Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten: Zum Gedenken an Eduard Lohse 9783647540528

Wer das Vaterunser seinen Aussagen und seiner Intention nach verstehen will, muss es innerhalb der antiken Zusammenhänge

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German Pages 211 [212] Year 2016

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Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten: Zum Gedenken an Eduard Lohse
 9783647540528

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Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Ismo Dunderberg, Jan Christian Gertz, Dietrich-Alex Koch, Matthias Köckert, Hermut Löhr, Joachim Scharper, David Andrew Teeter und Christopher Tuckett

Band 266

Vandenhoeck & Ruprecht

Florian Wilk (Hg.) 

Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten Zum Gedenken an Eduard Lohse

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 3 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0939 ISBN 978-3-647-54052-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Eduard Lohse auf der Feier zu seinem 90. Geburtstag am 20.02.2014. © Ulrich Reinecke, Hannover

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Jörg Frey Das Vaterunser im Horizont antik-jüdischen Betens unter besonderer Berücksichtigung der Textfunde vom Toten Meer . . . . .

1

Reinhard Feldmeier „Geheiligt werde dein Name“. Das Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteratur . . . . . . . . .

25

Florian Wilk „So sollt ihr beten …“ Das Vaterunser als Element der frühen Jesusüberlieferung . . . . . . . .

83

Peter von der Osten-Sacken Das Vaterunser als Zugang zum Matthäusevangelium. Das Beispiel der Vergebungsbitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Michael Wolter Das Gebet der Jünger. Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 11,2c–4) . . . . . . . . . . . . .

125

Jürgen Wehnert Ein Gebet für alle christlichen Gemeinden. Zum Vaterunser in der Didache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

Nachruf auf Eduard Lohse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Bibliographie Eduard Lohse 2007–2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Verzeichnis der Beiträger zu diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Vorwort

Am 19. Februar 2014 konnte Eduard Lohse seinen 90. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass lud das Seminar für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen gemeinsam mit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers für den folgenden Tag zu einem Symposium unter dem Titel „Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten“ ein, das in der Paulinerkirche, dem Historischen Gebäude der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek, stattfand. Die Idee dazu entstand in einem Gespräch, das der Herausgeber im Jahr 2013 mit dem zu Ehrenden führte. Dabei bekundete Eduard Lohse mit Nachdruck seinen Wunsch, es möge bei solch einem Festakt nicht um seine Person, auch nicht um sein Wirken als Wissenschaftler und Mann der Kirche gehen; vielmehr solle die Veranstaltung ganz der Interpretation des Neuen Testaments gewidmet sein. Dem Vorschlag, dafür im Anschluss an seine eigenen Arbeiten das Vaterunser ins Zentrum zu stellen, stimmte er dann umgehend und gerne zu. Anlässlich der Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises 2007 durch die Universität Tübingen hatte Eduard Lohse eine Vorlesung gehalten, die das Vaterunser „im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen“ erklärte. Das Manuskript wurde, gemeinsam mit dem Text der bei der Preisverleihung von Friedrich Schweitzer gehaltenen Festansprache, 2008 publiziert.1 Im Folgejahr legte Eduard Lohse eine Untersuchung vor, mit der er die 2007 „entworfene Skizze … auf eine breitere Basis“ stellte. In dieser – inzwischen mehrfach neu aufgelegten – Studie wurde das Vaterunser „im Zusammenhang mit der Wirksamkeit Jesu und seiner Verkündigung von der anbrechenden Gottesherrschaft, aber auch im Blick auf das Gebet der frühen Christenheit betrachtet“, um „sowohl die ursprüngliche Gestalt des Gebets wie auch seine bleibende Bedeutung des näheren zu bedenken“.2 Beide Bücher bringen die Einsicht zur Geltung, dass das Vaterunser nur unter Berücksichtigung der verschiedenen Kontexte, in denen es entstand, überliefert wurde und ein ums andere Mal ausgelegt worden ist, angemessen verstanden werden kann. Gleichwohl sind sie im Kern und auf weite Strecken als Kommentare angelegt, die das Gebet Zug um Zug, von der Anrede bis hin zur Schlussbitte, in seinem Aussagegehalt erläutern. Das ————— 1

Vgl. E. LOHSE, Das Vaterunser im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Lucas-Preis 2007, hg. von F. Schweitzer, Tübingen 2008. 2 Vgl. E. LOHSE, Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 2009, 8.

X

Vorwort

Symposium sollte deshalb jener grundlegenden Einsicht auf andere Weise entsprechen und Beiträge versammeln, die jeweils das Vaterunser als Ganzes in einen bestimmten Kontext einordnen. Aus sachlichen und zeitlichen Gründen lag es nahe, sich dafür auf die ältesten Quellen zu beschränken. Die Themenauswahl ergab sich bei diesem Ansatz gleichsam von selbst: Es galt, das Vaterunser in den drei frühchristlichen literarischen Zeugnissen, die es in je anderem Wortlaut anführen, in seinem diesen Schriften vorausliegenden Überlieferungszusammenhang und in den für die Jesusbewegung sowie das entstehende Christentum maßgeblichen religionsgeschichtlichen Horizonten zu verorten. Die Referenten, die sich Eduard Lohse dafür wünschte, haben die Einladung zum Symposium ohne Zögern angenommen. Aus ihren Kurzvorträgen, den anschließenden Diskussionsvoten und dem Schlusswort von Eduard Lohse3 ergab sich ein ebenso facettenreiches wie kohärentes Gesamtbild vom Vaterunser in seinen antiken Kontexten. Der vorliegende Band vereint die vor diesem Hintergrund ausgearbeiteten Fassungen der im Februar 2014 gehaltenen Vorträge. Am Anfang stehen die beiden religionsgeschichtlich orientierten Studien. Jörg Frey betrachtet „[d]as Vaterunser im Horizont antik-jüdischen Betens unter besonderer Berücksichtigung der Textfunde vom Toten Meer“. Dabei erweisen sich insbesondere die in Qumran entdeckten aramäischen Privatgebete in mehrfacher Hinsicht als „enge Geistesverwandte“ (24); sie und einige andere Qumrantexte bieten nicht nur eindrückliche Parallelen für die Anrede Gottes als Vater, sondern darüber hinaus diverse Ansatzpunkte für ein vertieftes, gängige Alternativen überwindendes Verständnis der einzelnen Bitten und ihrer Zusammenstellung im Vaterunser. Reinhard Feldmeier untersucht „[d]as Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteratur“, um „die Charakteristika biblischen Betens im Allgemeinen und die des Herrengebets im Besonderen präziser wahrzunehmen“ (29). Der Vergleich mit vielen griechisch-römischen Texten lässt im Blick auf Horizont, Anlass, Gestaltung, Inhalt und Subjekte des Betens „nicht nur … Unterschiede, sondern … auch Entsprechungen“ (30) hervortreten und zumal für die erste Bitte erkennen, wie sie die Heiligkeit des Namens Gottes als Zuspruch und Anspruch an die Betenden zur Sprache bringt. Florian Wilk geht in seinem Aufsatz zum „Vaterunser als Element der frühen Jesusüberlieferung“ der Frage nach, wem es ursprünglich wozu übermittelt wurde. Im Horizont der synoptischen Erzähltradition und der Anweisungen Jesu zu privat-individuellem Beten erscheint das Vaterunser ————— 3

Bedauerlicherweise wurde versäumt, dieses eindrucksvolle Schlusswort aufzuzeichnen. Für den vorliegenden Band wäre es freilich auf die Druckfassungen der Beiträge abzustimmen gewesen, und dazu fand sich vor Eduard Lohses Tod im Juni 2015 keine Gelegenheit mehr.

Vorwort

XI

als Gebet, mit dem nicht nur die Jünger, sondern all seine Hörer „ je für sich seinen Weisungen und seinem Vorbild folgen“ (102) können, um „die Beziehung zu Gott als Vater, die Teilhabe an der Gottesherrschaft und de[n] Eintritt in das Kraftfeld der Vergebung“ (100) Ereignis werden zu lassen. Die weiteren Beiträge sind den frühchristlichen Quellenschriften gewidmet, die das Vaterunser wörtlich anführen. Peter von der Osten-Sacken präsentiert anhand der Vergebungsbitte „[d]as Vaterunser als Zugang zum Matthäusevangelium“: Wie dieses durchweg „die Einheit Gottes als Erbarmer und Richter“ betont, so bringt jene Bitte das kasuistisch veranschaulichte „Korrespondenzverhältnis zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Verhalten“ (107) ebenso zum Ausdruck wie das Angewiesensein der Menschen „auf die ständige Gewährung eines Neuanfangs ohne Schulden“ (113) und damit auf das überreiche Erbarmen Gottes. Letzteres sollte die kirchliche Abendmahlsliturgie daher auch Judas nicht länger absprechen. Michael Wolter legt dar, welche Interpretation „[d]as Vaterunser im Lukasevangelium“ durch die narrative Einbindung, die Verknüpfung mit einem „kleinen Gebetskatechismus“ (128)4 und die Gestaltung des Wortlauts erfährt: Es erscheint als das alltagstaugliche, alltäglich zu sprechende „Gebet der Jünger“ Jesu, das ihre Gemeinschaft kennzeichnet, ihr Beten auf Gottes Fürsorge und Vergebung gründet und es auf die in Erhörungsgewissheit geäußerte Bitte ausrichtet, dass Gott als Vater „seine himmlische Wirklichkeit durch seinen Geist in ihrer Mitte erfahrbar werden lässt“ (142). Jürgen Wehnert schließlich erläutert, warum, wie und wozu das „Vaterunser in der Didache“ zitiert wird: Sie legt für alle angesprochenen Gemeinden „einen verbindlichen Wortlaut fest“ (147), der die spätere Textüberlieferung an einigen Punkten nachhaltig beeinflusst hat; sie stellt es als Abschluss des Taufritus, als maßgebende Einleitung der Eucharistiefeier und als integrales Element der Alltagsfrömmigkeit des Einzelnen dar; und sie macht es so zu einem zentralen Symbol der religiösen Identität der Didache-Christen „zwischen Heiden und nicht-christusgläubigen Juden“ (161). Insgesamt dokumentieren die hier gesammelten Beiträge ein weitgehendes Einverständnis in grundlegenden exegetischen Einsichten zum Vaterunser, die Vielfalt der für seine Interpretation zu berücksichtigenden Quellen und Perspektiven, den Bedarf an weiterer Klärung, der bei strittigen Sachverhalten und offenen Fragen besteht – und in alledem, durch positive Aufnahme ebenso wie durch kritische Weiterführung, die wegweisende Bedeutung der Arbeiten Eduard Lohses zu diesem Gebet, das die Christen in aller Welt eint und sie zugleich an ihre Verbundenheit mit den Juden erinnert5. ————— 4 5

M. Wolter greift damit eine Formulierung Eduard Lohses (DERS., Vater unser, 98) auf. Vgl. LOHSE, Vater unser, 102.

XII

Vorwort

Eduard Lohse hatte sich eine Ehrung seiner Person anlässlich seines hohen Geburtstages verbeten. Das Gleiche galt für die Trauerfeier am 4. Juli 2015 im Kloster Loccum. So erscheint auch dieses Buch nicht zu seinen Ehren. Es soll aber, im Sinne von Hebr 13,7, durchaus dem Gedenken an ihn als theologischen Lehrer dienen. Daher enthält es neben den vorgestellten fachwissenschaftlichen Beiträgen zum einen den Nachruf der Theologischen Fakultät zu Göttingen, zum andern den vierten und letzten Teil der Bibliographie Eduard Lohses. Ich danke der Familie Lohse für die Möglichkeit, dafür die von ihm selbst geführte Publikationsliste einsehen zu können. Auch von anderen habe ich vielfältige Unterstützung erfahren, ohne die der Band nicht hätte fertiggestellt und veröffentlicht werden können: Die beteiligten Autoren haben die Aufgabe, ihre Vorträge zu Aufsätzen auszuarbeiten, mit großem Ernst und Einsatz wahrgenommen und mir im Korrekturprozess ebenso zügig wie verlässlich zugearbeitet. Janine Müller hat die Erstellung der Druckvorlage – von der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge bis hin zur Anfertigung der Register – mit Ausdauer, Geschick und Sorgfalt mustergültig vorbereitet. Julian Bergau hat mir mit scharfem Auge beim Korrekturlesen geholfen. Die Herausgeber der „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments“ haben den Band bereitwillig in die renommierte Reihe aufgenommen. Jörg Persch hat das Publikationsvorhaben von Anfang an begrüßt und mit wertvollem Rat begleitet. Moritz Reissing sowie weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht haben den Prozess der Drucklegung engagiert und professionell vorangetrieben. Ihnen allen danke ich von Herzen. Möge das Buch in „Wissenschaft und Kirche“6 die Aufmerksamkeit für die Eigenart des Gebetes fördern, „das heute wie einst die Welt umspannt“7. Göttingen, im Advent 2015

Florian Wilk

————— 6

K. Aland/S. Meurer (Hg.), Wissenschaft und Kirche. FS Eduard Lohse, TAzB 4, Bielefeld 1989. 7 LOHSE, Vater unser, 8.

Jörg Frey

Das Vaterunser im Horizont antik-jüdischen Betens unter besonderer Berücksichtigung der Textfunde vom Toten Meer

„Jesus war kein Christ, sondern Jude“ – so hat es der Göttinger genius loci Julius Wellhausen 1905 in seiner Einleitung in die synoptischen Evangelien formuliert.1 Das klingt heute weniger provokativ als damals, zumal nach über 30 Jahren des ‚Third Quest‘, der dritten ‚Runde‘ der Frage nach dem historischen Jesus, in der – anders als häufig zuvor – Jesu Kontinuität zum Judentum2 seiner Zeit stärker betont wird als die Diskontinuität oder gar die theologische Herausarbeitung seiner Einzigartigkeit.3 So gilt auch für das Gebet Jesu, das mit der Zeit zum Gebet der weltweiten Christenheit avanciert ist: Es ist zunächst ein ganz und gar jüdisches Gebet, wenngleich es uns ausschließlich in christlichen Texten – zwei Evangelien sowie der Didache – begegnet,4 und auch in seinem christlichen —————

1 Vgl. J. WELLHAUSEN, Einleitung in die synoptischen Evangelien, Berlin 1905, 113. S. dazu H.D. BETZ, Wellhausen’s Dictum ‚Jesus was not a Christian, but a Jew‘ in Light of Present Scholarship, Studia Theologica 45 (1991) 83‒110. 2 Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 29; T. HOLMÉN, The Jewishness of Jesus in the ‚Third Quest‘, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q. The Teaching of Jesus and the Earliest Records, JSNT.S 214, Sheffield 2001, 143‒162; DERS., An Introduction to the Continuum Approach, in: Ders. (Hg.), Jesus from Judaism to Christianity. Continuum Approaches to the Historical Jesus, LNTS 352, London 2007, 1‒16; ausführlich C.A. EVANS, Jesus and His Contemporaries. Comparative Studies, Leiden 1995; B. CHILTON, Jesus within Judaism, in: Ders./C.A. Evans (Hg.), Jesus in Context. Temple, Purity, and Restoration, Leiden 1997; J.H. CHARLESWORTH, Jesus within Judaism. New Light from Exciting Archaeological Discoveries, New York 1988; M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Die Geschichte des frühen Christentums I: Jesus und das Judentum, Tübingen 2007; W. STEGEMANN, Jesus und seine Zeit, Biblische Enzyklopädie 10, Stuttgart 2010. 3 Zur bleibenden Funktion der Rede von Diskontinuitäten im Rahmen des neuen Paradigmas s. zuletzt T. HOLMÉN, Hermeneutics of Dissimilarity in the Early Judaism˗Jesus˗Early Christianity Continuum, in: Ders. (Hg.), Jesus in Continuum, WUNT 289, Tübingen 2012, 3‒42. Wo von Diskontinuität zu reden ist, ist diese im Kontext des inzwischen deutlich pluraleren Bildes des antiken Judentums im Blick auf spezifische Strömungen oder Positionen des zeitgenössischen Judentums zu erheben, und hier ergeben sich durchaus aufschlussreiche Beobachtungen. Aber die in der älteren Forschung verbreitete generalisierende Rede von ‚dem‘ Judentum verbietet sich für die Zeit Jesu. 4 Gelegentlich wird gefordert, auf die Bezeichnung der Texte der frühen Jesusbewegung als ‚christlich‘ zu verzichten. Doch wäre dies m.E. eine übereilte und zugleich wenig fruchtbare ‚terminological correctness‘: Auch wenn diese Texte sämtlich noch mehr oder weniger im Rah-

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Jörg Frey

Gebrauch hält es in der Gemeinde Jesu den jüdischen Urgrund präsent5 – die jüdische Praxis des (regelmäßigen, zu festen Zeiten erfolgenden) Betens ebenso wie praktisch alle Einzelthemen und -motive der fünf bzw. sieben Bitten und der sekundär angeschlossenen Doxologie:6 der heilige Gottesname, die kommende Königsherrschaft Gottes, das Tun seines Willens, die tägliche Fürsorge Gottes, die Sündenvergebung, die Bewahrung vor der Versuchung und die endgültige Beseitigung des Bösen. In diesem Horizont hat Eduard Lohse in seiner schönen Auslegung das Vaterunser interpretiert:7 als jüdisches Gebet und im Kontext der Traditionen jüdischer Gebete, insbesondere des Qaddisch, des Achtzehnbittengebets und der qumranischen Gebetsdichtung der Hodayot. Damit und in vielen Details folgt der Jubilar einem anderen Göttinger genius loci, Joachim Jeremias, der mit seinen grundlegenden Arbeiten zur Vateranrede Jesu8 und überhaupt mit seinen Forschungen zur Sprache Jesu9 die neutestamentliche Forschung, nicht nur zum Vaterunser, geprägt hat. Seine Einsichten zur poetischen Gestalt der Sprache und Verkündigung Jesu sind bis heute, trotz aller Problematisierungen der Kriterienfragen in der Jesusforschung10 und trotz vieler neuer Erkenntnisse im Detail, von grundlegender Bedeutung. ————— men eines synagogalen Judentums oder im Strahlungsfeld jüdischer Überlieferung stehen, sollte man auf das Attribut ‚christlich‘ (vgl. Apg 11,26; 26,28; 1Petr 4,16) nicht verzichten. Strikte Grenzen zwischen dem werdenden Christentum und dem synagogalen Judentum gab es im 1. Jh. aber noch nicht, und trotz aller Abgrenzungen und Auseinandersetzungen (gerade in dem so jüdischen Matthäusevangelium) verfestigte sich die ‚Trennung der Wege‘ erst deutlich später im 2. Jh. 5 Zu diesem hermeneutischen Sinn s. J. FREY, Neutestamentliche Wissenschaft und antikes Judentum. Probleme – Wahrnehmungen – Perspektiven, ZThK 109 (2012) 445‒471. 6 Der jüdische Gelehrte Israel Abrahams hat einmal versucht, aus jüdischen Gebeten ein „Vaterunser“ zusammenzusetzen: I. ABRAHAMS, Studies in Pharisaism and the Gospels II, Cambridge 1924 (Nachdruck New York 1967), 98f; s. W.D. DAVIES/D.C. ALLISON, A Critical and Exegetical Commentary on The Gospel according to Saint Matthew I: Introduction and Commentary on Matthew I–VII, ICC, Edinburgh 1988, 595. 7 Vgl. E. LOHSE, Das Vaterunser – im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Tübingen 2008; vgl. DERS., Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 32011. 8 Vgl. J. JEREMIAS, Abba, in: DERS., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15‒66; DERS., Das Vaterunser im Lichte der neueren Forschung, Calwer Hefte 50, Stuttgart 1962, wieder abgedruckt in: DERS., Abba, 152‒170; DERS., Die Botschaft Jesu vom Vater, Calwer Hefte 92, Stuttgart 1968. 9 Zusammengefasst in J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1970. 10 Vgl. zunächst G. THEISSEN/D.WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA/StUNT 34, Fribourg/Göttingen 1997; T. HOLMÉN, Doubts about Double Dissimilarity. Restructuring the Main Criterion of Jesus-ofHistory Research, in: B. Chilton/C.A. Evans (Hg.), Authenticating the Words of Jesus I, Leiden 1999, 47–80; S.E. PORTER, The Criteria for Authenticity in Historical-Jesus Research, JSNT.S 191, London/New York 2000; T. HOLMÉN, Authenticity Criteria, in: C.A. Evans (Hg.), Encyclopedia of the Historical Jesus, New York 2008, 43‒54; S.E. PORTER, The Criteria of Authenticity,

Das Vaterunser im Horizont antik-jüdischen Betens

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Es ist also nicht mehr, als ein paar Eulen nach Athen zu tragen, wenn ich an dieser Stelle zum ehrenden Gedenken an Eduard Lohse, den Vaterunser-Ausleger und wirkungsvollen Vermittler der Qumran-Texte,11 einige Aspekte zur Auslegung des Vaterunsers präsentiere, die sich aus neueren Forschungen zur Sprache Jesu wie auch zu seiner palästinisch-jüdischen Mitwelt ergeben. Aufgrund dieser Einsichten dürften auch einige Göttinger Traditionen nochmals zu korrigieren oder zu modifizieren sein.

Grundlage neuerer Einsichten sind immer wieder neue Quellen bzw. deren verbesserte Zugänglichkeit und vertiefte Auswertung. Für die neutestamentliche Wissenschaft des 20. Jh.s waren dies insbesondere die Textfunde vom Toten Meer, die einen Paradigmenwechsel in wesentlichen Bereichen der Auslegung bewirkt haben.12 Auch wenn in den ersten Dekaden der Qumranforschung viele überzogene Thesen formuliert wurden, die später aufgrund der vollständigeren Publikation des Materials zu revidieren waren,13 und das Interesse der neutestamentlichen Forschung sich mehrheitlich wieder anderen Texten, Themen und Trends zugewandt hat, sind die Einsichten, die sich aufgrund der Qumran-Bibliothek philologisch, methodologisch, religionsgeschichtlich und exegetisch ergeben, noch längst nicht hinreichend aufgenommen. Dies gilt auch für die Fragen der Sprache des irdischen Jesus und – angesichts der zahlreichen Gebetstexte aus Qumran – für die Gebetspraxis im palästinischen Judentum seiner Zeit, so dass sich von hier aus auch neue Aspekte zum jesuanischen Vater-Gebet ergeben.14 ————— in: T. Holmén/S.E. Porter (Hg.), Handbook of Historical-Jesus Research I, Leiden 2011, 695–714, sowie aus der Perspektive des ‚memory approach‘ C. Keith/A. Le Donne (Hg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity, London 2012. 11 Mit seiner zweisprachigen Ausgabe der wichtigsten Qumran-Texte in masoretischer Punktation und deutscher Übersetzung hat Eduard Lohse für Generationen deutschsprachiger Theologiestudierender den Zugang zu den Textfunden vom Toten Meer ermöglicht; s. E. Lohse (Hg.), Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch. Mit masoretischer Punktation, Übersetzung, Einführung und Anmerkungen, Darmstadt 21971. 12 Vgl. dazu J. FREY, Die Bedeutung der Qumran-Funde für das Verständnis des Neuen Testaments, in: M. Fieger/K. Schmid/P. Schwagmaier (Hg.), Qumran – die Schriftrollen vom Toten Meer. Vorträge des St. Galler Qumran-Symposiums vom 2./3. Juli 1999, NTOA 47, Fribourg/Göttingen 2001, 129‒208; DERS., The Impact of the Dead Sea Scrolls on New Testament Interpretation: Proposals, Problems and Further Perspectives, in: J.H. Charlesworth (Hg.), The Bible and the Dead Sea Scrolls. The Princeton Symposium on the Dead Sea Scrolls III: The Scrolls and Christian Origins, Waco 2006, 407‒461; DERS., Critical Issues in the Investigation of the Scrolls and the New Testament, in: J.J. Collins/T. Lim (Hg.), Oxford Handbook of the Dead Sea Scrolls, Oxford 2010; DERS., Die Textfunde von Qumran und die neutestamentliche Wissenschaft. Eine Zwischenbilanz, hermeneutische Überlegungen und Konkretionen zur Jesusüberlieferung, in: S. Beyerle/J. Frey (Hg.), Qumran aktuell, BThS 120, Neukirchen-Vluyn 2011, 225‒293; DERS., Qumran Research and Biblical Scholarship in Germany, in: D. Dimant (Hg.), The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective. A History of Research, STDJ 99, Leiden/Boston 2012, 529‒564. 13 Dazu und zu den Fragestellungen der älteren Forschung s. insbesondere FREY, Qumran Research, 529‒538; DERS., Die Textfunde, passim. 14 Die Frage der Authentizität des Vaterunsers muss hier nicht erörtert werden. Der Versuch von Ulrich Mell, das Gebet dem irdischen Jesus abzusprechen, hat in der Forschung kaum Zu-

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Jörg Frey

Ich beziehe mich im Folgenden besonders auf eine neue, grundlegende Abhandlung der Judaistin und Aramaistin Ursula Schattner-Rieser, die bei der Schwerter Qumrantagung 2009 Erwägungen zur Sprache Jesu anhand des Vaterunsers präsentiert hat, basierend auf der Gestalt des Aramäischen, wie es sich nun aus den aramäischen Texten von Qumran für die Zeit Jesu präziser rekonstruieren lässt.15 Das Qumran-Aramäische weicht ja in einigen Details von der späteren Sprachgestalt des sogenannten ‚galiläischen Aramäisch‘ ab, das im Wesentlichen auf Targumim und Midraschim ab dem 3. Jh. basiert und von Forschern wie Gustaf Dalman, Karl-Georg Kuhn, Joachim Jeremias und Matthew Black – die noch keine zeitnäheren Quellen zur Verfügung hatten – zur Rekonstruktion der ursprünglichen Sprachgestalt des Vaterunsers und anderer Jesusworte zugrunde gelegt worden war.16 Die aramäischen Texte aus Qumran erlauben es nun, in einigen Aspekten die Sprachentwicklung (ungeachtet der galiläischen Aussprachebesonderheiten) präziser zu rekonstruieren, was im Blick auf Vokabular, Morphologie und auch die Verwendung von Verbstämmen gegenüber dem Idiom der späteren Targumim und Midraschim einige Abweichungen impliziert. Auf der Datenbasis der aramäischen Texte aus Qumran „der mittelaramäisch-palästinischen Phase“17 und insbesondere der in Qumran belegten, bislang in der Forschung kaum ausgewerteten aramäischen Gebetstexte18 hat Schattner-Rieser eine neue Rückübersetzung bzw. Rekonstruktion des ursprünglichen aramäischen Gebets vorgelegt, die sich in einer Reihe von Details von den verbreitet rezipierten Retroversionen bei Kuhn und Jeremias unterscheidet.19 ————— stimmung gefunden; vgl. U. MELL, Gehört das Vater-Unser zur authentischen Jesus-Tradition? (Mt 6,9‒13; Lk 11,2‒4), BThZ 11 (1994) 148–180; DERS., Das Vater-Unser als Gebet der Synagoge – eine Antwort an Klaus Haacker, ThBeitr 28 (1997) 283–290; vgl. M. PHILONENKO, Das Vaterunser, Tübingen 2002, 11, der dies als einen „unglücklichen Versuch“ bezeichnet. 15 Vgl. U. SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische zur Zeit Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser. Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von Qumran und der frühen Targumim, in: J. Frey/E.E. Popkes (Hg.), Jesus, Paulus und die Texte vom Toten Meer, WUNT II/390, Tübingen 2015, 81‒144. Vgl. grundlegend zum Qumran-Aramäischen U. SCHATTNER-RIESER, L’araméen des manuscrits de la mer Morte, Lausanne 2004. 16 Vgl. G. DALMAN, Grammatik des Jüdisch-Palästinischen Aramäisch und aramäische Dialektproben, Darmstadt 1989 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1905), 41: „der galiläische Dialekt, von dem wir im palästinischen Talmud und Midrasch Denkmäler aus dem vierten bis sechsten Jahrhundert besitzen“; vgl. DERS., Die Worte Jesu, Leipzig 1898, 371. Zur Sache s. ausführlicher SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 95. 17 SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 96. 18 S. die Liste der Texte bei SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 91f. 19 S. die aramäische Retroversion bei SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 106f, die anschließende philologische Kommentierung sowie a.a.O. 138‒141 eine Synopse der älteren Rekonstruktionen. Dabei wird – um Authentizitätsfragen nicht voreilig zu entscheiden – eine Rekonstruktion sowohl für den lukanischen als auch für den matthäischen Text vorgelegt. Die Rekonstruktion von Joachim Jeremias (JEREMIAS, Vater-Unser, 160; DERS., Theologie, 191), wurde auch

Das Vaterunser im Horizont antik-jüdischen Betens

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Für die Auslegung des Textes sind natürlich die beiden kanonischen griechischen Fassungen maßgeblich,20 die vermutlich ursprünglichere nach Lukas und die längere, vermutlich ergänzte nach Matthäus, wobei auch diese ganz im Rahmen jüdischer Gebetspraxis bleibt und gleichermaßen ins Aramäische transponiert werden kann.21 Die übliche Priorisierung der lukanischen Kurzform des Vaterunsers muss sich zumindest der kritischen Frage stellen, ob unsere gebräuchlichen und auch weithin bewährten Methoden der literarkritischen Priorisierung des kürzeren Textes (hier des Lk) für einen liturgischen, sicher immer auch mündlich überlieferten und weithin auswendig verwendeten Text gleichermaßen valide sind.22 Doch kann dies hier nicht weiter erörtert werden.

1. Das Vaterunser im Horizont zeitgenössischer jüdischer Gebete und die Bedeutung der aramäischen Privatgebete Das Vaterunser begegnet bekanntlich im Rahmen einer Gebetsanweisung Jesu für den Jüngerkreis (Lk 11,1f; vgl. Mt 6,5f.7f ), der bei Lukas die Notiz vorausgeht, dass auch Johannes der Täufer seine Schüler ein Gebet gelehrt habe. Wir kennen dieses nicht, aber die berichtete Gebetspraxis der Täufer————— von Eduard Lohse übernommen (LOHSE, Vater unser, 13f ). Vgl. weiter die Retroversionen von K.G. KUHN, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim, WUNT 1, Tübingen 1950, 32f, und C.F. BURNEY, The Poetry of our Lord. An examination of the formal elements of Hebrew poetry in the Discourses of Jesus Christ, Oxford, 1925, 113, die auf Studien von C.C. TORREY (The Translations made from the Original Aramaic Gospels, in: D.G. Lyon/G.F. Moore [Hg.], Studies in the History of Religions presented to Crawford Howell Toy by Pupils, Colleagues and Friends, New York 1912, 309‒317) basierende Version von E. LITTMANN, Torreys Buch über die vier Evangelien, ZNW 34 (1935) 20‒34: 29f, sowie die im deutschsprachigen Raum kaum bekannte Arbeit von P. GRELOT, L’arrière-plan araméen du ‚Pater‘, RB 9 (1984) 531‒556: 555. Die sehr idiosynkratische, da strikt mit dem Postulat des Metrums arbeitende Rekonstruktion von G. SCHWARZ, Matthäus VI.9‒13/Lukas XI.2‒4. Emendation und Rückübersetzung, NTS 15 (1968/69) 233‒247: 246, die nach der selbstbewussten Überzeugung des Autors „kristallklar und ohne ein überflüssiges Wort“ (ebd.) sein soll, kann hier beiseite bleiben. 20 Darauf weist LOHSE, Vater unser, 14, mit Recht hin, doch fügt er hinzu, dass die Rekonstruktion einer (hypothetischen) aramäischen Urfassung helfen kann, „die verborgene Tiefenschicht der Sätze wahrzunehmen“. 21 Das hebt SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 97, hervor, die konsequenterweise auch für den Matthäustext eine aramäische Rekonstruktion bietet. 22 M. WOLTER, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 404, hat das Problem erkannt und weist darauf hin, „dass die überlieferungsgeschichtliche Situation möglicherweise … noch erheblich komplexer ist“. Er verweist darauf, dass die dritte Wir-Bitte des Vaterunsers Mt 6,10b im Munde Jesu auch in der Gethsemaneszene begegnet, in Mt 26,42d und in Lk 22,42d, außerdem noch in Apg 21,14, und schließt: „Dieser Sachverhalt macht es nicht unwahrscheinlich, dass auch Lukas die dritte Du-Bitte des mt Vaterunsers gekannt hat.“

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jünger dürfte historisch zutreffend sein.23 Eduard Lohse weist zu Recht darauf hin, dass diese regelmäßige Gebetspraxis, von der wir z.B. aus Qumran schöne Zeugnisse haben,24 die jüdische Frömmigkeit auch in der Diaspora von der religiösen Praxis der Griechen und Römer unterschied.25 In der Forschung wird das Vaterunser gemeinhin in den Kontext der jüdischen liturgischen Gebete gestellt, v.a. des aramäischen Qaddisch und des hebräischen Schemone Esre, des Achtzehnbittengebets.26 In der Tat weisen diese Gebete eine Reihe von Elementen auf, die sich zum Vergleich mit dem Vaterunser anbieten. Rhythmen, Parallelismen und Reime finden sich im Achtzehnbittengebet ebenso wie im Vaterunser,27 und die eschatologische Ausrichtung ist in der zehnten bis fünfzehnten Berakha ebenso deutlich wie im Vaterunser. Im Vergleich mit dem recht langen Schemone Esre scheint das kürzere Qaddisch durch die aramäische Sprache wie durch die enge Verbindung der beiden Motive von Gottes Namen und Gottes Reich dem Vaterunser noch näher zu stehen.28 Für jede einzelne Bitte des Vaterunsers können Parallelen im liturgischen Schatz Israels gefunden werden.29 Dabei fällt etwa im Vergleich mit dem Schemone Esre auf, dass im Vaterunser anders als im Schemone Esre die Eschatologie am Anfang steht und durchgehend bestimmend bleibt, wohingegen eine messianische Bitte fehlt, was natürlich für die zu erschließende Eschatologie und Zeitwahrnehmung signifikant ist. Ein weiterer, häufig genannter Differenzpunkt ist die Anrede mit dem schlichten πάτερ/‫ אבא‬ohne weitere, ergänzende Prädikationen wie König, Herrscher etc.30 Was daraus erschlossen werden kann, wird im Folgenden noch zu diskutieren sein. Schließlich fehlt beim Vaterunser auch jeder Hinweis auf eine Ausrichtung des Gebets zum Tempel hin. —————

23 Der Gedanke, dass Jesu Gebetsinstruktion eine ‚Anpassung‘ an die Praxis der Täuferkreise wäre, ist in der Jesusüberlieferung deutlich tendenzwidrig. So mit Recht K. BACKHAUS, Die Jüngerkreise des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums, PaThSt 19, Paderborn 1991, 179. 24 S. den Kalender der Gebetszeiten in 1QS 9,26–10,1, 1QM 14,12‒14 und besonders den Text 4Q503 (Daily Prayers) 4Q504‒506 (Divre Ha-me᾽orot); vgl. auch Dan 6,11; bBer 9b.11a‒12a; jBer 1,8 3a. S. dazu D. FALK, Prayer in the Qumran Texts, in: W. Horbury u.a. (Hg.), The Cambridge History of Judaism III: The Early Roman Period, Cambridge 1999, 852‒876. 25 Vgl. LOHSE, Vater unser, 17. 26 So auch LOHSE, Das Vaterunser; DERS., Vater unser, 16‒29, der noch die Hodayot aus Qumran hinzuzieht; vgl. auch F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband: Lk 9,51‒14,35, EKK III/2, Zürich u.a. 1996, 122f. 27 Dazu ausführlich KUHN, Achtzehngebet. 28 So mit Recht LOHSE, Vater unser, 26f. 29 Vgl. BOVON, Evangelium II, 123; s. auch DAVIES/ALLISON, Matthew I, 593f. 30 Vgl. LOHSE, Vater unser, 32f; BOVON, Evangelium II, 123, bringt dies mit der Abwesenheit jeder Bitte von Vergeltung zusammen (unter Bezug auf KUHN, Achtzehngebet, dessen Kontrastierung zwischen Jesu Gebet und dem Achtzehnbittengebet [40‒46] freilich noch allzu sehr unter dem Schatten antijüdischer Voreingenommenheit steht).

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Zwei Probleme stellen sich jedoch im Blick auf die bisherigen Analysen: Erstens ist die Datierung der genannten synagogalen Gebete außerordentlich schwierig, und ihre Textgestalt zur Zeit Jesu ist alles andere als klar; zweitens ist die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichliturgischem Gebet zu beachten. Um mit dem Letzteren zu beginnen: Das Vaterunser ist in seinem ursprünglichen Setting im Jüngerkreis Jesu noch kein liturgisches, offizielles Gebet, sondern ein Privatgebet einer Gruppe, die sich am Rande der ‚offiziellen Religion‘ und von dieser unabhängig bewegt und betätigt hat. Es avancierte zum liturgischen Gebet erst später, in der nachösterlichen Gemeinde, wenngleich sein Text (abgesehen von der zugefügten Doxologie) keine Spuren der nachösterlichen Situation bzw. eines liturgischen Gebrauchs zeigt. Der private Charakter des Gebets ist ernst zu nehmen, so dass sich die Frage stellt, ob und inwiefern liturgische Gebete überhaupt der ‚richtige‘ Vergleichspunkt sind.31 Ein noch wesentlich gravierenderes Problem besteht hinsichtlich der chronologischen Einordnung der liturgischen Gebete des antiken Judentums bzw. ihrer uns verfügbaren Textformen. Diese Gebete liegen in der Regel nur in Textformen der späteren rabbinischen Zeit oder in Fassungen des jüdischen Mittelalters vor, und diese können sich „von ihren kulturellen Wurzeln im Palästina des 1. Jh. schon weit entfernt haben.“32 Dies gilt für das Achtzehnbittengebet, das zwar in der jüdischen Tradition auf die Männer der großen Synagoge zurückgeführt wird (bBer 33a), aber die Ordnung der Reihenfolge der Berakhot wird in einer Baraita erst Simon dem Flachshändler in der Jabne-Epoche zugeschrieben (bMeg 17b)33, die Einführung der Birkat-ha-Minim, des ‚Ketzersegens‘, Schmuel dem Kleinen, doch ist die Zeit und die frühe Gestalt dieser Ergänzung ebenso unsicher34 wie die vorrabbinische Textgestalt des gesamten Schemone ————— 31

Vielleicht muss man diesen Sachverhalt noch radikaler fassen, wenn das Gebet zunächst als Privatgebet Jesu selbst gelten kann, das erst dann dem Jüngerkreis mitgeteilt wurde. Doch ist dies kaum sicher zu erweisen. 32 So zusammenfassend C. LEONHARD, Art. Vaterunser II: Judentum, TRE 34 (2002) 512‒515: 514,51. 33 S. die Texte und ihre Diskussion bei U. KELLERMANN, Das Achtzehn-Bitten-Gebet. Jüdischer Glaube in neutestamentlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn 2007, 28‒35. 34 Die Diskussion um die Bedeutung der Birkat-ha-Minim für die Trennung der Wege von Juden und Christen kann hier nicht weiter referiert werden. S. im Blick auf das Johannesevangelium J. FREY, ‚Die Juden‘ im Johannesevangelium und die Frage nach der ‚Trennung der Wege‘ zwischen der johanneischen Gemeinde und der Synagoge, in: DERS., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten, hg. von J. Schlegel, WUNT 307, Tübingen 2013, 339–377; zur Konstruktion der sogenannten ‚Synode von Jabne‘, die faktisch „verschiedene Entscheidungen“ der rabbinischen Lehrer der Zeit zwischen 70 und 135 „zu einem einzigen Ereignis“ vereint (G. STEMBERGER, Jabne und der Kanon, in: DERS., Studien zum rabbinischen Judentum, SBAB 10, Stuttgart 1990, 375–389: 375), s. weiter G. STEMBERGER, Die sogenannte ‚Synode von Jabne‘ und das frühe Christentum, Kairos

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Esre, auch wenn durch Parallelen in anderen frühjüdischen Texten und Gebeten35 zu vermuten ist, dass der „Grundbestand der Tefilla … schon in neutestamentlicher Zeit vorauszusetzen ist“36. Wohl noch skeptischer ist das aramäische Qaddisch zu beurteilen, das in der älteren Forschung, etwa bei Ismar Elbogen,37 ebenfalls schon vor 70 angesetzt wurde und bis heute von manchen Exegeten unkritisch als Hintergrund oder gar Quelle des Vaterunsers aufgefasst wird.38 Hier ist die neuere Judaistik sehr viel zurückhaltender. Der Text ist jedenfalls erst spät in die Liturgie gelangt,39 und seine Entstehung war wohl ein sehr komplexer Prozess der Zusammenführung unterschiedlicher Gebetsformeln, so dass dieses Gebet erst deutlich nach dem Vaterunser anzusetzen ist und somit nicht dessen ursprünglichen Kontext repräsentieren kann.40 Die liturgischen Gebete der Synagoge ‚entziehen‘ sich also einem direkten Vergleich mit dem Vaterunser aus chronologischen Gründen bzw. aufgrund der Unsicherheit des Textbestandes. Zurück bleibt lediglich der Vergleich von Einzelmotiven, die auch in anderen, klarer datierbaren Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels belegt sind, sowie die Suche nach anderen Quellen der Gebetspraxis des antiken Judentums, nicht nur der liturgischen, sondern auch der persönlichen und privaten Gebete. Diese fanden natürlich kaum Eingang in die rabbinische Traditionsliteratur; dennoch finden sich zahlreiche Individualgebete, z.T. eingebettet in Erzählkontexte in antik-jüdischen Texten unterschiedlicher Gattung, und auch diese geben Aufschluss über Orte und Zeiten, Anlässe und Formen von Gebeten einzel————— 19 (1977) 14–21; P. SCHÄFER, Die sogenannte Synode von Jabne, in: DERS., Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, AGJU 15, Leiden 1978, 45–64; zur Tradition der Birkat-ha-Minim s. R. KIMELMAN, Birkat Ha-Minim and the Lack of Evidence for an AntiChristian Jewish Prayer in Late Antiquity, in: E.P. Sanders/A.I. Baumgarten/A. Mendelson (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition II, London 1981, 226–244; W. HORBURY, The Benediction of the Minim and Early Jewish-Christian Controversy, in: DERS., Jews and Christians in Contact and Controversy, Edinburgh 1998, 67–110, sowie zuletzt Y.Y. TEPPLER, Birkat ha-Minim. Jews and Christians in Conflict in the Ancient World, TSAJ 120, Tübingen 2007. 35 KELLERMANN, Achtzehn-Bitten-Gebet, 28‒35, führt Texte von dem Gebet Sir 52,12d‒l über 2Makk 1,24‒29 und 3Makk 2,2‒20 bis zur Mischna an. 36 So KELLERMANN, Achtzehn-Bitten-Gebet, 35. 37 So wirkungsvoll bei I. ELBOGEN, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Hildesheim/Zürich/New York 1995 (Nachdruck der 3. verbesserten Auflage von 1931), 93; vgl. das Referat bei A. LEHNARDT, Qaddish. Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebetes, TSAJ 87, Tübingen 2002, 2–14: 7. 38 JEREMIAS, Das Vaterunser, 164, hatte gemutmaßt, dass das Vaterunser „Jesus wahrscheinlich seit Kindestagen geläufig war“. Ähnlich immer noch z.B. bei PHILONENKO, Vaterunser, 24, der unkritisch postuliert, dass dieses Gebet sehr alt sei und die ersten Bitten des Vaterunsers inspiriert habe; s. seinen Vergleich beider Gebete a.a.O., 24‒32. 39 Dies hängt auch damit zusammen, wann für die Rabbinen aramäische Gebete liturgisch ‚salonfähig‘ wurden. 40 S. die Zusammenfassung bei LEHNARDT, Qaddish, 297f.

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ner jüdischer Männer und Frauen und ihre Themen.41 Die Auswertung der in Qumran belegten Gebetstexte,42 auch gerade derer, die nicht einer ‚gruppenspezifischen‘ Haltung verpflichtet sind, ist hier noch lange nicht hinreichend erfolgt. Nach wie vor weithin unbeachtet sind die aramäischen Gebete, überwiegend kurze Privatgebete in narrativen Kontexten.43 Ursula Schattner-Rieser hat in ihrer Arbeit zwölf solcher Texte in den nichtbiblischen Texten aus Qumran identifiziert,44 neben dem Gebet Nabonids (4Q242) Texte aus dem Genesisapokryphon, den aramäischen Tobithandschriften, den aramäischen Henochhandschriften, dem aramäischen LeviMaterial und weiteren Texten, formal „drei Bittgebete um Beistand und Erlösung …, zwei Dankgebete …, zwei Segenssprüche und Lobpreisungen …, zwei Abschiedssegen mit testamentarischen Verordnungen …, ein exorzistisches Beschwörungsgebet … und ein Bußgebet innerhalb des Abschiedssegens in 4Q213a“45. Hinzu kommen noch die Gebete aus den aramäischen Danieltexten.46 Mit diesen Gebeten erhalten wir einen Einblick in Formen persönlicher Gebetspraxis in aramäischer Sprache. Zwar sind diese Gebete durch die Einfügung in narrative Texte nicht mehr unmittelbare Zeugnisse konkreten Betens, und einige der Texte stammen auch aus einer etwas früheren Zeit; dennoch bieten diese Texte eine wesentliche Brücke zur aramäischen Gebetssprache der Zeit Jesu. Natürlich enthalten auch nicht alle dieser Gebete sachliche Parallelen zum Vaterunser, aber z.B. das in Fragmenten auch aramäisch belegte Dank- und Preislied Tobits (Tob 13,1‒18 = 4QTobita frag. 18 1‒15) bietet einige der Motive: Gott wird hier angesprochen als unser Vater (13,3), himmlischer König (13,9.13) und ewiger König (13,16), dessen Königsherrschaft in Jerusalem aufsteht (13,16f ) und der als Barmherziger Sünden vergibt (13,5f.8). Daneben bietet ————— 41

S. die Textsammlung von R.D. CHESNUTT/J. NEWMAN, Prayers in the Apocrypha and Pseudepigrapha, in: M. Kiley u.a. (Hg.), Prayer from Alexander to Constantine. A Critical Anthology, London/New York 1997, 38‒42; J. NEWMAN, Praying by the Book. The Scripturalization of Prayer in Second Temple Judaism, EJL 14, Atlanta 1999; sowie im Blick auf Frauengebete M. MCDOWELL, Prayers of Jewish Women. Studies of the Patterns of Prayer in the Second Temple Period, WUNT II/211, Tübingen 2006, dort zum Überblick: 11‒28. 42 Vgl. E. CHAZON, Preface, in: Dies. u.a. (Hg.), Liturgical Perspectives: Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Fifth International Symposium of the Orion Center, 19‒23 January 2000, STDJ 48, Leiden/Boston 2003, vii‒ix. Zu den Gebetstexten aus Qumran s. neben diesem Band grundlegend B. NITZAN, Qumran Prayer and Religious Poetry, STDJ 12, Leiden 1994, und D.K. FALK, Daily, Sabbath, and Festival Prayers in the Dead Sea Scrolls, STDJ 27, Leiden/Boston/Köln 1998. 43 S. jedoch D.A. MACHIELA, Prayer in the Aramaic Dead Sea Scrolls: A Catalogue and Overview, in: J. Penner/K.M. Penner/C. Wassen (Hg.), Prayer and Poetry in the Dead Sea Scrolls and Related Literature. FS E. Schuller, STDJ 98, Leiden/Boston 2012, 285‒305. 44 S. die Liste bei SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 91f. 45 SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 92. 46 Vgl. MACHIELA, Prayer, 287f.

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das Gebet Levis in 4Q213a47 eine Verbindung von Vergebungsbitte und ‚apotropäischer‘ Bitte um Fernhalten des „Satan“ bzw. eines unreinen Geistes, was für die Deutung des „Bösen“ in der Schlussbitte des Vaterunsers nicht unwesentlich ist.48 Hier bietet sich also z.T. in aramäischer Sprache ein Material, das die private, nicht offizielle Gebetspraxis erschließt. Sachlich könnten dann auf dieser Basis auch weitere hebräische Privatgebete aus Qumran wie z.B. das Gebet Josephs 4Q372 mit einbezogen werden. Die Beachtung dieses Materials erscheint insbesondere deshalb geboten, weil auch das Vaterunser zunächst kein offizielles oder öffentliches Gebet ist, sondern auch noch nach der Gebetsinstruktion in den Evangelien ein persönliches Gebet der Jünger(gemeinschaft), und am Anfang vielleicht sogar ein persönliches, ja privates Gebet Jesu von Nazareth.

2. Das Gottesverhältnis Jesu und die Abba-Anrede 2.1 Die These von Joachim Jeremias Ein erster Gang der Überlegungen muss der Gebetsanrede Abba gelten. Hier ist die einflussreiche Interpretation des Göttinger genius loci Joachim Jeremias zu korrigieren. Jeremias hatte die Abba-Anrede (die im NT außer im Vaterunser noch im Gethsemane-Gebet Mk 14,36 und dann als aramäisches Lehnwort bei Paulus Röm 8,15 und Gal 4,6 begegnet49) als Kennzeichen der ipsissima vox Jesu gewertet und als Zeichen der Einzigartigkeit des Gottesverhältnisses Jesu interpretiert.50 Im Hintergrund steht die semantische Deutung des aramäischen Abba als Diminutivform aus der Familienoder gar Kindersprache („Papa“ oder „Väterchen“), die auf einem einzigen, vermeintlich vorchristlichen, faktisch aber aus dem babylonischen Talmud stammenden Beispiel erschlossen wurde, in dem nach der Interpretation von Jeremias gesagt wird, dass Kindern nachgesehen werde, dass sie zu Gott ohne Scheu (wie zu ihrem Vater oder Großvater) Abba sagen. —————

47 Auf dieses hatte schon D. FLUSSER, Qumran and Jewish ‚Apotropaic‘ Prayer, IEJ 16 (1966) 194‒205, hingewiesen. 48 S. dazu LEONHARD, Vaterunser, 512f. 49 Vgl. weiter Gebetsanreden mit dem übersetzten πάτερ im Munde Jesu in Mt 11,25 par Lk 10,21; Mt 26,39.42 par Lk 22,42; Lk 23,34.46; Joh 11,41; 12,27f; 17,1.5.11.21.24f. 50 Vgl. J. JEREMIAS, Kennzeichen der ipsissima vox Jesu, in: Synoptische Studien. FS Alfred Wikenhauser, München 1953, 86‒93 (wieder abgedruckt in: DERS., Abba, 145‒152); DERS., Das Vaterunser; DERS., Abba; DERS., Die Botschaft Jesu; DERS., Neutestamentliche Theologie I, 67‒ 73. Zur These von Jeremias s. die Darstellung bei G. SCHELBERT, ABBA Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Haggada-Werken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim Jeremias, NTOA/SUNT 81, Göttingen 2011, 17‒23, der dann im Verlauf des Buches eine ausführliche und vernichtende Kritik der philologischen Argumente bietet.

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Der Text findet sich in bTaan 23b; es handelt sich um eine Episode über Chanin haNechba, einen Enkel von Choni dem Kreiszieher, an den Kinder als vermeintlichen Regenbeter die Bitte richten: „Abba, Abba, gib uns Regen!“, worauf dieser selbst betet: „Herr der Welt, tue es doch um dieser willen, die noch nicht unterscheiden können zwischen einem Abba, der Regen geben kann, und einem Abba, der keinen Regen geben kann.“51 Jeremias interpretiert, „dass Chanin ‚in Wiedergabe der Kindersprache‘ die ganz unliturgische Redeweise der Schulkinder aufnimmt“52.

Auf der Basis dieses faktisch wertlosen Beispiels hat sich die klischeehafte Antithese zwischen der familiär-vertrauten Gottesanrede Jesu (und seiner Nachfolger) und der ehrfürchtig-scheuen Wahrnehmung der Distanz Gottes in seiner jüdischen Umwelt entwickelt. Ideologisch passt dieses Bild ganz in die durch Julius Wellhausen, Wilhelm Bousset und andere Gelehrte wirkungsvoll vertretene Spätjudentumsthese, der zufolge das nachbiblische Judentum in gesetzlicher Erstarrung und der Wahrnehmung einer großen Distanz von Gott lebte, wohingegen Jesus dann (in direkter Anknüpfung an die klassischen Propheten) ein diametral anderes Bild eines nahen, liebenden Gottes, eben des ‚Vaters‘, vermittelte. Jeremias hat diese These 1953 in seinem Aufsatz zur ipsissima vox Jesu entwickelt53 und später nur etwas vorsichtiger wiedergegeben. Sie basiert auf verschiedenen Bausteinen: a) Morphologisch wird Abba verstanden als „eine eigene Vokativform, in der das -a durch Kontraktion von -ai entstanden sei“54. Die Deutung als status determinatus, der zugleich die Form mit dem Pronominalsuffix der 1. Sing. vertrete, lehnt Jeremias ab.55 b) Semantisch wird diese Anrede verstanden auf dem Hintergrund des erwähnten talmudischen Belegs, der (zu Unrecht) als (einzige) vorchristliche Parallele gewertet wird. Daraus wird die Deutung von Abba = mein Vater als Diminutivform (‚Väterchen‘) und Element der Kindersprache (‚Papa‘) hergeleitet. Später führt Jeremias dafür andere Belege aus dem babylonischen Talmud an – eben dass ein Kind irgendwann, wenn es zu lallen beginnt, ‚abba‘ und ‚imma‘ – Papa und Mama – sagen lernt.56 ————— 51

JEREMIAS, Kennzeichen, 86f; s. dazu SCHELBERT, ABBA, 17. SCHELBERT, ABBA, 17f. Dabei ist offenbar vorausgesetzt, dass der Wundertäter von sich aus nicht so hätte zum „Herrn der Welt“ beten können. Joachim Jeremias hat das Beispiel interessanterweise aus einem Werk von Johannes Leipoldt aus dem Jahr 1941 übernommen: J. LEIPOLDT, Jesu Verhältnis zu Juden und Griechen, Leipzig 1941, 136f (Verweis bei JEREMIAS, Kennzeichen, 88 [147]). Diese Veröffentlichung Leipoldts ist freilich eine offen antisemitische Schrift, in der auf Schritt und Tritt der Gegensatz Jesu zum Judentum betont wird. 53 Vgl. JEREMIAS, Kennzeichen, 88f; s. das Referat bei SCHELBERT, ABBA, 17f. 54 Vgl. JEREMIAS, Kennzeichen, 86f; s. dazu SCHELBERT, ABBA, 17f. 55 Vgl. SCHELBERT, ABBA, 17. 56 Vgl. JEREMIAS, Abba, 59f. 52

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c) Hinzu kommt die Feststellung, dass es „für die Gottesanrede Abba (ohne Suffix) … in der ganzen jüdischen Literatur keinen einzigen Beleg“ gebe.57 Aus den Befunden folgert Jeremias sachlich, dass „das Auftauchen eines völlig neuen Sprachgebrauchs“ auch „zugleich ein in die letzten Tiefen reichendes neues Gottesverhältnis widerspiegelt“58. D.h., der vermeintlich radikal neue Sprachgebrauch wird zum Schlüssel für die theologische Interpretation des Selbst- und Gottesverständnisses Jesu. 2.2 Die Unhaltbarkeit der These Neuere Arbeiten auf verbesserter Quellengrundlage zeigen nun, dass die Argumentation in all ihren Bestandteilen unhaltbar ist. Dies haben wichtige Arbeiten zur Vateranrede59 und zuletzt v.a. die Studien von Georg Schelbert zum aramäischen Abba60 sowie von Ursula Schattner-Rieser61 gezeigt: a) Morphologisch zeigen die zeitgenössischen aramäischen Texte, „dass die Pronominalsuffixe „mein“ und „unser“ um die Zeitenwende immer noch an die Nomina angefügt und nicht durch den status emphaticus ausgedrückt wurden“62. „Im Genesisapokryphon aus Qumran (1QGenAp 2,24) redet Methusalem seinen Vater Henoch mit ‚Oh mein Vater, oh mein Herr/Meister!‘ (und vorangehender Vokativpartikel yāˀ) an: yāˀ ˀabî, yāˀ mārî, und im aramäischen Tobitbuch 7,5 (4Q196 [Tobita] frag. 14 ii,11) begegnet der Ausruf: ‚Er (Tobit) ist mein Vater!‘ (ˀabî hûˀ), was der These von Jeremias, dass ABBA ‚mein (lieber) Vater‘ bedeuten müsse, klar widerspricht. Ebenso ist talita (qum/qumi) ‚Mädchen (steh auf)!‘ in Mk 5,41 ein

————— 57

Vgl. JEREMIAS, Kennzeichen, 89 (s. auch SCHELBERT, ABBA, 18). JEREMIAS, Kennzeichen, 89. 59 Vgl. schon 1985 die Kritik bei J.A. FITZMYER, Abba and Jesus’ Relation to God, in: F. Refoulé (Hg.), A cause de l’Évangile. FS P. Jacques Dupont, LeDiv 123, Paris 1985, 14–38; dann zur zwischentestamentarischen Literatur A. STROTMANN, Mein Vater bist du! (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, FTS 39, Frankfurt 1991; zu den tannaitischen Texten E. TÖNGES, „Unser Vater im Himmel!“ Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur, BWANT 147, Stuttgart 2003 (dort 12–23 zur Kritik an Jeremias und der zuvorliegenden Forschung), sowie zuletzt C. ZIMMERMANN, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhintergrund, AJEC 69, Leiden 2007 (dort 42‒45 zur Forschung). 60 Vgl. SCHELBERT, ABBA; s. zuvor DERS., Sprachgeschichtliches zu „Abba“, in: P. Casetti/ O. Keel/A. Schenker (Hg.), Mélanges Dominique Barthélémy, Fribourg/Göttingen 1981, 395‒447; DERS., Abba, Vater! Stand der Frage, FZFhTh 40 (1993) 259‒281. 61 Vgl. SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 100‒106; DIES., Rez. zu G. Schelbert, ABBA Vater, Early Christianity 4 (2013) 141‒147. 62 SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 110. 58

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Vokativ, und niemand würde diesen Befehl mit ‚mein liebes kleines Mädchen, steh auf ‘ zu übersetzen gedenken.“63

D.h. umgekehrt: „Abba war zur Zeit Jesu noch ein reiner Vokativ und respektvolle Anrede für ‚o Vater!‘ “.64 Die Aussage von Jeremias, dass für die Anrede ‚mein Vater‘ im zeitgenössischen Aramäisch und Hebräisch keine andere Form als Abba zur Verfügung gestanden hätte,65 ist also unzutreffend. b) Dass die Form – als kontrahiertes Possessivum – eine diminuitive Bedeutung hätte („Väterchen“), entbehrt mithin der sprachlichen Grundlage. Aus den späten Babli-Belegen wäre eine solche Bedeutung auch aus chronologischen Gründen nicht zu folgern; außerdem ist der von Jeremias (im Anschluss an Leipoldt) angeführte Beleg ohnehin tendenziös interpretiert. Die Pointe der kleinen Szene in bTaan 23b ist ja, dass die Jugendlichen den Wundertäter um Regen bitten und ihn – wie das später für Rabbinen und Lehrer ebenfalls erfolgen konnte66 – mit „Abba“ anreden. Der Bezug auf Gott erfolgt erst in dem Gebet Chanin ha-Nechbas, der milde über die mangelnde Unterscheidung zwischen dem menschlichen Wundertäter und Gott als dem Herrn der Welt urteilt und Gott gleichwohl vertrauensvoll um Erfüllung der Bitte anruft. D.h., die Abba-Anrede an Gott erfolgt im Munde Chanin ha-Nechbas, und es ist eine reine Spekulation, dass die unliturgische Abba-Anrede des Charismatikers nur in Nachahmung der Kindersprache erfolgt und sonst nicht möglich wäre.67

Eine Herkunft der Anrede aus der Kindersprache ist aus diesem Beleg daher ebenfalls nicht abzuleiten und auch aus den später von Jeremias angeführten Belegen nicht zu begründen.68 c) Es bleibt die Frage, was man aus dem Sachverhalt schließen kann, dass aramäisches Abba als Gebetsanrede vor Jesus tatsächlich nicht belegt ist.69 Ist die Anrede tatsächlich „bewußt vermieden“70 – weil eine solche von Juden als unehrerbietig und unbotmäßig angesehen worden wäre? Doch —————

63 SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 110. Zutreffend hier auch PHILONENKO, Vaterunser, 37; vgl. weiter G. VERMES, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993, 249f. 64 SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 110. 65 Vgl. JEREMIAS, Abba, 58. 66 Vgl. die Belege bei SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 103. 67 Richtig VERMES, Jesus, 194, der betont, „daß Gott für den Charismatiker wie für Jesus abba ist“, und zum Vergleich auf Mt 23,9 verweist. 68 Eben diesen Ursprung in der Kindersprache hatte Jeremias aber bis zum Ende festgehalten, auch als er zusätzliche Belege zur Kenntnis genommen und zugestanden hatte, dass Abba nicht nur Kindersprache, sondern auch respektvolle Anrede sein könne. Vgl. JEREMIAS, Abba, 61: „Trotz der starken Ausweitung [sc. des Gebrauchs von abba] ging jedoch das Wissen um die Herkunft von abba aus der Sprache des Kleinkindes nie verloren.“ 69 FITZMYER, Abba 22: „It’s never used of God.“ 70 JEREMIAS, Abba, 62.

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zeigt sich hier eine unbewiesene und m.E. auch unbeweisbare Voraussetzung. Kann man die späte Gebetsanrede Nechbas (s.o.) als Beleg dafür werten, dass eine solche Anrede für Charismatiker (und damit auch für Jesus) denkbar war?71 Auch das wäre eine voreilige Schlussfolgerung. Man sollte sich hier vergegenwärtigen, dass die Anrede Gottes als Vater schon in den Texten der hebräischen Bibel siebenmal belegt ist und sich dann in den jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit noch deutlich verbreitert. Dabei finden sich nicht nur kollektive Gottesbezeichnungen wie „Herr, unser Vater“ (Jes 63,16[2x]; 64,7; 1Chron 29,10), sondern auch individuelle wie „mein Vater“ (Jer 2,27a; 3,4; Ps 89,27), und beide Formen bringen schon hier ein tiefes Vertrauen und ein wechselseitiges Verhältnis zur Sprache.72 In den jüdischen Texten der hellenistisch-römischen Zeit „steigt die Verwendung der Gott-Vater-Anrede deutlich an“73: Angelika Strotmann kann hier 21 Gebetsanrufe aus 16 Schriften untersuchen, wobei die Bücher Tobit und Sirach, die auch in Qumran belegt sind, besonders eindrückliche Beispiele bieten (Sir 51,1b.10; Tob 13,3f ),74 aber auch andere Belege aus Qumran wie etwa die im Gebet Josephs 4Q372 frag. 1 16 oder im individuellen Gebet 4Q460 frag. 9 i,6 hinzukommen.75 Unbestreitbar ist damit, dass „die ‚Vater‘-Anrede Gottes seit der spätnachexilischen Zeit in der frühjüdischen Literatur existierte“76. Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Textgrundlage für das Aramäische der Zeit Jesu doch recht schmal ist, während in der rabbinischen Tradition die Vateranrede wieder durchaus breit vorkommt.77 Insofern wird man das Fehlen der Anrede in den überlieferten aramäischen Gebeten eher auf Zufälle der Überlieferung zurückführen müssen und kaum als bewusste Meidung ansehen dürfen.78

Wahrzunehmen ist darüber hinaus, dass die Vater-Belege aus den nachbiblischen jüdischen Texten sehr wohl die Aspekte der emotionalen Zuwendung und Liebe, der Fürsorge und Geduld zur Sprache bringen, so dass hier keineswegs nur die Vorstellung eines distanten Autoritätsverhältnisses vorliegt.79 Dadurch verringert sich der von Jeremias und anderen konstruierte Gegensatz zwischen Jesus und seiner jüdischen Mitwelt. Könnte man die ————— 71

So VERMES, Jesus, 250, der den irdischen Jesus als Charismatiker interpretiert. So ZIMMERMANN, Namen, 51. Vgl. weiter A. BÖCKLER, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000; STROTMANN, Vater, passim; SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 101. 73 SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 101. 74 Vgl. dazu ZIMMERMANN, Namen, 52; SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 102. 75 Vgl. SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 102; H.-J. FABRY, ‫’ ׇאב‬ab, in: H.-J. Fabry/ U. Dahmen (Hg.), Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten I, Stuttgart 2011, 1‒9: 8f. 76 FABRY, ‫’ ׇאב‬ab, 9. 77 Vgl. TÖNGES, Unser Vater, passim. 78 So bereits VERMES, Jesus, 249f. 79 Vgl. STROTMANN, Vater, 371‒375; ZIMMERMANN, Namen, 62. 72

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beiden targumischen Belege zu Mal 2,10 und Ps 89,27, in denen Gott aramäisch „Abba“ genannt wird, noch aus Gründen der unsicheren Datierung bezweifeln,80 so lassen sich doch die Gebetsanreden in (hebräischen) ‚Privatgebeten‘ in Sir 51,10 (MS B.: „JHWH, mein Vater bist du, denn du bist mein rettender Held“)81 und Sir 51,1b (MS B: „Ich preise dich, mein Gott und Vater“…)82, die Jeremias außer Acht gelassen hatte, sowie die QumranBelege im Josephapokryphon 4Q372 frag. 1 16f („Mein Vater und mein Gott, lasse mich nicht in der Hand von Völkern. Übe Gerechtigkeit an mir, damit die Armen und Bedrängten nicht vergehen!“) oder im individuellen Gebet 4Q460 frag. 9 i,5f („[D]enn du hast deinen Diener nicht vergessen. … mein Vater, und mein Herr!“)83, die Jeremias noch nicht kannte, nicht von der Hand weisen. Auch in der Verbindung mit anderen, eher herrscherlichen Anreden enthält die Vateranrede den Ausdruck der besonderen Vertrauensbeziehung zwischen den Betenden und ihrem Gott.84 Daher ist auch das letzte, von Eduard Lohse noch festgehaltene Argument, dass die in allen nichtjesuanischen Texten noch zur Vateranrede hinzutretenden Prädikate ‚Gott‘, ‚Herr‘ oder ‚König‘ den Ausdruck des Vertrauens gegenüber der einzigartig schlichten Vateranrede Jesu einschränkten, fraglich geworden. Besteht hier wirklich ein Gegensatz zu dem allein stehenden ‚Abba‘? Wenn man bedenkt, dass die Vateranrede schon in den spätnachexilischen biblischen Texten die Motive von Gottes Fürsorge, Treue und Geduld impliziert und dass andererseits auch Jesus natürlich von Gott als „Gott“ und (in Gleichnissen) „König“ sprach und auch das Vaterunser um das Kommen seiner Königsherrschaft bittet, dann löst sich auch dieser Gegensatz m.E. auf. „Eine grundsätzliche Tendenz zur Abgrenzung gegenüber der Herrscherterminologie mittels der Vaterbezeichnung für Gott in den frühjüdischen Texten und auch in der jesuanischen Verkündigung festmachen zu wollen, ist daher problematisch.“85 Klar ist: „Abba isn’t Daddy“86, und auch im Gebrauch Jesu – der für seine Zeitgenossen und Nachfolger gewiss eindrücklich und daher auch erin—————

80 PHILONENKO, Vaterunser, 39, hält es hingegen sogar für möglich, „daß Jesus sich in seiner Anrede ‚abba‘ die Formel aus Ps 89,27 zu eigen gemacht hat“: Jesus habe sich mit dem im Targumtext zu Ps 89,27 angesprochenen Nachfolger Davids identifiziert. Vgl. schon M. HENGEL, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1975, 73 Anm.: „Hier könnte die – sicher auf Jesus zurückgehende – Wurzel des Gebetsrufs ‚Abba‘ im Urchristentum liegen.“ 81 Übers. nach SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 102. Nach PHILONENKO, Vaterunser, 39, steht hinter dieser Formulierung Ps 89,27. 82 Übers. nach ZIMMERMANN, Namen, 58; s. auch SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 102. 83 Übers. nach ZIMMERMANN, Namen, 58; s. auch SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 102. 84 Dies zeigt v.a. STROTMANN, Vater, 95f; s. auch ZIMMERMANN, Namen, 62‒64. 85 ZIMMERMANN, Namen, 64. 86 So der Titel des Aufsatzes von J. BARR, „Abba“ isn’t „Daddy“, JThS 39 (1988) 28‒47.

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nerlich blieb – ist die Anrede keineswegs respektlos. Es scheint mir, dass die Auslegung an dieser Stelle eher einer problematischen Alternative der neueren (v.a. protestantischen) Theologie erlegen ist. Eine ‚Einebnung‘ des Profils der Verkündigung und Praxis Jesu ist damit keineswegs impliziert. Nur lässt sich dieses wohl weniger im Kontrast erheben und methodisch auch kaum aus einem völlig neuen Sprachgebrauch. Das alte Paradigma der kontrastierenden Lektüre des Gebets Jesu und jüdischer Gebete, wie es v.a. bei Karl-Georg Kuhn noch sehr deutlich zutage trat und letztlich auch – in christologischem Interesse – bei Joachim Jeremias durchschimmert, sollte definitiv überwunden sein. Das Profil des Gottesverhältnisses oder besser des Selbstanspruchs Jesu87 ist aus anderen Aspekten der Verkündigung Jesu zu erheben.

3. Neue Parallelen und Einsichten zu einzelnen Bitten Nach der grundlegenden Neubewertung der Vateranrede ist nun in einigen Punkten exemplarisch zu zeigen, welche interpretatorischen Aspekte sich auf dem Hintergrund der aramäischen Gebete aus Qumran (und anderer frühjüdischer Quellen) für das Vaterunser ergeben. Dies muss jedoch aus Raumgründen in sehr eklektischer und abgekürzter Form geschehen.88 3.1 Die Namensheiligung – eschatologisch und im Gebet Eine erste Beobachtung sei im Blick auf die erste Bitte der Heiligung des Namens formuliert.89 Diese Bitte – allgemein rekonstruiert mit dem aram. Hitpa‛al yitqaddaš šemāḵ ‒ wird z.B. von Jeremias konsequent als passivum divinum gewertet und als eine eschatologische Bitte um die endzeitliche Heiligung des Namens Gottes durch Gott selbst verstanden. Zur Begründung wird dafür meist die Parallelität mit dem QaddischGebet angeführt,90 in dem die Namensheiligung wie im Vaterunser in enger Verbindung mit der Bitte um das Kommen der Gottesherrschaft begegnet. ————— 87

S. dazu J. FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter/ R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin/New York 2002, 273‒336. 88 S. zum Folgenden die materialreiche Studie von SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische. 89 S. dazu auch A. STEUDEL, Die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser, in: L. Doering/ H.-G. Waubke/F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen, FRLANT 226, Göttingen 2008, 242‒256. 90 Text nach SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 116: yit̠ gaddal wǝyit̠ qaddaš šǝmēh rabbā’ bǝ‛ālmā’ dî b̠ ǝrā’ k̠ ir‛ût̠ ēh „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er schuf nach seinem Willen“.

