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German Pages 460 Year 2005
Bernd Seidensticker
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen Studien zum antiken Drama
Herausgegeben von
Jens Holzhausen
Κ · G · Saur München · Leipzig 2005
Bibliografische Information D e r Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 by Κ. G. Saur Verlag G m b H , München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Gedruckt auf altemngsbeständigem Papier. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" G m b H , 99947 Bad Langensalza I S B N 3-598-73024-1
Vorwort des Herausgebers Alle, die das Vergnügen haben und hatten, Bernd Seidensticker persönlich zu begegnen, werden erstaunt darüber sein, daß tatsächlich der Zeitpunkt schon gekommen ist, der es auch ihm erlaubt, die Lasten akademischer Pflichten abzulegen und nur noch den selbst gewählten Neigungen in Forschung und hoffentlich auch Lehre zu folgen. Dieser Zeitpunkt soll dadurch gewürdigt werden, daß hier seine Kleinen Schriften zum antiken Drama in einem Sammelband vorgelegt werden. Sie sind an vielen, teilweise entlegenen Stellen erschienen, so daß eine Zusammenstellung der einander in vielerlei Hinsicht ergänzenden Arbeiten sicher dem Wunsch aller am griechischen und römischen Drama Interessierten entgegenkommt. Die Reihenfolge der Texte zu bestimmen, war nicht ganz einfach. Es entspricht aber wohl Seidenstickers Arbeitsweise am besten, die Einzelinterpretationen zu Sophokles und Euripides an den Anfang zu stellen, und dann erst die allgemeinen Untersuchungen folgen zu lassen. Denn stets stehen der konkrete Text und seine Interpretation im Mittelpunkt; auf dieser Grundlage aufbauend, ergibt sich dann erst die Behandlung umfassender Problemstellungen; und auch hier sucht die Besprechung der „großen" Fragen immer wieder den Rückbezug zum Text, wie man in diesem Band an vielen Stellen beobachten kann. Bei den allgemeinen Studien steht die wichtige Arbeit zum „Vergnügen an tragischen Gegenständen" am Beginn, die in programmatischer Weise auch der Sammlung ihren Titel gegeben hat. Denn niemals erschöpfte sich Seidenstickers Beschäftigung mit der Tragödie, dem Satyrspiel und dem römischem Drama in trockener Gelehrsamkeit, sondern es verband und verbindet sich mit ihr stets die lebendige Begegnung mit den Stoffen und vor allem ihrer Rezeption in späterer Literatur und auf der Bühne. Ausdruck dafür sind neben vielen anderen Arbeiten die gelungenen Editionen von Peter Steins Orestie (im Beck-Verlag) und Durs Grünbeins Thyestes Suhrkamp).
(bei
IV Die Arbeiten einzeln vorzustellen, erübrigt sich, da sie allgemein bekannt und vielzitiert sind und auch in diesem Band fur sich selber sprechen können und werden Auch im Zeitalter des Computers ist eine solche Sammlung der Schriften keine Kleinigkeit - nur die Art der Probleme hat sich vielleicht verändert. Deshalb haben Einige mithelfen müssen, damit Form und Inhalt sich in angemessener Weise entsprechen. Zu nennen sind hier Jörn Mixdorf und Marek Hahn, vor allem aber Silke Anziger, die sich mit großem Einsatz des Manuskriptes angenommen und das Register erstellt hat. In diesem sind die Stellen erfaßt, auf die von Seidensticker ausfuhrlicher eingegangen wird. Bleibt zum Abschluß der persönliche Dank des langjährigen Assistenten. Viele schöne Erinnerungen, vor allem an die gemeinsamen Fahrten nach Griechenland und in die Türkei, wären hier zu nennen; besonderer Dank aber betrifft den Alltag, der stets von gleichbleibender Freundlichkeit und Heiterkeit geprägt war. Dieses Klima der Offenheit und des Vertrauens hat die Atmosphäre an unserem alten Haus in der Ehrenbergstraße geprägt und die Arbeit dort immer zu einer sehr erfreulichen gemacht. Möge dieser Stil auch für die Zukunft beispielgebend sein. Jens Holzhausen, Hemhofen im November 2004
Inhalt
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles ... 1 Henries 100, 1972, 255-274
Die Wahl des Todes bei Sophokles
29
Entretiens sur l'antiquite classique 29,1983,105-153
Beobachtungen zur sophokleischen Kunst der Charakterzeichnung 66 Orchestra (FS H. Flashar), 1994, 276-88
Euripides, Medea 1056-80, an Interpolation?
88
Cabinet of the Muses, (FS T.G. Rosenmeyer) 1990, 89-102
The Authenticity of Euripides Orestes 1503-36
109
Aristoteles Werk und Wirkung (FS P. Moraux), 1985,446-456
Comic Elements in Euripides' Bacchae
121
AJPh 99,1978,303-320
Pentheus
141
Poetica 5,1972, 35-63
Sacrificial Ritual in the Bacchae
181
Arktouros (FS B.M.W. Knox), 1979,181-190
Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides
193
SB und Mitt. der Braunschweig. Wissen. Gesellschaft 1982,51-69
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
217
Fragmenta Dramatica, ed. H. Hofman, 1991,219-41
Die griechische Tragödie als literarischer Wettbewerb Ber. u. Abh. der Berlin-Brandenburg. Akad. der Wissensch. 2,1996, 9-35
246
VI
Peripetie und tragische Dialektik. Aristoteles, Szondi und die griechische Tragödie
279
Drama 1,1992,240-63
Peripeteia and Tragic Dialectic in Euripidean Tragedy
309
Tragedy and the Tragic, ed. M.S. Silk, 1996, 377-96
Women on the Tragic Stage
331
History, Tragedy, Theory, ed. B. Gold, 1995, 151-173
Das Satyrspiel
361
Das griechische Satyrspiel, ed. R. Krumeich, Ν. Pechstein, Β. Seidensticker, 1999, 1-40
Maius solito Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
418
Antike und Abendland 31, 1985, 116-136
Stellenregister (erstellt von S. Anzinger)
451
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles Ό έπι Κολωνφ Οιδίπους συνημμένος πώς έστι τφ Τυράννω. Dieser Einleitungssatz der I. Hypothesis des OK, der auf gewisse Zusammenhänge zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles hinweist, ohne daß Einzelnes näher ausgeführt wird, ist Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. Die moderne Forschung hat sich wie der antike Philologe mit allgemeinen Formulierungen begnügt. Man spricht in den OK-Interpretationen von Fortsetzung (Lesky)1, sequel (Bowra)2 und davon, daß sich der Handlungsablauf bruchlos von einem Stück ins andere fortsetze (Whitman)3. Die Identität der Hauptfigur und die Geschlossenheit des dramatisierten Stoffes4 schaffen eine natürliche Verbindung, die das spätere Werk5 als eine Art Fortsetzung erscheinen läßt. Lesky spricht zwar weiter davon, daß sich die beiden Dramen zu einer 'Einheit eigener, neuer Art' zusammenschlössen6, und der Gedanke, daß der OK so etwas wie das komplementäre
1
A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern u. München 2 1963, 324. C.M. Bowra, Sophoclean Tragedy, Oxford 1944 (Paperback 1965), 308: "His Oedipus at Colonus is in some senses (das πως des Scholiasten) a sequel to the earlier play." 3 C . H. Whitman, Sophocles, Cambridge 1951, 192: „The plot, which Sophocles presents, fits smoothly into the Oedipus rex." 4 Die abgerundete und bedeutungsvolle Geschlossenheit des Stoffs - des OidipusSchicksals von der unheilvollen Geburt und Aussetzung bis zur Entiückung im Hain von Kolonos - ist die schöpferische Leistung des Sophokles. Zum Oidipusmythos C. Robert, Oidipus, Berlin 1915; L. Deubner, Oidipusprobleme, Abh. Preuß. Akad. Wiss. 1942, 4, 1-43; F. Dirlmeier, Der Mythos von König Oidipus, Mainz 1948; E. L. de Kock, The Sophoclean Oidipus and his Antecedents, Acta Classica 4, 1961, 7-28; A. Cameron, The Identity of Oedipus the King, New York-London 1968, 3-31. 5 Für den OK ist als Auffuhrungsdatum das Jahr 401 durch die 2. Hypothesis gesichert; die Datierung des OT ist unsicher, wahrscheinlich ist der Zeitraum zwischen 429 (Pest) und 425 (Acharnerparodie). Der OT ist also 20-25 Jahre vor dem OK entstanden. 6 A. Lesky, a. O. 324. 2
2
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
Gegenstück zum OT sei, daß nämlich dem Abstieg des Königs bis zur Vernichtung im OT der Aufstieg des Bettlers bis zur Heroisierung im OK folge, ist Allgemeingut der Sophoklesinterpretation7.
Doch genauere
Analysen dieser die beiden8 Dramen durchziehenden dramatischen Bewegung gibt es nicht, Hinweise auf strukturelle Parallelen und Zusammenhänge fehlen fast ganz. Zu verschieden erscheinen die Stücke: auf der einen Seite das sich dynamisch, mit zwingender Konsequenz entfaltende, von Szene zu Szene steigernde und auf das Ziel - die Entdeckung der Vergangenheit - zustrebende Verhör des OT, auf der anderen Seite die lockere, sich episch breit entwickelnde Form des OK, voller episodisch eigengewichtiger Szenen9. Gerichtsstück und Hikesiedrama10, Tragödie und Schauspiel, Dramatik und 'Epik': hier scheint es müßig, all diesen formalen und inhaltlichen Gegensätzen zum Trotz Beziehungen zu suchen und nach der 'Einheit' der beiden Stücke zu fragen.
7
Zum Beispiel Bowra, a. O. 308; H. W. Schmidt, Das Spätwerk des Sophokles, Eine Strukturanalyse des Oidipus auf Kolonos, Diss. Tübingen (masch.) 1961, IXf.; S. M. Adams, Sophocles the Playwright, Toronto 1957, 164; W. Jens, Statt einer Literaturgeschichte, Pfullingen 51962, 94f.; W. Ellinger, Sophokles und Apollon, in: Synusia, Festschrift fur W. Schadewaldt, Pfullingen 1965, 102; vgl. auch Β. M. W. Knox' Oidipus-Athen-These, Heroic Temper, Berkeley and Los Angeles 1964, 163f. (und Oedipus at Thebes, New Haven 1957, passim). 8 Ausfuhrliche Einzelanalysen der beiden Stücke liegen in großer Zahl vor - in den Sophokles-Monographien und in zahlreichen Aufsätzen sowie in den Tübinger Dissertationen von Schmidt, a. O., und G. Kremer, Strukturanalyse des Oidipus Tyrannos von Sophokles, 1963 (masch.). 9 Die episodische Form des OK ist wiederholt kritisiert worden, am schärfsten von A. J. A. Waldock, Sophocles the Dramatist, Cambridge 1951, 219ff., und L. S. Colchester, Justice and Death in Sophocles, CQ 36, 1942, 21-29 (weitere Kritiker bei Schmidt, a. O., 61). K. Reinhardt, Sophokles, Frankfurt 3 1947, 212, 1; Adams, a. O. 175f. u. a. haben dagegen die innere Einheit des Stücks betont. Lesleys abgewogenes Urteil (Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 3 1972, 255f.) trifft auch hier das Richtige. 10 Zum OK als Hikesiedrama vgl. Reinhardt, a. O. 204-207, und Schmidt, a. O. passim.
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
3
Und doch: Sophokles wendet sich am Ende seines Schaffens noch einmal einer tragischen Gestalt seiner Reifezeit zu. Er hat - das darf, ja muß man erwarten - das frühere Bild des Helden, die zentralen Probleme und die dramatische Form des älteren Stücks deutlich vor Augen 11 . Die folgende Untersuchung versucht zu zeigen, daß und wie Sophokles durch inhaltliche Verknüpfungen und Rückverweise, durch Wiederaufnahme von Motiven und Beantwortung offengebliebener Fragen, durch 'Selbstzitate' und Anspielungen, durch die Verwendung von Parallele und Kontrast in Personenzeichnung und Szenenbau, schließlich durch die Anlage der Gesamtstruktur der beiden Dramen die Oidipustragödien zu einer Einheit verbunden hat 12 . Das Schicksal des Oidipus ist Thema beider Dramen. Eine große zusammenschließende Bewegung durchzieht die Stücke: νυν γάρ θεοί σ ' όρθοΰσι, πρόσθε δ' ώλλυσαν (OK 394). Vernichtender Sturz (ΟΤ) und heroisierender
Aufstieg
(OK),
Vertreibung
des
Königs
aus
jeder
Gemeinschaft und Wiederaufnahme des Bettlers in Athen gehören zusammen. Um eine Grundlage fur die spätere Einzelinterpretation zu schaffen und zugleich um zu zeigen, wie dicht der OK an den OT anschließt, wie sorgfältig Sophokles die inhaltlichen Verbindungsfäden geknüpft hat und wie genau die fallende (OT) und die steigende (OK) Linie aufeinander bezogen sind, gilt es zunächst, den Weg, den ihn Sophokles in den beiden Stücken führt, herauszuarbeiten. Oidipus wird sofort nach seiner Geburt von seinen Eltern im Kithairon ausgesetzt. Von diesem ersten Tiefpunkt führt sein Weg über Korinth, Delphi und den verhängnisvollen Dreiweg, an dem er ahnungslos den Vater erschlägt, zum ersten Gipfel seiner Lebenskurve: dem Sieg über die Sphinx, 11
Man darf doch wohl davon ausgehen, daß Sophokles sein αύτόγραφον zur Hand nahm. 12 Die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur bleibt dabei auf die für das Untersuchungsziel relevanten Fragen beschränkt. Dieser Grundsatz wird nur im ersten Teil durchbrochen, wenn zentrale Probleme der Oidipus-Interpretation berührt werden.
4
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
der ihm Königreich und Königin bringt 13 . Liegen auch zwischen des Rätsels Lösung und dem Beginn des OT eine Reihe von Jahren, so steht Oidipus doch am Anfang des Stücks, das zeigt Sophokles in der ersten Szene, noch auf der gleichen Höhe des Glücks: er ist der große Oidipus - ό πάσι κλεινός Οιδίπους -, wie er sich selbst in seiner von hohem Pathos getragenen Eingangsrhesis nennt (8); er wird als κρατύνων (14), als κράτιστος (40), als άνδρών πρώτος (33) und βροχών άριστος (46) bezeichnet; und wenn der Priester in Vers 31/2 auch erklärt: θεοΐσι ... ούκ Ισούμενον ..., so ist die übermenschliche, gottähnliche Stellung 14 des Oidipus doch deutlich. Vor ihm liegen die Bittflehenden. Er, der frühere Retter (35ff., 47/8, 52), ist auch jetzt einzige Hoffnung (40ff., 53). Betende Priester an den Altären, das Jammergeschrei der Frauen und Kinder, im Hintergrund die von der Pest getroffene Stadt und, als Kontrast, der ruhige, sichere Auftritt eines königlichen, sich seiner Klugheit und Macht wohl bewußten Retters - Herrscher und Vater zugleich: ein einprägsames Ecce 15 . Oidipus, dem bestimmt ist zu fallen, wird am Anfang in seiner ganzen Größe gezeigt. Die Fallhöhe wird sichtbar. Der Sturz wird tief und vernichtend sein. Mit dem Befehl Apollons, den Kreon aus Delphi zurückbringt, wird der dramatischen Bewegung der entscheidende Impuls gegeben: άνωγεν ήμάς Φοίβος έμφανώς άναξ μίασμα χώρας, ώς τεθραμμένον χθονι 13
Dieser Teil der Lebensgeschichte des Oidipus ist außerszenische Vorgeschichte, deren vollständige Erhellung das dramatische Ziel der AnalysisHandlung bildet. 14 Zum sakralen Stil des Prologs vgl. Kremer, a. O. 35-39; Knox, Oedipus at Thebes, a. Ο. 159-184; Reinhardt, a. Ο. 105f.; W. Ax, Die Parodos des Oidipus Tyrannos, Hermes 6 7 , 1 9 3 2 , 4 1 3 - 4 3 7 (424). 15 Reinhardt, a. 0 . 1 0 4 f . ; Kamerbeek, Kommentar, 12. Zu den verschiedenen Aspekten, unter denen Oidipus' Größe im Prolog exponiert wird - Herrscher, Retter, Rätsellöser, Richter, Arzt - vgl. Reinhardt, a. O. 104f.; Knox, Oedipus at Thebes, passim (besonders 80-82, 87-98, 117-124, 134-147); Kremer, a. Ο. Hund 1-28.
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έν τηδ' έλαύνειν μηδ' άνήκεστον τρέφειν. (96-98) „Damit wird dem Suchenden die Aufgabe gestellt, sich selbst zu finden"16. Die Fragen beginnen sofort im nächsten Vers. Die Gerichtsanalyse der Vergangenheit - Diskussion und Rekonstruktion, Verhör und Zeugenkonfrontation füllen die Szenen - macht den Richter zum gesuchten Angeklagten, den Jäger zur Beute, den Arzt zum Kranken, den König und Retter der Stadt zum μίασμα χώρας (97), zum 'scape-goat'17. Der Rätsellöser mit den 'hellen Augen' 18 ist, wenn es um seine eigene Person geht, blind. Sein Scharfsinn, einst Rettung Thebens, dient nur dazu, ihn immer wieder auf falsche Fährten zu locken. Er, der einmal etwas wußte, glaubt jetzt, alles zu wissen, und der Glaube an die eigene Intelligenz, abgeleitet von der Überwindung der Sphinx (390-398), verstellt ihm den Blick auf die Wahrheit. Schon im ersten Gespräch mit Kreon schließt er schnell, aber falsch (124f.). Auch in der folgenden Agonszene mit dem Seher Teiresias fragt, kombiniert und folgert er schnell, aber seine Antworten stimmen nicht mehr. Das Rätsel des Teiresias kann er nicht mehr lösen (438-440, 449 bis 460) 19 .
16
Reinhardt, a. Ο. 106. Die Verkehrung der Ausgangssituation hat Sophokles durch ein dichtes Netz leitmotivartig wiederholter Begriffe und Bilder verdeutlicht. Die eingehenden Untersuchungen bedeutungsvoller Wortfamilien und zentraler Bildkomplexe durch Knox, Oedipus at Thebes, a. Ο.; Η. Musurillo, Sunken Imagery in Sophocles' Oedipus, AJPh 78, 1957, 36-51; id.; Symbol and Myth in Ancient Poetry, New York 1961, 84-95; id., The Light and the Darkness, Leiden 1967 und Kremer, 1-28, haben reiche Ergebnisse gebracht. Vgl. dazu auch Ph. W. Harsh, Implicit and Explicit in the Oedipus Tyrannus, AJPh, 79, 1958, 243 bis 258 und Kamerbeeks vorsichtig abwägende Haltung, Kommentar, 26-28. 18 U. v. Wilamowitz, Exkurse zum Oidipus des Sophokles, Hermes, 34, 1899, 5517
80 (61). 19
Zur Bedeutung des Sphinxrätsels und seiner Auflösung (der Mensch = γνώθι σαυτόν) für den OT und zu dem engen Zusammenhang zwischen Sphinxrätsel und dem neuen 'Rätsel', das Oidipus auf der Suche nach dem Laiosmörder lösen muß, vgl. F. J. H. Letters, The Life and Work of Sophocles, London-New York 1953, 224227; R. Lattimore, The Poetry of Greek Tragedy, Baltimore 1958, 91; Μ. J. O'Brien,
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So treibt er zunächst im ersten Teil des Stücks in die Hybris. Der Abstieg beginnt. Der König wird zum Tyrannen. Aus dem väterlichen Mitleid mit der Not der Bürger im Prolog werden der hochmütige Stolz und die grausame Härte eines Tyrannen, der rechtlos Leid zufügen will (Teiresias- und Kreonszene). Die Weisheit wird zu verblendetem Scharfsinn, die energische Entschlossenheit des Retters zum wilden Zorn des Despoten 2 0 . Der zweite Teil, der durch die Scharnierszene Oidipus-Kreon-Iokaste (634 bis 707) angeschlossen ist - die Rettung Kreons schließt den ersten Teil ab, der Hinweis auf den Dreiweg (716) eröffnet den zweiten Teil 2 1 -, lenkt das zunächst fehlgelaufene Verhör in die richtige Bahn, und in den folgenden Szenen mit lokaste (bis 862) und dem Boten aus Korinth (bis 1085) sowie der sich anschließenden Konfrontation der beiden Hauptzeugen (bis 1185)
Twentieth Century Interpretations of Oedipus Rex, Englewood Cliffs 1968, 12f.; Cameron, a. Ο. 19-25. 20 Es muß angesichts der in jüngster Zeit erneut und heftig aufgeflammten Auseinandersetzung über 'Schuld' bzw. 'Schuldlosigkeit' des Oidipus betont werden, daß mit dieser Charakterisierung seines Verhaltens in den beiden Streitszenen mit Teiresias und Kreon nicht etwa eine Schuld als Ursache für Oidipus' Untergang konstruiert werden soll. Es geht lediglich darum, den Verfall der königlichen Größe und Souveränität der Eingangsszenen als den ersten Schritt auf dem Wege zur totalen Destruktion aufzuzeigen. Es sei wenigstens die neueste und wichtigste Literatur zu diesem Thema genannt: G. H. Gellie, The Second Stasimon of the Oedipus Tyrannus, AJPh 85, 1964, 113123; Ρ. Η. Vellacott, The Guilt of Oedipus, G & R 11,1964,137-148 und The Chorus in Oedipus Tyrannus, G & R 14, 1967, 109-125; E. R. Dodds, On Misunderstanding the Oedipus Rex, G & R 13, 1966, 37-49; R. P. Winnington-Ingram, Tragedy and Greek Archaic Thought, in: Classical Drama and its Influence, London 1965, 32-38; G. Greiffenhagen, Der Prozeß des Oidipus, Strafrechtliche und strafprozessuale Bemerkungen zur Interpretation des Oidipus Rex des Sophokles, Hermes 94, 1966, 147-176; Th. Ph. Howe (Feldman), Taboo in the Oedipus Theme, TAPhA 93, 1962, 124-143; Η. Funke, Die sogenannte tragische Schuld, Studie zur Rechtsidee in der griechischen Tragödie, Diss. Köln 1963; grundlegend: K. v. Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit, in: Antike und Moderne Tragödie, Berlin 1962, 1-131 (spez. 7f. u. 11). 21 Vgl. dazu Kremer, a. O. 83f. und A. O. Hulton, Two Theme-changes in the Oedipus Tyrannus, Mnemosyne 20, 1967,113-119 (spez. 113-116).
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kommt Oidipus Schritt für Schritt der schrecklichen Erkenntnis näher. Die Orakel sind erfüllt: Ιού ιού- τά πάντ' αν έξήκοι σαφή. Er erkennt die Zusammenhänge, stürzt von der Bühne und blendet sich über der Leiche seiner Frau. Noch einmal tritt dann der König aus dem Haus (1297). Doch alles ist verändert (1282-1285). Dem strahlenden Eingangsbild steht die düstere Schlußszenerie gegenüber. Oidipus, der Gottähnliche, ist zum άθεος (1360), αναγνος (832, 1383) und άσεβής (1382, 1441) geworden, vom Götterliebling zum θεοΐς έχθρότατος (1345f.), vom κρατύνων zum δύστανος (1303, 1308) und τλάμων (1309, 1333, 1379), vom πάσι κλεινός zum κακός (1397), κάκιστος (1433) und καταρατότατος (1345). Augenhöhlen, Wangen und Bart sind blutig, das Königsgewand22 vermutlich zerfetzt und befleckt; die alles überschauende, väterliche Ruhe ist blinder, zitternder Verzweiflung gewichen. Die Rollen sind vertauscht: Er, an den sich zu Anfang die Bitten aller richteten, ist selbst zum Bittenden geworden (1340ff., 1409ff., 1432ff., 1449ff., 1503ff., 1518-21); der die Not der Stadt Bemitleidende (58, ώ παίδες οικτροί) erfährt nun das Mitleid der Bürger (1295f.); der sich nach den Sorgen der Stadt Erkundigende beantwortet jetzt die Fragen des Chors; er, der sich mit der Stadt und ihrem Heil identifizierte (60fF., 327, 628/9), bittet nun um die Vertreibung aus der Gemeinschaft. Keine Befehle mehr, sondern Gehorsam23. Die Verfluchung des Mörders am Anfang (236ff.) ist auf Oidipus selbst zurückgeschlagen (1375-83). Der König, der befahl, den Schuldigen aus göttlicher und menschlicher Gemeinschaft auszustoßen, hat sich durch die Blendung selber der Kommunikation entzogen und verlangt seine Vertreibung aus der Stadt.
22
Zur äußeren Gestalt des Oidipus nach der Blendung vgl. J. Dingel, Das Requisit in der griechischen Tragödie, Diss. Tübingen 1967,41, 106-108. 23 Den Kontrast zeigen ζ. B. die Oidipus-Kreon-Stichomythien deutlich: 622ff. 1515ff. (628-1516!); vgl. dazu Knox, Oedipus at Thebes, 32, G. Μ. Kirkwood, A Study of Sophoclean Drama, Ithaca, New York 1958, 130-133.
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Der 'Fall' Oidipus scheint damit abgeschlossen. Doch das endgültige Schicksal des Oidipus bleibt im Dunkeln, das Stück schließt, wie ein Vergleich zeigt, offener als die anderen erhaltenen Dramen des Dichters. 24 Odysseus' Fürsprache sichert Aias am Ende Frieden und Grab. Herakles wird auf dem Scheiterhaufen zum Heros, Antigones Tod und der Rückschlag auf Kreon ziehen einen endgültigen Schlußstrich unter die Ereignisse um den Leichnam des Polyneikes. Orest und Elektro gelingt die ersehnte Rache und Reinigung des Hauses. Im Philoktei endlich bringt Herakles als deus ex machina die Lösung der tragischen Situation. Aber Oidipus? Über sein Schicksal ist am Ende des OT kein endgültiges Urteil gefällt 25 . Es bleibt offen, was mit ihm geschehen wird. Die ahnungsvolle Vorausdeutung in den Versen 1455-1458 lenkt den Blick über das Stück hinaus: καίτοι τοσοΰτόν γ* οΐδα, μήτε μ" άν νόσον μήτ' άλλο πέρσαι μηδέν· ού γάρ άν ποτε θνήσκων έσώθην, μή 'πί τω δεινω κακω. άλλ^ ή μεν ήμών μοΐρ*, δποιπερ εΐσ* ϊτωρ Der Aufschrei: ποΐ γας φέρομαι; (1309) ist unbeantwortet; die wiederholten Bitten, ihn aus dem Lande zu vertreiben, sind weder erfüllt noch abgelehnt (1290f., 1340f, 1410ff., 1436f., 1449ff., 1518)26 Die
24 Vgl. Letters, a. Ο. 285; Knox, Heroic Temper, a. O. 161f.; Howe (Feldman), a. O. 139 A. 47; s. auch S. 260 A. 1. 25 Es ist wiederholt die Ansicht geäußert worden, daß das 'offene Ende' des OT Sophokles zu der Wiederaufnahme des Oidipusstoffes veranlaßt habe; so ζ. B. Letters, a. Ο. 220, 285; Η. D. F. Kitto, Greek Tragedy, London 31961 (1966), 393ff.; Adams, a. O. 160; vgl. auch Waldock, a. O. 218, und Schmidt, a. Ο. IX. Es handelt sich dabei meist um mehr oder minder plausible biographisch-psychologische Spekulationen. Für meine Überlegungen ist es lediglich wichtig zu zeigen, wie Sophokles, als er ein zweites Oidipusstück - aus welchen Gründen auch immer - schrieb, die offen gebliebenen Fragen beantwortete und so die beiden Stücke zu einer Einheit verband. 26 W. M. Calders Interpretation der Verse 1518-1520 (Oedipus Tyrannus 151530, ClPh. 57, 1962, 219-229): Kreon gibt Oidipus' Drängen nach, d.h. besteht nicht mehr wie 1438f. (u. m. E. 1518-1520) auf einer Befragung Apolls (so auch Jebb, z. St.
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Verfluchung des Mörders (236ff.) 27 hat ihn noch nicht voll getroffen - er ist noch nicht
aus der Gemeinschaft der πόλις
vertrieben -, und
die
28
Prophezeiung des Sehers (454ff.) ist nur zum Teil , das Orakel aus Delphi (95-98) gar nicht erfüllt. Der Auftrag Apolls lautete: μίασμα χώρας έλαύνειν μηδ"* άνήκεστον τρέφει ν (97f.) und von Teiresias' fluchender Weissagung: τυφλός γαρ έκ δεδορκότος καν πτωχός άντί πλουσίου ξένην επι σκήπτρω προδεικνύς γαίαν έμπορεύσεται (454-456), wird im ΟΤ nur das τυφλός έκ δεδορκότος durch die Blendung wahr. Das πτωχός ... έμπορεύσεται erfüllt sich erst im OK, wenn Oidipus, alt und blind, als zerlumpter Bettler, von Antigone geleitet auf die Bühne tritt. Erst der Anfang des OK beantwortet die Fragen, mit denen der Dichter den Zuschauer im OT entließ, erst im OK sind die über den OT hinausweisenden und weiterwirkenden Flüche und Orakel wahr geworden 29 . Diese durchlaufenden Linien verbinden die Stücke. Das Schlußbild des OT findet seine natürliche Fortsetzung in dem Auftritt des Blinden mit seiner Tochter. Der dazwischenliegende Zeitraum ist völlig überbrückt. Abtritt im
und Knox, Oedipus at Thebes, 192 u. Α. 7), scheint mir nicht zwingend; vgl. auch Kamerbeek, Kommentar, z. St. 27 Wiederaufnahme: 658f., 669f., 813ff., 1290ff., 1340., 1378ff„ 1410ff., 1436f„ 1440f., 1449ff. 28 Nimmt man mit Murray in V. 425 Wilamowitz' Konjektur: δσ' έξισώσεις an, so lenken auch die Verse 424f. mit dem Hinweis des Teiresias auf das Unglück, das auch die Kinder noch treffen wird, den Blick über den OT hinaus. Zwingend notwendig ist die Konjektur nicht (vgl. Kamerbeek, z. St.), aber άλλων ... κακών, nachdem eben ausfuhrlich von der. unglückseligen Heirat die Rede war, legt sie immerhin nahe. 29 Sophokles hat natürlich den OT nicht deshalb so offen enden lassen, um ein bereits geplantes zweites Oidipusstück anschließen zu können, wohl aber hat er, als er den OK schrieb, die Gelegenheit benutzt, die nicht zuende geführten Handlungslinien des OT auszuziehen und so die beiden Stücke eng miteinander zu verknüpfen.
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
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OT und Auftritt im OK schließen wie 1. und 2. Akt aneinander an 30 . Oidipus hat noch einen Schritt hinab getan. Die Verbannung hat ihn zum hilflosen Bettler werden lassen. Er hat den Tiefpunkt seiner Lebenskurve erreicht. Die völlige Umkehrung ist vollzogen. Der einst von Bittenden Umlagerte ist selber zum Bittflehenden geworden (3-6) 31 . In dem Augenblick, in dem er erkennt, daß er den Hain der Erinyen-Eumeniden (πότνιαι δεινώπες, 84) erreicht hat, beginnt sein Aufstieg. Im Hain der Göttinnen, die ihn einst verfolgten und vernichteten, findet er Ruhe. Die Erinyen (δεινώπες) des OT werden zu den Eumeniden (πότνιαι) des OK. Wurde er im OT mit jedem Schritt tiefer ins Verderben gefuhrt bis zu jenem entsetzlichen Aufschrei ιού ιού (1182)-auch Retardationsmomente, vorübergehende Hoffnungen 32 , konnten die abwärtsstürzende Bewegimg nicht hemmen -, so fuhrt ihn jetzt jede Szene der Erlösung zu, und auch plötzlich auftauchende Sorgen und Gefahren 33 hindern den Aufstieg nicht. Nachdem er Aufnahme im Hain von Kolonos und damit Sicherheit und Grabstelle gefunden hat 34 , kann er - im Mittelteil des Dramas - die noch einmal mit aller Gewalt hereinbrechende feindliche, politische Welt (in zwei parallelen Szenen Oid.-Kreon, Oid.Polyn.) abwehren und am Ende, dem Rufe des Gottes folgend - erst Blitz und Donner, dann ώ οΰτος οΰτος, Οιδίπους, τί μέλλομεν χωρεΐν; (1627f.) -, den letzten, diesmal endgültigen Höhepunkt seines Lebensweges erreichen: die Heroisierung. 30
Exodus des OT und Prolog des OK wirken auch dadurch wie eine Fortsetzung, daß die szenisch-gestische Situation sehr ähnlich ist: Oidipus, blind und hilflos, zu seinen Füßen (OT), bzw. ihn stützend und führend (OK), seine Kinder Antigone und Ismene (OT), bzw. Antigone (OK). 31 Vgl. u. S. 15ff. 32 So verläuft die Untersuchung zunächst in eine falsche Richtung; Kreon und Teiresias erscheinen als die Schuldigen. Später sind Iokastes Verlachen der Orakel (698ff.) und vor allem der Bericht des Boten aus Korinth retardierende Momente. 33 Durch die Auseinandersetzungen mit Kreon und Polyneikes im zweiten Teil des OK (vorbereitet durch Ismenes Bericht aus Theben 361ff.) wird Oidipus' Weg zur Heroisierung noch einmal verzögert. 34 Zum dreistufigen ξενόστασις-Geschehen (1-719) vgl. Schmidt, a. O. 1-60, 134-138.
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Wie im OT vollzieht sich im OK die dramatische Bewegung zwischen stark kontrastierenden Eingangs- und Schlußbildern: blinder, schwacher Bettler und mächtiger, sehender Heros. Die Abwärtsbewegung des OT wird von Sophokles umgekehrt. Der sich im OT Schritt für Schritt aus göttlicher (Teiresiasszene), politischer (Kreonszene) und persönlich-familiärer Gemeinschaft (lokaste) Lösende, der am Schluß einsam auf der Bühne steht, wird stufenweise wieder in die schützende Ordnung der Polis und der Götter aufgenommen35. Der blinde, von Antigone geführte Greis (9-11, 21, 113/4, 173ff., 182/3: έπεο μάν, επε' ώδ' άμαυ / ρφ κώλφ, πάτερ, φ σ' άγω), der um helfende Stütze bittet (173: πρόσθιγέ νυν μου. - ψαύω και δή) wird wieder zum 'Sehenden', der, die anderen sicher führend: & παίδες, ώδ' επεσθ'· έγώ γαρ ήγεμών σφφν αΰ πέφασμαι καινός, ώσπερ σφώ πατρί (1542f.), jede stützende Hilfe ablehnend (1521: άθικτος ήγητήρος, 1544: μή ψαύετ'), seinen Weg zum Grabe geht. Am Anfang leiten ihn der Chor und Antigone mit den Worten: Xo ετι βαίνε πόρσω. Oi ετι; Xo. προβίβαζε, κούρα, πόρσω. Αν. επεο μάν, επε' ώδ' άμαυρφ κώλφ, πάτερ, $ σ'άγω (179ff.), am Ende führt er selbst Theseus und die Kinder τηδ' ώδε, τηδε βάτε (1547)36. Auch dies ist eine Umkehr der Bewegung des OT, die Oidipus, den scharfsichtigen, erst in die Verblendung, dann in die Blendung treibt und ihn von der Stütze aller zum hilfsbedürftigen Blinden macht. Die fallende und die steigende Kurve - das ist schon durch diese allgemeinen Hinweise deutlich und wird sich durch die Einzelinterpreta35 Wurde er im OT vom άδύπολις (510) zum απολις (1378ff.), vom σωτήρ (48) zum μίασμα χώρας (97, 1410ff.), so wird er im OK vom άπόπτολις (208) wieder zum εμπολις (637; zur Konjektur von Musgrave vgl. Jebb, z. St.; auch wenn man die Konjektur nicht akzeptiert, bleibt die Antithese bestehen), von einer κηλίς wieder zum σωτήρ (z.B. 460). Machten ihn die Ereignisse im OT zum verfluchten, verhaßten Götterfeind (1345f., 1519), so wird er im OK von den Göttern zu sich gerufen und als Heros in ihre Gemeinschaft aufgenommen; dazu Reinhardt, a. O. 231 f. 36 Zu den Motiven des 'Führens, Anfassens, Voranschreitens' vgl. Schmidt, a. O. 118 A. 3 und 134 (zum Weg des Oidipus vom Bettler zum Heros); Elliger, a. O. 102f.
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tionen paralleler Szenen beider Stücke noch klarer zeigen - sind von Sophokles sorgfältig gegeneinanderkomponiert und dadurch zu einer Einheit verbunden. Werden im OT Szene für Szene, Verhör für Verhör die gräßlichen Taten des Oidipus offenbarer und niederdrückender, so vollzieht sich im OK die Entwicklung genau entgegengesetzt, rückläufig. Oidipus wird in den Dialogen mit dem Koloneer, dem Chor und Theseus, in denen er jetzt der Bedrängte, Gefragte, Verhörte ist, erneut mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Doch der Aspekt hat sich entscheidend gewandelt. Die Betonung liegt nicht mehr auf der Gräßlichkeit der Taten, sondern auf der Schuldlosigkeit des Täters. Wird im OT das Gefühl der schrecklichen Befleckung des Helden immer größer, so erzeugt Sophokles im OK immer stärker die Gewißheit der Schuldlosigkeit des Oidipus 37 . Anklage (OT) und Verteidigimg (OK) ergänzen einander. Am Schluß steht der Spruch des Gottes über Oidipus' Leben: τί μέλλομεν χωρεΐν (1627f.); die 'Verteidigung' des Oidipus erfordert vom Dichter dauernde Rückgriffe auf die Geschehnisse des OT und ermöglicht es ihm, zahlreiche Verweise und Verbindungen zu schaffen. Antigones Verteidigung des Vaters (252ff.), Oidipus' Rechtfertigung seiner Taten als πεπονθότ' ... μάλλον ή δεδρακότα (267ff), die Ismene-Szene, das Verhör des Oidipus durch den Chor (51 Off.) und Oidipus' Verteidigung gegen Kreons Vorwürfe (960ff.) lenken den Blick des Zuschauers immer wieder zurück zum früheren Stück. Das Opferritual im Hain der Eumeniden (46Iff.), vordergründig Sühneopfer für das Betreten des heiligen Hains 38 , doch darüber hinaus zweifellos Symbol für die endgültige Reinigung und den
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Oidipus ist - daran läßt Sophokles in beiden Stücken keinen Zweifel - subjektiv unschuldig, objektiv jedoch schuldig; er hat, wenn auch ohne es zu wissen, objektiv furchtbare Taten vollbracht, unter denen er leidet und für die er zu haften hat (vgl. dazu K. v. Fritz, a. O. 7f., Dodds, a. O. und Greifenhagen, a. O. 166ff.; weitere Literatur s. o., S. 6 A. 20). Im OT liegt die Betonung auf den objektiven Verfehlungen, im OK auf der subjektiven Schuldlosigkeit des Oidipus. 38 Knox, Heroic Temper, a. O. 152.
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neugeschlossenen Frieden mit den Göttern39, gewinnt seine volle Bedeutung erst auf dem Hintergrund des gewaltigen Fluches aus dem OT: τον ανδρ' άπαυδώ τοΰτον, δστνς έστί, γης τήσδ', ής έγώ κράτη τε και θρόνους νέμω μήτ' είσδέχεσθαι μήτε προσφωνείν τινά, μήτ' έν θεών εΰχαΐσι μήτε θύμασιν κοινόν ποιεϊσθαι, μήτε χέρνιβας νέμειν· (236-240)40 Eine weitere Verknüpfung der beiden Dramen hat Sophokles dadurch erreicht, daß er das Orakel, das der junge Oidipus einst in Delphi erhielt und das die Ereignisse des OT lenkte, um die Prophezeiung eines glücklichen Lebensendes erweiterte, die dem OK Richtung und Ziel gibt. ώ πότνιαι δεινώπες ... Φοίβφ τε κάμοι μή γένησθ' άγνώμονες, δς μοι, τά πόλλ' έκείν' δτ' έξέχρη κακά, ταύτην ελεξε παΰλαν έν χρόνφ μακρω ... (86-88). Ein Orakel steht über dem Schicksal des Oidipus. Ein Orakel eint Vernichtung (OT κακά) und Erhöhung (OK παΰλα). Über beiden Dramen steht die These: die Götter irren nicht! Auf das όλλύναι folgt das όρθοΰν (OK 394)41. Die Einheit des Orakels ist sichtbares Zeichen fur die Einheit der Stücke42. 39
So ζ. B. zu Recht: Letters, a. Ο. 300; Adams, a. Ο. 169; Schmidt, a. Ο. 35 mit
Α. 2. 40
Vgl. auch 817-819: δν μή ξένων έξεστι μηδ' άστών τινι δόμοις δέχεσθαι, μηδέ προσφωνείν τινά, ώθεΐν δ1 άπ1 οϊκων. Unmittelbar vor der Wiederaufnahme in die menschliche Gemeinschaft wird Oidipus wieder an Gebet und Opfer beteiligt; Ismene vollzieht stellvertretend für ihn das Sühnopfer. 41 Vgl. auch OK 1565ff.: πολλών γαρ αν και μάταν / πημάτων ίκνουμένων / πάλιν σφε δαίμων δίκαιος αυξοι. 42 Zur Zusammengehörigkeit der Orakel OT 791-793 und OK 87-95 Jebb, z. St.; R. Staehlin, Das Motiv der Mantik im antiken Drama, R W 12, 1, 1912, 76 A. 3;
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Die Ab- und Aufbewegung der Lebenskurve des Oidipus ist im Grunde ein dauernder Aufstieg. Oidipus steht schon am Ende des OT in seiner äußersten Vernichtung auf einer höheren Stufe als im Prolog. „Oidipus der König wird Bettler, der Herrscher erblindet, aber die Blindheit macht den Wissenden zum König, der Bettelstab ist ihm gemäßer als das fluchbeladene Szepter" 43 . Am Ende des OK erreicht er mit der Heroisierung das höchste Ziel. Hinter der äußerlich fallenden Kurve vom König zum Bettler steht die kontinuierliche innere Aufwärtsentwicklung des Helden vom verblendeten König zum wahren Heros, vom sehend Blinden zum blind Sehenden im OT und vom blind Sehenden zum sehend Sehenden im OK. Die These, daß Sophokles die beiden Oidipus-Dramen durch vielfältige Beziehungen zu einer Einheit zusammengeschlossen hat, soll nach dem Aufweis des offensichtlich sorgfältig gegeneinanderkomponierten dramatischen Ablaufs der Stücke im Folgenden durch die Interpretation einzelner Szenen gestützt werden. Frage: hat Sophokles die gedanklich-inhaltliche Einheit der fallenden und steigenden Bewegung durch die parallele Struktur einzelner Szenen oder gar durch die Gesamtstruktur der Dramen verstärkt? Daneben wird weiter auf Anspielungen, Rückverweise, gemeinsame Motive und Selbstzitate hingewiesen. Wiederholungen werden sich dabei nicht ganz vermeiden lassen.
Letters, a. Ο. 294f.; Schmidt, a. Ο. 18 Α. 1; Knox, Heroic Temper, a. O. 149 mit A. 13. 43 W. Jens, a. O. 93; vgl. auch W. Schadewaldt, Sophokles und das Leid, in: Hellas und Hesperien, Zürich und Stuttgart 21970, 1, 397f.; Knox, Oedipus at Thebes, a. Ο. 185 bis 196; Kremer, a. Ο. 7f. u. 161ff.; W. C. Helmbold, The Paradox of Oedipus, AJPh 72, 1951, 293-300; Elliger, a. O. 88-92. Interessant auch die dichterische Gestaltung A. Gides in seinem Thesee (Gallimard-Paris 1946,115ff.).
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1. Prologe: Die Parallelen zwischen den Prologen sind augenfällig. Sophokles hat für den OK die dreiszenige Prologform des OT ('erweiterter Dialog'
gewählt (1.
A-B / 2. A-C / 3. A-B): 1. Darlegung der Situation (OT: Pest in Theben, Oidipus der Retter; OK: Not des Bettlers), 2. Anstoß (OT: Orakel; OK: Nennung der Eumeniden), 3. Auswertung des Anstoßes und Verknüpfung mit der Situation (OT: Ende der Pest durch das Orakel; OK: Ende der Not durch Aufnahme im Hain). In beiden Dramen also ein Ring um die Anstoßperson C, die die dramatische Bewegung in Gang setzt (Kreon durch das delphische Orakel; der Koloneer durch die Nennung des Hains). Aktives Element der Prologe ist der προλογίζων. Er stellt die Anfangsfragen, führt das Gespräch mit der Anstoßperson und wertet die Ergebnisse aus. Im OT war Oidipus προλογίζων. Wenn nun Sophokles, der in den späteren Stücken den Haupthelden erst später auf die Bühne bringt (Elektra in der Parodos, Philoktet erst nach der Parodos), in seinem letzten Stück den Helden wieder zum προλογίζων macht, so liegt hier ein deutlicher Rückgriff auf die frühere Form vor 45 . Die strukturelle Parallelität lenkt den Blick zurück zum OT und läßt den eingetretenen Wandel sichtbar werden. Sie macht die völlige Umkehrung der Eingangssituation besonders deutlich: OT: Oidipus, der jugendlich strahlende, mächtige Herrscher im Königsgewand46, vor ihm am Altar die bittenden Priester und das klagende Volk, hinter ihm das von der Pest geschüttelte Theben, Jammer und Gestöhn; OK: Oidipus, der greise, elende Bettler, zerlumpt47, einsam, nur von Antigone begleitet, im Hintergrund der heilige Hain, friedliche Stille, Nachtigallengesang. In beiden Dramen hat Sophokles dem szenischen Hintergrund des Spiels eine tiefe Bedeutung gegeben. In beiden Dramen wird durch Bühnen-
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W. Nestle, Die Struktur des Eingangs in der attischen Tragödie, Tüb. Stud. 10, Stuttgart 1930, 84-85; Schmidt, a. O. 1-8; Kremer, a. O. 40-42. 45 Schmidt, a. O. 3 Α. 1. 46 Dingel, a. O. 21. 47 OK 141,577,1258-1261.
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Hintergrund und beschriebenen hinterszenischen Raum das ungenannte Ziel der dramatischen Bewegung, das Schicksal, das den Helden erwartet, bereits im Prolog vor Augen gestellt. Im OT (Palast und Pest) wird Oidipus zu der schrecklichen Erkenntnis seiner Abstammung und seines Lebens gefuhrt (Symbol: der Laiospalast), und am Ende des Stücks ist er die Pest, von der die Stadt befreit werden muß 48 . Im OK (Athen, Hain der Eumeniden) erwartet den Bettler freundliche Aufnahme durch Athen, und er wird am Ende zu einem fluchenden und schützenden Daimon wie die ErinyenEumeniden, in deren Hain er entrückt wird. Diese Technik, durch die Szenerie auf das Ende des Stücks vorauszuweisen, hat Sophokles - soweit wir sehen können - nur in den beiden Oidipus-Dramen angewendet. Auch das ist m. E. wie die Wiederaufnahme der äußeren Struktur ein sicherer Hinweis auf das Bestreben des Sophokles, den Zusammenhang zwischen den Stücken zu verstärken. Parallele und Kontrast bestimmen auch den Text. Es finden sich überraschende Beziehungen bis ins Vokabular hinein. Oidipus eröffnet beide Prologe mit einer 13 Verse umfassenden Rhesis, die in der Gliederung [a) 18, b) 9 bis 13, bei 9 erneute Anrede und Aufforderung] genau übereinstimmen. Doch die Umkehr der Situation ist offenkundig. Oidipus ist nicht mehr der Vater der Stadt: ώ τέκνα, Κάδμου του πάλαι νέα τροφή (1), ihm blieb nach der Blendung und Vertreibung nur noch das eigene Kind, Antigone: τέκνον τυφλοΰ γέροντος 'Αντιγόνη (1). Aus seiner Frage nach den Wünschen der ίκέται - τίνας ποθ' έδρας τάσδε μοι θοάζετε; (2) ist die angstvolle Frage des ικέτης geworden: τίνας / χώρους άφίγμεθ' ή τίνων άνδρών πόλιν; (1/2) 49 . Der selbstbewußte Stolz des Königs: ό πάσι κλεινός Οιδίπους καλούμενος (8) ist vorsichtiger Zurückhaltung und Ergebenheit
48
Knox, a. Ο. Oedipus at Thebes, 139-147, Harsh, a. O. 243-258, Kremer, a. Ο. 1
ff. 49
Die sichere aufrechte Haltung des Herrschers, der die vor ihm Sitzenden anredet (OT 2), ist zur Schwäche des nach einem Sitz verlangenden greisen Bettlers geworden (OK 9-11).
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gewichen: τίς τον πλανήτην Οΐδίπουν καθ' ήμέραν / την νΰν ... δέξεται ...; (3/4)50. Der Zuschauer hört nicht mehr die Aufforderung zu reden und die Versicherung zu helfen (ώς θέλοντος αν / έμοΰ προσαρκεΐν παν 11/12), sondern die Bitte um Hilfe und eine noch so kleine Gabe (σμικρόν ... έξαιτοΰντα / τοΰ σμικρού δ' ετι μείον φέροντα 5/6). Auch jetzt ist Oidipus gekommen, um zu hören (OK 12: μανθάνειν γαρ ήκομεν OT 6/7: άγώ δίκαιων μή παρ' αγγέλων ... άλλων άκούειν ...), aber nicht mehr um zu helfen und zu befehlen, sondern bereit, zu gehorchen und sich helfen zu lassen. Das hohe königliche Pathos, das die Auftrittsrede des Herrschers durchzieht51, ist zum beinahe unterwürfigen Ton des Bettlers geworden, der gelernt hat, sich zu bescheiden (7). Aber die Entsprechungen sind nicht auf die Eingangsrhesis beschränkt. Eröffnet der Priester seine Bittrede: άλλ', ώ κρατύνων Οιδίπους (14) und gibt danach eine Beschreibung des χώρος (Theben und die Pest), so beginnt Antigone mit den Worten: πάτερ παλαίπωρ' Οιδίπους (14) und schließt ebenfalls eine Beschreibung des Ortes an (Athen und der friedliche Hain). Der Kontrast ist deutlich: nicht mehr κρατύνων, sondern an gleicher Versstelle ταλαίπωρε; nicht mehr die Pest, sondern der Frieden des heiligen Ortes. Die Anstoßperson wird in beiden Stücken als glückverheißend angekündigt (OT: άλλ' είκάσαι μέν, ηδύς (80/82); OK: αίσιος σκοπός (34/35)). Beide wollen zunächst nicht reden. Kreon: laß uns ins Haus gehen (87f., 91 f.); der Koloneer: verlaß zunächst den Hain (36f.). Aber das anscheinend Rettung verheißende Orakel Kreons führt Oidipus ins Verderben, der unglücksdrohende Befehl des Koloneers wird durch die Nennung der Eumeniden zum Ausgangspunkt fur den Aufstieg des Blinden. Auch hier Parallele und Kontrast52. 50
Nur in OT und OK nennt die Hauptfigur als προλογίζων ihren Namen selbst (OT 8, OK 3). 51 Reinhardt, a. O. 106. 52 Kremer, 42, hat darauf hingewiesen, daß Sophokles im OT „den Chor über die Parodos hinaus (in den Prolog) verlängert" habe, um „gleich zu Anfang des Dramas den König dem Volk gegenüberzustellen." Der Hiereus, das zeige die Parallelität
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In beiden Prologen werden Orakel, die von den Anstoßpersonen gebracht (OT) oder in die Erinnerung zurückgerufen werden (OK), bestimmend für die dramatische Entwicklung. Doch Kreons Orakel blieb dem Verblendeten rätselhaft, im Hain von Kolonos genügt ein kurzer Hinweis, um ihn den vor ihm liegenden Weg klar sehen zu lassen. Bestimmen im OT ruhelose Energie und übereifriges Vorwärtsdrängen Oidipus' Verhalten schon im Prolog, so ist im OK vorsichtige Überlegung an ihre Stelle getreten: ώς τάχιστα (OT 142) und έν γαρ τφ μαθεΐν / ενεστιν ηΰλάβεια των ποιουμένων (OK 115/16) 53 . Beide Prologe endlich schließen mit Gebeten an Apoll (OT 147-50) bzw. die Eumeniden (OK 84-110) 54 , Gebeten, die sich im Verlaufe des Stücks - im OT durch Oidipus' Vernichtung, im OK in der Heroisierung - erfüllen 55 . Sophokles benutzt im OK den OT-Prolog als Folie. Die Parallelität läßt aufmerken und lenkt den Blick auf die Unterschiede. Auf dem Hintergrund des alten Bildes zeigen sich die Veränderungen der Situation des Helden besonders deutlich.
2. Schlußszenen: Auch die Schlüsse der beiden Dramen weisen zahlreiche Beziehungen auf: a) Die letzten Bilder, die der Dichter dem Zuschauer in beiden Stücken von seinem Helden gibt, sind ähnlich. Der blinde Vater verabschiedet sich von den klagenden Töchtern zu seinen Füßen (OT 1480ff. auf der Bühne; OK 1606ff. Botenbericht) und richtet dann an den Herrscher des Landes - Kreon
zwischen seiner Rhesis (14ff.) und der Parodos (15Iff.) deutlich, sei quasi vorgezogener Teil des Chors der Parodos. Dasselbe gilt - entsprechend - für den OKProlog. Der Koloneer ist der Vorbote des Chors. 53 Ein Gebet am Ende des Prologs findet sich auch in der Elektra (67ff.) und im Philoktet (133f.); vgl. dazu Schmidt, 16f. 54 In beiden Prologen verspricht Oidipus seine Hilfe. Das Paradoxon liegt darin, daß der Glaube an die Klugheit des Herrschers sich ebenso als trügerisch erweist, wie das Mißtrauen gegenüber dem Versprechen des Bettlers ungerechtfertigt ist. 55 Vgl. dazu auch Adams, a. O. 164f.
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im OT; Theseus im OK - eine ähnlich lautende Bitte, die Hilflosen zu schützen (OT 1503ff.; OK 1631ff.), da er sich nicht mehr um sie kümmern könne56. Die Wiederholung derselben Situation und der Gleichklang der Worte erlauben den Schluß, daß Sophokles im OK mit der Vorlage des OT spielt, sie variierend benutzt, sich selbst zitiert. b) Gegen Ende beider Stücke verabschiedet sich Oidipus vom Licht: OT: & φως, τελευταίόν σε προσβλέψαιμι νυν ... (1183) OK: ώ φως άφεγγές, πρόσθε πού ποτ' ήσθ' έμόν, νυν δ' εσχατόν σου τοΰμόν άπτεται δέμας· (1549f.) Der Anruf der Sonne, der Abschied vom Tageslicht kurz vor der Blendung ist im OK zu einem Abschied von der Blindheit geworden (φως άφεγγές), von einem dunklen Leben57. Im OT folgt auf die Worte die Blendung, im OK die Entrückung, die dem Blinden die Hellsicht des göttlichen Heros zurückgibt. c) Der Botenbericht des OT (1223ff.) schildert den Weg des Oidipus bis zur Blendung. Wie von einem Dämon getrieben58 stürzt der Rasende ins Verderben. Er schlägt sich die Spangen in die Augen, das Blut färbt Gewand und Gesicht rot. Umgekehrt zeigt der an gleicher Stelle in der Struktur des OK stehende Botenbericht, wie Oidipus sicher, ohne Führer59, von einem freundlichen Gott gemahnt60, seinem Ziel zugeht. Er löst die schmutzstarrenden 56
Vgl. OT 1510 = OK 1632, OT 1505f. = OK 1634. Zu φως άφεγγές vgl. OT 413 u. 1273 (Jebb z. St.), 1313ff. (Reinhardt a. O. 139f.). Zur Erklärung der beiden Verse 1549f. OK vgl. Jebb, z. St.; Bowra, a. O: 343; Schmidt; a. Ο. 119f. 58 OT 1258-1261: λυσσώντι δ1 αύτφ δαιμόνων δείκνυσί τις· ουδείς γαρ άνδρων, οΐ παρήμεν έγγύθεν. δεινόν δ' άύσας ώς ύφηγητοΰ τίνος πύλαις διπλαΐς ένήλατ',... vgl. weiter 816, 828, 1193f, 1299ff., 1311, 1328, (1479); dazu Winnington-Ingram, a. O. 32-38, Letters, a. Ο. 227f. 59 OK 1587-1589: ώς μέν γαρ ένθένδ' εΐρπε, και σύ που παρών Ιξοισθ', ύφηγητηρος ούδενός φίλων, άλλ' αύτός ήμΐν πάσιν έξηγοΰμενος ... Vgl. weiter 1520f., 1541-1548. 60 Ok 1627f.: ώ οΰτος οΰτος, Οιδίπους, τί μέλλομεν 57
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Gewänder (1597ff.) und vertauscht sie nach einer Waschung mit einem reinen weißen Gewand. Die geblendeten Augen 'sehen' wieder, d) Das sich in beiden Dramen an den Botenbericht anschließende Auftreten von Zeugen des Geschehnisses (im OT Oidipus selbst, im OK die Kinder und Theseus) führt zu Klageszenen, in denen Oidipus bzw. die Töchter in einem Kommos mit dem Chor die Ereignisse beweinen und sich den Tod wünschen (OT: 1307ff., 1391ff., 1449ff.; OK: 1670ff.). Kreon bzw. Theseus, die einander entsprechenden Figuren der beiden Dramen, die am Schluß die Führung übernehmen, hemmen allzu heftige Ausbrüche, trösten, müssen letzte Bitten abschlagen (OT: 1422ff.; OK: 175Iff.). Wie für die Prologe kann also auch für die Schlußszenen festgestellt werden, daß Sophokles sie durch zahlreiche Rückverweise (Wiederaufnahme von Motiven und Situation, Botenberichte) aufeinander bezogen hat. Es kommt ihm offensichtlich darauf an, dem Zuschauer (und Leser) das frühere Stück in die Erinnerung zu rufen.
3. Oidipus - Teiresias (OT 300-462); Oidipus - Polyneikes (OK 1254-1446): Aufbau, dramatische Situation und agierende Personen der Szenen sind verwandt: In beiden Szenen ein Fragender, Bittender, Drängender (OT: Oidipus; OK: Polyneikes), in beiden Szenen ein Schweigender, sich Entziehender, schließlich verbittert und zornig Antwortender (OT: Teiresias; OK: Oidipus). Ein leidenschaftlicher, verblendeter junger Mann, der um Hilfe bittet 61 , und
61
χωρεΐν; πάλαι δή τάπό σοϋ βραδύνεται. ΟΤ 327 - OK 1327.
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ein die Geschehnisse durchschauender Greis, der mit Ablehnung reagiert 62 . Die Antworten, die die 'Seher' Teiresias und Oidipus schließlich geben, sind „Prophezeiung des Zukünftigen und Deutung des Gegenwärtigen
in
einem" 63 . Am Ende der Szenen steht die Verfluchung des Bittenden. Teiresias prophezeit Oidipus sein grausiges Ende (449ff.), Oidipus weissagt fluchend Polyneikes' nahen Untergang (1370ff.). Auch die 'Charaktere' der sich entsprechenden Personen zeigen große Ähnlichkeit. Auf die Verwandtschaft zwischen Teiresias im OT und Oidipus m OK hat Reinhardt hingewiesen: „Es ist dieselbe Widersprüchlichkeit, dieses nur vom Charakter her betrachtet gänzlich Unvereinbare in der Verquickung einer eigensinnigen, beschränkten Existenz mit einem jenseitig hineinregierenden Dämonischen, doch ohne daß der Mensch deshalb im eindeutigen Sinne ekstatisch zum Träger der Gottheit, zum pneumatischen Propheten wird" 64 . Oidipus hat die Position des Sehers erreicht. Unterstützt wird die Parallele, die Charakterähnlichkeit der beiden Seher, noch durch äußerliche Gleichheit: wird Teiresias von einem Knaben auf die Bühne gefuhrt, so stützt sich Oidipus auf Antigone 65 . Doch der schwache, einer Stütze bedürftige Greis ist der Sieger, der jugendliche Draufgänger wird untergehen. Polyneikes trägt unverkennbar Züge des OT-Oidipus 66 . Er hat den gleichen jugendlichen Elan und dabei die gleiche kompromißlose, halsstarrige Ausschließlichkeit, die gleiche verblendete Beschränktheit. So wie Oidipus trotz der Bitten Iokastes und des Therapon (1056ff., 1123ff.) alles erfahren will, sollte er auch daran zugrunde gehen (όποια χρήζει
62
Teiresias 316ff., 432: „ich konnte mich deinem Befehl nicht entziehen". Oidipus 1348ff.: „ich konnte mich Theseus' Bitte nicht widersetzen". Es ist dieselbe Konstellation: Der Blinde sieht, der Sehende ist blind. 63 Reinhardt, a. O. 118; was Reinhardt für die Teiresiasrede des OT und der Antigone feststellt, gilt auch für die Oidipusrede des OK (1348ff.). 64 Reinhardt, a. O. 227f. 65 Die Masken dürften zwar sehr ähnlich, aber nicht die gleichen gewesen sein; vgl. Dingel, a. O. 41f. 66 Ein knapper Hinweis auf Beziehungen dieser Szene zum OT findet sich bei Knox, Heroic Temper, 160 (u. 194 A. 13).
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Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
ρηγνύτω- τούμόν δ' έγώ ... σπέρμ' ΐδεΐν βουλήσομοα 1076ff.), so wird auch Polyneikes - sich selber treu-trotz Antigones Bitten (1414ff.) den einmal eingeschlagenen Weg bis zum bitteren Ende gehen: χρήζει γάρ· ήμΐν δ' οΰχν συγχωρητέα (1426). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß Oidipus Polyneikes seinen Mörder nennt: σοΰ φονέως μεμνημένος (1361): der Fluch des Teiresias
trifft den
'Vatermörder'
Oidipus.
Oidipus
verflucht
den
67
' Vatermörder' Polyneikes . Die OT-Szene dient als Folie für die OK-Szene; die Form bleibt erhalten neue Personen in den alten Rollen -, um den völligen Wandel der Situation und des Oidipus deutlich zu machen. In der Szene zwischen dem Greis und dem Jüngling, dem blinden Seher und dem verblendeten Politiker, dem passiv sich Entziehenden und dem aktiv Drängenden, die sich im OK wiederholt, ist Oidipus nicht mehr der Fragende, blind falsch Folgernde, schließlich Verfluchte, sondern der alles durchschauende Weissagende, Fluchende; nicht mehr der beschränkte Politiker, sondern der Seher. Die Parallelität der Szenen dient auch hier dazu, den Kontrast sinnfälliger zu machen 68 . 4. Oidipus - Kreon (OT 513-677; OK 720-1043): In beiden Stücken treffen Oidipus und Kreon 69 aufeinander. Es liegt daher nahe, gerade diese Szenen auf Bezüge zu untersuchen: Feindseligkeit beherrscht
in beiden
Szenen
die Bühne.
Oidipus
verdächtigt Kreon der politischen Intrige und des Mordes an Laios; Kreon
67
OK 1360f.; 1383ff. Vgl. dazu auch Knox, Heroic Temper 147f., der betont, daß Oidipus im OK die im OT fälschlich arrogierten Attribute der Göttlichkeit (Wissen, Gewißheit, Gerechtigkeit) wirklich besitzt. 69 Schmidt, a. O. 133, hat zu Recht daraufhingewiesen, daß Sophokles im OK Kreon die traditionelle Heroldsrolle der Hikesiestücke übertragen hat. Die Erklärung fur diese auffällige Durchbrechung der Topologie, die Schmidt gibt, ist jedoch unzureichend. Ein Vergleich mit der Kreonszene des OT führt hier weiter. 68
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
23
versucht, Oidipus durch Heucheln und List, dann durch Erpressung und rohe Gewalt nach Theben zurückzubringen. Der dramatische Aufbau der beiden Szenen ist ähnlich. Kreon wendet sich (OT 513ff.; OK 728ff.) zunächst an den Chor, rechtfertigt sein Kommen und nennt seine Ziele. In beiden Szenen schleudert ihm Oidipus in seiner Antwortrhesis entgegen: wie konntest du es wagen, hierher zu kommen (OT 532f.: οΰτος σύ, πώς δεΰρ' ήλθες; ή τοσόνδ' εχεις/τόλμης πρόσωπον ... OK 761: ώ πάντα τολμών). Scharfe Anklagen und Beschimpfungen folgen. Im ersten Teil des Agons setzt sich dann die rohe Gewalt des Mächtigen gegen die besseren Argumente des Schwächeren durch. Auf dem Höhepunkt des Streites, im Moment der stärksten Bedrohung des Schwachen, kommt eine dritte Person als Vermittler zu Hilfe. Iokaste schützt Kreon vor Oidipus' Jähzorn, Theseus schützt Oidipus vor der Willkür Kreons. Der Angreifer gibt schließlich widerwillig dem Druck der Vermittlerperson nach. Oidipus gibt Kreon frei, ohne von seiner Unschuld überzeugt zu sein; Kreon läßt von Oidipus nur unter Drohungen ab70. Die Ähnlichkeiten sind deutlich. Beide Szenen zeigen Agone zwischen einem ungerechten, aber mächtigen, tyrannische Züge tragenden Angreifer und einem unschuldigen, aber schwachen Verteidiger. Die Angreifer Oidipus im OT, Kreon im OK-handeln aus Staatsinteresse. Sie sind Herrscher, die für das Wohl ihrer Stadt Theben auch voreilige Ungerechtigkeit nicht scheuen. Die Angegriffenen (Kreon im OT, Oidipus im OK) verteidigen sich mit einer langen Rechtfertigung ihres Lebens (Kreon: OT 583ff., Oidipus: OK 960ff.). In beiden Fällen ist der Mächtige der Verblendete, der Schwache - das zeigt der Gang der Ereignisse - der Sieger. Auch in dieser Szene wiederholt sich also eine Konstellation des OT, aber wieder ist sie in ihr Gegenteil verkehrt. Der Angreifer ist zum Angegriffenen geworden. Er verspürt die ungerechte Gewalttätigkeit des Tyrannen, die im 70
Nur hingewiesen sei darauf, daß in beiden Szenen der dramatische Höhepunkt in einem erregt-bewegten Epirrhema erreicht wird (OT 649-696, OK 833-886); vgl. dazu Kremer, a. O. 81-83).
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Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
OT Kreon traf, jetzt am eigenen Leibe. Hatte er einst auf Kreons Einwand: ei δέ ξυνίης μηδέν; (628) herrisch geantwortet: άρκτέον γ ' όμως, so muß er jetzt, als der Chorführer Kreon vorwirft: Sp' οΰχ ύβρις τάδ'; mitanhören, wie Kreon in demselben hochmütigen Ton erwidert: ύβρις, άλλ' άνεκτέα (883).
Wieder wird auf der Folie der OT-Szene gerade durch die Parallelität der Szenen, auf die sprachliche und motivische Rückverweise aufmerksam machen, der Unterschied besonders deutlich. Oidipus begegnet dem Menschen, den er auf seinem Wege ins Verderben verkannt und ungerecht behandelt hat, noch einmal. Seine Haltung zu Kreon ist dieselbe, Vorwürfe und Verurteilung des Gegners sind wie im OT von leidenschaftlichem Zorn bestimmt. Aber diesmal ist sein Urteil gerecht. Kreon ist der heuchlerische Schuft, für den er ihn im OT hielt 71 . Im selben Maße, wie Oidipus sich im OT an Kreon als blind und ungerecht zürnender Tyrann erwies, erscheint er in der erneuten Begegnung als gerecht zürnend und sehend 72 . In einer ähnlichen Streitszene zwischen denselben Personen zeigt Sophokles im OT die Verblendung des Königs und im OK die sichere Urteilskraft des Bettlers. Auch zur weiteren Begegnung zwischen Oidipus und Kreon am Ende des OT fuhren von der Oidipus-Kreon-Szene des OK Verbindungslinien, die die beiden Oidipustragödien verknüpfen. Wenn Kreon Antigone und Ismene als
71
Vgl. Knox, Heroic Temper, 156. Das (psychologische) Problem einer Veränderung bzw. Entwicklung Kreons von den Ereignissen im OT bis zum Auftritt im OK interessiert Sophokles dabei nicht. Zur Gestalt des Kreon in OT und OK Reinhardt, a. Ο. 119-125 und 218-222; O'Brien, a. Ο. 14f. 72 Jetzt stimmt der Vorwurf der Unverschämtheit (OT 532f. - OK 761 f.); jetzt hat Oidipus recht, wenn er Kreon List und Heuchelei, schöne Worte, aber böse Taten vorwirft (OT 538f, 618f„ 642f. - OK 761f., 774, 781f., OT 545 - OK 806); jetzt trifft Kreon der Vorwurf (OK 783, 866), den er im OT nicht verdiente (OT 548, 582, 627); so haben denn auch die Vorwürfe, die Kreon 'wiederholt' (OT 549f., 673-675, OK 804f., 810, 852-855), in seinem Munde ihre Schlagkraft verloren. Möglicherweise ist auch die Anrufung der Polis (OK 833) ein 'Selbstzitat' (vgl. OT 629). Auch hier unterstreicht die Parallele die Veränderung der Situation.
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
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τους έμούς (832)73 bezeichnet, so wird die Schlußszene des OT in Erinnerung gerufen. Nur in Verbindung mit den Worten, mit denen Oidipus Kreon zum Vormund seiner Töchter macht (OT 1503-1510), werden diese Worte Kreons verständlich. Ein Rückverweis sind auch die Verse OK 765ff.: πρόσθεν τε γάρ με τοΐσιν οΐκείοις κακοΐς νοσοΰνθ', δτ' ήν μοι τέρψις έκπεσεϊν χθονός, ούκ ήθελες θέλοντι προσθέσθαι χάριν, άλλ' ... Man erinnert sich an die drängenden Bitten des Oidipus, ihn zu verbannen (1340ff., 141 Off., 1436ff., 1449fif„ 1518), und die ablehnende Haltung Kreons74. Schließlich ist Oidipus' Verfluchung Kreons, der ihm die Kinder rauben will, OK 868-870: Τοιγάρ σε καύτόν και γένος τό σον θεών ό πάντα λεύσσων "Ηλιος δοίη βίον τοιούτον οΐον κάμέ γηράναί ποτέ. eine offensichtliche Umkehrung des Segenswunsches fur ihn am Ende des OT, als er ihm die Kinder bringt: άλλ' εύτυχοίης, καί σε τήσδε της όδοΰ δαίμων αμεινον ή 'με φρουρήσας τύχοι. (OT 1478f.) 5. Oidipus und die
'Verhöre'
Die Schlußszene des OT-der geblendete Oidipus stürzt auf die Bühne, Schrecken und Klage, Bitten um Vertreibung - findet, wie oben ausgeführt, ihre Fortsetzung am Anfang des OK - Auftritt des blinden Oidipus, die Bitten um Vertreibung sind erfüllt. Ruft der Chor im OT, als Oidipus aus dem Haus
73 Vgl. bereits 830: ούχ άψομαι τοϋδ* άνδρός, άλλά της έμής (= Antigone). Es ist übrigens nicht notwendig, mit Jebb anzunehmen, daß Kreon mit τους έμούς nur Antigone meine. Die bereits gefangene Ismene ist miteingeschlossen. 74 Vgl. dazu o. S. 7f.
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tritt: ω δεινόν ίδεΐν πάθος άνθρώποις (1297)75, so sind die ersten Worte des Chors beim Anblick des aus dem Schatten des Hains tretenden Greises: δεινός μεν όράν, δεινός δέ κλύειν (OK 141). Es ist, als stehe Oidipus noch mit blutenden Augenhöhlen vor dem Chor, als schlössen die Szenen unmittelbar aneinander an. Nach der ersten heftigen, angstvollen Reaktion des Chors kommt es zu Fragen. Mitleid und Neugier brechen die Isolation. In den sich im OK anschließenden lyrischen Dialogen mit dem Chor wiederholt sich, unterbrochen von der Ismeneszene, die durch den Bericht aus Theben die zeitlich-inhaltliche Lücke zwischen den Ereignissen im OT und OK schließt und zugleich die Auftritte Kreons und Polyneikes' vorbereitet, die dramatische Bewegung der OT-Verhöre (957ff.). Oidipus wird noch einmal mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Vor seiner Erhöhung zum Heros muß er sich noch einmal mit den Ereignissen, die im Mittelpunkt des OT standen, auseinandersetzen. Wieder geht es nach der Frage des Chors: τίς εφυς βροτών; (204) um Herkunft, Vatermord und Inzest. Noch einmal wird die Bühne zum Tribunal. Frage und Antwort des Verhörs bestimmen die Szene. Der erste Teil des OK schließt so glatt an den OT-Schlußteil an. Doch auch in diesen aufeinanderbezogenen Blöcken zeigt sich die Veränderung der Situation sofort. Oidipus ist im OT der aktive, die beiden Informanten verhörende, den Widerstand des Dieners brechende und zur Wahrheit durchdringende 'Richter'. Im OK dagegen versucht er passiv bleibend, als 'Angeklagter', sich den drängenden Fragen des Chors zu entziehen76. Er versucht nicht mehr, seine Vergangenheit zu erforschen, sondern zu vergessen. Er fühlt sich nicht mehr schuldig, sondern verteidigt sich gegen jeden Vorwurf der Schuld77. Er fordert nicht mehr als Befleckter die Vertreibung aus der Gemeinschaft, sondern bittet als Unschuldiger um Aufnahme78.
75
Vgl. auch 1303f. und 1312. OT: „Forschen muß ich, bis ich alles weiß" (1058f„ 1065, 1076f., 1085). OK: „Nimmer frage mich, wer ich sei, und forsche nicht weiter" (210ff., 515f.). 77 An einer späteren Stelle des Stücks (1130ff.)-nach einer langen Verteidigungsrede gegen die Vorwürfe Kreons (960ff.) - zeigt sich, daß Oidipus trotz 76
Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
27
Die Darstellung der Lebenskurve des Oidipus in beiden Dramen und die vergleichende Interpretation paralleler Szenen hat gezeigt: Sophokles hat, als er am Ende seines Lebens ein zweites Mal zum Oidipusmythos griff, das frühere Stück in Form und Inhalt deutlich vor Augen. Durch die einheitliche Charaktergestaltung des Protagonisten 79 , durch den engen Anschluß des OKAnfangs an das Ende des OT, durch das Weiterziehen abgebrochener Linien und die Beantwortung offengebliebener Fragen, schließlich durch die dauernde Rekapitulation des im OT Geschehenen sowie durch Anspielungen, Rückverweise und Motivwiederholungen verknüpft er die beiden Stücke zu einer Einheit. Sturz des Königs und Erhebung des Bettlers, beides in demselben Orakel des delphischen Apoll vorhergesagt, gehören zusammen. Die steigende Linie im OK ist sorgfältig gegen die fallende des OT komponiert. Dem schrittweisen Abstieg des mächtigen Königs, der sich aus göttlichen, politischen und familiären Bindungen lösend am Schluß vernichtet, blind auf der Bühne steht, entspricht die dreistufige Aufnahme in die menschliche, politische und göttliche Gemeinschaft, der allmähliche Aufstieg des blinden Bettlers zum mächtigen Heros. Diese gedankliche dramatische Einheit hat Sophokles durch einen spiegelsymmetrischen Aufbau der beiden Dramen gestützt und verstärkt: OT: König
A
Oidipus - Teiresias
Β
Oidipus - Kreon
C
Oidipus und die 'Verhöre'
D
(Herkunft, Vatermord, Inzest) Oidipus, der blinde Bettler
Ε
des Bewußtseins subjektiver Unschuld bis zuletzt gequält wird von dem Gefühl schrecklicher Befleckung. Zu 1130ff. vgl. Howe (Feldman), a. O. 141f. 78 Vgl. dazu o. S. l l f f . 79 Auf eine Analyse der Oidipusgestalt in den beiden Dramen wird verzichtet, da es als communis opinio gelten kann, daß der Oidipus des OK sich in den Grundzügen seines Charakters nicht von dem des OT unterscheidet.
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Beziehungen zwischen den beiden Oidipusdramen des Sophokles
OK\ Oidipus, der blinde Bettler
Ε
Oidipus und die 'Verhöre'
D
(Herkunft, Vatermord, Inzest) Oidipus - Kreon
C
Oidipus - Polyneikes
Β
Oidipus, der mächtige, sehende Heros
A80
Sophokles benutzt immer wieder die OT-Szenen als Folie, um durch Parallele und Kontrast den Zusammenhang und die Veränderungen aufzuzeigen81. Der Weg fuhrt über die gleichen Stationen, über die es im OT hinab geht, zurück. Am Ende hat Oidipus die einstige Größe, ja mehr, zurückerlangt. Anfang und Ende berühren sich. Zu Beginn der unglückseligen Wanderung stand der Vatermord am phokischen Dreiweg (OT 716: έν τριπλαΐς άμαξιτοΐς; 733: σχιστή όδός). Am Ende seines Lebensweges steht er wieder an einer σχιστή όδός (OK 1592: εστη κελεύθων έν πολυσχίστων μιφ) 82 . Als Jüngling fuhrt ihn ein böser Daimon am Scheideweg den falschen Weg, jetzt geht er, von einem Gott geleitet, sicher dem Ziel entgegen.
80
Zwischen C und D, bzw. D und C könnte man die Szenen Oidipus-Iokaste (OT) und Oidipus-Theseus (OK) einfügen, die durchaus gewisse Verwandtschaften aufweisen. Das Schema ist natürlich recht grob und erhebt nicht den Anspruch, eine Strukturanalyse zu bieten. Es berücksichtigt ζ. B. nicht den verschiedenen Umfang der in Parallele gesetzten Szenen und läßt manches (ζ. B. die Chorlieder und die Ismeneszene im OK) weg. Es soll lediglich dazu dienen, die in den Einzelinterpretationen sichtbar gewordene innere Einheit der beiden Stücke zu verdeutlichen. 81 Parallele und Kontrast auch in den beiden berühmten Chorliedern über die Nichtigkeit der menschlichen Existenz (OT 1186ff. - OK 121 Iff.). Traf der Chor im OT angesichts der Vernichtung des Oidipus das Richtige, so wird seine Aussage im OK durch die anschließende Heroisierung des Oidipus relativiert (vgl. Bowra, a. O. 380ff.). 82 Vgl. auch 800f. und 1398f.
Die Wahl des Todes bei Sophokles* To be, or not to be: that is the question: Whether 'tis nobler in the mind to suffer The slings and arrows of outrageous fortune, Or to take arms against a sea of troubles, And by opposing end them. ... Hamlet III, 1
I
„Irgendwann im Laufe der Evolution muss der Mensch entdeckt haben, daß er nicht nur Tiere und Mitmenschen, sondern auch sich selbst töten kann. Die Annahme ist erlaubt, daß von da an das Leben für ihn nie wieder so wie vorher war" 1 . Soweit wir zurückblicken können in die Geschichte des menschlichen Geistes, finden wir bildliche und schriftliche Zeugnisse für den Selbstmord 2 . Die homerischen Epen kennen bereits verschiedene Selbst-
* Die in Anm. 4 (zum Selbstmord), 6 (zum Selbstmord in der Antike) und 11 (zu Sophokles) genannten Arbeiten werden im folgenden nur mit Namen und Seite (bzw. Namen, Kurztitel und Seite) zitiert. 1 E . Stengel, Selbstmord und Selbstmordversuch (Frankfurt 1969), 2. Im deutschen Sprachraum wird seit geraumer Zeit mit sprachlichen, logischen und ideologischen Argumenten eine lebhafte Diskussion darüber geführt, ob der Begriff Selbstmord nicht durch einen anderen ersetzt werden könne oder gar müsse (vgl. dazu H. Aigner, Der Selbstmord im Mythos (s. nächste Anm.), 6-8). Die wichtigsten Vorschläge lauten: Selbsttötung, Selbstzerstörung, Selbstvernichtung, Freitod sowie Suizid. Trotz der durchaus berechtigten Einwände, die sich gegen 'Selbstmord' erheben lassen, ist es m.E. nicht sinnvoll, den im allgemeinen Sprachgebrauch fest verwurzelten Begriff durch ein 'richtigeres' Kunstwort zu ersetzen. Ich spreche daher im folgenden weiter von Selbstmord, habe jedoch durch die Formulierung des Themas als 'Wahl des Todes' auf den entscheidenden moralisch-heroischen Aspekt der Selbsttötung bei Sophokles schon im Titel meines Beitrages hinweisen wollen. 2 H. Aigner, Der Selbstmord im Mythos. Betrachtungen über die Einstellung der Griechen zum Phänomen Suizid von der Homerischen Zeit bis in das ausgehende 5.
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Die Wahl des Todes bei Sophokles
mordformen und -Ursachen3, und sowohl Achilleus als auch Odysseus sind in Augenblicken tiefster Verzweiflung - im Schmerz über den Tod des Patroklos bzw. in dem Gefühl, Ithaka niemals mehr wiederzusehen - dem Selbstmord nahe. Beide töten sich nicht. Den impulsiven Achilleus hält ein Freund zurück; den vielduldenden Odysseus bewahrt sein kühler Verstand. Dennoch dokumentiert sich in der Tatsache, daß sowohl Ilias als auch Odyssee ihren Helden in der Krise mit der Hamletfrage konfrontieren, bereits am Anfang der abendländischen Literatur, eindringlich die fundamentale Bedeutung des Selbstmords für das menschliche Leben. Die Faszination und Beunruhigung, die jeder Selbstmord bei denen, die ihn sehen oder von ihm hören, auslöst, hat seit Homer Dichter und Philosophen, Gesetzgeber und Theologen immer wieder zur Auseinandersetzung mit dem Problem der Selbsttötung veranlaßt, bis sich im 19. Jahrhundert sogar eine eigene Wissenschaft entwickelte. Nach der bahnbrechenden Studie von Emile Dürkheim (1897) ist die Suizidologie zu einem überaus fruchtbaren Arbeitsfeld für Soziologen und Politologen, Mediziner, Psychologen und Psychotherapeuten geworden, deren Ergebnisse auch fur den Philologen interessant und hilfreich sein können 4 . Auf der anderen Seite Jahrhundert v. Chr. (Graz 1980; unpubl. Habil.-Schrift, die mir H. Aigner freundlicherweise zur Verfügung stellte), 14ff.; 27ff. 3 Od. XI 277ff. (Epikaste); X 49ff. (Odysseus); XI 197ff.; XV 356ff. (Antikleia; allerdings unsicher, ob bereits bei Homer Selbstmord gemeint ist; cf. Hygin. Fab. 243, 1; Eustath. ad Horn. Od. XI 202); II. XVIII 33f. (Achilleus); III 173 (Helena). Todeswünsche auch Od. I 59; X 497f. (Odysseus); XX 6Iff. (Penelope); XV 353f. (Laertes). 4 Die Literatur ist inzwischen so umfangreich, daß sie für den Nichtfachmann unübersehbar ist; zur Einführung: A. Bayet, Le suicide et la morale (Paris 1922); G. R. Fedden, Suicide (London/Toronto 1938); Ch. Zwingmann (ed.), Selbstvernichtung (Frankfurt 1965); E. Stengel, Selbstmord und Selbstmordversuch (Frankfurt 1969); G. Siegmund, Sein oder Nichtsein (Trier 2 1970); S. Perlin (ed.), A Handbook for the Study of Suicide (Oxford 1975); Ε. Ringel, Das Leben wegwerfen? Reflexionen über den Selbstmord (Wien 1978); am meisten profitiert habe ich von J. Baechler, Les suicides (Paris 1975); interessant für die Untersuchung des Selbstmords in der Literatur: A. Alvarez, Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord (Hamburg 1974).
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beweist die lange Reihe moderner Theorien zu Ursachen und Intentionen, die auf der Basis eines fast unübersehbaren statistischen Materials entworfen worden sind, wie weit wir trotz der enormen Erweiterung unserer Kenntnisse davon entfernt sind, den Selbstmord letztlich zu verstehen, und läßt Alvarez' Feststellung verständlich erscheinen: „Je zahlreicher die wissenschaftlichen Untersuchungen waren, die ich las, desto stärker festigte sich in mir die Überzeugung, ich könne nichts Besseres tun, als den Selbstmord aus der Perspektive der Literatur zu betrachten ,.." 5 . Das soll im Folgenden geschehen 6 . Meine Überlegungen gliedern sich dabei in einen ersten systematischtopologischen Teil, in dem versucht wird, typische Elemente der Gestaltung des Selbstmords in der sophokleischen Tragödie zusammenzustellen, und einen zweiten Teil, in dessen Mittelpunkt die detaillierte Interpretation eines besonders interessanten Falles steht: des Aias.
^ Alvarez, 11. 6 Literatur zum Selbstmord in der Antike bzw. bei Sophokles: Κ. A. Geiger, Der Selbstmord im klassischen Altertum (Augsburg 1888); R. Hirzel, Der Selbstmord, Libelli 189 (Dannstadt 1966; repr. aus ARW \\ (1908), 75-104, 243-84, 417-76); W. B. Stanford, Sophocles. Ajax (London 1963), Appendix E, 289-290; C. James, „Whether 'tis nobler. Some Thoughts on the Fate of Sophocles' Ajax and Euripides' Heracles, with Special Reference to the Question of Suicide", in Pegasus 12 (1969), 10-20; A. G. Katsouris, Τό μοτίβο της αυτοκτονίας στό άρχαΐο δράμα, in Dodone 4 (1975), 203-34, und (engl. Fssg.) "The Suicide Motif in Ancient Drama", in Dioniso 47 (1976), 5-36 (vorwiegend deskriptiv); J. de Romilly, „Le refus du suicide dans 1'Heracles d'Euripide», in Archaiognosia 1 (1980), 1-9; H. Aigner, Der Selbstmord im Mythos (s. o. Anm. 2); dazu kommt noch die schöne Studie von Jean Starobinksi, "L'dpee d'Ajax", in Trois Fureurs (Paris 1974), 11-71, auf die mich Herr Steiner während der Entretiens aufmerksam machte.
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Die Wahl des Todes bei Sophokles
II Während sich in den erhaltenen Tragödien des Aischylos 7 zwar wiederholt Selbstmordwünsche und -ängste, -drohungen und -versuche finden, aber kein einziger Selbstmord, töten sich gleich sechs Gestalten des Sophokles selbst: Aias, Deianeira, Antigone, Haimon und Eurydike sowie lokaste 8 . Nimmt man Elektras Todeswunsch, Philoktets Selbstmordwünsche und -drohungen und die Todessehnsucht des greisen Oidipus im Hain von Kolonos hinzu, so ist keine der sophokleischen Tragödien ohne Beziehung zum Thema Selbstmord9. Dieser Unterschied zwischen den beiden Tragikern muß natürlich nicht bedeuten, daß Aischylos sich fur den Selbstmord nicht interessiert hätte seine Gestaltung des vi/as-Stoffes ist uns leider nicht erhalten -, wohl aber, daß Sophokles in besonderem Maße fasziniert war von dem Problem und seinen dramatischen und poetischen Möglichkeiten. Diese These würde noch erheblich gestärkt, wenn sich beweisen ließe, daß einige seiner Selbstmorde erst von ihm selbst in die mythische Tradition eingeführt worden sind. In nicht weniger als vier der sechs Fälle liegt die Vermutung zumindest nahe 10 . Die statistischen Möglichkeiten, wie sie die Suizidologie so liebt, sind bei Sophokles schnell erschöpft: Vier seiner Selbstmörder sind Frauen: eine davon jung (Antigone), drei in den mittleren Jahren; zwei sind Männer, einer davon jung (Haimon), einer in den besten Mannesjahren; zwei Männer und 7
Aischylos: Ag. 874-876; (Cho. 916); Eum. 746; Supp. 455ff.; 788ff.; Prom. (582ff.); 747ff.; Fr. 289 Mette; 296 (?) M. (Aias); 399 M. (Philoktet); 474 Μ , V. 778781 (Dikl.); 679 M. 8 Die Verbrennung des Herakles auf dem Oeta rechne ich im Gegensatz zu Stanford und Aigner nicht zu den Selbstmorden. Der Tod des Herakles - als tragischer, nicht als physischer Akt - ist vielmehr Mord (bzw. fahrlässige Tötung), nicht Selbstmord. 9 El. 378ff.; 1165ff. (συνθανεϊν); Ph. 747ff.; 797ff.; 999ff.; 1203ff.; 1348f.; OC lOlff.; vgl. weiter den Todeswunsch Kreons (Ant. 1329ff.; dazu F 953 Radt), sowie F*178; F 698; F 952 Radt; dazu kommen aus den verlorenen Stücken: wahrscheinlich Phaidra (W. S. Barrett (ed.), Euripides. Hippolytos (Oxford 1964), 12) und vielleicht Pelopia (S. Radt (ed.), TrGF IV, S. 239f.). 10 Deianeira, Antigone, Haimon, Eurydike.
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zwei Frauen töten sich mit dem Schwert, zwei Frauen erhängen sich. Zu lernen ist daraus ebensoviel wie aus den meisten Selbstmordstatistiken, nämlich nichts. Wichtig ist dagegen, da es sich um poetische Selbstmorde handelt, die Untersuchung der künstlerischen Gestaltung und der dramatischen und thematischen Bedeutung des Ereignisses im Rahmen des jeweiligen Textes 11 . Die Analyse der sophokleischen Selbstmorde offenbart eine Reihe interessanter Gemeinsamkeiten. 1. Fünf der sechs Selbstmorde werden, wie erwartet, von einem Boten berichtet 12 , der über das hinterszenische Geschehen informiert. Nur im Aias hat Sophokles sich aus naheliegenden Gründen über die Theaterkonvention hinweggesetzt und die Tat selbst, die im Aias des Aischylos noch berichtet worden war, auf die Bühne gebracht 13 . Die Boten sind, wie üblich, Angehörige des Hausgesindes (Diener, bzw. in den Trachinierinnen die Amme der Heldin), die sich, wie ebenfalls üblich, als Augenzeugen ausweisen. 2. Die Ausführlichkeit, mit der die eigentliche Tat berichtet wird, reicht von den drei Versen, in denen Antigones Selbstmord konstatiert wird (1220-22), über die komprimierten, aber eindrücklichen Beschreibungen der Selbst11 Aus dem ständig wachsenden Strom der Sophokles-Literatur seien die folgenden Arbeiten herausgehoben, die meine eigenen Überlegungen zum Thema bzw. zu Sophokles am stärksten beeinflusst und gefordert haben: G. M. Kirkwood, A Study ofSophoclean Drama (Ithaca 1958); Η. D. F. Kitto, Greek Tragedy (London 3 1961); id., Form and Meaning in Drama (London 1956; paperback 1960); Β. Μ. W. Knox, The Heroic Temper (Berkeley/Los Angeles 1964); id., „The Ajax of Sophocles", in HSCP 65 (1961), 1-37; K. Reinhardt, Sophokles (Frankfurt 3 1947); R. P. Winnington-Ingram, Sophocles. An Interpretation (Cambridge 1980). 12 Tr. 87Iff. (Deianeira); Ant. 1155ff. (Antigone und Haimon); 1278ff. (Eurydike); OT 1223ff. (Iokaste). 13 Cf. J. C. Kamerbeek, The Plays of Sophocles. Commentaries. Part I: The Ajax (Leiden 21963), ad loc.; O. Taplin, Greek Tragedy in Action (London 1974), 86; Aigner, 72-74.
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Die Wahl des Todes bei Sophokles
morde Haimons (1231-39), Eurydikes (1301-5) und Iokastes (OT 1241-50; 1263-67) bis zu dem langen Bericht der Amme vom Tode Deianeiras (7V. 899-946). Daß die Ausführlichkeit des Berichts eine Funktion
des
dramatischen Stellenwerts des Ereignisses ist, liegt auf der Hand: Antigones Selbstmord ist vor allem bedeutungsvoll als Auslöser für Haimons Selbstmord, dessen Tod wiederum Eurydikes Selbstmord zur Folge hat. Alle drei Selbstmorde des Stücks gewinnen ihre Bedeutung aus ihrer Funktion für die Tragödie des Kreon, aus dessen Perspektive (Antigone, Haimon) bzw. für den (Eurydike) sie berichtet werden. Sie sind Folgen seiner Entscheidungen, für die er nun bezahlen muß. Antigones Tod bedeutet Kreon nichts. Seine detaillierte Beschreibung würde also nur vom Wesentlichen ablenken. Anders Eurydike und Haimon: Frau und Sohn. Haimons Tod ist dabei der schwerste Schlag. Sein Selbstmord ist deshalb von Sophokles am ausführlichsten und wirkungsvollsten gezeichnet; seinen Selbstmord muß Kreon sogar selbst mitansehen. Katastrophe und Exodos des Oidipus Tyrannos werden beherrscht von der Blendung des Oidipus und nicht etwa vom Selbstmord Iokastes, der, sobald Oidipus in den Palast stürzt, ganz auf ihn und sein Schicksal bezogen ist (1251ff.). Er vertieft die tragische Schuld des Oidipus und steigert zugleich die Furchtbarkeit seiner Situation, indem er einen Ausweg zeigt, der Oidipus nicht offensteht 14 . In den Trachinierinnen gewinnt der Selbstmord der Heldin ein erheblich größeres Eigengewicht als im Oidipus Tyrannos oder gar in der Antigone, doch auch hier reicht seine Wirkung kaum über den Bericht der Amme hinaus. Die erste Hälfte des Stücks thematisiert nicht den Selbstmord Deianeiras, sondern die Tragödie einer alternden Frau, die in ihrer verzehrenden Liebe aus Angst zerstört, was sie sich bewahren will. Der Selbstmord ist Höhepunkt und Abschluß der Deianeira-Tragödie - deswegen
14
Cf. 07Ί367ίΤ.
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wird er ausführlich berichtet - ; doch dann beherrscht nur noch Herakles die Bühne. Im Aias schließlich bestimmt der Selbstmord des Helden von Tekmessas angsterfüllter Prophezeiung: καν δήλός έστιν ώς τι δρασείων κακόν (326) bis zu Aias' Sprung in sein Schwert (865) das dramatische Geschehen, ohne etwa auf diesen zentralen Teil des Dramas beschränkt zu sein. Denn auch nach dem Selbstmord beherrscht der Leichnam des gewaltigen Toten das Stück noch über die Szenen, in denen er gefunden und beklagt wird, hinaus bis zum Ende; und bereits Prolog und Parodos sind überschattet von der Ahnung, daß der große Aias die Schande seiner Wahnsinnstat und die Demütigung durch Athene nicht wird ertragen können, sobald er aus der Umnachtung erwacht 15 .
3. In mindestens drei der fünf berichteten Selbstmorde haben die Boten die eigentliche Tat nicht gesehen 16 . Sophokles läßt seine Helden einsam sterben. Das ist natürlich. Selbstmord ist einsam. Zugleich aber ist es auch bedeutsam für die sophokleische Tragik. Die vielbeschworene existentielle Einsamkeit des sophokleischen Helden, seine äußere und innere Isolation, findet in der Einsamkeit des Todes ihren letzten symbolischen Ausdruck 17 . Antigones Grab liegt einsam, fern der Stadt (773f.); sie, die nach eigenem Gesetz lebt, wie der Chor sagt, stirbt allein und einsam (821f.; 887), ohne Freunde (919). Iokaste stürzt ins Schlafgemach und verriegelt die Tür hinter sich (1244; 1261f.) 18 ; Deianeira verbirgt sich, wo niemand sie sehen kann (903) und ist später allein im Schlafgemach 19 ; Aias schließlich stirbt einsam am Meer; hier
15 Zu Aias als der das ganze Stück dominierenden Gestalt cf. Knox, „The Ajax ...", lf. l6 Ant. 1220-1222 (Antigone); Tr. 929ff. (Deianeira); OT1251 (Iokaste). 17 Reinhardt, Sophokles, 10; Knox, Heroic Temper, 32ff. 18 Cf. Kamerbeek, ad 1244, 5 und 1261,2. 19 Sie wird zwar von der Amme beobachtet, aber sie weiß es nicht (914f.); und als die Amme sieht, was ihre Herrin vorhat, eilt sie davon, um Haimon zu holen. Bei ihrer Rückkehr ist Deianeira bereits tot.
36
Die Wahl des Todes bei Sophokles
erzwingt die ungewöhnliche dramatische Technik, den Selbstmord des Helden zu zeigen, nicht zu berichten, einen weiteren Bruch der Konvention: den Auszug des Chores aus der Orchestra vor dem Ende des Stücks. Nur bei Haimon und Eurydike hat Sophokles aus guten Gründen auf die Einsamkeit (im Augenblick des Todes) verzichtet. Im Falle Haimons war ihm der direkte Angriff des Sohnes auf den Vater als symbolischer Ausdruck dafür, wie Kreons Taten auf ihn zurückschlagen, offenbar wichtiger; im Falle Eurydikes betont der Text zwar nicht, legt es aber nahe, daß sie im Augenblick ihres Todes nicht allein ist. Da ihr Selbstmord wie der Haimons auch Elemente der Rache enthält, ist hier die Anwesenheit von Zeugen, die ihre Verfluchung Kreons hören, durchaus sinnvoll. 4. Der Schauplatz des Selbstmords, in der Realität meist nicht mehr als der Ort der Tat, gewinnt bei Sophokles symbolische Bedeutung: lokaste erhängt sich im Schlafgemach, wo sie dem Laios den Mörder und sich selbst den Gatten gebar; Deianeira ersticht sich auf dem Bett des Herakles, dem Mittelpunkt ihres Lebens; Eurydike tötet sich am Altar 20 , dem Zentrum des Hauses und der Familie, die Kreon mit dem Tode des zweiten Sohnes endgültig vernichtet hat; Aias, der Mann von der Insel Salamis, verläßt das Lager und geht ans Meer, um sich in der Einsamkeit zu reinigen, die Symbol für seine innere Isolation ist. Haimon und Antigone sterben im Felsengrab. Die Frage, warum Kreon seine Entscheidung, Antigone steinigen zu lassen, ändert und sie lebendig begraben läßt, hat viele Antworten 21 . Sicher ist, daß kein Ort für den Tod Antigones, die 'für ein Grab' stirbt, 'passender' sein könnte, als ein Grab, und daß erst diese Form der Bestrafung die perverse Verkehrung der sittlichen Ordnung durch Kreon vollständig macht, der den Göttern der Unterwelt einen Toten verweigert und einen Lebenden aufdrängt (1068ff). 20
Soviel ist trotz der Textverderbnis in 1301 deutlich; cf. schol. ad loc. und Kamerbeek, ad loc. 21 Kitto, Form and Meaning, 166, Knox, Heroic Temper, Iii.
Die Wahl des Todes bei Sophokles
37
5. Erweist sich der Schauplatz in allen Fällen als symbolisch bedeutungsvoll, so erscheint die Selbstmordmethode auf den ersten Blick eher konventionell. Bezeugt sind für die griechische Tragödie fast ausschließlich Schwert und Strick; daneben in Einzelfällen auch Gift und Sprung ins Meer, ins Feuer oder von einem Felsen 22 . Für Männer ist das Schwert üblich 23 ; bei Frauen überwiegt der Strick. Die Verfügbarkeit der Mittel spielt eben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle. Daß allerdings in Griechenland, wie gelegentlich behauptet wird, der Strick die selbstverständliche 'anständige' Selbstmordmethode für Frauen gewesen ist, erscheint mir auf der Basis unseres doch recht kärglichen Materials nicht so sicher, daß sich hieraus die in jüngster Zeit erstaunlich intensiv diskutierte Frage 24 , warum Deianeira (wie übrigens auch Eurydike) zum Schwert und nicht zum Strick greift, zwangsläufig jedem Betrachter aufdrängen mußte. Es gibt auch Anhaltspunkte dafür, daß bereits die Griechen, wie Goethe, das Erhängen als 'unedle Todesart' (und zwar auch für Frauen) empfanden 25 , und Hirzel könnte recht haben, wenn er feststellt: „Wo der edle Dichter freie Hand hatte [sc. Deianeira und Eurydike], hat auch Sophokles der Würde seiner Personen den Tod durchs Schwert entsprechender gefunden" 26 . Antigone hat im Felsengrab kein Schwert zur Verfügung; lokaste kann wohl nur den homerischen Strick nehmen. Im Falle Deianeiras mag der Grund für das Schwert allerdings tiefer liegen, wenn auch kaum dort, wo ihn G. Devereux vermutet 27 . Die beiden 22 Gift: Stheneboia (Eur.); Meer: Ino (Eur.); Feuer: Io (Aeschyl. Prom. 582), Euadne (Eur. Supp. 980ff.), Laodameia (Eur. Protesilaus); Felsen: Io (Aeschyl. Prom. 748ff.), Philoktet (Soph. Ph. 999ff.); Hunger (-drohung): Orestes (Eur. IT 973ff.), Iphis (Eur. Supp. 1104ff.). 23 Cf. aber die Ausnahmen: Aeschyl. Eum. 746 (Orestes: Strick); Neophron F 3 TrGFl Snell (Jason: Strick). 24 D. Wender, „The Will of the Beast. Sexual Imagery in the Trachiniae", in Ramus 3 (1974), 1-17; G. Devereux, Tragedie et poesie grecques (Paris 1975; trad. fran9·), ch. 5; Winnington-Ingram, Sophocles, 81 Anm. 28. 25 Cf. das Material bei Hirzel, 44 Anm. 4. 26 Hirzel, ibid. 27 G. Devereux (Tragedie et poesie grecques, ch. 5) sieht den Grund in der latenten Homosexualität des Sophokles.
38
Die Wahl des Todes bei Sophokles
Helden der Doppeltragödie stürzen sich gegenseitig ins Verderben, und sie töten sich mit den für sie und ihre Welt charakteristischen Waffen: Gewand und Schwert, die zudem symbolische Bedeutung gewinnen. Herakles verbrennt in der Liebe Deianeiras, Deianeira stirbt an der brutalen Männlichkeit des Herakles. Da Deianeira den Selbstmord auch als Selbstbestrafung versteht, ist der Tod durch das Schwert fur sie zudem gleichsam der Vollzug der Strafe durch Herakles selbst. Winnington-Ingrams Hinweis darauf, daß die Form des Selbstmords „sexually suggestive" sei, ist nach Freud evident; ob sie von Sophokles so gemeint war, muß offen bleiben. Symbolische Bedeutung gewinnt das Werkzeug der Tat schließlich auch im Aias. Hier ist das von der Wahnsinnstat blutige Schwert Symbol der befleckten Ehre des Helden; der Sprung in das Schwert soll Schwert und Ehre reinigen 28 .
6. Außer beim Selbstmord der Antigone betont Sophokles, daß die Tat in starker emotionaler Erregung geschieht. Iokaste stürzt „in wildem Schmerz" (1073f.) von der Bühne, eilt in äußerster Erregung (1241) durch die Halle zum Schlafgemach und reißt die Tür hinter sich zu (1244); Eurydike ist nach dem Bericht plötzlich verschwunden (1244f.), aber der Bote furchtet zu Recht, daß sich hinter ihrem schweigenden Abgang tiefe Erregung verbirgt (1253ff.); und sie stirbt mit einem Fluch auf den Lippen (1305). Haimon stürmt in heftiger Erregung (766) davon, und das nächste, was wir von ihm hören, sind seine schrillen Schreie, die aus dem Grabe dringen (1206) und der
28 Zur symbolischen Bedeutung des Schwerts Kirkwood, 222f.; Kitto, Form and Meaning, 193ff.; sowie zuletzt ausführlich D. Cohen, „The Imagery of Sophocles: A Study of Ajax's Suicide", in G&R 25 (1978), 24-36, der das Schwert vor allem als Symbol fiir „the dark side of Ajax's nature" betrachtet (dort auch weitere Literatur).
