,5 64 44,2 146 49 64 51 79, 125253, 302 51,3 120246 51,4.7.9 64 51,5–7 78 51,12–14 79 51,19 255 54,6 221 59,10.18 90 59,11 91155 59,17f 136 61 116234 62,12f 136 65 5873 65,5 64, 101, 144323 65,10–14 102 65,12 91155, 96168 66,2.4 5244 66,8 51 67 91154 68,29 146
90 68,36 69 125253 69,14 255 72,17 92, 94 74 92 74,12 146 74,12f 89 77,13 146 78 29102, 188, 197f, 200–202, 200464, 287 78,1–7 198 78,1–8 198f, 198461 78,1–11 197 78,5 200464 78,8.10 201 78,8–11 198 78,9–11 197, 198461 78,10 156360, 202 78,11 199 78,33f 201 78,36 201 78,37–39 197f, 200f 78,39 137291 79,8 91155 81,17 101 85 91154 86 145329 86,3 145329 86,4 144, 145329 86,4f 145 86,11 145329 86,15 117 86,16 90 88,14 91156 89 22, 2280, 92, 116234, 221, 222511, 235544 89,5 221 89,6–9 245565 89,14f 122 89,15 221 89,18 255 89,20 122 89,50f 145 90 111, 125, 140f, 140307.308,
Register
144f, 144328, 145328.329.330, 147f, 150, 154, 297, 302 90,3 142315, 144, 150 90,6 144 90,5f 123 90,7f 142 90,10f 126 90,11 145328.330 90,11–17 141–146 90,14–17 149, 152 90–92 141 91,2 92158 91,16 101 93,1 92 93,2 146 93–100 141 96,1 51 96,2 51, 5244 97,11 144 100,1 51 100,4 51, 5244 100–107 30105 101 30104, 93159 101–106 2383 102 22, 125f, 125251, 127260, 128264, 130–132, 139, 141, 144328, 146, 148, 150, 152f 102,5.10 149 102,10–12 144328 102,11–14.24f 127–132 102,12 123 102,13f 149 102,14 129266 102,15 130, 145 102,17 130 102,18 130270 102,20–22 129f 102,24f 152 102,26 152 102,26f 152 102–104 152f 102–106 29f, 29101, 112220 103f 112, 132, 180 103–106 30105
331
22, 2383, 49, 5142, 104 81, 84f, 125, 147–154, 147338, 167393, 179f, 217499, 223515, 240 104,1 40, 152, 222513 104,2f 91157 104,3f 245 104,6–9 180 104,10f 180 104,10–17 180 104,11 180 104,13f 180 104,14 144 104,15 149, 152, 180 104,16 149 104,21 148340, 149 104,23 146 104,24 148 104,26 84 104,27–30 148–151, 149344 104,28 149343 104,28 150349 104,29f 124250 104,30–35 151352 104,31.33 305 104,31.33f 151 104,33 99, 101f, 101189, 102 104,35 84 105 29102, 223515 105,1 112, 308 105,2.5 223515 105,3 52, 144 105,8 224517 105,8–10 283, 285 105,8–11 308 105,11.44 223515 105,40–42 223515 106 29101.102, 5351, 111 106,16 285 106,16–18 5351 106,19–23 279f, 283, 285, 308 106,21 280 106,28–31 284 106,28–39 5351
332
Register
106,30f 308 106,34–42 281, 283 106,43–46 281f, 286 106,43 282 106,45f 308 106,46 283 106,47 52 106,47f 307 107 29, 29101 111 1837, 220–224, 222513, 223515, 225519, 227, 233538, 234, 235542, 297, 304 111,1f 222, 222514 111,2.10 222513 111,3.9 206478 111,4 222f 111,5 222f, 224517 111,6 222f 111,7 222512 111,7f 222, 222511, 234 111,9 223 111,10 222, 222512 112,10 90149 117 123 117,1 123 117,2 122f 118 4835 119 1837, 217, 223f 119,15 218 119,16 221 119,104 218 119,128 218, 234 119,147f 91156 128,5 5873, 101 129,6 140304 130 230, 231535, 232, 233538 130,1–3 231 130,4 231 130,7f 231 132,12 156360 132,15 101 136 29102 145,1.21 5244 145,14 221
145,16 145,21 146,2 148,1f
149343, 255 51 101f 245565
Sprüche 1,1–7 222513 1,7 145328, 222513, 233538 1,8 215493 6,20 215493 10,24 90149 12,8 63 14,35 255 16,31 99178 16,15 255 18,1 90149 19,12 255 20,29 99178 21,25 90149 30,17 103195 31,5 223515 31,15 223515
Kohelet 5,5 244, 286, 305 9,7–10 144327
Jesaja 6 6183 10,12–14 249 13 305 13,3–5 247 13,10 247570 13,13 208480, 247570 16,11 69104 21,3 63 24,5 174410 28 309 28,15ff 217500 30,1–17 137290 31,3 137291