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Doch scheint die eschatologische Deutung dort wie im Vaterunser v.a. vom eschatologischen Bezug der Bitte um die Aufrichtung der Gottesherrschaft bestimmt zu sein. Im Übrigen sind es in der Formulierung des Qaddisch „eindeutig die Menschen in der Welt, die Gottes Namen Ehre erweisen und ihn heilig halten“91. Die biblischen und frühjüdischen Parallelen formulieren hier uneinheitlich: Ein biblischer Bezugspunkt für das Qaddisch (wie auch vielleicht das Vaterunser) könnte Ez 38,23 sein, wo qdš im reflexiven Hitpa‛el begegnet, so dass Gott als Subjekt seiner endzeitlichen Namensverherrlichung erscheint. Andere biblische Belege weisen in dieselbe Richtung. In den (wenigen) Qumran-Belegen ist hingegen, wie Annette Steudel gezeigt hat, überwiegend der Mensch, die fromme Gemeinde, das Subjekt der Heiligung des Gottesnamens.92 In anderen frühjüdischen Texten wie den henochischen Bilderreden ist die Heiligung durch Engel und Menschen im Blick, worin sich vielleicht der Einfluss der Qeduscha der Engelwesen Jes 6,3 auf die frühjüdische Vorstellungswelt zeigt.93 In den aramäischen Gebeten aus Qumran begegnet die Heiligung des Gottesnamens leider nicht in dem gleichen Wortlaut, der allgemein für das Vaterunser vorausgesetzt wird (yitqaddaš š emāḵ). Vom Namen Gottes ist vielmehr unter Verwendung anderer Verben die Rede: Der Name soll „gepriesen“ werden (brk), so z.B. im aramäischen Text des Tobitbuchs 4Q196 frag. 6 7 = Tob 3,11 (bryk šmk qdyšˀ wyqyrˀ … „Gepriesen ist/sei dein heiliger, herrlicher Name“) oder im Danklied und Lobpreis Tobits 4Q196 frag. 18 11 = Tob 13,3 (ybrkwn šmh qdyšˀ: „Man (= die Völker) preise seinen heiligen Namen …“).94 In diesem Horizont ist es durchaus fraglich, ob das yitqaddaš so sicher als passivum divinum zu deuten ist, wie das Joachim Jeremias vorgeschlagen (und als Kennzeichen der ipsissima vox Jesu gewertet) hat. Dieser Sinn scheint vielmehr in der 1. Vaterunserbitte aus der 2. Bitte übernommen bzw. aus anderen Belegen des passivum divinum übertragen zu sein. Ursula Schattner-Rieser hat zudem auf die philologische Schwierigkeit hingewiesen, dass das aramäische Hitpa‛al nicht einfach wie das masoretische Hitpa‛el von qdš reflexiv ist, sondern mehrdeutig,95 so dass es neben ————— 91

SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 116. So 4Q177 11,15 und in dem Hodayot-Text 4Q427 frag. 7 i,16f (s. STEUDEL, Heiligung, 252). 93 Vgl. 1Hen 61,12 und bereits 39,12f; vgl. auch Apk 4,8. 94 Vgl. SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 112; s. weiter a.a.O., 113: „Anstatt der berikhFormel hätte man sich analog zu 5Q545 frag. 4 17 (qdyš lhwy zrˁk ‚heilig sei/ist‘ oder ‚geheiligt werde deine Nachkommenschaft‘), der Konstruktion des Adjektivs qaddîš ‚heilig‘, des internen Passivs Peˁîl qedîš und dem Hilfsverb ‚sein‘ oder dem Personalpronomen bedienen können: qdyš lhwy šmk ‚heilig ist/sei dein Name‘.“ 95 Vgl. SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 115. 92

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der reflexiven auch die passive Bedeutung eines Nif ‛al tragen kann. D.h., das aramäische yitqaddaš kann sowohl die Heiligung durch Gott selbst als auch die durch Menschen ausdrücken, wie sie z.B. im Gebet oder im Sprechen der Qeduscha erfolgen kann. Man sollte also – auch um den Preis dessen, dass das Vaterunser dann nicht mehr ‚konsequent‘ eschatologisch erscheint – mit dieser semantischen Offenheit ernst machen.96 Die passive Deutung erscheint in dieser Perspektive doch allzu sehr als eine protestantische Eintragung, auch wenn es richtig ist, dass die ‚völlige‘ Heiligung des Namens Gottes nicht anders als durch sein eschatologisches Handeln denkbar ist.97 Im Gebet der Jünger lässt sich gleichwohl die andere, die ‚ethische‘ Perspektive nicht ausschließen:98 denn im Preis des Namens Gottes durch Engel und Menschen, in der bene-dictio, wird Gott heilig gehalten und seine Königsherrschaft gefeiert. Diese – modern formuliert – pragmatische Funktion der Gebetsbitte hat schon Paul Billerbeck zutreffend beschrieben, wenn er – ohne zu bestreiten, dass es sich um eine wirkliche Bitte an Gott handelt – feststellt: „… so liegt darin zugleich mitausgesprochen, daß Gott die Menschen zu einem Verhalten bringen wolle, das der Heiligung seines Namens u. dem Kommen seines Reiches u. der Durchführung seines Willens nicht widerspricht, sondern entspricht u. dient“99. 3.2 Die Königsherrschaft als Erwartung und Raum „Jede Berakha, in der malkut nicht vorkommt, ist keine Berakha“, heißt es in bBer 40b: Dies zeigt die enorme Bedeutung des Preises der malkut, der Königsherrschaft Gottes im rabbinischen Gebet, u.a. auch dem Schemone Esre und dem Qaddisch. Die zweite Vaterunserbitte‚ allgemein rekonstruiert mit der Wendung tēˀtê malḵûtaḵ,100 ist die Mitte der drei Du-Bitten und zugleich natürlich einer der klarsten Belege für das eschatologische Verständnis der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu und zugleich für die eschatologische Ausrichtung des gesamten Vaterunsers. Dass die Herrschaft Gottes hier als ‚kommend‘ charakterisiert wird, ist eindeutig, freilich bietet das Vaterunser selbst keine näheren Vorstellungen ————— 96 So auch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1–7, EKK I/1, Düsseldorf 2002, 446. 97 Darauf weist LOHSE, Vater unser, 44, natürlich zu Recht hin. 98 Anders WOLTER, Lukasevangelium, 406, dessen Auslegung m.E. aber doch eine problematische Alternative eröffnet: „Die Bitte ist keine verkappte Paränese oder Selbstverpflichtung, sondern richtet sich in jedem Fall auf ein Handeln Gottes … Auf Grund ihres Inhalts kann diese Bitte gar nicht anders als eschatologisch verstanden werden …“ 99 (H.L. STRACK)/P. BILLERBECK, Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I, München 71978, 409. 100 S. die Synopse bei SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 140f. 5

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über die Gottesherrschaft und ihr Kommen. Diese waren für die Zeitgenossen Jesu natürlich aus seiner Verkündigung gegeben, und sie lassen sich auch nur aus dieser insgesamt rekonstruieren. Freilich findet sich in den Worten Jesu – und gerade auch in dem Bestand, der bei allen Unsicherheiten im Detail Anspruch auf einen jesuanischen Ursprung erheben kann – neben der futurischen auch eine präsentische Komponente: Es geht in Jesu Worten nicht allein um die Erwartung der wunderbaren Offenbarung der im Himmel schon gefeierten Königsherrschaft auf der Erde, wie sie in Texten wie in AssMos 10,1 erwartet101 oder in der 11. Benediktion des Achtzehnbittengebets: „Sei König über uns!“, erbeten wird.102 Die Basileia ist – proleptisch oder sich realisierend ‒ in Jesu Machttaten (Lk 11,20; Mt 12,28) und in seiner Heilszusage an Arme und Beladene schon da, und in Gleichnissen und v.a. den sogenannten Einlassworten ist sie vorgestellt als ein Raum, in den man eintreten kann und der sich ausbreitet. Die neutestamentliche Forschung hat bekanntlich unter dem Einfluss modern-protestantischer Paradigmen lange um die unfruchtbare Alternative ‚entweder gegenwärtig oder zukünftig‘103 gestritten, deren einseitige Auflösung nach heute weithin akzeptierter Einsicht nicht möglich ist.104 Doch ist nicht zuletzt durch die Qumrantexte in mehrfacher Hinsicht ein wesentlicher Fortschritt zum Verständnis erreicht worden: a) Erstens wurde deutlich, dass für die Qumrangemeinschaft eine ‚apokalyptische‘ Enderwartung und die gleichzeitige Gewissheit der Gegenwart des Heils im Sinne einer Gemeinschaft mit der himmlischen Welt keine Denkunmöglichkeit darstellen. Hier zeigte sich eine überraschende Parallele zur Eschatologie Jesu, so sehr die Gründe des Gegenwartsbewusstseins bei Jesus andere sind als in Qumran.105 Damit musste die Alternative von (mythologischer) ‚futurischer‘ und (religiös höherwertiger) ‚präsentischer‘ Eschatologie als historisch unangemessen erscheinen. Die Qumran-Funde geben somit einen wesentlichen Impuls, die Strukturen der ‚symbolischen Welt‘ des eschatologischen Denkens Jesu erneut zu reflektieren und seine Verkündigung in einem angemesseneren Horizont zu begreifen. —————

101 Vgl. weiter besonders Dan 2,44; 7,14.27; PsSal 5,18f; 17,1.3.46; OrSib 3,46–50.767; Test Jud 21f; TestDan 5,10‒13. 102 S. dazu KELLERMANN, Achtzehn-Bitten-Gebet, 126‒128. Die Formulierungen im Qaddisch-Gebet oder im Alenu-Gebet sind vermutlich späteren Datums. 103 Vgl. J. WEISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892, 18: „entweder ist die basileia da, oder sie ist noch nicht da“. 104 So die grundlegende Einsicht bei W.G. KÜMMEL, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, AThANT 6, Zürich 31956. 105 Dazu grundlegend die Arbeit von H-W. KUHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran mit einem Anhang über Eschatologie und Gegenwart in der Verkündigung Jesu, StUNT 4, Göttingen 1966; weiter J. FREY, Die Bedeutung, 44‒48.

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b) Ein zweiter, grundlegender Aspekt ist die durch die Textfunde angeregte Neubewertung der Apokalyptik, deren Anfänge nach Ausweis der Henoch-Handschriften aus Qumran106 weit hinter die makkabäische Krise zurückreichen, so dass auch Apokalyptik nicht mehr, wie die ältere Forschung meinte, primär (als Geschichts-‚Spekulation‘) temporal orientiert erscheint,107 sondern mindestens ebenso sehr spatial, in Himmelsreisen der Himmelstopographien108 oder anders gesagt: in wirkungsvollen Entwürfen einer spatialen und temporalen ‚Gegenwelt‘.109 Die Gottesherrschaft kann in diesem Kontext stärker räumlich gedacht werden, als Realität, die im Himmel schon gepriesen und deren irdische Durchsetzung erbeten wird. c) Diese Komplexität wurde drittens sichtbar in neu erschlossenen Texten, in denen mäläk und malkût plötzlich als Schlüsselbegriffe begegneten und die den alten Eindruck, als sei diese in Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels gar kein prominentes Thema,110 deutlich korrigiert: Die ‚Sabbatopferlieder‘ (4QShirShab) aus Qumran und Masada sind ein liturgischer, aber kaum gruppenspezifisch qumranischer Text, in dem Gott als König (mäläk) und die malkût Gottes im Preis der Engel prominent zum Thema wird.111 Der Charakter und die Funktion dieser nur sehr fragmentarisch erhaltenen Komposition von 13 Liedern für alle Sabbate eines Quartals ist umstritten: Sie sind wohl keine Liturgie einer irdischen Gemeinschaft, sondern eine ideelle, himmlische Liturgie. Hier werden Engelwesen formell aufgefordert zum Preis Gottes und seiner Königsherrschaft. Dennoch ist fraglich, ob sie ————— 106

Vgl. FREY, Die Bedeutung, 26‒28. So etwa noch die klassische Handbuch-Darstellung von P. VIELHAUER, Einleitung, in: E. Hennecke/W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 31963, 407‒427; DERS., Apokalyptik des Urchristentums. Einleitung, a.a.O., 428‒454. Insbesondere der Beitrag zur jüdischen Apokalyptik wurde in der letzten Auflage unter der Mitautorschaft von Georg Strecker nur leicht aktualisiert übernommen: P. VIELHAUER/G. STRECKER, Einleitung, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997, 491‒515; DIES., Apokalyptik des Urchristentums: Einleitung, a.a.O., 516‒547. 108 Diese sind gerade in der älteren Apokalyptik, z.B. im Wächterbuch, vorherrschend, während die Gattung der ‚historischen Apokalypsen‘ (Zehnwochenapokalypse, Tiersymbolapokalypse, Daniel 10‒12) erst später, in der Zeit der judäischen Religionskrise, hinzukommt. 109 Dazu s. FREY, Die Bedeutung, 55‒57; grundlegend G.W.E. NICKELSBURG, 1 Enoch 1, Hermeneia, Minneapolis 2001, 37‒40. 110 Vgl. noch A. LINDEMANN, Art. Herrschaft Gottes / Reich Gottes IV: Neues Testament und spätantikes Judentum, TRE 15 (1986) 196‒218: 200, und O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Fribourg/Göttingen 1984, 437, der meinte, dass „in den uns erhaltenen Schriften das Thema keine hervorragende Rolle spielt“. 111 S. die Edition von C.A. NEWSOM, Songs of the Sabbath Sacrifice. A critical edition, HSSt 27, Atlanta 1985, sowie die ausführliche Diskussion bei A.M. SCHWEMER, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991, 45‒118. 107

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nur eine literarische Beschreibung sind oder ob in ihrer Rezitation selbst eine Realisierung der Gemeinschaft mit den preisenden Engeln erwirkt oder erfahren werden sollte.112 Indem sich himmlisches und menschliches Lob verbinden, wird das, was im Himmel schon vollendet geglaubt ist, im Lobpreis nicht nur erwartet, sondern zugleich proleptisch gefeiert. In den Sabbatopferliedern wird somit erkennbar, wie die malkût Gottes, die in antikjüdischen Texten erwartet und erhofft wird, mit der im Himmel verwirklichten Herrschaft Gottes verschränkt ist. Die „Königsherrschaft“ ist in diesen Texten ein Raum voller lebendiger Interaktion, ja eine Metapher für Gott selbst. Und im Lobpreis und Gebet oder auch im lesenden oder hörenden Mitvollzug nimmt die irdische Gemeinde an dem Teil, was vor Gott vollendete Wirklichkeit ist. Jesu Verkündigung von Gottes malkût/βασιλεία lässt sich in diesem Kontext vertieft verstehen – was nicht zuletzt im Rahmen des Vaterunsers von Bedeutung ist, wo das „wie im Himmel, so auf Erden“ zwar nur mit der dritten Bitte verbunden ist, aber sachgemäß ebenso für die Struktur der Bitte um die Gottesherrschaft gilt.113 Die aramäischen Gebete von Qumran bieten zu diesem Topos keine Parallelen, die aramäischen Texte (abgesehen vom Danielbuch) immerhin den vieldiskutierten Sohn-Gottes-Text 4Q246,114 in dem die Herrschaft des sich künftig erhebenden Herrschers als eine ewige prädiziert wird (malḵutēh malḵût ˁālam bzw. dann šoltānēh šoltān ˁālam)115. Zwar ist unsicher, ob die hier als „Sohn Gottes“ prädizierte Gestalt eine negative, usurpatorische (nach dem Modell des Antiochus IV Epiphanes)116 oder eine positive, messianisch-intervenierende (z.B. nach dem Modell von Michael-Melchisedek oder dem Menschensohn)117 sein soll, doch ist dies für den vorliegenden —————

112 So C.A. NEWSOM, Art. Sabbatlieder, RGG 7 (42004) 720; ausführlich in dieser Linie P. ALEXANDER, The Mystical Texts. Songs of the Sabbath Sacrifice and Related Manuscripts, Library of Second Temple Studies 61, London/New York 2006. Zur Diskussion s. E. HAMACHER, Die Sabbatopferlieder im Streit um Ursprung und Anfänge der jüdischen Mystik, JSJ 37 (1996) 119‒154; B. EGO, „Le Temple Imaginaire“. Himmlischer und irdischer Kultus im antiken Judentum am Beispiel der Sabbatopferlieder, VF 56 (2011) 58–62. 113 Vgl. DAVIES/ALLISON, Matthew I, 603. 114 Vgl. dazu É. PUECH, 4QApocryphe de Daniel ar, in: G. Brooke u.a. (Hg.), Qumran Cave 4 XVII, DJD 22, Oxford 1996, 165‒184; s. die ausführliche Diskussion bei J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran, WUNT II/104, Tübingen 1998, 128‒169. 115 S. dazu SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 117, die v.a. auf den Hintergrund im Königspsalm Ps 145 und die Parallele in TgPs 145,13 verweist. 116 So u.a. H.-J. FABRY, Die frühjüdische Apokalyptik als Reaktion auf Fremdherrschaft. Zur Funktion von 4Q246, in: B. Kollmann/W. Reinbold/A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum. FS Hartmut Stegemann, BZNW 97, Berlin 1999, 84‒98: 97f; A. STEUDEL, The Eternal Reign of the People of God – Collective Expectations in Qumranic Texts (4Q246 and 1QM), in: F. García Martínez/É. Puech (Hg.), Hommage à Józef T. Milik, RdQ 7 (1996) 507‒525. 117 Eine positive Deutung vertritt J.J. COLLINS, The Son of God Text from Qumran, in: M. de Boer (Hg.), From Jesus to John: Essays on Jesus and New Testament Christology in Honour of

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Rahmen unerheblich. Wesentlich ist, dass hier wie schon in der Danieltradition die Vorstellung vom immerwährenden Königtum Gottes (das v.a. in Psalmen wie z.B. Ps 145 zur Sprache kommt) mit der Erwartung einer künftigen Aufrichtung dieser Herrschaft sprachlich verbunden ist. Auf diesem Hintergrund ist auch die jesuanische Gebetsbitte um das Kommen der Gottesherrschaft zu interpretieren. 3.3 Das notorische Übersetzungsproblem: Schuld oder Schulden? Zur Vergebungsbitte genügt ein knapper Hinweis. Dort ist ja bekanntlich bei Matthäus von ὀφειλήματα und bei Lukas von ἁμαρτίαι die Rede, und beide griechischen Wörter gehen wohl auf ein und dasselbe aramäische Wort ḥôḇ (‫ )חוב‬zurück.118 Dalman119 und Jeremias120 haben dieses Lexem primär auf Geldschulden bezogen, und so gibt es zumindest im Blick auf die Matthäusversion, bis in heutige Bibelübersetzungen hinein, die Überlegung, ob man ὀφειλήματα hier nicht korrekter mit „und vergib uns unsere Schulden“ übersetzen müsste, was dann zugleich eine manchen willkommene ökonomisch-politische Pointe hätte. Dies ist jedoch semantisch keineswegs gefordert: In den Targumim steht ḥôḇ oder ḥôḇâh für eine Vielzahl von ‚Sündenbegriffen‘ wie ˀāšmâ „Sünde“ (Lev 4,3), ˁāwôn „Schuld“ (Num 14,19; Ps 25,11), ḥēṭ/ḥaṭaˀt „Sünde, Vergehen“ (1Sam 15,25; 1Kön 18,34) und pešaˁ „Vergehen“ (1Sam 25,28).121 Von hier aus sollten die Auslassungen darüber, wie ‚verrechtlicht‘ das Gottesverhältnis der jüdischen Zeitgenossen Jesu gewesen sei – und wie sich die von Jesus inaugurierte Vergebung und sein Gottesverständnis davon unterscheidet –,122 noch einmal einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

4. Ausblick: Ein Gebet aus dem aramäischen Levi-Dokument Unschwer ließen sich noch weitere Aspekte sammeln, die die Interpretation des Gebetes Jesu auf dem Hintergrund der zeitgenössischen aramäischen ————— Marinus de Jonge, JSNT.S 84, Sheffield 1993, 65‒82; ebenso ZIMMERMANN, Messianische Texte, 158ff. 118 Vgl. SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 127. 119 Vgl. DALMAN, Worte Jesu I, 335. 120 Vgl. JEREMIAS, Das Vaterunser, 159. 121 Vgl. SCHATTNER-RIESER, Das Aramäische, 127. Ebd.: „in der Bedeutung ‚Pfand; Obligation‘ kommt das Wort nur in [Targum zu] Ez 18,7 vor.“ 122 So auch LOHSE, Vater unser, 69f.

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(und hebräischen) Privatgebete bereichern und nuancieren könnten. Es zeigt sich wieder, dass selbst für abgegriffene Forschungsfelder durch die Auswertung neuer oder bislang unbeachteter Quellen neue Einsichten möglich sind. Freilich steckt die Forschung hier noch in den Anfängen. Ich möchte daher zum Abschluss einen Text zitieren, in dem eine Reihe von Motivparallelen zum Vaterunser begegnet und der zugleich – als individuelles Gebet – ein tiefes Vertrauen zu dem angeredeten Gott zum Ausdruck bringt. Der Text ist bislang v.a. für den Zusammenhang von Vergebungs- und Erlösungsbitte ausgewertet worden, aber es handelt sich um mehr als nur ein apotropäisches Gebet. Es ist, im Zusammenhang der Patriarchen-Abschiedstraditionen, nicht zuletzt ein Text, dessen Ausstrahlung bis zum Hohepriesterlichen Gebet Jesu in Joh 17123 reicht: Im Gebet Levis im aramäischen Levi Dokument 4Q213a (ergänzt aus einem griechischen Manuskript) bittet Levi für sich und seine Söhne um Erbarmen: Er erhebt seine Augen zum Himmel und spricht:124 „Oh Lord, you know all hearts and you alone understand all thoughts of minds. And now my children are with me, and grant me all the paths of truth. Make far from me, O Lord, the unrighteous spirit, and evil thought and fornication, and turn pride away from me. Let there be shown to me, O Lord, the holy spirit, and counsel, and wisdom and knowledge, and grant me strength, in order to do that which is pleasing to you and find favour before you. … And let not any satan have power over me to make me stray from your path. And have mercy upon me, O Lord, and bring me forward to be your servant and to minister well to you …“

Im griechischen Manuskript geht das Gebet noch weiter: „… so that wall of your peace is around me, and let the shelter of your power shelter me from every evil; wherefore, giving over even lawlessness, wipe it out from under the heaven, and end lawlessness from the face of the earth. Purify my heart from all impurity, and let me, myself, be raised to you. And turn not your countenance aside from the son of your servant Jacob.“

Wir haben hier ein individuelles, nicht liturgisches Gebet, das eine Vielzahl von Themen verbindet, die auch im Vaterunser begegnen: Da bittet ein Beter um ‚Auswischen aller Sünde‘ (d.h. Sündenvergebung) und Reinigung von allen bösen und stolzen Gedanken, um Beendigung aller Gesetzlosigkeit auf der Erde (das ist Erlösung vom Bösen und zugleich Aufrichtung der Gottesherrschaft), um Gottes Erbarmen, sein Weggeleit, um seinen heiligen —————

123 Zu den (bislang ebenfalls zu wenig beachteten) Verbindungen zwischen dem Vaterunser und Joh 17 s. DAVIES/ALLISON, Matthew I, 598. 124 Text zitiert nach der Edition von M.E. STONE/J.C. GREENFIELD, Levi Aramaic Document, in: G. Brooke u.a. (Hg.), Qumran Cave 4. XVII: Parabiblical Texts, Part 3, Oxford 1996, 1‒72: 31.

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Geist, um Weisheit und um die Kraft, ihm recht zu dienen. Wir sind hier durchaus nahe am Geist des Vaterunsers mit seiner vertrauensvollen Anrede, der Bitte um Vergebung der Schuld, der Bewahrung vor untragbarer Prüfung und der Erlösung von dem Bösen. Es zeigt sich: Die frühjüdischen Gebete sind keine dunkle Folie für Jesu Gebet, wie es in einer wirkungsvollen Göttinger Forschungstradition lange gesehen wurde,125 sondern viel eher enge Geistesverwandte. Dieses lässt sich nach der heutigen Einsicht zwar weniger den offiziellen liturgischen Gebeten des Judentums vergleichen, dem Schemone Esre, dem Qaddisch oder dem Al-haKol-Gebet, aber dafür immerhin – fragmentarisch, aber durchaus eindrücklich – den aramäischen und hebräischen Gebeten, die uns aus Qumran und seinem Umfeld erhalten sind.

————— 125

So noch JEREMIAS, Das Vaterunser, 165.

Reinhard Feldmeier

„Geheiligt werde dein Name“ Das Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteratur1

1. Das Vorhaben In diesem Beitrag soll das Herrengebet in den Kontext der paganen Gebetstradition2 gestellt und auf diesem Hintergrund ausgelegt werden. Diese Aufgabenstellung klingt einfacher als sie ist, denn es liegt keineswegs auf der Hand, was man womit vergleichen soll. Im Kontext der biblischen Tradition, in welche auch das Herrengebet gehört, haben wir im Psalter eine umfangreiche Sammlung von Gebeten vorliegen. Diese reichen in einer in der Antike wohl einzigartigen Vielfalt von der Bitte bis zum Dank, vom Lob bis zur Klage, von der Anklage bis zur Ergebung und laden gleichsam in allen Lebenslagen die Mitglieder des Gottesvolkes ein, in der Geborgenheit vorformulierter Sprache das Leben mit seinen Höhen und Tiefen vor ihren Gott zu bringen und ihn für seine erfahrene Güte zu preisen (vgl. Ps 34,2; Eph 5,19f u.ö.), aber auch über Leid und Verlassenheit vor ihm zu klagen. Der Psalter ist so geradezu ein „Lehrbuch des Gebets“3. Die fortdauernde Lebendigkeit solchen Betens zeigt sich nicht nur in der handschriftlich außerordentlich breit bezeugten Überlieferung des Psalters durch alle Zeiten hindurch4 und in den wiederkehrenden Bezugnahmen auf die Psalmen und ihre Sprache in der frühjüdischen Literatur, sondern auch in der Entstehung weiterer Gebete und Gebetssammlungen wie den Hodayot von Qumran —————

1 Für wertvolle Hinweise danke ich den Kollegen Michael Erler (Würzburg), Jan Opsomer (Leuven), Hermann Spieckermann (Göttingen) und Günther Stemberger (Wien) sowie Frau Katrin Landefeld, die mir freundlicherweise ihre Masterarbeit „Das stoische Gottesbild in Senecas Epistulae Morales und Epiktets Diatriben“ zur Verfügung gestellt und Hinweise auf entsprechende Gebetsstellen gegeben hat. 2 Da aus nichtliterarischen Quellen uns wenige Texte zum Gebet im Alltag der Griechen und Römer erhalten sind, bleibt über weite Strecken nur der (kritische) Blick in die literarisch überlieferten Gebete. 3 K. SEYBOLD, Art. Psalmen/Psalmenbuch I: Altes Testament, TRE 27 (1997) 610–624: 621. 4 Bei den Übersetzungen sind bis ins Mittelalter allein 1300 Handschriften des griechischen Psalters bezeugt, hinzu kommen noch altäthiopische, arabische, aramäische, armenische, bohairische, lateinische, sahidische und syrische Übersetzungen.

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oder den Psalmen Salomos, die dem biblischen Psalter nachgebildet sind.5 So kann man im Blick auf das Judentum in neutestamentlicher Zeit geradezu von einem „Virtuosentum des Gebetslebens“ sprechen.6 Dazu passt es, dass der gebräuchliche griechische Name für die Synagoge Gebetsstätte war (προσευχή)7 und dass für Philo neben dem tätigen Gehorsam gegen die Weisungen der Tora die im Gebet sich vollziehende Gottesbegegnung geradezu so etwas wie eine zweite nota synagogae darstellt, durch die sich das jüdische Volk vor allen anderen Völkern auszeichnet.8 Mit W. Bousset kann man deshalb das Judentum geradezu als eine „Religion des Gebetes“9 charakterisieren. Das gilt dann ebenso für das aus dem Judentum entspringende Christentum, das sich nicht nur immer wieder auf die alttestamentlichen Psalmen bezieht, sondern auch selbst in Geist und Sprache des Psalters neue Gebete und Hymnen formuliert (vgl. Lk 1,46–55.68–79; 2,29–32; Apg 4,24–30; Apk 11,17f; 15,3f ). Darüber hinaus findet sich im Neuen Testament eine große Vielfalt von Begriffen, die auf die eine oder andere Weise in den Kontext der Kommunikation mit Gott gehören – so (προσ)εύχεσθαι und δεῖσθαι „beten“, „bitten“, αἰτεῖν „bitten“, ἐντυγχάνειν „Fürbitte tun“ und ἐπικαλεῖσθαι „anrufen“, weiter εὐχαριστεῖν „Dank sagen“, εὐλογεῖν „preisen“, ψάλλειν „lobsingen“, ὑμνεῖν „rühmen“ und προσκυνεῖν „anbeten“. Dazu kommen die entsprechenden Substantive sowie weitere Begriffe, welche ein mehr oder weniger sprachlich artikuliertes Rufen nach Gott wiedergeben, wie ἱκετερία „Flehen“, κραυγή „Geschrei“ und στεναγμός „Seufzen“. Der Alltag der Urgemeinde ist nach der Apostelgeschichte vom Gebet bestimmt (Apg 2,42, vgl. 6,4), und die wiederholten Aufforderungen v.a. des Paulus und seiner Schüler zeigen, dass das ganze Leben der Christgläubigen von der Ausrichtung auf Gott im Gebet bestimmt sein soll: „betet ohne Unterlass“ (1Thess 5,17); „bleibt ständig beim Gebet“ (Röm 12,12; ————— 5

Vgl. auch das Buch der Oden als Sammlung von Gebeten, die sich außerhalb des Psalters im Alten Testament finden. 6 W. BOUSSET, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, hg. von H. Greßmann, mit einem Vorwort versehen von E. Lohse, HNT 21, Tübingen 41966, 364f. 7 Vgl. E. SCHÜRER, The history of the Jewish people in the Age of Jesus Christ (175 B.C. – A.D. 135). A new English Version Revised and Edited by G.Vermes/F.Millar/M.Black II, Edinburgh 21979, 425f.439f. 8 Das zeigt die vom Kontext her eindeutig auf das jüdische Volk zielende Beschreibung eines weisen und großen Volkes in Praem. 83f, die neben dem tätigen Gehorsam gegen die „göttlichen Mahnungen“ (Praem. 83) das Gebet benennt: „Dieses Volk ist nicht weit von Gott entfernt, denn es schaut in Gedanken immerfort die Schönheit des Aethers und lässt sich von himmlischer Liebe leiten; wenn daher einer fragen wollte, welches Volk ist gross? könnte man ihm treffend antworten: dem Gott seine andächtigen Gebete erhört und dem er nahe ist, wenn es ihn aus reinem Herzen anruft“ (Praem. 84). Übers.: L. Cohn, in: Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. von L. Cohn u.a., Band II, Berlin 21962. 9 BOUSSET, Religion, 365.

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Kol 4,2); „seid allezeit wach und betet“ (Lk 21,36, vgl. weiter Phil 1,3f; 2Tim 1,3; Lk 18,1).10 Auch in der griechischen und römischen Tradition hat es zum Alltag gehört, sich im Gebet an die Götter zu wenden. Das Gebet ist ein traditioneller Bestandteil der Religion, und angesichts deren enormer Bedeutung für den Zusammenhalt der antiken Gesellschaft und der Legitimation ihrer Ordnungen und Machtstrukturen wird Beten weitgehend selbstverständlich praktiziert. Soweit man überhaupt darüber nachgedacht hat, dürfte die überwiegende Mehrzahl der Menschen wohl derselben Meinung gewesen sein wie Plutarch, der zur Zeit des Neuen Testaments in seiner Kritik des Epikureers Kolotes schreibt: Nun steht aber in der Anordnung der Gesetze, der ja Kolotes sein Lob nicht vorenthält, obenan als wichtigste Forderung der Glaube an die Götter, mit dessen Weihe Lykurg die Lakedaimonier, Numa die Römer, der alte Ion die Athener und Deukalion sämtliche Hellenen versah, indem sie dieselben durch Gelübde, Eide, Orakel zu leidenschaftlichen Verehrern der Gottheiten machten, nicht ohne Beihilfe der Einwirkungen von Hoffnung und Furcht. Man kann in der Fremde wohl Städte finden ohne Mauern, ohne Bücher, ohne Könige, ohne Prachtbauten, ohne Reichtümer, ohne Münzen, auch ohne Kenntnis von Theatern und Ringschulen; aber eine Stadt ohne Tempel und Götter, die nichts weiß von Gebeten, Eiden und Weissagungen, von Opfern zur Erlangung des Erwünschten oder zur Abwehr von Übeln, hat noch niemand gesehen und wird sie nicht sehen; eher, glaube ich, wird eine Stadt ohne Boden entstehen und sich erhalten können als ein Staat nach völliger Ausrottung alles Gottesglaubens. (mor. 1125D–E)11

Die Anrufung der Götter im Gebet bestimmte aber auch das alltägliche Leben der Einzelnen. Das zeigt schon die beiläufige Bemerkung von Platons Sokrates, der bei seiner Erörterung über die Entstehung der Welt darauf besteht, „zuvor, wie der Brauch es fordert, die Götter anzurufen“, was sein Dialogpartner Timaios mit den Worten quittiert, dass solches wohl alle tun, die auch nur ein wenig Überlegung besitzen: rufen doch sie Alle wohl beim Beginne eines jeden Unternehmens, mag es nun geringfügig oder bedeutend sein, stets einen Gott an. (Plat. Tim. 27b.c)12

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10 Vgl. auch Jak 5,13: „Leidet einer unter euch Schlimmes, so bete er; ist er guten Mutes, so singe er Lobgesänge“. 11 Übers. nach Plutarch. Moralische Schriften. Erstes Bändchen. Streitschriften. Wider die Epikureer. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt, PhB 198, Leipzig 1926. 12 Übers. Platons hier und in den folgenden Zitaten nach: Platon. Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl u.a., hg. von Karlheinz Hülser, Frankfurt/Leipzig 1991. Vgl.

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Solche Anrufung der Götter kann mit den aus dem Neuen Testament vertrauten Worten wie εὔχομαι, αἰτέω, δέομαι, ἱκετεύω und προσκυνέω wiedergegeben werden, aber auch mit λίσσομαι („flehen“), ὄμνυμι („schwören“) und ἀράομαι („wünschen, fluchen“). Offensichtlich wird damit aber weit Disparateres bezeichnet als in der biblischen Überlieferung (bis hin zu Flüchen und Eiden), weshalb es auch im Unterschied zur biblischen Tradition nach von Severus nicht möglich zu sein scheint, „aufgrund der erhaltenen Texte das G[ebet] als sprachlich-religiöses Phänomen eindeutig zu bestimmen“13. Im Blick auf unsere Thematik ist besonders signifikant, dass es in der paganen Religiosität kein dem neutestamentlichen Vater-Unser (oder seinem jüdischen Äquivalent, dem Achtzehngebet) in irgendeiner Weise vergleichbares Gebet gab, in dem sich das Ganze der religiösen Daseins- und Handlungsorientierung Ausdruck verschaffte, indem es täglich mehrmals rezitiert wurde und so nicht nur das Leben des Einzelnen auf seinen Gott ausrichtete, sondern ihn auch mit anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft verband. Das hängt wohl u.a. damit zusammen, dass im Gegensatz zum Judentum und zum Christentum für die Praxis der außerbiblischen Religiosität das Gebet gerade nicht „an autonomous religious action“14 war. Deshalb käme wohl auch niemand auf die Idee, im Blick auf die verschiedenen Formen der Religionsausübung in griechischer, hellenistischer und römischer Zeit von einer ‚Religion des Gebetes‘ zu sprechen, wie das Bousset im Blick auf das Judentum tut.15 Das bestätigt natürlich, dass das Herrengebet ganz in den Zusammenhang biblisch-jüdischen Betens hineingehört.16 Für diese nicht eben umstür————— auch die Anrufung Gottes am Beginn des Kritias (Plat. Kritias 106a–b) oder die Anrufung der Musen am Beginn von Hesiods „Werke und Tage“; siehe dazu auch den Kommentar von Dion von Prusa (Dion Chrys. 12,23f ). 13 E. VON SEVERUS, Art. Gebet I, RAC 8, Stuttgart 1972, 1134–1258: 1135. 14 S. PULLEYN, Prayer in Greek Religion, Oxford 1997, 40. Pulleyn erläutert das noch: „The most normal context for a prayer is accompanying a sacrifice. Where this is not so, there is usually a reference to past sacrifices or a promise of future ones“ (ebd.). Zum Vorkommen von „freien Gebeten“ vgl. Pulleyn, Prayer, 9ff. Entsprechend fehlt auch „eine Anweisung wie die des Neuen Testaments – ‚so sollt ihr beten‘ – […] bei den antiken Griechen“ (T.S. SCHEER, Die Götter anrufen. Die Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Gottheit in der griechischen Antike, in: K. Brodersen (Hg.), Gebet und Fluch, Zeichen und Traum. Aspekte religiöser Kommunikation in der Antike, Antike Kultur und Geschichte 1, Münster u.a. 2001, 31–56: 32). 15 S.o. bei Anm. 9. 16 Vgl. dazu den Schluss des Buches von E. LOHSE, Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 2009, 101f: „Obwohl sich mit zunehmender Zeit die Wege von Kirche und Synagoge immer weiter voneinander entfernten, blieb die frühe Christenheit sich noch längere Zeit dessen bewusst, dass sie in ihren Gebeten Israel nahe stand und darum Israel nicht vergessen darf. […] Im Gebet, das auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vertraut, sind Juden und Christen einander nahe wie kaum anderswo, bedienen sie sich doch weithin derselben oder doch sehr ähnlicher Worte. In ihren Gebeten könnten daher die einen wie die anderen sich erneut ihrer aus der Ge-

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zend neue Einsicht bedürfte es freilich nicht dieses Beitrags – das wird von Jörg Frey im vorliegenden Band hinreichend positiv aufgezeigt.17 Ebenso wenig ist es sinnvoll, die pagane Tradition als ‚Steinbruch‘ für mehr oder weniger fragwürdige Parallelen zu benutzen, noch ist es angemessen, aus ihr eine ‚heidnische‘ Kontrastfolie für das christliche Gebet zu konstruieren. Vielmehr soll hier der Versuch gemacht werden, durch die Gegenüberstellung verschiedener Weisen des Betens die biblische Tradition und innerhalb derselben dann im Besonderen das Herrengebet in den breiten Strom des Betens im griechisch-römischen Kulturraum zu stellen. Es geht hier also darum, einmal gleichsam mit den Augen der ‚Heiden‘ auf die vertrauten Gebete zu blicken, um durch die Einbeziehung dieser Außenperspektive die Charakteristika biblischen Betens im Allgemeinen und die des Herrengebets im Besonderen präziser wahrzunehmen – einschließlich der damit verbundenen theologischen, anthropologischen und soteriologischen Implikationen. Dazu wird hier als erstes ein holzschnittartiger Überblick über das Beten in der Alltagsreligion der griechisch-römischen Welt gegeben, gefolgt von einer etwas ausführlicheren Darstellung der Bedeutung des Gebets und der Reflexion darüber in der Philosophie. Auch wenn das philosophische Gebet „gesamtgesellschaftlich gesehen marginal“18 war, so dokumentiert doch das Nachdenken darüber, was dem Gebet angemessen ist und was nicht, ja, ob das Beten als solches überhaupt sinnvoll ist, die Haltung einer geistigen Elite, die – wie sich zeigen wird – nicht ohne Rückwirkung auf die allgemeine Gebetspraxis blieb. Dafür verantwortlich war wohl nicht zuletzt die Rhetorik,19 die längst nicht mehr im Gegensatz zur Philosophie stand, sondern um diese Zeit zur wichtigsten Vermittlerin und Verbreiterin philosophischer und religionsphilosophischer Themen für eine breitere Allgemeinheit wurde,20 also das hervorgebracht und geprägt hat, was man gerne mit der etwas unscharfen Kategorie der ‚Popularphilosophie‘ bezeichnet. ————— schichte überkommenen Verbundenheit bewusst werden und dadurch zu einem behutsamen Dialog finden, der nach einer langen leidvollen Vergangenheit neue Wege in der Zukunft eröffnen mag.“ 17 S. den Beitrag von J. FREY, o. S. 1–24. 18 SCHEER, Götter, 35. 19 Das beginnt bereits in vorchristlicher Zeit mit Cicero, setzt sich im ersten Jahrhundert mit Dion von Prusa (‚Chrysostomos‘) fort und erreicht seinen Höhepunkt in der zweiten Sophistik mit Aelius Aristides, Maximus von Tyros und Apuleius. Diese ‚Stars‘ unter den antiken Rednern sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs; die Rhetorik nahm in der späteren Antike einen wichtigen Platz ein, gerade im Blick auf die Popularisierung und Verbreitung philosophischer Ideen und Begriffe. 20 Nach W. ELLIGER, Dion Chrysostomos. Sämtliche Reden, BAW.GR, Zürich 1967, IX, ist die Zeit geprägt durch eine „Vorliebe für die sophistischen Wanderredner, die sich über jedes beliebige Thema verbreiten konnten und sich eines ungeahnten Zulaufs erfreuten“. Elliger betont weiter, dass diese Redner sich nicht mehr an die dünne gebildete Oberschicht wandten, sondern

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An ausgewählten Punkten erfolgt dann ein Vergleich jüdisch-christlichen Betens mit der paganen Gebetstradition im Blick auf den Anlass und den Sitz im Leben, auf die Argumentation der Beter, die betenden Subjekte, den Horizont und den Inhalt der Gebete. Dabei treten nicht nur die Unterschiede klar hervor, sondern es zeigen sich auch Entsprechungen, die da und dort auf gegenseitige Beeinflussung zurückzuführen sind, wobei zumindest in neutestamentlicher Zeit wohl in der Regel die hellenistisch-römische Kultur die spendende war. Der Vergleich beschränkt sich hier auf menschliches Beten und die dieses Beten unterstützenden Mittlerwesen (im paganen Bereich die Daimones, in der Bibel der Geist bzw. Christus); das sowohl in der biblischen wie in der außerbiblischen Überlieferung selten bezeugte Gebet von Tieren ist ein interessantes, aber hier nicht weiter verfolgtes Randphänomen.21 Zugespitzt wird dieser Vergleich dann in einem eigenen Abschnitt im Blick auf die Elemente der ersten Bitte des Herrengebets, den Namen und die Heiligkeit Gottes. Diese Bitte, die in den Vaterunser-Auslegungen nicht selten etwas stiefmütterlich behandelt wird,22 stellt eine markante Besonderheit des Herrengebets dar, wie gerade der Vergleich mit der paganen Tradition zeigt. Deshalb soll ihr hier, als einer die Anrufung Gottes als „Vater“ komplementär ergänzenden und das Verhältnis zu ihm präzisierenden Eröffnung der Bitten, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

2. Die pagane Gebetstradition 2.1 Alltagsreligion Die eingangs vorgestellte Anrufung der Götter in der öffentlichen Religion erfolgt üblicherweise als hymnischer Preis – Plutarch nennt in einem Atemzug „Götterhymnen, Gebete, Paiane“23. Es gibt aber auch die Klage und bisweilen auch die Anklage (Hom. Il. 13,631–636). Häufig ist eben————— „an den Durchschnittsbürger“ (a.a.O., X). Elliger bezeichnet Dion daher letztlich als „Prediger“ (a.a.O., XXIX), dem er ein „geradezu propagandistisches Wirken“ attestiert (a.a.O., XXX). – Die Übersetzung der beigezogenen Äußerungen des Dion Chrysostomos entspricht im Folgenden jeweils dieser Ausgabe. 21 Die biblische Tradition kann das von den Raben sagen (vgl. Hi 38,41), die pagane von den Elefanten (vgl. Plut. mor. 972B). 22 Bezeichnend ist etwa, wie wenig H. BIETENHARD, der sich in seinem Artikel ὄνομα κτλ., ThWNT V (1954) 242–283, ausgiebig zum Gottesnamen äußert, auf S. 275 zu dieser Vaterunserbitte zu sagen hat. 23 Plut. mor. 406C. Übers. nach: Plutarch, Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung. Religionsphilosophische Schriften. Eingeleitet und neu übertragen von K. Ziegler, BAW.GR, Zürich/Stuttgart 1952.

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falls, kaum überraschend, die Bitte.24 Dabei haben die Bitten Einzelner ihren Sitz im Leben zumeist im Kult, wie Burkert konstatiert: „Es gibt kaum ein Ritual ohne Gebet, aber auch kein wichtiges Gebet ohne Ritual“25. Solches Bitten ist dabei eingebunden in ein „network of give and take that is χάρις“26, also in einer auf gegenseitiger Zuwendung beruhenden Gewogenheit, die bei Griechen wie auch bei Römern wesentlich von der Reziprozität erbrachter Leistungen bestimmt ist.27 So fordert am Beginn der Ilias der von Agamemnon beleidigte Apollonpriester Chryses von seinem Gott ein Eingreifen zu seinen Gunsten: Höre mich, Gott, der du Chrysa mit silbernem Bogen umwandelst Samt der heiligen Killa, und Tenedos mächtig beherrschest, Smintheus! Hab ich dir je überdacht den prangenden Tempel, Oder hab’ ich dir je von erlesenen Farren und Ziegen Fette Schenkel verbrannt, so gewähre mir dieses Verlangen: Räche mit deinem Geschoß meine Tränen an Danaos’ Söhnen! (Hom. Il. 1,37–42)28

In diesem Gebet – „wohl das älteste überlieferte seiner Art in der griechischen Literatur“29 – verweist der Bittende zunächst auf das, was er für seinen Gott getan hat. Im Gegenzug erwartet, ja verlangt er von diesem, dass er sich seiner Sache annimmt (was Apollon im Falle des Chryses auch prompt tut). Die der invocatio folgende pars epica formuliert also fast schon so etwas wie einen Rechtsanspruch auf die Erhörung der im letzten Teil genannten Bitte (preces). Dieses Gebet hat „die Vorstellungen der historischen Griechen vom richtigen Beten auch für spätere Zeit deutlich geprägt“30, nicht zuletzt weil Homers Ilias so etwas wie die ‚Bibel‘ der ————— 24

Vgl. schon Hom. Il. 2,400f; 16,210–248. W. BURKERT, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, RM 15, Stuttgart 22011, 118; vgl. DERS., The Orientalizing Revolution. Near Eastern Influence on Greek Culture in the Early Archaic Age, Cambridge (MA) 1992, 73: Es gebe „no important prayer without ritual: litai–thusiai, prayers–sacrifices, is an ancient and fixed conjunction“. Zum Gebet ohne Opfer vgl. M.P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion I: Die Religion Griechenlands bis auf die griechische Weltherrschaft, HAW V 2,1, München 31967 (Nachdruck 1992), 159. 26 PULLEYN, Prayer, 51. Zu dieser Vorstellung von χάρις in religiösen Zusammenhängen vgl. weiter R. PARKER, Pleasing Thighs. Reciprocity in Greek Religion, in: C. Gill/N. Postlewaite/ R. Seaford (Hg.), Reciprocity in Ancient Greece, Oxford 1998, 105–126. 27 PULLEYN, Prayer, 7.31; vgl. SCHEER, Götter, 43: „Den Göttern – vor allem dann, wenn man etwas von ihnen erbat – trat man nicht mit leeren Händen gegenüber.“ Dass man durch die im (lauten!) Gebet aufgezählten Leistungen auch noch sein Sozialprestige verbessern und seine Frömmigkeit und damit seine Qualifikation für bestimmte Ämter demonstrieren konnte, war ein nicht selten gewollter Nebeneffekt (vgl. SCHEER, Götter, 49–52). 28 Übersetzung der Ilias hier und in den folgenden Zitaten nach: Homer, Ilias. Übertragen von Hans Rupé. Mit Urtext, Anhang und Registern, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 132008. 29 SCHEER, Götter, 31. 30 Ebd. 25

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Griechen war.31 Insofern sind die dort berichteten Ereignisse nicht nur für die archaische Zeit von Bedeutung. Daher sollen im Folgenden zunächst noch zwei weitere Gebetsbeispiele aus der Ilias das Gesagte illustrieren. So betet der mit dem Heer der Griechen von Hektor bedrängte Agamemnon: Hast Du, mein Vater Zeus, schon einen gewaltigen König So mit Verblendung gestraft und den großen Ruhm ihm entrissen? Niemals fuhr ich ja doch an deinem prangenden Altar Im vielrudrigen Schiffe vorbei, hierher mich verirrend, Sondern auf jedem verbrannte ich Fett und Schenkel von Stieren, Trachtend, vom Boden zu tilgen die festummauerte Troja. Vater Zeus, gewähre mir doch dieses Verlangen: Laß uns wenigstens selber dem Tod’ entfliehn und entrinnen Und nicht also erliegen vor Trojas Macht uns Achaier. (Hom. Il. 8,236–244)

Auch hier erfolgt die Bitte nach dem Verweis auf das, was der Bittende bereits für den angerufenen Gott getan hat. Die Alternative ist, dass man im Fall der Erhörung Opfer gelobt, wie Theano, die troische Priesterin Athenes, die ihre Gottheit (in diesem Fall vergeblich) mit den Worten beschwört: Betend flehte sie drauf zu Zeus’, des gewaltigen, Tochter: Stadtbeschirmerin Pallas Athene, herrlichste Göttin! Ach, zerbrich doch den Speer Diomedes’, aber ihn selber, Laß vor dem skaiisschen Tore dort niederstürzen aufs Antlitz! Daß wir im Tempel sogleich nun zwölf untadlige Rinder, Jährig und ausgewachsen, dir opfern, wenn du der Stadt dich Und der troischen Frauen und zarten Kinder erbarmest. (Hom. Il. 6,304–310)

Man tut gut daran, diese Form von Gebeten, in welchen der Beter aufgrund seiner erbrachten Vorleistungen nun Forderungen erhebt, als eine andere Form der Religiosität zu respektieren. Allerdings ist der Eindruck, dass es sich hier um eine Art Geschäft handelt, nicht nur ein moderner. Bereits Platon kritisiert das volkstümliche Beten als eine ἐμπορικὴ τέχνη, als „Kunst des Handels“ (Plat. Euthyphr. 14e). Auf dem Weg von der archaischen Zeit bis zur Spätantike gibt es allerdings Entwicklungen. Drei sind für den hier vorzunehmenden Vergleich besonders wichtig: —————

31 So soll Alexander, wie Plutarch unter Berufung auf Alexanders Flottenführer Oneskritos berichtet, die Ilias immer neben seinem Schwert unter seinem Kopfkissen gehabt haben (Plut. vitae parallelae, Alexandros 8, in: Plutarch. Fünf Doppelbiographien. 1. Teil: Alexandros und Caesar. Aristeides und Marcus Cato. Perikles und Fabius Maximus. Griechisch und deutsch. Übersetzt von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, ausgewählt von Manfred Fuhrmann. Mit einer Einführung und Erläuterungen von Konrat Ziegler, Zürich 1994).

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1. Je eindeutiger die Götter als die Exponenten einer gerechten Weltordnung geglaubt und als Garanten des Rechts angerufen werden, desto wichtiger wird die Vorstellung der ethischen Angemessenheit des Gebets, und zwar sowohl im Blick auf den Bittenden32 wie im Blick auf den Inhalt des Erbetenen.33 (Für natürlich weiterhin bestehende unmoralische oder kriminelle Wünsche scheint eher die Magie zuständig gewesen zu sein.)34 2. Man wendet sich zunehmend auch an Götter, die bislang eher zweitrangig waren, sich aber dadurch empfehlen, dass sie dem Einzelnen in seinen Nöten und Bedürfnissen Hilfe versprechen. Markantes Beispiel ist Asklepios, der Gott der Heilung, zu dem als dem „großen Wundertäter, der alles für die Bewahrung (σωτηρία) der Menschheit tut“35 dann der Mittelplatoniker und Redner Aelius Aristides (117–180/5) ein nachgerade intimes Verhältnis entwickelt hat.36 Zu nennen wären in diesem Zusammenhang weiter die diversen Schutzgötter, wie Hermes oder die Musen, „denen man sich aus freien Stücken ohne Rücksicht auf seine Herkunft zuwendet“37. 3. Auch zentrale Gottheiten des (erweiterten) Pantheons werden verstärkt herausgehoben und zu besonderen Bezugsgrößen des Einzelnen. In stoi—————

32 Schon in der Ilias wird das erstmals angedeutet, wenn es dort heißt: „Wer dem Gebote der Götter gehorcht, den hören sie wieder“ (Hom. Il. 1,218, vgl. Hom. Od. 14,401–408). 33 Xenophanes fordert: „ Da ziemt’s zuerst wohlgesinnten Männern dem Gotte lobzusingen mit frommen Geschichten und reinen Worten. Nach der Spende aber und nach dem Gebet, uns Kraft zu verleihen das Rechte zu tun – denn dies zu erbitten, ist ja das Gemäßere (das uns näher Angehende) […].“ (Übers. nach W. Kranz/H. Diehls [Hg.], Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Erster Band, Berlin 61951, Fragment 1, 13–16). Pindar (Nemeische Ode 8,35– 38) betet: „Möge mir niemals solche Art [sc. boshafte Verdrehung mit Schmeichelreden, unheilsstiftender Schaden etc.] eigen sein, Zeus Vater, sondern einfache Wege des Lebens möchte ich angehen, daß nach dem Tod ich nicht meinen Kindern den Ruf übler Nachrede anhänge“ (Pindar, Siegeslieder. Griechisch – deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einer Einführung versehen von Dieter Bremer, München 22003). 34 Vgl. M.P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion II: Die hellenistische und römische Zeit, HAW V 2,2, München 41988, 540ff. Eine andere Möglichkeit waren die leise gesprochenen Gebete, durch die man seine lauteren Absichten verbarg, wobei damit nicht selten magische Elemente einhergingen (vgl. P.W. VAN DER HORST, Silent Prayer in Antiquity, Numen 41 [1994] 1–25, bes. 4–9). Es ist daher nicht sicher, ob man generell sagen kann: „Der Frevler hat keine Aussicht auf Erhörung“ (H. GREEVEN, Art. εὔχομαι κτλ., ThWNT II [1935] 774–782: 778). 35 Aristeid. Oratio 39,14, eigene Übersetzung nach Aelii Aristidis Smyrnaei Quae supersunt Omnia. Edidit Bruno Keil. Volumen II. Orationes XVII–LIII Continens, Berlin 1958; vgl. englische Übersetzung: „the great magician who does everything for the safety of mankind” (nach P. Aelius Aristides. The Complete Works. Volume I and II. Translated into English by Charles A. Behr, Leiden 1981/1986). 36 Bezeichnend ist etwa die Anrufung des Gottes in Aristeid. Oratio 42,1; vor allem aber sind die Hieroi Logoi von der besonderen Verbundenheit des Aelius Aristides mit Asklepios geprägt. Dort berichtet er auch, wie der Gott durch eine Serie nächtlicher Visionen sein Leben neu ausgerichtet hat (Aristeid. Hieroi Logoi 4,14–29, dt. Ausg.: Publius Aelius Aristides, Heilige Berichte. Einleitung, deutsche Übersetzung und Kommentar von Heinrich Otto Schröder. Vorwort von Hildebrecht Hommel, WKLGS, Heidelberg 1986). 37 VON SEVERUS, Gebet, 1144.

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scher Tradition ist dies v.a. der schon von Kleanthes mit dem Kosmosgott identifizierte Zeus, der in neutestamentlicher Zeit für Epiktet, in abgeschwächter Weise auch für Dion von Prusa, zum Hauptgott avanciert. Aus platonischer Tradition wären in neutestamentlicher und frühchristlicher Zeit als ‚Paar‘ noch Plutarch und Apollon zu nennen, im zweiten Jahrhundert (neben Aelius Aristides und Asklepios) noch Apuleius und Isis (und Osiris). Eine solche besondere Bindung an einen bestimmten Gott schließt keineswegs die grundsätzliche Anerkennung anderer Gottheiten aus: Epiktet kann in der Diatribe III,22 im selben Abschnitt den Kyniker mehrmals als den Gesandten bzw. Diener (ἄγγελος bzw. ὑπηρέτης) des Zeus wie als Gesandten, Botschafter und Freund (ἄγγελος, κήρυξ, φίλος) der Götter bezeichnen. Und Aelius Aristides hat außer für ‚seinen‘ Asklepios auch für eine Reihe anderer Götter Hymnen verfasst, die diese ebenfalls als einzigartig erscheinen lassen. So kann er in einem Hymnus Zeus als den sich selbst hervorbringenden Ursprung des Alls preisen (Aristeid. Oratio 43,8f ), dem alle anderen Götter zu- und untergeordnet sind (ebd. 43,25f ), in einem anderen Serapis als den „größten Gott“ (ebd. 45,16), der Macht über alles hat (ebd. 45,22f ). Versnel nennt solche den einzelnen Göttern gewidmeten Hymnen „a henotheistic moment in a polytheistic context“38. Dieses gründet nicht zuletzt darin, dass bei den Genannten die intensivierte Bindung an einen bestimmten Gott mit einem persönlich geprägten Verhältnis einhergeht, was durch den sich in der zeitgenössischen Philosophie immer stärker durchsetzenden inklusiven Monotheismus noch begünstigt wurde (s.u. 4.1). Beten wird somit ethisiert und personalisiert. Man geht wohl in Anbetracht der oben angeführten Beispiele nicht fehl, wenn man dies zu einem nicht geringen Teil auf den Einfluss der philosophischen Reflexion über rechtes und falsches Beten und einer entsprechend veränderten Praxis zurückführt. 2.2 Die philosophische Kritik und die Neuausrichtung des Betens Philosophen haben schon früh und auf vielfältige Weise das volkstümliche Gebet kritisiert. Heraklit wirft den traditionellen Formen des Kultes einschließlich des Gebets vor, nichts von der Natur von Göttern und Heroen zu wissen: Sie suchen Sühnung umsonst, indem sie mit Blut sich besudeln, wie wenn einer, der in Schmutz getreten, sich mit Schmutz abwüsche. Für verrückt muß der gelten, bemerkt man nur, dass er dies tut.

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38 H.S. VERSNEL, Coping with the Gods. Wayward Readings in Greek Theology, Religions in the Graeco-Roman World 173, Leiden/Boston 2011, 244.

Das Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteratur

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Auch zu den Götterbildern dort beten sie, wie wenn einer mit Häusern schwatzte und wüßte nicht, was Götter und Heroen in Wahrheit sind. (Herakl. B 5)39

Kritisiert wird auch das Gebet des Abergläubischen, der sich vor den Göttern fürchtet, betet mit schwankender Stimme und räuchert mit zitternden Händen (Plut. mor. 169E)40,

des Weiteren ein Beten, das jammert und klagt, statt das, was einem widerfährt, zu ertragen oder ihm durch eigenes Handeln nach Möglichkeit Abhilfe zu schaffen. So formuliert Epiktet in seiner Diatribe I,6 folgendes bissige Streitgespräch: Ja, aber meine Nase läuft. – Wozu hast du denn deine Hände, du Sklave? Hast du sie nicht, um dich zu schneuzen? – Ist es denn sinnvoll, daß es laufende Nasen auf der Welt gibt? – Es ist doch wohl erheblich besser, daß du dir die Nase putzt, als daß du deinem Schöpfer Vorwürfe machst? (Epikt. Diatribe I,6)41

Ein weiteres gravierendes Problem der allgemeinen Gebetspraxis besteht aus philosophischer Perspektive darin, dass die Menschen in ihrer Kurzsichtigkeit oft gar nicht wissen, was ihnen selbst oder ihren Freunden wirklich frommt. Maximus von Tyros führt dafür die Beispiele des Midas an, dessen Bitte, alles in Gold zu verwandeln, das Land in eine Hungersnot gestürzt hat, und des Kroisos, der sein eigenes Reich zerstört hat (Max. Tyr. 5,1f ). Und nach Seneca gilt es geradezu, die Götter zu bitten, die Wünsche der besten Freunde möglichst nicht zu erfüllen: Stelle Dich taub Deinen besten Freunden: in guter Absicht erbitten sie Dir Schlimmes. Und wenn Du glücklich sein willst, bete zu den Göttern, daß nichts von dem, was man Dir wünscht, in Erfüllung gehe. (Sen. epist. 31,2)42

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39 Übers. der Heraklittexte hier und in den folgenden Zitaten nach: Heraklit, Fragmente. Griechisch und deutsch. Herausgegeben von Bruno Snell, Sammlung Tusculum, München 142007. 40 Übers.: Plutarch. Drei religionsphilosphische Schriften. Über den Aberglauben. Über die späte Strafe der Gottheit. Über Isis und Osiris. Griechisch – deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Herwig Görgemanns unter Mitarbeit von Reinhard Feldmeier und Jan Assmann, Sammlung Tusculum, Düsseldorf/Zürich 22009. 41 Übers. der Epiktettexte hier und in den folgenden Zitaten nach: Epiktet. Teles. Musonius. Ausgewählte Schriften. Griechisch – Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel, Sammlung Tusculum, Zürich 1994. 42 Übers. der Senecatexte hier und in den folgenden Zitaten nach: Seneca. Epistulae morales ad Lucilium, Liber I–XX. Briefe an Lucilius über Ethik, 1.–20. Buch Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Franz Loretto, Stuttgart 1977–2000.

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Noch problematischer als die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis im Blick auf das, was den Betenden wirklich frommt, ist die oft im Gegensatz zum Allgemeinwohl stehende Partikularität der individuellen Interessen. Das Grundproblem jedes Bittgebetes wird deshalb darin gesehen, dass hier der Mensch versucht, die Götter für seine persönlichen Anliegen einzuspannen. Dabei verfolgt er nicht selten seinen Egoismus auf Kosten der anderen – bis dahin, dass die Götter zu Handlangern für die Schädigung der Mitmenschen gemacht werden sollen. In diesem Sinne stellt Epikur in einem ihm zugeschriebenen Zitat lakonisch fest: Wenn der Gott den Gebeten der Menschen entsprechen würde, dann wären schon längst alle Menschen zugrunde gegangen, weil sie unablässig viel Schlimmes gegeneinander erbitten.43

Solche Gebete schaden nicht nur dem Beter, weil sie letztlich unerwünschte Resultate zeitigen, sondern auch, weil sie dem Göttlichen eine ungehörige Wankelmütigkeit unterstellen (vgl. Max. Tyr. 5,3). Denn wer sich an die Götter wendet, der wendet sich an unbestechliche Richter: Kein Gott wird es zulassen, dass du um etwas bittest, was sich nicht schickt, noch wird er dir geben, was dir nicht zusteht. (Max. Tyr. 5,7)44

Aufgrund solcher Probleme wird daher von philosophischer Seite oft gefolgert, dass es angemessener ist, es den Göttern zu überlassen, was sie einem schicken. Nach Xenophon wandte sich bereits Sokrates gegen die eigensüchtige Vereinnahmung der Götter und betete selbst einfach zu den Göttern, das Gute zu gewähren, da doch die Götter am besten wüßten, welcher Art das Gute sei. (Xen. mem. I 3,2)45

Im pseudoplatonischen Alkibiades betont ‚Sokrates‘, dass es „großer Behutsamkeit und Überlegung bedarf, was man [im Gebet] reden muss und was nicht“ (Plat. Alk. 2,149c), denn es ist nicht ungefährlich, sich „betend —————

43 H. USENER, Epicurea, Sammlung wissenschaftlicher Commentare, Stuttgart 1966, Frgm. 388. G. ARRIGHETTI, Epicuro. Opere, Torino 21967 führt dieses Fragment nicht. Dt. Übers. hier und im Folgenden nach: Epikur. Wege zum Glück. Griechisch-lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel, Sammlung Tusculum, Düsseldorf/Zürich 22006. 44 Übers.: Rainer Hirsch-Luipold (noch nicht veröffentlicht). 45 Übers. folgt: Xenophon, Erinnerungen an Sokrates. Griechisch – deutsch. Herausgegeben von Peter Jaerisch, Sammlung Tusculum, Tübingen 41987, I 3,2: „Und er betete auch einfach zu den Göttern, das Gute zu gewähren, da doch die Götter am besten wüßten, welcher Art das Gute sei. Wer aber um Gold oder um Silber oder um die Herrschaft oder um etwas anderes dieser Art bitte, der bitte nach seiner Meinung um nichts anderes, als wenn er um Erfolg im Würfelspiel bäte, in einer Schlacht oder in etwas anderem von dem, dessen Ausgang offensichtlich ungewiß sei.“

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dem Gott zu nahen“ (Plat. Alk. 2,150c). Deshalb lobt er einen Dichter, der angesichts der Unvernunft vieler menschlicher Wünsche für alle folgendes gemeinschaftliche Gebet gedichtet hat: Er sagt aber so etwa: Zeus du Herrscher, das Gute, spricht er, auch wann wir es nicht uns erflehen, Immer verleih, doch Arges dem Beter sogar zu verweigern bittet er. (Plat. Alk. 2,142e–143a)

Wenn dennoch positiv etwas erbeten wird, so wird dessen Inhalt völlig neu bestimmt. Platon lässt in diesem Sinn am Ende des Phaidros seinen Lehrer den Dialog mit der Bitte an Pan und die Götter, die sonst zugegen sind, beschließen, innerlich schön zu werden: O lieber Pan, und ihr Götter die ihr sonst hier zugegen seid, verleihet mir schön zu sein im Inneren, und daß was ich Äußeres habe dem Inneren befreundet sei. […] Bedürfen wir noch etwas anderes, oh Phaidros? Ich für mich habe hinreichend gebetet. (Plat. Phaidr. 279b.c)

Im vierten Buch der Nomoi führt Platon das dann noch weiter aus, indem er den „Athener“ aus dem Grundsatz, dass Gott „das Maß aller Dinge für uns ist“ (Plat. leg. 716c), folgern lässt: Wer also Gott wohlgefällig werden will muß sich nach allen Kräften ihm möglichst gleich zu werden bemühen, und wer von uns mäßig und besonnen ist, der ist eben hiernach Gott wohlgefällig, denn er gleicht ihm […]. Und nun laßt uns beachten daß hieran ein anderes Wort, und ich glaube das schönste und wahrste aller Worte, sich anreiht, nämlich daß es für einen guten Menschen die edelste und herrlichste Pflicht und das höchste Förderungsmittel zum glücklichen Leben und demnach auch ganz vorzugsweise angemessen ist zu opfern und durch Gebete und Weihgeschenke und überhaupt durch den ganzen Gottesdienst des Umgangs mit den Göttern zu pflegen. (Plat. leg. 716c–e)

Das Gebet des Weisen zielt also nicht auf die Erlangung eines persönlichen Vorteils, sondern auf den „Umgang mit den Göttern“. Solches Beten befähigt dann auch zum Widerstand gegen alle Versuchungen, welche die Ausrichtung auf die Gemeinschaft mit dem Göttlichen gefährden. So greift Epiktet eine Passage aus dem neunten Buch der Nomoi (Plat. leg. 854b) auf und fordert: Habe den Wunsch, rein zu werden in Gemeinschaft mit dir selbst und mit Gott. Wenn dich einmal eine solche Vorstellung [sc. die oben geschilderten sexuellen Versuchungen] überkommt,

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dann – so sagt Platon – geh und bring ein Sühneopfer dar und bete zu den unheilabwehrenden Göttern. (Epikt. Diatribe II,18)

Die Funktion des Gebets besteht dementsprechend in der Ausrichtung des ganzen Lebens auf das Göttliche, Beten wird zu einer Art „philosophische[r] Kontemplation“46. Spätere Philosophen, sofern sie nicht aus grundsätzlichen Überlegungen heraus das Gebet überhaupt abgelehnt haben,47 sind in dieser Richtung weiter gegangen. So scheint Aristoteles in seiner verlorengegangenen Schrift über das Gebet dieses mit dem Bemühen um Gotteserkenntnis verbunden zu haben.48 Für die Stoa, welche diesen Weltlauf durch den göttlichen Logos bestimmt sieht, kann das Gebet des Weisen nur darauf abzielen, die göttliche Vorsehung anzuerkennen und im eigenen Lebensvollzug diesem, durch die Vernunft in der Natur erkennbaren, höheren Prinzip Geltung zu verschaffen. In der Übereinstimmung mit dem göttlichen Logos und Nomos besteht daher für den Stoiker das Glück des Menschen. Mutatis mutandis sind alle philosophischen Gebete der folgenden Jahrhunderte vom Anliegen einer Annäherung und Angleichung an das Göttliche bestimmt, das platonisch als ὁμοίωσις θεῷ und stoisch als ἀκολουθεῖν τῷ θεῷ bezeichnet werden kann. Die daraus resultierende umstürzende Neuausrichtung des Betens wird von Seneca explizit thematisiert: Du magst den Göttern die Erfüllung Deiner alten Gebete ruhig erlassen, fange andere von neuem an: Bitte um eine gute Gesinnung, um geistiges Wohlbefinden, dann erst um das körperliche! Warum solltest du diese Gebete nicht oft verrichten? (Sen. epist. 10,4)

Im Grunde kann es daher beim Beten nur darum gehen, alle auf äußere Dinge zielenden Wünsche dem Gott [zu] erlassen, um Dich mit Dir selbst zu begnügen und mit den Werten, die aus Dir stammen. (Sen. epist. 20,8)

————— 46

NILSSON, Geschichte II, 445. Diagoras bestritt das Dasein der Götter und damit den Sinn jeden Betens; vgl. M. Tullius Cicero, Vom Wesen der Götter. Drei Bücher. Lateinisch – deutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Wolfgang Gerlach und Karl Bayer, München/Zürich 31990, III,89: „Als aber Diagoras, der Atheist, wie man ihn nennt, nach Samothrake kam und ein Freund zu ihm sagte: ‚Du, der du meinst, die Götter kümmerten sich nicht um die Angelegenheiten der Menschen, erkennst du aus der Menge der Votivtafeln denn nicht, wie viele Menschen durch ihre Gelübde der Gewalt des Sturmes entronnen und wohlbehalten in den Hafen gelangt sind?‘, da erwiderte er: ‚Richtig! Man sieht ja nirgends die Bilder derjenigen, die Schiffbruch erlitten und im Meere den Tod gefunden haben!‘ “ Übers. von De Naturam Deorum folgt dieser Ausgabe. 48 Vgl. VON SEVERUS, Gebet, 1148f. 47

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Wie besonders die letzte Aufforderung: „Dich mit Dir selbst zu begnügen und mit den Werten, die aus Dir stammen“, zeigt, wird dabei das Göttliche, oder doch die Beziehung zu diesem, zunehmend im Selbstverhältnis der Betenden verortet; das Interesse gilt nicht so sehr der Begegnung mit einem Gegenüber denn der „Selbstfindung“49 zum Zwecke der Selbstoptimierung. Man kann das bereits bei Platon angedeutet finden, wenn Sokrates die Götter nur darum bittet, „schön zu sein im Innern“ (Plat. Phaidr. 279b), was nach Nomoi (Plat. leg. 716c) ja zunächst einmal Aufgabe des Bittenden selbst ist. Solche Selbstfindung muss nicht immer ethisch bestimmt sein. Für Epikur waren bekanntlich die Götter in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den menschlichen Angelegenheiten Vorbilder für eine glückliche Lebensgestaltung.50 So sind sie zwar „keine Partner für das G[ebet] der Menschen“51, allerdings wird für den Kepos damit das Gebet keineswegs obsolet. Der Epikureer Philodem bezeugt, dass Epikur in seinem Werk über die Lebensformen sagt […], es sei ein Zeichen von Weisheit, zu den Göttern zu beten, nicht weil die Götter sich ärgern, wenn wir es nicht tun, sondern im Bewusstsein der Tatsache, dass sie Wesen sind, die uns an Stärke und Klugheit weit übertreffen.52

Hier wie dort erwartet der Beter nicht mehr ein wie immer geartetes Gut von einem göttlichen Geber. Der Sinn des Gebets wird vielmehr in dem Vollzug des Betens und dessen Rückwirkungen auf die Betenden gesehen, in diesem Fall in der Kontemplation des glückseligen Lebens der Götter, die sich aus allem Weltlichen fernhalten, um so (im Sinne des epikureischen λάθε βιώσας) einen Maßstab für ein eigenes gelingendes Leben zu bekommen. Mit einem Wort: Das „bislang von außen erstrebte Gut verschafft sich der Betende im Verlauf des Gebetes selbst.“53 Dieser Funktionswandel des Gebetes ist erst recht bei der parallel zum Kepos entstehenden Stoa zu beobachten. Bei aller echten Religiosität, die bereits den Hymnen und Gebeten des Kleanthes, Zenons Nachfolger als Schuloberhaupt der Stoa, und dann erst recht in neutestamentlicher Zeit —————

49 So der programmatische Titel von Erlers Beitrag, der dies entfaltet: M. ERLER, Selbstfindung im Gebet. Integration eines Elementes epikureischer Theologie in den Platonismus der Spätantike, in: T.A. Szlezák u.a. (Hg.), Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer, Spudasmata 82, Hildesheim 2001, 155–171. 50 Vgl. USENER, Epicurea, Frgm. 386f; Frgm. 387 entspricht ARRIGHETTI, Epicuro, Frgm. 105. Arrighetti führt Frgm. 386 nicht. 51 VON SEVERUS, Gebet, 1149. 52 USENER, Epicurea, Frgm. 13; ARRIGHETTI, Epicuro, Frgm. 124. Sowohl Usener als auch Arrighetti geben dieses Zitat als unsicher an. 53 ERLER, Selbstfindung, 164.