Die Wahl des Todes bei Sophokles
39
Jammer an der Leiche Antigones (1224); dann stürzt er sich mit „wilden Augen" auf den Vater, spuckt ihm ins Gesicht und tötet, als sein Schwert ihn verfehlt, sich in rasendem Zorn (χολωθείς) selbst (123Iff.). Deianeiras Erschütterung äußert sich weniger expressiv. Das paßt durchaus zu dem Bild, das wir seit dem Prolog von ihr gewonnen haben 29 . Wie Eurydike geht sie nach dem vernichtenden Bericht und der Verfluchung durch den Sohn schweigend ab (813f.). Ihre Bewegungen im Haus sind nicht wild und entschlossen; sie verkriecht sich (903), fällt jammernd am Altar nieder (904), nimmt einzelne Gegenstände in die Hand (905f.), irrt ziellos umher (907) und klagt dem Gesinde ihr Leid (908f.); erst dann, plötzlich, eilt sie in das Schlafgemach und beginnt mit den Vorbereitungen für den Selbstmord (915ff.). Aias schließlich macht sich scheinbar ruhig auf zum Strand und bewahrt auch im Augenblick des Selbstmords die unheimliche Ruhe des zum Tode Entschlossenen; und doch spüren wir auch im Todesmonolog, ja sogar in der Trugrede unter der ruhigen Oberfläche die wilde Kraft seines Hasses, den er sich bis in den Tod bewahrt 30 . Es ist wichtig festzuhalten, daß, auch wenn in allen Fällen die emotionale Erregung des Täters betont wird, allenfalls der Selbstmord Haimons als Affekttat bezeichnet werden kann. Das paßt übrigens durchaus zu modernen Forschungsergebnissen. Kurzschluß-Selbstmorde sind vor allem bei Kindern und Heranwachsenden festzustellen. 7. Letzte Worte des Abschieds, der Klage, aber auch der Anklage finden sich in fünf von sechs Fällen. Antigone stirbt ohne jeden Zeugen; Haimons Erregung äußert sich zwar im Augenblick seines Selbstmords nicht in Worten, aber in einer ausdrucksvollen Geste: er spuckt dem Vater schwei29
Zu Deianeira vgl. besonders: E. R. Schwinge, Die Stellung der Trachinierinnen im Werk des Sophokles, Hypomnemata 1 (Göttingen 1962), 56ff.; M. McCall, „The Trachiniae: Structure, Focus, and Heracles", in AJPh 93 (1972), 142-63; Ch. Segal, „Sophocles' Trachiniae: Myth, Poetry, and Heroic Values", in YCIS 25 (1977), 99158 (bes. 119-130); Winnington-Ingram, Sophocles, 75-81. 30 Knox, „The Ajax ..." 13-18; Winnington-Ingram, Sophocles, 48ff.
40
Die Wahl des Todes bei Sophokles
gend ins Gesicht und greift ihn mit dem Schwert an; doch zuvor, an der Leiche Antigones, beklagt er Antigone, die Tat des Vaters und sich selbst (1224f.). Deianeiras Abschiedsworte gelten dem Bett des Herakles (920-22); Eurydike beklagt den Verlust der Söhne und verflucht Kreon, der sie ihr genommen hat (1302-5); lokaste beschwört die verhängnisvolle Ehe mit Laios und das Bett, das sie mit ihm und Oidipus geteilt hat (1245-50); Aias, dessen langer Monolog eine Sonderstellung unter den Abschiedsworten einnimmt, ruft Götter und Erinyen um Hilfe an, verflucht seine Feinde, gedenkt seiner Eltern und verabschiedet sich vom Licht und von der Welt (815-865). Diese Zusammenstellung zeigt auf den ersten Blick, daß Abschiedsworte für den Tragödieninterpreten das sind, was für den Suizidologen Abschiedsbriefe und letzte Tagebuchnotizen sein können: sie geben direkte und indirekte Hinweise auf die Tatmotive. Im Leben mögen letzte Worte vielfach Irrelevantes, ja Irreführendes enthalten; in der Tragödie, zumal in der sophokleischen Tragödie mit ihrer rigorosen Beschränkung auf das Bedeutsame 31 gewiß nicht. Das bedeutet andererseits aber nicht, daß letzte Worte die Selbstmorde vollständig erklären. Wie für den Selbstmordforscher gilt auch für den Tragödieninterpreten, daß neben den im Augenblick des Selbstmords (oder vorher) vom Täter ausgesprochenen Motiven weitere (angedeutete, unausgesprochene, unbewußte) Ursachen eine wichtige Rolle spielen können 32 . Lassen sich die bisher zusammengestellten Elemente der Gestaltung des Selbstmords in den Tragödien des Sophokles bei allen Unterschieden im Detail doch zu Topoi zusammenordnen, so zählt bei der Analyse der Motive und
Ursachen
eigentlich
nur
der
individuelle
Fall
und
seine
unverwechselbare komplexe Kausalität, die den Interpreten vor erheblich schwierigere Aufgaben stellt. Baechler konstatiert zu Recht: „II est extraordinairement difficile, pour ne pas dire impossible, de rendre compte 31 32
Kirkwood, 63ff.; Kitto, Form and Meaning, 199ff. Zur Differenzierung von Motiv und Ursache, cf. Zwingmann (ed.), p. XIV.
41
Die Wahl des Todes bei Sophokles
d'un seul cas de suicide de maniere exhaustive. II faudrait pouvoir retracer minutieusement les moindres details de revolution d'un homme et montrer comment eile l'a conduit ä percevoir un probleme existentiel de teile sorte que la reponse devait etre la mort" 33 . Glücklicherweise stellt sich das Problem bei der Untersuchung poetischer Selbstmorde nicht oder doch nicht in gleicher Schärfe. Hier lautet die Frage ja nicht: „Warum bringt Brutus sich um?", sondern: „Warum bringt sich Brutus bei Shakespeare um?". Anders als im unüberschaubar komplexen Leben, wo wir nie alles über die Hintergründe der Tat wissen können, haben wir es hier mit einem zwar komplexen aber überschaubaren Text zu tun, der die Frage nach den Gründen vollständig beantworten kann, jedenfalls, wenn der Fragesteller allen Hinweisen nachgeht, seien sie direkt oder indirekt. Das kann in diesem Rahmen natürlich nicht fur alle Selbstmorde bei Sophokles geschehen. Ich beschränke mich auf den Aias; möchte aber vorher versuchen, auch fiir den Aspekt der Motive
und
Ursachen
die Gemeinsamkeiten
aller
Fälle
und
ihrer
künstlerischen Gestaltung zusammenzustellen.
8. Äußere Ursache, d.h. der Anlaß, der die Tat auslöst, ist in fünf der sechs Fälle ein Erlebnis, dessen elementare Wucht so evident ist, daß der Selbstmordentschluß des Helden dem Betrachter, wenn nicht zwangsläufig, so doch gewiß natürlich erscheinen muß: Inzest (lokaste), Tod eines geliebten Wesens, und zwar des Mannes (Deianeira), des Sohnes (Eurydike), der Verlobten (Haimon), bzw. Bestattung bei lebendigem Leibe (Antigone). Lediglich im Aias handelt es sich um ein Ereignis, das die tragische Qualität des Unabänderlichen erst durch den Charakter des Helden gewinnt. 9. Sophokles beschränkt sich aber keineswegs darauf, den Anlaß und seine Wirkung nur zu berichten. Er zeigt vielmehr, auch in den Fällen, in denen der Selbstmord nicht im Zentrum steht, wie der Held die Wahrheit begreift (z.B.
33
Baechler, 87.
42
Die Wahl des Todes bei Sophokles
lokaste), die ihn vernichtende Nachricht erfährt (z.B. Eurydike) oder doch seine Reaktion darauf (z.B. Antigone). In jedem Stück gibt es eine Szene, die u.a. diese Funktion der emotionalen Vorbereitung des Selbstmords hat: So muß Eurydike den quälenden Bericht vom Tode des Sohnes ertragen (1180ff.); so muß Deianeira die lange Beschreibung vom Untergang des Herakles, mit all ihren grausigen Details, über sich ergehen lassen (734ff.); so muß lokaste, selber bereits (seit 1016) vernichtet, auch noch mitanhören, wie Oidipus sich bei der Befragung des Boten aus Korinth Schritt fur Schritt der tödlichen Wahrheit nähert (1017ff.)34 Alle drei Szenen wirken wie eine psychische Folter, die das Opfer zwangsläufig unmittelbar in den Selbstmord treibt: Eurydike und Deianeira gehen schweigend ab in den Tod; lokaste macht noch einen verzweifelten Versuch, wenigstens Oidipus zu retten, dann stürzt sie davon. Auch in den übrigen drei Fällen gibt es Szenen, die bei allen äußeren Unterschieden funktional durchaus vergleichbar sind. Im Fall Haimons ist es die erbitterte Auseinandersetzung mit dem mächtigen Vater (632ff.), die die emotionalen Voraussetzungen fur die Affekttat im Grabe schafft und verständlich macht; im Falle Antigones konfrontiert Sophokles zwar die Heldin nicht vor unseren Augen mit der vernichtenden Nachricht, zeigt aber bei ihrem Abgang in den Tod die seelischen Qualen, die die unerwartete Änderung des Urteils ausgelöst hat (806ff.); und im Aias schließlich läßt der Dichter Tekmessa zunächst die Wirkung der Wahrheit, die Aias, aus dem Wahnsinn erwachend, allmählich begreift, ausfuhrlich beschreiben (201 f.; 27Iff.) und führt sie uns anschließend noch einmal direkt vor Augen (346ff). In mehreren Fällen hat Sophokles die genannten Szenen, in denen die emotionale Basis für den Selbstmord entwickelt wird, mit einem letzten Höhepunkt versehen. So muß lokaste bei ihrem verzweifelten Versuch, wenigstens Oidipus gegen die vernichtende Wahrheit zu schützen (1056ff.), erleben, wie er sie spöttisch abfertigt (1062f.) und schließlich ganz ignoriert 34
Kithairon (1026), die Füße (1031-36), ein Hirt (1040), ein Hirt des Laios (1042-44).
Die Wahl des Todes bei Sophokles
43
(1068f.). „Here is a sense of her being driven off to her death by him", stellt Cameron zu Recht fest 3 5 . Das gilt in noch stärkerem Maße für Deianeira, die im
Anschluß
an
den
furchtbaren Botenbericht
auch
noch
von
der
hemmungslosen Verfluchung ihres Sohnes getroffen wird (807ff.), und für Haimon, dem Kreon am Ende des Streits in seiner Wut damit droht, Antigone auf der Stelle vor seinen Augen hinrichten zu lassen, und damit gleichsam 'den letzten Tritt' versetzt (760ff.). In den
anderen
Fällen
hat
Sophokles
von
dieser
wirkungsvollen
dramatischen Technik keinen Gebrauch gemacht. Wenigstens einen Ansatz dazu kann man aber in der Prologszene des Aias erkennen. Das grausame Spiel, das Athene mit dem Helden spielt, dient nicht nur der Dokumentation seines Wahnsinns, sondern ist, wie sich später zeigt, zugleich 'the last tum of the screw' für Aias' Entscheidung zum Selbstmord.
10. Bevor ich zur Interpretation des Aias übergehe, seien abschließend die Motive
der anderen fünf Selbstmörder des Sophokles, die in der voran-
gegangenen topologisch orientierten Analyse des Materials bereits mehrfach angeklungen sind, kurz zusammengestellt und, soweit das möglich ist, kategorisiert 3 6 . Baechler hat im Anschluß an A. Schütz 3 7 darauf aufmerksam gemacht, daß die Frage nach dem „warum" einer Handlung auf zweierlei Weise
35
A. Cameron, the Identity of Oedipus the King. Five Essays on the Oedipus Tyrannus (New York 1968). 36 Baechler, dessen Kategorisierung ich weitgehend folge, unterscheidet vier Typen von Intentionen (129ff.): 1. escapiste (sous-types: fuite, deuil, chätiment); 2. agressif (sous-types: vengeance, crime, chantage, appel); 3. oblatif (sous-types: sacrifice, passage); 4. ludique (sous-types: ordalie, jeu). Die beliebte Unterscheidung in Kurzschluß- und Bilanz-Suizid ist zu grob; bei Sophokles sind die Selbstmorde von Aias und Deianeira eindeutig Bilanz-Selbstmorde; im Falle Haimons kann man von Kurzschluß-Selbstmord sprechen; die anderen stehen dazwischen. 37 A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Suhrkamp, stw 92 (1974).
44
Die Wahl des Todes bei Sophokles
beantwortet
werden
kann: nämlich
entweder
Kausalsätzen) oder mit „um zu" (d.h. Finalsätzen):
mit
„weil"
(d.h.
mit
38
X tötet sich, weil er unheilbar krank ist, bzw. X tötet sich, um sich selbst oder seiner Familie die Leiden der unheilbaren Krankheit zu ersparen. In dem einen Fall richtet sich der Blick auf die Ursache, im anderen auf die Ziele, die das Individuum mit dem Selbstmord verfolgt. Die hieraus abgeleitete Unterscheidimg zwischen Ätiologie (etiologie) und Bedeutung (sens) von Selbstmorden erscheint mir auch für die Untersuchung poetischer Selbstmorde, wo Ursachen und Intentionen allerdings weit vollständiger und direkter miteinander verbunden sind als in der Realität, als sinnvoll. Im Falle Iokastes sind Motiv und Intention eindeutig. Der Inzest zerstört die Vergangenheit und erlaubt keine Zukunft. Hier handelt es sich eindeutig um einen 'Fluchtselbstmord' 39 . Eurydike tötet sich, weil sie den Verlust Haimons, so kurz nach dem Verlust des anderen Sohnes, nicht ertragen kann 40 . Aus der Verfluchung Kreons (1304-5) kann man außerdem schließen, daß die Tatsache, daß der eigene Mann und Vater den Selbstmord Haimons verursacht hat, zusätzlich schwer auf ihr lastet; ein Weiterleben ohne den Sohn, aber mit dem 'Mörder' ist unmöglich. Durch ihren Fluch wird Kreon ihren Erinyen überantwortet41. Hier verbinden sich also 'Flucht'42
und 'Racheselbstmord' 43 . 38
Baechler, 118-21. Anders nur C. M. Bowra, Sophoclean Tragedy (Oxford 1944), 209, der 12451250 als „confession before death" und den Selbstmord als „her attempt to make peace with her real husband and with the gods" mißversteht. 40 1301-1305 (993-995); in 1303 ist, wenn der überlieferte Text überhaupt geändert werden muß (cf. Kamerbeek, ad loc.), κενόν (Seyffert) λέχος dem κλεινόν λάχος (Bothe, Dawe) m.E. vorzuziehen (cf. G. Müller, Sophokles. Antigone (Heidelberg 1967), 270). 41 1305 (cf. OT1275). 42 Für Baechler fiele Eurydikes Selbstmord in die Kategorie „deuil"; zur Unterscheidung von Flucht- und Schmerz-Selbstmorden, die beide der Gruppe der „suicides escapistes" zugehören, cf. Baechler, 129,132/150,153. 43 S. u. S. 61f. zumAias. 39
Die Wahl des Todes bei Sophokles
45
Die drei anderen Fälle sind noch komplexer. Deianeira ersticht sich, weil sie ohne Herakles nicht leben kann, aber auch, weil sie sich schuldig fühlt an seinem Tod 44 , und schließlich auch, weil sie durch ihre Tat nicht nur den Mann und ihre Ehre 45 , sondern auch noch den Sohn verloren zu haben glaubt; erst damit wird der Sinnverlust total 46 . Dieser Selbstmord gehört folglich unter die beiden Kategorien 'Flucht' und 'Selbstbestrafung'. Haimon tötet sich aus Schmerz über den Verlust der geliebten 47 Antigone; zugleich aber auch im Sturm der Gefühle nach dem wilden Angriff auf seinen Vater. In der Wendung αύτφ χολωθείς (1235), mit der der Bote die Tat erklärt, sind der Haß auf Kreon, der ihm die Verlobte getötet (und zugleich wohl auch sein Vaterbild, ja sein ganzes Weltbild zerstört hat 48 ), sowie die Wut darüber, ihn nicht getroffen zu haben 49 , unlöslich verbunden mit der Reue über den versuchten Vatermord 50 . Für Freudianer ist der Selbstmord Haimons
natürlich
ein
instruktives
Beispiel;
sah
doch
Freud
die
entscheidende Kraft hinter dem Selbstmord in der „Einschränkung der Aggression nach außen und der dadurch verursachten Aggression des Über-
44
663ff.; 706ff. Zur Frage von Deianeiras Schuld zuletzt Winnington-Ingram, Sophocles, 78f. 45 719-722. 46 Zu Deianeiras totaler Fixierung auf Haus und Familie cf. E. R. Schwinge, op. cit. (oben Anm. 29), 56ff. 47 K. v. Fritz, „Haimons Liebe zu Antigone", in Antike und moderne Tragödie (Berlin 1962), 227-40 (repr. aus Philologus 89, 1934, 19-34), vertritt die Auffassung, daß „aus den Motiven Haimons ... eine persönliche Leidenschaft von Anfang bis zu Ende fernzuhalten" sei; dagegen zu Recht Winninggton-Ingram, Sophocles, 92ff. (cf. unten Anm. 54). 48 1177; 1225; G. Ronnet, Sophocle, poete tragique (Paris 1969), 84 (153). 49 So Winnington-Ingram, Sophocles, 94 Anm. 12. 50 R. C. Jebb (ed.), Sophocles. The Plays and Fragments. Part VII: The Ajax (Cambridge 1896), ad loc.; G. H. Gellie, Sophocles. A Reading (Melbourne 1972), 51; Κ. J. Dover, Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle (Oxford 1974), 273f.; nach Lysias, Or. XXXI (Κατά Φίλωνος δοκιμασίας) 20-23 verdient ein Angriff auf die Eltern Hinrichtung; zu Haimons Selbstmord vgl. weiter I. M. Linforth, Antigone and Creon, Univ. of Calif. Publ. in Class. Phil. 15 (1961), 183259, 219 η.; H. Lloyd-Jones, in Gnomon 34 (1962), 739f.
46
Die Wahl des Todes bei Sophokles
Ich gegen das Ich" 51 . Haimons Selbstmord ist also als 'Flucht-' und zugleich 'Nachfolge-Selbstmord' zu verstehen (die Griechen sprechen von έπαποθανεΐν) 5 2 , daneben aber auch als Selbstbestrafung; und vielleicht enthält er sogar ein Element der Rache 53 . Im Falle der Antigone schließlich fehlt im Text jeder explizite Hinweis auf die Motive des Selbstmords. Der elementare Schrecken, den die Vorstellung der unerhörten Strafe (849) auslöst, ist bei ihrem Abschied nicht zu überhören (806ff.). Doch Antigone tötet sich gewiß nicht nur, weil sie den Gedanken nicht ertragen kann, lebendig begraben zu sein: die Antigone des Sophokles, die stolze Tochter des Oidipus, wie wir sie seit dem Prolog kennen, kann sich von Kreon nicht vorschreiben lassen, wann und wie sie sterben muß. Ihr Freitod ist auch ein entschlossener Akt der Selbstbehauptung und der Würde, und schließlich mag die Entscheidung auch von dem seit dem Prolog immer wieder lautwerdenden Gedanken, ja dem Wunsch bestimmt sein, den geliebten Bruder und die Eltern im Hades wiederzusehen 54 . Für Antigones Selbstmord findet sich bei Baechler keine handliche Kategorie 55 . Sie erweist sich auch in dieser Hinsicht noch als αυτόνομος (821).
51
Cf. W. de Boor, „Arbeiten über Selbstmord und Selbstbeschädigung - 1949", in Ch. Zwingmann (ed.), op. cit. (oben S. Anm. 4), 13-21,20. 52 1224f.; 1236ff. (!); cf. weiter 751 (Kamerbeek, ad loc.); zum έπαποθανεΐν vgl. das Material bei Hirzel, 5 Anm. 1. 53 Cf. die wohlbekannten Selbstmordphantasien von Kindern: der Tod als einzige Möglichkeit, den Vater zu bestrafen. 54 73ff.; (524f.); 897ff.; dieser Punkt ist jetzt von Winnington-Ingram, Sophocles, 128-49, stark betont worden; für ihn hat Antigone den Tod gewählt (555), d.h. den Bruder bestattet, um durch eine Liebestat die verfluchte Familie im Hades zu versöhnen. Kreon verweigert ihr die ersehnte Vereinigung mit der Familie. „She is confronted with a continuance of life in a tomb, cut off alike from the living and the dead, utterly alone. For the moment she can see no further" (Winnington-Ingram, Sophocles, 140). 55 In Frage kommt eine Kombination von „fuite" (La fuite est le fait d'echapper, par l'attentat ä sa vie, ä une situation ressentie comme insupportable par le sujet) und «passage» (le fait d'attenter ä sa vie pour acceder ä un etat considere par le sujet comme infiniment plus delectable) (Baechler, 129).
Die Wahl des Todes bei Sophokles
47
11. Am Ende des systematisch-topologischen Teils sei eine letzte Beobachtung ausgewertet, auch wenn die Gefahr besteht, daß dabei die Grenze zum Spekultativen überschritten wird. Die Suizidologie legt bei der Analyse der Selbstmordursachen großes Gewicht
auf
die
„Persönlichkeitsdisposition" 56
und
auf
die
lange,
57
vorbereitende „Entwicklung zum Selbstmord" , ohne die das die Tat auslösende Ereignis nicht die vernichtende Wucht erreichen könne. Es scheint, daß Sophokles intuitiv etwas davon geahnt hat, wenn er in der Vergangenheit seiner Selbstmörder frühere traumatische Erlebnisse und allgemein bedrückende Lebensumstände betont oder doch andeutet: bei Antigone der bereits in den ersten Versen des Stücks evozierte furchtbare Tod erst der Eltern, dann der Brüder und das Gefühl, unter dem Fluch des Hauses zu stehen 58 ; bei Deianeria das frühe Trauma der Werbung des Acheloos 59 und die langen Jahre der Ängste und Sorgen um Herakles, die sie selbst
gleich
zu
Beginn
eindringlich
beschwört 60 ;
bei
lokaste
die
Verstümmelung und Aussetzung ihres ersten Kindes 61 ; bei Eurydike der nicht weit zurückliegende Tod des ersten Sohnes und bei
56
Haimon
Zwingmann (ed.), p. XIX. K. Leonhard, „Psychologische Entwicklung zum Selbstmord", in Zwingmann, 133-43. 58 858ff. (941); cf. G. F. Else, The Madness of Antigone, Abh. der Heidelberger Akad. der Wiss., Phil.-hist. Klasse, 1976, 1,26ff. 59 Ausfuhrlich von ihr selbst berichtet (9ff.), dann noch einmal vom Chor (497ff.); dazu kommt das Erlebnis mit Nesses (555ff.); Deianeira war wiederholt Objekt männlicher sexueller Aggression. 60 Zum Leitmotiv Furcht cf. E. R. Schwinge, op. cit. (oben Anm. 29), 56ff.; R. M. Torrance, „Sophocles: Some Bearings", in HSCP 69 (1965), 269-327, 302; Winnington-Ingram, Sophocles, 75ff.; Aigner, 82, spricht von einer „Art Vorbestimmtheit zum Freitod". 61 718f. spricht sie selbst davon; 1031-1036 muß sie es anhören. 57
48
Die Wahl des Todes bei Sophokles
schließlich - wie auch bei Aias - der lastende Schatten eines übermächtigen Vaters 62 . III Das früheste der erhaltenen sophokleischen
Stücke
ist zwar
keine
dramatische Studie de suicidio, sondern die Tragödie des Aias, eine tiefgreifende Analyse der unauflöslichen tragisch-dialektischen Verbindung von bewundernswerter
heroischer Größe und erschreckender,
selbst-
zerstörerischer Megalomanie. Katalysator dieser Analyse und dramatisches Zentrum des Stücks ist jedoch die Entscheidung des Helden, sich selbst zu töten. Nirgends bei Sophokles, nirgends in der (erhaltenen) griechischen Tragödie, ja, kaum einmal, soweit ich sehe, in der langen abendländischen Geschichte der Gattung, steht der Selbstmord des Helden so im Mittelpunkt eines Dramas. Sophokles präsentiert in Prolog und Parodos zunächst den äußeren Anlaß, die Ursache des Selbstmords, entwickelt in der Parodos und im ersten Teil des ersten Epeisodions die psychische Disposition, in der und aus der der Selbstmordgedanke erwächst, entfaltet dann im ersten Monolog des Helden und in der sogenannten Trugrede die äußeren und inneren Motive, engeren und weiteren Zwänge, die zum Entschluß fuhren, leuchtet vor der Tat mit der Rede des Sehers Kalchas noch einmal weit zurück in die Vergangenheit des Helden und legt so die alten Wurzeln des Unheils bloß, und zeigt schließlich die Tat selbst. Die äußere Ursache des Selbstmords,
d.h. die Ereignisse, die die
tragische Entwicklung ausgelöst haben und vorantreiben, gehören der Vorgeschichte des Stücks an und werden in den exponierenden Eingangsszenen berichtet und gezeigt. Aias hat die Niederlage beim Streit um die Waffen Achills nicht verwinden können und sich entschlossen, seine verletzte Ehre
62
Die Auseinandersetzung mit dem unbedingten Gehorsam, ja Unterwerfung fordernden Kreon (626fF.) läßt etwas ahnen von dem autoritären Druck, unter dem Haimon aufgewachsen ist; zum Aias s. u. S. 60f.
Die Wahl des Todes bei Sophokles
49
durch einen Racheakt wiederherzustellen. Der Versuch ist jedoch von Athene vereitelt worden, die ihn mit Wahnsinn geschlagen und in die Beuteherden des Heeres getrieben hat. Als die Verblendung weicht, sieht sich der „tapfere Aias, der furchtlose Kämpfer in brennenden Schlachten" als Sieger über harmlose Rinder, Schafe und Ziegen (364ff.), schutzlos dem Hohngelächter seiner Feinde preisgegeben. Der Anblick, den Tekmessa dem Chor (und dem Zuschauer) enthüllt, als sie die Zelttür zurückschlägt (346), ist eine grausiggroteske Karikatur des heroischen Lebensideals, das Aias alles bedeutet, und läßt keinen Zweifel daran, daß sein verzweifelter Todeswunsch in Erfüllung gehen wird (356ff.). Aias' Schicksal ist in diesem Moment bereits entschieden. Der Makel, den das Bühnenbild so eindrucksvoll symbolisiert, ist nur mit seinem Tod zu tilgen. Neben der Exposition der äußeren Umstände, aus denen der Selbstmord erwächst, dienen die ersten Szenen des Stücks zugleich der Entfaltung der psychischen Disposition des Aias. Als der Sturm des Wahnsinns sich legt (257f.) und Aias langsam und schwer zur Besinnung kommt (306), stürzt ihn die Erkenntnis seiner nächtlichen Tat in wilde seelische Qualen: λύπη πας έλήλαται κακή (275). Sophokles bringt diesen Zustand geistig-seelischer Störung vor allem durch mehrfache jähe Verhaltens- und Stimmungswechsel zum Ausdruck. So beschreibt Tekmessa, wie er sich beim Anblick der hingeschlachteten Tiere gegen den Kopf schlägt und laut aufschreit (308) und dann lange Zeit stumm, die Hände in die Haare gekrallt, inmitten der Kadaver hockt (308-11). Als sie ihm auf seine Beschimpfungen und Drohungen hin berichtet, was geschehen ist, bricht er erneut in schrilles Jammergeschrei aus, wie sie es nie zuvor von ihm gehört hat (316f.), und verfällt dann wieder in stummes Brüten. Lange Zeit liegt er zusammengebrochen, ohne zu essen und zu trinken inmitten der blutigen Kadaver (323ff.); dann erschallt plötzlich sein Klagegeschrei ίώ μοί μοι aus dem Zelt.
Die Wahl des Todes bei Sophokles
50
Diesem jähen Wechsel von schriller Klage und dumpfen Schweigen, von hektischer Aktivität und starrer Passivität entspricht das ständige Hin- und Herschwanken zwischen Selbstmitleid und Haßtiraden, zwischen stumpfer Resignation und heftiger Aggression 63 . Stanford ist der einzige Interpret, der sich mit dieser Frage eingehender beschäftigt hat. Er stellt zu Recht fest: „Sophocles portrays the psychological symptoms of impending suicide much as modern observers have described them" 64 . Stanfords Beobachtungen typischer psychischer Symptome können allerdings
erheblich
erweitert
und
vertieft
werden.
Die
moderne
Selbstmordforschung hat der Frage der 'suizidalen Persönlichkeit' seit dem denkwürdigen Symposion der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft im Jahre 1910 schon deshalb immer stärkere Aufmerksamkeit geschenkt, weil Selbstmordprophylaxe
und
-therapie
ohne
Kenntnis
typischer
Persönlichkeitsmerkmale potentieller Selbstmörder kaum möglich sind; und Erwin Ringel, einer der bedeutendsten Suizidologen unserer Tage, hat auf Grund der von ihm (und anderen) beobachteten Übereinstimmungen in der seelischen Verfassung von Selbstmördern und potentiellen Selbstmördern ein 'präsuizidales Syndrom' konstatiert, das vor allem durch drei Elemente bestimmt ist: 1) Einengung, 2) gehemmte und so gegen die eigene Person gerichtete Aggression und 3) Selbstmordphantasien65. Eine Anwendung dieses vielfach bestätigten und inzwischen weithin anerkannten Modells auf den sophokleischen Aias erweist sich m.E. als durchaus fruchtbar 66 .
63 Es handelt sich übrigens um die klassischen Symptome der Depression; cf. A. T. Beck, Depression. Causes and Treatment (Philadelphia 1967). Er nennt: 1. alterations in temperament: sadness, apathy, solitude: 2. negative ego-perception: blame and reproach directed against oneself; 3. regressive desires: to flee, to hide, to die; 4. anorexia, insomnia, loss of desire; 5. changes in one's level of activity: abatement and agitation. 64 Stanford, 290. 65 Ringel, 45fF. 66 Cf. auch Aigner, 66.
51
Die Wahl des Todes bei Sophokles
Ringel
unterscheidet
mehrere
einander
ergänzende
Aspekte
der
Einengung. Da ist zunächst einmal die situative Einengung (1), die nach seinen Worten gekennzeichnet ist „durch einen Verlust der Balance zwischen Lebensumständen und dem Gefühl der eigenen Möglichkeiten"; so „herrscht der Eindruck von allen Seiten behindert und umzingelt zu sein. ... Das Gefühl, nichts ändern zu können, wird zum Eindruck der Ausweglosigkeit, aus dem Pluralismus der Möglichkeiten
wird die Einseitigkeit
des
Zwanges" 67 . Das ist eine Beschreibung, die zweifellos auch auf den Zustand des sophokleischen Aias zutrifft, der infolge der in seinen Augen betrügerischen Entscheidung über die Waffen Achills das ohnehin labile psychische Gleichgewicht 68 verliert und seiner ohnmächtigen Wut in einem heimtückischen Racheakt Luft macht, dessen klägliches Scheitern ihn endgültig entehrt und ihm keinen anderen Ausweg mehr läßt als den Tod. Aias selber formuliert das Gefühl der situativen Einengung zunächst in den Versen 403f.: πον τις οΰν φύγη; ποΐ μολών μενώ; und begründet die Auswegslosigkeit gleich darauf ausführlich: der Heimweg nach Salamis (460ff.) ist ihm ebenso verschlossen wie ein einsamer Heldentod vor den Mauern Trojas (466ff.). Zu Hause kann er ohne die Symbole seiner Ehre dem Vater nicht unter die Augen treten; vor Troja kann er die verlorene Ehre nicht zurückerkämpfen, ohne zugleich den verhaßten 67
Ringel, 45f. 1087f.; Winnington-Ingram, Sophocles, 41; zur Frage des Betrugs bei der δπλων κρίσις: Aias 98, (100), 445f., und Teukros, 1135-1137, behaupten Betrug der Atriden (cf. z.B. J. C. Opstelten, Sophocles and Greek Pessimism (Amsterdam 1952), 51; G. Grossmann, „Das Lachen des Aias", in MH 25 (1968), 65-85, 85; Kamerbeek, 6); Menelaos, 1136, und Agamemnon, 1238ff., verweisen auf die Entscheidung eines Richterkollegiums; richtig (d.h. es bleibt offen) Kirkwood, 72; K. v. Fritz, „Haimons Liebe zu Antigone" (s. o. Anm. 47), 248; Winnington-Ingram, Sophocles, 41. Odysseus' Worte (1340f.), wenn nicht Uberhaupt nur aus der Situation heraus zu verstehen, beweisen nur, daß es ein Fehlurteil war, nicht, daß es sich um Betrug handelte. 68
52
Die Wahl des Todes bei Sophokles
Atriden zu nutzen; d.h. er kann nicht gehen, und er kann auch nicht bleiben (403f.). Reduziert auf die Enge seines Zeltes, umringt von hohnlachenden Feinden,
gleichsam
eingekreist
von
den
blutigen
Zeugen
seiner
Wahnsinnstat, fühlt er sich eingeschlossen von einer gewaltigen Woge, die hochaufgetürmt von einer mörderischen Sturmbö im Kreise um ihn herumrast: ΐδεσθέ μ' οίον άρτι κΰμα φοινίας υπό ζάλης άμφίδρομον κυκλεΐται. (351-53) 69 Ein suggestives Bild für die Ausweglosigkeit der Situation und zugleich für die ungeheure Dynamik der äußeren und inneren Zwänge (Ringel spricht in diesem Zusammenhang von „dynamischer Einengung" 70 ), die zum Selbstmordwunsch führen, der in der Tat gleich darauf zum ersten Mal aus Aias herausbricht: άλλά με συνδάιξον (361) Besonders erhellend für das Verständnis des sophokleischen Aias ist zweitens der Aspekt der präsuizidalen Einengung, die Ringel als „Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen" bezeichnet. „Man kann sie sich", so Ringel, „als totale Isolierung ... aber auch als Entwertung vorhandener Beziehungen
... vorstellen" 71 . Soziale Isoliertheit gilt der modernen
Forschung als der „am weitesten verbreitete Einzelfaktor unter den Ursachen von Selbstmordhandlungen"72. Aias' äußere und innere Isolation ist vollständig. Schon nach der δπλων κρίσις hat er sich aus der Gemeinschaft der Kämpfenden zurückgezogen und nach den Worten des Chores lange Zeit wie erstarrt im Zelt gehockt
Zu dieser Auffassung des Textes cf. Kamerbeek, ad loc. Ringel, 48-53, bes. 52-53. 71 Ringel, 53f. 72 E. Stengel, „Forschungsergebnisse über das Selbstmordproblem", in Zwingmann, 123-130,125. 70
Die Wahl des Todes bei Sophokles
53
(193ff.) 73 . Das groteske Gemetzel unter den Herden hat Aias zum Gespött des ganzen Heeres gemacht, und da er sich an dem gemeinsamen Beutebesitz vergangen hat, hat er auch die letzten Sympathien eingebüßt 74 . Μισεί δέ μ ' 'Ελλήνων στρατός lautet sein eigenes Urteil (458), das im Verlaufe des Stücks mehrfach bestätigt wird 75 , und im Kreise der Großen zeigt allein Kalchas Mitgefühl mit Teukros und Sorge um Aias (749ff.). Aias ist zwar umgeben von treuen Freunden und von Tekmessa. „But it becomes clear", stellt Winnington-Ingram zu Recht fest, „that Ajax has hardly
more
contact
with
his
immediate
than
with
his
remoter
76
environment" . Szene fur Szene offenbart sich immer deutlicher, daß er, gefangen in dem brennenden Gefühl der Schande und in seinem selbstzerstörerischen Haß, unfähig ist zur Kommunikation. Das ist im Anschluß an Reinhardt 77 so oft konstatiert und so sorgfaltig analysiert worden, daß ich mich kurz fassen kann. Aias, dem es, wie Sophokles andeutet 78 , schon immer schwergefallen ist, auf andere zu hören, hat diese Fähigkeit nun gänzlich eingebüßt 79 . Aias' eigenen Äußerungen, seien sie Ausdruck seiner seelischen Qualen, Begründungen seiner Entscheidung zum Selbstmord oder Abschied von der Welt, sind auch dort, wo er nicht allein ist, ja selbst da, wo sie scheinbar dialogisch sind, immer zutiefst monologisch, ich-bezogen 80 .
73
Die Entscheidung liegt einige Zeit zurück (193ff.; 925fF.); wie lange, bleibt unklar. 74 E. Schlesinger, „Erhaltung im Untergang. Sophokles' Aias als 'pathetische' Tragödie", in Poetica 3 (1970), 359-87, 372. 75 148ff.; 196ff.; 719ff. 76 Winnington-Ingram, Sophocles, 24. 77 Reinhardt, Sophokles, 10; 2Iff. 78 Cf. Menelaos' Worte 1069f.; 1087f. 79 Knox, Heroic Temper, 18; „The Ajax ...", 13 mit Anm. 78. 80 Sophokles hat dafür die schöne Wendung: φρενός οϊοβώτας (615f.) geprägt; vgl. P. Valery (zit. nach Ringel, 55): „Für den Selbstmörder bedeutet jeder andere nur Abwesenheit".
54
Die Wahl des Todes bei Sophokles
Es ist wiederholt betont worden, daß die existentielle Vereinsamung des Aias auf dem evozierten Hintergrund der Homilie besonders deutlich in Erscheinung tritt 81 . Bei Homer finden Hektar und Andromache im Augenblick des vom Tode überschatteten Abschieds am Skäischen Tor für einen kostbaren Moment in der gemeinsamen Liebe zu Astyanax zueinander 82 ; bei Sophokles schafft auch das Kind keine emotionale Verbindung mehr zwischen Aias und Tekmessa 83 . Die „Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen" ist in der Tat total, und auch im Göttlichen kann (und will) Aias, der göttliche Hilfe in der Vergangenheit im Vertrauen auf die eigene Kraft hybride ignoriert hat (762ff.) und sich von Athene grausam in die Irre geführt und verhöhnt sieht (89ff.; 401-403; 450-453), im Augenblick der suizidalen Krise keinen Halt finden84. Der megalomanische Einzelgänger, sozial isoliert, zutiefst beziehungslos und einsam, auch im Kreise derer, die ihn lieben, und von den Göttern verlassen: ist das wirklich nicht mehr als die typische existentielle Einsamkeit und soziale Isolation, die seit Reinhardt als das entscheidende Signum des sophokleischen Helden gilt? 85 Ich möchte diese Frage, die kürzlich auch von Winnington-Ingram
gestellt
worden
ist 86 ,
mit
einem
klaren
Nein
beantworten. Bei aller Ähnlichkeit ist Aias doch anders als Oidipus und Elektra, Antigone und Deianeira. Ein Blick auf einen letzten Aspekt „präsuizidaler Einengung", den ich in Erweiterung des Ringeischen Modells
81
Reinhardt, Sophokles, 29f.; W. Schadewaldt, „Hektor und Andromache", in Die Antike 11 (1935), jetzt in Von Homers Welt und Werk (Stuttgart 31959), 207-33, 229-32; G. Perrotta, Sofocle (Messina 1935), 144-47; E. Schlesinger, in Poetica 3 (1970), 374; Winnington-Ingram, Sophocles, 16. 82 W. Schadewaldt, ibid.; B. Seidensticker, Palintonos Harmonia. Studien zu komischen Elementen in der griechischen Tragödie, Hypomnemata 72 (Göttingen 1982), 34; 50-53. 83 Nur ein Ansatz dazu in v. 559. 84 398-400; 589f; cf. Winnington-Ingram, Sophocles, 18. 85 Reinhardt, Sophokles, 10. 86 Winnington-Ingram, Sophocles, 15ff.
Die Wahl des Todes bei Sophokles
55
als Einengung der Gefühlswelt und des Wertsystems bezeichnen möchte, kann das verdeutlichen. Ringel spricht lediglich von der „Einengung der Wertwelt"87 und versteht darunter in erster Linie die Verringerung des Selbstwertgefühls (a) und eine „mangelnde Beziehung zu Werten" (b). Reduzierung oder Verlust des Selbstwertgefühls (a), das der modernen Selbstmordforschung ganz allgemein als zentraler Faktor des suizidalen Syndroms gilt, ist im Aias nur in Ansätzen zu beobachten, z.B. in Aias' Überzeugung, dem berühmten Vater nicht mehr unter die Augen treten zu können (434ff.; 462fF.), oder wenn er gegen Ende des Kommos ausruft, daß er nicht mehr wert (άξιος) sei, Hilfe bei den Göttern oder bei den Menschen zu suchen (398-400). Es ist bezeichnend, daß beide Äußerungen als Begründung des Todeswunsches dienen88. Insgesamt jedoch ist Aias eher durch ein extrem hohes Selbstwertgefühl gekennzeichnet, und gewiß begeht er, wie wir noch sehen werden, nicht Selbstmord, weil er es verloren hat, sondern weil er es nur durch den Tod uneingeschränkt bewahren zu können glaubt. Als „mangelnde Beziehung zu Werten" (b) läßt sich die von WinningtonIngram beobachtete Tatsache auffassen, daß er in der Fixierung auf sein persönliches Prestige taub ist für Tekmessas mahnende Beschwörung von Werten, die eigentlich zu dem von ihm erstrebten Heldenideal gehören; Winnington-Ingram nennt: „respect for aged parents, pity for the weak, and above all the claims of gratitude for services done"89. Wichtiger jedoch als Aias' „mangelnde Beziehung zu Werten" scheint mir die ihr zugrundeliegende „Einengung seiner Gefühlswelt" zu sein. Aias fühlt sich vom Haß der ganzen Welt verfolgt. και νυν τί χρή δραν; δστις εμφανώς θεοίς έχθαίρομαι, μισεί δέ μ' 'Ελλήνων στρατός, 87
Ringel, 56ff. (Einengung der Gefühle erscheint bei ihm unter „situativer Einengung"). 88 Vgl. auch 361 und 364ff. 89 Winnington-Ingram, Sophocles, 19 (29); vgl. bereits Kirkwood, 105f.
56
Die Wahl des Todes bei Sophokles
έχθει δε Τροία πάσα και πεδία τάδε. (457-59) Doch dieses Gefühl ist nicht zuletzt geboren aus seinem
eigenen
verzehrenden Haß, der an Verfolgungswahn erinnernde Züge trägt. Dieser manische Haß trifft nicht nur die eigentlichen Gegner, Odysseus und die Atriden, sondern schließt am Ende das ganze Heer ein (843f.), er trifft 'Schuldige' und 'Unschuldige' in gleicher Weise, und er richtet sich sogar gegen Hektar und sein Schwert 90 . Haß beherrscht Aias von seinen ersten Klagen bis zum Selbstmord; wo er nicht offen zu Tage tritt (z.B. in der Trugrede), ist seine zerstörerische Kraft unter der ruhigen Oberfläche spürbar 91 . Haß macht ihn hart gegen die Gefühle anderer und läßt ihm selbst nur wenig Raum für andere Gefühle. Diese Einengung der Gefühls- und Wertwelt ist es vor allem, durch die sich Aias von anderen sophokleischen Helden unterscheidet. Das Großartige an der sophokleischen Gestaltung dieser Einengung ist, daß es ihm gelingt, nicht nur das Gefühl der Ausweglosigkeit, sondern auch das Gefühl zu vermitteln, daß es sich um einen wirklichen Prozeß der Einengung handelt, d.h. um einen Verlust von Möglichkeiten unter dem Druck mächtiger äußerer und innerer Zwänge: Aias kann sich Tekmessa nicht mehr wirklich zuwenden, aber Sophokles deutet doch an, daß es einmal anders war 92 ; Aias bewahrt sich seinen wilden Haß auch im Augenblick der Selbstvernichtung, aber er fühlt doch auch, wie sehr sein Tod die Mutter treffen wird 93 ; er scheidet aus einer dunklen und verhaßten Welt, aber seine Abschiedsworte an das Licht, an Salamis und Athen, an Quellen, Flüsse und die weite Ebene vor Troja offenbaren, wie tief er in dieser Welt verwurzelt ist 9 4 90
66Iff.; 817f.; (1024ff.); Winnington-Ingram, Sophocles, 19; 44. Zu der Literatur, s. o. Anm. 30; vgl. weiter Kirkwood, 161; K. v. Fritz, „Haimons Liebe zu Antigone" (s. o. Anm. 47), 245f. 92 211f. (491, 493); 559 (Reaktion auf 520-24); 808; cf. Kirkwood, 104f.; Winnington-Ingram, Sophocles, 30f. 93 567ff.; 845ff. 94 412ff.; 854ff. (vgl. auch^ni. 806ff.); Reinhardt, Sophokles, 36f. 91
Die Wahl des Todes bei Sophokles
57
Es ist keine Frage, daß Sophokles durch diese Gestaltung seinem problematischsten Helden den Grad emotionaler Anteilnahme sichert, ohne den er nur als erschreckend und nicht auch als groß erscheinen würde. Auf die beiden anderen Elemente des präsuizidalen Syndroms, die Ringel anfuhrt, brauche ich nur hinzuweisen. „Gehemmte und so gegen die eigene Person gerichtete Aggression" ist im Falle des Aias so evident, daß sich eine detaillierte Analyse erübrigt95; „Selbstmordphantasien", d.h. Selbstmordgedanken und -wünsche, -beschwörungen und -ankündigungen finden sich bei Sophokles von Aias' Anruf der Todesfinsternis als dem strahlenden Licht (394f.) bis zu den verschlüsselten Ankündigungen der Tat in der Trugrede96. Bei der folgenden Untersuchung der Motive des Aias kann ich mich etwas kürzer fassen, da manches bereits in der ausführlichen Analyse des präsuizidalen Syndroms angesprochen oder doch angedeutet worden ist. Über den entscheidenden Grund für den Selbstmord sind sich alle Interpreten einig. Der große Aias, der größte Held nach Achilleus, betrogen, wie er meint, um den ihm zustehenden Ehrenpreis und dem Gelächter des ganzen Heeres wehrlos preisgegeben, geht, so Goethe, zugrunde „an dem Dämon verletzten Ehrgefühls"97. Aias selbst bringt am Ende des ersten Monologs, in dem er seinen Entschluß ausführlich begründet, das zentrale Motiv auf die knappe heroische Formel: άλλ' ή καλώς ζην ή καλώς τεθνηκέναν / τον ευγενή χρή (479-480). „Military virtue is everything to him, this gone he is at an end"98.
95
Cf. u. S. 59ff. Cf. bereits 361; 387ff.; 654ff.; zur Doppeldeutigkeit der Trugrede besonders Μ. Sicherl, „Die Tragik des Aias", in Hermes 98 (1970), 14-37,22-28. 97 E. Grumach, Goethe und die Antike (Berlin 1949), 263. 98 Kirkwood, 47. 96
58
Die Wahl des Todes bei Sophokles
In der sogenannten Trugrede (646ff.) wird der Sinnverlust noch radikaler erfahren. In dieser Hinsicht ist das Zentrum der Tragödie" - Trug oder nicht, Monolog oder nicht 100 - vor allem eine zweite tiefere Begründung für den Selbstmord. Selbstmordforscher weisen darauf hin, daß es in jedem Selbstmörder zu einem letzten Kampf zwischen selbsterhaltenden und selbstzerstörenden Kräften kommt 101 . Hierin liegt die tiefe psychologische Wahrheit der Trugrede. Sophokles deutet diese emotionale Dispositon, aus der die Trugrede erwächst, in den ersten Worten an (646-53). Tekmessas leidenschaftlicher Appell, die Erinnerung an Vater und Mutter und der Anblick des kleinen Sohnes, den er beim Abschied in den Armen gehalten hat, haben den scheinbar völlig unzugänglichen Aias doch erreicht. Sie haben nicht zu einer inneren Wandlung gefuhrt 102 , aber die Welt hat noch einmal Anspruch auf ihn erhoben und Aias zu einer letzten Auseinandersetzung gezwungen. So radikalisiert sich im Augenblick des Abgangs in den Tod die Frage nach der Möglichkeit weiterzuleben. Jetzt genügt eine Begründung allein aus der gegenwärtigen unerträglichen Situation nicht mehr. Jetzt lautet die Frage nicht mehr: „Wie halte ich dies aus?", sondern „Halte ich es denn überhaupt aus?". Die Antwort lautet auch jetzt: nein. Aias beschwört noch
" Die Trugrede steht seit F. G. Welcker, „Über den Aias des Sophokles", in RhM 3 (1829), 43-92; 229-264 (Kleine Schriften II, Bonn, 1845, 264-340), 229ff., im Mittelpunkt der Aias-Interpretation; zu der umfangreichen Literatur vgl. H. Friis Johansen, „Sophocles 1939-1959", in Lustrum 7 (1962), 177f.; I. Errandonea, „Les quatre monologues d' Ajax et leur signification dramatique", in LEC 26 (1958), 2140, jetzt in Sophokles, hrsg. von H. Diller, WdF 95 (Darmstadt 1967), 268-94; M. Sicherl, art. cit. (s. o. Anm. 96), 16ff.; D. A. Hester, „The Heroic Distemper. Α Study in the Ajax of Sophocles", in Prometheus 5 (1979), 241-55 (bes. 247-52). 100 Knox, „The Ajax ...", 12-14; dagegen Winnington-Ingram, Sophocles, 47f. 101 Z.B. Ringel, 14; durchaus typisch ist übrigens auch, daß der Selbstmordentschluß mehr oder minder deutlich angekündigt wird und daß die Umwelt diese Ankündigungen nicht versteht oder mißversteht (cf. Chor: 693ff.; 911 f.; Tekmessa: 807f.). 102 So z.B. Jebb, pp. XXXII ff.; Stanford, pp. XXVI; XXXIVf.; Appendix D; C. M. Bowra, Sophoclean Tragedy, 39ff.; weitere Literatur und treffende Kritik bei M. Sicherl, art. cit. (s. o. Anm. 96), 17ff.; vgl. aber jetzt wieder E. Schlesinger, art. cit. (s. o. Anm. 74), 375; und O. Taplin, op. cit. (s. o. Anm. 13), 129f.
Die Wahl des Todes bei Sophokles
59
einmal die Welt, doch nur, das hat Reinhardt gezeigt, „um in ihr das Fremde, Gegenteilige zu sehen, woran er nur teilhaben könnte, wenn er nicht mehr Aias wäre"103. Aias wird nicht wie Deianeira und lokaste, Haimon und Eurydike durch ein von außen hereinbrechendes Verhängnis vernichtet; er wird nicht von Athene zugrunde gerichtet, die ja in der nächtlichen Wahnsinnsszene nur steigert, was in ihm angelegt ist 104 ; und er tötet sich schließlich auch nicht, weil es die einzige Möglichkeit ist, dem schimpflichen Tod durch Steinigung zu entgehen105. Aias stirbt an sich selbst. Aias geht unter, weil er in die Welt, so wie sie ist bzw. so wie er sie sieht und empfindet, nicht hineinpaßt. Sein monomanisches Streben nach Ehre, sein rasender Stolz, seine Unfähigkeit, Zurücksetzungen zu ertragen und der daraus erwachsende aggressive Haß treiben ihn in den Tod. Der Haß auf die Atriden stürzt ihn ins Verderben. Der Haß auf die Atriden verbietet ihm einen anderen ehrenvollen Tod als den Selbstmord (466f.). Die menschliche Aggression spielt vor allem in der psychoanalytischen Selbstmordtheorie seit Freud, Adler und Stekel eine dominierende Rolle. Sie sieht - im Anschluß an Freud - die Wurzel des Selbstmords in der Einschränkung der Aggression nach außen und der dadurch verursachten Aggression gegen die eigene Person, und Stekel behauptete gar, niemand nehme sich das Leben, der nicht zuvor einen anderen habe töten wollen oder zumindest einem anderen den Tod gewünscht habe 106 . Diese psychoanalytischen Thesen sind in ihrem radikalen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit gewiß längst aufgegeben; der Zusammenhang zwischen FremdAggression und Selbst-Aggression ist aber unbestritten und fur den sophokleischen Aias durchaus aufschlußreich. Aias richtet die in langem Brüten aufgestaute Aggression zunächst nach außen, und erst, als dieser Weg
103
Reinhardt, Sophokles, 32f. Kirkwood, 102f.; Knox, „The Ajax 5; Stanford, pp. LIII f. 105 Knox, „The Ajax ...", 28, verweist auf 254 und 408f.; das Motiv tritt aber hinter Aias' freiem Entschluß ganz zurück. 106 W. Stekel, zitiert nach W. de Boor, art. cit. (s. o. Anm. 51), 20. 104
60
Die Wahl des Todes bei Sophokles
endgültig verstellt ist, nach innen und erscheint so (wie Haimon) geradezu als Musterbeispiel für die psychoanalytische Theorie; Stekel selbst hätte kein besseres Beispiel für die oben zitierte Behauptung anfuhren können als Aias' wilden Aufschrei (387-91): ώ Ζεΰ, προγόνων προπάτωρ, πώς αν τον αίμυλώτατον, έχθρόν αλημα, τους τε δισσάρχας όλέσσας βασνλής, τέλος θάνοιμι καυτός; Noch bei einer weiteren Begründung des Aias für seinen Selbstmord drängen sich dem heutigen Leser Theorien der modernen Psychologie auf. Aias kann die Vorstellung nicht ertragen (ουκ ... τλητόν), dem berühmten Vater ins Gesicht zu sehen (460fF.). Später entwirft Teukros ein Bild des alten Telamon, das Aias' tiefes Schamgefühl nachträglich psychologisch noch verständlicher macht (1008ff.). Der Schatten des Trojaveteranen lastet offenbar schwer auf den Söhnen. Stanford, der, soweit ich sehe, als einziger die Bedeutung der Telamon-Gestalt angemessen gewürdigt hat, vermutet gewiß nicht ohne Grund, „that Ajax's supreme sensitivity to defeat was partly due to the standard set by his father"107. Man muß kein Psychoanalytiker sein, um die Bedeutung des Vater-Sohn-Verhältnisses im Aias (wie in der Antigone) zu spüren: auch Telamon ist ein Faktor für den Selbstmord des Aias. Die Intentionen der Tat, denen ich mich nun zuwende, ergeben sich zwangsläufig aus den analysierten Selbstmordursachen. Aias selbst bestimmt das Ziel seines Selbstmordes als Bewahrung oder auch Wiedergewinnung seiner Ehre. Er will dem Vater beweisen, daß er nicht feige ist (470-72), und er will den Makel auf seiner Ehre tilgen (473ff.). Dabei ist wichtig
107
Stanford, pp. LVII-LIX. Sind wir auf diesem Hintergrund vielleicht berechtigt, in Aias' letztem Auftrag, sein Sohn müsse hart zugeritten werden, damit er so hart werde wie der Vater (548f.), eine Spiegelung seiner eigenen Erziehung zu sehen?
Die Wahl des Todes bei Sophokles
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festzuhalten, daß Aias die Wahnsinnstat nicht etwa als 'Schuld' empfindet, sondern nur als 'Befleckung' 108 . Daraus folgt m.E. zwingend, daß der Selbstmord nicht als Selbstbestrafung oder als Versuch, sich mit Athene zu versöhnen, mißverstanden werden darf 109 . Der Selbstmord ist auch kein Akt der σωφροσύνη, die Aias mögliche Art und Weise, sich in die Welt einzufügen und sich mit ihr zu versöhnen, wie Sicherl formuliert 110 . Aias versöhnt sich nicht mit der Welt, er verläßt sie; er ehrt nicht die Götter, er weicht ihnen 111 . In dieser Hinsicht gehört sein Selbstmord in die Kategorie der Fluchtselbstmorde. Aias will das Hohngelächter seiner Feinde nicht mehr hören 112 , Athenes Zorn entkommen, die Welt, die er nicht akzeptieren kann, hinter sich lassen. Daneben aber trägt der Selbstmord des Aias auch deutlich die Züge des zu allen Zeiten und in vielen Kulturen weitverbreiteten Racheselbstmords, der auch den Griechen nicht unbekannt war 113 . Moores Formulierung, daß Aias sich töte, „to embarrass the Atridae" 114 , findet zwar keine Basis im Text; und auch der uns allen aus Kindertagen vertraute Gedanke: „sollen sie doch sehen, wie sie ohne mich fertig werden", klingt allenfalls leise an 115 . Unüberhörbar dagegen ist Aias' Anrufung der Erinyen unmittelbar vor dem Selbstmord, die er als Zeugen der Tat (άεν όρώσαι), als Helferinnen (αρωγοί) und als Rächerinnen (ταχεΐαι ποίνιμοί τε) beschwört, seinen Tod an den Atriden, ja, am ganzen Heer zu rächen (835-44). Angesichts dieser
108 Vgl. K. v. Fritz, „Haimons Liebe zu Antigone", 251; Kamerbeek, 10; Stanford, p. XXXIf.; Knox, „The Ajax ...", 5 mit Anm. 27. 109 So Jebb, p. XXXIV; p. XXXVIII (dagegen Kamerbeek, 7) und zuletzt M. Sicherl, art. cit. (s. o. Anm. 96), 35f. 110 M. Sicherl, ibid. (29, 30 und öfter). 111 656 (589f.). 112 367; 382; 454 (955ff.; 961ff.; 988f.; 1042f.); dazu G. Grossmann, „Das Lachen des Aias" (s. o. Anm. 68), 81-83. 113 M. Delcourt, „Le suicide par vengeance dans la Grece ancienne», in RHR 119 (1939), 154-71. 114 J. Moore, „The dissembling-speech of Ajax", in YCIS 25 (1977), 47-66, 59. 115 466ff.; 96Iff.
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mächtigen Verse ist Kamerbeeks Kritik an der These Delcourts, es handele sich im Aias um einen Racheselbstmord, nicht angebracht116. Aias tötet sich nicht nur, um seine Ehre zu bewahren, sondern auch, wie Knox treffend feststellt, „to perpetuate his hatred"117. Die Erinyen sollen ihn an den Atriden, ja, am ganzen Heer rächen. Das ist die primitive magische Vorstellung, daß das vergossene Blut - auch das des Selbstmörders - die Rachegeister auf die Schuldigen hetzt. Zugleich jedoch ist die Behauptung des Hasses wie die Behauptung seiner Ehre auch ein Stück Selbstbehauptung, und in dieser Selbstbehauptung liegt zweifellos das Geheimnis der überwältigenden Wirkung des Selbstmörders Aias - trotz aller seiner Defekte. Aias' Größe (und seine Schwäche) liegen in seinem brennenden Stolz und in der kompromißlosen Megalomanie, mit der er sich selbst und seine Ideale verwirklichen will. Daran muß er zugrundegehen, zugleich aber beweist er auf seinem Weg in den selbstgewählten Tod die Größe, deren Verwirklichung ihm das Leben versagt. In der Einleitung zu dem Sammelband Selbstvernichtung (pp. XVIII f.) nennt Zwingmann als mögliche Selbstmordziele u.a.: „Die physische Selbstzerstörung dient der Wiederherstellung eines psychischen oder moralischen Verlustes (z.B. der Ehre) oder eines vermeintlichen Verlustes. Der Suicidant möchte vor seinen Mitmenschen oder auch vor seinem Gott 'sauber' dastehen; seine Handlung ist hier mit dem Unsterblichkeitsmythos eng verknüpft und enthält nicht selten ambivalente Komponenten, d.h. grandiose Selbsteinschätzung einerseits und ein Gefühl der Wertlosigkeit andererseits. Nicht selten ist der Suicid auch der Ausdruck eines Doppelmotivs, indem er sozusagen die 'Bezahlung' für vergangene Verfehlungen oder vermeintliche Verfehlungen und Sünden, gleichzeitig aber eine 'Heimzahlung' (Rache an den Angehörigen, der Menschheit oder dem Leben
116
Kamerbeek, 12: „It is possible that in the original myth this motif [sc. Rache] was central, but in the tragedy of Sophocles this is certainly not the case." 117 Knox, „The Ajax...",28.
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selbst) für angetanes Unrecht oder ein Unrecht, das dem Suicidanten so erscheint, darstellt." Es ist erstaunlich, in welchem Maße die hier zusammengefaßten Ergebnisse der modernen Suizidologie auf den sophokleischen Aias zutreffen118, und der Interpret mag sich am Schluß seiner Überlegungen zum Selbstmord bei Sophokles an die bewundernden Worte erinnern, die Freud an Arthur Schnitzler schrieb: „Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objektes erworben, und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert. ... So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition - eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung - all das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe"119.
IV F 952 Radt lautet: δστις γαρ έν κακοΐσιν ίμείρει βίου ή δειλός έστνν ή δυσάλγητος φρένας. Bei Sophokles läßt sich - das ist seit Hirzel120 zu Recht immer wieder betont worden - weder direkte noch indirekte moralische121 Kritik am Selbstmord feststellen. Die Tat löst Entsetzen aus und Jammer, der Täter gilt als elend,
118
Als 'Bezahlung von Vergehen' faßt Aias seinen Selbstmord allerdings nicht
auf. 1 19
S. Freud, Briefe 1873-1939, ausgew. und hrsg. von E. L. Freud (Frankfurt 1960); die beiden Sätze stammen aus zwei verschiedenen Briefen von Freud an Schnitzler (8.5.1906 und 14.5.1922). 120 Hirzel, 21. 121 Ansätze zu religiösen Bedenken vielleicht Aj. 362, bzw. Tr. 888 (?); vgl. James (s. o. Anm. 6), 14f. (die auf Hipp. 814 undÄF 1212-1213 verweist).
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Die Wahl des Todes bei Sophokles
unglücklich, unselig (άθλιος, τάλας) 1 2 2 . Wird der Selbstmord bzw. Selbstmordwunsch wie im Aias oder in den Trachinierinnen einmal als Folge von geistiger Verwirrung 123 oder als Krankheit 124 aufgefaßt oder als „allzu rasche Tat" 125 bezeichnet, so besteht kein Zweifel, daß diese Bewertungen der Tat nicht die Ansicht des Dichters aussprechen. Die genannten Reaktionen sind nicht mehr als die hilflosen Versuche der Beteiligten, sich die Tat, deren eigentliche Ursachen sie nicht begreifen, zu erklären. Es sind die zeitlosen Antworten Außenstehender auf das verstörende Ereignis des Selbstmords. Sophokles' eigenes Urteil lautet ganz anders: Selbstmord ist nicht Folge von Wahnsinn und Krankheit; er ist auch keine impulsive Fehlhandlung. Er ist vielmehr, bei allen äußeren und inneren Zwängen, aus denen er erwächst, letztlich 'Wahl des Todes', ein freier Akt der Selbstbehauptung und der Selbstachtung. Für alle Selbstmorde bei Sophokles gilt in hohem Maße, was Baechler 126 als den tiefen Sinn jedes Selbstmordes und als Wurzel der Faszination und der Beunruhigung, die er auslöst, bezeichnet: sie sind bei allen Unterschieden der Umstände, Temperamente und Ziele immer auch Proklamation des menschlichen Rechts auf Freiheit, Glück und Würde. Im Falle des Aias und der Antigone erscheint der Selbstmord zudem als Signum heroischer Kompromißlosigkeit und Größe.
Als der euripideische Herakles sich nach seiner Wahnsinnstat töten will, hält ihn Theseus mit den tadelnden Worten zurück: εϊρηκας έπιτυχόντος άνθρώπου λόγους. (1248)
122 Aj. 902, 925 (τάλας); 905 (δύσμορος); 1170 (δύστηνος); Tr. 877 (τάλαινα); 909 (δύστηνος); Ant. 1234 (δύσμορος); 1241 (δείλαιος); 1283 (δύστηνος); 1300 (άθλια); ΟΤ1236 (δυστάλαινα); 1240 (άθλια); 1267 (τλήμων). 123 Aj. 609ff. (dazu Winnington-Ingram, Sophocles, 33-42; dort auch weitere Literatur). 124 Tr. 882 {Aj. 609ff.). 125 Aj. 982f.; vgl. auch Ant. 1250 (άμαρτάνειν). 126 Baechler, 113-117.
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Selbstmord als der leichte Ausweg des gewöhnlichen Mannes, als ein Beweis der Feigheit (1348), wie gleich darauf Herakles selber konstatiert. Das sieht in der Tat, wie J. de Romilly kürzlich vermutet hat, wie eine Antwort des Euripides auf den sophokleischen Aias aus: Selbstmord nicht als Behauptung und Bestätigung heroischer Größe, sondern als Brandmal des Alltäglichen und als Zeichen der Schwäche127. Ganz abgesehen von der Frage, ob die Position, die Theseus und Herakles vertreten, wirklich für den ganzen Euripides gilt, wie J. de Romilly wohl zu Unrecht meint128, und unabhängig von der Frage, ob es sich wirklich um eine radikal neue Position handelt oder ob sich ein Ansatz fur diese Konzeption des Heroischen nicht vielleicht schon in dem homerischen Odysseus (oder auch in Achilleus) zeigt129: am Ende des 5. Jahrhunderts stehen sich in den heroischen Gestalten des sophokleischen Aias und des euripideischen Herakles die beiden Positionen gegenüber, die die Diskussion um die moralische Berechtigung des Selbstmords bis auf den heutigen Tag bestimmen.
(Am Ort der Erstpublikation folgt eine Diskussion, die hier nicht wieder abgedruckt worden ist.)
127 Ein Vergleich der beiden Stücke (Soph. Aj. und Eur. HF) unter diesem Aspekt vor J. de Romilly bereits bei C. James (s. o. Anm. 6). 128 De Romilly, 8; die uneinheitliche Haltung des Euripides zum Selbstmord muß einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. 129 S. o. S. 30.
Beobachtungen zur sophokleischen Kunst der Charakterzeichnung In den vergangenen beiden Jahrzehnten sind die Fragen nach der Bedeutung des Charakters und nach Umfang und Art der Charakterisierung der dramatis personae in der griechischen Tragödie lebhaft diskutiert worden. 1 Die vor allem im englischen Sprachraum geführte Debatte bildet den theoretischen Hintergrund meiner Überlegungen, kann in diesem Rahmen jedoch nicht detailliert vorgestellt werden. Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, meine Auffassung zu den drei zentralen Punkten der Diskussion, eher thesenartig als ausfuhrlich begründend, vorauszuschicken. Es ist erstens
zweifellos korrekt, daß Aristoteles nicht müde wird, die
Priorität der Handlung (πράξις) vor den Charakteren (ήθη) mit immer neuen
1
P. Easterling, Presentation of Character in Aeschylus, G&R 20, 1973, 3-19; dies., Character in Sophocles, G&R 24, 1977, 121-129; dies., Constructing Character in Greek Tragedy, in: Pelling (s. u.) 83-99; Chr. Gill, The Question of Character and Personality in Greek Tragedy, Poetics Today 7.2, 1986, 251-273; S. Goldhill, Character and Action, Representation and Reading: Greek Tragedy and its Critics, in: Pelling (s. u.) 100-127; J. Gould, Dramatic Character and "Human Intellegibility" in Greek Tragedy, PCPhS 24, 1978, 43-67; S. Halliwell, Traditional Greek Concepts of Character, in: Pelling (s. u.) 32-59; B.M.W. Knox, The Heroic Temper, Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley-Los Angeles 1964; H. Lloyd-Jones, Tycho von Wilamowitz-Moellendorff on the Dramatic Technique of Sophocles, CQ 22, 1972, 214-228; C.B.R. Pelling (Hg.), Characterization and Individuality in Greek Literature, Oxford 1990; die deutschsprachige Literatur hat sich in den letzten Jahren vor allem mit der Frage nach dem schuldhaften Anteil der sophokleischen Charaktere an ihrem Schicksal beschäftigt; vgl. bes. A. Schmitt, Bemerkungen zu Charakter und Schicksal der tragischen Hauptpersonen in der „Antigone", A&A 34, 1988, 1-16; ders., Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im sophokleischen „König Oidipus", RhM 131, 1988, 8-30; E. Lefevre, WJbb 13, 1987, 37-58 (zum OT); WJbb 16, 1990, 43-62 (zu Trach.)\ WJbb 17, 1991, 91-117 (zum Aias); WJbb 18, 1992, 89-123 (zur Ant.); B. Manuwald, Oidipus und Adrastos. Bemerkungen zur neueren Diskussion um die Schuldfrage in Sophokles' „König Oidipus", RhM 135, 1992, 1-43. Die Hinweise auf die Sekundärliteratur zur Sophokleischen Tragödie sind auf ein Minimum beschränkt.
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Argumenten zu begründen. Die Handlung ist ihm άρχή (Fundament), τέλος (Ziel) und ψυχή (innere Form) der Tragödie.2 Aber einerseits hat sich allmählich, denke ich, nicht zuletzt dank eines wichtigen Aufsatzes von Hellmut Flashar,3 die Erkenntnis durchgesetzt, daß Aristoteles nicht nur zentrale Aspekte der klassischen Tragödie völlig ignoriert,4 sondern daß seine Ansichten über die Aspekte, die er diskutiert, nicht etwa ohne kritische Überprüfung als Schlüssel für die Interpretation der Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides verwendet werden dürfen, und andererseits läßt der Vergleich des Verhältnisses von Handlung und Charakteren mit den beiden wesentlichen Elementen der Malerei, der Umrißzeichnung der dargestellten Objekte und der Farbgebung (1450a39b2), keinen Zweifel daran, daß Aristoteles der Ausmalung der Handlung durch farbige Charaktere eine nicht unerhebliche Bedeutung beigemessen hat. Denn so wenig er sich, wie seine Formulierung zeigt, eine abstrakte Malerei vorstellen konnte, so selbstverständlich muß ihm die wichtige komplementäre Funktion der Farbe auch in der griechischen Malerei und die künstlerische Überlegenheit eines farbigen Bildes über die bloße graphische Zeichnung gewesen sein.5 Die Bedeutung der Charakterisierung der Personen als eines integralen Bestandteiles der Mimesis einer dramatischen Handlung ergibt sich im übrigen für Aristoteles ganz zwangsläufig schon aus seinem Begriff der πράξις als eines zielgerichteten, ethisch relevanten menschlichen Handelns. Die Träger einer bedeutungsvollen Handlung müssen als Handelnde
2
Arist. Poet. 1450a 15-b4; R. Kannicht, Handlung als Grundbegriff der aristotelischen Theorie des Dramas, Poetica 8,1976, 326-336. 3 H. Flashar, Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie, Poetica 16, 1984,1-23. 4 So spricht er z.B. mit keinem Wort von der Bedeutung göttlicher Mächte und so gut wie gar nicht von Chor und Musik. 5 Zum Verhältnis von Handlung und Charakter vgl. die abgewogenen Überlegungen von S. Halliwell, Aristotle's Poetics, London 1986, Kap. 5: Action and Character, 138-167.
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Beobachtungen zur sophokleischen Kunst der Charakterzeichnung
notwendigerweise eine bestimmte Beschaffenheit besitzen, die sich in dem, was sie tun und sagen, manifestiert und der jeweiligen Handlung ihren Charakter verleiht (1449b36-50a3). Aus dieser fur jede mimetische Kunst gültigen Prämisse deduziert Aristoteles denn auch im 6. Kapitel der Poetik die beiden nach der πράξις wichtigsten der sechs qualitativen Elemente der Tragödie: διάνοια und eben ήθος, das üblicherweise mit Charakter wiedergegeben wird.6 Der zweite Einwand der Gegner einer charakterorientierten Interpretation der griechischen Tragödie ist damit allerdings noch nicht hinreichend berücksichtigt. Sie verweisen mit Nachdruck darauf, daß der aristotelische Begriff ήθος erheblich enger sei als der moderne Charakterbegriff, fur den zumindest seit dem 19. Jahrhundert die Vorstellung einer unverwechselbaren und unwiederholbaren Besonderheit und rätselhaften Komplexität konstitutiv ist. ήθος dagegen ist die durch Erziehung und wiederholtes Handeln erworbene und stabilisierte Disposition als der konstante moralische Kern, der den jeweiligen Wünschen, Intentionen und Entscheidungen des Menschen zugrunde liegt, ήθος zielt also in der Tat nicht auf idiosynkratische Einzigartigkeit und schillernde Komplexität, ja unendliche Offenheit, sondern auf eindeutige und allgemeinverbindliche moralische Qualitäten.7 Ergibt sich aus der modernen psychologisch orientierten Konzeption von Charakter, daß jede noch so kleine und unscheinbare Geste oder Handlung und jede noch so nebensächliche Bemerkung einer realen oder fiktiven Person Rückschlüsse auf ihren Charakter erlauben, so offenbart sich für Aristoteles ήθος, wie im Leben, so auch in der Tragödie, nur dort, wo
6 A . M. Dale, Ethos und Dianoia: 'Character' and 'Thought' in Aristotle's Poetics, AUMLA 11, 1959, 3-16, wieder abgedr. in: dies., Collected Papers, Cambridge 1969, 139-155; Ε. Schütrumpf, Die Bedeutung des Wortes Ethos in der Poetik des Aristoteles, München 1970; G. F. Held, The Meaning of Ethos in the Poetics, Hermes 113, 1985, 280-93; Ε. Schütrumpf, The Meaning of Ethos in the Poetics - A Reply, Hermes 115, 1987,175-181. 7 Vgl. ζ. Β. J. Jones, On Aristotle and Greek Tragedy, London 1962, 32ff.; Goldhill (Anm. 1) 100-105; Gill (Anm. 1).
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Handlungen oder Äußerungen die moralische Qualität einer handlungsbestimmenden Entscheidung anzeigen und so der Wesenskern der handelnden Person in den Blick kommt (1450b8-10). Daraus ergibt sich für ihn zwangsläufig, daß die Charakterisierung der dramatis personae kein Selbstzweck, sondern eine Funktion der dramatischen Handlung ist; zugleich aber ergibt sich daraus auch, daß-jedenfalls in der guten Tragödie-die moralischen und, wie die Bedeutung der διάνοια zeigt, auch die intellektuellen Wurzeln der Aktionen und Reaktionen, aus denen sich das dramatische Gefuge zusammensetzt, sichtbar gemacht werden müssen. Im 9. Kapitel der Poetik erläutert Aristoteles die paradigmatische Qualität der Dichtung mit einer Formulierung, die die Interdependenz von Handlung und Charakter nachdrücklich betont. Dichtung ziele auf das Allgemeine, d.h. sie zeige, welche Art von Dingen welche Art von Personen tun oder sagen, und zwar nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit.8 Offensichtlich besteht Aristoteles darauf, daß die Personen jedenfalls soweit charakterisiert werden, daß der Betrachter begreift, daß und warum sie gerade so handeln und reden, wie es die vom Dichter konzipierte Handlung von ihnen verlangt. Es handelt sich also, selbst wenn man sich auf die aristotelische Position einmal einläßt, nur um einen graduellen, d.h. quantitativen, nicht etwa um einen grundsätzlichen, d.h. qualitativen Unterschied. Die Tatsache, daß Charaktere weniger detailliert dargestellt werden, bedeutet noch keineswegs, daß die Charakterisierung deswegen weniger bedeutsam sein muß. Dasselbe gilt für das dritte Argument bzw. die dritte große Gruppe von Argumenten gegen die Bedeutung der Charakterisierung, die vor allem Gould aus den Produktions- und Rezeptionsbedingungen der griechischen Tragödie entwickelt hat.9 Daß der moderne Interpret die vielfältigen dramaturgischen
8
Arist. Poet. 1451b8f. Gould (Anm. 1); schon vorher hat Jones (Anm. 7) 43-46, 59f., 332-335 aus der Tatsache, daß die Schauspieler Masken tragen, weitreichende Schlüsse für die Bedeutung der Charakterisierung in der griechischen Tragödie gezogen. 9
70
Beobachtungen zur sophokleischen Kunst der Charakterzeichnung
und formalen Konventionen der griechischen Tragödie, die auch den Ausdruck von Charakter in Spiel und Wort bestimmen, kennen und angemessen
in Rechnung stellen muß, um nicht falsche, weil
an
naturalistischen Formen des Dramas orientierte, Fragen an die antiken Texte zu stellen, versteht sich von selbst. Auf der anderen Seite ist es ein schwerwiegendes Mißverständnis, anzunehmen, daß die karge Ökonomie der Mittel, der hohe Grad gestischer, mimischer und sprachlicher Stilisierung oder auch der an die Oper erinnernde unrealistische Wechsel zwischen ganz verschiedenen Ausdrucksformen etwa den Verzicht der antiken Tragiker auf die innere Einheit und psychologische Wahrheit ihrer Personen signalisiere. So fuhren ζ. B. Größe des Theaters, Standardkostüm und Maske zwar zwangsläufig zu Abbreviatur, zu Abstraktion und Stilisierung. Doch die durch die Beschränkung der Mittel erzwungene Technik des signifikanten Zeichens verhindert
keineswegs
Gestaltung individueller Personen.
notwendigerweise 10
eine differenzierte
Daß Umfang, Form und Funktion der
Charakterzeichnung in der Tat nicht von äußeren Bedingungen der Produktion, sondern von den jeweiligen thematischen Intentionen der Autoren abhängig sind, beweist im übrigen schon die Tatsache, daß die unter den gleichen äußeren Bedingungen und in der gleichen literarischen Tradition arbeitenden Tragiker sich in diesem Punkt, wie schon ein oberflächlicher vergleichender Blick auf Aischylos und Sophokles zeigt, grundlegend voneinander unterscheiden. Der grundsätzliche Unterschied in der Bedeutung von Charakter und Charakterisierung zwischen der Aischyleischen und der Sophokleischen Tragödie wird bereits bei einem Blick auf die Titel der erhaltenen Tragödien
10
B. Vickers, Towards Greek Tragedy, London/New York 1973, 54, hat zu Recht die einfache Wahrheit betont, "that theatrical conventions ... do not, of themselves, define the nature of the imagined human beings represented in the drama, only the way, in which it can be represented on stage in any period, given the resources available and the concepts - the 'theatrical tradition' - which determine their availability."
Beobachtungen zur sophokleischen Kunst der Charakterzeichnung
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sichtbar.11 Sind die Aischyleischen Stücke überwiegend nach dem Chor (Hiketiden) oder nach dem behandelten mythischen oder historischen Stoff (Sieben gegen Theben, Perser) benannt und können darüber hinaus auf bedeutungsvolle Szenen (Choephoren) oder Inhalte verweisen (Hiketiden, Eumeniden), so tragen sechs der sieben Sophokleischen Tragödien den Namen des Helden, dessen Schicksal sie gestalten; und lediglich im Falle der Doppeltragödie, in der Deianeira und Herakles aneinander zugrunde gehen, scheint die Unmöglichkeit, eine der beiden Hauptgestalten als das dramatische, emotionale oder thematische Zentrum des Stücks zu betrachten, zu dem Verlegenheitstitel Trachinierinnen gefuhrt zu haben. Wir können zwar nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob die Autoren selber fur die Titel verantwortlich sind, unter denen ihre Stücke überliefert sind. Sicher jedoch ist, daß der auffällige Unterschied zwischen Aischylos und Sophokles, wer auch immer fur ihn verantwortlich ist, kein Ergebnis des Zufalls ist. Zu deutlich trägt er der fundamentalen Veränderung in der tragischen Konzeption und der ihr dienenden dramatischen Methode Rechnung.12 Aischylos gestaltet das Schicksal eines Volkes, einer Gruppe, einer Familie. Der einzelne Mensch - sei er Täter oder Opfer - ist für ihn nicht wichtig als tragisches Individuum, sondern als Teil einer weit über ihn in die Vergangenheit und Zukunft hinausreichenden Entwicklung. Seine Handlungen und Leiden interessieren Aischylos folglich als auslösende, hemmende oder fordernde Faktoren dieser größeren Entwicklung und, wenn überhaupt, dann erst in zweiter Linie als individuelle Handlungen und Leiden einer bestimmten Person. Ein zentrales Thema der Aischyleischen Tragödie ist die Analyse fundamentaler gesellschaftlicher Spannungen und Konflikte und ihre Überwindung in göttlich garantierten und institutionell gesicherten gesellschaftlichen Kompromissen. Die ideale dramatische Form für diese durch These und Antithese hindurch schließlich erreichten Synthesen ist die
11
Vgl. K n o x (Anm. 1 ) 2 .
12
Vgl. dazu und zum folgenden K n o x (Anm. 1) 1-8.
72
Beobachtungen zur sophokleischen Kunst der Charakterzeichnung
Inhaltstrilogie, die, wenn sie nicht von Aischylos erfunden worden ist, so doch zweifellos in ihm ihren Meister gefunden hat. 13 Daß Sophokles, wenn wir der Suda 14 glauben dürften, als erster die aischyleische Großform der Inhaltstrilogie aufgegeben hat und mit stofflich oder thematisch unverbundenen Stücken in den dramatischen Wettkampf gezogen ist, ist signifikant fur seine ganz anders orientierten thematischen Intentionen. Sophokles' Thema ist die tragische Konfrontation eines außergewöhnlichen Individuums mit seinem Schicksal. Er ist mit dieser Konzeption, wie Knox zu Recht betont hat, zum Erfinder des tragischen Helden und zum Begründer der klassischen abendländischen Tragödie geworden. 15 Das Einzelstück, das, wie ein Blick auf Aischylos' Perser oder Euripideische Tragödien lehrt, natürlich auch ganz anderen Zwecken dienstbar gemacht werden kann, erlaubt ihm, alles Licht auf seine einsamen Riesen und ihr im Moment der tragischen Krise sich enthüllendes Wesen zu versammeln. 16 Wie rigoros Sophokles seine Variationen der tradierten Mythen diesem Ziel unterwirft, macht ein vergleichender Blick auf die beiden Fälle deutlich, in denen wir die Gestaltung desselben Stoffes durch alle drei Tragiker miteinander vergleichen können. 13 Zu der Möglichkeit, daß bereits Phrynichos Inhaltstrilogien geschrieben hat, vgl. H. Lloyd-Jones, Problems of Early Greek Tragedy, in: Estudios sobre la tragedia Griega, Cuademos de la fundacion Pastor (hg. v. H. Lloyd-Jones u. a.), Madrid 1966, 11-33; A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 3 1977, 153; nach Aischylos sind nur noch vereinzelt Inhaltstrilogien bezeugt (Sophokles, Telephie; Philokles, Pandionis; Meietos, Oidipodie; Euripides, Trojanische Trilogie), alle vom Ende des 5. Jahrhunderts. 14 Suda Σ 815 Adler = T2 Radt; και αύτός ήρξε τοΰ δράμα προς δράμα άγωνίζεσθαι. Vgl. T.B.L. Webster, The Order of Tragedies at the Great City Dionysia, Hermathena 87,1965,2Iff. 15 Vgl. Knox (Anm. 1)1: „This dramatic method, the presentation of the tragic dilemma in the figure of a single dominating character, seems in fact to be the invention of Sophocles. It is at any rate so characteristic of his technique that we may fairly and without exaggeration call the mainstream of European tragedy since his time Sophoclean." 16 Vgl. dazu bes. die Interpretationen von Κ. Reinhardt, Sophokles, Frankfurt 3 1947.
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In der Elektro reduziert Sophokles die zentrale Aktion des behandelten Mythos, Orests Rückkehr nach Argos und den Muttermord, auf einen schmalen äußeren Rahmen und konzentriert sich im Zentrum des Stückes ganz auf das Portrait Elektras. Geht es Aischylos und auch Euripides primär um die Durchführung und Bewertung der Rache, so dient Sophokles der mythische Stoff als Hintergrund und Katalysator für die Analyse einer großen Seele. Die Tragik des Stückes entsteht nicht aus der objektiven (Aischylos) oder subjektiven (Euripides) Problematik des Muttermords, sondern erwächst aus dem seelischen Leid und der totalen Einsamkeit, die die Heldin zu zerstören drohen. 17 Im Philoktet
verwandelt Sophokles Lemnos, die Insel, auf der die
Gefährten den kranken und scheinbar nutzlosen Philoktet ausgesetzt und zehn Jahre vergessen haben, in ein wüstes unbewohntes Eiland und läßt Odysseus nicht allein nach Lemnos gehen, wie Aischylos, gibt ihm aber auch nicht den erprobten Haudegen Diomedes als Begleiter mit, wie Euripides, sondern stellt ihm Neoptolemos, den ehrgeizigen, aber feinfühligen Sohn des Achilleus an die Seite, dessen Charakter die Erfüllung der militärischen Mission gefährdet. Mit diesen ebenso einfachen wie genialen Veränderungen von Szene und Personenkonstellation verschiebt Sophokles den Schwerpunkt von dem dramatischen und politischen Problem der Wiedergewinnung des Helden, ohne den der Krieg nicht gewonnen werden kann, auf die psychologischen Aspekte der Geschichte, auf die seelischen Folgen zehnjähriger ungerechter Einsamkeit und auf das komplexe und spannungsreiche Zusammenspiel der drei so unterschiedlichen Charaktere. 18 Das tiefe Interesse des Sophokles an seinen Personen und ihrem Charakter ist in diesen beiden späten Stücken besonders eklatant. Aber auch 17
Zum Vergleich der drei Elektradramen vgl. bes. F. Solmsen, Electra and Orestes. Three Recognitions in Greek Tragedy, Meded. Nederl. Ak. Afd. Letterkunden, N.R. 30/2, 1967. 18 Zum Vergleich der Philoktetdramen des Sophokles und Euripides vgl. jetzt C. W. Müller, Patriotismus und Verweigerung. Eine Interpretation des euripideischen Philoktet, RhM 135,1992,104-134.
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bei der Betrachtung der beiden ersten erhaltenen Stücke zeigt sich schnell, mit welcher Einfuhlsamkeit in die menschliche Psyche und mit welcher Genauigkeit Sophokles das Wesen seiner Helden entwickelt. So gibt er im Äias die präzise Studie eines tief in seinem Zorn verletzten Helden, der mit unerbittlicher Hellsicht und mit bewundernswerter Konsequenz, aber auch mit erschreckender Härte gegen sich selbst und gegen andere in den Tod geht; 19 so macht er in den Trachinierinnen mit großer Einfuhlsamkeit in die weibliche Psyche deutlich, warum es zur Katastrophe kommen muß, als Herakles mit Iole nach Hause zurückkehrt. 20 Antike und moderne Kritik sind sich in diesem Punkt einig, und wir besitzen ein kostbares antikes Zeugnis, in dem die Bedeutung, die Sophokles diesem Aspekt seiner Kunst eingeräumt hat, von ihm selbst bestätigt wird. Plutarch überliefert den Ausspruch des Dichters, daß er erst in einer dritten Periode seines Schaffens zu dem Stil gefunden habe, der das Ethos der dargestellten Personen am vollendetsten zum Ausdruck bringe und deshalb der beste sei. 21 Die Formulierung legt die Annahme nahe, daß Sophokles von der nach einer langen Entwicklung erreichten Vollendung des sprachlichen Ausdrucks spricht; die Aussage hat aber darüber hinaus Gültigkeit fur seinen dramatischen Stil im allgemeinen und verweist auf das Herzstück seiner thematischen Intentionen. In der Sophokleischen Tragödie ist der Charakter des Helden wesentlicher Teil seines tragischen Dilemmas. Die Situation, in der sich sein Schicksal entscheidet, kommt zwar auch bei Sophokles von außen, doch sein Schicksal
19
Vgl. B.M.W. Knox, The Ajax of Sophocles, HSCP 65, 1961, 1-37; Β. Seidensticker, Die Wahl des Todes bei Sophokles, in: Sophocle, Entretiens 29, Vandoeuvres-Geneve 1982,105-153,125-141 (=S. 29-65 in diesem Bd.). 20 Vgl. bes. P. Easterling, Sophocles' Trachiniae, BICS 1968, 58-69. 21 Plut. De prof, in virt. 7.79B = Τ 100 Radt ώσπερ γαρ 6 Σοφοκλής έλεγε τόν Αισχύλου διαπεπαιχώς ογκον, είτα τό πικρόν και κατάτεχνον της αΰτοΰ κατασκευής, τρίτον ήδη τό της λέξεως μεταβάλλειν είδος, δπερ έστϊν ήθικώτατον καΐ βέλτιστον, οΰτως ...; vgl. dazu C. Μ. Bowra, Sophocles on his Development, AJPh 61,1940,385-401.
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erfüllt sich - oder erfüllt sich so, wie es sich erfüllt -, nur weil er so ist, wie er ist. In dem Moment jedoch, in dem die Tragödie aus dem komplexen Zusammenwirken von äußeren Umständen und dem Wesen des Helden entspringt - und nicht, oder nicht allein, aus einem göttlichen Auftrag, einem alten Fluch oder einer religiösen oder gesellschaftlichen Pflicht resultiert muß der Charakter des Helden zumindest so weit entfaltet werden, daß der Betrachter seine Tragödie und die Art und Weise, in der sie sich entwickelt und vollendet, als natürlich und zwingend verstehen kann. Die Sorgfalt und tiefe psychologische Einsicht, mit der Sophokles dieses Ziel verfolgt und erreicht hat, könnten nur in detaillierten Analysen einzelner Szenen oder ganzer Stücke demonstriert werden. Dafür ist hier nicht der nötige Platz. Ich konzentriere mich deswegen darauf, eine Reihe von besonders interessanten Einzelaspekten der sophokleischen Technik in Erinnerung zu rufen. 1. In der Vita des Sophokles preist der antike Biograph die Fähigkeit des Dichters, mit Hilfe eines Halbverses oder eines einzelnen Ausdrucks einen vollständigen Charakter zu gestalten.22 Beispiele gibt die Vita nicht. Sie lassen sich aber unschwer nachtragen: Immer wieder gelingt es Sophokles, das Ethos des Helden, den moralischen Kern seines Charakters, aus dem heraus sein Handeln erwächst und verständlich wird, auf eine knappe Formel zu bringen. Es sei nur an die pointierte Formulierung der heroischen Norm erinnert, nach der Aias lebt und stirbt: „Schön leben oder schön sterben muß der edle Mann" (479f.), oder an Antigones und Neoptolemos' Bekenntnisse zu ihrem Wesen.23
22
Vita Z. 90f. = Τ 1 Radt: Οΐδε δέ καιρόν συμμετρήσαι και πράγματα ώστε έκ μικροΰ ήμιστιχίου ή λέξεως μιας δλον ήθοποιεΐν πρόσωπον. 23 Soph. Ant. 523; Phil. 88f., 1251; cf. dazu Κ. Alt, Schicksal und Physis im Philoktetes des Sophokles, Hermes 89, 1961, 141-174; H. Diller, Über das Selbstbewußtsein der sophokleischen Personen, WS 69, 1956, 70-85; Knox (Anm. 1) 38f.
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Immer wieder läßt Sophokles in einer einzelnen Wendung, ja in einem einzelnen Wort, eine wesentliche charakterliche Eigenschaft der Figur aufleuchten. So genügt ihm im Prolog der Antigone ein parenthetischer Einschub von drei Wörtern, um gleich zu Beginn des Stücks den ausgeprägten Stolz und die trotzige Heftigkeit der Oidipus-Tochter zu exponieren, die sich von Kreon weder die Bestattung des Bruders verbieten noch Art und Zeitpunkt ihres Todes vorschreiben läßt. In ihrem Bericht von Kreons Befehl, Polyneikes nicht zu bestatten, hebt Antigone besonders hervor, daß Kreon offenbar tatsächlich geglaubt habe, sogar ihr einen solchen Befehl geben zu können: Solches hat - so sagen sie - der gute Kreon dir und mir - auch mir, sage ich - melden lassen. (3 lf.) Immer wieder schließlich ist es, wie die Vita feststellt, sogar nur ein einzelner Ausdruck, in dem das Ethos einer Figur plötzlich aufleuchtet. So wenn Aias am Beginn der sogenannten Trugrede (646ff.) die Wirkung der vorangegangenen Szene eingesteht. Tekmessas leidenschaftlicher Appell (458ff.), seine Pflichten als Mann und Vater nicht zu vergessen, ihr Hinweis auf das Leid, das ein Selbstmord über seine Eltern bringen würde, und die zarte Erinnerung an Augenblicke gemeinsamen Glücks (520-24) haben Aias, der eben noch völlig unzugänglich schien, doch erreicht. Die Welt hat noch einmal Anspruch auf ihn erhoben. Er fühlt sich zu einer letzten grundsätzlichen Auseinandersetzung gedrängt. Doch das Wort, mit dem er die Wirkung charakterisiert, ist, wie Knox 24 gezeigt hat, entlarvend. Έθηλύνθην (651): Aias, den sein monomanisches Streben nach Ehre, sein rasender Stolz, seine Unfähigkeit, Zurücksetzungen zu ertragen, und der daraus resultierende aggressive Haß in den Tod treiben, 25 kann die sich in ihm regenden weicheren Gefühle und den daraus resultierenden Appell 24 25
Knox (Anm. 19) 15. Zu Aias' Selbstmord vgl. Seidensticker (Anm. 19); dort auch weitere Literatur.
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nachzugeben nur als Gefahr sehen, zur Frau zu werden. Das Wort signalisiert so nicht nur, daß von einer tiefen inneren Wandlung nicht die Rede sein kann, sondern bestätigt im Augenblick der Entscheidung noch einmal nachdrücklich das Ethos des Helden, das seinen Kern in den Forderungen des heroischen Lebensideals hat. In der Elektro exponiert Sophokles das Ethos seiner Heldin in der Parodos (86ff.). Gleich in ihren ersten Worten bestimmt er ihre Unfähigkeit, sich mit der Ermordung des Vaters zu arrangieren, wie ihre Schwester Chrysothemis es tut. Hier ist es nicht ein einzelnes entlarvendes Verb, sondern die Wahl eines Tempus, mit dessen Hilfe Sophokles Charakter bildet (ήθοποιεΐ). Gewiß ist schon Elektras brutale Formulierung, daß Aigisth und Klytaimestra das Haupt ihres Vaters wie Holzhacker mit mörderischer Axt spalteten (979), aufschlußreich, aber erst die präsentische Form des Verbs macht die furchtbare Lebendigkeit und bedrängende Unmittelbarkeit, die die Jahre zurückliegende Tat bis zu diesem Moment für Elektra behalten hat, ganz deutlich. Mit Hilfe von Tempus und Aspekt enthüllt Sophokles die dauernde Präsenz der Tat, die Klytaimestra durch die monatliche Feier des Mords gleichsam wiederholt (227-81), und deutet zugleich auf die Stärke des Schmerzes und die Unversöhnlichkeit des Hasses, der Elektra treibt und der im Augenblick der Rache in der barbarischen Aufforderung an den Bruder, noch einmal zuzuschlagen (1415), seinen Höhepunkt erreicht.
2. Bedeutungsvoller als diese Technik der pointierten Komprimierung und des signifikanten Details, fur die sich zahlreiche weitere Beispiele anfuhren ließen, ist die sophokleische Kunst der Entfaltung des Charakters in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen dramatis personae. Da die dramatische Situation, auf die der Held reagiert, ganz wesentlich durch Aktionen und Reaktionen, Entscheidungen, Haltungen und Emotionen anderer Gestalten konstituiert wird, müssen auch deren Wesen und dessen Zusammenwirken mit dem Wesen des Helden aufgezeigt werden. Die zweite wichtige Neuerung, die Sophokles neben der Aufgabe der Trilogie
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zugeschrieben wird, hat offenbar nicht zuletzt hier ihre Wurzeln. 26 Durch die Einführung des dritten Schauspielers schafft er sich nicht nur die Möglichkeit, die dramatische Handlung reicher und beweglicher zu machen und die tragische Situation durch das Zusammenspiel
verschiedener
Charaktere farbiger und komplexer zu gestalten; die Erfindung dient ihm nicht zuletzt auch dazu, den Helden in immer neuen Begegnungen von immer neuen Seiten zu beleuchten und dabei immer neue Elemente seines Wesens aufzudecken. Dabei arbeitet Sophokles besonders gern - und besonders wirkungsvoll - mit der Technik des Kontraste: 27 Er stellt Antigone und Elektra ihren beiden Schwestern Ismene und Chrysothemis an die Seite; er verdeutlicht Oidipus' herausragende königliche Größe durch die betonte Durchschnittlichkeit Kreons; er profiliert Aias' selbstzerstörerische Megalomanie und seine völlige Unfähigkeit zum Kompromiß durch Odysseus' vorsichtige Klugheit und Demut, seine bewundernswerte heroische Kraft durch die beschämende Kleinlichkeit der Atriden. Erscheinen diese Kontraste in den früheren der erhaltenen Stücke (Aias, Trachinierinnen) noch weitgehend unabhängig voneinander in getrennten Szenen oder verschiedenen Teilen des Dramas, so entfaltet Sophokles von der Antigone an die wichtigsten Charaktere immer stärker in der direkten dialogischen Konfrontation miteinander. Die ständig wachsende Bedeutung der Stichomythie und die Schaffung immer freierer Formen des schnellen Sprecherwechsels finden hier ihre Erklärung
26
28
Vgl. Knox (Anm. 1)7. Vgl. dazu bes. T.B.L. Webster, An Introduction to Sophocles, Oxford 1936; G. Μ. Kirkwood, Α Study in Sophoclean Drama, Ithaca 1958, 99ff. 28 Vgl. W. Jens, Die Stichomythie in der frühen griechischen Tragödie, Zetemata 11, München 1955; B. Seidensticker, Die Stichomythie, in: W. Jens (Hg.), Die Bauformen der griechischen Tragödie, Poetica Beiheft 6, München 1971, 183-220, 200-209. Es zeigt sich, daß die zentralen Neuerungen der sophokleischen Tragödie die Aufgabe der Trilogie, die Einführung des dritten Schauspielers, die wachsende Dialogisierung des dramatischen Spiels (und man könnte in diesem Zusammenhang auch die starke Personalisierung und Dramatisierung der Rolle des Chores nennen) 27
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3. Ein dritter wichtiger Aspekt der Sophokleischen Kunst der Charakterzeichnung ist eng mit dieser Entwicklung verbunden. Die lebendige dramatische Wirkung seiner Hauptpersonen beruht ganz wesentlich auf der Dynamik ihrer Beziehungen und ihrer Auseinandersetzungen. Erst Sophokles entfaltet die Charaktere seiner dramatis personae, Anschluß an Karl Reinhardt gezeigt hat,
29
wie Walter Jens im
in sich dynamisch entwickelnden
Dialogen; erst bei Sophokles definieren die Personen sich und ihr Wesen in der Auseinandersetzung mit einer anderen Person; erst bei Sophokles kann sich innerhalb einer Szene die Beziehung zwischen zwei Menschen grundsätzlich wandeln. Es ist dabei für die Bedeutung, die das Ethos in der Sophokleischen Tragödie gewinnt, aufschlußreich, daß die dynamische Bewegung zwischenmenschlicher Begegnungen auch erheblichen Einfluß auf den Verlauf des Stückes nehmen kann, daß also der Charakter die dramatische Handlung bestimmt. So endet beispielsweise in der Antigone die Begegnung zwischen Kreon und Haimon (635ff.), die als freundschaftliches Gespräch zwischen Vater und Sohn beginnt, in einem bitterbösen Streit, auf dessen Höhepunkt Kreon, um den Sohn, der sich gegen ihn zu stellen wagt, zu treffen, Haimon damit droht, Antigone sofort vor seinen Augen hinrichten zu lassen (758). Die Dynamik der Auseinandersetzung führt bis zum totalen Bruch zwischen Vater und Sohn. Es ist deutlich, daß die seelische Verletzung, die Haimon in dieser Szene empfangt, den weiteren Verlauf der Ereignisse und Kreons eigenes Schicksal entscheidend mitbestimmt. Haimons späterer Angriff auf den Vater und sein daraus resultierender Selbstmord (1131-43) haben hier ihre wesentlichen Wurzeln. 30 Haimons Selbstmord aber treibt seine Mutter Eurydike in den Tod, und beider Tod vernichtet am Ende Kreon.
ihre gemeinsame Wurzel in der Intention des Dichters haben, die zentralen Gestalten seiner Dramen möglichst differenziert und lebendig zu entfalten. 29 Jens (Anm. 28). 30 Zum Selbstmord Haimons vgl. Seidensticker (Anm. 19) 122f.
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In der Elektro zwingen Elektras Schmerz und die völlige Öffnung ihres Wesens in dem Augenblick, in dem sie die Urne mit der vermeintlichen Asche des Bruders in Händen zu halten glaubt, Orest dazu, den alten Plan zu ändern und sich der Schwester zu erkennen zu geben (1098ff., 1174f.).31 Am deutlichsten aber ist der funktionale Zusammenhang zwischen Ethos und Handlung natürlich im Philoktet. In diesem Stück erscheint die gesamte dramatische Handlung als Funktion des komplexen Zusammenspiels dreier ganz verschiedener Charaktere: Philoktet, Neoptolemos, Odysseus. 4. Ein weiteres wichtiges Element, das entscheidend zur Komplexität der sophokleischen
Hauptfiguren
beiträgt,
ist
die
Kombination
ganz
verschiedener oder gar gegensätzlicher Charakterzüge. Diese 'gegenstrebige Harmonie' hat viele Interpreten irritiert. Garton 32 hat aber schon vor geraumer Zeit daran erinnert, daß der tragische Held durch „intractable ruckles and peculiarities" bestimmt ist, und Easterling insistiert im letzten ihrer drei Aufsätze zu Charakter und Charakterisierung in der griechischen Tragödie zu Recht darauf, daß das Geheimnis der Wirkung großer Gestalten, wie im Leben, so auch in der Tragödie auf einem letztlich unerklärbaren Rest ihrer Persönlichkeit beruhe. 33 Aias ist zweifellos die problematischste Figur des Sophokles. Der Held, der infolge der in seinen Augen betrügerischen Entscheidung über die Waffen Achills sein ohnehin labiles Gleichgewicht verliert und seiner Wut in einem heimtückischen Racheakt Luft macht, dessen klägliches Scheitern ihn endgültig entehrt und ihm keinen anderen Ausweg läßt als den Selbstmord, erscheint als megalomanischer Einzelgänger, der mit erschreckender Entschlossenheit und Härte gegen sich selbst und gegen andere in den Tod geht. Sophokles hat jedoch in dieses Portrait eine Reihe von positiven Zügen eingearbeitet, die das Bild des Helden komplexer machen. Aias ist unfähig
31 32 33
Zur Anagnorisis vgl. Solmsen (Anm. 17). C. Garton, Characterization in Greek Tragedy, JHS 77, 1957, 247-54, 250. Easterling, Constructing Character (Anm. 1).
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zur Kommunikation; nicht einmal der Frau, die ihn liebt, kann er sich wirklich zuwenden; aber Sophokles deutet an, daß es einmal anders war. 34 Aias tötet sich, weil er in der Welt, so wie sie ist bzw. so wie er sie sieht und empfindet, keinen Platz für sich sieht; 35 aber Sophokles legt ihm Abschiedsworte an das Licht, an Salamis und an Theben, an Quelle, Flüsse und die weite Ebene von Troja in den Mund, die zeigen, wie tief er in dieser Welt verwurzelt ist (412ff., 854ff.). In ähnlicher Weise beschränkt sich Sophokles im Falle Philoktets nicht etwa darauf, die für den zentralen dramatischen Konflikt notwendige Verhärtung
und
Verwilderung
seines
Wesens
herauszuarbeiten
und
verständlich zu machen. Er zeigt nicht nur Stolz und Verletzlichkeit, Verbitterung, Haß und trotzigen Selbstbehauptungswillen. In den ersten Gesprächen mit Neoptolemos (219-390, 628-75) läßt er daneben in dem beinahe naiven Vertrauen, mit dem Philoktet sich dem Sohne des Achill öffnet, in seiner Anteilnahme am Schicksal des Jüngeren und in seinem Schmerz über den Tod alter Waffengefährten auch positive Eigenschaften, Haltungen und Emotionen aufleuchten, die erst infolge des neuerlichen Betrugs der Griechen und der erneuten Enttäuschung aller seiner Hoffnungen endgültig verloren zu gehen drohen. Umgekehrt kann der Eindruck der Komplexität auch durch die Integration einzelner dunkler Züge in ein ansonsten überwiegend helles Bild (Oidipus und Elektra) oder durch die Verbindung scheinbar widersprüchlicher Elemente entstehen wie im Falle der Antigone. In dieser Gestalt setzt Sophokles selbstlose Liebe und verletzende Härte, selbstsichere lebensverachtende Entschlossenheit und plötzlich aufbrechende Angst vor dem Tod hart gegeneinander, ohne daß die Einheit der Gegensätze verlorengeht. 36 34
Vgl. 21 lf., 493, 495, 559 (Reaktion auf 520-24), 808; dazu Kirkwood (Anm. 27) 104f. 35 Zur Interpretation der Trugrede vgl. Reinhardt (Anm. 16) 31-37; Seidensticker (Anm. 19) 136f. (dort auch weitere Literatur). 36 Zur Antigone vgl. H. Patzer, Hauptperson und tragischer Held in Sophokles' Antigone, SB wiss. Ges. der J. W. Goethe Univ. Frankfurt, 15.2, 1978; J.-U. Schmidt,
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S. Ein fünftes Element sophokleischer Charakterzeichnung ist weitgehend unbeachtet geblieben, obwohl es, wie ich zum Abschluß meiner Überlegungen zeigen möchte, von allergrößter Bedeutung ist: Sophokles verleiht seinen Figuren vor allem dadurch Komplexität und Tiefenschärfe, daß er ihnen eine Vergangenheit gibt. Aischylos' Gestalten haben, jedenfalls in der Regel, kein Leben außerhalb des Stücks. Natürlich spielt die Vergangenheit auch in seinen Tragödien durchaus eine Rolle, aber nicht (oder nur in Ansätzen) die individuelle Vergangenheit der Personen als Element ihrer Charakterisierung. Sophokles dagegen zeigt uns nicht nur, wie sie sind und handeln, sondern auch, was sie waren und, was noch wichtiger ist, wie sie geworden sind, was sie sind. So erfahren wir beispielsweise im Aias - spät im Stück, aber noch vor dem Selbstmord des Helden
daß Aias schon beim Aufbruch in den Krieg
und später dann, beim Kampf um Troja, erneut, im hybriden Vertrauen auf die eigene Kraft, göttliche Hilfe zurückgewiesen hat (758-77). Spät im Stück verstehen wir so nicht nur die Feindschaft Athenes und Aias' Gefühl der totalen Isolierung, sondern sehen auch, daß dieser megalomanische Einzelgänger früher oder später scheitern mußte, und begreifen in der aus den erzählten Situationen der Vergangenheit sichtbar werdenden maßlosen Überheblichkeit den völligen Verlust der Selbstkontrolle nach der in seinen Augen ungerechten und betrügerischen Entscheidung über die Waffen Achills. Sophokles trägt zudem im Streit um die Bestattung des Aias nach, daß Aias sich durch seine Unfähigkeit zu militärischem Gehorsam schon früh den Zorn der Atriden zugezogen hat (1067ff.), und deutet so eine Verbindung zwischen dem Ethos des Helden und der Entscheidung, die ihn vernichtet, zumindest an.