Register
37,18 86 40 1842, 106, 106208, 133, 136, 153, 302 40,1 105, 133278, 136283 40,1–8 135282 40,1–11 106208, 133–137, 133277.279 40,2 184 40,3.6–8 138 40,6 138299, 139 40,6–8 16, 106, 123, 125, 133f, 136–138, 138302, 297 40,7 136284, 137288.292, 139 40,8 139 40,9 105 40,10f 106208 40,12–31 106208 40,26 208480, 212483, 247f, 249, 251 40,28 105 40,29–31 249574 40,30f 105f, 106208 41,27f 105 42,13 247 42,15f 247 43,1–7 86 44,22 86 45,12 248, 251 49,8 255 51,7f 138 51,8 138 51,12 138 52,1–6 109 54,7 f.10 138 54,8.10 137 54,4–8 103194 54,8 138f 54,10 139 55,1–5 138302 55,3 137–139 55,6–11 135281 55,10f 134, 138, 138302 55,11 139 56,7 255, 305 58,10 101, 139
58,11 60,7 61,2 61,5f 62,6 66,16
333 101 255 255 253f 184429 86
Jeremia 1,10 184429 2,11 280662 2,22 64 3 172, 174f, 177–179 3,1–5 175 3,1–4,2 175 3,4f 175f 3,4.19.21f 175 3,6.8.11.12 172 3,6–11 175413 3,9 176 3,12f 176 3,13 172407, 177 3,14–18 175413 3,17 177 3,22 175, 177 5 6596 5,1–2.7–9 65 10,12 249574 11,10 174410 13,18 96168 14 179421, 180, 180421, 182, 235f 14f 167, 174, 177–181, 188440, 203 14–16 68102, 171 14,1–6 179f, 182 14,1–15,9 168, 170403, 173408, 174f 14,2–6 170 14,7 172 14,7–9 182 14,7–9.19–22 173408 14,8f 172 14,9 173, 236 14,10 174, 177
334
Register
14,10–16 170 14,11 68, 170 14,13 170 14,14 68 14,17f 68, 187 14,17.19 178 14,18 66, 68, 300 14,19–22 168–170, 172 168397, 174, 188, 203, 203468, 304 14,20 178, 186 14,22 179421, 182 15,1 170f 15,1.19 284667 15,5 173 15,5f 170f, 177 16,1–9 68 16,4 66, 68f, 178, 300 16,5 171 16,10.18 64 16,18 205473 27,5 249574 31 21, 79, 178 31,31ff 188440 31,32 174410 31,34 65 32,7f 85 32,17 249574 33,20 174410 34 211483 36,16 211483 37,3 284668 42,2.20 284668 50,20 65 50,33f 109 51,15 249574
Klagelieder 2,11 3,55–58
103193 86
Ezechiel 14,3f 17,14 19,4 20,12.20 36 36,9 37,27 39,7.25 43,7f 44 44,10 44,11
64 156360 86 162375 79, 173 182 182 5249 5249 214490 64 214
Daniel 8–12 206477 9 206, 209–211, 209481 9,4 156360, 157, 204, 206f 9,7.14 207 9,9 207 9,16 207 9,18 207 9,19 65 9,21–27 210
Hosea 1,6 2,17 5 5,12 5,12f 5,15 11,1 11,8 13,14
113 102 74 74 74 74118 102 103 74
Joel 1f 1,6 1,11f 1,14
179421 246567 180421 180421
Register
1,18.20 180421 2 305 2,2f 246 2,7 246 2,10 180421, 247570 2,11 208480, 246, 249 2,13 281ff
Amos 2,6–8.13–15 2,7 3,9 4,1 5,7.12 5,7.24 5,17 7,2 7,5 7–9 8,2 8,4–8 9,1–4
109211 5249 109 109 98175 109 124 65, 270638 270638 6596 102191 109211 217500
Jona 1,14f 4,2
232537 281ff
Micha 1,16 3,8 6,6 7,6
103195 249 91156 173
Nahum 3,4–7 3,5–7 3,6
173409 173 173
Sacharja 4,6
335 249
Maleachi 2,5–7 244, 245, 286671, 305 3,10 223515
Judit 7,27
Sabbatopferlieder 4Q400 1 i 4 4Q400 1 i 5ff 4Q400 1 i 4–6.15f 4Q400 1 i 8 4Q400 1 i 18 4Q400 2 2 4Q400 2 6–7 4Q402 4 3ff 4Q402 4 12–15 4Q403 1 i 35 4Q405 19 7 4Q405 22 9 4Q405 22 14 4Q405 23 i 3 4Q405 23 i 10–12 4Q405 23 ii 12 11QShirShabb 2–1-9 5
Gemeinderegel 1QS 1QS I,21–II,1 1QS XI, 5–7 1QS XI, 14–15 1QS XVI
103193
254, 305 253585, 256 260f 254, 305 262 253585 262, 263613 253585 257f 256f 245 245 253585 254 261f 256f 245
83 249 82 250
336
Register
Hodayot 1QH VII 27–30 1QH IX 3–41 1QH XI 20–24 1QH XVI 12–14 1QH XVIII 36–37
82f 81 82f, 302 249f, 305 249f
Jubiläenbuch I,1–4.17–19 2,16–22
290 290ff
2,21 22,10 22,11 31,13–17 31,17.20 31,21f
293688 292 292 292 292 292
Testament Levi 3,4f 5,6
270367 270367