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einem Epiktet kaum abzusprechen ist, geht es doch, wie oben dargestellt, letztlich um die Einsicht in den diese Welt bestimmenden Logos und Nomos. Die Verpflichtung des Weisen, die eigene Daseins- und Handlungsorientierung danach auszurichten, gipfelt auch hier darin, all das, was einem widerfährt, als göttliche Fügung zu akzeptieren, ja freudig zu bejahen. So betet bereits Kleanthes: Führ du mich, Zeus, und du, Pepromene, wohin der Weg von euch mir ist bestimmt! Ich folg’ euch ohne Zaudern. Sträub’ ich mich, so handl’ ich schlecht, und folgen muss ich doch!54

In seinem berühmten Zeushymnus wird das von Kleanthes noch ausführlicher dargestellt.55 Dieser Hymnus ist ein typisches Beispiel für ein philosophisches Bitten, „in which the gods are only asked for what is good and beneficial for one’s moral and intellectual well-being“56. Auch hier gilt das bereits zum Epikureismus Gesagte: „Streng genommen wird hier nicht Gott adressiert, sondern der Betende selbst“57. Das Gebet dient also auch in der Stoa der Formung des Selbst in Gestalt einer Habitualisierung, die der Beter selbst durch sein Beten bewerkstelligt: „Die wiederholende Vergewisserung, dass man selbst in der Lage ist, alles, was einem von außen zustößt, auszuhalten und gut und richtig zu finden, weil Gott es ist, der alles lenkt und leitet, soll zu einer Einsicht qua Gewöhnung führen.“58 Die Stoa der frühen Kaiserzeit hat das (nicht selten unter explizitem Rückbezug auf Kleanthes) aufgenommen und weiter ausformuliert. So bietet Seneca in seinem 107. Brief eine interpretierende Übersetzung der oben zitierten Anrufung des Zeus und der Pepromene59 als Abschluss seiner Darlegungen, die zeigen sollen, dass es am besten ist, ————— 54

Übers. M. POHLENZ, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 82010, 106. Entspricht Frgm. 527 in: Ioannes ab Arnim, SVF 1, Stuttgart 1921. 55 POHLENZ, Stoa, 109, fasst ihn so zusammen: „Wie Zeus droben als Gott der Natur das dunkle Gewölk mit leuchtendem Blitze zerteilt, so möge er auch von den Augen der Menschen das Dunkel nehmen und ihnen Einsicht schenken, damit sie sich aus freiem Willen seinem Gesetze fügen und es preisen, so wie es auch die himmlischen Götter selber tun“. 56 J.C. THOM, Cleanthes’ Hymn to Zeus. Text, Translation, and Commentary, STAC 33, Tübingen 2006, 143. 57 C. VOGEL, Stoische Ethik und platonische Bildung. Simplikios’ Kommentar zu Epiktets Handbüchlein der Moral, Studien zu Literatur und Erkenntnis 5, Heidelberg 2013, 375. 58 VOGEL, Ethik, 375. 59 Seneca lässt in seinem Zitat allerdings die Pepromene aus und konzentriert sich ganz auf Zeus: „Führ mich, o Vater und König des erhabenen Himmels, wohin es Dir gefällt. Mein Gehorsam kennt kein Zögern. Da bin ich unverdrossen; will ich nicht, dann muß ich stöhnend folgen. Und als schlechter Mensch tun, was als gutem mir freistand. Den Willigen führt das Schicksal, den Widerstrebenden schleppt es fort“ (Sen. epist. 107,11f ).

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das zu erdulden, was Du nicht verbessern kannst, und sich Gott, durch dessen Wirken alles entsteht, ohne Murren anzuschließen. (Sen. epist. 107,9)

In diesem Sinn lehnt es der Stoiker auch entschieden ab, die Götter mit Bitten um das eigene Wohlergehen zu behelligen, und verweist den Menschen an seine eigene Verpflichtung, sein Leben am Guten auszurichten und so den Göttern gleich und damit glücklich zu werden: Was sollen die Wünsche? Mach Dich selbst glücklich; machen aber wirst Du Dich dazu, wenn Du das als gut erkannt hast, an dem sittliches Verhalten teilhat, als verwerflich aber jenes, dem Niedertracht anhaftet. (Sen. epist. 31,5)

Vielleicht am deutlichsten zeigt der Beginn des bekannten 41. Briefes von Seneca, wie bei ihm das Verhältnis zum Göttlichen im Grunde nichts anderes als die Aktivierung des höheren Selbst ist, welches jedes Bittgebet als deplatziert erscheinen lässt: Du tust etwas Vortreffliches und für Dich Heilsames, wenn Du, wie Du schreibst, beharrlich auf dem Weg zu einer guten Sinnesart (bona mens) bist, die (von den Göttern) zu erbitten töricht wäre, da Du sie ja von Dir erlangen kannst. Nicht brauchen wir die Hände zum Himmel erheben noch den Tempelhüter anzuflehen, dass er uns zum Ohr der Götterbilder Zutritt gewähre, als ob wir so eher erhört werden könnten: Nahe ist Dir Gott, mit Dir ist er, in Dir ist er. Das behaupte ich, Lucilius, ein heiliger Geist wohnt in uns, als Beobachter und Überwacher unserer bösen und guten Taten. (Sen. epist. 41,1f )

Wie bereits bei Kleanthes zu sehen war, waren nicht alle Stoiker religiös so ‚unmusikalisch‘ wie Seneca. Ein Gegenbeispiel ist der um zwei Generationen jüngere Epiktet (ca. 55–135), der im Unterschied zu dem aus dem Hochadel stammenden Prinzenerzieher Seneca aus dem Sklavenstand kommt und sich in seinem Unterricht bewusst den ratsuchenden Laien zuwendet. Epiktet zitiert ebenfalls die oben vorgestellten Eingangsverse des Kleanthes-Gebets an Zeus und Pepromene, sogar gleich mehrmals, weil er in ihnen den Weg zur wahren Freiheit sieht;60 nicht zuletzt bildet ————— 60

Epikt. Diatribe IV,1.131, vgl. II,23.42; III,22.95; IV,4.34.

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dieses Gebet (zusammen mit einem Euripideszitat und zwei Platonzitaten) den Abschluss seines Enchiridions. Am Beginn seiner Diatriben lässt Epiktet entsprechend Zeus selbst auftreten, der dem Philosophen erklärt, dass auch er keine Macht über die äußeren Dinge hat, dass er ihm aber stattdessen zur Lebensbewältigung „ein Stück von unserem Wesen (μέρος τι ἡμέτερον) gegeben“ hat, nämlich „die Fähigkeit (δύναμις) zu wollen und nicht zu wollen, zu begehren und abzulehnen“. Wenn er dies dann im Diatribenstil mit Frage und Antwort beschließt: „Also bist du damit zufrieden?“ „Ich bete so zu den Göttern.“ (Epikt. Diatribe I,1)61

so wird deutlich, dass die Hinwendung zum Göttlichen und das Ringen um die innere wahre Freiheit durch vernünftige Selbstbestimmung letztlich zwei Seiten derselben Medaille sind, so dass Gott und das Selbst geradezu zu verschmelzen scheinen: Du musst den Willen haben, dir selbst zu gefallen und vor Gott dich als anständig und tüchtig zu erweisen. Habe den Wunsch, rein zu werden in Gemeinschaft mit dir selbst und mit Gott. (Epikt. Diatribe II,18)

Dennoch hält Epiktet an der Praxis des Betens fest; beim Bemühen um Tugend kann und soll das Göttliche als Helfer angerufen werden: Groß ist der Kampf, göttlich der Lohn: Wahres Königtum, Freiheit, Glück, Seelenruhe. Denk an Gott, ruf ihn als Helfer und Beschützer an, wie die Seeleute im Sturm die Dioskuren. (Epikt. Diatribe II,18)

Das führt zu einer Religiosität, der zufolge der Mensch nichts Besseres tun kann, als sich ganz von der Verbundenheit mit dem Göttlichen her zu verstehen: Wage es, deine Augen zu Gott zu erheben und zu ihm zu sagen: „Gebrauche mich von nun an, wie du willst. Ich bin eines Sinnes mit dir. Ich gehöre dir. Ich weise nichts zurück, was dir gut scheint. Führe mich, wohin du willst.“ (Epikt. Diatribe II,16)62

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61 Eigene Übersetzung in Anlehnung an: Epictetus. Discourses, Fragments, Handbook. Translated by Robin Hard. With an Introduction and Notes by Christopher Gill, Oxford World’s Classics, Oxford 2014. 62 Eigene Übersetzung in Anlehnung an HARD, Epictetus.

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Hier findet sich eine der jüdischen und christlichen Religiosität vergleichbare Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gott mittels des Betens. Wenn Epiktet etwa in Diatribe IV,1 sagt: „Ich habe all mein Sinnen und Trachten Gott anheimgestellt“, so führt eine solche Haltung nicht nur zu der immer wieder betonten Freiheit in Gestalt der Fügung in die göttliche Vorsehung63 und zu der entsprechenden Bändigung der diese Fügung störenden Begierden,64 sondern auch zu einer Frömmigkeit, die sich in einem das ganze Leben bestimmenden Dank gegen Gott65 und dem Preis seiner Gaben66 äußert: Wenn wir nämlich Verstand hätten, dürften wir da etwas anderes tun – gemeinsam oder jeder für sich –, als die Gottheit (τὸ θεῖον) zu preisen und zu rühmen und unsere Dankbarkeit immer wieder zum Ausdruck zu bringen? Sollten wir nicht beim Graben, Pflügen und Essen den Hymnus auf Gott singen? „Groß ist Gott, weil er […] uns Hände, einen Hals zum Schlucken und einen Magen gegeben und es ermöglicht hat, daß wir wachsen, ohne es zu merken, und im Schlaf zu atmen“. Das sollten wir bei jeder Gelegenheit singen und dabei den größten und göttlichsten Hymnus erschallen lassen, weil er uns die Kraft gegeben hat, dies zu begreifen und dabei den richtigen Weg einzuschlagen. (Epikt. Diatribe I,16)

Eine solche Haltung bedeutet also auch bei Epiktet, im „festen Vertrauen in die zugleich unabänderliche und segensreiche Weltordnung“67 zu leben. Trotz aller personalistischen Sprache fügt sich so „alles, was Epiktet über Gott und zum Gottesbezug des Menschen sagt, […] konsistent in den ————— 63

Epiktet führt diesen Grundsatz folgendermaßen aus (Epikt. Diatribe IV,1): „Er [sc. Gott] will, daß ich Fieber habe. Auch ich will es. Er will, daß ich etwas erstrebe. Auch ich will es. Er will, daß ich mir etwas wünsche. Auch ich will es. Er will, daß ich etwas bekomme. Auch ich will es. Will er es nicht, will ich es auch nicht. Ich bin bereit zu sterben. Ich bin bereit, mich foltern zu lassen. Wer kann mich noch an etwas hindern gegen meine Überzeugung oder zu etwas zwingen? So wenig, wie er Gott zwingen kann“; vgl. weiter Epikt. Diatribe I,12. 64 Vgl. Epikt. Diatribe II,18. 65 Vgl. auch Epikt. Diatribe IV,7, wo Epiktet sein Verständnis einer philosophischen Frömmigkeit entfaltet: Der vernünftige Mensch sieht, „weil er von Natur aus edler Herkunft ist, eine hohe Gesinnung hat, und frei ist, daß er über einen Teil der Dinge seiner Umwelt ungehindert verfügt und Macht über sie hat, während der andere Teil behindert werden kann und fremdem Einfluß unterliegt. Durch nichts behindert werden die Dinge, die von der sittlichen Entscheidung des Menschen abhängig sind; behindert aber werden die Dinge, die seiner Entscheidung entzogen sind. Wenn daher der Mensch in jenen Dingen allein das für ihn Gute und Nützliche sieht, in den Dingen also, die keiner Behinderung ausgesetzt sind und seiner Macht unterliegen, dann wird er frei, froh und glücklich sein; er wird keinen Schaden erleiden, eine hohe Gesinnung haben, fromm (εὐσεβές) sein, Gott für alles danken“. Wer sich dagegen an den äußeren Dingen orientiert, der „verliert zwangsläufig seine Ehrfurcht vor Gott (ἀσεβές), weil er glaubt, von ihm geschädigt zu werden“. 66 Vgl. auch Epikt. Diatribe I,10.12.16.19; IV,1.4. 67 A. DIHLE, Das Gebet der Philosophen, in: E. Campi/L. Grane/A.M. Ritter (Hg.), Oratio. Das Gebet in patristischer und reformatorischer Sicht, FKDG 76, Göttingen 1999, 23–41: 23.

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Pantheismus der stoischen Orthodoxie [ein]“68. Aber der Text zeigt doch auch, dass bei aller Strenge, die gerade Epiktet auszeichnet, sein im Gebet zum Ausdruck kommendes Gottesverhältnis nicht von krampfhafter Anstrengung, sondern von lebensbejahender Dankbarkeit geprägt ist: Gott braucht keinen unzufriedenen und streitsüchtigen Zuschauer [sc. beim Fest des Lebens]. Er braucht Menschen, die ihn feiern und mit ihm tanzen, damit sie um so lebhafter Beifall klatschen, ihm zujubeln und das Fest preisen. (Epikt. Diatribe IV,1)

Epiktet ist ein markantes Beispiel für die Lebendigkeit und Intensität philosophischer Religiosität, aber auch bei ihm wird, wie sonst in der Stoa und in anderer Weise ebenso im Epikureismus (s.o.), das Gebet „zu einem Mittel der Selbstfindung und der Selbstsorge und damit zu einem meditativen Element“69. Es dient „nicht mehr der Überredung göttlicher Instanzen, sondern der Vergewisserung und dem Aufbau des eigenen Selbst: Es geht um die Souveränität und Seelenstärkung des Betenden“70. Das bestätigt auch das Gebet des Simplikios, mit dem dieser im sechsten Jahrhundert seinen Kommentar zu Epiktets Enchiridion abschließt: Ich ersuche Dich, Herr, Vater und Führer der Vernunft (Logos) in uns, dass wir uns unserer guten Herkunft erinnern, derer wir von Dir für würdig erachtet wurden. Unterstütze uns weiterhin, die wir ja selbstbewegt sind, bei der Reinigung von dem Körper und den unvernünftigen Gefühlen und hilf uns dabei, diese zu beherrschen und zu kontrollieren und diese in der Weise, wie es für uns (als Menschen) angemessen ist, nämlich als Werkzeug zu gebrauchen. Und hilf uns auch dabei, die Vernunft in uns auf die richtigen Bahnen zu lenken, und die Einheit mit ihr mit Blick auf das wahrhaft Seiende durch das Licht der Wahrheit herzustellen. Und drittens ersuche ich Dich Heiland (Sōtērios), den Nebel vollständig von unseren seelischen Augen zu entfernen, damit wir, um mit Homer zu sprechen, beides erkennen können: Gott und Mensch.71

Im Zusammenhang mit der philosophischen Neubestimmung der Funktion des Betens kann daher auch (wie schon in epist. 41 bei Seneca zu sehen war) die für die Volksreligion übliche Bitte im Heiligtum, die begleitet ist von Opfern, um die Götter gewogen zu machen, als nutzlos abgelehnt —————

68 M. FORSCHNER, Epiktets Theorie der Freiheit im Verhältnis zur klassischen stoischen Lehre (Diss IV 1), in: Epiktet, Was ist wahre Freiheit? Diatribe IV 1. Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Samuel Vollenweider, Manuel Baumbach, Eva Ebel, Maximilian Forschner und Thomas Schmeller, SAPERE 22, Tübingen 2013, 97–118: 116. 69 ERLER, Selbstfindung, 157. 70 ERLER, Selbstfindung, 165. 71 Simpl. Enchiridion LXXI, 138, 20ff; Simplicius. Commentaire sur le Manuel d’Épictète. Introduction et Édition Critique du Texte Grec par Ilsetraut Hadot, PhAnt 66, Leiden 1996, 454, 6– 15; Übersetzung von VOGEL, Ethik, 369f.

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werden. Und zwar nicht nur deshalb, weil Gott selbst „gänzlich unbedürftig“72 ist – ein Axiom der Metaphysik, das sich bezeichnenderweise im Munde des lukanischen Paulus wiederfindet, der es in der Areopagrede (Apg 17,25) im Kontext seiner auf die philosophische Religionskritik zurückgehenden Kultkritik rezipiert73 –, sondern auch, weil man Gott in erster Linie in sich selbst findet74 und somit des Kultes als der Vermittlungsinstanz zu einem vom eigenen Inneren unterschiedenen göttlichen ‚Außen‘ nicht mehr bedarf. Der in der Stoa und im Epikureismus zu beobachtende Funktionswechsel des Gebetes bleibt nicht ohne Einfluss auf den Platonismus. Nach dem Neuplatoniker Jamblich ist die Unterordnung unter den Willen der Götter das Kennzeichen der vorbildlichen Frömmigkeit. In seiner Vita Pythagorica verweist er auf den Pythagoreer Thymaridas aus Tarent: Als dieser nämlich wegen eines äußeren Umstandes auf eine Seereise ging, umringten ihn die Freunde, nahmen Abschied und gaben ihm das Reisegeleit. Als er schon das Schiff betreten hatte, sprach einer zu ihm: „Mögen die Götter dir alles schicken, was du dir wünschest, mein Thymaridas!“ Er aber versetzte: „Schweig stille! Ich möchte mir vielmehr nur das wünschen, was die Götter mir schicken.“ (Iambl. v. P. 145)75

Maximus von Tyros verwirft in seiner Abhandlung über die Frage, ob man beten solle (Εἰ δεῖ εὔχεσθαι), explizit jeden menschlichen Sonderwunsch, der nicht selten schädlich ist,76 und betrachtet entsprechende Bittgebete als ————— 72

Apollonios von Tyana bei Euseb (Eus. Pr. Ev. IV,13; K. Mras/E. des Places [Hg.], Eusebius Werke. Die Praeparatio Evangelica. Einleitung, die Bücher I bis X, GCS 8/1, Berlin 21982); vgl. Sen. epist. 95,47f: „Die Riten des Götterkultes werden üblicherweise vorgeschrieben. Laßt uns das Anzünden von Lampen am Sabbat verhindern, weil die Götter kein Licht brauchen und auch die Menschen am Qualm keine Freude haben. Untersagen wir die Morgenaufwartungen (bei Göttern) und das Herumsitzen an den Toren der Tempel: mit derartigen Huldigungen packt man die Menschen bei ihrem Ehrgeiz, den Gott verehrt, wer ihn kennt. Untersagen wir, Jupiter Leinentücher und Schabeisen darzubringen und Juno den Spiegel hinzuhalten: Gott verlangt nicht nach Dienern. Wie sollte er auch? Dient er doch selbst der Menschheit, überall und für alle ist er da. Mag ein Mensch auch vernehmen, welches Maß er bei Opferhandlungen wahren, wie fern er sich von lästigen abergläubischen Bräuchen halten soll, ein hinreichender Erfolg wird sich dabei erst einstellen, wenn er sich einen zutreffenden Gottesbegriff gebildet hat, von einem Gott, der alles besitzt, alles zuteilt, ein Wohltäter aus Gnade.“ 73 Vgl. dazu N. FÖRSTER, Das gemeinschaftliche Gebet in der Sicht des Lukas, Biblical Tools and Studies 4, Leuven u.a. 2007, 152–157. 74 Vgl. Sen. epist. 41,1. 75 Jamblich, Pythagoras. Legende – Lehre – Lebensgestaltung. Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Michael von Albrecht, John Dillon, Martin George, Michael Lurje, David S. du Toit, SAPERE 4, Darmstadt 2002. 76 Max. Tyr. 5,5 (Maximus Tyrius. Dissertationes. Edidit Michael B. Trapp, BSGRT, Stuttgart/Leipzig 1994; engl. Übers.: Maximus of Tyre. The Philosophical Orations. Translated, with an Introduction and Notes by M.B. Trapp, Oxford 1997).

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unziemliche Einmischung in das göttliche Planen. Damit wird das Beten nicht sinnlos, es wird aber neu bestimmt. So pflegte Sokrates zwar tatsächlich zu den Göttern zu beten, empfing aber von sich selbst – mit ihrer wohlwollenden Zustimmung – eine tugendhafte Seele und die Gelassenheit im Leben, eine untadelige Lebensführung und einen Tod voller Hoffnung (Max. Tyr. 5,8).

Wie auch für Pythagoras und Platon77 besteht der Sinn solchen Betens in der Zwiesprache mit den Göttern.78 Beim angemessenen Beten geht es folglich nicht um „eine Bitte um Nicht-Gegenwärtiges“, sondern um „den Umgang und die Unterredung mit den Göttern über das Gegenwärtige“. Letzteres gilt es aus ihrer Hand anzunehmen, weshalb rechtes Gebet auch ein „Erweis der ἀρετή (‚Tugend/Wohlverhalten‘)“79 ist. Für Plotin ist das Gebet die Vorbereitung auf die philosophische Reflexion über das Wesen Gottes (Plot. Enneaden 5,1,6), das aber den Weltlauf nicht zu ändern vermag (Plot. Enneaden 3,28); Ziel ist auch hier das Ausstrecken der Seele nach Gott mittels des Gebets (Plot. Enneaden 5,1,6).80 Das Beten wird so im Platonismus zu einem „den ganzen Menschen erfassenden und bestimmenden Grundakt des Philosophierens“, es ist „ein überrationales Ereignis, das den Zugang zum göttlichen Leben öffnet“81. Seinem transzendenten Gottesbegriff entsprechend hat dabei im Platonismus das Gebet weniger als in der Stoa (und im Epikureismus) seinen Zweck bereits in sich selbst, sondern es ist die Vorbereitung für das Eigentliche, eben die nur mit göttlicher Hilfe mögliche Erkenntnis des Göttlichen und die damit verbundene Rückkehr der Seele zu ihrem transzendenten Ursprung.82 Denn weil das Göttliche der Welt nicht immanent ist, ist es dem Erkennenden nicht aus sich heraus erreichbar. Deshalb richtet sich die Gebetsbitte im Platonismus vor allem darauf, dass das Göttliche den es anrufenden Menschen Anteil an sich gewährt, also den Betenden von sich aus entgegen kommt.83 In diesem Sinn beginnt Plutarch seinen Traktat De Iside et Osiride mit der Feststellung: ————— 77

S.o. zu Plat. leg. 716c–e. Max. Tyr. 5,8, vgl. auch M. Aur. 5,27 (dt. Ausg.: Kaiser Marc Aurel, Wege zu sich selbst. Griechisch und Deutsch. Herausgegeben und übertragen von Willy Theiler, BAW.RR, Darmstadt 3 1984). 79 Max. Tyr. 5,8. 80 Vgl. Plotins Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen. Bände 1–6, Hamburg 1956–1971. Zum Gebet bei den Neuplatonikern vgl. auch NILSSON, Geschichte II, 714. 81 W. BEIERWALTES, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, PhA 24, Frankfurt 21979, 393f. 82 Vgl. ERLER, Selbstfindung, bes. 167ff. 83 Eindrücklich schildert Plutarch in De Genio Socratis, wie der Schutzgeist, den der Gott einem Menschen zugesellt hat, diesen Menschen, sofern er sich nach Kräften selbst bemüht hat, mit der Billigung Gottes hilft, sich von seiner Gebundenheit an diese sinnliche Welt und dem Kreis78

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Alles Gute, meine liebe Klea, haben verständige Menschen von den Göttern zu erbitten. Vor allem aber dann, wenn wir auf der Suche sind nach dem Wissen über die Götter – soweit es für Menschen erreichbar ist –, beten wir darum, es von ihnen selbst zu erlangen. Kein Ziel ist für Menschen bedeutsamer, und keine Gnadengabe Gottes entspricht seiner Würde mehr als die Wahrheit. Alles andere, dessen die Menschen bedürfen, ‚schenkt‘ Gott ihnen, aber an Vernunft und Denken ‚gibt er ihnen Anteil‘; denn diese sind sein ureigenster Besitz, von diesen macht er selber Gebrauch. (Plut. mor. 351C–D)84

Der hier zutage tretende Unterschied ist für eine differenzierte Wahrnehmung des philosophischen Betens von eminenter Bedeutung: „Während das Gebet des Stoikers dazu dient, sich an die Einsicht in die Notwendigkeit zu gewöhnen, um gelassener mit dem Schicksal umzugehen“, ist das platonische Gebet „Ergebnis der rationalen Einsicht, dass sich sichere Erkenntnis nicht aus der Wahrnehmung und Erfahrung, sondern nur durch Hinwendung zu dem, was immer und überall dasselbe ist, also zum Göttlichen, gewinnen lässt, und damit ist es Ausdruck der Suche nach der Erkenntnis von Seiendem“85. Deshalb kann, trotz der auch von den Platonikern vorausgesetzten Verwandtschaft des Menschen mit Gott, zuweilen mit großer Deutlichkeit die Eigenständigkeit des Göttlichen gegenüber der Welt der Erscheinungen und damit auch gegenüber den Menschen betont werden.86 Durch die Ethisierung und Personalisierung des Betens, und erst recht durch das philosophische Gebet, kommt es in manchen Punkten zu bemerkenswerten Entsprechungen zwischen jüdisch-christlichem und paganem Beten: Das Beten kann zum Ausdruck, ja zum Vollzug der Bindung an eine Gottheit werden, welche die Daseins- und Handlungsorientierung des Betenden mehr oder weniger umfassend bestimmt. Zugleich treten im direkten Vergleich auch Unterschiede deutlicher hervor. Diese sollen zunächst allgemein an den fünf Punkten Sitz im Leben, Inhalt, Kontext, Horizont und Argumentation deutlich gemacht werden. ————— lauf der Wiedergeburten zu befreien (Plut. mor. 593E–594A). Im Anschluss an Platon (Plat. symp. 202E–203A) kann Plutarch dann auch sagen, dass Dämonen dolmetschend „die Gebete und Bitten der Menschen zu jenen [sc. den Göttern] emportragen“ (Plut. mor. 361C, Übers.: Görgemanns, Plutarch). 84 Übers.: Görgemanns, Plutarch. 85 VOGEL, Ethik, 380.382. 86 In der furiosen Schlussrede seines Traktates über das E in Delphi lässt Plutarch seinen Lehrer Ammonios sagen, dass die Selbsterkenntnis des Menschen, wie sie das berühmte „Erkenne dich selbst“ in Delphi fordert, nur durch die Gotteserkenntnis möglich ist. Dabei führt diese Erkenntnis Gottes als des ὄντως ὄν („des allein wahrhaft Existierenden“) zu der korrespondierenden Einsicht, dass „wir in Wahrheit am Sein keinen Anteil haben“, dass unser Sein in der Zeit im Gegensatz zum ewigen Göttlichen das Eingeständnis des Nicht-Seins ist (Plut. mor. 391ff ).

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3. Vergleich der Gebetstraditionen 3.1 Der Sitz im Leben Im Antiken Judentum ist für die Gemeinschaft von Qumran bereits in vorchristlicher Zeit ein regelmäßiges Gebet bezeugt: Aber wir sind dein heiliges Volk, wir loben deinen Namen angesichts der Werke deiner Wahrheit, und angesichts deiner Machttaten preisen wir [deinen Ruhm zu allen] Zeiten und ewig festgesetzten Fristen, bei Ein[tri]tt des Tages und der Nacht und beim Ausgang von Abend und Morgen. (1QM 14,12–14)87

Die Bemerkung in Apg 3,1, dass Petrus und Johannes zum Heiligtum hinausgingen „zur neunten Stunde des Gebets“, setzt ebenfalls ein Gebet zu einer bestimmten Stunde (hier am Tempel) als jüdische Praxis voraus. Dasselbe scheint Apg 10,9 auch unabhängig vom Tempel vorauszusetzen, dort zur sechsten Stunde (vgl. weiter Mt 6,5). In rabbinischen Quellen ist ein verpflichtendes regelmäßiges Gebet erst nach dem Untergang des Tempels bezeugt, und zwar zuerst einmal für die Gruppe der Rabbinen (in der Mischna und in der parallelen Tosefta im Traktat Berakhot).88 Später wurde das Achtzehngebet, dessen Grundbestand schon in die Zeit vor 70 n.Chr. zurückreicht,89 dreimal am Tag gebetet. Das regelmäßige Gebet war auch, soweit erkennbar, von Anfang an für den Lebensvollzug der Christgläubigen konstitutiv. Nachdem sie – zumindest nach der Darstellung von Apg 3,1 – am Anfang offensichtlich noch am jüdischen Gebet teilgenommen hatten, trat schon bald das Herrengebet an dessen Stelle, das nach der Didache ebenfalls dreimal am Tag gesprochen werden soll.90 —————

87 Übersetzung nach E. Lohse (Hg.), Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch. Mit masoretischer Punktation, Übersetzung, Einführung und Anmerkungen, Darmstadt 41986. 88 Viel diskutiert ist die Frage, ob die Rabbinen von Anfang an feste Gebetsformen geschaffen haben (so v.a. Esra Fleischer), deren Textform erst im Lauf der Zeit ‚zerflatterte‘, oder umgekehrt am Anfang nur Themen und feste Schlussformeln existierten, die erst im Mittelalter vereinheitlicht wurden (in der Geniza sind noch vielfältige voneinander abweichende Texte belegt). Ab dem 3. Jh. sind solche Gebete auch in palästinischen Synagogen, also außerhalb rabbinischer Kreise, belegt. In der Diaspora sind sie erst ab dem Mittelalter nachweisbar; vgl. dazu R. LANGER, Revisiting Early Rabbinic Liturgy. The Recent Contributions of Ezra Fleischer, Prooftexts 19 (1999) 179–194; dazu E. FLEISCHER, On the Origins of the ‘Amidah. Response to Ruth Langer, Prooftexts 20 (2000) 380–384; R. LANGER, Considerations of Method. A Response to Ezra Fleischer, Prooftexts 20 (2000) 384–387. Zu Fleischers Thesen auch S.C. REIF, Judaism and Hebrew Prayer. New Perspectives on Jewish Liturgical History, Cambridge 1993, 53ff. 89 Vgl. SCHÜRER, History, 459. 90 Did 8,3; dt. Übers.: K. WENGST, Didache (Apostellehre). Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Schrift an Diognet, Schriften des Urchristentums II, Darmstadt 1984 (Nachdruck 2004); vgl. dazu den Beitrag von J. WEHNERT in diesem Band, u. S. 143–162.

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In beiden ‚biblischen‘ Religionen ist somit regelmäßiges Beten eines feststehenden Formulars zentraler Bestandteil des religiösen Lebens. Dabei bleibt das Beten nicht auf bestimmte Zeiten und Texte begrenzt. Bitten und Danken, Flehen und Loben werden, wie gesehen, zu einer das ganze Leben tragenden und prägenden Haltung, die alles von Gott erwartet: Freut euch im Herrn zu allen Zeiten. Noch einmal will ich es sagen: Freut euch! […] Sorgt euch um nichts, sondern bringt durch beständiges Beten und Bitten dankbar eure Anliegen vor Gott zu Gehör. (Phil 4,6)

Durch die sich im Gebet vollziehende unablässige Ausrichtung auf Gott91 werden die Glaubenden dann auch in Stand gesetzt, in einer von anderen Kräften bestimmten Welt in dem von Gott bestimmten Beziehungsraum und Kraftfeld zu verbleiben. Das wird besonders im Epheserbrief in der Schlussermahnung noch einmal ausgeführt: Auf die Aufforderung „lasst euch ermächtigen im Herrn und durch die Macht seiner Kraft“ (Eph 6,10) erfolgt zunächst die Aufforderung, die ‚geistliche Waffenrüstung‘ anzuziehen, um standzuhalten „gegen die Ränke des Teufels […], gegen die Herrschaften, gegen die Gewalten, gegen die Weltherrscher in dieser Finsternis, gegen die Geister des Bösen in himmlischen Sphären“ (Eph 6,11f ). Dies mündet dann bezeichnenderweise in einem flammenden Appell zu vorbehaltlosem und unablässigem Gebet: Betet mit vorbehaltlosem Beten und Bitten (διὰ πάσης προσευχῆς καὶ δεήσεως) zu jedem Zeitpunkt durch den Geist und bleibt dazu wachsam in aller Ausdauer und in der Fürbitte für alle Heiligen und für mich. (Eph 6,18f )

Das Ideal solchen unablässigen Betens, wie es für das frühe Christentum bezeichnend war,92 ist der paganen Volksreligiosität fremd. Zwar gibt es dort gelegentlich Gebete zu bestimmten Zeiten, z.B. bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang als Begleitung von Opfern.93 Mit Abstand die meisten Gebete waren jedoch Gelegenheitsgebete.94 Anders verhält es sich allerdings, wie gezeigt, beim philosophischen Gebet. Nach Maximus von —————

91 K.-H. OSTMEYER, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, WUNT 197, Tübingen 2006, hat darauf hingewiesen, dass Paulus, wenn er über das Beten spricht, zumeist Zeitformen verwendet, „die die Kontinuität der Handlung zum Ausdruck bringen, vor allem spricht er im Präsens oder – weniger oft – im Imperfekt (Röm 9,3). Die Verwendung des Aorist steht dagegen für eindeutig abzugrenzende Gebetsakte“ (a.a.O., 105). 92 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Der Brief an die Epheser, EKK X, Zürich u.a. 1982, 288: „Unablässiges Beten war der Urkirche ein großes Anliegen“. 93 Vgl. PULLEYN, Prayer, 157ff. 94 PULLEYN, Prayer, 164: „most Greek prayer was adventitious. The evidence for ‚hourglass‘ or ‚situational‘ prayer certainly exists but is not plentiful enough to constitute any kind of norm.“

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Tyros war „das Leben des Sokrates voll des Gebets“ (Max Tyr. 5,8). Besonders für Epiktet, der auch sonst immer wieder überraschende Parallelen zur biblischen Tradition aufweist,95 ist das Gebet etwas, das andauernd geschehen sollte, um das Leben ganz auf Gott auszurichten. Aber auch von anderen Denkern ist ein der jüdischen und christlichen Tradition vergleichbares mehrmaliges Beten am Tag bekannt.96 Für Dion von Prusa gibt es sogar für alle Menschen eine „Ausrichtung auf das Göttliche hin“ (Dion Chrys. 12,60), die sich im Wunsch nach beständigem Austausch mit den Göttern äußert: Sie lieben die Götter zu Recht wegen der empfangenen Wohltaten und der Verwandtschaft mit ihnen und wollen auf jede Weise mit ihnen zusammen sein und verkehren. (Dion Chrys. 12,61)

Wenn bei Paulus und in den Texten, die vom Kolosser- über den Epheserbrief bis zum lukanischen Doppelwerk zum Einflussbereich des Apostels gehören, immer wieder ein unablässiges Gebet gefordert wird, so scheint hier das Gebet zu einer Haltung geworden zu sein, durch welche die Rückbindung der Beter an Gott fortlaufend aktualisiert wird. Ein solches habitualisiertes Beten findet sich so im Alten Testament noch nicht. Es ist deshalb zu fragen, inwieweit hier von Paulus und seinen Schülern die vom Judentum ererbte Praxis regelmäßigen Betens auch deshalb zu einer das gesamte Leben der Christgläubigen bestimmenden Haltung zugespitzt wurde, weil sie solches als Element einer (gebildeten) paganen Spiritualität kennen und schätzen gelernt haben. Ziemlich eindeutig scheint jedenfalls der Einfluss dieser popularphilosophischen Tradition beim Evangelisten Lukas zu sein, der auch sonst seine Botschaft bewusst so formuliert, dass sie für die gehobenen Schichten der griechisch-römischen Welt vom Schlag einer „Exzellenz Theophilos“ (Lk 1,3) plausibel ist.97 In diesem Zusammenhang hat er nicht nur seinen ————— 95

Das reicht von einem geradezu ‚apostolischen Selbstverständnis‘ als Gesandter (ἄγγελος) des Zeus zu den Menschen, der sie unter Einsatz seines Lebens und Verzicht auf Familie und Besitz wieder zu ihrer wahren Bestimmung zurückführt, bis zu einer immer wieder an die Bergpredigt erinnernden Ethik des Gewaltverzichts und der Feindesliebe (Epikt. Diatribe III,22). 96 Auf Senecas Quidni tu ista vota saepe facias? wurde oben schon hingewiesen: „Warum solltest du diese Gebete nicht oft verrichten?“ (Sen. epist. 10,4). Philostrat betont im Blick auf Apollonios von Tyana (ca. 40–120 n. Chr.) die Wichtigkeit des täglichen Gebets für diesen (Philostr. Ap. 1,11.33; 4,40; engl. Übers.: Philostratus. The Life of Apollonius of Tyana. The Epistles of Apollonius and the Treatise of Eusebius. With an English Translation by F.C. Conybeare. In Two Volumes I, LCL 16, London/Cambridge [MA] 61969). 97 Wie bereits der Prolog des Evangeliums zeigt, wünscht sich „der Verfasser nicht nur die schlichten Christen als Leser zu haben […], sondern auch literarisch Gebildete christlichen und anderen Glaubens“ (M. DIBELIUS, Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung, SHAW.PH 1949, Heidelberg 1949, 14).

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Jesus als einen Weisen profiliert (vgl. Lk 2,40–52), sondern in seinem Evangelium auch, weit häufiger als die anderen Evangelisten, immer wieder auf dessen Beten verwiesen und dabei den Inhalt dieser Gebete so umformuliert, dass sich der betende Gottessohn vorbildlich in den Willen seines Vaters schickt. Parallel dazu betont das dritte Evangelium weit mehr als seine Vorlagen, dass es sich bei dem, was Jesus widerfährt, um einen festgesetzten Plan Gottes handelt (Apg 2,22f ). Das erinnert an die philosophische Konzeption einer göttlichen Vorsehung,98 der sich Jesus wie ein stoischer Weiser fügt. Es ist also gerade im Blick auf die praxis pietatis christlichen Betens mit Beeinflussungen durch die Mitwelt zu rechnen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich zunehmend um einen gegenseitigen Austausch handelt.99 3.2 Der Gebetsinhalt Die gängige Vorstellung vom Gebet hat zu allen Zeiten darin bestanden, dass man sich an Gott bzw. die Götter wendet, um durch sie (als Kollektiv oder als Einzelner) einen Vorteil zu erlangen. Es sind, wie gesehen, nur die Gebete einer schmalen philosophischen Elite, welche sich von dieser durch eine wechselseitige Erwartungshaltung charakterisierten ‚Kaufmannskunst‘ lösen und zur religiös-philosophischen Meditationsübung, zum Mittel der „Pflege des Selbst“100 werden. Bei Letzterem zeigt sich dann auch eine vielleicht nicht ganz zufällige Nähe zum biblischen Verständnis des Betens, in dem es in erster Linie um die Kommunikation mit Gott, die Erfahrung seiner Nähe und die Orientierung an seinem Willen geht. Allerdings dürfen auch hier die Unterschiede nicht übersehen werden. Das beginnt rein äußerlich schon damit, dass die Gebete, wie sie die Bibel überliefert, durchaus auch auf konkrete Hilfe in den Nöten und bei den Anliegen der Betenden zielen – und das dem Gebet auch zutrauen (vgl. Jak 3,15f ). Die Bitten um Gottes Nähe, um das Leuchten seines Angesichtes o.ä. implizieren immer auch den Schrei nach Hilfe, weil Gottes Gegenwart in der erfahrenen Hilfe konkret wird, so dass sich zumin—————

98 Vgl. R. FELDMEIER, Wenn die Vorsehung ein Gesicht erhält. Theologische Transformationen einer problematischen Kategorie, in: R.G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht. Antike Stimmen zu einem aktuellen Thema, Tübingen 2008, 147–170. 99 Nach der Vita Procli des Marinus betete Proklus nicht nur dreimal am Tag zur Sonne (VP 22), sondern er verbrachte auch Tage und Nächte in regelmäßigem Gebet (vgl. VP 3; 17; 19; 24; 26). Hier ist zu fragen, inwieweit diese Praxis am regelmäßigen Gebet der Christen orientiert ist; vgl. dazu M. ERLER, Interpretieren als Gottesdienst. Proklos’ Hymnen vor dem Hintergrund seines Kratylos-Kommentars, in: G. Boss/G. Seel (Hg.), Proclus et son influence. Actes du colloque de Neuchâtel. Juin 1985, Zürich 1987, 179–217: 184f. 100 ERLER, Selbstfindung, 165.

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dest auf den ersten Blick der Eindruck aufdrängt: „Es überwiegen in den Psalmen die Angelegenheiten des Leibes und Lebens“101. Rückt dies den Psalter zunächst in große Nähe zu dem, was oben über das Gebet in der Volksfrömmigkeit gesagt wurde, so wird auf den zweiten Blick deutlich, dass es nie nur um die bloße Befriedigung eines Bedürfnisses geht. Vielmehr steht hinter den konkreten Wünschen als zentrales Anliegen letztlich wohl immer auch die Bergung in Gott. Und weil die Güte Gottes „besser ist als Leben“ (Ps 63,4), deshalb kann das konkrete Anliegen hinter dem Bedürfnis nach Gemeinschaft mit Gott zurücktreten, ja das eigene Wollen kann geradezu von dem leidenschaftlichen Verlangen nach Gemeinschaft mit Gott abgelöst werden: Wenn ich nur dich habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil. (Ps 73,25f )

So beginnt auch das Herrengebet nicht mit einem dreimaligen „unser“, und schon gar nicht mit einem dreimaligen „mein“, sondern mit dem dreimaligen „dein“. Alles Dringen in Gott beinhaltet immer auch die Anerkennung seiner Souveränität, sodass im Gebet dann die – durchaus legitimen – Eigeninteressen noch einmal relativiert werden durch die Beugung vor Gottes Willen, wie sich nicht zuletzt bei dem Gebet Jesu in Gethsemani zeigt: Abba, Vater, alles ist dir möglich: Trag diesen Kelch an mir vorbei! Aber nicht [entscheidet]: Was will ich?, sondern: Was [willst] du? (Mk 14,36)

Die hier von Jesus betonte Anerkennung von Gottes Willen ist im Unterschied zu den analysierten philosophischen Gebeten keine fraglose Unterwerfung unter das Vorbestimmte. In der Tradition biblischen Betens rechnet auch der Gottessohn damit, dass der Vater, dem alles möglich ist, auch hier den Lauf der Dinge ändern kann. Die biblischen Bittgebete sind dementsprechend zum Teil von einer bemerkenswerten Spannung bestimmt: Zum einen zeigt schon die zweimalige Wiederholung der eben zitierten Bitte Jesu in Gethsemani, dass auch der Gottessohn nachhaltig auf einer Änderung des göttlichen Willens insistiert. Der Beter wartet auf Antwort. Wo eine solche ausbleibt, da kennt die Bibel bei allem Gehorsam sehr wohl auch die Klage – bis hin zu ihrer extremsten Form, der anklagenden ‚Wa————— 101

J. HERRMANN, Art. εὔχομαι κτλ., ThWNT II (1935) 782–799: 789.

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rum-Frage‘, die sich als Zitat aus Psalm 22 dann auch im letzten Gebetsschrei Jesu wiederfindet (Mk 15,34 par. Mt 27,46). Insofern aber selbst diese extremste Form des Betens noch auf der Ansprechbarkeit Gottes als „mein Gott“ insistiert, zielen die Gebete der biblischen Tradition zum anderen über das sich in ihnen artikulierende persönliche Hilfsersuchen hinaus immer auch auf die erneute Gemeinschaft mit Gott. Das Gebet ist ein Ringen darum, auch dort, wo der Weg in den ‚Schattenlinien‘ von Gottes Hand verläuft, dessen „versteinerten Segen“ wieder aus der „Vier-Finger-Furche“ (der betenden Hände) herauszuwühlen, wie es Paul Celan ganz in der Tradition biblischen Betens formuliert.102 Das kann dann dazu führen, dass anstelle der Gewährung einer Bitte auch deren Ablehnung als eine Form der Gebetserhörung verstanden wird – wenn sich denn dadurch eine neue und vertiefte Gemeinschaft mit Gott einstellt. So hat vielleicht schon der Hebräerbrief das Gebetsringen Jesu verstanden (Hebr 5,7). Ein markantes Beispiel dafür ist Paulus, der auf seine dreimalige Bitte um Befreiung von dem ihn quälenden „Pfahl im Fleisch“ eine Antwort Christi erhält, welche die Zurückweisung seines Wunsches mit der Zusage von Christi Gegenwart gerade in der Schwachheit des Apostels verbindet. Die Antwort ermöglicht es Paulus dann, mit seiner fortdauernden Krankheit neu umzugehen und sich jetzt sogar seiner Schwachheit zu rühmen, weil sie für ihn zu dem Ort wird, an dem er die Ermächtigung durch den Gekreuzigten erfährt: Und [Christus] sagte mir: „Es genügt dir meine Gnade, denn meine Macht vollendet sich in Schwachheit“. Viel lieber rühme ich mich daher meiner Schwachheiten, damit sich auf mir die Macht Christi niederlässt. (2Kor 12,9)

Wieder ist es das Lukasevangelium, das im Blick auf den Inhalt der Gebete Jesu, soweit dieser mitgeteilt wird, eine bemerkenswerte Angleichung an das philosophische Ideal der Fügung als des rechten Betens aufweist, die sich den entsprechenden redaktionellen Eingriffen des Evangelisten verdankt. So ringt der lukanische Jesus im Garten Gethsemani nicht dreimal mit seinem Vater wie im Markus- und im Matthäusevangelium (Mk 14,32–42 par. Mt 26,36–46). Mit seiner einmaligen Bitte: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir. Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe“, bietet er vielmehr das Musterbeispiel des sich von vornherein in Gottes Willen fügenden und so die Versuchung bezwingenden Beters. Der Vorbildcharakter Christi wird durch die gedoppelte Aufforderung: ————— 102

P. CELAN, Atemwende. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull und Christiane Wittkop, Tübinger Ausgabe, Frankfurt 2000, 21: „Wege im SchattenGebräch deiner Hand. Aus der Vier-Finger-Furche wühl ich mir den versteinerten Segen.“

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„Betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt“, durch welche der Evangelist seine Gethsemaniszene gerahmt hat, noch unterstrichen.103 Entsprechend ist dann auch bei der lukanischen Kreuzigungsszene Jesu letztes Wort nicht der anklagende Schrei der Gottverlassenheit. Statt des Zitates aus Ps 22,2 (in dem Jesus das einzige Mal seinen Gott nicht mit Vater anspricht) legt Lukas seinem Gottessohn ein Wort aus Ps 31,6 in den Mund, welches eine getroste Ergebung in Gott ausdrückt, dadurch verstärkt, dass der Evangelist dem biblischen Prätext die Vateranrede hinzufügt: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Die Sprache ist zwar biblisch, der Geist aber griechisch,104 sofern an die Stelle der Klage die vorbildliche Fügung in das Vorbestimmte tritt. Allerdings dominiert auch bei Lukas – und darin bleibt der auctor ad Theophilum ein Vertreter der biblischen Gebetstradition – nicht die Sorge des Weisen um sein Selbst (ἐπιμέλεια ψυχῆς), sondern die Ergebung des Frommen, der seinen Geist in die Hände seines himmlischen Vaters befiehlt. 3.3 Kontext Im philosophischen Gebet ist es zunächst immer der Einzelne, der im Gebet dem Göttlichen nahezukommen trachtet. Dagegen ist es im Judentum und im Christentum primär eine Gemeinschaft, die als Gemeinde versammelt ist. Zwar gibt es auch im philosophischen Gebet das „wir“ der Beter und im Psalm das „ich“. Aber der Ausgangspunkt ist bei ersterem doch die individuelle Ausrichtung auf das Göttliche qua Vernunft. Dagegen ist es im biblischen Kontext das auf Erwählung und Berufung und damit das auf der vorauslaufenden Zuwendung Gottes gründende Verhältnis, in welches der Beter als Glied des Gottesvolkes bzw. der Heilsgemeinde sich gestellt weiß. Persönliches Bitten ist so im biblischen Kontext eingebettet in den größeren Zusammenhang der Gemeinschaft des Gottesvolkes bzw., im Neuen Testament, der Gemeinschaft derer, die gemeinsam „den Namen unseres Herrn Jesus Christus an jedem Ort anrufen“ (1Kor 1,2). Das kommt auch in dem regelmäßigen Gemeinschaftsgebet des Vaterunsers zum Ausdruck, in dem als Personal- und Possessivpronomina nur das „Du“ bzw. „Dein“ Gottes und das „wir“ bzw. „unser“ der —————

103 Lk 22,40.46. Zugleich hat er beide Male die Begründung: „Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“, weggelassen, was damit zusammenhängen mag, dass ihm, der wie kein anderer Evangelist den Geist Gottes ins Zentrum rückt, die hiermit zum Ausdruck gebrachte Schwäche des Geistes bedenklich erscheint. 104 Dazu passt auch, dass das Herrengebet, wie Michael Wolter in seinem Beitrag zu diesem Band zeigt (s.u. S. 125–142), in einen Diskurs zum angemessenen Beten eingebunden ist, wie er um diese Zeit auch in der griechisch-römischen Welt geführt wird.

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Betenden vorkommen. Solches Beten hat dann auch Auswirkungen auf das Verhältnis der Betenden zueinander, die durch den gemeinsamen Bezug zu Gott als Vater zu Geschwistern geworden sind: Und wenn ihr euch hinstellt, um zu beten, vergebt, wenn ihr etwas gegen einen habt, damit auch euer Vater in den Himmeln euch eure Übertretungen vergibt. (Mk 11,25)

Zur Gemeinschaftlichkeit des Betens gehört als ein wesentliches Element ebenfalls die Fürbitte. Diese ist zwar auch dem paganen Beten nicht fremd,105 aber im Christentum wird die Bitte für andere zu einem zentralen Gebetsinhalt. Bereits der Christus der Evangelien ist vor Gott im Gebet für die Seinen eingetreten (vgl. Lk 22,31f; Joh 17,9–26), und er tut dies nach Röm 8,34 auch als der zur Rechten Gottes Erhöhte. So ist die Gemeinschaft seiner Nachfolger davon bestimmt, dass sie für andere betet, wobei diese Fürbitte nicht nur anderen Gemeinden (vgl. 1Thess 1,2f; Phil 1,3– 6.9) oder einzelnen (bedrängten) Glaubensgeschwistern (vgl. Röm 15,30; 2Kor 1,11; Phlm 4; 2Thess 3,1; Apg 4,23–31; 2Tim 1,3; Jak 3,16) gilt. Die Glaubenden sind ebenso angehalten, für alle Menschen und die Obrigkeit im Besonderen zu beten (1Tim 2,1f ), und zwar mit Einschluss der Verfolger und Feinde (Mt 5,44 par. Lk 6,28). Letztlich umfasst die Fürbitte die ganze gequälte Schöpfung, als deren „Repräsentanten“106 die durch Gottes Geist zu Gottes Kindern Adoptierten dann mit Unterstützung dieses Geistes zu Gott rufen (vgl. Röm 8,26f ). Gerade im Blick auf die philosophischen Einwände gegen das Bittgebet als Verabsolutierung der Partikularinteressen ist das hervorzuheben: Die Hinwendung zu Gott im Gebet der Gemeinde intensiviert nicht die adamitische Selbstbezüglichkeit, sondern durchbricht sie – zunächst im Blick auf die Gemeinschaft der Glaubenden, dann auch im Blick auf die nicht selten feindliche Mitwelt. 3.4 Horizont Damit hängt eine weitere Besonderheit biblischer Gebete zusammen, die in nicht unerheblichem Maß auch das Herrengebet prägt, nämlich der eschatologische Charakter bestimmter Bitten.107 Am deutlichsten zielen die zweite und dritte Vaterunser-Bitte (nach matthäischer Zählung), dass Gott seine Herrschaft aufrichten und seinen Willen so auf Erden geschehen ————— 105

Nach Plut. mor. 824C–D bittet der Weise für das Wohlergehen seiner Mitbürger. E. KÄSEMANN, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 233. 107 Vgl. T. ZAHN, Das Evangelium des Matthäus, KNT 1, Leipzig 1903, 273f. 106

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lassen soll, wie er bereits im Himmel geschieht, auf die Vollendung der Welt durch ihren Schöpfer.108 In der paganen Religion, wo die Götter Prädikatsbegriffe für Machtbereiche der Wirklichkeit sind,109 und in der philosophischen Religiosität, wo das Göttliche Inbegriff des Seins und Exponent der kosmischen Ordnung ist (und wo deshalb die Theologie letztlich zur Physik gehört),110 wären solche Bitten sinnlos.111 In der Volksreligion geht es um Unterstützung bei persönlichen Anliegen, ohne dass die Bedingungen der Wirklichkeit geändert würden. Für die Philosophen steht der Kosmos bereits unter der Herrschaft des göttlichen Gesetzes, und der Wille des Gottes geschieht schon,112 so dass es im Gebet nur darum gehen kann, dies zu erkennen und sich der Vorsehung bzw. dem Schicksal freiwillig zu fügen. Dagegen steht im Zentrum der Verkündigung Jesu der Anbruch der Gottesherrschaft und die entsprechende Erwartung einer radikalen Neugestaltung der Wirklichkeit. Voraussetzung dieser Verkündigung und der entsprechenden Bitten des Herrengebets ist der biblische Schöpfungsglaube, der im Antiken Judentum im Gegenüber zur hellenistischen Welt zur Vorstellung einer creatio ex nihilo radikalisiert werden konnte,113 um so gerade im Kontext griechischen Denkens deutlich zu machen, dass Gott nicht Exponent des Seienden ist, sondern dass die Wirklichkeit als Schöpfung von ihm durch sein Wort ins Sein gerufen wurde (vgl. Röm 4,17). Das zeigt sich nicht zuletzt in der Verwendung des Wortes κτίσις, welches im Profangriechischen die Gründung bzw. Stiftung bezeichnet. Dieses ‚Setzen‘ durch den Willen eines Stifters wird seit der Septuaginta auf das Verhältnis des Schöpfergottes zu seiner Schöpfung übertragen.114 Die Wirklichkeit ist nicht Ausfluss des göttlichen Wesens, sondern Ausdruck des göttlichen Willens: ————— 108

Auch die letzte Bitte, dass Gott vor dem Bösen erlöse, kann in diesem Sinn verstanden werden, besonders in der Ergänzung durch Matthäus. 109 Vgl. Cic. nat. deor. I, 45: Habet enim venerationem iustam, quicquid excellit („alles, was erhaben ist, wird ja gebührend verehrt“); dazu U. VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Der Glaube der Hellenen I, Berlin 1931, 17f; vgl. auch J.P. VERNANT, Myth and Thought among the Greeks, London 1983, 328: „The Greek gods are powers, not persons. Religious thought is a response to the problems of organizing and classifying these powers“. 110 Vgl. A. DIHLE, Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Justinian, München 1989, 98.209. 111 Eschatologie im Sinne der Hoffnung über den Tod hinaus kann dort nur gedacht werden, insofern der Mensch (qua Seele) Anteil an der unzerstörbaren göttlichen Wirklichkeit hat. 112 Noch weiter geht Epiktet Diatribe I,1, wenn er sagt, dass das, was mit Notwendigkeit geschieht, das Vorherbestimmte ist, in dessen Ablauf selbst ein Zeus nicht einzugreifen vermag. 113 Vgl. 2Makk 7,28, ferner Röm 4,17. 114 Vgl. R. FELDMEIER, Die Wirklichkeit als Schöpfung. Die Rezeption eines frühjüdischen Theologumenons bei Paulus, in: L. Doering/H.-G. Waubke/F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen, FRLANT 226, Göttingen 2008, 289–296.

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Der Himmel ist durch Yhwhs Wort gemacht, und all sein Heer durch den Hauch seines Mundes. […] Denn wenn er spricht, so geschieht’s, wenn er gebietet, so steht’s da. (Ps 33,6.9)

Wenn aber Gott diese Welt durch seinen Willen geschaffen hat, so kann er sie auch wieder verwandeln und neu machen. Diese Hoffnung, die in der prophetischen Literatur erstmals ihren Ausdruck findet, wird dann in der frühjüdischen Apokalyptik bestimmend. Parallelen zu den eschatologischen Bitten des Herrengebets finden sich daher nur in der jüdischen Gebetsliteratur. Allerdings besteht zu dieser (von den konkreten Inhalten einmal abgesehen)115 ein entscheidender Unterschied im Aufbau darin, dass im Gebet Jesu die Bitten um die endzeitliche Erneuerung der Welt das Gebet nicht abschließen, sondern es eröffnen.116 Das unterstreicht noch entschiedener, dass nicht die Wirklichkeit als das Verwirklichte Horizont der Bitten ist, sondern der Wille dessen, der als der „Vater“ zugleich der „Herr des Himmels und der Erde“ ist (Lk 10,21 par. Mt 11,25) und dem deshalb „alles möglich ist“ (Mk 14,36, vgl. Mk 10,27 par.; Lk 1,37). An diesen Möglichkeiten Gottes, an seiner ‚Allmacht‘ gewinnen die Glaubenden durch ihr Gebet Anteil, wie das Wort Jesu in Mk 9,29 im Zusammenhang mit Mk 9,23 zeigt. In diesem Sinn unterstreicht auch der Jakobusbrief in seiner Schlussermahnung noch einmal ausführlich die Kraft und Wirksamkeit des Gebetes (Jak 5,13–18), das auch an anderer Stelle im Neuen Testament Wunder wirkt (vgl. Apg 16,25). Es ist nicht unwichtig, dass die Rede von der Allmacht im Neuen Testament ihren primären Sitz im Leben in der Vertrauensäußerung des Gebets hat. Und es ist auch kein Zufall, dass etwa das, was dann den ersten Artikel des Credos ausmacht, die Vaterschaft Gottes in Verbindung mit seiner Allmacht und der in der Schöpfung begründeten Herrschaft über Himmel und Erde, zuerst vom Jesus der Evangelien im Gebet formuliert wurde (Mk 14,36; Mt 11,25 par. Lk 10,21). Dieser Zusammenhang von Gebet und Gotteserkenntnis, wie er auch in Sir 39,5 angedeutet ist, wäre einer eigenen exegetischen117 Untersuchung wert. —————

115 In den Benediktionen des Achtzehngebets wird sehr konkret benannt, was am Ende der Tage erhofft wird, vgl. Sidur Sefat Emet. Mit deutscher Übersetzung von Rabbiner Dr. S. Bamberger, Basel 1993, 40ff, bes. die eschatologischen Bitten 43ff. 116 Vgl. F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 2.Teilband: Lk 9,51–14,35, EKK III/2, Zürich u.a. 1996, 123. Das Anliegen kann aber auch hinter den letzten beiden Wir-Bitten gesehen werden. A. Schweitzer wollte deshalb das gesamte Gebet eschatologisch verstehen (A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954, 233ff; vgl. auch J. JEREMIAS, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, CwH 50, Stuttgart 21963, 22f ). 117 Klassisch wurde das von Anselm von Canterbury durchgeführt, vgl. dazu P. GEMEINHARDT, Prayers Seeking Understanding. St Anselm’s Early Prayers and Meditations in Context, Archa Verbi 7 (2010) 58–67; zu Anselms Argumentation als rationaler Explikation der gedanklichen

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3.5 Argumentation Unterschiedlich ist auch die Begründung der Bitten. In den Gebeten paganer Provenienz findet sich, wie eingangs an den homerischen Beispielen gezeigt, immer wieder der Verweis auf zuvor erbrachte Leistungen des Beters, welche die Gottheit zu einer Gegenleistung verpflichten. Vergleichbares findet sich in der biblischen Tradition nicht. Deren Beter „never tell God that he owes it to mankind to help them […] In fact, it seems conceptually impossible for the Jews to talk to their God as the Homeric Greek heroes seem to have done.“118 Die philosophischen Gebete lösen sich zwar von der primitiven Vorstellung einer ‚Kaufmannskunst‘, aber auch sie kennen selbstbewusste Berufung auf das bisherige Verhalten des Beters. Dabei wird dann das, was etwa beim eingangs aus der Ilias zitierten Gebet des Chryses (Il. 1,35–42) der Überredung, ja, Nötigung der Gottheit dient, bei Epiktet zu einer Selbstdarstellung, die wohl der Selbstvergewisserung dient und zudem – das zeigt der Kontext (Diatribe III,1–4) – für seine Schüler paränetische Funktion hat, weil der Lehrer mittels des Gebets seine Lebensanschauung am eigenen Lebensvollzug exemplifizieren kann: Ich würde mir wünschen, der Tod ereilte mich bei keiner anderen Tätigkeit als bei der Schulung meines moralischen Willens, um ihn unanfechtbar, ungehindert, unbezwinglich und frei werden zu lassen. Ich wünsche mir, daß ich bei dieser Tätigkeit angetroffen werde, damit ich Gott sagen kann: „Habe ich etwa deine Gebote übertreten? Habe ich etwa die Anlagen, die du mir verliehen hast, zu anderen Zwecken mißbraucht? Etwa mein Wahrnehmungsvermögen oder meine allgemeinen Vorstellungen? Habe ich dir jemals Vorwürfe gemacht? Habe ich schon einmal über dein Walten geschimpft? Ich bin krank geworden, als du es wolltest; Freilich auch die anderen Menschen [sind krank geworden], ich aber mit meiner Zustimmung. Arm bin ich geworden, als du es wolltest, aber mit Freuden.

————— Implikationen des Gebetes vgl. auch J. RINGLEBEN, Erfahrung Gottes im Denken. Zu einer neuen Lesart des Anselmschen Argumentes (Proslogion 2–4), NAWG.PH 1/2000, 4–36. In der modernen Systematik hat G. Ebeling das Gebet zum Ausgangspunkt seiner Dogmatik gemacht, vgl. G. EBELING, Dogmatik des christlichen Glaubens I–III, Tübingen 42012, bes. I, 192f. 118 PULLEYN, Prayer, 19. Zwar bringt auch der Grieche Hymnen zu Ehren einer Gottheit dar, aber das für die Psalmen bestimmende Motiv des Dankens und Preisens scheint eher selten gewesen zu sein (vgl. VON SEVERUS, Gebet, 1141). Die Erfüllung von Gelübden ist das Halten eines Kontraktes, vgl. PULLEYN, Prayer, 40: „This is an extremely important and central practice in Greek life. When one has received a favour from a god, it is only correct to give something in return.“ Gelübde sind allerdings der Punkt, bei dem sich auch in der biblischen Tradition so etwas wie Reziprozität andeutet.

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Ich habe kein Amt bekleidet, weil du es nicht wolltest. Niemals habe ich nach einem Amt verlangt. Hast du mich deswegen jemals mit finsterer Miene gesehen? Bin ich nicht stets mit fröhlichem Gesicht auf deine Befehle und Weisungen hin zu dir gekommen? Jetzt willst du, daß ich das Fest verlasse. Ich gehe und danke dir von Herzen, dass du mich für wert gehalten hast, mit dir zu feiern, deine Werke zu schauen und dein Walten zu begreifen.“ Möge mich doch, während ich dieses denke, dieses schreibe, dieses lese, der Tod ereilen. (Epikt. Diatribe III,5–11)

Von der Gottheit scheint hier kein Eingreifen mehr erwartet zu werden; allenfalls könnte man den am Ende noch einmal wiederholten Eingangswunsch, zur rechten Zeit zu sterben, als eine an den Gott gerichtete Bitte verstehen. Aber deren Gewährung wäre nur der krönende Abschluss eines Lebens, für dessen Güte der Philosoph allein verantwortlich zeichnet. Der Dialog mit Gott ist mehr oder weniger zur (öffentlichen) Selbstdarstellung des Philosophen geworden. Gott fungiert als Forum, vor dem er sich rechtfertigt, genauer: als die Instanz, von der er die Bestätigung seines richtigen Verhaltens fordert. Zwar gilt das in dieser extremen Form nicht für alle philosophischen Gebete. Im Platonismus, der wie erwähnt am Bittgebet festhält, geht es zwar durchaus um göttliche Unterstützung bei dem Bemühen um die Verbindung, gar Vereinigung mit der Transzendenz, aber das Selbstbewusstsein des Philosophen kann sich auch hier in der Antwort eines Plotin zeigen: „Jene [sc. die Götter] müssen zu mir kommen, nicht ich zu jenen“119. Eine solche Forderung ist im Kontext biblischen Betens undenkbar, und das hat mit dem anderen Menschen- und Gottesbild zu tun: Der Beter tritt hier nicht als eigenständiger Verhandlungspartner vor Gott. Wenn die Psalmbeter oder die Propheten mit ihrem Gott reden, dann setzen sie zumeist explizit oder implizit voraus, dass sie nicht aufgrund eigener Leistungen Anspruch auf Zuwendung haben. Einen Text wie die Beispielerzählung vom Pharisäer und vom Zöllner in Lk 18,9–14 könnte man, wenn man ihn mit dem Hintergrund des oben zitierten Gebetes von Epiktet liest, als nicht nur gegen pharisäische, sondern auch gegen philosophische Selbstgerechtigkeit gerichtet lesen. Wenn der lukanische Jesus in Abgrenzung davon deutlich macht, dass nicht die eigene Vorleistung des Beters, sondern das Vertrauen in Gottes Güte die Hoffnung auf die Erhörung des Gebets begründet, so entspricht dies der biblischen Tradition, wie sie schon im Psalter zum Ausdruck kommt, wenn dessen Beter selbst in Klage und Anklage —————

119 Porph. V. Plot. 10,36f; vgl. Harder, Plotins Schriften 5c. Ein deutlich anderes Verhältnis zur positiven Religion hat dann später Proklus, wie Maurinus ihn schildert.

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noch auf Gottes „Selbstbestimmung zu Liebe und Barmherzigkeit“120 insistieren: Mach dich auf, hilf uns und erlöse uns – um deiner Güte willen. (Ps 44,27)

Wenn überhaupt eine Verpflichtung Gottes zur Hilfe betont wird, so gründet diese nicht auf den eigenen Leistungen (da quia dedi), sondern auf Gottes früherer Hilfe und dem sich hier zeigenden göttlichen Beziehungswillen (da quia dedisti). Zwar kann in einer Gebetseröffnung durch den Verweis auf die Zugehörigkeit des Beters zu denen, „die dich lieben und deine Gebote halten“, schon einmal so etwas wie eine göttliche Verpflichtung zur Hilfe angedeutet werden: Ach, Herr, du großer und heiliger Gott, der du Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten. (Dan 9,4)

Aber es ist bezeichnend, dass auch in diesem Gebet nicht der Verweis auf die eigenen Verdienste, auf Gottesliebe und Gebotsgehorsam die folgende Bitte begründet, sondern das Vertrauen in die Verlässlichkeit der göttlichen Zusage und der Appell an diese – gerade angesichts der menschlichen Unzulänglichkeit: Wir liegen vor dir im Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig! Tu es und säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! (Dan 9,18f )

Daran wird des Weiteren deutlich, dass das Gebet in den biblischen Schriften auch ein anderes Verständnis von Gott voraussetzt: Wenn die Beter zum Teil mit aller Macht in ihren Gott dringen und sich dabei auf Gottes Güte beziehen, an die er erinnert, ja, auf die er geradezu verpflichtet wird, so wird der angerufene Gott bei seinen eigenen Zusagen behaftet: Mein Herz hält dir vor dein Wort: „Ihr sollt mein Angesicht suchen“. Darum suche ich, Yhwh, dein Angesicht. (Ps 27,8)

Im Herrengebet findet das vom Vertrauen in die Güte bestimmte Verständnis Gottes121 seinen markantesten Ausdruck in der invocatio „Vater“. —————

120 R. FELDMEIER/H. SPIECKERMANN, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, TOBITH 1, Tübingen 2011, 362.

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Die wenigen Belege für eine Rede vom Vater im Alten Testament hatten diese Metapher bereits eng mit der Erwählung verbunden, also mit Gottes (ursprünglich durch den König vermittelten) Selbstbindung an sein Volk. Jesus hat Gott als Vater angerufen und die Anrede auch seinen Nachfolgern im Herrengebet übergeben. Er hat die Güte und Barmherzigkeit dieses göttlichen Vaters betont, als Anspruch (vgl. Lk 6,35f par. Mt 5,44.48), aber noch mehr als Zuspruch (Lk 12,22–32 par. Mt 6,25–34; Lk 15,11– 32). Weil „euer Vater im Himmel weiß, wessen ihr bedürft, schon bevor ihr ihn bittet“ (Mt 6,8), deshalb dürfen und sollen die Nachfolgenden in der Gewissheit der Gebetserhörung sich auch an ihn wenden: Bittet, und es wird euch gegeben werden, sucht und ihr werdet finden, klopft an, und es wird euch geöffnet werden. Denn jeder, der bittet, empfängt, und der sucht, findet, und dem, der anklopft, wird geöffnet werden. Oder wer ist unter euch ein [solcher] Mensch, den sein Sohn um Brot bittet, dass er ihm einen Stein gäbe? Oder er bittet um einen Fisch, dass er ihm eine Schlange gäbe? Wenn nun ihr, die ihr böse sei, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst – um wieviel mehr wird euer Vater in den Himmeln Gutes denen geben, die ihn bitten! (Mt 7,7–11 par. Lk 11,9–13)

Im Frühchristentum wird das noch christologisch zugespitzt: Indem Gott den Menschgewordenen und bis zum Tod am Kreuz Erniedrigten seinen eigenen „Namen über jedem Namen“ samt der damit verbundenen Herrschaft über den Kosmos überträgt, verliert er nicht an Ehre und Herrlichkeit, sondern erweist sich gerade im Sohn als Vater (Phil 2,6–11). Das hat eine soteriologische Pointe, insofern die Glaubenden, die Gott mit den Worten Jesu (vgl. Mk 14,36) nun ebenfalls als „Abba, Vater“ anrufen dürfen, zu seinen Kindern adoptiert und damit zu seinen Erben eingesetzt sind (Gal 4,4–7; Röm 8,14–17).122 So wird der als Vater angerufene Gott zum „Gott für uns“, der „uns alles schenkt“ (Röm 8,31f ). Ehe die Folgen dieses Vergleichs für das Verständnis der ersten Bitte ausgeführt werden, zuvor noch ein paar vergleichende Anmerkungen speziell zu den Elementen der ersten Bitte im Kontext paganer Gebetsüberlieferung, zum Namen Gottes und zu dessen Heiligkeit. —————

121 Es ist zu beachten, dass Jesus in seinen Gebeten die Anrufung „Vater“ mit der expliziten Betonung seiner Macht verbinden kann, vgl. das Gebet in Gethsemani Mk 14,36 oder Mt 11,25 par. Lk 10,21. 122 Vgl. FELDMEIER/SPIECKERMANN, Gott, 66–92.

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4. Die Elemente der ersten Bitte 4.1 Der Name Gottes In den Gebeten der Volksfrömmigkeit ist der Name eines Gottes wichtig, weil unter den vielen Göttern der Adressat des Gebets deutlich benannt werden muss.123 Dabei spielt wohl auch mit hinein, dass im Namen ein Stück vom Wesen selbst steckt, dass ein Name Zugang verleiht, ja, dass die „Kenntnis u[nd] Aussprache des Namens Gewalt über die Benannten verleiht“124. Demgegenüber ist der sich zunächst in der Philosophie herausbildende pagane Monotheismus dadurch bestimmt, dass die individuellen Namen der Gottheiten an Bedeutung verlieren. Nach Cicero hat als erster Antisthenes (ca. 455–360), der Begründer der kynischen Schule, „in seinem ‚Physikos‘ betitelten Buch erklärt, es gebe viele Volksgötter, aber nur einen wirklichen Gott“125. Ps.-Aristoteles zieht daraus die Konsequenzen, indem er die vielen Namen der Götter als unterschiedliche Benennungen des einen Gottes deutet: Einer ist Gott, doch er hat viele Namen.126

Zeus, Apollon, Isis können zum Inbegriff des Göttlichen werden, ihre Namen sind im Extremfall nur noch Chiffren für eine einzige göttliche Wirklichkeit, die nur bedingt mit einem Namen erfasst werden kann. Bereits Heraklit hatte in diesem Sinne formuliert: Eins, das einzige Weise läßt sich nicht und läßt sich doch mit dem Namen des Zeus (des „Lebens“) benennen. (B 32)

Die Stoa versteht die Namen des Göttlichen als Prädikationen der diese Wirklichkeit belebenden und gestaltenden göttlichen Kräfte. Eine Kurzzusammenfassung dieser Theologie findet sich bei Diogenes Laertius: Von Gott aber lehren sie: Er ist ein unsterbliches Wesen, vernünftig, vollkommen, oder ein denkender Geist, glückselig, unempfänglich für alles Böse, voll vorschauender Fürsorge für die Welt und alles was in ihr ist; doch trägt er nicht Menschengestalt. Er ist der Schöpfer der Welt und gleichsam der Vater von allem, was, wie überhaupt so im besonderen von dem Teil von ihm gilt, welcher alles durchdringt

————— 123

Vgl. SCHEER, Götter, 37f. Gebet, 1155; vgl. NILSSON, Geschichte I, 159f. 125 Cic. nat. deor. I,32: popularis deos multos, naturalem unum esse. 126 Ps.-Aristot. De Mundi 401a; J.C. Thom (Hg.), Cosmic Order and Divine Power. PseudoAristotle. On the Cosmos. Introduction, Text, Translation and Interpretative Essays by Johan C. Thom, Renate Burri, Clive Chandler, Hans Daiber, Jill Kraye, Andrew Smith, Hidemi Takahashi, and Anna Tzvetkova-Glaser, SAPERE 23, Tübingen 2014. 124

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und der je nach seinen Wirkungsweisen mit vielen Namen benannt wird. Man nennt ihn Dia (Zeus), weil durch (διά) ihn alles wird, Zena (Zeus), weil er Urheber des Lebens ist oder alles Leben (ζῆν) durchdrungen hat, Athena, weil seine Herrschaft sich bis in den Äther hinein erstreckt, Hera, weil er das Luftreich (ἀέρα) beherrscht, Hephaistos, als den Werkmeister des künstlerischen Feuers, Poseidon, wegen seiner Herrschaft über alle Gewässer, Demeter, wegen seiner Macht über die Erde. Ebenso verliehen sie ihm auch die sonstigen Beinamen in Beziehung auf irgendwelche Eigentümlichkeit. (Diog. Laert. VII,147)127

Entsprechend ruft der Hymnus des Kleanthes den im folgenden Vers als Zeus identifizierten Gott an mit den Worten: Höchster, allmächtiger Gott, den viele Namen benennen.128

Dion von Prusa verweist in seiner Rede 31,11 auf Leute, die behaupten, Apollon, Helios und Dionysos seien derselbe Gott, und auch ihr seid dieses Glaubens; ja viele ziehen sogar einfach alle Götter zu einer Macht und Gewalt zusammen, so daß es gleichgültig ist, ob man diesen oder jenen Gott ehrt.129

Bei Apuleius bezeichnet sich die dem Lucius erscheinende Isis selbst als „Inbegriff der Götter und Göttinnen“ (deorum dearumque facies uniformis) und identifiziert sich dabei auch gleich mit zehn anderen Gottheiten.130 Je monotheistischer das Göttliche verstanden wird, desto mehr können deshalb Eigennamen ausgetauscht oder durch das Appellativum ————— 127

Übers. folgt: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt. Zweiter Band: Buch VII–X, PhB 54, Leipzig 1921. 128 POHLENZ, Stoa, 109. Für den Text vgl. THOM, Cleanthes, 34. 129 Weitere Beispiele bei C. ZIMMERMANN, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont, AJEC 69, Leiden/Boston 2007, 534–541. 130 Apul. met. XI,5: „Sieh mich an, Lucius! Von deinem Gebet gerufen bin ich da, die Mutter der Natur, Herrin aller Elemente, Keimzelle der Geschlechter, – Geisterfürstin, Totenkönigin, Himmelsherrin – Inbegriff der Götter und Göttinnen […] ein Wesen bin ich, doch in vielen Gestalten, wechselnden Bräuchen, mancherlei Namen betet mich der ganze Erdkreis an. Dort bei den uralten Phrygern bin ich die Göttermutter von Pessinus, hier bei den attischen Autochthonen Pallas Athene, da bei den umbrandeten Cyprioten Venus von Paphos; bin kretischen Pfeilschützen Diktynna-Diana, dreisprachigen Siziliern Höllen-Proserpina, alten Eleusiniern aktäische Ceres; Juno rufen mich die einen und Bellona die anderen, Hekate diese und Rhamnusia jene; doch die Äthiopier beiderseits, die der Sonnengott im Aufgang mit steigenden und im Untergang mit fallenden Strahlen beleuchtet, und die Ägypter mit ihrer mächtigen alten Weisheit verehren mich mit den eigentlichen Bräuchen und heißen mich mit meinem echten Namen Königin Isis“ (Übers.: Lucius Apuleius Madaurensis, Der goldene Esel. Metamorphosen Libri XI. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Edward Brandt und Wilhelm Ehlers. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg, Düsseldorf 51998, 461ff ). Vgl. H.-J. KLAUCK, „Pantheisten, Polytheisten, Monotheisten“ – eine Reflexion zur griechisch-römischen und biblischen Theologie, in: DERS., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum, WUNT 152, Tübingen 2003, 3–53, bes. 7–23.