Größe und Grenze der Antigone, Saeculum 31, 1980, 345-379; P. Riemer, Sophokles, Antigone. Götterwille und menschliche Freiheit, Abh. Mainz, geistes- u. sozialwiss. Kl. 1991. 12; E. Lefevre, Die Unfähigkeit, sich zu erkennen: Sophokles' Antigone, WJbb 18, 1992, 89-123.
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Dient die Einarbeitung der Vergangenheit im Aias dazu, die Ereignisse des Stücks bzw. seiner unmittelbaren Vorgeschichte und die Aktionen und Reaktionen des Helden verständlich zu machen, so erhellt im Oidipus Tyrannos umgekehrt das im Stück immer deutlicher zutage tretende Ethos des Helden nicht nur Verlauf und Ende der dramatischen Handlung, sondern zugleich die tragische Vergangenheit, die ihn nun einholt und vernichtet.37 Die bedingungslose Suche nach der Wahrheit und die Tendenz zu allzu schnellen Schlüssen, die die Suche nach dem Mörder des Laios offenbart, sind auch verantwortlich für den Aufbruch des Oidipus von Korinth nach Delphi und die leichte Erregbarkeit, die in den Begegnungen mit Kreon und Teiresias zutage tritt, erklärt nachträglich auch das Verhalten des Helden beim schicksalhaften Zusammenstoß mit dem Vater am phokischen Dreiweg. Mag die Blickrichtung im Aias und im Oidipus Tyrannos auch entgegengesetzt sein - im Aias von der Vergangenheit auf die Gegenwart, im Oidipus von der Gegenwart auf die Vergangenheit - so verbinden sich doch in beiden Stücken in gleicher Weise die in Vergangenheit und Gegenwart sichtbar werdenden Charakterzüge des Helden zu einem einheitlichen komplexen Ganzen. In den beiden Stücken, in denen der differenzierten Entfaltung des Wesens der Helden eine solche Bedeutung zukommt, daß man sie durchaus als ein, wenn nicht das zentrale Thema ansehen kann, d.h. in der Elektro und im Philoktet, spielt die Vergangenheit eine ganz besonders große Rolle. Dabei ist die ungewöhnlich große Zahl der in die ersten Szenen des Stücks eingearbeiteten realistischen Details des jämmerlichen Lebens, das Philoktet allein und krank zehn Jahre lang auf Lemnos hat fuhren müssen, ebensowenig Selbstzweck wie die präzise und detaillierte Exposition der langen einsamen Jahre der Klagen, des Hasses und der wachsenden Ver-
37 Vgl. A. Schmitt, Oidipus (Anm. 1), der allerdings zu weit geht, wenn er nicht nur die Art und Weise, in der Oidipus' Schicksal sich verwirklicht, sondern auch sein tragisches Schicksal als solches als von seinem Charakter bedingt verstehen will; vgl. dazu auch Manuwald (Anm. 1).
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zweiflung, die Elektra nun schon zusammengesperrt mit den gehaßten Mördern des geliebten Vaters und der so ganz anders gearteten Schwester auf den sie immer wieder enttäuschenden Rächer wartet. Die so sorgfältig evozierte Vergangenheit ist in beiden Stücken lebendiger Teil der Gegenwart. Die Vergangenheit ist es, die erklärt, warum die Helden in dem entscheidenden Konflikt, den die Tragödie präsentiert, so denken und fühlen, so handeln und reagieren, wie sie es tun. Aus diesem Grund erinnert Sophokles den Zuschauer im Philoktet an den zehn Jahre zurückliegenden Augenblick, in dem Philoktet am Strand von Lemnos erwacht und realisieren muß, daß seine Gefährten ihn auf der unbewohnten Insel ausgesetzt haben (254-82); aus diesem Grund läßt Sophokles keine Gelegenheit aus, die körperlichen und psychischen Leiden des Helden zu betonen; er berichtet von den täglichen Sorgen und Mühen, sich am Leben zu erhalten; er beschreibt und zeigt die unerträglichen Schmerzen, die die fortschreitende Krankheit verursacht, und er läßt vor allem die seelischen Nöte der zehnjährigen totalen Isolation lebendig und bedrängend vor uns entstehen: die Einsamkeit und Sehnsucht nach menschlicher Kommunikation und nach der geliebten griechischen Sprache (220-35), die Angst um den alten Vater und die Furcht, die Heimat nicht mehr wiederzusehen (458-99), die Verbitterung über die schändliche und gottlose Aussetzung und den Haß auf die dafür Verantwortlichen (254-82), sowie schließlich die wiederholten Enttäuschungen durch die seltenen Besucher (305-11) und die von all diesem genährten Zweifel an der Gerechtigkeit der Welt (446-52). Ohne diesen Blick in die Vergangenheit könnten wir die Tiefe des tragischen Konflikts, in den Philoktet am Ende des Stücks gestürzt wird, nicht verstehen. Ohne ihn würde die von Neoptolemos und Chor kritisierte Verhärtung und Verwilderung des Mannes (1095-1100), 1314-23, 1387), der so lange wie ein wildes Tier allein, ohne Menschen, ohne Freunde und Polis hat leben müssen, nicht verständlich. Nur vor diesem Hintergrund wird Philoktets Unfähigkeit, seine physische Isolation zu
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durchbrechen und sich der menschlichen Gemeinschaft wieder zu öffnen, zwingend und so als tragisch begreifbar. 38 Das gilt ganz analog auch fur die Elektro. Auch hier zeigt uns Sophokles durch die ständige Evozierung der Vergangenheit, wie Elektra geworden ist, was sie ist. Auch hier könnten wir ohne diesen tiefen Einblick in die Genese ihres Wesens weder ihr jetziges Verhalten verstehen noch das Ausmaß der Leiden ermessen, in das Orest sie durch seine Entscheidung, die Schwester nicht in seine Intrige einzuweihen, stürzen muß, noch die Wildheit begreifen, mit der sie auf dem Höhepunkt des Stücks die Tat des Bruders zu ihrer eigenen macht. Auch in der Antigone und in den Trachinierinnen
instrumentalisiert
Sophokles in ähnlicher Weise die Bedeutung der Vergangenheit für das Wesen der Heldinnen und für ihre Reaktion auf die tragische Situation, mit der sie plötzlich konfrontiert sind. Antigones Entschluß, sich gegen Kreon zu stellen, den Bruder zu begraben, hat eine Reihe von Wurzeln. Neben der Forderung der ungeschriebenen Gesetze, auf die sich Antigone beruft (45059), und ihrer Liebe zu Polyneikes, die eher indirekt, aber deutlich zum Ausdruck kommt (ζ. B. 73, 80f.), deutet Sophokles schon in den ersten Versen des Stücks und dann immer wieder an, daß ihr Ethos stark von der
38
In ganz ähnlicher Weise wird im Oidipus auf Kolonos Oidipus' unüberwindbare Verhärtung gegenüber Polyneikes (1154ff., 138ff.) erst vor dem Hintergrund verständlich, daß dieser mitverantwortlich ist fur die im Stück immer wieder betonte späte Vertreibung aus Theben (425ff., 591f.!, 765-79, 1173ff., 1354ff.). Es ist jedoch auffällig, daß die Beschwörung der Vergangenheit im OK nicht dieselbe Plastizität und Eindringlichkeit gewinnt wie in Elektra und Philoktet. Das gilt sowohl für die Beschreibung des langen elenden Bettlerlebens, das Oidipus in der Fremde führen mußte (1-8, 101-105, 151f., 165, 337ff„ 437-49, 740-52, 804f., 125466, 1355-69), wie für Vatermord und Inzest, die zwar immer wieder in Erinnerung gerufen werden (203ff., 510ff., 944-50, 960-99, 1195-1200), deren Wirkung auf den Charakter des Oidipus Sophokles aber allenfalls andeutet. Zur Verbindung von OT und OK und zur Ähnlichkeit des Charakters des Oidipus in den beiden zeitlich weit voneinander getrennten Stücken cf. B. Seidensticker, Beziehungen zwischen den beiden Oidipus-Dramen des Sophokles, Hermes 100, 1972, 255-272 (= S. 1-28 in diesem Bd.).
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düsteren Vergangenheit der Labdakiden und dem Schmerz über das schändliche Ende der Eltern geprägt ist und daß ihre Entscheidung für den Tod (460-64, 555) auch von dem Gefühl, unter dem Fluch des Hauses zu stehen, und von dem Gedanken, ja dem Wunsch bestimmt ist, den geliebten Bruder im Hades wiederzusehen und durch ihre Liebestat die verfluchte Familie endlich und endgültig zu versöhnen. 39 Fällt die Vergangenheit in der Antigone nur wie ein dunkler Schatten über die Heldin, so entfaltet Sophokles in den Trachinierinnen die Vergangenheit Deianeiras ganz sorgfältig. Das frühe Trauma der Werbung des Flußgottes Acheloos (6-25, 303-30), die Unsicherheit eines Lebens im Exil (38-40), die langen Jahre der Ängste und Sorgen um den von einem Abenteuer zum anderen hastenden Herakles (26-37, 49-51, 103-11, 165-77, 650-54) und die Hoffnung, daß er nach Vollendung seiner letzten Heldentat für immer bei ihr bleiben und ein glückliches Leben fuhren werde (141-74), stehen zwar nicht in direktem ursächlichen Zusammenhang mit ihrer tragischen Fehlentscheidung; aber doch werden vor dem Hintergrund dieser Vergangenheit der Mangel an Selbstsicherheit und die Verzweiflung verständlich, die die alternde Frau, die sich der jungen Rivalin nicht mehr gewachsen fühlt (53149), zu dem verhängnisvollen Versuch treibt, den geliebten Mann durch einen Liebeszauber zurückzugewinnen (550ff.).
Die Differenziertheit und dynamische Lebendigkeit der Entfaltung des Charakters in dialogischer Auseinandersetzung mit anderen Charakteren, die Genauigkeit der signifikanten Details, die überraschende und irritierende Kombination unterschiedlicher Eigenschaften, Haltungen und Gefühle, vor allem aber die Integration der Vergangenheit, alle diese Elemente tragen auf ihre Weise zur Komplexität und unverwechselbaren Individualität der sophokleischen Helden bei. Die sophokleische Kunst der Charakterzeichnung unterscheidet sich also nicht grundlegend von der moderner Dramatiker. Die 39
Vgl. R. P. Winnington-Ingram, Sophocles. An Interpretation, Cambridge 1980, 128-141.
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Differenz ist eher quantitativ. Sophokles arbeitet ökonomischer; er verzichtet auf die Fülle idiosynkratischer Details, mit der viele seiner modernen Kollegen ihre Charaktere auszustatten pflegen. Lebendigkeit, psychologische Wahrheit und Komplexität, die er mit seinen sparsamen Mitteln erreicht, sind dennoch beeindruckend.
Euripides, Medea 1056-80, an Interpolation?1 Euripides' Medea is the story of a woman who, after having sacrificed everything for the man she loves, is betrayed by him. It is the tragedy of a woman who is too proud to bear this outrage, too intelligent not to find the most effective revenge, and too strong-willed not to carry through this revenge against enemies and friends - and against herself. Medea is not a tragic figure amidst the storms of her still aimless emotions at the beginning
1
The most important discussions of the problem are: Th. Bergk, Griechische Literaturgeschichte (Leipzig 1884) III, 512 η. 140; Ε. Bethe, Medeaprobleme (Berichte der Sachs. Ges. der Wiss. 70, Leipzig 1918) 8-16; E. Christmann, Bemerkungen zum Text der Medea des Euripides (Diss. Heidelberg 1962); A. Dihle, „Euripides' Medea und ihre Schwestern im europäischen Drama", A&A 22 (1976) 175-84, Euripides' Medea (Sitzungsber. der Heidelb. Akad., Ph.-hist. Kl. 1977, 5), and „Zum Streit um die 'Medea' des Euripides", in Catalepton: Festschrift fiir Bernhard Wyss (Basel 1985) 19-30; H. Diller, „θυμός δέ κρείσσων", Hermes 94 (1966) 267-75 (= Kleine Schriften zur antiken Literatur [München 1971] 359-68); M. Dyson, „Euripides, Medea 1056-80", GRBS 28 (1987) 23-34; H. Erbse, „Zum Abschiedsmonolog der euripideischen Medea", Archaiognosia 2 (1981) 66-82; U. Hübner, „Zum fünften Epeisodion der Medea des Euripides", Hermes 112 (1984) 401-18; G. Jachmann, „Binneninterpolation II", NGG 1936, 193 η. 1; D. Kovacs, „On Medea's Great Monologue (Ε. Med. 1021-80)", CQ 36 (1986) 343-52; Ε. Kraggerud, „Hva skjer i Medeias store monologue", Museum Tusculanum 36-39 (1979) 45-52; H. Lloyd-Jones, „Euripides, Medea 1056-80", WJA 6a (1980) 51-59; B. Manuwald, „Der Mord an den Kindern", WS 17 (1983) 27-61; G. Müller, „Interpolationen in der Medea des Euripides", SIFC 25 (1951) 65-82; M. D. Reeve, „Euripides, Medea 10211080", CQ 22 (1972) 51-62; O. Regenbogen, „Randbemerkungen zur Medea des Euripides", Eranos 48 (1950) 21-56; W. Schadewaldt, Monolog und Selbstgespräch. Untersuchungen zur Formgeschichte der griechischen Tragödie (Berlin 1926); G. A. Seeck, „Euripides, Medea 1059-68, Α Problem of Interpretation", GRBS 9 (1968) 291-307; W. Steidle, Studien zum antiken Drama (München 1968); H.-D. Voigtländer, „Spätere Überarbeitungen im großen Medeamonolog?", Philologus 101 (1957) 217-37; O. Zwierlein, „Die Tragik der Medea-Dramen", Literaturwiss. Jahrbuch 19 (1978) 27-63. In the body of this essay these works are referred to by name and page only. Earlier versions of this paper were presented at Yale (1987) and UT Austin (1988). I wish to thank the editors and David Blank, Christian Wildberg, and Nikolaus Eberl for their advice and help.
Euripides Medea 1056-80, an interpolation?
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of the play;2 neither does she appear tragic in the three successive encounters with men who are no match for her determination and intelligence. She becomes tragic in the moment when the desire for revenge, spurred by the triple goad of hatred, jealousy and slighted pride, 3 and assisted by her superior intelligence, is opposed by her maternal feelings and the clear awareness of what the revenge she intends means for her. This happens in the last and longest of her great monologues, at the moment when the old tutor has brought the news that Creusa has accepted the fatal presents, i.e. at the moment when the first part of the revenge, for which she has used Jason and the children, has been successful and Medea realizes that she now has to carry out the second part herself. Medea opens her monologue with an address to her children, full of grief and despair (1021-39). The moment of the last and definitive farewell evokes the dreams, promises, and hopes she once attached to the birth and rearing of her children (1026ff.). The impending unnatural and brutal separation calls forth agonizing pictures of happy and peaceful separations of mothers and children (1026f., 1032-35). Medea realizes and expresses what she previously did not fully realize or was forced to suppress, namely that the destruction of the children will destroy her own life too. 4 The naive and innocent smiles of the children (1040f.) shake Medea's resolution and lead to the first of several reversals: αίαΐ· τί δράσω („Alas! What shall I do?", 1042). Medea tries to persuade herself that she is still free to abandon the plan of revenge which would hurt her more than Jason, and to take the children with her (1044-48). The choppy style of the passage - a series of short, asyndetic sentences bursting out of her - and the urgent repetition of χαιρετώ βουλεύματα („farewell to my plans") indicate both the intensity of her wish to spare the children and the strong emotional resistance
2 On the much-discussed question, when Medea decides to kill her children, cf. Manuwald (supra η. 1) 27-38. 3 Cf. infra pp. 97-98. 4 Cf. 791-96, 899-905, 922-31.
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which she has to overcome and which immediately reasserts itself: καίτοι τί πάσχω; („But what is wrong with me?", 1049). The unbearable notion of becoming the laughing-stock of her enemies, a fear that has spurred her vindictiveness from the beginning,5 once again prevails over Medea's maternal feelings and forces her to denounce all tender thoughts as signs of cowardice (1049-52). She tells the children to go into the house and states her determination to go through with the necessary sacrifice (1053-55).6 But the reference to the hand (1055) with which she will have to kill the children evokes the physical brutality of the deed and once again triggers a reversal: ά ά (1056). She tries to assuage her θυμός (thumos, „spirit, seat of passions"), which she addresses as if it were something - or rather somebody - outside herself,7 with the reminder that the children, if taken to Athens, would gladden „him" (1057-58). But again she fails (1059ff.). She cannot bear the thought that the children, spared by herself, will fall victim to the Corinthians. She feels cornered. The successful first step of her revenge seems to demand the second (1059ff.).8 Conscious of the wretched and frightful path she has to take (1067f.), she again turns to the children for a last farewell (1069-75) and then sends them off into the house because she can no longer bear their sight (1076f.). Their exit is followed by the well-known lines in which Medea sums up her tragic dilemma in a pointed formulation: καί μανθάνω μεν οία δραν μέλλω κακά, θυμός δέ κρείσσων των έμών βουλευμάτων, δσπερ μεγίστων αίτιος κακών βροτοΐς. And I understand what evils I am about to do, but my thumos is stronger than my bouleumata 5
Cf. 383,404, 797 (807), (1049,1362). Cf. W. Burkert, „Greek Tragedy and Sacrificial Ritual", GRBS 7 (1966) 87-121, esp. 117-19. 7 Schadewaldt (supra η. 1) 196. 8 Cf. infra pp. 93-96. 6
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[this thumos] which is the cause of the greatest evils for mortals. (1078-80) Lines 1021-80 represent one of the most famous monologues of Greek tragedy and certainly the most famous monologue of Euripides - if it was indeed written by Euripides himself in the form preserved in our manuscripts. In the new Oxford Classical Text Diggle has deleted lines 1056-80. In the apparatus criticus he refers to Bergk and Reeve, to the πρώτος εΰρετής of the problem and to the scholar whose competence and authority as a textual critic have secured for the old thesis that lines 1056-80 are an interpolation the attention it deserves. When one traces the history of the problem it is worth noticing that in the long and rich discussion of the play in antiquity there is no indication whatsoever that the authenticity of these lines has ever been doubted by philosophers, grammarians, or philologists who quoted, discussed and explained them.9 Bergk's thesis that lines 1056-80 did not contain anything new and could be explained best as dittography did not meet with widespread approval (possibly, as Müller [p. 65] suggests, because it was ignored by Wilamowitz). Still, Wecklein, in his popular edition, deleted the lines, and Murray at least included a reference to Bergk and Wecklein in his apparatus criticus. Page, however, mentions the problem neither in the apparatus nor in his influential commentary, despite the fact that in the meantime Bergk had found a follower in Bethe (1918), and, only two years before Page, the notorious „interpolation-hunter" Jachmann had taken up Bergk's argument, for the first time condemning the lines as a mediocre product of an interpolator. Jachmann's verdict proved ineffective. In 1951 Regenbogen (p. 45), without even mentioning Jachmann, stated that Bergk's proposal did not require a refutation. But only one year later Müller started a fresh - and equally unsuccessful - attack; and in the same year in which Lesky
9
Dihle, „Zum Streit..." (supra n. 1) 28.
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authoritatively declared that Müller's radical solution of the problem had rightly not been approved by anybody, 10 Reeve published his penetrating study in defense of Müller, which moved the question right back into the center of interest. Since Reeve's paper lines 1056-80 have become the most discussed problem of authenticity in Greek tragedy, and in view of the size and importance of the alleged interpolation the extent and intensity of the discussion are not surprising. For lines 1056-80 are not only of crucial importance for the understanding of the play and the tragic conflict of its heroine; the passage also contains lines 1078-80, which have dominated the scholarly discussion and the poetic adaptation of the play since antiquity. In view of the diversity and incompatibility of the arguments, one may feel justified in doubting both the rationality of the discussion and the possibility of arriving at an objective solution. But my thumos to accept the challenge is stronger than these cautionary thoughts. I shall try to deal with the numerous minor and major problems in an ascending order, facing the highest waves at the end of the paper. 1. No help can be expected from subjective impressions and evaluations of the literary quality of these lines. For these judgments differ enormously. The same 26 lines that are condemned by Jachmann as „Spottgeburt" (p. 193) and by Müller as the addition of a „Pfuscher" (p. 77) are praised by Bethe (p. 14 η. 1), Schadewaldt (p. 198), and Lesky (p. 307f.) as a poetic and psychological highlight of Euripidean art. With regard to Medea's farewell to her children (1069-75), Müller (p. 73) and Hübner (η. 20) speak of melodramatic sentimentality, whereas for Regenbogen it is „das unvergeßliche Glanzstück dieses Monologs" (p. 45), lines which at that time no one but Euripides could have produced; what critics of the passage view as longwinded repetition is justified by defenders as effective climax. In any case, even if scholars agreed on the mediocre poetic quality of the lines, this
10
A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen (Göttingen31972) 311.
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agreement would say nothing about their authenticity unless we thought it right to delete each and every mediocre line and passage in Euripidean plays. 2. Of some importance are arguments that are based on the alleged lack of linguistic and intellectual clarity and precision (mainly in lines 1056-64), which I will discuss briefly although I believe that they have been refuted by the defenders of this passage. a) 1058: Reeve (p. 52) is irritated by the „vagueness" of έκεί („there"). But, as Lloyd-Jones (p. 54) has pointed out, nobody in the audience is likely to have forgotten where Medea plans to go after her revenge, even if she last mentioned Athens in 771 and in the monologue simply speaks of α λ λ η γαία („another land", 1024), or states that she will take the children along on her flight (1045). b) 1058f.: Reeve (p. 52) criticizes the lack of any indication in line 1059 that Medea has changed her mind again. But Medea's invocation of the άλάστορες („demons of vengeance") in Hades does not leave much room for doubt. 11 c) 1062f.: These two lines are identical with 1240f. and thus must be interpolated either there 12 or, more likely, here. 13 To the arguments put forward for deletion of 1062f. one could add that without these lines the
11
Cf. Σ ad 1059; as D. J. Mastronarde reminds me, the form of the oath with μά is a rather clear indication of a change of attitude: „no, by ..."; for μά (usually followed by a negative) with the force of a rejection of an alternative cf. Eur. Andr. 934, Ion 1528, Cycl. 262-64, Phoen. 1006, IA 739,948. 12 Valckenaer (ad Phoen. 1286), followed by Elmsley, Porson and Leo; cf. Reeve (supra n. 1) 53 n. 5. 13 Pierson; cf. Erbse (supra n. 1) 72-75. Kovacs (supra n. 1) 347 repeats the argument of Reeve (supra n. 1) 53 that within the context of 1056ff. lines 1062f. are indispensable; for without them „Medea will not have announced her intention of killing the children between the opposite announcement in 1056-58 and the parenthetic reference to killing them in 1068." But cf. supra item 2 b), and Erbse: „Daß die Ankündigung, die Kinder nicht dem Zorn der Korinther zu überlassen, ihren Tod durch Medeas Hand bedeutet, kann einem Zuschauer nicht zweifelhaft sein, der die Einheit des Racheplans im Blick behält."
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transition from Medea's fear that the Corinthians may lay hands on the children (1060f.) to the reason for this fear (1064-66) would be smoother. d) 1064: Critics complain that the reference of τ α ΰ τ α πέπρακται („these things are done") is vague and that the subject of έκφεύξεται („will escape") is left unclear. But Lloyd-Jones (pp. 56f.) rightly insists that given the immediate dramatic and linguistic context the audience should not have too much trouble understanding Medea's words as: „At all events the deed is done 1 4 and she (sc. Creusa) will not escape." The sudden change of subject from τ α ΰ τ α („these things") 15 to „she" is grammatically somewhat harsh, but hardly impossible; 16 the notion - and formulation! - that Creusa will not escape is prepared in the preceding choral ode (ούχ ύπεκφεύξεται, „she will not escape", 988!) and the following lines 1065f. immediately clear up whatever obscurity line 1064 may have created in the mind of a slow-witted spectator. 17
14
ταΰτα (cf. 1013), as 1064-66 shows, refers to the first part of the plan: the murder of Creusa, which Medea (as well as the chorus in 978ff.) takes for granted as soon as the tutor has reported that the fatal gifts have been accepted; the line of thought in 1064-66 (first the conclusion and then the explanation), criticized by Müller (supra η. 1) 66 n. 5, is psychologically plausible and rhetorically effective (Schadewaldt [supra η. 1] 196; Erbse [supra η. 1] 72 η. 1). 15 ταΰτα can hardly be the subject of έκφεύξεται; the intransitive use of έκφεύγεη» in the sense of „it will not get away", though linguistically perhaps not impossible (Dyson [supra η. 1] 27; cf. already Voigtländer [supra η. 1] 224 n. 2; Steidle [supra η. 1] 160 n. 51) would produce a rather inept repetition of πέπρακται. We may assume that the actor delivered line 1064 with a slight pause after ταΰτα. 16 Kovacs (supra η. 1) 347, who is right when he points out „that if two thirdperson verbs in one line are connected by 'and' and the first has a subject expressed the other will have the same subject unless this impression is corrected in the next line", seems to have overlooked that the correct stipulation added to the rule is fulfilled by lines 1065f.; the fact that νύμπφη appears as grammatical subject not in the next line but in the line after does not cany any weight since Creusa must be understood as logical subject of και δή επί κρατι στέφανος. 17 For the use of καΐ δή cf. J. D. Denniston, The Greek Particles (Oxford 2 1954) 250-53, in particular 250, (2)(i) and 252, (iv).
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Thus the alleged minor problems of language and thought in lines 105664 do not warrant excision. 3. All critics who argue for deletion of lines 1056-80 particularly stress the clumsy dramaturgic handling of the children who are ordered inside in 1053, but are obviously at hand in 1069f. for a last farewell. Have they left in 1053 and are now called back out of the house, as Murray thought? But there is hardly enough time between 1069a and 1069b.18 Most scholars agree that it is more likely „that the children hesitate, seeing their mother's strange demeanor, and do not actually leave the stage at 1053" (Page ad loc.). This would be psychologically plausible, but seems to offend against the „grammar" of dramatic technique. Usually orders to leave are carried out immediately. Reeve (p. 55) insists that whenever an ordered exit is delayed the text offers a clear reason for the delay. 19 It could be argued either that this rule has no exception only if one accepts Barrett's objections against Eur. El. 360 and Reeve's major cuts in Orestes' rhesis 367ff., 20 or that 1056 does indeed offer the required textual signal. Medea's double cry & & causes the children who have begun to move towards the palace door to stop. 21 But even if the dramaturgic handling of the children could not be paralleled, this would not force us to blame the „mistake" on an interpolator. The author of Medea himself, who did not realize or did not care that, by keeping Medea on stage and at the center of our attention from her first
18
Dodds' suggestion to read δεΰτ* instead of δότ' {Humanitas 4 [1952] 14) does not help much, since it only moves the problem of the awkward pause from the middle to the end of line 1069. 19 D. Bain, Actors and Audience (Oxford 1977) 24-27, and Masters, Servants and Orders in Greek Tragedy (Manchester 1982) 33; but cf. D. J. Mastronarde, Contact and Discontinuity. Some Conventions of Speech and Action on the Greek Tragic Stage (UCPubl. CI. St. 21, Berkeley 1979) 105-113, esp. 109f. 20 M. D. Reeve, GRBS 14 (1973) 151-53 (Barrett, n. 20); cf. Mastronarde (supra n. 19) 106. 21 Page ad 1053; Diller (supra η. 1) 161; Erbse (supra η. 1) 67ff.; Bain (supra n. 19) 25-27 gives a perfectly convincing interpretation along these lines and then refuses to accept it.
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entrance in 214 till 1250, he failed to give her time and opportunity to prepare the poisonous gifts, 22 could have made this minor dramaturgic „mistake" as well. Reeve (pp. 59f.) further attaches great importance to the argument that 1056ff. could not possibly be spoken in the presence of the children because, whereas the genuine first half of the monologue is deliberately vague and ambiguous, these lines point so clearly to the impending murder that the children could not possibly fail to understand what their mother is talking about. This argument, however, does not carry much weight, even if one accepts the premise on which it rests. For - except for the dubious lines 1062f. - there is nothing in the second half of the monologue that is more direct than 1046f.23 But, as Lloyd-Jones (p. 57) and others have pointed out, the premise itself cannot be accepted. Children on the tragic stage are usually handled as νήπιοι, and here the children's reaction to Medea's agony in lines 1040f. proves that they do not really understand what is going on. 24 The thrill of the dramatic situation lies exactly in the strong tension between Medea's anguish and the touching innocence of her victims. Finally, since we are talking about dramatic technique, we should not forget that without lines 1056ff. the scene (and thus the whole play) would be without a true farewell between Medea and her children. 25 Thus the minor technical improvement, achieved by deleting lines 1056-80 in order to avoid the clumsy handling of an ordered exit that is not carried out immediately, would be paid for with a major drawback.
22
Page ad 789; Lesky (supra n. 10) 306 n. 28. Cf. Dihle „Zum Streit..." (supra n. 1) 29 n. 14; Reeve (supra n. 1) 59 himself concedes that 1046f. must be as disturbing as 1057 and 1068; 1073f. presumably are above their heads as are 1049-55 (for a possible explanation of 1073f. cf. now Dyson [supra n. 1] 28f.). 24 von Arnim ad 1041; Steidle (supra n. 1) 159,163; Erbse (supra n. 1) 67. 25 Steidle (supra n. 1) 163 and Erbse (supra n. 1) 67 are right in arguing that lines 1021-39 cannot fully serve this function. 23
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4. A much more serious problem is presented by the inconsistency between 1056-58 and 1059ff. In 1058 - as in 1045 - Medea's alternative to killing the children is to take them with her to Athens, and there is no indication that she is not free to do that. But two lines later Medea suddenly implies that not to kill the children means leaving them in Corinth, where they will be maltreated
and killed by the Corinthians. This
contradiction in dramatic logic, already observed by Hermann,
26
harsh
has always
been one - if not the - crucial argument against the authenticity of the passage, and the illogicality is indeed striking and disturbing, especially if one realizes the even graver contradiction it entails in the motivation of the murder. Until now the whole argument of the play and everything Medea has said have convinced us that she must kill the children to punish the traitor Jason; but here, suddenly, it seems that it is not this „inner necessity" of Medea's ethos that drives her, against her maternal feelings, towards the deed, but the „outer necessity" of a situation which no longer allows a free decision. To my mind the many solutions offered so far have not obviated this problem: a) A first group of explanations tries to get by without any operation on the text. Thus for the critic who believes in Zürcher's thesis that Euripides is not interested in the psychological unity of his characters and in the inner logic of their behavior, the problem simply does not exist. But I must confess that I believe neither in the general thesis of Zürcher's book nor in its application to Medea and her monologue. 27 Dyson (p. 23fF.) is convinced that the inconsistency has been imported into the text by a misunderstanding. He thinks that Medea in 1060f. does not refer to the Corinthians but to enemies in general, i.e., that she is talking about the humiliating treatment which her children could expect in exile. But
26
Hermann (apud Elmsley's ed. [Oxford 1828]) ad 1056-61. W. Zürcher, Die Darstellung des Menschen im Drama des Euripides 1947) 61ff. 27
(Basel
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the next does not offer any indication that the children, if taken to Athens, would not be safe and well protected by Medea's royal host Aegeus against maltreatment, 2 8 and the immediate context seems to exclude
Dyson's
reading, since on this reading there would be no connection between lines 1060f. and 1064ff. Voigtländer (p. 234f.) and Diller (p. 362) think that there is no contradiction between inner and outer necessity, since in lines 1059ff. Medea states her desire for absolute revenge, i.e., the revenge would be less perfect if the children were killed not by herself but by the Corinthians. 2 9 The plausibility of this solution, however, is not only weakened by the fact that the text indicates nowhere that the perfect revenge is not to be seen in the physical destruction of the children itself but rather depends on the personal execution of the murder by Medea. Moreover the interpretation is excluded by the immediate context: κ α θ υ β ρ ί σ α ι („to treat with outrage") leaves little doubt that Medea's motive behind 1060f. is love of her children and not perfection of her revenge, and 1064fF. can only point to the pressure of outer necessity which is the result of Medea's successful mechanema
against
Creusa. Erbse and others argue that Medea's spontaneous idea to take the children with her should not be understood as a serious alternative, but as a tempting illusion that Medea entertains in the first half of her monologue until she must face the truth that in reality she is not free any more, since the death of the children is the inevitable result of the deaths of Creusa and Creon. 3 0 Quite apart, however, from the fact that w e have to supply the crucial point of the argument (i.e. Medea's realization that she has been entertaining an illusion), this interpretation threatens to destroy the importance of the pressure put on 28
Medea fears only her enemies in Iolcus and Corinth (734, 781f., 1238f., 13031305); for the euphemistic use of καθυβρίσαι cf. Eur. Held. 457. 29 Cf. also Hübner (supra η. 1) notes 2,15, 20. 30 Erbse (supra η. 1) 69ff.; similarly Steidle (supra η. 1) 161f.; Schadewaldt (supra η. 1) 196f.; Dihle (infra n. 40); but cf. Manuwald (supra η. 1) 61; Hübner (supra η. 1) 401 n. 2; Kovacs (supra η. 1) 345.
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Medea by the inner necessity of her character and thus damages the deep seriousness of the arguments she presents from parodos to exodos without softening the equally strong contradiction between lines 1059ff., with their stress on outer necessity, and the famous ending of the monologue, where Medea again speaks only about the inner necessity that forces her to kill the children: θυμός δέ κρείσσων των έμών βουλευμάτων (cf. infra). The most popular solution, however, is what Reeve calls the „psychological defense" of the passage, i.e., to concede the inconsistency and to try to explain it, a solution that has been offered in numerous variations from August Wilhelm Schlegel and Maurice Patin to Page, Pohlenz, Schadewaldt, Voigtländer and Easterling. We are told that Medea's mental confusion and άμηχανία („sense of helplessness") make her fall a prey to conflicting emotions and contradictory thoughts. This interpretation even succeeds in turning the alleged vice into a virtue. „Here ... she returns to the possibility of taking the children with her to Athens, and then reverts immediately to the probability that they will be left in Corinth at the mercy of her enemies. The inconsistency of 1058 with 1059ff. is intensely moving and dramatic; emendation or deletion destroys all the force of Medea's changes of temper."31 Unfortunately the inconsistency we are talking about cannot be explained away as „changes of temper"·, and, besides, we may ask ourselves whether the Medea Euripides has shown us up to this point is likely to lose her head so completely that, within a few lines, she would give two mutually exclusive accounts of her situation. Easterling avoids the simple psychological explanation, according to which the inconsistency is the result of mental and emotional confusion. For her Medea „is filled with a sudden sense that she is caught in the tide of events and has no longer any choice" (p. 188). Easterling points to the results of modern socio-psychological analyses which show that "the murder of children often is committed in the atmosphere of sudden urgency. The parent
31
Page ad 1058.
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becomes convinced of a threat to the children that clinches the feeling that they would be better dead" (p. 188). Lloyd-Jones is wrong when he sneers at what he calls "psychological niceties" that are not part of Euripides' stock-intrade (p. 55); but he has a strong argument on his side when he reminds us "that it would not be characteristic of Medea, who is not given to selfdeception", and what is perhaps more important, Easterling's analogy does not quite apply to Euripides' Medea, who does not appear to be panicstricken by a sudden sense of urgency, but rather to be tortured by the agony of conflicting thoughts and feelings. Thus these and similar attempts to transform the criticized inconsistency into a psychological and dramatic masterstroke are fraught with difficulties. As far as I can see no one yet has convincingly explained the logical inconsistency between 1058 and 1059ff. and the deeper motivational contradiction that is implied. b) Therefore it seems reasonable to suspect the text before we blame the author for what appears to be a major violation of dramatic logic and psychological and thematic consistency. Hermann's change of έκεΐ ("there", 1058) into κει μή ("and if not...") does not help much, since it smoothes the transition to lines 1059ff., but does not really remove our problem. The contradiction between two mutually exclusive alternatives to the murder (i.e. taking the children to Athens or leaving them in Corinth) is still apparent (cf. 1045). The minor cuts that have been suggested by Seeck (1060-63) and Lloyd-Jones (1059-63) do not solve our problem either. For 1064ff. still introduce the notion of outer necessity. 32 Kovacs' excision of 1056-64, while removing most of the real and supposed problems of the passage, leaves us with a rather unsatisfactory transition from 1055 to 1065; furthermore, Kovacs is forced to read lines 1065f. as Medea's apprehension "that there will be little or no time for delay." But in the following Medea does not show
32
Cf. Manuwald (supra n. 1) 58.
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any sign that she is pressed for time (cf. 1133-35!). This dramatic motif has its proper place after the long messenger-speech (1238f.). Finally, even the radical amputation of the entire second half of the monologue does not really cure the patient.33 For the doctors seem to have overlooked or underestimated the fact that lines 1236ff. contain just the same idea which they have tried to get rid of by the deletion of lines 1056ff.: φίλαι, δέδοκται τοΰργον ώς τάχιστα μοι παΐδας κτανούση τήσδ' άφορμάσθαι χθονός, και μή σχολήν άγουσαν έκδοΰναι τέκνα αλλη φονεΰσαι δυσμενεστέραι χερί. πάντως σφ' άνάνγκη κατθανεΐν· έπει δέ χρή, ήμεΐς κτενοΰμεν, οϊπερ έξεφύσαμεν. My friends, the deed is decided upon - as quickly as possible to kill my children and leave this land, and not to delay and thereby surrender my children to be slain by another, more hostile hand. They must die in any case. Since this must be, I shall kill them, the very one who gave them birth. (1236-41) In 1236ff. the dramatic motif of outer pressure that forces Medea to kill her children can neither be deleted nor can it be explained away.34 Even if it be granted that in 1236ff. the urgency of the dramatic situation has increased - the messenger tells Medea to leave immediately (112Iff.) and she 33
In recent years (after Reeve and his predecessors) the deletion has been accepted by Diggle in the Oxford Classical Text as well as by Zwierlein (supra n. 1), Bain (supra n. 19), Manuwald (supra n. 1), and Hübner (supra n. 1), who goes so far as to throw out lines 1040-55 too. 34 Lloyd-Jones' explanation of 1240f. ([supra n. 1] 56) is desperate: „The statement that in case they have to die might have no reference to any danger from the Corinthians; all mortals have to die and that may well be what Medea means to say."
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knows that time is running out - nevertheless, as in lines 1059ff., there is no explicit reason anywhere in the text why she cannot take the children along as contemplated in 1045 and 1058, and, as in 1059ff, the crucial motive of inner necessity immediately reappears (1245). Thus I would argue that lines 1236ff. virtually prove the authenticity of 1056ff. or, to be more cautious, the possibility that Euripides in the great monologue connected two inconsistent motivations for the deed. Why he did (or should have done) that, I cannot say. I am prepared to concede that this negative result of my survey of previous attempts to deal with the problem is unsatisfactory, but the clearing away of false solutions may open the way for a convincing explanation of the inconsistency which, as it seems, we have to accept as Euripidean 3 5 5. But the patient is not quite out the woods yet. The end of Medea's speech contains a major crux of interpretation that during the last two decades has dominated the discussions of Medea in general and of the
35
It is worth recalling that Medea offers a second example (cf. further supra n. 16). As Manuwald (supra η. 1) 35f. observed, Jason is well aware of the fact that the children are exiled (461), but he still goes on talking as if they were to stay with him in Corinth (559fF.). A closer parallel to the motivational inconsistency of Medea is provided by the Cyclops: in Homer Odysseus must blind Polyphemus because it is his only chance to get himself and his companions out of the cave. The dramatic presentation of the story requires that the hero must be free to emerge from the cave at will. Therefore Euripides had to supply a new motive for the blinding. Just like Medea, his Odysseus acts because he wants to defend his heroic honor and take revenge (441,692-95). But right next to the time-motif there still appears the Homeric motif of „salvation" / „escape" (196f., 428-30, 478f.). As in Medea (albeit in the Cyclops it is not as obvious) we have the inconsistent combination of outer necessity caused by the dramatic situation and the inner impulse of the hero's ethos. And, as in Medea, the motive of outer necessity does not really fit the general dramatic premises of the play. In both cases it seems possible to argue that the inconsistency between the different motives for the central action of the play (blinding, murder) is due to the fact that Euripides created the new motive of inner necessity (desire for revenge and heroic honour) without totally eliminating the outer necessity of his literary or mythological source (the Homeric cave and the threat posed by the Corinthians respectively).
Euripides Medea 1056-80, an interpolation?
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authenticity of the monologue in particular. Lines 1078-1080 (already quoted above) "have caused more trouble than all the rest of the speech together."36 και μανθάνω μεν οΐα δράν μέλλω κακά, θυμός δε κρείσσων των έμών βουλευμάτων, δσπερ μεγίστων αίτιος κακών βροτοίς. And I understand what evils I am about to do, but my thumos is stronger than my bouleumata [this thumos] which is the cause of the greatest evils for mortals. The first problem is the meaning of βουλεύματα (bouleumata). For more than 2000 years philologists, philosophers and poets have understood 1079 as referring to a conflict of passion and reason. Stadtmüller in 1876 was the first to point out that Medea has used the word four times (769, 772, 1044, 1048) to refer to her plan to kill the children. Thus - he and his many followers argue - the spectator cannot but associate bouleumata with Medea's plan of revenge and therefore the word in 1079 cannot mean what it must mean to make sense.37 This line of argument has been widely accepted, even by defenders of the authenticity of the passage. Their proposals for a solution range from unconvincing changes of the text38 to almost desperate re-interpretations of language39 and meaning40 of line 1079. But I think Lloyd-Jones (p. 58) is 36
Lloyd-Jones (supra η. 1) 57. H. Stadtmüller, Beiträge zur Textkritik der euripideischen Medea (Progr. Heidelberg 1876) 31 η. 1; Müller (supra η. 1) 73; Reeve (supra η. 1) 55; Dihle Euripides' Medea (supra η. 1) 13 η. 18. 38 Erbse (supra η. 1) 79f.: μαθημάτων (cf. already Koechly apud Stadtmüller, supra n. 37). 39 Diller (supra n. 1) 367: κρείσσων = κρατών, i.e., „my thumos is master of, controls, governs, my plans of revenge"; but cf. R. Kassel, RhM 11 (1973) 102 and n. 37
21. 40
The most ingenious argument was put forward by Dihle (in all three works cited supra n. 1), who tried to establish a complete reversal of the traditional interpretation of line 1079, which he takes to mean: „my emotion (i.e. thumos = tender
104
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right when he insists that "in itself the word bouleumata is colourless; it takes its colour from the context. Here the meaning is made clear by Medea's immediately preceding statement that she knows what evil she is about to do." Thus Medea in 1079 is saying: my thumos is stronger than my calculations (caused by the awareness of what the murder of the children would mean). The required general meaning of βουλεύματα as "thoughts, deliberations, counsels" can be paralleled in all three tragedians. 41 But as soon as we have defended bouleumata, lines 1078-80 threaten to present a second, much graver difficulty for the understanding not only of the monologue but of the whole play. A number of critics have argued that lines 1078f. either cannot be understood as they have been understood traditionally or cannot have been written by Euripides, because they introduce a conflict between passion and knowledge of what is best that is alien to the rest of the play. 42 According to these critics Medea is not a tragedy of passion (Leidenschaftstragödie), but rather a tragedy of slighted τιμή (time, "honor"), since the heroine's planning and execution of the revenge are not triggered and spurred by the passionate emotions of a betrayed woman that break through all rational defenses, but are postulated and governed by the unwritten laws of the old heroic code of honor and thus dictated not by the emotions of hatred, anger, and jealousy but by Medea's pride and selfesteem, by her strong moral sensibility and extraordinary intelligence. This argument has become the second of the two crucial pieces of evidence in the case against the authenticity of lines 1056-80.
emotional feelings) is stronger than my plans of revenge." This interpretation, according to which Medea at this point gives up her plan to kill the children but is later forced to do it nevertheless, requires a rather strained explanation not only of lines 1079f., but also of 1056ff. and 1076-78; cf. esp. Zwierlein (supra n. 1) 35 n. 24c; Manuwald (supra n. 1) 56-58. 41 E. g. Aesch. Pers. 1570-72, Sept. 594; Soph. Ant. 178-81; Eur. Hipp. 400-402, Supp. 743f., Or. 1085, Ba. 845f. 42 Dihle, „Euripides' Medea ..." (supra n. 1) 180ff.; Euripides' Medea (supra n. 1) 12ff.; "Zum Streit..." (supra n. 1) 19; Zwierlein (supra n. 1) 35; Manuwald (supra n. 1) 59f.
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I am far from trying to play down the great importance of an aspect that has been well established.43 What I would like to argue is that the importance which the heroic code of honor undoubtedly has for Medea's feelings, decisions, and actions does not force us to delete lines 1078-80 simply because they stress the victory of Medea's thumos over her bouleumata. It seems to me that Dihle, Zwierlein, and Manuwald have constructed a rather artificial antithesis of the two driving forces behind Medea's behavior which are not mutually exclusive but inextricably linked to each other: passion and reason. In the prologue and parodos Euripides has done everything to show how deeply Jason has hurt Medea, who in the past, out of passionate love, has sacrificed what she loved most, and who now, in her passionate wrath, is not able to rest until she has gotten even with the man who betrayed her, with the woman who took her husband away from her, and with the father who as kurios ("responsible male kin") authorized the marriage. It is true that in the following scenes Euripides presents a more restrained and clever Medea who, just because of her cool rationality, is far superior to her male opponents. That, however, does not mean that the impression we received at the beginning of the play was false; rather, the change is due to the fact that Medea here must not hand herself over to her emotions if she wants to secure the ways and means for the revenge she so passionately desires. That her extraordinary
intelligence
and
operational
cleverness
enable
her
to
manipulate the chorus and Creon, Jason and Aegeus says nothing about the strength and intensity of her emotions, to the service of which her rational qualities are devoted. Throughout these scenes the violent agitation under Medea's rational surface is clearly felt manifesting itself especially throughout her first encounter with Jason (446ff.) and in the monologues in
43
Ε. B. Bongie, „Heroic Elements in the Medea of Euripides", ΤΑΡΑ 107 (1977) 27-56; P. E. Easterling, „The Infanticide in Euripides' Medea", YCS 25 (1977) 17791, and esp. Β. M. W. Knox, „The Medea of Euripides", YCS 25 (1977) 193-225.
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Euripides Medea 1056-80, an interpolation?
which she expresses her true thoughts and feelings after her victories over Creon (346ff.) and Aegeus (764ff.). It seems methodically objectionable to play down the importance of the many references to Medea's violent thumos44 with the argument that these are statements of other dramatic characters who do not fully understand Medea (Manuwald, p. 49 n. 50) or to insist that Medea herself never states that she is driven by passions such as love, hatred, and jealousy (Dihle 1976, p. 180). Indirect characterization is a common and legitimate dramatic technique, and the analysis of a character's motives can never confine itself to what the character himself says expressis verbis. Psychologically it is most unlikely that a betrayed woman would declare that she is driven by hatred and jealousy, even if she were; but her language and her behavior will betray her. The numerous passages that, directly or indirectly, bear witness to Medea's anger, hatred, and jealousy 45 certainly justify the statement of 1079 that her passionate and violent temper - her thumos - is stronger than the considerations of her motherly love. We only have to remember Achilles and Ajax, to whom Medea has been compared often and aptly, in order to realize that the claims of the heroic code and the demands of the thumos, far from being incompatible, belong together. The thumos is roused by the violation of the rime-code and the feeling of having been wronged, insulted, and treated with disrespect, and the resulting "anger" (όργή) and "wrath" (χόλος) drive and dominate all deliberations and plans, decisions, and actions. This is true of Achilles and Ajax as it is true of Medea, who has been dishonored by Jason's betrayal. Her
44
Cf. 91, 106-108, 271, (485), 862-65, 878f„ 883; cf. further the references to Medea's violent and „bestial" temper: 37ff., 44f., 103f., 108-110, 119ff., 187ff., 1342f., (1358), 1406f.; and to ΙιβΓαύθάδεια: 104, 621,1028. 45 όργή, χόλος: 93ff., 99, 119ff., 171f., 176f., (183), 286, 395ff„ 446ff., 520, 525, 588-90, 615, 639ff., 870ff., 897f, 904f., 908ff., 1265f. Hatred: 310f„ 463,467, 1374. Jealousy: (555, 568), 623ff., (957), 966ff., 1127-35, (1356), 1394, and many of the λέχος-passages cited in n. 47 infra.
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anger is heightened by her conviction that Jason has violated his oaths 46 despite the fact that she has done nothing to deserve this treatment: far from having done him any wrong, she saved his life and made him all he is by giving up everything she was. Her outrage is further intensified by the awareness of her isolation and loneliness in a foreign environment. But the heart of the matter is that Jason by his new marriage has offended her feelings and her strong sense of honor and self-esteem as a woman and wife. The concrete symbol of what Jason has violated is the "bed" (λέχος), symbol of her love, her marriage, her family, and of her pride and honor as a woman. 47 Against this violation of the bed, and what it stand for, Medea's thumos violently revolts. This is what the chorus assumes; 48 this is what Creon and Jason suspect;49 this is what Medea herself tells us repeatedly. 50 But it is not a blind, irrational revolt. Medea has strong religious, moral, and social convictions which not only stimulate and feed but also define and regulate her anger, and which supply her with strong rational arguments: ύβρις ("outrage"), προδοσία ("betrayal"), άδικία ("injustice"), ατιμία ("dishonor"). If we understand thumos in 1079 as "shorthand" for this complex syndrome of emotional stimuli and rational arguments, and if we do not fail to realize that bouleumata too are a blend of rational and irrational components (the deliberations, warnings, and counsels of her instinctive motherly feelings as developed in the monologue), then the line is not
46
For the importance of the motive cf. A. P. Burnett,,Medea and the Tragedy of Revenge", CP 68 (1973) 1-24, esp. 12-15. 47 Λέχος is the central leit-motif of the play: (16-19), 155ff„ (163), 207, 263ff„ 285ff„ (330), 398-400, 435f., 443-45, 488-91, 555ff., 568ff., 591f., 623ff„ (627ff.), 637ff., (692ff.), 886-88, 999ff., 1291ff., 1336ff„ 1354ff„ 1366ff„ (1394). 48 Cf. 205ff., 639ff, 996ff, 1290ff. 49 Cf. 286, 555ff„ 568ff„ 1336-38,1367. 50 Cf. 263ff., (623ff.), 1354ff., 1366ff.
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inconsistent with the rest of the play, but rather a terse and pointed summary of its meaning.51 *****
Of the different objections raised against the authenticity of lines 105680, only the logical inconsistency of lines 1056-58 and 1059ff., and the deeper contradiction of inner and outer necessity it entails in the motivation of the murder, bear close examination. No attempt to explain it (or to explain it away) is convincing; neither are the attempts to get rid of it by minor or major cuts. Lines 1236ff. make it appear highly probable that it is not an interpolator, but Euripides himself who is responsible for the violation of dramatic and thematic consistency. The blemish, which does not seriously impair the poetic quality and dramatic impact of Medea's great monologue, may perhaps caution us against the growing tendency to clean Euripides' plays of each and every defect by invoking anonymous interpolators.
51
In the context of the play this complex meaning of the line should be evident. On the other hand it is easy to see that, taken out of its context, it could be used by philosophers (since Chrysippus) for their discussion of incontinence, especially since they could find a number of similar statements in other Euripidean plays which showed that Euripides was interested in the problem of άκρασία: Hipp. 380-83; frr. 840, 841, 220, (718) N2. All four statements, however, are more general, the terminology is more abstract and philosophical, and the antithesis between reason and passion (desire, emotion) is clear. This antithesis should not be read back into Medea. Thus, if Snell is right that Socrates was stimulated by Med. 1078-80 to develop his famous paradox that virtue is knowledge, that no one can choose what he knows to be worse, then he misunderstood the Medea, a fruitful misunderstanding, but a misunderstanding nevertheless: cf. B. Snell, „Das früheste Zeugnis über Sokrates", Philologus 97 (1948) 125-34, and „Leidenschaft und Erkenntnis", in Szenen aus griechischen Dramen (Berlin 1971) 25-75, esp. 51-75; T. Irwin, „Euripides and Socrates", CP 78 (1983) 183-97.
The Authenticity of Eur. Or. 1503-36 Aristophanes of Byzantium testifies that Euripides' 'Orestes' was a great stage-success 1 ; literary critics and philologists, however, found ample reason to censure the play and its author already in antiquity. N o less a critic than Aristotle blamed Euripides' characterization of Menelaos as an "example o f unnecessary wickedness" 2 and with this judgement triggered wide-spread condemnation of almost all the characters of the play, such as w e find in the second Hypothesis 3 and in the Scholia 4 - and which for a long time dominated modern interpretation and evaluation of the Orestes' 5 . Another aspect of the ancient criticism of the play can be seen in Aristophanes' statement that the 'catastrophe' is more appropriate for a comedy (than for a tragedy): τό δράμα κωμικωτέραν ε χ ε ι την καταστροφήν 6 . Finally it was the brief stichomythic dialogue between Orestes and the Phrygian slave (1503-36)
* This article is part of a lecture, complemented by notes. I am especially indebted to M. Gagarin and to D. Mastronarde for critical remarks and helpful suggestions. 'Hypothesis, 1. 21: τό δραμα των έπι σκηνής εύδοκιμούντων, cf. F. Chapouthier, Euripide, Oreste, Paris 1959, 22-27. 2 Arist. Poet. 1454 a 28sq.: εστίν δε παράδειγμα πονηρίας μέν ήθους μή αναγκαίας οίον ό Μενέλαος ό έν τφ Ορέστη, cf. also 1461 b 21. 3 L. 21 sq.: τό δραμα ..., χείριστον δέ τοις ήθεσι· πλην γάρ Πυλάδου πάντες φαΰλοι ήσαν. 4 In the scholia Menelaos and Helen are criticized extensively; the material has been collected and discussed by W. Elsperger, Reste und Spuren antiker Kritik gegen Euripides, in: Philologus Suppl. XI (1907-1908) 35-44. 5 Most scholars still subscribe to the critical judgement of Aristoph. Byz. (cf. supra n. 3); there are, however, several eloquent attempts to defend Orestes, Electra, and Pylades, the most important of which are: W. Krieg, De Euripidis Oreste, Diss. Halle 1934, 13-24; W. Steidle, Studien zum antiken Drama (= Studia et Testimonia Antiqua IV), München 1968, 96-117; and especially: Η. Erbse, Zum Orestes' des Euripides, in: Hermes 103 (1975) 434-459, and id., Studien zum Prolog der euripideischen Tragödie, Berlin 1984, 256sq. 6 This Statement is based on Aristotle's discussion of the best dramatic structure and ending of tragedy (1453 a 12-39). It refers only to the much discussed happyending of the Orestes (cf. Σ ad 1691 b), and should not be understood (as it often is) as pertaining also to the grotesque scenes with the Phrygian slave (1369sqq.).
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which surprised and irritated ancient scholars by its comic tone and by the moral quality of the tragic hero: ταΰτα κωμικώτερά έστιν και πεζά the scholiast comments ad 1521; and ad 1512 we read: άνάξια και τραγωδίας και της Όρέστου συμφοράς τά λεγόμενα. Many a modern critic has agreed whole-heartedly applying these judgements to the entire scene7. Few, however, have gone as far as Grüninger8, who in 1898 deleted the scene as an interpolation by later actors. This proposal, rejected by Page9, has recently been taken up by Gredley10, whose arguments have been endorsed by G. Arnott11 and by so sharp a critic as Reeve 12 . It is astonishing that Gredley's interesting paper (and Arnott's and Reeve's brief remarks) have apparently passed almost unnoticed, and that even scholars writing on the 'Orestes' seem to have been unaware of the alleged spuriousness of the famous little scene. Gredley did not only bring forward a number of arguments in favor of his thesis that Or. 1503-36 should be considered as interpolation, but also insisted that defenders of their authenticity must face the question what the
7
The two scholia quoted above refer to single lines, but it seems justifiable to understand them as 'fragments' of a more general criticism of the entire scene as 'untragic'. Another trace of this criticism can be seen (if Elsperger's interpretation, supra n. 4, 55, is correct) in the Σ ad 1369. 8 A. Grüninger, De Euripides Oreste ab histrionibus retractata, Diss. Basel 1898; G. deleted only 1506-36; Wecklein removed also 1503-05 (N.W., Euripidis Fabulae, Vol. III pars III, p. 66 app. crit. ad 1503-36: his deletis etiam 1503-05 ablegandi videntur); G. wanted to substitute 1503-05 (with Άτρείδην for Όρέστην) for 154953. 9 D. Page, Actors Interpolations in Greek Tragedy, Oxford 1954, 45-48. Cf. also W. Biehl, Textprobleme in Euripides Orestes, Diss. Göttingen 1955, 84-86 and V. Benedetto, Euripidis Orestes, introd., testo crit., comm. e app. metr., Firenze 1967, ad loc. 10 B. Gredley, Is Orestes 1503-36 an Inteipolation?, in: GRBS 9 (1968) 409-419. 11 G. Arnott, Euripides and the Unexpected, in: G&R 20 (1973) 49-64 (58 n. 1). 12 M. Reeve, Interpolation in Greek Tragedy I, in: GRBS 13 (1972) 247-265 (263-265).
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positive thematic relationship of these verses to their context could be 13 . Since several scholars, including myself 14 , have dealt with this problem recently, I feel justified to confine my considerations to the other arguments for deletion. Gredley's first argument is that the scene is at variance with the dramaturgic conventions normally observed by Euripides. "It is Euripides' normal practice with άγγελοι (unless they have some sort of independent status within the drama) to confine interest in them to the strict limits of their expository function and to hurry them off stage the moment their narrative is completed" 15 . Page, criticized by Gredley for not having taken Euripides' departure from his normal practise seriously enough, was justified to ignore this argument. Not only may we doubt that this absolutely unique scene in a richly innovative play should be measured by the rigid yardstick of standard techniques, but there is one other messenger-scene in Euripides where the άγγελος is retained on stage after the end of his report (Hel. 597sqq./ 700sqq.) 16 . Gredley, who of course is aware of that, replies that in this case
13
Gredley, supra n. 10, 409; G. himself sees the only function of the scene in the intention „to exploit further the comic possibilities inherent in the Phrygian" (p. 411; 418sq.). 14 Chr. Wolff, Orestes, in: E. Segal (ed.), Euripides, A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs, NJ, 1968, 132-149 (136sq.); A. P. Burnett, Catastrophe Survived, Euripides' Plays of Mixed Reversal, Oxford 1971, 183-222 (191sq., 217219); W. Burkert, Die Absurdität der Gewalt und das Ende der Tragödie, Euripides' Orestes, in: Antike und Abendland 20 (1974) 97-109; F. Zeitlin, The Closet of Masks: Role-Playing and Myth-making in the Orestes of Euripides, in: Ramus 9 (1980) 5177; B. Seidensticker, Palintonos Harmonia, Studien zu komischen Elementen in der griechischen Tragödie, Hypomnemata 72, Göttingen 1982, 101-114; id., Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides, Sitzber. und Mitt. der Braunschweigischen Wiss. Gesellsch. 1982, 51-69 (= in diesem Bd. S. 194-217) 15 Gredley, supra η. 10,409. 16 In Euripides' Supplices the messenger-speach (634sqq.) is followed by a stichomythic dialogue (750sqq.), which however is nothing but an appendix to the rhesis with additional information; Hel. 1512sqq./1672sqq. would be an exact parallel
112
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the messenger is not a messenger in the strict sense of the word 17 . But the same is definitely true for the Phrygian. There is already a typical iambic messenger-speech in 'Orestes' delivered by the normal anonymous and unpersonal messenger who simply has to report what has happened in the Argeian assembly (850sqq.). The Phrygian servant of Helen, on the other hand, not only delivers a highly emotional and personal report in the course of which he becomes an individual character and not only has a very important thematic function, but - and this alone would be enough to refute Gredley's argument - the form of his report is not the typical iambic rhesis, but a lyric monody 18 . It thus has to be judged by the standard technique of monody. Here however, as Barner has shown in his lucid study on "Monodie", we find that the exit of a singer immediately after the monody is generally avoided and that, where such exit is necessary, the author tries to conceal its abruptness as much as possible 19 . A second argument is hardly more convincing. Gredley argues that lines 1503-36 disturb the structural symmetry of this part of the play, extending from 1352 to 1548. After a deletion of the stichomythia the aria of the Phrgyian slave would be framed by thematically connected strophe and antistrophe of the chorus 20 ; and Reeve does not only agree, but goes one step further and deletes the much discussed lines 1366-6821 as well, arguing that
to the Or., if those scholars were right, who think that the opponent of Theoclymenos is the messenger; but cf. Kannicht, ad 1621-41 (p. 421-423). 17 Gredley, supra n. 10,410 n. 2; cf. Kannicht, ad Hel. 597-760 (p. 168). 18 Gredley, supra n. 10, 410, recognizes Euripides' departure from the normal form of a ρήσις άγγελική, but does not take it seriously enough. 19 W. Barner, Die Monodie, in: W. Jens (ed.), Die Bauformen der griechischen Tragödie (= Beihefte zu Poetica 6), München 1971, 305sq. 20 Gredley, supra n. 10, 415sq.; the alleged parallelism of strophe and antistrophe (1353sqq.; 1537sqq.) „in tone and subject matter" producing „a cumulative emotional effect", seems rather far-fetched however. 21 Cf. Biehl, supra n. 9, 79-81; A. M. Dale, Seen and Unseen on the Greek Stage, in: WS 69 (1956) 103sqq.; Benedetto, supra n. 9, ad loc.
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the structure "is more orderly still, in fact perfectly symmetrical, without those" 22 . But before an observation like this could be used as a serious argument for the deletion of lines or of a scene, the critic would have to show that this kind of formal symmetry is an important structural principal of composition, and this may be doubted in the case of the Orestes' with its hectic atmosphere and restless dramatic rhythm 23 . I cannot help feeling that this structural argument is dangerously close to the alleged numerical laws and excesses in line-counting of the 19th century, when many Procrustean critics amputated everything that would not fit into their symmetrical beds 24 . Gredley's third argument that "the episode as a whole is clearly not intended to make any contribution to the furtherance of the action" 25 is correct, but provides no evidence against the authenticity of the dialogue. For furtherance of the action is not the only function of dramatic scenes; presentation of characters and development of themes is of equal importance, and this is what the Orestes-scene, as has been demonstrated 26 , is supposed to do.
22
Reeve, supra n. 12, 264; the sudden appearance of the Phrygian would of course be highly effective; on the other hand Barner's analysis has shown that usually the entrance of a monodist is carefully announced and described (cf. supra n. 19, 305 and n. 136). 23 Besides, as we pointed out (p. 449 above and n. 22) the perfectly symmetrical sequence attained by the proposed two cuts would be inconsistent with the normal dramatic technique of careful „Einpassung der Monodie" (Barner, supra η. 19, 302308). 24 Cf. Β. Seidensticker, Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas, Heidelberg 1969, 14sq.; for a recent (more cautious) revival of numerical analysis cf. e.g. J. Irigoin, Structure et composition des tragedies de Sophocle, in: Sophocle, Entretiens Fondation Hardt 29, Geneve 1983, 39-76. 25 Gredley, supra n. 10,411. 26 Cf. the literature quoted supra n. 14.
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A fourth argument deserves greater attention. There is indeed, as Grüninger, Gredley and Reeve have argued 27 , a "glaring inconsistency" between the stichomythia in which the death of Helen appears to be taken for granted by both interlocutors (1512sq., 1534, 1536) and the context in which Helen is repeatedly said to have disappeared at the moment when Orestes and Pylades wanted to kill her. This is what the Phrygian says (1495), this is what Menelaos has heard (1557), this is what Orestes himself has witnessed and resents (1579-86). This inconsistency between the dialogue and its dramatic context is indeed not easy to explain. If we are not satisfied with a reference to other dramatic and thematic inconsistencies in Greek tragedy from the 'Persians' to the 'Iphigeneia in Aulis', and if we do not want to grant Euripides the famous Homeric nap, we may perhaps try to argue that the inconsistency is not as glaring as Grüninger, Gredley and Reeve want us to believe. For, as Page has pointed out, in 1512 διώλετο is ambiguous and could be understood as killed or as disappeared 28 ; the answer of the Phrygian could easily be explained as an example of his diplomacies, by which he wants to save his skin 29 , or he believes that Orestes killed Helen after he left the palace: τά δ' ϋστερ' οΰκέτ' οΐδα (1498); 1534, on the other hand, must not mean more than that Orestes assumes that Menelaos will think that Helen is dead (as he actually does (1579sqq.)) 30 , and for line 1536 we should perhaps not side with Page who says that "a slight inaccuracy of language is almost necessary to couple
27
Grüninger, supra n. 8,1 lsq.; Gredley, supra n. 10,416-418; Reeve, supra n. 12, 263sq.; Arnott, supra η. 11,58 η. 1. 28 Page, supra n. 9, 46; cf. already Σ Dindorf, 324, 26sq. (ex cod. Guelferbytano) ad 1536: πώς λέγει την δάμαρτα; ού γαρ τέθνηκεν. ή δήλον δτι τό γενέσθαι αφαντον ταύτην δμοιον ήν ώσπερ αν εί και νεκρά έγεγόνει. Or could the aorist perhaps be used, as in Ion 1291, of an effort which has ended in failure? (Cf. KiihnerGerth, I 166-167; Owen ad Ion 1291, 1500; Jebb ad Soph. Ai. 1127; OC 1008; Schwyzer, II 281,2). 29 Gredley, supra n. 10,415, is ready to admit that. 30 Page, supra n. 9,45.
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the similar fates of Hermione and Helen"31, but it could certainly be argued that Orestes' words: δύο νεκρώ κατόψεται do not necessarily imply that he talks about Helen as if she were already dead, but could be understood as a threat, as the confident expression of his hope that he will still be able to find and kill her32. But I am ready to admit that much of this attempt may seem to be special pleading. Doubts remain, and instead of attempting to explain away the criticized inconsistency we should rather try to explain it. A possible function of the incongruity (or rather ambiguity) of Orestes' various statements about Helen's fate could be to characterize his shaken emotional state. We do not have to assume as some scholars did, that Orestes suffers from hallucinations, but that he asserts what he would like to have happened. Biehl has rightly pointed out that Orestes shows some similarity with the άλάζων of comedy (esp. 1529sqq.)33. The ambiguous language Euripides uses may be supposed to show Orestes in a state of partial selfdelusion, in which he uses language that suggests more than is actually the case. Another possible explanation of the incongruity between death and disappearance could be that Euripides may have used ambiguous words and phrases to maintain the long uncertainty about Helen's fate 34 because he wanted to heighten the expectation and suspense of his audience and magnify the surprise when she, all of a sudden, at the end appears next to Apollon ascending to heaven (1625sqq.). I don't see, why Arnott, after having convincingly shown that and to what degree Euripides in the preceding scenes teases and mystifies his audience with delusory anticipation35, is not
31
Page, supra n. 9,45. It should be kept in mind that Orestes with these words turns back into the palace (presumably to accomplish his murderous object). 33 W. Biehl, Euripides Orestes, Berlin 1965, ad 1533. 34 The uncertainty extends from 1246 to 1625. 35 Arnott, supra η. 11, 52sq., 56-59. 32
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ready to accept the renewal of ambiguity as yet another example o f the same dramatic technique 36 . The critic who cannot subscribe to either of these two explanations (which, by the way, are by no means mutually exclusive) should, at least, before amputating a whole scene of the drama, consider a much less severe remedy: the deletion of lines 1533-1536 3 7 , which, in addition to the major problem I have dealt with, contain some minor difficulties 3 8 , and he should keep in mind that it seems rather unlikely that an interpolator would not know the play well enough to realize the incongruity 39 . The last argument will have to decide the case. Gredley has taken up the main point of Grüninger's study and stressed that there is a glaring inconsistency between the dramatic premise on which the stichomythia is
36
One could argue that Euripides uses language which is just compatible with the notion of disappearance, but which suggests to the audience that Helen, despite the Phrygian's report, may be dead; in the following scene this uncertainty is maintained because Menelaos is not ready to believe his informant (1558) or Orestes (1559sq., 1581 sqq.) that Helen has vanished, but insists that she is dead. 37 1512sq. can be defended (cf. the explanation given above p. 114) and should be kept. For, as Page, supra n. 9, 45, has overlooked, the deletion of this couplet would almost necessarily lead to the removal of 1514sq., since 1515 (ήτις ...) can only refer to 1512sq., hardly to τανδον in 1514. 38 Cf. Gredley, supra n. 10, 412sq. For a reasonable explanation of lines 1529sqq. which had already been criticized by Grüninger, cf. Page, supra n. 9,48; but it has to be admitted that, after 1529, the introduction of the Argives is surprising and gratuitous, since Menelaos in 1554sqq. comes without them. 39 Reeve, supra n. 12, 264 n. 47, who is aware of this, suggests that the dialogue may have been written „not to follow the monody but to replace it, at a time when monodies were either out of fashion or beyond the capacity of the actors." This, however, leads into all kinds of further complications and questions such as: in a production without the monody there would be no transition from 1365 to 1506 (how would Orestes and the Phrygian enter? in a silent pursuit-scene?); the disappearance of Helen would not merely be delayed, as Reeve thinks, but its sudden introduction in 1557 (not 1579-86!) would appear totally arbitrary; who (without the fugitives of the monody) could have informed Menelaos? Besides, all we know about the postclassical development of tragedy and of acting would suggest that a director would have skipped the stichomythia rather than the monody!
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constructed and the scene that follows40. And indeed, Orestes, as he himself confirms, has left the palace to prevent the Phrygian from calling for help (1510, 1529sqq.) and he certainly achieves his object. We are not told when and how the slave exits, but 1524 has to be taken as a built-in stage-direction; Orestes' imperative: άλλα βαΐν' εσω δόμων leaves no doubt about the direction of the slave's exit. Shortly afterwards, however, Menelaos arrives, obviously well informed about the events which took place in the palace (1554sqq.): ήκω κλΰων τά δεινά και δραστήρια δισσοΐν λεόντοιν οΰ γάρ άνδρ' αΰτώ καλώ. ήκουσα γάρ δή την έμήν ξυνάορον ώς οΰ τέθνηκεν, άλλ' άφαντος οϊχεται, κενήν άκουσας βάξιν, ήν φόβφ σφαλείς ήγγειλέ μοί τις. άλλά τοΰ μητροκτόνου τεχνάσματ' έστι ταΰτα και πολύς γέλως. The question which according to Gredley (p. 411) inevitably suggests itself is: who, if not the Phrygian informed Menelaos? I sympathize with Page's explanation: "Here again I find no serious difficulty. We are, indeed, not informed who took the message to Menelaos; but we know (from 1486sq.) that the slaves fled through the house this way and that, we know that one escaped from the house. This one lingered improvidently in a very dangerous place, and was caught by Orestes. Others climbed out of the palace at the back instead of the front, and went straight to Menelaos instead of waiting to be apprehended. So at least we are entitled to assume. We know that there were those who could and most naturally would have taken the news to Menelaos; we know that Menelaos has heard it. That is all we need to know."41 Gredley (p. 412) criticizes Page's assumption that other slaves 40 41
Gredley, supra n. 10,411-415. Page, supra n. 9,46.
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have escaped as "dangerous and unjustified surmise," and argues that the only explicit textual reference to other slaves running away (1486; 1488) precede the disappearance of Helen (of which, as 1556-59 show, Menelaos is informed). This is correct. On the other hand, however, the Phrygian states that he does not know what happened after Helen disappeared. His words: τά δ' ϋστερ' οΰκέτ' οΐδα (1498) certainly allow the inference that while the Phrygian climbed over the roof of the palace and escaped, other servants may have gotten away too. How many of them and who informed Menelaos is irrelevant. We may admit that the entrance of Menelaos is not as carefully and explicitly prepared for as usually in Greek tragedy - we do indeed not see anyone running off to get him -, but lines 1529sqq. certainly make us wait for Menelaos 42 , and, what is more important, there is evidence in the text that Page is right in assuming that Euripides did not regard the identification of the informant as important. 1549-50 the coryphaeus says: άλλα μην και τόνδε λεύσσω Μενέλεων δόμων πέλας όξύπουν, ήσθημένον που την τύχην ή νυν πάρα. That Gredley is forced by his own argument to doubt this line as well 43 reveals its inherent weakness. "Someone has brought the message" says Menelaos in 1559, and the τις stresses the notion of the που in 1550. Gredley's attempt (p. 415) to identify the unnamed informant as the Phrygian is far from convincing: φόβφ σφαλείς (1558) would of course be a perfect 42
Cf. Benedetto, supra n. 9, ad 1550. Gredley concedes this preparatory function of lines 1530-36 (p. 413), but views them as the clumsy attempt of the interpolator to conceal or at least soften the improbability of Menelaos' arrival which he has created by the interpolation of the scene. 43 Gredley, supra n. 10, 411 n. 11; if the stichomythy is deleted, the chorus' ignorance of how Menelaos got the information would be very strange; 1550 was deleted (without explanation) by A. Nauck, Euripidis Tragoediae II3, Leipzig 1876, XXXII: 1550 spurium arbitratur N.; Reeve, supra n. 12, 264 n. 46, argues quite convincingly that „if 1506-36 go, the remaining tetrameters in the vicinity inevitably come under suspicion." But only, if!
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characterization of our Phrygian; but, as Gredley admits, the words might apply to anyone who had escaped from the bloodshed in the palace; and the adduced verbal parallels between the monody of the Phrygian and Menelaos' summary of what he has heard, could at least be considered as additional evidence, if the alleged identification could be proved otherwise44. In fact, however, it is ruled out not only by the που of line 1550, but also by line 1539sq., the implication of which has been overlooked, as it seems, by the supporters of deletion. Here the chorus asks himself: τί δρώμεν; άγγέλλωμεν ές πόλνν τάδε; ή σΐγ' εχωμεν; This deliberation makes no sense at all if 1503-36 are deleted as an interpolation and if, as a result of the cut, the Phrygian has left the stage after his monody to take the news into town. Line 1539 therefore provides the necessary objective proof that the chorus has witnessed how Orestes prevented the Phrygian from running off; and thus (even if lines 1549-54 are removed also, cf. n. 43) this line alone proves the authenticity of 1503-36. But there is additional evidence: When the conspirators plan their attack on Helen, Orestes and Pylades agree to lock in the servants of Helen, and if one of them should not keep silent, to kill him (1126-8): Op. πρόσθεν δ' οπαδών τις δλεθρος γενήσεται; Πυ. έκκλήσομεν σφάς άλλον άλλοσε στέγης. Ορ. καν τόν γε μή σιγώντ' άποκτείνειν χρεών.
44
άφαντος (1557/1495sq.) is a very common tragic term (αφαντος βήναι, γενέσθαι, Ιρρειν, οιχεσθαν); δισσοΐν λεόντοιν (1555), as Menelaos' explanatory addition: ού γάρ ανδρ' αύτώ καλώ suggests, is not a repetition of a phrase, his informant has used (1401); it rather is one of the many Aeschylean echoes in the 'Orestes' (cf. Cho. 938).
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It seems more than likely that these lines, as Erbse has pointed out 45 , should be heard and understood as a preparation of our scene. If 1503-36 go, 1126-28 would be pointless, 'ein totes dramatisches Motiv.' Furthermore it should be kept in mind: a) that there is nothing objectionable in the metre or in the language of the passage, and b) that, although we know that the play was frequently reproduced on the stage and that the actors took some liberty with the text 46 , the addition of a complete stichomythic scene - and in trochaic tetrameters! - would be unparalleled 47 . The encounter between the tragic hero and a Phrygian eunuch is indeed, as the scholiast comments: άνάξια και τραγφδίας και της Όρέστου συμφοράς. But, as the interpretations quoted supra n. 14 have tried to demonstrate, the little scene is by no means a functionless appendix to the monody of the slave, but an essential part of the statement of this play and of Euripidean tragedy in general. The arguments put forward by Grüninger, Gredley and Reeve to prove or at least to suggest that 1503-36 is an interpolation are far from being cogent. On the contrary, it has been shown that there is objective textual evidence that the scene belongs to the original dramatic sequence.
45
Erbse, supra n. 5,448 n. 29. U. v. Wilamowitz, Einleitung in die griechische Tragödie (= Euripides Herakles Bd. I), Berlin 1906,131-155; Page, supra n. 9. 47 Biehl, supra n. 9, 84; T. B. L. Webster, The Tragedies of Euripides, London 1967,250 n. 17. 46
Comic Elements in Euripides' Bacchae* The Bacchae1 is rightly regarded as Euripides' tragic masterpiece. The fascinating and vexing cat-and-mouse game the god Dionysos enjoys playing
* A first version of this paper was presented to the Classics departments of Berkeley, USC., Princton and Johns Hopkins. For many helpful suggestions I am indebted to David Francis and Douglas Parker. 1 For a discussion of the Bacchae see especially: A. W. Verrall, Euripides, the Rationalist (Cambridge 1895); id., The Bacchants of Euripides (Cambridge 1910); G. Norwood, The Riddle of the Bacchae (Manchester 1908) (henceforth cited: Norwood, Riddle)·, id., Essays on Euripidean Drama (London 1954); U. v. Wilamowitz, Griechische Tragödien (Berlin 4 1923); P. Friedländer, "Die griechische Tragödie und das Tragische", Die Antike 2 (1926) 108-12; G. Meautis, Les Bacchantes d'Euripide (Paris 1928); M. R. Glover, "The Bacchae", JHS 49 (1929) 82-88; F. Wassermann, "Die Bakchantinnen des Euripides", NJbb 5 (1929) 272-86; id., "Man and God in the Bacchae", in: Studies presented to D. Μ. Robinson 2 (St. Louis 1953) 559-69; Ε. R. Dodds, "Euripides the Irrationalist", CR 43 (1929) 97-104; id., The Greeks and the Irrational (Berkeley 1951); id., Bacchae (Oxford 2 1960) (henceforth cited: Dodds, Bacchae)·, K. Deichgräber, "Die Kadmos-Teiresiasszene in Euripides' Bakchen", Hermes 70 (1935) 322-49; G. M. Grube, "Dionysos in the Bacchae", ΤΑΡΑ 66 (1935) 37-54 (henceforth cited: Grube, Dionysos)·, id., The Drama of Euripides (London 2 1961) 398-420 (henceforth cited: Grube, Drama); A. R. Bellinger, "The Bacchae and Hippolytos", YCS 6 (1939) 15-27; A. Rivier, Essai sur le tragique d'Euripide (Lausanne 21975); R. P. Winnington-Ingram, Euripides and Dionysos (Cambridge 1948); G. Murray, Euripides and His Age (Oxford 7 1955); Ε. M. Blaiklock, The Male Characters of Euripides (Wellington 1952); H. Diller, "Die Bakchen und ihre Stellung im Spätwerk des Euripides", Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz 1955) phil.-hist. Klasse 5; H. D. F. Kitto, Greek Tragedy (London 3 1961) 370-81; W. J. Verdenius, "Notes on Euripides' Bacchae", Mnemosyne 15 (1962) 337-63; Th. G. Rosenmeyer, The Masks of Tragedy, (Austin 1963) 105-52; J. de Romilly, "Le Theme du bonheur dans les Bacchantes", REG 70 (1963) 361-80; H. J. Förs, Dionysos und die Stärke des Schwachen im Werk des Euripides (Diss. Tübingen 1964); Η. Rohdich, Die Euripideische Tragödie (Heidelberg 1968) 131-68; W. Steidle, Studien zum antiken Drama (München 1968) 32-38; D. J. Conacher, Euripidean Drama (Toronto 1967) 56-77; D. Sutherland, The Bacchae of Euripides (Nebraska 1968); I. A. LaRue, "Prurience Uncovered, The Psychology of Euripides' Pentheus", CJ 63 (1968) 209-14; E. R. Schwinge, Die Verwendung der Stichomythie in den Dramen des Euripides (Heidelberg 1968) 339433; A. P. Burnett, "Pentheus and Dionysos", CP 65 (1970) 15-29; B. Seidensticker,
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with his all too human opponent and the gruesome punishment and destruction of the θεομάχος Pentheus evoke pity and horror. The denouement of the tragedy with its tearing of the young king by the Bacchants and the appearance of the mad Agaue carrying her son's head fixed to the thyrsos-stick are among the most horrifying scenes of Greek tragedy. It is therefore only natural that the reading of many elements of the tragedy as essentially comic has irritated critics and led to different, indeed contradictory interpretations. The Teiresias-Kadmos-scene at the beginning of the first episode (170ff.) is particularly controversial. Until recently Rivier,2 Pohlenz, 3 and Schmid 4 stood almost alone in their opinion that the encounter of the two old proselytes of the new cult is not meant to be comic. But in the last decade the comic reading of the short scene, advocated by Pater, 5 Norwood, 6 Deichgräber,7 Grube,8 Kitto, 9 Winnington-Ingram, 10 and many others, has been increasingly questioned.11 Conacher, 12 Rohdich, 13
"Pentheus", Poetica 5 (1972) 35-63 (= S. 141-81 in diesem Bd.); J. Roux, Les Bacchantes, texte et comm. (Paris 1972); A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen (Göttingen 31972); Μ. Arthur, "The Choral Odes of the Bacchae of Euripides", YCS 22 (1972) 145-79; W. C. Scott, "Two Suns over Thebes, Imagery and Stage-Effects in the Bacchae", ΤΑΡΑ 105 (1975) 333-46. 2 Rivier, op. cit. (supra η. 1) 76f. 3 M. Pohlenz, Die griechische Tragödie (Göttingen21954) 451. 4 Christ-Schmid, Geschichte der griechischen Literatur. 1,3 (München 1934) 662 n. 15. 5 W. Pater, Greek Studies (London 1908) 66. 6 Norwood, Riddle, 22f. 7 Deichgräber, op. cit. (supra η. 1) 327. 8 Grube, Dionysos, 39f.; Drama 402. 9 Kitto, op. cit. (supra η. 1) 375. 10 Winnington-Ingram, op. cit. (supra η. 1) 41. 11 Dodds, Bacchae, ad 170ff., mentions representatives of this view „from Walter Pater down to Professor Grube"; earlier than Pater (1908) however; P. Girard, "La trilogie chez Euripide", REG 17 (1904) 149-95, see 187f.; J. Schmidt, "Euripides' Verhältnis zur Komik und Komödie", 1. Teil (Programm Grimma 1905) 34; in addition see Wilamowitz, op. cit. (supra η. 1) 139; Friedländer, op. cit. (supra η. 1) 108; Blaiklock, op. cit. (supra η. 1) 218f. 12 Conacher, op. cit. (supra η. 1) 6If.
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Steidle,14 and Roux15 have either expressed doubts or protested vigorously, and Lesky,16 who had spoken of a "bis an die Grenze des Grotesken geführten Szene," thought it necessary to add an explanatory note in the last edition of Die tragische Dichtung der Hellenen ( 3 1972,487 η. 350). It therefore seems appropriate to reopen the discussion and examine carefully the interpretative and aesthetic judgments - and prejudices - which underlie the rejection of a comic reading of this scene. The investigation, however, cannot be confined to the Teiresias-Kadmos-scene. It will also be necessary to include other scenes and passages - above all the so-called dressing scene - which have been considered comic and thus caused similar interpretative problems. If persuasive arguments can be presented in favour of a comic reading of these passages, then a satisfactory answer must be sought to the question why Euripides used comic elements so extensively in the Bacchae. This question gains importance from the fact that Euripides, from the Alcestis to the Iphigeneia in Aulis, again and again, experimented with different forms and techniques of the combination and integration of comic and tragic elements.17 A detailed discussion of a particularly interesting example, the Bacchae, will further our understanding of similar phenomena in other Euripidean tragedies.18
13
Rohdich, op. cit. (supra η. 1) 144. Steidle, op. cit. (supra η. 1) 33-35. 'S Roux, op. cit. (supra η. 1) 30Iff. 16 A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur (Bern 3 1971) 451. 17 W. Jens, "Euripides - Büchner", Opuscula aus Wissenschaft und Bildung (Pfullingen 1964) 34: "Das Fluktuieren zwischen tragischem Pathos und faunischer Burleske gibt dem letzten Dramatiker seine Modernität." 18 A systematic analysis of the comic elements in Greek tragedy does not exist. The articles by Schmidt, op. cit. (supra n. 11), A. Reardon, "A Study of Humour in Greek Tragedy", Univ. of Calif. Chronicle (1914) 30-60; and L. Biffi, "Elementi comici nella tragedia Greca", Dioniso (1961) 89-102, are no more than incomplete compilatons of the material. I am preparing a monograph devoted to the study of this unjustly neglected subject (Palintonos Harmonia. Studien zu komischen Elementen in der gr. Tragödie. Hypomnemata 72, Göttingen 1982). 14
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My argument implies a contrast between the terms 'comic' and 'comedy element' and I shall now briefly define the nature of this distinction. Euripides makes extensive use of structural forms, characters, dramatic situations, motifs, themes, and story patterns which were already or were soon to become typical elements of comedy. These I shall call comedy elements. Comic elements, on the other hand, - and the adjective comic - will be used as a general term for the 'laughable' (τό γελοΐον) in its various manifestations and tones. It is thus obvious that a comedy element in the context of a tragedy is not necessarily comic. A further distinction can be made between comedy elements which Euripides demonstrably adapted - or may have adapted - from contemporary old comedy and those, which form part of the postclassical, Hellenistic-Roman, and the modern European comedy tradition. Only the former could of course be recognized as such by Euripides' audience and so become an integral part of their conscious aesthetic experience. The latter are of interest for the literary critic who wants to understand the development and the mutual influence of the two major dramatic genres. Although the identification and evaluation of comedy elements in Greek tragedy is not without difficulty, 19 scholars in this instance tend to agree much more readily than they do in the matter of the comic tone of a line or scene. This discrepancy is understandable. For it is indeed easier by use of parallels from comedy to show that a certain motif or dramatic situation is 'borrowed' from the sister genre, 20 than to prove that the author aims at laughter or at least an amused smile. Literary critics have often stressed the elusive quality of the Comic. In addition to the common difficulties offered by the analysis of the Comic, the classicist faces special problems. We have 19
Our main problem is, of course, the serious limitation of comparative material (both from comedy and from tragedy); furthermore the mutual influence of the two genres renders the direction of the influence (from comedy to tragedy or from tragedy to comedy?) somewhat uncertain. 20 For examples see Lesley's list in Tragische Dichtung der Hellenen (Göttingen 3 1972) Index s.v. Komödie.
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almost no stage directions ("Harry laughs wildly") and we know too little about the techniques and conventions of staging in the fifth century in general and nothing about the production of the Bacchae in particular. But all this should not deter us from the attempt to find out whether certain scenes are meant to be comic or not. 21 Objective proof may not be attainable in most cases. What a critical interpretation can achieve however is to show: a) that the comic reading which it advocates does justice to the linguistic and dramatic evidence of the scene, and b) that it makes better functional sense than other interpretations for the meaning of the entire play. Since we are dealing with a problem of great importance in the history and theory of modern tragedy, a brief excursus may be allowed. The heuristic advantage of this 'deviation' for our question should soon become obvious. Shakespeare's Macbeth is undoubtedly one of the darkest tragedies in literature. The rise and fall of the royal murderer is presented as a terrifying nightmare, and the audience, following the blind progress of the hero through blood, night, and chaos, is torn between pity and horror. On the other hand the play contains a scene which would be a credit to any Shakespearean comedy, the well-known porter-scene (2,3). The ominous knocking at the south-entry of the castle at Inverness, immediately following the murder of Duncan, drives the two assassins from the stage and causes the old porter to appear and perform his duty, still drowsy and drunk, but with the wit and smooth verbosity of the typical Shakespearean fool. The quality and meaning of this short scene have been misinterpreted again and again. Critics long considered it their obligation to exonerate
21
For our understanding of Euripidean drama the analysis and evaluation of the 'tone' or 'atmosphere' of a line or scene or a whole play is often crucial (see, e.g. B. M. W. Knox, CP 67 [1972] 270). A brief look at the "chaos" (Kitto) of the criticism shows that many of the controversies are due to disagreement about the 'tone'. Since we as reader and critics characteristically make an immediate subjective judgement which is likely to influence our understanding of the play, it is preferable to make explicit those criteria and arguments which underlie our subjective reactions than to dismiss the whole question as subjective.
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Shakespeare from this evident blunder of dramatic technique and taste. Pope relegated the first 42 lines of the scene to the margin, Coleridge thought they were interpolated by the players, Schiller, when he translated
Macbeth,
replaced the comic twaddle of the porter by a simple pious morning song. Conservative critics of the 17th and 18th centuries clung to Cicero's (mis)judgement - et in tragoedia comicum vitiosum et in comoedia turpe tragicum (de opt. gen. orat. 1) - and were unable to see more in this and similar scenes than tasteless remnants of medieval drama. They were for the most part considered as concessions to a simple and uneducated audience, as "blosse Zwischenspiele, die dem Pöbel fur seine sechs Pfennige was zu lachen geben." 22 Coleridge, for example, declares: "This low soliloquy of the porter, and his few speeches afterwards, I believe to have been written for the mob by some other hand, perhaps with Shakespeare's consent." 23 The admiration for Shakespeare's dramatic genius, however, soon led to more positive judgements and a deeper understanding by more sympathetic critics. Voltaire 24 confessed, almost involuntarily, that the barbaric mixture of horror and buffoonery was more pleasing than the sterile regularity, characteristic of the 'modern' age; and Wieland, 25 who in his translation of Shakespeare had criticized comic episodes in the tragedies and historical plays, defended the playwright then in his pioneering essay "Über den Geist Shakespeares" (1772), like Voltaire, as a 'natural genius.' After Lessing 26 and the brothers Friedrich 27 and August Wilhelm Schlegel, 28 the romantic philosophers and poets in particular understood and praised Shakespeare's 22
Ch. M. Wieland, Ges. Schriften, 2.2 (Berlin 1909) 551. S. Τ. Coleridge, Shakespearean Criticism (Everyman Library 1960) I, 75-78. 24 Voltaire, Lettres philosophiques, ed. G. Lanson (Paris 1909) II, 79ff. 25 Ch. M. Wieland, Werke (Berlin Hempel o.J.) XXXVI, 277-80. 26 F. G. Lessing, e.g. Hamburgische Dramaturgie, 70 Stück, in: Sämtliche Werke ed. Lachmann-Muncker, X, 80-84 (83). 27 F. Schlegel, e.g. Geschichte der alten und der neuen Literatur, in: Kritische F. Schlegel-Ausgabe, ed. H. Eichner, VI (1961) 291-95. 28 A. W. Schlegel, e.g. Vorlesungen über Dramatische Kunst und Literatur, ed. G. V. Amoretti (Bonn-Leipzig 1923) 109-220 (141-44). 23
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combination of comic and tragic elements. 29 Modern
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Shakespearean
criticism at last established the poetic quality and dramatic importance of the comic episodes. Detailed interpretations have shown not only that the porter scene is dramaturgically necessary 30 and dramatically powerful, 31 but also that it is carefully integrated into its tragic context by a long series of verbal and thematic connections which fill it deep with tragic irony. 32 No consensus has been reached, however, regarding the dramatic intention and emotional effect of the scene. Two differing interpretations deserve mention because they well illustrate the fundamental point at issue and present arguments typical of those which we shall encounter, when we try to understand the corresponding scenes in the Bacchae·. Thus G. B. Harrison 33 writes as follows: "At this point Shakespeare is presented with a difficult problem in dramatic technique. The feelings of the audience are stretched very taut. When this crisis is reached in a play, the dramatist must relieve tension before the strain becomes too great .... The two most effective methods of relieving tension are by surprise or by laughter. Shakespeare uses both. Across the stage wanders the vulgar old porter ...." Harrison clearly understands the scene as 'comic relief.' Dryden's 34 formulation provides the locus classicus for this technique and its dramatic function: "A continued gravity keeps the spirit too much bent, we must refresh it sometimes, as we bait in a journey that we may go on with greater ease. A scene of mirth,
29
See K. S. Guthke, Die moderne Tragikomödie (Göttingen 1968) 106ff. Some interlude is necessary to allow Macbeth the time to change his dress and wash his hands. 31 For the heightening of tension see, for example, B. Vickers, The Artistry of Shakespeare's Prose (London 1968) 383ff. 32 See the valuable discussion of this scene by K. Muir, Macbeth, The ArdenShakespeare (Liverpool 9 1961) XXV-XXXII, and the famous interpretation of de Quincey, "On the Knocking at the Gate in Macbeth", in: Th. de Quincey, Riverside Edition, IV (Cambridge 1876) 533-39. 33 G. B. Harrison, Shakespeare's Tragedies (London 1950) 197f. 34 J. Dryden, "Essay on Dramatic Poesy", in: Essays of J. Dryden, ed. W. P. Ker (Oxford 1900) 1,69f. 30
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mixed with tragedy, has the same effect upon us which our music has betwixt the acts, which we find a relief to us from the best plots and language of the stage, if the discourses have been too long." 35 On the other hand, "the porter does not make me [A. C. Bradley] 36 smile: the moment is too terrific .... I dare say the groundlings roared with laughter at his coarsest remarks. But they are not comic enough to allow one to forget for a moment what has proceded and what must follow. And I am far from complaining of this. I believe that it is what Shakespeare intended, and he despised the groundlings if they laughed." While Harrison emphasizes the comic quality of this scene to the exclusion of its tragic aspect, Bradley stresses the dark background and lurking tragic irony which, in his opinion, thwart the comic effect. Both interpretations, however, miss the complex double impact of the porter scene. Form and content do not leave the slightest doubt that comic effect is intended; and performances of Macbeth customarily produce the intended effect - and not only the groundlings roar with laughter. Nevertheless, the tragic atmosphere of the scene is by no means weakened, let alone suspended, by the presence of the Comic. Indeed the opposite is the case. Arguing against those traditional critics who insisted that the combination of tragic and comic elements spoils the effect of both, 37 Dryden already maintained that "contraria iuxta se posita magis elucescunt." This observation applies with equal force to many comic interludes in Shakespeare's serious dramas. The Rural Fellow in Antony and Cleopatra (5.2) who brings the doomed queen the basket of figs - and snakes - proves Dryden's point no less
35
Thematic connections between the comic episode and its tragic context are possible, but not essential. In fact, the psychological effect of a emotional relaxation is produced much more easily without irritating references to the main tragic action. 36 A. C. Bradley, Shakespearean Tragedy (1904 repr. 1963) 333. 37 See K. S. Guthke, op. cit. (supra n. 29) 31-52.
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than the gravediggers in Hamlet or the fool in Lear. The combination of comic and tragic situations, actions, and characters causes (or at least may cause) a mutual heightening of effect: the comic appears more comic, the tragic more tragic. The porter scene is one of the most striking examples for this reciprocal intensification.38 When we now return to the controversial scenes in the Bacchae, the heuristic advantage to be derived from the preceding discussion of Macbeth will be evident. A) Bacchae 170ff.: After Dionysos' prologue and the opening parodos, the action of the play starts with the entrance of the prophet Teiresias. Following the introduction of the god and his enthusiastic band of followers we are now about to see the first proselytes Dionysos has made in Thebes and it will be a strange sight: Teiresias enters the stage, calls Kadmos, Pentheus' father, out of the palace, and the two old men join each other in the following short dialogue: ποί δει χορεύειν, ποΐ καθιστάναι πόδα καν κρατα σεϊσαι πολιόν; έξηγοΰ σύ μοι γέρων γέροντι, Τειρεσία- σύ γαρ σοφός, ώς οΰ κάμοιμ' αν οΰτε νύκτ' οΰθ' ήμέραν θύρσφ κρότων γήν· έπιλελήσμεθ' ήδέως γέροντες δντες. Τε. ταΰτ' έμοί πάσχεις άρα· κάγώ γαρ ή(3ω κάπιχειρήσω χοροΐς. Κα. ούκοΰν δχοισιν εις δρος περάσομεν; Τε. άλλ' οΰχ ομοίως αν ό θεός τιμήν εχοι. Κα. γέρων γέροντα παιδαγωγήσω σ' έγώ; 38
Κ. S. Guthke, op. cit. (supra n. 2929) 66. Guthke defines the tragicomic as the synthetic mixture of the tragic and the comic by which the two reciprocally heighten each other.
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Τε. ό θεός άμοχθί κεΐσε νών ήγήσεται. Κα. μόνοι δε πόλεως Βακχίφ χορεύσομεν; Τε. μόνοι γαρ εΰ φρονοΰμεν, οί δ' άλλοι κακώς. Κα. μακρόν τό μέλλειν· άλλ' έμής εχου χερός. Τε. ιδού, ξύναπτε και ξυνωρίζου χέρα. Κα. ού καταφρονώ 'γώ τών θεών θνητός γεγώς. (184ff.) Their exit is, however, interrupted and postponed by the sudden appearance of Pentheus. After a heated agon between Teiresias and Pentheus the two old men leave the stage as Teiresias says: άλλ' έπου μοι κισσίνου βάκτρου μέτα, πειρώ δ' άνορθοΰν σώμ' έμόν, κάγώ τό σόν· γέρο ντε δ' αισχρό ν δύο πεσεϊν- ΐτω δ' δμως, τφ Βακχίφ γάρ τω Διός δουλευτέον. (363ff.) Critical evaluation of this scene with its two male bacchants differs widely. No one disputes that their unexpected (and inappropriate) dress is as such a comedy element; it is the atmosphere and the tone of the scene on which scholars do not agree. Grube,39 for example, maintains that "they look more than a little ridiculous, and are meant to be so." Roux,40 on the contrary, considers that "le culte nouveau refoit ici la caution de deux plus hautes auctorites morales de Thebes, Cadmos et Tiresias, incarnations de la sagesse ancestrale." Although a definitive decision may remain beyond reach, it may not be impossible to resolve at least some of the controversy over the tone of this passage. Winnington-Ingram's41 statement that "the presence of humour cannot be argued, it can only be felt" certainly will not suffice to convince 39 40 41
Grube, Drama 402. Roux, op. cit. (supra n. 1) 301. Winnington-Ingram, op. cit. (supra n. 1) 40 n. 1.
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critics of a comic interpretation; it may, in fact, annoy them. On the other hand, Winnington-Ingram's pessimism is, in my judgement, misplaced; the intended comic quality of the scene can indeed be argued: 1. As in the Iolaos scene of the Heraclidae (630ff.)42 the ridiculousness of the two old men stems from the contrast between their actual physical weakness and the painful consciousness of their old age on the one hand, and, on the other hand, the mask of youthful enthusiasm they have put on. It lies precisely in the incongruity between bacchic emotion and rationalistic uncertainty. The dialogue does not leave any doubt that Euripides wanted to emphasize this contrast as much as possible. In the words of the two old men their desire to honour the god is linked to their unvoluntary confession of inability to do so. In 175 Teiresias informs us that he and Kadmos have agreed to honour the new god in bacchic costume and adds the strictly speaking unneeded phrase: πρέσβυς ών γεραντέρφ. Kadmos who at first declares that he is ready and eager to join Teiresias, then shows by his explanatory argument (δει γάρ ... 181) that for him the Dionysiac revelries are nothing but a set exercise in the interest of the family.43 Talking about the necessity of paying tribute to Dionysos, he immediately adds the rider: δσον καθ' ήμάς δυνατόν (183), and mention of the enthusiastic Dionysiac dance instantly reminds him of his white hair (185). The affirmation - rather cautiously set in the optative - that he would not get tired (187ff.) is subsequently weakened when he anxiously asks Teiresias: οϋκοΰν όχοισιν εις ορος περάσομεν; and when Teiresias rejects the proposal as less honorable for the god, Kadmos' uncertainty finds vent in his irritated question: γέρων γέροντα παιδαγωγήσω σ' έγώ; (193). The incongruity is expressed most clearly by the juxtaposition γέρων γέροντα παιδαγωγήσω.
42
For this difficult scene see G. Zuntz, The Political Plays of Euripides (Manchester 19632) 26-31. 43 See 181-83 and especially 330-42 (333-36).
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Is this really "gravite solennelle" as Roux 44 asserts? The rest of the dialogue consists of additional self-assurances and justifications which again show that the old men are fully aware of the inadequacy of their behaviour. 2. There is also a significant ironic contrast between this scene and the parodos: sung and danced by a chorus of pretty young Asian women, the beautiful ode which depicts the marvels and joys of bacchic μανία closes after an appeal to worship the god with the following swift and gay dactyls: ήδομένα δ' άρα, πώλος δπως άμα ματέρι φορβάδι, κώλον άγει ταχύπουν σκιρτήμασι βάκχα. (165ff.) At the same moment - to these cheerful dactyls - the old blind prophet enters the stage, slowly and cautiously, I suppose, since he is not guided by a young boy as in Sophocles' Oedipus or Antigone, maybe searching his long way through the parodos on to the stage with a thyrsos-stick. Such an interpretation (and staging) of Teiresias' entrance (if not required, certainly permitted by the text) must have a comic effect. While it is impossible to prove that this is how Euripides intended the scene to be staged, the other evidence under discussion supports the hypothesis that a comic effect is indeed what the dramatist had in mind. Roux 45 and Steidle46 think that Euripides let Teiresias enter the stage without support to demonstrate the miraculous metamorphosis of the old priest. Quite apart from the fact that the continuous emphasis on their uncertainty and weakness does not permit us to understand the rejuvenation of the two old men with Steidle as "durchaus ernstgemeinte Folge der Einwirkung des Gottes," lines 193, 198, and 363-66 indeed exclude this
44 Roux, op. cit. (supra n. 1) 301; it should be noted that in lines 179, 186, 189, and 193 repetition and rhyme add a touch of silliness. 45 Roux, op. cit. (supra n. 1) 303. 46 Steidle, op. cit. (supra n. 1) 34.
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interpretation: why - if Roux and Steidle are right - does Kadmos think that he will have to guide Teiresias like a child? Or why, in the very moment when they are about to leave for Mount Kithairon, does Teiresias exhort Kadmos: πειρώ δ' άνορθοΰν σώμ' έμόν, κάγώ τό σόν. γέροντε δ' αίσχρόν δύο πεσεΐν· ϊτω δ' όμως(364f.) Could a scene the function of which was to present the Dionysiac power of rejuvenation end with the stumbling departure of the two old men, leaning for necessary support upon each other? 47 The comic effect of the paradoxical contrast between the parodos and the Teiresias-Kadmos-scene, between the dancing young bacchants and the tottering old men, is even enhanced by the fact that it is Kadmos, the venerable founder and former king of Thebes, and Teiresias, the priest of Apollo, κατ' έξοχήν who are dressed (and decorated) with the insignia of the new god Dionysos. 3. A consideration of the dramatic function of the scene increases the likelihood that it is meant to be comic. Pentheus is not a very likeable personality. 48 A confrontation with two dignified old men, 49 serious and full of good and persuasive argument and advice ("incarnations de la sagesse
47
The end of Sophocles' Oedipus Coloneus shows what a serious metamorphosis of a blind old man looks like. The blind Oedipus, feeling his miraculous removal by the gods near, no longer needs a guide (1542ff.). A new inner light makes him see. I owe this instructive parallel to Prof. W. Calder III. 48 See Seidensticker, op. cit. (supra n. 1). 49 Christ-Schmid, op. cit. (supra n. 4) 1, 3, 661-63, 670 (668 n. 7). A detailed interpretation of the agon between Pentheus and Teiresias (266fF.) and the ensuing 'Rundgespräch' (330ff.) could easily disprove this interpretation. Deichgräber op. cit. (supra n. 1) certainly has gone too far in his negative evaluation of the two old men and their selfish motifs, but there can be no doubt about the ironic-satiric quality of Teiresias' sermon and Kadmos' arguments.