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θεός ersetzt werden bzw. hinter Abstrakta wie τὸ θεῖον, τὸ ὄν o.ä. zurücktreten. Im Gegensatz dazu nimmt bei der Herausbildung des biblischen Monotheismus die Bedeutung des göttlichen Eigennamens eher zu. Der Name ist hier nicht nur eine facies, die nur äußerliche Benennung eines numens, einer jenseits personaler Bestimmtheiten stehenden göttlichen Macht, sondern er repräsentiert den biblischen Gott in seiner unverwechselbaren personalen Identität. Der Eigenname steht für den biblischen Gott als ansprechbares Gegenüber, dessen ‚Angesicht‘ der Beter sucht und das nicht in das Abstraktum eines neutrischen ‚Göttlichen‘ oder gar in eine höhere Form des Selbst aufgelöst werden kann, geschweige denn, dass es, wie es in dem oben zitierten Text von Dion heißt, keinen Unterschied machte, diesen oder jenen Gott zu ehren. Die immer wieder betonte Heiligkeit von Gottes Namen (s.u.) unterstreicht, dass es bei der Verehrung des einen Gottes nicht lediglich um einen göttlichen Singular geht, sondern um die Einzigartigkeit Yhwhs, der man nur, wie das täglich zu rezitierende Schema betont, mit einer die ganze Person umgreifenden Liebe entsprechen kann (Dtn 6,5f ). Einer und einzig ist dieser Gott so für den Beter, dass er ihm zum ‚ein und alles‘ wird. Mit dieser unhintergehbaren Personalität Gottes als eines „ewigen Du“131 hängt zusammen, dass das Judentum seinen Glauben an den einen und einzigen Gott im Gegensatz zur Mitwelt nicht im Sinne eines inklusiven, sondern eines exklusiven Monotheismus profiliert hat. Der biblische Gott ist nicht Inbegriff aller Gottheiten, sondern unterscheidet sich von diesen als solchen, die zwar Götter genannt werden (1Kor 8,5), aber „von Natur aus keine Götter sind“ (Gal 4,8). Diese mit dem Namen verbundene Exklusivität wird von der Mitwelt durchaus kritisch wahrgenommen. Dass man nicht mehreren Herren dienen kann, ist etwa für den Philosophen Kelsos die „Stimme des Aufruhrs“132, und so betont er gerade im Blick auf den jüdischen Monotheismus und den damit verbundenen Gottesnamen des „Höchsten“, „Adonai“, des „Himmlischen“ oder „Zebaoth“ die Gleichgültigkeit des Namens: Es mache keinen Unterschied, ob man den über allem waltenden Gott mit dem bei den Griechen gebräuchlichen Namen ‚Zeus‘ bezeichne oder mit dem beispielsweise bei den Indern oder dem bei den Ägyptern üblichen Namen.133

Freilich ist die Pointe dieser Exklusivität des göttlichen Namens zwar der Ausschluss der anderen Gottheiten, zugleich aber zielt sie auf die Einbe————— 131

M. BUBER, Ich und Du, Heidelberg 1977, 91. Orig. Contra Celsum VII,68; VIII,2. 133 Übersetzung folgt: Origenes. Contra Celsum. Gegen Celsus. Eingeleitet und kommentiert von Michael Fiedrowicz. Übersetzt von Claudia Barthold. Erster bis fünfter Teilband, FC 50/1–5, Freiburg 2011–2012. 132

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ziehung derer, denen dieser Gott seinen Namen mitgeteilt hat und die ihn deshalb mit diesem Namen anrufen können. In seinem Namen wird Yhwh als der Gott Israels gegenwärtig. So sagt er dort, wo er Mose in Ex 3,15 erstmals seinen Namen kundtut: So sollst du zu den Kindern Israel sagen: „Yhwh, der Gott eurer Väter, ist mir erschienen, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, und hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name auf ewig, mit dem man mich anrufen soll von Geschlecht zu Geschlecht.“

Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass „mein Name“ und „mein Volk“ (Ex 3,7.10) zusammengehören, „weil Yhwh in seinem Eigennamen allein als Retter seines bedrängten Volkes erkannt und angerufen werden will“134. Gottes Name verbürgt seine Gegenwart135 und ist so Unterpfand seiner Verheißung. Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. (Ps 124,8)

Entsprechend betonen die Beter der Psalmen immer wieder, dass dieser Name Grund ihres Vertrauens und ihrer Hoffnung ist, weil Gott sich in ihm zugänglich macht (Ps 9,10f ), weil er in ihm nahe ist (Ps 75,2; 76,2), um seines Namens willen hilft (Ps 23,3; 106,8), leitet und führt (Ps 31,4), erquickt (Ps 143,11), den schützt, der seinen Namen kennt (Ps 91,14) und bei denen ist, die nach seinem Namen genannt sind (Jes 43,5–7). Auf diesen heiligen Namen trauen die Beter (Ps 33,21), auf ihn kann sich berufen, wer Hilfe braucht: Hilf mir, Gott, durch deinen Namen, und schaffe mir Recht durch deine Kraft (Ps 54,3, vgl. Ps 109,21)

Ähnlich ist es in den beiden Volksklagen in Jer 14,7–9.19–22 immer wieder der Name Yhwhs, auf den sich die Betenden beziehen, um Gott zum Eingreifen zu bewegen, wobei die Berufung auf den Namen deutlich macht, dass dies als „ein seinem Wesen […] entsprechendes Handeln“136 erwartet bzw. erfleht wird: Yhwh, handle um deines Namens willen […] Du bist doch in unserer Mitte, Yhwh,

————— 134

FELDMEIER/SPIECKERMANN, Gott, 31. Vgl. BIETENHARD, ὄνομα, 255. 136 A.F. WILKE, Die Gebete der Propheten. Anrufungen Gottes im ‚corpus propheticum‘ der Hebräischen Bibel, BZAW 451, Berlin/Boston 2014, 99. Der Studie von Wilke entstammt auch die im Folgenden zitierte Übersetzung (a.a.O., 93f ). 135

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und dein Name ist über uns ausgerufen! Verlass uns nicht! […] Verschmähe nicht, um deines Namens willen, verachte nicht deinen herrlichen Thron, gedenke, tilge nicht deinen Bund mit uns. (Jer 14,7.9.21)

Mit der Bitte um Zuwendung und Hilfe ist die Bitte um Vergebung verbunden (vgl. bes. Jer 14,7.20). Auch die Psalmbeter können unter Berufung auf Gottes Namen um Vergebung bitten: Um deines Namens willen, Yhwh, vergib mir meine Schuld, die so groß ist. (Ps 25,11) Ach Yhwh, wenn unsere Sünden uns verklagen, so hilf doch um deines Namens willen. (Jer 14,7)

Deshalb betonen die Psalmen immer wieder das Lob des göttlichen Namens (vgl. Ps 92,2; 96,1–3). Ein solcher Zuspruch beinhaltet freilich den Anspruch, diesen Namen nicht zu missbrauchen (Ex 20,7 par. Dtn 5,11) und ihn nicht zu entheiligen (Ez 20,9; 43,7, vgl. Jer 34,16), sondern ihn zu loben, zu preisen (Ps 96,2; 103,1; Jes 25,1) und zu ehren (Ps 86,12; 96,8). Preisen sollen sie deinen großen und wunderbaren Namen – denn er ist heilig. (Ps 99,3, vgl. Jes 29,23)

Damit zu Gottes Heiligkeit und der Heiligung des Namens: 4.2 Die Heiligkeit Nach der klassischen Studie von F. Heiler zum Gebet ist der Vatername im Gebet der Völker deshalb universell, weil in ihm „die Idee der Verwandtschaft zwischen Mensch und Gott“ zum Ausdruck komme, die das „Alphabet des echten Gebets“ sei.137 Das gilt auch für die philosophischen Gebete. So wird am Anfang des Kleantheshymnus der als Vater angerufene Zeus daran erinnert: Sind wir doch alle entsprossen von dir.138

Noch weiter geht Seneca, wenn er den üblichen Kult ablehnt mit dem Hinweis darauf, dass Gott dem Menschen nahe ist, dass er mit ihm, ja, in ————— 137

Vgl. F. HEILER, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 41921, 141 (unter Berufung auf L.R. Farnell, The Evolution of Religion. An Anthropological Study, Crown Theological Library 12, London/New York 1905, 171.180f ). 138 POHLENZ, Stoa, 109, vgl. THOM, Cleanthes, 40. Zur Verwandtschaft von Gott und Mensch vgl. auch Plut. mor. 1001C; Dion Chrys. 12,27.61.

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ihm ist, weil ein heiliger Geist in ihm wohnt.139 Im Gegensatz zu den anderen Kreaturen, die von Gott gemacht sind, ist der Mensch besonders ausgezeichnet, denn er ist „ein Stück von Gott“ – so sagt es Epiktet (Diatribe II,8). In vergleichbarer Weise besteht für Plutarch der Sinn der platonischen Rede von Gott als Vater darin, dass er den Menschen nicht nur gemacht hat, wie den Kosmos und in diesem den Leib, sondern dass er durch die Seele an seinem Wesen Anteil gegeben hat: Die Seele aber, die am Geist (νοῦς) Anteil hat und an der Vernunft (λογισμός) und an der harmonischen Ordnung, ist nicht nur ein Werk Gottes, sondern auch ein Teil, und sie entstand nicht durch ihn, sondern von ihm und aus seinem Wesen. (Plut. mor. 1001C)

Selbst wenn in diesen Gebeten der Unterschied von Mensch und Gott zur Sprache kommt, so geschieht dies doch unter der Voraussetzung einer grundsätzlichen wesensmäßigen Verbundenheit des Menschen (bzw. seines höheren Selbst) mit Gott, die mit mehr (Platonismus) oder weniger (Stoa) Hilfe der Gottheit, in jedem Fall aber auch durch die eigene Anstrengung, wieder zur Geltung zu bringen ist. „Alle in der Kaiserzeit maßgebenden Philosophien betrachteten den Wesenskern des Menschen als göttlich, sei es stoisch als Partikel des die Welt durchwaltenden Pneuma, des Trägers der Vernunft, sei es in platonischer Tradition als den wertvollsten unsterblichen Teil einer präexistenten Seele, dessen Heimat die intelligible Welt ist. Die Gottheit, zu der unter dieser Voraussetzung gebetet wurde, war darum, einerlei in welcher Gestalt man sie sich vorstellte, und unabhängig von dem Abstand, den man zu ihr verspürte, dem eigenen Innern verwandt. Hier liegt die wichtigste Voraussetzung für die philosophische Lehre vom Gebet als Kommunikation mit der Gottheit“140.

Dagegen sind die biblischen Gebete, und ganz besonders das Herrengebet, vollkommen auf Gott als bleibendes Gegenüber ausgerichtet. So wie der biblische Gott nicht eingebunden ist in eine Ontologie, sondern allem Wirklichen als souveräner Schöpfer gegenübersteht, so wird er auch von den Menschen als „mein Gott“ bzw. als „(unser) Vater“ angerufen, gerade als der vom „Ich“ bzw. „Wir“ der Beter elementar Unterschiedene. Deshalb trifft Heilers These, dass es in jedem echten Gebet um die „Idee der Verwandtschaft zwischen Mensch und Gott“ gehe, für die biblische Tradition gerade nicht zu.141 Diese insistiert vielmehr auf der unbedingten Un————— 139 Sen. epist. 41,2f: prope est a te deus, tecum est, intus est […] sacer intra nos spiritus sedet. („Nahe ist dir Gott, mit Dir ist er, in Dir ist er […] ein heiliger Geist wohnt in uns“). 140 DIHLE, Gebet, 29. 141 Nach HEILER, Gebet, 141f, richtet sich der Protest der ‚geläuterten Gebetsauffassung‘ bei Juden und Christen nur dagegen, dass die Vaterschaft Gottes auf die heidnischen Götter übertragen

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terscheidung von Schöpfer und Geschöpf, und zwar gerade auch mit dem Verweis auf Gottes Heiligkeit: Weil das Geschöpf ein gefallenes Geschöpf ist, deshalb löst die Begegnung mit Gott beim Menschen nicht verwandtschaftliche Wiedersehensfreude, sondern tödlichen Schrecken aus, wie die Berufung Jesajas zeigt: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, Yhwh Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. (Jes 6,5)

Das tödliche Erschrecken des Propheten ist die Reaktion auf die Begegnung mit dem, den die Seraphen mit dem Trishagion als den schlechthin Heiligen preisen. „Das dreimal Heilig der Seraphen in Jes 6,3, das Yhwh Ṣĕbāʾôt gilt, macht seine Unterschiedenheit von der Welt und allem, was menschlich und deshalb schuldig ist, bewusst (6,5).“142 Der Name des Heiligen ist deshalb „furchteinflößend“, wie es in der dritten Benediktion der palästinischen Rezension des Achtzehngebets heißt,143 sodass er in neutestamentlicher Zeit wegen seiner Heiligkeit von Menschen nicht mehr ausgesprochen werden darf, sondern umschrieben wird. Gottes Heiligkeit bringt also gerade seine Andersartigkeit gegenüber dem Menschen zum Ausdruck, die in der Begegnung mit ihm durchaus auch in erschreckender Weise zum Ausdruck kommen kann, und zwar nicht nur im Alten Testament. Auch Jesus als der „Heilige Gottes“ (Mk 1,24 par. Lk 4,34; Joh 6,69) ruft mit seinem Auftreten durch das ganze Evangelium hindurch mit erstaunlicher Konstanz immer wieder Furcht, Erschrecken und Entsetzen hervor144 – wobei besonders bemerkenswert ist, dass auch die mit Jesus vertrauten Jünger von solchem Schrecken keineswegs ausgenommen sind145. Das neutestamentliche Pendant zur Prophetenberufung in Jes 6 wäre Lk 5,1–11, wo Petrus auf das Wunder des Fischzugs mit den Worten reagiert: „Geh weg von mir, Kyrios, denn ich bin ein sündiger Mann.“ Denn Schrecken hatte ihn ergriffen und alle mit ihm. (Lk 5,8f )

————— wird. Dass die Idee einer Verwandtschaft Gottes mit den Menschen als solche dem biblischen Denken fremd ist, hat er nicht wahrgenommen. 142 FELDMEIER/SPIECKERMANN, Gott, 18. 143 Vgl. SCHÜRER, History II, 460. 144 Vgl. Mk 1,22.27; 2,12; 5,15.42, ferner 5,33 (sowie die synopt. Parallelen). In diesen Zusammenhang gehören wohl auch Notizen wie die, dass die Leute Jesus bitten, sie zu verlassen (5,17), oder auch die Reaktion der Verwandten Jesu, die ihn für verrückt erklären (3,21). 145 Vgl. Mk 4,41; 6,50f; 9,6, ferner 10,32.

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Diese Heiligkeit ist vom Menschen anzuerkennen und in ehrfürchtiger Liebe gegen Gott und in dienender Liebe gegen den Nächsten zur Geltung zu bringen. Auf die in der Exegese immer wieder verhandelte Frage, wer in der ersten Bitte den Namen Gottes heiligt – das Heiligen kann im Alten Testament sowohl durch Gott selbst146 als auch durch Menschen geschehen147 – ist weiter unten noch einzugehen. Im Blick auf den Vergleich mit der paganen Tradition ist schon einmal festzuhalten, dass so, wie das Verb ἁγιάζω „fast ausschließlich dem biblischen und biblisch beeinflussten Griechisch“148 angehört, so auch die Bitte um die Heiligung des Namens ohne pagane Parallelen ist. In ihr werden wir der differentia specifica biblischen Betens und des damit verbundenen Gottesglaubens zur paganen Religiosität in all ihren Erscheinungsformen mit besonderer Deutlichkeit ansichtig. Gegenüber einem geläufigen Vorurteil ist dabei festzuhalten, dass diese Unterscheidung nicht darauf abzielt, Gott und Mensch auseinanderzureißen. Im Gegenteil: Schon im Alten Testament ist „Gottes strikte Selbstunterscheidung von Mensch und Welt […] geradezu die Voraussetzung der Begegnung und Gemeinschaft mit ihm“149. So zielt die Heiligkeit Gottes bei allem Erschrecken auf das Heil der zu ihm Gehörenden. Wenn Gott etwa in Hos 11,9 sagt: Ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir,

so begründet dieses Anderssein des heiligen Gottes die vorauslaufende Heilszusage von Hos 11,8: Wie kann ich dich preisgeben, Ephraim, und dich ausliefern, Israel? Wie kann ich dich preisgeben wie Adma und dich zurichten wie Zeboim? Mein Herz ist anderen Sinnes, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt.

Konsequenterweise findet der folgende Begründungssatz „Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir“ dann seinerseits eine Fortsetzung in der Verheißung: und ich will nicht kommen, zu verheeren. (Hos 11,9)

Es ist also zutiefst heilsam, dass Gott ‚Gott ist und nicht Mensch‘, dass er nicht dämonisches Spiegelbild menschlicher Zerrissenheit ist, sondern der Heilige. Wie unmittelbar die Heiligkeit Gottes bzw. seines Namens als ————— 146

Vgl. Lev 10,3; Ez 36,22f; 38,23; 39,7. Vgl. Ex 20,7; Lev 22,32; Jes 29,23; Ps 99,3; zu den jüdischen Parallelen vgl. BILL. I, München 1922, 413–418. 148 O. PROCKSCH, Art. ἅγιος κτλ., ThWNT I (1933) 101–116: 112. 149 FELDMEIER/SPIECKERMANN, Gott, 18. 147

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heilbringend verstanden wurde, zeigt die Sprache der Psalmen und Propheten: Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Namen heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf das ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. (Jes 57,15)

Es ist deshalb gerade der „heilige Name“ Yhwh, der als Grund alles Guten gepriesen wird: Lobe Yhwh, meine Seele, und was in mir ist seinen heiligen Namen. Lobe Yhwh, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. (Ps 103,1f, vgl. Ps 105,1–3 u.ö.)

So trennt die Heiligkeit zwar Gott von der unheiligen Welt, aber sie verbindet ihn mit den Seinen, er bezieht sie ein in seinen Heilsbereich: Ich will euch gnädig annehmen beim Geruch der Opfer, wenn ich euch aus den Völkern bringen und aus den Ländern sammeln werde, in die ihr zerstreut worden seid, und ich werde mich an euch als der Heilige erweisen vor den Augen der Heiden. (Ez 20,41)

In diesem Geist preist auch Maria im Neuen Testament Gott als ihren Retter mit den Worten: Denn Großes hat mir der Mächtige getan, und heilig ist sein Name. (Lk 1,49)

Wie auch bei anderen Strophen dieses Hymnus, handelt es sich hier um einen parallelismus membrorum, der mit einem explikativ zu deutenden καί zwei Dinge zusammenbindet, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: des großen Gottes wunderbares Handeln an seiner ‚Magd‘ und die Heiligkeit seines Namens. Indem beides in einem synthetischen parallelismus membrorum aufeinander bezogen wird, macht das Lied deutlich, dass sich die Heiligkeit des Gottesnamens hier gerade darin erweist, dass Gottes Macht in und am Menschen zum Heil wirksam wird, wie das bereits im Psalter der Fall ist: Er sendet eine Erlösung seinem Volk; Er verheißt auf ewig seinen Bund. Heilig und zu fürchten ist sein Name. (Ps 111,9)

Das Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteratur

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Verbindet man das Lied mit seinem Kontext, so liegt es wohl nicht allzu fern, wenn man bei dieser Verbindung von Gottes Heiligkeit mit dem „Großen“, das der „Mächtige“ an seiner Magd getan hat, an die wenige Verse zuvor ergangene Verheißung des Engels denkt. Dieser begründet mit dem Hinweis darauf, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist (Lk 1,37), dass durch den über Maria kommenden „Heiligen Geist“ und die sie überschattende „Macht des Höchsten“ in ihr ein „Heiliges“ entsteht (1,35). Darüber hinaus besteht wohl ein weiterer intratextueller Bezug zum „heiligen Bund“ des „Höchsten“, auf welchen im Folgenden das Benedictus Bezug nimmt (1,72), der Bund, Erlösung und Gottes heiligen Namen in einem Atemzug nennt, zumal wenn das Magnificat auf dem Hintergrund von Ps 111,9 als möglichem Prätext gelesen wird. In summa: Das philosophische Gebet, das hier allein als Vergleichspunkt in Frage kommt, weil es auch dort nicht um ein konkretes Anliegen, sondern um die Ausrichtung der Beter auf das Göttliche geht, zielt auf die Verwirklichung der im Menschen selbst liegenden Möglichkeiten, sich dem Göttlichen zu nähern, ihm ähnlich oder gar gleich zu werden.150 Es ist gut möglich, dass das Verständnis des Gebets als einer fortwährenden Kontemplation des Göttlichen und der entsprechenden Ausrichtung auf dieses nicht ohne Einfluss auf Paulus und seine Schule blieb, wenn dort wiederholt die aus der bisherigen biblischen Überlieferung so noch nicht bekannte Forderung gestellt wird, ohne Unterlass zu beten. Allerdings bleibt dort, wie in allen biblischen Schriften, als essentielle Voraussetzung für die Kommunikation mit Gott die Unterscheidung von diesem, weil die Gemeinschaft von Gott und Mensch nicht auf der Zusammengehörigkeit von Verwandtem gründet, sondern auf Erwählung, d.h., auf einem dem souveränen Willen Gottes entspringenden Akt der Annahme, der Adoption. Dieser ist letztlich als ein schöpferisches Handeln zu verstehen, wie im Neuen Testament die Verwendung des Verbs καλεῖν für die Schöpfung wie für die Berufung zeigt, sodass diejenigen, die in Christus erwählt sind, nun „neue Schöpfung“ sind (2Kor 5,17, vgl. Gal 6,15). Insofern der als Vater nahegekommene Gott immer der „Ganz Andere“151 bleibt, wird in den Gebeten, die der biblischen Tradition entstammen bzw. durch diese geprägt sind, bei aller Betonung der Nähe Gottes zugleich dessen Heiligkeit, d.h., seine Souveränität und Überlegenheit, seine Unverfügbarkeit und seine Unterschiedenheit von den Betern unterstrichen, also sein Anderssein. Denn gerade darin, dass —————

150 So macht Epiktet in Diatribe I,19 deutlich, dass er seine von Zeus stammende Bestimmung zur Freiheit dadurch verwirklicht, dass er „alles um seiner selbst willen [tut]“, nicht im Sinne beschränkter Selbstsucht, sondern im Sinne vernünftiger Selbstverwirklichung, wie das selbst für Zeus gilt. 151 Vgl. R. OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 41920 (Nachdruck 2004), 28.31 u.ö.

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Gott ‚der Heilige‘ ist und nicht ein Mensch, ist die Hoffnung auf Heil begründet. 4.3 Gottesliebe und Gottesfurcht Die Parallelisierung von Heil und Heiligkeit wird in der Zusammenstellung von Erbarmen und Gottesfurcht weitergeführt, wenn Maria im Magnificat die Aussage, dass der Mächtige Großes an ihr getan hat und sein Name heilig ist (Lk 1,49), in 1,50 auf eine Gemeinschaft ausweitet: „sein Erbarmen ist von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten“. Wie auf Seiten Gottes seine Heiligkeit Grund seines heilbringenden Wirkens ist, so ist auf Seiten des Menschen die Gottesfurcht Bedingung dafür, Gottes Erbarmen zu empfangen. Deshalb kann der Beter des 86. Psalms den als „mein Gott“ (Ps 86,2, vgl. 86,12) angerufenen Herrn scheinbar paradox darum bitten, dass er selbst dafür sorgt, dass er seinen Namen fürchtet: Erhalte mein Herz bei dem einen, dass ich deinen Namen fürchte

– so die schöne Lutherübersetzung von Ps 86,11. Wörtlich heißt es: „Sammle mein Herz auf die Furcht deines Namens“. Das Herz als Sitz des Denkens (und nicht in erster Linie als Sitz der Emotionen) und so zugleich sein ‚Gottesorgan‘, also der beste Teil des Menschen, soll sich ganz Gott anvertrauen und ihm unterstellen. Besonders ist dabei zu beachten, dass diese (Ehr-)Furcht vor Gottes Namen nicht vom Beter als fromme Leistung angeboten, sondern dass sie von dem, der „allein Gott“ ist (so im Vers zuvor: 86,10), als Gabe erbeten wird. Auch hier ist die Gottesfurcht geradezu die Voraussetzung dafür, dass der Psalmbeter Gottes rettendes Wirken an sich erlebt, wie die unmittelbare Fortsetzung zeigt: Ich danke dir Herr, mein Gott, von ganzem Herzen, und ehre deinen Namen ewiglich. Denn deine Güte ist groß gegen mich, du hast mich errettet aus der Tiefe des Todes. (Ps 86,12f )

In dieser Tradition steht auch die Johannesoffenbarung, wenn in ihr diejenigen, die „über das Tier und sein Bild und die Zahl seines Namens“ den Sieg davongetragen haben, im „Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und dem Lied des Lammes“ Gott den Herrn als den „Allmächtigen“ und „König der Völker“ preisen. In diesem Hymnus, mit dem die gegenwärtig Bedrängten bereits proleptisch den Sieg des Pantokrator über die Mächte der Zerstörung feiern, wird in einem Atemzug die Gottesfurcht, die Verherrlichung des göttlichen Namens und Gottes Heiligkeit genannt:

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Groß und wunderbar [sind] deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger, gerecht und wahr sind deine Wege, König der Völker. Wer fürchtet dich nicht, Herr, und verherrlicht deinen Namen? Denn du allein [bist] heilig! (Apk 15,3f )

Die Verherrlichung des Namens und die Furcht Gottes sind hier geradezu Synonyme geworden, welche die menschliche Reaktion auf die Heiligkeit Gottes bezeichnen. Der hymnische Kontext unterstreicht, dass solche Gottesfurcht der Liebe zu diesem Gott nicht widerspricht, sondern geradezu deren Kehrseite ist. Bereits in Dtn 6 wird das Gebot der vorbehaltlosen Gottesliebe (6,5) in den Ausführungen expliziert durch die Gottesfurcht (6,13.24).152 Entsprechend kann dann Jesus Sirach Gottesliebe und Gottesfurcht im parallelismus membrorum als die beiden Seiten einer Medaille zusammenbinden (Sir 2,15f ). Derselbe Autor betont dann – vermutlich im bewussten Gegenüber zur hellenistischen Kultur und deren Geisteshaltung –, dass solche „Furcht des Herrn“ den Menschen nicht klein macht, sondern vielmehr dessen Dasein mit Freude und Würde erfüllt: Die Furcht des Herrn ist Ehre und Ruhm und Hoheit und Kranz der Freude. Die Furcht des Herrn wird erquicken das Herz, und sie wird Frohsinn und Freude und lange Tage gewähren. Dem, der den Herrn fürchtet, wird es wohl ergehen am Ende der Tage, und am Tage der Vollendung wird er gepriesen werden. (Sir 1,11–13, vgl. Sir 1,18; 2,7–9)153

In diesem Zusammenhang wird dann für den gottesfürchtigen Weisen das Gebet zum „Herrn“ und „Höchsten“ zur Lebens- und Denkform, durch die er in Gottes Geheimnisse einzudringen und diesen – ebenfalls im Gebet – zu preisen vermag: Sein Herz richtet er darauf, zu erklären vor dem Herrn, der ihn erschaffen hat, und vor dem Höchsten betet er. Er öffnet seinen Mund im Gebet, und für seine Sünden bittet er. Wenn der Herr, der große, es will, wird er mit dem Geist des Verstehens gefüllt werden.

————— 152

Vgl. auch die Auslegung der Gebote in Luthers Kleinem Katechismus, die formelhaft mit der Wendung beginnt: „Wir sollen Gott über alle Ding fürchten, lieben und vertrauen“ (BSLK, Göttingen 61967, 507). 153 Übers. der Sirachtexte nach: Jesus Sirach/Ben Sira. Übersetzt und erklärt von Georg Sauer, ATD Apokryphen 1, Göttingen 2000.

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Er wird kundtun Ausspruch seiner Weisheit, und im Gebet wird er den Herrn preisen. (Sir 39,5f )

Die Folgen für die Ethik können hier nur angedeutet werden: Die Annäherung an Gott, wie sie in den biblischen Gebeten erstrebt wird, zielt nicht auf eine dem wahren, ‚göttlichen‘ Selbst entsprechende Weltüberlegenheit der Beter, sondern auf eine dem in seinem Namen nahekommenden Gott entsprechende Menschlichkeit; Gottesfurcht und Gottesliebe führen zu Demut und Barmherzigkeit. Im Neuen Testament wird deshalb denen verheißen, Gottes Söhne zu werden, die in Entsprechung zum himmlischen Vater ihre Feinde lieben und für ihre Verfolger beten (Mt 5,44f, vgl. Lk 6,35). Indem sie im Gebet ihren Selbstbezug durch den Bezug auf Gott so weit durchbrechen lassen, dass sie die Sache ihrer Gegner zur eigenen machen, entsprechen sie der Barmherzigkeit (Lk 6,36) bzw. Vollkommenheit (Mt 5,48) des Gottes, der zu ihrem himmlischen Vater geworden ist. Deshalb geht es im Gebet in der Nachfolge Jesu nicht nur negativ darum, nicht die eigenen Interessen auf Kosten der anderen zu verfolgen, sondern vielmehr positiv darum, auch für die Feinde vor Gott einzustehen. Höchstes Ziel menschlichen Daseins ist darum nicht die ἀπάθεια („Leidenslosigkeit“), sondern im Gegenteil das – notwendig mit Verletzlichkeit einhergehende – πάθος („Leidenschaft“) des Erbarmens, der Liebe. Für uns ist wichtig, dass dem Anfang des Vaters-Unsers mit der Anrufung Gottes als Vater und der Bitte um die Heiligung seines Namens der innere Zusammenhang von Gottesliebe und Gottesfurcht entspricht.154 Was das bedeutet, soll im Folgenden ausgeführt werden. Damit kommen wir nun zur ersten Bitte des Herrengebets, indem zunächst deutlich gemacht wird, inwiefern es sich dabei um eine Bitte handelt, um dann den in der Heiligkeit des Namens enthaltenen Zuspruch sowie den daraus folgenden Anspruch zu entfalten.

5. „Geheiligt werde Dein Name“ 5.1 Die Heiligung des Namens als Bitte Das Herrengebet bringt die Sorgen und Gefährdungen der Beter vor Gott. Aber wie der Psalter zielt es als Ganzes nicht primär auf die Befriedigung einzelner Bedürfnisse, sondern auf die göttliche Zuwendung. Diese wird zudem von den Betern nicht allein für sich erbeten, sondern zunächst in ————— 154

Vgl. auch F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments II: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung, Tübingen 32011, 570: „Bei der Heiligung des Namens Gottes in der ersten Bitte geht es um die rechte Gottesfurcht bei uns und in der Welt“.

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den einleitenden Du-Bitten für die ganze Welt,155 dann für das „wir“ der als Gemeinschaft betenden Nachfolger. Bei der ersten Bitte um die Heiligung des Namens ist die immer wieder diskutierte Frage, ob auch die erste Bitte als echte Bitte zu verstehen ist, klar zu bejahen. Zwar ist in der biblischen Tradition Gottes Name „an ihm selbst heilig“156, und die Heiligung des Namens kann, wie gesagt, sowohl durch Gott wie durch Menschen erfolgen, aber im Unterschied zu vergleichbaren jüdischen Texten, wie dem Beginn des Qaddisch und der dritten Benediktion des Achtzehngebets,157 wird Gott hier nicht als der Heilige gepriesen, sondern er wird explizit um die Heiligung seines Namens gebeten. Damit ist die Bitte in strikter Parallelität zur zweiten (und bei Matthäus noch zur dritten) Bitte formuliert, deren Bittcharakter unbestritten ist. Es wäre auch kaum nachvollziehbar, dass das für die Christen zentrale Gebet mit einer als Bitte kaschierten Paränese oder Selbstverpflichtung beginnen soll. Warum aber, so könnte man einwenden, beginnt das Herrengebet ausgerechnet mit dieser Bitte, die nach der Gottes Nähe eröffnenden Vateranrede nun wieder auf die Distanz von Gott und Mensch zielt? Wäre nicht die zweite nach dem Kommen des Reiches viel wichtiger und zudem der Verkündigung Jesu näher? Die Antwort auf diese Frage dürfte sein, dass Jesus gerade deshalb, weil er zuvor mit der Anrede „Vater“ in einer im jüdischen Beten zwar möglichen, aber doch auf dem Hintergrund der alttestamentlichen Tradition zu seiner Zeit noch ungewöhnlichen Weise158 Gottes Nähe in Anspruch nimmt und diese seinen Nachfolgenden eröffnet, mit der ersten Bitte deutlich macht, dass dieser „Vater“ immer zugleich der Ehrfurcht gebietende „Herr des Himmel und der Erde“ ist (Mt 11,25 par. Lk 10,21). Wie der mutmaßliche Prätext dieser Bitte Ez 36,22–28159 zeigt, ist es das Gottesvolk, das Gottes Namen unter den Völkern entheiligt hat, so dass es an ihm geradezu eines Aktes der göttlichen Neuschöpfung bedarf (Ez 36,26f ), damit seine Mitglieder „wie eine heilige Herde“ werden können (Ez 36,38). Martin Bubers bekanntes Diktum, dass Gott „das beladenste aller Menschenwor—————

155 Mit U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus. 1.Teilband: Mt 1–7, EKK I/1, Düsseldorf u.a. 2002, 444, kann man sagen, es geht hier zunächst „um Gott selbst“, wenn man zugleich deutlich macht, dass dies nicht eine göttliche Aseität meint, sondern Gott in der Zuwendung zu seiner Schöpfung. 156 So M. Luther in seiner Auslegung dieser Bitte im Kleinen Katechismus (BSLK, 512). Entsprechende Aussagen finden sich immer wieder in den biblischen Schriften; vgl. das Magnificat Lk 1,49. 157 Vgl. dazu LOHSE, Vater, 39f. 158 Vgl. FELDMEIER/SPIECKERMANN, Gott, 51–92. 159 Vgl. J.A. FITZMYER, The Gospel according to Luke (X–XXIV). Introduction, Translation and Notes, AncB 28A, New York 1985, 898f.

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te“160 ist, gilt zu allen Zeiten und an allen Orten, und gewiss gilt es auch dort, wo der Gott Israels von den Nachfolgern Jesu nun als ihr Vater angerufen wird.161 Im Vaternamen ist die Versuchung, sich diesen Gott verfügbar zu machen, vielleicht besonders groß. Ehe daher Gott um irgendetwas anderes gebeten wird, geht es darum, dass der als Vater Angerufene sich zugleich als der Heilige erweist, dass er seiner Gottheit Anerkennung verschafft – zur Not auch gegen Projektionen und Wünsche der Betenden. Vaterschaft und Heiligkeit gehören also auf Seiten Gottes ebenso zusammen wie Gottesliebe und Gottesfurcht auf Seiten der Menschen, wobei beides nicht gegeneinander ausgespielt werden kann: So wie Gottes Vaterschaft auch seine Autorität impliziert und Gottes Heiligkeit die Heiligung des Gegenübers (s.u.), so respektiert die Gottesliebe Gottes Souveränität und vertraut die Gottesfurcht seiner Barmherzigkeit. Die spannungsvolle „Kontrastharmonie“162 von Furcht und Liebe ist für das christliche Gottesverhältnis bleibend aktuell: Nicht der die menschliche Gottferne affirmierende ‚liebe Gott‘ ist der im Herrengebet nahe gekommene Vater, sondern der die adamitische Selbstbezogenheit unterbrechende Gott der Liebe, der sich gerade so als der Heilige von unserer Wirklichkeit unterscheidet. Das Gebet lebt von diesem Bezug auf ein unverfügbares Gegenüber, es lebt davon, Anbetung zu sein, weil nur von Gott her die Glaubenden wieder neu zu sich kommen können. Oder andersherum gesagt: Nur als der ‚ganz Andere‘ ist es dann auch Gott selbst, den die Christgläubigen als ‚unseren Vater‘ anrufen. 5.2 Die Heiligkeit des Namens als Zuspruch Die erste Bitte des Herrengebets wird heute zumeist auf die Endzeit bezogen. Stellvertretend für viele sei Michael Wolter zitiert: „Auf Grund ihres Inhalts kann diese Bitte gar nicht anders als eschatologisch verstanden werden, denn sie richtet sich auf die universale Durchsetzung von Gottes Herrschaft“163. Diese Interpretation trifft zweifellos etwas Richtiges, sie ist jedoch zu modifizieren, nicht zuletzt, weil eine solche Deutung, wie das Zitat zeigt, aus dieser Bitte eine Art Doublette zur zweiten Bitte macht. Zwar sollte man in Anbetracht der parallel formulierten zweiten Bitte um das Kommen des Reiches auch nicht so weit gehen wie Ulrich Luz und ————— 160

BUBER, Ich, 91. Das mag auch der Grund sein, warum Matthäus im Herrengebet und an anderer Stelle bei der Rede von Gott als Vater das Adjektiv „himmlisch“ bzw. die Näherbestimmung „in den Himmeln“ hinzufügt. 162 Diesen Begriff verwendet R. OTTO immer wieder in seinem Klassiker „Das Heilige“. 163 M. WOLTER, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 406. 161

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aufgrund der grammatikalischen Form ihren eschatologischen Charakter in Frage stellen.164 Der Einwand des Berner Kollegen ist aber insofern aufzunehmen, als sich die erste Bitte nicht nur auf ein Futurum bezieht, das der Gegenwart noch mehr oder weniger beziehungslos gegenüber steht, sondern auf eine Zukunft, die in Jesus angebrochen ist und damit die Wirklichkeit der in seinem Namen versammelten Gemeinde jetzt schon bestimmt. So wie durch die Anrufung Gottes als Vater ein Raum der Begegnung eröffnet ist, in welchem die Gegenwart der betenden Gemeinschaft bereits von Gottes Zuwendung durchdrungen wird, so bitten hier die, die „unreiner Lippen sind und unter einem Volk von unreinen Lippen wohnen“ (Jes 6,5), darum, dass Gott selbst sich in ihrer unheiligen Wirklichkeit bereits jetzt als der Heilige Geltung verschafft – wobei eben dies, dass Gott seinen Namen heiligt, letztlich den Betern zu Gute kommt, wie schon der Psalmist betont hatte: Nicht uns Herr, sondern deinem Namen gib Ehre – um deiner Gnade und Treue willen! (Ps 115,1)165

Wenn Gott seinem Namen die Ehre gibt, wenn er ihn heiligt, so ist dies Ausdruck seiner Gnade und Treue, weil die Betenden durch die Gabe des Namens mit Gott verbunden sind. Indem sich Gott in seinem Volk als der Heilige erweist und dieses ihm durch sein Verhalten entspricht, kommt es zur Gemeinschaft. Damit gewinnen schon im Alten Testament die Mitglieder des Volkes an dieser Heiligkeit Anteil: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, Yhwh, euer Gott. (Lev 19,2)

Der Heilige wird hier zum Heiligenden, wie wenig später auch explizit gesagt wird: Ich bin Yhwh, der euch heiligt. (Lev 20,8)

„Die Heiligkeit ist in erster Linie Differenzkriterium zwischen Gott und Welt, dann und daraufhin aber auch Ermöglichung intensiver Beziehung zwischen Gott und Welt. Es ist gerade die Unterschiedenheit des heiligen Gottes von allem, was menschlich ist, welche seine Gegenwart bei seinem abtrünnigen Volk, dem das Gericht droht oder das bereits durch das Ge—————

164 Gegenüber der heute weitgehend vorherrschenden eschatologischen Interpretation der ersten Bitte hat Luz darauf hingewiesen, dass sich diese sprachlich nicht begründen lässt, und deshalb eine entsprechende Deutung, welche die erste Bitte fast schon zu einer Doublette der zweiten macht, explizit abgelehnt (LUZ, Matthäus I, 445–447). 165 Vgl. den Preis des Namens in Ps 8,2.10; 9,3; 92,2; 96,2; 99,3; 103,1; 113,1ff; 135,1f; 138,2; 145,1f; 148,5.13, als Hilfe in Ps 54,3; 75,2.

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richt gebeugt ist, ermöglicht. Es ist der heilige Gott, der zur Reue bereit ist und zum heilenden Gott werden kann (vgl. Hos 11,9; Jes 57,14–21).“166 Das gilt ebenso für das Neue Testament, wo die Pointe des Vaternamens, mit dem die Gläubigen nun Gott anrufen, wie gezeigt darin besteht, dass der heilige Gott die versklavten Geschöpfe durch seinen (Heiligen) Geist ergreift und sie als seine Kinder adoptiert und zu seinen Erben macht. Für den Apostel beinhaltet das dann auch, dass Gott die Seinen durch seinen Geist heiligt (1Kor 6,11), ihnen also an seiner Heiligkeit Anteil gibt. Entsprechend kann Paulus den 1. Thessalonicherbrief mit dem Zuspruch beschließen: „Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch“ (1Thess 5,23). Paulus eröffnet sämtliche weitere Briefe mit der Anrede der Glaubenden als „Heilige“,167 einer Bezeichnung, die in biblischen und frühjüdischen Prätexten in der Regel noch für die Engel, als den Mitgliedern des zu Gott gehörenden himmlischen Hofstaats, reserviert war.168 Wenn Paulus diese Anrede in 1Kor 1,2 dann auch noch durch die Anrede „Geheiligte“ präzisiert, unterstreicht er dadurch explizit, dass Gott der Heilige als der Heiligende ist und dass somit die Pointe seiner Heiligkeit nicht in der Ab- und Ausgrenzung, sondern in der Einbeziehung besteht. Dabei bleibt die elementare Unterscheidung zwischen „dem Heiligen“ und „den Heiligen“ bestehen, insofern die Verbundenheit mit Gott und damit die Heiligkeit der Glaubenden allein auf Gottes fortdauernder Zuwendung beruht, der die versklavten Geschöpfe durch seinen Geist dazu ermächtigt, dass sie ihn nun als seine Kinder mit Jesu Worten als „Abba, Vater“ anrufen können. Noch ist das eine verborgene Teilhabe an Gottes Herrlichkeit, zu der das Mitleiden gehört (Röm 8,17), sodass die Glaubenden auch als Kinder Gottes noch mit der ganzen Schöpfung stöhnen und auf Erlösung hoffen (8,23). Insofern sondern sich die Gotteskinder nicht als ein heiliger Rest von der massa perditionis ab, sondern treten vielmehr als „Repräsentanten aller gequälten Kreatur“169 vor Gott. Wenn sie dabei in ihrer Schwachheit nicht wissen, wie sie recht beten sollen, nimmt ihr himmlischer Vater selbst durch seinen Geist sich ihrer Schwachheit an, sodass letztlich sein eigener Geist die Betenden vor ihm vertritt (8,26f ). ————— 166

FELDMEIER/SPIECKERMANN, Gott, 19. In 1Thess 3,13 spricht Paulus von den Heiligen, die Christus bei seiner Wiederkunft begleiten. Es scheint weniger wahrscheinlich, dass damit die Glaubenden gemeint sind (so etwa A. OEPKE in: Die kleineren Briefe des Apostels Paulus. Übersetzt und erklärt von H.W. Beyer/ P. Althaus/H. Rendtorff/G. Heinzelmann/A. Oepke, NTD 8, Göttingen 41949, 133), denn vielmehr die Engel (vgl. E. VON DOBSCHÜTZ, Die Thessalonicher-Briefe, KEK 10, Göttingen 71909 [Nachdruck 1974], 153). In jedem Fall findet sich die Anrede der Gemeindeglieder als „Heilige“ im Briefeingang erst nach dem 1. Thessalonicherbrief. 168 Das könnte auch noch die Bedeutung in 1Thess 3,13 sein. 169 KÄSEMANN, Römer, 233. 167

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Gottes Heiligkeit ist insofern auch entscheidend für das Verständnis der göttlichen Vaterschaft. Es geht dort nicht um Protologie und damit um Anthropologie, wie bei der in der paganen Religiosität weit verbreiteten Rede vom göttlichen Vater, die heute auch in Kirche und Theologie wieder fröhliche Urstände feiert,170 sondern um Eschatologie. Gottes Vaterschaft bestätigt nicht die Verwandtschaft aller Menschen mit dem Göttlichen, sondern sie verheißt den Glaubenden (und vielleicht nicht nur diesen) die Verwandlung in Gottes himmlische Herrlichkeit. Diese Hoffnung aber, die in den Bitten des Herrengebets dann in die verschiedenen Lebensbereiche hinein entfaltet wird, setzt voraus, dass Gottes Name geheiligt wird. Nur dort, wo die Anrede Gottes als „Vater“ nicht Chiffre für menschliche Göttlichkeit ist noch Projektionsfläche für infantile Regression, sondern Anerkennung der Unverfügbarkeit des ‚Herrgotts‘, den nicht die Betenden in ihren Händen haben, sondern der sie in seinen Händen hält, da kann sich mit der Anrufung ‚Gottvaters‘ dann auch die Hoffnung auf Erlösung verbinden, um die es in den folgenden Bitten geht. 5.3 Die Heiligkeit des Namens als Anspruch Heiligung als Aussonderung durch Gott und für Gott impliziert dann im Gegenzug auch die gehorsame Bindung an ihn und setzt damit immer ein entsprechendes Handeln der Geheiligten voraus, wie die Kontexte sowohl von Lev 20,8171 als auch von 1Thess 5,23172 unzweifelhaft deutlich machen. Das Wort Lev 19,2: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin Yhwh, euer Gott“, ist die Einleitung für eine lange Reihung von Gesetzen und war daher „probably considered by the Jews in antiquity as a kind of summary of the Torah“173. Die Gabe der Heiligkeit ist somit nicht zu trennen von der Aufgabe eines entsprechenden Verhaltens: „Gott ist es, der an seiner Heiligkeit Anteil gewährt, eine große Gabe, die die Empfänger unter die hohe Erwartung stellt, dem heiligen Gott durch Gehorsam gegen seinen Willen zu entsprechen.“174

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170 Sie zeigt sich in der beliebten Floskel „wir sind alle Gottes Kinder“, die dem biblischen Zeugnis klar widerspricht. 171 Vgl. Lev 19,2; 20,7, ferner 20,3. 172 Vgl. 1Thess 4,3f.7, ferner 5,1–22. 173 P.W. VAN DER HORST, Pseudo-Phocylides and the New Testament, ZNW 69 (1978) 187– 202: 191. 174 FELDMEIER/SPIECKERMANN, Gott, 20.

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Das gilt ohne Zweifel auch für das Herrengebet.175 Schon die Anrufung Gottes als Vater impliziert in den Evangelien, welche das Vater-Unser überliefern, die Verpflichtung, der Güte und Liebe dieses Vaters im eigenen Verhalten zu entsprechen (vgl. Lk 6,35f; Mt 5,44f.48) und so die Menschen zum Gotteslob zu führen (Mt 5,16). Das strahlt auch auf die nachfolgenden Bitten aus. Selbst wenn man mit guten Gründen den Imperativ Passiv am Beginn der Bitten (nicht zuletzt aufgrund der Possessivpronomina) als passivum divinum versteht, so lässt die grammatikalische Form des unpersönlichen Passivs doch bewusst eine Leerstelle, in der zwei handelnde Subjekte konvergieren. Konkret: Wie man nicht um das Kommen der Gottesherrschaft bitten und zugleich Gott als Herrn seines Lebens ablehnen kann, wie man nicht bitten kann, dass Gottes Wille geschehe, und dann diesen Willen missachten, so kann man auch nicht um die Heiligung des Namens bitten und diesen zugleich entheiligen. Bei alldem aber bleibt, das sei nochmals zum Abschluss betont, die erste Bitte eine Bitte um Gottes Eingreifen. Auch wenn bei der Heiligung des Namens die Aktivität Gottes und die der Beter ineinandergreifen, so bleibt das menschliche Tun doch Antwort, weil die Heiligkeit des Namens letztlich „nicht durch menschliches Bemühen“, sondern nur „durch Gottes Handeln bewirkt“ werden kann.176 So sehr daher die Heiligung des Namens immer auch eine Verpflichtung beinhaltet – als erstes bitten die, die als Nachfolgerinnen und Nachfolger des Sohnes nun ebenfalls Gott als ihren Vater anrufen darum, dass dessen Name „bei uns auch heilig werde“177, weil es nur so auch wirklich Gott ist, den sie anrufen. Wo dagegen in gedankenloser Zudringlichkeit die Ehrfurcht vor Gott verloren geht, wo die in der Bibel immer von heiliger Scheu begleitete Gottesliebe zu kumpelhaftem Duzen degeneriert,178 da verkommt das Gebet zu narzisstischer Selbstbezüglichkeit. Und damit verfehlt es Gott. Damit kann die Antwort auf die Frage nach dem Sinn dieser Bitte noch einmal präziser bestimmt werden: Schon bei der zweiten und ebenso bei der dritten Bitte in der Matthäusversion, bei den Bitten um das Kommen von Gottes Herrschaft und um die Durchsetzung seines Willens auf der Erde, —————

175 Vgl. Luthers Lied über das Herrengebet: „Geheiligt werd der Name dein, dein Wort bei uns hilf halten rein, daß auch wir leben heiliglich, nach deinem Namen würdiglich“ (Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Niedersachsen und für die Bremische Evangelische Kirche, Bremen/Göttingen 1994, Lied 344,2). 176 LOHSE, Vater, 44; ähnlich BOVON, Lukas, 126f. Das gilt auch dort, wo Menschen Gottes Namen heiligen, vgl. WOLTER, Lukasevangelium, 406: „Gott wird gebeten, seine Gottheit unter den Menschen zu erweisen, d.h. dafür zu sorgen, dass die Menschen ihn als Gott bekennen, und das heißt: ‚seinen Namen heiligen‘.“ 177 BSLK 512; vgl. auch PROCKSCH, ἅγιος, 113: „Sein Name ist seine Person, die an sich selbst heilig ist, in ihrer Heiligkeit aber offenbar werden soll“. 178 Vgl. OTTO, Heilige, 39 Anm. 2: „[Man] kann das Höchste nicht immer duzen“.

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wie er schon im Himmel geschieht, geht es immer auch um das von Gottes Wirken erhoffte Heil der Welt. Dagegen richtet sich die erste Bitte zunächst nur auf Gott selbst. Der als Vater Angerufene ist zuerst und vor allem um seiner selbst willen interessant. Insofern ist die erste Bitte Ausdruck dessen, was Jesus in Mk 12,29f als das höchste Gebot und damit als Sinn und Ziel des menschlichen Lebens bestimmt hat: Gott als den Herrn zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit ganzem Verstand und mit allen Kräften, und zwar ihn allein (Mk 12,32), weil er für die Glaubenden zum ‚ein und alles‘ geworden ist.

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„So sollt ihr beten …“ Das Vaterunser als Element der frühen Jesusüberlieferung 1 „Jesu Verkündigung ist im Vaterunser in knapper und konzentrierter Gestalt zusammengefasst.“1 Mit dieser Feststellung eröffnete Eduard Lohse in seinem 2009 erschienenen Buch über das Herrengebet den Abschnitt zu dessen „bleibende[r] Bedeutung“. Er griff damit eine These seines Lehrers Joachim Jeremias auf, der 1962 formuliert hatte: „In der Tat ist das VaterUnser die klarste und trotz ihrer Knappheit inhaltreichste Zusammenfassung der Verkündigung Jesu, die wir besitzen.“2 Beide Autoren haben diese Sichtweise eingehend begründet. Sie argumentierten dabei vor allem inhaltlich. So schrieb Lohse: „Wer das Gebet des Herrn Wort für Wort bedenkt, wird überall deutliche Bezugnahmen auf die Botschaft entdecken, die Jesus gebracht hat.“3 Jeremias stellte diesbezüglich den Aspekt „des neuen Lebens“ heraus, das durch die Zugehörigkeit zur „Königsherrschaft Gottes“ initiiert werde. Dessen „[w]ichtigstes Kennzeichen“ sei „das neue Verhältnis zu Gott“4 als „Vater“; die „Gabe der Kindschaft“ präge „das ganze Leben der Jünger Jesu“5. Daher breche „in der Königsherrschaft … auch ein neues Beten auf “, durch das „ihre Kräfte … in das Leben der Jünger hinein“ wirkten.6 Das Vaterunser sei demgemäß „nicht bloß als Vorbild für ein rechtes Beten gemeint, sondern … als Erkennungszeichen“7; es solle „die Jünger Jesu … als die Gemeinde der Heilszeit … zusammenschließen und kennzeichnen“8. —————

1 E. LOHSE, Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 2009, 93. Ähnlich DERS., Das Vaterunser im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Lucas-Preis 2007, Tübingen 2008, 57. 2 J. JEREMIAS, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, Stuttgart 31965, 16 = DERS., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 152–171: 161. Als „breviarium totius Evangelii“ hatte schon Tertullian (orat. 1,4 [CSEL 20,181]) das Vaterunser aufgefasst. 3 LOHSE, Vater, 93. 4 J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971 = Berlin 1973, 175. 5 JEREMIAS, Theologie, 177. 6 Vgl. JEREMIAS, Theologie, 180. 7 JEREMIAS, Theologie, 191. 8 JEREMIAS, Vater-Unser, 16 = Abba, 161.

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Diese Deutung fußt freilich auf Voraussetzungen, die sich inzwischen z. T. als unzutreffend erwiesen haben. So meinte Jeremias, für „die Anrede Gottes mit Abba“, dem aramäischen Ausdruck für Vater, fehle „in der gesamten jüdischen Gebetsliteratur … jede Analogie“; „daß Jesus es gewagt“ habe, Gott „mit diesem familiären Wort anzureden“, sei „etwas Neues und Unerhörtes“ gewesen.9 Demgemäß habe „die Übergabe des Vater-Unsers an die Jünger die Ermächtigung bedeutet[ ], ihm das Abba nachzusprechen. Er gab ihnen damit Anteil an seinem Gottesverhältnis.“10 Diese These entspricht nicht der heutigen Quellenkenntnis. Denn 1. wurde gezeigt, dass Abba in den aramäischen und hebräischen Texten des antiken und mittelalterlichen Judentums „keine andere qualitative Bedeutung hat als die normale Anrede und Bezeichnung ‚Vater‘ “11; 2. ist man in den Handschriften aus Qumran auf hebräische und in den Targumim auf aramäische Beispiele sowohl für die Bezeichnung als auch für die Anrede Gottes als „Vater“ im Kontext von Gebeten aufmerksam geworden;12 3. hat sich die pauschale Erklärung der entsprechenden Belege in Schriften des hellenistischen Judentums aus „griechischem Einfluss“13 nicht bewährt;14 und 4. wird ein Kausalzusammenhang zwischen den Gebeten Jesu zu Gott als Vater und dem Vaterunser in den Evangelien gerade nicht erkennbar15. —————

9 Vgl. J. JEREMIAS, Abba, in: DERS., Abba (s. Anm. 2), 15–67: 59 und 63; vgl. DERS., VaterUnser, 18f = Abba, 163, sowie DERS., Theologie, 70–73. 10 JEREMIAS, Abba, 65. Ebenso dann auch G. SCHNEIDER, Das Gebet des Herrn, ein „jüdisches“ Gebet?, in: DERS., Jesusüberlieferung und Christologie. Neutestamentliche Aufsätze 1970– 1990, NT.S 67, Leiden u.a. 1992, 39–51: 43: „Diese Gottesanrede ist nach den Evangelien zunächst Jesu ‚Privileg‘; durch Jesus wird sie seinen Jüngern vermittelt.“ 11 G. SCHELBERT, ABBA Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Midrasch- und Haggada-Werken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim Jeremias, NTOA 81, Fribourg/Göttingen 2011, 15. Ferner s. J. FREY, Das Vaterunser im Horizont antikjüdischen Betens unter besonderer Berücksichtigung der Textfunde vom Toten Meer, im vorliegenden Band S. 1–24: 12f. 12 Vgl. in Kürze M. PHILONENKO, Das Vaterunser. Vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger, UTB 2312, Tübingen 2002, 33–43, sowie die gründlichen Untersuchungen von L. DOERING, God as Father in Texts from Qumran, und R. HAYWARD, God as Father in the Pentateuchal Targumim, jeweils in: F. Albrecht/R. Feldmeier (Hg.), The Divine Father. Religious and Philosophical Concepts of Divine Parenthood in Antiquity, TBN 18, Leiden/Boston 2014, 107–135 bzw. 137–164. Ferner s. FREY, Vaterunser, 14f. 13 So JEREMIAS, Abba, 59, ähnlich 31. 14 So stellt etwa M. POPOVIĆ, God the Father in Flavius Josephus, in: Albrecht/Feldmeier (Hg.), Father (s. Anm. 12), 181–197: 196, nach eingehender Untersuchung der Belege selbst für diesen Autor fest: „In the aspects of God’s fatherhood that Josephus identifies we have seen how his portrayal was informed by ancestral traditions. Josephus’s references to God as father were not strongly influenced by Greek thought …“ 15 Vgl. F. WILK, „Vater …“. Zur Bedeutung der Anrede Gottes als Vater in den Gebeten der Jesusüberlieferung, in: Albrecht/Feldmeier (Hg.), Father (s. Anm. 12), 201–231 (mit einer Analyse

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Eduard Lohse äußerte sich deshalb vorsichtiger; er betonte neben den Verknüpfungen mit Jesu „Verkündigung und … Geschick“ die „Wort für Wort“ erkennbaren „Anklänge an die reichen Gebetsüberlieferungen Israels“16 und schrieb: In diesen Worten leitet Jesus seine Jünger zur Einübung in rechtes Beten an. Dabei gewinnen seine Worte ihre Leuchtkraft im Licht ihrer jüdischen Voraussetzungen, so dass die Lebenswelt Jesu und seiner Jünger deutlich hervortritt. Zugleich aber kommt Jesu Stimme kraftvoll zu Wort und zeichnen sich seine Worte in ihrer Einmaligkeit und ihrem besonderen Charakter aus.17

Ähnlich urteilte zuvor bereits Ulrich Luz: Das Unservater ist ein jesuanisches Gebet. Es ist geprägt vom Menschen und Gottesboten Jesus, und zwar sowohl dort, wo es allgemein jüdisch ist, als auch an den Stellen, wo es innerhalb des Judentums besondere Züge hat. Beides zusammen macht den besonderen Charakter des Unservaters aus.18

Im Sinne dieser Auffassung hat jüngst Klaus Haacker die Verkündigung Jesu insgesamt „vom Vaterunser aus entfaltet“19. Der jesuanische Charakter des Vaterunsers ist in der neueren Forschung allerdings nicht unumstritten. So stellte Ulrich Mell 1994 die Zugehörigkeit des Vaterunsers „zur authentischen Jesus-Tradition“ in Abrede;20 er sieht im ————— des Verhältnisses zwischen Mk 14,35f; Mt 11,25–27 / Lk 10,21f und Mt 6,9–13 / Lk 11,2–4 sowie des Zusammenhangs aller drei Textpassagen mit antik-jüdischen Gebeten und Gebetsnotizen [zusammengestellt a.a.O., 222–228]). Anders freilich E. RAU, Unser Vater im Himmel. Eine These zur Metaphorik der Rede von Gott als Vater in der Logienquelle, NT 53 (2011) 222–243: In der Logienquelle bilde Lk/Q 10,22 die Leitthese der „Rede über den Vater“ Lk/Q 10,21–24; 11,2–13 (226) und damit den „Schlüssel für den Zugang zu Jesu Rede vom Vater“ (227). Die vorausgesetzte Deutung, Jesus nehme in 10,22 „die alleinige Kenntnis des Vaters für sich in Anspruch“ (228), während „der Autor von Q bei der Offenbarung des Vaters durch den Sohn an die Übergabe eines Gebetes“ (230) denke, wird jedoch dem Textbefund nicht gerecht (s. dazu WILK, Vater, 211–216). 16 LOHSE, Vater, 94f; speziell zur Vater-Anrede vgl. 32–34. Insgesamt vgl. bereits J.J. WETTSTEIN, Novum Testamentum Graecum I, Amsterdam 1752 (Nachdruck Graz 1962), 323: „Tota haec oratio ex formulis Hebraeorum concinnata est.“ 17 LOHSE, Vater, 95f. 18 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband: Mt 1–7, EKK I/1, Zürich u.a. 52002, 456. 19 K. HAACKER, Was Jesus lehrte. Die Verkündigung Jesu – vom Vaterunser aus entfaltet, Neukirchen-Vluyn 2010. Vgl. bereits H. SCHÜRMANN, Das Gebet des Herrn als Schlüssel zum Verstehen Jesu, Freiburg u.a. 41981. 20 Vgl. U. MELL, Gehört das Vater-Unser zur authentischen Jesus-Tradition? (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4), BThZ 11 (1994) 148–180. Nach Mell „zeigt Jesu Verkündigung am Gottesbild des Vaters kein markantes Interesse“ (167), fehlt in ihr ein „Zusammenhang von Namensheiligung und Gottesherrschaft“ (169), widerspricht die „Bitte … um Gottes zukünftige Königsherrschaft“ der Botschaft Jesu, dass „die Gottesherrschaft schon in die Gegenwart vorgedrungen ist“ (174), sind die Wir-Bitten mit ihrem Flehen um „barmherzige Verschonung“, ihrer Qualifikation des „Gottesverhältnis[ses] nach Analogie einer Geschäftsbeziehung von Gläubiger und Schuldner“ (178) und ihrem „Appell“ an „Gottes … Bundestreue“ der Jesus-Überlieferung „fremd“ (179).

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„Vatergebet“ das alle „Religionsparteien übergreifende Minimalgebet der palästinischen Synagoge“21. Auch Karlheinz Müller diagnostizierte 2003 eine große „Distanz“ dieses Gebetes „zum Nazarener“;22 Müller identifizierte es als „ein jüdisches Privatgebet“23, das sich am besten auf Johannes den Täufer zurückführen lasse24. Die dabei vorgebrachten Sachargumente sind zwar keineswegs schlagend,25 aber durchaus bedenkenswert; es lohnt sich daher, die Debatte fortzuführen. Ich möchte dazu im Folgenden einen oft vernachlässigten Gesichtspunkt bedenken und der Frage nachgehen, wem eigentlich das Vaterunser zugedacht war und mit welcher Intention es diesen Adressaten übermittelt wurde.

2 In der Forschung wird das Vaterunser meist als Gebet der Jünger angesehen. Diesbezüglich stehen die eingangs zitierten Voten von Eduard Lohse und Joachim Jeremias für einen weitgehenden Konsens.26 Ihm widerspricht allerdings Ulrich Luz; das Herrengebet spiegele „gerade nicht die besondere Situation des Jüngerkreises“, sondern sei „offen formuliert“, sodass sich „[i]n seinen Formulierungen … viele Menschen wiederfinden“ können.27 Zwar relativiert Luz diese Wertung insofern, als er besagtes Gebet als „Zentraltext“28 der Bergpredigt und diese dann insgesamt als „Jüngerethik“ interpretiert. Doch dabei gehe es nicht um „eine Jüngerethik im engeren Sinn“; als „Rede von der Gerechtigkeit des Himmelreichs“ gelte sie vielmehr „auch für das zuhörende Volk (sc. Israel)“.29 Demgemäß —————

21 Vgl. MELL, Gehört, 180, weiter U. MELL, Das Vater-Unser als Gebet der Synagoge – eine Antwort an Klaus Haacker, ThBeitr 28 (1997) 283–290. 22 Vgl. K. MÜLLER, Das Vater-Unser als jüdisches Gebet, in: A. Gerhards u.a. (Hg.), Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum, Studien zu Judentum und Christentum, Paderborn u.a. 2003, 159–204: 174. 23 MÜLLER, Vater-Unser, 183. 24 Vgl. MÜLLER, Vater-Unser, 182f: „Dessen [sc. des Täufers] akute, aber nach wie vor rein futurische Naherwartung passt perfekt zu den beiden Du-Bitten. So wie die Brotbitte mit seiner – aus solcher Naherwartung resultierenden – asketischen Lebenseinstellung zusammenstimmt. Und so wie die letzten Wir-Bitten um Schulderlass und um Verschonung vor Versuchung ein Reflex der geschärften Sündenbewusstheit des Täufers sein können.“ 25 Vgl. etwa die Ausführungen von K. HAACKER, Stammt das Vater-unser also doch von Jesus – Eine Antwort an Ulrich Mell, ThBeitr 28 (1997) 291–295; DERS., Jesus, 257–263. 26 Vgl. z.B. U. LUCK, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK NT 1, Zürich 1993, 86: „Eingeführt wird das Vater-unser [sc. in Mt 6,9a] mit einer ausdrücklichen Weisung: So sollt ihr beten. Damit wird es betont als Gebet der Jünger, der Gemeinde, bezeichnet.“ 27 Vgl. LUZ, Evangelium, I 456, vgl. 452. 28 LUZ, Evangelium, I 255. 29 Vgl. LUZ, Evangelium, I 266 und 260.

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sei das Vaterunser „nicht Erkennungszeichen des Jüngerkreises, sondern Ausdruck der Gnade, die dem Jüngerkreis vorangeht“30. In der Tat ist der frühchristliche Überlieferungsbefund nicht eindeutig. Die Sammlung von Herrenworten, die aus Matthäus und Lukas zu erschließen ist, belegt zwar die Nutzung des Vaterunsers durch die Jünger; ob es nur von ihnen gebetet werden sollte, lässt sich aber nicht mehr erkennen.31 Erst in Lk 11 wird es als „gruppenspezifisches Gebet … für die Jesusjünger“ präsentiert; es eint und kennzeichnet sie als Gruppe ebenso, wie es die Gebetslehre des Täufers bei dessen Anhängern tut.32 Dabei wird im Kontext des lukanischen Doppelwerks deutlich, dass Lukas das Vaterunser als Gemeinschaftsgebet versteht.33 In Mt 6 jedoch erscheint es als Teil der Bergpredigt, die sich über die bereits berufenen Jünger hinaus an eine große Menge von Juden richtet – an all diejenigen, die sich durch das Auftreten Jesu als Prediger des Himmelreichs und Heiler jeder Krankheit veranlasst sahen, ihm zu folgen (4,23–5,2, vgl. 7,28–8,1)34. In diesem Rahmen erhält das Vaterunser den Charakter eines gut jüdischen Mustergebets, mit dem sich der Einzelne von heuchlerischen und „heidnischen“ Einflüssen auf seine private Gebetspraxis freihält (6,5–8)35. Der private Charakter des Gebets und damit auch der Verwendung36 des Vaterunsers wird durch Mt 6,6 unmissverständlich angezeigt.37 In die gleiche Richtung

————— 30

LUZ, Evangelium, I 457. Die in der 2. Person Pl. formulierte Einleitung (Mt 6,9a / Lk 11,2b) erlaubt keine eindeutigen Rückschlüsse. 32 Vgl. M. WOLTER, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 404; ferner DERS., Das Gebet der Jünger. Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 11,2c–4), im vorliegenden Band S. 125–142: 139f. Ähnlich SCHNEIDER, Gebet, 40: „Die Jünger gehen [sc. bei ihrer in Lk 11,1 geäußerten Bitte] … davon aus, daß … der Inhalt des Gebets der Jesus-Jüngerschaft zu entsprechen habe, so wie das Beten der Johannes-Jünger der Botschaft des Täufers entsprach.“ 33 Vgl. etwa Lk 11,13 (dazu s.u. S. 93f ) mit Apg 4,24–31, ferner den an alle Jünger gemeinsam gerichteten Aufruf zum Gebet in Lk 22,39f.46 sowie die kollektive Deutung des Gleichnisses von der bittenden Witwe im Rahmen von Lk 18,1–8 (dazu s.u. S. 97). 34 Zu der aus dem Rahmen zu erschließenden Ausrichtung der Bergpredigt auf Menschen aus dem Volk Israel vgl. G. LOHFINK, Wem gilt die Bergpredigt? Zur Glaubwürdigkeit des Christlichen, Freiburg u.a. 1993, 34 – gegen W. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK 1, Leipzig 1998, 76–78, der für Mt 5,1 viele Deutungsmöglichkeiten gegeben sieht. Diese Ausrichtung zeigt auch der Satz 5,16 an, der „so etwas wie das Thema der Bergpredigt“ ist (vgl. C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: DERS., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. von D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27– 50: 38), als solcher freilich weniger „die raison d’être der Jünger“ gegenüber den „Nichtchristen“ (ebd.) als vielmehr den Auftrag der Jesus folgenden Volksmenge in der nichtjüdischen Völkerwelt zur Sprache bringt (vgl. F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin/New York 2002, 115f.148f ); s. dazu u. Anm. 66. 35 Dazu s.u. S. 99f. 36 Nach G. BORNKAMM, Das Vaterunser, in: DERS., Studien zum Matthäus-Evangelium, hg. von W. Zager, WMANT 125, Neukirchen-Vluyn 2009, 215–241: 217, „zeigen Form, Inhalt und 31

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weist die Einbettung der Weisungen bezüglich des Betens (6,5–15) in den Zusammenhang 6,1–18, der das Gebet der Adressaten mit ihren Almosen (6,2–4) und ihrer Fastenpraxis (6,16–18) verknüpft, die ebenfalls verborgen bleiben sollen, und dabei alle drei Vollzüge dem „unscheinbaren“ Tun der „Gerechtigkeit“ (6,1) zuordnet. Dem steht die Anrede „unser Vater“ in 6,9b keineswegs entgegen.38 Natürlich gliedern sich die Beter mit ihr in die Gemeinschaft derer ein, die, der Gebetsweisung Jesu folgend, Gott als ihren gemeinsamen Vater (vgl. 5,16 u.ö.) anrufen;39 ein gemeinschaftlicher Vollzug ist dadurch aber ebenso wenig angezeigt wie durch den Gebrauch des „wir“ in 6,11–13.40

Wieder ein anderes Bild bietet die Didache, eine Art frühchristlicher „Kirchenordnung“41. Hier erhält das Vaterunser im Zusammenhang mit Taufe und Eucharistie (Did 7; 9f.) die Bedeutung eines Identitätsmerkmals, das all diejenigen von den „Heuchlern“ abgrenzt, die als Getaufte zum „Herrn“ gehören und seinen Geboten folgen (8,2, vgl. 9,5); als solches soll man es, jüdischer Sitte entsprechend,42 dreimal täglich beten (8,3).43 Dieser uneinheitliche Befund nötigt dazu zu erheben, welche Angaben zum Thema Beten die frühe Jesustradition enthält. Hierfür sind die Erzählwie die Wortüberlieferung in den synoptischen Evangelien auszuwerten;44 es gilt also zu fragen: Wer wird als betend dargestellt? Was erfahren wir über Anlässe und Inhalte von Gebeten? Welche Aussagen Jesu über das Gebet sind bezeugt? Erst vor diesem Hintergrund lässt sich erkennen, wessen Perspektive auf die Lebenswirklichkeit das Vaterunser widerspiegelt. ————— Überlieferung des Textes, dass es [sc. das Vaterunser] auf Wiederholung angelegt und also zum Gebrauch bestimmt ist“. 37 Vgl. dazu Mt 26,41, wo die Antithese „Fleisch/Geist“ (ähnlich wie in Gal 5,17) auf die Konstitution des Menschen und damit auf Individuen verweist. Ferner s.u. Anm. 106. 38 So aber – wie viele andere – P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006, 165: „Die vorliegende Fassung ist höchst wahrscheinlich die in der Gemeinde gebetete. Der Charakter des Gemeindegebets wird vom ‚unser‘ in der Anrede erwiesen.“ 39 Nach K.-H. OSTMEYER, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, WUNT 197, Tübingen 2006, 240, geht es um einen „individuellen, zugleich aber integrativen Akt“. 40 Vgl. dazu etwa auch die „wir“-Aussagen in Mt 8,17; 17,19; 19,27. Gemeinschaftliches Beten erwähnt Matthäus nur in 18,19f; dazu s.u. Anm. 75. 41 Vgl. P. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin/New York 1975, 725f. 42 Vgl. K. WENGST, Didache (Apostellehre). Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Schrift an Diognet. Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert, Schriften des Urchristentums II, Darmstadt 1984 (Nachdruck 2004), 79 Anm. 69. 43 J. WEHNERT, Ein Gebet für alle christlichen Gemeinden. Zum Vaterunser in der Didache, im vorliegenden Band S. 143–162, erschließt aus der Anlage von Did 7–10 (sowie aus der Nähe zu anderen frühchristlichen Zeugnissen), dass das Vaterunser nicht nur den Tagesrhythmus der Adressaten bestimmen (S. 160f ), sondern auch, ja, vor allem im Zuge des Taufrituals und der Eucharistiefeier der Gemeinden gesprochen werden sollte (S. 154–160). 44 Auf relevante Belege aus dem Johannes-Evangelium wird dabei jeweils in den Anmerkungen verwiesen.

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3 Von der Gebetspraxis Jesu ist in der Erzählüberlieferung öfter die Rede. Schon Markus erwähnt zweimal, dass Jesus sich in die Einsamkeit zum Beten zurückzieht (Mk 1,35; 6,46). Während Matthäus nur eine dieser Notizen übernimmt (Mt 14,23), hat Lukas sie vermehrt – und dabei dreimal die Jünger zu Augenzeugen des Betens Jesu gemacht45. Zudem berichten alle Evangelien von Tischgebeten Jesu: bei den Speisungswundern46 und beim Abschiedsmahl mit den Jüngern47; Letzteres greift Lukas in der Ostererzählung von den Emmausjüngern noch einmal auf (Lk 24,30).48 Hinzu kommen Hinweise auf ein Beten Jesu in besonderen Situationen: Alle Synoptiker erzählen, wie Jesus kurz vor seiner Verhaftung, in Gethsemane, zu Gott fleht49 und dann am Kreuz Gott mit einem Psalmwort anruft50. Lukas verortet darüber hinaus die Geistbegabung, die Berufung der Zwölf und die Verklärung Jesu im Kontext von Gebeten Jesu (Lk 3,21f; 6,12; 9,29).51 Schließlich sprechen Markus und Lukas auf je eigene Weise davon, dass Jesus Fürbitte gehalten habe52 – für einen Taubstummen, den er heilen (Mk 7,34),53 für den vom Satan bedrohten Simon Petrus (Lk 22,31f )54 und für diejenigen, die Jesus ans Kreuz schlugen (23,34)55. —————

45 Vgl. Lk 9,18.28; 11,1 im Gefolge von 5,16. In dieser Darstellung spiegelt sich der Umstand, dass Lukas zufolge „das Gebet Jesu Vorbild für das der Jünger“ ist (vgl. dazu W. RADL, Das Lukas-Evangelium, EdF 261, Darmstadt 1988, 119f ). 46 Vgl. Mk 6,41 / Mt 14,19 / Lk 9,16 / Joh 6,11 und Mk 8,6b–7 / Mt 15,36. 47 Vgl. Mk 14,22f / Mt 26,26f / Lk 22,19f (samt 22,17). 48 In all diesen Fällen agiert Jesus wie ein Gastgeber; anders z.B. Mk 2,15–17 oder Lk 7,36–50. 49 Vgl. Mk 14,32–42 / Mt 26,36–46 / Lk 22,39–46, ferner (konzentriert sowie anders situiert und akzentuiert) Joh 12,27f. 50 Vgl. Mk 15,34 / Mt 27,46 (jeweils Ps 21[22],2a) sowie Lk 23,46 (Ps 30[31],6a). 51 Demnach lässt Lukas Jesus gerade „an entscheidenden Wendepunkten des Ev[angelium]s“ beten (vgl. H. BALZ, Art. προσεύχομαι, EWNT III, Stuttgart u.a. 21992, 396–409: 407, der auch den Beleg in Lk 9,18 [„vor dem Petrusbekenntnis“] dazuzählt). 52 Nach Mt 19,13–15 beantwortet Jesus das Anliegen, er möge für Kinder beten, die man zu ihm brachte, mit der Zusage ihrer „Zugehörigkeit zur βασιλεία τῶν οὐρανῶν“; er spricht ihnen also zu, „was sich den Betenden im προσεύχεσθαι erschließt“ (OSTMEYER, Kommunikation, 248). – Zum Motiv der Fürbitte vgl. R. FELDMEIER, „Geheiligt werde dein Name“. Das Herrengebet im Kontext der paganen Gebetsliteratur, im vorliegenden Band S. 25–81: 55. 53 Vgl. F. WILK, „Gut hat er alles gemacht!“ Zur Exegese von Mk 7,31–37, in: H.-H. Auel (Hg.), Jesus der Messias. Gottesdienste zur Messiasfrage, Dienst am Wort 134, Göttingen 2011, 151–162: 157, zum sachlichen Zusammenhang des Blicks zum Himmel, des Seufzens (nach Erlösung, vgl. Röm 8,23.26) und der Weisung „Lass dich ganz öffnen“ in Mk 7,34. In Joh 11,41– 43 erfolgt der wunderwirkende Ruf Jesu ebenfalls „aus dem Gebet“ heraus; hier hat es aber, anders als von Maria in 11,22 erwartet, die Form des Dankes, der Jesu „Einheit mit dem Vater“ anzeigt und primär dazu dient, „alle Umstehenden … zum Glauben an ihn als den Gesandten des Vaters“ zu führen (vgl. U. WILCKENS, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 22000, 180). 54 Die Fürbitte Jesu für seine Jünger spielt dann im Johannes-Evangelium eine große Rolle; vgl. den Ausblick auf die Fürbitte des Erhöhten in Joh 14,16f, deren Einschränkung in 16,26f und

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In der Wortüberlieferung findet sich darüber hinaus ein Gebet, in dem Jesus das eigentümliche Offenbarungshandeln Gottes in Israel zum Anlass für einen Lobpreis Gottes nimmt (Mt 11,25–27 / Lk 10,21f )56. Obwohl Matthäus und Lukas dieses – wohl der Logienquelle entnommene57 – Gebet Jesu in je anderen Erzählzusammenhängen verorten, beziehen es beide auf das gespaltene Echo, das seine oder in seinem Namen vollbrachte Wundertaten bei seinen Zeitgenossen ausgelöst haben.58 Untersucht man diesen Textbestand redaktionskritisch und überlieferungsgeschichtlich, so zeigt sich, dass die Darstellung der Gebetspraxis Jesu im Laufe der Überlieferung ausgeweitet worden ist – in begrenztem Maße schon von Markus, vor allem aber von Lukas. Gleichwohl ist die Erinnerung an Jesu Beten bereits in den ältesten Traditionen verankert, und zwar in vormarkinischen Textstücken ebenso wie in der Logienquelle. Dabei ist von Tischgebeten, die jüdischer Sitte entsprechen,59 ebenso die Rede wie von einem Beten in der Einsamkeit60 – und von höchst individuellen Gebeten angesichts besonderer Herausforderungen,61 Gebeten, mit denen Jesus sich gleichsam in den geheimnisvollen Heilswillen Gottes hineinbetet. Weit zuversichtlicher urteilt Joachim Jeremias: „Es gab – so dürfen wir mit höchster Wahrscheinlichkeit schließen – keinen Tag in Jesu Leben ohne die drei Gebetszeiten: ohne das Morgengebet bei Sonnenaufgang, ohne das Nachmittagsgebet zur Zeit der Opferdarbringung im Tempel, ohne das Nachtgebet vor dem Einschlafen.“62

————— das die Abschiedsreden beschließende Gebet Joh 17, in dem Jesus die Bitte um seine Verherrlichung (17,1–5) entfaltet durch die Verknüpfung von Rückblicken auf sein Wirken an denen, die ihm der Vater gegeben hat, mit Fürbitten um ihre künftige Bewahrung (17,6–26). 55 Zur lukanischen Herkunft des Verses vgl. RADL, Lukas-Evangelium, 12f. 56 Trotz unterschiedlicher formaler Prägungen (WIEFEL, Evangelium, 221, u.v.a. kennzeichnen Mt 11,27 / Lk 10,22 als „Offenbarungswort“) gehören die Verse in ihrer überlieferten Gestalt als „Lobpreis“ (U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband: Mt 8–17, EKK I/2, Zürich u.a. 4 2007, 214) bzw. „Danksagung“ (F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband: Lk 9,51– 14,35, EKK III/2, Zürich u.a. 1996, 68) zusammen. 57 Man beachte die weitgehende Kongruenz im Wortlaut und die in beiden Evangelien gegebene Nähe zu den Missionsanweisungen an die Jünger (Mt 9,37f; 10,7–16.40 / Lk 10,2–12.16) sowie den Weherufen über Chorazin, Bethsaida und Kafarnaum (Mt 11,21–24 / Lk 10,13–15). 58 Vgl. einerseits die Weherufe Jesu Mt 11,20–24 (im Rahmen des Rückblicks auf sein Wirken in Galiläa [11,2–30]), andererseits seine Reaktion auf den Bericht der [zweiund]siebzig Jünger über ihre Tätigkeit in den Städten Israels (Lk 11,17–20). Ferner s.o. Anm. 15. 59 In den betreffenden Erzählungen (s. Anm. 46.47) besteht kein Anlass, die Notizen zu Jesu Dankgebeten und Segenssprüchen für spätere Zutaten zu halten. 60 Während sich Mk 1,35 im Konnex mit 1,36–39 markinischer Redaktionsarbeit verdanken könnte (vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband: Mk 1–8,26, EKK II/1, Zürich u.a. 51998, 88), hat 6,46 – anders als 6,45 – deutlich traditionellen Charakter (vgl. R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 101995, 231). 61 Zumindest Mk 14,35 (vgl. E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 5 1978, 169) und Mt 11,25f / Lk 10,21 (vgl. LUZ, Evangelium, II 199f ) gehören alter Tradition an. 62 J. JEREMIAS, Das tägliche Gebet im Leben Jesu und in der ältesten Kirche, in: DERS., Abba (s. Anm. 2), 67–80: 75.

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Diese These ist jedoch durch die von ihm angeführten Stellen in den synoptischen Evangelien63 nicht hinreichend gedeckt.

4 Vom Beten anderer Personen handeln die synoptischen Evangelien meist nur beiläufig. Neben einigen polemischen Äußerungen Jesu64 wird gelegentlich berichtet, dass sein Heilungswirken dessen Augenzeugen zum Gotteslob anstiftet;65 beim Einzug in Jerusalem stimmen es seine Begleiter (Mk 11,9f / Mt 21,9) bzw. Jünger (Lk 19,37f ) an66. Lukas schreibt solches Gotteslob mehrfach auch den Geheilten zu;67 zudem weitet er dieses Motiv auf Anfang und Ende des Lebens Jesu aus, um in der Vorgeschichte seines Evangeliums drei Loblieder auf Gottes Handeln in Jesus sogar wörtlich anzuführen68. Darüber hinaus stellt Lukas diverse jüdische Gruppen und Personen als fromme Beter dar;69 nach Jesu Himmelfahrt erscheinen dann auch die Jünger als solche, die im Tempel Gott loben (24,53). Abgesehen von den beiden typisch lukanischen Hinweisen auf ein durch Jesus veranlasstes Gotteslob der Jünger wird aber von ihrem Beten nirgends erzählt. Dieser Befund ist angesichts der relativ häufigen Hinweise auf das Beten Jesu durchaus erstaunlich.70 Eine strukturierte Sichtung seiner Gebetsanweisungen ist jedoch geeignet, die Sachlage verständlich zu machen. ————— 63

JEREMIAS, Gebet, 74, verweist für das Morgengebet auf Mk 1,35 (dazu s.o. Anm. 60), für das Nachtgebet auf Mk 6,46 (hier hängt Jesu Rückzug zum Gebet narrativ eng mit der anschließenden Epiphanie [6,48–50] zusammen), für das Nachmittagsgebet auf Lk 18,10 und Mt 6,5 (wo Jesus jeweils über andere spricht [s. dazu u. S. 98–100], ohne eine konkrete Zeit zu nennen); ferner sieht er in Lk 10,26f und Mk 12,29f „das tägliche Rezitieren des Glaubensbekenntnisses [sc. des Schema] als selbstverständlich geübte Sitte vorausgesetzt“ (ebd.) und schließt von den Entsprechungen in der Gottesprädikation zwischen Mk 12,26 („Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs“) sowie Mt 11,25 („Herr des Himmels und der Erde“) und der ersten Benediktion der Tephilla allzu schnell darauf, dass diese für Jesus „geläufiges Gebet war“ (a.a.O., 75). 64 Dazu s.u. Abschnitt 7. 65 Vgl. Mk 2,12 / Mt 9,8 / Lk 5,26 und Mt 15,31; 21,14–16; Lk 7,16 (zur Verankerung solcher Akklamationen in der Textsorte „Demonstratio“ vgl. K. BERGER, Formen und Gattungen im Neuen Testament, UTB 2532, Tübingen/Basel 2005, 291). 66 Nach Mt 5,16 (s.o. Anm. 34) sollen auch die „guten Werke“ der Adressaten der Bergpredigt Menschen zum Gotteslob führen. 67 Vgl. Lk 5,25; 13,13; 17,15; 18,43. 68 Vgl. Lk 2,20; 23,47 sowie 1,46–55.67–79; 2,28–32. 69 Im Einzelnen sind das die im Tempel versammelte Volksmenge (Lk 1,10), Zacharias (1,13), die Prophetin Hanna (2,37) sowie die Anhänger des Täufers (5,33; 11,1) und der Pharisäer (5,33). 70 JEREMIAS, Gebet, geht darauf leider nicht ein (für das Beten der Jünger verweist er lediglich auf Lk 11,1 [dazu s.o. nach Anm. 31]) und springt von „Jesu Beten“ (a.a.O., 73–78) sogleich zu dem der „Urgemeinde“ (78–80).

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5 Zunächst sind drei verstreute Mahnungen zu beachten, die das Gebet als Element einer der Botschaft Jesu entsprechenden Lebenspraxis erweisen: a) In der Bergpredigt bzw. der Feldrede Jesu heißt es: 44

… „Liebet eure Feinde

und betet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. … 48 Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ (Mt 5,44b–45.48)

27 … „Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, 28 segnet, die euch verfluchen, betet für die, die euch schmähen. … 35 Liebet eure Feinde …, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist freundlich zu den Undankbaren und Bösen.

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Werdet barmherzig, wie [auch] euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,27b–28.35f ).

Gerade in der Fürbitte für diejenigen Menschen, die sie verbal oder auch körperlich attackieren, verwirklichen die Hörer Jesu demnach die Feindesliebe71 – und werden so zu Söhnen ihres Vaters im Himmel bzw. des Höchsten, dessen, der ihnen, indem er auch den Bösen Güte erweist, selbst zum Maßstab ihres Handelns geworden ist. b) Der Auftakt zur Sendungsrede Jesu stellt das Wirken seiner Mitarbeiter im Bild der Ernte dar; auf diese Weise kennzeichnet er es zugleich als endzeitliches Heilsereignis und als dringliche Aufgabe72. Allen Handlungsanweisungen aber geht die Aufforderung zum Gebet voraus: „Die Ernte ist groß, doch die Arbeiter sind wenige; bittet also den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte hinausschicke!“ (Mt 9,37b–38 / Lk 10,2b–d)

Jesus legt dabei seinen Jüngern freilich eine Bitte ans Herz, die dem Wortsinn nach eigentlich den Adressaten der Mission obliegt, und stärkt so die Verbundenheit zwischen beiden Gruppen.73 —————

71 Man beachte, dass die Fürbitte bei Matthäus als einzige, bei Lukas betont als letzte Konkretion der Liebe genannt wird. Dass sie „Erfahrungen von Gegnerschaft und Gewalt“ aufgreift, „wie sie besonders die Wanderradikalen der vor- und nachösterlichen Jesusbewegung gemacht haben“ (U. VON ARX, Fürbittendes Gebet im Neuen Testament, in: H. Klein u.a. [Hg.], Das Gebet im Neuen Testament, WUNT 249, Tübingen 2009, 25–75: 56), lässt sich am Text nicht belegen. 72 Vgl. dazu A. SAND, Art. θερίζω, EWNT II, Stuttgart u.a. 21992, 357–361: 360. 73 Auch die Begründung der Ausrüstungsregel Mt 10,10b / Lk 10,7b: „Denn der Arbeiter ist seine Speise / seinen Lohn wert“, ist aus der Perspektive jener Adressaten formuliert. Zu diesem Konnex vgl. WOLTER, Lukasevangelium, 378.380; er vermutet, darin könnte „ein eigener überlieferungsgeschichtlicher Zusammenhang erkennbar“ (380) werden.

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c) Sodann enthält die Endzeitrede Jesu nach Markus einen Aufruf, angesichts endzeitlicher Drangsal um gute Fluchtbedingungen zu beten – und so auch in größter Not auf Gottes Hilfe zu hoffen: „Betet aber, dass es nicht im Winter geschehe.“ (Mk 13,18)74

Diese drei Mahnungen machen bereits deutlich, welche Aspekte des Gebets in der Jesusüberlieferung besonders wichtig sind: die vertrauensvollgehorsame Bindung an Gott als Vater, die Ausrichtung auf die Vollendung der Gottesherrschaft und deren Verknüpfung mit der zwischenmenschlichen Versöhnung. So aber zielen die Worte Jesu über den Kreis seiner Jünger hinaus auf alle Hörer seiner Verkündigung.75

6 Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den längeren Weisungen zum Thema. 6.1 In Mt 7 und Lk 11 findet sich folgende Ermutigung zum Gebet: „Bittet, und euch wird gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und euch wird geöffnet werden! Denn jeder, der bittet, der empfängt; und wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet werden. 9 11 Oder wer unter euch ist (solch) ein Welchen Vater aber unter euch Mensch: Sein Sohn wird ihn um Brot bitten – wird er ihm etwa einen Stein geben? 10 Oder er wird um einen Fisch bitten – wird der Sohn um einen Fisch bitten, wird er ihm etwa und er wird ihm statt eines Fisches eine Schlange geben? eine Schlange geben? 12 Oder er wird um ein Ei bitten – wird er ihm einen Skorpion geben?

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In Mt 24,20 und Lk 21,36 wurde die Mahnung auf je eigene Weise redaktionell bearbeitet. Das ist erst in zwei weiteren Weisungen anders, die eindeutig nachösterliche Gemeindeverhältnisse voraussetzen. In Mt 18,19f geht es um innergemeindliche Fürbitte: „Wenn zwei unter euch einig werden über irgendeine Sache, die sie erbitten, wird es ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel; denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, dort bin ich mitten unter ihnen.“ Diese Zusage steht ja im Kontext von Mahnungen zur Fürsorge für schuldig gewordene Brüder (Mt 18,10–35); vgl. dazu N. WALTER, Zum Kirchenverständnis des Matthäus, in: DERS., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. von W. Kraus/F. Wilk, WUNT 98, Tübingen 1997, 118–143: 126. – Mk 9,29 wiederum empfiehlt – für eine Situation der Abwesenheit Jesu – den Jüngern das Gebet als einziges Mittel zur Austreibung bestimmter Dämonen. 75

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Wenn also ihr, obwohl ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben versteht, um wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes der Vater vom Himmel Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten?“ geben denen, die ihn bitten?“ (Mt 7,7–11) (Lk 11,9b–13)

Der Wortgebrauch in den ersten Sätzen lässt erkennen, welchem Gebet hier Erfüllung zugesagt wird: dem um die Gottesherrschaft.76 Sie ist es ja, die man Jesus zufolge „suchen“ soll (Mt 13,45; 6,33 / Lk 12,31), deren Tür „geöffnet“ werden muss (Mt 25,11; Lk 13,24f ) und deren Güter77 man zu „empfangen“ (Mk 10,30 / Mt 19,29 / Lk 18,30) hofft. Dieses vertrauensvolle78 Gebet um die Gottesherrschaft aber wird sich, wie Jesus betont, an Gott als Vater richten79 und ist daher – wie auch die allgemein gehaltene, die Lebenssituation der Nachfolger nur bedingt treffende80 Erläuterung Mt 7,9–11 / Lk 11,11–13 belegt – keineswegs auf den Jüngerkreis beschränkt. 6.2 Markus beschließt die Komposition Mk 11,12–2581 mit einer Unterweisung, in der Jesus seinen Jüngern die Grundlagen des Gebetes erläutert: 22 … „Habt Glauben an Gott! 23Amen, ich sage euch: Wer zu diesem Berg sagt: ‚Erhebe dich und wirf dich ins Meer!‘, und in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, dass geschieht, was er spricht, dem wird es zuteilwerden. 24Deshalb sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt, dass ihr es empfangt, und es wird euch zuteilwerden. 25Und wenn ihr betend dasteht, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemanden habt, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Übertretungen vergebe.“ (Mk 11,22b–25)82

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Vgl. JEREMIAS, Theologie, 186. Vgl. die Rede vom „Guten“ (ἀγαθά) in Mt 7,11 mit Jes 52,7LXX, wo der Bote, der mit den Worten „Als König wird dein Gott herrschen“ Israels Erlösung ankündigt, vorgestellt wird als einer, „der frohe Botschaft von Gutem“ bringt. – Mit dem Verweis auf den Heiligen Geist in Lk 11,13 (s. dazu auch o. Anm. 33) kommt demgegenüber ein spezifisches Anliegen lukanischer Theologie zur Geltung; vgl. H. GUNKEL, Der Heilige Geist bei Lukas. Theologisches Profil, Grund und Intention der lukanischen Pneumatologie, WUNT II/389, Tübingen 2015, 131. 78 Vgl. dazu FIEDLER, Matthäusevangelium, 187f. 79 Hier besteht also eine große Nähe zum Auftakt des Vaterunsers (Mt 6,9b.10a / Lk 11,2c.e): Das „Vater-Sein Gottes“ trägt „die Erhörungsgewißheit des Betens“ (LUCK, Evangelium, 100). 80 Vgl. insbesondere Mt 7,11a / Lk 7,13a mit Mk 10,29 / Mt 19,29 / Lk 18,29. 81 Sie ist auf die Ablösung des Jerusalemer Tempels durch das – auf der Grundlage des Todes Jesu von Gott zu errichtende – eschatologische „Gebetshaus für alle Völker“ (Mk 11,17) ausgerichtet; vgl. 12,9–11; 14,58; 15,29 und zum Ganzen WILK, Jesus, 43–50. 82 In Mt 21,21f ist der Aussagezusammenhang von Mk 11,22b–24 in etwas anderer Gestalt bezeugt: „… wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, werdet ihr nicht nur das am Feigenbaum tun, 77

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Demnach besteht zum einen (nach Mk 11,22b–24) die Basis wirkmächtigen Betens im Glauben, der Gottes unbegrenzten Möglichkeiten vertraut (vgl. 9,23) – wie umgekehrt solcher Glaube „seinen Ausdruck im Gebet“ findet83, durch das Gottes Machtfülle den Menschen zugute wirksam wird. Zum andern setzt (nach 11,25) das Gebet als Hinwendung zum gnädigen Gott voraus, dass man selbst Vergebung übt gegenüber anderen, die an einem schuldig geworden sind; denn die Güte des „Vaters im Himmel“ können Beter nur im versöhnten Miteinander mit anderen erfahren, die ihrerseits Kinder dieses Vaters sind.84 Worauf aber gründet seinerseits der hier angesprochene „Glaube an Gott“ (11,22)? Dem markinischen Glaubensverständnis zufolge ist diesbezüglich an Begegnungen mit Jesus als Retter aus Not zu denken, die den Jüngern, aber auch und gerade anderen Hilfesuchenden widerfuhren.85 In dieselbe Richtung weisen die synoptischen Parallelen zum Spruch vom Berge versetzenden Glauben in Mt 17 und Lk 17: 19 Da traten die Jünger gesondert zu Jesus und sagten: „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?“ 20Er aber sagt ihnen: „Wegen eures Kleinglaubens! Denn Amen, ich sage euch: wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, werdet ihr zu diesem Berg sagen: ‚Geh fort von hier nach dort!‘, und er wird fortgehen; und nichts wird euch unmöglich sein.“ (Mt 17,19f )

Und es sagten die Apostel zum Herrn: „Gib uns Glauben hinzu!“ Es sagte aber der Herr:

„Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu[ diese]m Maulbeerbaum sagen: ‚Reiß dich samt der Wurzel aus und verpflanze dich ins Meer!‘, und er würde euch gehorchen.“ (Lk 17,6)

Gewiss stehen die im Wortlaut divergierenden Parallelen jeweils in Sinnzusammenhängen, die auf unterschiedliche Weise das Dasein der Jünger ————— sondern wenn ihr zu diesem Berg sagt: ‚Erhebe dich und wirf dich ins Meer!‘, wird es geschehen. Und alles, worum ihr glaubend bittet im Gebet, werdet ihr empfangen.“ 83 Vgl. C.-H. HUNZINGER, Art. σίναπι, ThWNT VII, Stuttgart o.J., 286–290: 289. Um das „von einer Gemeinschaft gesprochen[e]“ Bittgebet (so J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: Mk 8,27–16,20, EKK II/2, Zürich u.a. 51999, 135) geht es, wie die auf die einzelnen Beter verweisenden Aussagen in Mk 11,23.25 zeigen, gerade nicht. 84 Dieser auch in Mt 6,14f betonte Konnex von Gebet und Vergebungspraxis entspricht dem Sinngefüge der Vergebungsbitte in 6,12 / Lk 11,4a–b; er hat überdies eine Analogie in dem Wort über die Opfergabe in Mt 5,23f und ein Gegenstück im Gleichnis 18,23–35, das Vergebungsbereitschaft angesichts erfahrener Vergebung anmahnt. Vgl. dazu H. KLEIN, Das Vaterunser. Seine Geschichte und sein Verständnis bei Jesus und im frühen Christentum, in: Ders. u.a. (Hg.), Gebet (s. Anm. 71), 77–114: 91f.94; P. VON DER OSTEN-SACKEN, Das Vaterunser als Zugang zum Matthäusevangelium. Das Beispiel der Vergebungsbitte, im vorliegenden Band S. 103–124: 106–111. 85 Vgl. dazu die Rede vom „Glauben“ in Mk 2,5; 4,40; 5,34; 10,52, ferner 5,36; 9,24.

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betreffen: Geht es im Gefolge von Mt 17,14–18 um ihre Vollmacht zur Dämonenaustreibung, so im Anschluss an Lk 17,1–4 um die Kraft, angesichts von Fehlverhalten im Jüngerkreis Gott treu und den Brüdern gegenüber vergebungsbereit zu bleiben. Diese Zusammenhänge sind freilich erkennbar redaktioneller Herkunft.86 Und ganz unabhängig davon zeigt das Bild vom „Senfkorn“ hier wie dort an, was dem geforderten Glauben vorausliegt: die Erfahrung der Gottesherrschaft, die Jesus ihrerseits mit dem Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30–32 / Mt 13,31f / Lk 13,18f ) zur Sprache bringt87 und mit seinem Wirken vielen Menschen in Israel, nicht nur, ja, nicht einmal zuerst den Jüngern erschließt. 6.3 Dazu passen zwei nur bei Lukas überlieferte Gleichnisse. An sich ermuntern sie die Hörer mit Schlüssen a minore ad maius zu großer Zuversicht. Dazu vermittelt das Gleichnis vom bittenden Freund die Botschaft, dass das Gebet zu Gott von unbedingtem Vertrauen, erhört zu werden, getragen sein und deshalb hemmungslos vorgetragen werden darf: 5

Und er sagte zu ihnen: „Wer von euch hätte einen Freund und ginge zu ihm mitten in der Nacht und würde ihm sagen: ‚Freund, leihe mir drei Brote, 6da ein Freund von mir unterwegs zu mir gekommen ist und ich nichts habe, was ich ihm vorsetzen kann‘ – 7und jener würde von drinnen antworten: ‚Mach mir keine Mühe! Die Tür ist schon verschlossen, und meine Kinder sind mit mir zu Bett (gegangen); ich kann nicht aufstehen und dir (etwas) geben‘? 8Ich sage euch: Wenn er nicht schon deshalb aufstehen und ihm (etwas) geben wird, weil er sein Freund ist,88 so wird er doch wegen seiner Unverschämtheit89 aufstehen und ihm geben, so viel er braucht.“ (Lk 11,5–8)

————— 86

Das zeigt sich in Mt 17,19f am Überschuss im Verhältnis zu Mk 9,28f sowie am typisch matthäischen Tadel des „Kleinglaubens“ (vgl. 6,30; 8,26; 14,31; 16,8), in Lk 17,5f an der Ausrichtung des Wortes Jesu auf „die Apostel“ (vgl. 6,13; 9,10; 11,49; 22,14; 24,10; Apg 1,2 u.ö.). 87 Vgl. F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 3. Teilband: Lk 15,1–19,27, EKK III/3, Zürich u.a. 2001, 140. Das Bildwort Mt 17,20d / Lk 17,6b verweist also nicht auf einen „kleinen“ Glauben, der sich mehren ließe, sondern auf den Glauben, der als solcher ebenso unscheinbar, aber wirkmächtig ist wie das Senfkorn (und den Jüngern gerade fehlt). 88 Die Konstruktion des Satzes Lk 11,8 macht es wahrscheinlich, dass auch in diesem Teilsatz der Angesprochene als Subjekt fungiert und das Possessivpronomen auf den Bittsteller verweist; es wird also (wie schon in 11,5) Ersterer als Freund des Letzteren identifiziert. 89 Die „Unverschämtheit“ des Bittstellers (nach H.C. WAETJEN, The Subversion of „World“ by the Parable of the Friend at Midnight, JBL 120 [2001], 703–721: 715, handelt er „outside the boundaries of honor and shame“) liegt darin, dass er – im Vertrauen auf die Freundschaft, die ihn mit dem Angesprochenen verbindet – jede konventionelle Rücksichtnahme aufgibt, um seinen Pflichten als Gastgeber nachkommen zu können; vgl. HAACKER, Jesus 165f (der damit philosophisch begründete „Hemmungen oder Vorbehalte gegenüber dem Bittgebet“ entkräftet sieht).

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Demgegenüber zeigt das Gleichnis von der protestierenden Witwe, dass die beharrlichen Beter der Erhörung gewiss sein können: 1

Er erzählte ihnen aber ein Gleichnis bezüglich der Notwendigkeit, dass sie allezeit beten und (darin) nicht müde werden, 2und sagte: „Ein Richter in einer Stadt hatte weder Ehrfurcht vor Gott noch Achtung vor Menschen. 3Es war aber eine Witwe in jener Stadt, und sie kam (immer wieder) zu ihm und sagte: ‚Verschaffe mir Recht gegenüber meinem Widersacher!‘ 4Und er wollte eine Zeitlang nicht; danach aber sagte er zu sich: ‚Wenn ich auch keine Ehrfurcht vor Gott und keine Achtung vor Menschen habe, so werde ich doch, weil diese Witwe mir Mühe macht, ihr Recht verschaffen, damit sie mich mit (ihrem dauernden) Kommen nicht völlig in meinem Ansehen schändet90.‘ “ 6Es sagte aber der Herr: „Hört, was der Richter der Ungerechtigkeit sagt! 7Gott aber sollte nicht das Recht seiner Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm rufen, heraufführen, und hält er sich ihnen gegenüber bedeckt91? 8Ich sage euch: Er wird ihr Recht heraufführen in Kürze. Indessen – wird denn der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben finden auf Erden?“ (Lk 18,1–8)

Die Bildwelt der Texte aber deutet an, worum es bei solchem Gebet geht: Gott soll den Betern bereitstellen, was sie im Verhältnis zu ihren Mitmenschen benötigen, seien es die Mittel zur Gastfreundschaft oder der Schutz vor Unrecht. Ihre Hoffnung auf Erhörung wurzelt dabei in der Gewissheit, dass Gott seinen „Auserwählten“ (18,7) freundlich zugetan (11,5.8) ist. Und damit weisen beide Gleichnisse weit über den Jüngerkreis – dem Lukas sie im jeweiligen Kontext zugeordnet hat92 – hinaus auf das Gottesvolk, dem die Sendung Jesu gilt. So steht bei all diesen Weisungen derselbe Zusammenhang im Blickpunkt wie bei den kürzeren Mahnungen: Indem die Beter sich in Vertrauen und Gehorsam an Gott als Vater wenden, richten sie sich voller Zuversicht auf die Gottesherrschaft aus und gestalten ihr Zusammenleben im Zeichen von Gastfreundschaft, Versöhnung und Recht. Zu solchem Gebet ruft Jesus nicht nur seine Jünger,93 sondern alle Hörer seiner Verkündigung auf. ————— 90

Zur Übersetzung von Lk 18,5fin. vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Bearbeitet von F. REHKOPF, Göttingen 151979, § 207 Anm. 7, sowie K. WEISS, Art. ὑπωπιάζω, in: ThWNT VIII, Stuttgart u.a. 1969, 588–590: 588,24–589,2. 91 Vgl. zur Übersetzung M. ROGLAND, μακροθυμεῖν in Ben Sira 35:19 and Luke 18:7. A Lexicographical Note, NT 51 (2009) 296–301. Die maßgebliche Parallele in Sir 32[35],21–23a [Rahlfs: 35,17–20] lautet: „Das Gebet eines Demütigen durchdringt die Wolken, und bis er/es sich (Gott) nähert, wird er gewiss nicht getröstet; und er lässt gewiss nicht ab, bis der Höchste (ihn) heimsucht; und der wird den Gerechten zum Recht verhelfen (δικαίοις κρινεῖ) und Recht schaffen (ποιήσει κρίσιν). Und der Herr wird gewiss nicht säumen noch sich bedeckt halten ihnen gegenüber (μακροθυμήσῃ ἐπʼ αὐτοῖς), bis er die Lende der Unbarmherzigen zerschlagen hat, und den Völkern wird er (mit) Rache vergelten (ἀνταποδώσει ἐκδίκησιν) …“ 92 Vgl. die Verknüpfung mit Lk 11,1–4 bzw. mit 17,22–37; ferner s.o. Anm. 33. 93 Die lukanische Tendenz, Gebetsanweisungen Jesu auf die Jünger auszurichten, findet ihre Parallele im Johannes-Evangelium; vgl. Joh 14,13f; 15,7.16; 16,23–26.

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7 Dieser grundsätzlichen Ausrichtung der Gebetsanweisungen Jesu auf das Gottesvolk entspricht es, dass er wiederholt bestimmte Verfehlungen beim Beten öffentlich anprangert. 7.1 Innerhalb einer im Tempel vorgetragenen Warnung aller Anwesenden (Mk 12,38–40 / Lk 20,46f ) stilisiert Jesus „die Schriftgelehrten“ u.a. dadurch als negative Vorbilder, dass er sie in scharfer Polemik als Leute kennzeichnet, „die die Häuser der Witwen fressen und zum Schein lange beten“, und ihnen daraufhin „ein umso härteres Urteil“ im Gericht ankündigt94. 7.2 Auch das Gleichnis von den beiden Betern am Tempel – das sich, ausweislich der Einleitung Lk 18,9, selbst Lukas zufolge nicht nur an Jünger richtet95 – enthält jedenfalls implizit Polemik: 9

Er sagte aber auch zu einigen, die auf sich selbst vertrauten, dass sie gerecht seien, und die Übrigen verachteten: 10„Zwei Menschen gingen hinauf zum Heiligtum, um zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner. 11Der Pharisäer, als er sich hingestellt hatte, betete im Hinblick auf sich selbst96 dies: ‚Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die Übrigen der Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner; 12ich faste zweimal die Woche, verzehnte alles, was ich erwerbe.‘ Der Zöllner aber, fernab stehend, wollte nicht einmal die Augen zum Himmel aufheben, sondern schlug an seine Brust, indem er sagte: ‚Gott, sei mir gnädig, dem Sünder!‘ 14Ich sage euch, dieser ging gerechtfertigt in sein Haus hinab im Gegenüber zu jenem. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Lk 18,9–14)

Kritisiert wird hier freilich nicht die pharisäische Frömmigkeit oder Gebetspraxis als solche. Problematisch wirkt das in Rednerpose gesproche—————

94 Vgl. Mk 12,40 / Lk 20,47. In dem textkritisch sekundären Vers Mt 23,14 richtet sich der Vorwurf gegen die als „Heuchler“ gescholtenen Schriftgelehrten und Pharisäer. 95 Vgl. dazu die Aufnahme der pluralischen Partizipien aus Lk 18,9 durch das Verb der 3. Person Pl. am Beginn von 18,15: „Sie brachten aber auch die Kinder zu ihm, damit er sie berühre; als (das) aber die Jünger sahen, fuhren sie sie an.“ 96 Zu dieser Übersetzung vgl. J. FITZMYER, The Gospel According to Luke (X–XXIV). Introduction, Translation, and Notes, AncB 28A, New York u.a. 1985, 1186.

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ne97 Dankgebet jenes Pharisäers vielmehr als Ausdruck einer Haltung, die das an sich durchaus angemessene Vertrauen auf die eigene Treue zu Gottes Geboten98 fatalerweise mit der Verachtung der übrigen Menschen verbindet (18,9) und so die eigene „Gerechtigkeit“ allen anderen gegenüber absolut setzt. Auch der Zöllner erscheint mit seiner biblischen Vorgaben folgenden99 Bitte um Gnade ja nicht einfach als Leitbild rechten Betens,100 sondern als Beispiel für das Rechtfertigungshandeln Gottes, das „die Maßstäbe einer theologisch normierten Welt aus den Angeln“ hebt101 und den alleinigen Anspruch auf Gerechtigkeit vor Gott, den der Pharisäer für sich erhebt, destruiert (18,14b). Vor solcher „Selbsterhöhung“, die im Gericht zunichtewerden wird (18,14c), warnt Jesus seine Hörer, um ihnen abschließend nahezulegen, die eigene Stellung innerhalb des Gottesvolkes besser als niedrig einzuschätzen (18,14d, vgl. 14,7–11). Diese Einschätzung wird sich dann auch und gerade in ihrem Beten widerspiegeln.102 7.3 Weitere Warnungen enthält die Gebetsparänese in der Bergpredigt des Matthäus-Evangeliums: 5

„Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die es lieben, in den Synagogen und an den Ecken der Straßen stehend zu beten, um sich den Menschen zu zeigen. Amen, ich sage euch, sie haben ihren Lohn (schon) empfangen. 6Du aber, wenn du betest, gehe in deine Kammer und bete, nachdem du deine Tür verschlossen hast, zu deinem Vater, der im Verborgenen (ist); und dein Vater, der im Verborgenen schaut, wird (es) dir vergelten. 7Beim Beten aber plappert nicht wie die,

————— 97

Zu σταθείς in Lk 18,11a vgl. 19,8; Apg 2,14 u.ö. Vgl. dazu etwa Spr 14,32: „Mit seiner Schlechtigkeit wird der Gottlose ausgestoßen werden, wer aber auf seine eigene Frömmigkeit vertraut, ist gerecht.“ Es gilt in diesem Zusammenhang zu beachten, dass regelmäßiges Fasten (Lk 18,12a) nach 2,37f; 5,33–35 der Buße und der Hoffnung auf Erlösung Ausdruck verleiht, während eine penible Zehntpraxis (18,12b) die Treue zum Tempel demonstriert, an dem Juden auch und gerade Gottes Vergebung erfahren. Von „einer satten selbstzufriedenen Seele“ (J. WEISS, Evangelium des Lukas, in: B. WEISS / J. WEISS, Die Evangelien des Markus und Lukas, KEK I/2, Göttingen 81892, 270–666: 564) kann also keine Rede sein. 99 Vgl. zu Lk 18,13c–d vor allem Ps 24[25],11: „Um deines Namens willen, Herr, wirst du auch gnädig sein gegenüber meiner Sünde; denn sie ist groß.“ 100 Der Zöllner taugt kaum als Identifikationsfigur für die Adressaten des Gleichnisses; und mit seinem Schuldbekenntnis hat er sich auch nicht im Sinne von Lk 18,14d „selbst erniedrigt“ (vgl. BULTMANN, Geschichte, 193). 101 Vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, UTB 1343, Göttingen 1985, 87. 102 Zum Ganzen vgl. F. WILK, (Selbst-)Erhöhung und (Selbst-)Erniedrigung in Lk 18,9–14, BN 155 (2012) 113–129, zur Übersetzung von 18,14b vgl. a.a.O., 122f. 98

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die ‚heidnisch‘ (leben)103; denn sie meinen, mit ihrem Redeschwall erhört zu werden. 8Macht euch ihnen also nicht gleich; denn euer Vater weiß, was ihr nötig habt, bevor ihr ihn bittet.“ (Mt 6,5–8)

Die doppelte Polemik gegen das öffentlich zur Schau gestellte Beten derer, die „auf die eigene Stellung unter den Menschen, statt auf ihre Stellung vor Gott bedacht sind“104 (6,5), und gegen das wortreiche Beten derer, die sich von „heidnischen“ Mustern prägen lassen105 (6,7), zielt weniger auf eine jüngerspezifische106 als vielmehr auf eine gut jüdische Gebetspraxis, die sich ganz am Wesen Gottes als Vater orientiert (6,6.8).107 In allen drei Textpassagen hält Jesus also anhand von Negativbeispielen, wie er sie zumal unter den Schriftgelehrten und den Pharisäern entdeckt, seine Hörer dazu an, sich mit der Gestaltung und der inhaltlichen Füllung eigener Gebete nicht etwa über ihre Mitmenschen zu erheben, sondern einzig und allein auf ihren Gott auszurichten.

8 Die expliziten und impliziten Gebetsanweisungen der Jesusüberlieferung weisen eine große inhaltliche Geschlossenheit auf. Gottes Vatersein, die Gottesherrschaft und die Wirklichkeit der Vergebung sind die Grundgedanken, die alle angeführten Texte zusammenhalten; und das Gebet erscheint als derjenige Vollzug, in welchem die Beziehung zu Gott als Vater, die Teilhabe an der Gottesherrschaft und der Eintritt in das Kraftfeld der Vergebung samt der sich daraus ergebenden Prägung der eigenen Lebenspraxis Ereignis werden. Solches Gebet empfiehlt Jesus allen, die ihm zuhören. Es fungiert insofern durchaus als Erkennungszeichen derer, ————— 103

Der Ausdruck οἱ ἐθνικοί weist (hier wie in Mt 5,46f; 18,17, wo er jeweils neben dem Begriff „die Zöllner“ steht) wohl weniger auf „die Heiden“ hin (so 6,32 u.ö.: τὰ ἔθνη) als vielmehr auf von „heidnischer“ Praxis geprägte Juden; vgl. dazu die Wendung ἐθνικῶς ζῆν in Gal 2,14. 104 U. WILCKENS, Art. ὑποκρίνομαι κτλ., in: ThWNT VIII, Stuttgart u.a. 1969, 558–571: 567. 105 Vgl. dazu G. SCHNEIDER, Das Vaterunser des Matthäus, in: DERS., Jesusüberlieferung (s. Anm. 10), 52–85: 75 (der die Abgrenzung freilich direkt auf „die Heiden“ bezieht). 106 Die Lebenssituation der Nachfolger Jesu, die ihr Zuhause verlassen haben, trifft die Mahnung in Mt 6,6 ohnehin kaum. Ferner s.o. bei Anm. 37. 107 Anders V. STOLLE, Das Gebet der Gemeinde Jesu Christi nach dem Neuen Testament, KuD 37 (1991) 307–331, der Mt 6,5–8 als Indiz dafür wertet, dass sich „[d]as Christentum … als selbständige Größe neben Juden- und Heidentum“ formiere (325). Damit aber ist das im MatthäusEvangelium entfaltete Selbstverständnis des Verfassers (und seiner Adressaten), der „in seiner Position … gerade keine Abwendung vom Glauben Israels gesehen“ hat (vgl. M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 19), nicht getroffen.

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die Jesus folgen.108 Doch als solches dient es ursprünglich nicht der Abgrenzung des Jüngerkreises, sondern der Orientierung des Gottesvolkes, das Jesus zu sammeln sucht. All seine Glieder sind aufgerufen, sich angesichts der Gottesherrschaft, die Jesus mit seinem Wirken vergegenwärtigt, Gott als ihrem Vater und einander als Geschwister zuzuwenden.109 Dabei richtet sich der Blick Jesu allerdings auch über die Grenzen Israels hinaus; denn für die Zukunft erwartet er den Zustrom der Weltvölker in die Gottesherrschaft (vgl. Mt 8,11 / Lk 13,29 und das Bildwort Mk 4,32c / Mt 13,32c / Lk 13,19d) und im Zusammenhang damit die Aufrichtung des von Jesaja verheißenen „Gebetshauses für alle Völker“ (Mk 11,17, vgl. Jes 56,7)110.

Die vertrauensvolle Hinwendung zu Gott aber geschieht den Weisungen Jesu zufolge nicht öffentlich, sondern privat, nicht gemeinschaftlich, sondern individuell. Das ändert sich erst nach Ostern im Zuge der Formierung einer als solcher erkennbaren, eigene Gottesdienste feiernden Gruppe von Jesusanhängern – und natürlich erst recht durch die spätere Ausbildung einer eigenständigen christlichen Religionsgemeinschaft, deren Anfänge insbesondere das lukanische Doppelwerk bezeugt111. So gesehen passen die Weisungen zum Thema „Gebet“ in der Wortüberlieferung sehr gut mit dem Befund der Erzählüberlieferung zusammen. Weil es jedem Hörer Jesu selbst oblag, diesen Weisungen in seiner eigenen Frömmigkeitspraxis zu entsprechen, konnte man von einem typischen oder gemeinschaftlich vollzogenen Jüngergebet nicht erzählen – und musste man zugleich das Beten Jesu in seiner Vorbildfunktion zur Geltung bringen. Dies geschieht beispielhaft in der Erzählung aus Gethsemane; denn sie schildert nicht nur den Gebetskampf Jesu, sondern verknüpft damit seine Mahnung an die Jünger: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung (hinein)kommt!“ (Mk 14,38a–b / Mt 26,41a–b, vgl. Lk 22,40b.46c–d)112. —————

108 Ähnlich, doch mit anderem Akzent STOLLE, Gebet, 310f: „Den Betern steht die Güte Gottes als des Vaters offen. … in dieser Hinsicht ist jede Einschränkung ausgeschlossen. Jedoch ist dieser Glaube an den himmlischen Vater, den das Gebet voraussetzt, gerade bei Jesus selbst gegeben und durch seinen Aufruf den Hörern nahegelegt. Daraus ergibt sich, daß die Gewißheit der Vatergüte Gottes … an eine je spezifische Struktur des Verhältnisses des Beters zu Gott gebunden ist. Wenn auch jedem solches Beten offensteht, konstituiert sich in solchem Beten doch zugleich die Jüngergemeinde Jesu.“ FREY, Vaterunser, 7, spricht dementsprechend vom „Privatgebet einer Gruppe“. 109 Vgl. dazu das Wort Mk 3,35: „Wer immer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter“, mit dem Jesus alle Täter des Willens Gottes zu seiner (neuen) Familie erklärt und dabei offenbar mit Bedacht die Vaterrolle Gott vorbehält. 110 Dass die markinische Deutung von Jes 56 (s.o. Anm. 81) jedenfalls in etwa die Perspektive Jesu selbst trifft, ist deshalb wahrscheinlich, weil alle Synoptiker, wenn auch je auf eigene Weise, die verschiedenen Zeugnisse zu seiner Haltung zum Tempel im Sinne einer Öffnung Israels auf die Völker hin interpretieren; vgl. WILK, Jesus, 266–268. 111 Vgl. die Rede von den „Christianern“ in Apg 11,26; 26,28 und dazu 1Petr 4,16. 112 Auch hier (s.o. Anm. 79 und 84) liegt eine enge, oft notierte Parallele zum Vaterunser (Mt 6,13a / Lk 11,4c) vor; vgl. z.B. JEREMIAS, Theologie, 234.

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Damit aber ist nun auf der Ebene der frühen Jesusüberlieferung ein Sachzusammenhang beschrieben, in den sich das Vaterunser gut eingliedern lässt. Es erweist sich als Gebet, mit dem die Hörer Jesu je für sich seinen Weisungen und seinem Vorbild folgen können: Sie rufen Gott als ihren Vater an, richten sich auf die Gottesherrschaft aus, beten sich gleichsam in seinen Willen hinein,113 bekunden ihr Vertrauen auf seine Fürsorge,114 betreten das Kraftfeld der Vergebung, das dann auch ihre eigene Lebensgestaltung bestimmt, und erflehen Gottes „schützende Hand“, damit sie den Mächten des Bösen nicht erliegen115. So dient es der Orientierung des Gottesvolkes, das Jesus zu sammeln unternimmt – und weist voraus auf das endzeitliche Gebetshaus, in dem sich alle Weltvölker mit Israel zum Gotteslob versammeln sollen. In diesem Sinne sollen alle, die Jesu Verkündigung hören, das Vaterunser beten. Und wie der Gebrauch des Präsens in der Einleitungswendung116 anzeigt, sollen sie es regelmäßig tun.117

————— 113

Dabei geht es, wie etwa das Nebeneinander von Mt 7,21 und 26,42 erkennen lässt, zugleich um die Erfüllung der Gebote und um die Verwirklichung des Heilsplans Gottes; vgl. G. LOHFINK, Das Vaterunser neu ausgelegt, Stuttgart 2012, 72–86. 114 Die Bitte um „das Brot für morgen“ (zur Übersetzung vgl. LUZ, Evangelium, I 449–451), meint nicht „das erst morgen zu essende Brot“, sondern eine solche Menge an Brot, die, abends bei der Hauptmahlzeit verzehrt, „für den folgenden Tag hinsichtlich seiner Nährkraft reicht“ (H. GESE, Bemerkungen zum Vaterunser unter dem Gesichtspunkt alttestamentlicher Gebetsformen, in: C. Landmesser u.a. [Hg.], Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums. FS Otfried Hofius, BZNW 86, Berlin/New York 1997, 405–437: 420f ). So verstanden harmoniert die Bitte sehr gut mit der Warnung, sich nicht um den morgigen Tag zu sorgen (Mt 6,34) – denn „das Sorgen um Nahrung und Kleidung“ als „ein Sorgen, das ihn [sc. den Menschen] die einzig heilswichtige Sorge [sc. um das Reich Gottes] nicht wahrnehmen läßt“ (SCHNEIDER, Gebet, 48) wird gerade im Gebet an Gott abgegeben. Die Bitte lässt sich dann durchaus auf die Lebenssituation der Wanderboten Jesu anwenden, die nach Lk 10,4.7f von der Gastfreundschaft anderer leben, ist aber keineswegs auf sie beschränkt (vgl. BORNKAMM, Vaterunser, 231). 115 Vgl. LOHSE, Vater, 82. 116 Vgl. Mt 6,9a: οὕτως οὖν προσεύχεσθε ὑμεῖς, bzw. Lk 11,2b: ὅταν προσεύχησθε λέγετε. 117 Für Rat und Hilfe danke ich Janine Müller.

Peter von der Osten-Sacken

Das Vaterunser als Zugang zum Matthäusevangelium Das Beispiel der Vergebungsbitte 1 Anlässlich eines Besuches des Jerusalemer Religionswissenschaftlers David Flusser im Hause Lohse vor bald 50 Jahren war dort eine kleine Runde von Göttinger Neutestamentlern versammelt, und irgendwann kam die Sprache auf Judas Ischariot und die beiden Berichte über sein schmähliches Ende im Matthäusevangelium einerseits, in der Apostelgeschichte andererseits – dort, im Evangelium, der Suizid des reuigen Verräters durch Erhängen (Mt 27,5), hier, zu Beginn der Apostelgeschichte, die Strafnotiz, er sei „vornüber gestürzt und mitten entzwei geborsten, sodass alle seine Eingeweide hervorquollen“ (Apg 1,18). Flusser, durch eine Reihe von Arbeiten zum Neuen Testament ausgewiesen, bündelte seine Erkenntnisse in der Feststellung, wenn er die beiden derart voneinander abweichenden Berichte abwäge, dann komme er zu dem Schluss, dass keiner von beiden zutreffe; vielmehr habe Judas vermutlich irgendwo in der Nähe Jerusalems von aller Unbill verschont ruhig weitergelebt. Noch hatte Flusser kaum Gelegenheit, den erzielten Überraschungseffekt wenigstens für einen Moment auszukosten, meldete sich auch schon Hans Conzelmann mit dem ihm je und dann eigenen verschmitzten Lächeln zu Wort und ergänzte: „Wenn er überhaupt gelebt hat!“ Von beiden neuen Versionen gleichermaßen verblüfft, kann ich mich nicht mehr erinnern, wie die Diskussion damals ausgegangen ist. Aber ich denke, wir können gewiss sein, dass Eduard Lohse mit seinem den Text eher bewahrenden als aufbrechenden Zugang zum Neuen Testament weder der einen noch der anderen Version beigepflichtet hat, vielmehr bei der Fassung des Matthäusevangeliums geblieben ist. So möchte auch ich es als Schüler und Mitarbeiter von einst halten, wenn ich die geschichtlich wirksam gewordene Erzählung vom Ende des Judas unangetastet lasse und am Schluss neu aufnehme, motiviert durch den Reichtum dessen, was im Evangelium nach Matthäus, zentriert im Vaterunser als Teil der Bergpredigt Kap. 5–7, zum Thema der Schuld- oder Sündenvergebung aufbewahrt ist.

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2 Das Vaterunser in der von Matthäus dargebotenen Gestalt (Mt 6,9–13) ist Teil der Bergpredigt. Es ist dort vom Evangelisten ebenso gezielt wie leicht erkennbar in einen ihm vorgegebenen, didaktisch durchgefeilten Zusammenhang eingefügt worden.1 Dieser behandelt nacheinander drei Grundfragen der Gemeinde, die Mammon, Mund und Magen betreffen: Wie soll man Wohltätigkeit üben, wie beten und wie fasten? Mit dem Spenden ist das Verhältnis zum Nächsten ins Auge gefasst, mit dem Beten das Verhältnis zu Gott und mit dem Fasten das Verhältnis zu ihm und zu sich, dem Betenden, selbst.2 Die Anweisungen zum rechten Vollzug lauten in einem sich wiederholenden Satzgefüge jeweils gleich: Handle nicht, damit du gesehen wirst, sondern im Verborgenen, und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird’s dir vergelten (6,2–4.5f.16–18). Eingeleitet wird dieser katechetische Zusammenhang in Kap. 6 durch die Aufforderung: „Gebt acht auf eure Gerechtigkeit …!“ (6,1). Damit schlägt der Evangelist begrifflich den Bogen zurück zu der programmatischen Ankündigung Jesu in 5,20: „Wenn eure Gerechtigkeit“ – bei Matthäus das rechte Verhalten vor dem Schöpfer – „nicht die der Schriftgelehrten und Pharisäer übertrifft, werdet ihr nicht in das Reich Gottes eingehen.“ Durch die mit dem Leitwort „Gerechtigkeit“ gegebene Verbindung rückt damit die gesamte katechetische Reihe unter das Vorzeichen des programmatischen Satzes in 5,20. Das umschriebene Handeln im Verborgenen ist damit Teil jenes Rechtverhaltens, dem nach Jesus die Verheißung der Teilhabe am Gottesreich gilt. Unter dieses bestimmende Vorzeichen rückt damit auch das, was Jesus bei Matthäus über das rechte Beten und so auch über das Gebet des Vaterunsers sagt.

3 Gott als Vater weiß bereits vor allem Bitten der Jünger, wessen sie bedürfen (Mt 6,7f ). So begründet Jesus die Kürze des dann von ihm gelehrten Gebetes. Die Bezeichnung Gottes als „euer Vater“ wird von ihm in der nachfolgenden Gebetsanrede „Unser Vater im Himmel“ aufgenommen. Wie diese im Judentum geläufige längere Anrede – statt nur „Vater“ wie in der Paral—————

1 Zum Aufbau des Zusammenhangs s. H.-D. BETZ, Eine judenchristliche Kult-Didache in Matthäus 6,1–18. Überlegungen und Fragen im Blick auf das Problem des historischen Jesus, in: DERS., Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985, 49–61; zum Aufbau der Bergpredigt insgesamt C. BURCHARD, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie. FS Hans Conzelmann, Tübingen 1975, 409–432. 2 Im Vaterunser ist in einem Fall, der hier behandelten Vergebungsbitte, auch das Verhältnis zum Nächsten in den Blick genommen. Siehe hierzu unten Abschnitt 4.

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lelfassung Lk 11,2–4 – dürften auch die dritte und die siebte Bitte, die in der Version des Lukasevangeliums fehlen, auf den Evangelisten bzw. auf die von ihm übernommene Gemeindetradition zurückgehen.3 Der alle Bitten begründende lobende Schluss („Denn dein ist das Reich …“) hingegen ist der ältesten Textüberlieferung des Matthäusevangeliums ebenso wie dem Lukasevangelium noch unbekannt.4 Das Vaterunser ist damit auch bei Matthäus ein reines Bitt-, kein Lob- und/oder Dankgebet. Die Bitten umfassen zwei Teile. Nach den ersten drei Bitten sollen die Jünger darum beten, Gott möge seinen Namen, seine Herrschaft und seinen Willen wie in der himmlischen Welt, so auch auf Erden durchsetzen.5 Die nachfolgenden vier Bitten zielen darauf, er möge die Jünger mit den physischen und geistlichen Grundnahrungsmitteln – dem täglichen Brot und dem Erlass der geistlichen Schulden – bedenken, sie mit Versuchung verschonen und von dem Bösen erlösen. Dem Bestreben mancher Ausleger, sämtliche Bitten auf die nahe Endzeit zu beziehen und sie dadurch in gewissem Sinne einzuengen, wird man eher mit Skepsis zu begegnen haben.6 Gegen eine solch dezidiert eschatologische Deutung spricht gerade die Überlieferung, die ursprünglich wesentlich zur Erkenntnis der endzeitlichen Ausrichtung zumindest des Anfangs des Vaterunsers beigetragen hat, das Kaddisch mit seinen Eingangsbitten: „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen, und sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen und in dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit, sprechet: Amen!“7 Denn während das Kaddisch damit gleich zu Beginn eine ganze Reihe von Wendungen enthält, die ausdrücklich auf die Bitte um das nahe Kommen abzielen, fehlen solche Signalworte einer ————— 3

Vgl. hierzu etwa E. LOHSE, Das Vaterunser im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Tübingen 2008, 13.15, mit dem als opinio communis anzusprechenden Schluss (17), „dass hinsichtlich der Länge der kürzere Lukastext, hinsichtlich des gemeinsamen Wortlauts der Matthäustext als ursprünglich zu gelten hat“. Vgl. auch DERS., Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt, 2., durchges. Aufl. 2010, 9–12. 4 Vgl. die Aufschlüsselung im Apparat von NESTLE-ALAND mit Sinaiticus und Vaticanus als ältesten griechischen Zeugen sowie den Hinweis ebenda auf 1Chr 29,11–13 als biblische Quelle der Doxologie. 5 Die Benennung der Herrschaftsbereiche gehört zwar zur dritten Bitte. Aber angesichts der sachlichen Nähe der dritten zur ersten und zweiten Bitte dürfte es im Sinne des Matthäus sein, sie der Sache nach auch auf diese beiden zu beziehen. 6 Als Beispiel einer durchgängigen eschatologischen Deutung der Bitten des Vaterunsers s. E. LOHMEYER, Das Vater-Unser, Göttingen 51962. 7 Zum Text s. S.J. Baer (Hg.), Seder Avodat Jisrael, 1868 / Nachdruck (unter dem hebr. Namen Jizchak ben Arje Josef Dov) Tel Aviv 1956/57, 129; Übertragung mit Sidur Sefat Emet (hebr./dt.). Übers. von S. Bamberger, Nachdruck Basel 1972, 64. Zur Ausprägung des Kaddischs s. A. LEHNARDT, Qaddish. Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebetes, TSAJ 87, Tübingen 2002.

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Naherwartung8 im Matthäusevangelium. Auch der naheliegende Einwand, solche Elemente hätten im Vaterunser aufgrund der zurückgegangenen Naherwartung keinen Platz mehr gehabt, wird durch das Kaddisch infrage gestellt. Dort sind die auf nahe Erfüllung drängenden Wendungen („in eurem Leben … bald und in naher Zeit“) ungeachtet der Entstehung des Gebetes in der Antike bis heute unverändert fester Bestandteil seines Wortlauts. Man braucht – zumal angesichts der endzeitlichen Prägung von Verkündigung und Wirken Jesu – damit nicht zu bestreiten, dass die beiden ersten Bitten des Vaterunsers ursprünglich rein endzeitlich gemeint waren. Aber man wird angesichts der Differenz zum Kaddisch mit einer solchen Annahme auf der Ebene des Matthäusevangeliums und mit Blick auf gleich alle Bitten zurückhaltender sein müssen. Dies gilt umso mehr, als die dritte Bitte eher zeitlos als endzeitnah klingt, sodass es den Anschein hat, dass sie ein rein endzeitliches Verständnis der beiden vorangehenden Bitten geradezu abschwächt und damit auch für die nachfolgenden Wir-Bitten, sofern sie denn überhaupt einmal endzeitlich gemeint waren, ein entsprechendes Vorzeichen setzt.9

4 Aus dem von Matthäus im angegebenen Sinne redigierten Gebet ragt die fünfte Bitte, oft bemerkt, aus zwei Gründen heraus. Als einzige im zweiten Teil wird sie durch einen Nebensatz fortgeführt: „Erlasse uns unsre Schulden, wie auch wir erlassen haben unsern Schuldnern“ (Mt 6,12) – die liturgisch geläufige, begrifflich abweichende Formulierung dieser Bitte („und ————— 8

Siehe hierzu ausführlicher P. VON DER OSTEN-SACKEN, „Ja, ich komme bald!“. Signalworte messianischer Erwartung im Neuen Testament und im jüdischen Gottesdienst, in: C. Maier/ K.-P. Jörns/R. Liwak (Hg.), Exegese vor Ort. FS Peter Welten, Leipzig 2001, 301–319. 9 Zur Kritik einer konsequent eschatologischen Deutung nicht nur der ersten und zweiten, sondern aller Bitten vgl. A. VÖGTLE, Der „eschatologische“ Bezug der Wir-Bitten des Vaterunser, in: E.E. Ellis/E. Gräßer (Hg.), Jesus und Paulus. FS Werner Georg Kümmel, Göttingen 1975, 344– 362. Er weist mit Recht darauf hin, dass bei einem „ausschließlichen Bezug des ‚es geschehe dein Wille …‘ auf das noch ausstehende Handeln Gottes […] diese dritte Bitte auf eine reine Tautologie mit den beiden voraufgehenden Bitten, vor allem der um das Kommen der Gottesherrschaft“, hinauskäme (361) und dass die dritte Bitte nicht nur eine Zäsur zwischen den ersten beiden Bitten und den dann folgenden bilde, „sondern auch zugleich eine gedankliche Überleitung vom strikten Eschaton der beiden ursprünglichen Du-Bitten zu den drei Wir-Bitten, die ja auf die Situation der Heilsanwärter blicken“ (362). Vögtles Versuch, einen eschatologischen Bezug dieser Bitten über den Gedanken auszumachen, dass sie sämtlich auf die Erfüllung des Willens Gottes durch die Menschen zielten (360–362), erscheint freilich aufgrund der Interpretation der an Gott gerichteten Bittreihe in Richtung einer an den Menschen gewandten Folge von Imperativen schwerlich als überzeugend. Zur Kritik der eschatologischen Deutung s. auch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband: Mt 1–7, EKK I/1, Zürich u.a. 1985, 344.348.

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vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“) ist vor allem mit dem Präsens im Nebensatz stärker an die Lukasfassung angelehnt: „Und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir vergeben jedem, der uns gegenüber schuldig ist“ (Lk 11,4). Sodann wird die fünfte Bitte als einzige nach Abschluss des Vaterunsers noch einmal aufgenommen, und zwar durch die Bekräftigung in Mt 6,14f: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ Wer mithin vergeben hat, erhält die Zusage göttlicher Vergebung, wer nicht, dem bleibt sie verschlossen. Angesichts dieser eindeutigen Sachlage in der Ergänzung 6,14f dürfte unbezweifelbar sein, dass Matthäus auch die Vergebungsbitte im vorangehenden Vaterunser so verstanden hat: „Erlasse … , wie wir erlassen haben“. Sie ist deshalb schwerlich als „eine Selbsterinnerung an das eigene Vergeben, eine Erklärung der Bereitschaft, Gottes Vergebung weiterzugeben“10 aufzufassen, und dies dürfte auch für die vermutete jesuanische Urfassung bzw. für das Präsens der lukanischen Version gelten. Hier wie da klingt der Nebensatz „wie auch wir …“ eher wie eine Feststellung oder Beteuerung mit dem Sinn: ‚Wir bekennen, dass wir denen, die uns gegenüber schuldig geworden sind, vergeben haben, und so treten wir vor dich hin und bitten dich um Vergebung.‘11 Die Bitte umschließt damit ein Korrespondenzverhältnis zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Verhalten, wie es an vielen Stellen der Bergpredigt zum Ausdruck kommt, so in den Seligpreisungen ————— 10

J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie. 1. Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971,

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In Friedensbegrifflichkeit transponiert würde dies heißen: ‚Wir bekennen, dass wir mit denen, die mit uns verfeindet sind, Frieden geschlossen haben, und so bitten wir nun dich um Frieden.‘ Das aber ist genau die Struktur der im Folgenden herangezogenen Überlieferung Mt 5,25f. Die sich selber ad absurdum führende Alternative wäre: ‚Auf unsere gute Absicht oder Bereitschaft hin, mit unseren Feinden Frieden zu schließen, bitten wir dich um Frieden.‘ Zu Lukas vgl. im Übrigen auch Lk 6,37: „Vergebt, so wird euch vergeben.“ Eine sehr eigene, mit dem Text schwerlich zu vermittelnde, wenn auch theologisch interessante Interpretation hat M.L. FRETTLÖH (Leben aus der Hoffnung auf die Zurechtbringung aller. Notizen zu Schuld und Vergebung, Sühne und Strafvollzug in eschatologischer Perspektive, EvTh 74 [2014] 364–379) vorgelegt: Sie erkennt in Mt 6,14f eine Vereindeutigung der Aussage 6,12 als „Bedingungsverhältnis“ (369, Hervorhebung M.L.F.) und überwindet das darin enthaltene Problem, indem sie aus dem Tatbestand, dass die Feststellung „wie auch wir …“ Teil des Gebetes ist, herausliest, dass die Beterin oder der Beter beim Bitten nicht nur die göttliche Vergebung, sondern mit ihr auch die von ihr oder ihm selber den Mitmenschen gewährte Vergebung als Gabe Gottes empfängt (371). Die Deutung scheitert nicht nur an der im sogenannten „Bedingungsgefüge“ enthaltenen Abfolge (die Verfasserin behandelt entsprechend den Aorist ἀφήκαμεν als Präsens), sondern ist in ihrer Deutung auch unverkennbar von den von ihr für das Jüngste Gericht veranschlagten Versöhnungsprozessen bestimmt (vgl. 374–376): Gott vergibt dann nicht ohne Vergebungsbitte der Täter und ohne Gewährung dieser Vergebung durch die Opfer, aber er begabt die Einen wie die Anderen mit der Freiheit zu solchem Handeln (375).

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gleich zu Beginn und dort am klarsten in der fünften: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (5,7), an ebenso exponierter Stelle am Ende der Antithesen in der Aufforderung: „Seid nun vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (5,44), und wiederum an herausgehobener Stelle zu Beginn von Kap. 7 in der Aufforderung: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (7,1) und in ihren beiden Begründungen: „Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden“ (7,2).12 Wenn ein neuerer Ausleger mit seinem Urteil recht hätte, Matthäus – oder seine Gemeinde, sofern 6,14f auf sie zurückgehen sollten – sei mit dieser Ergänzung des Vaterunsers theologisch abgestürzt,13 dann müsste sich der Evangelist in seiner Lehre auf dem Berg angesichts der genannten Stellen ständig im Sinkflug befunden haben.14 Allerdings scheint das Unbehagen an der Ergänzung des Evangelisten in 6,14f verbreitet, auch wenn es sich sonst nicht von solch hoher Warte aus Luft macht. In der Regel äußert es sich durch Kennzeichnungen von 6,14f wie „problematisch“ und „schwierig“. Man geht vermutlich nicht fehl in der Annahme, dass diese Prädikate im Wesentlichen darauf beruhen, dass mehr oder weniger deutlich Maßstäbe der paulinischen und lutherischen Rechtfertigungsverkündigung an die Aussagen des Matthäus angelegt werden. Damit dürfte man dem Evangelisten jedoch auf der historischen Ebene —————

12 Übersetzung mit der Zürcher Bibel. Die Übersetzung der Luther-Bibel („Denn nach welchem Recht ihr richtet …“) ist wörtlicher, lässt aber dem Missverständnis Raum, der Satz könne auf eine Absage an jegliches Rechtswesen zielen. Zu den Beispielen für das Korrespondenzverhältnis zwischen menschlichem und göttlichem Verhalten gehört auch das Gleichnis Mt 18,23–35. Siehe dazu unten Abschnitt 5. 13 H. WEDER, Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1985, 189. Das Urteil beruht auf einer gekünstelten, die Bitte Mt 6,12 und die Aussagen 6,14f auseinandertreibenden Entgegensetzung von Entsprechungsverhältnis in 6,12 und Bedingungsverhältnis in 6,14f. Weder legt aus: „Wer immer diese Bitte ausspricht …, spricht Gott darauf an, ihm zu gewähren, was er auch schon anderen gewährt hat. Seine Bitte um Vergebung entspricht dem Sachverhalt, dass es Vergebung gibt in unserer Welt“ (189). „Wer immer …“, „daß es … gibt“ – von der Sprachform von 6,12 („wie auch wir vergeben haben …“) und der mit ihr gegebenen Nähe zu 6,14f ist hier nichts mehr übrig. Zum angemessenen Verständnis s. A. SCHLATTER, Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selbständigkeit, Stuttgart 1929, 215, zu 6,12: Die Nichtvergebung einem anderen gegenüber „trüge in sein Verhalten einen Riß hinein, durch den ihm das gläubige Bitten unmöglich wird“, und 217f zu 6,14f. 14 Deshalb ist eher anzunehmen, dass vielmehr der Verfasser auf dem nassen Laub seiner Auffassung ausgerutscht ist, dass „die Liebe … – obwohl vom Gesetz gefordert – auf dem Boden des Gesetzes nicht leben kann“ (WEDER, Auslegung, 152) – ein implizites Urteil über 2000 Jahre Treue- und Liebesgeschichte der gesetzestreuen jüdischen Gemeinschaft. Zum Gesetzesverständnis des Matthäus vgl. im Übrigen die selten einfühlsamen Ausführungen von M. LEHMANNHABECK, Das Gesetz als der gute Gotteswille für meinen Nächsten. Zur bleibenden Bedeutung des Gesetzes nach dem Matthäus-Evangelium, in: P. von der Osten-Sacken (Hg.), Treue zur Thora. Beiträge zur Mitte des christlich-jüdischen Gesprächs. FS Günther Harder, VIKJ 2, Berlin 31986, 47–53.