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ancestrale," as Roux thinks) would entirely rob Pentheus of the audience's understanding and sympathy and hence already destroy the delicate balance between the two antagonists at the beginning, even before their first meeting. It is not difficult to see that this cannot have been Euripides' intention. The emotional tension and the fascinating ambivalence of the Bacchae derives in no small part from the fact that our sympathy shifts back and forth between Pentheus and the god. 4. An epic poet can easily indicate the quality of a scene and thus direct the emotional reaction of his audience by introducing a comment into the text: άσβεστος δ' άρ' ένώρτο γέλως {Iliad A 599). A dramatist, however, if he cannot take refuge in stage directions, can only try to suggest the reaction he deems appropriate by employing one of his characters. Euripides himself already did so in the Heraclidae scene (630ff.), where the serf fulfils this function. His comments and asides leave no doubt about the intended comic quality of the aged Iolaos. 50 In the Bacchae the poet uses Pentheus as eyewitness commentator. He is the first interpreter who felt and expressed the ridiculousness of the two old men dancing about in bacchic enthusiasm. άτάρ τόδ' αλλο θαΰμα· τον τερασκόπον έν ποικνλαισι νεβρίσι Τειρεσίαν όρώ πατέρα τε μητρός της έμής, πολύν γέλοον, νάρθηκι βακχεύοντ'· (248-51) Pentheus of course could be wrong. If we had been presented with an unquestionably serious scene, we would dismiss his judgement as inadequate. It would tell us something about Pentheus; not about the effect of the two old men. On the other hand, in the light of what has been said about the stage action, the tone of the dialogue, and the function of the scene we have good
See supra n. 42.
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reason to assume that Pentheus' laughter is the reaction the author intended to produce. These four arguments taken together may not prove that the scene is comic, but they strongly suggest the possibility of a comic reading (and staging). The explicit and implicit arguments of Conacher, Steidle, Rohdich, Roux, and Lesky show that their protest against the comic interpretation of the Teiresias-Kadmos-scene is based on the following assumptions: a) that a comic reading of the scene necessarily implies that Euripides intended to unmask the abominable nonsense and foolishness of the Dionysiac cult, 51 and b) that the scene, if comic, would lose its importance as the first link in a chain of warnings which become more and more urgent and threatening in the course of the action. 52 But this is by no means the case. 53 Just as in Macbeth the laugh at the ridiculous old porter and his jokes does not dissipate the gloomy atmosphere of the scene, so too in the Bacchae the tragic threat is clearly felt without weakening or even spoiling the ridiculousness of the two old men - the 'blind' and the 'lame' - the unvoluntarily comic quality of their short dialogue, and the ludicrousness of their tottering departure. Dionysos' overwhelming power has turned the old king and the respected prophet into ridiculous figures. What is going to happen in the case of Pentheus? The tragic undercurrent, constituted by this menacing question, is intensified in the ensuing dramatic development by the relation of this scene to the horrifying dressing scene in which Pentheus, immediately before his own
51
See Lesky, op. cit. (supra η. 1) 487. See, for example, Conacher, op. cit. (supra η. 1) 62 n. 8 and Rohdich, op. cit. (supra η. 1) 144. 53 See Grube, Dionysos, 40: „It should perhaps be added, that the appearance on the stage of a calculating old man and an adaptable prophet does not necessarily imply an attack on the part of the poet upon the existence or the nature of the god they worship, but at most upon their type of worship." 52
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departure to Kithairon and to death, himself now dressed with all the insignia of the Dionysiac cult and trying to be an exemplary bacchant, is presented as ridiculous. Furthermore, the spectator of the scene (170ff.), seeing the old king and father and the distinguished prophet, the two main authorities of the city, the representatives of state, family, and official religion, as ridiculous victims and proselytes of the new god, will consequently begin to recognize the tragic isolation of Pentheus. Finally it is precisely its comic quality which bestows upon the scene the diabolic and tragic irony that Pentheus, in his first and therefore most important encounter with the Dionysiac cult, should meet just these representatives of the new religion who can do nothing but corroborate his prejudices about the dangerous influence of the cult and so stiffen his resistance against the god. Thus it is the tragicomic quality which gives the scene its special fascination and deep meaning. B) Bacchae 912ff: The mingling of the tragic and the comic is even more obvious in a second scene of the Bacchae·. the so-called dressing scene. At the beginning of the fourth epeisodion Dionysos summons Pentheus, dressed as a maenad with wig and a long linen χιτών, out of the palace and then exposes the complete destruction of the θεομάχος. Dodds (19If.) has rightly pointed out that the third of the three long stichomythiai between the two antagonists totally reverses their first encounter. In the first scene Pentheus scoffed at Dionysos' effeminate garb and even threatened to cut off his beautiful long locks (493) and seize the thyrsos (495). Now he is eager to look exactly like and have the same carriage as a maenad; he lets Dionysos rearrange his hair and dress and is finally instructed by the god about how to set his feet and how to handle the thyrsos.54
54
Dodds, Bacchae, (supra η. 1) 36f.
192; Schwinge, op. cit. (supra η. 1) 403; Steidle, op. cit.
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The connection between these two scenes is indeed obvious. But no less evident and important is the relation of the dressing scene to the TeiresiasKadmos-scene. Now it is Pentheus who is dressed up like a Maenad; now he feels filled with magical strength like the two old men; now he asks if he is alone in his effort (and is assured that he is); now he dances away to Mount Kithairon. The classical dramatic motif of a man in woman's clothes has been successfully used in comedy from Aristophanes' Thesmophoriazusae
down
to Charley's Aunt and Some Like it Hot. The comic possibilities of this comedy motif are fully exploited in the dressing scene, especially in lines 925-44. A close interpretation of the distichomythia
would require the
analysis of the many stage directions, implicit in the passage, and thereby show the variety and vividness of the scenic action which is the essential factor of the comic in this scene. Moreover a detailed analysis of ironic style, aside technique, and line of argument could show the gruesome and witty finesse with which Dionysos exposes Pentheus to the laughter of the audience. It is interesting that, in this case too, Euripides has inserted an explicit hint with respect to the intended effect of the scene. In 854f. Dionysos announces:
χρήζω δέ vi ν γέλωτα Θηβαίοις όφλεϊν γυναικόμορφον άγόμενον δι' άστεως As Winnington-Ingram55 remarks, "it was the purpose of Dionysos to make Pentheus ridiculous and he achieves it." At the same time, however, the scene is extremely pathetic, indeed tragic. The ironic cat-and-mouse game has reached its climax; one of the most comic scenes of Greek tragedy is at the same time one of the most gruesome and pitiful. Dionysos, after many implicit hints, has openly announced the
55
Winnington-Ingram, op. cit. (supra n. 1) 118.
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σπαραγμός of Pentheus by his own mother at the end of the preceding epeisodion; so the spectator already knows what is in store for Pentheus. ά λ λ ' εΐμι κόσμον δνπερ εις "Αιδου λαβών απεισι μητρός έκ χεροΐν κατασφαγείς, Πενθεί προσάψων· γνώσεται δέ τον Διός Διόνυσον, δς πέφυκεν έν τέλει θεός, δεινότατος, άνθρώποισι δ' ήπιώτατος. (857-61) The tragic irony underlying the comic surface is intensified by the symbolic meaning of the dressing which not only provides the preparation for Pentheus' military reconnaissance on Kithairon, but is also the visible expression of the total destruction of the θεομάχος who having lost his fight against maenadism is himself turned into a maenad. His bacchic dress, however, will not be a dancing costume, but his shroud. At the same time even more important - the dressing scene is a ritual prelude to the sparagmos. The victim, as in many sacrifice rituals, is consecrated to the god by a rite of investiture. He becomes - like the priest who wears the dress of the god - a surrogate. 56 Dodds 57 therefore is right, when he writes that "the gruesomeness is enhanced by a bizarre and terrible humour." But it is important to realize that the gruesomeness of the sport with a doomed Pentheus does not spoil the comic effect of the scene, as Dodds 58 supposes: "The groundlings will laugh and are meant to laugh, but for the sensitive spectator the amusement is transmuted into pity and fear." This Verrallian distinction of audiences (the naive and the sophisticated and sensitive) does insufficient justice to the complex tragicomic quality of the scene which at
56 See Dodds, Bacchae, XXV-XXVIII; W. Burkert, "Greek Tragedy and Sacrificial Ritual", GRBS 7 (1966) 87-121. 57 Dodds, Bacchae, 192. 58 Dodds, Bacchae, 192 (Bradley's 'groundlings').
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the same time arouses laughter, pity, and terror. G.B. Shaw's 59 words in his review of a Globe production of H. Ibsen's Wild Duck in 1897, κατ' άναλογναν, are no less true for this scene: "to look on with horror and pity at a profound tragedy, shaking with laughter all the time at an irresistible comedy: (that is, what the Wild Dück was last Monday at the Globe)." In both scenes - the Teiresias-Kadmos-scene and the dressing scene Euripides has effectively combined the comic and the tragic. The atmosphere of the scenes (i.e. the blended quality of the tragic and the comic) is different; in the earlier scene towards the beginning of the drama, both components are less intense than at its climax, immediately before the horrible death of Pentheus. The tragicomic technique is, however, the same in each passage, and it is important to realize that there is no need to deny the comic tone merely in order to salvage the tragic atmosphere and meaning of the two scenes. In addition to these two scenes, the Bacchae contains a number of passages with a less obvious comic touch (especially in the first discussion between Pentheus and Dionysos60), and others which come close to producing ambivalent reactions: for example, when Pentheus tries to bind the bull in the stable fancying that it is the hated stranger, or when he fights with the phantom in the palace. Even the gruesome situation in which Dionysos puts Pentheus on top of a fir, verges on the grotesque.61 Without analyzing all these passages in detail let me hazard a hypothetical explanation for the paradoxical phenomenon that the Bacchae - together with
59 G. B. Shaw, 1897 in Saturday Review, cited from K. S. Guthke, op. cit. (supra n. 29) 113. 60 The amused self-confidence and witty sovereignty by which the tied god controls his human opponent and excites his curiosity in many places imparts to the dialogue an almost humorous tone. 61 See W. Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung (Oldenburg 1959); A. P. Rossiter, "Comic Relief', in Angels with Horns (Plymouth 1961) 274-91 (280).
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Medea, Hippolytos,
and Troades - the Euripidean tragedy κ α τ ' έξοχήν,
contains so many comic elements. In the Bacchae Euripides has represented the fascinating and irritating ambivalence of the Dionysiac, which combines the brutal destruction of σπαραγμός and ώμοφαγία with jubilant dances and songs and the happy natural life of the maenads: savage cruelty and heavenly bliss, terror and happiness, death and life. The additive and synthetic combination of the tragic and the comic is, in my opinion, one of the means by which Euripides has achieved the intended ambiguity. The irritating quality of the tragicomic is perfectly adequate in the story of the god who characterizes himself as δεινότατος, άνθρώποισι δ' ήπιώτατος (861) and whose actor, as Dodds 62 has correctly stressed, wears a smiling mask throughout the play. The indissoluble blending of the tragic and the comic is an expression of the enigmatic ambivalence of the Dionysiac, which is, after all, the ritual and psychic substratum out of which tragedy and comedy grew. It is this fundamental double nature of the god and his cult which - apart from the special functions of the comic elements in their special contexts - provides the basic reason for the importance of the tragicomic technique in the Bacchae.
62
Dodds, Bacchae, ad 439; Τ. B. L. Webster, The Tragedies of Euripides (London 1967) 269, has suggested that at the end, as deus-ex-machina he wears a bearded mask (he is followed by Lesky, op. cit. [supra n. 1] 497).
Pentheus* Für Hans Joachim Mette zum 29.4.1971
Das „Rätsel der Bakchen",
wie es Gilbert Norwood nannte, hat viele
Lösungsversuche angeregt, aber immer noch keine endgültige gefunden. „Man rät bis heute daran herum."
Lösung
1
Die Schwierigkeiten, die das seit seiner posthumen Auffuhrung von Kritikern und Verehrern des Euripides hochgeschätzte Stück 2 dem Verständnis des Zuschauers und Lesers bietet, sind mannigfaltig. Die schillernde Figur des Gottes in Menschengestalt, die dunklen Motive für den Widerstand des jugendlichen Königs und die sich aufdrängende Frage nach der Haltung, die der alte Dichter zum dem Gott und seinem Kult einnahm, haben die zahlreichen Interpreten zu immer neuen Deutungen angeregt 3 . * Ich danke Herrn Prof. Dr. P.R. Hofstätter und Dr. M. Suhr für Rat und Hilfe. 1 K. Reinhardt, "Die Sinneskrise bei Euripides", in: K. R., Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, Göttingen 1960, S. 227-256, hier: S. 256. 2 Euripides errang mit der makedonischen Trilogie (Bakchen, Alkmaion in Korinth, Iphigenie in Aulis) einen seiner seltenen Siege; vgl. Suidas, Ευριπίδης. 3 Es sei nur die wichtigste Literatur in chronologischer Reihenfolge genannt: A. W. Verrall, Euripides the Rationalist, Cambridge 1895; ders. The Bacchants of Euripides, Cambridge 1910; G. Norwood, The Riddle of the Bacchae, Manchester 1908; ders., Essays on Euripidean Drama, London 1954; U. von Wilamowitz, Griechische Tragödien, Bd. 4, Berlin 1923; P. Friedländer, „Die griechische Tragödie und das Tragische", Die Antike Bd. 2/1926, S. 108-112; G. Meautis, Les Bacchantes d'Euripide, Paris 1928; M. R. Glover, „The Bacchae", Journal of Hellenic Studies Bd. 49/1929, S. 82-88; F. Wassermann, „Die Bakchantinnen des Euripides", Neue Jahrbücher för Jugend und Wissenschaft, Bd. 5/1929, S. 272-286; ders., „Man and God in the Bacchae", in: Studies presented to D. Μ. Robinson, Bd. 2, Saint Louis, Mo. 1953, S. 559-569, E. R. Dodds, „Euripides the Irrationalist", Classical Review Bd. 43/1929, S. 97-104; ders., The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951 (Appendix: „Maenadism"), S. 270-282; ders. (Hrsg.), Bacchae, Oxford 2 1960; K. Deichgräber, „Die Kadmos-Teiresiasszene in Euripides' Bakchen", Hermes Bd. 70/1935, S. 322-349; G. M. Grube, „Dionysos in the Bacchae", Transactions of the American Philological Association Bd. 66/1935, S. 37-54; ders., The Drama of Euripides, London 21961; A. R. Bellinger, „The Bacchae and Hippolytus", Yale
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Pentheus Hans Diller hat zu Recht betont, daß für die Beantwortung der zentralen
Interpretationsprobleme der Bakchen die Analyse der Pentheusgestalt von entscheidender Bedeutung sei, und dem Versuch einer Deutung des Pentheus und seiner Motive einen wesentlichen Teil seiner Untersuchung eingeräumt4. Seine Auffassung der Gestalt ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben. Vor allem die weitgehende Ablehnung der 'psychologischen Interpretation' hat alte5 und neue Vertreter dieser Deutung6 auf den Plan gerufen. Es erscheint daher als sinnvoll, sich noch einmal mit dem Verhalten des Pentheus, mit den Gründen für seinen Kampf gegen Dionysos auseinanderzusetzen. Es wird sich, so hoffe ich, zeigen lassen, daß die unterschiedlichen Positionen der Interpreten aus einer unangemessenen Betonung eines oder mehrerer Einzelzüge der Gestalt resultieren. Ziel der folgenden Untersuchung ist es, die bisher nicht voll erkannte komplexe Einheit der
Classical Studies Bd. 6/1939, S. 15-27; A. Rivier, Essai sur le tragique d'Euripide, Lausanne 1942; R. P. Winnington-Ingram, Euripides and Dionysos, Cambridge 1948; G. Murray, Euripides and his Age, Oxford 1918, deutsch: Euripides und seine Zeit, übers, von G. und E. Bayer, Darmstadt 1957; Ε. M. Blaiklock, The Male Characters of Euripides, Wellington 1952; Η. Strohm, Euripides. Interpretationen zur dramatischen Form (Zetemata. 15), München 1957; H. Diller, Die Bakchen und ihre Stellung im Spätwerk des Euripides (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1955, Nr. 5), Mainz 1955, S. 451-471; H. D. F. Kitto, Greek Tragedy, London 1961; W. J. Verdenius, „Notes on Euripides' Bacchae", Mnemosyne Bd. 15/1962, S. 337-363; H. Förs, Dionysos und die Stärke des Schwachen im Werk des Euripides, Diss. Tübingen 1964; Η. Merklin, Gott und Mensch im Hippolytos und in den Bakchen des Euripides, Diss. Freiburg 1964; A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 2 1964; H. Rohdich, Die euripideische Tragödie, Heidelberg 1968; E. R. Schwinge, Die Verwendung der Stichomythie in den Dramen des Euripides, Heidelberg 1968; I. A. La Rue, „Prurience Uncovered. The Psychology of Euripides' Pentheus", Classical Journal Bd. 63/1968, S. 209-214; A. P. Burnett,,.Pentheus and Dionysos, Host and Guest", Classical Philology Bd 65/1970, S. 15-29. 4 Die Bakchen, S. 457-463. 5 Reginald P. Winnington-Ingram in seiner Rezension, Gnomon Bd. 28/1956, S. 148f. Auch Erec R. Dodds hält in seinem Kommentar nach Diller an seiner Deutung fest. 6 Ζ. B. Ernst-Richard Schwinge.
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psychischen Struktur des Pentheus aufzuzeigen und dadurch einerseits einen Beitrag zur Erklärung der rätselvollen Bakchen zu liefern und andererseits zwei wichtige Probleme der Euripidesforschung - die Fragen nach der 'Einheit seiner Charaktere'7 und der 'Psychologie bei Euripides'8 - klären zu helfen. Abschließend wird der Blick auf eine interessante, sich aus der Analyse der Pentheusgestalt ergebende sozialpsychologische Fragestellung gerichtet und das vieldiskutierte Problem des Verhältnisses von Handlung und Personen angesprochen. 1.
Euripides hat den ersten Auftritt des Dionysosgegners und -opfers recht lange hinausgezögert. Mehr als 200 Verse hindurch beherrschen zunächst Dionysos und seine Anhänger die Szene. Erst nachdem in Prolog und Parodos Dionysos und seine Welt exponiert worden sind und in der kurzen Szene zwischen Kadmos und Teiresias die alleserfassende Wirkung des Dionysischen in Theben sichtbar geworden ist9, wird der Kontrahent
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Die Frage ist seit dem methodisch eng an Tycho von Wilamowitz' Sophoklesbuch (1917) und an Emst Howalds Griechische Tragödie (1930) anknüpfenden Buch von Walter Zürcher, Die Darstellung des Menschen im Drama des Euripides, Basel 1947, aktuell. Eine ausführliche, grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Thesen Zürchers gibt es m. W. bisher nicht, wohl aber kritische (seit Gerhard Müllers Gnomon-Rezension, Bd. 21/1949, S. 167-169) u n d seltener - zustimmende Bemerkungen zu einzelnen Interpretationen oder zu dem Ergebnis des Buchs; vgl. unten, S. 168ff. 8 Vgl. dazu vor allem A. Lesky, „Psychologie bei Euripides", Entretiens sur l'antiquite classique Bd. 6/1960, S. 125-150; ders., „Zur Problematik des Psychologischen in der Tragödie des Euripides", Gymnasium Bd. 67/1960, S. 10-26. 9 Euripides fuhrt so den Zuschauer ganz allmählich aus der Sphäre des Gottes in die seines menschlichen Widersachers: im Prolog der Gott selber, dann in der Parodos sein von echter dionysischer Begeisterung getragener alter Begleiter, der Chor asiatischer Frauen, und schließlich die neugewonnenen, noch etwas unsicheren Anhänger in Theben, aus der Stadt und der Familie des Gegners. Die TeiresiasKadmos-Szene ist dabei als deutlicher Kontrast zur Parodos gestaltet: dazu und zur
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Pentheus
vorgestellt 10 . Euripides hat es sorgsam vermieden, Pentheus bereits in den ersten
Szenen
indirekt zu
charakterisieren.
Herrscher
Thebens
und
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Theomachos , mehr weiß der Zuschauer vor seinem Auftritt nicht. Gilbert Murray gibt sich mit dieser Charakterisierung zufrieden. Die Personen der Tragödie sind für ihn Figuren, „die kaum noch Eigennamen brauchen. Genauso gut könnte man sie bezeichnen als: Der Gott, Der junge König, Der alte König, Der Prophet [...]" 12 Doch damit ist lediglich eine Benennung gefunden, wie sie in einem Personenverzeichnis des Stücks auftauchen könnte. Gewiß ist Pentheus der junge König, aber was für ein junger König? Theomachos? Allerdings. Aber was für ein Theomachos? Felix Wassermann behauptet, Pentheus sei „ohne ein Zentrum in sich, aus dem heraus er handeln und sprechen muß", er sei „der Θεομάχος, weil das Geschehen, der Mythos, den Kampf des Königs gegen den Gott verlangt" 13 . Sicher entfaltet ein Dramatiker den Charakter seiner Personen in einer Folge von Situationen, mit denen er sie konfrontiert. Sicher reagiert Pentheus im Rahmen eines gegebenen Mythos, aber wie und warum gerade so?
Komik der Szene vgl. unten, S. 165f. (vgl. B.S., Comic elements ..., in diesem Bd. S. 12 Iff.). 10 Sinn und Wirkung dieser Anordnung des dramatischen Stoffes ist, daß Pentheus von vornherein als der Unterlegene erscheint - Dionysos ist schon fast Herr in Theben - und sofort in die Defensive gedrängt ist. Der eigene Großvater und der Vertreter der Staatsreligion stehen bereits auf des Gegners Seite. Pentheus handelt nicht souverän, beherrscht nicht die Situation, sondern reagiert auf die Aktionen seiner Gegner. Π V. 43-46 Κάδμος μέν οΰν γέρας τε και τυραννίδα Πενθεί δίδωσι θυγατρός έκπεφυκότι, δς θεομαχεί τά κατ' έμέ καί σπονδών απο ώθεΐ μ', έν εύχαΐς τ' ούδαμοΰ μνείαν εχει. „Kadmos nun gab die Würde und die Herrschaft an Pentheus, seiner Tochter Sohn, der mich, den Gott, und meinen Kult bekämpft und von den Opferspenden mich ausschließt und bei Gebeten meiner nie gedenkt." Vgl. dazu V. 213. 12 Euripides und seine Zeit, S. 102. 13 ,J3akchantinneri\ S. 275; natürlich zustimmend Zürcher, S. 153, Anm. 9.
Pentheus
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W i e der Gott im Prolog stellt sich sein menschlicher Widersacher in einer prologartigen Auftrittsrhesis 14 selber vor 1 5 . Der Zuschauer erfährt so die Begründung für Pentheus' Haltung aus seinem eigenen Mund und nicht durch Berichte, Deutungen und Vermutungen anderer. Nur an dieser Stelle des Dramas hat der König die Gelegenheit, sich zusammenhängend ohne die ihn reizende oder verwirrende Anwesenheit seiner Gegner zu äußern. In den 4 8 Versen der Auftrittsrhesis werden die wichtigsten Charakterzüge des Pentheus sichtbar, lassen sich die zentralen Motive für seine Haltung g e g e n Dionysos bereits erkennen. D i e Untersuchimg der Pentheusgestalt geht daher am besten von dieser Rede aus 1 6 . U m Pentheus' Verhalten richtig beurteilen zu können, muß man sich zunächst einmal klarmachen, aus welcher Situation heraus er spricht: der junge Herrscher wird während einer R e i s e 1 7 davon unterrichtet, daß die Frauen die Stadt verlassen haben, u m in den Bergwäldern den Dionysos,
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W. Schadewaldt, Monolog und Selbstgespräch (Neue Philologische Untersuchungen. 2), Berlin 1926, S. 241. 15 Eine Untersuchung der beiden 'Prologe' (V. 1-63 und V. 215-262) ergibt eine genaue Parallelität bis ins Detail. Die beiden sich ausschließenden Programme werden Punkt für Punkt miteinander kontrastiert; vgl. dazu den Kommentar von Dodds zu V. 215-247, der allerdings auf die Parallelität nicht eingeht. 16 Es scheint mir darüber hinaus methodisch sinnvoll, bei dem Versuch der Analyse einer Figur - im Epos oder im Roman, in Komödie oder Tragödie - dem Dichter beim sukzessiven 'Aufbau' der Person zu folgen, nachzuspüren, wie er im notwendigen Nacheinander der Szenen und Situationen allmählich die Gestalt entwickelt und immer stärker differenziert. Die Reihenfolge, in der bestimmte Züge eines Charakters sichtbar werden, ist für die Wirkung auf den Rezipienten von größter Bedeutung. Andererseits lassen sich bestimmte Verse der Auftrittsrhesis erst von der späteren dramatischen Entwicklung her richtig verstehen. Ich gehe deshalb im folgenden jeweils von dem ersten Auftauchen eines Motivs bzw. einer Eigenschaft aus und ziehe dann die dazu gehörenden Stellen des Dramas sofort hinzu. 17 Der Anlaß für die Abwesenheit ist uninteressant und bleibt unerwähnt. Aus dramaturgischen Gründen mußte Pentheus zu der Zeit, als der lydische Jüngling den Kult nach Theben brachte und die Frauen die Häuser verließen, abwesend sein; denn sonst stellte sich die Frage, warum er nicht bereits zu diesem Zeitpunkt eingegriffen hat.
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einen 'neuen Gott' 1 8 , mit Tänzen zu ehren. Auch Agaue, seine Mutter, und ihre Schwestern 19 haben sich dem bakchischen Treiben angeschlossen. Er erfährt weiter, daß ein lydischer Fremdling, weibisch aufgemacht, durch die Straßen Thebens ziehe und als Dionysospriester die jungen Mädchen verführe 20 . Der Bote, dem wie allen thebanischen Männern die Frau davongelaufen ist, hat offensichtlich seiner Phantasie keine Zügel angelegt und mit Einzelheiten
nicht
gespart.
Schleunigst
hat
der
König
seine
Reise
abgebrochen und ist in die Stadt zurückgekehrt. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Rede des Pentheus verstehen. Pentheus ist in Eile 21 , und er ist sichtlich erregt: ώς έπτόηται, „wie erregt er ist" 22 , beschreibt ihn Kadmos, und etwas von dieser Erregung macht sich auch in seiner Rede bemerkbar 23 . Er ist noch nicht lange von der Reise zurück (V. 215) und hat sich von der Wahrheit der ihm zugetragenen Gerüchte noch nicht selbst überzeugt 24 . Zwei wichtige Züge für das Bild, das der Zuschauer sich von ihm machen soll und das sich im weiteren Verlauf des Stücks immer mehr vervollständigt, sind damit bereits gegeben:
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Der Zuschauer weiß aus dem Prolog, daß Pentheus bisher von Mutter und Verwandten nichts gehört hat, was ihn für einen Gott Dionysos einnehmen könnte (V. 26-31. 242-245). 19 Zu der Athetese der Verse 229f. durch Collmann, dem Ulrich von Wilamowitz und Murray zu Unrecht gefolgt sind, vgl. den Kommentar von Dodds zur Stelle. 20 Der Kontext aktualisiert diese Bedeutung von συγγίγνεται (V· 237). 21 V. 212: Πενθεύς πρός οίκους δδε διά σπουδής περςχ „Da kommt Pentheus eilig auf den Palast zu." 22 V. 212 und 214a sind eine Art Regieanweisung (Dodds): Pentheus tritt schnell und erregt von links auf. Winnington-Ingrams scharfsinnige Erklärung des έπτόηται (V. 214) ist immerhin erwägenswert; vgl. V. 332 und Winnington-Ingrams Rezension von Diller, S. 149. 23 Kurze erregte Sätze, häufiges Zurückkommen auf dieselben Vorwürfe und Vorstellungen, zornige Ausbrüche, die den logischen Aufbau verschieben. 24 V. 216: κλύω ... „ichhöre ...".
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Erregung, Hast, Nervosität25 und als Folge davon schnelle, allzu schnelle Reaktion auf Gerüchte, Halbwahres, Halbverstandenes26. Schon der erregte Auftritt des Königs spiegelt die emotionale Labilität, die in dem sich anschließenden Streit mit Teiresias und Kadmos und in den drei zentralen Dialogen mit Dionysos immer deutlicher wird. Der Mangel an Selbstkontrolle27 zeigt sich bereits in der ersten Drohung, die er gegen den verdächtigen Teiresias ausstößt (V. 258f.), und steigert sich in dem das Ende des ersten Epeisodions bildenden Rundgespräch (V. 330-369) erheblich28. Die wütende Reaktion auf das Ansinnen des Kadmos (V. 343f.) und die Ankündigung brutaler Bestrafung des 'Schuldigen' an diesem törichten Mummenschanz (V. 345ff.) sprechen eine deutliche Sprache. Teiresias verschärft denn auch in seiner Reaktion den bereits zweimal erhobenen Vorwurf des irrational unkontrollierten Verhaltens (V. 358f.) 29 : ώ σχέτλι', ώς οΰκ οΐσθα ποΰ ποτ' εΐ λόγων· μέμηνας ήδη, και πριν έξέστης φρενών. Du Tor, du weißt nicht, was du sagst. 25
Im Gegensatz dazu steht durch das gesamte Stück hindurch die heitere Gelassenheit und Ruhe des Dionysos (ζ. Β. V. 436. 439. 621f., dazu Dodds zu V. 636. 640. 790; vgl. auch die Haltung des Gottes im homerischen Hymnos). 26 Zu dem Zusammenhang zwischen emotionaler Labilität und Voreingenommenheit vgl. unten, S. 173ff. 27 Dodds, S. XLIII und zu V. 214: „Pentheus is characterized throughout by the lack of self-control [...]" In demselben Sinne verwende ich auch den Ausdruck 'emotionale Labilität', der in der Psychologie normalerweise einen anderen Sinn hat. 28 Die Steigerung der Erregung wird schon in den ersten Worten des Pentheus spürbar: nicht mehr die freundliche Anrede: πάτερ, nicht mehr die zuredende Aufforderung: willst du nicht den Efeukranz ablegen (V. 253f.), sondern ein wütendes: rühr mich nicht an! Hatte er in V. 258f. mit Rücksicht auf das hohe Alter des Teiresias die Strafe nur angedeutet, so erteilt er jetzt wirklich den Strafbefehl. Der Zuschauer erlebt jetzt den Theomachos in Aktion. Die Zerstörung des Sehersitzes ist ein offener Akt der Hybris. 29 Zu V. 326f. und 359 vgl. Dodds zu V. 359 und Winnington-Ingram, Euripides and Dionysos, S. 56.
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Jetzt bist du ganz wahnsinnig; doch auch vorher schon warst du von Sinnen. Die Charakterisierung des Pentheus durch den Boten (V. 670f.) τό γαρ τάχος σου των φρενών δέδοικ', άναξ, και τοϋξύθυμον και τό βασιλικόν λίαν. Ich fürchte nämlich, Herr, dein rasches Temperament und deinen Jähzorn und die allzu königliche Art (vgl. auch V. 1310) zeigt, daß sein unüberlegt jähzorniges Handeln Folge einer ihm eigenen Labilität ist, die durch die Unsicherheit und Verwirrung, in die ihn die plötzliche Konfrontation mit einem ihm unbegreiflichen Phänomen gestürzt hat, aktualisiert wird. Er ist in der Tat ein „Mann des θυμός" 30 und als solcher durchaus der falsche Mann für den Protest gegen Dionysos 31 . Besonders ausdrucksstark hat Euripides das in den Bildern des 'wutschnaubenden' (V. 620) Pentheus, der an Stelle des Dionysos einen Stier fesselt 32 (V. 618-622) und darauf wie rasend das Trugbild des Gottes zu zerfetzen versucht, gestaltet (V. 628-631). Emotion auf der Basis ungeprüfter Sekundärinformation - das also ist der erste Eindruck des Zuschauers, ein Eindruck, der sich, wie gezeigt, in der Folge immer mehr bestätigt und verstärkt. Pentheus beginnt die Aufzählung der νεοχμά κακά, der „neuen [im Sinne von: unerwarteten, seltsamen] Übel" (V. 216), mit dem, wie die häufige Erwähnung in der Rhesis und in den folgenden Szenen beweist, für ihn
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Karl Deichgräber hat diesen Zug besonders betont. Winnington-Ingram, S. 53f.: „He is the wrong man, for the protest against the religion of drugs and frenzy can only rightly be made by one who is himself calm and rational." 32 Siehe unten, Anm. 57. 31
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entscheidenden Anstoß, der Vermutung, daß die Verehrung des neuen Gottes - des νεωστί δαίμων, der „neuesten Gottheit", wie er ihn abfällig nennt (V. 219) - fur die Frauen nur ein Vorwand sei für Ausschweifungen sympotischer und sexueller Art33. In einer Reihe immer detaillierter werdender Einzelzüge - die Frauen haben die Häuser verlassen, sie treiben sich in den Bergen herum, Tänze, volle Krüge und die Liebeslager im Gebüsch - malt er sich und den Zuschauern ein anschauliches Bild vom Treiben der Frauen (vgl. dazu auch V. 687f.). Selbst wenn man berücksichtigt, daß es sich in diesen Versen um die Wiedergabe eines fremden Berichts handelt, bleiben die Tatsache, daß Pentheus mit diesem Gedanken die Rede beginnt, und die Ausführlichkeit und Lebendigkeit des entworfenen Bildes bedeutungsvoll. Die Häufigkeit und Hartnäckigkeit, mit der Pentheus auf den Vorwurf der Unmoral zurückkommt, läßt keinen Zweifel an der Bedeutung dieser Vorstellung für sein Verhalten zu. Bereits wenige Verse später klingt sie in V. 232 παύσω κακούργου τήσδε βακχείας τάχα. Ich werde ihrem verderblichen bakchantischen Getanze schnell ein Ende setzen erneut an, taucht auch im Zusammenhang mit der Beschreibung des Lyders auf (V. 234-238) und läßt Pentheus offensichtlich auch am Ende seiner Rede keine Ruhe (V. 260-262)34: γυναιξί γαρ
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Der Vorwurf der Unmoral hat auch bei Aischylos eine Rolle gespielt; vgl. Fr. 719f. Mette (= 448 Nauck2). 34 Vgl. Winnington-Ingram, S. 47; Schwinge, Die Verwendung der Stichomythie, S. 348 zu V. 465 (τάσδ')·
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δπου βότρυος έν δαιτΐ γίγνεται γάνος, οΰχ υγιές ουδέν έτι λέγω των οργίων. Denn wo die Frauen beim Mahl den funkelnden Saft der Traube trinken, da ist, behaupte ich, gar nichts Gesundes mehr an den heiligen Riten. Teiresias' Richtigstellung (V. 314-318; vgl. auch V. 278-285) bleibt ebenso wirkungslos wie die ausdrückliche Widerlegung durch den Boten (V. 686 bis 688) und Dionysos' Erklärung 35 (V. 488). Pentheus kommt immer wieder darauf zurück: V. 353f. begründet er seine Strafaktion damit, V. 453ff. sind seine ersten Worte an den Fremden völlig davon bestimmt, V. 487 erinnert ihn die Nächtlichkeit des Kults' erneut daran 36 , und V. 957f. zeigt sich in der Verkleidungsszene noch einmal die beinahe neurotische Fixierung des Königs auf diese Vorstellung: καν μην δοκώ σφας έν λόχμαις όρνιθας ώς λέκτρων έχεσθαι φιλτάτοις έν έρκεσιν. 3 7 Ja, in der Tat, ich stell' mir vor, sie sind, wie Vögel im Gebüsch, in süßen Netzen ihrer Liebeslager gefangen.
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Kitto, Greek Tragedy, S. 378: „[...] the Messenger informs him that he is wrong in fact, Teiresias and Dionysos that he is wrong in theory." 36 Vgl. V. 237.469. 37 Noch unmittelbar vor der Katastrophe sagt er zu Dionysos (V. 1059-1062): "Ω ξέν', οΰ μέν έσταμεν ούκ έξικνοΰμαι μαινάδων δσσοις νόθων· όχθων δ' επ' άμβάς ές έλάτην ύψαύχενα ΐδοιμ' αν όρθως μαινάδων αίσχρουργίαν. „Fremder, von hier aus, wo wir stehen, erreicht mein Blick die falschen Mänaden nicht; oben auf dem Hang jedoch, wenn ich auf eine hochnackige Fichte geklettert bin, könnte ich das schändliche Treiben der Mänaden wohl richtig sehen."
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Genau an diesem Punkte setzt denn auch der σοφός Dionysos an. An der entscheidenden Wende stellt er Pentheus die Frage, ob er sich das Treiben der Bakchantinnen einmal selber ansehen wolle, und die enthusiastisch bejahende Antwort (V. 812) μάλιστα, μυρίον γε δούς χρυσοΰ σταθμόν Nur allzu gern; und unermeßlich viel Gold würde ich dafür geben offenbart ebenso die emotionale Labilität38 wie die von den Bildern seiner Phantasie gereizte Neugier des Königs, die in den oben zitierten Anfangsversen seiner Auftrittsrhesis zum erstenmal spürbar wird39. Nur wenige Verse später bestätigt und verstärkt sich der erste Eindruck bei der Beschreibung des lydischen Gauklers (V. 233-238): λέγουσι δ' ώς τις είσελήλυθε ξένος, γόης έπφδός Λυδίας άπό χθονός, ξανθοΐσν βοστρύχοισιν εΰοσμον κομών, οϊνωπός οσσοις χάριτας 'Αφροδίτης εχων, δς ημέρας τε κεύφρόνας συγγίγνεται τελετάς προτείνων εύίους νεάνισιν. Vgl. auch V. 814. 38 Zwei Verse nach der Entscheidung, die Diskussion zu beenden und die verworrene Situation mit Waffengewalt zu bereinigen, eine totale Kehrtwendung! 39 Eine entscheidende Stütze der Interpretation sind die Verse 813 und 829: τί δ'· εις έρωτα τοΰδε πέπτωκας μέγαν; „Wie? Hat dich eine große Lust danach [d.h.: die Bakchantinnen zu sehen] ergriffen?" ούκέτι θεατής μαινάδων πρόθυμος ει; „Verlangst du nicht mehr danach, den Mänaden zuzusehen?" in denen Dionysos das wichtige Motiv des Pentheus mit geheucheltem Erstaunen (V. 813) bzw. zur Überwindung letzter Skrupel (V. 829) offen ausspricht; vgl. dazu Winnington-Ingram, S. 103f.; Schwinge, S. 384. 390f.; Rohdich, Die euripideische Tragödie, S. 148f.
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Sie sagen, daß ein Fremder angekommen ist, ein zauberischer Gaukler aus Lydien, mit langen, blonden, parfümierten Locken, weinfarbenem Teint und Aphrodites Charme in den Augen; unter dem Vorwand bakchantischer Feiern verbringt er Tage und Nächte mit den jungen Mädchen. Wieder ist das Bild, das Pentheus entwirft, erstaunlich detailliert, wieder enthält es Elemente, die in dem Bericht eines rationalen, verantwortungsbewußten40 Mannes fehlen könnten und würden (V. 235f.)41, wieder liegt der Verdacht nahe, Pentheus' erotische Phantasie sei von der Nachricht stark gereizt worden. Reginald P. Winnington-Ingrams Frage „Is there a touch of envy - of envy and fascination [,..]?" 42 , liegt in der Tat nahe und stellt sich bei der ersten Reaktion des Pentheus in der direkten Konfrontation mit dem Fremden im folgenden Epeisodion erneut (V. 453-9): άτάρ τό μεν σώμ' ούκ άμορφος εΐ, ξένε, ώς ές γυναίκας, έφ' δπερ ές Θήβας πάρει· πλόκαμος τε γάρ σου ταναός, οΰ πάλης ΰπο, γένυν παρ' αυτήν κεχυμένος, πόθου πλέως· λευκήν δε χροιάν έκ παρασκευής εχεις, ούχ ήλιου βολαΐσιν, άλλ' ύπό σκιάς, τήν Άφροδίτην καλλονή θηρώμενος.
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®Vgl. Deichgräber „Die Kadmos-Teiresiasszene", S. 330; Μ. Pohlenz, Die griechische Tragödie, Göttingen 21954, S. 458. 41 Die Reihenfolge der Vorwürfe ist aufschlußreich. Warum nennt Pentheus erst die feminine Schönheit des Fremden und die verführerische Unmoral und reagiert bereits darauf mit der Ankündigung der Todesstrafe und geht erst dann auf den betrügerischen Anspruch des Religionsstifters ein?! 42 S. 46; vgl. dazu La Rue, „Prurience Uncovered", S. 209-211.
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Gewiß, dein Äußeres ist nicht ohne Reiz, Fremder, jedenfalls für Frauen, wozu du ja auch wohl nach Theben gekommen bist. Dein Haar fällt fließend lang - weil du nicht ringst - über die Wangen, sehnsuchtserweckend, und hell ist deine Haut, sorgsam gepflegt, dadurch daß du sie vor den Strahlen der Sonne schützt und dich im Schatten hältst, weil du mit deiner Schönheit auf der Jagd nach Aphrodite bist. Die spöttische Verachtung dieser Worte kann das Interesse, ja eine heimliche Bewunderung, die in der liebevollen Ausmalung des Femininen und der Betonung der Schönheit des jungen Mannes sichtbar wird, nicht ganz verbergen 43 . Es ist psychologisch interessant, daß Pentheus kurze Zeit darauf bei seinem Zornausbruch (V. 489ff.) Dionysos als erste Strafe das Abschneiden der langen Haare ankündigt 44 . Diese Drohung ist die aggressive Reaktion auf die Faszination und Irritation, die von dem schönen Fremdling ausgeht und die schon im ersten Teil der Stichomythie Pentheus' neugierig-interessiertes Fragen erklärt 45 . Nach Johann Adam Hartungs Hinweis, in Pentheus wirke eine „alienorum flagitiorum suspicio cum libidinosa spectandorum secretorum cupidine" 46 , waren es Thaddäus Zielmski 47 und später Ulrich von Wilamowitz 48 und Paul Friedländer 49 , die die Auffassung vertraten, daß „Dionysos in seinem Kampf
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Winnington-Ingram, S. 74; Schwinge S. 345f.; zustimmend auch Dodds in seinem Kommentar z. St.; La Rue, S. 21 If. 44 V. 493: πρώτον μέν άβρόν βόστρυχον τεμώ σέθεν. „Zuerst werde ich dir die üppige Lockenpracht abschneiden." Vgl. die makabre Umkehrung der Situation in der Verkleidungs-Szene V. 928 bis 934. 45 Vgl. dazu Schwinges detaillierte, den psychologisch feinen gedanklichen Ablauf der Stichomythie(n) klärende Interpretation (S. 346ff.). 46 J. Α. H., Euripides Restitutus, Hamburg 1844, Bd. 2, S. 551. 47 „Antike Humanität", Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum Bd. 5/1902, S. 635-651. 48 Griechische Tragödien, Bd. 4, S. 142f. 153. 49 „Die griechische Tragödie und das Tragische", S. 111.
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mit Pentheus einen Bundesgenossen im feindlichen Lager habe" (Zielinski, S. 649), „daß der Gott, der den Pentheus ins Verderben treibt, in Wahrheit in ihm selbst ist" (Wilamowitz, S. 143). Die psychologische Interpretation liegt, wie die Charakterisierung des Pentheus in der Einleitung und die Erläuterung vieler Verse zeigt, dem Kommentar von Erec R. Dodds zugrunde und ist durch eine zwar etwas einseitige, aber sehr fruchtbare detaillierte Analyse des gesamten Stücks unter diesem Aspekt von Winnington-Ingram gesichert worden50. Auch Diller, der sich gegen eine sehr weitgehende tiefenpsychologische Deutung wendet, räumt ein, „daß der Gott den Pentheus schließlich nicht von außen, sondern aus seinem eigenen Inneren überwindet"51. Er äußert jedoch starke Bedenken „gegen eine Psychologie, die mit Hilfe von Momenten, die jenseits [?] des dramatischen Spiels liegen, zu motivieren versucht, und gegen eine Umkehrung der Voraussetzungen, die den Feind des Gottes zu seinem mißratenen Anhänger macht"52. Wieso aber verkehrt eine Interpretation die Voraussetzungen des Dramas53, die aufzeigt, daß „Pentheus fasziniert ist von eben der Macht, welche er beständig bekämpft, zum Bereich des Dionysischen also zugleich eine geheime, nicht zugestandene
50 Vgl. auch Grube, The Drama, S. 403. 415; Ph. W. Harsh, A Handbook of Classical Drama, London 1948, S. 239. 241-243. 245; D. J. Conacher, Euripidean Drama. Myth, Theme, and Structure, Toronto/London 1967, S. 59; Rohdich, S. 148ff.; und die detaillierte sprachliche Analyse wichtiger Stellen unter diesem Aspekt durch La Rue (der allerdings gelegentlich einen Schritt zu weit geht). 51 Die Bakchen, S. 460; vgl. die ähnliche Auffassung von Wassermann, ,ßakchantinnen", S. 277, und Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München 21963, S. 437. 52 S. 460; vgl. auch S. 466. Auch M. R. Glover, Deichgräber, Alfred R. Bellinger, Edward M. Blaiklock, Thomas G. Rosenmeyer, Helmut Förs und Harald Merklin lehnen die psychologische Interpretation ab und leugnen jede Form der 'Überwindung von innen'. Sie verstehen Pentheus als Opfer in der hypnotischen Gewalt des überlegenen Gottes; vgl. dazu die richtige Kritik bei Schwinge, S. 379f., und Rohdich, S. 150ff. 53 Voraussetzung der Tragödie ist die Ablehnung des Dionysos durch Pentheus als Basis für die dramatisierte Auseinandersetzung und Vernichtung. Auf Grund welcher Motive und Eigenschaften Pentheus ein Feind des Gottes ist, gehört nicht zu den Voraussetzungen des Stücks.
Pentheus
155
Affinität besitzt"54, daß sich unter der Oberfläche seines rationalen „Selbstbehauptungswillens" (Diller) eine Menge Unbewältigtes, Verdrängtes, Unbewußtes, Irrationales verbirgt? Dionysos weist Pentheus ausdrücklich auf die gefährliche Einschränkung seines Bewußtseinsbereichs hin (V. 506). Und ist ein solcher Fall so abseitig, wie Diller meint55? Wie eng der Zusammenhang zwischen emotionaler Labilität, Verdrängung, Projektion der verdrängten Impulse auf andere und Ablehnung und Bekämpfung des projizierten eigenen Unbewußten ist, wird noch gezeigt werden56. Hier mag es genügen festzuhalten, daß sich eine Fülle von Stellen bis zu den Schlüsselversen 810-812 und der Verkleidungsszene am sinnvollsten mit der Hypothese der 'psychologischen Interpreten' erklären lassen. Die Auftrittsrhesis läßt noch weitere Schlüsse auf den Charakter des Pentheus zu. In den Aktionen, mit deren Hilfe er der Situation in Theben Herr werden zu können glaubt, zeigt sich zum erstenmal - darauf ist oben bereits kurz hingewiesen worden - die Aggressivität, mit der der König auf die Provokation reagiert. Er hat einen Teil der Frauen ins Gefängnis werfen lassen (V. 226f.), kündigt den anderen das gleiche Schicksal an (V. 228-232) und droht dem falschen Dionysospriester mit dem Tod (V. 241. 246). Mit derselben emotionalen Aggressivität reagiert er im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung immer wieder, und zwar nicht nur auf konkrete äußere Anlässe - ζ. B. auf den Versuch des Kadmos, ihn zu bekränzen (V. 343ff.), bei der Fesselung des Stiers und dem Kampf gegen das Phantom (V. 616ff.)57 oder auf den Bericht des Boten von dem Überfall der Bak54
Schwinge, S. 344 und passim. S. 460: „Und es ist weiter zu fragen, ob der Fall des Pentheus so abseitig ist, wie er nach dieser Psychologisierung erscheinen muß, oder ob nicht in seiner Entscheidung wie in seinem Untergang etwas viel Allgemeingültigeres ausgesagt ist." Zur AllgemeingUltigkeit vgl. unten, S. 60. 56 Siehe unten, S. 172ff. 57 Es ist überraschend, daß in den Interpretationen auch der psychologischen Interpreten nicht betont worden ist, daß Pentheus, der König, das Anbinden des Gefangenen selbst übernimmt. Warum läßt er (d.h. der Dichter) das nicht, wie nach dem Befehl (V. 509f.) erwartet, seine Diener tun? Euripides zeigt so nachdrücklich 55
156
Pentheus
chantinnen (V. 677ff.) -, sondern auch dann, wenn er im Dialog zu unterliegen droht, wenn ihn ein Argument des Gegners ratlos und unsicher macht, wenn er sich widerlegt, kritisiert, verachtet fühlt 58 , d.h. bei allen Angriffen auf seine äußere und innere Sicherheit, auf die Position als Herrscher Thebens 59 und die arrogierte Haltung des überlegenen, den irrationalen Spuk durchschauenden Rationalisten. Das ist in der Tat die Haltung des Tragödien-Tyrannen 60 . Zu den von Dodds angeführten typischen Charakeristika - „absence of self-control [...]; willingness to believe the worst on hearsay evidence [...], or on none [...], brutality towards the helpless [...]; and a stupid reliance on physical force as a means of settling spiritual problems" - kommen weiter die Selbstidentifikation mit der Stadt61, die Überzeugung, als Vertreter von Recht und Ordnung im Interesse des Staates zu handeln, das Gefühl der moralischen und intellektuellen Überlegenheit und das Streben nach Macht und Ehre 62 . Einen weiteren wesentlichen Charakterzug des Helden hat Euripides ebenfalls bereits in den ersten Versen seiner Rede sichtbar werden lassen: die
Faszination und Irritation des Pentheus und seine sich bis zur Mordlust (V. 628ff.) steigernde Aggressivität. 58 Ζ. Β. V. 489. 503. 509ff. 653. 809. 59 Vgl. V. 1308-1312 und V. 1310, πόλει τε τάρβος ήσθα, „die Stadt war in Angst und Scheu vor dir" (dazu Winnington-Ingram, S. 143). 60 Vgl. Murrays Übersetzung der Bakchen (London 1904), Anm. zu V. 215-262; Dodds, Kommentar, S. XLIII und zu V. 214; zustimmend Diller. 61 Deutlich V. 503: λάζυσθε· καταφρονεί με και Θήβας δδε. „Ergreift ihn! er verlacht mich und Theben." Vgl. Oidipus (Sophokles, Oidipus Tyrannos, V. 628-630) und Kreon (Sophokles, Antigone, V. 736ff.). 62 V. 310. 319f. 505. 670f. 778ff. 803. 840 und 842. 962. 968b und 969b. 13081312, auch V. 333-336. 809. 945f. und 949f.
Pentheus
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Voreingenommenheit. Ohne sich von der Richtigkeit der ihm zugetragenen Gerüchte überzeugt zu haben, hat er sich bereits seinen Reim auf die Sache gemacht. Wenn Frauen Heim und Herd verlassen und in den Bergwäldern tanzen, so kann der wahre Grund natürlich nur Aphrodite und nicht Dionysos heißen (V. 224f.). Nicht ein neuer Gott, sondern die alte Schwachheit des Fleisches ist schuld. Ein paar Tage Haft werden sie zur Vernunft bringen. Und weiter: ein lydischer Fremdling, zudem mit langen Haaren, kann nur ein Scharlatan
sein;
und
wenn
er
mit ungewöhnlichem
Äußeren
und
merkwürdigen neuen Ideen die sittliche Grundordnung des Staates gefährdet, so braucht man nicht lange zu prüfen, wer er ist (V. 247) und worum es geht, der Scharfrichter (V. 241) oder der Henker (V. 246) werden die Angelegenheit in Ordnung bringen. Die der ersten Einschätzung des unbekannten Phänomens zugrunde liegenden und die Reaktion des Pentheus bestimmenden Vorurteile sind in den Dialogen mit Teiresias und Kadmos bzw. Dionysos immer wieder greifbar: Frauen gehören ins Haus, an den Webstuhl (v. 217. 514), Alkohol, Tanz und das Dunkel der Nacht verführen sie zur Unmoral (siehe oben, S. 4Iff.), Barbaren sind dumm (V. 483; vgl. auch V. 467 und V. 779), Seher sind geldgierig (V. 255ff.), alles Neue ist zunächst einmal schlecht (V. 219. 256. 272. 353f. 467), was man nicht sehen kann, existiert nicht (V. 501). Pentheus' voreingenommenes konventionelles Denken läßt sich im wesentlichen auf zwei Grundanschauungen zurückfuhren: 1. auf den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Nation (Dodds: „foolish racial pride"), die sich in der grundsätzlichen Ablehnung des Fremden als lydischer Scharlatan genauso offenbart, wie im Dialog mit Dionysos, wenn er sich ironisch nach einem Barbaren-Zeus erkundigt, der ständig neue Götter produziere (V. 467), oder wenn er gnomisch-lapidar feststellt, daß Barbaren dümmer seien als Griechen (V. 483) und das Treiben der Bakchen als ψόγος ές Έ λ λ η ν α ς μέγας, „eine große Schande für uns Griechen" (V. 779), bezeichnet;
158
Pentheus
2. auf die Überzeugung von der untergeordneten Stellung der Frau, d.h. letztlich von ihrer Minderwertigkeit gegenüber dem Mann. Diese Auffassung äußert sich in dem Hohn über die weibische Aufmachung des Fremden (V. 453ff.), in den dauernden Verdächtigungen der moralischen Integrität der Frauen - Nacht und Wein werden immer ausdrücklich als 'fur F r a u e n gefährlich' bezeichnet in den kaum zu überwindenden Bedenken gegen die Verkleidung als Bakchantin63 und wird von ihm selbst als ein Motiv seines Handelns formuliert, wenn er die militärische Aktion gegen die Frauen begründet (V. 785f.): οΰ γαρ άλλ' υπερβάλλει τάδε, ει προς γυναικών πεισόμεσθ' ά πάσχομεν. Denn, in der Tat, das ist zuviel, wenn wir von Frauen erleiden sollen, was wir jetzt erleiden. Wenige Verse danach nennt er die Frauen der Stadt, unter denen sich auch seine Mutter und ihre Schwestern befinden, sogar seine Sklavinnen (V. 803): τί δρώντα; δουλεύοντα δουλείαις έμαΐς; Und wie? als Sklave meiner eigenen Sklavinnen? und offenbart so seine Einstellung zum weiblichen Geschlecht überdeutlich. Mit Barbaren- und Frauenverachtung reproduziert Pentheus in der griechischen Gesellschaft weitverbreitete Vorurteile, wie sie Euripides in einer ganzen Reihe seiner Stücke, in denen sich Barbaren Griechen, bzw. Frauen Männern als überlegen erweisen (ζ. B. Alkestis, Medea, Andromache, Iphigenie in Aulis), implizit und explizit kritisiert und 'widerlegt' hat. Immer
63
V. 822. 828. 830. 836, auch V. 803. 845f. 852f.
Pentheus
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wieder kommt Pentheus auf die gleichen Vorwürfe zurück, immer wieder orientiert er sich am Nächstliegenden, Handgreiflichen, Banalen. Dodds hat treffend von einem „vulgären Zollstock der Durchschnittserfahrung" („the vulgar yardstick of average experience") gesprochen, den er an alles anlege 6 4 , und Diller hat diesen in die Augen springenden Charakterzug zur Grundlage seiner Analyse der Pentheusgestalt gemacht:
„Was ihn treibt, ist der Wille zu einer g a n z e i n f a c h e n g e i s t i g e n b e h a u p t u n g , wie ihn der
Selbst-
M e n s c h um seiner primitivsten Existenz willen
betätigen muß. Auch unter einem Schwall neuartiger Gindrücke muß m a n versuchen, sich zu orientieren, und gerade der Versuch methodischer Orientierung wird sich grundsätzlich zunächst auf ein Minimum von Begriffen oder Vorstellungen als Ausgangslinie zurückziehen." (S. 463)®5
„Er [Pentheus] hat sich im Namen des menschlichen Selbstbehauptungswillens und auf dem Boden der alltäglichen Erfahrung gegen das verwirrend hereinbrechende Ungewöhnliche, die Menschen in Besitz nehmende und aus ihrer gewohnten Umwelt Treibende entschieden." (S. 466)
„Die Bakchen sind die Tragödie von der Gewalt, die den Menschen zwingt, sich seiner selbst zu entäußern, und zwar denjenigen am grausamsten, der am stärksten an seinem Selbst festzuhalten versucht." (S. 467)
Diller hat mit dieser Deutung der Pentheusgestalt zweifellos Wesentliches getroffen. Aber das Bild, das er entwirft, vereinfacht die
64
komplexe
Kommentar, S. XLIV. Hierin sieht Diller, wie die von mir hervorgehobenen Worte zeigen, die Allgemeingültigkeit der Pentheusgestalt. Sieht man jedoch die konkrete Füllung der abstrakt plausiblen Formulierungen an, d.h. überprüft die Begriffe und Vorstellungen, auf die sich Pentheus zurückzieht, wird man Dillers recht positivem Urteil nicht zustimmen können. 65
160
Pentheus
psychische Struktur des Pentheus 66 und ist in etwas zu hellen Farben gehalten. Diller legt den Akzent auf die Tatsache des Widerstands „angesichts der spielenden Willkür einer unbegreiflichen Übermacht" 67 und nicht auf die Form, in der sich dieser Widerstand vollzieht; er betont zu Recht den Zustand der 'Desorientiertheit', die 'Unbegreiflichkeit der Zumutungen' und
den
Zwang
zur
'Selbstentäußerung',
vernachlässigt jedoch
die
Voreingenommenheit des Pentheus, seine Starrheit und Blindheit, die sich in der Konventionalität seiner Denkschemata genauso äußert wie in der absoluten Unbelehrbarkeit. Auf
die Uneinsichtigkeit,
mit
der der König
trotz
wiederholter
Berichtigungen und Belehrungen nicht nur durch Teiresias, dem er nicht über den Weg traut, und den Fremden, sondern auch durch seinen eigenen Diener an dem Vorwurf der Unmoral festhält, ist bereits hingewiesen worden 68 . Besonders deutlich wird die Unbelehrbarkeit auch in den
ständigen
Versuchen, das Problem mit physischer Gewalt aus der Welt zu schaffen, den Gott oder seine Anhänger zu töten oder zu fesseln und einzusperren. Den Frauen, die er ins Gefängnis werfen ließ (V. 226f.), fallen die Fesseln von den Füßen, und die Gefängnistüren öffnen sich, ohne von menschlicher Hand berührt worden zu sein (V. 443-448). Trotzdem versucht er, den Fremden, der ihm rät, ihn nicht erneut zu fesseln 69 , und ihm die Nutzlosigkeit seines Tuns vorhersagt (V. 498. 504), im Stall anzubinden, und zieht aus dem totalen Scheitern auch dieses Versuchs keine Lehre. Im Gegenteil: kaum hat er den entflohenen Gegner (V. 648) wieder entdeckt, will er in grotesker Übersteigerung sogar die ganze Stadt durch Schließen der Tore zu einem großen Gefängnis machen 70 .
66
Vgl. Rohdichs Kritik an Diller, S. 150. S. 466. 68 Siehe oben, S. 150. 69 V. 451 befiehlt Pentheus, den gefesselten (V. 437-440) Fremden loszulassen; zu dem μέθεσθε (Burges) vgl. den Kommentar von Dodds z. St. 70 V. 653; dazu Schwinge, S. 371, und Burnett, „Pentheus and Dionysos", S. 21; vgl. noch V. 792f. 67
Pentheus
161
Euripides hat in den unangemessenen und zum Scheitern verurteilten Versuchen Unverständnis und Hilflosigkeit des Pentheus angesichts des dionysischen Phänomens sichtbar gemacht und zugleich durch die mehrfache Wiederholung einer erfolglosen Aktion bzw. ihrer Ankündigung die Unbeweglichkeit seines Denkens demonstriert71. Diese geistige Schwerfälligkeit72 offenbart sich in den Dialogen mit dem σοφός Dionysos auf Schritt und Tritt. Mit einer Mischung aus Ärger und Bewunderung bescheinigt er seinem Gegner die intellektuelle Wendigkeit und den Scharfsinn, die ihm selber so sehr fehlen (V. 491)73: ώς θρασύς ό βάκχος κοΰκ άγύμναστος λόγων. Wie unverfroren der Bakchospriester ist und in der Streitrede nicht ungeübt. σοφός σοφός σύ, πλην α δει σ' είναι σοφόν. (V. 655)74 Klug, klug bist du, außer wo du klug sein müßtest. άπόρφ γε τφδε συμπεπλέγμεθα ξένφ, δς οϋτε πάσχων οΰτε δρών σιγήσεται. (V. 800f.)75 71 Der gefesselte Dionysos: das ist eine contradictio in adiecto. Der Gott, mit den Beinamen Λύσιος und Λυαϊος, „der Löser", der alle Fesseln in der Seele des Menschen löst, ihn dem Gefängnis des Leibes entreißt und über die Hemmnisse des Alltags hinweghebt, der Gott der Ekstase und Verwandlung, der Mühelosigkeit und Freiheit, wird von Fesseln gar nicht erreicht. 72 Diller, S. 463: .Auch Pentheus bleibt [wie die Giganten] mit seinem Denken an die Erde gefesselt; klein ist der Raum, den er beherrscht, und schwerfällig ist seine Gedankenwelt bei aller Überhastung seines Denkens." 73 Vgl. auch V. 475 und V. 479. 74 Dazu V. 650: τίς; τους λόγους γαρ εισφέρεις καινούς άεί. „Wer? Du bringst ja ständig unerwartet neue Dinge zur Sprache." 75 Argwohn gegen die als überlegen empfundene Intelligenz des Gegners zeigt sich auch in den Verdächtigungen V. 805 und 807 (V. 475. 479).
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Ein schwerzufassender Gegner, in der Tat, ist dieser Fremde, mit dem ich aneinandergeraten bin, der, straft man oder läßt man ihn, nicht schweigen wird. und ordnet sich ihm schließlich nach der Peripetie völlig unter76. Die 'Kurzsichtigkeit' (partielle Blindheit) und Unbelehrbarkeit des Pentheus sind entscheidend für seinen Untergang77. Sie verhindern, daß er die auf Gerüchten basierende Voreingenommenheit durchbricht, seine Vorurteile überprüft und korrigiert und die zahlreichen Hinweise auf die göttliche Natur seines Gegenspielers begreift78. Er hat kein Organ für das Außergewöhnliche, Wunderbare79. So bleibt die erste vorsichtige Mahnung des betroffenen Boten (V. 449f.) 80 πολλών δ' δδ' άνήρ θαυμάτων ήκει πλέως 76
V. 818. 824. 826. 838; tragisch-grotesk dann in der Verkleidungs-Szene. Darauf hat Anne P. Burnett, S. 18-24, den Hauptakzent ihrer PentheusInterpretation gelegt; vgl. auch Winnington-Ingram, Euripides and Dionysos, S. 101. 164ff; Schwinge, S. 345. 354 u. ö. 78 Dionysos spricht es mehrfach aus: πείθη μέν ούδέν, των έμών λόγων κλύων (V. 787) „Du läßt dich zwar überhaupt nicht überzeugen, obwohl du meine Worte hörst, [...]" 77
δόξει τις άμαθεΐ σοφά λέγων ούκ εΰ φρονεΐν. (V. 480) „Ein Tor wird wohl von manchem, der Kluges spricht, doch glauben, er sei nicht bei Verstand." Vgl. dazu V. 268f. 31 lf. 332. 369. 490. 923f. 947f., auch V. 326f. 358f. 502. 504. 506. 79 Das wird bereits in der Auftrittsrhesis klar, als er, wie die Umkehrung der Reihenfolge zeigt, offensichtlich den Zusammenhang zwischen dem bakchischen Treiben der Frauen und der Ankunft des lydischen Gauklers nicht voll begriffen hat. 80 Schon V. 448: κληδές τ' άνηκαν θύρετρ' άνευ θνητής χερός. „Die Riegel ließen die Türflügel aufspringen, ohne daß eines Sterblichen Hand sie berührt hätte." enthält einen Hinweis auf die geheimnisvolle Verbindung des Fremden mit dem Göttlichen (vgl. dazu V. 764: ούκ άνευ θεών τίνος, „nicht ohne irgendeinen Gott", zu θαυμάτων πλέως vgl. auch V. 667. 693. 716. 1063).
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ές τάσδε Θήβας, σοι δέ τάλλα χρή μέλειν. Viel Wunderbares ist verbunden mit dem Erscheinen dieses Mannes hier in Theben. Doch es ist deine Sache, dich um das Weitere zu kümmern ebenso unbeachtet wie die ersten 'Wunder' - die so ganz anders als erwartet verlaufende Verhaftung des Fremden (V. 434-442) und die geheimnisvolle Befreiung der Bakchantinnen so nützt es auch nichts, daß Dionysos deutlicher wird und ihm mit Stier, Phantom und Erdbeben gleich drei Zeichen seiner Macht gibt (V. 616ff.), und so lernt er auch aus dem Botenbericht nichts, der seine Verdächtigungen widerlegt (V. 686-688)81 und zugleich die Drohung des eigenen Untergangs für Pentheus bereithält82 (V. 728ff). Auch die letzten Warnungen und Vorschläge des Dionysos (V. 787ff.) erreichen ihn nicht; das Friedens- (V. 804) und Rettungsangebot (V. 806) wird als Trick und Komplott der Gegner verdächtigt (V. 805. 807) und unwillig beiseitegeschoben (V. 809)83. In diesem Moment ist die Geduld des Gottes zu Ende, die Vernichtung des Pentheus entschieden84.
81
Vgl. auch V. 693. 712f. Beachte die Ambivalenz des mehrfach auftauchenden Wortes δεινόν (V. 667. 674. 716. 760), das sich im Verlaufe der Botenszene immer mehr von 'wunderbarstaunenswert' zu 'ungeheuer-schrecklich' entwickelt. 83 Erst unmittelbar vor der Katastrophe, im Angesicht des Todes, begreift er (V. 1111-1113). 84 Vgl. dazu Burnett, S. 19, die zu Recht betont, daß Dionysos im Prolog nicht, wie in den vergleichbaren Prologen Kratos (Aischylos, Prometheus), Athene (Sophokles, Aias), Iris (Euripides, Herakles, 2. Prolog), Aphrodite (Euripides, Hippolytos), Bestrafung und Vernichtung des Helden als beschlossen und entschieden vorhersagt: „War has not yet been declared between them, and Pentheus is, at this moment, free." 82
164
Pentheus
2.
Fassen wir noch einmal zusammen: Emotionale Labilität und unbewußte, sich immer wieder in seinen Worten und Aktionen offenbarende Affinität zum Dionysischen; Konservativismus und
'Recht-und-Ordnung'-Denken,
starre Fixierung auf ethnozentrische und patriarchalische Vorurteile 85 , verbunden mit ausgeprägtem Streben nach Ehre und Macht, schließlich stereotype Denkschemata, geistige Schwerfälligkeit, mangelnde Selbsterkenntnis, Unverständnis für alles die Alltagserfahrung Übersteigende und Unbelehrbarkeit. Kein sehr einnehmender Charakter 86 . Es bedurfte schon der dramatischen und psychologischen Meisterschaft des Euripides, diesem Mann das notwendige Maß an Verständnis und Sympathie zu sichern. Der Autor erreicht
85
Man könnte sich fragen, ob es sich hier nicht um so allgemeine Vorurteile der griechischen Gesellschaft handelt, daß man nur von gesellschafts-spezifischen, nicht aber von typen- oder gar persönlichkeits-spezifischen Merkmalen sprechen sollte. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß die geistige Entwicklung der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts (Herodot, Sophistik, Tragödie, Sokrates) bereits eine nicht unerhebliche Infragestellung solcher 'selbstverständlicher' Vorurteile gebracht hat, und daß, wie oben erwähnt, gerade Euripides in vielen seiner Stücke von der Alkestis an eine dezidiert andere Position bezogen hat, für ihn also die unbefragte Reproduktion dieser (auch in den Bakchen implizit und explizit widerlegten) Vorurteile sehr wohl Teil des kritisierten Verhaltens eines bestimmten Typus bzw. Charakters sein kann. Vor allem jedoch: wichtig sind Art und Weise, in der die Vorurteile sich äußern, und die dramatische Situation, in der sie auftauchen, sowie, für meine Überlegungen besonders, die Zugehörigkeit zu einem signifikanten Syndrom von Eigenschaften und Haltungen, Ansichten und Wertungen. 86 Pohlenz, Die griechische Tragödie, Bd. 1, S. 455, steht mit dem Urteil „liebenswürdiger", noch etwas „unreifer Jüngling", nachdem Norwood seine erste positive Beurteilung des Pentheus (The Riddle, S. 66f.) korrigiert hat (Essays, S. 67) zu Recht fast ganz allein; zu positiv auch Walter B. Sedgwick („Again the Bacchae", Classical Review Bd. 44/1930, S. 6: „a good man, who meets with a dreadful doom through some άμαρτία)" und Kitto (Greek Tragedy, S. 373: „a normally wellmeaning man"). - Unter 'Charakter' wird hier und im folgenden die individuelle Variation einer typischen Persönlichkeitsstruktur verstanden, vgl. dazu unten, S. 168ff. undAnm. 126.
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das dadurch, daß er einen jugendlichen, unerfahrenen Pentheus auf die Bühne stellt, der plötzlich mit einem neuartigen, in seiner Reichweite und Bedeutung schwer überschaubaren Problem konfrontiert wird, und das während einer Reise, fern vom Schauplatz der Ereignisse. Euripides betont zudem mehrfach die Neuartigkeit des dionysischen Kults, um Pentheus' Unverständnis zu erklären. Weiter macht er durch den Hinweis darauf, daß die göttliche Abstammung des Semelesohnes im Königshaus bezweifelt wurde und als List des alten Kadmos galt (V. 26ff. 244f.), deutlich, daß für Pentheus der Anspruch, Dionysos sei ein Gott, wirklich neu und unverschämt sein muß. Schließlich hat er durch den dramatischen Aufbau des Stücks, dadurch, daß er Pentheus zunächst auf die beiden Greise Teiresias und Kadmos stoßen läßt, Verständnis fur Pentheus' Verhalten zu wecken gewußt. Daß es sich bei den beiden Alten um „zwei würdige Greise" 87 „mit einleuchtenden Argumenten" 88 handelt, wird heute wohl von niemandem vertreten. Zu scharf ist der Kontrast zur Parodos 89 , zu groß der Widerspruch zwischen dem Bewußtsein des Alters und dem Wissen um ihre körperliche Schwäche 90 und der aufgesetzten Maske der Jugendlichkeit und Fröhlichkeit, zu offensichtlich die Inkongruenz zwischen bakchantischer Ergriffenheit und rationalisierender Unsicherheit 91 . Hier liegt der Keim fur die Lächerlichkeit des Auftritts, die man immer wieder gespürt und begründet 92 hat 93 . Pentheus
87
Pohlenz, Bd. 1, S. 451. W. Schmid, Geschichte der Griechischen Literatur, Τ. 1, Bd. 3, München 1940 (Nachdruck: 1961), S. 662, Anm. 15. 89 Man male sich den Kontrast zwischen den tanzenden, singenden Mädchen und den stolpernden, sich gegenseitig stutzenden Greisen aus (scharf schon die Diskrepanz zwischen V. 165-167 und dem langsamen Auftritt des blinden - in diesem Stück von niemandem geführten - Teiresias. 90 V. 175. 183. 185. 186. 189. 193. 207. 365. 91 V. 180ff. 190f. 204ff. 365f. 92 Winnington-Ingram, S. 40: „The presence of humour can not be argued; it can only be felt." Vgl. B.S., Comic elements, in diesem Bd. S. 121ff. mit weiterer Lit. 93 Ζ. Β. Grube, „Dionysos in the Bacchae", S. 39; ders., The Drama, S. 402f.; Norwood, The Riddle, S. 23; Kitto, S. 373; Blaiklock, The Male Characters, S. 218; Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, S. 437; Merklin, Gott und Mensch, S. 88
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Pentheus
ist der erste 'Interpret', der die makabre Komik94 der Szene formuliert hat (V. 248-251): άτάρ τόδ' αλλο θαΰμα, τον τερασκόπον έν ποικίλαισι νεβρίσι Τειρεσίαν όρω πατέρα τε μητρός της έμής - πολύν γέλων νάρθηκι βακχεύοντ'· Doch sieh, das neue Wunder da! Ich seh' den Zeichendeuter Teiresias und den Vater meiner Mutter - ein äußerst lächerlicher A n b l i c k - i n buntgefleckten Hirschkalbfellen mit dem Narthex bakchisch tanzend. In den beiden Greisen tritt ihm nach den Gerüchten der Dionysoskult zum erstenmal sichtbar gegenüber. Die würdelose, lächerliche Erscheinung der wie Bakchantinnen aufgeputzten Alten, die spitzfindige rhetorische Verteidigungsrede des Apollonpriesters und Dionysosproselyten Teiresias und das auch nicht gerade Sympathie weckende Ansinnen des Familienpolitikers Kadmos95 müssen Pentheus in seinen Vorurteilen und Vorstellungen von dem unheilvollen Einfluß des neuen Kults bestärken und damit seine Haltung gegen Dionysos versteifen96. Eine 'Entschuldigung' für Pentheus liegt endlich auch in dem Verhalten seines Gegners. Die Verkleidung und Verstellung des Gottes, seine ironische Überlegenheit und das verwirrende Vexierspiel des Andeutens, Offenbarens
129-133. 142-145; D.G. Harbsmeier, Die alten Menschen bei Euripides, Diss. Göttingen 1968; auch Burnett, S. 20. 94 Dem Zuschauer bleibt das Lachen in der Kehle stecken. Die alles erfassende Macht des Dionysos hat die beiden Greise zu lächerlichen, würdelosen Gestalten gemacht. Was wird mit Pentheus geschehen? Es liegt, darauf hat Dodds zu Recht hingewiesen, etwas Drohendes, Makabres zugleich in dieser Lächerlichkeit. 95 V. 333-336. 96 Es ist also sicher falsch, wenn Schwinge erklärt: „Im ersten Epeisodion geschieht mit Pentheus nichts." (Die Verwendung der Stichomythie, S. 368).
Pentheus
167
und Verhüllens sichern dem 'Opfer' eine gewisse Anteilnahme und Sympathie des Zuschauers, wie sie dem Unterlegenen zu gelten pflegt. Doch zurück zu den oben zusammengefaßten Einzelzügen der Pentheusgestalt. Die Interpreten der Bakchen haben in der Regel eine oder mehrere Eigenschaften herausgestellt, haben ζ. B. entweder die psychische Labilität und das irrational-dionysische Element in Pentheus besonders betont (ζ. B. Winnington-Ingram, Schwinge97 u. a. Vertreter der psychologischen Interpretation) oder den Schwerpunkt auf den Rationalismus (positiv: Arthur W. Verrall und Norwood, The Riddle·, negativ: Hermann Rohdich98), die geistige Schwerfälligkeit und Unbelehrbarkeit (Anne P. Burnett) und den natürlichen Selbstbehauptungswillen (ζ. B. Diller) gelegt. Die anderen Züge der Gestalt wurden dabei oft entweder geleugnet oder als irrelevant betrachtet und nur en passant behandelt. Die Vielzahl der auf den ersten Blick-jedenfalls zum Teil - heterogen anmutenden Eigenschaften, mit denen der Dichter, wie die Interpretation zu zeigen versuchte, Pentheus ausgestattet hat, stellt die Frage nach der (psychologischen) Einheit der Person mit besonderer Dringlichkeit99. Walter Zürcher hat die Auffassung vertreten, daß man bei Euripides wohl großes psychologisches Interesse feststellen und eine Art psychologischer Darstellung beobachten könne, daß man jedoch von der Gestaltung einheitlicher Charaktere nicht sprechen dürfe 100 . Die psychologische
97
Schwinges leichte Korrektur der These Winnington-Ingrams (S. 380f.) ist Uberzeugend. 98 Rohdich sieht im Rahmen der Gesamtthese seiner Dissertation in Pentheus den „tragischen Sophisten" (S. 147-156), den „Repräsentanten der rationalen untragischen Weltsicht der Sophistik" (S. 142), der mit dem Anspruch der Autarkie des rationalen Bewußtseins an seinen inneren Widersprüchen scheitert (Rohdich akzeptiert weitgehend die psychologische Interpretation Winnington-Ingrams). 99 Schwinges Gedanke, die Einheitlichkeit des Charakters bestehe gerade in der Uneinheitlichkeit (S. 381, Anm. 78), bleibt-trotz Aristoteles - so lange ein leeres Paradoxon, wie der organische Zusammenhang zwischen den gegensätzlichen Einzelzügen nicht aufgewiesen ist. 100 Die Darstellung des Menschen, S. 13. 181. 187f.
Pentheus
168
Darstellung untergeordnet
sei 101
,
der ein
Handlung innerer
und
ihren
Zusammenhang
Erfordernissen der
völlig
Motivierung,
eine
102
. Das
konsequent durchgeführte Reaktionsfolge werde nicht erstrebt
Interesse richte sich auf das psychologische Einzelphänomen, die „Ursachen und Folgen, die Äußerungsformen und Intensitätsgrade einzelner Gefühle und Neigungen", und nicht auf die „geheime Struktur einer Seele", nicht also auf die organische Einheit der Einzelzüge 103 . Weder die zentrale These noch die ihr zugrunde liegenden Einzelinterpretationen haben viele Anhänger gefunden 104 ; zu Recht, wie ein Blick auf Gestalten wie Medea und Phaedra, Elektra und Orest, Herakles und Hekabe, aber auch auf Nebenrollen und nicht
sehr intensiv ausgestaltete
Personen
wie Menelaos
{Orestes),
Agamemnon und Menelaos (Aulische Iphigenie) oder Klytaimestra (Elektra) zeigt. Gewiß hat Euripides nicht in allen seinen Tragödien den gleichen Wert auf eine extensive und intensive psychologische Charakterzeichnung gelegt und auch nicht alle Figuren einer Tragödie zu gleich interessanten differenzierten Charakteren durchgestaltet, sicher zeigt er wiederholt größeres Interesse an der Handlung, an einem moralischen oder politischen Problem; offensichtlich unterscheiden sich in dieser Hinsicht Stücke mit engverwandter Stoffbasis wie die Troerinnen und die Hekabe, oder die Hikesiedramen von den όργή-Tragödien oder den Mechanemastücken: aber das alles sagt nichts über die Fähigkeit des Euripides aus, einheitliche, psychologisch 'richtige' und interessante Charaktere immer dann zu schaffen, wenn er es wollte, d.h. wenn er es für die überzeugende und wirksame Darstellung des gewählten Mythos (Stoffes) bzw. die adäquate Gestaltung eines ihn interessierenden (tragischen) Problems für notwendig hielt. Detaillierte
101
S. 182. S. 185. 103 S. 181. 104 Der nicht geringe Wert des Buches liegt vielmehr darin, daß die scharfsinnigen Analysen der ausgewählten Stücke den Blick auf zahlreiche, bis dahin nicht als Schwierigkeiten empfundene Phänomene gelenkt und dadurch die Diskussion sehr befruchtet und neue, bessere Lösungen angeregt haben. 102
Pentheus
169
Einzelanalysen zum Beweis dieser Behauptung können in diesem Rahmen nicht vorgelegt werden. Es genügt, auf Albin Leskys Kritik an Zürchers Buch und seine Ausführungen zu Medea, Phaedra und Orest 105 zu verweisen und an Gestalten wie Hekabe, Herakles oder Admet zu erinnern 106 . Lesky hat auf der Suche nach einer Erklärung für die Fehlurteile von Aristoteles bis Zürcher auf die „Grenzen psychologischer Darstellung in den Dramen des Euripides" hingewiesen 107 . Er betont, daß der Dichter Euripides „Zustände, aber nicht Vorgänge", „Endpunkte der Entwicklung, nicht aber die Entwicklung selbst" 108 zeige, und stellt fest, daß Euripides uns die Interpretation durch „äußerste Sparsamkeit seiner Aussagen auf diesem Felde" 109 erschwere. Erscheint ersteres trotz gewisser Bedenken angesichts der oben skizzierten Entfaltung und 'Entwicklung' des Pentheus in den drei zentralen Stichomythien mit Dionysos oder der Gestaltung von Personen wie Elektra und Orest in den nach ihnen benannten Tragödien als zutreffend, so kann letzteres nur mit einer Einschränkung akzeptiert werden. Es ist richtig, daß die Euripideischen Personen nur selten über ihr Verhalten reflektieren, daß sie, verglichen mit den Helden späterer dramatischer Literatur, nur selten in Monolog oder Dialog sich selbst analysieren und daß auch die anderen Personen sich nur selten explizit Gedanken über die psychischen Hintergründe der Aktionen und Reaktionen ihrer Freunde bzw. Feinde machen. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Tragödien Senecas zeigt den Unterschied euripideischer und senecanischer Darstellungsintention und kunst in diesem Punkt 110 . Aber die fehlende 'Selbstinterpretation' der Personen - und des Autors - darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß doch jeder Satz im Dialog, d.h. jede allgemeine Ansicht und jede situationsbezogene
105 106
„Psychologie bei Euripides". Die hier versuchte Pentheusinterpretation ist eine weitere Bestätigung der
These. 107 108 109 110
„Psychologie bei Euripides", S. 149. S. 147f. S. 149. Daraufhat Lesky zu Recht hingewiesen (S. 150).
170
Pentheus
Äußerung, und ebenso jede Aktion einer Person bzw. jede Reaktion auf das Verhalten anderer Personen einen Hinweis auf ihren Charakter gibt, und daß jeder Zuschauer, Leser, Interpret sich wie der Autor bei der Schöpfung seiner Gestalt ein Gesamtbild der Person macht, aus dem heraus er die einzelnen Phänomene verstehen und erklären kann. Die relative Kargheit der Aussage des Euripides über seelische Vorgänge111 ist daher zunächst einmal eine Kargheit der expliziten Aussage, also eine nur vordergründige. So gibt es denn auch keinen anderen Weg zum Verständnis der Figuren des Euripides und zur Entscheidung der Frage, ob er einheitliche Charaktere gestaltet habe, als die sorgfaltige Interpretation jeder einzelnen Äußerung und Haltung der Personen und der Versuch der Integration der dabei zunächst sichtbar werdenden Einzelzüge in ein geschlossenes, organisch strukturiertes Gesamtbild. Leskys scharfe Ablehnung der Methode, „[...] durch das Zusammenklauben verschiedener Stellen im mosaizistischen Verfahren ein Charakterbild [zu] gewinnen [...]" 112 , kann dabei als Warnung vor einer naiven Addition der Einzelzüge nützlich sein, ein grundsätzlich anderer Weg wird allerdings von Lesky nicht, auch nicht in den sich an die Warnung anschließenden Interpretationen, aufgezeigt. Die Aufgabe besteht darin, die verschiedenen, zunächst verstreuten Einzelzüge zu einem bedeutungsvollen, komplexen Gesamtgefüge zu verbinden und die innere, psychologische 'Logik' der einzelnen Elemente aufzuzeigen. Allerdings stehe ich dabei Leskys Vorschlag etwas skeptisch gegenüber, der bei der Beantwortung der Frage nach der Einheit der als heterogen bezeichneten Elemente der Phaedragestalt erklärt: „Hier suche ein jeder die Antwort nach dem, was er von dem weiten Land der menschlichen Seele zu wissen glaubt."113 Das vorgängige subjektive Urteil des Interpreten, basierend auf dem ganz
111
Lesky, „Zur Problematik des Psychologischen", S. 24, sowie „Psychologie bei Euripides", S. 149. 112 „Zur Problematik des Psychologischen", S. 10; „Psychologie bei Euripides", S. 125. 113 „Zur Problematik des Psychologischen", S. 21.
Pentheus
171
unterschiedlichen Erfahrungs- und Interessenhintergrund des jeweiligen Rezipienten, kann und muß durch die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie objektiviert werden. Nun ist der Widerstand gegen die psychologische und gar psychoanalytische Interpretation antiker Texte beinahe noch weiter verbreitet und größer als gegen eine strikt soziologische Analyse. Lesky spricht ein allgemeines (Vor-)Urteil aus, wenn er erklärt: „Die Heranziehung moderner Psychologie ohne Rücksicht auf Zeit und Kunstform erregt s o g l e i c h unseren Widerspruch."114 Oidipus hatte zum Glück noch keinen Oidipuskomplex - lautet der Tenor. Doch man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, d.h. die durchaus gerechtfertigten Bedenken gegen die psychoanalytische Interpretation literarischer Kunstwerke115 - und zwar zeitgenössischer und alter nicht ausdehnen auf jedes Heranziehen moderner Erkenntnisse über die Struktur der menschlichen Psyche. Ebensowenig wie man sich bei der Stiluntersuchung eines antiken Autors begnügen kann mit den Deskriptionskategorien und Interpretations- und Bewertungskriterien der antiken Rhetorik und Stilistik, darf man bei der Beschreibung und Erklärung menschlichen Verhaltens ganz absehen von psychologischen, soziologischen und sozialpsychologischen Methoden, Theorien und Ergebnissen unserer Zeit116. Auf das totaliter-aliter-Motiv, d.h. auf das Problem der Andersartigkeit der antiken Kultur, ihrer Menschen und Probleme, die die Anwendung moderner Begriffe und Kategorien und Ansichten vieler Interpreten verbietet, kann hier nicht in dem notwendigen Umfang eingegangen werden. Es sei nur betont, daß natürlich nicht an eine naive
114
Tragische Dichtung, S. 212; Hervorhebung von mir. Vgl. zuletzt Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, z. B. S. 19-22. 116 Da vieles davon-ζ. B. alles, was geistiger Allgemeinbesitz geworden ist doch unbewußt als Erkenntnisvoraussetzung des Rezipienten in die Interpretation eingeht (manches auch unbewußt, ohne Quellenangabe), ist eine Erklärung, von welchen Voraussetzungen und Kenntnissen die Interpretation ausgeht, die einzige wissenschaftlich saubere Methode. 115
172
Pentheus
unhistorische Übertragung heutiger Erkenntnisse gedacht ist. Die Legitimität und Fruchtbarkeit dieses Ansatzes kann sich nur in der praktischen Anwendung zeigen. Ich komme damit zu der von den methodischen Überlegungen gestellten Frage nach der inneren Einheit der Pentheusgestalt, nach dem Zusammenhang der beobachteten Einzelzüge zurück. 3. Die Soziologen und Psychologen Theodor W. Adorno, Else FrenkelBrunswick, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford veröffentlichten 1950 die Ergebnisse einer Gemeinschaftsarbeit des von Adorno und Horkheimer geleiteten Institute of Social Research und des Public-Opinion-Study Institute der Universität Berkeley unter dem Titel The Authoritarian Ausgangspunkt
der
breit
angelegten
Forschungen,
Personality^1.
deren
Ziel
die
sozialpsychologische Analyse des voreingenommenen, autoritären, 'potentiell-faschistischen' Menschentyps war, bildete die Untersuchung antisemitischer, bzw. generell ethnozentrischer Ideologie. Es stellte sich heraus, daß diese Geisteshaltung nicht isoliert, sondern nur als Teil eines größeren Komplexes
korrelierender
Einstellungen
(Meinungen,
Haltungen,
Wertungen) zu verstehen ist. Die daraufhin notwendige Erweiterung des Untersuchungsfeldes führte bei Anwendung verschiedener Forschungsmethoden (Interviews, Fragebogen, Tests) zu im großen und ganzen konsistenten Ergebnissen und ermöglichte die Bestimmung der Persönlichkeitsstruktur des autoritären Menschen. Eine ausfuhrliche Darstellung der reichen Ergebnisse des außerordentlich umfangreichen Buches ist hier weder möglich noch nötig. Es genügt, die verblüffende Übereinstimmung der Charakterzüge
117
des
New York 1950.
Pentheus
mit
den
zentralen
Eigenschaften
der
Pentheus
173
voreingenommenen, ethnozentrisch-autoritären Persönlichkeit aufzuzeigen. Die Hauptmerkmale sind nach den Ergebnissen der Autoren folgende 118 : 1. Verdrängung unerwünschter Impulse und Tendenzen (ζ. B. Furcht, Schwäche, sexuelle Wünsche) und die Lösung der dadurch entstehenden inneren
Konflikte durch
Externalisierung,
d.h.
durch
den
Abwehr-
mechanismus der Projektion der verdrängten Eigenschaften auf andere (einzelne und Gruppen) und deren Bekämpfung. Die in diesem Verhalten sichtbar werdende mangelnde Bereitschaft zur Introspektion fuhrt durch die nicht unerhebliche Einschränkung des Bewußtseinsbereichs zu einem relativ geringen Grad von Bewußtheit über die eigene Person (über Schwächen und Handlungsmotivationen 119 ). Unmittelbare Folge der Verdrängung und der Abneigung gegen eine kritische Selbstanalyse ist eine relativ große psychische Labilität. 2. Ethnozentrismus; die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Nation bzw. der eigenen Gruppe über fremde Nationen bzw. Fremdgruppen und die eng damit verbundene Vorstellung von der Bedrohung durch den jeweiligen, immer als Gegner, ja Feind empfundenen 'Anderen' (meist eine Minderheit). Das Gefühl der Bedrohung äußert sich u. a. in der Angst vor 'Befleckung und Ansteckung' 120 , d.h. Furcht davor, daß zu enger (auch physischer) Kontakt mit der abgelehnten Gruppe zu 'Erkrankung' 121 , zu Verletzung und Vernichtung der traditionellen eigenen Werte und Verhaltensnormen im moralischen und intellektuellen, religiösen und politischen Bereich führen könnte, ja müßte. 3. Aus der unter 2 skizzierten Einstellung erwächst eine nicht unerhebliche potentielle Aggressivität, ja eine Tendenz zur Brutalität (Bestrafung,
118
Es wird hier versucht, die entscheidenden 'formalen' Strukturen des Typs aufzuführen. Die oft von der speziellen Situation der Befragten, der amerikanischen Kultur, oder allgemein unserer Zeit abhängigen 'inhaltlichen* Füllungen sind weitgehend weggelassen worden. 119 Vgl. Bakchen, V. 506. 120 Vgl. V. 343f. 121 Vgl. V. 353f.
174
Pentheus
Unterdrückung, 'Ausrottung' der Gegner). Die Verfasser konstatieren eine vorschnelle Bereitschaft zu strafen an Stelle einer auf Verstehen und Verständnis gerichteten Haltung; Verachtung der Schwäche und eine ausgeprägte 'Machtorientierung' korrelieren, wie nicht anders zu erwarten, damit. Die in Anspruch genommenen bzw. angestrebten Idealtugenden sind Energie, Entschlossenheit und Willensstärke, Leitbild ist der robuste, praktische, realistische, 'erdgebundene'122, unabhängige und erfolgreiche Mann. 4. Es verwundert danach nicht, daß ein weiterer charakteristischer Zug die auf allgemein hierarchisch autoritärem Denken beruhende Überzeugung von der Überlegenheit des Mannes ist. Die Rolle der Frau ist die der passiven Unterordnung und Beschränkung auf die ihr zugestandenen Wirkungs- und Bewährungsbereiche, Hausfrau und Mutter. 5. Konventionalismus und Konformismus; die Untersuchung ergab eine das Verhalten dieses Menschentyps in einer Vielzahl von Lebensbereichen bestimmende konservative Grundhaltung (siehe ζ. B. auch oben, 2 und 4). Sie zeigt sich in einer weitgehend kritiklosen Übernahme und Bewunderung traditioneller Normen und Werte, und zwar ebenso im politischen wie im religiösen, im sozialen wie im ökonomischen, im moralischen wie im intellektuellen Bereich. 6. Stereotypes, vorurteilsgebundenes Denken; die Verfasser stellten zunächst eine in Diskussionen, Fragebogen und Tests sichtbar werdende 'Tendenz zur Übergeneralisierung' fest, d.h. zur Verallgemeinerung von singulären Beobachtungen, Erfahrungen und Urteilen. Die enge Verbindung von Ethnozentrismus und voreingenommenem Klischee-Denken und -Handeln zeigte sich auf Schritt und Tritt in den verschiedensten Verhaltenskomplexen. Grund dafür sind die Unfähigkeit zur spontanen, der jeweiligen Situation angepaßten Reaktion, der vergleichsweise geringe Grad von Phantasie, Vorstellungsvermögen, Spontaneität und Originalität123 und eine 122 123
Vgl. Diller, Die Bakchen, S. 463. 467. Vgl. Kitto, Greek Tragedy, S. 373.
Pentheus
175
kommunikative Schwäche, die individuell-persönliche Beziehungen zur Umwelt erschwert. Stereotyp und Vorurteil sind so als eine Art 'Pseudoorientierung' in einer als fremd und feindlich empfundenen Welt zu verstehen und ebenso ein Versuch der Selbstbehauptung wie der Zug zu konkreten, handgreiflichen Kriterien der Umweltsbeurteilung ('sticking-tothe-facts-Haltung'). 7. Kaum davon zu trennen ist ein letzter Zug: die Rigidität. Die Unfähigkeit zu einer individuell-persönlichen schöpferischen Umweltsbeziehung, d.h. auch die Unfähigkeit zur Erfahrung, führt zu einer starren kognitiven Struktur. Neue soziale Erfahrungen lösen keine Veränderung oder Entwicklung aus (Unbelehrbarkeit), sondern bewirken lediglich eine Verstärkung und Verfestigung der Denkschemata, die auch als Abwehrmechanismen gegen die verdrängten unerwünschten Tendenzen und Impulse (siehe oben, 1) unabdingbar sind, denn die Person ist ständig in Gefahr, von den verdrängten Kräften überwältigt zu werden. Die Übereinstimmung der zentralen Eigenschaften der voreingenommenen, ethnozentrischen, autoritären Persönlichkeit mit den durch die Textinterpretation gewonnenen Eigenschaften der Pentheusgestalt ist nahezu vollkommen. Die in den verschiedenen Situationen des Dramas in Worten und Aktionen sichtbar werdenden vielfaltigen Einzelzüge lassen sich mit Hilfe der Erkenntnisse moderner Sozialpsychologen zu einem einheitlichen Gesamtbild zusammenfügen. Wir begreifen jetzt den inneren 'logischen' Zusammenhang, zwischen den verdrängten dionysischen Tendenzen und der psychischen Labilität auf der einen und der starren Fixierung auf stereotype, konventionelle Denkschemata und die Orientierung am Konkreten und Banalen auf der anderen Seite. Selbst wer die von den Autoren der Authoritarian Personality zur Erhellung der Genese und Korrelation der Einzelphänomene angewendete psychoanalytische Theorie und Terminologie Freuds nicht übernehmen will, muß das reiche statistische Material zur Kenntnis nehmen und jedenfalls das gemeinsame Auftauchen der oben
Pentheus
176
zusammengestellten Eigenschaften, Haltungen, Ansichten und Wertungen akzeptieren. Die psychologische Interpretation „führt" also keineswegs, wie Diller meint, „aus der Tragödie hinaus" 124 . Der Fall des Pentheus ist gerade bei einer solchen 'Psychologisierung' nicht „abseitig", sondern zeitlos „allgemeingültig" 125 . Euripides hat mit seinem Gespür für psychologisch 'wahre' Gestaltung und seiner großen Lebens- und Menschenerfahrung, die nicht zuletzt Bedeutung und Wert seiner Tragödien ausmacht, einen erst heute von der wissenschaftlichen Psychologie mit Hilfe differenzierter und weitreichender Forschungsmethoden 'entdeckten' Menschentyp erfaßt und gestaltet.
Pentheus
ist
ein
typischer
Vertreter
der
'autoritären
Persönlichkeit' - und doch berechtigt uns die individuelle Ausprägung der typischen Form, ihn als Charakter zu bezeichnen 126 . Die Autoren lassen in den methodenkritischen Teilen des Buches keinen Zweifel daran, daß es sich bei ihrem Ergebnis um ein statistisches Idealbild handelt, und daß in der Realität die vielfaltigsten Modifikationen und unterschiedlichsten Gewichtungen der Einzelzüge auftauchen. Bei Pentheus ist ζ. B., nur um eins zu nennen, zu berücksichtigen, daß er als König einer griechischen Polis einer ganz anderen sozialen Schicht angehört als die von den Autoren analysierten Vertreter der städtischen Bevölkerung der Westküste Amerikas. Das muß natürlich zu bestimmten inhaltlichen Variationen und Differenzen bzw. zu einer gewissen Umstrukturierung und Bedeutungsverschiebung der Elemente fuhren. Dennoch ist das Gesamtbild erstaunlich ähnlich. Aus der weitgehenden Übereinstimmung
124
ergeben
sich
Vgl. Diller, S. 466. S. 460. 126 Die Voraussetzung einer absolut einmaligen Individualität fur das Prädikat 'Charakter' (so Zürcher, Die Darstellung des Menschen, S. 11), ist abzulehnen (ebenso Zürchers willkürliche Definition des Typus als allgemeingültige auf bewußter Abstraktion beruhende Verkörperung e i n e r menschlichen Eigenschaft). Man geht besser von der individuellen Variation bestimmter allgemeinerer psychischer Strukturen aus (vgl. dazu Adornos Bemerkungen, Authoritarian Personality, S. 744752). 125
Pentheus
177
abschließend zwei Überlegungen. Das Ergebnis der Pentheus-Interpretation gibt erstens zwar keine endgültige Antwort, aber doch einen Hinweis auf die bejahende Beantwortung der Frage, ob bzw. inwieweit die um 1950 und in einem bestimmten sozialen Bereich gemachten Beobachtungen interkulturelle Gültigkeit beanspruchen können (die Autoren überlassen die Beantwortung der Frage weiteren Untersuchungen), und weist zweitens darauf hin, daß die Menschen des ausgehenden fünften Jahrhunderts vor Chr. sich in so grundlegenden Fragen wie der psychischen Struktur wohl doch nicht sehr von ihren Enkeln und Erben im 20. Jahrhundert unterschieden127, d.h. aber auch, daß das soziokulturelle Klima, das für das Entstehen bestimmter Persönlichkeitsstrukturen verantwortlich ist, sehr ähnlich gewesen sein muß. Es wäre sicher lohnend zu prüfen, welche der von den modernen Sozialpsychologen als notwendig bezeichneten Voraussetzungen für die Genese der autoritären Persönlichkeit die griechische Kultur im fünften Jahrhundert vor Chr. aufweist, und auch einmal die mit Pentheus verwandten Figuren der griechischen Tragödie zu analysieren. Es scheint mir ζ. B. nicht zweifelhaft, daß der auch von Dodds mit Pentheus verglichene Kreon in der Antigone des Sophokles denselben Typ repräsentiert und daß weitere Euripideische Personen (Iason, Kreon, Menelaos [im Orestes]) in die Untersuchung einzubeziehen wären.
127 yg] di e spöttischen Bemerkungen G. B. Shaws, der auf die Kritik an der anachronistischen Modernität der Gestalt des Britannus, des englischen Sekretärs Cäsars in Caesar and Cleopatra erwiderte: „I find among those who have read this play in manuscript a strong conviction that an ancient Briton could not possibly have been like a modern one. I see no reason to adopt this curious view." Und allgemeiner: „[...] in truth, the period of time covered by history is far too short to allow of any pereceptible progress in the popular sense of Evolution of the Human Species. The notion that there has been any such Progress since Caesar's time (less than 20 centuries) is too absurd for discussion." (G. B. Shaw, Three Plays for Puritans, London 21931, S. 199 bzw. S. 195).
Pentheus
178
4. Das Ergebnis der Pentheus-Interpretation stellt uns erneut vor die seit Aristoteles fiir die dramatische Produktion aller Zeiten und Literaturen immer wieder diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Handlung und Personen. Die griechischen Tragiker haben, von wenigen Fällen abgesehen, die von ihnen dramatisierten Stoffe dem reichen Reservoir der Mythen entnommen. Die Wahl einer bereits geformten Fabel 128 , die keine Änderung der den jeweiligen
Mythos
konstituierenden
Situationen
und
der
zentralen
Figurenkonstellationen mehr zuläßt, fuhrt zwangsläufig zu einer nicht unerheblichen Determination der Personen durch die Fabel: der Mythos legt einen Teil der Rolle fest - fur Pentheus sind ζ. B. soziale Position (König), die entscheidende Situation des Stücks, sein Widerstand gegen den überlegenen Gott, sowie der Tod von der Hand der Mutter unveränderbare Konstanten. Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß innerhalb des von der mythischen Handlungsstruktur gegebenen Rahmens der Autor weite Möglichkeiten zu Innovation, Variation und Interpretation hat 1 2 9 - im Falle des Pentheus sind ζ. B. die Abwesenheit des Königs während der Ankunft des Gottes, die Begegnung mit Teiresias und Kadmos noch vor dem ersten Zusammentreffen mit Dionysos, die Verkleidung als Bakchantin und der Spähergang in die Wälder individuelle Ausgestaltungen der mythischen Fabel. Vor allem jedoch ist nahezu die gesamte Dimension der Motivierung von Aktionen und Reaktionen, die der Mythos wie das Märchen nur in geringem Umfang liefert, Eigentum des jeweiligen Dramatikers 130 . Je nach
128
Ich bezeichne hier und im folgenden mit 'Fabel' (nicht ganz in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen terminologischen Verwendung des Begriffs als 'Handlungsgefüge', 'plot') den mythischen Stoff. 129 Sehr deutlich zeigt sich das in den zahlreichen, sich stark voneinander unterscheidenden Versionen eines Mythos bei Aischylos, Sophokles, Euripides. 130 Gerade Euripides hat es immer wieder gereizt, die mythischen Situationen mit Menschen seiner Zeit erneut durchzuspielen, d.h. zu zeigen, wie Personen mit den moralischen, politischen, psychischen Problemen und Anschauungen des
Pentheus
179
Stoff und Intentionen des Autors wird die Entfaltung der die Handlungsträger bestimmenden psychischen Hintergründe (d.h. ihrer Persönlichkeitsstruktur) unterschiedliche Bedeutung gewinnen (siehe oben, S. 168f.). Bei großem Interesse an den Personen und ihren Motiven fuhrt das wie in den Bakchen (oder in der Elektro, im Orestes, in Ion und Aulischer Iphigenie) dazu, daß die dramatische Handlung sich weitgehend von den Handlungsträgern her strukturiert - so sind Pentheus' Neugier und Faszination ausschlaggebend für Umfang und Form der drei großen Diskussionsstichomythien mit Dionysos, und das nur aus seinem Charakter erklärbare persönliche Engagement fuhrt, als er selbst den Gefangenen erst fesseln, dann töten will, zur partiellen Zerstörung des Palastes und schließlich, als er darauf besteht, selbst als Späher in die Bergwälder zu gehen, um die Bakchantinnen endlich zu entlarven, zu seinem Verderben. Und doch hat Aristoteles, richtig verstanden, recht, wenn er in der Poetik, ohne von den Personen abzusehen, die zentrale Bedeutung der Handlung betont {Poetik 1450 a, 20-22): οΰκουν
δπως
τά
ήθη
μιμήσωνται
πράττουσιν,
άλλα
τά
ήθη
συμπεριλαμβάνουσιν δια τάς πράξεις· ώστε τά πράγματα και ό μΰθος τέλος της τραγφδίας [...] Demnach handeln sie [die Darsteller und durch die Darsteller die Autoren] nicht, um Charaktere nachzuahmen, sondern beziehen die Charaktere um der Handlungen willen mit ein; darum sind die Ereignisse und der Mythos [in dem von Aristoteles definierten Sinne von
'Aufbau, Struktur
der
dramatischen Handlung'] Ziel der Tragödie.
ausgehenden fünften Jahrhunderts in den im Mythos gestalteten fundamentalen Entscheidungssituationen des menschlichen Lebens reagieren, und nicht selten hat er durch die 'Neubesetzung alter Rollen' fast eine Sprengung des Mythos herbeigeführt, die durch die aufgesetzte deus-ex-machina-Lösung noch offenkundiger wird (vgl. dazu K. v. Fritz, „Euripides' Alkestis und ihre modernen Nachahmer und Kritiker", in: K. v. F., Antike und moderne Tragödie, Berlin 1962, S. 256ff.; W. Schmidt, Der deus ex machina bei Euripides, Diss. Tübingen 1963.
180
Pentheus
Diese Worte haben jedenfalls für die den Ansichten und Wertungen der Poetik zugrunde liegende griechische Tragödie ihre Berechtigung, so sehr die Entwicklung des abendländischen Dramas Zweifel an Aristoteles' Ansicht hat entstehen lassen, daß das eigentliche Ziel der Tragödie die Handlung sei. Es geht Aristoteles um die einfache Wahrheit, daß die Tragödie sich von anderen Formen künstlerischer Produktion dadurch unterscheidet, daß sie Menschen als Handelnde (πράττοντες) präsentiert, d.h. Charaktere immer nur im Rahmen einer abgeschlossenen, einheitlichen Handlung auftauchen und in der Tat gestalten Aischylos, Sophokles und Euripides ihre Personen nur in der jeweiligen dramatischen Handlung und für sie. Das zeigt sich nicht nur in dem weitgehenden Verzicht auf Überlegungen und Spekulationen über die Motive eigener und fremder Aktionen und Reaktionen, sondern auch darin, daß nur selten auch außerhalb des Stücks liegende Erlebnisse, Handlungen und Haltungen der Personen, die nicht (wie ζ. B. im Oidipus Tyrannos) unmittelbar zur Handlung gehören, berichtet oder gar analysiert werden. Käte Hamburger hat in diesem Sinne zu Recht von der Identität von Situationen und Personen gesprochen 131 . Wichtig ist, daß man aus den zitierten Sätzen nicht, Aristoteles mißverstehend, eine starre Antithese: Handlungsdrama o d e r Charakterdrama konstruiert (auch nicht, um ein Kriterium zur Unterscheidung antiker und moderner Tragödie zu gewinnen), sondern prinzipiell - auch für die griechische Tragödie - von der korrelativen Interdependenz der beiden zentralen Elemente des Dramas ausgeht. Die Bakchen
des Euripides sind auch hierfür ein besonders eindrucksvolles
Beispiel.
131
S. 147f.
„Versuch zur Typologie des Dramas", dse. Zs. Bd. 1/1967, S. 145-153, hier:
Sacrificial Ritual in the Bacchae The importance of ritual elements in the Bacchae has been stressed by many critics and is hardly astonishing in play about the god Dionysos and his cult. In the following brief considerations I will confine myself to the pattern of sacrificial ritual which seems to lie beneath the dramatic action in the second half of the play. 1 In the introduction to his masterly commentary of the Bacchae Dodds states: „There are features in his (i. e. Pentheus') story as the play presents it which look like traditional elements derived from ritual and are not easily accounted for on any other hypothesis." He then refers to the enchanting and bedevilling of Pentheus, the dressing, the perch on the sacred fir-tree, the pelting, and, finally, Agaue's delusion that she carries the head of a bull or lion, and her invitation to a banquet at the end. 2 Other details can be added. The observation of numerous ritual elements in the second half of the Bacchae suggests several questions, of which the most important ones are: 1. Is there any significant connection between the various details? and 2. Why did Euripides incorporate so many ritual elements into the Bacchae? Dodds' cautious reserve in using the rich ritual material of the Bacchae for the interpretation of the play may be seen as a reaction against the so-called Cambridge-school which tended to read too much ritual into Greek drama. 3 But it may also indicate that he felt that without an answer to these questions 1
Other important aspects of the interrelation between ritual myth, and tragedy, which could be or have been discussed with special reference to the Bacchae cannot be taken up here; besides the literature quoted in n. 2 and n. 3 the reader is referred to J. P. Guepin, The Tragic Paradox (Amsterdam 1968); and to J. Kott, The Eating of the Gods (New York 1974); still of interest A. G. Bather, The Problem of the Bacchae, Journ. of Hell. Stud. 14 (1894) 244-63. 2 E. R. Dodds, Euripides Bacchae (Oxford I9602) XXV-XXVIII. 3 J. E. Harrison, Themis, A Study of the Social Origins of Greek Religion (Cambridge 19272); G. Murray, in: J. E. Harrison, Themis, 341ff.; id. Aeschylus (Oxford 1940) 4ff.; id. Euripides and his Age (Oxford 19552); for comedy cf. F. M. Cornford, The Origins of Attic Comedy (New York 1961 [ed. Th. H. Gaster]).
182
Sacrificial ritual in the Bacchae
the mere enumeration of ritual elements remained unsatisfactory. It seems to me, however, that the recent studies of Burkert4 have opened the way for a new attempt at a satisfying solution. In his article on „Greek Tragedy and Sacrificial Ritual" Burkert argued, quite convincingly in my opinion, that tragedy originated in the context of ritual sacrifice. „The τραγωδοί are originally a troop of masked men who have to perform the sacrifice of the τράγος which falls due in spring" and ,,τραγφδία emancipated itself from the τράγος, and yet the essence of the sacrifice still pervades tragedy even in its maturity. In Aeschylus, Sophocles, and Euripides there still stands in the background, if not in the center, the pattern of the sacrifice, the ritual slaying, θύειν." 5 As examples Burkert chooses Aeschylus' Agamemnon, Sophocles' Trachiniae, and Euripides' Medea. No play, however, shows a deeper connection between the ritual of sacrifice and tragedy than the Bacchae. It can be shown that the dramatic action of the last 600 lines constantly evokes the sacrificial killing. In the following summary I will follow the individual steps of the ritual as analysed by Meuli in his fundamental study „Griechische Opferbräuche" 6 and implemented by Burkert in the quoted article and in the first chapter of his book „Homo Necans". 7 Step by step I will point out the corresponding scenes in the Bacchae. Since I am interested in the basic pattern, minor details will be passed over.
4
W. Burkert, Greek Tragedy and Sacrificial Ritual, Gr. Rom. & Byz. Stud. 7 (1966) 87-121 (henceforth Burkert, GRBS); id. Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen (Berlin 1972; henceforth Burkert, Homo Necans); id. Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (Stuttgart 1977) 99ff. (henceforth Burkert, Griechische Religion). 5 Burkert, GRBS 115,116. 6 K. Meuli, Griechische Opferbräuche, in: Phyllobolia, Festschrift fur P. von der Mühll (Basel 1946) 185-288 = Ges. Schriften (Basel 1975) II 907-1021. 7 The interpretation of many details of the ritual is controversial; for further literature on the subject the reader is referred to Burkert, GRBS 102 n. 34, and Homo Necans 9 n. 2.
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1. First the victim is adorned for the festival; garlands, fillets, and other kinds of ornaments8 indicate that he is now sacred property. In the Bacchae this preparatory step is, of course, represented by the dressing of Pentheus.9 Dodds has pointed to the significant irony of άνατίθημι in line 934: ιδού, σύ κόσμεν σοι γαρ άνακείμεσθα δή. 'To you I am made over now' „will suggest that the king is now in some sense 'dedicated'."10 There can be little doubt that it is the god himself who is sacrificed in his representative or substitute, e. g. a goat or a bull. No visualization of this crucial aspect of the sacrifice could therefore be more effective than the dressing. For we have to remember that after the dressing Pentheus very much resembles his divine cousin, the god who prepares him for the sacrifice.11 2. Then the victim is led along in a πομπή, a procession, be it ever so little. Euripides' words at the beginning of the messenger's report leave no doubt that he wants to evoke the impression of a ritual procession: έπεί θεράπνας τήσδε Θηβαίας χθονός λιπόντες έξέβημεν Άσωποΰ ροάς, λέπας Κιθαιρώνειον είσεβάλλομεν Πενθεύς τε κάγώ - δεσπότη γαρ είπόμην ξένος θ' δς ήμΐν πομπός ην θεωρίας. (1043-47)
8
Cf. e. g. Horn. Od. 3,432ff., where the horns of the bull are gilded, or the sacrifice to Dionysos άνθρωπορραίστης on Tenedos, where the calf wore the cothurni of the god to whom it was sacrificed (Aelian, nat. anim. 12,34). 9 This, of course, is not to say that the dressing and the „toilet-scene" (Dodds) do not have other important functions, and the same is true for the following motifs and scenes; for the toilet-scene see my 'Comic Elements in the Bacchae', Amer. Journ. of Philol. 99 (1978) 303-20 (= in diesem Bd., S. 121ff.). 10 Dodds ad 934. 11 The sudden transformation of the θεομάχος into an alter Dionysos and the twin-like similarity of the god and his victim must have made a striking visual impression.
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They are leaving the profane, the limits of the polis, and move towards the sacred, a grassy glen in Mount Kithairon,12 where the participants in the ritual, the Bacchants are already waiting. Dionysos himself is the πομπός θεωρίας. Already in line 965
he characterized himself as πομπός
σωτήριος. 13 It is important that the sacrificial animal should not be dragged along, but should press forward voluntarily. This is a sign that it is led along by the god willingly.14 Pentheus' enthusiastic wish to go to Mount Kithairon gains a deeper meaning when we see it as part of the underlying sacrificial pattern. Pentheus is led willingly, and indeed by the god himself.15 3. When the procession reaches the traditional sacred place everything is made ready for the sacrifice. So it is in the Bacchae: ήν δ' αγκος άμφίκρημνον, ΰδασι διάβροχον, πεύκαισι συσκιάζον, ενθα μαινάδες καθήντ' εχουσαι χείρας έν τερπνοΐς πόνοις. αΐ μεν γαρ αυτών θύρσον έκλελοιπότα κισσώ κομήτην αΰθις έξανέστεφον, αΐ δ', έκλιποΰσαι ποικίλ' ώς πώλοι ζυγά, βάκχειον άντέκλαζον άλλήλαις μέλος. (1051-57)
The destination of the procession is the old sacred place with the sacrificial stone or altar, smeared with blood (Burkert, Homo Necans 10f.; Griechische Religion 101 (95 n. 51a); here it is Mount Cithaeron, the same 'sacred place', where Actaeon was torn to pieces by his own dogs (1291). 1 3 Both θεωρία and σωτήριος have religious connotations; cf. J. Roux, Euripide, Les Bacchantes (Paris 1970) ad 963-65,1046f. 1 4 Cf. Burkert, GRBS 106f.; Homo Necans lOf. with testimonia and literature; Guepin (supra n. 1) lOOff.; the famous carpetscene in Aesch. Ag. has the same ritual connotations; for Euripides' voluntary human victims cf. J. Schmitt, Freiwilliger Opfertod bei Euripides (Glessen 1921). 1 5 Cf. Ba. 920 (819, 1080) and the cult-title Dionysos Kategemön; Pentheus' willingness is repeatedly stressed (810-816); 829f.; 912f.); for a detailed interpretation of the crucial scene 81 Off. see E. R. Schwinge, Die Verwendung der Stichomythie in den Dramen des Euripides (Heidelberg 1968) 377ff. 12
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The Bacchants are waiting, busy with holy preparations (1053) and chanting holy songs (1057). 16 4. Now the animal is brought to or put on the altar, and it is interesting to note that again a sign of acquiescence on the part of the victim is important. „The animal," according to Burkert, „was supposed to express its consent by bowing its head."17 Pentheus himself asks to climb the ελάτη, the fir-tree, sacred to Dionysos,18 which here serves as the altar (1058-62). The request is granted; the god accepts the sacrifice, puts him on top of the altar, and disappears (1036ff.). 19 5. The sacrifice proper can begin. Burkert: „There is a prayer (a), a moment of silence and concentration (b); then all participants throw the ούλαι (the barley) 'forward' at the victim and the altar" (c). 20 The sacrifice in the Bacchae follows this pattern precisely. a) The god himself speaks the prayer: έκ δ' αιθέρος φωνή τις, ώς μεν εΐκάσαι Διόνυσος, άνεβόησεν· "Ω νεάνιδες, άγω τον υμάς κάμε τάμά τ' οργιά γέλων τιθέμενον- άλλά τιμωρεΐσθέ νιν. (1078-81) 21 16
Some details of the normal preparations for the sacrifice (Burkert, GRBS 107; Homo Necans 11) are 'missing' in the Bacchae or exchanged for others (e.g. water and barley are not carried around the altar); for the cathartic washing before the procession and immediately before the sacrifice cf. 765ff.; the fact that the women have left home and their matrimonial duties may have reminded the audience of the occasional postulate of sexual abstinence before the sacrifice. 17 Burkert, GRBS 107. 18 For Dionysos as 'Lord of the Trees' cf. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion (München 19673) 584f. (572 n. 5); for the special importance of the έλάτη cf. 109f., 684, 1061, 1098; and Dodds ad 109f. 19 There can be little doubt that the perching of Pentheus has a ritual origin; cf. Dodds ad 1058-75 and 109f.; Bather, supra n. 1, 251f. 20 Burkert, GRBS 107 (a, b, c, my addition). 21 The prayer has been interpreted by Nilsson, supra n. 19, as call to the god to participate; but cf. Burkert, Homo Necans 11, and A. W. Adkins, Εύχομαι, Εύχωλή,
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b) Then there is a sudden silence: σίγησε δ' αίθήρ, σίγα δ' ΰλιμος νάπη φύλλ' είχε, θηρών δ' ούκ άν ήκουσας βοήν. (1084f.) and a brief moment of concentration: αν δ' ώσίν ήχήν οΰ σαφώς δεδεγμέναι έστησαν όρθαι και διήνεγκαν κόρας. (1086f.) c) Then the Bacchants come rushing towards the altar-tree and throw - not barley, but - stones, branches, and thyrsoi at the victim. δια δε χειμάρρου νάπης άγμών τ' έπήδων θεοΰ πνοαΐσιν έμμανεΐς. ώς δ' εΐδον ελάτη δεσπότην έφήμενον, πρώτον μεν αύτοΰ χερμάδας κραταιβόλους ερριπτον, άντίπυργον έπιβάσαι πέτραν, οζοισί τ' έλατίνοισιν ήκοντίζετο. αλλαι δέ θύρσους ΐεσαν δι* αιθέρος Πενθέως, στόχον δύστηνον, άλλ' ούκ ήνυτον. (1093-1100)22
and Εΰχος in Homer, Class. Quart. 19 (1969) 20-33. Here it is answered by the lightepiphany of the god (1082f.); cf. Dodds ad 1082f. (and 594f.). 22 The killing of Pentheus takes the form of a hunt. Pentheus the hunter (1020, cf. 226, 239, 434f„ 436, 452) has turned into the prey (848, 988ff., 1021, 1102, 1108, 1142ff., 1169ff., 1241). The bacchants are called the quick hounds of Lyssa (977). When Dionysos summons them, they come running towards the tree, surround it, take aim at Pentheus with various missiles, and finally bring down the "animal" (1108) and kill it. Agaue then returns with her gory hunting-trophy and in the first part of the exodos she and the chorus praise the hunt and Dionysos, the great hunter (1190ff.); for the importance of hunting-imagery throughout the Bacchae cf. Dodds, passim, Winnington-Ingram, Euripides and Dionysos (Cambridge 1948) cf. index s. v. hunt; and recently W. C. Scott, Two Suns over Thebes, Trans. Amer. philol. Assoc. (105) 1975, 337ff. (334-39). Orphism identified Dionysos with the old hunting-god Zagreus (Pauly-Wissowa RE 5,1 Sp. 1014, Kem; Etym. Magn. 406, 49; cf. Eur. F 472 N2). In this context the hunt has strong ritualistic connotations. Sacrifice-rituals often appear as ritualized hunt. The evidence is widespread throughout the ancient world; often
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The much discussed throwing of the barley at the beginning of the sacrifice has been explained by Burkert as „primeval gesture of aggression: lapidation, transformed into something harmless, as in the φυλλοβολία. Indeed, instead of the barley, leaves can be used, and at least in one instance, stones."23 Stones are used in the Bacchae, stones and the sacred fir-branches and thyrsoi. The point is that everybody, not only the priest, takes part in the killing and thus everyone is guilty and innocent at the same time. 6. The preparations are complete. The participants have formed the sacred circle around the victim (cf. Ba. 1106). The priest steps forward and starts the sacrifice. Again the language Euripides has chosen, leaves no doubt that he wants his audience to see the killing of Pentheus as sacrifice, however perverted it may be: πρώτη δέ μήτηρ ήρξεν ιερέα φόνου και προσπίτνει νιν·(1114f.) Agaue is called ιερέα (1114) and the words πρώτη and ήρξεν recall the technical term for the beginning of the sacrifice: άρχεσθαι, κατάρχεσθαι 2 4 7. „Now the fatal stroke follows. At this moment the women scream, όλολύζουσιν ...; this marks the emotional climax of the θυσία." 25 The cry
only the details remind us of what may be the oldest form of blood-sacrifice, when man still was a hunter (cf. Meuli, supra n. 6, passim; Burkert, Homo Necans 20ff., 53f.). 23 Burkert, GRBS 107f.; the explanation of the ούλοχύται is highly controversial; for testimonia and a brief survey of other interpretations the reader is referred to Burkert. 24 The cutting of a few hairs from the victim's forehead, the seemingly harmless last delay of the sacrifice (cf. e.g. Horn. Od. 3,446, 14,422; Eur. Ale. 74-76 (Dale ad loc.); El. 81 If.; Nilsson, supra n. 19, 142; Burkert, GRBS 108) is missing in the Bacchae, unless we want to see a slight indication of it in the fact that Pentheus rips the mitra and - if he wears a wig (this has been doubted by Roux, supra n. 13, ad 831 and 1115-18; but cf. Dodds ad 831-33)-the wig from his head and throws it away (1115ff.). 25 Burkert, GRBS 108.
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is probably supposed to drown the death-rattle of the victim.26 The parallel in the Bacchae is again obvious. Agaue, the priestess deals the first blow, the two sisters assist, and the yelling of the other Bacchants drowns Pentheus' last cry: ήν δέ πάσ' όμοΰ βοή, δ μεν στενάζων δσον έτύγχαν' έμπνέων, αΐ δ' ήλάλαζον. (1131-33)27 8. Then the dead animal is dismembered (a), parts are burnt, the internal organs, the σπλάγχνα, are eaten, and finally the rest is prepared for the main meal (b) which forms the quite secular ending of the sacrifice. In the Bacchae the dividing of the animal (a) has the form of the primeval Dionysiac tearing, the σπαραγμός (1125ff., 1209f., 1219-21); and when Agaue, after a short choral ode (1153ff.), appears with the head of Pentheus, she invites the chorus to a feast (b): μέτεχέ νυν θοίνας (1184). The theme is taken up again in line 1242 when she urges her father Kadmos to invite his friends to a meal: κάλει φίλους ές δαΐτα. In line 1246f. Kadmos, in his ironic answer to the horrible request of Agaue, uses words which clearly show that he (and Euripides) understands the destruction of Pentheus as a sacrifice:
Cf. Burkert, Homo Necans 12, and, slightly different, Griechische Religion 102; but see Nilsson, supra n. 19, 150; "Es ist doch wohl nur ein unmittelbarer Ausbruch des Gefühls in einer nervenerregenden Situation nach Frauenart". 27 Euripides uses άλαλάζω instead of ολολύζω, which seems to have been the 'vox propria' in the sacrificial context; whereas άλαλάζει is defined by Hesychius as: έπινικίως ήχεΐ (cf. αλαλαγμός: έπινίκιος ϋμνος). But difference between the two parallel onomatopoetic words (to yell όλολοί resp. άλαλαί cf. έλελίζειν and Latin ululare) is slight (cf. C. V. Valckenaer, Euripides tragoedia Phoenissae [1824] ad 337). In Euripides the joyous cry of άλαλαί may be raised in the orgiastic cult of the Great Mother (Hel. 1344?; 1352) and by Dionysos himself (Ba. 593; cf. Cycl. 65) and in HF 981 Herakles ήλάλαξεν when he "sacrifices" (922ff.) his children (cf. Soph. F 543 R = 491 N2). Euripides may have preferred άλαλάζειν to όλολύζειν because it fits the situation of the hunt and is so close to όλολύζειν that the connotation of sacrifice cannot be missed.
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καλόν τό θΰμα καταβαλοΰσα δαίμοσιν έπν δαίτα Θήβας τάσδε κάμέ παρακαλείς. 28 9. Often the skull of the sacrified bull or goat was preserved and set up in a conspicuous place as lasting evidence of the sacred act.29 In the Bacchae Agaue returns with the head of Pentheus which she takes for the head of an animal, a young bull or lion, and wants to nail it to the place front as a witness of her deed: φέρω δ' έν ώλέναισιν, ώς όρφς, τάδε λαβοΰσα τάριστεΐα, σοΐσι προς δόμοις ώς άγκρεμασθη· σύ δέ, πάτερ, δέξαι χεροΐν· (1238-40)30 10. Finally, in some cases the feeling of guilt, which in the sacrifice is so closely connected with the feeling of exaltation, finds a telling expression in the punishment or mock-punishment of the priest who killed the victim.31 At the Buphonia in Athens32 e.g. the priest, immediately after the sacrifice, throws away the axe and flees, and the sacrificial meal is followed by a trial in which finally the knife is pronounced guilty and thrown into the sea. In other places the priest is expelled. In the Bacchae Agaue the priestess is told by Dionysos to leave Thebes immediately.33 The exile can be explained as
28
καταβάλλειν: cf. Hesych: καταβολή = θυσία; Eur. Or. 1603; Isocr. 2,20; Dodds ad 1246f.; for another sacrificial term cf. 858: κατασφαγείς. 29 Theophr. Char. 21,7; cf. Dodds ad 1214; Nilsson, the Minoan-Mycenian Religion and its survival in Greek Religion (Lund 19502) 232ff.; Meuli, supra n. 6, 233ff.; Burkert, Homo Necans 20ff. (testimonia and literature); for further examples in folk-customs see Bather, supra n. 4,257f. 30 Cf. 1212ff.; for the dedication of human skulls cf. e.g. IT 74f. 31 Meuli, supra n. 6,228ff., and esp. 275f.-281; Burkert, GRBS 109. 32 For the Buphonia cf. Deubner, Attische Feste (Berlin 1932) 158ff.; Nilsson, supra n. 19,152ff.; Meuli, supra n. 6, 275f. 33 Cf. pap. fr. 2b Dodds Appendix, p. 243; Chr. Pat. 1674.
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the regular punishment for murder. In the context of the sacrifice-pattern, however, it gets an additional ritualistic meaning. 34 Our first question has found an answer. As the analysis has shown, there is indeed a significant connection between the various ritual elements which scholars have pointed out in the second half of the Bacchae. From the dressing-scene 35 to the exodos each step in the dramatic action corresponds to an important step in the sacrificial ritual. In all probability Euripides, to make this possible, passed over or changed another version of the myth which involved a fight between an armed Pentheus and the maenads. 36 The remarkable completeness of the pattern and the fact that Euripides repeatedly uses religious terminology which evokes the sacrifice leave little doubt that these correspondences are not accidental, nor only due to the traditional quality of the myth, as Dodds seems to believe, but that Euripides deliberately and constantly calls upon the audience to see and understand the dramatic and emotional climax of his tragedy as sacrifice. If this answer to the first question is correct, then the second question becomes more urgent. Why did Euripides perform the systematic incorporation of these ritual elements? Burkert's considerations about the origin of tragedy seem to offer a possible answer. Accepting the ancient explanation of the term τραγφδνα as „song for the goat", „song at the sacrifice of the goat", 37 he argues, as I
34
The deus-ex-machina-scene also fits into the pattern. For although in the normal sacrifice the god, of course, does not actually appear, the epiphany can be seen as the ultimate goal of the sacred action. 35 As mentioned above, the preceding scene, in which Dionysos 'persuades' an eager Pentheus to go alone and dressed as a maenad, is the necessary dramatic preparation and has in itself strong ritualistic connotations (willingness of the victim); sacrificial imagery (full of tragic irony) with reference to the impending sacrifice on Mount Cithaeron for the first time in lines 794 and 796. 36 Cf. Aesch. Eum. 25f.; unfortunately the literary and archaeological evidence is meagre. 37 Burkert, GRBS 89-102; but cf. A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen (Göttingen 19723) 32 and 47.
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mentioned above, that tragedy originated and developed within the context of the ritual killing of the goat (τράγος), and in the attempt to „explain the seeming triviality and pointlessness of the etymology" 38 he points to the fundamental importance of blood-sacrifice for early society. Defining with Meuli sanguinary sacrifice as ,.ritual killing", he understands sacrifice as social precaution and means to overcome the terrible threat of intraspecific aggression. As a shared emotional experience sacrifice unites and binds together the group, the tribe, the polis, the society. It centers around destruction of life, but secures the continuity of life. Horror and the feeling of guilt and remorse therefore mingle with exaltation and joy. 3 9 If we conceive sacrifice as ritualized killing and accept Burkert's hypothesis about the primordial genetic connection between sacrifice and tragedy, we can understand tragedy as the aesthetic ritual originating from the sacrificial ritual, accompanying or even imitating and gradually replacing sacrifice and its social functions. 40 The complete correspondence between the second half of the Bacchae and the ritual pattern of sacrifice seems to suggest the possibility that this is what Euripides thought also. All his life the author has been a ποιητής
38
Burkert, GRBS 102. Burkert, GRBS 106, 109; Homo Necans 45ff., 51. 40 Thus the tremendous importance of sacrifice and sacrificial imagery in 5th century tragedy makes good sense; cf. Burkert, GRBS 109ff.; Gu£pin, supra n. 1, passim (cf. the impressive list of sacrificial victims in Greek tragedy, pp. 1-5); and especially the detailed studies of F. Zeitlin, The Motif of Corrupted Sacrifice in Aeschylus' Oresteia, Trans. Amer. philol. Assoc. 96 (1965) 463-508; Postscript to Sacrificial Imagery in the Oresteia, ib. 97 (1966) 645-653; The Argive Festival of Hera and Euripides' Electra, ib. 101, (1970) 645-669. For the Athenian audience not only the bull-sacrifice at the beginning of the festival but also the altar in the middle of the orchestra (for the θυμέλη cf. Burkert, GRBS 101f.; and Guepin, supra n. 1, 1618) will have been a vivid reminder of the close connection of sacrifice and tragedy. "The memory of sacrifice stands in the center of the Dionysiac performance" (Burkert 102). 39
192
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σοφός, 41 a creative theorist and restless innovator of tragedy and its theatrical, formal, and intellectual traditions. When he, at the end of his life and in a biographical situation42 which must have stimulated a critical review of his life and work, writes a play about Dionysos, the god to whom tragedy owes its origin and continuing existence, we expect an implicit commentary on the essence and function of the poetic medium through which he expressed himself for more than half a century. And indeed: the Bacchae, with good reason, can be called a tragedy about tragedy - and that in a double sense: 1. Presenting his dramatic version of the myth Euripides continuously reminds his audience that they are watching a theatre performance, an aesthetic ritual. There is e.g. the god transforming himself into an 'actor'; the double chorus, one representing the other on stage; the dressing of Pentheus; and Agaue running on stage with the mask (head) of Pentheus. 2. By evoking the sacrifice-pattern behind the dramatic action Euripides points out the essence of tragedy as ritualized sacrifice. Even at the final stage of its development, in the sophisticated aesthetic constructs of Aeschylus, Sophocles, and Euripides, tragedy has preserved its basic function. Once a year it unites the polis in the shared emotional experience of killing: destructive and affirmative at the same time, horrible and exalting, creating έλεος and φόβος, but at the same time providing κάθαρσις, the cleansing relief of the same tragic emotions.
41
R. P. Winnington-Ingram, Euripides, Ποιητής σοφός, Arethusa 2 (1969) 127-
42
The self-chosen 'exile' in Macedon.
42.
Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides Daß die Tragödie des Euripides sich grundlegend von der Tragödie seiner großen Vorgänger und Zeitgenossen Aischylos und Sophokles unterscheidet, ist jedem modernen Zuschauer, Leser und Interpreten des klassischen griechischen Dramas offenkundig. Daß aber auch die Zeitgenossen des Dichters die fundamentale Veränderung der Tragödie empfanden, dafür besitzen wir wenigstens ein unschätzbares Zeugnis. Es handelt sich um die Reaktion eines kompetenten Kritikers und besonders aufmerksamen Beobachters der Entwicklung der Tragödie. In den 405 aufgeführten „Fröschen" läßt Aristophanes in der Unterwelt unter den Augen des Richters Dionysos Aischylos und Euripides darüber streiten, wem der Ehrenplatz unter den Tragikern gebühre. Im Hin und Her des Streitgesprächs wird Aristophanes' Urteil über die euripideische Tragödie deutlich: Der aristophaneische Aischylos wirft Euripides vor, daß er die edlen Helden, die er von ihm geerbt habe, „in erbärmliche, üble Wichte verwandelt", statt heroischer Halbgötter Bettler und Huren, „Pflastertreter und Gaukler, Klatschweiber und durchtriebene Schelme" präsentiert und an die Stelle erhabener Gedanken und großer Worte alltägliches Geschwätz gesetzt habe. Euripides verteidigt sich damit, daß er als guter Demokrat jedermann habe zu Wort kommen lassen, daß er „die ganze Häuslichkeit, worin wir sind und leben", dargestellt und den „geschwollenen" Stil des Aischylos einer Abmagerungskur unterzogen habe. Aristophanes' kritischer Blick war scharf und ging tief. Hinter den summarisch groben Vorwürfen und plakativen Übertreibungen, mit denen sein Aischylos den aufklärerischen Neuerer Euripides als Zerstörer der alten Tragödie angreift, liegen genaue Beobachtungen und präzise Analyse des Neuen. Das gilt für die Charakterisierung der euripideischen Sprache und des untragischen Tons ebenso wie für die Feststellung einer Entmythisierung von Atmosphäre, Situation und Thematik; es gilt vor allem aber für die aristophaneische Kritik an Statur und moralischer Qualität der euripideischen
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Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides
Helden und den Vorwurf des Verlustes an moralisch-pädagogischer Substanz. Die Fragwürdigkeit des tragischen Helden und der von ihm verkörperten Werte und Ideale und die Problematik des Wissens und Handelns sind der Kern des neuen Euripides-Verständnisses, das wir vor allem Snell, Dodds, Reinhardt und Arrowsmith verdanken. Der Maßstab, den Aristophanes, genau so wie die moderne Euripidesforschung, an die euripideischen Helden anlegt, sind die großen Gestalten des Aischylos und vor allem des Sophokles, den man zu Recht als den eigentlichen Schöpfer des tragischen Helden bezeichnet hat. Gewiß finden sich bei Aischylos Ansätze zu einer solchen dramatischen Technik der Konzentration von Handlung und Thematik auf eine das Geschehen völlig beherrschende Zentralfigur - es braucht nur an Eteokles in den „Sieben gegen Theben" erinnert zu werden oder auch an Klytaimestra im „ A g a m e m n o n " und dennoch: wenn wir heute den Begriff „tragischer Held" verwenden (in der Antike gibt es diesen Terminus noch nicht), so denken wir neben Othello und Macbeth, Lear und Hamlet, neben den Helden der französischen und der deutschen Klassik vor allem an Aias, Philoktet und Oidipus, an Deianeira, Elektra und Antigone. Der Unterschied zu den Helden (und Pseudohelden) des Euripides - jedenfalls zu dem weitaus größten Teil seiner Helden - ist in der Tat frappierend. Bevor ich versuche, das an Hand einer Reihe von Beispielen zu dokumentieren, zunächst ein kurzer Blick auf die leider nur sehr bruchstückhaft erhaltene antike Tragödientheorie. Neben der „Poetik" des Aristoteles, deren ungeheure Bedeutung für Theorie und Praxis des abendländischen Dramas auch dadurch nicht beeinträchtigt worden ist, daß das kleine Vorlesungsmanuskript nur unvollständig überliefert ist, sind wir auf ein Sammelsurium eher beiläufig (meist in Traktaten über die Komödie) erhaltener Bemerkungen angewiesen, die von ganz unterschiedlichem Wert sind, uns aber immerhin eine gewisse Vorstellung von der nacharistotelischen Tragödientheorie ermöglichen. Dagegen ist die reiche Diskussion vor Aristoteles fast völlig verloren. Aus
Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides
195
der Blütezeit der attischen Tragödie sind so gut wie keine theoretischen Überlegungen erhalten. Der
Begriff
„tragischer
Renaissance-Philologen;
in
Held" den
ist
eine
spärlichen
Schöpfung Überresten
italienischer der
antiken
Dramentheorie findet sich der Terminus noch nicht. Das Fehlen des Terminus muß jedoch keineswegs das Fehlen der später mit diesem Terminus bezeichneten Sache bedeuten. In England taucht der Begriff „tragic hero" zum ersten Mal 1673 auf, in Drydens „Defence of the Epilogue", und doch wird wohl niemand zögern, die großen Gestalten Shakespeares als „tragische Helden" zu bezeichnen. Für Aristoteles ist die Handlung das Kernelement des Dramas, „Prinzip und gleichsam Seele der Tragödie", wie er sagt. „Die Tragödie ist Mimesis nicht von Menschen, sondern von Handlungen und vom Leben", heißt es im 6. Kapitel der „Poetik". Die Personen sind Funktionen der Handlung; sie ermöglichen als Handlungsträger die Darstellung einer bedeutsamen Handlung und sind nicht umgekehrt das eigentliche Ziel der Darstellung. Es soll keineswegs bestritten werden, daß Aristoteles mit der Feststellung des Primats der Handlung das Wesen der attischen Tragödie als „Handlungstragödie" im Gegensatz zur neuzeitlichen Charaktertragödie treffend charakterisiert hat; das heißt jedoch keineswegs, daß er und seine antiken Nachfolger sich nicht auch über die Handlungsträger Gedanken gemacht hätten. Sie haben sich durchaus zur Qualität der in der Tragödie nachgeahmten handelnden Menschen geäußert, und sie haben natürlich bei ihren Äußerungen den bzw. die zentralen Gestalten der Dramen im Auge. In den erhaltenen deskriptiven und normativen Äußerungen zu den Personen der Tragödie lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: soziale Position und moralische Qualität (in den Quellen wird nicht immer sauber getrennt zwischen diesen beiden Aspekten, gelegentlich scheinen sie als zwei Seiten derselben Sache aufgefaßt zu werden). Die hohe soziale Stellung der Tragödienfiguren ist Praxis und Theorie der Antike selbstverständlich. So bestimmt z.B. Aristoteles im 13. Kapitel der Poetik die Helden der Tragödie als „diejenigen, die auf dem Gipfel des
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Ruhms und des Erfolgs leben, wie Oidipus und Thyestes oder andere berühmte Männer aus solchem Geschlecht"; und in der nacharistotelischen Theorie finden sich im Zusammenhang mit dem Versuch, Tragödie und Komödie gegeneinander abzugrenzen, wiederholt Aufzählungen der in den beiden großen dramatischen Gattungen zugelassenen Personen. Oben und Unten sind dabei säuberlich voneinander getrennt. Zeigt die Komödie den gewöhnlichen kleinen Privatmann, so präsentiert die Tragödie die Großen und Mächtigen der Gesellschaft: die Heroen des Mythos, Staatsmänner, Könige und Götter. Als sogenannte Ständeregel hat diese historisch bedingte und ursprünglich wohl nur deskriptive Differenzierung von Tragödie und Komödie nach dem sozialen Status ihrer Helden bis zu Lessing ihre Gültigkeit behalten. Danach geht es schnell bergab mit dem tragischen Helden - jedenfalls mit seinem sozialen Status: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann; nach Lessings Adeligen und Bürgern G. Hauptmanns Proletarier und schließlich Becketts statuslose Clowns und Jedermanns. Die tragischen Größen von einst haben in der Boulevard- und Regenbogenpresse ein trauriges neues Zuhause gefunden. Nur selten wird der Zusammenhang zwischen historischer Entwicklung und der Veränderung ästhetischer Formen und Normen so deutlich wie hier: es ist die gesellschaftlich herrschende oder doch zukunftsbestimmende Klasse, die den Helden des ernsten Dramas stellt. So spielt der Aspekt der sozialen Position des Helden in der modernen philosophischen und philologischen Tragödienliteratur zu Recht keine große Rolle mehr. Weniger zeitgebunden dagegen scheint die andere der beiden genannten Forderungen
der antiken Theorie an den tragischen Helden:
überdurchschnittliche charakterliche
seine
Qualität. Nicht Status, wohl aber
Statur! Im 2. Kapitel der Poetik konstatiert Aristoteles, daß die in der Tragödie nachzuahmenden Personen „spoudaioi" sein müßten, ein Begriff, der meist mit „edel" oder einfach „gut" übersetzt wird, der in seiner Grundbedeutung aber etwa denjenigen bezeichnet, der sich um die Verwirklichung hoher
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Lebensziele bemüht, der sich selbst, sein Leben und seine Stellung in der Gesellschaft ernst nimmt und deswegen ernstgenommen zu werden verdient; ein Begriff also, den man, wenn man die (wie ja auch im „edel") ursprünglich enthaltenen sozialen Konnotationen mitausdrücken
möchte, auch mit
„bedeutend" wiedergeben könnte. Kurz darauf stellt Aristoteles fest, daß, gemessen am Durchschnitt der Zeitgenossen, die Komödie die schlechteren, die Tragödie dagegen bessere Menschen darstelle. Nimmt man diese Feststellung des „besser als wir" nicht zu eng moralisch (auch wenn Aristoteles, wie andere Stellen der „Poetik" zeigen, gewiß in erster Linie an moralische Qualität gedacht hat), so ist hier das entscheidende Merkmal des tragischen Helden angesprochen: die außergewöhnliche emotionale und intellektuelle Kraft (auch zum Bösen), die Stärke (auch und gerade in der Krise), die Größe (auch und gerade im Sturz). Der englische Kritiker F. L. Lucas hat das in einer pointierten, nicht zu übersetzenden Formulierung auf den Nenner gebracht: „There is really no rule about the character of tragic characters except that they must have character". Zur Illustration sei noch einmal an die großen tragischen Gestalten des Sophokles erinnert: an Aias,
der die Schmach seiner Zurücksetzung
gegenüber Odysseus, die er nicht akzeptieren, weil nicht begreifen kann, nicht erträgt und sich, als er aus dem Wahnsinn seines Versuchs, sich an den Atriden und Odysseus dafür zu rächen, erwacht, selbst richtet, weil er erkennt, daß er in seinem Drang, seine Ehre zu retten, sie endgültig verloren hat; oder an Antigone, die allen Mahnungen und Warnungen zum Trotz das als richtig Erkannte tut, einmal und noch einmal gegen das Gesetz Kreons verstößt, um das höhere Recht der Götter zu wahren; oder an Oidipus, der aus tiefem Verantwortungsgefühl für die Rettung der pestgeschüttelten Stadt und aus dem brennenden Drang, das Rätsel seiner Herkunft zu lösen, sich durch alle Blindheit hindurch und gegen alle Hindernisse und Warnungen zu der furchtbaren Wahrheit durchfragt und am Schluß, vernichtet und geblendet, dennoch größer als am strahlenden Beginn erscheint.
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So verschieden Aias, Philoktet und Oidipus, Elektra und Antigone auch sind, sie sind alle (in dem genannten Sinne) groß: groß in ihrem moralischen Mut, ihren Weg zu gehen - und führe er sie auch in den Tod; groß in ihrer Entschiedenheit, das Notwendige (oder das, was sie dafür halten) gegen jeden Widerstand zu tun; groß in ihrer tragischen Einsamkeit - umringt von untragischen, gewöhnlichen, geschützten Naturen wie Odysseus und Kreon, Chrysothemis und Ismene; groß aber auch in ihrer Reizbarkeit und völligen Unfähigkeit zum Kompromiß; groß schließlich in Leid und Schmerz, im Zusammenbruch und im Tod. Überdurchschnittliche Statur als notwendige Voraussetzung für Sympathie, Bewunderung oder doch Respekt gilt zu Recht von Aristophanes und Aristoteles bis zu Northrop Frye oder Albin Lesky als Signum des Tragödienhelden. Sie schafft darüber hinaus die vielbeschworene „Fallhöhe", die den Sturz des Helden vom Glück ins Unglück sichtbar, meßbar und furchtbar macht. Wie weit der tragische Held sich dem Durchschnitt nähern darf, ist nicht einfach zu entscheiden; sobald er jedoch die Qualität des Außergewöhnlichen völlig einbüßt-und gewiß spätestens dann, wenn er unter das moralische und intellektuelle Durchschnittsniveau seines Publikums sinkt, wird er leicht zum Objekt von Verachtung, Hohn und Spott, von Schadenfreude und Gelächter, geeignetes Objekt eher der Komödie oder der Tragikomödie als der Tragödie. Das wird sich im Folgenden auch an den Helden des Euripides zeigen, denen wir uns jetzt zuwenden. Werfen wir zunächst einen Blick auf die soziale Position der euripideischen Helden und auf ihre Welt. Vordergründig besteht kein Unterschied zu Aischylos und Sophokles. Auch Euripides dramatisiert mythologische Stoffe; auch seine Helden sind daher die Heroen des Mythos. Kleine Leute haben auch bei ihm nur Nebenrollen. Sieht man genauer zu, so ist die Veränderung der tragischen Welt jedoch beträchtlich. Erinnern wir uns noch einmal an den eingangs zitierten Streit zwischen Aischylos und Euripides in den aristophanischen „Fröschen". Gegen die Angriffe des Aischylos, er habe die Würde der Tragödie verletzt,
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verteidigt sich Euripides stolz mit dem Hinweis darauf, daß er die alltägliche Welt des Zuschauers auf die Bühne gebracht habe; und in der Tat ist die Betonung alltäglicher Gegenstände und Situationen, Sorgen und Probleme eines der interessantesten Merkmale der neuen Tragödie des Euripides. Das reicht von Alkestis' Kleidertruhen und Elektras Wasserkrug bis zu dem Besen, mit dem Ion in dem nach ihm benannten Stück den Vorplatz des Apollotempels in Delphi fegt, und zu Orests einfachem Krankenlager mit dem Beistellhockerchen für seine Pflegerin Elektra am Anfang des „Orestes"; von Admets Sorge um die Spinnweben und den Staub im Palast nach Alkestis' Tod bis zu den Vorbereitungen für Ions Geburtstagsfeier und Menelaos' unerquickliche Erfahrung als Bettler vor dem ägyptischen Palast. Die euripideischen Helden diskutieren über Kindererziehung und die gesellschaftliche Stellung der Frau, über das Problem Vererbung oder Sozialisation ebenso wie über Fragen militärischer Effizienz und politischer Moral. Besonders deutlich ist diese Entmythisierung, die realistische Entheroisierung von Situation und Atmosphäre und die Schaffung eines ganz neuen untragischen Tons in der „Elektra": Bei Euripides lebt Elektra nach der Ermordung Agamemnons nicht wie bei Aischylos und Sophokles einsam, trauernd und haßerfullt im Palast, sondern auf dem armseligen Hof eines Bauern, mit dem Aigisth und Klytaimestra sie verheiratet haben, um die Geburt eines Thronprätendenten und Rächers zu verhindern. Die radikale Veränderung des Schauplatzes und der dramatischen Ausgangs-Konstellation hat tiefgreifende Folgen für Personen und Atmosphäre: ein einfacher Bauer, der weit über seinem Stand geheiratet und sich, wie Euripides uns gleich mitteilt, gescheut hat, seine ehelichen Rechte wahrzunehmen, und seine Frau aus gutem Hause, die sich vor Sonnenaufgang - damit beginnt das Stück - mit dem Krug aufmacht, Wasser von der nahegelegenen Quelle zu holen, und, auf die Bitte des Gatten, sie solle sich nicht unnötig plagen, erklärt (73-6): Du hast doch draußen schon genug zu tun. Die Hausarbeit ist meine Sache. Schön ist es
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für den Mann, der von der Arbeit heimkehrt, wenn drinnen alles gut in Ordnung ist. Man stelle sich einmal ein entsprechendes Gespräch zwischen Oidipus und lokaste vor oder zwischen Agamemnon und Klytaimestra! In der folgenden Szene präsentiert Euripides eine Elektra, die, als der Chor sie einlädt, nicht mit auf das Herafest gehen will, weil ihre Frisur nicht in Ordnung ist und sie nichts anzuziehen hat, und einen Chor, der ihr etwas leihen will (184-7): E: Sieh doch mein schmutziges Haar und die abgetragenen Kleider; ziemt sich denn das für Agamemnons königliche Tochter? Ch: Ach komm, nimm doch von mir ein buntgewebtes Kleid und goldnen Schmuck, tu mir doch den Gefallen! Auch hier ist es instruktiv, sich ein solches Gespräch zwischen dem Chor und der aischyleischen Klytaimestra oder der sophokleischen Antigone vorzustellen! Der Dichter zeigt gleich darauf den Ärger des Ehemanns, der von der Arbeit nach Hause kommt und seine Frau mit fremden Männern vor der Haustür im Gespräch stehen sieht (es handelt sich um die noch nicht erkannten Orest und Pylades, die gerade angekommen sind), und er läßt schließlich seine tragischen Helden das unsterbliche Komödienthema diskutieren, was man den Gästen zu essen vorsetzen könne. Elektra wirft ihrem Mann vor, er hätte so vornehme Gäste nicht einladen dürfen: „wo wir doch nichts zu essen im Hause haben"; und der Bauer antwortet, eine gute Hausfrau könne, wenn sie nur wolle, auch aus Einfachem und aus Wenigem noch etwas machen. Der größere Realismus, mit dem Euripides die alten Geschichten erzählt, rückt seine Helden dichter an die Zuschauer heran. Es sind zwar immer noch die mythischen Heroen; immer noch heißen sie Eteokles und Polyneikes, Oidipus und Antigone, Elektra und Orest; aber sie sind auf Normalmaß reduziert. Das ist, bei aller Beibehaltung der sozialen Position, dennoch eine deutliche Statusminderung. Aristophanes hat das gespürt, wenn er Euripides
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(und seine Helden) im Gegensatz zu dem aristokratischen Aischylos als Demokraten charakterisiert. Dazu paßt auch die wachsende Bedeutung kleiner Leute (Sklaven, Ammen, Boten, Hauslehrer u.a.). Zahl, Umfang und Gewicht dieser Nebenrollen nimmt deutlich zu. Und dazu paßt ferner die Erweiterung des von den dramatischen Ereignissen betroffenen Personenkreises. In manchen seiner Stücke fällt es schwer, eine zentrale Gestalt, d.h. den Helden zu bestimmen. Sieht man von Herakles und Medea einmal ab, so beherrscht kein euripideischer Held so die Bühne wie Prometheus, Aias oder Oidipus. Anstelle der einsamen Riesen der alten Tragödie erscheinen bei Euripides vor allem Paare (Admet und Alkestis, Hippolytos und Phaedra) oder auch Gruppen (im Spätwerk meist Familien), gewinnt schließlich, wie Diller schön gezeigt hat, die Masse eine immer größere Bedeutung. Dafür nur ein Beispiel: In der aulischen Iphigenie entscheidet nicht mehr wie im „Agamemnon" des Aischylos der König der Könige in qualvoller Einsamkeit über die Notwendigkeit, seine Tochter Iphigenie zu opfern, wie Artemis es durch den Mund des Sehers Kalchas verlangt; bei Euripides werden Agamemnon und Menelaos, zwei entscheidungsschwache Militärs, die hilflos hin- und herschwanken, schließlich vom Druck des Heeres, das das Warten auf den Krieg und die erhoffte Beute satt hat, zu der Opferung Iphigenies gezwungen, die beide eigentlich gar nicht mehr wollen. Den entscheidenden Punkt der Veränderung der Tragödie hat der Spötter Aristophanes jedoch mit seiner Kritik an Statur und moralischer Qualität des euripideischen Helden getroffen. Nicht mehr besser oder doch größer und bedeutender als der Durchschnitt, sondern ein Mensch wie du und ich, gerät der tragische Held bei Euripides ins Zwielicht des Mittelmaßes. Das gilt für Admet und Jason, für Elektra und Orest genauso wie fur Eteokles und Polyneikes oder, wie wir eben gesehen haben, für Agamemnon und Menelaos. So entlarvt Euripides in seiner hintergründigen Version vom Liebesopfer der Alkestis aus dem Jahre 438 den thessalischen Grandseigneur und Freund Apollons, Admet, als wehleidigen und hohlen Schwächling, der
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ein solches Opfer in unseren Augen kaum verdient; und was sich bereits hier, in dem frühesten der erhaltenen Stücke zeigt, verstärkt sich immer mehr und wird im Spätwerk zu einem der zentralen Themen des Dichters. In der bereits erwähnten „Iphigenie in Aulis" hat Euripides am Ende seines Lebens - in einem letzten Schritt von, wie mir scheint, besonderer symbolischer Bedeutung - nicht einmal vor dem Helden der Helden, vor Achilleus, haltgemacht. Der Größte der Großen, der griechische Held kat' exochSn, der in der Ilias mit einem einzigen Schlachtschrei das ganze feindliche Heer in panische Angst versetzt und vor sich her über die troische Ebene scheucht, scheitert hier bei dem Versuch, das Leben Iphigenies zu retten, kläglich und kann sich vor einer Steinigung durch den aufgehetzten Pöbel nur durch eilige Flucht retten. Ich werde im folgenden versuchen, dieses hartnäckige und unbarmherzige Infragestellen des Großen, Berühmten, Heldischen, die „Zerstörung des tragischen Helden", an drei Beispielen aus den späten Tragödien des Euripides zu demonstrieren, und zwar zunächst an zwei kleineren, besonders aussagekräftigen Szenen aus der „Helena" und aus dem „Orestes" und dann mit einem kurzen Blick auf die „Phoinissen". In der 412 aufgeführten „Helena", deren Stoff heute wohl eher aus der Hofmannsthal-Strauß-Version als aus Euripides bekannt ist, wird Menelaos nach langen Jahren des Herumirrens nach Ägypten verschlagen, findet daselbst die vor Ausbruch des trojanischen Krieges dorthin entrückte Gattin wieder (in Troja hat man 10 Jahre lang um ein Luitgebilde gekämpft) und kehrt am Ende nach allerlei Verwirrungen und Gefahren glücklich vereint mit Helena nach Griechenland zurück. Nach einer längeren Exposition, in der Helena ihr Unglück beklagt und sich schließlich auf Rat des Chores in den Palast begeben hat, um die Seherin Theonoe nach dem Schicksal ihres Gatten zu befragen, beginnt das dramatische Spiel mit dem Auftritt eines zerlumpten Fremden. Aus seinen späteren Worten und Taten läßt sich als „Regieanweisung" erschließen, daß er sich vorsichtig, ja ängstlich dem Palast nähert. Er beginnt mit einer langen,
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leicht pompösen Selbstvorstellung, deren kuriose Mischung aus Selbstmitleid und Eitelkeit schnell deutlich werden läßt, was wir von dem stolzen Heerführer und Trojasieger, als den er sich so gern selbst stilisieren möchte, zu halten haben; und je länger er spricht, desto kleiner wird er: er weiß nicht, sagt er, wo er ist, denn er hat sich geschämt zu fragen - „so, wie ich aussehe!". Zur Begründung muß eine tragische Sentenz herhalten (417-19): Gerät ein großer Mann in Not, empfindet er das Ungewohnte weit bitt'rer als der längst mit Not Vertraute. Doch der Sturz des Großen, der hier mit großen Worten beschworen wird, ist nicht wie im „Aias" oder im „Oidipus Tyrannos" die Vernichtung von Ehre und Existenz, sondern nur der Sturz aus der Tragödie in die Welt der Komödie: er hat nichts zu essen und nichts anzuziehen (420-2): Ich leide Mangel, habe nichts zu essen, nichts anzuziehen. Man sieht's ja gleich mir an: nur was der Sturm mir ließ, deckt meine Blöße. So hat er sich, seine Gefährten und die vermeintliche Helena in einer Höhle zurücklassend, auf die Suche gemacht und endlich von weitem einen reichen Palast entdeckt, in dem er Hilfe zu finden hofft. Der Schluß der Rede zeigt, daß der große Heerführer die Rolle des Bettlers schon so internalisiert hat, daß er gar nicht mehr auf die Idee kommt, sich als König von Argos und Held von Troja vorzustellen und um Gastfreundschaft und Heimgeleit zu bitten, sondern nur noch hofft, als bettelnder Schiffbrüchiger eine milde Gabe zu erhalten (431-4): Da wohnt ein reicher Mann. Da will ich hin. Von Reichen darf der Schiffer Almosen hoffen. Der, der selbst nichts hat, wenn er auch wollte, könnte mir nicht helfen. Bietet bereits die Selbstdarstellung der Auftrittsrhesis wiederholt Veranlassung zu einem amüsierten Lächeln über diese ironische Karikatur eines
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tragischen Helden, so wird Menelaos bei dem sich
anschließenden
Zusammentreffen mit der alten Türhüterin vollends zur komischen Figur. Türhüter-Szenen gibt es auch bei Aischylos und Sophokles; aber was hier mit dem Einlaß begehrenden Helden geschieht, ist gerade auf dem Hintergrund anderer Torhüter-Szenen ganz unerhört. Auf sein Rufen erscheint eine mürrische Alte, die ihn in rüdem Ton auffordert, zu verschwinden (437-40): Wer klopft am Tor? Schau, daß du weiterkommst! Beläst'ge meine Herrschaft nicht und lungere hier nicht am Tor herum, wenn dir dein Leben lieb ist. Euripides hat Menelaos keinen ehrenhaften Gegner gegeben; es zeigt sich jedoch schnell, daß er nicht einmal diesem Gegner gewachsen ist. Er versucht es zunächst einmal mit einer Reihe von verbalen Bücklingen (441 f.): Ei, Mütterchen, schon gut, schon gut; du hast ganz recht. Ich will dir gern gehorchen. Nur mäßige deine Zunge. Als er sich dann trotz eines erneuten „Mach dich davon!" anscheinend der Tür zu nähern versucht, erlebt er etwas für den tragischen Helden Unerhörtes: die alte Sklavin erhebt die Hand gegen den Trojasieger und hat auf seinen Aufschrei, der mehr Angst als Entrüstung zum Ausdruck bringt (445): Ah, lege nicht die Hand an mich und stoß mich nicht so derb! nur die lapidare Antwort (446): Daran bist du selber schuld; denn wer nicht hören will, muß fühlen. Noch gibt es Menelaos allerdings nicht auf. Er versucht es diesmal in formellem Ton (447): Geh, melde mich drinnen deiner Herrschaft! Die Alte jedoch bleibt ungerührt; sie fordert ihn auf, sich ein anderes Haus für seine Bettelei zu suchen, und droht ihm unmißverständlich Prügel an, falls er ihr noch länger auf die Nerven falle. Der Jammer des Helden macht sich daraufhin in dem tragisch-stilisierten Aufschrei Luft (453): Aiai! Wo ist mein berühmtes Heer ?
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Die Troja-Armee, um sich Respekt bei der alten Sklavin zu verschaffen! Hier erreicht der „tragische" Sturz des Helden seinen „komischen" Tiefpunkt. Menelaos' bittere Klage, daß er zu Unrecht so entehrt sei, dürfte nicht nur angesichts seines bisherigen Verhaltens wenig Zustimmung finden, sondern wird auch noch durch die Tränen, die ihm dabei kommen, diskreditiert. Die Alte erklärt ihm denn auch spöttisch, er möge versuchen, seine Freunde zum Weinen zu bringen. In der zweiten Hälfte des Dialogs erfährt Menelaos nicht nur endlich, wo er sich befindet, sondern auch, daß eine gewisse Helena im Palast wohne. Bevor er jedoch weitere Fragen stellen kann, bricht die Türhüterin mit einem letzten „Doch nun verschwinde!" das Gespräch ab und überläßt Menelaos sich selbst und seinen Gedanken. Die Ironie, mit der Euripides Menelaos hier präsentiert, ist nicht kritischagressiv, wie in den Menelaos-Porträts der ,Andromache" oder des „Orestes", sondern spöttisch. Die Destruktion des tragischen Helden wirkt in dieser Szene (wie im ganzen Stück) beinahe spielerisch, amüsiert, hat jedenfalls nichts von der beißenden Schärfe, mit der Euripides so oft die Heroen des Mythos attackiert und der Verachtung des Publikums preisgibt. Wenigstens ein instruktives Beispiel dafür sei im folgenden etwas ausführlicher vorgestellt. Wieder handelt es sich um die Begegnung eines Großen mit einem Kleinen, um den Zusammenstoß eines bedeutenden Heroen mit einem unbedeutenden Sklaven, diesmal im Orestes, dem letzten Stück, das Euripides 408 selber in Athen zur Aufführung gebracht hat. Der Orestes ist eine Art Fortsetzung zu seiner Elektra (oder auch zu Aischylos' Choephoren bzw. Sophokles' Elektra). Das Stück behandelt die Zeit gleich nach dem Muttermord und geht von der neuen, dramatisch außerordentlich fruchtbaren Voraussetzung aus, daß Orestes nicht, wie in den Stücken der Vorgänger, Argos unmittelbar nach der Ermordung Klytaimestras verlassen hat. Der Muttermörder wird hier nicht nur von den Furien gejagt (die bei Euripides allerdings kaum mehr sind als visuelle Symbole seines Schuldbewußtseins), sondern er ist vor allem auch bedroht durch ein kurz
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bevorstehendes Urteil der argivischen Volksversammlung, das, daran zweifeln die Geschwister nicht, auf Tod lauten wird. Die einzige Hoffnung, die Orestes und Elektra noch haben, ruht auf ihrem Onkel Menelaos, der gerade mit Helena nach Argos zurückgekehrt ist. In der ersten Hälfte des Stücks wird diese Hoffnung auf Rettung zerstört. Tyndareos, der Vater Klytaimestras, der nach Argos gekommen ist, um die Mörder seiner Tochter zu bestrafen, schüchtert Menelaos so ein, daß er Orestes im Stich läßt; einen Menelaos, der sich nicht nur als Feigling, sondern, was schlimmer ist, auch als egoistischer Heuchler entlarvt, der nur darauf wartet, nach dem Tode Orests selber die Herrschaft in Argos und den reichen Palast zu übernehmen. Pylades verspricht Orestes seine Hilfe und begleitet den Freund in die entscheidende Volksversammlung. Doch alles, was Orestes dort erreichen kann, ist, daß er und seine Schwester nicht gesteinigt werden, sondern ihnen zugestanden wird, sich - ehrenvoller - selbst das Leben zu nehmen. Zunächst scheinen Orestes, Elektra und Pylades entschlossen, gemeinsam zu sterben; aber dann, ganz plötzlich, beschließen sie, sich vorher an Menelaos für die feige Unterlassung seiner Hilfe zu rächen. Der Plan, den Pylades entwirft, ist, Helena zu töten und so nicht nur Menelaos zu treffen, sondern zugleich durch die glorreiche Hinrichtung Helenas, der wegen Troja von allen Griechen leidenschaftlich gehaßten Ehebrecherin, auch die Erinnerung an den anrüchigen Muttermord auszulöschen. Und wer weiß, vielleicht wird sich im Verlaufe der Rache auch eine Möglichkeit finden, den gefährdeten eigenen Hals noch aus der Schlinge zu ziehen. Es ist Elektra, die den Einfall hat, Hermione, die Tochter von Helena und Menelaos, zu fangen und sich mit dieser Geisel gegen Menelaos zu verteidigen und ihn unter Druck zu setzen, um ihnen zu helfen. Doch das listige Komplott mißlingt, jedenfalls der entscheidende Teil. Hermione geht wie geplant in die Falle; als aber Orestes und Pylades Helena zu töten versuchen, ist diese plötzlich verschwunden. Der erfolglose Anschlag wird in allen Einzelheiten in einer großen Arie von einem phrygischen Eunuchen, einem der Leibdiener Helenas, berichtet, dem es
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gelungen ist, zu entkommen, und der nun den Chor informiert. Orestes jagt den Phrygier wieder in den Palast; gleich darauf stürzt Menelaos auf die Bühne; Orestes droht, Hermione zu töten und den Palast in Brand zu stecken: da erscheint plötzlich der deus ex machina Apollon und bringt doch noch alles zu einem glücklichen Ende. Das Stück hat sich in der Antike (und dann wieder in den letzten Jahren) großer Beliebtheit erfreut. Zumindest eine Szene allerdings hat bereits in der Antike Befremden ausgelöst: der kurze Dialog zwischen Orestes und dem Phrygier im Anschluß an die große Botenberichtsarie des phrygischen Sklaven. Kaum hat der Phrygier seine Arie beendet, als Orestes auf der Suche nach dem entkommenen Sklaven mit dem blutigen Schwert in der Hand aus dem Palast stürzt. Der Phrygier wirft sich ihm in Todesangst zu Füßen, nicht ohne erklärend hinzuzufügen, daß die Proskynese bei den Barbaren nun einmal Sitte sei. Es entwickelt sich eine kurze Stichomythie mit deutlich komischen Obertönen. Doch wir werden unseres Lachens nicht recht froh. Orestes findet offenbar Gefallen daran, mit dem sich vor ihm auf dem Boden windenden, wehrlosen
Opfer
zu
spielen,
ist jedoch
der
Schamlosigkeit
und
Schlagfertigkeit des Sklaven nicht gewachsen, der stets eine gute Antwort weiß und immer mehr die Oberhand gewinnt. Er erklärt dreist, er habe Hilfe nicht etwa für Helena, sondern natürlich für Orestes herbeiholen wollen, bestätigt dann zweimal überschwenglich, daß seine Herrin den Tod mehr als einmal verdient habe, und als Orestes ihn dazu zwingt, zu schwören, daß er ihm nicht nach dem Munde rede, sonst werde er ihn töten, schwört der Schelm nicht ohne Witz bei seinem Leben (1517): Bei meinem Leben schwör ich's - höher schwören kann ich nicht. Von hier an wird der Ton geradezu burlesk. Orestes' ironische Frage, ob denn auch vor Troja alle Phrygier so feige gewesen seien, überhört der Eunuch geflissentlich und fordert ihn auf, das Schwert ein wenig zur Seite zu nehmen - es blitze so unheildrohend. Daraufhin versucht sich Orestes mit einem Witz und fragt den Sklaven, ob er denn fürchte, beim Anblick des
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Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides
Schwertes zu Stein zu werden, so als müsse er der Gorgo ins schreckliche Antlitz sehen. Doch die Ironie ist verschenkt. Der Barbar hat nichts von der Gorgo gehört und hilft sich mit einem recht törichten Wortwitz. Ein letzter Höhepunkt und passender Abschluß der unwürdigen kleinen Farce wird erreicht, als die beiden einander wahrhaft würdigen Gegner sich mit gegenseitigen Komplimenten verabschieden (1524f.): Or.: Wohl gesprochen. Deine Klugheit rettet dich. Geh jetzt ins Haus! Ph.: So tötest du mich nicht? Or.: Du kannst gehen. Ph.: Das ist ein schönes Wort. Als Orestes darauf das Spielchen plötzlich noch einmal erneuern will, nehmen wir ihn genauso wenig ernst wie der Sklave, der sein Kompliment revoziert (1526): Or.: Gleich werde ich's mir anders überlegen. Ph.: Dies Wort klingt nicht so gut. und unter dem Gelächter des Publikums mit einem Kratzfuß verschwindet. Ein antiker Kommentator stellt lapidar fest, daß die Szene „der Tragödie und des Orestes' Schicksal unwürdig" sei. Mancher moderne Leser hat ihm vollen Herzens zugestimmt. Da wir jedoch kaum annehmen werden, daß Euripides das nicht ebenfalls gemerkt haben sollte, stellt sich die Frage, warum er den Botenbericht um diese kleine Szene erweitert hat. Die Frage nach der Funktion der Stichomythie und dem Grund für ihren groteskkomischen Ton wird noch dringender, wenn wir uns klar machen, daß die Szene für den Ablauf der Handlung im Grunde überflüssig ist. Die Entfernung des Boten hätte viel einfacher und gewiß ohne den komischparodistischen Ton erfolgen können. Warum also läßt Euripides Orestes in diesem Moment aus dem Palast stürzen und konfrontiert ihn in der beschriebenen Weise mit dem phrygischen Sklaven? Für „comic relief, d.h. für einen kurzen Moment der Komik als psychische Erleichterung und
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Entlastung für den erschütterten Zuschauer, ist der Ton nicht komisch genug und die Situation als solche zu ernst. Verschiedene Interpreten des Stücks haben betont und dokumentiert, daß die Rachehandlung im zweiten Teil des „Orestes" auf dem Hintergrund der „Choephoren" des Aischylos und der „Elektra" des Sophokles gesehen werden muß. Die versuchte Ermordung Helenas wird von Euripides als perverse „Wiederholung" der Ermordung Klytaimestras präsentiert. Die neue Bluttat ist eine makaber lächerliche Karikatur des tragischen Höhepunkts der sophokleischen „Elektra" und - noch deutlicher - der „Orestie". Ein Blick
auf die vergleichbare
Szenenfolge der
aischyleischen
„Choephoren" zeigt die Raffinesse der literarischen Anspielung. Auch in den „Choephoren" stürzt mitten in der Durchführung des Racheplans - und kurz nachdem Todesschreie aus dem Palast gedrungen sind - ein vor Angst zitternder Sklave auf die Bühne und berichtet, was im Haus geschehen ist. Auch in den „Choephoren" stürzt gleich darauf Orestes mit blutigem Schwert aus dem Palast auf der Suche nach seinem Opfer. Doch in den „Choephoren" ist das Ziel der Suche nicht der entlaufene Sklave, sondern Klytaimestra; dort folgt, als diese um ihr Leben bittet, ein Dialog, der kurz vor dem Muttermord die ausweglose tragische Situation des Orestes sichtbar macht; hier dagegen folgt ein Dialog mit dem um sein Leben bettelnden Sklaven, der gerade die ganz und gar untragische
Qualität der
Situation und
des
Helden
veranschaulicht. Euripides konnte den Unterschied zwischen seinem Orestes und dem tragischen Helden seiner Vorgänger nicht deutlicher machen als in dieser Konfrontation mit dem Phrygier, einem feigen, lächerlichen Eunuchen, der zu allem Überfluß diesem Orestes auch noch überlegen ist, wie der Sklave der Komödie seinem ihn mit Strafe bedrohenden Herrn. Dieser Orestes ist nicht mehr als eine Karikatur seines mythischen und literarischen Selbst. Walter Burkert, dem meine Ausführungen viel verdanken, hat kürzlich in einer schönen Studie über den Orestes gezeigt, daß die Szene so verstanden eine über den dramatischen Kontext des „Orestes" weit hinausreichende
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paradigmatische Bedeutung hat. Er geht von der szenischen Ausgangskonstellation nach der Proskynese des Phrygiers aus: „Der Kämpfer mit gezückter Waffe, vor ihm, unter ihm ein Feind, dem er den Todesstoß zu versetzen im Begriffe ist: dies ist das aus zahlreichen Darstellungen des 5. Jahrhunderts bekannte ikonographische Schema des Siegers, des Helden schlechthin. So steht Orestes, der dem Untergang verfallen schien, auf der Bühne in der Pose des Triumphes - und doch, wie könnte ein Triumph ärger entwertet sein? Die Menschlichkeit, die die Kämpfe der Parthenonzeit zu umgreifen schien, ist dahin; es bleiben nackte Schwerter und jämmerliche Kreaturen. Und oben und unten sind einander wert; der Phrygier ist ein Zerrspiegel, aber doch ein Spiegel des Orestes. Die adelig-heroische Lebensform endet in der Parodie ihrer selbst." Daß der Phrygier in der Tat als „Zerrspiegel des Orestes" verstanden werden soll, ist oft empfunden worden und wird spätestens in dem Moment deutlich, in dem Orestes ihn laufen läßt. Als nämlich der Phrygier seine Todesangst damit entschuldigt, daß jeder Mensch das Leben liebe, stimmt ihm Orestes begeistert zu und schenkt ihm zur Belohnung das Leben (1523f.): Phr.: Jeder Mensch, auch wenn er Sklave ist, freut sich, der Sonne Licht zu sehen. Or.: Wohl gesprochen. Deine Klugheit rettet dich. Geh jetzt ins Haus ! Orestes hat eine verwandte Seele gefunden. Wie der Phrygier in dieser kleinen Szene ist Orestes fast das gesamte Stück hindurch damit beschäftigt, sein Leben zu retten. Der erste Teil des Stücks ist bestimmt von seinem verzweifelten Bemühen, den drohenden Tod doch noch abzuwenden. Als der Versuch, das Todesurteil der Volksvertretung zu verhindern, scheitert, scheint nur der Selbstmord zu bleiben (1061f.): Auf laßt uns mutig sterben! Laßt uns handeln, wie es den Kindern Agamemnons ziemt.
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Doch Pylades' Vorschlag, sich durch die Ermordung Helenas wenigstens an Menelaos zuvor zu rächen, bringt beinahe zufällig neue Rettungshofifhungen; und spätestens mit Elektras List, sich Hermiones als Geisel zu bemächtigen, geht es wieder wie zu Beginn darum, das Leben zu retten. Dabei vergißt übrigens der Sohn Agamemnons, der eben noch stolz erklärt hat, er wolle sich des Trojasiegers würdig erweisen und nicht wie ein Sklave sterben, daß er mit der geplanten Heldentat, der hinterhältigen Ermordung Helenas, den zehnjährigen Krieg des Vaters für Helena ad absurdum fuhrt. Der hehre Plan, wenn schon, dann wenigstens ruhmvoll zu sterben, hat sich fast unbemerkt in die Bereitschaft verwandelt, notfalls sogar schändlich zu leben. Erinnert man sich an Achilleus und Hektar, an Aias und Antigone, aber auch an Alkestis und Phaidra, so wird die Perversion des heroischen Lebensideals spürbar. Der tragische Held ist auf die Ebene eines phrygischen Eunuchen herabgesunken. So verstanden wird klar, warum die von vielen Kritikern als „Selbstzweck" verkannte Szene gerade hier eingeschoben ist. Zugleich erweisen sich die Wahl eines weibischen Eunuchen als Gesprächspartner und der burlesk-lächerliche, „der Tragödie und des Orestes unwürdige" Ton als äußerst sinnvoll. Je unwürdiger Gesprächspartner, Situation und Atmosphäre, desto entlarvender der Zerrspiegel. Mit demselben kritischen Realismus und demselben bitteren Pessimismus hat Euripides kurz vor dem „Orestes" in den „Phoenissen" auch das Ende der ebenso berühmten Familie des Oidipus gestaltet. Den Stoff bildet die Geschichte von Erbstreit und Machtkampf der beiden Oidipus-Söhne Eteokles und Polyneikes, die vor Euripides bereits Aischylos in den „Sieben gegen Theben" gestaltet hatte. Die Brüder haben sich zunächst auf einen jährlichen Wechsel der Herrschaft geeinigt; Eteokles bricht jedoch diese Vereinbarung und jagt den Bruder in die Verbannung; dieser findet in Argos Aufnahme und Unterstützung und kehrt mit einem starken Heer zurück, sich sein Recht (und seine Rache) mit Gewalt zu verschaffen, mag auch die Vaterstadt darüber zugrunde gehen. Ein letzter Vermittlungsversuch der
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Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides
Mutter lokaste scheitert, es kommt zur Schlacht und schließlich zum tödlichen Zweikampf der Brüder, die sich gegenseitig umbringen. Die radikale Entidealisierung und Entheroisierung von Stoff und Personen ist überall sichtbar, und an einer Stelle gleich zu Beginn des Stücks hat Euripides die Statusreduzierung des Helden geradezu explizit thematisiert. Iokaste fragt ihren Sohn (404): Hat denn der Adel der Geburt dich nicht ganz hoch emporgetragen? und dieser belehrt sie (405): Übel ist es, nichts zu haben; von meinem Adel konnte ich nicht leben. In der realistischen Welt der „Phoenissen", die die Welt des ausgehenden 5. Jahrhunderts ist, hat „edle Abstammung" (eugeneia), die entscheidende soziale Qualität der alten Heroen, keine Bedeutung mehr. Besitz ist das, was zählt. Besitz bedeutet Macht - und Macht bedeutet Besitz. Darum - und nur darum geht es; darum der Krieg; darum der mörderische Zweikampf der Brüder. Nicht ein unheilvoller Geschlechtsfluch treibt hier die tragischen Helden, sondern blinde Gier nach Reichtum, Macht und Rache. Da mag denn Polyneikes das Recht auf seiner Seite haben. Aber sein Recht ist nicht mehr als das Recht einer privaten Vereinbarung mit dem Bruder über den jährlichen Wechsel der Macht und berechtigt ihn nicht zum Krieg gegen seine Vaterstadt. Und Eteokles? Bei Aischylos der verantwortungsbewußte und erfahrene Verteidiger der Polis, der schließlich gerade in Folge seines Verantwortungsbewußtseins und seiner militärisch notwendigen und richtigen Entscheidungen in den tragischen Zweikampf mit dem Bruder verwickelt wird; bei Euripides dagegen ein egoistischer Machtmensch, dynamisch und skrupellos; militärisch, wie das Gespräch mit Kreon zeigt, völlig unfähig; den schließlich nichts in den sinnentleerenden Tod treibt als der wilde Haß auf den Bruder und der brennende Wunsch, den einzigen Rivalen um die Macht endgültig auszuschalten. Die kritische Destruktion der großen Heroen des Labdakidenhauses macht auch vor den ehrwürdigen Gestalten des sophokleischen Oidipus
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Tyrannos nicht halt: vor Kreon Teiresias und Oidipus. Erscheint der Verfall tragischer Größe bei den Brüdern als moralische Verwilderung - nicht zufällig werden sie in ihrem Kampf um die Macht immer wieder mit wilden Tieren verglichen - so präsentiert er sich in der älteren Generation als Schwäche. Der von Euripides hier - wie auch in anderen Stücken - mitleidlos porträtierte körperliche Verfall der Alten ist dabei nur ein äußerliches Zeichen für den weit bedeutungsvolleren Verlust an innerer Statur und Substanz. Teiresias hat kaum noch etwas von der ehrfurchtgebietenden Größe des sophokleischen Sehers. Der altersschwache Priester, der sich wehleidig darüber beklagt, wie undankbar doch sein Beruf sei - nicht ohne stolz von seinem letzten großen Erfolg in Athen zu berichten - kann mit seinem Spruch nicht einmal Kreon beeindrucken; und auch Oidipus ist nur noch ein Schatten seiner selbst (1544f.): ein graues, schattenhaftes Luftgebild, ein Toter aus dem Hades, ein flatterndes Gespinst des Traums, ein kranker, verbitterter alter Mann, von seinen Söhnen in den Palast gesperrt, mal jammernd, mal auf Selbstmord sinnend, mal fluchend; ein Oidipus, der nicht einmal mehr weiß, warum er sich geblendet hat (1612f.): So töricht bin ich nicht, daß ich mich selbst geblendet hätte, wenn nicht ein Gott mich zu der Tat getrieben hätte. Positiv sind nur, wie
so oft bei Euripides in den Kriegs-
bzw.
Antikriegsstücken, in denen sie als Opfer der Männerwelt erscheinen, die Frauengestalten gezeichnet: die Mutter lokaste, die einen letzten Versuch unternimmt, die beiden Brüder miteinander zu versöhnen, und die Schwester Antigone, die im Verlaufe des Stücks vom naiven jungen Mädchen zur entschlossenen jungen Frau heranreift; positiv auch Menoikeus, der junge Sohn Kreons, der, als der Seher ein Blutopfer zur Rettung der Stadt fordert,
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ohne zu zögern sein Leben für die Stadt hinzugeben bereit ist. Durch die positiven Gestalten, durch jugendlichen Opfermut und Idealismus oder die liebevolle Sorge und Vernunft der alten Mutter wird die Gesamtwirkung des Stücks allerdings nicht bestimmt. Sie verstärken eher den düsteren Eindruck von Egoismus und Schwäche, von Verrohung und Sinnlosigkeit. Alle diese Beispiele für die „Zerstörung des tragischen Helden im Spätwerk des Euripides", aus so verschiedenen späten Stücken wie „Elektra" und „Helena", „Iphigenie in Aulis", „Orestes" und „Phoenissen", lassen immer wieder dieselbe Technik erkennen, deuten immer wieder auf dieselbe Intention. Euripides spielt die alten Geschichten mit den Menschen seiner Zeit neu durch. Meisterhaft nutzt er dabei die Spannung zwischen Mythos und Realität, zwischen dem hehren mythisch-literarischen Bild des Menschen und der historischen Erfahrung tatsächlicher Schwäche und Erbärmlichkeit. Gerade im Kontext der alten tragischen Situationen und Probleme, mit denen auch die neuen Helden des Euripides konfrontiert sind, und vor dem Hintergrund des traditionellen Heldenbildes von Homer bis Sophokles tritt die Reduzierung der aischyleischen und sophokleischen Halbgötter auf gewöhnliche Menschen kraß hervor; auf Menschen, die sich vom Zuschauer und seinen politischen Führern nur dadurch unterscheiden, daß sie nicht Myrrhine und Kallias heißen, sondern Elektra und Orestes, nicht Kleon und Alkibiades, sondern Eteokles und Polyneikes. Die euripideischen Helden sind oft zu klein für die großen tragischen Rollen, die sie zu spielen haben. Die ihnen nur noch lose und traurig um die allzu kleine Gestalt hängenden Heldenkostüme enthüllen die Schwäche mehr, als daß sie sie verbergen. Zum Lächerlich-Komischen ist es oft nur noch ein kleiner Schritt, oft nicht einmal mehr das. Zugleich jedoch ist diese Schwäche, „die Schrumpfung und Verkümmerung", wie Karl Reinhardt sie nennt, auch ernüchternd und zutiefst schmerzlich. Der Zuschauer, gewohnt, die tragischen Helden als poetische Bilder seiner selbst zu verstehen, als Repräsentanten seiner Ideale und Hoffnungen, seiner Gefährdung und seiner
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sich im Zusammenbruch beweisenden Größe, fühlt sich ständig aufgefordert, diese Helden zu verachten oder über sie zu lachen, erschrickt jedoch zugleich über das, was Euripides ihm mit diesen Figuren über den Menschen sagt und zeigt. „Bruder, ich habe die Menschen gesehen", sagt Karl Moor in den 'Räubern', „es ist ein Schauspiel, Bruder, das Tränen in deine Augen lockt, wenn es das Zwerchfell zum Gelächter kitzelt". Der Verlust intellektueller und moralischer Substanz wird zur zentralen tragischen Aussage. Die Destruktion des Helden ist auch, denke ich, eine verzweifelte Beschwörung des Verlorenen, ein leidenschaftlicher Appell: Seht, was aus uns geworden ist! Euripides zeigt die tragisch-dialektische Kehrseite der Sophistik. Der Mensch: das Maß aller Dinge - aber was für ein Mensch ist das! Befreit, aber auch nicht mehr getragen von den sich ergänzenden Ordnungen der Götter und der Polis, werden Eteokles und Polyneikes zu wilden Tieren, die nichts treibt als der brennende Hunger nach Macht und Besitz; degeneriert der aischyleische Orestes bei Euripides zum gewöhnlichen Verbrecher, der, um sich zu rächen und seine Haut zu retten, zu einem Mord, zu Geiselnahme und Erpressung bereit ist. Es ist gewiß ein Zufall, aber es ist zweifellos ein signifikanter Zufall, daß Euripides seinen Orest gerade am 50. Jahrestag der aischyleischen Orestie aufführen ließ. Mit seiner Gestaltung des OrestStoffes wollte Euripides seinen Landsleuten, bei seinem Abschied aus Athen im Jahre 408, offenbar vor Augen halten, was in nur zwei Generationen aus Aischylos' großartiger Vision einer von den Göttern garantierten Polis- und Rechtsordnung, in der sich die tragischen Gegensätze der Welt überwinden lassen, geworden sei. Helden, Gesellschaft und Götter scheinen unheilbar krank - und damit ist auch die Tragödie in Gefahr. Zu Recht hat Burkert von einer unheimlichen Verwandlung der Tragödie zum Gangsterstück gesprochen. Am Ende des Orestes sind die unseligen Erben drauf und dran, den Atridenpalast (den klassischen Schauplatz der griechischen Tragödie) in Brand zu stecken. Das kann vielleicht als Symbol verstanden werden - als Symbol für das Ende des Mythos und des tragischen Theaters. Ähnliches gilt
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Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides
auch für die Phoenissen. Hier präsentiert Euripides nur etwa 20 Jahre nach dem sophokleischen Oidipus Tyrannos, den man zu Recht auch als Hohes Lied auf die Größe und Gefährdung des perikleischen Athen verstanden hat, den Totentanz der Oidipusfamilie vor dem düsteren Hintergrund des Krieges. Er zeigt die mythische Geschichte von Bruderkrieg und Brudermord als grimmige Parabel über die Zerstörung alter Größe und den Verfall politischer Ordnung und moralischer Werte während des nun schon zwanzig Jahre tobenden selbstzerstörerischen
Machtkampfes der beiden
griechischen
Bruderstaaten: Sparta und Athen. Karl Reinhardt hat kurz nach dem zweiten Weltkrieg das euripideische Drama als Ausdruck der „Sinneskrise" gedeutet, von der das letzte Drittel des 5. Jahrhunderts erfaßt und zunehmend bestimmt wird, als Barometer der Krise, die Thukydides im 3. Buch seiner Darstellung des peloponnesischen Krieges in der berühmten Analyse über die Umwertung aller Werte und Begriffe scharf diagnostiziert hat. So verstehen wir heute die Zerstörung des tragischen Helden (wie manche andere Veränderung) in der Tragödie des Euripides als Folge und Spiegel der unter dem vereinten Druck von radikaler Aufklärung, fortschreitender Demokratisierung und jahrzehntelangem Krieg zusammenbrechenden Ordnungs- und Wertsysteme. Die „Frösche" des Aristophanes, von dessen kritischer Beurteilung der euripideischen Tragödie wir ausgingen, spielen nicht ohne guten Grund in der Unterwelt. Im Jahre 405 gehört der erste große Höhepunkt der europäischen Tragödie bereits der Vergangenheit an.
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen „Wer je an sich selbst die Wirkungen einer Tragödie beobachtet hat," - so Gustav Freytag in seiner einflußreichen Analyse der Technik des Dramas von 1862-„der
muß
mit
Erstaunen
bemerken,
wie
die
Rührung
und
Erschütterung das Nervenleben ergreifen. Weit leichter als im wirklichen Leben rollt die Träne, zuckt der Mund; dieser Schmerz ist aber zugleich mit kräftigem Wohlbehagen verbunden." 1 Das Thema ist alt: weit älter als Gustav Freytags Beschreibung des Phänomens und weit älter als die Schillersche Formulierung, in der eine der ehrwürdigsten Paradoxien der Ästhetik ihre klassische Form gefunden hat. Schiller, dessen kleine Studie von 1792 mit dem Titel „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen" 2 alle ihre Vorgänger (und ihre Nachfolger) im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit in den Hintergrund gedrängt hat, steht eher am Ende der wechselvollen Geschichte des Problems denn an ihrem Beginn. Die Frage ist offenbar fast so alt wie die Kunstform, mit der sie sich in der abendländischen Geistesgeschichte in ganz besonderem Maße verbindet, ohne etwa darauf beschränkt zu sein. Warum ist das Schmerzliche angenehm, ja lustvoll, das Bittere süß, das Niederdrückende erhebend? Bereits in Gorgias' Definition der zauberisch-verführerischen Kraft der geformten Sprache scheint die paradoxe Wirkung der Tragödie angesprochen;3 Piaton setzt sie im Philebos als etwas allgemein Bekanntes voraus und gibt im Staat, wenn auch keine detaillierte Analyse, so doch eine knappe psychologische Begründung.4 Aristoteles schließlich bietet nicht nur in der 1 Gustav Freytag, Die Technik des Dramas (1862) = Ges. Werke Bd. 14, Leipzig 1887, 79. 2 Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), = Schillers Werke, Bd. 20, Weimar 1962, 133-147; cf. auch: Über die tragische Kunst, ebda., 148-170. 3 Gorg. Hei. 8 ff. 4 PI. Phlb. 48 a 5 ff.; R. 605 d ff.
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
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Poetik, sondern auch in der Rhetorik und Politik explizit und implizit eine ganze Reihe von Erklärungen.5 Schon diese ersten Namen - und Werke -, die sich mit unserer Frage verbinden, lassen etwas ahnen von der Vielfalt der Kontexte, in denen sie bedeutungsvoll werden kann. Nicht nur Dichter, Literaturtheoretiker und Theaterwissenschaftler sowie Mediziner und Religionswissenschaftler, sondern auch, und in ganz besonderem Maße, Philosophen, Psychologen und Politologen haben interessante Beiträge zur Erklärung des komplexen Phänomens geliefert, das uns in verschiedenen Zeiten und Kulturen, in ganz verschiedenen Erscheinungsformen und auf ganz verschiedenem Niveau entgegentritt: von seiner höchsten ästhetischen Sublimierung im Vergnügen an Leiden und Tod des tragischen Helden bis in die Niederungen der perversen Lust an Autounfällen und Naturkatastrophen, Gladiatorenkämpfen und Horrorfilmen. In ihrer allgemeinsten Form lautet die Frage: warum zieht uns fremdes Leid magisch an? Was ist die geheimnisvolle Quelle unseres Vergnügens an Dingen, Ereignissen, Situationen und Schicksalen - und an den vielfaltigen Formen ihrer künstlerischen Repräsentation -, die uns eigentlich nicht anziehen und zutiefst befriedigen, sondern abstoßen und entsetzen müßten? Wenn ich mich hier auf das Teilproblem der 'tragischen Lust' konzentriere, so wird doch dieser umfassendere Rahmen nicht gänzlich aus dem Blickfeld geraten. Die Frage nach den Gründen unseres Vergnügens an tragischen Gegenständen hat in ihrer mehr als zweitausendjährigen Geschichte zahlreiche und sehr verschiedene Antworten gefunden. Als klassischer Philologe werde ich mich auf die Antworten der Antike konzentrieren, jedoch versuchen, in dem Maße, in dem der Umfang eines Vortrage und meiner Kenntnisse es erlauben, auch moderne Theorien einzubeziehen. Dabei wird sich zeigen, daß in den Antworten der Antike, die meines Wissens 5
Arist. Po. 1448 b 4 ff., 1449 b 27 ff., 1453 b 10 ff.; Rh. 1370 a 27 ff.; Pol. 1341 b 32 ff.
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
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bisher nie systematisch zusammengestellt und ausgewertet worden sind, bereits fast alle Aspekte angesprochen sind oder wenigstens anklingen, die in der Neuzeit von den Aristoteleskommentaren der Renaissance bis heute, z.T. in direktem Anschluß an die Antike, z.T. unabhängig von ihr, diskutiert worden sind bzw. werden. Im platonischen Philebos ist das Vergnügen an tragischen Gegenständen zum ersten Mal expressis verbis konstatiert.6 In seiner Analyse der verschiedenen Mischungsformen von Lust und Unlust (μεΐξις λύπης τε και ηδονής) verweist Sokrates unter den ersten Beispielen für rein seelische Gefühlsmischungen auf eine Reihe von Affekten wie Zorn, Furcht, Sehnsucht, Liebe, die alle einerseits unangenehme seelische Störungen (λΰπαι), andererseits aber „voll von unsäglichen Lustgefühlen" (μεσταί ήδονών άμηχάνων) seien, und erinnert seinen Gesprächspartner Protarchos dann an die wohlbekannte Reaktion des Theaterpublikums, das bei den Tragödienaufiührungen „zugleich sich ergötzend weint". Zweierlei verdient hervorgehoben zu werden: 1.die konkret physiologische Bestimmung der emotionalen Reaktion als Weinen (κλάωσιν); 2. die Betonung der Gleichzeitigkeit der beiden Reaktionen Vergnügen und Weinen (αμα). 7 Daß Piaton im Philebos weit über die bloße Konstatierung des Faktums hätte hinausgelangen können, macht die differenzierte Analyse des parallelen Phänomens im Falle der Komödie sehr wahrscheinlich. Leider ist Protarchos
6 7
PI. Phlb. 48 a 5 ff.
Interessant ist bereits das Bewußtsein der Koexistenz antithetischer Gefühle, das ja die Grundvoraussetzung für das Verständnis der tragischen Lust ist; Beobachtung und Beschreibung der komplexen Verbindung von Freude und Schmerz sind übrigens weit älter als der platonische Philebos. Es genügt, an die ambivalente Reaktion Andromaches zu erinnern, die, als ihr Hektor am Ende der Abschiedsszene den schreienden kleinen Astyanax in die Arme legt, „unter Tränen auflacht" (Horn. II. 6.484), oder auch an das berühmte sapphische Oxymoron vom bittersüßen Eros (Sappho F 1 3 0 , 2 LP).
220
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
die ambivalente Wirkung der Tragödie so vertraut und selbstverständlich, daß er nicht, wie gleich darauf, als Sokrates zur Wirkung der Komödie übergeht, erstaunt nachfragt. Die schnelle Zustimmung ist genauso ärgerlich wie das Einschlafen des Berichterstatters am Ende des Symposion. Werden wir dort in der neugierigen Hoffnung getäuscht, etwas über Sokrates' faszinierende These zu hören, daß derselbe Mann sich darauf verstehen müsse, Tragödien und Komödien zu schreiben,8 so verhindert hier die Zustimmung des Protarchos eine Analyse der Gründe des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Machen wir nun einen großen Sprung an das Ende der antiken Diskussion, so scheint es, daß im Verlaufe von 750 Jahren kein wesentlicher Fortschritt erreicht worden ist. Nachdem er bereits im 1. Buch der Confessiones von seiner frühen Liebe zum Theater und der Faszination, die der Brand von Troja und das Schicksal der Dido auf ihn ausübten, berichtet hat,9 gesteht Augustin zu Beginn des 3. Buches, 10 wie ihn während des Studiums in Karthago eine wahre Theaterleidenschaft ergriffen und mit sich fortgerissen habe, und stellt sich die Frage: „Wie kommt es, daß der Mensch Schmerz empfinden will, wenn er Trauriges und Tragisches betrachtet, das er doch selbst nicht erleiden möchte?" Augustin hat an sich selbst die Erfahrung gemacht, die bereits Piaton im Staat kritisch registriert11 und die das Paradox des Vergnügens an tragischen Gegenständen noch weiter verschärft: daß wir das Erlebnis des Traurigen und Tragischen sogar suchen. Er spricht von seinem amor dolorum und betont mehrfach, daß wir Dichter und Schauspieler tadeln bzw. preisen, je nachdem wie gering bzw. wie stark sie uns die geliebten Gefühle des Schmerzes und der Rührung verschaffen. Denn: Dolor ipse voluptas est. Eine wirklich befriedigende Antwort auf seine Frage scheint Augustin nicht zu
8
PI. Smp. 223 c 6 ff.
9
Aug. Conf. 1.10.16,1.13.20-22. 10 Aug. Conf. 3.2.2-4. n
Pl.Ä. 605 d ff.
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kennen. Auch dort, wo in Ansätzen Theorien zur Erklärung des Phänomens sichtbar werden, scheinen sie eher zufällig anzuklingen oder werden von ihm selbst nur als erstaunte Frage formuliert. 12 So bleibt die Konstatierung eines unerklärlichen Wahnsinns (mirabilis insania) und die Feststellung, daß der Mensch Tränen und Schmerzen nun einmal liebe: lacrimae ergo amantur et dolores (3.2.3). Damit aber sind wir über die platonischen Feststellungen im Staat und im Philebos nicht wesentlich hinaus, und es könnte so scheinen, als seien in den vielen Jahrhunderten, die zwischen Piaton und Augustin liegen, keine Antworten gefunden, ja nicht einmal verschiedene Lösungsversuche diskutiert worden. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Im folgenden werde ich zunächst eine Reihe von antiken (und modernen) Theorien vorstellen, bevor ich am Schluß noch einmal ausfuhrlich zu dem von Piaton und Augustin konstatierten Problem einer elementaren menschlichen Lust am Jammer zurückkomme. Am Anfang - wie am Ende - der Reihe von Antworten stehe Aristoteles, der nicht nur im Herzstück seiner Tragödien-Definition (1449 b 24-28), sondern an verschiedenen Stellen der Poetik explizit oder implizit auf die Wirkung der Tragödie zu sprechen kommt. In 1453 b 11 ff. bestimmt er die der Tragödie eigentümliche Lust als „die Lust, die aus Jammer und Schrecken durch Nachahmung entsteht". In der knappen Formulierung sind 12
In 3.2.4 klingt der Gedanke der ästhetischen Distanz an (dazu u. S. 225-32f. und Anm. 25); bedeutungsvoller für die Geschichte des Problems ist Augustins Frage, ob die Ausübung des Mitleids lustvoll ist (3.2.3: An cum miserum esse neminem libeat, libet tarnen esse misericordem, quod quia non sine dolore est, hac una causa amantur dolores!). Dieser Gedanke wird im 18. Jh. zur wichtigsten Theorie (dazu s. u. S. 243f.). Martino glaubt darüber hinaus, aus Augustins Überlegungen den Ansatz zur Theorie der lustvollen (weil ungefährlichen) Ersatzbefriedigung herauslesen zu können: "Augustin scheint dem Theater die Funktion zuzuschreiben, unsere beschränkte persönliche Erfahrung durch das Erlebnis von Empfindungen und Leidenschaften zu erweitern, die, real erfahren, zerstörerisch wären, die aber, sympathetisch erlebt, die Aufgabe erfüllen, gefahrlos gewisse Zerstörungs- und Todesinstinkte zu befriedigen" (A. Martino, Geschichte der dram. Theorien in Deutschland im 18. Jh. Übers, aus dem Ital., Tübingen 1972,15).
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Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
die beiden polaren Aspekte des Problems, seine emotionale (als Folge von Jammer und Schrecken) und seine rationale Seite (durch Mimesis) in bewundernswerter Prägnanz miteinander verbunden. Ich beginne mit dem intellektuellen Aspekt der Mimesis, unter dem sich eine ganze Reihe von antiken und modernen Überlegungen zum tragischen Vergnügen subsumieren lassen. 1. 13
Im 4. Kapitel der Poetik
erklärt Aristoteles die Entstehung der Kunst
daraus, daß dem Menschen ein ihn von allen anderen
Lebewesen
unterscheidender Trieb zur Mimesis angeboren sei und daß sich so auch seine Freude an jeder Art von Nachahmung verstehen lasse (48 b 5 ff.). Auch Dinge, deren Betrachtung in der Realität Mißvergnügen bereiten, erfreuten uns dann, wenn sie mit größter Genauigkeit abgebildet seien (48 b 10 ff.). Dieser interessante Ansatz zu einer Ästhetik des Häßlichen, den Aristoteles auch in der Rhetorik (1371 b 4 ff.) im Rahmen seiner allgemeinen Analyse der Hedone vorträgt, bedeutet, auf die Tragödie angewendet, daß uns die Mimesis tragischer Ereignisse zunächst einmal als vollendete Nachahmung einer Handlung, d.h. als Kunstprodukt erfreut. 14 Eine ausfuhrliche Anwendung der knapp und allgemein formulierten aristotelischen These auf die theatralische Mimesis findet sich in den Moralia Plutarchs. 5.1 der Quaestiones Convivales ist überschrieben: „Warum wir denjenigen, die Zürnende oder sich Grämende nachahmen, mit Vergnügen zuhören, denjenigen dagegen, die tatsächlich in diesen Emotionen befangen sind, mit Mißvergnügen." 15 Im Verlaufe seiner reichlich redundanten Argumentation
13
gegen
die
epikureische
Theorie,
auf die
ich
noch
Arist. Po. 1448 b 4 f f ; cf. auch PA 645 a 7-17. Zu dem für Aristoteles zentralen Grund für das Vergnügen, das uns die Mimesis bereitet, dem Lernen, cf. u. S. 232; zum Vergnügen an der künstlerischen Gestaltung cf. auch Po. 1448 b 17-19. 15 Plut. Quaest. Conv. 5.1 (673C-674C); cf. dazu Plut. de aud. poet. 3 (17F-18D). 14
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
223
zurückkomme, nimmt Plutarch den aristotelischen Grundgedanken eines angeborenen Vergnügens an Nachahmungen jeder Art auf: „Ich erklärte, obwohl ich mich damit auf fremdes Gebiet wagte, daß wir, da wir von Natur aus mit Vernunft und Liebe zur Kunst begabt auf die Welt kommen, eine natürliche Affinität zu allem haben, was vernünftig und kunstvoll ausgeführt wird, und Erfolg hierin bewundern" (673 D 12-15). Diese angeborene Liebe zur Kunst erkläre unser Vergnügen an der Darstellung von Personen, Dingen und Gefühlen, deren Anblick in der Realität unangenehm sei. Plutarch führt den Beweis ganz aristotelisch mit Beispielen aus der bildenden Kunst, wählt diese aber anders als Aristoteles so aus, daß die angestrebte Übertragung auf die Tragödie sich aufdrängt. „Der Anblick Sterbender und Kranker ist schmerzlich. Wenn wir jedoch den Philoktet auf einem Gemälde betrachten oder eine Statue der lokaste und dazu erfahren, daß der Künstler bei der Gestaltung ihres Antlitzes, um den Ausdruck eines Menschen im Moment des Sterbens und des Hinschwindens zu erreichen, der Bronze etwas Silber zugesetzt habe, dann betrachten wir sie mit Vergnügen und Bewunderung" (674 A 6-11). Es ist also fur Plutarch (wie fur Aristoteles) die Wahrnehmung intellektueller, kreativer und handwerklicher Fähigkeiten des Künstlers (sei er nun Maler oder Bildhauer, Autor oder Schauspieler), die die Rezeption an sich unangenehmer Objekte zu einem Vergnügen macht. Man könnte an dieser Stelle noch einmal an die gorgianische Theorie der verführerischen Zauberkraft der Poesie erinnern; und nur am Rande sei angemerkt, daß lange vor Plutarch verschiedentlich wohl nicht die künstlerische Gestaltung als ganze, aber doch Teilaspekte der Kunst implizit als Begründung für das Vergnügen an der Tragödie erscheinen. So verweisen Piaton (in den Nomoi 653 e) und Aristoteles (im 4. Kapitel der Poetik, 1448 b 17 ff.) auf das uns angeborene lustvolle Gefühl für Harmonie und Rhythmus; so sprechen Dio Chrysostomos (in dem berühmten Vergleich der drei Philoktetdramen)16 und Ps.-Longinus von der erhebenden Wirkung des
16
D. Chr. 52.15.
224
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
Erhabenen: „Denn von Natur wird unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen; sie empfangt einen freudigen Auftrieb und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selbst erzeugt." 17 In der Neuzeit erscheint die Theorie des lustvollen Nachahmungstriebs und die daraus entwickelte erste Antwort auf unsere Frage, daß es die Kunst qua Kunst ist, die uns das Schreckliche verschönt, das Bittere versüßt, natürlich zuerst bei den Aristoteles- und Horazkommentatoren und in den Poetiken 18 der Renaissance- und Barockzeit. Jason Denores (1553) fügt als erster den später häufig geäußerten Gedanken hinzu, daß die Tragödie uns mehr erfreue als die Komödie, weil sie das komplexere Kunstwerk sei und der Dichter folglich größere künstlerische Fähigkeiten beweisen müsse. 19 Später löst sich das Argument immer mehr von seinem aristotelischen Mimesis-Ausgangspunkt. In David Humes einflußreichem Essay On Tragedy (1757) erscheint es in der Formulierung, die in der Folgezeit immer wieder variiert wird: „The genius required to paint objects in a lovely manner, the art employed in collecting all the pathetic circumstances, the judgement displayed in disposing them; the exercise, I say, of these noble talents, together with the force of expression and beauty of oratorial numbers, diffuse the highest satisfaction on the audience and excite the most delightful movements". 20 Es ist abschließend wichtig festzuhalten, daß in allen diesen Erklärungen Kunst als schöne Form erscheint, in die das Furchtbare verpackt wird, als
17
Ps.Longin. 7.2. Cf. z.B. Jacobus Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594, II 110; Gerardus Joannes Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres, Amsterdam 1647, II 47 (wohl im Anschluß an Pontanus). 19 Giason Denores, In Epistolam Q. Horatii Flacci de arte poetica interpretatiof 1533; cf. M.T. Herrick, The Fusion of Horatian and Aristotelean Literary Criticism 1531-1555, Urbana 1946,43; ebenso Pontanus (cf. Anm. 18). 20 David Hume, On Tragedy (1757), in: D.H., Essays, Moral, Political, and Literary, edd. Green and Grose, London/New York/Bombay 1875, 258-265, 261 f. (Hume integriert übrigens in seine These eine ganze Reihe anderer Erklärungen; cf. Martino [Anm. 12], 162 ff.). 18
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
225
Zucker, mit dessen Hilfe, wie es bei Giambattista Guarini21 ganz lukrezisch heißt, wir die bittere Medizin der Tragödie leichter schlucken können, als Kompensation für Schmerz, nicht aber als Vergnügen im und am Schmerz selbst.22 Und das gilt letztlich auch fur komplexere Formen des Kunstarguments, wie sie im Anschluß an die Ästhetik Croces im 20. Jahrhundert auftauchen: z.B. bei Andre Malraux,23 der erklärt, daß der letzte und erhebende Eindruck großer Tragödien der Triumph der Kunst über das tragische menschliche Schicksal sei, oder in der frühen Studie Ludwig Marcuses, Die Welt der Tragödie von 1923, der erklärt: „Jede Gestaltung bringt Ruhe; jede schöpferische Distanzierung mindert das Leid. Ohne die Gabe der aktiven oder imitierenden Produktivität wäre das Leid unerträglich."24 2.
Kunst als das Medium, das uns den Blick ins Antlitz der Medusa erlaubt, als wohltuend mildernder Schleier zwischen uns und der unerträglichen Realität. In der Formulierung Marcuses taucht in dem Begriff der produktiven Distanzierung eine von der Antike bis auf den heutigen Tag in den verschiedensten Formen diskutierte Grundvoraussetzung der tragischen Lust auf: Distanz als Bedingung eines beruhigenden Sicherheitsgefuhls des Rezipienten. Die Distanz kann in verschiedener Weise bestehen bzw. empfunden werden:
Giambattista Guarini, II Pastor Fido e il compendio delta poesia tragicomica (1601), Bari 1914. 22 Cf. O. Mandel, Α Definition of Tragedy, New York 1961 (repr. 1968), 77. 23 Andre Malraux, zit. nach: H.J. Muller, The Spirit of Tragedy, New York 1956, 21. 24 L. Marcuse, Die Welt der Tragödie, 1923 (repr. Frankfurt 1985), 19; zu den verschiedenen Formen des Kunstarguments und den ganz unterschiedlichen Erklärungen der Wirkung der Kunst vgl. Mandel (cf. Anm. 22), 77-80.
226
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
a)als qualitative (oder ästhetische) Distanz, die in der ontologischen Differenz von Realität und Abbildung liegt. Wir erkennen, daß es sich bei den dargestellten Ereignissen lediglich um künstlerische Fiktionen handelt. So erklären ζ. B. die epikureischen Gesprächspartner Plutarchs, daß unser Vergnügen sich aus der Erkenntnis speist, daß der Schauspieler ja nicht wirklich leidet; 25 b)als zeitliche Distanz der in den großen Tragödien der Weltliteratur zumeist dramatisierten mythischen und historischen Stoffe zur Gegenwart der Rezipienten. Aristoteles' mit einem Euripideszitat gestützter Hinweis in der R h e t o r i k auf die Freude, die die Erinnerung an überwundene Gefahren und vergangenes Leid erregt, läßt sich durchaus auf die Betrachtung tragischer Ereignisse übertragen, die im Augenblick der Betrachtung bereits der näheren oder ferneren Vergangenheit angehören. „Süß ist die Erinnerung an vergangene Mühen" heißt es bei Cicero; 27 jedenfalls dann, wenn man sich im Augenblick
der
Erinnerung
sicher
fühlt. 28
Seit
Homer
ist
diese
psychologische Wahrheit der acti labores iucundi, die Wilhelm Busch in die sprichwörtliche Wendung „Gehabte Schmerzen, die hat man gern" gekleidet hat, immer wieder formuliert worden. c) Ein dritter Aspekt der Distanz des Zuschauers von den Ereignissen ist bedeutungsvoller: die räumliche Trennung, die schon rein äußerlich durch die Trennung von Bühne und Zuschauerraum konstituiert wird, vor allem aber in
25
Plut. Quaest. Conv. 5.1 (679 D 8 ff.); cf. Aug. Conf. 3.2.4. Dieser Gedanke ist ein wesentliches Element fast aller modernen Theorien; vgl. z.B. J.J. Bodmer, Briefwechsel über die Natur des Poetischen Geschmackes ..., Zürich 1736 (photomech. Nachdr. Stuttgart 1966), 86-88; F. Mendelssohn, Briefe über die Empfindungen (1755) = Philos. Schriften I, Carlsruhe o. J., 143 f. Zur Kunst als 'distance-making device' vgl. Mandel, (cf. Anm. 22). 26 Arist. Rh. 1370 b 1-4; das von Aristoteles zitierte fr. Eur. 133 N2 stammt aus der Andromeda·, daneben verweist Arist. auch auf Horn. Od. 15. 398-401; cf. dazu Cope-Sandys, The Rhetoric ofAristotle, Cambridge 1877 (repr. 1970) ad loc. 206 ff. 27 Cie. Fin. 2.32.105; Cicero übersetzt den von Arist. zitierten Vers aus der euripideischen Andromeda (Anm. 26). 28 Cie. Fam. 5.12.4.