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schwerlich gerecht werden. Vielmehr scheint genau dies das Idion der matthäischen Theologie zu sein: Sie verbindet die totale Abhängigkeit des Menschen von der Barmherzigkeit Gottes (mit entsprechenden Folgen für sein Verhältnis zu seinem Nächsten) und die ebenso radikale Aufforderung zu einem gottgemäßen Verhalten als Voraussetzung für die Teilhabe an dem göttlichen Erbarmen miteinander, und gerade die damit gegebene Spannung bildet nach Matthäus das Ganze eines Lebens in der Bindung an Jesus Christus.15 Es scheint – aber dies näher zu erörtern übergreift den vorliegenden Beitrag –, dass sich Matthäus und Paulus ungeachtet jener Besorgnis, der Evangelist könne zu unpaulinisch sein, in dem großen Zutrauen zur Kraft des von Jesus Christus ins Schlepptau genommenen Menschen nicht viel nehmen. Die nach Matthäus beteuerte Vergebung für die Schuldner soll im Übrigen umfassend geschehen: nicht nur den Anderen in der Gemeinde, sondern, wie der Evangelist in der Ergänzung 6,14f sagt, den Menschen zugute.16 Sie soll sich mithin an dem Handeln Gottes orientieren, wie Matthäus es am Ende der Antithesenreihe 5,21–48 beschrieben hat. Auch der Schöpfer begrenzt sein belebendes Handeln nicht auf Gute und Gerechte. Die so verstandene Vergebungsbitte ist wie die Bergpredigt insgesamt ganz aus dem Geist des biblischen Gebotes geschöpft, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Die Vergebung, die man für sich erbittet, soll auch ihm zuteilwerden. Kaum zufällig bildet dieses Gebot der Nächstenliebe – in deren Auslegung als Feindesliebe – den Zielpunkt des ersten Teils der Rede Jesu in Kap. 5 (V. 44).17

5 Damit Gebote und Weisungen dieser Art den Menschen nicht einzwängen und erdrücken, bedürfen sie freilich der Auslegung, d.h. es sind ihre Impli—————

15 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Abschnitt 5 und dort insbesondere zu Mt 18,23–35 sowie den jüdischen Text am Ende von Abschnitt 6. 16 Diese umfassende Ausrichtung scheint auch die Aufforderung Mk 11,25, die nächste Parallele zu Mt 6,14f, zu haben. 17 Vgl. etwa U. LUZ, Matthäus I, 353: „Inhaltlich entspricht das Vergebungsgebot dem Zentrum seiner (sc. des Matthäus) Ethik, dem Liebesgebot.“ Allerdings ergeht in Mt 6,14f kein Vergebungsgebot im engeren Sinne. S. RUZER/M. GINSBURSKAYA (Matt 6:1–18: Collation of Two Avenues to God’s Forgiveness, in: H.-J. Becker/S. Ruzer [Hg.], The Sermon on the Mount and its Jewish Setting, CRB 60, Paris 2005, 151–177) unterstreichen die Zentralität der Vergebungsbitte und erkennen in Mt 6,1–18 als zweiten Weg, die göttliche Vergebung zu erlangen, die drei dort genannten „acts of ritual piety“ (158 u.ö.). Bei Matthäus stehen sie freilich unter dem Vorzeichen der Praxis der von Jesus geforderten Gerechtigkeit (vgl. 5,20; 6,1).

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kationen aufzudecken, sie sind weiter auf bestimmte Situationen oder auch Kasus zu beziehen und damit zu veranschaulichen.18 Im Zusammenhang mit dem Gebot der Feindesliebe hat Matthäus dies am Ende von Kap. 5 getan, indem er es durch das Gebet für die Verfolger präzisiert hat. Was die Vergebungsbitte angeht, hat Jesus bereits zuvor in Mt 5,25f geboten, sich mit dem verfeindeten Bruder vor dem Gang zum Opferaltar zu versöhnen, und damit ein weiteres Beispiel für das von ihm gemeinte, Frieden stiftende Verhalten genannt.19 Die besondere Kontur von 5,25f liegt im Verhältnis zur Vergebungsbitte des Vaterunsers darin, dass die Initiative von dem ausgehen soll, der dem Anderen – vermutlich aufgrund eines Unrechts – ein Stein des Anstoßes ist, während die Beteuerung „wie auch wir vergeben haben unsern Schuldigern“ voraussetzen dürfte, dass der Beteuernde um Verzeihung gebeten worden ist. Dies würde jedenfalls der Gattung des Bittgebets entsprechen, in der die von Gott gewährte Vergebung konstitutiv erbeten wird und nicht einfach – gleichsam bedingungsfrei – geschieht. Die Bitte um Vergebung ist dabei im einen wie im anderen Fall das Indiz, dass der Bittende von seinem verfehlten Verhalten umgekehrt ist. Da Vergebung kein isolierter Selbstzweck ist, mit ihr vielmehr sowohl im zwischenmenschlichen Bereich als auch im Verhältnis des Menschen zu Gott beschädigte Beziehungen geheilt werden, ist der Vergebungsvorgang ohne vorangegangene, eine Wandlung anzeigende Bitte auch schwerlich vorstellbar. Dass es je und dann Frieden stiftende Verhaltensweisen geben kann, ja auch geben sollte, durch die Unrechttäter zur Umkehr bewogen werden, ist damit nicht ausgeschlossen. Fasst man jedoch nicht Fragmente, sondern das Ganze in den Blick, dann lässt sich auch bei dieser Folge die Umkehr als konstitutiver Faktor nicht suspendieren, wie sich bei Matthäus alsbald aufs Deutlichste zeigt. Die zuvor angedeutete Notwendigkeit einer Kasuistik im besten Sinne zeigt sich im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums. Es umschließt mehrere im vorliegenden Zusammenhang bedeutsame Einheiten. Als erste ist das sogenannte Gleichnis vom Schalksknecht in 18,23–35 zu nennen, der von seinem Herrn dem König eine unermesslich hohe Schuld erlassen bekommt, anschließend seinen – ihm lächerlich verschuldeten, doch zahlungsunfähigen – Mitknecht misshandelt und ins Schuldgefängnis werfen lässt und dann selber von seinem Herrn aufgrund seiner Unbarmherzigkeit diesem Geschick überantwortet wird. Dieses Gleichnis wird in —————

18 Zur Bedeutung eines positiven Verständnisses von Kasuistik s. die Ausführungen des Verfassers in verschiedenen seiner Beiträge in: P. VON DER OSTEN-SACKEN, Der Gott der Hoffnung. Gesammelte Aufsätze zur Theologie des Paulus, SKI.NF 3, Leipzig 2014, 272f.363–365.456– 459.465–475. 19 Zur Zeit des Matthäus ist die Opferstätte in Jerusalem zwar zerstört, aber die Übertragung auf die Eucharistie hat gewiss nicht erst in späterer Zeit nahe gelegen.

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der Regel zur Auslegung der Vergebungsbitte im Vaterunser herangezogen, um zu verdeutlichen: Nach Jesus bzw. Matthäus lebt die Gemeinde in einem solchen Maße von der Barmherzigkeit Gottes, dass sich jede Überlegung erübrigt, sein Erbarmen könne von einem Verhalten menschlicherseits abhängen. Vielmehr sei das göttliche Erbarmen Grundlage und Vorbild für das von Jesus am Ende des Gleichnisses (18,35) indirekt geforderte Verhalten: „So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.“ Ohne diese Auslegung prinzipiell zu bezweifeln, liegt der Akzent in dem zitierten Schluss freilich deutlich auf der Gerichtsansage. Sie unterstreicht die bereits angedeutete Tendenz der Ergänzung der Vergebungsbitte in 6,14f: Wer die ihm widerfahrenen Verfehlungen nicht vergibt, dem wird auch Gott nicht vergeben. Aufs Ganze gesehen umschließt das Gleichnis ein doppeltes Korrespondenzverhältnis: Der Knecht hätte erbarmend handeln sollen wie sein Herr an ihm selber, doch nachdem er sich unbarmherzig verhalten hat, widerfährt ihm eben solches erbarmungsloses Verhalten seitens seines Herrn.20 Im Übrigen ist das sogenannte „Gleichnis vom Schalksknecht“ in Übereinstimmung mit dem Gesagten genau besehen ein Gleichnis über den himmlischen König in seiner Einheit als Erbarmer und Richter, damit ein Gleichnis über seine Herrschaft und in diesem Sinne – der Bestimmung in seiner Einleitung gemäß (18,23) – ein Gleichnis vom Reich Gottes. Die Betonung dieser Einheit Gottes als Erbarmer und Richter hat im Matthäusevangelium erkennbar großes Gewicht. Dafür stehen an herausgehobener Stelle die Gleichnisrede Jesu über das Weltgericht (25,31–46) vor dem Beginn der Passionsgeschichte, ebenso die Gleichnisse von den Zehn Jungfrauen (25,1–13) und den Talenten (25,14–30) und nicht zuletzt die zahlreichen Aussagen in diesem Evangelium, die die Bedeutung des Tuns für das Bestehen im Gericht unterstreichen, angefangen bei Johannes dem Täufer (3,7–9) und alsbald in der Bergpredigt selber mit Nachdruck unterstrichen (7,21–23).21 Es handelt sich bei der Betonung der Einheit Gottes als Erbarmer und Richter mithin einerseits um einen spezifisch matthäischen Zug. Da sich die genannten Gleichnisse jedoch schwerlich dem Nazarener absprechen lassen, dürfte diese Einheit andererseits zugleich ein Kennzeichen seiner Verkündigung sein. Hin und wieder wird zur Vergebungsbitte des Vaterunsers die kleine Einheit herangezogen, die in Matthäus Kap. 18 auf dieses Gleichnis hinführt – die Frage des Petrus, ob es genug sei, dem Nächsten siebenmal zu ————— 20

Vgl. die zutreffende Feststellung VON J. LAMBRECHT (Ich aber sage euch. Die Bergpredigt als programmatische Rede Jesu [Mt 5–7; Lk 6,20–49], Stuttgart 1984, 137) zu Mt 18,23–35: Die „aus der Gabe erwachsene Aufgabe wird aber auch im Gleichnis als unumgängliche Bedingung für das Erhalten der Gabe geschildert!“ 21 Vgl. ferner Mt 12,46–50; 13,24–30.36–43; 21,43; 22,11–14; 25,1–13.14–30.31–46.

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vergeben. Die Antwort Jesu gleicht vorweg das geforderte Maß dem unermesslichen Erbarmen Gottes an: nicht sieben, sondern 77 Mal,22 d.h. unbegrenzt. Mehr oder weniger wörtlich genommen, wäre dies eine totale Überforderung des Einzelnen wie auch jeder Gemeinde. Wer hätte nicht ohnehin schon beim dritten oder vierten Mal die größte Mühe, wenigstens dem Petrus-Vorschlag zu folgen? Umso wichtiger ist der in 18,15–17 vorangehende Zusammenhang, der im Allgemeinen nicht in die Erörterung der Vergebungsbitte einbezogen wird: Im Falle der Verletzung durch ein Gemeindeglied soll der Betroffene den Täter unter vier Augen zurechtweisen. Hört er, so hat er einen Bruder gewonnen, hört er nicht, soll er es in Gegenwart von zwei oder drei Zeugen wiederholen. Hört er auch dann nicht, soll er den Vorfall der Gemeinde anzeigen, hört er auch auf sie nicht, soll der Unbußfertige für den, dem er Unrecht getan hat, wie ein Heide oder Zöllner sein, d.h. ausgeschlossen. Die Regelung dieses Kasus bringt der Sache nach die Umkehr dessen, der Unrecht getan hat, als unerlässliche Voraussetzung der Vergebung zu Gesicht. Die geforderte Vergebung bis zu 77 Mal hält demgegenüber die Wunde offen, dass eine gemeinderechtliche Regelung mit dem Ausschluss des Unrechttäters noch keine Heilung des verletzten Miteinanders, also des Ganzen, ist – sodass auch hier die heilsame jüdische Weisung gilt: „Die Tore der Umkehr stehen ständig offen.“23

6 Einige Überlieferungen, die zuletzt herangezogen worden sind, hängen teils begrifflich, teils sachlich so eng mit der Sprachgestalt der Vergebungsbitte zusammen, dass sie zu helfen vermögen, deren Sinn weiter zu präzisieren. Wörtlich übersetzt lautet die Bitte bei Matthäus: „Und erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir erlassen haben unsern Schuldnern“ (Mt 6,12). Zwar hat die Bitte religiösen Sinn, wie die Bitte als an Gott gerichtete und begrifflich deutlicher die lukanische Fassung mit ihrer Rede von „unsern Sünden“ zeigt: Es handelt sich um ein am Maßstab des göttlichen Rechts begangenes Unrecht, dessen Vergebung erbeten wird.24 Ebenso ist die Wie—————

22 Zur Zahl in Mt 18,22 s. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband: Mt 18–25, EKK I/3, Zürich u.a. 1997, 61 Anm. 1. 23 EkhaR zu 3,44. Vgl. zur Bedeutung der Umkehr auch bYoma 86 und zur Frage der Rezeption der Bitte Mt 6,12 die anregenden Ausführungen von H. FRANKEMÖLLE, Vater unser – Awinu. Das Gebet der Juden und Christen, Paderborn/Leipzig 2012, 146–150 („Impulse für uns“) und 149f (Mt 6,12 als Herausforderung), sowie bereits LOHMEYER, Vater-Unser, 192–213 („Folgerungen“). 24 Vgl. hierzu auch die Bedeutungsbreite des hebräischen bzw. aramäischen ‫( חובה‬Schuld, Sünde, Sündenstrafe), das dem griechischen ὀφείλημα zugrunde liegt. Siehe zu ‫חובה‬ G.H. DALMAN, Aramäisch-Neuhebräisches Handwörterbuch zu Targum, Talmud und Midrasch,

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dergabe im Deutschen mit „unsere Schuld“ nicht falsch. Dennoch tritt in beiden Fällen zurück, was die Bitte bei Matthäus charakterisiert. Sie wird mit Sprachmitteln aus dem Wirtschafts-, Finanz- und Rechtsleben bestritten. Vorausgesetzt ist, dass sich die Betenden durch ihr Leben Gott gegenüber verschuldet haben, und da es anscheinend Schulden sind, die sie nicht selber begleichen können, sollen sie um ihren Erlass bitten. Die andere Möglichkeit, durch die sie beglichen und damit aus der Welt geschafft werden könnten, wäre die zum Ausgleich der Rechtsverhältnisse erfolgende Bestrafung. Eine präzise Veranschaulichung dieser Zusammenhänge ist das bereits herangezogene Gleichnis in 18,23‒35. Hochverschuldet zur Rechenschaft gezogen und mit Schuldknechtschaft für sich und seine Familie bedroht, erfleht der unbarmherzige Knecht Zahlungsaufschub und erhält nicht nur ihn, sondern den Erlass aller Schulden. Als er ein vergleichbares Verhalten einem ihm minimal verschuldeten Mitknecht gegenüber schuldig bleibt, wird er zur Strafe körperlicher Züchtigung überantwortet und das barmherzige Urteil seines königlichen Gläubigers kassiert. In der Anwendung des Gleichnisses geschieht dann der Übergang auf die religiöse Sinnebene: „So wird auch mein himmlischer Vater an euch handeln, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt“ (18,35). Ähnlich strukturiert ist das Gleichnis von den Talenten (25,14‒30), nur mit dem Unterschied, dass den Ausgangspunkt die Beauftragung der Angestellten mit der Vermögensverwaltung und -mehrung ihres Herrn bildet und am Ende aufgrund des unterschiedlichen Umgangs mit dem anvertrauten Gut nicht nur Tadel und Strafe, sondern Lob und Lohn stehen. In beiden Gleichnissen – in dem zweiten noch deutlicher als im ersten – ist das menschliche Leben als eine Gabe verstanden, die nicht einfach à fonds perdu gewährt wird, sondern die zu verantworten ist. Nach Mt 25 kann man sie mehren, was mit jenen zahlreichen Stellen im ersten Evangelium zusammengeht, an denen der Evangelist mit himmlischer Belohnung für rechtes Verhalten rechnet.25 Das Vaterunser mit seiner auf Permanenz angelegten Bitte um Schuldenerlass scheint demgegenüber davon auszugehen, dass die Betenden auf die ständige Gewährung eines Neuanfangs ohne Schulden angewiesen sind.26 Die paulinische Charismen- und Dienstlehre bildet dazu die am nächsten verwandte Überlieferung, nur dass der Apostel das Verhältnis zwischen Geber, Gabe ————— 2., bearb. u. verm. Aufl. Frankfurt 1922, 138, sowie K. WENGST, Das Regierungsprogramm des Himmelreiches. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 160. 25 Vgl. als ersten Zugang G. BORNKAMM, Der Lohngedanke im Neuen Testament, in: DERS., Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament II, 2., verb. Aufl. München 1963, 69–92. 26 Vgl. hierzu etwa LOHMEYER, Vater-Unser, 124.

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und Begabten im Rahmen seiner Pneumatologie und Ekklesiologie entfaltet.27 Die dargetanen Überlegungen scheinen auch die Grenzen des Entsprechungsverhältnisses zwischen dem erbetenen göttlichen und dem beteuerten menschlichen Verhalten anzudeuten, das in der Entschuldungs- oder Vergebungsbitte zum Ausdruck kommt. Oder könnten in dieser Bitte auch die Betenden als Menschen verstanden sein, die den Andern zur Gabe geworden, doch nicht als Gabe gewürdigt und behandelt worden sind? Man mag es immerhin fragen. In jedem Fall wird den Anderen auch in dem zwischenmenschlichen Verhältnis mit der Entschuldung ein neuer Anfang gewährt.28

7 Kehren wir noch einmal zu Mt 18,15–17 zurück. Die Anweisungen, die der Evangelist in diesem Abschnitt bringt, haben bekanntlich eine enge Parallele in der Gemeinderegel von Qumran. Dort heißt es (1QS 5,24‒6,1): „Man soll zurechtweisen ein jeder seinen Nächsten in Wahr[heit] und Demut und huldvoller Liebe untereinander. Keiner soll zum anderen sprechen in Zorn oder Murren oder Halsstarrig[keit oder im Eifer] gottlosen Geistes. Und er soll ihn nicht hassen in seinem [unbeschnittenen] Herzen; sondern am selben Tage soll er ihn zurechtweisen, aber nicht soll er seinetwegen Schuld auf sich laden (durch Untätigkeit). Ferner soll niemand gegen seinen Nächsten eine Sache vor die Vielen (die Gemeindeversammlung) bringen, wenn es nicht vorher zur Zurechtweisung vor Zeugen gekommen ist.“29 Auch hier ————— 27

Vgl. dazu P. VON DER OSTEN-SACKEN, Charisma, Dienst und Gericht. Zum Ort des Einzelnen (hekastos) in der paulinischen Theologie (1987), in: DERS., Gott der Hoffnung, 587–600. 28 Vgl. in diesem Zusammenhang, gerade mit Blick auf die zwischenmenschliche Ebene, die treffenden Ausführungen von N. SARTOU-LAJUS (Lob der Schulden [frz. 2012], Berlin 2014, 79) zur Vergebung als Form des Schuldenerlasses: „Das Vergeben ist ein Akt jenseits des Bezahlens und kommt mehr einer therapeutischen als einer Rechtshandlung gleich. Es macht das Schlechte nicht wieder gut, aber es heilt von Hass. Verzeihen ist oft die einzige Lösung, um Gewalt zu unterbinden und um die Überlebensbedingungen der Schuldigen wie der Opfer unter Kontrolle zu bringen, ohne diese ausschließlich auf ihre kriminelle Vergangenheit festzulegen. Wie sonst sollte man die Verletzungen des sozialen Körpers heilen und die Übergänge von Regimes und die Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens gewährleisten?“ Zu dieser Thematik s. hinsichtlich der Verhältnisse in der und zur ehemaligen DDR auch das Themenheft „25 Jahre danach: Das Thema Versöhnung“, ET 74/5 (2014). 29 Übersetzung mit E. LOHSE, Die Texte aus Qumran. Hebräisch und deutsch, Darmstadt 4 1986, 21 (Ergänzungen in eckigen Klammern vom Herausgeber, Erläuterungen in runden vom Verfasser). Die Handschrift der Gemeinderegel aus Höhle 4 enthält einen etwas kürzeren Text. Dort fehlt vor allem die Bestimmung, dass der, der sich verfehlt hat, von dem Betroffenen noch an demselben Tag zurechtgewiesen werden soll. Vgl. zu 4QSd P.S. ALEXANDER/G. VERMES, Qumran

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bildet das Gerüst die Folge: 1. Zurechtweisung unter vier Augen, 2. Zurechtweisung vor Zeugen, 3. Zurechtweisung durch die Gemeinde, [4. gegebenenfalls (zeitweiser) Ausschluss].30 Wenn diese Tradition in ähnlicher Form gerade im Matthäusevangelium erscheint, so geht dies damit zusammen, dass dieses Evangelium auch sonst – und zumal zum Thema der Vergebungsbitte und ihrem Umkreis – eine besondere Nähe zum Judentum aufweist.31 Auf das Gewicht des Rufes zur Umkehr wurde bereits hingewiesen und ebenso auf die oft hervorgehobene sachliche Verwandtschaft zwischen dem Beginn des Vaterunsers und dem Anfang des Kaddischs mit ihren jeweiligen Bitten um die Heiligung des göttlichen Namens und das Kommen des Reiches Gottes. Am Ende des Kaddischgebetes in seiner traditionellen Gestalt begegnet sodann eine Art Wanderbitte, die auch das Achtzehngebet in seiner überlieferten Form beschließt32 und eine enge Berührung mit der dritten Bitte des Vaterunsers aufweist: „Der Frieden schafft in seinen Höhen, der schaffe Frieden auch für uns und für ganz Israel.“ In beiden Fällen wird darum gebeten, dass ein in der himmlischen Welt sich bereits vollziehendes Handeln Gottes – die Durchsetzung seines Willens bzw. die Schaffung von Frieden – auch auf Erden bzw. Israel zugute Wirklichkeit werden möge.33 Bei der lauten Wiederholung des in seinem Gewicht dem Vaterunser entsprechenden Achtzehngebetes (Schemone Esre, Tefilla, Amida) wiederum bekundet die Gemeinde zu Beginn der dritten Bitte ihren Willen zur Heiligung Gottes in Entsprechung zur himmlischen Welt mit den Worten: „Wir wollen deinen Namen in der Welt heiligen, wie man ihn im hohen Himmel heiligt.“34 Im Achtzehngebet hat auch das Thema der Vergebung einen festen Sitz. Dort heißt es in dem nur an Wochentagen gebeteten Mittelteil zu Beginn, —————

Cave 4, XIX: Serekh Ha-Yahad and Two Related Texts, Oxford 22003, 98 (Text). 102 (Anm. mit Hinweis auf die Aufnahme von Lev 19,17 in der längeren Fassung), sowie J.H. CHARLESWORTH (u.a.), The Dead Sea Scrolls. Hebrew, Aramaic, and Greek Texts with English Translations. Vol. I: Rule of the Community and Related Documents, Tübingen/Louisville 1994, 25 Anm. 131. Nicht im Wortlaut, aber in der Sache stimmt CD 9,2–8 mit 1QS überein, einschließlich der Bestimmung über die Zurechtweisung noch an demselben Tag, die eine Ergänzung im Zitat von Lev 19,17 ist. 30 Vgl. zum Ausschluss die vergleichbaren Bestimmungen 1QS 6,26f; 7,4f. 31 Vgl. hierzu die Materialien bei P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I, München 1922, 421f.424–426, sowie an neueren Arbeiten etwa W. ZAGER, Bergpredigt und Reich Gottes, Neukirchen-Vluyn 2002, 29f, und FRANKEMÖLLE, Vater unser, 144–146. 32 Vgl. den Text in BAER, Seder, 104. 33 Vgl. auch Lk 2,14 und dazu D. FLUSSER, Sanctus und Gloria, in: O. Betz/M. Hengel/ P. Schmidt (Hg.), Abraham unser Vater. FS Otto Michel, Leiden 1963, 129–152. 34 Zum Text s. BAER, Seder, 89. Erwähnenswert, wenn auch hier nicht weiter zu behandeln, ist der Tatbestand, dass Matthäus auch das umgekehrte Folgeverhältnis kennt: wie auf Erden, so im Himmel (vgl. Mt 18,18). Die hier gegebene Abhängigkeit des Himmels von einem irdischen Vorgang erregt im Allgemeinen keinen vergleichbaren Anstoß wie die Aussagen in 6,14f.

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im Anschluss an die Bitten um die Gaben Erkenntnis und Umkehr zu Gott und seiner Tora: „Vergib uns, unser Vater, denn wir haben gesündigt, verzeih uns, unser König, denn wir haben gefrevelt. Du bist doch der, der verzeiht und vergibt! Gelobt seist du, Ewiger, voll Gnade und reich an Vergebung!“35 Die Gewissheit der göttlichen Vergebung ist auch hier unverkennbar die Grundlage der Bitte um ihre Gewährung. Wenn man die Formulierungen auf die Goldwaage legt, dann ist die Vergebung hier anders als in der dritten Bitte des Vaterunsers ‚bedingungslos‘ erbeten.36 Allerdings kann es in anderen Traditionen zum Thema auch heißen, dass der Versöhnungstag Sünden des Menschen gegen Gott sühne, Sünden des Menschen gegen seinen Nebenmenschen jedoch nicht, bis man dessen Verzeihung erlangt habe,37 oder auch, dass Gott jemandem, der gegen einen anderen gesündigt habe, vergebe, wenn der Bittende jenen besänftige.38 Die hier bekundete Vergebungsethik entspricht in der Sache der fünften Vaterunserbitte, insofern es beide Male ausgeschlossen ist, dass die göttliche Vergebung für eine zwischenmenschliche Verfehlung ohne eine Änderung des Verhaltens zum Nächsten erfolgt, sei es der Mangel an Versöhnungswillen aufseiten des Unrechttäters, sei es die Verweigerung von Vergebung gegenüber einem um Vergebung Bittenden. Zu Ende gedacht würde das eine wie das andere Verhalten bei gleichzeitiger Bitte um Gottes Vergebung nichts anderes heißen, als dass man Gott zum Komplizen des eigenen Fehlverhaltens machte. Unbenommen ist dabei, dass sich die genannten Anweisungen, sobald sie konkrete Verhältnisse und vor allem die darin involvierten Menschen betreffen, auf einem äußerst schwierigen Gelände bewegen.39 —————

35 Zum Text s. BAER, Seder, 90f. Die Bitten 4.5.6 stimmen in ihrem Ablauf völlig mit dem Verhalten des verlorenen Sohnes in dem gleichnamigen Gleichnis Lk 15,11–32 überein: Er erkennt seine Situation, kehrt um und wird von dem ihm vergebend entgegeneilenden Vater empfangen. 36 Vgl. hierzu I. ABRAHAMS, The Lord’s Prayer, in: DERS., Studies in Pharisaism and the Gospels II, Nachdruck New York 1967, 94–108: 97f. Da eine solche Bedingung in jüdischen Gebeten nicht vorkomme, sei ihre Erwähnung im Vaterunser ein Spezifikum Jesu. Eine kritische Auseinandersetzung mit Abrahams findet sich bei C.G. MONTEFIORE, The Synoptic Gospels II, New York 2 1968, 102f. 37 mYoma 8,9, Übersetzung mit E. Baneth in seiner Erklärung und Übertragung der Ordnung Mo‘ed in: Mischnajot. Die sechs Ordnungen der Mischna, Basel 31968, 331. Vgl. auch den Hinweis auf die Ableitung der Weisung aus einem bestimmten Verständnis des für die Deutung des Jom Kippur zentralen Verses Lev 16,30 (ebd., Anm. 31). 38 bYoma 87a. Vgl. hierzu im Übrigen bereits die im vorliegenden Zusammenhang in der Regel angeführte Reihe Sir 28,2–7 mit ihrem Eingangsvers: „Vergib deinem Nächsten, was er dir zuleide getan hat, so werden auch dir deine Sünden vergeben, wenn du darum betest.“ 39 Vgl. als Beispiel aus jüngerer Zeit die Ausführungen von S. ENGERT, Diagnose: Versöhnung, unvollendet. Die gesellschaftliche Aufarbeitung des SED-Unrechts aus der Perspektive der Transitional Justice Forschung, EvTh 74 (2014) 349–363. Aufschlussreich ist auch im Zusammenhang mit einem Teil der erwähnten jüdischen Traditionen der Beitrag von L.M. BARTH, Thoughts on Forgiveness in Psychoanalysis and Judaism, in: M.A. Meyer/D.N. Myers (Hg.),

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Es zeugt deshalb eher von Weisheit als von Enge des Herzens, wenn Rav Jose bar Chanina in einer Weise, die an den Realitätssinn von Mt 18,15‒17 erinnert, empfiehlt: „Wer seinen Nächsten (um Verzeihung) bittet, tue dies nicht mehr als dreimal, denn es heißt: ‚Ach, vergib doch, nun vergib doch.‘ Ist (der Beleidigte) gestorben, so hole er zehn Personen an sein Grab und spreche: Ich habe gesündigt wider den Herrn, den Gott Israels, und wider diesen, den ich verletzt habe.“40 Die Begrenzung des Bittganges auf drei dürfte ein Schutz vor verletzender Erniedrigung sein und die Möglichkeit eines postumen Bittganges in der Situation deprimierender Aussichtslosigkeit angesichts des Todes eines Verletzten ein Tor der Hoffnung öffnen. Wie auch immer die Grenzlinien zwischen jüdischer und neutestamentlicher Überlieferung hier im Einzelnen verlaufen und das Alter dieser oder jener Tradition zu bestimmen ist, deutlich dürfte anhand der berührten Überlieferungen sein, dass sie, um das vielzitierte Wort Hermann Gunkels aufzunehmen, auf einen „gemeinsamen Schatz von Gedanken und Stimmungen“ verweisen.41 Abschließend mag dies in verdichteter Form durch ein Gebet veranschaulicht werden, das in dem Schlussgottesdienst jener „Zehn Tage der Umkehr“ gesprochen wird, die mit dem Neujahrstag eröffnet und dem Sühntag beschlossen werden. Vor allem an diesen Feiertagen haben Sündenbekenntnis, Vergebung und Neuanfang zwischen Gott und den Menschen sowie zwischen den Menschen untereinander im Judentum ihren traditionellen Sitz. Die Bindung an diesen Sitz im Leben lässt die Frage, ob sich einzelne Überlieferungen jeweils genau oder annähernd chronologisch fixieren lassen, nicht als unwichtig, aber doch als zweitrangig erscheinen. Bemerkenswert scheint mit Blick auf das folgende Gebet, wie ungezwungen sich in ein und demselben Zusammenhang dies beides miteinander vereint: die Gründung der menschlichen Existenz auf das Erbarmen Gottes, wie es am Sühntag zuteilwird, mit dem Ziel der Umkehr zu ihm und der – mit Prophetenworten erfolgende – Aufruf zur Umkehr, auf dass sich Gott des Menschen erbarme. Dieses Miteinander scheint mithin in dem Gebetstext von derselben Selbstverständlichkeit wie im Evangelium nach Matthäus.42 ————— Between Jewish Tradition and Modernity. Rethinking an Old Opposition. Essays in Honor of David Ellenson, Detroit 2014, 237–248. 40 bYoma 87a (Zitat Gen 50,17). Die Dreizahl wird hier dem Tatbestand entnommen, dass „ach“ und „doch“ Bittformeln sind, von denen an der zitierten Bibelstelle drei vorkommen. Siehe dazu L. GOLDSCHMIDT, Der babylonische Talmud III, Nachdruck Frankfurt 1996, 259f Anm. 395. Nach dem Sündenbekenntnis wird dem, der es bekannt hat, beim Vollzug des Ritus von dem Minjan die Vergebung zugesprochen. Vgl. S. GANZFRIED, Kizzur Schulchan Aruch I–II. Übers. von S. Bamberger, neue, verb. Ausgabe Basel 1978, II, 761. 41 H. GUNKEL/ J. BEGRICH, Einleitung in die Psalmen, Göttingen (1933) 41985, 22. Vgl. in diesem Sinne auch die am Schluss dieses Beitrags zitierte Feststellung Lohses. 42 Siehe oben Abschnitt 4.

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„Du hast den Menschen abgesondert von Anbeginn und ihn bestimmt, vor dir zu stehen. Doch wer könnte zu dir sprechen: Was tust du?! Und wenn jemand sich gerecht verhält, was gibt er dir damit?! Du aber gabst uns, Ewiger, unser Gott, in Liebe diesen Tag der Sühnungen als Ende und Verzeihung und Vergebung aller unserer Verfehlungen, damit wir abstehen von der Gewalttat unserer Hände und zu dir umkehren, um die Satzungen deines Willens zu tun mit ganzem Herzen. Und du in deinem großen Erbarmen erbarme dich über uns, denn du hast keinen Gefallen an der Vernichtung der Welt; denn es heißt: ‚Sucht den Ewigen, wenn er sich finden lässt, ruft ihn an, wenn er nahe ist.‘ “ (Jes 55,6)

Und ferner heißt es: „Es verlasse der Frevler seinen Weg, der Mann der Sünde seine Gedanken und kehre um zum Ewigen, dass er sich seiner erbarme, und zu unserem Gott, denn er ist reich an Verzeihung.“ (Jes 55,7) „Du, Gott der Verzeihungen, bist gnädig, barmherzig, langmütig, reich an Gnade und daran, Gutes zu mehren, du willst die Umkehr der Frevler und hast keinen Gefallen an ihrem Tod …“43

Den gemeinsamen Schatz von Gedanken und Stimmungen hervorzuheben, liegt umso näher, als alles über die Vergebungsbitte Gesagte im Matthäusevangelium in einen weiten Bogen eingespannt ist, durch den neben den verbindenden Elementen die wesentlichen Unterschiede zwischen jüdischer —————

43 Es folgen mehrere Schriftzitate dieses Sinnes aus Ez 18 und 33. Zum hebräischen Text s. BAER, Seder, 437f; die Übersetzung nach P. von der Osten-Sacken/C.Z. Rozwaski (Hg.), Die Welt des jüdischen Gottesdienstes, VIKJ 29, 2., verb. u. erg. Aufl. Berlin 2014, 268. Zumindest hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang, nicht zuletzt auch im Rückblick auf Mt 6,1–18, ebenfalls auf das Gebet „U-Netanneh Tokef “ („Wir wollen die Macht schildern“), das im zusätzlichen Gottesdienst am Neujahrsfest bei der lauten Wiederholung des Achtzehngebetes durch den Vorbeter in die dritte Benediktion eingeschaltet wird und im Judentum besonders hohes Ansehen genießt. In der Aussage, Umkehr, Gebet und Wohltun würden das über den Menschen beschlossene Gericht abwenden, steht bei der Wiedergabe in den Gebetbüchern über dem ersten Wort (‫תשובה‬, Umkehr) in kleinerer hebräischer Schrift: ‫( צום‬Fasten), über dem zweiten (‫תפלה‬, Gebet): ‫( קול‬Stimme), über dem dritten (‫צדקה‬, Wohltun, Almosen): ‫( ממון‬Geld, Vermögen), indem durch die Zusätze angezeigt wird, welches Mittel bei den einzelnen religiösen Handlungen jeweils gefragt ist. Die Nähe zur Abfolge: Barmherzigkeit/Wohltun – Gebet – Fasten in Mt 6,1–18 liegt auf der Hand. Zum hebräischen Text und zur Übersetzung s. W. Heidenheim (Hg.), Machsor/ Gebetbuch für die Festtage IV. Übers. von S. Bamberger, Nachdruck Basel 1989, 107–109, zur Erklärung des Gebets R.I. BRESLAUER, Weltgericht und Martyrium in der jüdischen Neujahrsliturgie. „Heiligkeit des Tages“ im Gebet Unetanneh Tokkef (sic!), JudChr 19, Bern u.a. 2002.

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und neutestamentlich-christlicher Lehre in der Frage der Vergebung deutlich werden.

8 Dieser Bogen aus Vergebungsaussagen reicht von der Geburt bis zum Tode des Messias und ist beide Male fest in der Zusage der Vergebung der Sünden verankert. So wird Josef in der Geburtsgeschichte im Traum von einem Engel angewiesen, den Sohn, den er demnächst geschenkt bekommen wird, Jesus zu nennen (hebräisch Jeschúa mit der Bedeutung Rettung), „denn“ – so der Engel – „er wird sein Volk erretten von ihren Sünden“ (Mt 1,21). Diesem bedeutungsschweren Anfang entspricht das Ende. So sagt Jesus bei Matthäus – und nur bei ihm – bekanntlich bei dem Passa-Abschiedsessen vor seinem Tod ausdrücklich, dass sein Blut vergossen würde „zur Vergebung der Sünden“ (26,28). Welches Gewicht diese Bestimmung für ihn hat, zeigt der oft benannte Tatbestand, dass der Evangelist sie bei der Beschreibung der Taufe Johannes des Täufers weglässt.44 Die Vergebung der Sünden im Namen Gottes ist dem Messias vorbehalten. Wie Matthäus dies anlässlich von Geburt und Tod Jesu signalisiert, so noch einmal eindrücklich auf der Höhe seines Wirkens. So interpretiert er in 8,16 das heilende, exorzistische, die Sündenvergebung einschließende Handeln Jesu, indem er ein Wort aus dem Gottesknechtslied Jes 53 zitiert: „Er hat unsere Schwachheiten auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen“ (53,4). In Übereinstimmung damit besteht sein Auftrag darin, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zu sammeln (Mt 9,13), schilt man ihn einen „Freund der Sünder und Zöllner“ (11,19), spricht er dem Gelähmten zu, seine Sünden seien vergeben (9,2), und bestimmt er seinen Dienst dahingehend, sein Leben zur Erlösung für viele zu geben (20,28). Und nicht zuletzt autorisiert er die Seinen, sein rettendes Handeln fortzuführen, indem er sie beauftragt, die Taten des Messias fortzusetzen (10,7f ), und sie zum irdisch wie himmlisch verbindlichen Binden und Lösen von Schuld ermächtigt (18,18).45 Man hat wohl mit Recht geurteilt, das erzählte erlösende Handeln Jesu und seine Handlungsanweisungen stünden im Matthäusevangelium relativ unverbunden nebeneinander.46 Ungeachtet dessen scheint eins zweifelsfrei: Für den Evangelisten in seiner nachösterlichen Gemeinde ist das Erzählen von der Hingabe Jesu Christi zur Vergebung der Sünden die Quelle, aus der ————— 44

Vgl. Mt 3,1–6 mit Mk 1,1–6. Vgl. auch die Ausweitung der von Gott gegebenen Vollmacht zur Sündenvergebung vom Menschensohn (Mk 2,12) auf die Menschen in Mt 9,8. 46 Vgl. U. LUZ, Die Jünger im Matthäusevangelium, ZNW 62 (1971) 141–171. 45

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die Gewissheit des überreichen Erbarmens Gottes mit allen Konsequenzen für das eigene Handeln gespeist wird.

9 Von diesem überreichen Erbarmen hat der Jünger Judas bis heute in den Kirchen wenig, wenn überhaupt etwas erfahren, obwohl er nach Matthäus seinen Verrat bereut, diese seine Sünde bekennt, Jesus für unschuldig erklärt, sich von dem Verratssalär trennt und sich – zur Strafe für sein Tun oder eher aus Verzweiflung – das Leben nimmt. Jedes Mal, wenn die Gemeinde das Abendmahl feiert, erinnert der Liturg oder die Liturgin mit den von ihnen rezitierten Einsetzungsworten: „Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward“, an die schmähliche Tat des Jüngers. In dem Evangelischen Gottesdienstbuch von 2000 mit seinen offiziellen agendarischen Formularen geschieht dies mehr als ein Dutzend Mal,47 und in dessen hinführender Einleitung wird die Verratsnotiz durch die Erläuterung, er sei „durch einen Jesus nahe stehenden Jünger“ verraten worden, unverkennbar mit der Gestalt des Judas verbunden.48 Das heißt, es wird eine Wendung ohne Namen aus dem 1. Korintherbrief (11,23) durch ein Element aus den Evangelien verdeutlicht. Denkt man sich die literarisch späteren Evangelien weg, so kann die betreffende Verbform in der ‚Verrats‘-Notiz lexikalisch korrekt einfach mit „überliefert, ausgeliefert“ übertragen werden. So ist es von Georg Heinrici bereits vor mehr als 100 Jahren vorgeschlagen49 und in neueren Kommentaren aufgenommen und bekräftigt worden,50 dazu für die —————

47 Siehe Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, Berlin u.a. 22001, 114.126.142. 170.230.642.646.649.655.657.661.662.663.664.665. 48 Vgl. a.a.O., 27. 49 G. HEINRICI, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 81896, 344, mit der nicht schönen, aber genauen Paraphrase: „in der Nacht, in der sein Ueberliefertwerden vor sich ging“. Vgl. den Hinweis von C. WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig 1996, 265 mit Anm. 123. 50 Vgl. außer WOLFF, a.a.O., noch H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 1969, 226 (Übersetzung „ausgeliefert“). 232 Anm. 44 („Da dieses Stichwort [sc. παραδιδόναι] in der Tradition den gesamten Vorgang der ‚Auslieferung‘ und ‚Hingabe‘ bezeichnet, darf es an unserer Stelle nicht eng – lediglich vom Verrat des Judas – gefaßt werden.“); W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther. 3. Teilband: 1Kor 11,17–14,40, EKK VII/3, Zürich u.a. 1999, 31 („Auslieferung und Hingabe“). Während die Genannten das Imperferkt παρεδίδετο als Hinweis darauf verstehen, dass sich der längere Verlauf, der mit ihm angezeigt sei, auf die Abfolge der Passionsereignisse beziehe, „scheint“ nach A. LINDEMANN (Der Erste Korintherbrief, HNT 9/1, Tübingen 2000, 253), obwohl er diese Deutung des Imperfekts („längerer Verlauf “) teilt, das Verb den „Verrat des Judas“ zu meinen, weil sich „das παρεδίδετο Jesu auf ein bestimmtes geschichtliches Überliefern“ beziehe. Er übersetzt wie die Anderen mit „ausgeliefert“.

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Rezeption durch Paulus teilweise mit dem ausgesprochen erwägenswerten, soteriologisch positiven Sinn: „Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er (von Gott) dahingegeben wurde“.51 Diese Deutung stimmt mit jenen Aussagen überein, in denen mit demselben Begriff παραδιδόναι die Hingabe des Sohnes durch den Vater ausgesagt ist.52 So gibt es mehrere textnahe Gründe, die Einleitung der Einsetzungsworte in der Liturgie zu modifizieren. Zu nennen sind zusammenfassend  die Reue des Delinquenten,  die Rückgabe des ‚Judaslohnes‘,  das Sündenbekenntnis des Judas mit der Erklärung der Schuldlosigkeit Jesu,  die überreiche Freundlichkeit des barmherzigen und richtenden Königs,  die Bekräftigung der Gemeinde „wie wir vergeben haben unsern Schuldigern“ – auch Judas,53  die Unterscheidung zwischen dem 1. Korintherbrief und den Evangelien, ————— 51

Vgl. WOLFF, Korinther, 265 („Für paulinisches Verständnis ist Gott als Subjekt anzunehmen [vgl. Röm 4,25; 8,32]“); SCHRAGE, Korintherbrief, 31. Nach D. ZELLER (Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 370) ist die Deutung als theologisches Passiv abzulehnen, weil das Überliefern Gottes die ganze Passion umfasse, hier jedoch (nur) von der Nacht die Rede sei. 52 Vgl. die in der vorigen Anm. genannten Stellen. 53 Auch wenn „auch Judas“ eine Inklusion ist, scheinen doch in diesem Zusammenhang die Beobachtungen von M. LIMBECK (Das Judasbild im Neuen Testament aus christlicher Sicht, in: H.L. GOLDSCHMIDT/ M. LIMBECK, Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament, Stuttgart 1976, 37–101: 90) bemerkenswert: „Denn gleichgültig, welche Motive Judas auch bewogen hatten, Jesus in die Hände seiner Gegner zu überliefern, sie hatten Jesus zu keiner Zeit veranlaßt, sich von ihm zurückzuziehen oder ihn aus seiner Zuneigung auszuschließen. Nicht zufällig weiß keiner der Evangelisten davon zu berichten, daß Jesus Judas den Zutritt zum letzten Mahl verwehrt habe. Gerade angesichts des Verhaltens Jesu Judas gegenüber kann es keinen Zweifel mehr daran geben, daß Gott einem jeden in Güte begegnen will.“ (Hervorhebung M.L.) Limbecks und die obigen Ausführungen stimmen im Ansatz darin überein, dass sie die Judasgestalt mit Hilfe des Neuen Testaments selber aus dem Schatten ihrer Verachtung zu bergen suchen. Sie unterscheiden sich darin von den vielen Versuchen der Neuzeit, ihn durch mancherlei Konstruktionen zu rehabilitieren, unter denen „Der Fall Judas“ von WALTER JENS (Stuttgart 1975) herausragt. Vgl. zu den Rezeptionen der Judasgestalt als Überblick den Judas-Artikel (I) von K. LÜTHI in: TRE 17 (1988) 296–304, sowie die Monografie desselben Verfassers: Judas Iskarioth in der Geschichte der Auslegung von der Reformation bis zur Gegenwart, Zürich 1955. Ebenso mag es für den Bereich der Ikonografie mit einigen wenigen Hinweisen sein Bewenden haben: W.D. HAND, A Dictionary of Words and Idioms Associated with Judas Iscariot. A Compilation Based Mainly on Material Found in Germanic Languages, UCPMP 24 (1942) 289–356; O. GOETZ, „Hie henkt Judas“, in: H. Wentzel (Hg.), Form und Inhalt. Kunstgeschichtliche Studien. FS Otto Schmitt, Stuttgart 1950, 105–137; H. JURSCH, Judas Ischarioth in der Kunst, WZ(J) 1952/53, 101–105; R. MELLINKOFF, Judas’s Red Hair and the Jews, JJA 9 (1982) 31–46. Bemerkenswert ist gewissermaßen im Gegenzug die Darstellung des letzten Mahls Jesu in der Ottheinrich-Bibel (Regensburg, um 1425/30; Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 8010/1.2. fol 40v; Postkarte des Beuroner Kunstverlags, Beuron): Alle zwölf Jünger tragen einen Heiligenschein, und Judas ist durch keins der üblichen negativen Attribute (Geldbeutel, rotes Haar und roter Bart, gelbes Gewand) hervorgehoben.

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 und nicht zuletzt die Bedeutung des verwendeten Begriffs παραδιδόναι, der für „überliefern, ausliefern, dahingeben“ steht, nicht jedoch – trotz anderweitiger lexikalischer Angaben – für „verraten“.54 Formulierte man, exegetisch einwandfrei: „In der Nacht, da er ausgeliefert/ dahingegeben wurde“, wäre bereits viel gewonnen, auch wenn von Bibelkennern vermutlich oft im Stillen ergänzt werden würde: von Judas. Verdeutlichte man: „In der Nacht, da er (von Gott) dahingegeben wurde“, würde dies unter anderem eine gewisse Schwerfälligkeit des liturgischen Textes bewirken.55 Man sollte deshalb vielleicht, einfach und historisch zutreffend, formulieren: „In der Nacht vor seinem Tod nahm unser Herr Jesus Christus das Brot, dankte und brach’s …“ Und falls Judas, wie nicht nur von Hans Conzelmann angenommen,56 überhaupt eine fiktive Gestalt sein sollte, würde sein angedeuteter Platz in der Liturgie umso mehr in die Irre führen. Er würde dann vollends nur noch dazu dienen, als hässliche Symbolfigur für das Jesus ablehnende Judentum fortzuleben und eine Tradition fortzusetzen, durch die genug unchristliches Verhalten und Fühlen gefördert worden sind.57 Für die, denen die Hürde der vorgeschlagenen Änderung als zu hoch erscheint, erlaube ich mir den Hinweis, dass die evangelische Kirche schon ganz andere Hindernisse genommen hat. So sind im Anhang des Evangelischen Gesangbuches von den 150 Psalmen des Psalters insgesamt 56 für die Verwendung im Gottesdienst abgedruckt.58 Nur 19, d.h. etwa Drittel, sind vollständig aufgenommen.59 Bei den übrigen 37 sind immer mal wieder ein ————— 54

Für diesen bereits in der Diskussion nach dem Vortrag gegebenen Hinweis danke ich dem Freund und Kollegen Berndt Schaller. Er schreibt dazu ergänzend: „Die Konnotation Judas – Verräter haben wir offenkundig Lukas zu verdanken, der 6,16 in der Jüngerliste das Substantiv προδότης verwendet, wo Markus/Matthäus eine Verbform von παραδιδόναι verwenden. Dass er nicht παραδότης bringt, ist m.E. mittelbar ein Beleg, dass auch er παραδιδόναι sprachlich nicht im Sinn von ‚verraten‘ kennt.“ Jenseits der Frage der Übersetzung von παραδιδόναι in 1Kor 11,23 ist es unbenommen, dass sich das Verhalten des Judas, wie es in den Evangelien geschildert wird, auf den Begriff des Verrats bringen lässt. Aber das ist eben eine andere Frage. 55 Auch könnte man sich genötigt sehen, die Zuspitzung „von Gott“ zu erklären, was im Rahmen der liturgischen Rezitation schwerlich möglich wäre. 56 Vgl. die von LIMBECK (Judasbild, 37 Anm. 1) angeführte ältere Literatur sowie die knappe Bemerkung in dem Judas-Artikel von M. ELK, Juda Ischariot, JL 3 (1929) 400. 57 Vgl. etwa die schmähenden Ausführungen Martin Luthers über Judas und die Juden in seiner Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ (WA 56, 636,32–637,9, ferner 638,8.11; 646,21; 647,12). Zu Luthers Judasdeutung s. jedoch auch LÜTHI, Judas Iskarioth, 10–18. 58 Siehe Evangelisches Gesangbuch (Ausgabe für die Evangelische Landeskirche Anhalts, die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, die Evangelische Kirche der schlesischen Oberlausitz, die Pommersche Evangelische Kirche, die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen,), Berlin/Leipzig 1995, Psalmgebete Nr. 702–758 (Ps 22 ist auf Nr. 709 und 710 aufgeteilt, von daher die Anzahl von 57). 59 Ps 1; 4; 8; 13; 23; 43; 67; 84; 90; 98; 100; 103; 111; 113; 121; 126; 130; 134; 150.

Das Vaterunser als Zugang zum Matthäusevangelium

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Vers oder mehrere Verse ausgelassen.60 Jeder kann mit Hilfe von Bibel und Gesangbuch leicht selber die Probe machen, inwieweit damit Sinnveränderungen der biblischen Psalmen verbunden sind. Ohne zu viel vorwegzunehmen: Sie sind teilweise beträchtlich – ganz ungeachtet dessen, dass dabei manch schöner neuer Gebetstext herausgekommen ist. Im Verhältnis zu diesen Sinnverschiebungen ist die kleine Modifikation, die ich zuletzt für die Einsetzungsworte vorgeschlagen habe, biblisch gesprochen eine Mücke. Ihr Gewinn für das christlich-jüdische Verhältnis ist demgegenüber nicht leicht zu überschätzen, nimmt man ernst, was Hermann Levin Goldschmidt bereits vor langen Jahrzehnten in der Feststellung zum Ausdruck gebracht hat: Mag noch so viel Umbesinnung im christlich-jüdischen Verhältnis in die Wege geleitet werden – „solange Judas nicht miteinbezogen wird, bleibt seine Verteufelung eine solche der Juden, bewusst oder unbewusst!“61

10 Bevor Jesus in Kap. 6 der Bergpredigt Anweisungen für das Handeln im Verborgenen gibt, redet er die Jünger als Salz der Erde und Licht der Welt an (Mt 5,13f ). Nur scheinbar im Gegensatz zu 6,1–18 fordert er sie anschließend auf: „So lasst euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (5,16). Sie sollen mithin, etwas freier formuliert, so handeln, dass die Leute sagen: ‚Gott sei Dank, dass es die Kirche gibt!‘ Eine kleine Änderung wie die vorgeschlagene – sei es die enger am Text bleibende, sei es die etwas freiere – könnte dazu beitragen, dass Judas und nicht zuletzt alle aus seinem Volk, die im Laufe der Geschichte in seine verachtete Gestalt hineingedacht und hineingezogen worden sind, zwar nicht gleich sagen: ‚Gott sei Dank …‘, aber dass sie vielleicht doch zumindest sukzessive sagen können: ,Wie gut, dass es die Kirche gibt!‘ Umso mehr könnten dann auch die trefflichen Worte Gestalt finden, mit denen Eduard Lohse seine Auslegung des Vaterunsers beschlossen hat: —————

60 So bei Ps 6; 18; 19; 22; 24; 25; 27; 30; 31; 32; 34; 36; 37; 38; 39; 42; 46; 47; 51; 57; 63; 69; 71; 73; 91; 92; 96; 102; 104; 116; 118; 119; 136; 139; 143; 145; 146; 148. 61 H.L. GOLDSCHMIDT, Das Judasbild im Neuen Testament aus jüdischer Sicht, in: DERS./ M. LIMBECK, Verrat, 9–36: 28f. Vgl. auch das treffende Resümee von A. BEDENBENDER („Sein Blut komme über uns …“. Überlegungen zum Passionstext Matthäus 27,1–26, TuK 23 [2000] 32– 48: 48) im Rahmen der Erörterung eines benachbarten Problems bei Matthäus, vor allem den Schlusssatz des nachfolgenden Zitats: „Gewiß können wir die antijüdische Wirkungsgeschichte der Evangelien nicht ungeschehen machen, und wir dürfen sie auch nie vergessen. Aber gerade deshalb sollten wir den Mut haben, durch die altehrwürdigen Deutungsmuster hindurchzustoßen und die Texte mit offenen Augen neu zu lesen. Denn ob es irgendwann einmal auch eine projüdische Wirkungsgeschichte der Evangelien geben wird – dafür tragen wir die Verantwortung.“

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Peter von der Osten-Sacken

„Im Gebet, das auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vertraut, sind Juden und Christen einander nahe wie kaum anderswo, bedienen sie sich doch weithin derselben oder doch sehr ähnlicher Worte. In ihren Gebeten könnten daher die einen wie die anderen sich erneut ihrer aus der Geschichte überkommenen Verbundenheit bewusst werden und dadurch zu einem behutsamen Dialog finden, der nach einer langen leidvollen Vergangenheit neue Wege in die Zukunft eröffnen mag.“62

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62 LOHSE, Voraussetzungen, 11f; DERS., Vater unser, 59. Vgl. in diesem Sinne P. VON DER OSTEN-SACKEN, Katechismus und Siddur. Martin Luther und die Lehrer Israels (1984), VIKJ 15, 2., überarb. u. erw. Aufl. Berlin 1994, 225–282 (das Vaterunser in Luthers Auslegung und das Achtzehngebet).

Michael Wolter

Das Gebet der Jünger Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 11,2c–4)

1 1.1 Seit dem Beginn der 1950er Jahre ist die sog. redaktionsgeschichtliche Methode ein wesentlicher Bestandteil der Erforschung der Evangelien. Sie hat uns gelehrt, dass die Evangelisten nicht lediglich Sammler und Tradenten der Jesusüberlieferung sind, sondern hochkarätige Theologen, die ihre jeweiligen Jesusgeschichten mit einem unverwechselbaren theologischen Profil ausgestattet haben.1 Die einzelnen Bausteine oder Episoden, die ihnen in mündlicher oder auch schriftlicher Gestalt vorlagen und aus denen sie ihre Jesuserzählungen zusammengesetzt haben, lassen sie dabei in der Weise zu Trägern ihrer jeweiligen theologischen Konzeption werden, dass sie sie in einen bestimmten literarischen Kontext einbetten. Bei den Evangelien handelt es sich um episodische Erzählungen, und das hat zur Folge, dass Jesu Taten und Worte2 nicht wie auf einem Kalenderblatt jeweils für sich allein stehen, sondern immer andere Worte und Taten zu literarischen Nachbarn haben. Indem die Evangelisten solche Nachbarschaften herstellen, sagen sie ihren Lesern, wie sie bestimmte einzelne Jesusüberlieferungen verstehen sollen. ————— 1

Für das Lukasevangelium wurde die redaktionsgeschichtliche Fragestellung durch die bahnbrechende Untersuchung von H. CONZELMANN, Die Mitte der Zeit, BHTh 17, Tübingen 1954 (61977), eröffnet. Für das Markusevangelium gilt Entsprechendes für W. MARXSEN, Der Evangelist Markus, FRLANT 67, Göttingen 1956 (21959), und in Bezug auf das Matthäusevangelium für den Sammelband von G. BORNKAMM/G. BARTH/H.J. HELD, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen-Vluyn 1960 (51968) und die Monographie von G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 1962 (31971). 2 Das Begriffspaar ‚Taten und Worte‘ bildet schon in der antiken biographischen Tradition einen komplementären Dualismus, mit dem die Gesamtheit des Wirkens eines Menschen bezeichnet wird; vgl. z.B. Quintilian, Inst. 3,7,15: facta und dicta bilden den operum ... contextus eines Menschen; s. auch Ps 144,13LXX; Sir 3,8; 4Makk 16,14; Lk 24,19: „Jesus von Nazareth, der ein ἀνὴρ προφήτης war, δυνατὸς ἐν ἔργῳ καὶ λόγῳ vor Gott und dem ganzen Volk“; Apg 7,22; Röm 15,18; 2Kor 10,11; Kol 3,17; 2Thess 2,17.

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Michael Wolter

Das ist auch beim Vaterunser so. Bei Matthäus steht es in der Bergpredigt Mt 5–7. Es ist hier (6,9–13) Teil einer allgemeinen Instruktion zu den Frömmigkeitsübungen Almosen (6,2–4), Beten (6,5–15) und Fasten (6,16–18). Matthäus präsentiert es als ein Gebet, in dem alles Beten zusammengefasst ist.3 Die Jünger müssen darum nicht wie die Heiden plappern oder viele Worte machen, wenn sie mit ihren Anliegen vor Gott treten, denn Gott weiß, was sie brauchen, bevor sie ihn darum bitten (6,7f ). Bei Lukas hat das Vaterunser ganz andere Nachbarn. Es ist bei ihm nicht einmal Bestandteil der Feldrede (Lk 6,20–49), der Parallele zur Bergpredigt im Lukasevangelium. Es steht bei ihm auch anderswo nicht innerhalb einer längeren Rede Jesu, sondern es ist in eine ganz andere Art von literarischem Kontext eingebettet. Es ist Bestandteil des sog. ‚Reiseberichts‘, der in 9,51– 18,344 Jesu und der Jünger Wanderung nach Jerusalem erzählt und für den gilt, dass keine einzige Episode mit einer topographischen Fixierung versehen ist. Dem entspricht, dass Jesus im Lukasevangelium die Jünger das Vaterunser an einem Ort lehrt, der nicht näher bezeichnet wird: ἐν τόπῳ τινί heißt es in 11,1a, d.h. irgendwo auf dem Weg nach Jerusalem. 1.2 Lukas konstruiert eine Szene, die dadurch eröffnet wird, dass er seinen Lesern den betenden Jesus zeigt: καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτὸν ἐν τόπῳ τινὶ προσευχόμενον. Schon dieser Beginn weist zwei typische Elemente des lukanischen Erzählens auf. Das gilt zum einen für den syntaktischen Bauplan seiner Beschreibung des szenischen Settings: Die Eröffnung mit der Formulierung καὶ ἐγένετο ἐν τῷ + Infinitiv mit logischem Subjekt im Akkusativ findet sich in seiner Jesuserzählung noch öfter (s. auch Lk 5,12; 9,18.29.33; 11,1; 14,1; 17,14; 19,15; 24,4.15.30.51). Umgekehrt gibt es diese Formulierung innerhalb des —————

3 Vgl. zu ihm jetzt M. KONRADT, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 103–109. Aus diesem Grunde ist das Vaterunser bei Matthäus vielleicht doch mehr als nur ein „Beispiel für ein kurzes Gebet, das nicht unnötig Worte macht“ (KONRADT, Evangelium, 104, mit dem Hinweis auf Koh 5,1; Sir 7,14). 4 Während es in Bezug auf den Beginn des Reiseberichts in Lk 9,51 einen relativ großen Konsens gibt, gehen die Meinungen bei der Bestimmung seines Endes weit auseinander, weil es im Unterschied zu der deutlich erkennbaren Aufbruchsnotiz in 9,51 keine Ankunftsnotiz gibt. 18,34 wird hier als Ende gewählt, weil in 18,35 erstmals wieder ein Ortsname genannt wird (Jericho), der die Annäherung Jesu an Jerusalem zum Ausdruck bringt. Es ist aber auch möglich, dass Lukas Jesu Wanderung nach Jerusalem erst mit dem Betreten des Tempels und der Tempelreinigung in 19,45f enden lässt (vgl. dazu im Einzelnen M. WOLTER, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 365f ).

Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 11,2c–4)

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Neuen Testaments in keiner anderen Schrift. Es handelt sich also um ein für das lukanische Erzählen typisches Stilelement.5 Zum anderen ist die lukanische Handschrift bei der Gestaltung der Episode darin zu erkennen, dass Jesus betet (Lk 11,1a). Lukas lässt Jesus auch sonst des Öfteren beten, und zwar nicht nur dort, wo Jesus auch in seiner Markus-Vorlage betet – „an einsamen Orten“ (Lk 5,16 par. Mk 1,39) und in Gethsemane (Lk 22,41.446 par. Mk 14,35.39) –, sondern auch an anderen Stellen: Nach Lk 3,21f kommt der heilige Geist auf Jesus herab und wird er als Sohn Gottes proklamiert, „während er betete“ (προσευχομένου). In 9,18–22 eröffnet Lukas einen Dialog zwischen Jesus und den Jüngern, der dann dazu führt, dass die Jünger zur Erkenntnis der christologischen Identität Jesu gelangen, mit fast denselben Worten wie die Vaterunser-Szene: „Und es geschah, als er für sich allein betete“ (καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτὸν προσευχόμενον κατὰ μόνας). Dasselbe gilt für die Schilderung der Verklärung Jesu in 9,29, die durch die Worte καὶ ἐγένετο ἐν τῷ προσεύχεσθαι αὐτόν eingeleitet wird. In allen drei Fällen übernimmt Lukas Stoff aus dem Markusevangelium, und in allen drei Fällen fehlt an der entsprechenden Stelle seiner Vorlage (Mk 1,9f; 8,27; 9,2f ) die Erwähnung des betenden Jesus. Wir haben hier darum einen typischen Bestandteil des lukanischen Jesusbildes vor uns.7 An einem Punkt unterscheidet sich die Einleitung der Vaterunser-Szene freilich von den anderen Episoden, die Lukas mit einem Blick auf den betenden Jesus eröffnet: Lukas setzt mit 11,1b eine ausdrückliche zeitliche Zäsur zwischen dem betenden Jesus und dem Beginn des Dialogs mit den Jüngern. Diese treten erst dann an Jesus mit der Bitte heran, sie beten zu lehren, nachdem Lukas ausdrücklich mitgeteilt hat, dass Jesus mit dem Beten aufgehört hat (ὡς ἐπαύσατο8). Dadurch wird der Satz syntaktisch ziem—————

5 Diese Formulierung begegnet jedoch häufig in der Septuaginta (z.B. in Gen 4,8; 11,2; 19,29; Jos 15,18; Ri 1,14; 16,14; 4Kgt[2Kön] 2,1; 2Par[2Chr] 5,11; Jes 37,1 u.ö.). Sie ist damit als Bestandteil der sog. Septuaginta-Mimesis erkennbar, die sich auch sonst oft im lukanischen Doppelwerk beobachten lässt (vgl. dazu E. PLÜMACHER, Art. Apostelgeschichte, TRE 3 [1978] 483–528, hier 506–508; J.A. FITZMYER, The Gospel According to Luke I, AncB 28, New York u.a. 1981, 114ff; WOLTER, Lukasevangelium, 21f. 6 Lk 22,44 ist textkritisch möglicherweise sekundär (vgl. dazu WOLTER, Lukasevangelium, 722f ). 7 Anders verhält es sich mit Lk 6,12. Lukas erzählt hier, dass Jesus vor der Auswahl des Zwölferkreises „hinaus auf den Berg ging, um zu beten, und die ganze Nacht im Gebet zu Gott verbrachte“ (ἐξελθεῖν αὐτὸν εἰς τὸ ὄρος προσεύξασθαι, καὶ ἦν διανυκτερεύων ἐν τῇ προσευχῇ τοῦ θεοῦ). Diese Gebetsnotiz fehlt zwar ebenfalls in der markinischen Vorlage (Mk 3,13), doch fungiert sie im Unterschied zu den anderen drei Texten nicht als szenische Einleitung, sondern bildet eine eigene Episode. Erst nach Tagesanbruch, d.h. in einer neuen Szene, setzt Jesus den Zwölferkreis ein. 8 Dieser Ausdruck ist ebenfalls von καὶ ἐγένετο abhängig. Das dadurch entstehende Syntagma καὶ ἐγένετο ... ὡς ... ist ebenfalls ein Septuagintismus (s. Anm. 5); vgl. Gen 27,30; 39,13;

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lich unansehnlich, doch hat Lukas diese Abgrenzung wohl vorgenommen, damit die Leser nicht denken, die Jünger hätten Jesus beim Gebet unterbrochen. In den anderen Texten sind es entweder Geschehnisse vom Himmel her, die sich an Jesus während seines Betens ereignen (3,21f; 9,29), oder Lukas lässt Jesus selbst das Wort an seine Jünger richten (9,18) und gibt den Lesern auf diese Weise zu verstehen, dass sein Gebet beendet ist. Lukas legt einem der Jünger dann die Bitte in den Mund, Jesus möge sie beten lehren, wie auch Johannes seine Jünger gelehrt habe (εἶπέν τις τῶν μαθητῶν αὐτοῦ πρὸς αὐτόν· κύριε, δίδαξον ἡμᾶς προσεύχεσθαι, καθὼς καὶ Ἰωάννης ἐδίδαξεν τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ). Dieser Bitte kommt Jesus durch die Mitteilung des Vaterunsers nach (11,2c–4), das Lukas ihn in 11,2b mit den Worten ὅταν προσεύχησθε λέγετε („Immer, wenn ihr betet, sprecht“) einleiten lässt. – Es entsteht dadurch eine apophthegmatische Struktur, die der gesamten Szene den formgeschichtlichen Charakter eines Lehrgesprächs gibt. 1.3 Damit treten Jesus und die Jünger aber noch nicht von der Bühne ab. Die episodische Konstellation bleibt dieselbe: Jesus und seine Jünger ἐν τόπῳ τινί (Lk 11,1a). Lukas ergänzt in 11,5–13 vielmehr noch eine weitere Rede, die Jesus an demselben τόπος τις an seine Jünger richtet: καὶ εἶπεν πρὸς αὐτούς (11,5a). Die fehlende Renominalisierung des Subjekts sowie die Proform αὐτούς bringen die szenische Isotopie zum Ausdruck. Gegenstand dieser weiteren Rede ist die Erhörungsgewissheit des Bittgebets. Eduard Lohse hat für sie in seinem Buch über das Vaterunser eine glückliche Bezeichnung gefunden: Es handele sich um einen „kleinen Gebetskatechismus“9. Lukas habe ihn „als Auslegung dem Vaterunser hinzugefügt“, um den Jüngern zu versichern, „dass rechtes Beten nicht vergeblich ist, sondern erhört wird“10. Dieser „Gebetskatechismus“ besteht aus drei Teilen: Er beginnt mit dem Gleichnis vom bittenden Freund (Lk 11,5–8), das es im Neuen Testament nur hier gibt. In 11,9f folgt dann die Ermutigung zum Bitten, Suchen und Anklopfen, und am Ende steht das Bildwort vom Vater, der seinen bittenden Kindern immer nur gute Gaben gibt (Lk 11,11–13). Zu den beiden letzten Teilen, also zu 11,9f und 11,11–13, gibt es Parallelen in der Bergpredigt ————— Dtn 5,23[20]; Jos 2,7; 4,11; 5,1.13; 8,14 u.ö. Lukas hat es auch in Lk 1,23.41; 2,15; 19,29. Von ihm abgesehen findet es bei keinem anderen neutestamentlichen Autor Verwendung. 9 E. LOHSE, Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 2009 (32012), 98. 10 Ebd.

Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 11,2c–4)

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des Matthäusevangeliums (Mt 7,7f.9–11). Hier sind diese Worte Jesu nicht mit dem Vaterunser verbunden, sondern sie folgen auf die Mahnung, dass man das Heilige nicht den Hunden geben und keine Perlen vor die Säue werfen soll (7,6). Bei Lukas wird der Zusammenhang zwischen dem „Gebetskatechismus“ (Lk 11,5–13) und dem Vaterunser (11,2ff ) nicht nur durch ihre bereits erwähnte szenische Isotopie hergestellt, sondern vor allem auch durch zwei weitere Elemente: Zum einen wird Gott nicht nur gleich zu Beginn, in der Anrede des Vaterunsers, „Vater“ genannt (11,2c), sondern auch am Schluss (11,13), wo er als πατὴρ ὁ ἐξ οὐρανοῦ („Vater im Himmel“)11 bezeichnet wird. Es entsteht dadurch eine schöne Inklusion, die beide Teile des „Gebetskatechismus“ zusammenhält. Bemerkenswert ist dabei, dass Lukas die Lokalisierung Gottes „im Himmel“ anders als Matthäus zwar nicht in der Anrede des Vaterunsers hat (statt πάτερ ἡμῶν ἐν τοῖς οὐρανοῖς [Mt 6,9b] steht bei ihm nur πάτερ [Lk 11,2c]), wohl aber am Ende des gesamten Abschnitts. Darüber hinaus wird der thematische Zusammenhang zwischen dem Vaterunser und der Gebetsrede Jesu dadurch hergestellt, dass es hier wie dort um das „Bitten“ geht: Im Vaterunser werden die Jünger instruiert, dass „Beten“ ‚Gott bitten‘ heißt. Es gibt in dem Gebet, das Jesus die Jünger lehrt, darum nur Bitten. Keinen Dank, keine Klage und kein Lob. Sondern Gott soll im Gebet nichts gebeten werden als: dass er seinen Namen heiligt (11,2d) und sein Reich kommen lässt (11,2e)12, dass er uns jeden Tag unser täglich Brot gibt (11,3), dass er uns unsere Sünden vergibt (11,4a) und dass er uns nicht in Versuchung führt (11,4c). In der Gebetsrede macht der lukanische Jesus dieses Bitten (fünfmal αἰτέω: in 11,9.10.11.12.13) dann in der Weise zum Thema, dass er seinen Jüngern die Gewissheit vermitteln will, dass Gott ihr Bitten erhören wird. ————— 11

Die Apposition ὁ ἐξ οὐρανοῦ ist textkritisch labil. Die an ihrer Stelle überlieferten Varianten ἐξ οὐρανοῦ (p75 ‫ ﬡ‬L Ψ 33. 892. 2542 sa bopt; ὑμῶν [–579]), ὁ οὐράνιος (p45 579. 1424 l vgs) und ὑμῶν (ἡμῶν: f 13) ὁ ἐξ οὐρανοῦ (C f 13) lassen sich als Verbesserungen von ὁ ἐξ οὐρανοῦ (A B D K W Γ Δ Θ f 1 565. 700. 1241 M syh) erklären, was umgekehrt eigentlich nicht möglich ist. Die von Nestle/Aland28 und dem GNT bevorzugte Lesart ist lectio difficilior und kann aus diesem Grunde als ursprünglich gelten. – Der Ausdruck ἐκ + Genitiv, der wohl für die textgeschichtliche Unruhe verantwortlich war, steht hier für ἐν + Dativ (vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. Rehkopf, Göttingen 141976, § 437,1, mit dem Hinweis auf Parallelen in Mt 24,17 und Kol 4,16). 12 In einigen Handschriften ist eine andere Fassung dieser Bitte überliefert: ἐλθέτω τὸ πνεῦμά σου τὸ ἅγιον ἐφ᾽ ἡμᾶς καὶ καθαρισάτω ἡμᾶς („es komme dein heiliger Geist auf uns und reinige uns“ [162]. 700; MarkionTert. Gregor v. Nyssa). Sie ist jedoch zu schlecht bezeugt, um Anspruch auf Ursprünglichkeit haben zu können (vgl. dazu G. SCHNEIDER, Die Bitte um das Kommen des Geistes im lukanischen Vaterunser [Lk 11,2 v.l.], in: W. Schrage [Hg.], Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments. FS Heinrich Greeven, BZNW 47, Berlin/New York 1986, 344–373; I.H. MARSHALL, The Gospel of Luke, NIGTC, Grand Rapids [MI] 1978, 458).

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Nach diesem kurzen Überblick über die literarische Einbettung des Vaterunsers im Lukasevangelium lassen wir diesen Faden einstweilen liegen und stellen einen anderen Aspekt der lukanischen Rezeption des Vaterunsers in den Mittelpunkt. Wir kehren dafür noch einmal an den Anfang zurück.

2 2.1 Die Evangelisten interpretieren die Jesusüberlieferung nicht nur durch die literarische Umgebung, in die sie sie hineinstellen. Sie stecken ihnen vielmehr auch dadurch theologische Lichter auf, dass sie nicht nur die Erzählungen von Jesu Taten, sondern auch Jesu Worte so gestalten, dass sie zu dem Bild von Jesus passen, das sie mit Hilfe ihrer Darstellungen von Jesu Wirken und Geschick vermitteln wollen. Ihre Gestaltung der Wortüberlieferung durch Umformulierung, Ergänzung und Kürzung ist dabei z.T. von einer überraschend großen Kreativität geleitet. Manchmal erfinden sie auch neue Worte und lassen andere weg. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der exegetischen Arbeit besteht dementsprechend in dem Bemühen zu rekonstruieren, was Jesus ursprünglich wirklich gesagt hat.13 Dass es sich hierbei um ein überaus schwieriges Unterfangen handelt, das zu stark voneinander abweichenden und kontrovers diskutierten Ergebnissen führt, kann sich jeder, der mit der exegetischen Arbeit einigermaßen vertraut ist, ohne Mühe vorstellen. – Im Fall des Vaterunsers ist die Beantwortung der Frage: ‚Was ist alte Überlieferung und was stammt vom Evangelisten?‘, durch einen anderen Sachverhalt noch zusätzlich erschwert: Wir müssen damit rechnen, dass Matthäus und Lukas dieses Gebet nicht lediglich durch ihre Vorlage – das wäre in diesem Fall die Logienquelle – kennengelernt haben,14 sondern dass —————

13 Vgl. hierzu exemplarisch D. LÜHRMANN, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesusworte, in: J. Dupont (Hg.), Jésus aux origines de la christologie, BEThL 40, Leuven 21989, 59–72; G. THEISSEN/D. WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, NTOA 34, Fribourg/Göttingen 1997; D.S. DU TOIT, Der unähnliche Jesus. Eine kritische Evaluierung der Entstehung des Differenzkriteriums und seiner geschichts- und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin/New York 2002, 89–121. 14 Dass beide Versionen auf ein und demselben griechischen Text basieren, stellt das Adjektiv ἐπιούσιος in der Brotbitte sicher (Lk 11,3 par. Mt 6,11; zu ihm s. auch u. S. 135 mit Anm. 23). Es ist der gesamten antiken Gräzität unbekannt und findet sich nur an dieser Stelle. Noch Origenes stellt fest: „Dieser Ausdruck (λέξις) kommt bei keinem der Griechen und der Weisen vor (ὠνόμασται), und er wird auch nicht im allgemeinen Sprachgebrauch benutzt (οὔτε ἐν τῇ τῶν ἰδιωτῶν συνηθείῃ τέτριπται); es scheint vielmehr, dass er von den Evangelisten gebildet wurde“

Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 11,2c–4)

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es ihnen und ihren Gemeinden daneben und schon längst durch den Gebrauch im Gottesdienst vertraut gewesen ist. Ihre Begegnung mit diesem Gebet unterschied sich damit nicht prinzipiell von unserer eigenen Situation: Wir kennen das Vaterunser aus unseren Gottesdiensten als ein Gebet, das die ganze Gemeinde spricht, und wir begegnen ihm, wenn wir die Jesusgeschichten von Matthäus und Lukas lesen. Und die Analogie geht sogar noch weiter: Wenn wir das Matthäusevangelium und das Lukasevangelium aufschlagen und das Vaterunser dort lesen, merken wir sofort, dass es in den beiden Evangelien nicht nur ganz unterschiedliche Fassungen hat, sondern dass diese beiden Fassungen sich auch deutlich von dem Wortlaut des Vaterunsers unterscheiden, mit dem wir es heute in unseren Gottesdiensten beten.15 Wir müssen darum annehmen, dass Matthäus und Lukas nicht nur unterschiedliche Fassungen des Vaterunsers aus ihren Gottesdiensten kannten, sondern dass diese beiden Fassungen auch nicht mit dem Wortlaut identisch waren, den sie in der Logienquelle vorfanden. Darüber hinaus ist auch damit zu rechnen, dass die beiden Evangelisten – und jeder unterschiedlich – in die sprachlichen Gestaltungen des Vaterunsers, die ihnen schriftlich (Logienquelle) und mündlich (gemeindliche Gebetspraxis) bekannt war, noch einmal selbst gestaltend eingegriffen haben, als sie das Vaterunser zum Bestandteil ihrer jeweiligen Jesusgeschichten machten. 2.2 Die Unterschiede zwischen der matthäischen und der lukanischen Fassung des Vaterunsers betreffen sowohl den Umfang als auch den Wortlaut des Textes: ————— (Orat. 27,7, in: Origenes Werke. II. Contra Celsum V–VIII, De oratione, hg. von P. Koetschau, GCS 3, Berlin 1899, 366f ). Es ist extrem unwahrscheinlich, dass Lukas und Matthäus dieses Wort unabhängig voneinander gebildet haben oder dass es auf zwei separaten Überlieferungswegen entstanden und in die beiden Textfassungen geraten ist. Dieser Befund macht es darum mehr als wahrscheinlich, dass es ursprünglich nur eine einzige griechische Übersetzung des Vaterunsers gegeben hat, in der dieser Ausdruck geprägt wurde und die in seine beiden synoptischen Fassungen Eingang gefunden hat. Damit ist aber auch ausgeschlossen, dass die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen darauf zurückgehen, dass Jesus seine Jünger das Gebet mehrfach und mit unterschiedlichem Wortlaut gelehrt hat. 15 Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass die Doxologie, die heute das Vaterunser abschließt („denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“), weder in der matthäischen noch in der lukanischen Fassung des Vaterunsers belegt ist. Sie ist erst im Laufe der Textüberlieferung des Neuen Testaments zur matthäischen Fassung des Vaterunsers hinzugekommen und ist darum nur in jüngeren Handschriften belegt. Im Lukasevangelium fehlt sie ganz. Eine dieser Doxologie sehr nahe kommende Formulierung findet sich erstmals am Ende der Fassung des Vaterunsers, die in Did 8,2 überliefert ist: ὅτι σοῦ ἐστιν ἡ δύναμις καὶ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας.

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2.2.1 In Bezug auf den Umfang ist das lukanische Vaterunser an drei Stellen kürzer als die bei Matthäus überlieferte Fassung:  Lukas hat nur die einfache Anrede πάτερ (Lk 11,2c).  Im ersten Teil, in dem es um Gott geht, fehlt bei Lukas die dritte ‚DuBitte‘: γενηθήτω τὸ θέλημά σου, ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς (Mt 6,10b– c). Diese Bitte fehlt zwar im lukanischen Vaterunser, doch findet sich eine ihr sehr nahekommende Formulierung im Munde Jesu auch in der lukanischen Fassung der Gethsemane-Erzählung. Hier heißt es in Lk 22,42c–d: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Becher von mir fort. Doch nicht mein Wille, sondern deiner soll geschehen (πλὴν μὴ τὸ θέλημά μου ἀλλὰ τὸ σὸν γινέσθω)“. In der markinischen Vorlage hieß es noch: ... ἀλλ᾽ οὐ τί ἐγὼ θέλω ἀλλὰ τί σύ (Mk 14,36). In Mt 26,42d heißt es an anderer Stelle der Gethsemane-Episode wie in seiner Fassung der dritten Du-Bitte des Vaterunsers (Mt 6,10b): γενηθήτω τὸ θέλημά σου. In Apg 21,14 gibt es bei Lukas noch einmal eine ganz ähnliche Formulierung: τοῦ κυρίου τὸ θέλημα γινέσθω. An diesem Befund ist bemerkenswert, dass die syntagmatische Verbindung von θέλημα mit dem Imperativ der 3. Person von γίνομαι (also γινέσθω, γενηθήτω oder γενέσθω) der gesamten nichtchristlichen griechischen Literatur der Antike unbekannt ist. Nur Autoren, von denen wir wissen, dass sie das Vaterunser kennen, gebrauchen diese Formulierung. Dieser Sachverhalt macht es wahrscheinlich, dass auch die dritte Du-Bitte der matthäischen Fassung des Vaterunsers Bestandteil der Jesusüberlieferung war und Lukas sie aus ihr kannte. Offen bleiben muss dabei natürlich, in welchem Zusammenhang sie überliefert wurde.16

 Im zweiten Teil, in dem es um die Beter geht, fehlt bei Lukas der zweite Teil der dritten ‚Wir-Bitte‘: ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ (Mt 6,13b). 2.2.2 Im Wortlaut gibt es ebenfalls an drei Stellen Unterschiede:17  In der Brotbitte (der ersten ‚Wir-Bitte‘) hat Lukas nicht wie Mt 6,11 den punktuellen Aorist δός, sondern das iterative Präsens, und statt „heute“ —————

16 M. PHILONENKO, Das Vaterunser, UTB 2312, Tübingen 2002, 110f, nimmt die Überschneidung der dritten Vaterunser-Bitte mit dem Gethsemane-Gebet Jesu als Beleg dafür, dass die drei Du-Bitten zusammen mit der Anrede ursprünglich als persönliches Gebet Jesu eigenständig existiert hätten und erst nach Jesu Tod mit den drei Wir-Bitten zum Vaterunser zusammengebaut worden seien. Den maßgeblichen Einwand gegen diese Hypothese hat N. Förster formuliert: Bei dieser Annahme bleibe ungeklärt, „wieso die persönlichen Gebetsbitten Jesu in der Du-Form mit den Wir-Bitten, die von einer Mehrzahl von Betern gesprochen werden sollten, zu einem einzigen Gebetstext verbunden wurden. Eine solche Zusammenstellung ergab sich ja keineswegs von selbst“ (N. FÖRSTER, Das gemeinschaftliche Gebet in der Sicht des Lukas, Biblical Tools and Studies 4, Leuven 2007, 255). 17 Die Abweichungen sind durch Kursivdruck kenntlich gemacht.

Das Vaterunser im Lukasevangelium (Lk 11,2c–4)

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(σήμερον) steht bei ihm „jeden Tag“: τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δίδου ἡμῖν τὸ καθ᾽ ἡμέραν (Lk 11,3).18  In der Vergebungsbitte (der zweiten ‚Wir-Bitte‘) bietet Lukas nicht wie Mt 6,12a „Schulden“ (ὀφειλήματα), sondern „Sünden“ (ἁμαρτίαι): καὶ ἄφες ἡμῖν τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν (Lk 11,4a).  Ebenfalls in der Vergebungsbitte heißt die Fortsetzung bei Lukas nicht wie in Mt 6,12b ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν (also „wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern“), sondern καὶ γὰρ αὐτοὶ ἀφίομεν παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν (also „auch wir selbst vergeben jedem, der uns gegenüber schuldig ist“; Lk 11,4b). 2.3 Über die Frage, welche Gestalt die gemeinsame Vorlage hatte, welcher Umfang und welcher Wortlaut möglicherweise auf Jesus zurückgeht und was vom jeweiligen Evangelisten nachträglich verändert, ergänzt oder gestrichen wurde, können Exegeten in anderen Texten der synoptischen Jesusüberlieferung mit großem Engagement diskutieren, ohne dass sie jemals zu einer Einigung kommen. Das ist beim Vaterunser anders, denn hier ist sich die exegetische Zunft in der Beurteilung der Unterschiede relativ einig. Demnach sei in Bezug auf den unterschiedlichen Umfang des Vaterunsers die kürzere Lukas-Fassung die ältere, während bei den Abweichungen im Wortlaut, die sich in der Brotbitte und in der Vergebungsbitte finden, das Umgekehrte für wahrscheinlich gehalten wird: Bei ihnen gilt als ausgemacht, dass Matthäus den ursprünglichen Wortlaut hat, während Lukas ihn ————— 18

Nach Origenes, Fragm. in Lucam 180,1f (Origenes Werke. IX. Die Homilien zu Lukas in der Übersetzung des Hieronymus und die griechischen Reste der Homilien und des LukasKommentars, hg. von M. Rauer, GCS 49, Berlin 21959, 302) ist die lukanische Fassung der Brotbitte auch bei den Anhängern Markions in Gebrauch: οἱ ἀπὸ Μαρκίωνος ἔχουσι τὴν λέξιν οὕτως· τὸν ἄρτον σου τὸν ἐπιούσιον δίδου ἡμῖν τὸ καθ᾽ ἡμέραν. D.T. ROTH, The Text of the Lord’s Prayer in Marcion’s Gospel, ZNW 103 (2012) 47–63, hier 60, hält es für wahrscheinlich, dass Origenes diese Formulierung in einer Abschrift von Markions Evangelium gelesen hat (vgl. auch D.T. ROTH, Marcion’s Gospel and Luke: The History of Research in Current Debate, JBL 127 [2008] 513–527; DERS., The Text of Marcion’s Gospel, NTTSD 49, Leiden 2015). Dieser Befund spricht gegen die Annahme von M. Klinghardt, dass das Lukasevangelium eine erweiterte „Redaktion des markionitischen Evangeliums“ sei (M. KLINGHARDT, Markion vs. Lukas. Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 [2006] 484–513, hier 499; zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch M. VINZENT, Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, StPatr.S 2, Leuven 2014), denn sie ist zu der Annahme gezwungen, dass die matthäische Formulierung der Brotbitte (τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον), die mit guten Gründen für älter gehalten wird, eine sekundäre Umgestaltung der lukanischen Formulierung ist. Zur Kritik an Klinghardts Hypothese vgl. auch C.M. HAYS, Marcion vs. Luke: A Response to the Plädoyer of Matthias Klinghardt, ZNW 99 (2008) 213–232.

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verändert, um das Gebet auf diese Weise mit besonderen theologischen Akzenten zu versehen.19 Es gibt keinen Anlass, diesen Konsens streitig zu stellen, und aus diesem Grunde können wir uns gleich der Frage zuwenden, die diesem Beitrag als Aufgabe gestellt ist: Mit welchen besonderen Akzenten versieht Lukas das Vaterunser durch die Veränderungen, die er seiner Vorlage angedeihen lässt? Aus den gerade genannten Gründen halten wir uns dafür an die drei in 2.2.2 zusammengestellten Änderungen, die Lukas am Wortlaut des ihm überlieferten Vaterunser-Textes vorgenommen hat.

3 3.1 Theologisch am profiliertesten ist die Fassung, die Lukas der Brotbitte gegeben hat. 3.1.1 Für ihr Verständnis müssen wir aber einen kleinen Umweg machen, der uns zunächst zur Frage nach der Bedeutung des griechischen Wortes ἐπιούσιος führt, das es in der gesamten antiken Literatur nur in den beiden Fassungen des Vaterunsers bei Matthäus und Lukas gibt.20 Martin Luther hatte es schon 1522 mit „teglich“ übersetzt (WA.DB VI, 262), und diese Wiedergabe hat alle Revisionen der Lutherbibel unverändert überstanden, bis sie in der Übersetzung von 1984 zu „tägliches“ modernisiert wurde.21 In seinem Kleinen Katechismus von 1529 erklärt Luther auch, was denn das „täglich Brot“ ist, um das die Christen bitten: „Alles, was zur Leibsnahrung und -notdurft gehört als Essen, Trinken, Kleider, Schuch, Haus, Hof, Acker, Viehe, Geld, Gut, frumm Gemahl, frumme Kinder, frum-

————— 19

Vgl. hierzu S. CARRUTH/A. GARSKY, Q 11:2b–4, ed. S.D. Anderson, Leuven 1996; F. NEIQ: Q 11,2–4, in: DERS., Evangelica III, BEThL 150, Leuven 2001, 432–439. 20 S. dazu o. Anm. 14. 21 Die gesamte Bitte lautete in Luthers Übersetzung von 1522 (in modernisierter Orthographie) „Gib uns immerdar unser täglich Brot“. 1534 stellte Luther die Wortfolge um: „Gib uns unser täglich Brot immerdar“. Diese Fassung blieb bis zur Revision von 1956 gleich. Erst 1984 wurde dann nicht nur aus Luthers „immerdar“ die Formulierung „Tag für Tag“, sondern es wurde auch der ganze Satz umgestellt, und es hieß nun: „Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag“. Die Umstellung der Wortfolge ist wahrscheinlich durch die Anpassung an die Parallele in Mt 6,11 veranlasst, die Luther auch in den Kleinen Katechismus übernommen hatte. Sie entspricht aber auch der Wortfolge des griechischen Textes. RYNCK, Documenta

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me Gesinde, frumme und treue Oberherrn, gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.“22

Diese Erklärung geht weit über die Bedeutung hinaus, die sich aus einer philologischen Analyse des Wortes ἐπιούσιος ergibt und die heute mit einem relativ weit reichenden exegetischen Konsens vertreten wird. Sie findet sich schon im Matthäus-Kommentar des Hieronymus (347–420), der zu Mt 6,11 die Parallele im sog. Hebräerevangelium zitiert: In euangelio quod appellatur secundum Hebraeos pro supersubstantiali pane maar repperi, quod dicitur crastinum, ut sit sensus: Panem nostrum crastinum, id est futurum, da nobis hodie („Im Evangelium, das ‚nach den Hebräern‘ heißt, habe ich statt ‚übermaterielles Brot‘ ‚maar‘ gefunden, das ‚morgen‘ heißt, so dass der Sinn sei: ‚Unser morgiges Brot‘, d.h. das zukünftige, ‚gib uns heute‘“; Comm. in Matth. I,9 zu Mt 6,11).23

Demnach heißt Jesus seine Jünger Gott darum bitten, er möge ihnen für den nächsten Tag genug zu essen geben, so dass sie nicht hungern müssen, bis sie am Abend wieder im Haus eines Sympathisanten Aufnahme finden. Das Anliegen, das sich damit in der Brotbitte ausspricht, können wir noch deutlicher zum Sprechen bringen, wenn wir sie einer Anweisung an die Seite stellen, die sich in der Didache findet. In dieser, wahrscheinlich in den 120er Jahren entstandenen Schrift bekommen die christlichen Gemeinden u.a. Anweisungen übermittelt, wie sie mit Wanderaposteln umgehen sollen, die von Gemeinde zu Gemeinde zogen. Unter ihnen gab es ganz offensichtlich auch solche, deren Hauptziel darin bestand, sich von den christlichen Gemeinden aushalten zu lassen. Wir würden sie heute ‚Schnorrer‘ nennen. Zu diesem Thema heißt es in Did 11,3–6: „In Bezug auf die Apostel und Propheten sollt ihr nach der Lehre des Evangeliums so verfahren: Jeder Apostel, der zu euch kommt, soll nicht (länger) bleiben als einen Tag. Wenn es erforderlich ist, auch noch einen. Wenn er aber drei (Tage) bleibt, ist er ein falscher Prophet (ψευδοπορφήτης ἐστίν). Wenn der Apostel weiterzieht, soll er nichts bekommen als Brot, bis er übernachtet (ἐξερχόμενος δὲ ὁ ἀπόστολος μηδὲν λαμβανέτω εἰ μὴ ἄρτον ἕως οὗ αὐλισθῇ). Wenn er aber Geld nimmt, ist er ein falscher Prophet.“

Die entscheidende Formulierung ist hier ἄρτος ἕως οὗ αὐλισθῇ. Gemeint ist damit: Brot, das man dem Wanderapostel mit auf den Weg gibt, wenn er —————

22 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 31956, 514. 23 S. Hieronymi Presbyteri Opera. I/7. Commentariorum in Matheum libri IV, ed. D. Hurst/ M. Adriaen (CChr.SL 77), Turnhout 1969, 37 (780f ). – Zu anderen sprachlichen Ableitungsversuchen, die z.T. bereits in altkirchlicher Zeit vorgenommen wurden, vgl. G. KORTING, Das Vaterunser und die Unheilabwehr. Ein Beitrag zur ἐπιούσιον-Debatte (Mt 6,11 / Lk 11,3), NTA.NF 48, Münster 2004, 1–199; WOLTER, Lukasevangelium, 407f.

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morgens aufbricht und das so lange reicht, bis er am Abend desselben Tages in einer anderen Gemeinde Aufnahme findet.24 Dieses „Brot, bis er übernachtet“ – das ist nichts anderes als ὁ ἄρτος ὁ ἐπιούσιος, das ‚Brot für den morgigen Tag‘, um das Jesu Jünger im Vaterunser bitten sollen. Dieser Entsprechung zwischen der Brotbitte des Vaterunsers in Mt 6,11 par. Lk 11,3 und der Instruktion für den Umgang mit Wanderaposteln in Did 11,6 können wir entnehmen, dass die Bitte um das Brot für morgen mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich in demselben Kontext anzusiedeln ist wie die Aussendungsrede Lk 10,2–12 par. Mt 9,37f; 10,7–16 (s. auch Mk 6,7–13) und die sog. ‚Sorgensprüche‘ Lk 12,22–31 par. Mt 6,25–33. Im Hintergrund stehen die ungesicherten Existenzbedingungen der wandercharismatischen Jesusbewegung,25 die unter denen, die Jesus nachfolgten, solche Sorgen evozierten, wie sie in Lk 12,22–24 (par. Mt 6,25f ) angesprochen werden: „Darum sage ich euch: Seid nicht um das Leben besorgt, was ihr essen sollt, und auch nicht um den Leib, was ihr anziehen sollt. Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung. Seht euch die Raben an: Sie säen nicht, und sie ernten nicht; sie haben weder Vorratskammer noch Lagerhaus, und Gott ernährt sie. Um wieviel übertrefft ihr die Vögel!“

In diesem Text und in der ursprünglichen Fassung der Brotbitte des Vaterunsers artikuliert sich damit die Perspektive eines heimatlosen Wanderpropheten, der von Tag zu Tag denkt und nicht weiß, ob er am Ende des Tages einen Menschen findet, der ihn in sein Haus aufnimmt (Lk 9,58 par. Mt 8,20) und ihm sein ἄρτον ἐπιούσιον, sein Brot für den nächsten Tag, gibt. Und wie Jesus die Jünger in dem zitierten Text auffordert, ihre Sorgen um das, was sie zum Leben brauchen, in Gottes Hand zu legen, so ermuntert er sie in der Brotbitte des Vaterunsers, Gott eben darum zu bitten 3.1.2 Die Änderung, die die Brotbitte in Lk 11,3 erfährt, ist offenkundig: Aus dem Brot für „heute“ (σήμερον) wird das Brot für „jeden Tag“ (τὸ καθ᾽ ἡμέραν; Luther: „immerdar“), und aus dem punktuellen Aorist δός wird das iterative Präsens δίδου. Lukas stellt die Brotbitte damit in eine Perspektive, die mit derjenigen identisch ist, die sie fast anderthalb Jahrtausende später —————

24 Zur Interpretation dieses Textes vgl. auch K. NIEDERWIMMER, Die Didache, KAV 1, Göttingen 1989, 215ff; M. TIWALD, Wanderradikalismus. Jesu erste Jünger – ein Anfang und was davon bleibt, ÖBSt 20, Klosterneuburg 2002, 221ff; A. MILAVEC, The Didache. Text, Translation, Analysis, and Commentary, Collegeville (MN) 2003, 423ff. 25 Vgl. hierzu vor allem G. THEISSEN, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 31989, 79–141; DERS., Soziologie der Jesusbewegung, ThExH 194, München 1977; T. SCHMELLER, Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese, SBS 136, Stuttgart 1989; TIWALD, Wanderradikalismus.

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dann auch bei Martin Luther erhält. Nicht nur das „Heute“, sondern ‚alle Tage‘ wird damit zu derjenigen Bezugsgröße, die die Brotbitte des Vaterunsers in den Blick nimmt. Man kann es auch anders herum sagen: Die Brotbitte wird alltagstauglich gemacht, denn Lukas stellt sie in den menschlichen Alltag und seine Bedürfnisse hinein. Was hier stattfindet, ist so etwas wie eine Anverwandlung des ursprünglichen wandercharismatischen Sitzes im Leben der Brotbitte an die Lebenswelt von christlichen Gemeinden. Diese Bitte wird damit auch für Menschen plausibel, die nicht nur das Heute und Morgen im Blick haben können, sondern bei denen die Kraft ihrer charismatischen Wanderexistenz bzw. – um noch einmal mit der Aussendungsrede und den Sorgensprüchen zu reden – das Leben wie die Vögel des Himmels und wie die Lilien des Feldes, ohne Geldbeutel und Proviantsack, einer alltagsweltlichen Existenz gewichen ist, in der jeder Tag ist wie der andere und ‚alle Tage‘ gleich sind. Dadurch gewinnt die Brotbitte aber auch Anschluss an die vor allem in den Psalmen vielfach ausgesprochene Gewissheit, dass Gott derjenige ist, der seine Geschöpfe erhält und dem sie ihr Überleben verdanken (vgl. Ps 103[104],14f; 135[136],25; 144[145],15; 146[147],9; PsSal 5,9–11). Die Verankerung in dieser Tradition zeigt, dass der Beter des Vaterunsers mit der Brotbitte nicht einfach nur eine Bitte ausspricht, sondern mit ihr sein bleibendes existentielles Angewiesensein auf Gottes gnädige Fürsorge bekennt. 3.2 Die beiden Änderungen, die Lukas am Wortlaut der Vergebungsbitte vornimmt, sind nicht so spektakulär. Bei der Ersetzung von ὀφειλήματα („Schulden“; Mt 6,12a) durch ἁμαρτίας („Sünden“; Lk 11,4a) handelt es sich um eine theologische Präzisierung. Natürlich geht es auch in Mt 6,12a um die Vergebung von ‚Sünden‘, und wenn Matthäus dafür den finanztechnischen Begriff ὀφειλήματα als Metapher einsetzt, so bedient er sich damit eines Sprachgebrauchs, in dem noch deutlich die aramäische Ursprungsfassung des Vaterunsers durchscheint. Hier stand wahrscheinlich eine Form von ‫חוֹ ָבא‬, das im Aramäischen sowohl die Geldschuld bezeichnen kann, die ein Mensch bei einem anderen Menschen hat (vgl. in diesem Sinne Lk 7,41; 16,5.7: χρεοφειλέται und ὀφείλω), als auch die Sündenschuld im Verhältnis der Menschen zu Gott.26 Es wäre aber sicher eine Fehlinterpretation, wenn man diese Ände—————

26 Vgl. dazu M. BLACK, An Aramaic Approach to the Gospels and Acts, Oxford 31967, 140; G. DALMAN, Die Worte Jesu I, Leipzig 21930, 335ff; M. JASTROW, A Dictionary of the Targumim,

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rung so interpretieren wollte, als ginge es Lukas darum, das Verhältnis der Menschen zu Gott von finanztechnischen Nebentönen frei zu halten. Gegen eine solche Auffassung spricht, dass Lukas anderenorts die Menschen durchaus „Schuldner“ (ὀφειλέται) nennen kann, wenn er sie als „Sünder“ bezeichnen will: In 13,4 lässt er Jesus die Menschen fragen, ob jene Achtzehn, die beim Einsturz des Turmes von Siloah ums Leben kamen, „(größere) Schuldner waren als alle (anderen) Menschen, die Jerusalem bewohnen“ (ὀφειλέται ἐγένοντο παρὰ πάντας τοὺς ἀνθρώπους τοὺς κατοικοῦντας Ἰερουσαλήμ). Auch in 11,4b, dem zweiten Teil der Vergebungsbitte, wird Lukas ja nicht an den Erlass von Geldschulden gedacht haben, wenn diejenigen, die Gott um Vergebung bitten, sagen: καὶ γὰρ αὐτοὶ ἀφίομεν παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν. Auch hier geht es um die Vergebung von Schuld, wenn auch nicht im Verhältnis zu Gott, sondern im Verhältnis zwischen den Menschen. Vielleicht kann man aber gerade diesen Unterschied als Grund für die lukanische Änderung des ursprünglichen ὀφειλήματα (Mt 6,12a) in ἁμαρτίαι (Lk 11,4a) in Anschlag bringen: Lukas ging es darum, der Besonderheit des Gottesverhältnisses der Menschen dadurch Rechnung zu tragen, dass er Vergehen, die das Gottesverhältnis betreffen, von zwischenmenschlichen Vergehen begrifflich unterscheidet. Trotz dieser Differenz bleibt jedoch auch die lukanische Fassung der Vergebungsbitte in die jüdische Gebetstradition eingebettet. Nicht anders als in Mt 6,12 basiert der Aussagesatz, der in Lk 11,4b die Reihe der Bitten unterbricht, auf einem naheliegenden Gedanken: Wer die Vergebung seiner eigenen Sünden durch Gott erfährt bzw. wer Gott um die Vergebung der eigenen Sünden bittet, kann seinen Mitmenschen die Vergebung nicht verweigern. Erfahrung von Vergebung durch Gott ist untrennbar verbunden mit der Gewährung von Vergebung gegenüber anderen Menschen. Dieser Zusammenhang wird bereits in Sir 28,2 formuliert: „Vergib das Unrecht deinem Nächsten (ἄφες ἀδίκημα τῷ πλησίον σου), dann werden dir, wenn du darum bittest, auch deine Sünden erlassen werden (αἱ ἁμαρτίαι σου λυθήσονται)“.27 Im Neuen Testament wird dieser Zusammenhang vor allem im Gleichnis vom Schalksknecht Mt 18,23–35 thematisiert; s. aber auch Mk 11,25; Mt 6,14f; Kol 3,13 sowie die in Lk 6,37 par. Mt 7,1 formulierte talio. Der letzte redaktionelle Akzent, den Lukas setzt, betrifft nur ein Detail: Während in Mt 6,12b der Aorist ἀφήκαμεν steht, der diejenigen, die Gott um die Vergebung ihrer Sünden bitten, versichern lässt, dass sie ihren Mit————— the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature, New York 1950, 429. Diese Analogie von ‚Geldschuld‘ und ‚Sündenschuld‘ findet auch in Mt 18,21–35 ihren Ausdruck, und dieselbe semantische Verschmelzung belegt auch 1Hen (griech.) 6,3, wo von einem ὀφειλέτης ἁμαρτίας μεγάλης („Schuldner einer großen Sünde“) die Rede ist. 27 Vgl. auch Sir 28,3–5; TestSeb 5,3; 8,1–3; mJoma 8,9; Bill. I, 425f.

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menschen bereits vergeben haben, hat Lukas das Präsens: καὶ γὰρ αὐτοὶ ἀφίομεν παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν („auch wir selbst vergeben jedem, der uns gegenüber schuldig ist“; Lk 11,4b).28 Diese Mitteilung erhält damit performativen Charakter: Mit jedem Aussprechen des Satzes vergibt der Beter allen, die an ihm schuldig geworden sind. Bemerkenswert ist an diesem Unterschied jedoch vor allem, dass es sich um die einzige Varietät des lukanischen Vaterunsers handelt, die sich in den neusprachlichen liturgischen Gebetsformularen gegen die entsprechende matthäische Formulierung durchgesetzt hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit dürfen wir hierin eine Nachwirkung der lateinischen Fassung des Vaterunsers sehen, die seit altkirchlicher Zeit an dieser Stelle das lukanische Präsens in die matthäische Umgebung einschreibt: ... sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.

4 Kehren wir zum Schluss zu der Frage zurück, die wir zu Beginn in den Blick genommen hatten: Wie interpretiert Lukas das Vaterunser mit Hilfe des literarischen Kontextes, in den er es hineinstellt? 4.1 Eingeleitet wird es durch die Abgrenzung von den Jüngern Johannes des Täufers: κύριε, δίδαξον ἡμᾶς προσεύχεσθαι, καθὼς καὶ Ἰωάννης ἐδίδαξεν τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ. Von den Anhängern des Täufers werden die Jünger Jesu auch sonst gerne unterschieden. Die Jünger des Johannes fasten, die Jünger Jesu tun das nicht. Das weiß schon das Markusevangelium (Mk 2,18; aufgenommen in Lk 5,33). Auch sonst ist es aber gerade Lukas wichtig, Jesus und seine Jünger immer wieder von Johannes dem Täufer und dessen Schülerkreis abzugrenzen (vgl. Lk 3,16; 7,33f; 16,16; Apg 1,5; 11,16; 13,24.25; 18,25f; 19,3f ). Die Bitte der Jünger um ein eigenes Gebet setzt voraus, dass der Kreis der Johannesjünger ganz offensichtlich so etwas wie ein gruppenspezifisches Gebet besessen hat, auch wenn wir darüber sonst nichts wissen. Die Jesusjünger wollen nun auch so ein Gebet haben wie die Johannesjünger.29 ————— 28 Das gilt auch für den zweiten Teil der Vergebungsbitte der in Did 8,2 erhaltenen Fassung des Vaterunsers (ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφίεμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν), die ansonsten der matthäischen Fassung sehr viel näher steht. 29 Diese Abgrenzung macht es unwahrscheinlich, dass das Vaterunser ursprünglich das Gebet der Johannesjünger war (so J.K. ELLIOTT, Did the Lord’s Prayer Originate with John the Baptist?, ThZ 29 [1973] 215; K. MÜLLER, Das Vater-Unser als jüdisches Gebet, in: A. Gerhards u.a. [Hg.],

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Das Vaterunser wird dadurch indirekt als ein Gebet kenntlich gemacht, das exklusiv den Anhängern Jesu gehört. Aus der anderen Perspektive betrachtet, nämlich aus der Perspektive der lukanischen Zeit, als das Vaterunser längst zum festen Bestandteil der christlichen Gottesdienste geworden war, bekommt die von Lukas entworfene szenische Einbettung die Funktion einer Ätiologie; mit ihr wird die Entstehung des Vaterunsers erzählt, das Lukas als ein Gebet kennzeichnet, das ausschließlich von den Christen gebetet wird.30 Das ist gewissermaßen der historische Aspekt, mit dem Lukas das Vaterunser ausstattet. 4.2 Eine theologische Interpretation gibt Lukas dem Vaterunser dann durch den „Gebetskatechismus“31, der ihm in Lk 11,5–13 folgt. Die kleine Rede, die Jesus hält, besteht aus zwei Teilen. Jeder Teil wird durch eine rhetorische Frage eingeleitet: „Wer von euch ...?“ (11,5) und „Welcher Vater von euch ...?“ (11,11). In beiden Teilen erzählt Jesus erst ein Gleichnis aus der Alltagswelt (11,5–8 und 11,11f ) und überträgt es dann mit Hilfe einer Anwendung (11,9f und 11,13) auf das Gottesverhältnis der Jünger. In 11,5–10 geht es um das Dass des Bittgebets, in 11,11–13 um sein Was. Zusammengehalten werden beide Teile durch das Begriffspaar „bitten“ (11,9.10.11.12.13) und „geben“ (11,7.8.9.11.12.13) bzw. „empfangen“ (11,10a). 4.2.1 Der erste Teil, in dem es um das Dass des Bittgebets geht, lässt sich mit wenigen Worten zusammenfassen: So gewiss, wie ein Freund auch die unmöglichste Bitte erfüllt, so gewiss erhört Gott das Gebet der Jünger. Den Jüngern ergeht es mit Gott genauso wie dem Bittsteller in 11,5–8 mit seinem Freund. Ihnen wird zugesagt, dass sie sich niemals erfolglos an Gott wenden. Das ist natürlich leicht gesagt: ‚Gott erhört jedes Gebet‘. Ist das wirklich so? Wer wollte da nicht zweifeln? Dass auch Lukas ganz offensichtlich solche Zweifel auf Seiten seiner Leser nicht einfach ignoriert hat, kann man daran erkennen, dass es in der Rede noch einen zweiten Teil gibt (11,11–13): ————— Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsstiftenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum, Paderborn u.a. 2003, 159–204, hier 182f ). 30 Vgl. auch FÖRSTER, Gebet, 257. 31 LOHSE, Vater unser, 98.

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4.2.2 Wir haben hier zwei Bildworte (11,11.12) und eine Anwendung (11,13). Sie behandeln die beiden Fragen, die der erste Teil der Rede offen gelassen hat: ‚Erfüllt Gott wirklich jede Bitte?‘ Und: ‚Worum soll man Gott bitten?‘. Die Frage, ob Gott wirklich jedes Gebet erhört, ist auch schon in der Antike diskutiert worden. Kennzeichnend für diese Diskussion war dabei, dass sie mit der anderen dieser beiden Fragen verknüpft wurde: der Frage, worum man Gott bitten soll. Beide Fragen wurden dann in der Weise miteinander verbunden, dass man sagte: Es hängt vom Gegenstand dessen ab, worum man Gott bittet, ob das Gebet erhört wird oder nicht. – Zwei Beispiele können diesen Gedanken illustrieren: Das erste steht im Alten Testament: In 1Kön[3Kgt] 3,5–12 par. 2Chr[2Par] 1,7–12 empfängt Salomo von Gott die Auskunft, dass sein Gebet, mit dem er vor Gott getreten ist, erhört wird, weil er „nicht ein langes Leben, Reichtum oder das Leben [s]einer Feinde“ (1Kön 3,11) bzw. „nicht Reichtum, Güter, Ehre oder das Leben [s]einer Feinde und auch nicht ein langes Leben“ (2Chr 1,11) erbeten hat, sondern „Verständnis, um auf das Recht zu hören“ (1Kön 3,11), bzw. „Weisheit und Erkenntnis“, um Gottes Volk richten zu können (2Chr 1,11). Das zweite Beispiel stammt aus der griechischen Welt: In Xenophons Erinnerungen an Sokrates wird Sokrates dafür gelobt, dass er die Götter immer nur darum gebeten hat, ihm „das Gute zu geben“ (τἀγαθὰ διδόναι), denn – so heißt es weiter – „wer um Gold oder um Silber oder um die Herrschaft ... bittet, der bittet ... um nichts anderes, als wenn er darum bittet, beim Würfelspiel zu gewinnen; der Erfolg einer solchen Bitte ist aber ganz offensichtlich ungewiss“ (Xenophon, mem. I 3,2).32

Es kommt also darauf an, dass man Gott um das Richtige bittet. Dann wird die Bitte auch erhört. Was Lukas für das Richtige hält, könnte er kaum deutlicher sagen als in 11,13: „... um wieviel mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist denen geben, die ihn bitten“ (πόσῳ μᾶλλον ὁ πατὴρ [ὁ] ἐξ οὐρανοῦ δώσει πνεῦμα ἅγιον τοῖς αἰτοῦσιν αὐτόν). Hier wird der besondere Akzent greifbar, mit dem Lukas die Gebetsinstruktion Jesu versieht. Nicht ohne Grund schließt diese Zusicherung darum auch den gesamten Abschnitt zum Thema ‚Gebet‘ in Lk 11,2–13 ab. Es ist die Bitte um den heiligen Geist, der die Gewissheit der Erhörung zugesagt ist. Damit ist aber noch nicht alles gesagt, denn von diesem Schluss des Textes gehen zwei Bewegungen aus: Die eine geht an den Anfang des Vaterunsers zurück: Mit der Bezeichnung Gottes als „Vater“ lenkt Lukas den Blick seiner Leser zum Beginn des Vaterunsers zurück. Alle einzelnen Bit————— 32

Vgl. auch Maximus v. Tyrus, Phil. 5,7,i,1: ὁ θεὸς λέγει· ἐπὶ ἀγαθῷ αἰτεῖς; λάμβανε („Gott spricht: Du bittest um das Gute? Empfange [es]!“); Jak 4,3: „Ihr bittet und empfangt nicht, weil ihr in schlechter Weise bittet (κακῶς αἰτεῖσθε), damit ihr es für eure Gelüste verwenden könnt“; Sir 7,4: μὴ ζήτει παρὰ κυρίου ἡγεμονίαν („verlange vom Herrn nicht Herrschaft“) sowie O. GIGON, Kommentar zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien, Basel 1953, 96ff.

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ten des Vaterunsers werden demnach in der Bitte um den heiligen Geist zusammengefasst.33 Die andere Bewegung geht in die Zukunft. Nach dem lukanischen Geschichtsbild gibt es in der Zeit der irdischen Wirksamkeit nur einen einzigen, der den Geist hat, und das ist Jesus selbst. Die Jünger bekommen ihn erst nach Ostern (Lk 24,49; Apg 1,8; 2,1–4). Der lukanische Jesus greift mit dieser Gebetsinstruktion also in die nach seiner Auferstehung beginnende Zeit seiner leiblichen Abwesenheit von den Jüngern vor. Dabei tritt die Bitte um den heiligen Geist aber nicht an die Stelle des Vaterunsers, sondern sie stattet die in ihm ausgesprochenen Bitten mit einer theologischen Einbettung aus: dass Jesu Jünger, wenn sie das Vaterunser sprechen, um nicht weniger bitten als darum, dass der transzendente Gott seine himmlische Wirklichkeit durch seinen Geist in ihrer Mitte erfahrbar werden lässt.

—————

33 Im Anschluss an W. OTT, Gebet und Heil. Die Bedeutung der Gebetsparänese in der lukanischen Theologie, StANT 12, München 1965, 108f, macht FÖRSTER, Gebet, 266, darauf aufmerksam, dass wir hier eine ähnliche Bewegung vor uns haben wie diejenige, die von Lk 12,29 („Und ihr, seid nicht darauf aus, was ihr essen sollt und was ihr trinken sollt“) zu 12,31 („Seid vielmehr auf sein Reich aus, dann wird euch das hinzugegeben werden“) verläuft: 12,29 entspricht den Bitten des Vaterunsers, und der Verweis der Jünger auf „sein Reich“ in 12,31 findet seine Analogie in der Aufforderung, Gott um seinen Geist zu bitten (11,13).

Jürgen Wehnert

Ein Gebet für alle christlichen Gemeinden Zum Vaterunser in der Didache

Die Διδαχὴ τῶν δώδεκα ἀποστόλων, die Lehre der zwölf Apostel1, gilt zu Recht als „älteste bekannte Kirchenordnung“2. Über Entstehungszeit und -ort dieser Schrift urteilt die Literatur durchweg ähnlich wie über das ihr nahestehende Matthäusevangelium:3 Ende des 1. oder Anfang des 2. Jahrhunderts wurde sie in einer Gemeinde des jüdisch geprägten syrischen Christentums zusammengestellt.4 Die Didache umfasst in den modernen ————— 1

Zum Namen der Schrift s. D.-A. KOCH, Die Debatte über den Titel der „Didache“, ZNW 105 (2014) 264–288. Ob „Lehre der Apostel“ (s. die altkirchlichen Belege bei K. WENGST, Didache [Apostellehre], in: SUC 2, Darmstadt 1984, 1–100: 66 Apparat) ursprünglicher ist als „Lehre der zwölf Apostel“ oder eine gängige Verkürzung des längeren Titels, lässt sich m.E. nicht entscheiden; vgl. G. SCHÖLLGEN, Didache/Zwölf-Apostel-Lehre, in: FC 1, Freiburg i.Br. u.a. 1991 (32000), 23–139: 26. – Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die Didache zu einem bestimmten Zeitpunkt als einheitliches Werk publiziert wurde und nicht sukzessive in mehreren Literarschichten, wie neuerdings vorgeschlagen wird (s. A.J.P. GARROW, The Gospel of Matthew’s Dependence on the Didache, JSNT.S 254, London u.a. 2004; N. PARDEE, The Genre and Development of the Didache, WUNT II/339, Tübingen 2012, bes. 184ff ). Die zur Begründung solcher hypothetischer Schichtenmodelle angeführten Textbefunde zeigen im Grunde nur, dass in der Didache umfangreiche Traditionsstoffe mit sparsamen redaktionellen Mitteln zu einer Einheit verbunden wurden. 2 U.B. MÜLLER, Apokalyptische Strömungen, in: DERS., Christologie und Apokalyptik. Gesammelte Aufsätze, ABG 12, Leipzig 2003, 223–267: 262. Die Gattungsbestimmung der Schrift ist allerdings umstritten; s. den Abriss der Forschungsgeschichte bei PARDEE, Genre, 31–52. Pardees Vorschlag, die Didache einer eigenen Gattung zuzuordnen, nämlich dem „genre of the Didache“, das aus einem „oral genre of catechetical teaching“ hervorgegangen sei (a.a.O., 48; vgl. 186ff ), halte ich für wenig überzeugend, da, wie zu zeigen ist, die Didache vor allem die Absicht verfolgt, die kultische und soziale Praxis christlicher Gemeinden zu vereinheitlichen. 3 Zum oft behandelten Problem der literarischen und theologischen Verwandtschaft zwischen Didache und Matthäusevangelium s. die Übersicht bei WENGST, Didache, 24–32, sowie die Beiträge in H. van de Sandt/J. Zangenberg (Hg.), Matthew, James, and Didache. Three Related Documents in Their Jewish and Christian Settings, SBL Symposium Series 45, Atlanta 2008. 4 Zur Frage der Datierung s. u.a. H. VAN DE SANDT/D. FLUSSER, The Didache. Its Jewish sources and its place in early Judaism and Christianity, CRI III/5, Assen/Minneapolis 2002, 48 („by the turn of the first century C.E.“); J.A. DRAPER, Die Didache, in: W. Pratscher (Hg.), Die Apostolischen Väter. Eine Einleitung, Göttingen 2009, 17–38: 20 („eher am Beginn des 2. Jh. [wenn überhaupt erst im 2. Jh.]“); E. LOHSE, Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 2 2010, 12 („Anfang des 2. Jahrhunderts“); D.-A. KOCH, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014, 390 („etwa um 100 n.Chr.“). – Eine Übersicht über die jüngere Diskussion bietet H. KVALBEIN, The Lord’s Prayer and the Eucharist Prayers in the Didache, in: R. Hvalvik/K.O. Sandnes (Hg.), Early Christian Prayer and Identity Formation, WUNT 336, Tübingen 2014, 233–266: 234–237. Kvalbein betont zu Recht, dass die Versuche, Mt von Did

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Ausgaben 16 Kapitel,5 die sich grob in drei Teile gliedern lassen: Kapitel 1– 10 enthalten Texte und Regeln für Taufunterricht, Taufe und Eucharistie; Kapitel 11–15 geben Anweisungen für den Unterhalt durchreisender Christen und für die Ordnung des Gemeindelebens; Kapitel 16 ermahnt die Gemeinde zur Standhaftigkeit bis zum Gericht des κύριος über die Welt.6 Eine Beschäftigung mit dem Vaterunser kann an der Didache nicht vorbeikommen. In ihrem 8. Kapitel, also in der Textsequenz zu den Sakramenten, wird dieses Gebet vollständig zitiert, und zwar in der Form, „wie es der Herr in seinem Evangelium befohlen hat“ (8,2a). Der anschließend mitgeteilte Wortlaut des Vaterunsers (8,2b) steht dem von Mt 6,9–13 sehr nahe,7 ist aber nicht damit identisch. Mit den Kontexten des Herrengebets verhält es sich ähnlich: Es gibt Entsprechungen zwischen Did 8 und Mt 6, aber auch Unterschiede.8 Die Debatte, in welchem Verhältnis die beiden Fassungen des Gebets zueinander stehen, hat bisher zu keinem Konsens geführt. Gewiss sind das Vaterunser der Didache und das des Matthäusevangeliums eng verwandt, aber vermutlich nicht in gerader Linie: Der Evangelist und der Didachist scheinen unabhängig voneinander aus demselben Strom frühchristlicher Überlieferung zu schöpfen, der sich Ende des 1. Jahrhunderts im Übergang zur Verschriftlichung befand.9 Wenn diese m.E. überzeugende Annahme zutrifft, eröffnet die Didache einen Zugang zum Vaterunser, der ebenso selbständig ist wie der über das Matthäusevangelium. ————— abhängig machen und Did deutlich früher datieren zu wollen (so z.B. GARROW, Gospel), nicht überzeugen können. 5 Diese Gliederung hat P. BRYENNIOS in seiner Erstedition der Didache aus dem Codex Hierosolymitanus 54 eingeführt (Διδαχὴ τῶν δώδεκα ἀποστόλων κτλ., Konstantinopel 1883). 6 Kapitel 16 ist kein Offenbarungstext und daher formal keine „kleine Apokalypse“ (so P. VIELHAUER/G. STRECKER, Apokalyptik des Urchristentums. Einleitung, in: NTApo II [61997], 516–547: 535; vgl. K. NIEDERWIMMER, Die Didache, KAV 1, Göttingen 21993, 260), sondern eine unter Verwendung apokalyptischer Tradition formulierte „eschatologische Belehrung“ (MÜLLER, Strömungen, 262). 7 Und zwar einschließlich der Rahmung des Gebets – vgl. Did 8,2a (οὕτως προσεύχεσθε) mit Mt 6,9 (οὕτως οὖν προσεύχεσθε ὑμεῖς) sowie die abwertende Bezeichnung betender Juden als ὑποκριταί im unmittelbaren Zusammenhang (Did 8,2a par. Mt 6,5). 8 Vor dem Gebet behandelt die Didache das Fasten (8,1), im Matthäusevangelium geschieht dies anschließend (6,16–18). Nach Did 15,4 soll sich die Praxis von „Gebeten, Almosen und allen (Frömmigkeits-)Übungen“ am „Evangelium unseres Herrn“ orientieren, was wiederum nicht der Reihenfolge von Mt 6 (Almosen, Beten, Fasten) entspricht. 9 Vgl. J.A. DRAPER, Christian Self-Definition against the „Hypocrites“ in Didache 8, in: Ders. (Hg.), The Didache in Modern Research, AGJU 37, Leiden u.a. 1996, 223–243: 237; NIEDERWIMMER, Didache, 170 mit Anm. 10 (Literatur); W. RORDORF/A. TUILIER, La Doctrine des Douze Apôtres. (Didachè), SC 248, Paris 21998, 86 mit Anm. 4; VAN DE SANDT/FLUSSER, Didache, 294f. Für eine Abhängigkeit des Didache-Vaterunsers von Mt 6 plädieren u.a. WENGST, Didache, 26f; SCHÖLLGEN, Didache, 119 Anm. 97. – Gegen eine direkte literarische Abhängigkeit spricht, dass die für Mt charakteristische aoristische Formulierung der Begründung zur zweiten Wir-Bitte (6,12: ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν; vgl. den Zusatz 6,14f ) in der Didache fehlt (dort das Präsens ἀφίεμεν; vgl. Lk 11,4: ἀφίομεν) und umgekehrt die Doxologie des Didache-Vaterunsers im ältesten Mt-Text.

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Vier Aspekte des in der Didache überlieferten Herrengebets möchte ich nachfolgend behandeln: 1. Warum wird das Vaterunser in der Didache zitiert? 2. Wie sind die textlichen Besonderheiten des Didache-Vaterunsers zu beurteilen? 3. Welche Funktionen des Vaterunsers lassen sich aus seiner Stellung in der Didache erschließen? 4. Was bedeutet das Vaterunser für die religiöse Identität der Didache-Christen?

1. Das Vaterunser in der Didache Der von Rudolf Knopf als „merkwürdig“ empfundene Sachverhalt, dass in der Didache das Vaterunser „im Wortlaut mitgeteilt werden muß“,10 lässt sich im Grunde auf das gesamte in dieser Schrift enthaltene Text- und Regelwerk ausdehnen. Die vom Autor durchweg unkommentierte Sammlung mutet auf den ersten Blick als wenig stringent, ja als zufällig an. Lassen sich trotzdem Kriterien für die Auswahl ihres Inhalts benennen? Eine Beantwortung dieser Frage scheint mir zunächst unter pragmatischem Gesichtspunkt möglich. Es gilt, eine Vorstellung von den Adressaten der Didache zu gewinnen, um die kommunikative Funktion dieser Lehrschrift zu erfassen: Für wen und zu welchem Zweck wurde das Werk zusammengestellt? Neuere Untersuchungen betonen, dass der Didachist sich nicht an eine einzelne Gemeinde wendet oder gar an die eigene – dazu wäre kein Buch erforderlich gewesen –, sondern an eine Mehrzahl von Gemeinden,11 die zu einer gemeinsamen Praxis zentraler Elemente christlichen Lebens, speziell des Vollzugs der Taufe und der Eucharistie, angehalten werden sollen. Der Didachist, der eine herausragende Einzelperson, aber auch ein Leitungsgremium gewesen sein kann, besaß offenbar eine so hohe Autorität, dass er sich zu übergemeindlichen Regelungen unter dem kaum zu überbietenden Titel „Lehre der zwölf Apostel“ befugt sah. Der Ton der gesamten Schrift ist von einer Weisungsbefugnis geprägt, wie sie eine Muttergemeinde gegenüber ihren Filialgemeinden beansprucht haben mag. Dass sich die Didache an mehrere Gemeinden richtet, sei an einem Beispiel genauer begründet. Hinsichtlich der Taufe ordnet der Verfasser im 7. Kapitel an, dass sie „in lebendigem (= fließendem) Wasser“ zu erfolgen habe (7,1). Anschließend wendet er diesen Grundsatz auf die konkreten Verhältnisse in den einzelnen Gemeinden an: „Wenn du aber kein lebendiges Wasser hast (also kein Fluss- oder Meerwasser), dann taufe in anderem Wasser. Wenn du es aber nicht in kaltem (Wasser) kannst (also etwa in ————— 10

R. KNOPF, Die apostolischen Väter I: Die Lehre der zwölf Apostel / Die zwei Clemensbriefe, HNT Ergänzungsband, Tübingen 1920, 24. 11 Vgl. z.B. WENGST, Didache, 32 mit Anm. 116; KOCH, Geschichte, 390f.

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einem Teich), dann in warmem (also etwa in einer Zisterne). Wenn du aber beides nicht hast (also kein zum Untertauchen geeignetes Wasser), dann gieße dreimal Wasser über den Kopf“ (7,2f ).12 Kurzum: In den DidacheGemeinden hatten sich bei der Durchführung der Taufe unterschiedliche rituelle Praktiken entwickelt. Der Didachist sieht diese Praktiken nicht als gleichwertig an, konzediert aber, dass beim Taufakt aufgrund der örtlichen Wasserverhältnisse notfalls von der Regel „in lebendigem Wasser“ abgewichen werden darf. Damit ist zugleich die Grenze möglicher Abweichungen von dem in allen Gemeinden zu vollziehenden Taufritus markiert. Bei allen anderen Elementen des Ritus, die der Autor thematisiert, also beim Taufunterricht (Kapitel 1–6), beim Tauffasten (7,4) und bei der Taufformel (7,1), lässt er lokale Praktiken nicht nur nicht zu, sondern untersagt sie indirekt durch Mitteilung der dafür verbindlichen Texte und Regeln. Offenbar will er durchsetzen, dass diese Rituale in allen Gemeinden auf identische Weise vollzogen werden. Dasselbe ekklesiologische Grundprinzip verfolgen auch die übrigen Kapitel der Didache. Sie legen z.B. den Wortlaut der bei der Eucharistie zu sprechenden Gebete fest13 oder den genauen Umfang des Unterhalts, der ortsfremden Christen bei der Durchreise zu gewähren ist. Wo Unterschiede in der Praxis der Gemeinden entstanden waren, sollen sie durch die schriftlich kommunizierte Ordnung überwunden werden. Das erklärt zugleich den lückenhaften Charakter der Didache: Wo kein Regelungsbedarf bestand, z.B. hinsichtlich des Ablaufs der Mahlfeier oder des Wahlverfahrens von Bischöfen und Diakonen (15,1), nimmt sie dazu nicht Stellung. Die Besonderheit dieser Kirchenordnung besteht also darin, dass sie als Text- und Regelbuch für Strittiges gedacht war – an einer um Vollständigkeit bemühten Agende darf die Didache nicht gemessen werden. Das Bemühen um einheitliche Regeln scheint sich aus dem Wunsch des Didachisten zu speisen, die Identität der Kirche zu profilieren.14 Nach außen, im Gegenüber zur jüdischen und paganen Mitwelt, sollen die christlichen Gemeinden als Teile einer besonderen religiösen Gemeinschaft mit hohem Selbstbewusstsein erkennbar werden. Nach innen sollen sich die lokalen Gemeinden durch die von ihnen geübte gemeinsame Praxis als —————

12 Zum jüdischen Hintergrund solcher Differenzierung von Wasserarten vgl. den Mischnatraktat Miq 1,1–8 (zu reinen und unreinen Wassern) und den Überblick bei NIEDERWIMMER, Didache, 161ff. 13 Dass die Ausnahme die Regel bestätigt, zeigt Did 10: Nur den Propheten wird, wohl aufgrund älterer Rechte, gestattet, nach der Sättigung bei der Eucharistie anstelle des für alle verbindlichen vorformulierten Dankgebetes (10,2–6) ein individuelles Gebet von beliebiger Länge zu sprechen (10,7). 14 Nach G. GARLEFF, Urchristliche Identität in Matthäusevangelium, Didache und Jakobusbrief, Beiträge zum Verstehen der Bibel 9, Münster 2004, 94f, wollte der Didachist „mit seiner Schrift zuallererst die kollektive Identität formen“.

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Teile der weltweiten ἐκκλησία erweisen, deren endzeitliche Sammlung ein wichtiger Aspekt der Didache-Gebete ist: „deine Kirche (ἐκκλησία) soll versammelt werden von den Enden der Erde in deine Herrschaft (βασιλεία)“ (9,4, ähnlich 10,5). Die gemeinsame Praxis aller Christen erscheint zudem von hoher soteriologischer Bedeutung, denn am Ende der Zeit wird der Kyrios zum Gericht kommen, „um jedem entsprechend seiner Praxis zu vergelten“ (16,8).15 Daher gilt: Wer sich von der Lehre der Didache abwendet oder etwas anderes lehrt als die Didache, der soll mit Missachtung gestraft werden (11,2). Nach diesen pragmatischen Beobachtungen lässt sich die Ausgangsfrage, warum die Didache das Vaterunser im Wortlaut zitiert, ohne weiteres beantworten. Offenbar waren in den angesprochenen Gemeinden unterschiedliche Versionen des Herrengebets in Umlauf (hier ist vor allem an die matthäische Fassung zu denken). An deren Stelle legt der Didachist unter Hinweis auf die Autorität des Kyrios einen verbindlichen Wortlaut fest: In allen christlichen Gemeinden soll das Vaterunser so gesprochen werden, wie es in Did 8 formuliert ist.

2. Der Wortlaut des Vaterunsers in der Didache Der von allen neueren Didache-Ausgaben gebotene Wortlaut des Vaterunsers unterscheidet sich von dem des Matthäusevangeliums in vier Punkten.16 Es heißt in Did 8,2b: a) „Vater unser im Himmel (ἐν τῷ οὐρανῷ)“ statt „Vater unser in den Himmeln (ἐν τοῖς οὐρανοῖς)“, b) „vergib uns unsere Schuld (τὴν ὀφειλὴν ἡμῶν)“ statt „vergib uns unsere Schulden (τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν)“, c) „denn auch wir vergeben (ἀφίεμεν) unseren Schuldnern“ statt „denn auch wir haben vergeben (ἀφήκαμεν) unseren Schuldnern“, und d) findet sich nach der Bitte um Bewahrung vor dem Bösen eine Doxologie, die im ältesten Mt-Text fehlt: „denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“.17 Wie ist dieser Befund zu deuten? —————

15 So der mutmaßliche Abschluss der Didache, wie er sich aus ihrer georgischen Übersetzung und den Apostolischen Konstitutionen (7,32) erschließen lässt; vgl. NIEDERWIMMER, Didache, 268f; RORDORF/TUILIER, Doctrine, 199 mit Anm. 3; WENGST, Didache, 20 und 91. Der Codex Hierosolymitanus 54 beendet den Didache-Text, vermutlich aufgrund eines Textverlustes in der Vorlage, abrupt in 16,8. 16 Vgl. die Synopse der Vaterunser-Texte bei NIEDERWIMMER, Didache, 169. 17 Die beigefügten Abbildungen aus der Bryennios-Handschrift – Fol. 78b mit Did 7,4 Ende – 10,2 Mitte (Faksimile und kritische Bearbeitung) – stammen aus J.R. HARRIS, The Teaching of the Apostles (Διδαχὴ τῶν ἀποστόλων). Newly edited with facsimile text and a commentary, Baltimore/London, 1887, 6 und plate VI. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen aus dem dortigen Exemplar (Signatur: 4 Patr Gr 34/15).

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Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, einen textkritischen Blick auf die Überlieferung der Didache zu werfen. Bekanntlich galt die in der Antike gern gelesene Schrift18 lange Zeit als verschollen, bis sie 1873 wiederentdeckt wurde. Der auch an deutschen Universitäten (Leipzig, München, Berlin) ausgebildete Philotheos Bryennios (1833–1914), später griechisch-orthodoxer Metropolit von Nikomedien, machte den Aufsehen erregenden Fund in einer Handschrift des Jerusalemklosters zu Konstantinopel, nämlich im Codex Hierosolymitanus 54. Zehn Jahre später veröffentlichte Bryennios daraus den Didache-Text,19 der seitdem die Diskussion bestimmt. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme, nämlich derjenigen von Klaus Wengst (1984), sind die gängigen Didache-Ausgaben keine kritischen Editionen dieser frühchristlichen Schrift, sondern Ausgaben des DidacheTextes dieser Handschrift. Das ist durchaus problematisch, weil der von Bryennios entdeckte Codex laut einer Notiz seines Schreibers aus dem Jahr 1056 stammt,20 also fast tausend Jahre jünger ist als die Didache selbst. Aufgrund dieses chronologischen Abstandes muss damit gerechnet werden, dass der Didache-Text in Codex H 54 sekundäre Änderungen auch größeren Umfangs (Zusätze oder Streichungen) aufweist. Keinesfalls darf sich der Benutzer in seinem textkritischen Urteil dadurch blenden lassen, dass H 54 der einzige (fast) vollständige Zeuge dieser Schrift ist. Zwei Anmerkungen zu dieser Problematik, die eine gründliche Neuuntersuchung verdient: a) Codex H 54 enthält neben der Didache weitere frühchristliche Schriften. Dazu gehören der Barnabasbrief, die beiden Klemensbriefe und die Langfassung der Ignatiusbriefe.21 In den kritischen Ausgaben dieser Briefe werden die von der Bryennios-Handschrift gebotenen Texte sehr unterschiedlich beurteilt: Der des Barnabasbriefs etwa gilt als wertvoll, ohne die Qualität des Codex Sinaiticus zu erreichen,22 der der Ignatianen als unbedeutend.23 Codex H 54 basiert offensichtlich auf qualitativ sehr unterschiedlichen Vorlagen, was auch den Wert seines Didache-Textes in Frage stellt. Hinzu kommen gewichtige innere Gründe, die gegen die Zuverlässigkeit ————— 18

Zur Bezeugung der Didache in der Antike s. den umfassenden Überblick bei NIEDERDidache, 15–32. In der Spätantike verlor sich das Interesse an dieser Schrift (a.a.O., 33). 19 BRYENNIOS, Διδαχή. Es schlossen sich schnell weitere Ausgaben dieser Schrift an. Die früheste, heute kaum noch beachtete (KOCH, Debatte, übergeht sie), ist die von A. WÜNSCHE, Lehre der zwölf Apostel. Nach der Ausgabe des Metropoliten Philotheos Bryennios. Mit Beifügung des Urtextes, nebst Einleitung und Noten ins Deutsche übertragen, Leipzig 1884. 20 Dazu NIEDERWIMMER, Didache, 33. 21 Eine Übersicht der in Codex H 54 enthaltenen Texte findet sich bei NIEDERWIMMER, Didache, 33f. 22 Vgl. K. WENGST, Barnabasbrief, in: SUC 2, Darmstadt 1984, 101–202: 105. 23 In den Ausgaben von J.A. FISCHER, Die Apostolischen Väter, SUC 1, Darmstadt 101993, 139f, und W.R SCHOEDEL, Die Briefe des Ignatius von Antiochien. Ein Kommentar, München 1990, 23ff, findet Codex H 54 unter den Textzeugen der Ignatianen keine Erwähnung. WIMMER,

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des H 54-Textes geltend gemacht wurden.24 Trotz günstigerer Beurteilung in der neueren Forschung25 sind diese Gründe keineswegs ausgeräumt. Die, soweit ich sehe, von niemandem vertretene Auffassung, der Text des Codex H 54 repräsentiere den ursprünglichen Didache-Text, wäre jedenfalls unhaltbar.26 b) Nach dem Fund des Bryennios stellte man fest, dass die Didache nie ganz verloren war: Sie findet sich mit Erweiterungen in Buch 7,1–32 der Apostolischen Konstitutionen, einer Kirchenordnung des 4. Jahrhunderts.27 So existiert also ein weiterer, wenngleich indirekter Textzeuge der Didache, zu dem sich 1922 durch die Edition des griechischen Oxyrhynchus-Papyrus 1782 (4. Jahrhundert) mit Text aus Did 1,3f; 2,7–3,2 und 1923 durch den Fund eines koptischen Didache-Fragments aus dem 5. Jahrhundert mit großen Teilen der Kapitel 10–12 noch zwei wichtige Teilzeugen gesellten.28 Der kritische Vergleich mit diesen sehr viel älteren Zeugnissen erlaubt es, —————

24 S. vor allem J.-P. AUDET, La Didachè. Instructions des Apôtres, EtB, Paris 1958, 52–78; E. PETERSON, Über einige Probleme der Didache-Überlieferung, in: DERS., Frühkirche, Judentum und Gnosis. Studien und Untersuchungen. Reprint der Ausgabe Rom u.a. 1959, Darmstadt 1982, 146–182; WENGST, Didache, 6; F.E. VOKES, Life and Order in an Early Church: the Didache, ANRW II/27,1 (1993) 209–233: 210. 25 Vgl. NIEDERWIMMER, Didache, 35f; RORDORF/TUILIER, Doctrine, 102–110; VAN DE SANDT/ FLUSSER, Didache, 17f. 26 Neben dem verkürzten Schluss (s.o. Anm. 15) deuten vor allem zwei Abschnitte des H 54Textes der Didache auf nachträgliche Bearbeitungen hin: a) Die sogenannte „evangelische Interpolation“ oder „sectio evangelica“ (Did 1,3b–2,1) ist kaum vom Didachisten selbst in die traditionelle Zwei-Wege-Lehre (Did 1–6) eingearbeitet worden (zu den Gründen s. WENGST, Didache, 18ff ). Für den sekundären Charakter dieses Stückes spricht angesichts der Untersuchung von KOCH, Debatte, auch Folgendes: Koch nimmt an, dass die sog. zweite Überschrift der Didache („Lehre des Herrn durch die zwölf Apostel für die Heiden“) gar keine ist, sondern die Funktion hat, in die Zwei-Wege-Lehre einzuleiten und deren Adressaten (die Heiden) zu benennen, die im Unterschied zu geborenen Juden mit der darin zusammengefassten Tora-Tradition vertraut gemacht werden müssen (KOCH, a.a.O., 288). Wenn das zutrifft, liegt auf der Hand, dass die Wege-Lehre ursprünglich keine Jesushalacha enthalten haben kann, weil diese auch durchschnittlichen jüdischen Taufwilligen hätte vermittelt werden müssen. Leider geht Koch auf diese Problematik nicht ein. Wenn Did 1,3b–2,1 ein sekundärer Eintrag ist, dürfte dasselbe auch für den im Kontext schwer verständlichen Vers 6,2 gelten. Er verweist durch das Stichwort τέλειος auf 1,3b–2,1 zurück (s. dort 1,4; dies die einzigen Belege für τέλειος in der Didache), gehört also vermutlich zur selben Bearbeitungsstufe der Schrift. – b) Zwischen dem Didache-Text von 10,7 und 11,1 findet sich in den Apostolischen Konstitutionen 7,27 und im koptischen Didache-Fragment ein kurzes Dankgebet für das Salböl (μύρον), das sich stilistisch eng an die vorausgehenden eucharistischen Dankgebete anschließt. Obwohl es in Codex H 54 fehlt, ist die Annahme überzeugend, dass dieses Gebet Bestandteil der ursprünglichen Didache war und in Codex H 54 oder in dessen Vorlage, aus welchen Gründen auch immer, gestrichen wurde (PETERSON, Probleme, 158–166; WENGST, Didache, 57ff; G. ALON, The Halacha in the Teachings of the Twelve Apostles, in: J.A. Draper [Hg.], The Didache in Modern Research, AGJU 37, Leiden u.a. 1996, 165–194: 188f; anders z.B. NIEDERWIMMER, Didache, 205–209, der eine Interpolation aus der Zeit um 200 annehmen möchte, und VAN DE SANDT/FLUSSER, Didache, 299 Anm. 87). 27 Ausgabe: M. METZGER, Les Constitutions apostoliques. Band 3, SC 336, Paris 1987. 28 Dazu ausführlich NIEDERWIMMER, Didache, 36–43.

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hinter den mittelalterlichen Bryennios-Text zurückzugelangen und sich dem antiken Didache-Text zumindest anzunähern. Daraus sind Konsequenzen für die Rekonstruktion des Vaterunser-Textes der Didache zu ziehen. Ich möchte annehmen, dass zwei der vier Abweichungen der Didache vom Mt-Text keine ursprünglichen Lesarten, sondern nachträgliche Änderungen sind, nämlich die Singulare „Himmel“ und „Schuld“. Die beiden anderen Differenzen – das Präsens „auch wir vergeben“ und die abschließende Doxologie – stehen hingegen unter dem Einfluss des Didache-Textes. Für diese Annahme sprechen zwei Gründe: a) Der Vaterunser-Text mit den beiden Pluralen, dem Präsens und der Doxologie entspricht dem Didache-Text, der in die Apostolischen Konstitutionen aufgenommen wurde (7,24,1).29 Dieses Argument ist zunächst wenig beeindruckend, weil diese Übereinstimmungen auch durch Angleichung des Konstitutionen-Textes an die weitverbreitete antiochenische Gestalt des matthäischen Vaterunsers entstanden sein können. Wichtiger ist deshalb Argument b): Wenn es, wie oben beschrieben, zutrifft, dass die Didache die divergierende Praxis von Lokalgemeinden vereinheitlichen wollte, lässt sich am Beispiel des Herrengebets prüfen, welche Wirkung sie entfaltet hat, und zwar konkret auf das in ihrer nächsten Umgebung entstandene matthäische Vaterunser. Hier ist der Befund eindeutig: Keine Handschrift liest in Mt 6,9b und 6,12a die Singulare „Himmel“ und „Schuld“ – hätten sie im ursprünglichen Did-Text gestanden, wäre ein anderer Befund zu erwarten.30 Umgekehrt sieht es in Mt 6,12b und 13 aus: Die Masse der Mt-Handschriften liest hier das Präsens „wir vergeben“ (und zwar überwiegend das Didache-Präsens ἀφίεμεν [u.a. der Mehrheitstext], nur einige das Lukas-Präsens ἀφίομεν [Codices D, L, W, Δ, Θ und wenige andere])31 sowie die abschließende Doxologie.32 Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass diese Veränderungen des matthäischen Vaterunsers unter dem Einfluss des DidacheVaterunsers stehen. ————— 29

In 3,18,2 zitieren die Apostolischen Konstitutionen das Vaterunser in identischer Form (M. METZGER, Les Constitutions apostoliques. Band 2, SC 329, Paris 1986, 158ff ). 30 Vgl. das Urteil von A. HARNACK, Die Lehre der zwölf Apostel nebst Untersuchungen zur ältesten Geschichte der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts, TU 2/1–2, Leipzig 1884, 26 (Textteil): Die Singulare „Himmel“ und „Schuld“ sind „völlig n e u“, weil textgeschichtlich nicht ableitbar. 31 Für die Auslegung des Vaterunsers ist jedenfalls bedeutsam, dass Lukasevangelium und Didache den Zusatz zur Vergebungsbitte im Präsens formulieren und dass dieser Wortlaut den matthäischen Aorist weithin zurückdrängen konnte. Dieser textgeschichtliche Befund lässt vermuten, dass das Präsens als ursprünglich anzusehen ist. Der matthäische Aorist dürfte ein im Sinne der beiden Rechtssätze Mt 6,14f eingetragener redaktioneller Akzent sein und folglich keine Wiedergabe eines ursprünglichen aramäischen Wortlauts. 32 Auch die Erweiterung der Doxologie von zwei (Did 8,2) auf drei Glieder (Mt 6,13 v.l.) scheint unter dem Einfluss des Didache-Textes zu stehen; s.u. Anm. 55.