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
227
der Tatsache besteht, daß das tragische Spiel die Leiden anderer in einer Situation und Welt präsentiert, die nicht direkt die eigene ist (αλλότριος ist seit Gorgias und seit Piatons Staat der Terminus dafür). 29 Physische und psychische Distanz des Betrachters ist in der Tat ein zentraler Aspekt des tragischen Vergnügens. Fehlt sie oder reicht sie nicht aus, ist das Vergnügen an tragischen Gegenständen unmöglich oder doch gefährdet. Das zeigt sich, wenn wir Herodot glauben können, am Beginn der abendländischen Tragödie bereits mit aller Deutlichkeit, als Phrynichos mit der Darstellung der furchtbaren Katastrophe der Zerstörung von Milet, d.h. wie Herodot sagt, mit „sie persönlich betreffenden Ereignissen" (οΐκήια πράγματα), seinen Zuschauern so nahe rückt, daß sie sich ihm verweigern und den Dichter, der ihnen das erwartete Vergnügen vorenthalten hat, bestrafen. 30 Die Nähe, die wir ertragen können, ist gewiß durchaus verschieden, völlig fehlen oder verlorengehen darf die Distanz nicht. Die ästhetische bzw. zeitlich-räumliche Distanz der Bühnenereignisse von der Realität des Zuschauers ist allerdings keine Erklärung für das Vergnügen im und am Schmerz (und auch nicht Kompensation fur den Schmerz wie die künstlerische Gestaltung), sondern Voraussetzung, Bedingung für das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Eine Antwort auf unsere Frage erhalten wir erst dann, wenn wir diese Distanz unter einem anderen Aspekt betrachten, den man mit einem weiteren Buschzitat (diesmal aus Plisch und Plum) auf die Formel bringen könnte:
29
άλλότριος: Gorg. Hei. 9; PI. R. 606 b; Timokles/r. 6, 2 Κ (cf. Anm. 31); Aug. Conf. 3.2.4. (alienus); cf. M. Pohlenz, Die Anfänge der griechischen Poetik, NGG 66, 1920, 142-178 = Kleine Schriften II 436-472 (462-464); cf. auch E. Bullough, Psychical Distance as a Factor in Art and an Aesthetic Principle, Brit. Journ. of Psychology, 5, 1912/13, 87-118, für den die erforderliche Distanz in der Tragödie durch die Besonderheit des Dargestellten entsteht: „It is largely the exceptional which produces the distance of tragedy: exceptional situations, exceptional characters, exceptional destinies and conduct" (103). 30 Hdt 6.21.2.
228
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
„Ist fatal, bemerkte Schlich, He, he! Aber nicht für mich!" In der Antike taucht der Gedanke zum ersten Mal - in einer Variante - in einem bei Athenaios erhaltenen Fragment des Komikers Timokles 31 auf, der über Nutzen und Vergnügen der Tragödie spöttelt, bei der der Mensch, von fremdem Leid gefesselt, sein eigenes Schicksal vergißt und schließlich erfreut und belehrt von dannen zieht (1-7): „Als erstes nun betrachte, wenn du magst, wie die Tragödien allen nutzen. Ein Armer nämlich, wenn er dort erfahren hat, daß Telephos armseliger als er geworden ist, trägt seine Armut schon viel leichter; ist wer nicht recht bei Trost, der stellt sich den Alkmaion vor; hat's einer mit den Augen, die Phiniden sind ja blind; starb wem ein Kind, so tröstet ihn die Niobe; ist einer lahm, der blickt auf Philoktet; und hat ein Greis kein Glück, studiert den Oineus er." (8-16) Seine klassische Formulierung hat der Gedanke, daß das tragische Vergnügen sich aus dem Vergleich unserer Situation mit dem fremden Schicksal ergibt, jedoch in den berühmten (und folgenreichen) Versen des Lukrez gefunden. Am Anfang des 2. Buches heißt es: „Süß ist es, wenn der Sturm auf hohem Meer die Wasser aufwühlt, vom Lande zu betrachten, wie sich ein andrer furchtbar müht. Nicht weil es eine angenehme Lust ist, daß jemand leidet, sondern weil es süß ist, Leiden zu sehen, von denen man selber frei ist." 32 Die Formulierung des Lukrez ist offensichtlich durch einen griechischen Topos vorbereitet. Stobaios zitiert zwei Verse des Komikers Archippos:
31 32
Timokles fr. 6 K. Lucr. 2,1-4.
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
229
„Wie süß ist es, vom Land das Meer zu sehen, für einen, Mutter, der nie mehr zur See fährt," 33 und wir können den Gedanken sogar bis zu Sophokles zurückverfolgen. In einem Fragment der Tympanistai heißt es: „Mein Gott, welch' größeres Vergnügen könnte man wohl haben, als nach Erreichung des Landes mit ruhigem Sinn unterm Dach dem dichten Regen zu lauschen." 34 Die eigentliche Pointe der lukrezischen Verse, der Kontrast nicht zwischen den Gefahren des stürmischen Meeres und der Sicherheit des erreichten Landes, sondern zwischen fremder Lebensgefahr und eigener Sicherheit scheint jedoch dem Lukrez zu gehören. 35 Allerdings spricht Lukrez nicht vom Theater, sondern von der Realität; die Übertragung seiner Theorie auf die Tragödie bietet sich jedoch an. Vollzogen wird sie erst im 17. Jahrhundert (und dann wiederholt); so z.B. von Bernard Lamy (1668), 36 und vor allem in England, z.B. in der kleinen Studie des Kritikers und Dramatikers John Dennis, The Usefulness of the Stage von 1698: „People who are melted or terrified with the sufferings of the great which are set before their eyes, are rather apt to feel a secret pleasure from the sense that they have, that they are free from the like 33
Archippos/r. 43 K; vgl. Epiktet/r. 121 Schweighäuser (II 104, repr. 1977), der den ersten Vers des Archippos mit Ε .fr. 133 Ν 2 (cf. Anm. 26) kombiniert. 34 S. F 636 Radt; dort auch weitere Parallelen; aus der lateinischen Literatur z.B. Tib. 1.45 ff; Hör. Ep. 1.11.10. 35 Das gilt allerdings nur dann, wenn die ganz ähnliche Formulierung Ciceros, dessen Beschäftigung mit Lukrez ja bezeugt ist, von diesem abhängt und nicht beide, was durchaus denkbar ist, aus einer gemeinsamen Quelle schöpfen. Cicero spricht in einem Brief an Atticus aus dem Jahre 59, im Anschluß an S. F 636 Radt (cf. Anm. 35) davon, daß es süß sei, aus den Stürmen der Politik gerettet zu sein und von ferne die Schiftbrüche der anderen zu betrachten (Att. 2 JA). 3f * Bernard Lamy, Nouvelles reflexions sur l'art poetique, in: B.L., La Rhetorique, ou Γ art de parier, Geneve 1725, 494-496; auch für Lamy (wie fur Hume, s. o. Anm. 20) und fur die meisten der im folgenden genannten Autoren gilt, daß der angeführte Gedanke nur einer von mehreren Gründen des Vergnügens an tragischen Gegenständen ist.
230
Ober das Vergnügen an tragischen Gegenständen
calamities", 37 oder auch in den bald darauf erschienenen einflußreichen Bemerkungen Joseph Addisons zu den Pleasures of Imagination
(1712), wo
es heißt: „When we read of torments, wounds, deaths, and the like dismal accidents, our pleasure does not flow so properly from the grief which such melancholy descriptions give us, as from the secret comparison which we make between ourselves and the person who suffers." 38 Der lukrezische Gedanke der sicheren Distanz, die Vorstellung, daß das Vergnügen an tragischen Gegenständen dem erfreulichen Vergleich der eigenen Sicherheit mit dem fremden Schicksal entspringe, wird schnell zum Standardargument der Diskussion des Problems. 39 Entscheidend fur diese erstaunliche
Nachwirkung
der
lukrezischen
Verse
war
wohl
ihre
Wiederaufnahme durch Thomas Hobbes. Hobbes, der die Ansicht vertrat, daß alles menschliche Handeln und alle menschlichen Emotionen ihren Ursprung in der Selbstsucht der Eigenliebe hätten, erklärte auch die lustvolle Empfindung der eigenen Sicherheit bei der Betrachtung fremder Leiden als Folge der uns angeborenen Selbstliebe; und aus dieser Erklärung, die Hobbes
37 John Dennis, The Usefulness of the stage, to the Happiness of Mankind, to Government, and to Religion, Occasioned by a late Book, written by Jeremy Collier, M. Α., 1698, in: The Critical Works, ed. E.N. Hooker, 2 Vols., Baltimore 1939/43,1,165 f. 38 Joseph Addison, in der Zeitschrift The Spectator Nr. 418 vom 30.06.1712, in: "The Spectator': with illustrative notes, 8 vols., London 1801, VI, 177 f. Addison betont dabei nachdrücklich die Bedeutung der ästhetischen und zeitlichen Distanz: „This is, however, such a kind of pleasure as we are not capable of receiving, when we see a person actually lying under the tortures that we meet in a description; because, in this case, the object presses too close upon our senses, and bears so hard upon us, that it does not give us time or leisure to reflect on ourselves, our thoughts are so intent upon the miseries of the sufferer, that we cannot tum them upon our own happiness. Whereas, on the contrary, we consider the misfortunes we read in history or poetry, either as past or as fictitious; so that the reflexion upon ourselves rises in us insensibly, and overbears the sorrow we conceive for the suffering of the afflicted." 39 Zur Bedeutung der lukrezischen Verse cf. B. Hathaway, The Lucretian „Return upon ourselves" in Eighteenth-Century Theories of Tragedy, PMLA 62, 1947, 672689.
Ober das Vergnügen an tragischen Gegenständen
231
mit einem Verweis auf Lukrez gestützt hatte,40 entwickelten sich schon bald Begründungen des Vergnügens an tragischen Gegenständen, die sich mit den lukrezischen Versen nicht mehr verbinden lassen, ja von Lukrez in Vers 3 ausdrücklich ausgeschlossen sind. So erklärt z.B. der stark von Hobbes beeinflußte La Rochefoucault daß wir am Unglück auch unserer besten Freunde immer ein gewisses Vergnügen empfänden,41 und im 18. Jahrhundert konstatiert Edmund Burke in seiner einflußreichen Studie über die Entstehung unserer Vorstellungen vom Erhabenen und Schönen: „I am convinced, we have a degree of delight, and that no small one in the real misfortunes and pains of others."42 Auch an Gottsched, der von der „perversen Lust am Sturz der Großen" spricht43, könnte man erinnern, und es scheint gar nicht einmal ausgeschlossen, daß die Theorie, daß das Vergnügen am Leid anderer sich als hämische Schadenfreude erklären lasse, auch der Antike nicht fremd war, wenn wir denn aus deren ausdrücklichen Ablehnung dieses Gedankens bei Lukrez (V.3) schließen dürfen, daß er sich gezielt gegen eine solche These wendet. Die Vorstellung, daß eine der erhabensten schöpferischen Leistungen des Menschen ihre Wirkung einem seiner niedrigsten Triebe verdanke (sogar von einer Befriedigung sadistischer Neigungen hat man vereinzelt gesprochen)44
40
Thomas Hobbes, Elements of Law, 1640 (aus dem Abschnitt mit dem Titel: O f the passion of them that flock to see danger'), in: The English Works of Th. Hobbes of Malmesbury, ed. W. Molesworth, 1840 (repr. 1962) IV, 51 f.; als zweiten Grund des Vergnügens nennt Hobbes im Anschluß an Aristoteles die Befriedigung unserer intellektuellen Neugier. 41 La Rochefoucault, Reflexions ou Sentences et maximes morales (1665) = Oeuvres Completes, Bibl. de la Plöiade 1957, 443: „Dans l'adversite de nos meilleurs amis nous trouvons toujours quelque chose que ne nous deplaisaitpas." 42 Edmund Burke, Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), in: Works, Boston 1871, I 78. Burke erklärt unser Vergnügen allerdings anti-lukrezisch, im Anschluß an Shaftesbury mit der Erregung der sympathetischen Lust des Mitleids; zu Burke vgl. Hathaway (cf. Anm. 39), 683685; Martino (Anm. 22), 105 ff. 43 Johann Christoph Gottsched, Beyträge zur critischen Historie II, 1734/35,103. 44 Cf. z.B. T.R. Henn, The Harvest of Tragedy, London 1956, 50 ff.
232
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
mag uns verwirren oder auch erschrecken: ganz sicher, daß unser Vergnügen an tragischen Gegenständen sich nicht auch aus dieser schmutzigen Quelle speist, können wir meines Erachtens jedoch nicht sein. 3. Doch zurück zur aristotelischen Mimesis, von der die beiden ersten Erklärungen des Vergnügens an tragischen Gegenständen (Kunst und Distanz) ausgingen und mit der sich eine dritte (und nun auch wieder erfreulichere) Reihe von Antworten auf unsere Frage verbinden läßt. In den bereits mehrfach herangezogenen Überlegungen zur Entstehimg der Poesie im 4. Kapitel der Poetik erklärt Aristoteles, die Ursache unserer Freude an jeder Art von Mimesis, d.h. auch an der Darstellung von Unerfreulichem, sei der Erkenntnistrieb. Nicht nur den Philosophen, sondern allen Menschen bereite das Lernen das allergrößte Vergnügen. 45 In der Poetik bleibt die Begründung der These ganz im Bereich der bildenden Kunst; in der Rhetorik dagegen verweist Aristoteles neben Malerei und Bildhauerei ausdrücklich auch auf die Poesie (1471 b 4 ff.); und wenn Aristoteles auch nirgends sagt, was wir bei der Betrachtung der Tragödie lernen, und an beiden Stellen nicht völlig klar ist, wie er sich den Vorgang des syllogistischen Lernens vorstellt, 46 haben wir hier doch einen ersten Ansatz der vielfältigen späteren Theorien, daß die Lust der Tragödie auf dem intellektuellen Vergnügen der Befriedigung unseres Lerntriebs bzw. der Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten über den Menschen und seine Welt beruht. Verbinden wir Aristoteles' Feststellung, daß wir durch die vergleichende Konstatierung einer Identität von Nachahmendem und Nachgeahmtem (d.h. in der Poesie von Fiktion und Realität) lernen, mit seinen berühmten Äußerungen zum philosophischen
45
Arist. Po. 1448 b 13 ff. Zu 1448 b 12 ff. vgl. G.F. Else, Aristotle's Poetics, The Argument, Cambridge/ Mass. 1957, 124 ff.; D.W. Lucas, Aristotle Poetics, Oxford 1968, ad loc.; S. Halliwell, Aristotle's Poetics, London 1986,69 ff. (dort auch die neuere Literatur). 46
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
233
Charakter der Poesie, 47 so dürfen wir vielleicht schließen, daß den knappen Bemerkungen im 4. Kapitel die Überlegung zugrundeliegt, daß wir das dargestellte
Besondere
als
individuelle
Repräsentation
allgemeiner
Wahrheiten wiedererkennen und so etwas über uns und für uns lernen. Hier wird nun deutlich, daß die Distanz, die wir eben noch als Voraussetzung für das tragische Vergnügen bezeichnet haben, zwar einerseits nicht zu gering sein, andererseits aber auch nicht zu groß werden darf. 48 Der Bezug (und damit die Beziehbarkeit) des Dargestellten auf die Person und Welt des Betrachters darf nicht zu obskur sein oder ganz verloren gehen. Aristoteles hat das bei der Bestimmung des tragischen Helden im Kapitel 13 und bei den Definitionen der tragischen Emotionen Eleos und Phobos in der Rhetorik auch ausdrücklich betont 4 9 Die Erklärung des Vergnügens an tragischen Gegenständen aus dem primär intellektuellen Vergnügen an der Erkenntnis fundamentaler Wahrheiten über den Menschen und seine Welt sei sie nun bei Aristoteles bereits impliziert oder nicht - hat in der Neuzeit, vor allem seit der Philosophie des deutschen Idealismus, 50 eine zentrale Rolle gespielt. In der Antike erscheint sie - wenn überhaupt - nur in sehr einfachen Vorformen. Ich versuche im folgenden die vielfältigen Argumente, die sich mit dieser These verbinden, um zwei Zentren herum zu ordnen, auch wenn sich die
47
Arist. Po. 1451b 5 ff. Die heikle Balance zwischen Distanz und Nähe wird im 18. Jh. vor allem als Problem des Verhältnisses von theatralischer Illusion und dem Bewußtsein des Illusionscharakters diskutiert; cf. Martino (s. o. Anm. 22), 146-185, spez. 167 ff. 49 Arist. Po. 1453 a 4-6: Bestimmung des tragischen Helden als " ähnlich" (όμοιος); Rh. 2.5 φόβος: 1382 a 20-1383 a 12; 2.8 έλεος: 1385 b 11-1386 b 8. 50 Natürlich findet sich seit der Renaissance im Anschluß an Arist. Po. Kap. 4 und das horazische prodesse et delectare überall die Theorie des intellektuellen Vergnügens am Lernen. Dabei handelt es sich durchweg um das Vergnügen an den moralisch-belehrenden Wahrheiten der Tragödie. 48
234
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
beiden Bereiche nicht völlig voneinander trennen lassen: 1. der Held, 2. die Weltordnung. 51 1) Die These, daß sich die paradoxe Wirkung der Tragödie von der zentralen Paradoxie herleite, daß sich in der Vernichtung des tragischen Helden seine Größe triumphierend beweise, ist seit der Renaissance ein Gemeinplatz der modernen Tragödientheorie. Antik ist sie nicht, auch wenn sie leicht an berühmte stoische Texte anknüpfen konnte und, wie sich zeigen wird, auch tatsächlich anknüpfte. Zu Beginn von De Providentia
stellt sich Seneca 52 der unsterblichen
Frage, warum den Guten so viel Unglück widerfährt (2.1 u. 2.7). Seine Antwort
lautet,
daß
die
Mühen
und
Leiden
dazu
dienen,
unsere
Widerstandskraft zu erproben und zu stärken (2.2 ff.), und daß die Götter wie wir Menschen - Vergnügen daran empfinden, das erhabene Schauspiel des Kampfes zwischen dem Weisen und seinem Schicksal zu betrachten (2.8 ff.). Der Selbstmord des stoischen Helden κ α τ ' έξοχήν Cato sei wahrlich ein Schauspiel gewesen, das die Aufmerksamkeit der Götter und Jupiters verdient habe, und sie hätten ihm mit solchem Vergnügen zugesehen, daß sie seinen Selbstmord dadurch verlängert und erschwert (und so ihren Genuß erhöht) hätten, daß sie den ersten Versuch Catos nicht hätten gelingen lassen (2.12: non fuit
diis immortalibus
satis spectare
Catonem
semel).
Die
siegreiche Bewährung stoischer virtus als Grund eines göttlichen Vergnügens an tragischen Gegenständen: daran konnten in der Neuzeit nicht nur die Märtyrerdramen der Jesuiten, sondern auch das deutsche Barockdrama und die stark moralisierende französische Klassik leicht anknüpfen: admiratio Bewunderung wird im 17. Jahrhundert zum dritten tragischen Affekt neben Eleos und Phobos. Dabei ist es bedeutungslos, ob der Held seine virtus im Tode beweisen muß oder ob die poetische Gerechtigkeit der
51
tragedie
Eine nicht tinbedeutende Rolle spielt daneben im Anschluß an den aristotelischen Begriff des θαυμαστόν die Befriedigung unserer intellektuellen Neugier durch die 'erstaunlichen* Ereignisse der Tragödie. 52 Seneca, Prov. 2.
Ober das Vergnügen an tragischen Gegenständen
235
heureuse ihn im letzten Moment davor bewahrt. Das sentimentale 18. Jahrhundert ließ dann das tragische Vergnügen gern „aus der Entdeckung sittlich schöner Karakterzüge, die der Kampf mit dem Unglück und mit der Leidenschaft sichtbar macht, entspringen".53 Auch bei Schiller, der übrigens in seiner Studie Über das Pathetische die Cato-Stelle aus De Providentia zitiert, ist zweifellos etwas von den stoischen Ursprüngen der Theorie zu spüren, wenn er das Vergnügen an tragischen Gegenständen auf die im Konflikt und in der Vernichtung des Helden sichtbar werdende moralische Zweckmäßigkeit, auf die Epiphanie des Sittengesetzes zurückfuhrt und (ganz stoisch) erklärt: „Nur dann erweist sich die ganze Macht des Sittengesetzes, wenn es mit allen übrigen Naturkräften im Streit gezeigt wird. ... Je furchtbarer der Gegner, desto glorreicher der Sieg; der Widerstand allein kann die Kraft sichtbar machen."54 Doch auch in ihrer komplexeren Form bei Schiller ist die These, daß der Held die Quelle unseres tragischen Vergnügens sei, noch zu eng, zu moralisierend. Wir müssen sie allgemeiner fassen. Das entscheidende Merkmal des tragischen Helden ist die außergewöhnliche emotionale und intellektuelle Kraft (auch zum Bösen), die Stärke (auch und gerade in der Krise), die Größe (auch und gerade im Sturz). So verschieden z.B. die sophokleischen Helden sein mögen, Antigone und Elektra, Aias, Oidipus und Philoktet: sie sind alle in dem genannten Sinne groß: groß in ihrem moralischen Mut, ihren Weg zu gehen - und führe er sie auch in den Tod; groß in ihrer Entschiedenheit, das Notwendige (oder das, was sie dafür halten) gegen jeden Widerstand zu tun; groß aber auch in ihrer Reizbarkeit und völligen Unfähigkeit zum Kompromiß; groß schließlich in Leid und Schmerz, in Zusammenbruch und Tod. Was uns als Zuschauer bei allem Jammer und Erschrecken über die Vernichtung solcher Helden zutiefst ergötzt, ist die Vision dieser letztlich unzerstörbaren Größe, die uns, wenn
53
Friedrich Schiller, Über die tragische Kunst (s. o. Anm. 2), 152. Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (s. o. Anm. 2), 139. 54
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
236
Bernard Knox mit seiner schönen Analyse des sophokleischen Helden recht hat, daran erinnert, „that in some chosen vessels humanity is capable of superhuman greatness, that there are some human beings who can imperiously deny the imperatives which others obey in order to live." 55 Hier liegt zweifellos eine tief in unser Selbstwertgefühl hineinreichende Wurzel des tragischen Vergnügens. Diese Erklärung reicht aber allein nicht hin, weil sie, wie schon ein Blick auf die griechische Tragödie lehrt, auf große Bereiche der abendländischen Tragödie nicht anwendbar ist. Die aischyleische Tragödie kennt einen solchen tragischen Helden noch fast gar nicht; bei Euripides wird er mitleidlos demontiert, erscheint die erhebende Vision allenfalls in dem bitteren Gefühl des Verlusts der Größe, die in vielen seiner Stücke zur tragischen Aussage wird. 56 Grandeur d'äme - die Größe des Helden ist also eine potentielle starke Quelle des Vergnügens an tragischen Gegenständen, aber keine unverzichtbare Bedingung, wie so viele meinen. 2) Dasselbe gilt auch für den anderen, eng damit verbundenen Aspekt des Lernens durch Leid. Nach dieser Theorie entsteht das Gefühl tiefer Zufriedenheit und Freude, das uns die Tragödie vermittelt, nicht durch die Erkenntnis der Größe des Menschen, sondern durch die sich in oder nach der Katastrophe offenbarende Vision einer höheren Ordnung, in der das tragische Leid überwunden oder doch verständlich wird, mag diese metaphysische Ebene nun Dike oder moralisches Sittengesetz, ewige Vernunft oder Notwendigkeit heißen. In ihrer naivsten Form erscheint diese Vision in der im Grunde ganz untragischen Gestalt der poetischen Gerechtigkeit, die uns die beruhigende Gewißheit einer rationalen und gerechten Weltordnung verschafft; aber auch andere Formen einer tatsächlich erreichten oder auch nur angedeuteten
55
B.M.W. Knox, The Heroic Temper, Berkeley/London 1964, 57. K. Reinhardt, Die Sinneskrise bei Euripides, Neue Rundschau 68, 1957, 615646 = Tradition und Geist, Göttingen 1960, 227-256; B. Seidensticker, Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides, Sitzber. und Mitt. der braunschw. Wiss. Gesellsch. 1982,51-69 (= in diesem Bd., S. 193-216). 56
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
237
optimistischen Überwindung tragischer Konflikte von Aischylos bis Schiller befriedigen im Grunde unsere Sehnsucht nach dem Happy-End einer höheren Gerechtigkeit; 57 und die tragische Lust stellt sich - wie z.B. in der sophokleischen Tragödie - auch dann ein, wenn sich die Ordnung der Welt nach einer Störung ihres labilen Gleichgewichts völlig unabhängig von Schuld oder Unschuld der Betroffenen mit unerbittlicher innerer Logik und Härte wiederherstellt. Hier erklärt sich das Vergnügen nicht aus der Bestätigung
oder
Suggerierung
eines
zutiefst
moralisch-gerechten
Universums, sondern aus der Erkenntnis des Wirkungsmechanismus der Welt. Offenbar erfreut uns nicht nur das beruhigende 'so gerecht, so gut ist die Welt', sondern auch ein erklärendes
'so ist die Welt'.
Hegels
Formulierung deckt beide Formen: „Nur dann ist nicht das Unglück und Leiden, sondern die Befriedigung des Geistes das letzte, insofern erst bei solchem Ende die Notwendigkeit dessen, was den Individuen geschieht, als absolute Vernünftigkeit erscheinen kann und das Gemüt wahrhaft sittlich beruhigt ist: erschüttert durch das Los des Helden, versöhnt in der Sache." 58 Zweifellos kann sich unser Vergnügen an tragischen Gegenständen aus dieser Quelle speisen. Nicht erklären kann diese Theorie jedoch das Vergnügen, das uns auch Tragödien gewähren, die nicht eine letztlich gerechte oder doch verständliche Vernichtung, sondern blinde, irrationale Zerstörung präsentieren; nicht Ordnung, sondern Chaos, nicht Sinn, sondern Sinnlosigkeit. Sie mag erklären, warum uns Aischylos und Sophokles mit größerem Vergnügen erfüllen als der eher irritierende und quälende Euripides, nicht aber, warum uns auch dieser τραγικώτατος erfreut. 59
57
Cf. Aristoteles, der von der Schwäche des Publikums spricht, das das HappyEnd der poetischen Gerechtigkeit der tragischen Katastrophe vorzieht {Po. 1453 a 30 ff > 58
Hegel, Ästhetik, ed. F. Bassenge, Europäische Verlagsanstalt, 2. Aufl. BerlinWeimar o. J., II 566. 59 Cf. Mandel (s. o. Anm. 22), 74. Moderne Theorien tragen dem Problem dadurch Rechnung, daß sie von dem Vergnügen an der Wahrheit über das Leben sprechen: F.L. Lucas (s. u. Anm. 77), 51: „truth to life"; Muller (s. ο. Anm. 23), 19;
238
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen Nach drei Versuchen, das Rätsel der tragischen Lust zu lösen, Versuchen,
die alle drei von der aristotelischen Mimesistheorie ausgingen, stehen wir zwar keineswegs mit leeren Händen da, haben den emotionalen Kern des Paradoxes aber noch nicht freigelegt. Denn: daß erstens das Vergnügen an tragischen Gegenständen auf der Freude beruht, die uns die Schönheit und Komplexität der Kunstform Tragödie bereitet, ist zwar richtig, erklärt aber nicht das Vergnügen im und am Schmerz, sondern deutet auf eine potentielle Kompensation dafür, auf ein Zaubermittel, das uns die schmerzliche Erfahrung erträglich, ja lustvoll macht. Zweitens
ist die
Bedeutung
qualitativer ontologischer, zeitlicher und räumlicher Distanz der tragischen Ereignisse vom Betrachter ohne Frage sehr wichtig, im Grunde aber eher Voraussetzung für das Vergnügen als sein Ursprung - auch wenn sich in der Tradition des „lukrezischen Vergnügens" (wie es Francis Bacon nannte) mit Selbstliebe und Schadenfreude interessante psychologische Theorien finden. Schließlich ist drittens die aristotelische Erklärung, daß das Vergnügen sich letztlich auf den uns angeborenen Lerntrieb zurückführen lasse, zu allgemein, und die besonders wichtige moderne Theorie des tragischen Lernens wohl nicht allgemeingültig genug. Denn die Erkenntnis der auch im Sturz unzerstörbaren, ja sich gerade im Sturz triumphierend beweisenden Größe des Menschen oder die Vision einer wie auch immer metaphysischen Ordnung, in der sich das Tragische auflöst oder doch erklärt, kann zweifellos eine starke Quelle für unser Vergnügen an der Tragödie sein, ist es aber, wie betont, nur dort, wo der Dichter uns diese Freude erlaubt. Zudem ist auch diese Antwort auf unsere Frage keine Erklärung der Freude im und am Jammer und Schrecken der Tragödie, sondern bezeichnet eher den Lohn, der uns am Ende der seelischen Mühen zuteil wird.
Mandel (s. o. Anm. 22), 76 f.; N. Berlin, The Secret Cause. A Discussion of Tragedy, Amherst 1981, 176: „The pleasure that comes when the truth is verified. The art that affirms what we know, affords pleasure, even if it affirms a dreadful fact. Seizing terror by the hand, facing the unknown as unknown, provides its own special satisfaction."
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
239
Alle drei Thesen (Kunst, Distanz, Erkenntnis) - seien sie nun primär ästhetisch orientiert oder intellektuell-moralisch - sind zu rational und deshalb, allein für sich genommen, noch nicht befriedigend. Die psychischemotionale Basis muß hinzukommen, und sie ist im ersten Bestandteil der aristotelischen Definition der tragischen Lust (1453 b 11 f.) angesprochen, von der wir ausgingen und zu der wir nun zum Abschluß zurückkehren: ή άπό έλέου και φόβου (δια μιμήσεως) ηδονή „die aus Jammer und Schrecken (durch Mimesis) entstehende Lust". 4. Emotionale Erklärungen der Paradoxic der tragischen Lust sind nicht zuletzt als Folge der aristotelischen Theorie bis auf den heutigen Tag weitverbreitet, und bereits Homer ist die Lust am Jammer (wie verschiedene epische Formeln zeigen) wohlvertraut. Er spricht wiederholt vom ίμερος γόοιο, von der Sehnsucht nach Klage, 60 vom sich Ergötzen an der Klage (τέρπεσθαι γόοιο) 61 und von der Sättigung (κόρος) 62 dieses Verlangens, ίμερος bezeichnet ein starkes elementares Verlangen, das sich auf die sofortige Befriedigung natürlicher Triebe, wie Essen und Trinken oder auch körperliche Liebe, richtet. Die Erfüllung dieses physiologischen Verlangens ist mit Lust verbunden. Das gilt auch für die Sehnsucht nach Klage im Leid. Der Ausgang der Ilias bietet ein wundervolles Beispiel für diese Freude im und am Schmerz, in dem Priamos und Achilleus zusammenfinden und sich die tragischen Spannungen der Ilias versöhnlich lösen. Als Priamos, um die Herausgabe des Hektar zu erreichen, Achill an seinen alten Vater erinnert, heißt es: „So sprach er und erregte ihm die Lust nach der Klage um den Vater, Und er faßte seine Hand und stieß sanft den Alten von sich.
60 Homer//. 23. 14; 108, 153; 24. 507; Od. 4. 1 1 3 , 1 8 3 ; 10. 398; 16. 215; 19. 249; 22. 500 f.; 2 3 . 2 3 1 . 61 62
Horn.//. 23. 10, 98; 24. 227, 513; Od. 4. 102; 1 1 . 2 1 2 ; 19. 213, 251; 21. 57. Horn. II. 22. 427; Od. 4. 103, 541; 10. 499; 20. 59.
240
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
Und die beiden dachten: der eine an Hektor, den männermordenden, Und weinte häufig, zusammengekauert vor den Füßen des Achilleus, Aber Achilleus weinte um seinen Vater, und ein andermal wieder Um Patroklos, und ein Stöhnen erhob sich von ihnen durch das Haus. Doch als sich an der Klage ergötzt hatte der göttliche Achilleus, Und ihm das Verlangen gegangen war aus der Brust und aus den Gliedern, Erhob er sich sogleich vom Stuhl und hob den Alten auf an der Hand, Sich erbarmend des grauen Hauptes und des grauen Kinns." 63 Auch in der Tragödie finden sich wiederholt ähnliche Gedanken; 64 besonders interessant ist Euripides fr. 573 N 2 , dessen Verse 3 und 4 die aristotelische Katharsistheorie vorwegzunehmen scheinen: „Denn auch im Leid noch gibt es eine Lust für die Sterblichen: Wehklagen und Tränenströme. Dies lindert die Schmerzen der Seele und löst die allzu starken Nöte des Herzens." 65 Es scheint Gorgias gewesen zu sein, der die homerische Sehnsucht nach Klage und Freude am Jammer für eine Theorie der Tragödie fruchtbar gemacht hat. 66 Pohlenz hat im Anschluß an Süß zu Recht betont, daß die gorgianische Terminologie: φρίκη περίφοβος (erschrockenes Schaudern), έλεος πολύδακρυς (tränenreicher Jammer), πόνος φιλοπενθής (wehklagesuchendes Sehnen) die tragischen Affekte so deutlich widerspiegelt, daß Gorgias offenbar speziell an die Tragödie gedacht habe. „Gerade in der
63
Horn.//. 24,507-517. A. F 385 Radt; S. El. 286 f. u. Σ; E. Andr. 94 f., Heracl. 777, Hec. 79 f., El. 125 f., Tr. 608 f.; cf. auch Hld. 2.15.1. 65 Zu κουφίζει (V. 3) cf. Arist. Pol. 1342 a 14 f.; 'aristotelisch' klingt auch Ov. Tr. 4.3.37 f. 66 Gorg. Hei. 9. 64
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
241
physiologischen Entladung des Reizes sah Gorgias wohl den Quell des tragischen Lustgefühls." 67 Piaton, der im Philebos, wie wir gesehen haben, das Vergnügen an tragischen Gegenständen nur konstatiert, setzt sich im Rahmen seiner Dichterkritik des Staates, ohne Gorgias zu nennen, mit der gorgianischen Theorie auseinander. Auch für ihn erfüllt die Tragödie, der wir uns so bereitwillig hingeben, ein elementares Verlangen nach Jammer und Klagen (Rep. 605 d ff.), und gerade weil sie diesen Hunger des irrationalen Teils unserer Seele stillt und ihn dadurch „nährt und begießt" (Rep. 606 c), muß sie aus der Erziehung der Wächter (Buch 3) und aus dem Staat insgesamt (Buch 10) ausgeschlossen werden. Genau hier setzt, wie man seit langem gesehen hat, Aristoteles mit seiner Katharsistheorie an, deren Bedeutung als medizinisch-kultische Purgierung Schadewaldt und Flashar im Anschluß an Bernays und Dirlmeier m.E. gesichert haben, auch wenn sich gegen diese Deutung immer noch - und in jüngster Zeit verstärkt - Widerspruch regt. 68 Ich kann und brauche auf die Katharsisdebatte hier nicht einzugehen. Nach Aristoteles erzielt die Tragödie durch Erregung der Affekte Jammer und Schrecken eine reinigende Befreiung der Seele von diesen Affekten. 69 Dieser seelisch-leibliche Elementarvorgang der Reinigung ist, wie die einschlägige Stelle der Politik nahelegt, als lustvolle Erleichterung (κοΰφισις μεθ' ήδονής) verstanden. 70 Die spezifische tragische Lust ist also bei Aristoteles bestimmt als - so Schadewaldt - „Lust der Erleichterung und Befreiung von den zuvor erregten 67
Pohlenz (s. o. Anm. 29), 462 f.; W. Süß, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik, Leipzig/Berlin 1910, 84 f. 68 W. Schadewaldt, Furcht und Mitleid? Zur Deutung des aristotelischen Tragödiensatzes, Hermes 83, 1955, 129-171 = Hellas und Hesperien, Zürich 1970,1, 194236; H. Flashar, Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik, Hermes 84, 1956, 12-48; letzte zusammenfassende Darstellung (mit reichen Literaturangaben) Halliwell (s. o. Anm. 46), 184-201 und App. 5,350-356. 69 Arist. Pol. 1449 b 27 f. 70 Arist. Pol. 1341b 32 ff
242
Ober das Vergnügen an tragischen Gegenständen
und wieder weggeschafften Affekten des Schreckens und der Rührung. ... Sie stellt sich dann ein, wenn der Mensch aus dem Erregungszustand (der ταραχή) wieder in die Normallage zurückkehrt (καθίσταται)" 7 1 und ist folglich auch nicht gefährlich, sondern ein durchaus unschädliches Vergnügen. Die allgemeine Erfahrung der psychischen und physischen Erleichterung und Ruhe durch Tränen und Klagen, die im Totenkult und in Bestattungsriten aller Zeiten und Kulturen genutzt wird, oder auch allgemeiner die angenehme Entspannung im Anschluß an jede starke emotionale
Anspannung
(z.B. nach
Massensportveranstaltungen
oder
Konzerten) verleiht dieser These ihre unmittelbare Plausibilität. Festgehalten werden muß jedoch, daß in der aristotelischen Theorie der tragischen Lust der Akzent auf der im Durchgang (περαίνουσα) durch die Affekte wiedererreichten seelischen Ausgeglichenheit und Ruhe liegt, während das homerische „sich an der Klage ergötzen" (τέρπεσθαι γόοιο) die Freude am Jammer selbst zu betonen scheint. Dieser Vorstellung sind moderne Theorien nahe, die sich auf der Basis der materialistischen Psychologie Descartes' entwickelt haben, der die Ansicht vertreten hat, daß die bloße Bewegung unserer Nerven, durch welche Emotionen auch immer, lustvoll sei. 72 Der Abbe Dubos, dessen Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture von 1719 von großer Bedeutung für das 18. Jahrhundert gewesen sind, erklärte auf der Basis der cartesianischen Pathologie, daß unserem Geist nichts so mißfalle wie Ruhe und Langeweile
71
Schadewaldt (s. o. Anm. 68), 224 bzw. 223. Rene Descartes, Traite des passions de l'äme (1649) = Oeuvres philos. de Descartes, ed. F. Alque, Paris 1973, III, 938-1103; cf. Martino (s. o. Anm. 22), 22-25, der darauf aufmerksam macht, daß Descartes in einem Brief von 164S an die Prinzessin Elisabeth als Quelle der tragischen Lust neben der Bewegung der Seele die Ausübung des Mitleids nennt, das uns als „action vertueuse" das erfreuliche Bewußtsein unserer eigenen Güte vermittle (dieser Gedanke spielt später im 18. Jh. eine sehr wichtige Rolle); bereits in seiner ersten Schrift Musicae Compendium von 1618 (gedr. 1650) spricht Descartes übrigens vom tragischen Vergnügen: "ita enim elegeiographi et tragoedi eo magis placent, quo maiorem in nobis luctum excitent" (s. o. S. 221: Augustinus). 72
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
243
und daß er deshalb alles liebe, was Leidenschaft erwecke, je stärker desto besser. In der Tragödie überwiege die Lust an starken Emotionen den Schmerz, der durch Furcht und Mitleid erzeugt werde.73 Es ist nicht verwunderlich, daß das gefühlsselige 18. Jahrhundert an einer solchen Theorie Gefallen fand und von vielen Kritikern in immer neuen Variationen die lustvolle Erregung von Emotionen im allgemeinen bzw. des Mitleids im besonderen74 oder das Vergnügen an der eigenen Sensibilität und das sich darin offenbarende hohe moralische Bewußtsein für das tragische Vergnügen verantwortlich gemacht wurde. Im Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn begründet Lessing im Anschluß an Dubos dieses Vergnügen an tragischen Gegenständen damit, „daß wir uns bey jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind, und daß dieses Bewußtsein nicht anders als angenehm seyn kann. Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm",75 d.h. starke Emotionen erweitem nicht nur unsere Sensibilität, sondern geben uns das Gefühl der Lebendigkeit, steigern unser Lebensgefühl.76 Pointiert antiaristotelisch formuliert besagt diese These in den Worten des englischen Kritikers F.L. Lucas: „We go to tragedies not in the
73
Jean Baptiste Dubos, Reflexions critiques sur la Poesie et sur la Peinture (1719), 4 e ed. revue, corrigee et augmentee par L'Auteur, Paris 1740; zu dem 'Begründer der Gefühlsästhetik' und seinem EinfluB Martino, 45 ff. 74 Das Mitleid wird im 18. Jahrhundert fur viele einflußreiche Kritiker (z.B. für Lessing) zum zentralen, ja zum einzigen tragischen Aspekt. Die Theorie, daß es die Ausübung der uns angeborenen sympathetisch-sozialen Affekte sei, die uns das Vergnügen am Leid anderer bereite, geht auf Shaftesbuiys An Inquiry concerning Virtue or Merit von 1669 zurück 75 Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel, nebst verwandten Schriften Nicolais und Mendelssohns, hrsg. und erl. von R. Petsch, Leipzig 1910, 98 f.; cf. Hathaway (s. o. Anm. 39), 678 (zu Dubos). 76 Dieser Gedanke findet sich häufig in modernen Theorien, z.B. bei R. Morrel, The Psychology of Tragic Pleasure, in: Essays in Criticism VI, Oxford 1956, 22-37 (29); cf. Mandel (s. o. Anm. 22), 80 ff.
Ober das Vergnügen an tragischen Gegenständen
244
least to get rid of our emotions, but to have them more abundantly; to banquet not to purge". 77 Die beiden emotionalen Theorien der tragischen Lust als 'Ruhe nach dem Sturm' oder als 'Lust im und am Sturm' schließen sich jedoch nicht unbedingt aus, wie bereits das homerische Epos weiß. In der angeführten //j'as-Schlußszene erwacht in Achilleus zunächst die Sehnsucht nach Klage, er überläßt sich ihr völlig, und als er sich an ihr ergötzt und gesättigt hat, da weicht das Verlangen von Zwerchfell und Gliedern. In der poetischen Weisheit Homers scheinen die Lust am Schmerz und die Lust an der erleichternden Befreiung vom Schmerz miteinander vereint. Eine Frage - viele Antworten: Vier Versuche, sich dem Problem zu nähern, haben wir genauer betrachtet: Kunst - Distanz - Erkenntnis - und die erleichternde und befreiende Lust an Jammer und Schrecken. Alle vier stammen, wie sich gezeigt hat, aus der Antike oder sind doch mehr oder minder stark von ihr beeinflußt. Eine fünfte kann ich in diesem Rahmen nur andeuten: Goethe hat in seiner späten Nachlese
zu Arist. Poetik von 1827 eher beiläufig den
interessanten Gedanken geäußert, daß die Katharsis in der Tragödie durch ein Menschenopfer geschehe. 78 Die verschiedenen ethnologischen, anthropologischen und religionswissenschaftlichen Theorien, die zur Erklärung der Entstehung der griechischen Tragödie entwickelt bzw. herangezogen worden sind: die Jahresdaimon-These von Gilbert Murray, 79 die Scape-goat-Theorie der französischen Strukturalisten 80 oder die Opfertheorie von Walter
77
F.L. Lucas, Tragedy in Relation to Aristotle 's Poetics, London 1927,51 f. J.W. von Goethe, Nachlese zur aristotelischen Poetik (1827), in: Sämtl. Werke, Zürich (Artemis) 1950, XIV 710. 79 G. Murray, in: J.E. Harrison, Themis. Α Study of the Social Origins of Greek Religion, Cambridge 1912 (21927), Exkurs zu Kap. 8. 80 Cf. z.B. B.R. Girard, La violence et le sacre, Paris 1972. 78
245
Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen
Burkert, 81 sie alle, so verschieden sie auch sind, stimmen doch darin überein, daß hinter der entwickelten Kunstform Tragödie uralte Fruchtbarkeits-, Sühne- und Opferrituale stehen. So sieht Burkert als Urgrund der Tragödie das von der Gruppe gemeinsam vollzogene und gemeinsam erlebte Opfer des „Homo necans", das Leben zerstört, um Leben zu erhalten, jammernd beklagt und jubelnd gefeiert. Ist das ästhetische Opferritual der Tragödie immer noch auf geheimnisvolle Weise mit diesem Ursprung verbunden, und speist dieser das paradoxe tragische Vergnügen? 82 Am Ende der Untersuchung sei angesichts der Vielfalt der Antworten betont, daß wir dem komplexen Problem des Vergnügens an tragischen Gegenständen mit einer monokausalen Erklärung wohl kaum gerecht werden können. Zu vielgestaltig sind die sich historisch ständig wandelnden Formen der Tragödie; zu verschieden - in ihrer intellektuellen, moralischen und emotionalen
Reife - die Zuschauer;
zu unterschiedlich
schließlich
zu
verschiedenen Zeiten der Geschichte die Vorstellungen darüber, was als lustvoll empfunden werden darf und soll: im 17. Jahrhundert die Tugend, im 18. Jahrhundert das Gefühl, im 19. Jahrhundert die Weltordnung und im 20. Jahrhundert die Kunst. Je nach Zeit, Objekt und betrachtendem Subjekt werden also die genannten vier Gründe unterschiedlich starke Bedeutung gewinnen. Im Falle der schönsten Tragödie - wie Aristoteles sagen würde - wirken alle vier gemeinsam in die gleiche Richtung und verschaffen uns das tiefe Erlebnis eines tragischen Vergnügens, das zugleich ästhetisch, intellektuell, moralisch und emotional ist, so daß wir „zugleich uns ergötzend weinen".
81
W. Burkert, Greek Tragedy and Sacrificial Ritual, GRBS 7, 1966, 87-121; id., Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen ( R G W 82), Berlin 1972. 82 Cf. auch M. Bodkin, Archetypal Patterns in Poetry; Oxford 1934, 21 (und öfter); H. Weisinger, Tragedy and the Paradox of the Fortunate Fall, London 1953; Morrell (s. o. Anm. 77) 23 f.
Die griechische Tragödie als literarischer Wettbewerb Im Athen des 5. Jahrhunderts waren Tragödienauffuhrungen nicht nur ein religiöses Phänomen mit einer weit zurückreichenden kultischen Tradition und nicht nur ein kulturelles Ereignis von großer politischer und pädagogischer Bedeutung, sondern zugleich ein lebendiger literarischer Wettbewerb
großer
Dramatiker
vor
einem
Publikum,
das
in
der
Theatergeschichte seinesgleichen suchen dürfte. Im Dionysostheater, dessen kümmerliche hellenistisch-römische Reste dem heutigen Besucher Athens kaum einen Eindruck von Größe und Bedeutung des antiken Welturauffiihrungstheaters vermitteln, strömten in jedem Frühjahr an den „Großen Dionysien" Tausende von Zuschauern nicht nur aus Athen, sondern aus ganz Attika und in zunehmendem Maße aus ganz Griechenland zusammen. Das in klassischer Zeit in der Regel fünf Tage dauernde Fest war neben den nur alle vier Jahre gefeierten „Großen Panathenäen" das bedeutendste Fest der Polis 1 . Den unbestrittenen Höhepunkt bildeten seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts die Tragödienauffuhrungen, zu denen seit 486 auch Komödien traten. Gespielt wurden an drei aufeinanderfolgenden Tagen drei Tetralogien, d.h. drei Tragödien und ein Satyrspiel, verschiedener Dichter, deren Auswahl in den Händen des Archon Eponymos, des höchsten Beamten der Stadt, lag 2 .
1
F. Kolb, Polis und Theater, in: Das griechische Drama, ed. G. A. Seeck, Darmstadt 1979, 504-43; W. Rösler, Polis und Tragödie, Funktionsgeschichtliche Betrachtungen zu einer antiken Literaturgattung, Konstanzer Universitätsreden 1980, 8-13; Chr. Meier, Die politische Kunst der Tragödie, München 1988, 54-74; S. Goldhill, The Great Dionysia and Civic Ideology, in: Nothing to do with Dionysus, Athenian Drama in its Social Context, edd. J.J. Winkler/F. Zeitlin, Princeton 1990, 97-129. 2 Zur Organisation der Dionysien cf. A.W. Pickard-Cambridge, The Dramatic Festivals of Athens, 2. Aufl. (rev. J. Gould/J.D. Lewis), Oxford 1968; H.D. Blume, Einführung in das antike Theater, 3. Aufl., Darmstadt 1991,17-26.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
247
Die Tragödienauffuhrungen waren, wie auch die zum selben Fest gehörenden Auffuhrungen der Dithyramben und Komödien, in der Form von Wettbewerben organisiert. Zu den Dichteragonen traten in der Mitte des 5. Jhs. auch Schauspielerwettbewerbe, die in der Folgezeit immer bedeutungsvoller wurden3. Über die Reihenfolge der Tetralogien im Wettbewerb entschied das Los; der Sieger wurde von einer Laienjury bestimmt, deren Wahl und Urteil, um absolute Unparteilichkeit zu sichern, in einem komplizierten System geregelt waren. Jeder der zehn Bezirke Attikas benannte zehn potentielle Richter, deren Namen auf Tontäfelchen in einer Urne verwahrt wurden. Erst am Ende des Wettbewerbs wurde dann die Zahl der 100 potentiellen Richter auf die tatsächlich votierenden 10 reduziert, indem aus jeder der zehn Urnen ein Täfelchen ausgelost wurde. Doch auch damit nicht genug. Nach Stimmabgabe der auf diese Weise benannten Richter wurden der Sieger im Wettbewerb - und der 2. und 3. Platz - auf der Basis von nur fünf der zehn Voten - und zwar wieder durch Urnenlos ermittelt4. Über die Kriterien, nach denen die Bürgeijury stellvertretend für die Zuschauer - und fur den Festgott - urteilte, ist nichts bekannt. Gewiß haben die Popularität der Dichter und die Reaktionen der Zuschauer eine Rolle dabei gespielt, daneben aber auch die gesellschaftliche Bedeutung des verantwortlichen Choregen und der äußere Aufwand der Inszenierung. Die agonale Situation begann übrigens schon weit vor dem großen Ereignis der einmaligen Aufführung. Die Dichter, die sich am Wettbewerb beteiligen wollten, mußten sich bereits im vorausgehenden Spätsommer beim zuständigen Archon um einen Chor bewerben. Die umfangreichen Vorbereitungen, die sich über Monate erstreckten und an denen sehr viele Bürger, direkt oder indirekt, beteiligt waren, steigerten nicht nur die 3
Cf. neben Pickard-Cambridge, 93f., und Blume, 77-82 (beide s. o. Anm. 2), P. Ghiron-Bistagne, Die Krise des Theateis in der griechischen Welt im 4. Jh. v. Z., in: E. Chr. Welskopf (ed.), Hellenische Poleis. Krise-Wandlung-Wirkung, Band 3, Berlin 1974, 1335-71, 1348-52; G. Xanthakis-Karamanos, Studies in Fourth Century Tragedy, Athen 1980,12-14. 4 Cf. Blume, s. o. Anm. 2,40-43.
248
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Erwartung der Öffentlichkeit, sondern sorgten gewiß auch für agonale Spannung zwischen den konkurrierenden Dichtern, Choregen, Schauspielern und Chören und unter den vielen anderen, die in der einen oder anderen Funktion an der Produktion der Stücke mitwirkten. Der Wettbewerbscharakter der athenischen Theaterfeste (das Gesagte gilt analog auch für die Aufführungen an den Lenäen, dem zweiten großen Dionysosfest, in dessen Rahmen Tragödien und Komödien gespielt wurden 5 ) mag den modernen Betrachter, der Vergleichbares allenfalls von den großen Filmfestivals kennt, überraschen. Im Kontext der griechischen Kultur stellt sie jedoch keineswegs eine Besonderheit dar. Sie ist vielmehr nur ein Element der agonalen Grundstruktur, die alle Bereiche des Lebens, Denkens und Fühlens durchdringt und prägt 6 . Besonders in der archaischen und klassischen Zeit bestimmt das Prinzip des Wettbewerbs nicht nur das politische und militärische, ökonomische und kulturelle Verhältnis der einzelnen griechischen Stadtstaaten zueinander, sondern auch das private und gesellschaftliche Mit- und Gegeneinander ihrer Bürger. Seit Hesiod ist Eris, die personifizierte Macht des Streits, wichtiges Element der komplexen und spannungsreichen Struktur des archaischen Kosmos, eine Macht, deren ambivalentem Charakter als Streit und Wettstreit Hesiod am Anfang seines didaktischen Epos „Werke und Tage" dadurch Rechnung trägt, daß er zwei Erides konstatiert, zwei als Schwestern verbundene Erscheinungsformen des gleichen Prinzips: eine böse Eris, „die schlimmen Krieg nährt, und Hader"; und ihre ältere Schwester, die gute Eris, „die auch den hilflosen Mann noch anspornt zu fleißiger Arbeit" 7 .
5 Auch für die sogenannten "kleinen" oder "ländlichen Dionysien" sind-jedenfalls im 4. Jh. - Wettbewerbe bezeugt; cf. Pickard-Cambridge, s. o. Anm. 2,42-56. 6 Cf. dazu G.E.R. Lloyd, Magic, Reason, and Experience, Cambridge 1979, 5966, 86-98; D. Sansone, Greek Athletics and the Genesis of Sport, Berkeley 1988; M. Griffith, Contest and Contradiction in Early Greek Poetry, in: Cabinet of the Muses, Essays in Classical and Comparative Literature in Honour of Thomas G. Rosenmeyer, Atlanta 1990, 185-207. 7 Hesiod, Erga 11-20.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
249
Für unser Thema ist es aufschlußreich, daß Hesiod die Aufzählung der Lebensbereiche, in denen die gute Eris anspornend und segensreich wirkt, nach der Landwirtschaft und dem Handwerk pointiert mit der Dichtung schließt: „Töpfer wetteifert mit Töpfer, und Zimmermann streitet mit Zimmermann, Bettler schließlich mit Bettler, und Sänger mit Sänger" 8 . In der Tat ist ein nicht unerheblicher Teil der griechischen Dichtung von Homer und Hesiod bis zu Euripides und Timotheos (und über das Ende des 5. Jhs. hinaus) für Auffuhrungen im Rahmen von musischen Wettbewerben geschrieben, die für viele der panhellenischen und lokalen Feste neben den uns vertrauteren gymnastischen Wettkämpfen bezeugt sind 9 , und auch das private Symposion, der zweite wichtige Ort für die Produktion und Rezeption von Poesie 10 , enthält durchaus agonale Elemente. Nach dem Essen und dem gemeinsam gesungenen Paian, mußten die Gäste, Künstler oder Laien, zuerst im Kreis herum, dann so wie jeder wollte, eigene oder fremde Texte vortragen. Auch wenn dafür kein Thema genannt wurde, zu dem die Gäste singen oder reden mußten (wie im berühmtesten literarischen Symposion, dem Dialog Piatons) ist der agonale Charakter unübersehbar 11 .
8
Hesiod, Erga 25f. Cf. E. Reisch, De musicis Graecorum certaminibus, Wien 1885; J. Frei, De certaminibus thymelicis, Basel 1900; und jetzt: J. Herington, Poetry into Drama, Early Greek Tragedy and the Greek Poetic Tradition, Berkeley-Los Angeles 1985, App. I, 161-66 (leider endet diese Zusammenstellung mit dem 5. Jh.). 10 Cf. dazu bes. W. Rösler, Dichter und Gruppe, Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur historischen Funktion früher griechischer Lyrik am Beispiel des Alkaios, München 1980; R. Kannicht, Thalia, in: W. Haug-R. Warning (edd.), Das Fest, Poetik und Hermeneutik 14, München 1989, 40ff; J. Latacz, Die Funktion des Symposions fur die entstehende griechische Literatur, in: W. Kullmann/M. Reichel (edd.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, ScriptOralia 30, Tübingen 1990, 227-264 (mit umfangreicher Bibliographie zum Symposion, 259-64). 11 Zum „Programm" des Symposions cf. R. Reitzenstein, Epigramm und Skolion, Gießen 1893; P.v.d. Mühll, Das griechische Symposion, in: Ausgewählte Schriften, hrsg. B. Wyss, Basel 1976,483-505. 9
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
250
So verwundert es nicht, daß der musische Agon auch immer wieder Gegenstand von Mythos und Literatur ist. Ich erinnere nur an den Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas vor den richtenden Musen oder zwischen Apollon und Pan, der seinem Schiedsrichter Midas die langen Eselsohren einbrachte 12 ; aber auch an die Wettbewerbe der Mädchenchöre in Alkmans Partheneia 13 , an das Wettsingen der Hirten Theokrits 14 und schließlich an den
großen
Wettstreit
zwischen
Aischylos
und
Euripides
in
den
aristophaneischen „Fröschen" 15 , der uns zu unserem Thema zurückbringt. In dieser im Jahre 405 aufgeführten Komödie steigt Dionysos nach dem Tode des letzten der drei großen Tragiker der klassischen Tragödie in die Unterwelt hinab, um wenigstens einen der drei in die Polis zurückzuholen, und die Entscheidung darüber, welcher das sein soll, fällt natürlich in einem Agon. Da sich Sophokles vornehm zurückhält, stehen sich hier nicht, wie an den Dionysien, drei, sondern, wie an den Lenäen, lediglich
zwei
Konkurrenten um den ersten Platz gegenüber, und sie kämpfen auch nicht mit Dramen gegeneinander, sondern verteidigen Form, Inhalt und Funktion ihrer Dichtung. Dionysos, der selber als Richter fungiert, entscheidet sich schließlich nicht auf Grund literarischer, sondern moralisch-politischer Kriterien für Aischylos als den besseren Ratgeber der Polis 16 ; im Agon der beiden Tragiker 17 geht es jedoch lange Zeit in erster Linie um Stil und dramatische
12
Weitere Beispiele: Thamyris' unselige Herausforderung der Musen (II. 594600) oder Arachnes Wettstreit mit Athene (Ov. Met. 6, 5-145). 13 C. Calame, Les choeurs des jeunes filles en Grece archaique, Rom 1977. 14 Die Liste agonaler Kompositionsformen und Gedankenfiguren ist lang: z.B. Agon, Kommos, Stichomythie oder Priamel und Recusatio; cf. dazu Griffith, s. o. Anm. 6. 15 Cf. auch den Wettstreit zwischen Homer und Hesiod; dazu N.J. Richardson, The Contest of Homer and Hesiod and Alcidamas Mouseion, CQ 31, 1981, 1-10; zur direkten Auseinandersetzung mit poetischen Konkurrenten cf. u. Anm. 37 16 Aristoph. Frösche 1417ff. 17 Aristoph. Frösche 738ff.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
251
Technik der beiden Kontrahenten, d.h. um die ästhetisch-literarischen Aspekte ihrer poetischen Produktion. Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen werden versuchen, an signifikanten Beispielen die agonale Virtuosität zu demonstrieren, mit der die griechischen Tragiker sich ständig aufs neue mit den formalen und stofflichen Möglichkeiten und Einschränkungen ihrer Gattung und mit den Leistungen ihrer Konkurrenten und Vorgänger auseinandersetzen. Sicher kann man sagen, daß im Grunde in jeder Form künstlerischer Produktion das agonale Prinzip wirksam ist. Jedes Werk ist auch und nicht zuletzt der Versuch des Künstlers, sich in dem gewählten Medium mit seinen Regeln und Zwängen als besser zu erweisen als die im selben Medium arbeitenden zeitgenössischen Künstler und als seine großen Vorgänger18. Für die griechische Tragödie gilt dieses jedoch schon durch die äußeren Wettbewerbsbedingungen, für die sie produziert wird, in ganz besonderem Maße. Die einzigartige Konzentration der Tragödie des 5. Jahrhunderts auf einen Ort und die Form des Wettbewerbs sorgten für weitgehend identische Rahmenbedingungen der Produktion, Inszenierung und Rezeption der Stücke. Die großen und kleinen Dramatiker produzierten unmittelbar nebeneinander als Konkurrenten in einer Stadt, für ein Theater und für eine Gesellschaft. Die Spielregeln des Agons waren für alle gleich. Zahl der Stücke (drei Tragödien und ein Satyrspiel), zeitlicher Rahmen der Vorbereitungen (ca. ein halbes Jahr) und die Dauer der Aufführung (6-8 Stunden), Größe des Chors (zunächst 12, dann 15 Choreuten), Zahl der Schauspieler (zunächst 1, dann 2, schließlich 3), Theater, Bühne und technische Ausstattung, Masken und Kostüme: all das lag fest, und diese Spielregeln blieben bei allen Veränderungen im Detail erstaunlich konstant. 18
Griffith, s. o. Anm. 6, 191; cf. H. Bloom, The Anxiety of Influence, New York 1973; ders., Agon, New York 1981.
252
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Änderungen des Programms, Vergrößerung des Chors oder der Zahl der Schauspieler, Entwicklung des Theaters, technische und dramaturgische Neuerungen galten immer, unabhängig davon, wer sie veranlaßt oder erfunden hatte, sofort oder doch bald in gleicher Weise für alle 19 . Dafür sorgte schon die Tatsache, daß die Autoren in einer Stadt in engem, sicher auch persönlichem Kontakt miteinander lebten und arbeiteten, und dazu beigetragen hat gewiß femer, daß die Dichter, die bei der Inszenierung ihrer Stücke nicht nur Regie führten, sondern auch die Musik komponierten, die Chortänze arrangierten und einstudierten und, jedenfalls bis zu Sophokles, auch als Schauspieler auftraten, mit allen Bereichen der Theaterarbeit vertraut und an allen Neuerungen ihrer Konkurrenten brennend interessiert waren 20 . Angesichts der allgemeinverbindlichen und relativ konstanten Produktionsbedingungen verwundert es nicht, daß die für uns greifbare griechische Tragödie von Aischylos' „Persern" bis zu Euripides' „Bakchen" sich bei allen Unterschieden in Stil und Ton, dramatischer Technik und thematischer Intention als relativ konstante und homogene literarische Form präsentiert: Prolog, Auftrittslied des Chors (Parodos oder Eisodos), die Reihe der durch Auftritte der Schauspieler markierten Handlungsabschnitte (Epeisodia), die durch Lieder des Chors (Stasima) zugleich gegeneinander abgegrenzt und miteinander verbunden sind, und schließlich der Schluß mit dem Auszug des Chors und der Schauspieler (Exodos); diese bereits für die „Urtragödie" des
19 Cf. Lit. ο. Anm. 2 und H J . Newiger, Drama und Theater, in: Seeck (ed.) s. o. Anm. 2, 434-503; B. Seidensticker, Antikes Theater, in: M. Brauneck-G. Schneilin (edd.), Theaterlexikon, Reinbek 1986, 65-83 (und Einzelartikel). 20 R.P. Winnington-Ingram, Euripides, Poietes Sophos, Arethusa 2,1969,127-42, 134: "When Sophocles and Euripides met in the agora (they probably dined in different circles) they will not have talked about justice and the gods, but rather about stichomythia, monodies, and the use of the machine." Cf. z.B. die 'agonale' Zusammenarbeit zwischen Picasso und Braque in den Jahren 1907-14.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
253
Thespis zu erschließenden Bauformen21 bilden die in allem Wandel konstante morphologische Grundstruktur der griechischen Tragödie. Die Normierung formaler Elemente der Tragödie reicht jedoch noch erheblich weiter. Konventionell fixiert waren z.B. auch die metrische Form der Sprechpartien sowie Sprache und Stil der Chorlieder; ferner die obligatorische Ankündigung von Auftritten und Abgängen, die formale Struktur der Streit- oder Überredungsszenen oder des unvermeidlichen Botenberichts mit knappem dramatischem Vorgespräch und ausfuhrlicher epischer Rhesis22. Doch auch damit ist die „grammar of dramatic technique"23 noch nicht komplett. Die Arbeit mit standardisierten Bausteinen und Bauformen war keineswegs auf formale und dramaturgische Elemente beschränkt. Der Katalog gemeinsamer Handlungsmotive ist groß und wäre zweifellos noch erheblich größer, wenn wir nicht nur die 32 erhaltenen, sondern die weit mehr als 1200 Stücke besäßen, die im 5 Jh. geschrieben und aufgeführt worden sind24. Immer wieder Altarflucht (Hikesie), Wiedererkennung (Anagnorisis) und Intrige (Mechanema), immer wieder Mord und Selbstmord, Abschied und Totenklage. Bedenkt man weiter, daß diese Handlungselemente und ihre Kombination oft große Teile der Dramen konstituieren25 und daß sich darüber hinaus die Fülle der erhaltenen und
21
Cf. W. Schadewaldt, Ursprung und frühe Entwicklung der attischen Tragödie. Eine morphologische Strukturbetrachtung des Aischylos, in: H. Hommel (ed.), Wege zu Aischylos I, Darmstadt 1974,104-47. 22 Cf. W. Jens (ed.), Die Bauformen der griechischen Tragödie, München 1971; O. Taplin, The Stagecraft of Aeschylus, Oxford 1977; D. Mastronarde, Contact and Discontinuity, Berkeley 1979; D. Bain, Actors and Audience, Oxford 1977; id., Masters, Servants, and Orders in Greek Tragedy, Manchester 1981. 23 Ε. Fraenkel, Aeschylus Agamemnon, Oxford 1950, II 305. 24 R. Kannicht, Dikaiopolis: Von der Schwierigkeit, ein rechter Bürger zu sein, in: W. Barner u.a. (edd.), Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag, München 1983,246-57. 25 Das gilt bes. für Anagnorisis und Mechanema, cf. dazu F. Solmsen, Euripides' Ion im Vergleich mit anderen Tragödien des Euripides, Hermes 69, 1934, 395ff. ( -
254
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
rekonstruierbaren Handlungen auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von immer wiederkehrenden Handlungsmodellen zurückfuhren läßt 26 , so wird das ganze Ausmaß der Festlegung der Autoren durch Regeln und Konventionen offenkundig. W. Jens hat in der Einleitung der von ihm angeregten und edierten Untersuchung der Bauformen der griechischen Tragödie die griechischen Tragiker zu Recht als „Handwerker" bezeichnet, als „geschulte Auftragskünstler", denen die Gesetzlichkeiten und Regeln ihres Metiers in einer Weise vertraut waren, daß sie Jahr für Jahr, zum festgesetzten Termin, ihre Tragödien und Satyrspiele zur Begutachtung und Bewertung durch die Polis einreichen konnten 27 . Die erstaunliche Summe von Regeln und Konventionen, zu der als gewichtigste die nur in frühen und späten Einzelfällen durchbrochene Konvention tritt, die Stoffe dem Mythos zu entnehmen 28 , hat jedoch ganz offenbar nicht als hemmender Zwang gewirkt, sondern die Dichter zu immer neuen und raffinierteren Variationen des Gegebenen und Geforderten angespornt. Die Entwicklung der griechischen Tragödie ist gekennzeichnet durch eine „gegenstrebige Harmonie" von Tradition und
Innovation,
normativer Konvention und kreativer Variation im agonalen Wettstreit der Autoren um die Verbesserung des Mediums und um den Sieg über lebende und tote Konkurrenten.
Kl. Schriften, Hildesheim 1968, 163ff.); B. Seidensticker, Palintonos Harmonia, Studien zu komischen Elementen in der griechischen Tragödie, Göttingen 1982,212f. 26 A.P. Burnett, Catastrophe Survived, Euripides' Plays of Mixed Reversal, Oxford 1971. 27 Jens, s. o. Anm. 22, XI. 28 Nach Phrynichos' (TrGF 3) „Eroberung Milets" (F4b) und „Phoinissen" (F 812) sowie Aischylos* „Persern" sind historische Stoffe erst wieder für die nachklassische Tragödie bezeugt: Theodektas, „ M a u s o l o s " (TrGF 72 Τ 6) und Moschion, „Themistokles" (TrGF 97 F 1; wohl schon 3. Jh.).
255
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Das agonale Grundgesetz von Wiederholung und Variation, das am offensichtlichsten in der immer neuen Gestaltung und
Interpretation
derselben mythischen Stoffe zu Tage tritt, gilt für alle Ebenen der Produktion, für Bauformen und dramatische Technik ebenso wie für Stoff und Thema. Als Ausgangspunkt wähle ich ein Beispiel, an dem sich die technisch-formalen und die stofflich-thematischen Aspekte des Phänomens gemeinsam zeigen lassen: die Darstellung der Mordszenen. In der griechischen Tragödie sind bekanntlich - anders als z.B. bei Shakespeare - physischer Kampf und Mord völlig von der Bühne verbannt. Auf diese Konvention, die sowohl religiöse als auch dramaturgische Gründe haben mag, haben die Tragiker mit einer Reihe von Techniken reagiert, die es ihnen ermöglichen, dem Zuschauer die tragische Tat im Moment des Geschehens und/oder unmittelbar danach doch zu präsentieren. Während der Tat dient dazu die von allen drei Tragikern verwendete „Mord-Stichomythie" ein Pseudo-Gespräch zwischen dem Opfer und Personen (meist dem Chor), die
auf
der
Bühne
das
hinterszenische
Geschehen
verfolgen
und
29
kommentieren . Das einfache Grundmuster der später vielfach variierten Szene findet sich im aischyleischen „ A g a m e m n o n " . Zweimal ertönt der Schrei Agamemnons aus dem Palast, zweimal reagiert der Chor auf diese Schreie (1343-47): Ag.: Weh mir! Ich bin getroffen, tödlich tief. Chf.: Still! Wer schreit da, tödlich getroffen. Ag.: Weh mir! Erneut! Ein zweiter Schlag - der nun mich traf! Chf.: Die Tat, vollendet scheint sie mir, hör ich des Königs Stöhnen. Doch auf, wir wollen uns beraten. Es folgt die ebenso aufgeregte wie umständliche Beratung der Greise, was in dieser undurchsichtigen und gefährlichen Situation zu tun sei (1347-71), bis
29
Cf. B. Seidensticker, Die Stichomythie, in: Bauformen, s. o. Arnn. 22, 183-220, 194; G. Amott, Off-Stage Cries and the Choral Presence, Antichthon 16, 1982, 35-43, 38ff.; zu den im folgenden behandelten Stellen kommen weiter: Eur. Medea 127Iff.; Hekabe 1035ff.; Elektra 1165ff.
256
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
schließlich das Ekkyklema, die aus dem Palast gerollte hölzerne Plattform, die Mörderin und ihre Opfer präsentiert (1372 f f ) . Bei der ersten Wiederholung des szenischen Topos, bei der Ermordung Aigisths in den „Choephoren", beschränkt sich Aischylos auf eine Kurzform (A. Ch. 869-74): Aig.: e, e, otototoi Ch.: Still! - Wie steht's? Wie ist's vollendet im Palast? Chf.: Laßt uns beiseite treten, während sich die Tat erfüllt, damit es scheint, wir hätten mit der Sache nichts zu tun. Nur ein Schrei Aigisths; nur eine Reaktion des Chors, nur ein kurzer Moment der Unsicherheit, dann erscheint auch hier Klytaimestra; diesmal von einem Diener herbeigerufen, nicht als Täter, sondern als (zukünftiges) Opfer. Das sprachliche und szenische Zitat aus dem „Agamemnon" dient dazu, die Parallelität von Mord und Rache zu betonen: Auge um Auge, Zahn um Zahn; die Kurzform ist gewählt, weil der dramatische und emotionale Höhepunkt nicht auf der Ermordung Aigisths, sondern auf der unmittelbar folgenden Begegnung zwischen Mutter und Sohn liegen sollte. In der sophokleischen „Elektra" ist die Mord-Stichomythie einerseits deutlich als Aischylos-Zitat gekennzeichnet, andererseits aber erheblich modifiziert. In Sophokles' Version der Ermordung Klytaimestras tritt Orest in den Hintergrund. Im Mittelpunkt der Tragödie stehen nicht wie bei Aischylos die Heimkehr des Sohnes und die Problematik des Muttermords, sondern die seelischen Leiden der Tochter, die den geliebten Vater nicht vergessen kann und eingesperrt und einsam, voller Haß auf die Mörder, sehnsüchtig auf den Tag der Rache wartet. So ist es konsequent, daß Sophokles seine Heldin und ihre Reaktion im Augenblick der Tat, die ihr nach den langen Jahren der Not endlich Freiheit und Glück zurückgibt, nicht im Dunkel des Palastes verbirgt oder nur indirekt durch einen Boten schildert, sondern unmittelbar auf der Bühne präsentiert. In dem Moment, in dem der Zuschauer, in Erinnerung an die dramatische Sequenz der beiden aischyleischen „Vorlagen" nach dem Abgang der Geschwister in den Palast
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
257
auf die Todesschreie wartet, läßt Sophokles seine Elektra wieder aus dem Palast treten und zusammen mit dem Chor auf den Mord warten. Die MordStichomythie wird dadurch umfangreicher, formal komplizierter, dramatisch und emotional wirkungsvoller und inhaltlich komplexer (S. El. 1398-1421) 30 : El.: Ο liebste Fraun! Die Männer werden jetzt sogleich das Werk vollbringen. Darum still und wartet! Ch.: Wie nun? Was tun sie jetzt? El.:
Sie richtet zur Bestattung Die Urne, und die beiden stehen dicht dabei.
Ch.: Und du? Weswegen eiltest du heraus? El.:
Zu wachen, Daß uns Aigisth nicht unbemerkt das Haus betritt!
Kly.: Ai, Ai! loh! Haus, Von Freunden leer, doch angefüllt mit Mördern! El.: Es schreit wer drinnen! Hört ihr nicht, ihr Lieben? Ch.: Ich hörte Unerhörtes, ο ich Unselige! daß mir schaudert! Kly.: Weh mir! ich Arme! - Aigisthos, wo nur bist du? El.: Sieh da! Noch einmal ruft wer! Kly.:
Ο Kind, Kind! Habe mit der Erbarmen, welche Dich gebar!
El.:
Doch fand Er vor dir kein Erbarmen, noch der ihn gezeugt: der Vater!
Ch.: Ο Stadt! ο Stamm, unseliger! jetzt schwindet dir Dein täglich Lebensteil dahin, schwindet dahin! Kly.: Ο mir! getroffen bin ich. El.:
Schlage zu, Wenn du die Kraft hast, zum zweiten Mal!
Kly.: Ο mir! noch einmal! El.:
30
Übers. Schadewaldt.
Wär"s doch mit Aigisth zugleich! -
258
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Ch.: Es vollenden es die Flüche! Es leben die unter der Erde Begrabenen! Denn sühnend fließendes Blut Entziehen ihren Mördern Die lange schon Gestorbenen! Der größere Umfang und die reichere Instrumentierung der Szene ergibt sich schon aus der Verdoppelung der vor dem Palast wartenden Personen. Bedeutungsvoller ist jedoch zweifellos der Wunsch des Sophokles, dem Zuschauer den Höhepunkt des Stücks, obwohl er sich im Hinterszenischen vollziehen muß, so lebendig und detailliert wie möglich vor Augen zu stellen. Das kurze Vorgespräch zwischen Elektra und dem Chor steigert die Spannung durch das Warten auf die Schreie und die Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden Tat (1398f.), durch die Beschreibung der dramatischen Konstellation im Haus (1400f.) und durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit der Situation (1402f.). Dann endlich der erste Wehruf Klytaimestras (1404). Sophokles beschränkt sich nun aber nicht wie Aischylos auf das bloße Faktum des Mordes, sondern evoziert durch eine ganze Reihe von Schreien mit bewundernswerter Ökonomie der Mittel Schritt fur Schritt das sich im Haus vollziehende Drama zwischen Mutter und Sohn. Klytaimestra begreift, wer neben ihr steht (1404f.), ruft verzweifelt nach Aigisth (1409), wendet sich schließlich an Orest mit der flehentlichen Bitte, sich der Mutter zu erbarmen (1410 f.) und wird erst dann zweimal vom Schwert des Sohnes getroffen (1415 f.). Ebenso interessant wie die formale Erweiterung der Szene und die stärkere Visualisierung der hinterszenischen Tat ist die sophokleische Variation der Reaktion der vor dem Palast Wartenden. Elektra und der Chor kommentieren zunächst lediglich zweimal wie die aischyleischen Zeugen die Schreie (1406-8, 1410), dann aber wird Elektra immer mehr in das dramatische Geschehen hineingezogen. Sie vergißt, wo sie sich befindet, und greift selbst in das hinterszenische Geschehen ein, indem sie, als stünde sie neben dem Bruder, Klytaimestras Bitte an Orest beantwortet (1411 f.) und
259
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
schließlich Orest nach dem
ersten
Schlag auffordert, noch
einmal
zuzuschlagen (1415). Spätestens in diesem Moment wird ganz deutlich, daß es Sophokles bei der Erweiterung und Variation der aischyleischen Mord-Stichomythie nicht nur um größeren Realismus und intensivere dramatische Spannung geht, sondern vor allem darum, sein Elektra-Portrait zu vollenden. Der furchtbare Schrei: „Schlag, wenn du kannst, noch einmal zu!" macht Orests Tat zu ihrer Tat und läßt zugleich unmittelbar vor dem glücklichen Ende noch einmal schlaglichtartig aufleuchten, was die Jahre der Einsamkeit und des Hasses im Hause der Mörder aus dem jungen Mädchen gemacht haben. Auch Euripides macht in seiner „Elektra" von dem dramaturgischen Topos Gebrauch und zwar gleich zweimal, für beide Morde des Stücks. Ist die Verwendung bei der Ermordung Klytaimestras knapp und konventionell 31 , so hat Euripides im zweiten Fall das Schema in der fur ihn so typischen Weise originell variiert. Die Ermordung Aigisths findet bei ihm nicht im Palast, sondern in einiger Entfernung vom dramatischen Schauplatz des Stückes statt; zudem ist Aigisth nicht allein, sondern wird von zahlreichen
Dienern
begleitet 32 .
Gleichwohl
liefert Euripides
seinen 33
Zuschauern - in spielerischer Variation - die erwartete Szene (747-60) : Chor: Ihr Freundinnen - habt ihr das Geschrei gehört? oder täuschte ich mich? ... Herrin, komm aus dem Hause, Elektra! El.: Was gibt es, meine Lieben? Wie steht unser Kampf? Ch.: Ich weiß nur eins: es ist ein Todesschrei! El.: Auch ich hab' ihn gehört, wenn auch aus weiter Ferne. Ch.: Von weither kommt die Stimme, und nicht klar verständlich. El.: Jammert da ein Argiver - einer meiner Freunde? 31
Eur. El. 1165ff. Eur. El. 62Iff. (Bericht des Alten, der Aigisth bei den Vorbereitungen zu einem Opfer gesehen hat); 76Iff. (Botenbericht von der Ermordung Aigisths). 33 Übers, nach Ebener. 32
260
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Ch.: Ich weiß es nicht; ganz verworren klingt das Wehgeschrei! El.: Zum Selbstmord forderst du mich auf. Was zögere ich? Ch.: Halt! Erst erforsche deine Lage ganz genau! El.: Nein, nicht möglich. Wir sind besiegt. Wo bleiben sonst die Boten? Ch.: Sie werden kommen. Königsmord ist keine leichte Sache. Auch hier dringen Rufe an das Ohr der Wartenden; doch bei der großen Distanz können der Chor und die herbeigerufene Elektra nicht ausmachen, von wem die Todesschreie stammen, bis schließlich der Bote erscheint und die Spannung löst. Der Reiz dieser Szene liegt nicht zuletzt in der radikalen Variation des Grundmusters, das dennoch erkennbar bleibt 34 : Die Todesschreie sind beinahe eliminiert, aus den ängstlichen Überlegungen des Chors, was angesichts des Geschehens zu tun sei, wird die angstvolle Frage, was denn überhaupt geschehen ist; der Auftritt des Täters und die Präsentation des Opfers sind, jedenfalls zunächst, durch den Boten und seinen Bericht ersetzt. Und am Ende des Gesprächs (760f.) erlaubt sich Euripides, wie es scheint, einen ironischen Seitenhieb auf eine besonders strikte Konvention der griechischen Tragödie, die Konvention, das tragische Ereignis gleich darauf durch einen Boten melden und berichten zu lassen. Elektra begründet Selbstmordwunsch und Angst („wir sind verloren") mit der Frage: „Wo sind die Boten?" In der griechischen Tragödie gilt nun einmal: Kein Bote, keine Tat 35 . Noch
spielerischer
und
raffinierter arbeitet
Euripides
mit
dem
dramatischen Topos im „Orestes". Er evoziert zunächst bei Orests und Pylades' 34
Attentat auf Helena,
das als perverse Wiederholung
des
Arnott, s. o. Anm. 29, hat die Stelle nicht in seine Zusammenstellung des Topos aufgenommen. 35 Cf. Winnington-Ingram, s. o. Anm. 20, 130f., und G. Arnott, Euripides and the Unexspected, G&R 20, 1973, 49-64, 50f., legen den Akzent darauf, daß die Konvention, auf die durch Elektras Frage (759) hingewiesen wird, unmittelbar darauf erfüllt wird: "Sure enough, the next line is spoken by the messenger who has apparently crept up on them unawares and unannounced" (Arnott).
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
261
Muttermordes erscheinen soll 36 , deutlich die sophokleische Mord-Stichomythie: wie bei Sophokles warten Elektra und der Chor vor dem Palast auf die Tat (1246ff.); wie bei Sophokles schreckt das Opfer zunächst entsetzt auf, als es die Mörder entdeckt, und ruft dann den Gatten um Hilfe (1296ff.); wie bei Sophokles sind Drinnen und Draußen dramatisch miteinander verknüpft, fordert Elektra im Moment der Tat die Täter im Palast auf zuzuschlagen (1302ff.). Doch dann kommt alles ganz anders, als der Zuschauer es erwarten muß und soll. Nicht die blutigen Täter treten auf, sondern das unschuldige Opfer und Geisel Hermione, die Tochter Helenas; nicht die königliche Leiche wird präsentiert, sondern ein entkommener Sklave (1395ff.); und schließlich stellt sich - nach immer neuen Hinweisen und Anspielungen auf die Ermordung Helenas - sogar heraus, daß die Schreie gar keine Todesschreie waren, daß Helena gar nicht tot, sondern von Apollon entrückt worden ist (1629ff.). Gerade dieses letzte Beispiel aus dem .Orestes" macht aber auch deutlich, daß die weitgehende Normierung formaler, dramatischer und thematischer Elemente einem „cleveren" Autor wie Euripides nicht nur die Möglichkeit gibt, seine besondere Raffinesse zu dokumentieren und einen toten oder
lebenden
Kollegen zu übertreffen. Die Evozierung
der
dramatischen Konventionen und/oder der Szene eines Vorgängers oder Rivalen dient ihm auch dazu, dramatische Spannung zu erzeugen, indem er die Erwartungen der Zuschauer mit Hilfe der wohlvertrauten Signale oder eines bekannten Textes auf ein Ziel lenkt, das dann erst auf überraschenden Umwegen oder überhaupt nicht erreicht wird 37 .
36
S. u. S. 274f. G. Arnott hat diese Technik in einer ganzen Reihe von einander ergänzenden Arbeiten eindrucksvoll dokumentiert; zu den in Aran. 29 und 35 genannten Arbeiten kommen ferner: G. Arnott, Red Herrings and Other Baits, Α Study of Euripidean Technique, MPhL 3, 1978, 1-24; id., Tensions, Frustrations, and Surprise: A Study of Theatrical Techniques in some Scenes of Euripides' Orestes, Antichthon 17, 1983, 13-28; cf. ferner Dodone 6, 1977, 41-53 und WZ Rostock 34.1, 1985, 9-11; zu der skizzierten Orestes-Sequenz cf. Arnott, s. o. Anm. 35, 52f, 56-59 und id., Tensions, 23-27. 37
262
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Die paradigmatische Betrachtung der stereotypen Mordszenen zeigt, daß für thematische und dramaturgische Topoi dasselbe gilt, wie für formale und technische Konventionen. Überall Konstanz und Variation, überall ein ständiger fruchtbarer Austausch zwischen den Tragikern, überall
die
kontinuierliche Entwicklung neuer Elemente und Formen, neuer Motive und Strukturen, die, von den Zeitgenossen und Nachfolgern übernommen, ihrerseits zu Topoi werden. Zugleich wird die erstaunliche Freiheit in der Arbeit mit den traditionellen mythischen Stoffen deutlich 38 , und schließlich vermitteln die beiden Beispiele auch einen Eindruck von der agonalen Virtuosität,
mit
der
die
Tragiker
in
ständiger
kritisch-kreativer
Auseinandersetzung mit den Konventionen ihres Mediums und mit ihren Konkurrenten die Formen und Gesetze der Gattung zugleich bewahren und weiterentwickeln. Anders als die alte Komödie erlaubt die Tragödie, der die Durchbrechung der dramatischen Illusion verboten ist, keine explizite direkte Auseinandersetzung mit der Konkurrenz 39 . Die Betrachtung der Mordszenen hat jedoch, denke ich, gezeigt, daß diese Einschränkung die Tragiker nicht daran hinderte, ihre Arbeit mit der ihrer Vorgänger in eine mehr oder minder deutliche Beziehung zu setzen.
Der Wettstreit mit dem Vorgänger ist bereits in der ersten der erhaltenen Tragödien greifbar. Aischylos eröffnet seine Dramatisierung des griechischen Sieges über die Perser mit dem „Zitat" des ersten Verses der nur wenige Jahre zuvor aufgeführten „Phönissen" des Phrynichos, die denselben Stoff zum Gegenstand hatten 40 : Gleich zu Beginn des Stücks, das ein antikes
38
Cf. dazuu. S. 271 f. Auseinandersetzung mit Kollegen und Konkurrenten ist weitverbreitet bei frühen Philosophen, Historikern, Ärzten und findet sich auch immer wieder (direkt und indirekt) in der archaischen Dichtung; cf. z.B. Solon F 33 W (Feinde), F 20 W (Mimnermos); Simonides PMG 542; Pratinas TrGF 4 F 3; Pindar, z.B. Ol. 2, 86, Isthm. 2.6. 40 Phrynichos, TiGF 3 F 8; Aisch. Pers. 1. 39
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
263
Zeugnis als Umarbeitung des verlorenen Phrynichos-Dramas bezeichnet41, fordert Aischylos also seine Zuschauer indirekt auf, seine Version des Stoffes mit der des Vorgängers zu vergleichen. Leider sind wir hier, wie fur Aischylos generell, auf Vermutungen angewiesen, da die Stücke seiner Vorgänger sämtlich verloren sind42. Bei Sophokles dagegen und vor allem bei Euripides ist die literarische Auseinandersetzung mit den Stücken der Vorgänger trotz der ja nur ganz bruchstückhaften Überlieferung der Produktion vielfach zu greifen. Sie kann sich, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen, ebenso gegen Details der dramatischen Technik richten, wie - ganz grundsätzlich - gegen die Darstellung und Interpretation einer mythischen Gestalt bzw. Geschichte. Oft sind die beiden Aspekte nicht voneinander zu trennen. So macht sich Euripides offenbar verschiedentlich über die in seinen Augen veraltete, weil zu unrealistische, dramatische Technik des Aischylos lustig: Das Herzstück der aischyleischen „Sieben gegen Theben" bildet die sogenannte Rüstungs-Szene43. Polyneikes, einer der beiden Söhne des Oidipus, steht mit einem in der Fremde aufgebotenen Heer vor Theben, um sich die ihm von seinem Bruder Eteokles verweigerte Herrschaft mit Gewalt zu sichern. Unmittelbar vor dem erwarteten Angriff der Sieben stürzt ein Bote auf die Bühne und gibt Eteokles einen detaillierten Bericht über die Aufstellung des gegnerischen Heeres. Die glanzvolle epische Beschreibung der sieben feindlichen Heerführer an den sieben Toren Thebens und ihrer Schildzeichen und Eteokles' ausführliche Begründung seiner Wahl der
41
Glaukos von Rhegion in der Hypothesis zu den „Persern" (TrGF 3 Τ 5). Es wäre z.B. auch für unser Thema aufschlußreich, wenn wir die für Phrynichos bezeugten Tragödien „Aigyptioi" (TrGF 3 F 1) und „Danaides" (TrGF 3 F 4) mit Aischylos' Danaidentrilogie, Phrynichos' „Alkestis" (TrGF 3 F lc) mit Euripides',Alkestis" vergleichen könnten. 43 Grundlegend E. Fraenkel, Die sieben Redepaare im Thebaner-Drama des Aischylos, Sitzber. Bayer. Ak. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 1957, 3 (= Kl. Beiträge I, 273ff.); Taplin, s. o. Anm. 22,149ff.; Hutchinson, ad loc. 42
264
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
passenden Verteidiger füllen mit mehr als 300 Versen etwa ein Drittel des Stücks (369-676). Als Euripides den gleichen Stoff in seinen .Phoenissen" wiederaufnimmt, streicht er einfach die berühmte Szene seines großen Vorgängers, wenn er Eteokles in der gleichen dramatischen Situation knapp erklären läßt (748-52): „Ich gehe also zum Burgwall mit den sieben Türmen und werde die Führer an den Toren so postieren wie du sagst, indem ich jedem der feindlichen Führer den passenden Gegner entgegenstelle. Den Namen aber eines jeden noch zu nennen, würde zuviel Zeit benötigen, in einem Augenblick, in dem der Feind bereits dicht vor den Mauern steht" 44 . Das berühmteste Beispiel ist jedoch zweifellos der erste Teil der Anagnorisis-Szene der „Elektra", in der Euripides sich über die Form der Wiedererkennung in den „Choephoren" des Aischylos lustig macht 45 . Nacheinander weist seine Heldin alle drei Erkennungszeichen, an denen die aischyleische Elektra den heimlich heimgekehrten Bruder erkennt, als völlig ungenügend zurück: die Haarlocke, die Orest dem toten Vater geweiht hat und die Elektras Haar zum Verwechseln gleicht; die Fußspuren, die er beim Opfer am Grabe hinterlassen hat und in die Elektras Fuß so genau hineinpaßt; und schließlich das Stück Stoff, das Orest bei sich trägt und das Elektra als von ihr selbst gewebt wiedererkennt.
44
Cf. Fraenkel, s. o. Anm. 43, 56; Mastronarde, ad 75 lf; Winnington-Ingram, s. o. Anm. 20, 131, erwägt auch die Möglichkeit, daß die ausdrückliche Erklärung des Theoklymenos (Eur. Hei. 1165-68), warum sich das Grab seines Vaters so nahe beim Palast befinde, ein ironischer Verweis auf die „Choephoren" des Aischylos sein könne, "where the scene shifts inobtrusively from tomb to palace-front." Cf. auch Eur. Hik. 846-56 (dazu Wilamowitz, Griech. Trag. 1,202). 45 Eur. El. 508-546.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
265
Der alte Diener, der bei Euripides Orests Gaben und Spuren am Grab Agamemnons gefunden hat, erklärt (El. 520-22)46: Gr.: Schau hier die Haare und vergleiche sie mit deinen! Ob ihre Farbe wohl der abgeschnittenen Locke gleicht47. Doch Elektra erwidert (524-31): El.: Du sprichst, mein Alter, gar nicht wie ein kluger Mann. Wie sollen sich, sodann, die Locken unserer Haare gleichen, wo doch die eine an dem Ort fur edle Männer wuchs, dem Ringplatz, die andre aber unterm Kamme, die weibliche. Nein, unmöglich! Bei vielen könntest du wohl Haare finden, die einander ähneln, auch wenn sie nicht vom selben Blute sind, mein Alterchen. Der Alte versucht es daraufhin mit den Fußspuren (532f.): Gr.: So tritt hinein in seines Schuhes Spur und prüfe den Schritt, ob er mit deinem Fuß zusammenstimmt, mein Kind^. Doch wieder ohne Erfolg (534-37): El.: Wie können Füße einen Abdruck hinterlassen auf dem harten Felsengrund? Und wenn es möglich wäre, so könnten kaum des Bruders und der Schwester Fuß von gleichem Umfang sein; der männliche ist stärker. Schließlich fragt der Alte, der sich offenbar gut an Aischylos Choephoren erinnert (538-40): Gr.: Und wäre heimgekehrt dein Bruder - gäb's denn da kein Gewebe von deiner Hand, an dem du ihn erkennen könntest?49
46 47 48 49
Übers, der euripideischen Anagnorisis nach Ebener. Cf. Aisch. Cho. 168-78,226f„ 229f. Cf. Aisch. Cho. 205-11,228. Cf. Aisch. Cho. 23lf.
266
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Elektra aber bleibt völlig ungerührt (541-44): El.: Du weißt doch, daß ich, als Orestes fliehen mußte, ein Kind noch war! Und hätte Kleider ich gewebt, wie trüge er, damals ein Kind, sie heute noch, es sei denn, Kleider wüchsen mit dem Körper! Die Zeit, in der Philologen meinten, Euripides gegen den Vorwurf kleinkarierter Kritik an dem Riesen Aischylos verteidigen zu müssen (notfalls sogar mit der Erklärung, die Verse seien unecht) ist wohl endgültig vorbei 50 . Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, daß Euripides sich hier einen Spaß auf Kosten der in seinen Augen primitiven dramatischen Technik seiner Vorgänger erlaubt hat 51 . Daß die Szene zugleich dramatisch und thematisch gut motiviert ist 52 , ist selbstverständlich und sagt nichts gegen die „zusätzliche" literarisch-agonale Pointe. Der modernen Tragödienforschung gilt die agonale Auseinandersetzung mit den Formen und Inhalten der Gattung und mit den Vorgängern und zeitgenössischen Konkurrenten als typisch euripideisch; und in der Tat ist damit ein wichtiger Zug des euripideischen CEuvres getroffen 53 . Es darf aber nicht übersehen werden, daß auch der .eukolos" Sophokles, wie ihn
50
A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, 3.Aufl., Göttingen 1972,404f.; Denniston, ad 524ff. 51 H. Lloyd-Jones, Some Alleged Interpolations in Aeschylus' Choephori and Euripides' Electra, CQ 11, 1961, 171-84, 180: „I see no good reason to doubt that in this scene Euripides amused himself at the expense of what seemed to him the primitive technique of his predecessor." Eine besondere Pointe mag übrigens darin liegen, daß die euripideische Elektra den Diener (und damit Euripides den Aischylos?) gleich zu Beginn der Szene zweimal „mein Alterchen" nennt (524 u. 531). 52 Cf. dazu z.B. K. Matthiesen, Elektra, Taurische Iphigenie und Helena, Göttingen 1964,122. 53 Bahnbrechend Winnington-Ingram., s. o. Anm. 20, und Arnott, s. o. Anm. 29, 35, 37; daß eine solche literarische Technik gegen Ende der Entwicklung einer Gattung stärker ausgeprägt ist als an ihrem Anfang, liegt auf der Hand und läßt sich durch zahlreiche antike und moderne Beispiele belegen.
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Aristophanes nennt54, der heiter-freundlich, zufrieden in sich ruhende Sophokles, der sich im Agon der ,Frösche" vornehm heraushält aus dem erbitterten Streit zwischen Aischylos und Euripides, sich durchaus kritischkreativ mit der Tradition seines Mediums auseinandersetzt und sich dabei durchaus auch in agonale Spannung zur Arbeit seiner Konkurrenten setzt. In der langen und heftigen Kontroverse über die Art und Weise, wie Euripides in der besprochenen Szene mit dem Altmeister Aischylos umspringt, wird die zwar weniger direkte, aber kaum weniger radikale Auseinandersetzung des Sophokles mit der von Euripides attackierten aischyleischen Wiedererkennungsszene leicht übersehen, aber auch Sophokles „Elektra" muß wie die euripideische auf dem Hintergrund der „Choephoren" des Aischylos gesehen werden, und das gilt in besonderem Maße fur die Anagnorisis55. Das agonale Spiel mit Erwartung und Überraschung beginnt bereits im Prolog. Wie Aischylos eröffnet auch Sophokles sein Stück mit der Heimkehr des Orest; und wie bei Aischylos kommt am Ende des Prologs Elektra in den Blick. Doch während der aischyleische Orest, als er die Schwester mit dem Chor zum Grab Agamemnons kommen sieht, sich nur für einen Moment in den Hintergrund zurückzieht, so daß es gleich darauf zur Begegnung und Wiedererkennung zwischen Bruder und Schwester kommen kann, lenkt Sophokles die Erwartung des Zuschauers zunächst in eben diese Richtung, aber nur, um sie zu enttäuschen und seine bedeutende Abweichimg von der berühmten aischyleischen Vorlage gleich zu Beginn deutlich zu signalisieren. Auf Elektras Jammerrufe aus dem Palast reagiert Orest mit der Frage an den ihn begleitenden Pädagogen (80f.): „Ist das die unglückselige Elektra? Denkst du, Wir sollten warten ...?"
54
Aristoph. Frösche 82. Cf. dazu bes. F. Solmsen, Electra and Orestes, Three Recognitions in Greek Tragedy, Mededelingen der Koninkl. Nederl. Ak. v. Wetensch., Afd. Letterkunde 30/2,1967,31-62. (= Kl. Schriften, Hildesheim 1982, III 32-63). 55
268
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Doch der alte Mann dringt darauf, die Frage zurückzustellen und erst, wie Apollon es befohlen hat, am Grabe Agamemnons zu opfern, das sich nicht wie bei Aischylos auf der Bühne, sondern im hinterszenischen Raum befindet. Die Begegnung und Wiedererkennung der Geschwister rückt so bei Sophokles also vom Anfang des Stücks an sein Ende, unmittelbar vor die Ermordung Klytaimestras und Aigisths. Durch die ebenso einfache wie geniale Umstellung hat Sophokles aus der Geschichte von der Rache Orests die Tragödie einer großen Seele gemacht. Die Tragik des Stücks entsteht nicht wie bei Aischylos aus der objektiven, oder wie bei Euripides aus der subjektiven Problematik des Muttermords; sie erwächst aus der totalen Einsamkeit Elektras und aus den physischen, psychischen und moralischen Leiden, die die Heldin zu zerstören drohen. Sophokles hat der aischyleischen Wiedererkennungsszene aber nicht nur einen anderen Platz im dramatischen Gefüge des Stücks zugewiesen, sondern sie auch inhaltlich und thematisch radikal verwandelt. Dabei hat er - und das macht seine Elektra für die Betrachtung der agonalen Beziehungen zwischen den griechischen Tragikern so interessant - die Elemente, aus denen sich die aischyleische Anagnorisis (und ihre spielerisch parodistische Wiederaufnahme bei Euripides) zusammensetzen, durchaus bewahrt. Auch bei Sophokles betet Orest am Grabe des Vaters und legt dabei eine Locke nieder (900f.); und auch bei Sophokles schickt Klytaimestra, durch einen nächtlichen Traum beunruhigt, Opfergaben zum Grab des von ihr getöteten Gatten (404ff.). Doch
Sophokles nutzt
die
aischyleischen
Bausteine, wie bei der Variation des aischyleischen Prologs, lediglich dazu, die Erwartung des Zuschauers in die Richtung der bekannten Lösung zu lenken, damit seine eigene, ganz andere Lösung auf der Folie der evozierten aischyleischen Szene besonders deutlich hervortritt.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
269
Im sophokleischen Stück ist es Chrysothemis, nicht Elektra, die von Klytaimestra zum Grabe geschickt wird und dort die Locke und die Opfergaben des heimgekehrten Bruders entdeckt (893-915) 56 : „Als ich gekommen zu des Vaters altem Grab, Da seh ich von des Hügels Kuppe frisch gegossen Quellen von Milch, und rings im Kreis besteckt Mit allen Blumen, die's nur gibt, des Vaters Gruft. Und wie ich's sehe, da erfaßte mich ein Staunen ... ... und dicht am Rande seh ich Der Feuerstätte eine frische Locke Geschnitten! Und sofort, ich Arme, da ich's sah, So schlägt mir in die Seele ein vertrautes Bild: Orestes! ... Und jetzt auch bin ich ebenso wie in Dem Augenblick mir ganz gewiß, daß dieser Schmuck Von keinem anderen als von ihm gekommen! Denn wem sonst stünde außer dir und mir dies zu? Und ich hab's nicht getan, das weiß ich sicher, Und auch nicht du. Wie denn? ... Doch auch der Mutter Sinn ist nicht geneigt, Solches zu tun, und hätte sie es Getan, es konnte nicht verborgen bleiben. Nein, es sind von Orestes diese Grabesgaben!" Sophokles zitiert die zentralen Elemente der aischyleischen Szene: Die Entdeckung der Zeichen 57 ; das emotionale Evidenzgefuhl beim Anblick der Locke: es muß Orest sein 58 ; und die rationale Überlegung, daß niemand anders als Orest in Frage kommt 59 . Doch Elektra weigert sich - hierin 56 57 58 59
Übers. Schadewaldt. Aisch. Cho. 168ff, 205ff. Aisch. Cho. 169-76, 183-87, 192-94, 205-209, 225-29. Aisch. Cho. 172f., 187-91.
270
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
durchaus ihrer euripideischen Schwester gleich - die aischyleische Szene zu spielen und schilt die Schwester als leichtgläubige Törin (920ff.). Das ist, wie bei Euripides, aus dem Verlauf des Stücks und aus dem Charakter der Heldin gut motiviert. Elektra hat gerade den langen und ungemein wirkungsvollen Botenbericht vom Tode des sehnsüchtig erwarteten Bruders anhören müssen (680ff.) und kann der Schwester und ihrer Geschichte mit der Locke nicht glauben! Nur der Zuschauer weiß, daß der Bericht von seinem Tode nur Teil der List ist, mit der Orest seine Rachepläne zu verwirklichen hofft. Zugleich jedoch signalisiert diese Szene Sophokles' Absage an die aischyleische Anagnorisis. Bei ihm finden Bruder und Schwester nicht über äußere Zeichen, wie Locke, Fußspur oder Gewebe zusammen; seine Anagnorisis (1098ff.) wächst, wie es der sophokleischen Tragik entspricht, aus tiefstem Leid und Mitleiden heraus - nicht aus Äußerem also, sondern aus Seelischem60. Orest erkennt seine Schwester im Moment ihrer größten Not, in der langen Klage über der Urne, die für sie den Tod des geliebten Bruders bedeutet (1126ff.); und Elektra öffnet sich dem Fremden, der ihr Bruder ist, aus der Einsamkeit und Isolation ihres Leids, weil dieser Mitleid mit ihr zeigt (1174ff.). Lange vor Agamemnons Siegelring, den Orest schließlich präsentiert und der die Vereinigung der Getrennten „besiegelt" (1222), haben sich Bruder und Schwester an den Gefühlen, die sie füreinander empfinden, erkannt und gefunden61. Ich denke, es ist deutlich, daß nicht nur Euripides, sondern auch Sophokles sich mit dem großen Vorgänger und Vorbild Aischylos kritisch-kreativ auseinandersetzt und daß auch er, wie Euripides, wenn auch in ganz anderer Weise, die aischyleische Gestaltung verwirft und zugleich als Subtext für die eigene Gestaltung fruchtbar macht62.
60
Cf. W. Schadewaldt, Sophokles und das Leid, in: Hellas und Hesperien, 2. Aufl., Stuttgart-Zürich 1970,1,385-401 (zuerst: Potsdamer Vorträge 4,1944). 61 Cf. F. Solmsen, s. o. Anm. 55,29-32. 62 Natürlich ist das intertextuelle Spiel (mit unterschiedlich starkem agonalen Charakter) nicht auf Autoren und Texte derselben Gattung beschränkt; die
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
271
Diese spannende Form des literarischen Wettbewerbs ist für uns natürlich immer dort besonders gut zu beobachten, wo wir, wie im Falle der Elektren (oder mit Einschränkungen im Falle der Philoktet-Dramen 63 der drei großen Tragiker) die verschiedenen Versionen desselben Stoffs miteinander vergleichen können; sie hat aber zweifellos allgemeinere Gültigkeit, da sie sich zwangsläufig aus der Tatsache ergibt, daß alle in der Gattung Tragödie arbeitenden Dichter nicht nur die gleiche Form verwenden und nicht nur für dasselbe Theater produzieren, sondern auch mit demselben mythischen Material arbeiten. Aristoteles, der ja noch die gesamte tragische Produktion des 5. Jhs. überblickt, betont, daß die Entwicklung der Tragödie nicht etwa zu einer kontinuierlichen Erweiterung der von ihr verwendeten Stoffe geführt habe, sondern im Gegenteil zu einer freiwilligen Beschränkung auf eine relativ kleine Zahl als besonders geeignet erkannter Mythen 64 . Immer wieder also Oidipus, Thyestes und Orest, Elektra, Phaidra und Medea - und oft für das gleiche Publikum! Wie bei der kreativen Arbeit mit den strikten formalen Konventionen der Gattung 65 oder mit den für alle identischen Inszenierungsbedingungen 66 , erweist sich auch die stoffliche Beschränkung als besonderer Ansporn zu Kreativität und Originalität. In der Jahr für Jahr gestellten Wettbewerbs-
griechischen Tragiker nutzen neben fremden und eigenen Tragödien vor allem die homerischen Epen als Referenztexte. 63 Grundlegend C.W. Müller, Patriotismus und Verweigerung. Eine Interpretation des euripideischen Philoktet, RhM 135,1992, 104-34. 64 Arist. Poet. 1453a 17-22; 54a 9f. 65 Zwei instruktive Beispiele aus dem „Orestes" seien hier nachgetragen: am Anfang gewinnt die Szene, in der Elektra den Chor bittet, Orest nicht aufzuwecken, auch dadurch ihren Reiz, daß der Zuschauer beim Auftritt des Chores das traditionelle Auftrittslied erwartet (140ff.), und am Ende bietet Euripides statt des konventionellen iambischen Botenberichts die im schrillen Falsett vorgetragene Arie des Phrygers (1369ff.). 66 Zu Euripides' cleverem Spiel mit dem Dreischauspielergesetz oder mit der konventionellen Dauerpräsenz des Chors und seiner Bindung an die Orchestra cf. Winnington-Ingram, s. o. Anm. 20, 130f., und Arnott, s. o. Anm. 35, 53f. und Anm. 29,35-38.