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3. Stellung und Funktion des Vaterunsers in der Didache Nicht nur die Textpragmatik, auch die Textstruktur der Didache liefert Hinweise, warum das Vaterunser darin Aufnahme gefunden hat. Auf den ersten Blick scheint das Gebet nur locker mit dem Kontext verknüpft: In Kapitel 7 wird die Taufthematik mit Regelungen zur Taufformel, zum Taufwasser und zum Tauffasten abgeschlossen. Das Stichwort „Fasten“ in 7,4 leitet über zur Festlegung der christlichen Fastentage in 8,1. Als weitere Frömmigkeitsübung der Christen wird in 8,2f das Gebet behandelt, und zwar in drei Schritten: Es wird bestimmt, welches Gebet zu sprechen ist, nämlich das vom Herrn befohlene, dann wird der Text des Herrengebets vollständig angeführt, und abschließend wird angeordnet, dass es dreimal am Tag „so“, nämlich in diesem Wortlaut, gebetet werden soll. Danach wird mit der Formel περὶ δέ (die auch sonst im Didache-Text Zäsuren markiert: 6,3; 7,1; 9,3; [10,8]; 11,3) zur Behandlung der Eucharistiegebete übergegangen (9,1–10,7[.8]).33 Es ist jedoch kein Zufall, dass das Vaterunser in der Didache seinen Ort zwischen den Bestimmungen zur Taufe und zum Mahlgottesdienst gefunden hat. Tatsächlich sind die Kapitel 1–10 eine planvoll gestaltete Sequenz, die jene Riten behandelt, durch deren Vollzug ein Mensch in die Gemeinde hineingelangt und in ihr verbleibt – sie bilden also die Grundstruktur der christlichen Religion ab. Der Initiationsritus umfasst zwei Ritualkomplexe: zunächst den der Taufe mit Taufunterricht (speziell für heidnische Novizen34), Tauffasten und Taufvollzug, anschließend den Eucharistiegottesdienst.35 Das Vaterunser, das der Getaufte zusammen mit der Gemeinde spricht, verbindet beide Rituale: Durch die Taufe zählt er zur Gemeinde der von Schuld befreiten „Heiligen“ (vgl. 10,6), die als einzige an der Mahlfeier teilnehmen dürfen (vgl. 9,5). Wie im Folgenden genauer zu begründen sein wird, ist das Vaterunser derjenige Text, mit dem die Gemeinde der Getauften die Eucharistiefeier eröffnet: Es ist das vor dem Mahl zu durchschreitende Tor, in dem die einander vergebenden Gemeindemitglieder Gott um Vergebung ihrer Schuld bitten, damit sie von ihm „geistliche Speise und Trank und ewiges Leben“ würdig empfangen (10,3) und ihn mit ihrem „reinen Opfer“ (14,1–3) – gemeint sind die Dankgebete36 der Getauften – dafür preisen können. —————

33 Zu Recht konstatiert VOKES, Life, 222: „As the Didache now stands, there is no necessary connection with [chapters] IX and X as a baptismal eucharist.“ 34 S.o. Anm. 26 zur Interpretation der sog. zweiten Didache-Überschrift durch KOCH, Debatte. 35 Ähnlich rekonstruiert A. MILAVEC, The Didache. Text, Translation, Analysis, and Commentary, Collegeville, MN 2003, 64, die in Did 1–10 zugrunde liegenden Struktur des Initiationsritus. 36 Zu dieser Deutung des nur in Did 14 begegnenden θυσία-Begriffs s. GARLEFF, Identität, 53– 57.

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Den engen Zusammenhang zwischen den beiden Ritualkomplexen verdunkelt die Didache ungewollt dadurch, dass sie nicht nur den Eintritt der Novizen in die Gemeinde (Kapitel 1–10), sondern auch das Bleiben der Getauften in der Gemeinde (Kapitel 8–16) regeln will. Dieser zweite Aspekt dominiert ab Kapitel 8: Nach dem einmaligen Tauffasten (7,4) wird das regelmäßige Fasten der Getauften behandelt (8,1: jeden Mittwoch und Freitag), dann das regelmäßige Herrengebet (8,3: dreimal am Tag) und die regelmäßig gefeierte Eucharistie (14,1: am Herrentag; vgl. die οὕτωςFormeln in 9,1; 10,1[.8], die wie in 7,1; 8,2a.3; 11,3; 15,4 eine verbindliche Praxis einschärfen); anschließend geht es um Bestimmungen für andere wiederkehrende Probleme des Gemeindelebens. In den Kapiteln 8–10 überlappen sich also die Bereiche des Eintritts in die Gemeinde und des Verbleibens darin. Mit Blick auf das Herrengebet möchte ich dies in drei Punkten vertiefen: 3.1 Das Vaterunser als Teil des Initiationsritus Dass der Ritualkomplex der Taufe in dem der Mahlfeier seine Fortsetzung und seinen Abschluss findet37 und dass folglich in Didache 1–10 der Weg des Novizen vom Taufunterricht bis zum Empfang der „geistlichen“ Speisen (10,3) in der Gemeinschaft der „Heiligen“ (10,6) abgebildet wird, findet seine Bestätigung durch andere frühchristliche Zeugnisse. Justin beschreibt vor 150 n. Chr. in 1Apol 61; 65 folgenden Verlauf der christlichen Initiation: Belehrung des Taufwilligen, der unter Gebet und Fasten von Gott Vergebung seiner früheren Sünden erbittet (61,2); seine Taufe an einer Wasserstelle unter Verkündung der triadischen Formel (61,3); Einführung des Getauften in die Versammlung der Geschwister zum gemeinsamen Gebet (65,1, vgl. 67,5; gemeint ist vermutlich das Vaterunser38) sowie, nach ausführlicher „Danksagung“ (εὐχαριστία; 65,3), zum Empfang der „Eucharistie“ genannten (66,1) Mahlelemente Brot und Mischwein (65,5). Womöglich ebenfalls aus dem Osten stammt die sogenannte Traditio Apostolica (Anfang 3. Jahrhundert?).39 Ihre strukturell analoge Taufordnung (Kapitel 21) legt fest, dass die Novizen nach der Taufe —————

37 Vgl. KVALBEIN, Lord’s Prayer, 240: „The Eucharist seems to be the end point and the peak of an initiation procedure as described in Did. 1–10.“ 38 Justin behandelt in 1Apol 63 die wahre Erkenntnis des Vaters. Daraus erschließt K.O. SANDNES, „The First Prayer“: Pater Noster in the Early Church, in: Hvalvik/Sandnes (Hg.), Prayer (s. Anm. 4), 224, dass es sich bei dem in 1Apol 65 erwähnten Gebet um das Vaterunser handelt. 39 Eine kommentierte Rekonstruktion dieses Textes bietet W. GEERLINGS, Traditio Apostolica/ Apostolische Überlieferung, in: Didache/Zwölf-Apostel-Lehre, übers. u. eingel. v. G. Schöllgen, FC 1, Freiburg u.a. 1991 (32000), 141–313 (zum Gebet der Getauften mit der Gemeinde s. 266f ).

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erstmals gemeinsam mit den Gläubigen beten dürfen – es liegt wiederum nahe, hier an das Vaterunser zu denken.40 Auch die in Syrien entstandenen Apostolischen Konstitutionen (4. Jahrhundert), in denen Didache und Traditio Apostolica aufgenommen und fortgeschrieben wurden (Buch 7f ), folgen dieser Ritualsequenz. Der Ort, den das Vaterunser im Taufgeschehen einnimmt, wird konkretisiert: Der Novize spricht das Herrengebet nach der Taufe, stehend und gen Osten gewandt (7,45,1f ); die Rezitation dieses Gebets symbolisiert seine erneuerte Existenz (3,18,1f ). Die stabile Grundstruktur des rituellen Prozesses vom Taufunterricht (der den Novizen zugleich seiner bisherigen kultischen und ethischen Vergehen überführt) über das Gebet bis zum gemeinschaftlichen Mahl mit den Glaubensgeschwistern scheint auf Vorbildern des hellenistischen Judentums zu beruhen, das Riten zur Aufnahme von Nichtjuden entwickelte. Besonders enge Analogien zu dem in Did 1–10 reflektierten Initiationsprozess weist die im ersten Teil des Romans Joseph und Aseneth41 (1. Jahrhundert n. Chr.?) geschilderte Konversion der ägyptischen Priestertochter zur jüdischen Religion auf (JosAs 1–21). Aseneths Konversion und der damit verbundene Empfang von Heilsgaben vollziehen sich in folgenden Stufen: Zunächst wird Aseneths sündige Existenz im Kontrast zu derjenigen Josephs, ihres Ehemanns in spe, aufgewiesen: Sie verehrt Götzen und pflegt eine gottlose Lebensweise (JosAs 8,542). Auf Josephs Bittgebet um die Erneuerung Aseneths (8,9) folgt Aseneths einsame Buße (9,1f; 10,1–15), die in ein siebentägiges Fasten (10,16–11,1; vgl. 13,9) mit Schuldbekenntnis (11,2–18) und Bittgebet an den „Gott der Ewigkeiten“ einmündet (11,19–13,15; im Mittelpunkt ihres Gebets stehen Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte, s. bes. 13,12f ). Der rituelle Wendepunkt, Aseneths Erneuerung, vollzieht sich durch die Epiphanie eines himmlischen Menschen (14–17). Er verkündet Aseneth die Erhörung ihrer Gebete (15,2) und verheißt ihr den Beginn einer neuen, gottgemäßen Existenz: „Siehe doch, von heute an wirst du wieder erneuert und wieder geformt und wieder lebendig gemacht werden

—————

40 Mitte des 3. Jahrhunderts ist die Ritualsequenz mit den Elementen Taufunterricht, Tauffasten, Taufhandlung in fließendem Wasser, gemeinsames Mahl mit den christlichen Geschwistern für den syrischen Raum mehrfach durch den Klemensroman bezeugt. Am Beispiel des Protagonisten wird sie dort in kaum zu überbietender Kürze beschrieben: „Nachdem drei Monate (mit Belehrungen über die christliche Religion) vergangen waren, befahl er (Petrus) mir (Klemens), einige Tage zu fasten. Dann führte er mich zu den Quellen, die in der Nähe des Meeres waren, um mich in nie versiegendem Wasser zu taufen. Danach ließen es sich unsere Brüder wegen meiner gottgeschenkten Neugeburt wohl schmecken.“ (Homilien 11,35,1f; ähnlich Rekognitionen 6,15,2f ) Vgl. auch den in Anm. 53 behandelten Abschnitt Rekognitionen 3,67. – Der Klemensroman setzt die Kenntnis des Vaterunsers voraus (Homilien 19,2,5), ohne es in Taufzusammenhängen zu zitieren. 41 Eine gründliche Behandlung der Einleitungsfragen und eine urtextnahe deutsche Übersetzung des schwer edierbaren Textes bietet C. BURCHARD, Joseph und Aseneth, JSHRZ II/4, Gütersloh 1983. 42 Die auch von Burchard verwendete Kapitel- und Verszählung folgt P. RIESSLER, Joseph und Asenath, in: DERS., Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, Augsburg 1928, 497–538.

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und wirst essen gesegnetes Brot (des) Lebens und trinken gesegneten Kelch (der) Unsterblichkeit und dich salben (mit) gesegneter Salbe (der) Unverweslichkeit.“ (15,5)43 Nachdem das in 17,9 als „Gott“ bezeichnete Himmelswesen Aseneth mit einer geheimnisvollen Honigwabe gespeist hat, stellt es die Erfüllung seiner Verheißung fest: „Siehe doch, du aßest Brot (des) Lebens und trankst Kelch (der) Unsterblichkeit und hast dich gesalbt (mit) Salbe (der) Unverweslichkeit.“ Hinfort soll Aseneth in ewiger Jugend leben (16,16).44 Ihre Vermählung mit Joseph symbolisiert abschließend ihre Aufnahme in die jüdische Religionsgemeinschaft (18–21; s. bes. 19,5).

Es ist unübersehbar, dass das in JosAs geschilderte Initiationsritual – Abkehr von der heidnischen Religion und Lebensweise unter Buße, Fasten und Vergebungsbitte, verwandelnde Begegnung mit der wahren Gottheit, Empfang von Heilsgaben, die zur Unsterblichkeit führen – dem in Did 1–10 abgebildeten rituellen Prozess weitgehend entspricht (die Epiphanie des Himmelswesens, in deren Verlauf sich Aseneths Erneuerung vollzieht, steht in ihrer soteriologischen Wirkung der Taufe kaum nach). Die übereinstimmende Bezeichnung der Heilsgaben als „Brot“, „Kelch“ und „Salbe“ (vgl. Did 9,1–10,8) lässt sich kaum als Zufall erklären, auch wenn der jüdische Roman45 sie offensichtlich nicht als Konkreta, sondern als Symbole gottgefälliger jüdischer Lebensweise versteht,46 die Joseph vorbildlich repräsentiert.47 (Vgl. seine Selbstbeschreibung in JosAs 8,5: Im Unterschied zur heidnischen Aseneth isst er gesegnetes Brot, trinkt gesegneten Kelch und salbt sich mit gesegneter Salbe.) Das Verhältnis zwischen JosAs und dem Initiationsritual für Heiden in der Didache bedarf jedenfalls noch genauerer Untersuchungen.

————— 43

Zitiert nach BURCHARD, Joseph und Aseneth, 675. A.a.O., 681f. 45 Es gibt keine Indizien, dass JosAs unter christlichem Einfluss oder gar von christlicher Hand verfasst wurde; vgl. BURCHARD, Joseph und Aseneth, 613f; A.-M. DENIS, Introduction à la littérature religieuse judéo-hellénistique I–II. (Pseudépigraphes de l’Ancient Testament), Turnhout 2000, 315.319f. 46 Allerdings darf man diese Differenz nicht überbetonen, da die Mahlelemente in der Didache ebenfalls symbolische Bedeutung besitzen (s.u. Anm. 59): Das gebrochene Brot symbolisiert „Leben und Erkenntnis“ (Did 9,3), die Mahlelemente sind geistliche Speisen, die ewiges Leben verheißen (10,3). 47 Bemerkenswerterweise findet Aseneths Verzehr der Honigwabe darin eine Parallele, dass nach der Tauflehre der Traditio Apostolica den Neugetauften neben Brot, Wasser und Wein auch ein Kelch mit einer Mischung aus Milch und Honig gereicht wird (s. GEERLINGS, Traditio Apostolica, 266–271; vgl. 191). 44

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3.2 Das Vaterunser als Teil der Eucharistiefeier Die strukturelle Unschärfe der Didache im Bereich von Kapitel 8 hat, wie oben angenommen, ihren Grund darin, dass der Autor nach Kapitel 7 die Anordnungen für die Initiation der Novizen mit Anordnungen für die getauften Gemeindemitglieder verbindet. Den Weg, den die Täuflinge nach den in Kapitel 1–10 abgebildeten Stationen einmalig durchlaufen, durchlaufen alle Gemeindemitglieder regelmäßig in abgekürzter Form ab Kapitel 8. Höhepunkt ihrer gemeinsamen religiösen Praxis ist die an jedem Herrentag zu feiernde Eucharistie (14,1). Damit sie diese Feier als „Heilige“ (10,6) begehen können, fordert die Didache, dass sie, gleichsam in Aktualisierung ihrer durch die Taufe erlangten Freiheit von Schuld, vor dem Gottesdienst einander gegenseitig ihre Verfehlungen bekennen und vergeben: „In der Gemeinde sollst du deine Übertretungen bekennen und nicht hinzutreten zu deinem Gebet mit schlechtem Gewissen.“ (4,14; vgl. 14,1)48 In 14,2 heißt es ergänzend: „Jeder, der Streit mit seinem Nächsten hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich versöhnt haben, damit euer Opfer49 nicht entweiht wird.“50 Nach ihrer wechselseitigen Vergebung von Schuld besitzen die Gemeindemitglieder wieder jene Taufreinheit, die ihnen, wie den Neugetauften, die Teilnahme an der Eucharistie gestattet. Wer trotzdem unversöhnt daran teilnimmt, wird während der Feier ausdrücklich gewarnt, die eucharistischen Gaben in Empfang nehmen zu wollen (10,6). Der genaue Ablauf der Eucharistiefeier lässt sich aus Did 8–10 nicht rekonstruieren. Es scheint dem Didachisten nur darauf anzukommen, Strittiges, nämlich den Wortlaut der zu sprechenden Gebete – sie sind die „Opfer“ der Gemeinde –, zu vereinheitlichen. Schon dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass das in 8,2b zitierte Vaterunser Bestandteil der Liturgie der Eucharistiefeier gewesen ist – der Wortlaut eines Privatgebetes hätte nicht normiert werden müssen. Offenbar war das Vaterunser dasjenige Gebet, das die Feier eröffnete:51 Nach vorangegangener wechselseitiger Vergebung der Gemeindemitglieder und unter Hinweis darauf können sie nun Gott um Vergebung ihrer Schuld anrufen („vergib uns unsere Schuld, denn52 auch —————

48 Zum Schuldbekenntnis der Gemeinde vgl. die von WENGST, Didache, 75 Anm. 46 genannten Belege aus Qumran und dem frühen Christentum. 49 Gemeint sind die Gebete der Gemeinde; s.o. Anm. 36. 50 Den Kehrsatz dazu formuliert der Didachist in 15,3: „Mit jedem, der sich gegen den anderen verfehlt, soll niemand reden, (...) bis er andern Sinnes geworden ist.“ 51 Vgl. W. RORDORF, The Lord’s Prayer in the Light of its Liturgical Use in the Early Church, StLi 14 (1980/81), Nr. 1, 1–19: 5. Im 4. Jahrhundert bezeugt Cyrill von Jerusalem diese Stellung des Vaterunsers in der Mahlliturgie (vgl. DRAPER, Self-Definition, 237). 52 Das einleitende ὡς des Begründungssatzes sollte nicht adverbiell mit „wie“ übersetzt werden, um das Missverständnis zu vermeiden, dass die Gemeinde Gott um eine Vergebung nach dem Maß ihrer eigenen Vergebung bittet. Angemessener ist die Übersetzung des ὡς als Konjunktion,

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wir vergeben unseren Schuldnern“). Damit war dieses Thema gleichsam aus der Welt geschafft; in den folgenden Gebeten spielt es keine Rolle mehr. Leitete das Vaterunser die Eucharistiefeier ein, darf mit einiger Zuversicht angenommen werden, dass sich die gesamte Gebetssequenz in Did 9– 10 an der gottesdienstlichen Ordnung orientiert – ihre Abfolge ist jedenfalls genau durchdacht. Insgesamt werden bei der Feier drei Bittgebete (8,2; 9,4; 10,5) und fünf Dankgebete (9,2; 9,3; 10,2; 10,3f; 10,8) gesprochen, die eine symmetrische Struktur bilden: Zwischen die Bittgebete treten jeweils zwei Dankgebete; das nach dem letzten Bittgebet gesprochene Myron-Gebet (10,8) hat eine Sonderstellung inne.53 Alle Gebete schließen mit einander entsprechenden Doxologien, die bei den Bittgebeten zweigliedrig („denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“) und bei den Dankgebeten eingliedrig („dein ist die Herrlichkeit in Ewigkeit“54) sind – insgesamt ————— sodass der Satz das Versprechen ausdrückt, das göttliche Vergebungshandeln in die Gemeinde hinein zu verlängern. So hat auch Lukas das ὡς seiner Q-Vorlage aufgefasst und es, um dem genannten Missverständnis vorzubeugen, mit καὶ γὰρ αὐτοί („denn auch [wir] selbst“) wiedergegeben (Lk 11,4). 53 Im letzten Eucharistiegebet der Didache (zur Textkritik s.o. Anm. 26) dankt die Gemeinde für das Salböl (μύρον). Welchen Zweck dieses Öl erfüllt, geht aus dem Wortlaut des Gebets nicht hervor. Vorgeschlagen wird, dass es zur Krankensalbung (so WENGST, Didache, 57–59) oder zur Salbung der Getauften diene (so PETERSON, Probleme, 162f.166ff; zur Diskussion vgl. NIEDERWIMMER, Didache, 207ff ). Die zweite Möglichkeit ist angesichts der Bestimmungen der Apostolischen Konstitutionen zur Myron-Salbung (7,27,1f; 7,44,1ff ) vorzuziehen. Dagegen scheint zu sprechen, dass die Ölweihe beim Taufakt vollzogen wird (was die Didache stillschweigend voraussetzen kann, wenn dieser Ritus unstrittig war), der Dank für das Öl aber erst nach der Mahlfeier gesprochen wird (vgl. RORDORF/TUILIER, Doctrine, 48). Es ist jedoch zu bedenken, dass dieses besondere Öl vor dem Taufakt zubereitet werden muss. Der Klemensroman lässt erkennen, in welcher Form das geschieht: In Rekognitionen 3,67 wird der Ritualkomplex der Taufe detailliert beschrieben: Nach Taufunterweisung und Tauffasten wird die Taufe in fließendem Wasser unter Anrufung des „dreimal-seligen Namens“ vollzogen. Anschließend wird der Getaufte „zuerst mit Öl gesalbt, das durch Gebet geheiligt worden ist [das durch heiliges Gebet bereitet worden ist (syrische Übersetzung)], damit er, dadurch [Plural] geweiht, an den heiligen Dingen teilhaben kann“ (3,67,4; lateinische Übersetzung). In Rekognitionen 1,45,4f heißt es in anderem Zusammenhang, dass der Vater den Sohn durch Öl vom Baum des Lebens zum Christus gesalbt hat und dass er (der Vater oder der Christus) alle Gerechten mit dem gleichen Öl salben wird, damit auch sie ewiges Leben empfangen. Nimmt man beide Stellen zusammen, ergibt sich, dass das Tauföl durch das Gebet „zubereitet“ wird, damit es den Täuflingen als göttliche Gabe gespendet werden kann. Der Ort für die Herstellung dieses Öls kann nur der Gottesdienst sein, in dem die Gemeinde Gott in ihren Gebeten anruft und Gott (oder der Christus), der im Mahl seine Gegenwart verbürgt, das während der Feier vor ihn gebrachte Öl zum Lebensöl verwandeln kann. Da alle Mahlteilnehmer getauft und gesalbt sind, danken sie laut Did 10,8 nach dem Mahl für dieses Öl (konkret: für den offenbar real wahrnehmbaren „Wohlgeruch des Salböls“; so auch Apostolische Konstitutionen 7,27,2), das sie zu ihrer Rettung empfangen haben und andere retten soll. 54 Die mit σοῦ ἐστιν bzw. σοί (sc. ἐστιν) eingeleiteten Doxologien besagen inhaltlich dasselbe: Sie bezeichnen Gott als den, der die (Kraft und die) Herrlichkeit besitzt. Der Wechsel zwischen Genitiv und Dativ ist unbedeutend – der Genitiv betont den Besitzer, der Dativ den Besitz (BDR § 189.1). Diese Nuance lässt sich in der deutschen Übersetzung nicht wiedergeben. Irreführend ist

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bilden sie den feierlichen „Refrain der Tischgemeinde der Gottgeweihten“55. Dass alle Gebete in Did 8–10 mit einer Doxologie schließen, zeigt deutlich, dass der Didachist das Vaterunser in 8,2b als liturgisches Gebet mitteilt.56 Joachim Jeremias hat darauf hingewiesen, dass es im Judentum „zwei Formen des Gebetsschlusses“ gegeben hat, nämlich „den fixierten Schluß und den vom Beter frei formulierten Schluß, ḥatima (»Siegel«) genannt“.57 Die zweite Form war beim Herrengebet ursprünglich möglich, vielleicht sogar üblich, da es nach der dritten Wir-Bitte offen endete (Mt 6,13; Lk 11,4). Sobald die gemeinsame Rezitation im Gottesdienst einen verbindlichen Abschluss erforderlich machte, musste die freie Form dem fixierten Schluss weichen. Weil die Doxologie des Didache-Vaterunsers den Doxologien aller Eucharistiegebete entspricht, darf als sicher gelten, dass der Didachist das Herrengebet in der Form mitteilt, wie er es aus der bei ihm üblichen bzw. der von ihm angeordneten Gestalt der Eucharistieliturgie kennt. Das Verhältnis zwischen Vaterunser und den folgenden Gebeten lässt sich dahingehend genauer bestimmen, dass das Vaterunser den Eucharistiegebeten nicht etwa nachträglich vorangestellt wurde, sondern dass die gesamte Gebetssequenz Ergebnis eines umfassenden Redaktionsprozesses war, der keines————— die gängige Übersetzung von σοί (sc. ἐστιν) mit „dir sei“ – zu ergänzen ist der Indikativ, nicht der Optativ: Gott hat Kraft und Herrlichkeit, der Mensch muss sie ihm nicht wünschen. 55 PETERSON, Probleme, 180. – Die Ergänzung der Gebete durch Doxologien (teils mit bekräftigendem „Amen“) erfolgte vermutlich im Zuge der liturgischen Ausgestaltung der Eucharistiefeier. Die Doxologien selbst sind jüdischen Ursprungs, da christologische Elemente in ihnen fehlen; vgl. die Belege 1Chr 29,11 (fünfgliedrig) und 4Makk 18,24 (eingliedrig mit großer Nähe zur kürzeren Didache-Doxologie: ᾧ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων [so auch in Gal 1,5; 2Tim 4,18; Hebr 13,21]). Die Doxologien der Didache-Gebete haben vielfältige Analogien in der frühchristlichen Literatur. Zur eingliedrigen Form vgl. besonders Röm 11,36(; 16,27): αὐτῷ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας (ähnlich Phil 4,20; 2Petr 3,18), daneben finden sich zwei- (1Tim 1,17; 1Petr 4,11; Apk 1,6), drei- (Apk 4,11) und viergliedrige Formeln (Jud 25). – Ob die eingliedrige Doxologie der Didache-Dankgebete die ältere Form ist, aus der sich die zweigliedrige Form in den Bittgebeten entwickelt hat, muss offenbleiben. Genauso möglich ist, dass der Wechsel zwischen zwei- und eingliedriger Form zu den Stilmitteln der liturgischen Bearbeitung gehört. – Die vertraute dreigliedrige Doxologie des Vaterunsers in der antiochenischen Rezension von Mt 6,13 („Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“) lässt sich als Erweiterung der zweigliedrigen in Did 8,2b erklären. Sie spiegelt den Sachverhalt wider, dass alle drei Bittgebete der Didache erwartungsvoll auf das Kommen von Gottes βασιλεία vorausblicken (8,2; 9,4; 10,5). So dürfte auch die dreigliedrige Doxologie des Vaterunsers ein Erbe der Didache-Gemeinden sein. Eine inhaltliche Neuakzentuierung der Doxologie ist mit ihrer rhetorischen Auffüllung nicht verbunden, da „Reich“, „Kraft“ und „Herrlichkeit“ hier praktisch Synonyme sind: Alle drei Begriffe bezeichnen Gottes Majestät, seine Machtherrlichkeit, die die bittende Gemeinde hoffnungsvoll anruft und die die dankende Gemeinde preist. 56 Vgl. DRAPER, Self-Definition, 237. 57 Vgl. J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 21973, 196.

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wegs nur für den Gleichklang der acht Doxologien sorgte. Hans Kvalbein hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Vaterunser vielfach auf den Wortlaut der Eucharistiegebete eingewirkt hat.58 Die wichtigsten Parallelen seien zusammengestellt: Vaterunser Vater unser im Himmel geheiligt werden dein Name dein Reich komme unser tägliches Brot gib uns heute bewahre uns vor dem Bösen

Eucharistiegebete der Didache 9,2f: Vater unser; 10,2: heiliger Vater; 10,8: Vater 10,2: wir danken dir für deinen heiligen Namen 9,4 (10,5): deine Kirche soll zusammengebracht werden (...) in dein Reich; 10,6: Maranatha 10,3: Du (...) hast Speise und Trank gegeben den Menschen zum Genuss, uns aber hast du geschenkt geistliche Speise und Trank59 10,5 (...), dass du sie (sc. die Kirche) bewahrst vor allem Bösen

Es mag übertrieben sein, wenn Kvalbein formuliert, dass das Vaterunser ein „pattern“ für die Ausformulierung der Gebete in Did 10 geliefert habe60 – zutreffend ist jedenfalls, dass der besondere Klang der Eucharistiegebete, der sie von der zugrunde liegenden jüdischen Tradition des Dankgebets nach der Mahlzeit (Birkat ha-Mazon) unterscheidet,61 in beträchtlichem Maße auf den Einfluss des Vaterunsers zurückzuführen ist. 3.3 Das Vaterunser als Ausdruck persönlicher Frömmigkeit Obwohl der Didachist das Herrengebet vor allem im Zusammenhang der Ritualkomplexe Taufe und Eucharistie anführt, berücksichtigt er darüber hinaus, dass es einen weiteren Sitz im Leben hat, nämlich die Alltagsfrömmigkeit des einzelnen (vgl. Mt 6,5–8). Wie das Fasten den Wochenrhythmus der Didache-Christen bestimmt (Did 8,1), so die Rezitation des Vaterunsers ihren Tagesrhythmus. Nicht wie die „Schauspieler“ (ὑποκριταί), nämlich die nicht-christusgläubigen Juden,62 sehr wohl aber nach dem Vorbild der jüdischen Tefilla, dem Schemone Esre, sollen sie es dreimal am Tag, also wohl morgens, mittags und abends (vgl. Ps 55,18),63 sprechen ————— 58

Vgl. KVALBEIN, Lord’s Prayer, 262f. Die Didache liefert den ersten Beleg für die symbolische Deutung der Brotbitte; vgl. RORDORF, Lord’s Prayer, 6ff. 60 Vgl. KVALBEIN, Lord’s Prayer, 259. 61 Zum Verhältnis zwischen jüdischem Mahlgebet und den Eucharistiegebeten der Didache s. ausführlich VAN DE SANDT/FLUSSER, Didache, 309–329. 62 Trotz aller Rettungsversuche widerspricht der Zusammenhang von Did 8,1 und 2 (vgl. auch 15,4) jeder anderen Deutung des Begriffs ὑποκριταί; vgl. KVALBEIN, Lord’s Prayer, 242. 63 Vgl. KNOPF, Lehre, 23f. 59

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(Did 8,2a.3; vgl. 15,4). Weil sie es zu den alltäglichen Gebetszeiten oft allein werden rezitieren müssen, weist der Didachist sie an, dem Wortlaut zu folgen, der ihnen aus dem Eucharistiegottesdienst vertraut ist.64

4. Das Vaterunser und die religiöse Identität der Didache-Christen Alle drei Zusammenhänge, in denen das Herrengebet eine Rolle spielt, sind für die religiöse Identität der Didache-Gemeinden von zentraler Bedeutung: Der Taufritus zielt auch darauf, dass der Novize das Vaterunser erstmals in der Gemeinschaft der Getauften mitsprechen kann, und dieses gemeinsame Gebet mit seiner Bitte um Vergebung nach vorangegangener Versöhnung öffnet den Getauften das Tor zur Feier der Eucharistie in einem Raum besonderer Heiligkeit. Der wird vom „Opfer“ ihrer Gebete erfüllt, in denen das Vaterunser nachklingt. Taufritus, Vaterunser und Mahlritus begegnen in der Didache folglich als zentrale „Differenzsymbole“65, die in der Selbstwahrnehmung der Didache-Christen ihre Sonderstellung zwischen Heiden und nicht-christusgläubigen Juden markieren. Vor allem von den Letzteren wollen sie sich klar abgrenzen: Wie die Taufe an die Stelle der Beschneidung und die Eucharistie an die Stelle der jüdischen Gemeinschaftsmähler getreten ist, so das Sprechen des Herrengebets unter Anrufung des Vaters66 an die Stelle des regelmäßigen jüdischen Gebets unter Anrufung des Herrn. Die an die jüdische Gebetspraxis anknüpfende Weisung des Didachisten, das Vaterunser dreimal täglich zu sprechen (8,3), macht die identitätsstiftende Funktion dieses Gebets67 besonders deutlich: Das Herrengebet soll die jüdische Tefilla ersetzen, was vermuten lässt, dass zur Zeit der Publikation der Didache die Rezitation des Schemone Esre unter syrischen Christen durchaus noch üblich war.68 Die Möglichkeit des gemeinsamen Gebets wurde nunmehr unterbunden. Mit der Abgrenzung von den ὑποκριταί, Kehrseite des gewachsenen eigenen religiösen Selbstbewusstseins, ging die Begründung einer anderen, aber ebenso verbindlichen Gebetspraxis einher. Durch sie wurden die Christen, wohl mehr als durch die in geschützten —————

64 Die Notizen der Didache zur persönlichen Gebetspraxis sind historisch bedeutsam. Sie bieten „das älteste Zeugniss für den regelmässigen Privatgebrauch des VU. und für drei Gebetszeiten am Tag“ (HARNACK, Lehre, 28 [Textteil]). 65 Unter diesem zutreffenden Begriff behandelt GARLEFF, Identität, 104–110, das Verständnis von Taufe und Mahl in der Didache. 66 Vgl. KVALBEIN, Lord’s Prayer, 250–254, zur „Vater“-Anrede Gottes als „identity marker“ der Didache-Gemeinden. 67 Dazu ausführlich KVALBEIN, Lord’s Prayer, 243–246. 68 Vgl. DRAPER, Self-Definition, 235f; KNOPF, Lehre, 23.

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Räumen geübte Tauf- und Mahlpraxis, von ihrer Umwelt als besondere religiöse Gruppe wahrgenommen.

* Von allen Formen des Vaterunsers, die aus der Zeit des frühen Christentums überliefert sind, steht die Didache-Fassung derjenigen am nächsten, die heute als persönliches Gebet und als Teil der Liturgie ökumenisch weit gesprochen wird. Anders formuliert: Das pragmatische Bemühen des Didachisten um einheitliche Sprachregelungen war beim Herrengebet von Erfolg gekrönt. Es ist zu dem geworden, was es werden sollte – zu dem einen Gebet für alle christlichen Gemeinden. Daher heißt es an allen „Enden der Erde“ (9,4): Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel auch auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, denn auch wir vergeben unseren Schuldnern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern bewahre uns von dem Bösen. Denn dein ist [das Reich69] und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.70

————— 69 70

S.o. Anm. 55. Die Apostolischen Konstitutionen schließen das Gebet mit „Amen“ (3,18,2; 7,24,1).

Literaturverzeichnis

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Theologische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen

Nachruf auf Professor D. Drs. h. c. Eduard Lohse (* 19. Februar 1924

† 23. Juni 2015)

D. theol. Eduard Lohse, Professor für Neues Testament an der GeorgAugust-Universität Göttingen, ist am 23. Juni 2015 verstorben. Er war von 1964 bis 1971 als ordentlicher Professor und anschließend als Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät tätig. 1924 in Hamburg geboren, studierte Eduard Lohse von 1945 an Theologie in Bethel und in Göttingen. Hier wurde er Mitarbeiter von Joachim Jeremias und erhielt 1949 aufgrund seiner Dissertation „Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament“ die Doktorwürde. Als Konviktsinspektor an der Kirchlichen Hochschule Hamburg erarbeitete er dann die Studie „Märtyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühnetod Jesu Christi“, mit der er sich 1953 in Mainz habilitierte. Er wurde 1956 außerordentlicher und 1962 ordentlicher Professor für Neues Testament in Kiel; 1964 kam er nach Göttingen zurück. Die Qualifikationsschriften zeigen an, welcher Aufgabe sich Eduard Lohse zeitlebens widmete: einer umsichtigen Auslegung der neutestamentlichen Schriften unter Beachtung ihrer jüdischen Kontexte und in der Absicht, die in ihnen laut werdende Botschaft zu erheben und deren bleibende Bedeutung für die Kirche aufzuweisen. Demgemäß reicht sein Œuvre von der Edition eines Toseftatraktats und einer kommentierten Studienausgabe wichtiger Qumrantexte über drei gelehrte Kommentare (zur Offenbarung, zu Kolosser- und Philemon- sowie zum Römerbrief) bis zu einer allgemeinverständlichen Einführung in den „rechten Dienst der Christen“. Seine vielen exegetisch-theologischen Studien erfassen das gesamte Neue Testament, von der Jesusüberlieferung bis zu den späten Briefen. Diverse, mehrfach neu aufgelegte Lehrbücher zu Umwelt, Entstehung, Theologie und Ethik des Neuen Testaments haben eine ganze Generation von Theologiestudierenden geprägt. In detaillierten Untersuchungen (etwa zur Passionsgeschichte oder zum Vaterunser) und umfassenden Darstellungen (etwa zu Paulus oder zu den Wundertaten Jesu) erwies sich Eduard Lohse als ein Meister der Vermittlung – zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Positionen, zwischen Forschung und Lehre, zwischen Wissenschaft und Kirche. Letzteres bezeugt auch die ihm gewidmete Festschrift aus dem Jahr 1989 – und zuvor bereits seine Wahl in das Amt des Bischofs

180

Nachruf auf Prof. D. Drs. h.c. Eduard Lohse

der Landeskirche Hannovers, das er von 1971 bis 1988 wahrnahm und mit weiteren Leitungsaufgaben in VELKD und EKD verband. Die Fakultät ließ ihn seinerzeit nur ungern ziehen. Sie achtete nicht nur seine Expertise, die universitäts-, ja, weltweit gewürdigt worden ist: durch seine Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften, durch drei Ehrenpromotionen und manche Preise, durch Übersetzungen seiner Bücher in etliche andere Sprachen. Die Kollegen schätzten seine Integrationskraft (weshalb er 1970, in politisch herausfordernden Zeiten, gar zum Rektor der Universität gewählt wurde), die Studierenden sein didaktisches Geschick – und alle, die ihn näher kannten, seine Sanftmut. Aber sie konnten alsbald erleben, dass dieser Diener des Wortes auch als Bischof viel Gutes bewirkte. Die Verbreitung der Bibel förderte er ebenso wie die ökumenische Verständigung, den christlich-jüdischen Dialog und das Gespräch zwischen Kirche und Politik. Überdies hielt er Göttingen und der hiesigen Theologie die Treue: als Forscher und Autor, als Lehrer und Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses. In den Köpfen und den Herzen vieler Menschen hat Eduard Lohse tiefe, wegweisende Spuren hinterlassen. Möge er nun selbst erfahren, was er auf seinem ganzen Lebensweg überzeugend verkündigt hat: „Die Liebe hört niemals auf …“ Die Theologische Fakultät zu Göttingen gedenkt seiner in Ehrerbietung und Dankbarkeit. Reinhard Feldmeier, Dekan

Florian Wilk

Bibliographie Eduard Lohse 2007–2015 Die Zusammenstellung beschließt die Reihe der bereits publizierten Teilbibliographien: (1) Bibliographie 1948–1987, in: K. Aland / S. Meurer (Hg.), Wissenschaft und Kirche. FS Eduard Lohse, TAzB 4, Bielefeld 1989, 371–404; (2) Bibliographie Eduard Lohse 1988–2000, in: DERS., Das Neue Testament als Urkunde des Evangeliums. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments III, FRLANT 192, Göttingen 2000, 250–262; (3) Bibliographie Eduard Lohse 2000–2006, in: DERS., Rechenschaft vom Evangelium. Exegetische Studien zum Römerbrief, BZNW 150, Berlin / New York 2007, 219–224. Sie basiert auf einem von Eduard Lohse selbst bis ins Jahr 2013 geführten handschriftlichen Verzeichnis und folgt der Ordnung, die im ersten Teil (auf S. 371) festgelegt worden ist; Übersetzungen und Neuauflagen werden jedoch jeweils eigens verzeichnet, wie es bereits im dritten Teil geschah. Die Zählung der dort (auf S. 223f ) unter „im Druck“ verzeichneten, nur z.T. tatsächlich publizierten Arbeiten wird nicht übernommen.

2007 821. 822. 823. 824.

825.

826.

827.

Freude des Glaubens. Die Freude im Neuen Testament, Göttingen 2007. Rechenschaft vom Evangelium. Exegetische Studien zum Römerbrief, BZNW 150, Berlin / New York 2007. Gottes Gnadenwahl und das Geschick Israels, in: E. LOHSE, Rechenschaft vom Evangelium [s. Nr. 822], 29–42. Geschichtliches Erbe als Vermächtnis und Auftrag, in: A. Freiherr von Campenhausen (Hg.), Verantwortung in Gesellschaft, Kirche und Staat. FS Adolf Freiherr von Wangenheim, Hannover 2007, 49–58. Der Sohn Davids als Helfer und Retter, in: V. Lehnert / U. Rüsen-Weinhold (Hg.), Logos – Logik – Lyrik. Engagierte exegetische Studien zum biblischen Reden Gottes. FS Klaus Haacker, ABG 27, Leipzig 2007, 297–304. Der Flügelaltar in der Kirche St. Salvatoris in Clausthal-Zellerfeld. Seine Planung und Gestaltung, in: H. VON POSER U.A., Der Zellerfelder Flügelaltar von Werner Tübke und seine Vorarbeiten, Bad Frankenhausen 2007, 15–19. Rez. von E. Peterson, Der erste Brief an die Korinther und PaulusStudien. Ausgewählte Schriften VII, hg. von H.-U. Weidemann, in: ThLZ 132 (2007) 527f.

182 828. 829.

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Rez. von K. Manzke, Predigten, Vorträge, Aufsätze, Münster 2007, in: Evangelische Zeitung 22. Juli 2007, 7. Rez. von H.P. Fasterling, Entdeckte Zusammenhänge im christlichen Katechismus. Das für das Leben notwendige Wissen ineinander gefügt und durch Sinnbilder erläutert, Norderstedt 2006, in: JGnKG 104 (2006) 401–403.

2008 830. 831. 832. 833. 834. 835. 836.

837.

838. 839.

Slowakische Übersetzung von „Theologische Ethik des Neuen Testaments“ [s. Nr. 549]: Teologická etika Nového zákona, Bratislava 2008. Italienische Übersetzung von „Freude des Glaubens“ [s. Nr. 821]: Gioia della fede. La gioia nel Nuovo Testamento, Brescia 2008. Spanische Übersetzung von „Freude des Glaubens“ [s. Nr. 821]: La Alegría de la Fe. La Alegría en el Nuevo Testamento, ST Breve 70, Santander 2008. Das Urchristentum. Ein Rückblick auf die Anfänge, Göttingen 2008. Das Vaterunser im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, LucasPreis 2007, hg. von F. Schweitzer, Tübingen 2008. Christus des Gesetzes Ende? Die Theologie des Apostels Paulus in kritischer Perspektive, in: ZNW 99 (2008) 18–32. Christus des Gesetzes Ende. Exegetische Erwägungen zu Röm 10,4, in: N. Ciola / G. Pulcinelli (Hg.), Nuovo Testamento. Teologie in Dialogo Culturale. FS Romano Penna, RivBib.S 50, Bologna 2008, 249–256. Wir sind die rechte alte Kirche. Ein Zuspruch Martin Luthers, in: Kirche in reformatorischer Verantwortung. Wahrnehmen – Leiten – Gestalten. FS Horst Hirschler, hg. vom Konvent des Klosters Loccum, Göttingen 2008, 251–259. Humanitarian Ethics and Biblical tradition in Modern Europe. The Social responsibility of Christians according to the New Testament, ΔΕΛΤΙΟ ΒΙΒΛΙΚΩΝ ΜΕΛΕΤΩΝ 26, Athen 2008, 67–73. Rez. von P. Pokorný / U. Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, UTB 2798, Tübingen 2007, in: ThR 73 (2008) 472–474.

Bibliographie Eduard Lohse 2007–2015

183

2009 840. 841. 842. 843. 844. 845. 846.

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848. 849.

Burmesische Übersetzung von „Grundriß der neutestamentlichen Theologie“ [s. Nr. 255], 2009.* Paulus – eine Biographie [s. Nr. 691], 3. Aufl. München 2009. Vater unser. Das Gebet der Christen, Darmstadt 2009. Vater unser. Das Gebet der Christen (Hörbuch), Darmstadt 2009. Paulus und Martin Luther, in: K. LEHMANN / E. LOHSE, Paulus, Lehrer der Kirche, Mainzer Perspektiven: Orientierungen 7, Mainz 2009, 30–47. Martin Luther and the Apostle Paul’s Letter to the Romans. Biblical Discoveries, in: Luther Digest 17 (2009) 51–56. St. Paul’s arrival at Corinth and his first preaching there – What do we learn from his letters to Corinth about this subject?, in: C.I. Belezos u.a. (Hg.), Απόστολος Παύλος και Κόρινθος [Saint Paul and Corinth] II, Athen 2009, 253–261. Laudatio auf Dr. Jürgen Schmude, in: Ehrenpromotion Jürgen Schmude. Reden gehalten bei der Verleihung des wissenschaftlichen Grades eines Doktors der Theologie ehrenhalber (Dr. theol. h.c.) an Dr. Jürgen Schmude am 15. Juli 2009 im Festsaal der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonner akademische Reden 92, Bonn 2009, 17–22. Rez. von F. Siegert, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt, Göttingen 2008, in: ThLZ 134 (2009) 1069–1071. Zum Geleit, in: K.D. Schmidt, Einführung in die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit, hg. von J. Reller, Hermannsburg 2009, 8.

2010 850.

Russische Übersetzung von „Paulus – eine Biographie“ [s. Nr. 691]: Павел. Биография [Pavel. Biografija], Moskau 2010. 851. Rumänische Übersetzung von „Umwelt des Neuen Testaments“ [s. Nr. 216]: Mediul Noului Testament, Studii Biblice 21, Iaşi 2010. 852. Vater unser. Das Gebet der Christen [s. Nr. 842], 2. Aufl. Darmstadt 2010. ————— *

Diese Angabe im Verzeichnis von E. Lohse konnte der Hg. nicht verifizieren.

184 853. 854. 855. 856.

857.

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Christuskerygma und Verkündigung Jesu, in: ZNW 101 (2010) 204–222. Kurt Aland (1915–1994), in: EBR I (2010) 707–709. Paulus ohne die Reformatoren? [zu: R. Jewett, Romans. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2007], in: ThR 75 (2010) 95–105. Rez. von C. Breytenbach / R. Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, Neukirchen-Vluyn 2008, in: ThLZ 135 (2010) 539f. Rez. von E. Peterson, Theologie und Theologen, Ausgewählte Schriften IX, 2 Teile, hg. von B. Nichtweiß, Würzburg 2009, in: ThLZ 135 (2010) 586–588.

2011 858. 859. 860.

861.

862. 863.

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Vater unser. Das Gebet der Christen [s. Nr. 842], 3. Aufl. Darmstadt 2011. Freundschaftliche Verbundenheit durch ein halbes Jahrhundert, in: Bonewitz (Hg.), Begegnungen mit Karl Kardinal Lehmann, Mainz 2011, 43f. Evangelische Kirche im geteilten Deutschland, in: J. Heise / J. Gruhn (Hg.), Horizont und Mitte. Albrecht Schönherr. Pfarrer und Bischof in zwei Diktaturen. Zum 100. Geburtstag, Berlin 2011, 108–119. Was uns verbindet, ist stärker als alles, was uns (noch) trennt. Die Begegnung des Papstes mit der EKD in Erfurt und die Rede im Freiburger Konzerthaus – zwei Ereignisse, zwei Deutungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 4. Oktober 2011, 7. Rez. von W. Klaiber, Der Römerbrief, Die Botschaft des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2009, in: ThLZ 136 (2011) 54–56. Rez. von E. Peterson, Ekklesia. Studien zum altkirchlichen Kirchenbegriff, Ausgewählte Schriften Sonderbd., hg. von B. Nichtweiß / H.-U. Weidemann, Würzburg 2010, in: ThLZ 136 (2011) 182. Rez. von F. Siegert, Das Leben Jesu. Eine Biographie aufgrund der vorkanonischen Überlieferungen, Göttingen 2010, in: ThLZ 136 (2011) 407f.

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865.

185

Rez. von W. Klaiber, Das Markusevangelium, Die Botschaft des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2010, in: ThLZ 136 (2011) 892f.

2012 866. 867. 868.

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870.

871. 872. 873.

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186 875. 876. 877.

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Unerhört. Über das Kreuz. [Rez. von] W. Klaiber, Jesu Tod und unser Leben. Was das Kreuz bedeutet, Leipzig 2011, in: Zeitzeichen 13 (2012), Heft 4, 62f. Rez. von M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, in: ThLZ 137 (2012) 936–938. Rez. von G. Isermann, Helden, Zweifler, Versager. Das Pfarrerbild in der Literatur, Hannover 2012, in: ThLZ 137 (2012) 1378f.

2013 878.

879.

880.

„In der Kraft von Zeichen und Wundern“ (Röm 15,19). Wunder im Urteil des Apostels Paulus, in: P.-G. Klumbies / D.S. du Toit (Hg.), Paulus – Werk und Wirkung. FS Andreas Lindemann, Tübingen 2013, 225–234. Rez. von E. Peterson, Heis Theos. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen zur antiken „EinGott“-Akklamation, Nachdruck der Ausgabe von Erik Peterson 1926, mit Ergänzungen und Kommentaren hg. von C. Markschies u.a., Ausgewählte Schriften 8, Würzburg 2012, in: ThLZ 138 (2013) 171f. Rez. von C. Karakolis / K.-W. Niebuhr / S. Rogalsky (Hg.), Gospel Images of Jesus Christ in Church Tradition and in Biblical Scholarship, WUNT 288, Tübingen 2012, in: ThLZ 138 (2013) 686f.

2015 881. 882.

Die Wundertaten Jesu. Die Bedeutung der neutestamentlichen Wunderüberlieferung für Theologie und Kirche, Stuttgart 2015. Das Johannesevangelium als Sprachkunstwerk [zu: J. Ringleben, Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens, HUTh 62, Tübingen 2014], in: ThR 80 (2015) 495–509.

Verzeichnis der Beiträger zu diesem Band

Dr. Reinhard Feldmeier, geb. 1952, Promotion 1986 und Habilitation 1991 in Tübingen, seit 2002 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Dr. Jörg Frey, geb. 1962, Promotion 1996 und Habilitation 1998 in Tübingen, seit 2010 Professor für Neutestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich Dr. Dr. h. c. Peter von der Osten-Sacken, geb. 1940, Promotion 1967 und Habilitation 1973 in Göttingen, bis 2005 Professor für Neues Testament und christlich-jüdische Studien an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Jürgen Wehnert, geb. 1952, Promotion 1988 und Habilitation 1995 in Göttingen, seit 2004 Professor für Biblische Theologie an der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Braunschweig Dr. Florian Wilk, geb. 1961, Promotion 1996 und Habilitation 2001 in Jena, seit 2003 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Dr. Michael Wolter, geb. 1950, Promotion 1977 in Heidelberg, Habilitation 1986 in Mainz, seit 1993 Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Stellenregister

Altes Testament / Hebräische Bibel Genesis 50,17

117

Exodus 3,7.10.15

65

Leviticus 16,30 19,2 19,17 20,8

116 77, 79 115 77, 79

Deuteronomium 6,5f 6,5.13.24

64 73

1. Könige 3,5–12

141

Jesaja 6,3 6,5 52,7 53,4 55,6f 56,7 57,14–21 57,15 63,16; 64,7[8]

68 68, 77 94 119 118 101 77f 70 14

Jeremia 2,27; 3,4 6,3 14,7–9.19–22

14 17 65f

Ezechiel 20,41 36,22–28.38 38,23

70 75 17

Hosea 11,8f 11,9

69 77f

Psalmen 25[24],11 27[26],8 33[32],6.9 34[33],2 44[43],27 54[53],3 55[54],18 63[62],4 73[72],25f 86[85],2.10–13 89[88],27 99[98],3 103[102],1f 104[103],14f 106[105],8 111[110],9 115,1 [113,9] 124[125],8 136[135],25 145[144] 145[144],15 147,9 [146,9]

25f 66, 99 60 56f 25 59f 65 160 52 52 72 14f 66 70 137 65 70f 77 65 1 21 137 137

Sprüche 14,32

99

Daniel 6,11[10] 9,4 9,18f

6 60 60

1. Chronik 29,10 29,11–13

14 105

2. Chronik 1,7–12

141

Außerkanonische Schriften und Pseudepigraphen zum AT Assumptio Mosis 10,1

19

190 1. Henoch 6,3 (griech) 39,12f 61,12

Stellenregister 138 17 17

Joseph und Aseneth 8–21 155f 2. Makkabäer 7,28

56

Sirach 1,11–13 2,15[18]f 28,2 32[35],21–23 39,5f [6–9] 39,5[6f ] 51,1.10[14]

73 73 116, 138 97 73f 57 14f

Psalmen Salomos 5,9–11

137

Tobit 3,11 7,5 13,1–8 13,3f 13,3

17 12 9 14 17

Damaskusschrift (CD) 9,2–8 115

2, 25

Praem. 83f

Kriegsrolle (1QM) 14,12–14 6, 48 Gemeinderegel (1QS) 5,24‒6,1 114f 9,26–10,1 6 9 17 9, 12, 17 20

26

Neues Testament Matthäus 1,21 3,1–6 3,7–9 4,23–5,2 5,7 5,13f 5,16 5,20 5,23f 5,25f 5,44f.48 5,44.48 5,44 6,1–18 6,1 6,2–18 6,5–8 6,5 6,7f 6,8 6,9–13

Genesisapokryphon (1QGenAp) 9, 12

4Q112–116[Dan] 4Q177 4Q196[Toba] 4Q201–212[En]

9f, 23 9 21f 10, 14f 20f 17 14f 6 6 17

Philo

Qumrantexte

Hodajot (1QHa, 4Q427–432)

4Q213a 4Q242 4Q246 4Q372 4Q400–407[Shir] 4Q427 4Q460 4Q503 4Q504–506 4Q545

6,9f 6,9 6,9a 6,9b 6,9c 6,10 6,10a 6,10b–c 6,10b 6,11

119 119 111 87 107f 123 80, 87f, 91, 123 104 95 107, 110 74, 80, 92, 109 61 55, 107–110 87f, 104, 109, 118, 123 104 126 5, 87, 99f, 160 91, 144 104, 126 61 1f, 5–7, 23f, 25, 28, 52, 54–56, 74f, 80, 83–88, 102, 104f, 126, 130– 133, 144, 147, 160 52 144 87, 102 10–16, 60f, 67, 76–79, 84, 88, 94, 104f, 152 16–18, 62–81, 115 55f, 57, 80f 18–22, 94, 115 105f, 115, 132 5 102, 130–137

191

Stellenregister Mt 6,12

6,13 6,13a 6,13b 6,14f 6,16–18 6,25–34 6,33 6,34 7,1f 7,6 7,7–11 7,11 7,21–23 7,21 8,11 8,16 9,2 9,8 9,13 9,37f 10,7f 10,10 11,19 11,25–27 11,25 12,28 13,31f 13,32 13,45 14,19 14,23 15,31 15,36 17,19f 18,15–17 18,18 18,19f 18,21–35 18,21f 18,23–35 19,13–15 20,28 21,9 21,14–16 21,21f 23,14 24,20 25,1–46 25,11

22, 95, 106–110, 112– 116, 118, 121, 133, 137–139, 144, 152 56, 131, 152, 159 101 105, 132 95, 107–109, 111, 115, 152 144 61 94 102 107f 129 61, 93f, 129 94 111 102 101 119 119 91, 119 119 92 119 92 119 90 57, 61, 75, 91 19 96 101 94 89 89 91 89 95f 112, 114f, 117 115, 119 88, 93 138 111f 95, 108, 110f, 113 89 119 91 91 94f 98 93 111 94

Mt 25,14–30 26,26f 26,28 26,36–46 26,41 26,42 27,3–5 27,5 27,46

113 89 119 89 88, 101 5, 102, 132 120f 103 89

Markus 1,22.27 1,24 1,35 2,5 2,12 2,18 3,35 4,30–32 4,32 4,40 4,41 5,15.33 5,34 5,41 5,42 6,41 6,46 6,50f 7,34 8,6f 9,6 9,23 9,29 10,30 10,32 10,52 11,9f 11,17 11,22–25 11,25 12,26 12,29f 12,32 12,38–40 13,18 14,22f 14,26 14,32–42 14,35 14,36 14,38 15,34

68 68 89f, 91 95 68, 91 139 101 96 101 95 68 68 95 12 68 89f 89f, 91 68 89 89 68 57, 95 57, 93 94 68 95 91 94, 101 94f 55, 57 91 81, 91 81 98 93 89f 10 53, 89 90 52, 57, 61, 132 101 52f, 89

192 Lukas 1,3 1,10.13 1,35.37 1,46–55 1,49f 1,49 1,67–79 1,68–79 1,72 2,20 2,28–32 2,29–32 2,37 2,40–52 3,16 3,21f 5,8f 5,16 5,25 5,26 5,33 6,12 6,16 6,27f 6,28 6,35f 6,37 7,16 7,33f 9,16 9,18–22 9,18 9,28 9,29 9,51–18,34 9,58 10,2 10,4.7f 10,7 10,21f 10,21 10,22 10,26f 11,1f 11,1 11,2–13 11,2–4

11,2b

Stellenregister Lk 11,2c 50 91 71 26, 70f, 91 72 70 91 26 71 91 91 26 91 50f 139 89, 127f 68 127 91 91 91, 139 89, 127 122 92 55 61, 74, 80, 92 107 91 139 89 127 89, 127f 89 89, 127f 126 136 92 102 92 90 57, 61, 75, 90 85 91 5 87, 89, 91, 126–128, 139 129, 141f 1f, 5–7, 23f, 25, 28, 54– 56, 74f, 80, 83–88, 102, 128–134, 139f 87, 102, 128

11,2d 11,2e 11,3 11,4 11,4a–b 11,4c 11,5–13 11,5–8 11,9–13 11,9f 11,11–13 11,13 11,20 12,22–32 12,22–24 12,29 12,31 13,4 13,13 13,18f 13,19 13,24f 13,29 15,11–32 16,16 17,6 17,15 18,1–8 18,9–14 18,10 18,43 19,37f 20,46f 21,36 22,17.19f 22,31f 22,39–46 22,40.46 22,41.44 22,42 23,34 23,46 23,47 24,19 24,30 24,49 24,53

10–16, 60f, 76–79, 84, 94, 129, 132, 141 16–18, 62–81 18–22, 94, 129 102, 130–137 107, 152, 158f 22, 95, 133, 137–139 101 128f, 140 96f, 128, 140 61, 93f, 129 128, 140 128, 140f 87, 129, 140–142 19 61 136f 142 94, 142 138 91 96 101 94 101 61 139 95f 91 87, 97 59, 98f 91 91 91 98 27, 93 89 55, 89 89 53f, 87 127 5, 132 89 54, 89 91 125 89 142 91

Johannes 6,11 11,41–43

89 89

193

Stellenregister Joh 12,27f 14,13f 14,16f 15,7.16 16,23–26 16,26f 17 17,9–26 Apostelgeschichte 1,18 2,22f 2,42 3,1 4,23–31 4,24–30 10,9 16,25 17,25 21,14

89 97 89 97 97 89 23, 89f 55

103 51 26 48 55 26 48 57 45 5, 132

Römerbrief 4,17 8,14–17 8,15 8,17.23 8,26f 8,31f 8,34 12,12 15,30

56 61 10 78 55, 78 61 55 26 55

1. Korintherbrief 1,2 6,11 8,5 11,23

54, 78 78 64 120–122

2. Korintherbrief 1,11 5,17 12,9

55 71 53

Galaterbrief 4,4–7 4,8 4,6 6,15

61 64 10 71

Epheserbrief 5,19f 6,10–12 6,18f

25 49 49

Philipperbrief 1,3–6.9 2,6–11 4,6

55 61 49

Kolosserbrief 4,2

26f

1. Thessalonicherbrief 1,2f 55 3,13 78 5,17 26 5,23 78f 2. Thessalonicherbrief 3,1 55 1. Timotheusbrief 2,1f

55

2. Timotheusbrief 1,3

55

Philemonbrief 4

55

Hebräerbrief 5,7

53

Jakobusbrief 3,15f 3,16 4,3 5,13–18

51 55 141 57

Johannes-Apokalypse 4,8 17 11,17f 26 15,3f 26, 72f

Außerkanonische Schriften zum NT, altkirchliche Literatur Apostolische Konstitutionen 3,18,1f 155 3,18,2 152, 162 7f 155 7,1–32 151 7,24,1 152, 162 7,27 151, 158 7,32 147 7,45,1f 155

194

Stellenregister

Cyrill v. Jerusalem 157 Didache 1–10 1–6 1,3b–2,1 4,14 6,2 7–10 7,1–3 7,1 7,4 8–16 8–10 8,1 8,2f 8,2 8,2a 8,2b 8,3 9–10 9,4 9,5 10,2–7 10,3 10,5 10,6 10,8 11–15 11,2 11,3–6 14,1–3 14,1 14,2 15,1 15,3 16 16,8 Euseb Praep. Ev. IV,13

143f, 145–147, 150– 152, 161f 144, 153–157 146 151 157 151 88, 153, 161 145f 146 146, 153f 154 154, 157, 159f 144, 153f, 160 88, 153 131, 139, 144 144, 160f 144, 147, 152, 157–160, 162 48, 154, 160f 153, 156, 158f, 160 147 88, 153 146 153f 160 153f, 157 158 144 147 135f 153 154, 157 157 146 157 144 147

45

Hebräerevangelium 135 Hieronymus Comm. Matth. I,9

135

Justin 1Apol 61–67

154

Origenes Cels. VII,68 VIII,2 Fragm. Luc. 180,1f Orat. 27,7

64 64 133 130f

Pseudoklementinen Hom. 11,35,1f 155 Rekogn. 1,45,4f 158 3,67,4 158 Traditio Apostolica 154f

Griechisch-römische Literatur Aelius Aristides Hier. Log. 4,14–29 Or. 39,14 42,1 43,8f.25f 45,16 45,22f

33 33 33 34 34 34

Apuleius met. XI,5

63f

Cicero nat. deor. I,32 I,45 III,89

62 56 38

Diogenes Laertius VII,147

62f

Dion Chrysostomus 12,60f 50 31,11 63f Epiktet Diatr. I,1 I,6 I,16 I,19 II,8 II,16 II,18 III,1–4 III,5–11 III,22 IV,1 IV,7 IV,131

42, 56 35 43 71 67 42 37f, 42f 58 58f 34, 50 41, 43f 43 41

195

Stellenregister Epikur Frgm. 13 386f 388

39 39 36

Heraklit B5 B 32

34f 62

Homer Il. 1,35–42 1,37–42 1,218 2,400f 6,304–310 8,236–244 13,631–636 16,210–248

58 31f 33 30f 32 32 30 30f

Jamblich vit. Pyth. 145

45

Kleanthes

40, 63, 66

Plutarch mor. 169E 351C–D 361C 391ff 406C 593E–594A 824C–D 1001C 1125D–E vit. Alex. 8

35 46f 47 47 30 46f 55 67 27 32

Porphyrius vit. Plot. 10,36f

59

Ps.-Aristoteles de Mundi 401a

62

Quintilian Inst. 3,7,15

125

38, 50 38f 35 41 41 45 66f 45 40f 40

Maximus von Tyros 5,1f 5,3 5,5 5,7 5,8

35 36 45f 36, 141 46, 49f

Seneca ep. 10,4 20,8 31,2 31,5 41,1f Sen. ep. 41,1 41,2f 95,47f 107,9 107,11f

Philostrat Ap. 1,11.33; 4,40

50

Simplikios Ench. LXXI

44

Pindar Nem. Od. 8,35–38

Xenophanes

33

33 Xenophon mem. I 3,2

36, 141

Marinus, vit. Procl. 51

Platon Alk. 2,142e–143a 2,149c 2,150c Euthyphr. 14e leg. 716c–e 716c Phaidr. 279b.c 279b Tim. 27b.c

37 36 36f 32 37 39 37 39 27

Plotin Enn. 3,28 5,1,6

46 46

Rabbinische Schriften Midraschim EkhR zu 3,44

112

Mishna (m) Miq 1,1–8 Yoma 8,9

146 116

196 Talmud Bavli (b) Ber 9b.11a–12a 33a 40b Meg 17b Taan 23b Yoma 86 87a

Stellenregister

Jüdische Gebete 6 7 18 7 10f, 13 112 116f

Talmud Jerushalmi (j) Ber 1,8 6 Targumim

15

Achtzehn-Gebet (Schemone Esre, Tephilla)

2, 6–8, 18, 19, 24, 48, 57, 68, 75, 91, 115f, 118, 160f

Qaddish

6, 8, 16f, 18, 24, 75, 105f, 115

Autorenregister

Abrahams, I. 2, 116 Alexander, P. 21 Allison, D.C. 2, 6, 21, 23 Alon, G. 151 Arx, U. von 92 Audet, J.-P. 150f Backhaus, K. 6 Balz, H. 89 Barr, J. 15 Barth, G. 125 Barth, L.M. 116 Bedenbender, A. 123 Beierwaltes, W. 46 Berger, K. 91 Betz, H.D. 1, 104 Bietenhard, H. 30, 65 Billerbeck, P. 18, 69, 115 Black, M. 137 Blass, F. 97, 129 Böckler, A. 14 Bornkamm, G. 87, 102, 113, 125 Bousset, W. 26, 28 Bovon, F. 6, 57, 80, 90, 96 Breslauer, R.I. 118 Buber, M. 64, 75f Bultmann, R. 90, 99 Burchard, C. 87, 104, 155f Burkert, W. 31 Burney, C.F. 5 Camponovo, O. 20 Carruth, S. 134 Celan, P. 53 Charlesworth, J.H. 1 Chazon, E. 9 Chesnutt, R.D. 9 Chilton, B. 1 Collins, J.J. 21 Conzelmann, H. 120, 125 Dalman, G.H. 4, 22, 112, 137 Davies, W.D. 2, 6, 21, 23 Debrunner, A. 97, 129 Denis, A.-M. 156 Dibelius, M. 50

Dihle, A. 43, 56, 67 Dobschütz, E. von 78 Doering, L. 84 Donne, A. Le 3 Draper, J.A. 143f, 157, 159, 161 Ebeling, G. 58 Ego, B. 21 Elbogen, I. 8 Elk, M. 122 Elliott, J.K. 139 Engert, S. 116 Erler, M. 39, 44, 46, 51 Evans, C.A. 1 Fabry, H.-J. 14, 21 Falk, D.K. 6, 9 Farnell, L.R. 66 Feldmeier, R. 25–81, 51, 56, 60f, 65, 68f, 75, 78f, 89 Fiedler, P. 88, 94 Fischer, J.A. 150 Fitzmyer, J.A. 12f, 75, 98, 127 Fleischer, E. 48 Flusser, D. 10, 115, 143, 151, 160 Förster, N. 45, 132, 140, 142 Forschner, M. 44 Frankemölle, H. 112, 115 Frettlöh, M.L. 107 Frey, J. 1–24, 2f, 7, 16, 19f, 29, 84, 101 Garleff, G. 146, 153, 161 Garrow, A.J.P. 143f Garsky, A. 134 Geerlings, W. 154, 156 Gemeinhardt, P. 57 Gese, H. 102 Gigon, O. 141 Ginsburskaya, M. 109 Gnilka, J. 90, 95 Goetz, O. 121 Goldschmidt, H.L. 117, 123 Greeven, H. 33 Grelot, P. 5 Gunkel, Heidrun 94 Gunkel, Hermann 117

198

Autorenregister

Haacker, K. 85f, 96 Hahn, F. 74 Hamacher, E. 21 Hand, W.D. 121 Harnack, A. 152, 161 Harnisch, W. 99 Hays, C.M. 133 Hayward, R. 84 Heiler, F. 66 Heinrici, G. 120 Held, H.J. 125 Hengel, M. 1, 15, 20 Herrmann, J. 52 Holmén, T. 1f Horbury, W. 8 Horst, P.W. van der 33, 79 Hunzinger, C.-H. 95 Jastrow, M. 137 Jens, W. 121 Jeremias, J. 2, 4, 8, 10–17, 22, 24, 57, 83f, 90f, 101, 107, 159 Jursch, H. 121 Käsemann, E. 55, 78 Keith, C. 3 Kellermann, U. 7f, 19 Kimelman, R. 8 Klauck, H.-J. 63 Klein, H. 95 Klinghardt, M. 133 Knopf, R. 145, 160f Koch, D.-A. 143, 145, 150f, 153 Konradt, M. 100, 127 Korting, G. 135 Kümmel, W.G. 19 Kuhn, H.-W. 19 Kuhn, K.G. 5f Kvalbein, H. 143, 154, 160f Lambrecht, J. 111 Langer, R. 48 Lehmann-Habeck, M. 108 Lehnardt, A. 8, 105 Leipoldt, J. 11 Leonhard, C. 7, 10 Limbeck, M. 121f Lindemann, A. 20, 120 Littmann, E. 5 Lohfink, G. 84, 102 Lohmeyer, E. 105, 112f

Lohse, E. 2f, 5f, 18, 22, 28, 48, 75, 80, 83, 85, 102, 104, 114, 117, 123f, 128, 140, 143 Luck, U. 86, 94 Lührmann, D. 130 Lüthi, K. 121f Luz, U. 18, 75–77, 85–87, 90, 102, 106, 109, 112, 119 Machiela, D.A. 9 Marshall, I.H. 129 Marxsen, W. 125 McDowell, M. 9 Mell, U. 3f, 85f Mellinkoff, R. 121 Merz, A. 1 Milavec, A. 136, 153 Montefiore, C.G. 116 Müller, K. 86, 139 Müller, U.B. 143f Neirynck, F. 134 Newman, J. 9 Newsom, C.A. 21 Nickelsburg, G.W.E. 20 Niederwimmer, K. 136, 144, 146f, 150f, 158 Nilsson, M.P. 31, 33, 38, 46, 62 Nitzan, B. 9 Oepke, A. 78 Osten-Sacken, P. von der 95, 103–124, 106, 110, 114, 124 Ostmeyer, K.-H. 49, 88f Ott, W. 142 Otto, R. 71, 76, 80 Pardee, N. 143 Parker, R. 31 Peterson, E. 151, 158f Philonenko, M. 4, 8, 13, 15, 84, 132 Plümacher, E. 127 Pohlenz, M. 40, 63, 65 Popović, M. 84 Porter, S.E. 2f Procksch, O. 69, 80 Pulleyn, S. 28, 31, 49, 58 Radl, W. 89f Rau, E. 85 Reif, S.C. 48 Ringleben, J. 58 Rogland, M. 97

Autorenregister Rordorf, W. 144, 147, 151, 15f, 160 Roth, D.T. 133 Rozwaski, C.Z. 118 Ruzer, S. 109 Sand, A. 92 Sandnes, K.O. 154 Sandt, H. van de 143f, 151, 160 Sartou-Lajus, N. 114 Sauer, G. 73 Schäfer, P. 8 Schattner-Rieser, U. 4f, 9, 12–18, 21f Scheer, T.S. 28f, 31, 62 Schelbert, G. 10–12, 84 Schlatter, A. 108 Schmeller, T. 136 Schnackenburg, R. 49 Schneider, G. 84, 87, 100, 102, 129 Schöllgen, G. 143f Schoedel, W.R. 150 Schrage, W. 120f Schürer, E. 26, 48, 68 Schürmann, H. 85 Schwarz, G. 5 Schweitzer, A. 57 Schweizer, E. 90 Schwemer, A.M. 1, 20 Severus, E. von 28, 33, 38f, 58, 62 Seybold, K. 25 Spieckermann, H. 60f, 65, 68f, 75, 78f Stegemann, W. 1 Stemberger, G. 7 Steudel, A. 16f, 21 Stolle, V. 100f Strack, H.L. 18 Strecker, G. 20, 125, 144 Strotmann, A. 12, 14f Teppler, Y.Y. 8 Theißen, G. 1f, 130, 136

199

Tiwald, M. 136 Tönges, E. 12, 14 Toit, D.S. du 130 Torrey, C.C. 5 Tuilier, A. 144, 147, 151, 158 Vermes, G. 13f Vernant, J.P. 56 Versnel, H.S. 34 Vielhauer, P. 20, 88, 144 Vinzent, M. 133 Vögtle, A. 106 Vogel, C. 40, 44, 47 Vokes, F.E. 151, 153 Waetjen, H.C. 96 Walter, N. 93 Weder, H. 108 Wehnert, J. 88, 143–162 Weiß, J. 19, 99 Weiß, K. 97 Wellhausen, J. 1 Wengst, K. 88, 113, 143–145, 147, 150f, 157f Wiefel, W. 87, 90 Wilamowitz-Moellendorff, U. von 56 Wilckens, U. 89, 100 Wilk, F. 83–102, 84f, 87, 89, 94, 99, 101 Wilke, A.F. 65 Winter, D. 2, 130 Wolff, C. 120f Wolter, M. 5, 18, 54, 76, 80, 87, 92, 125– 142, 126f, 135 Zager, W. 115 Zahn, T. 55 Zangenberg, J. 143 Zeller, D. 121 Zimmermann, C. 12, 14f, 63 Zimmermann, J. 21f