272
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
aufgabe, den alten Stoffen neues Leben einzuhauchen, liegt auch die Herausforderung, Bekanntes in überraschender Beleuchtung zu zeigen, bereits Interpretiertes noch einmal - und wenn möglich, wirkungsvoller - zu interpretieren und sich dabei als besser zu erweisen als die Konkurrenz, raffinierter, einfallsreicher, bedeutungsvoller. Dabei liegt es, wie wir gesehen haben, nahe, die traditionelle Version des Stoffs oder die besondere Variante eines Vorgängers als Subtext zu evozieren, auf dessen Hintergrund Originalität, Qualität und besondere Thematik und Intention der eigenen Arbeit deutlich werden. Walter Jens nennt diese intertextuelle Technik, den Kontrahenten als Folie zu benutzen (um nicht zu sagen zu mißbrauchen) „Schlupfwespentechnik, die den Gast am Ende zum Wirt macht". 67 Die Wiedererkennungsszenen der beiden „Elektren" des Euripides und Sophokles sind instruktive Beispiele für diese Methode, die für uns besonders gut fur Euripides bezeugt ist - sei es aufgrund der eher zufalligen Überlieferung, sei es, weil er besonders intensiv davon Gebrauch gemacht hat. Bevorzugter Schlupfwespenwirt und Gesprächspartner des Euripides ist, wie bereits deutlich geworden ist, Aischylos, und zwar, wie auch bereits deutlich
geworden
ist, immer wieder seine „Orestie". Neben
eher
spielerischer Kritik (z.B. der Anagnorisis) und raffinierter Variation von Details (wie z.B. der Mord-Stichomythie) hat er die monumentale Trilogie wiederholt dazu genutzt, seine Antworten auf die aischyleischen Fragen zu formulieren oder die von ihm konstatierte Veränderung der Welt und des Menschen auf dem aischyleischen Hintergrund grell zu beleuchten. So bietet er in der „Taurischen Iphigenie" seine Lösung für die tragischen Ereignisse und Probleme der „Orestie". Es ist dabei aufschlußreich nicht nur fur Euripides, sondern auch für die Entwicklung der Tragödie und den Geist der Zeit, daß es sich nicht mehr um eine „politische", sondern um eine „private", individuelle Lösimg handelt. Nicht der Freispruch durch die Polis
67
Jens, s. o. Anm. 22, XIII.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
273
mit Hilfe Athenes, sondern die gemeinsame Anstrengung von Schwester und Bruder führt schließlich zu Rettung und Frieden. Zusammen überwinden Iphigenie und Orestes die tragische Vergangenheit der Familie, indem sie den grausigen Kreislauf, in dem der Vater die Tochter, die Mutter den Vater, der Sohn die Mutter und schließlich beinahe die Schwester den Bruder „opfert", durchbrechen und damit ein für alle Mal aufheben 68 . Pessimistischer ist die viel direktere Auseinandersetzung mit der „Orestie" in den beiden späteren Stücken, „Elektra" und „Orestes", mit ihrem radikalen Zweifel an göttlichen und menschlichen Ordnungen und dem mitleidlosen Blick auf moralischen Verfall und menschliche Schwäche. Beide Stücke sind stark geprägt von der dauernden Zwiesprache mit der aischyleischen „Vorlage" 69 . Es ist wohl ein Zufall, aber es ist zweifellos ein signifikanter Zufall, daß Euripides seinen Orestes gerade für den 50. Jahrestag der aischyleischen Orestie verfaßte (408). Offenbar wollte er seinen Landsleuten vor Augen stellen, was
innerhalb von nur zwei
Generationen
aus
Aischylos'
optimistischer Vision einer von den Göttern garantierten Polis- und Rechtsordnung geworden ist, in der sich die tragischen Gegensätze überwinden lassen. Befreit, aber damit auch nicht mehr getragen von den sich ergänzenden
Ordnungen
der Götter und
der Polis
degeneriert
der
aischyleische Orest bei Euripides zum gewöhnlichen Verbrecher, der, um sich an Menelaos zu rächen, weil dieser nicht bereit gewesen ist, ihm zu
68
Zu den vielfaltigen Verbindungen zwischen IT und „Orestie" cf. R. Caldwell, Tragedy Romanticized: The Iphigenia Taurica, CJ 70.2, 1974/75, 23-40; D. Sansone, The Sacrifice Motive in Euripides' Iphigenia in Tauris, TAPhA 105, 1975, 283-95; F. Zeitlin, The Closet of Masks, Role-Playing and Myth-Making in the Orestes of Euripides, Ramus, 9,1980, 51-77,67f. 69 Im „Orestes" finden sich auch interessante Reaktionen auf Sophokles: zur Mordstichomythie cf. o. S. 261; der kranke, zerlumpte Orest mit dem Bogen ist offenbar Euripides' Antwort auf den im Voijahr aufgeführten „Philoktet" des Sophokles; im Falle der beiden Elektren dürfte Sophokles auf Euripides reagieren (zu entscheiden ist die Frage der Priorität allerdings nicht).
274
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
helfen, und um seine Haut zu retten, zu Geiselnahme, Erpressung und Mord bereit ist 70 . Euripides präsentiert die Rachehandlung im zweiten Teil des Stücks als perverse Wiederholung der Ermordung Klytaimestras in der aischyleischen Orestie 71 ; ein Blick auf die parallele Szenenfolge in den „Choephoren" und im „Orestes" zeigt die Raffinesse der literarischen Anspielung, läßt aber zugleich deutlich werden, daß die Evozierung des aischyleischen Stücks nicht etwa spielerischer Selbstzweck ist und nicht nur der agonalen Auseinandersetzung mit Aischylos, sondern der zentralen Aussage des Stücks dient. In beiden Stücken (Cho. 869 ff.; Or. 1296 ff.) stürzt mitten in der Durchführung des Racheplans - und kurz nachdem Todesschreie aus dem Palast gedrungen sind - ein vor Angst zitternder Sklave aus dem Palast und berichtet, was im Hause geschehen ist; in beiden Stücken stürmt gleich darauf Orestes mit blutigem Schwert auf der Suche nach seinem Opfer auf die Bühne. Doch während in den „Choephoren" Klytaimestra sein Ziel ist, verfolgt Orest bei Euripides den Sklaven. In den „Choephoren" folgt, als Klytaimestra um ihr Leben bittet, eine Auseinandersetzung, die kurz vor dem Muttermord Orests ausweglose tragische Situation sichtbar macht; im „Orestes" dagegen folgt ein Gespräch mit dem um sein Leben bettelnden Sklaven, das die ganz und gar untragische Qualität der Situation und des Helden veranschaulicht. Auf dem evozierten Hintergrund des tragischen Höhepunkts der „Orestie" offenbart die groteske Begegnung Orests mit einem feigen, lächerlichen Eunuchen, der zu allem Überfluß dem tragischen Helden auch noch so überlegen ist wie der Sklave der Komödie seinem mit
70 K. Reinhardt, Die Sinneskrise bei Euripides, Neue Rundschau 68, 1957, 615fF. (= Tradition und Geist, Göttingen 1960, 227-56); W. Burkert, Die Absurdität der Gewalt und das Ende der Tragödie, A&A 20,1974, 97-109. 71 Orest macht selber nachträglich auf die Parallele aufmerksam, wenn er 1590 erklärt: „Ich werde nicht aufhören, alle schlechten Frauen zu töten." Cf. G. Perotta, Studi Euripidei II, L'Oreste, SIFC 6, 1928, 102-105; zu Euripides' Arbeit mit der Orestie vor allem im zweiten Teil des „Orestes" vgl. Reinhardt, s. o. Anm. 70, 53739; Burnett, s. o. Anm. 26,205-22 und besonders Zeitlin, s. o. Anm. 68.
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
275
Strafe drohenden Herrn, daß Orest nicht mehr ist, als eine Karikatur seines mythischen und literarischen Selbst72. In den „Phönissen" schließlich verläßt sich Euripides offensichtlich darauf, daß der Zuschauer sich an die aischyleischen und sophokleischen Labdakiden erinnert und seine Helden mit diesem Maßstab mißt. Die radikale Entheroisierung und Entidealisierung von Stoff und Personen läßt sich vor diesem Hintergrund mit Händen greifen. In den Phönissen treiben nicht politisches Verantwortungsbewußtsein und ein unheilvoller Geschlechtsfluch die Oidipussöhne Eteokles und Polyneikes in den Tod, sondern blinde Gier nach Reichtum, Macht und persönlicher Rache; und die Destruktion der großen Heroen des Labdakidenmythos macht auch vor den ehrwürdigen Gestalten des Oidipus Tyrannos nicht halt: vor Kreon, Oidipus und Teiresias73. So präsentiert Euripides auf der Folie der aischyleischen .Sieben gegen Theben" und des sophokleischen .König Oidipus", den wir als das hohe Lied auf die Größe und Gefährdung des Menschen deuten, den Totentanz der Oidipus-Familie vor dem düsteren Hintergrund des Krieges. Er zeigt die mythische Geschichte vom Bruderkrieg und Brudermord als grimme Parabel über die Zerstörung alter Größe und den Verfall politischer Ordnung und moralischer Werte während des nun schon seit 20 Jahren tobenden selbstzerstörerischen Machtkampfs der beiden griechischen Bruderstaaten Sparta und Athen.
Eine solche literarische Technik - wie überhaupt die vielfältigen Formen, die der literarische Wettbewerb zwischen den drei großen und den vielen
72
Cf. B. Seidensticker, s. o. Anm. 25, 101-14; id., The Authenticity of Eur. Or. 1503-1536, in: J. Wiesner (ed.), Aristoteles, Werk und Wirkung, Festschrift Paul Moraux, Band I, Berlin 1985,446-56 (dort auch die ältere Literatur) (= in diesem Bd., S. 109-20); J.R. Porter, Studies in Euripides' Orestes, Leiden-New York-Köln 1994, 215-50. 73 Cf. B. Seidensticker, Die Zerstörung des tragischen Helden bei Euripides, Sitz.ber. und Mitt. der Braunschw. Wiss. Ges. 1982, 51-69, 65-67 (= in diesem Bd., S. 193-216).
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
276
kleinen Tragikern des 5. Jahrhunderts annehmen konnte - setzt ein Publikum voraus, das nicht nur mit den traditionellen mythischen Stoffen, sondern auch mit dem Theater und seinen Regeln, mit der Gattung Tragödie und ihren Gesetzen und mit vielen der aufgeführten Stücke so vertraut ist, daß es die Variationen stofflicher, formaler und thematischer Konventionen ebenso erkennt wie die Anspielungen auf bestimmte Stücke der Vorgänger. Die Existenz eines solchen Publikums, die auf den ersten Blick als ganz unwahrscheinlich erscheinen mag, läßt sich aus einer ganzen Reihe von Beobachtungen und Überlegungen immerhin plausibel machen: Da ist zunächst einmal die Tatsache, daß alleine an den beiden großen Theaterfesten in Athen (d.h. gar nicht zu sprechen von den zahlreichen Aufführungen an den lokalen Dionysosfesten, den sogenannten Kleinen oder Ländlichen Dionysien) in jedem Frühjahr nicht weniger als 13 neue Tragödien (und drei Satyrspiele) aufgeführt wurden, und daß wir annehmen dürfen, daß ein hoher Prozentsatz der athenischen Bürger diese Stücke auch tatsächlich sah. Ein Mann in mittleren Jahren dürfte also ca. 200-300 Tragödien gesehen haben. Der Sachverstand des Publikums der klassischen Tragödie beruhte aber nicht nur auf dem regelmäßigen Besuch der Aufführungen und einem exzellenten visuellen und verbalen Gedächtnis, sondern auch darauf, daß ein nicht unerheblicher Teil der Zuschauer in irgendeiner Funktion selbst an zahlreichen Aufführungen beteiligt gewesen war. Denn: allein für die Großen Dionysien wurden in jedem Jahr, wenn man die großen DithyrambenWettbewerbe mitrechnet, ca. 1200 Choreuten benötigt. Dazu kamen die vielen Helfer für die Anfertigung der Kostüme und Masken sowie für die im 5. Jh. in jedem Jahr neu aufzubauende und zu bemalende Bühne und schließlich die zahlreichen Statisten und Helfer, die für die Aufführungen erforderlich waren.
277
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Aristophanes nennt die athenischen Zuschauer in den „Fröschen" denn auch „Veteranen" 74 , und nicht nur der aristophaneische Wettstreit zwischen Aischylos und Euripides, sondern auch die zahlreichen weiteren Tragödienparodien, die fur Aristophanes und andere Dichter der sogenannten „alten Komödie" bezeugt sind 75 , setzen eben das Publikum voraus, das wir auch für den literarischen Wettbewerb unter den Tragikern erschließen müssen und für dessen Existenz am Ende des 5. Jhs. die aristophaneische Beschreibung der „Veteranen" eine willkommene Bestätigung darstellt (1109-1118) 76 : „Wenn ihr aber fürchtet, an Bildung möchte es eurem Publikum fehlen, zu kapieren eure feinen Hieb' und Redensarten so macht euch deshalb keine Sorgen; es sind gediente Leut. Ein jeder treibt Lektüre und lernt aus Büchern Witz, Geschmack und Ton; von Haus aus gute Köpfe, sind durch Bildung sie geschliffen. Nein, da habt ihr nicht zu fürchten: Schlagt euch wie ihr nur wollt: es richtet euch ein weises Publikum!" In diesen Versen des Chors wird zu den genannten Gründen ein weiterer wichtiger Faktor hinzugefügt: das Buch. Auch wenn
Aristophanes'
Behauptung:, Jeder hat ein Buch" (1114) sicher eine komische Übertreibung ist, so haben wir doch genügend unabhängige Hinweise darauf, daß man in der Tat in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. in zunehmendem Maße die Texte der aufgeführten Stücke auch kaufen konnte 77 . Wir dürfen also durchaus mit einer gewissen Verbreitung der Lektüre dramatischer Texte rechnen; und im 74
Aristoph. Frösche 1113. Grundlegend P. Rau, Paratragodia, Untersuchungen zu einer komischen Form des Aristophanes, München 1967. 76 Übers. Seeger. 77 Testimonia bei E. Turner, Athenian Books in the Fifth and Fourth Centuries, Inaugural Lecture, Univ. College London, London 1951; zur Entwicklung der Buchkultur cf. auch R. Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie, Band 1, Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Reinbek 1970, 43-52; die offenbar bereits im 5.Jh. gültige Charakterisierung des Euripides als intellektueller Bücherwurm mit einer der ersten Privatbibliotheken (Athenaios 1.3 A) hat gewiß einen wahren Kern. 75
278
Die Tragödie als literarischer Wettbewerb
Falle des Aischylos, der, wie wir gesehen haben, eine besondere Herausforderung zur literarisch-agonalen Auseinandersetzung für die jüngeren Tragiker darstellte, kommt hinzu, daß seine Tragödien, im Unterschied zu den Stücken der anderen Tragiker, nach seinem Tode durch einen Beschluß der Volksversammlung wiederaufgeführt werden durften 78 . So liegt zwischen der Auffuhrung der „Orestie" und den beiden „Elektren", die eine gute Kenntnis der aischyleischen Trilogie beim Publikum voraussetzen, nicht etwa fast ein Jahrhundert, sondern wahrscheinlich nur wenige Jahre 79 . Es gibt also keinen Grund zu der Annahme, daß das athenische Publikum die Stücke der Tragiker nicht nur als fromme Weihgeschenke für den Festgott Dionysos erlebten und nicht nur als kritische Diskussion der drängenden politischen und moralischen Probleme der Polis verstanden. Die Zuschauer des 5. Jahrhunderts - oder doch jedenfalls ein nicht unerheblicher Teil von ihnen - waren durchaus imstande, die dramatischen Auffuhrungen an den Dionysien und Lenäen auch als literarischen Wettbewerb ehrgeiziger Künstler zu schätzen und zu beurteilen, die in ständiger Auseinandersetzung mit der Tradition ihrer Gattung und mit den Stücken ihrer toten und lebenden Konkurrenten die klassische griechische Tragödie zu einer der komplexesten Kunstformen des europäischen Abendlandes gemacht haben.
78
Cf. Quint. 10.1.66 (weitere Testimonia und Literatur bei Lesky, s. o. Anm. 50, 69 u. Anm. 9). 79 Cf. R. Cantarella, Aristophanes Plutos 422-25 e le riprese eschilee, RAL ser. 8, 20, 1965, 263-81 (dt. in: H. Hommel (ed.), Aischylos I, Darmstadt 1974 (WdF), 40535; H. Newiger, Elektra in Aristophanes Wolken, Hermes 89,1961,422-30.
Peripetie und tragische Dialektik. Aristoteles, Szondi und die griechische Tragödie* Peter Szondis Versuch über das Tragische erschien 1961.1 In der schmalen, aber gewichtigen Studie analysiert Szondi zwölf Bestimmungen des Tragischen. Seine knappen Kommentare zu ausgewählten Textabschnitten aus philosophischen und ästhetischen Schriften vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jhdts. konzentrieren sich darauf, „die verschiedenen Bestimmungen des Tragischen auf ein mehr oder weniger verdecktes Strukturmoment hin durchsichtig zu machen, das allen gemeinsam ist" (S. 153). Betrachtet werden neben den großen Philosophen des 19. Jhdts. auch Dichter wie Hölderlin, Goethe und Hebbel; die illustre Reihe der Philosophen wird von Schelling und Hegel eröffnet und reicht über Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche bis zu Simmel und Scheler. Das Gemeinsame hinter der bunten Vielfalt der Erscheinungsformen, die die Bestimmung des Tragischen in den metaphysischen und ästhetischen Systemen des deutschen Idealismus und bei den Denkern der nachidealistischen Ära annimmt, sieht Szondi in der dialektischen Struktur, „welche alle Bestimmungen des Tragischen von Schelling bis Scheler als deren einzige Konstante durchzieht" (S. 205). Zur Verdeutlichung dieser These sei an zwei der von Szondi behandelten Theorien erinnert. In Hegels Dialektik der Sittlichkeit wird die dialektische Bewegung durch das folgenreiche Prinzip der ,3esonderung" angestoßen, dem alles unterworfen ist und durch das, wie es in der Ästhetik heißt, „die sittlichen Mächte wie die handelnden Charaktere unterschieden
* Die Vortragsform ist beibehalten; die Anmerkungen sind - besonders im 2. Teil - auf das Notwendigste beschränkt; für Hilfe und Kritik danke ich besonders Chr. Wildberg, P. Habermehl und D. Bremer. 1 Zitiert wird nach dem Wiederabdruck der Studie in P. Szondi, Schriften I. Frankfurt am Main (Suhrkamp stw 219) 1978,151-260 (= Szondi 1978).
280
Peripetie und tragische Dialektik
sind in Rücksicht auf ihren Inhalt und ihre individuelle Erscheinung." 2 Daraus folgt, daß individuelles Handeln in seiner einseitigen Isolierung bei dem Versuch der Verwirklichung des eigenen Zwecks „nothwendig das entgegengesetzte Pathos gegen sich aufreizt und dadurch unausweichliche Konflikte herbeileitet." „Das ursprünglich Tragische besteht nun" - fahrt Hegel fort - „darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie anderer Seits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleich berechtigten Macht durchzubringen im Stande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld gerathen." Inhaltlich ganz anders bestimmt und doch verwandt in der dialektischen Grundstruktur
erscheint
das
Tragische
am
Ende
der
Szondischen
„Versuchsreihe", in der Definition Schelers: „Im ausgesprochensten Sinne tragisch ist es [...], wenn ein und dieselbe Kraft, die ein Ding zur Realisierung eines hohen positiven Wertes (seiner selbst oder eines anderen Dinges) gelangen läßt, auch im Verlaufe dieses Wirkens selbst die Ursache für die Vernichtung eben dieses Dinges als Wertträger wird." 3 Auch wenn in einzelnen Fällen die Analysen Szondis als zu stark von seinem Beweisziel geprägt erscheinen, ist das Ergebnis der „Ubiquität des dialektischen Moments" (S. 207) insgesamt doch überzeugend. Szondi glaubt, damit eine Basis für einen generellen Begriff des Tragischen gefunden zu haben. Er sieht seine Auffassung auch dadurch bestätigt, daß die dialektische
Struktur
des
Tragischen
nicht
dem
philosophischen
Gesichtspunkt vorbehalten ist, sondern, wie der Blick auf Walter Benjamins Ursprung des deutschen
Trauerspiels
zeigt, auch einer geschichtsphilo-
sophischen Analyse des Phänomens vertraut ist, die ausdrücklich gegen eine zeitlose, an keine geschichtliche Lage gebundene, allgemeine Idee des
2 3
G. W. F. Hegel, Jubiläumsausgabe XIV 529. Scheler 1955: 158.
Peripetie und tragische Dialektik
281
Tragischen polemisiert.4 Und schließlich nimmt Szondi, bevor er die Fruchtbarkeit seiner These durch die Interpretation ausgewählter Tragödien dokumentiert, noch eine weitere gewichtige Autorität als Gewährsmann für die Richtigkeit seiner Auffassung in Anspruch: „Die Bedeutung des dialektischen Moments fur den Begriff des Tragischen ergibt sich aber auch daraus, daß er schon dort faßbar wird, wo noch gar nicht vom Tragischen, sondern von der Tragödie als konkretem Kunstwerk die Rede ist: in der Poetik des Aristoteles und bei seinen Schülern." (S. 205) Die folgenden Überlegungen dienen im Wesentlichen zwei Zielen: sie sollen erstens zeigen, daß Szondi, auch wenn seine Begründung nicht akzeptiert werden kann, durchaus recht hat: Aristoteles' Poetik ist in der Tat der erste theoretische Text, der der dialektischen Qualität des Tragischen Rechnung trägt. Die Form, in der sie im aristotelischen System der Handlungstragödie erscheint, ist die Peripetie. Diese Konzeption und die mit ihr verbundenen Probleme werden deshalb im ersten Teil des Vortrage noch einmal analysiert. Zweitens geht es mir darum zu dokumentieren, daß mit dem dialektischen Moment ein wesentlicher Aspekt der klassischen griechischen Tragödie erfaßt ist. Ein Blick auf die erhaltenen Stücke der großen Drei bildet den zweiten Teil des Vortrags. Im Mittelpunkt steht Sophokles. I Szondi begründet seine These, daß bereits bei Aristoteles die dialektische Struktur des Tragischen faßbar sei, mit dem Verweis auf zwei Stellen der Poetik. Einen ersten Anknüpfungspunkt glaubt er im Zentrum der aristotelischen Theorie, im 13. Kapitel, gefunden zu haben. ό μεταξύ αρα τούτων λοιπός, εστι δέ τοιούτος ό μήτε άρετή διαφέρων και δικαιοσύνη μήτε δια κακίαν καί μοχθηρίαν μεταβάλλων εις την 4
Benjamin 1974: 202-430; dazu Szondi 1978: 200-205.
282
Peripetie und tragische Dialektik
δυστυχίαν άλλα δι' άμαρτίαν τινά, των έν μεγάλη δόξη δντων και εΰτυχίςι, οίον Οιδίπους και Θυέστης και οι έκ των τοιούτων γενών έπιφανεΐς άνδρες, άνάγκη άρα τον καλώς έχοντα μΰθον άπλοΰν είναι μάλλον ή διπλούν, ώσπερ τινές φασι, και μεταβάλλειν οΰκ εις εύτυχίαν έκ δυστυχίας άλλά τουναντίον έξ ευτυχίας εις δυστυχίαν μή δια μοχθηρίαν άλλά δι' άμαρτίαν μεγάλην ή οίου εΐρηται ή βελτίονος μάλλον ή χείρονος. (1453a7-17) der Suche nach dem Handlungstypus, der am ehesten sich eignete, Furcht und Mitleid zu erregen, gelangt Aristoteles zu der Forderung, daß die Peripetie nicht infolge sittlicher Verworfenheit eintreffe, sondern infolge eines schweren Vergehens einer Person von mittlerer Beschaffenheit oder doch eher einer besseren als einer schlechteren" (S. 205). Szondi versteht die aristotelische Definition der idealen Form der Tragödienhandlung so, als ob „hier die Verschuldung dialektisch aus einer freilich nur angenäherten Tugendhaftigkeit hervorgehen soll" (S. 205f.). Diese Erklärung des Genitivs, mit dem Aristoteles das Subjekt der Hamartia bestimmt (1453a 16f.), beruht jedoch, wie die unmittelbar vorangehende Bestimmung des sogenannten mittleren Helden (1453a 7ff.) und der Wurzel seines Unglücks zeigt, auf einem Mißverständnis. Aristoteles bestimmt den idealen Handlungsträger der Tragödie bekanntlich als „denjenigen, der sich auf der einen Seite nicht durch sittliche Vollkommenheit und besonderen Gerechtigkeitssinn auszeichnet und der andererseits nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern infolge eines Fehlers." „Auf
Die beiden durch μήτε - μήτε miteinander verbundenen Partizipien (1453a 8f.) dienen dazu, zwei durchaus getrennte Bedingungen für die besondere Wirkung der Handlung gleichrangig nebeneinander zu stellen. Die erste bestimmt das Ethos des Helden, die zweite bezeichnet die Ursache seines Untergangs. Der Held, dessen Unglück die Tragödie präsentiert, darf erstens nicht perfekt sein, und zweitens darf sein Sturz nicht durch seine Verderbtheit ausgelöst werden, sondern muß als das zwangsläufige Ergebnis einer Hamartia erscheinen. Aristoteles stellt also gerade keine zwingende
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ursächliche Verbindung her zwischen der ethischen Qualität des zentralen Handlungsträgers und seiner die Katastrophe auslösenden Verfehlung. Das muß wohl nicht heißen, daß die Hamartia nicht die Folge eines moralischen 'Defekts' des Helden sein kann·, von einem kausal-dialektischen Zusammenhang zwischen der überdurchschnittlichen Qualität des Helden und seinem Untergang, wie Szondi meint, kann jedoch weder hier noch an anderer Stelle der Poetik die Rede sein.5 Auch der zweite Passus der Poetik, den Szondi als Beweis dafür anführt, daß bereits Aristoteles die Bedeutung des dialektischen Moments erkannt habe, vermag seine These nicht zu stützen: ποία οΰν δεινά ή ποΐα οικτρά φαίνεται των συμπιπτόντων, λάβωμεν. άνάγκη δή ή φίλων εΐναι προς αλλήλους τάς τοιαύτας πράξεις ή έχθρων ή μηδετέρων. αν μεν οΰν έχθρός έχθρόν, ούδέν έλεεινόν οϋτε ποιών οΰτε μέλλων, πλην κατ' αυτό τό πάθος· οΰδ' αν μηδετέρως εχοντες· δταν δ' έν ταΐς φιλίαις έγγένηται τά πάθη, οΐον ή αδελφός άδελφόν ή υίός πατέρα ή μήτηρ υϊόν ή υίός μητέρα άποκτείνη ή μέλλη ή τι άλλο τοιούτον δρφ, ταΰτα ζητητέον. (1453b 14-22) Der aristotelischen Beobachtung, daß der Zuschauer die schmerzhaften und zerstörerischen Aktionen und Ereignisse des dramatischen Stoffs dann mit besonderer Erschütterung und Rührung verfolge, „wenn sie in freundschaftliche Verhältnisse eintreten" (so seine Übersetzung von 1453b 19f.: δταν δ' έν φιλίαις έγγένεται τά πάθη), glaubt Szondi „eine besondere Stellung der Dialektik von Haß und Liebe" (S. 206) abgewinnen zu können. Doch abgesehen davon, daß Aristoteles hier, wie seine Beispiele zeigen, mit φιλίαι im engeren Sinne 'familiäre Nahverhältnisse' bezeichnet, kann von 5
Fuhrmann 1976: 67 Anm. 6 stellt treffend fest: „Die hamartia geht offensichtlich nicht unmittelbar aus einer Charakterschwäche hervor (der 'zwischen' den Extremen stehende Held gerät ja nicht wegen seiner Schlechtigkeit ins Unglück): andererseits scheinen eine mehr oder minder durchschnittliche Beschaffenheit des Charakters und die Möglichkeit eines Fehlgriffs einander zu bedingen." Zur Hamartia zuletzt: Schütrumpf 1989 (dort auch in Anm. 1 die neuere Lit.).
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Peripetie und tragische Dialektik
einem eigentlichen dialektischen Verhältnis von φιλία und έχθρα nicht gesprochen werden. 6 Anders als bei den von Szondi (S. 206) als Parallelen herangezogenen Formulierungen Lessings und Schillers spricht Aristoteles ja keineswegs davon, daß hier - wie es bei Schiller heißt - „selbst das Gute Schaden stiftet." 7 Mit größerem Recht hätte Szondi sich auf eines der gegen Ende desselben Kapitels von Aristoteles angeführten Beispiele für die wirkungsvollste tragische Konstellation berufen können. 1454a 5ff. erklärt Aristoteles, daß die größte Wirkung dann erzielt werde, wenn die in Unkenntnis der wahren Verwandtschaftsverhältnisse in Angriff genommene Tat im letzten Moment durch die Wiedererkennung verhindert wird, und führt als Beispiel, neben der Iphigenie
bei den Tauriern und einem uns gänzlich unbekannten Helle-
Drama, den Kresphontes des Euripides an. 8 In diesem Stück will Merope den fremden Jüngling deswegen töten, weil sie ihn für den Mörder des geliebten Sohnes halten muß. Hier droht die tragische Ermordung des eigenen Kindes wider
Erwarten
und doch
mit Notwendigkeit
aus
leidenschaftlicher
Mutterliebe zu erwachsen, und die Parallele zu der von Szondi angeführten dialektischen Modellhandlung Lessings liegt auf der Hand: „Warum sollte es einem Dichter nicht freistehen können, um unser Mitleiden gegen eine so zärtliche Mutter auf das Höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit selbst unglücklich werden zu lassen?" 9 Allerdings liegt der Akzent bei Aristoteles nicht auf der dialektischen Bewegung des Stücks, so daß auch diese Stelle der Poetik nicht als Beweis dafür geltend gemacht werden kann, daß Aristoteles tatsächlich, wie Szondi
6
Allenfalls könnte man davon sprechen, daß die von Aristoteles favorisierten dramatischen Konstellationen dadurch eine gewisse paradoxe Spannimg gewinnen, daß sich das Furchtbare gerade dort vollzieht, bzw. zu vollziehen droht, wo es nicht zu erwarten ist und wo es am wenigsten geschehen dürfte. 7 Kettner 1894: 210. 8 Zum Kresphontes des Euripides vgl. Harder 1985. 9 G.E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Stück 38, in: G.E. Lessing, Werke, ed. J.Petersen, Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart o.J., 5. Teil, 171f.
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behauptet, die Bedeutung des dialektischen Moments für die Tragödie erkannt hat. Und doch hat Szondi recht. Aristoteles kann in der Tat als der erste Theoretiker der dramatischen Dialektik gelten - als ihr πρώτος εύρετής; und angesichts der zentralen Bedeutung, die seine Poetik der dramatischen Handlung zuweist, verwundert es nicht, daß das Konzept als Strukturelement der Tragödienhandlung erscheint. Die Definition der Peripetie als „überraschender, aber dabei ursächlicher Umschlag von Handlungen in ihr Gegenteil" (1452a 22f.) ist eindeutig dialektisch gedacht. Eindeutig ist die dialektische Qualität der aristotelischen Peripetie allerdings nur dann, wenn man von der in meiner freien Übersetzung realisierten Auffassung der umstrittenen Definition ausgeht. Diese muß daher im Folgenden zunächst einmal als richtig, oder doch plausibel, erwiesen werden. Aristoteles betont die besondere Bedeutung der Peripetie für die Tragödie das erste Mal im 6. Kapitel (1450a 33fF.). Ohne die beiden Termini zu definieren, bezeichnet er Peripetie und Anagnorisis als Elemente der dramatischen Fabel (μέρη του μύθου), die von ganz besonderer Bedeutung für die emotionale Wirkung der Tragödie seien (1450a 33-35). Im 10. Kapitel (1452a 14-18) nimmt er die beiden Begriffe wieder auf, um die beiden Strukturformen der Tragödie gegeneinander abzugrenzen: die einfache Handlung (άπλή) ohne Peripetie oder Anagnorisis und die komplexe, verwickelte, verschlungene Handlung (πεπλεγμένη), in der sich der Übergang vom Glück ins Unglück bzw. umgekehrt, mit Anagnorisis oder Peripetie oder mit beiden vollzieht. Erst dann folgen im 11. Kapitel Definition und nähere Erläuterung der beiden Begriffe. Die Definition der Peripetie lautet: Έστι δε περιπέτεια μέν ή εις τό έναντίον των πραττομένων μεταβολή καθάπερ εΐρηται, και τοΰτο δέ ώσπερ λέγομεν κατά τό εικός ή άναγκαΐον, οΐον έν τω Οΐδίποδι έλθών ώς εΰφρανών τον Οΐδίπουν και άπαλλάξων του προς την μητέρα φόβου, δηλώσας δς ην, τουναντίον
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έποίησεν. και έν τφ Λυγκεϊ ό μεν άγόμενος ώς άποθανούμενος, ό δέ Δαναός ακολουθών ώς άποκτενών, τον μέν συνέβη έκ των πεπραγμένων άποθανεϊν, τον δέ σωθηναι. (1452a 22-29) „Die Peripetie ist der Umschlag von Handlungen, die mit einer bestimmten Absicht (oder Erwartung) unternommen wurden, in das Gegenteil, in der besprochenen Form, und zwar, wie wir sagen, gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit, wie ζ. B. ..." Es folgen zwei Beispiele, die allerdings eher für Verwirrung gesorgt als zur Klärung der Definition beigetragen haben. Ein Blick auf die komplexe Geschichte der Deutung der Definition seit der Renaissance zeigt schnell, daß bis auf den eindeutigen zweiten Zusatz „und dies nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit" alle Elemente der Definition unterschiedliche Deutungen erfahren haben. Die bunte Vielfalt der Übersetzungen, Paraphrasen und Erläuterungen läßt sich jedoch auf zwei Positionen reduzieren, die letztlich auf ein unterschiedliches Verständnis des partizipialen Genitivs των πραττομένων zurückgehen. Die erste der beiden Positionen betrachtet πραττομένων als weitgehend identisch mit γιγνομένων. Ihre Anhänger verstehen die Peripetie folglich als Umschlag der Situation, der Ereignisse, der Handlung, des Handlungsverlaufs. Diese Auffassung ist jahrhundertelang - bis zu Johannes Vahlen10 fast konkurrenzlos geblieben, aber auch in neuerer Zeit hat sie - vor allem durch Elses monumentalen Kommentar11 - die Mehrheit der Kritiker auf ihrer Seite. Die Probleme, die diesem Verständnis des aristotelischen Textes entgegenstehen, sind jedoch nicht unerheblich. Dabei ist es von geringerer Bedeutung, daß die Parallelen, die für die behauptete Identität von πραττόμενα und γιγνόμενα angeführt werden, nicht zwingend sind. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der Else und andere dennoch von der Gleichung ausgehen, muß immerhin festgestellt werden, daß in 1452a
10 11
Ein Ansatz zu Vahlens Deutung findet sich bereits bei Pye 1792: 196f. Else 1957.
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287
28ff. έκ των πεπραγμένων sich keineswegs auf die gesamte Kette der vorangegangenen dramatischen Ereignisse beziehen muß, sondern sehr wohl als unmittelbare Folge dessen, was Danaos mit einer bestimmten Absicht unternommen hat, verstanden werden kann;12 und in 1455a 24f. legt m. E. der Kontext ebenfalls die engere spezielle Bedeutung von πραττόμενα nahe: am Anfang des 17. Kapitels heißt es, der Dichter solle sich bei der Konstruktion der Fabel und bei der sprachlichen Ausarbeitung der einzelnen Szenen die darzustellenden dramatischen Vorgänge so plastisch wie möglich vor Augen rücken. Fehler könne er nur dann vermeiden, wenn er beim Schreiben gleichsam zum Zuschauer oder gar Mitspieler werde: Δει δέ τους μύθους συνιστάναι και τη λέξει συναπεργάζεσθαι δτι μάλιστα προ ομμάτων τιθέμενον ούτω γαρ αν έναργέστατα [ό] όρων ώσπερ παρ' αϋτοΐς γιγνόμενος τοις πραττομένοις εύρίσκοι τό πρέπον και ήκιστα άν λανθάνοι [τό] τά ΰπεναντία. (1455a 22-26) Ich denke, Aristoteles hat auch an dieser Stelle τά πραττόμενα nicht als Synonym fur τά γιγνόμενα verwendet (etwa weil das allgemeinere γιγνόμενα neben παρ' αΰτοΐς γιγνόμενος stilistisch nicht möglich war), sondern in der präzisen Bedeutung „das, was von den Akteuren getan wird": α πράττεται υπό πραττόντων. Der Beweis, daß Aristoteles tatsächlich das für seine Tragödientheorie zentrale Verb πράττειν auch in Zusammenhängen verwendet hat, wo γίγνεσθαι möglich oder angemessen wäre, kann also mit den beiden angeblichen Parallelstellen nicht erbracht werden.13 Auf diese Weise ist die Deutung von μεταβολή των πραττομένων als „Umschlag der Situation oder der dramatischen Ereignisse" nicht zu sichern. Ein zweiter Einwand ist von größerem
Gewicht. Die
„weite"
Interpretation des Kernstücks der Definition, sei es als „Glückswechsel" (so
12
So denn auch Vahlen 1866: 6f.; Lucas 1968: 128, betrachtet των πεπραγμένων in 1452a 19 als synonym mit των προγεγενημένων in 1452a 19. 13 Cf. Glanville 1947: 76 Aran. 3: Allan 1976: 348.
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z.B. Kommerell 1 4 ), sei es als Umschlag der Ereignisse bzw. Handlung (so z.B. Else 1 5 ), muß den Zusatz ε ι ς τό έ ν α ν τ ί ο ν zwangsläufig als Umschlag vom Glück ins Unglück bzw. vom Unglück ins Glück verstehen. Diese Auffassung ist jedoch sprachlich nicht natürlich und logisch nicht sauber. Denn so verstanden bezeichnet τό έ ν α ν τ ί ο ν nicht, wie zu erwarten, den Gegensatz der πραττόμενα, die eine μ ε τ α β ο λ ή erfahren, sondern den Gegensatz zu einem in der Definition nicht genannten
Glückszustand,
ε υ τ υ χ ί α bzw. ά τ υ χ ί α . Es würde sich also handeln um den Umschlag von X in das Gegenteil von Y. Der normale Sprachgebrauch und die Wortstellung von των πραττομένων, dessen Mittelstellung der Doppelbeziehung auf μ ε τ α β ο λ ή und auf ενς τό έ ν α τ ν ί ο ν dient, 1 6 sprechen dagegen fur die Bedeutung „Umschlag der π ρ α τ τ ό μ ε ν α in ihr Gegenteil (d.h. in das Gegenteil der Prattomena)." Schließlich hat die weite Interpretation der Peripetie-Definition noch ein weiteres Problem zur Folge. Sie läßt die aristotelische Definition der Peripetie ohne (d.h. zumindestens ohne explizite) differentia s p e c i f k a gegenüber der Metabasis. 1 7 Es stellt sich die Frage, wie Aristoteles denn, wenn er die Peripetie tatsächlich als Glücksumschlag oder Umschlag der Handlung definiert, die besondere Form des Handlungsumschlags (Peripetie), durch die die 'verflochtene' Handlungsstruktur ( π ε π λ ε γ μ έ ν η ) geprägt ist, von dem allgemeinen Glückswechsel (Metabasis) unterscheidet, der den 14
Kommerell 1940 (s1984): 178ff. Else 1957: 344. Vahlen 1866: 6; Glanville 1947: 74 Anm. 3, verweist als aristotelische Parallele auf Cat. 14.7: ή εις τό έναντίον του ποιου μεταβολή „where similarly του ποιοϋ may depend on either έναντίον or μεταβολή or both." 17 Vahlen 1866: 8; die vermißte differentia specifica könnte in der Bezeichnung der Peripetie als Metabole liegen, wenn Fuhrmann 1976: 62 Anm. 3, recht hätte, daß μεταβολή im Unterschied zu μετάβασις „auf einen jähen, durch Szenen von konzentrierter Wucht bedingten Umschwung verweist". Das ist jedoch angesichts von 1452a 16f. und angesichts der Verwendung von μεταβάλλειν in der Poetik nicht überzeugend; (cf. auch Halliwell 1986: 286 Anm. 7); eher liegt der Charakter des Plötzlichen, Überraschenden der Wende im Begriff περιπέτεια selbst (cf. Bywater 1909: 198f.). 15
289
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Verlauf jeder Tragödie bestimmt. Der Versuch, das fehlende Element der Definition aus dem Zusatz καθάπερ έιρηται zu gewinnen, 18 vermag nicht zu überzeugen. Es ist zwar wahrscheinlich (wenn auch keineswegs sicher), daß sich der Verweis auf das Ende des 9. Kapitels bezieht (1452a 4), den Umschlag also als „unerwartet, aber stringent" (παρά την δόξαν δι' αλληλα) spezifizieren soll. 19 Andererseits ist es nur schwer vorstellbar (und zwar selbst in der stilistisch gewiß nicht durchgefeilten Poetik),
daß
Aristoteles
das
den
entscheidenden
Bestandteil
der
Definition, der
Spezifikum der definierten Sache bezeichnet, in einem vagen Rückverweis versteckt hat. Parallelen für eine solche Form der Definition dürften schwer zu finden sein. Wahrscheinlicher ist es, daß ein derartiger Rückverweis ein zusätzliches wichtiges Charakteristikum, das schon in anderem Zusammenhang zur Sprache gekommen ist, erinnernd hinzufugt. Sind schon diese Einwände, wie mir scheint, von erheblichem Gewicht, so verliert die
'weite'
Interpretation der Peripetie noch weiter
an
Überzeugungskraft, sobald man den Blick auf die beiden aristotelischen Beispiele richtet. Aristoteles nennt 1452a 24-29 erstens das vierte Epeisodion des sophokleischen Oidipus Tyrannos mit dem Auftritt des Boten aus Korinth, der Oidipus zunächst mit der Nachricht von seiner Thronfolge in Korinth, dann mit der Mitteilung, daß er nicht Meropes Sohn sei, erfreuen will und ihn doch gerade in Folge seiner guten Absichten und gerade mit diesen Informationen ins Verderben stürzt; und zweitens den dramatischen Höhepunkt des Lynkeus des Theodektes, als Lynkeus von Danaos in den scheinbar sicheren Tod geführt, dann aber überraschend gerettet wird, während der Täter Opfer seines eigenen Handelns wird. Beide Beispiele beschreiben offensichtlich nicht - oder doch nicht explizit - den Umschlag der dramatischen Handlung, sondern bestimmter einzelner
Handlungen;
beide bezeichnen den Umschlag deutlich als den Umschlag bestimmter Aktionen in ihr Gegenteil; in beiden Fällen schließlich legt die sprachliche 18 19
Cf.z.B. Else 1957: 344f. 1452a 1-4; cf. dazu u. S. 292f.
290
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Formulierung den Akzent offenbar darauf, daß die Handlung gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bewirken sollte oder zu bewirken schien.2® Die Beispiele sprechen also eindeutig für die engere Auffassung der aristotelischen Peripetie, die Johannes Vahlen 1866 in den Beiträgen zur aristotelischen Poetik der communis opinio entgegenstellte. Vahlen versteht πραττόμενα als ά πράττεται (έπράττετο) ΰπό των πραττόντων und trägt der präzisen Bedeutung von πράττει ν in der aristotelischen Handlungs- und Tragödientheorie Rechnung. Daraus folgt seine These: „Bei πραττόμενα ist nicht an πράξις und πράγματα, an Ereignis oder Situation, zu denken, sondern gemeint ist das, was man that oder thut zu einem bestimmten Zweck, das allerdings nicht diesen, sondern den gerade entgegengesetzten zur Folge hat."21 Daß auch Vahlens 'enge' Interpretation kritische Fragen aufwirft, sei nicht verschwiegen; diese erweisen sich bei näherer Betrachtung jedoch als weit leichter beantwortbar als die oben behandelten Einwände gegen die 'weite' Deutung der Definition. So beruht der kritische Hinweis darauf, daß man nur im ersten der beiden Beispiele von einer Umkehrung der Intention sprechen könne, da Lynkeus ja wohl kaum die Absicht habe, getötet zu werden, auf einer allzu wörtlichen Übersetzung der Formulierung ώς άποθανούμενος (1452a 27). Die Schwierigkeit für die Wiedergabe dieser Worte in den modernen Sprachen entsteht, wie Schrier kürzlich zu Recht betont hat,22 daraus, daß die intentionale Konstruktion ώς + Part. Futur (1452a 27ff.) um der pointierten Parallelisierung willen von einer passiven Verbform abhängt (ό μεν άγόμενος). Das ändert aber nichts daran, daß das als Passiv zu άποκτείνω gebrauchte, scheinbare Aktiv άποθανούμενος wie sein Pendant άποκτενών eine Intention impliziert, und zwar die Intention des logischen Subjekts der
20
'Εναντίον έποίησεν in 1452a 26 gilt sinngemäß auch für das zweite Beispiel. Vahlen 1866: 6; im Anschluß an Vahlen dann Lock 1895: 251-53; Butcher 1951: 323 Anm. 2; Lucas 1923: 98-104; id. 1957: 91-105; Atkins: 1934: I 91; House 1956: 96. 22 Schrier 1980: 102; zustimmend Belfiore 1988: 186. 21
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Aktion, d.h. des Danaos. Eine mögliche Übersetzung ins Deutsche, die das zum Ausdruck bringen könnte, wäre: „Der eine , der weggeführt wird, um getötet zu werden" (oder: „mit dem Ziel, getötet zu werden"). Im übrigen kann die von Aristoteles in beiden Beispielen für die in Angriff genommene Handlung verwendete Konstruktion ώς + Part. Futur neben der Intention (um zu...) auch die Erwartung des Handelnden zum Ausdruck bringen, so daß man die erste Hälfte des zweiten Beispiels auch so verstehen kann: „der eine wird abgeführt in der sicheren Erwartung, sterben zu müssen (mit dem sicheren Tod vor Augen)." 23 Ein zweiter Einwand gegen die These Vahlens besitzt kaum mehr Durchschlagskraft. Seit Bywater ist wiederholt moniert worden, daß die Peripetie, wenn man von Vahlens Auffassung ausgehe, im ersten der beiden Beispiele als Peripetie einer unbedeutenden Nebengestalt erscheine und nicht, wie man erwarten müsse, als Wende im Leben und Schicksal des bzw. der Helden. 24 Hier zeigt sich, daß Vahlens These dadurch Schaden genommen hat, daß sie häufig - und zwar nicht nur von seinen Gegnern - auf die mißverständliche Kurzformel „reversal of intention" reduziert worden ist. Es muß deshalb festgehalten werden, daß Vahlen nicht etwa von der Verkehrung einer Intention spricht, sondern an den Umschlag
von
Handlungen denkt, die mit einer bestimmten Absicht (bzw. Erwartung) in Angriff genommen werden. Solche in ihr Gegenteil
umschlagenden
Handlungen versteht er als „die Form oder das Mittel, durch das die Wende der dramatischen Handlung vom Glück ins Unglück oder umgekehrt vom Unglück ins Glück eintritt." 25 Träger von Peripetiehandlungen, wie man solche Teilhandlungen im Unterschied zur Gesamthandlung des Stücks nennen könnte, können folglich auch eine Nebenfigur (wie der korinthische
23 Cf. dazu z.B. Lucas 1968: 129; zur Bedeutung der Konstruktion ώς + Futur in 1452a 25ff. vgl. auch Allan 1976: 345, und besonders Schrier 1980: lOlf. 24 Bywater 1909: 201; Lucas 1968: 129,131. 25 Vahlen 1866: 7.
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Bote im 0 7 ) oder der Gegenspieler des Titelhelden (wie Danaos im Lynkeus) sein, vorausgesetzt, es sind die Hauptfiguren, die von den Konsequenzen der Aktionen betroffen sind. 26 Genau das ist aber in beiden Beispielen der Fall. Für Vahlens Auffassung sprechen aber nicht nur die beiden Beispiele, sondern auch die Tatsache, daß sie eine klare definitorische Trennung von Metabasis und Peripetie erlaubt, indem sie die Peripetie nicht ganz allgemein als „Glückswechsel" oder „Handlungsumschwung", sondern als Mittel oder Instrument versteht, durch das - wie durch einen Katalysator - die Metabasis herbeigeführt wird, d.h. als ein spezifisches Bauelement, dessen Verwendung der dramatischen Struktur des Stücks eine besonders wirkungsvolle Form verleiht. Die beiden Zusätze καθάπερ ειρηται und καί τοΰτο δε ώσπερ λέγομεν κατά τό εικός ή τό άναγκαΐον (1452a 23f.) bestimmen den dramaturgischen Kunstgriff des Umschlags von Handlungen in ihr Gegenteil genauer. Dabei läßt sich leider nicht mit Sicherheit entscheiden, worauf sich καθάπερ εϊρηται bezieht. Vahlen sah darin einen Rückverweis auf die am Ende des 7. Kapitels im Rahmen der Definition des Tragödienumfangs (1451a 1 Iff.) zum ersten Mal getroffene Feststellung, daß die Handlungskurve einer Tragödie entweder vom Glück ins Unglück oder umgekehrt vom Unglück zum Glück fuhren könne. 27 Als Bestätigung fur diese Ansicht konnte er immerhin auf die parallele Definition der Anagnorisis 28 und darauf verweisen, daß jede der beiden Richtungsmöglichkeiten des Umschwungs von Aristoteles durch je ein Beispiel illustriert wird. 29 Wahrscheinlicher ist aber doch die seit Else 30
26
So richtig Allan 1976: 346; Schrier 1980: 109f.; Halliwell 1986: 212 mit Anm.
15. 27
Vahlen 1866: 7; Fuhrmann 1976: 63, schließt sich an. 1452a 29-31. 29 OT: εις άτοχίαν; Lynkeus: εις εϋτυχίαν. 30 Else 1957: 344f.; vorher bereits Glanville 1947, die sich auf einen unpublizierten Vortrag Cornfords stützt, und schon 1789 Th. Twining ad loc.; zu den verschiedenen Vorschlägen Allen 1976: 338-341; ein weiterer Vorschlag jetzt bei Belfiore 1988: 189f. 28
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von den meisten Kritikern favorisierte Beziehung auf das Ende des 9. Kapitels (1452a 4). Dort betont Aristoteles, daß die Tragödie dann die größte Wirkung erziele, wenn die Schrecken und Mitleid erregenden Handlungen und Ereignisse einerseits überraschend (παρά την δόξαν), andererseits aber ursächlich miteinander verknüpft seien (δι' άλληλα). Die paradoxe Qualität der Peripetie ist im Kern der Definition bereits impliziert, jedenfalls wenn man είς τό έναντίον των
πραττομένων
μεταβολή im Vahlenschen Sinne versteht. Denn daß eine mit einer bestimmten Absicht unternommene Handlung das genaue Gegenteil dessen bewirkt, was sie bewirken sollte, ist natürlich für den Handelnden (wie für den Betrachter)31 überraschend. Die zweite Forderung des Rückverweises, daß der unerwartete Umschlag sich zwingend aus den Prämissen der Handlung ergeben müsse (δι' άλληλα), da so die ironische Paradoxie besonders wirkungsvoll sei, präzisiert Aristoteles im zweiten Zusatz: και τοΰτο δέ ώσπερ λέγομεν κατά τό εικός ή τό άναγκαίον. Wie alle Elemente der dramatischen Fabel ist also auch die Peripetie den strengen Gesetzen von Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit unterworfen. Auf der Basis der vorangegangenen Überlegungen spricht also manches dafür, daß Aristoteles - wie eingangs behauptet - die Peripetie als den überraschenden, dabei aber ursächlich zwangsläufigen Umschlag einer Handlung (oder auch mehrerer Handlungen) in ihr Gegenteil verstanden wissen will. Es ist mir eine willkommene Bestätigung, daß auch Gerald Else in seiner letzten Publikation sich dieser Auffassung angeschlossen oder doch genähert hat. In der von Peter Burian edierten posthumen Studie Plato and Aristotle on Poetry betont er bei der Behandlung der Peripetie ausdrücklich die 31
Dazu, daß Aristoteles bei παρά την δόξαν keine klare Trennung zwischen der Erwartung der dramatischen Personen und der Erwartung des Publikums macht, cf. Lucas 1962: 52-57, und Schrier 1980: 113-116.
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programmatisch-terminologischen Konnotationen von πράττειν als „to be pursuing a certain course or policy" und übersetzt die aristotelische Definition ganz anders als im Kommentar mit „a shift of what is being practiced to its opposite"; 32 im Kommentar hieß es dagegen noch „a shift of the action towards the opposite pole." 33 Es verdient festgehalten zu werden, daß die aristotelische Definition der Peripetie sehr offen gefaßt ist. Das allgemeine των πραττομένων läßt den Träger der Peripetiehandlung unbestimmt und deckt auch Umschwünge von Handlungen, die nicht von zentraler Bedeutung für das Stück sind. Hinzu kommt, daß es sich um eine oder mehrere Aktionen handeln kann. 34 Im Grunde ist die Definition sogar so weit gefaßt, daß sie auch die ganze dramatische Bewegung der Fabel decken kann. 35 Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß die beiden Beispiele von einzelnen Handlungen sprechen und zwar von solchen, mit deren Hilfe die entscheidende Wende der Stücke herbeigeführt wird. 36 Doch ganz unabhängig von diesen Fragen: die dialektische Struktur dieses ironisch-paradoxen Umschlags einer Handlung in ihr Gegenteil liegt auf der Hand. Szondis These, daß schon Aristoteles die Bedeutung des dialektischen Moments fur die Tragödie erkannt habe, bleibt also richtig,
32
Else 1986: 144f; generelle Zustimmung zu Vahlen auch bei Belfiore 1988: 193. Else 1957: 342. 34 Der Plural των πραττομένων kann in der Definition generalisierend die jeweiligen konkreten Einzelhandlungen zusammenfassen (= der jeweiligen Handlung), aber auch mehrere verschiedene Handlungen bezeichnen; zur Frage mehrerer Peripetien in einem Stück cf. Belfiore 1988: 189 und u. S. 253ff. (zum OT). 35 Vielleicht könnte man so die schwierige Stelle verstehen, wo Aristoteles als „verschlungene Fabel" diejenige bezeichnet, die ganz Peripetie und Anagnorisis sei: ής τό δλον έστιν περιπέτεια και άναγνώρισις (1455b 33f.); auf den in seinen Augen idealen OT trifft das, wie wir noch sehen werden (s. u. S. 297-300), durchaus zu. 36 Halliwell 1987: 116, bezeichnet Peripetie und Anagnorisis treffend als „devices which focus and concentrate a tragic transformation in dramatic moments of ironic or paradoxical force." 33
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auch wenn er sich, wie wir gesehen haben, auf die falschen Stellen der Poetik gestützt und den naheliegenden Bezugspunkt Peripetie übersehen hat. 37 Um nicht mißverstanden zu werden, sei ausdrücklich betont: natürlich soll hier die aristotelische Theorie der Tragödie nicht etwa dicht herangerückt oder gar in eins gesetzt werden mit der von Szondi untersuchten Philosophie des Tragischen - Aristoteles ist gewiß kein Vorläufer des
deutschen
Idealismus-, und es soll auch keineswegs die grundsätzlich verschiedene Orientierung der beiden hier miteinander in Verbindung gesetzten Analysen ignoriert werden. Betrachtet Szondi das Moment des Dialektischen als Basis für einen generellen Begriff des Tragischen, so ist die Peripetie fur Aristoteles lediglich ein wirkungsvoller dramaturgischer Kunstgriff. Szondis tragisch-dialektischer Umschlag ist ganz abstrakt als „Umschlag des einen in sein Gegenteil" formuliert, als „Selbstentzweiung", die in ihrer poetischen Realisierung in ganz verschiedenen Formen erscheinen kann. 38 Aristoteles hat dagegen ganz konkret ein besonders wirkungsvolles Strukturelement der dramatischen Handlung im Auge. Und doch: das Grundmodell eines paradox-zwingenden Umschlags einer Bewegung ist ihnen gemeinsam. So lassen sich denn auch die beiden Positionen gerade an dem Punkt, auf den es Szondi ankommt, untereinander vermitteln. Auch Aristoteles' pragmatische Analyse zielt auf das Wesen der Tragödie. Als besonders effektvoller Auslöser der Emotionen Eleos und Phobos ist der ironisch-dialektische Umschlag der Peripetie im aristotelischen Sinne besonders 'tragisch'; und Szondi sieht die entscheidende Bewährungsprobe für sein abstraktes Modell einer tragisch-dialektischen Modalität gerade im konkretesten Element der Tragödie, in der Handlung: „Ob sich die dialektische Auffassung des Tragischen bewährt oder nicht, wird deshalb nicht zuletzt daraus zu erkennen
37 Der Grund dafür dürfte darin liegen, daß Szondis Verständnis der aristotelischen Poetik stark von Kommerell 1940 geprägt ist, dessen Deutung der Peripetie als „Glückswechsel" ihm den Blick auf das dialektische Moment der aristotelischen Definition verstellen mußte. 38 Szondi 1978: 209.
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sein, ob es gelingt, noch die unscheinbarsten Handlungsmomente in ihrem Bezug zum tragischen Bau und das Werk damit allererst als ein fugenloses Ganzes einzusehen." 39 Genau dies versucht Szondi im zweiten Teil der Studie an Hand von acht Tragödien zu leisten. Nur eine davon stammt aus der klassischen Epoche der antiken Tragödie: der sophokleische Oidipus
Tyrannos.40
II Der zweite Teil des Vortrage soll die außerordentliche Bedeutung der dialektischen Modalität fur die griechische Tragödie in Erinnerung rufen. Angesichts der dafür zur Verfugung stehenden Zeit kann das natürlich nur in Form einer Skizze geschehen, die die Vielfalt der Erscheinungsformen des Phänomens hoffentlich wenigstens andeutet, eine Vielfalt, die über die aristotelische 'Dialektik' der Handlung weit hinausgeht. Ich beschränke mich im folgenden deswegen auch nicht auf die Betrachtung Peripetien im aristotelischen Sinne, des
tragisch-dialektischen
41
eigentlicher
sondern beziehe auch andere Formen
Umschlags
ein. 42
Im
Zentrum
steht
die
sophokleische Tragödie; Ausgangspunkt ist der sowohl von Aristoteles wie von Szondi als Zeuge in Anspruch genommene Oidipus
39
Tyrannos.43
Szondi 1978: 210. Die anderen Stücke sind Calderon, Das Leben ein Traum-, Shakespeare, Othello', Gryphius, Leo Armenius-, Racine, Phädra; Schiller, Demetrius', Kleist, Die Familie Schroffenstein und Büchner, Dantons Tod. 41 Zu den Problemen der 'Anwendung' der aristotelischen Definition auf die erhaltenen griechischen Tragödien cf. besonders Lucas 1962: 57-60 und id. 1968: 291-298 (Appendix III). 42 Auf die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Sekundärliteratur zu den behandelten Stücken, auf die nur in einzelnen Fällen verwiesen ist, wird dabei verzichtet. 43 Szondi 1978: 213-218; die folgenden Ausführungen verdanken Szondi viel. 40
Peripetie und tragische Dialektik
297
Aristoteles fuhrt, wie wir schon gesehen haben (s. o. S. 289f.), als erstes Beispiel fur seine Definition der Peripetie die Szene mit dem korinthischen Boten an, die sich bei genauerem Zusehen als Doppel-Peripetie erweist. Der Bote bewirkt nicht nur für Oidipus, sondern auch für sich das Gegenteil dessen, was er bewirken wollte. Neben die tragische Peripetie, die Oidipus nach einem letzten Augenblick trügerischer Hoffnungen und illusionären Glücks endgültig vernichtet, tritt so die einer Komödie würdige Peripetie, wenn der Alte, der mit so großen Hoffhungen auf eine stolze Belohnung nach Theben gekommen ist, sich auf dem Höhepunkt seiner Begeisterung durch wichtigtuerische Einmischung selber um den erhofften Lohn seiner Mühe bringt und mit leeren Händen nach Korinth zurückkehren muß. 44 Der OT bietet daneben eine ganze Reihe weiterer Beispiele für die ironischdialektische Verkehrung von Handlungen in ihr Gegenteil. Halliwell verweist in seinem Kommentar zu Recht auf die beiden Szenen, in denen Oidipus zuerst Teiresias (300ff.) und später dann den thebanischen Hirten (lllOff.) kommen läßt, „in both cases with results diametrically opposed to his expectations." 45 Auch in diesen beiden Fällen ist die paradox-dialektische Bewegung übrigens nicht auf die Perspektive der Hauptgestalt beschränkt, sondern offenbart sich auch im Handeln der Nebengestalten. Teiresias löst durch seine Weigerung zu sprechen Oidipus' Zorn aus und wird so schließlich gerade dadurch, daß er die furchtbare Wahrheit verbergen will, dazu getrieben, sie zu enthüllen, und muß dann sehen, daß gerade die Wahrheit den König zwangsläufig, d.h. als Folge der durch seine Weigerung ausgelösten blinden Emotion, tiefer in die Unwahrheit hineintreiben muß. Der alte Hirte wiederum, auf den Oidipus seine letzte Hoffnung setzt (11 lOff.) und der ihm dann den letzten Stoß versetzt, ist derselbe, der Oidipus vor langen Jahren aus Mitleid vor dem sicheren Tod gerettet hat, und nun begreifen muß, daß er den Geretteten - und das ganze Königshaus - nur völlig ruiniert hat (1179f.).
44 45
Cf. Seidensticker 1982: 85-88 (dort auch weitere Literatur). Halliwell 1987: 117.
298
Peripetie und tragische Dialektik
Schließlich enthüllt auch ein Blick auf die Rolle der lokaste dieselbe Struktur. Bei ihrem ersten Auftritt (634ff.) erwartet sie, Oidipus' aufsteigende Ängste mit einem Bericht vom Hergang der Tat beruhigen zu können, steigert aber durch die Nennung des Tatorts Dreiweg nur seine Unruhe; am Ende muß ihr leidenschaftlicher Appell an Oidipus, nicht weiter zu fragen (1056ff), seinen Wunsch nach endgültiger Klärung seiner Herkunft verstärken. Der Versuch, die Enthüllung der Wahrheit, die sie selber schon kennt, zu verhindern, treibt diese voran; und auch die dritte Handlung der Königin schlägt in ihr Gegenteil um. Kaum hat sie Apollon angerufen, eine Lösung für das drohende Unheil zu finden, die Oidipus und sie selber unbefleckt läßt (91 Iff.), als auch schon der Bote erscheint und das Unheil seinen Lauf nimmt. Die Wende ist überraschend, der Auftritt zufällig, und doch erscheint er, ganz wie Aristoteles es verlangt, für den Zuschauer, der Apollons Wirken hinter der Handlung begreift, wie die zwingende Folge des Gebets. So zeigt sich, daß beinahe alle Handlungen aller Personen des Stücks (eine Ausnahme bildet nur Kreon) nach dem gleichen dialektischen Grundmuster gestaltet sind. Immer bewirken sie überraschend und doch zwingend das Gegenteil dessen, was sie bewirken sollten oder erwarten ließen. Doch damit nicht genug: Hinter den dialektischen Einzelhandlungen liegt die dialektische Gesamtbewegung der Oidipusgeschichte. Die dramatische Fabel und ihre Vorgeschichte sind, wie Szondis eindringliche Analyse zeigt, ganz von der Einheit von Rettung und Vernichtung geprägt. „Nicht im Untergang des Helden vollzieht sich die Tragik, sondern darin, daß der Mensch auf dem Weg untergeht, den er eingeschlagen hat, um dem Untergang zu entgehen" (S. 213). Am Anfang der Geschichte steht Laios' halbherziger Versuch, sich gegen das vom Orakel vorhergesagte Unheil zu schützen, ein Versuch, der ihn wider Erwarten, doch mit zwingender Konsequenz dem Verderben, dem er entgehen will, entgegenführt. Was Ruhe und Sicherheit bringen sollte, bringt wachsende Unruhe und Tod. Die
Peripetie und tragische Dialektik
299
Aussetzung des Kindes fuhrt Opfer und Täter am Dreiweg bei Delphi zusammen: den Vater auf der Erkundigung nach dem Schicksal des Sohns und den Sohn auf der Suche nach seinen Eltern. So wird die verhängnisvolle Begegnung, die die Aussetzung verhindern sollte, gerade durch diese herbeigeführt. So wie Laios auf der Flucht vor seinem Mörder diesem in die Arme läuft, so wird Oidipus gerade durch den Versuch, die Tat zu verhindern, zum Täter. Der anschließende Sieg über die Sphinx macht den Königsmörder zum neuen König - und zum Gatten der Mutter. Die Rettung der Stadt vor dem Ungeheuer stürzt die Stadt durch die ungeheuerlichen Folgen in noch größere Gefahr; die Lösung des Rätsels stellt den Rätsellöser vor ein neues Rätsel, dessen Lösung ihn zerstören wird. Das Stück wiederholt die dialektische Bewegung der Vorgeschichte. „Alles" - so Szondi - „was im Laufe der Untersuchung den König vor der Rettung, die ihn vernichten wird, zu bewahren scheint, schlägt seinerseits ins Vernichtende um" (S. 217). So offenbart sich wie in der Bewegung der Einzelszene auch in der weiteren und näheren Vorgeschichte des Stücks und in der Struktur der dramatischen Fabel überall der gleiche Rhythmus des paradox-logischen Umschlags von Handlungen in ihr Gegenteil. Das dialektische Moment prägt darüber hinaus auch andere zentrale Elemente des Stücks. Eine Reihe moderner Theorien entwickelt die Dialektik des Tragischen nicht aus dem Bau der Handlung oder der Sittlichkeit, wie Hegel und seine Nachfolger, sondern vom Helden und seinem Charakter her. So heißt es in Schelers eingangs zitierter Definition: „Im ausgesprochenen Sinne tragisch ist es ..., wenn ein und dieselbe Kraft, die ein Ding zur Realisierung eines hohen positiven Wertes (seiner selbst oder eines anderen Dinges) gelangen läßt, auch im Verlaufe dieses Wirkens selbst die Ursache für die Vernichtung eben dieses Dinges als Wertträger wird."46 Dieser Ansatz ist zwar eher von der modernen Charaktertragödie als von der griechischen Handlungstragödie her
46
Scheler 1955.
300
Peripetie und tragische Dialektik
entwickelt, ist aber auch für diese nicht ohne Bedeutung. So stürzt Oidipus gerade durch das, was seine Größe ausmacht, ins Verderben. Die beim Sieg über die Sphinx bewiesene außergewöhnliche Intelligenz läßt den Rätsellöser als den geeigneten Retter aus der neuen rätselhaften Not erscheinen, und gerade sein hohes Verantwortungsbewußtsein und die bedingungslose Suche nach der Wahrheit entlarven ihn als den gesuchten Täter. Die sprachliche und dramaturgische Bildlichkeit vertieft, wie vor allem Knox 47 gezeigt hat, die Handlung und Ethos bestimmende Dialektik von Rettung und Vernichtung. In immer neuen Formulierungen und Bildern wird die Wende, die den Richter zum Angeklagten, den Jäger zur Beute, den Arzt zum Kranken, den König und Retter der Stadt zum Bettler und Sündenbock
macht,
beschworen. 48 Und schließlich wird die Komplexität der dialektischen Bewegung des Stücks noch einmal dadurch vertieft, daß die Abwärtsbewegung zugleich eine erhebende Aufwärtsbewegung ist: „Die Blindheit macht den Wissenden zum König, der Bettelstab ist ihm gemäßer als das fluchbeladene Szepter." 49 Es ist kein Zufall, daß Szondi aus allen erhaltenen griechischen Tragödien gerade den OT ausgewählt hat. Die sophokleische Tragödie ist in der Tat ein besonders eindrucksvolles Beispiel fur seine These. Die dialektische Struktur des Tragischen bestimmt, wie wir gesehen haben, alle Ebenen und Elemente der dramatischen Gestaltung, Einzelszene und Gesamtaufbau ebenso wie Charakterzeichnung, Sprache und Dramaturgie. Das Paradebeispiel ist aber kein Einzelfall. Vor allem für Sophokles gilt, daß die dialektische Modalität geradezu als ein Wesensmerkmal seiner Tragödie gelten kann (jedenfalls wenn wir der kleinen Auswahl der überlieferten Stücke trauen dürfen). Sie verleiht z.B., wie Jens im Anschluß
47
Knox 1957. Cf. dazu neben Knox 1957 vor allem Kremer 1963; Seidensticker 1972; Segal 1981:207-48. 49 Jens 1962: 93. 48
Peripetie und tragische Dialektik
301
an Reinhardt gezeigt hat, 5 0 vielen seiner dialogischen Szenen ihre Dynamik. So wenn Antigone oder Elektra ihre Schwestern Ismene bzw. Chrysothemis zu gemeinsamem Handeln bewegen wollen, der scheiternde Versuch aber statt der erhofften Hilfe die tragische Isolation der Heldinnen
weiter
verschärft. 5 1 Von zentraler Bedeutung für die dramatische Entwicklung des Stücks ist die mit den Geschwisterszenen vergleichbare Peripetie der Szene der Antigone, in der Haimon versucht, seinen Vater zu überreden, Antigone zu begnadigen. 5 2 Der Wunsch, Antigone zu retten und dem Vater die gerade gewonnene Macht und die Achtung der Bürger, sich selber ein heiles Vaterbild und die geliebte Frau zu erhalten, endet im totalen Zerwürfnis und bewirkt schließlich das genaue Gegenteil dieser Ziele. Die Bitte u m Gnade verschärft die Strafe; der Appell an den Vater, sich wie ein König zu verhalten,
macht
diesen
vollends
zum
Tyrannen;
der
Versuch,
die
Katastrophe aufzuhalten, beschleunigt sie und reißt den, der sie verhindern wollte, mit ins Verderben. Die Peripetie der Haimon-Kreon-Szene bildet so den tragischen Wendepunkt des Stücks. Unübersehbar
ist
aber
auch
die
dialektische
Gesamtstruktur
der
Antigone - und anderer Stücke des Sophokles. Kreons erklärtes Bemühen, die gerade aus schwerer Bedrohung gerettete Stadt zu stabilisieren, führt zur Zerstörung oder doch Gefahrdung der familiären, politischen und religiösen Ordnung. In den Trachinierinnen
vernichtet Deianeiras Wunsch, ihre Ehe
durch einen Liebeszauber zu retten, den geliebten Mann und sie selbst. Im Philoktet bildet der dialektische Rückschlag der Aussetzung Philoktets den Ausgangspunkt der Fabel: Die griechischen Fürsten, die Philoktet vor 10 Jahren auf dem Weg nach Troja ohne Hilfe auf Lemnos zurückgelassen haben, müssen nun, selber hilflos, versuchen, ihn zurückzugewinnen, da ohne ihn der Krieg nicht zu gewinnen ist; und es ist gerade die schändliche Art und Weise der Aussetzung, die jetzt die schändliche Art und Weise dieses
50 51 52
Jens 1955; Seidensticker 1971: 206-209. Cf. z.B. Soph. Ant. 1-99; El. 328ff. Soph. Ant. 635-780.
302
Peripetie und tragische Dialektik
Versuchs verlangt und den Erfolg des Unternehmens zu verhindern droht. Der listige Plan des Odysseus, sich, weil er selber nicht vor Philoktet erscheinen kann, der Hilfe des menschlich und politisch unerfahrenen Jünglings Neoptolemos zu bedienen, kehrt sich gegen ihn, als das Werkzeug der Intrige sich beim Einsatz in ein Werkzeug ihrer Verhinderung verwandelt. Im Aias schließlich vernichtet der wahnsinnige Versuch des Helden, seine lädierte Ehre wiederherzustellen, diese endgültig und zwingt ihn zum Selbstmord. Im Falle des Aias zeigt sich besonders deutlich, was beim Oidipus bereits in den Blick gekommen ist. Die dialektische Struktur der Handlung hat ihr Pendant - im Aias sogar ihre Wurzel - in der tragischen Dialektik der Größe des Helden. Das kann angesichts der Bedeutung, die für Sophokles, den Erfinder des tragischen Helden, das Ethos seiner Gestalten gewinnt, nicht verwundern.53 Besonders für den Aias gilt die auch bei Szondi zitierte Definition des tragischen Verhängnisses von Simmel: „Als ein tragisches Verhängnis - im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen zerstörendes - bezeichnen wir [...] dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt ist und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat."54 Aias' leidenschaftliches Streben nach Ehre macht ihn zum größten Helden nach Achilleus und stürzt ihn ins Verderben. Der Anblick, den Tekmessa dem Chor enthüllt, als sie die Zelttür zurückschlägt (346), dokumentiert diese Dialektik mit großer visueller Kraft. „Der tapfere Aias, der furchtlose Kämpfer in brennenden Schlachten" (cf. 364f.), als strahlender Sieger - über Rinder, Schafe und Ziegen. Das Bild ist die grausig-groteske Verkehrung des heroischen Lebensideals, das Aias alles bedeutet, und die Dialektik ist zwingend aus dem Ethos des Helden heraus entwickelt. Aias' 53 54
Zu Sophokles als dem Erfinder des tragischen Helden cf. Knox 1964: 1-61. Simmel 1912: 21f.
Peripetie und tragische Dialektik
303
brennender Wunsch, von der Gemeinschaft der Fürsten und des Heeres anerkannt zu werden, führt ihn mit tragischer Logik in die totale Isolation. Die Vorgeschichte mit den tieferen Wurzeln der Tragödie wird im Stück nur angedeutet. Unüberhörbar ist jedoch, daß Aias' extremes Selbstwertgefühl und die sich daraus ergebende Unfähigkeit, sich einzuordnen, schon die Entscheidung der Fürsten über die Vergabe der Waffen Achills beeinflußt haben, so wie sie dann am Ende des Stücks als der eigentliche Grund für die Verweigerung einer ehrenvollen Bestattung sichtbar werden, mit der die Dialektik von Streben nach heroischer Größe und dem direkt daraus resultierenden drohenden Sturz in die tiefste Schande ihren Höhepunkt erreicht. Aias' monomanisches Streben nach Ehre, sein stolzes Selbstwertgefühl, die heroische Kompromißlosigkeit und die Unfähigkeit, Zurücksetzungen zu ertragen: all das, was ihn groß gemacht hat, treibt ihn mit unerbittlicher Konsequenz in Schande, Scham und Tod. Zugleich aber sichern ihm diese Eigenschaften - in einer weiteren Wende - die Bewunderung des Zuschauers auch in den Augenblicken, in denen sich ihre negativen und zerstörerischen Seiten am erschreckendsten entfalten.55 Für Oidipus und Antigone, Elektra und Philoktet ließe sich - bei allen Unterschieden - eine analoge Einheit von Größe und Vernichtung bzw. Gefährdung aufzeigen. Die dialektische Qualität des „heroic temper" und ihrer erschreckend-erhebenden Wirkung ist, wie Knox' Analyse des sophokleischen Helden lehrt,56 ein Wesensmerkmal der sophokleischen Tragödie. Die komplexe Balance, zu der sich bei Sophokles Handlung und Charakter verbinden, beruht nicht zuletzt darauf, daß die dialektische Grundstruktur beide Ebenen der Gestaltung durchdringt und miteinander verknüpft.
55 56
Seidensticker 1983: 125-41. Knox 1964.
304
Peripetie und tragische Dialektik
Für die beiden anderen Tragiker muß ich mich zum Abschluß auf einige wenige Betrachtungen beschränken. Im Falle des Aischylos könnte man z.B. auf die dialektische Bewegung innerhalb der wohl von ihm geschaffenen trilogischen Bauform hinweisen: These und Antithese der beiden ersten Stücke sind z.B. in der Orestie deutlich als Verkehrung der Handlungen des ersten Stücks in ihr Gegenteil konzipiert. Die listigen Täter des ersten Stücks werden im zweiten Stück zu überlisteten Opfern. In der paradoxen Wiederholung des Ekkyklema-Schlusses (Ag. 1372ff., Cho. 937ff.) wird die ironische Dialektik der dramatischen Bewegung auch visuell pointiert präsentiert. Eine ähnliche dialektische Bewegung läßt sich auch für die Danaiden-Trilogie immerhin wahrscheinlich machen. Aber auch das einzige erhaltene
Stück
des
Aischylos,
das
nicht
aus
einem
trilogischen
Zusammenhang stammt - die Perser - ist für unsere Fragestellung relevant. Die dialektische Qualität der Fabel und ihres dramatischen Höhepunkts ist unübersehbar. Der persische Großkönig, der mit einem riesigen Heer auszieht, um Griechenland unter das Joch zu zwingen (50), zerbricht das Joch der eigenen Herrschaft über Asien (584ff.); im Augenblick der Entscheidung bei Salamis schlägt der Plan, die Griechen einzuschließen und zu vernichten, in sein Gegenteil um; Xerxes muß mitansehen, daß seine Besten von den Griechen eingeschlossen und zusammengehauen werden. 57
Die Tragödie des Euripides bietet, wie nicht anders zu erwarten, ein differenziertes Bild. In manchen seiner Stücke findet sich keine Spur einer dialektischen Bewegung (das gilt z.B. für die Hikesiedramen Herakliden und Hiketiden);
in anderen gibt es immerhin einzelne dialektisch konzipierte
Handlungselemente
oder Motive.
So klagt z.B.
in den
Troerinnen
Andromache (634ff.) darüber, daß gerade der gute Ruf, den sie sich als vorbildliche Frau Hektars erworben hat, sie nun ins Verderben stürze, weil der Sohn des Mörders ihres Mannes sie aus eben diesem Grunde als sein 57
1988.
Cf. dazu die eindringliche Analyse der Perser unter diesem Aspekt durch Said
Peripetie und tragische Dialektik
305
Ehrengeschenk begehrt; und am Ende des Stücks ist es Hekabe, die mit ihrem Drängen den großen Agon ermöglicht und so Helena, deren Bestrafung sie so leidenschaftlich ersehnt, die Gelegenheit eröffnet, sich mit allen ihren Reizen vor dem Gatten in Positur zu setzen und so ihr Leben zu retten (895ff.). Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Dramen, in denen das dialektische Moment die dramatische Struktur und die thematische Konzeption tief durchdringt, und es scheint mir kein Zufall zu sein, daß es sich dabei gerade um die Stücke des so vielfaltigen euripideischen Oeuvres handelt, die zu allen Zeiten als besonders tragisch empfunden worden sind: Medea und Hippolytos,
Herakles und Bakchen.
So schlägt, um nur die „Medea"
herauszugreifen, Jasons Versuch, seinen Kindern in Korinth eine glückliche und ehrenvolle Zukunft zu ermöglichen, in das Gegenteil dessen um, was sein Handeln erreichen sollte, und Medea muß in ihrem brennenden Wunsch, sich an dem Verräter zu rächen, erkennen, daß sie mit der einzigen Strafe, mit der sie Jason wirklich treffen kann, auch sich selber vernichten muß. Die tragische Wirkung des Stücks beruht auf der Dynamik dieser doppelten dialektischen Bewegung. Aufschlußreich scheint mir schließlich, daß in einer Reihe von euripideischen Stücken, die der moderne Kritiker mit seinen unaristotelischen Kriterien kaum als Tragödien bezeichnen wird (und die ich mit anderen als Tragikomödien zu verstehen versuche), 58 gerade die Elemente, die als genuin tragisch erscheinen, dialektisch konzipiert sind. Besonders deutlich ist das in dem doppelten Handlungsumschlag auf dem dramatischen Höhepunkt des Ion oder auch in der Alkestis, wenn Admet (und mit ihm der Zuschauer) auf der Tragödienebene des Stücks begreifen muß, daß der Versuch, sein Leben zu retten, es gerade völlig vernichtet hat.
Diese knappen Bemerkungen zu Aischylos und Euripides ließen sich noch erheblich erweitern und vertiefen; zusammen mit der detaillierteren
58
Seidensticker 1982.
306
Peripetie und tragische Dialektik
Analyse der sophokleischen Tragödie rechtfertigen sie aber vielleicht auch in dieser skizzenhaften Form doch die zusammenfassende These, daß Szondi mit dem dialektischen Moment wenn nicht das, so doch ein zentrales Element des Tragischen erfaßt hat, das seine Fruchtbarkeit auch bei der Interpretation der klassischen griechischen Tragödie immer wieder beweist. 59 Aristoteles hat der dialektischen Struktur des tragischen Handelns mit der Bestimmung der Peripetie als einer besonders wirkungsvollen dramatischen Bauform Rechnung getragen. Sein Umschlag von Handlungen in ihr Gegenteil ist zwar wesentlich enger konzipiert als Szondis tragische Dialektik und er wird, wie wir gesehen haben, der Vielfalt der Erscheinungsformen des dialektischen Umschlags in der griechischen Tragödie nicht gerecht, aber er trifft doch einen fur die antike Handlungstragödie zentralen Aspekt.
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Peripetie und tragische Dialektik
307
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Peripeteia and Tragic Dialectic in Euripidean Tragedy In 1961 Peter Szondi, one of the most distinguished and influential of recent German literary critics, published a short book on the nature of the tragic. 1 In the first part of his discussion, which is certainly one of the most important modern treatments of the subject, Szondi analysed selected passages from major philosophical and aesthetic discussions of tragedy and the tragic from the end of the eighteenth century to the twentieth. As the common denominator of the approaches of philosophers and poets as different as Hegel, Schopenhauer, and Nietzsche, Hölderlin, Goethe, and Hebbel, he proposed the 'dialectical structure or modality of the tragic', defining the tragic itself as a 'dialectical modality of impending or actual destruction'. 2 The title of my paper juxtaposes and links two concepts: Aristotle's peripeteia and Peter Szondi's tragic dialectic. Recently I attempted to relate these two concepts to one another, despite the two-thousand-year gap between them, and to apply them to the interpretation of Sophoclean tragedy. Since Szondi's tragic dialectic is also the theoretical basis of my thoughts on Euripidean tragedy, I would like briefly to outline the main arguments of the earlier paper.3 At the beginning of Poetics 11 (1452a22-9) Aristotle defines and explains peripeteia: Έ σ τ ι δέ περιπέτεια μεν ή εις τό έναντίον των πραττομένων μεταβολή καθάπερ εΐρηται, και τοΰτο δέ ώσπερ λέγομεν κατά τό εικός ή άναγκαΐον, ώσπερ έν τω Οΐδίποδι έλθών ώς εΰφρανών τον Οΐδίπουν και άπαλλάξων του προς την μητέρα φόβου, δηλώσας δς ην, τουναντίον έποίησεν· και έν τω Λυγκεΐ ό μέν άγόμενος ώς άποθανούμενος, ό δέ
1 2 3
Versuch über das Tragische. Ibid. 209. Seidensticker, 'Peripetie und tragische Dialektik'.
310
Peripeteia and Tragic Dialectic in Euripidean Tragedy
Δαναός άκολουθών ώς άποκτενών, τον μεν συνέβη έκ των πεπραγμένων άποθανεΐν, τον δέ σωθήναι. A peripeteia ['reversal'] is a switch [μεταβολή] of actions to the contrary, as described, in which the change involved is also probable or necessary in the way specified. For example, in the Oedipus, the man who came to comfort Oedipus and free him from his fear about his mother in fact did the opposite by revealing who Oedipus was. Again, in the Lynceus, Lynceus was being led off and it seemed that he would be put to death and that Danaus, who was with him, would kill him, but the earlier actions resulted in Danaus' death and Lynceus' release. A survey of the complex history of the reception of Aristotle's definition since the Renaissance shows that almost every single element in the definition has been given different interpretations.4 The great variety of translations, paraphrases, and explanations can, however, be reduced to two alternative views, which eventually turn out to be the result of two different interpretations of the phrase which I have translated 'actions', των πραττομένων. According to one view, πραττομένων is basically identical with γιγνομένων, 'happenings'. Many critics accept this interpretation and consequently understand peripeteia
in a wider sense as 'a change in the
events of the play as it develops', that is, 'a change in the dramatic situation or plot.5 Yet the problems this reading presents are considerable.6 Logic as well as linguistic usage7 rather suggest the meaning: 'change of the actions into their own opposites'.
4
For the literature, see ibid. 260-63 (= in diesem Bd., S. 306-8). See e.g. Else, Aristotle's Poetics, 344. 6 For full discussion, see Seidensticker, 'Peripetie und tragische Dialektik', 24648 (= in diesem Bd., S. 286-8) 7 In particular, the 'wider' interpretation must take the supplementary phrase εις τό έναντίον as meaning a 'change from good fortune to misfortune or misfortune to good fortune', but έναντίον (against all expectation) would then refer not to the πραττόμενα which are undergoing a μεταβολή, but rather to the opposite of some sort of fortune, εύτυχία or ατυχία, which is never mentioned in the definition. One would have to suppose that Aristotle spoke of a change from x (i.e. the πραττόμενα) 5
Peripeteia and Tragic Dialectic in Euripidean Tragedy
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The 'wider' interpretation of peripeteia becomes still less persuasive as soon as one considers the two examples that Aristotle adduces. Both of these evidently illustrate not - or at least not explicitly - a switch in the plot, but rather a switch of single actions (πραττόμενα); both clearly describe the change as a change of particular actions into their opposites (that is, the opposites of what they were intended or expected to accomplish); in both cases, finally, the wording plainly underlines the point that the particular actions lead to an outcome which is precisely the opposite of what they were intended to achieve or seemed to be achieving. 8 Two supplementary phrases in Aristotle's definition specify what precisely is meant by the idea of actions turning into their opposites. 'As described' (κάθ' ίχπερ εΐρηται) probably alludes to the end of Poetics 9, where Aristotle insists that 'tragedy portrays events which are fearful and pitiful' and adds that 'this can best be achieved when things occur contrary to expectation, yet still on account of one another'. 9 The unexpected turn of events must develop cogently out of the premises of the action, as in this way the ironic effect of the paradox will be most telling. This stipulation is further specified by Aristotle in a second supplementary phrase: like all other into the contrary of y (i.e. either of the two opposite states of fortune). Another problem for the 'wider' interpretation is the position of των πραττομένων, which (as the word order indicates) is related both to μεταβολή and to εις τό έναντίον: cf. Vahlen, Beiträge zu Aristoteles' Poetik, 6. 8 Poet. 1452a26 (έναντίον έποίησεν). This „narrower" interpretation of peripeteia was originally put forward by Vahlen in 1866. Understanding πραττόμενα as α πράττεται [έπράττετο] ύπό των πραττόντων and taking into account the precise meaning of πράττειν in Aristotle's theory of praxis, Vahlen, Beiträge zu Aristoteles' Poetik, 6 concluded: 'Bei πραττόμενα ist nicht an πράξις und πράγματα, an Ereignis oder Situation zu denken, sondern gemeint ist das, was man that oder thut zu einem bestimmten Zweck, das allerdings nicht diesen, sondern den gerade entgegengesetzten zur Folge hat.' It is undeniable that this interpretation is open to criticism as well, but the questions that arise are much easier to answer than is the case with the 'wider' interpretation; cf. Seidensticker, 'Peripetie und tragische Dialektik', 249-50. 9 See e.g. Else, Aristotle 's Poetics, 344-5; for the various explanations of the supplementary phrase, see D. J. Allan, 'Peripeteia quid sit, Caesar occisus ostendit', Mnemosyne 29 (1976) 338-41.
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elements of the plot, peripeteia too must follow the rules of 'probability and necessity' (κατά τό εικός ή κατά τό άναγκαϊον). The ironic-paradoxical structure of the reversal evidently does much to heighten the tragic effect of single scenes as well as of whole plays, and Aristotle emphasizes this quality explicitly. In chapter Poetics 6 (1450a33-5) he points out that both 'reversal' (peripeteia) and 'recognition' (anagnorisis) evoke pity and fear in a special way. Hence, as one of the fundamental elements of the emotional function of tragedy, peripeteia plays a crucial role in his theory. The Aristotelian thesis assumes that the intensifying tragic effect is produced by the paradoxical (yet natural and compelling) transformation of an action (undertaken with a particular purpose or expectation) into its opposite (that is, the opposite of its purpose or expected result). This appears to coincide, despite some significant differences, with the thesis of Peter Szondi's essay on the tragic. Szondi analyses the metaphysical and aesthetic writings of German idealists and post-idealists with the declared aim of revealing, among 'the most diverse definitions of the tragic', a 'more or less hidden element' which is 'common to them all', and finds the common element in his 'dialectical structure', which he sees as the 'sole constant' in all the rich variety of 'definitions of the tragic from Schelling to Scheler'. 10 In order to clarify this thesis I would like to recall just two of the theories discussed by Szondi. In Hegel's theory of a 'dialectic of morality' ('Dialektik der Sittlichkeit'), the dialectical movement is activated by that momentous principle of 'individuation', to which everything is subject and through which, as Hegel points out in the Aesthetics, 'moral forces, like the characters of the action, are differentiated in respect of their content and their individual appearance'. It follows that every individual action in its one-sided isolation, in its attempt to achieve its own purpose, 'inevitably engenders the emotion
10
Szondi, Versuch über das Tragische, 205: 'die verschiedensten Bestimmungen des Tragischen auf ein mehr oder weniger verdecktes Strukturelement hin durchsichtig zu machen, das allen gemeinsam ist'.
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opposed to it and thereby brings in its train unavoidable conflicts'. 11 Scheler's definition of the tragic, the most recent of the theoretical positions analysed by Szondi, displays major differences from Hegel's, but as regards the dialectical structure, there are striking similarities: 'it is in the most unqualified sense tragic ... when a thing is made the embodiment or catalyst ['Realisierung'] of some exalted value and, in the act o f . . . achieving this, the very power that succeeds in achieving it itself becomes the cause of the destruction of the thing as a bearer of value'. 12 Szondi tries to underpin the universal significance of the dialectical mode with a reference to Aristotle. It is quite surprising that he appeals to two passages in the Poetics which are in fact off the point, 13 while overlooking the obvious reference to Aristotle's peripeteia. This might be due to the fact that Szondi's understanding of the Poetics was strongly influenced by Max Kommereil, whose interpretation of peripeteia
as 'change of fortune'
('Glückswechsel') may have prevented him from realizing the dialectical significance of Aristotle's definition. 14 By way of anticipating an obvious misunderstanding, let me stress that I do not wish to ignore or water down the fundamental differences between the two
approaches.
Aristotle's
theory
of
tragedy
and
its
underlying
philosophical tenets have little in common with the tragic philosophy of German idealism, as analysed by Szondi; and the two concepts peripeteia and
11
Hegel, Sämtliche Werke, xiv. 529: 'die sittlichen Mächte wie die handelnden Charaktere unterschieden sind in Rücksicht auf ihren Inhalt und ihre individuelle Erscheinung; 'notwendig ... herbeileitet* (see η. 28 below). 12 Μ. S. Scheler, 'Zum Phänomen des Tragischen' in: Gesammelte Werke, ed. M. Scheler (Berne 1955) iii. 158: 'Im ausgesprochensten Sinne tragisch ist es ... wenn ein und dieselbe Kraft, die ein Ding zur Realisierung eines hohen positiven Wertes (seiner selbst oder eines anderen Dinges) gelangen lässt, auch im Verlaufe dieses Wirkens selbst die Ursache für die Vernichtung eben dieses Dinges als Wertträger wird'. 13 1453a7-17; 1453bl4-22; cf. Seidensticker, 'Peripetie und tragische Dialektik', 242-4 (= in diesem Bd., S. 281-4). 14 M. Kommereil, Aristoteles und Lessing (Frankfurt/M. 1940 [1984]) 178ff.
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'tragic dialectic' possess a rather different emphasis and orientation. Whereas Aristotle concerns himself with an effective structural element of the dramatic action, Szondi defines his tragic dialectic in a highly abstract way as 'mode of action which follows on a unity of opposites', as 'conversion of one state of affairs to its opposite' ('Umschlag des Einen in sein Gegenteil'), as 'self-division' ('Selbstentzweiung') - a principle which, in its dramatic realizations, may take on many different forms and shapes. 15 But having said this, one must insist that the two concepts do have a common denominator: they both emphasize the importance of a paradoxical yet inevitable shift of a (dramatic) movement to its exact opposite. In addition, when Szondi applies the abstract concept that he extracted from the various philosophical systems to the concrete analysis of individual tragedies, he stresses (like Aristotle) the special significance of dramatic action. 16 As Szondi himself makes clear, the value of his concept can only be tested by a detailed study of individual dramas. The only Greek tragedy among his eight witnesses is Sophocles' Oedipus
Tyrannus,
a play which in fact offers the most impressive
exemplification of his thesis. 17 In the Oedipus the dialectical structure of the tragic is constitutive of all levels and elements of dramatic form, of single scenes and the structure of the whole plot, no less than of such aspects as characterization, language, and dramaturgy. 18 But this paradigm is not an isolated case. In the paper mentioned above I have tried to show that tragic 15
Szondi, Versuch über das Tragische, 209. 'Da sich nämlich der Begriff des Tragischen aus der Konkretheit der philosophischen Probleme in die Höhe des Abstrakten zu seinem Unheil erhebt, muss er sich in das Konkreteste der Tragödie versenken, wenn anders er gerettet werden soll. Dieses Konkreteste ist die Handlung. Gerade in der Reflexion auf das Tragische wird sie freilich gern über die Achsel angesehen. Und doch ist sie das wichtigste Konstituens des Dramas, das seinen Namen nicht zufällig ihr verdankt'. Szondi, Versuch über das Tragische, 210. 17 The other seven plays are: Calderon, La Vida es sueno; Shakespeare, Othello·, Gryphius, Leo Arminius; Racine, Phedre; Schiller, Demetrius-, Kleist, Die Familie Schroffenstein·, Büchner, Dantons Tod, 18 Szondi, Versuch über das Tragische, 213-18; Seidensticker, 'Peripetie und tragische Dialektik', 253-6 (= in diesem Bd., S. 297-300). 16
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dialectic can be regarded as an essential characteristic of the whole of Sophoclean tragedy. The present essay concentrates on the question if and to what degree Sophocles' younger contemporary Euripides makes use of the principle. In answering this question, I shall use the term 'dialectic' in a sense that is at once narrower than Szondi's 'tragic dialectic' and wider than Aristotle's peripeteia. In my usage 'dialectic' will refer to any reversal that appears to arise paradoxically, yet naturally and inevitably, out of the nature of the dramatis personae or out of their intentions, plans, or actions. If one considers the range, variety, and particular quality of the Euripidean oeuvre, which in many respects does not display the same homogeneity as Sophocles' seven extant plays, it is not at all surprising that the dialectical mode cannot be found everywhere. Where it is found, it manifests itself both in different degrees of intensity and in a variety of forms. But it is precisely the absence, or rather the reduction, of the concept which confirms, albeit indirectly, Szondi's thesis of the special tragic effect of the dialectical mode. For it is demonstrable that the very scenes and plays that have always been regarded as particularly tragic by all critics are characterized by this feature, whereas elements and dramas which, in modern terms, one would rather assign to genres such as 'historical play', 'melodrama', or 'tragicomedy', are free from it, either largely or entirely. Thus, the two suppliant plays, Heraclidae and Supplices, are not relevant to our discussion; and plays such as Alcestis or Ion, the particular quality of which might be best described as 'tragicomedy', bear the hallmark of the dialectic only in those elements which are definitely tragic.19 But even among those dramas which, according to modern criteria, belong to the genre of tragedy, there are significant differences. Thus a brief look at the Troades shows that Euripides creates the tragic effect here (as he does again in the Hecuba), not primarily by means of the dialectical mode,
19
See above, p. 329f. To avoid excessive annotation, references to secondary literature on these and other Euripidean plays are kept to a minimum.
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but through the presentation of the sheer boundless suffering that overwhelms the innocent - Hecuba and her daughters - from the outside. Even so, the destruction of Troy and the enslavement of the aged queen and her daughters is presented in ever new antitheses as a total reversal of their former happiness;20 and right in the middle of the play the downfall of the Trojans appears as a sudden dialectical reversal of their hopes and expectations. The chorus evokes the fatal night when the Trojans, in the first flush of victory, dragged the wooden horse into the city and thereby brought ruin to themselves. Suddenly the rejoicing, the dancing and the singing, are interrupted by cries of murder and the iron step of Ares; the altars at which the Trojans were offering sacrifices for their victory are now drenched in the blood of human victims; the young girls who were dancing for Artemis are now raped by Greek soldiers (51 Iff.). Moreover, the tragic fate of the individuals is intensified by the ironic way that their hopes and expectations are put into reverse, and it is here that Euripides more than once confers particular poignancy and bitterness on the tragic turn of events by stressing the dialectical quality of the reversal. Thus Andromache complains that it is precisely her high reputation as exemplary wife of Hector which has now rebounded against her: her husband's murderer has chosen her as his 'gift of honour' precisely because of her reputation (643ff.). In a similar way Astyanax is ruined by the nobility of his birth (743f.); and his mother must stand by and watch helplessly while her young son, who was destined to rule Asia, falls victim to the Greeks. Hecuba, too, perceives the Trojans' downfall as a bitter reversal of all her dreams: 'the daughters I fancied I would bring up to marry the noblest of husbands - 1 have brought them up for the enemy' (484-6). Eventually she herself must prepare for burial the corpse of her little grandson Astyanax, who so often promised to bury her with all traditional honours (1180ff). At the end the tragic bitterness of the play is intensified by the dialectical twist that it is
20
See e.g. Tro. 615, 639ff„ 820ff.
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Hecuba, of all people, who urges Menelaus to listen to Helen's plea (906ff.): thereby she offers the woman she wants dead, the woman she hates more than anybody else, the chance to present herself to her husband in all her physical beauty and so save her own life. Finally, Euripides has given special complexity to the dramatic structure of the dialectic in the Troades by planting a second reversal underneath the first. This time the reversal will be inflicted on the Greeks, who, after ten long years, are looking forward to a triumphant voyage home. The prologue points unambiguously ahead to the punishment of the hybristic victors: The man who sacks a city is a fool, who gives the temples and the tombs, the hallowed places of the dead, to desolation. His own ruin must come. (95-7) And soon afterwards, in her great vision of the future, Cassandra prophetically announces the suffering in store for the Greek heroes, especially Agamemnon and the house of Atreus (308ff.). From the beginning, therefore, the victors are marked out as future victims. To be sure, their 'bitter home-coming' is not the retribution for what they have done to the helpless Trojan women, but punishment for defiling the temples of Troy. Nevertheless, by announcing the punishment in a prologue and not in a deusex-machina scene at the end, Euripides does create the impression, erroneous though it is, that their brutal actions against the Trojan women will recoil on them. However, as with the reversal of Troy's fate, the internal link between doing and suffering is not conceived dialectically. In the Hecuba, the second of the two Trojan tragedies, Euripides once more presents the tragedy of Troy as the complete transformation of splendour and happiness into suffering and slavery. 21 As in the Troades, he stresses the suddenness of the catastrophe that annihilates all the Trojans' hopes and expectations, when the chorus laments the fatal night that the wooden horse was brought into the city (905ff.); and as in the Troades, 21
See e.g. Hec. I f f , 285,490ff„ 765ff.
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Euripides focuses entirely on the victims, not the victors. It is only in the last part of the play, when the frail and helpless victim Hecuba turns into an awesome agent of punishment, that the rather static plot gains dramatic momentum, and it is here that the dialectical element of the Polydorus theme unfolds its full force. When Troy seemed doomed to fall, Priam and Hecuba sent Polydorus, the youngest of their sons, to Polymestor, an old Thracian guest-friend, and with him went large amounts of gold (1-15). However, this attempt to save Polydorus' life and to secure the wealth of their surviving children turns unexpectedly, and yet with compelling logic, into its exact opposite. In his greed for the gold, 'the first of all the guest-friends' of the royal house of Priam (as Hecuba calls Polymestor in 793f.) kills the boy who has been put in his custody (21-7). With the punishment of this crime, the dialectical movement repeats itself by means of the same compelling logic. For Hecuba successfully inveigles the greedy Thracian king into her tent by promising to show him where the treasures of Priam's house are hidden (998ff.); in this way she is able to blind the traitor and kill his young sons. Just like Priam and Hecuba, Polymestor suffers the opposite of what he has been hoping for. The tragic irony of the reversal is obvious. The greed for gold, which seduced Polymestor into committing a crime against the divine law of hospitality, is now responsible for his destruction, and his fate overtakes him in the seemingly safe context of hospitality. Like the plot of the Troades and the Hecuba, the overall dramatic structure of the Heracles is not dialectically conceived. As in the Trojan tragedies, Euripides relies for the emotional impact of the play primarily on a detailed and poignant elaboration of the reversal, or rather the series of reversals, which arise from outside causes without inner dialectical coherence. When he set out for his last great adventure, the descent into Hades, Heracles left his wife, Megara, and their children in the tutelage of his old father, Amphitryon. During the hero's long absence, Lycus has taken possession of the Theban throne; in order to stabilize his fragile power, he
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plans to destroy the family of Heracles. The opening scene of the play presents the first total reversal. Amphitryon and Megara have taken refuge at the monument which the Thebans erected for Heracles in honour of his victory over the Minyans (44ff.). Time and again they lament the way that all their hopes have been overturned.22 Only at the very last moment, when any prospect of defying Lycus or escaping his murderous assault has gone, when Megara, with wreaths and black robes (442f., 526f.), has already prepared herself and the children for their impending death, when the audience at any moment expects the entrance of the executioner Lycus - only now does Heracles appear and kill the usurper. This sudden peripeteia is in exact accordance with the second of Aristotle's examples. As in the Lynceus of Theodectes, the events develop in such a way that one who wanted to kill is killed, while those who appeared to be doomed are saved (728-31). Yet now, at the very moment of rejoicing at the unforeseen turn of events (735, 765f.), Iris and Lyssa break in, turning the dramatic action back in the opposite direction yet again (815ff.). Now the gods destroy the victor: (τον ευτυχή μετέβαλεν δαίμων, 884). The messenger-speech (922ff.) presents the second, sudden, radical reversal. The hero who has triumphed over Hades plunges into a second and far worse Hades, the dark night of madness. At the altar where he means to celebrate his victory over Lycus, the putative saviour of his family kills his wife and children with the very same weapons he had just used to save them (1098ff.). Theseus' arrival leads to a third and final reversal (1153ff.). The king of Athens succeeds in persuading Heracles that he can and must go on living. But Theseus actually came to rescue the family of his old friend Heracles from the assault of Lycus and thus, in effect, has arrived too late. The bitterness of the tragic pattern is almost unrelieved. Over and over again in the last part of the play, Euripides stresses the utter reversal of Heracles' greatness and fortune: the greatest of all Greek heroes is finally ruined by
22
See e.g. (Megara) 60ff„ 457ff, 480(!), and (Amphitryon) Iff., 508ff. (!).
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Hera's wrath (1356ff.); all his toils and labours have ended in suffering; all his glorious victories have only led to a final horrible murder (1266ff., 1353ff.). For all the help and comfort that Theseus can offer him, his plans and his life's work are in ruins (1367ff). In the reversals embodied in the two Trojan tragedies and the Heracles, one can only detect hints or isolated elements of tragic dialectic. By contrast, the other three great tragedies of the preserved oeuvre - Medea, Hippolytus, and Bacchae - are deeply imbued with the tragic dialectic of human doing and suffering. In the Medea both the more distant and the closer antecedents of the play are already dialectically structured. Pelias has sent Jason off to get the golden fleece, hoping to get rid of the dangerous son of a brother he once deprived of the throne, and thinking thereby to consolidate his reign. But the ingenious plan rebounds on him. Jason brings back not only the golden fleece but also Medea, who makes Pelias the victim of a sinister revenge. These antecedents are of very little importance for the play; however, the starting-point of the dramatic action, as presented by Medea's nurse in the prologue, is also clearly a dialectical peripeteia
in its own right. Medea has sacrificed
everything for Jason: her country, her family, and her own security. Right at the moment when her whole well-being in a foreign country depends on the man she loves, he forsakes her. All her deeds which were designed to create and strengthen the bonds of endearment have ended in hostility (16); her nearest and dearest has turned out her worst enemy; the woman who betrayed for love is now herself betrayed - and, as she surmises, for love again. The revenge that springs from this situation is conceived dialectically in its entirety. This already holds true of the starting-point of the play. Creon, king of Corinth, has decided to drive Medea out of the country because he fears that, in her anger about Jason's new marriage, she may hurt his daughter Creusa (27Iff.). But the aggravated situation - the prospect of sudden expulsion on top of the loss of her husband - compels Medea to react. The king's prudent attempt to head off a potential revenge precipitates the
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catastrophe and thus contributes to the death of his daughter and his own end. The effect of this dialectical movement is further intensified by the peculiar tragic irony of the scene in which Medea finally succeeds in persuading the hitherto obdurate king to let her stay an extra day, by an appeal to his love for his daughter (340-47). Yet it is precisely this filial love, which moves the king first to act and then to give in, that is destined to destroy his child and himself. What is true of the deuteragonist Creon and his fate applies equally to the way the fatal clash of the two central figures is shaped. The conflict between Medea and Jason gains its particular tragic poignancy from the dialectical movement in which their intentions and actions rebound on them and destroy them. Jason had preferred Medea to all Greek women and thus in a sense himself determined, or at least contributed to, his subsequent misfortune. What once saved his life - Medea's love, determination, and intelligence now destroys it. As Jason freely explains, the intention behind his decision to marry the Corinthian king's daughter was the hope of ensuring the future of his house and a high position for his two sons (593ff.). But as he endeavours to persuade Medea of the integrity of his intentions, both his arguments and the way he presents them cannot but intensify her anger. More important, they supply her with her scheme of revenge. 23 When she has reached her final decision and secured a refuge in Athens, she proclaims in triumph (802ff.): With heaven's help he'll pay me for his crime. Those sons he had from me he'll never see Alive again, nor on his new bride Will he beget another child. In the following scene Medea's appeal to filial love sways Jason as it swayed Creon (938ff). The hope of keeping his two sons for himself makes him blind
23
On the development of her scheme, cf. B. Manuwald, 'Der Mord an den Kindern', WS 17 (1983) 27-61.
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to Medea's cruel plan that turns the children, for whom he lives and plans and acts, into the gruesome instrument of her revenge. In the end Jason has to realize that his life, as he planned it, is completely destroyed (1347ff.): To mourn my fate is all that's left for me; I'll have no pleasure from my new-wed wife. The sons I fathered and brought up, I'll never Speak to alive. I have lost them. Medea's answer to Jason's accusations translates the dialectic of his designs and their failure into a simple and concrete form, when she declares that it was not she, but Jason, who killed the children (1363-6 and 137If.): Jason: Children, what a wicked mother you had! Medea: No, your father gave you the disease you died from. Jason: I tell you it was not my hand that killed them. Medea: No, it was your wantonness, and your virgin wedding. ... Jason: Your sons live on, to bring down curses on you. Medea: The gods know who was the author of this sorrow. When Medea finally prevents him from either touching or burying his two sons, the play ends with a cry of outrage from Jason that pointedly summarizes the dialectical reversal of all his dreams and plans (1413f.): Would I had never fathered them Only to see them slaughtered by you. The true emotional centre of the play, however, is hardly the tragedy of the weak Jason, but the tragedy of the mother who brings herself to murder her children. As in the case of Jason, one can clearly recognize the dialectical movement by which Medea's plans and actions not only affect her antagonist, but also turn against herself. The tremendous dramatic tension of the play, which reaches its climax in the famous - and much disputed -
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decision-monologue (1021-80)24, derives from the way that Euripides leads Medea, step by step, towards the tragic realization that she cannot fully punish Jason unless she kills their own children. The punishment of the traitor, so desperately desired, turns agent into victim at the very moment of the agent's victory. The wreck of Jason's life inevitably wrecks Medea's own hopes and dreams (1024ff.): Yet I must go to exile in another land Before the joy of seeing you in your happiness, Before I've dressed your brides and made your marriage beds And held the torch up at your wedding. What misery: my own self-will has caused it. Children, I brought you up for nothing, And suffered pain and wore myself away In cruel labour when I gave birth to you. Yes, once I had great hopes of you. I thought You would look after me in my old age, And when I died your hands would dress me for the grave And the world would envy me. Now that sweet thought Is gone. Once I am left without you, Bitter my life must be, and full of sorrow. Whereas Jason falls victim to his own inner weakness, Medea's tragedy is the logical consequence of her strengths. The play is the tragedy of a heroine with pride and self-esteem both as woman and princess, and with strong religious, social, and moral convictions that will not allow her to tolerate the outrage inflicted upon her;25 and Euripides' Medea is too intelligent not to
24
See B. Seidensticker, 'Euripides' Medea·. An Interpolation?', in M. Griffith and D. J. Mastronarde (edd.), Cabinet of the Muses (Harvard 1990) 89-102 (n.l. lists the most important discussions of the problem) (= in diesem Bd., S. 88-108). 25 Cf. E.B. Bongie, 'Heroic Elements in the Medea of Euripides', ΤΑΡΑ 107 (1977) 27-56; P. E. Easterling, 'The Infanticide in Euripides' Medea', YCS 25 (1977) 177-91; and esp. Β. M. W. Knox, 'The Medea of Euripides', YCS 25 (1977) 193-225.
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find the most effective revenge, and too determined and strong not to carry it through, despite the fact that in the course of her revenge she must hurt herself as much as the man she hates. Thus it is the best in her which - by way of a dialectical volte-face - turns against her and forces her to destroy in a single act not only her enemy, but herself. The same is true - mutatis mutandis - for Hippolytus, who is brought down by the peremptoriness of his nature and by the determination with which he pursues his chosen life. His uncompromising devotion to Artemis and her ideals of purity, chastity, and self-control inevitably calls forth the divine counterweight in the shape of Aphrodite. The prologue leaves no doubt that Phaedra is the instrument and victim of the goddess of love, but this does not mean that dramatic action and tragic conflict lose their natural force and their inner compulsion. Hippolytus' extraordinary piety and selfcontrol get the tragic mechanism going and drive it on towards the catastrophe. What is not said explicitly in the text, though there are clear indications of it, 26 is that, besides the exceptional beauty of her young stepson, and his inaccessibility, it is the purity and rigour of his nature and ideals that made Hippolytus desirable to Phaedra in the first place; and in large measure it is these same qualities that further the dramatic development of the action. Thus it is inevitable that Hippolytus' excessive (albeit understandable and justifiable) resentment of the nurse's proposal should trigger Phaedra's fear that her unholy love for her husband's son will be made public; it is this fear of loss of honour which, in her eyes, leaves her no option but suicide and at the same time requires that Hippolytus be destroyed. Hippolytus must react the way he does, because the proposal violates his most sacred convictions and feelings; because he cannot bring himself to give up his ideals, he is forced to keep his silence, when at the crucial moment he could have answered Theseus' accusations and been safe. This honourable silence, however, and the self-assured and self-righteous assertion of his
2ιφή' (den „Beinwerfer"), mit dem wohl eine Figur bezeichnet ist, die wiederholt auf Vasen zu sehen ist. Dabei reißt der Tänzer immer abwechselnd ein Bein mit gebogenem Knie zur Seite hoch, der Fuß zeigt dabei nach unten; oft sind eine Hand oder auch beide in die Hüfte gestemmt. Daß es sich um eine besonders typische Bewegung handelt, dürfen wir wohl der Tatsache entnehmen, daß der einzige Choreut der Pronomosvase (Taf. 8/9), der noch oder schon als Satyr verkleidet ist, genau diesen Tanzschritt ausführt. 109 Hier ist besondere Vorsicht geboten. Die Identifikation einer dargestellten Bewegung als 'Bühnenbewegung' kann nie mehr sein, als eine mehr oder minder plausible Hypothese; immerhin verdient Hedreens Vorschlag, die attisch rotfigurige Kalpis des Leningrad-Malers in Boston (Taf. 4, zu 5 Aisch. Thalamopoioi vgl. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 209) vermittle ein lebendiges Bild eines tanzenden Satyrchors ebenso Beachtung wie sein Hinweis auf die sechs kriechenden Satyrn, die ein attisch rotfiguriger Psykter des Kleophrades-Malers (Compiegne, Musee Vivenel 1068; Beazley, ARV 2 188, 66; 500-480 v. Chr.) zeigt (Hedreen 1992, 112 mit Abb. 35a-d). Die streng choreographische Stilisierung und Reglementierung der sechs Choreuten legt die Vermutung nahe, daß es sich um den Reflex eines Satyrchortanzes handelt.
Satyrspiel
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umstritten sind, daß aber alle antiken Zeugnisse darin übereinstimmen, daß es sich um einen lebhaften burlesken Tanz mit obszönen Bewegungen handelt. Die heftige Bewegung und die Natur der Satyrn, die nun mal schlecht Ordnung halten können, lassen es nicht verwunderlich erscheinen, daß die Texte immer wieder darauf hindeuten, daß der Chor des Satyrspiels häufiger als der Chor der Tragödie, der in der Regel in geschlossener Formation tanzte und sang, in Teilchöre oder gar Einzeltänzer aufgelöst wurde. 110 Für die Parodos scheint es geradezu typisch gewesen zu sein, daß die Choreuten nicht wie in der Tragödie in geordneten rechteckigen Formationen (d.h. in den sogenannten ζυγά) einmarschierten, sondern einzeln oder in kleinen Gruppen in die Orchestra tanzten oder liefen. Sicher ist das im Kyklops der Fall gewesen; aber auch fur die Ichneutai läßt der Text kaum eine andere Lösung zu (s. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 296 Anm. 24); und für die Diktyulkoi ist es immerhin wahrscheinlich. b) Silenos Ebenso typisch für die Gattung und ebenso obligatorisch wie der Satyrchor war auch die Gestalt des Silenos. Das neben dem Kyklops erhaltene Material, das für seine Rolle ausgewertet werden kann, ist zwar gering, dennoch läßt sich ein Bild von der typischen Rolle des Silen und ihrer allmählichen Entwicklung gewinnen: Der Pappo-Silen (Papa-Silen) 111 ist in der Tat ein rechter Vater der Satyrn. 112 Er teilt nicht nur immer ihr Schicksal, sondern weist auch
110 Churmuziadis 1974, 72-90 hat durch präzise und einfühlsame Analysen der Ichneutai nicht nur die verschiedenen Phasen und Formen der Aufteilung des Chors bestätigt, sondern auch plausibel gemacht, daß während des ersten Teils der Sucherei verschiedene Teile des Chors ganz unterschiedliche Bewegungen vollführen, und daß bei der Fortsetzung der Suche der Chor, den Silenos durch Pfiffe zu ordnen und zu lenken versucht, durch den verwirrenden Klang der Lyra immer mehr auseinanderbricht. 111 Poll. 4, 142. 112 Vgl. z. B. Eur. Cycl. 84; Soph. lehn. 47.
392
Satyrspiel
weitgehend dieselben Eigenschaften auf wie seine nichtsnutzigen Söhne. 1 1 3 Andererseits agiert er neben dem Satyrchor als durchaus selbständige Figur. Diese merkwürdige Konzeption wirft die Frage auf, ob Silenos
als
selbständige Schauspielerrolle oder als (zweiter) Chorführer aufzufassen ist oder als ein tertium
quid - eine Art „κορυφαίος
συναγωνιζόμενος"
(„mitspielender Chorführer") - zwischen Chor und Schauspielern agiert: 114 Collinges Antwort dürfte das Richtige treffen. Er vermutet, daß Silenos sich im
Verlaufe
der
Geschichte
Schauspieler entwickelt hat.
115
des
Satyrspiels
vom
Chorführer
zum
Die Tatsache, daß die Rolle des Papposilenos
offenbar eine Schöpfung des Satyrspiels ist, die sich mit Hilfe des archäologischen Materials in das zweite Viertel des 5. Jhs. datieren läßt, bestätigt diese Hypothese ebenso wie die erhaltenen Texte, die in der Tat eine gewisse Entwicklung der Rolle von den Isthmiastai und Diktyulkoi über die Ichneutai bis zum Kyklops Entwicklung
dürfte
durch
ermöglicht worden sein,
117
zeigen. 1 1 6 Der entscheidende Schritt in dieser die
Einführung
des
dritten
Schauspielers
die Aristoteles dem Sophokles zuschreibt. Die
Satyrspiele, die eine solche Analyse erlauben, benötigen alle zwei, aber auch
113 Im Kyklops ist der Silen genauso geil wie die Satyrn und noch durstiger; er ist aufgrund seiner Jahre erfahrener, aber auch wehleidiger; er prahlt, solange Polyphem nicht da ist, mit seinem Mut und kuscht im nächsten Moment, als dieser erscheint, in einer Weise, die selbst den Satyrn als schamlos erscheint; dabei ist er immer pfiffig, schlagfertig und witzig. Der Silen der Ichneutai zeigt ganz ähnliche Züge (s. 10 Soph. Ichneutai, 5); in den Aischyleischen Diktyulkoi erscheint er dagegen noch stärker als „naives Naturwesen" (Conrad 1997,226). 114 Collinge 1959; Sutton, 1974b; Seaford 1984,4f.; Conrad 1997. 115 Collinge 1959,30 116 Conrad 1997 hat die allmähliche Emanzipation des Silenos vom Satyrchor und die damit verbundenen Folgen für Wesen und Charakter der Person durch detaillierte Interpretationen des kargen Materials überzeugend bestätigt. 117 Conrad 1997, 80-82; 222-224, vermutet, daß „innere Gründe" (222) den Anstoß zu dieser Entwicklung gegeben haben. Die 'Erfindung' des Papposilen sei eine Folge der Dramatisierung der Danae-Geschichte. Aischylos habe Vater und Söhne in den Diktyulkoi als Parallele für Mutter und Kind differenziert, damit sich der Silen als Ehemann (für Danae) und Vater (für Perseus) anbieten konnte, und dann beibehalten; mehr als eine Vermutung ist das jedoch nicht.
Satyrspiel
393
nicht mehr als zwei Schauspieler; der dritte war damit offenbar frei für die obligatorische Rolle des Silenos. 118 Schon in den Ichneutai ist die Trennung von Chor und Silenos vollzogen, die wir dann im vollständig erhaltenen Kyklops deutlich erkennen können: - Silenos tritt völlig unabhängig vom Chor auf und ab. - Er agiert durchweg im Bühnenbereich, während der Chor die Orchestra nicht verläßt. - Er führt Trimeterdialoge mit dem zweifellos durch den Chorführer vertretenen Chor. -Der Silen ist, wie die Texte und Vasenbilder 119 (seit ca. 450 v. Chr.) zeigen, in Alter und äußerlicher Erscheinung deutlich von den Satyrn unterschieden. - Bei aller Gleichheit des Ethos zeigt sich doch eine deutliche dramatische Spannung zwischen dem Papposilenos und seinen Söhnen. 120 Und dennoch handelt es sich um eine besondere Rolle, mit der in der Tragödie allenfalls der Danaos der Aischyleischen Hiketiden
oder - mit
Abstrichen - die Hekabe der Euripideischen Troerinnen verglichen werden können. Denn der Vater der Satyrn bleibt - bei aller Differenzierung - eben doch Teil der Satyrfamilie und repräsentiert zusammen mit ihnen das gattungsbestimmende satyrisch-dionysische Element. 121 Das aber bedeutet einerseits, daß im Satyrspiel durch den Papposilenos Bühnenbereich und Orchestra wesentlich enger miteinander verbunden sind als in der klassischen Tragödie, und andererseits, daß die Verselbständigung und kontinuierliche Erweiterung dieser Rolle zwangsläufig zu Lasten des Chors gegangen sein
118
S. auch die Pronomosvase (Taf. 8/9; vgl.49 Demetrios, Hesione [?]). S. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 55 Anm. 61. 120 Eur. Cycl. 272-274 mißbilligen die Satyrn das Verhalten des Vaters, der sich, als Polyphän erscheint, sofort auf die Seite des vermeintlich Stärkeren schlägt und Odysseus zu Unrecht des Diebstahls des Proviants beschuldigt, den er ihm gerade eben nur allzu bereitwillig für den so lange schmerzlich vermißten Wein verkauft hat. 121 Eine „Distanzierung ... von Dionysos" (Conrad 1997, 228) kann ich nicht erkennen. 119
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Satyrspiel
muß, eine Hypothese, die durch einen vergleichenden Blick auf Ichneutai und Kyklops nahegelegt wird. c) Heldinnen und Helden Der geringe Umfang und die Einfachheit der dramatischen Handlung bedeuten u. a. auch, daß das Satyrspiel in der Regel mit einer relativ kleinen Zahl von Rollen auskommt. Neben Silenos und dem Chor agieren in den Diktyulkoi anscheinend nur Diktys und Danae, im Kyklops nur Odysseus und der Kyklop, in den Ichneutai nur Apollon, Kyllene und Hermes.122 Weiter zeigt sich, daß das Satyrspiel eine deutliche Vorliebe für bestimmte Typen, ja für bestimmte Helden hat: - Besonders häufig ist die Figur des 'Oger' (1), der in verschiedenen Variationen als Riese, Ungeheuer, böser König, mordender Wegelagerer oder gefährliche Zauberin immer wieder auftaucht. In seiner Gewalt befinden sich offenbar häufig die Satyrn. - Diesem Oger, der, wenn auch gelegentlich mit komischen Zügen ausgestattet, das Böse verkörpert, tritt der 'gute Held' (2) gegenüber, der den Unhold bezwingt und die Satyrn befreit. Zwei typische Varianten dieser Figur sind kenntlich: Der 'starke Hans' (2a), der Gewalt mit Gewalt beantwortet; diese Rolle wird besonders von Herakles verkörpert, aber auch von anderen, verwandten Helden des griechischen Mythos (ζ. B. Theseus, Polydeukes, Perseus, Iason) übernommen. Der 'listige Schlauberger' (2b), der den Sieg mit Hilfe seines überlegenen Verstandes, mit Witz und List erringt. In dieser Rolle erscheinen die berühmtesten Schelme der griechischen Mythologie: von Hermes, dem
122
Zu sichern ist eine größere Zahl von Personen lediglich für den Sophokleischen Inachos; vgl. auch 10 Soph. Achilleos Erastai.
Satyrspiel
395
erfindungsreichen Gott der Diebe, über Sisyphos, der sogar den Tod überlistet, und den Meisterdieb Autolykos, bis zu dessen Enkel Odysseus.123 - Das Satyrspiel bringt gerne Götter (3) auf die Bühne, und zwar anscheinend weit häufiger als Tragödie und Komödie. Besonders in Sophokleischen Satyrspielen haben sie offenbar eine große Rolle gespielt.124 - Häufig stehen schöne Frauen im Mittelpunkt der Ereignisse. Ihre typische Rolle ergibt sich ganz natürlich aus dem besonderen sexuellen Appetit der Satyrn, die in vielen Stücken ein Auge auf schöne junge Mädchen und Frauen werfen 125 und dabei wohl auch vor Göttinnen nicht zurückschrecken.126 Da überrascht es nicht, daß auch Heroen wie Herakles und Achill nicht sicher vor ihnen sind.127 Während an dem durchgehend komischen Charakter der Rollen der Satyrn und des Silenos kein Zweifel bestehen kann, erlauben die erhaltenen Texte keine eindeutige Beantwortung der Frage, ob und in welchem Maße auch die anderen typischen Figuren des Satyrspiels als komische Gestalten konzipiert sind. Daß die Oger auch komische Züge getragen haben, zeigt das einzige erhaltene Exemplar des Typus, der Polyphem des Kyklops.n8 Die 123
Auch Prometheus (5 Aisch. Prometheus Pyrkaeus) und den Seher Amphiareos (10 Soph. Amphiareos) kann man zu dieser Kategorie rechnen. 124 Auch Aischylos bietet eine ganze Reihe von Beispielen, zu denen man noch Figuren wie Kirke und die Sphinx, Proteus und den unsterblichen Meergreis Glaukos hinzurechnen kann. Es ist daher interessant, daß fur Euripides, der doch in seinen Tragödien relativ häufig Götter auftreten läßt, nur zwei eher unbedeutende Beispiele bekannt sind (denn Hermes hat sowohl im Syleus als auch im Skiron kaum mehr als eine Nebenrolle gespielt; s. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 449ff. und 457ff.). 125 vgl. ζ. B. 5 Aisch. Diktyulkoi (Danae), Amymone; 10 Soph. Pandora·, 19 Ion und 20 Achaios, Omphale; 18 Eur. Syleus (Tochter des Syleus). 126 Ζ. B. 10 Soph. Krisis (Aphrodite und Athena (Hera?); auch in dem auf einem Vasenbild bezeugten Iris-Stück (s. Taf. 29; vgl. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 59f.) dürfte dieses Motiv eine Rolle gespielt haben. 127 20 Achaios, Linos; 10 Soph. Achilleos Erastai. 128 Auch Diomedes 490, 20 K. bezeichnet in seiner ansonsten nicht unproblematischen Bestimmung der dramatis personae des Satyrspiels Autolykos und Busiris als komische Figuren: in satyrica fere satyrorum personae introducuntur aut si quae sunt
396
Satyrspiel
Unholde und Monster dürften also schrecklich und komisch
zugleich
gewesen sein. Eine weitgehend komische Figur ist zweifellos auch ihr Hauptkontrahent, Herakles. Das Satyrspiel hat ihn nicht nur als 'starken Hans' und großen Sieger, sondern auch als großen Fresser und Säufer auf die Bühne gebracht 1 2 9 und damit die Züge besonders betont, die auch die zeitgenössische Komödie so liebevoll ausgemalt hat. Der (hinter der Szene) schlemmende und dann angetrunken, laut und unmusikalisch
grölende
Herakles in der Alkestis des Euripides (V. 747 ff.) ist offenbar typisch. 1 3 0 Leider läßt sich anhand des erhaltenen Materials nicht erkennen, ob auch andere Vertreter des 'Starken Hans'-Typs komische Züge getragen haben. Sicher ist das zumindest fur einige der 'listigen Schlauberger'. Autolykos und Sisyphos haben gewiß die Lacher auf ihrer Seite gehabt; Hermes sorgt in Ichneutai und Inachos für allerlei komische Verwirrung; und der Odysseus des Kyklops
trägt zwar nicht dieselben Züge wie in der zeitgenössischen
Komödie, eine gewisse ironische Distanz des Dichters zu seinem Helden ist jedoch nicht zu übersehen. 1 3 1 Deutlicher als die indirekte Ironie ist die Wirkung, die aus der Begegnung der Helden mit den unheldischen Satyrn entspringt. Der Zusammenstoß zweier völlig verschiedener Welten bietet reiche komische Möglichkeiten. In der 'untragischen' Umgebung wirken die Helden deplaziert, ihr Verhalten (wie ihr Kostüm und teilweise auch ihre Sprache) unpassend. 1 3 2
ridiculae similes satyris, Autolycus, Busiris („Im Satyrspiel treten in der Regel [?] Satyrn auf oder [auch?] andere, den Satyrn ähnliche, lächerliche Personen wie Autolycus und Busiris"). 129 Auch sein großer sexueller Appetit hat gewiß eine Rolle gespielt. 130 18 Eur. F 907; vgl. auch Cycl. 425f. 131 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Tragödie III, Berlin 61926, 21 geht zwar ein gutes Stück zu weit, wenn er von den „Rodomontaden" des Odysseus spricht, der „immerfort mit dem Brustton des Theaterhelden deklamiert", völlig frei von komischen Obertönen sind seine beiden großen Reden (285ff., 382ff.) jedoch in der Tat nicht. 132 Im Kyklops tönen ζ. B. Odysseus' Auftrittsworte ein wenig zu erhaben (und daher leicht komisch), wenn er das benötigte Trinkwasser in tragischer Manier als „Flußnaß, Heilmittel gegen den Durst" umschreibt (96f.), und auch seine Rede vor
Satyrspiel
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Zusammenfassend läßt sich konstatieren: Die neben den Satyrn und Silenos auftretenden Helden tragen entweder deutlich komische Züge oder werden doch, auch wenn sie in Kostüm und Rolle die tragische Haltung bewahren, durch indirekte Ironie und die Satyrumgebung und -perspektive leicht komisch verfremdet. 7. Typische Stoffe und Motive 133 Wie schon die obligatorische Anwesenheit von Satyrn und Silen und die stereotype Verwendung bestimmter Figuren (s. ο. II. b. 6) zeigen, war das Satyrspiel offenbar in weit stärkerem Maße als die Tragödie durch die vielfache
Wiederholung
und
Variation
derselben
dramatischen
und
thematischen Motive und Situationen und durch die Wahl solcher mythischer Stoffe geprägt, in denen diese Elemente bereits angelegt waren oder in die sie doch leicht integriert werden konnten.134 Eine ganz besondere Vorliebe zeigt das Satyrspiel, wie bereits betont, für mythische Geschichten, in denen gewalttätigen Unholden und Ungeheuern das Handwerk gelegt wird (1). Entweder gerät der gefährliche Bösewicht an einen Stärkeren (Typ: Herakles) oder an einen Klügeren (Typ: Odysseus).
Polyphem (285ff.) wirkt leicht komisch, weil er „vergißt", daß er nicht wie in der Tragödie zu seinesgleichen, sondern zu einem Oger des Satyrspiels spricht. Weiter hat Schmid darauf hingewiesen (Schmid/Stählin 13, 535), wie hübsch „seine unerschütterliche tragische Würde nebst der ganzen troischen Herrlichkeit von Silen (104ff.) und Satyrn (175ff.) ironisiert wird." „Man sieht die Grandezza des Trojahelden im ergötzlichen Hohlspiegel [der Satyrn]." 133 Vgl. hierzu bes. Guggisberg 1947, 60-74; Sutton 1980, 145-159; Seaford 1984, 33-44; eine schnelle Orientierung über das gesamte Material bietet der Motivindex in Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 666ff. 134 Die weitgehende Typisierung von Stoffen und Handlungsverläufen, Motiven und Themen, die für die Erwartungshaltung des antiken Publikums und damit für die Wirkung der Gattung von erheblicher Bedeutung gewesen sein dürfte, kann dem modernen Philologen nicht nur bei der Bestimmung der Satyrspielqualität eines unsicheren Stücks, sondern auch bei der Rekonstruktion verlorener Satyrspieler von Nutzen sein. Die Gefahr des hermeneutischen Zirkels muß dabei in Rechnung gestellt, aber in Kauf genommen werden.
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Satyrspiel
Zweifellos hat im Rahmen dieses Handlungstyps die auch in der Tragödie und Komödie beliebte Barbaren-Hellenen-Antithese nicht nur im Kyklops eine wichtige Rolle gespielt. Ein weiterer dazugehöriger thematischer Topos ist anscheinend das Motiv der Gastfreundschaft, deren Verletzung durch den Oger zur moralischen Rechtfertigung seiner oft grausamen Bestrafung dienen konnte. Höhepunkt und Peripetie ist immer der Zusammenstoß zwischen Unhold und Held, und nicht selten ist die dramatische Entwicklung so konzipiert, daß sie auf eine dialektische Peripetie mit ironisch-komischer Pointe zuläuft. Der Held (Herakles, Theseus u. a.) macht mit dem Unhold (Busiris, Lityerses, Skiron u. a.) eben das, was diese jahrelang ungestraft Schwächeren angetan haben. Gefangenschaft und Befreiung (2) ist ein zweites, fur die Gattung typisches Motiv. Vor allem die 'Sklaverei' der Satyrn ist offenbar ein konventionelles, 135 wenn auch sicher kein obligatorisches 136 Satyrspielmotiv gewesen. Wir können vermuten, daß die nicht immer einfache Einfügung der Satyrn in einen satyrfremden mythischen Stoff von den Dichtern oft in ähnlicher Weise motiviert worden ist wie im Kyklops, wo sie in die Hände des Unholds gefallen sind und als Sklaven für ihn arbeiten müssen. Ebenso werden sie auch den Euripideischen Ogern Busiris, Lityerses oder Syleus und manchem anderen Unhold der Gattung haben dienen müssen. Das Motiv ist jedoch keineswegs auf die Oger-Stoffe beschränkt; auch in den Sophokleischen Ichneutai sind die Satyrn Sklaven, und in den Isthmiastai des Aischylos bezeichnen sie selber sogar ihren bakchischen Dienst bei Dionysos als Sklaverei, der sie entfliehen wollen. 137 Das Abhängigkeitsverhältnis, in dem wir die freiheitsliebenden Waldschrate immer wieder sehen, muß nicht unbedingt erzwungen sein; gelegentlich haben sie wohl wie in den Diktyulkoi und in den Ichneutai ihre Dienste auch freiwillig - gegen Belohnung -
135
Wilamowitz 1912,454. Robert 1912a, 552ff. 137 5 Aisch., Isthmiastai F 78 c 5ff.; Guggisberg 1947, 60-63; Churmuziadis 1974, 78-84; Seaford 1984,33-36. 136
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angeboten oder von sich aus undionysische Tätigkeiten gewählt, wie ζ. B. in den Isthmiastai.138 Wiederholt befinden sich auch andere Personen in der für die Satyrn und Silenos typischen Situation. So ist ζ. B. bei Euripides Herakles öfter als Sklave aufgetreten; sicher im Syleus und Eurystheus, möglicherweise im Busiris und in den Theristai. Nimmt man engverwandte Motive wie Befreiung oder Flucht aus Gefangenschaft und Errettung aus sexueller Bedrohung hinzu, so gehören ζ. B. auch Odysseus' erfolgreiche Flucht aus der Höhle des Kyklopen, Sisyphos' Überlistung des Todes und die Rettung gefährdeter Mädchen (ζ. B. Amymone und Danae) hierher.139 Die dramatische Bewegung verläuft immer von Bedrohung und Knechtschaft zur Rettung und Befreiung. Die Helden bleiben siegreich, die jungen Mädchen sind gerettet, die Satyrn werden befreit und kehren aus den fremden Geschichten in ihre Welt und zu Dionysos zurück. Am Ende steht das für die Gattung obligatorische Happy-End. Weitere beliebte Handlungs-Motive sind Gaunereien, Listen und Tricks (3). Das Satyrspiel zeigt, wie bereits gesagt, gern die großen 'Schlaumeier* des Mythos in den Geschichten, die sie berühmt gemacht haben: Prometheus und der Diebstahl des Feuers (Aisch. Prometheus Pyrkaeus), Hephaistos und die Fesselung der Hera (s. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 58f.); der Rätsellöser Oidipus (Aisch. Sphinx), Odysseus' Überwindung des Kyklopen (Aristias, Kyklops und Eur. Kyklops), Sisyphos' gleich zweimalige Überlistung des Todes (Aisch. Sisyphos Drapetes), Autolykos' geniale Diebereien (Eur. Autolykos) und schließlich Hermes, den Schelm aller Schelme und Gott der Diebe, wie er schon als Baby die Rinder seines Bruders Apollon stiehlt (Soph. Ichneutai).140 Diebische Gaunereien sind natürlich so recht nach dem Herzen der Satyrn. Vasenbilder, wie der spätarchaische Volutenkrater in
138
Vgl. Seaford 1984, 35f. Vgl. Sutton 1980, 147f. 14 0 Vielleicht hat er in dem verlorenen Ende des Stücks Apollon auch noch den Bogen gestohlen, s. 10 Soph. Ichneutai, 5. 139
400
Satyrspiel
Padula (Taf. 7) und Fragmente legen die Vermutung nahe, daß sich auch die Satyrn als Diebe betätigt und ζ. B. versucht haben, Herakles seine Waffen zu stehlen. Auch bei Symposionszenen können wir sie uns gut als diebische Assistenten und Nascher (wie Silenos im Kyklops) vorstellen. 141 In den Ichneutai ist der Diebstahl-Topos mit einem weiteren typischen Handlungs-Motiv verknüpft, das bereits im Stoff angelegt ist. Hermes stiehlt nicht nur Apollons Rinder, sondern fabriziert mit dem Panzer einer Schildkröte und mit Haut und Därmen der gestohlenen Tiere auch die erste Lyra. Erfindungen und Neuigkeiten (4) aller Art (und das ängstlichneugierige Staunen der Satyrn darüber) finden sich in den erhaltenen Überresten des Satyrspiels immer wieder: 142 So wie Hermes hier die Leier, haben wohl auch Athene in einem unbekannten Stück die Flöte (adesp. F 381) und Dionysos im Sophokleischen Dionysiskos den Wein erfunden. Im Inachos des Sophokles hören die Satyrn vielleicht zum ersten Mal die von Hermes erfundene Syrinx, im Prometheus Pyrkaeus
des Aischylos machen sie erste Bekanntschaft mit dem von
Prometheus gestohlenen Feuer. Im Mittelpunkt der Sophokleischen Pandora stand die Erschaffung oder erste Erscheinung der Unglücksfrau. 143 Ferner gehören auch die wunderbaren Künste des Daidalos (Soph. Daidalos) und die neuen Sportgeräte in den Isthmiastai des Aischylos hierher, und verwandt sind schließlich auch die wundersamen Verwandlungen, die in einer ganzen Reihe von Stücken berichtet werden. 144 Natürlich haben die Satyrn versucht, sich einen Reim auf das noch nie Gehörte oder Gesehene zu machen. Rateszenen sind fur eine ganze Reihe von Stücken bezeugt oder doch sehr 141
Allerdings ist der Zusammenhang von Vasenbildern, die Satyrn beim Symposion zeigen, mit dem Theater nicht zu sichern; s. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 61 mit Anm. 94. 142 Vgl. Seaford 1984, 36f. 143 Seaford 1984, 37, vermutet auf der Basis von Schol. Hes. Op. 89 ein anderes Satyrspiel, in dem die 'Büchse' der Pandora eine Rolle gespielt hat. 144 5 Aisch. Glaukos Pontios, Proteus, Kirke, Trophoi; 10 Soph. Inachos.
Satyrspiel
401
wahrscheinlich. 145 Und welche Möglichkeiten zu bewegtem dramatischen Spiel der zwischen Neugier und Angst, Staunen und Schrecken hin- und herschwankenden Sophokleischen
Satyrn dieses Motiv bot, zeigen eindrucksvoll
die
146
Ichneutai.
Als weitere typische Motive, die allerdings nicht vergleichbar häufig sind, sind von der Kritik noch Geburt und Erziehung von Göttern und Helden (5), 147 aus der Erde aufsteigende Gestalten (6) 1 4 8 und Hadesabenteuer (7) 1 4 9 genannt worden. 150 Schließlich gibt es eine ganze Reihe von stofflichen und thematischen Motiven, die als besonders typisch für die Gattung gelten können und eng mit dem Charakter der Satyrn und den ihnen eigenen Trieben verbunden sind (8). So hat der sexuelle Appetit der Satyrn als Zentral- oder Nebenmotiv eine große Rolle gespielt (8a). 151 Seine Bedeutung reicht von einzelnen obszönen Bemerkungen bis zu typischen Situationen, ja ganzen Handlungsabläufen. 152 Locus classicus ist der Versuch der Satyrn und Silens, Danae für sich zu gewinnen (Diktyulkoi); ähnlich müssen die lüsternen Burschen ζ. B. auch Amymone oder der Tochter des Syleus nachgestellt haben, und vielleicht sind sie, wie auf Vasenbildern, so auch in Satyrspielen sogar vor einem Angriff auf Göttinnen nicht zurückgeschreckt. Auf einer berühmten Schale
145
Ζ. B. 5 Aisch. Sphinx; 10 Soph. Ichneutai. > Zu Neugier und Angst der Satyrn in Bildern der sog. Anodos-Szenen s. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 56f. 147 Welcker 1826, 313; Seaford 1984, 38. 148 Buschor 1937; Seaford 1984, 37f. 149 Ζ. B. 5 Aisch. Sisyphos Petrokylistes; 10 Soph. Herakles·, 18 Eur. Eurystheus; vgl. auch Seaford 1984, 37f.: „Emergence from the underworld". 150 Die Märchenqualität vieler Satyrspielstoffe und -motive ist evident; vgl. Guggisberg 1947, 68-74 und Sutton 1974c. 151 Bereits in den frühesten literarischen (Hes. F 123 M-W u. Horn. h. 5, 262) und archäologischen Zeugnissen (vgl. dazu Kuhnert 1915, 445ff.) Für das Satyrspiel vgl. Guggisberg 1947, 63-68; Campo 1940,237-241; Churmuziadis 1974,47ff. 152 In einigen Fällen war das Motiv bereits Teil des mythischen Stoffs (Amymone), in anderen wird es neu integriert (Diktyulkoi). 14f
402
Satyrspiel
des Brygos-Malers ist ζ. B. auf einer Seite dargestellt, wie sie sich auf die Götterbotin Iris stürzen, auf der anderen Seite, wie sie sogar Hera anfallen wollen. 153 Nicht selten hat sich ihre Geilheit auch auf das männliche Geschlecht gerichtet. Berühmte Helden wie Herakles (20Achaios, Linos) und Achilleus (10 Soph. Achilleos
Erastai)
sind nicht sicher vor ihnen
gewesen. Erfolg werden sie allerdings wohl nie gehabt haben; mehr als eine Nymphe (oder Bakchantin) steht ihnen nicht zu, und auch hier ist ihr Drängen wohl zumeist erfolglos geblieben. Eine besondere Vorliebe fur erotische Stoffe und Motive, die zwar besonders gern mit der Rolle der Satyrn verbunden, aber keineswegs auf diese beschränkt sind, hat offenbar Sophokles gehabt, während sie in den Satyrspielen des Euripides - im Gegensatz zu seinen Tragödien -, wie es scheint, nur eine geringe Rolle gespielt haben. 154 Mindestens genauso scharf wie auf Frauen sind die Satyrn und Silen auf Wein (8b). Da sie oft fern ihrer dionysischen Welt in einer Umgebung leben müssen, wo man Wein nicht kennt (ζ. B. Kyklops) oder nicht schätzt (ζ. B. Aisch. Lykurgos),
werden ihre Sehnsucht nach dem geliebten Saft, die
Versuche, ihn sich zu verschaffen, sowie ihre Begeisterung und Maßlosigkeit in dem Augenblick, wo ihnen das gelungen ist, von den Autoren immer wieder dargestellt worden sein. 155 Neben dem Kyklops wissen wir auch von 153
In erster Linie geht es hier offenbar darum, Iris am Diebstahl zu hindern; aber das Motiv 'sexuelle Belästigung' wird kaum gefehlt haben. 154 Allerdings macht Herakles im Syleus der Tochter des getöteten Unholds ein eindeutiges Angebot (F 694); im Skiron treten korinthische Hetären auf (F 675), und die groteske Szene, in der der betrunkene Polyphem den alten Silen in seine Höhle trägt (Cycl. 582-589), gewinnt erst auf dem Hintergrund des erotischen Topos ihre ganze Komik. Mehr als eine Nebenrolle haben jedoch in den bekannten Satyrspielen des Euripides erotische Motive nicht gespielt. 155 Die Erweiterung des aus der Odyssee übernommenen Weinmotivs im Euripideischen Kyklops ist aufschlußreich. Von Beginn an spielt der göttliche Trank eine zentrale Rolle, und Höhepunkt des Stücks ist nicht die Blendung wie in der epischen Erzählung, sondern die großartige Symposionszene, in der Silenos in der Rolle des Mundschenks, der sich selbst nicht zu kurz kommen läßt, und Odysseus den Riesen betrunken machen; vgl. dazu Rossi 1971.
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zahlreichen anderen Stücken oder können es doch vermuten, daß der Wein eine große Rolle gespielt hat, und das Essen ist dabei gewiß nicht zu kurz gekommen. Eine besondere Schwäche haben Achaios und Euripides fur Symposionszenen gehabt.156 Eng mit dem Symposionmotiv verbunden sind Musik und Tanz (8c), auf deren große Bedeutung beim Charakterporträt der Satyrn hingewiesen worden ist (s. o. S. 385, 387-91). C. Das Satyrspiel zwischen Komödie und Tragödie In der Bestimmung des Satyrspiels als ,,τραγαηδία παίζουσα" („scherzende Tragödie") durch den Peripatetiker Demetrios ist das komplexe und für das Verständnis der Gattung bedeutungsvolle Problem der Mittelstellung des Satyrspiels zwischen Tragödie und Komödie auf eine ebenso knappe wie treffende Formel gebracht. Auf der einen Seite ist das Satyrspiel eng mit der Tragödie verwandt: Autoren, Schauspieler und Chor, Kostüme und Requisiten, Sprache und Metrik sowie Bauformen und dramatische Struktur sind ganz oder doch weitgehend identisch; ihre Stoffe entnimmt das Satyrspiel wie die Tragödie der Mythologie. Auf der anderen Seite ist das Satyrspiel vom Wesen der Tragödie denkbar weit entfernt. Atmosphäre und Ton, der typische Handlungsverlauf (mit poetischer Gerechtigkeit und Happy-End), die präsentierte Lebensphilosophie und die angestrebte emotionale Wirkung rücken das Satyrspiel in die Nähe der komischen Gattungen.157 Allerdings sind Wesen und Mittel des Lächerlichen (τό γελοΐον) und die Qualität des intendierten Lachens grundverschieden. Auch wenn der detaillierte Vergleich eines Satyrspiels mit einer gleichzeitigen Komödie des
156
Auch Sophokles hat, wie Stoffwahl und erhaltene Fragmente zeigen, reichen Gebrauch von diesem Motiv gemacht, während sich für Aischylos nur wenige Beispiele anführen lassen; gute Zusammenstellung des Materials bei Churmuziadis 1974,133-144. 157 Zum Satyrspiel zwischen Tragödie und Komödie vgl. Seidensticker 1979, 247ίΤ.
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gleichen Stoffs leider nicht möglich ist, lassen sich doch einige allgemeine Feststellungen treffen: 158 (1)Das Satyrspiel teilt zwar mit der Komödie die Vorliebe für die materialistischen Aspekte des menschlichen Lebens und fur die Darstellung alltäglicher Situationen und Tätigkeiten, es präsentiert sie jedoch nicht realistisch als den Alltag des Zuschauers, sondern mythisch distanziert. 159 Die Komik beruht dabei einerseits darauf, daß die großen Gestalten des Mythos in den kleinen Rollen des Lebens gezeigt werden: Herakles als Sklave, Hermes als Dieb, Polyphem als Koch, Skiron als Zuhälter, Odysseus und Silenos bei einem 'athenischen' Symposion mit dem Kyklopen. Andererseits lebt die komische Wirkung nicht zuletzt von dem Kontrast der beiden miteinander verbundenen Welten, von der wie selbstverständlich präsentierten Verbindung von mythischen Helden und halbtierischen Satyrn. 160 (2) Gelacht wird im Satyrspiel wie in der Komödie über letztlich harmlose ästhetische und moralische Fehler und Unzulänglichkeiten (Aristot. poet. 1949a 32-37): über physische Häßlichkeit und Abnormität, über Unzuverlässigkeit und Faulheit, Neugier und Feigheit, Unverfrorenheit und Geilheit der Satyrn. Doch die mythische Verfremdung nimmt der Darstellung der Laster ihre tadelnde Schärfe. Das Lachen ist folglich gelöster und heiterer, weniger kritisch und bitter als in der Komödie. (3) In die gleiche Richtung weist die Tatsache, daß dem Satyrspiel die direkte und indirekte Attacke auf Zeitgenossen und die von ihnen repräsentierten Haltungen, Gedanken und Entwicklungen, die ein besonderes Merkmal der Komödie des 5. Jhs. war, so gut wie ganz fremd ist. Politischer Angriff, soziale Satire oder kritische Karikatur sind nicht Sache des
158
Besonders schmerzlich ist in diesem Zusammenhang der Verlust der Dramen Epicharms. Die kümmerlichen Reste seines Werkes deuten auf manche interessante Parallele zum Satyrspiel. 159 Diese mythische Distanz teilt das Satyrspiel mit den Mythentravestien der Alten Komödie, ohne aber, wie diese, Mythos oder Tragödie zu parodieren; dazu u. S. 408f. 160 S. u. S. 408f.
Satyrspiel
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klassischen Satyrspiels. Sein Ton ist nicht scharf und verletzend, sondern unbeschwert und scherzhaft, spöttisch, aber nicht höhnisch. Lediglich Euripides macht im Kyklops ausgedehnteren Gebrauch von den Mitteln hintergründiger Ironie und aktueller Kritik, doch spielerisch, nicht satirisch. Das hellenistische Satyrspiel ist ihm, wenn die wenigen Fragmente nicht täuschen, darin, jedenfalls teilweise, gefolgt. 161 Das klassische Satyrspiel des Aischylos und Sophokles ist dagegen offenbar von einer frischen Naivität der Komik gewesen. 162 D. Funktion des Satyrspiels Abschließend stellt sich die Frage, welche poetischen, kultischen und kulturellen Funktionen das heitere und unbeschwerte, sich einfach und naiv gebende 163 Spiel im Rahmen der Tetralogie erfüllte, als deren Abschluß es über einen Zeitraum von ca. 150 Jahren aufgeführt wurde (s. o. S. 361f.). Welche Überlegungen auch immer zur offiziellen Aufnahme des Satyrspiels und seiner obligatorischen Verbindimg mit der Tragödie geführt haben mögen, poetisch eröffnete die Iuxtaposition von tragisch-ernstem und heiter-komischem Spiel interessante Möglichkeiten. Die kreativste Reaktion auf die 'Herausforderung' durch die institutionelle Kombination von Tragödie und Satyrspiel ist zweifellos Aischylos' Versuch, das heitere Nachspiel eng an die drei Tragödien zu binden. Immer wieder hat er auch das Satyrspiel in den stofflichen 164 und thematischen Zusammenhang seiner Inhaltstrilogien einbezogen. Das ist an den gesicherten 161
S. o. S. 374f.; cf. 91 Python, Agen\ 100 Lykophron, Menedemos. Nur im Oineus-Satyrspiel macht sich Sophokles (?) den Spaß, die Satyrn als großsprechende Sophisten auftreten zu lassen, s. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 368ff. 163 Genauso wenig wie beim Märchen darf man natürlich, wie gelegentlich geschehen (ζ. B. Sutton 1974a, 188) die kunstvolle, von bewußtem Stilwillen getragene 'Primitivität' des Satyrspiels als tatsächliche Primitivität mißverstehen. 164 Das Satyrspiel kann dabei einen Teil des Mythos zum Gegenstand haben, der zeitlich zwischen zwei Tragödien (ζ. B. 5 Aisch. Sphinx) liegt oder an die drei Tragödien anschließt (ζ. B. 5 Aisch. Proteus). 162
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Satyrspiel
Fällen ablesbar und kann mit einiger Wahrscheinlichkeit auch fur andere Tetralogien erschlossen werden. 1 6 5 Allerdings zeigt die Tetralogie des Jahres 472 (Phineus, Persai,
Glaukos
Potnieus,
Prometheus),
daß Aischylos
keineswegs immer Inhaltstetralogien auf die Bühne gebracht hat. Das ist bei der Zuordnung von Satyrspielen zu mutmaßlichen Trilogien nicht immer ausreichend in Rechnung gestellt worden. 1 6 6
165 Frühestes Beispiel ist die thebanische Tetralogie von 467, in der auf Laios, Oidipus und Sieben gegen Theben das Satyrspiel Sphinx folgte. Im Proteus, der im Jahre 458 die Orestie beschieß, bildete Menelaos' letztlich heiteres Abenteuer mit dem Meergott in Ägypten, das er selbst im 4. Buch der Odyssee so amüsant erzählt, den Stoff. Neben das tragische Heimkehrer-Schicksal des Agamemnon und seine Folgen trat so das lustige, folgenlose Abenteuer seines Bruders Menelaos. Noch interessanter ist die zwischen Oidipodie und Orestie liegende Danaiden-Tetralogie. Hier ist nicht nur eine enge stoffliche Bindimg des Satyrspiels Amymone an die drei Tragödien erreicht, sondern auch eine thematische. Aischylos präsentiert als Nachspiel eine „unbeschwerte Spiegelung" (Lesky 1972, 108) des zentralen tragischen Problems der Trilogie. Der Versuch der Satyrn und des Silenos, die Danaide Amymone gegen ihren Willen zur Liebe (und vielleicht zur Heirat) zu zwingen, ihr erfolgreicher Hilferuf an Poseidon und die Vereinigung mit dem Gott, der ihr am Schluß als „Hochzeitsgeschenk" eine Quelle darbringt und so dem von Trockenheit geplagten Argos Wasser und Fruchtbarkeit zurückgibt: all das ist ohne Zweifel als heitere Variation der vorangegangenen Tragödien konzipiert. Die Gemeinsamkeiten reichen von der Identität der dramatischen Situation und der weitgehenden Parallelität des Handlungsverlaufs bis zu szenischen und dramaturgischen Details und zur Übereinstimmimg des Themas: Kampf der Geschlechter, Angst vor aggressiver Sexualität und ihre friedliche Überwindung als Voraussetzung für ein erfülltes fruchtbares Leben. Der Spaß des Zuschauers an diesem heiteren, leicht frivolen Spiel wurde gewiß erheblich erhöht durch das intellektuelle Vergnügen, die raffinierten Parallelen zwischen komischer und tragischer Gestaltung desselben Themas zu entdecken; vgl. auch 5 Aisch. Amymone. Verbindungen zwischen Satyrspiel und einer oder allen Tragödien sind bei Aischylos noch in weiteren Fällen festzustellen: Perseus-Trilogie (Phorkides, Polydektes, Diktyulkoi; s. 5 Aisch. Diktyulkoi) Odysseus-Tetralogie (Psychagogoi, Ostologoi, Penelope, Kirke, s. 5 Aisch. Unsicheres)·, vgl. Churmuziadis 1974, 24-45; T. Gantz, The Aeschylean Tetralogy, AJA 101 (1980) 133-164, hier 149-153. 166 Zusammenstellung aller Vorschläge bei Radt, TiGF III, S. 111-119.
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Satyrspiel
Es ist überraschend,
daß sich für keinen
der anderen
Tragiker
Vergleichbares sichern läßt. In den vereinzelten Fällen bezeugter oder vermuteter Inhaltstrilogien 167 ist das Satyrspiel entweder imbekannt, wie in dem einzigen (zudem unsicheren) Sophokleischen Beispiel, der
Telephie,l6s
oder es läßt sich nur ein sehr lockerer Zusammenhang rekonstruieren, wie ζ. B. im Falle der Troja-Trilogie des Euripides. 169 Die Auflösung der Inhaltstrilogie, die Webster als Folge einer Neuordnung des Spielplans der Dionysien zu erklären versucht hat, 1 7 0 hat offenbar zugleich die aischyleische inhaltlich-thematische Bindung des Satyrspiels an die Tragödie gelöst. 171 Die nachaischyleische allmähliche 'Trennung' des Satyrspiels von der Tragödie zeigt sich übrigens, wie Seaford feststellt, auch daran, daß Euripides im Jahre 438 an der Stelle des Satyrspiels eine Tragödie auffuhren kann und daß etwa zur selben Zeit an den Lenäen ein Tragödienwettbewerb ohne Satyrspiel institutionalisiert wird. 172 Doch auch wenn das Satyrspiel nicht durch die Wahl des Stoffs oder die gezielte Wiederaufnahme zentraler Motive und Situationen oder gar durch Variation desselben Themas mit einer oder allen Tragödien verbunden ist, beruht der Reiz der Gattung nicht allein auf dem völligen Wechsel von
167
Zusammenstellung des Materials bei Seaford 1984,21 f. Lesky 1972, 259f.; T.J. Sienkewicz, Sophokles' Telepheia, ZPE 20 (1976) 109-112; auch im Falle von Polyphrasmons Lykurgie (DID C4a), Philokles' Pandionis (T 6c) und Meietos' Oidipodie (DID C 24) kennen wir das Satyrspiel leider nicht. 169 S. 18 Eur. Sisyphos; vgl auch 18 Eur. Eurystheus. 170 T.B.L. Webster, The Order of Tragedies at the Great Dionysia, Hermathena 1965,21f. 171 T.B.L. Webster, The Tragedies of Euripides, London 1967, 8. Thematische und motivische Verbindungen zwischen Tragödie(n) und Satyrspiel mag es durchaus auch bei Sophokles und Euripides gegeben haben. Alle Versuche, Soph. Ichneutai und Aias (Sutton 1980d, 47f.) oder Eur. Hekabe und Kyklops (Sutton 1980d, 114-120) oder gar eine prosatyrische Helena und Andromeda (Sutton 1980d, 184-189) in einen tetralogischen Zusammenhang zu bringen, sind jedoch nicht mehr als spielerische Hypothesen. 172 Seaford 1984,25. 168
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Satyrspiel
Atmosphäre und Ton, sondern auch auf dem Spiel mit Parallele und Kontrast zur Tragödie. So präsentiert das Satyrspiel - neben den Satyrn und Silenos die Heldinnen und Helden der Tragödie, demonstriert jedoch anhand ihres Schicksals nicht die tragische Gefährdung der menschlichen Existenz, sondern suggeriert die erfolgreiche Bewältigung aller Probleme, 173 und oft genug erscheinen die hehren Gestalten dabei in komischem Licht. Aus den düsteren Palästen in die freie Natur versetzt, verlieren sie viel von ihrer ehrfurchtgebietenden exemplarischen Statur. Der Begriff Parodie sollte dabei allerdings, wenn überhaupt, nur mit Vorsicht verwendet werden. 174 Selbst in den Fällen, in denen stoffliche oder thematische Bezüge zwischen Tragödien und Satyrspiel nachweisbar oder doch wahrscheinlich sind, werden die vorausgegangenen Tragödien nicht etwa parodiert. Das Satyrspiel präsentiert vielmehr einen heiteren Aspekt desselben Problems (ζ. B. Aisch. Amymone) oder eine unbeschwerte Episode desselben Mythos (ζ. B. Aisch. Sphinx oder Diktyulkoi), ohne sich dabei etwa über das tragische Problem oder den tragischen Helden lustig zu machen, und eine Analyse des gesamten Materials unter stofflichen Gesichtspunkten bestätigt diese Beobachtung. Das Satyrspiel sucht nicht die komisch
173
Sicher zeigt auch das Satyrspiel immer wieder die extreme Bedrohung des Helden; doch die Monster, Unholde und Zauberinnen verbreiten eher Amüsement als Schrecken, allenfalls ein angenehmes Gruseln. Die Märchenqualität der Stoffe, die Art der Präsentation (der Kyklops als Gourmet) und die Gattungskonvention (wir wissen, daß dem Helden nichts geschehen kann) verhindern wirkliche Angst und echten Schrecken. 174 Jedenfalls nicht für das klassische Satyrspiel. Trotz Pfeiffers eindringlicher Warnung (1938, 61f; zustimmend Lesky 1941, 129ff.) erfreut sich die von Wilamowitz (Anm. 131) 11 u. 20f.; Schmid/Stählin 12, 82f und vielen anderen vertretene Auffassung, das Satyrspiel sei eine „Travestie" einer heroischen Geschichte (Wilamowitz) bzw. eine „parodistische Behandlung der Mythen" (Schmid) auch heute (d.h. nach den umfangreichen Papyrusfunden, die unser Bild vom klassischen Satyrspiel erheblich modifiziert haben) so großer Beliebtheit, daß sie als communis opinio gelten kann. Hauptgrund ist der auch in dieser Hinsicht unrepräsentative Kyklops des Euripides, der in der Tat Ansätze zur Parodie bietet.
Satyrspiel
409
verzerrende Parodie oder Travestie175 tragischer Geschichten, sondern wählt vielmehr entweder aus dem reichen Reservoir des griechischen Mythos heitere oder doch 'untragische' Stoffe, oder es dramatisiert eine glückliche Episode aus dem Leben eines der tragischen Helden. So zeigt es von den Heimkehrern aus dem trojanischen Krieg Odysseus und Menelaos, nicht aber Agamemnon, und präsentiert von Oidipus nur den Sieg über die Sphinx und von Herakles nur seine glänzenden Erfolge, nicht aber die tragische Ermordung der Familie (Eur. Herakles) oder den schrecklichen Tod im Nessosgewand (Soph. Trachinierinnen). Anders als die gleichzeitige Komödie parodiert also das Satyrspiel weder die Tragödie noch den Mythos. Es offeriert vielmehr nach der tragischen Weltsicht der drei Tragödien „in einer anderen Tonart" (Lissarague) einen optimistischen Blick auf das Leben und - in Gestalt der Satyrn - auf die komischen Schwächen des Menschen. Das schafft emotionale Erleichterung, ohne daß die Problematik der vorangegangenen Tragödien verlacht176 und damit aufgehoben wird.177
175
Zu den Termini vgl. P. Rau, Paratragodia, München 1967, 7-18. Sutton 1974a, 192: „It [das Satyrspiel] tells us that what tragedy has just presented as serious and consequential, which has distressed us and threatened the comfort of our everyday life by reminding us that existence has a darker side, is in fact not so serious or threatening after all. The satyrplay conveys this by debunking that which is taken seriously in tragedy, by showing that it is really rather silly." Das würde bedeuten, daß der Dichter, was er gerade als Aussage über den Menschen und sein Schicksal, seine Größe und seine Ausgesetztheit formuliert hat, nicht nur zurücknimmt, sondern auch noch belächelt oder gar verspottet. 177 Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein. In der Orestie verschärft das lustige Abenteuer des Menelaos, der mit seiner Helena glücklich nach Hause zurückkehrt (Proteus) das tragische Schicksal seines Bruders Agamemnon und seiner Familie. Umgekehrt erscheint die heitere Welt des Satyrspiels auf dem dunklen Hintergrund der drei Tragödien um so heller. Die kontrastive Iuxtaposition bewirkt eine wechselseitige Vertiefung; zu dieser Form einer tragi-komischen Wechselwirkung vgl. Seidensticker, Palintonos Harmonia, 27ff. 176
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Unterhaltung und Zerstreuung ist nach dem Urteil der antiken Theorie das Ziel des Satyrspiels. 178 Die moderne Kritik hat dazu seit
Schlegel 1 7 9
besonders die befreiende und erleichternde Wirkung des unbeschwerten Spiels betont und in dieser psychischen Entspannung ('comic r e l i e f ) lange Zeit die wichtigste emotionale und soziale Funktion des Satyrspiels im Rahmen der Tetralogie gesehen. 1 8 0 Erst in jüngerer Zeit haben vor allem französische Forscher und R. Seaford den Akzent stärker auf kultische und kulturelle Funktionen des Satyrspiels gelegt und damit unsere Vorstellungen über das Sinn- und Wirkungspotential der Gattung erheblich erweitert und vertieft. 178 Ygj Diomedes 491, 4fF. (Keil): Satyros induxerunt ludendi causa iocandique, simul ut spectator inter res tragicas seriasque Satyrorum iocis et lusibus delectaretur („Satyrn haben sie aufgeführt zum heiteren Zeitvertreib, zugleich aber auch, damit die Zuschauer zwischen den tragischen und ernsten Geschicken durch die Scherze und Possen erfreut würden.") fast gleichlautend vgl. auch Marius Victorinus 2. 4 p. 110 Gaisford; Photios, s. ν. σατυρικά δράματα: διάχυσις; was Horaz ars 220ff mit der Formulierung gemeint habe, das Satyrspiel habe den trunkenen Zuschauer im Theater festhalten sollen, ist nicht völlig klar (s. Seaford 1984, 27f.). 179 A.W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. In: E. Lohner (Hrsg.), Kritische Schriften und Briefe V, Stuttgart 1966, 128f.; einen Ansatz dazu bei Marius Victorinus [Anm. 177], der Diomedes' „ut — delectareturf' durch „ut... relaxetur'' ersetzte. 180 Seaford 1984, 26 hat zwar recht, daß diese Funktion in keiner anderen Quelle ausdrücklich bezeugt ist; aber Diomedes' (Anm. 178) Zusatz „inter res tragicas seriasque" läßt doch den Schluß zu, daß der unbeschwerte Spaß bereits in der Antike zugleich als emotionale Entspannung ('comic relief) verstanden worden ist, und Rossi 1972/89, 267-269 (vgl. auch Pohlenz 1926, 447f.) hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich aus der Tatsache, daß das zunächst unabhängige (und vor den Tragödien aufgeführte) Satyrspiel (s. Anm. 49) schließlich zum Nachspiel der tragischen Trilogie gemacht worden sei, ablesen lasse, daß eine solche erleichternde und befreiende Wirkung des Spiels erkannt und angestrebt wurde. Das alles heißt natürlich nicht, daß diese Intention der einzige oder auch nur der wichtigste historische Grund für die Aufnahme des Satyrspiels am Ende des 6. Jhs. gewesen ist. Wenn man bedenkt, daß zum Zeitpunkt der Einführung des Satyrspiels (520/10) die Komödie noch nicht zum Programm der Dionysien gehörte (sie wurde erst 486 aufgenommen), wird der Wunsch nach einem dramatischen Spiel, das dem heiteren Aspekt des dionysischen Kults und dem Bedürfnis der Zuschauer, sich zu amüsieren, Rechnung trug, noch verständlicher.
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411
Daß das Satyrspiel, wie der Aristoteles-Schüler Chamaileon behauptet hat, seinen Platz neben der Tragödie den Klagen der Zuschauer darüber verdankt, daß die aufgeführten Tragödien „nichts mehr mit Dionysos" zu tun hätten, 181 ist durchaus plausibel und gibt der Gattung eine sinnvolle kultische Funktion. Mit dem Satyrspiel erhalten die städtischen Dionysien etwas zurück von dem ursprünglichen einfachen und fröhlichen Charakter der ländlichen Dionysosfeste. 182 Auch wenn sich das Satyrspiel in der weiteren Entwicklung wie die Tragödie (und sicher nicht ohne ihren prägenden Einfluß) immer neue Stoffe erschließt, die „nichts mit Dionysos" zu tun haben, so bleibt doch das Herzstück, der dionysische Nucleus, immer erhalten: der Chor der Satyrn. 183 Spätestens, wenn in der Parodos die ithyphallischen Choreuten in die Orchestra tanzen, rücken der Festgott und seine Welt wieder ganz ins Zentrum des dramatischen Spiels. In diesem Sinn kann das Satyrspiel durchaus als Höhepunkt der zu Ehren des Dionysos aufgeführten Tetralogien betrachtet werden. Zu den genannten poetischen, emotionalen und kultischen Aspekten der komplexen Funktion der Gattung im Kontext der Tetralogie und des großen Dionysosfestes kommt schließlich noch ein weiterer hinzu. Wie Tragödie und Komödie ist auch das Satyrspiel Teil der intensiven Diskussion und Selbstvergewisserung der Polis über ihre moralischen und kulturellen Grundlagen. Das Satyrspiel präsentiert (ebenso wie viele Satyr-Vasenbilder) die exemplarischen Gestalten und Geschichten des Mythos und der Tragödie aus der Perspektive der nichtsnutzigen Halbtiere. Mit den Satyrn und ihren Eigenschaften und Werten wird dem Zuschauer eine Gegenwelt präsentiert,
181
S. o. S. 371. Seaford 1984, 28 spricht von einer Konzession an die konservative Haltung der Zuschauer; das trifft sicher eher das Richtige als Rossis These, das Satyrspiel sei eine Konzession der Städter an die ώγροικαα („das bäurische Wesen") der Landbevölkerung gewesen. Rossi verbindet damit einen interessanten, aber sehr spekulativen Versuch, die Einführung des Satyrspiels aus der politischen Situation Athens am Ende des 6. Jhs. (Kleisthenische Reform) zu erklären. 183 Seaford 1984, 29. 182
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die, wie Lasserre, Lissarrague u. a. betont haben, die Ideale der Polis und ihrer Mitglieder zugleich in Frage stellt und - ex negativo - bestätigt.184 Die Satyrn sind lebendige Anti-Paradigmata alles dessen, was das vorwiegend männliche Publikum als erstrebenswertes Erziehungsideal und als Basis des erreichten zivilisatorischen Fortschritts verstehen gelernt hatte. Ihre typischen Eigenschaften - physische Häßlichkeit und äußere Ungepflegtheit, dazu Schamlosigkeit, Frechheit und Faulheit, Neugier, Aufschneiderei und Feigheit und natürlich vor allem Geilheit und übermäßiger Durst - bilden ein vollständiges System von „Gegenbegriffen zu den Kardinaltugenden der von der Generation der Marathonkämpfer ausgearbeiteten Ethik, άνδρεία, ευσέβεια, ευταξία, εύσχημοσύνη, εΰκοσμία." 185 Diese Anti-Ethik, die dem Publikum in Gestalt der Satyrn vor Augen rückt, wie es nicht sein und was es nicht tun sollte, und ihm zugleich in Erinnerung ruft, wie nahe und lebendig unter der zivilisatorischen Haut die animalische Natur des Menschen immer noch ist, ist ein wichtiger Faktor des Komischen, dient aber zugleich auch der kritischen Diskussion und Affirmation der Polisordnung und ganz allgemein der menschlichen Zivilisation. Damit erfüllt das Satyrspiel neben der poetischen, sozialpsychologischen und kultischen auch eine bedeutsame politische Funktion. E. Geschichte der Forschung Die moderne Beschäftigung mit dem Satyrspiel erreicht im 16. Jh. einen frühen Höhepunkt. In den zahlreichen Kommentaren zu Aristoteles' Poetik und Horaz' Ars poetica werden die Bruchstücke der antiken Satyrspieltheorie
184
Lasserre 1973/89; Lissarrague 1987/90b; Lissarrague 1993; vgl. auch Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999,73. 185 Lasserre 1973/89, 261; Lissarague 1990b, 234: „Everything takes place as if satyrs were a means to explore human nature through a fun-house mirror; the satyrs are antitypes of the Athenian male citizenry and present us with an inverted anthropology (or andrology) of the ancient city-state."
413
Satyrspiel
analysiert, und viele der einflußreichsten Dichter 186 und Gelehrten 187 äußern sich zu Form und Stil, Wesen und Funktion der Gattung und zu ihrem einzigen erhaltenen Vertreter, dem Kyklops des Euripides. Zusammenfassung und
Krönung
der
Renaissancediskussion
bildet
Isaac
Casaubonus'
umfangreiche Untersuchung ,J)e satyrica Graeca poesi et Romanorum satira libri duo" aus dem Jahre 1605, die auch heute noch zu den bedeutendsten Satyrspielpublikationen gehört. Erst mehr als 200 Jahre später erscheint wieder ein Werk, das Casaubonus' Arbeit an Umfang und Qualität erreicht und übertrifft. 188 1826 publiziert Friedrich Welcker als Anhang zu seinem „Nachtrag zu der Schrift über die aischyleische Tragödie" die Studie „Über das Satyrspiel". In der Folgezeit war es zunächst-im 19. Jh.-die systematische Sammlung der Buchfragmente, die zu gründlicher philologischer Aufarbeitung des Materials führte, aber auch manche waghalsige Spekulation auslöste, und dann - seit dem Anfang des 20. Jhs. - die Serie der bedeutenden Papyrusfunde (s. o. S. 364f.), die der Satyrspielforschung immer neue Impulse gaben. Dabei lag das
Schwergewicht
naturgemäß
auf der philologischen
Detailarbeit;
zusammenfassende, eher literarisch und genetisch orientierte Studien, wie die Arbeiten von Campo und Guggisberg, blieben rar. In den letzten 25 Jahren hat sich die Forschung intensiver als je zuvor mit dem Satyrspiel beschäftigt. Vor allem Sutton hat sich nach einer kritischen Bestandsaufnahme des Materials (1974e) in zahlreichen Arbeiten um die Klärung philologischer und literarischer Fragen bemüht (s. die Bibliographie 18
® G.B. Giraldi, Lettere owero discorso sopra il comporre le satire atte alle scene (1551); G. Guarini, Compendio della Poesia Tragicomica (1599-1601); dazu M.T. Herrick, Tragicomedy. Its Origin and Development in Italy, France, and England, Urbana, 111., 1955, 1-14. 187 Z.B. F. Robortello, Explicatio eorum omnium, quae ad satyram pertinent (1548); Mintumo, De poeta (1559), L'arte poetica (1564); J.C. Scaliger, Poetices libri septem (1561). 188 Davor noch P. Brumoy, Discours sur le Cyclope d' Euripide et sur le spectacle satyrique. In: P. Camelli, II Ciclope, Componimento satirico di Euripide, Padua 1749, 19-32.
414
Satyrspiel
in: Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999, 643ff.) und die Ergebnisse seiner Einzelstudien schließlich in einer Gesamtdarstellung der Gattung zusammengefaßt (1980). Bereits zuvor waren das wichtige Buch von Churmuziades (1974) sowie ein gattungsgeschichtlicher Überblick (Seidensticker 1979) erschienen, dem 10 Jahre später der Wege-der-Forschung-Band „Satyrspiel" (Seidensticker
1989)
folgte,
und
soeben
hat
Conrad
detaillierte
Untersuchungen zur Gestalt des Silen vorgelegt (1997). Das starke Interesse am Satyrspiel und seinen Helden, das sich auch in der intensiven archäologischen
Diskussion
widerspiegelt
(s. Krumeich/Pechstein/
Seidensticker 1999, 44-7), dokumentieren ferner die ζ. T. umfangreichen Studien von Rossi (1972/89), Lasserre (1973), Marco, Gallo, Paganelli 189 u. a. und die kleine Reihe von Kommentaren zu den Ichneutai (Maltese 1982) und zum Kyklops (Ussher 1978; Seaford 1984; Biehl 1986a). Besondere Bedeutung haben auch die im Grenzbereich zwischen Philologie und Archäologie angesiedelten Arbeiten von Berard und Lissarrague zu Satyrn und Satyrspielen. Mit den ersten vier Bänden der neuen Ausgabe der Tragikerfragmente (TrGF) liegen fast alle Satyrspielfragmente in mustergültigen Editionen vor; der noch fehlende Euripides wird bald erscheinen. Literatur Biehl 1986a: W. Biehl, Euripides Kyklops, Heidelberg 1986. Buschor 1937: E. Buschor, Feldmäuse, SBAW 1937, Η. 1. Campo 1940: L. Campo, I drammi satireschi della Grecia antica. Esegesi della tradizione ed evoluzione, Mailand 1940. Casaubon 1605:1. Casaubon, De satyrica Graecorum poesi et Romanorum satira libri duo, Paris 1605 (repr. New York 1973; S. 116-32 repr. in: Seidensticker 1989, 1317). Churmuziadis 1974: Ν. X. Xourmouziades, Saturika, Athen 1974 (21984).
189
Vgl. Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999,643ff.
Satyrspiel
415
Collinge 1959: Ν. Ε. Collinge, Some Reflections on Satyr-Plays, PCPhS 5 (1958/59) 28-35. Conrad 1997: G. Conrad, Der Silen, Diss. Bochum 1996, Trier 1997 (Bochumer Altertumswiss. Colloquium 28). Green 1994a: J. R. Green, Theater in Ancient Greek Society, London 1994. Guggisberg 1947: P. Guggisberg, Das Satyrspiel, Diss. Zürich 1947. Hedreen 1992: G. Hedreen, Silens in Attic Black-figure Vase-painting. Myth and Performance, Ann Arbor 1992. Kassel 1955: R. Kassel, Bemerkungen zum Kyklops des Euripides, RhM 98 (1955) 279-86 (repr. in: Seidensticker 1989, 170-178; R. Kassel, Kl. Sehr., Berlin 1991, 191-8). Krumeich/Pechstein/Seidensticker 1999: R. Krumeich, Ν. Pechstein, Β. Seidensticker (Hrsg.), Das griechische Satyrspiel (Texte zur Forschung 72), Darmstadt 1999. Kuhnert 1915: E. Kuhnert, Satyros und Silenos. In: Roscher 4 (1915) 444-531. Lasserre 1973/89: F. Lasserre, Le drame satyrique, RFIC 101 (1973) 273-301. Zit. nach der dt. Übs.: Das Satyrspiel. In: Seidensticker 1989,252-86. Lesky 1941: A. Lesky, Rez.: Pfeiffer 1938, PhW 61 (1941) 129-31. Lesky 1972: A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 3 1972. Lissarague 1987/90b: F. Lissarague, Pourquoi les satyres sont-ils bons a montrer. In: P. Ghiron-Bistagne, B. Schouler (Hrsg.), Anthropologie et theatre antique, KB Montpellier 1986 (=CGITA 3), Montpellier 1987, 93-106. Zit. nach der engl. Übs.: Why Satyrs are Good to Represent. In: Winkler/ Zeitlin 1990, 228-36. Lissarague 1993: F. Lissarague, On the Wildness of Satyrs. In: Th. H. Carpenter, Ch. A. Faraone (Hrsg.), Masks of Dionysos, Ithaka 1993, 207-20. Lloyd-Jones 1966a: H. Lloyd-Jones, Problems of the Early Greek Tragedy (Pratinas, Phrynichus, the Gyges fragment). In: Estudios sobre la tragedia Griega. Cuademos de la „Fundacion Pastor" 13, Madrid 1966, 11-33 (repr. in: ders., Greek Epic, Lyric, and Tragedy. The Academic Papers of Sir H. Lloyd-Jones, Oxford 1990, 225-37). Maltese 1982: Ε. V. Maltese, Ichneutai, introduzione, testo critico, interpretazione e commentario, Florenz 1982 (Papyr. Florentina 10). Pechstein 1998: Ν. Pechstein, Euripides Satyrographos. Ein Kommentar zu den Euripideischen Satyrspielfragmenten, Diss. Berlin 1997, Stuttgart 1998. Pfeiffer 1938: R. Pfeiffer, Die „Netzfischer" des Aischylos und der „Inachos" des Sophokles, SBAW 1938, H. 2,1-62 (teilw. repr. in: Seidensticker 1989).
416
Satyrspiel
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Satyrspiel
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Maius solito Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica1 Im Prolog der senecanischen Medea treibt sich die Heldin mit folgenden Worten zur Rache an ihren Feinden (41-50): Wenn du noch lebst, mein Herz, wenn etwas noch der alten Kraft dir blieb, veijag' die weibische Furcht und kleide dich in das Gewand des Kaukasus, des ungastfreundlichen. Was je der Pontus oder Phasis sah'n an Frevel, wird sehn der Isthmos. Wilde, noch unbekannte, grauenhafte Greuel, vor denen der Himmel zittern muß gleich wie die Erde, bewegt mein Geist tief drinnen hin und her: Wunden und Mord und Tod, der schweifend Glied um Glied zerstört. Doch zu gering noch ist, was ich genannt. Dies habe ich als Jungfrau schon vollbracht. Gewaltiger breche jetzt der Groll hervor. Zu größeren Verbrechen bin ich jetzt verpflichtet, wo ich Mutter bin. Diese Verse sind durchaus typisch fur Seneca. Ihre Stilzüge finden sich überall wieder: tragisch ironische Mehrdeutigkeit und gelehrte mythologische Anspielung, geistreiche Pointierung und geschliffene Formulierung, und vor allem pathetische Häufung und Hyperbole. Die Gefahren eines solchen Stils liegen auf der Hand. Allzu leicht wirkt das Geistreiche bemüht, das Pointierte überspitzt; allzu leicht klingt das Kunstvolle gekünstelt, das Großartige angestrengt oder bombastisch. Die Kritik setzt bereits in der Antike ein und erreicht in der Neuzeit - nach langen Jahrhunderten einer positiven und produktiven Seneca-Rezeption 2 - ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert, an dessen Anfang die vernichtenden Urteile
1
Der vorliegende Text basiert auf einem an den Universitäten Poznan/Posen, Wroclaw/Breslau, Mainz und Berkeley gehaltenen Vortrag. Für eine Reihe von wichtigen Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen danke ich den Herausgebern A. Dihle, W. Harms und Ε. A. Schmidt sowie Th. G. Rosenmeyer und A. Long (Berkeley). 2 Cf. E. Lefövre (ed.), Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, Darmstadt 1978.
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Maius solito
von Herder und Schlegel stehen und dessen Ende wie der Beginn des 20. Jahrhunderts völlig beherrscht wird von Friedrich Leos „Observationes criticae" aus dem Jahre 18793. Es war Leo, der den Tragödien den Stempel 'tragoedia rhetorica' aufdrückte, den sie lange trugen und dessen Spuren auch heute noch (vor allem in der englischen Forschung) deutlich sichtbar sind. Die Auffassung Leos, es handele sich gar nicht um Tragödien im eigentlichen Sinne, sondern um rhetorische Prunkreden (declamationes) in der Form von Tragödien, bezog sich zwar zunächst auf den Stil, hatte jedoch weitreichende Implikationen fur die Beurteilung der dramatischen Form der Tragödien und der Intentionen ihres Verfassers. Es vergingen 50 Jahre, bis dieser abwertenden Klassifizierung der senecanischen Tragödie wirkungsvoll begegnet wurde. Erst Regenbogens bahnbrechender
Warburg-Vortrag:
„Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas" von 1928 schuf die Voraussetzungen für eine fruchtbarere Beschäftigung mit den ungeliebten Stücken. Erst Regenbogen, dem sich bald darauf Paul Friedländer 4 an die Seite
stellte, hat
gültig
festgestellt, daß die
Charakterisierung
des
senecanischen Stils als 'rhetorisch' ungenügend sei, „weil es Rhetorik auf mancherlei Weise und aus mancherlei inneren Gründen gebe" 5 . Es ist gewiß kein Zufall, daß Regenbogens und Friedländers Versuch, Seneca vorurteilsfreier zu verstehen, zeitlich mit der damaligen Erneuerung der deutschen Barockforschung zusammenfällt, die dieselben negativen Urteile und dieselbe starre Terminologie (Rhetorik, Schwulst, Gelehrsamkeit
3
Cf. B. Seidensticker - D. Armstrong, Seneca tragicus 1878 - 1978 (with Addenda 1979 ff.), ANRW II 32,2, 1985, introd. 4 O. Regenbogen, Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas, Vortr. d. Bibl. Warburg 1927/28, Leipzig-Berlin 1930, 167-218 (zit. nach dem Nachdruck d. Wiss. Buchges. Darmstadt 1963); P. Friedländer, Vorklassisch und Nachklassisch, in: Das Problem des Klassischen und die Antike, Acht Vorträge hrsg. v. W. Jaeger, LeipzigBerlin 1931, 33-46; wichtig auch der Lucan-Aufsatz von E. Fraenkel, Lucan als Mittler des antiken Pathos, Vortr. der Bibl. Warburg 1924/25, Leipzig-Berlin 1927, 229-57 (Nachdruck in: Lucan, WdF 235, ed. W. Rutz, Darmstadt 1970, 15-49. 5 Regenbogen, s. o. Anm. 4, 54f.
420
Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
usw.) zu überwinden hatte6. Ein besseres Verständnis barocker Literaturen war offenbar erst möglich, als der Naturalismus seine dominierende Rolle in Theorie und Praxis an den Expressionismus abtreten mußte. Hinzu kam ferner die in diese Zeit fallende Erneuerung der Stilforschung (ich nenne nur die Namen Voßler und Spitzer), und hinzu kam gewiß nicht zuletzt das furchtbare Erlebnis des ersten Weltkriegs, dessen Schrecken eine unmittelbare existentielle Erfahrung von Vergänglichkeit, „Schmerz und Tod" eröffneten. Regenbogens Anregungen zu einem tieferen Verständnis der Rhetorik haben allerdings auch nach mehr als 50 Jahren noch nicht zu einer umfassenden Untersuchimg und Neubewertung des senecanischen Stils aus der von ihm geforderten „Einheit von Leben - Sprache - Kunstform" (p. 55) geführt; sie haben jedoch reiche Frucht getragen. Nach einer Periode, die sich ganz auf den von Regenbogen besonders herausgestellten „Affektstil" und seine Erscheinungsformen konzentrierte7, sind in den letzten Jahren zahlreiche instruktive Studien zu stilistischen Einzelphänomenen erschienen (ζ. B. zur Metaphorik von Landfester und Primmer, zum Paradoxon von Lefevre und zur Hyperbel von W. H. Friedrich), die uns den senecanischen Stil besser verstehen gelehrt haben, auch wenn sie bis auf Lefevre meist im Ästhetisch-Literarischen geblieben sind8.
6
In die gleiche Zeit fallt auch die für den englisch-sprachigen Raum außerordentlich bedeutungsvolle Studie von T. S. Eliot, Seneca in Elizabethan Translation, London 1927 (= Introd. in: Seneca his Tenne Tragedies, transl. into Englysh, ed. by Th. Newton, London 1581, repr. London 1927); cf. J. Herington, Senecan Tragedy, Arion 5,1966,422-71. 7 Cf. e.g. Ε. Hansen, Die Stellung der Affektrede in den Tragödien des Seneca, Diss. Berlin 1934; Κ. Trabert, Studien zur Darstellung des Pathologischen in den Tragödien des Seneca, Diss. Erlangen 1953. 8 Μ. Landfester, Funktion und Tradition bildlicher Rede in den Tragödien Senecas, Poetica 6, 1974, 179-204; A. Primmer, Die Vergleiche in Senecas Dramen, GB 5, 1976, 211-32; E. Lefevre, Die Bedeutung des Paradoxen in der römischen Literatur der frühen Kaiserzeit, Poetica 3, 1970, 59-82; W. H. Friedrich, Die Raserei des Herakles, in: W. H. F., Vorbild und Neugestaltung, Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie, Göttingen 1957; cf. weiter B. Seidensticker, Die Gesprächsverdichtung
Maius solito
421
Ich möchte im folgenden eine bestimmte Form hyperbolischen Sprechens und Denkens, die mir fur Seneca besonders charakteristisch zu sein scheint, herausgreifen und versuchen, neben dem rhetorisch-stilistischen Aspekt dieser Sprach- und Denkfigur ihre dramatische, philosophische
und
gesellschaftlich-politische Bedeutung aufzuzeigen und so einen Beitrag zu leisten zum Problem der inneren Einheit der senecanischen Tragödie und ihrer Intention. Jedem Leser der Tragödien muß auffallen - und ein erstes Beispiel dafür haben wir bereits gesehen -, daß nicht nur Seneca bestrebt ist, Vorgänger, Zeitgenossen, ja, sich selbst zu übertreffen, sondern daß auch seine Helden ihre Handlungen und Schicksale, ihre Leiden und ihre Verbrechen immer wieder messen an der mythischen und historischen Vergangenheit, am Maß der Alltagserfahrung und an sich selbst. Der Autor und seine Geschöpfe sind immer auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen (insolitum), dem noch nicht Gewagten (inausum); auf der Jagd nach etwas, das alles bisher Dagewesene übertrifft, nach dem maius aliquid. Lassen Sie mich im folgenden hierfür als Kürzel den Begriff'comparativus Senecanus' verwenden. Der 'comparativus Senecanus' spielt in allen Stücken eine mehr oder weniger bedeutungsvolle Rolle. Das beste Beispiel ist der unlöschbare Rachedurst, der Medea und Atreus zu immer neuen Verbrechen treibt. Ich wähle für meine Überlegungen den 'Thyestes', weil das Stück auch in dieser Hinsicht das sozusagen senecanischste der senecanischen Tragödien ist: düsterer, greller, gräßlicher als die anderen Stücke des Autors: ein maius aliquid. Dramatisches und thematisches Leitmotiv des Stücks ist eine Wendung, mit der Atreus das bevorstehende Verbrechen charakterisiert: „nescio quid maius et solito amplius" (267). Nach einem Überblick über dieses Leitmotiv des 'Thyestes', der auch dazu dienen soll, das Stück in Erinnerung zu rufen bzw. vorzustellen, möchte ich nacheinander die stilistischen, dramatischen,
in den Tragödien Senecas, Heidelberg Gelehrsamkeit und Gnomik).
1969 (zu Komplexität, trag. Ironie,
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
philosophischen
und
historischen
Implikationen
des
'comparativus
Senecanus' diskutieren. Der Machtkampf der beiden Brüder Atreus und Thyestes gehört zu den großen Stoffen der griechischen und römischen Tragödie. Die lange Reihe der griechischen Autoren, die den Stoff bearbeitet haben, reicht von Sophokles, fur den nicht nur ein 'Atreus', sondern gleich drei 'Thyestes'Dramen bezeugt sind9, über Euripides, auf dessen 'Thyestes', wie Lesky wahrscheinlich gemacht hat 10 , Senecas Stück zurückgeht, und Agathon bis zu den kleineren Geistern der nachklassischen Tragödie, zu Apollodoros (TrGF I 64 Τ 1) und Karkinos dem Zweiten (TrGF I 70 F 1), Chairemon (TrGF 71 F 8), Kleophon (TrGF 77 F 7 bzw. vielleicht Iophon, TrGF I 22) und Diogenes von Sinope (TrGF I 88 F 1, 1 d). Bei den Römern hat sich die monströse Geschichte von Ehebruch und Bruderzwist, Kindermord und Kannibalismus offenbar noch größerer Beliebtheit erfreut: zu den beiden großen republikanischen Tragikern, Ennius und Accius, gesellen sich in augusteischer Zeit Varius und Gracchus, sowie in der frühen Kaiserzeit Aemilius Scaurus und (vielleicht) Pomponius Secundus, Curiatius Materaus und schließlich Bassus und Rubrenus Lappa 11 . Erhalten ist nur der senecanische 'Thyestes'; alle anderen Stücke sind untergegangen. Der Stoff ist - mit zahlreichen Varianten - aus den Mytho9
Cf. S. Radt, TrGF 4, 239f. A. Lesky, Die griechischen Pelopidendramen und Senecas Thyestes, WS 43, 1922/23, 172-98 (repr. in: A. L., Ges. Schriften, ed. W. Kraus, Bern-München 1966, 519-40; vgl. aber jetzt W. M. Calder, Secreti loquimur: An interpretation of Seneca's Thyestes, Ramus 12,1983, 184-98, der mit einer Reihe von neuen Argumenten dafür eintritt, „that Seneca's principal source was Sophocles' Thyestes rather than Euripides'" (188). 11 Ennius, TF (Klotz) 90ff.; Accius, TF (Klotz) 222ff.; Varius, TF (Klotz) 309; Gracchus, TF (Klotz) 310; Aemilius Scaurus, TF (Klotz) 370; Pomponius Secundus, TF (Klotz) 312 (cf. RE XXI 2, Sp. 2359 R. Hanslik); Curiatius Maternus, TF (Klotz) 315; Bassus, TF (Klotz) 315; Rubrenus Lappa, TF (Klotz) 315/369; allerdings muß nicht in allen diesen Fällen die 'cena Thyestea' im Mittelpunkt des Stückes gestanden haben; cf. e.g. zu Ennius' Thyestes: H. J. Jocelyn, The Tragedies of Ennius, Cambridge 1967,412ff. 10
Maius solito
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graphen bekannt: Thyestes verfuhrt seines Bruders Frau Aerope und bringt sich mit ihrer Hilfe in den Besitz der Herrschaft über Mykene. Atreus gelingt es jedoch mit Hilfe eines Gottesurteils, die Macht zurückzugewinnen, und Thyestes muß mit seinen Söhnen in die Verbannung gehen. Atreus' Rachegelüste - an dieser Stelle setzt das senecanische Stück ein - sind jedoch nicht gestillt. Er lockt den Bruder unter dem Vorwand, er sei bereit, die Macht mit ihm zu teilen, nach Mykene zurück, tötet seine Kinder und setzt sie dem nichtsahnenden Vater zu einem Versöhnungsmahl vor - der berüchtigten 'cena Thyestea'. Die dramatische Struktur des Stücks ist einfach und straff. Vier Akte präsentieren die entscheidenden Schritte der Handlung: Die Planung des Verbrechens, die Ankunft des Thyestes und seiner Kinder in Mykene, die Ermordung der Kinder (in einem Botenbericht) und schließlich das Mahl und die Enthüllung der Wahrheit. Vorangestellt ist einer der düster-grandiosen Geisterprologe Senecas, die Jahrhunderte hindurch bewundert und nachgeahmt und doch nur von Shakespeare im 'Hamlet' übertroffen worden sind. Tantalus, Ahnherr und Fluchgeist der Familie, von der Furie aus dem Hades gejagt, infiziert den Palast mit dem verbrecherischen Wahnsinn, dem er selbst als erster zum Opfer gefallen ist und der die unselige Familie über Generationen beherrscht, bis er endlich mit Orest zuende geht. Bereits der Prolog ist bestimmt von dem dramatischen und thematischen Zentralmotiv des Stücks: maius solito. Tantalus kann sich seine Frage, wer ihn aus dem Hades an die Oberwelt und vor den mykenischen Palast getrieben hat und wozu, nicht anders erklären als mit der Befürchtung, daß die Götter eine noch größere Strafe fur ihn ersonnen haben (4-6): peius inventum est siti arente in undis aliquid et peius fame hiante semper? Dann verschiebt sich der Gedanke von der Strafe fur Tantalus auf die Verbrechen seiner Nachkommen, fur die alle bisherigen Strafen nicht
424
Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
ausreichen werden, da ihre Verbrechen alle bisherigen Verbrechen in den Schatten stellen werden (18-20): iam nostra subit e Stirpe turba quae suum vincat genus ac me innocentem faciat et inausa audeat. Die Furie greift diese Ahnung von einem maius aliquid solito auf und beschwört in einer zu immer neuen Höhepunkten jagenden Rede den Wettstreit der Verbrechen, in dem die Tantaliden sich messen sollen (25,29-32): certetur omni scelere ... .. .nec vacet cuiquam vetus odisse crimen: semper oriatur novum, nec unum in uno, dumque punitur scelus, crescat. Die Kette der Greuel erreicht schließlich ihren Abschluß und Höhepunkt in der immer detaillierter und deutlicher werdenden Prophezeiung der 'cena Thyestea',
des Mahls, das natürlich von Seneca sofort an
anderen
berüchtigten 'cenae' des Mythos gemessen wird und diese - natürlich übertrifft (56f.): Thracium fiat nefas maiore numero. heißt es zu Beginn dieses Abschnitts, und die Schlußpointe liefert das Paradoxon, daß vor dieser Mahlzeit selbst der von ewigem Hunger und Durst gepeinigte Tantalus davonstürzen werde. Und das tut Tantalus auch - oder versucht es doch wenigstens (67ff.). Die furchtbaren Qualen, die ihn in der Unterwelt erwarten, erscheinen ihm leicht angesichts dessen, was ihm in Mykene bevorsteht. „Liebt eure Strafen!" ruft er den Verbrechern in der Unterwelt zu. Die Hölle auf Erden ist weit schlimmer als die Hölle des Hades. Ein letzter Versuch, sich aufzulehnen und das kommende Unheil zu verhindern, mißlingt; die Fackel der Furie treibt ihn auf die Schwelle des
Maius solito
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Palastes, der nun mit seinem unlöschbaren Durst infiziert ist. Die Tragödie kann beginnen. Das sich anschließende Gebet des Chors, der die Götter um Frieden und Glück für die Tantaliden bittet (123ff.), erscheint auf dem Hintergrund des Prologs als grimmig-höhnische Ironie. Dann tritt Atreus mit einem Diener aus dem Palast, und von diesem Moment an beherrschen er und der nicht zu stillende Hunger und Durst dieses wahren Tantalusenkels die Szene. Die Suche nach der geeigneten Strafe für den Bruder wird sofort zur Suche nach dem Verbrechen, das alles bisher Dagewesene übertrifft (192-196): age, anime, fac quod nulla posteritas probet, sed nulla taceat. aliquod audendum est nefas atrox, cruentum, tale quod frater meus suum esse mallet - scelera non ulcisceris, nisi vincis. Die Versuche des Dieners, den Rasenden durch den Hinweis auf fama und laus, auf honestum und pudor und schließlich auf sanctitas, pietas und fides zurückzuhalten (204ff.), weist Atreus mit einer radikalen Umwertung von menschlichem und göttlichem Recht zurück (220): Fas est in illo quidquid in fratre est nefas. Damit ist jede Rücksicht endgültig abgestreift und eine grauenvolle Freiheit für die Planung der Rache erreicht. Maßstab sind nicht äußeres Ansehen oder innere Scham, menschliches oder göttliches Recht, sondern die großen Verbrechen der Vorfahren (242f.): Tantalum et Pelopem aspice; ad haec manus exempla poscuntur meae. Gemessen an diesen exempla kann der erste Vorschlag des Dieners (245) natürlich nicht genügen. Der Tod durch das Schwert kann allenfalls das Ende der Strafe sein, nicht die eigentliche Strafe (246): De fine poenae loqueris; ego poenam volo.
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Atreus ruft die Furien zu Hilfe, denn (252-254): non satis magno meum ardet furore pectus, impleri iuvat maiore monstro. Hier nun begreift der Diener, daß Atreus etwas Neues, Unerhörtes will (254): quid novi rabidus struis? Atreus' Antwort bestätigt die Maßlosigkeit seines Verlangens und bringt die unersättliche Gier nach dem maius scelus auf die pointierte Formel (255f.): Nil quod doloris capiat assueti modum\ nullum relinquam facinus et nullum est satis. Die folgenden Verse sind ein besonders instruktives Beispiel für Senecas Kunst der komplexen Verdichtung, der Zusammendrängung dramatisch und thematisch wichtiger Gedanken auf engstem Raum 12 (257-259): S.: Ferrum ?A.: Parum est. S.: Quid ignis? Α.: Etiam nuncparum est. S.: Quonam ergo telo tantus utetur dolor? Α.: Ipso Thyeste. Zwei Vorschläge des Dieners weist Atreus als unzureichend zurück (parum), dann trifft er selbst, noch ohne es zu ahnen, mit seiner Antwort auf die Frage des Dieners, welcher Waffe er sich denn bedienen wolle, das Ziel der Handlung: ispo Thyeste (259). Die Antilabai sind sorgfältig kalkuliert. Die gradatio, ferro - ignis - ipso Thyeste, enthält bereits eine Anspielung auf den Dreischritt, der die beiden letzten Akte des Stücks bestimmt: Mord (ferrum), Zubereitung der Kinder für das Mahl (ignis) und schließlich das ThyestesMahl selbst (ipso Thyeste). Als der Diener daraufhin ahnungsvoll ausruft (259): Maius hoc ira est malum
12
Cf. dazu Seidensticker, s. o. Anm. 8, 85-140 (97f.).
Maius solito
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stimmt Atreus begeistert zu. „Fateor." Er fiihlt sich dem Ziel nahe. Er spürt, wie der Kosmos ins Wanken gerät: der Erdboden dröhnt, der Himmel donnert, der Palast erbebt, und die Laren haben ihr Gesicht abgewandt (206ff.). Auf diesem Weg, vor dem selbst die Götter zittern (256f.), muß die richtige Strafe zu finden sein, die Tat, die über das gewöhnliche Maß hinausgeht und jenseits aller menschlichen Grenzen liegt (267-269): Nescio quid animus maius et solito amplius supraque fines moris humani turnet instatque pigris manibus Endlich steht es ihm klar vor Augen. Ein kurzes Zögern noch, als er merkt, daß sein Plan nicht einmalig ist: auch Prokne und Philomele haben Tereus den eigenen Sohn vorgesetzt (273f.): fateor, immane est scelus, sed occupatum. Noch einmal der Schrei nach dem maius aliquid (274f.): maius hoc aliquid dolor inveniat. Dann gibt Atreus sich mit der Vision des gräßlichen Mahls endlich doch zufrieden (279): bene est, abunde est. hie placet poenae modus. Aber selbst jetzt bleibt ein Stachel der Unzufriedenheit (279f.): hie placet poenae modus - tantisper. Einstweilen, für den Moment! Vollkommen wäre seine Zufriedenheit erst dann, wenn Thyestes schon da wäre, die Rache schon beginnen könnte (280). Der Schluß des Aktes (286ff.) dient der Vorbereitung der Tat; Thyestes muß nach Mykene gelockt werden. Atreus wird seine Söhne Agamemnon und Menelaos schicken, den Onkel - unter dem Vorwand der Versöhnung zur Heimkehr zu überreden.
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Und Thyestes geht in die Falle (404ff.). Er kommt gemeinsam mit seinen Söhnen 13 . Angesichts des Palastes überfallen ihn böse Ahnungen; doch auf das Drängen seiner Söhne bleibt er, nimmt aus Atreus' Hand die Insignien königlicher Macht 14 und folgt dem Bruder mit den Kindern in den Palast. Dieser dritte Akt und die Gestalt des Thyestes sind von den Interpreten des Stücks sehr unterschiedlich verstanden worden 15 . Ich komme darauf später kurz zurück. Das maius-scelus-Motiv spielt in den beiden Szenen dieses Aktes keine Rolle, außer daß in Thyestes' Ahnungen und in Atreus' freundlichen Worten die ungeheuerliche Tat immer wieder anklingt. Das kurze Lied des nichtsahnenden Chors, der staunend die scheinbare Versöhnung der beiden feindlichen Brüder zu verstehen versucht (546ff.), ist kaum verklungen, da stürzt der Schreckensbote schon aus dem Palast (625f.): ο domus Pelopi quoque et Tantalo pudenda! Auf die Frage des Chors, was er denn so Unerhörtes bringe, berichtet der Bote
zunächst von
der Ermordung
der
Söhne
des
Thyestes.
Die
Ungeheurlichkeit dieser Tat wird noch gesteigert durch die blasphemische Form, die Atreus seinem Morden gibt. Die Lust am Ungewöhnlichen, am Niegewagten, das alles Menschliche übersteigt und die Götter herausfordert, und der brennende Wunsch, die Rache voll auszukosten, läßt Atreus den gottlosen Frevel als heiliges Opfer zelebrieren (682ff.), sorgsam darauf bedacht, das Ritual in allen Einzelheiten zu erfüllen: Atreus als Opferpriester, 13
Zur Zahl der Kinder des Thyestes vgl. E. Lefevre, Die Kinder des Thyestes, SO 48,1973, 97-108 (2 Kinder); Primmer, s. o. Anm 8,211-32 (229-32) (3 Kinder). 14 524ff.; cf. dazu H. J. Mette, Die römische Tragödie und die Neufunde zur griechischen Tragödie (insbes. für die Jahre 1945-1964), Lustrum 9, 1964, 5-211 (188-90); diese Szene ist von einer so außerordentlichen symbolisch-visuellen Kraft, daß man sich nur schwer vorstellen kann, sie sei nicht für die Bühne intendiert; dasselbe gilt für 885ff.! 15 Cf. Seidensticker, s. o. Anm. 8, 104-109 (spez. Anm. 79); dazu zuletzt V. Pöschl, Bemerkungen zum Thyest des Seneca, WS Beihefte 8, 1977, 224-34; sowie Calder, s. o. Anm. 10, 190f. und A. J. Boyle, Hie epulis locus: the tragic worlds of Seneca's Agamemnon and Thyestes, Ramus 12,1983, 199-228 (213ff.).
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429
der die dem Gott des Zorns geweihten Kinder sich selber opfert (sibi mactat, 713) 16 . Doch gemessen an dem, was folgt, erscheint der Ritualmord noch als frommer Akt (744f.): Exhorruistis? hactenus si stat nefas, pius est. 17 Das, was scheinbar keine Steigerung mehr zuläßt, ist nicht etwa das Ende, sondern lediglich ein erster Schritt (745-7): Ch.: An ultra maius aut atrocius natura recipit? N.: Sceleris hunc finem putas? gradus est. Ch.: Quid ultra potuit? Der Versuch des Chors, sich eine Steigerung der Untat vorzustellen, bleibt dem Gewöhnlichen verhaftet und wird deshalb (in paradoxer Formulierung) als unangemessen zurückgewiesen. Das, was gewöhnlich die furchtbarste Strafe darstellt, die Verweigerung der Bestattung, die die Leiche Vögeln und wilden Tieren überläßt, wäre in diesem Falle ein erflehtes Glück (752). Es folgt - als zweite Stufe der Schreckensleiter - nach der blasphemischen Eingeweideschau (755ff.) die Zubereitung des Mahls (759ff.) und als dritte der Beginn des Mahls, die krude Beschreibung des hungrig zugreifenden Vaters (776ff.). Und auch dies ist nur eine weitere Stufe auf dem Weg zum gräßlichen Höhepunkt. Das Böse enthält immer noch einen Rest des Guten. Thyestes weiß noch nicht, was er tut (782f.): in malis unum hoc tuis bonum est, Thyesta, quod mala ignoras tua.
Cf. A. Traina, Seneca Thyestes 713 s., Mactet sibi ο sibi dubitat?, Maia 33, 1981, 151-53. ' 7 Giardina entscheidet sich in 745 fur plus (A) gegen pius (E), das jedoch m. E. den Vorrang verdient; das typisch senecanische poinitierte Oxymoron: „hactenus si stat nefas, pius est", läßt sich übrigens auch durch Med. 904f. stützen: quidquid admissum est adhuc / pietas vocetur.
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Diesen letzten Schritt vollzieht der Schlußakt, eingeleitet durch das Weltuntergangslied des Chors (789ff.). Die Sonne verläßt ihre Bahn, das widernatürliche Verbrechen droht die natürliche Ordnung des Kosmos zu zerstören. Für einen Moment scheint selbst Atreus zufriedengestellt (889): bene est, abunde est, iam sat est etiam mihi. Doch nur für einen Moment. Dann jagt sich die wahnsinnige Maßlosigkeit zu neuen Höhen (890): sed cur satis sit? pergam ... Daß die Götter angesichts des ungeheuren nefas erschrecken und fliehen, hatte Atreus bei der Planung der Tat jubelnd begrüßt (260ff.). Jetzt bedauert er es. Jetzt würde er sie gern zwingen zuzusehen, um seine Lust zu steigern (893-5): utinam quidem tenere fugientes deos possem, et coactos trahere, ut ultricem dapem omnes viderent. Dann beginnt er, den Ahnungslosen aus sicherem Versteck zu beobachten, und noch einmal scheint er zufrieden, als er sieht, daß Thyestes gesättigt ist (911 f.): eructat. ο me caelitum excelsissimum, regum atque regem! vota transcendi mea. Doch auch damit nicht genug! Krönender Abschluß des Mahls muß der Pokal mit dem Blut seiner Söhne sein (914-6): restat etiam nunc cruor tot hostiarum;... ...- hoc, hoc mensa cludatur scypho. Einen Moment noch lauscht Atreus befriedigt einem Lied, in dem Thyestes aufsteigende Ängste und Ahnungen vergeblich zu bekämpfen versucht (920ff.). Dann tritt er mit dem Pokal zu ihm.
Maius solito
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In der folgenden, quälend langsamen Enthüllungsszene offenbart Atreus dem Bruder zunächst den Mord, indem er ihm die Köpfe der Kinder präsentiert18, und enthüllt dann, als Thyestes ihn anfleht, die Kinder bestatten zu dürfen (1028), mit satanischer Ironie triumphierend die grausige Wahrheit (1030f.): Quidquid e natis tuis superest habes, quodcumque non superest habes. Thyestes' fassungslose Frage nach einem Maß des Verbrechens (1051) fuhrt zu einem letzten Höhepunkt des maius-aliquid-Motivs (1052-6): Sceleri modus debetur ubi facias scelus, non ubi reponas. hoc quoque exiguum est mihi, ex vulnere ipso sanguinem calidum in tua defundere ora debui, ut viventium biberes cruorem - verba sunt irae data dum propero. Und nicht einmal dies wäre Atreus genug. Nach einer sadistischen Beschreibung der Zubereitung des Mahls (1057ff.) feiert Atreus' (und Senecas) perverse Phantasie ihren endgültigen Triumph (1065-8): omnia haec melius pater fecisse potuit, cecidit in cassum dolor: scidit ore natos impio, sed nesciens, sed nescientes. Der Schluß des Stücks wirkt danach beinahe wie eine Antiklimax. Nach Thyestes' schmerzerfulltem Aufschrei und seiner flehentlichen Bitte an Juppiter, die Tat zu rächen oder wenigstens ihn selbst zu töten (1068ff.), gibt sich Atreus endlich zufrieden (1096f.):
Cf. dazu (und zu den interessanten Implikationen, die Thy. 1004f. für die Frage der Aufführung der senecanischen Tragödien haben könnte) L. Braun, Sind Senecas Tragödien Bühnenstücke oder Rezitationsdramen?, Res Publica Litterarum S, 1982, 43-52.
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Nunc meas laudo manus, nunc parta vera est palma. Die das ganze Stück bestimmende rasende Jagd nach dem maius solito ist beendet. Beispiele für den 'comparativus Senecanus' aus anderen Stücken ließen sich häufen. Immer wieder jagen sich die Helden in maßloser Raserei und unersättlichem Zorn zu größeren Taten und Untaten. Das gilt für Juno (im Prolog des 'Hercules furens') 19 ebenso wie für Hercules, der nach der Rückkehr aus dem Hades seine göttliche Feindin auffordert (HF 613f.): quid restat aliud? vidi et ostendi inferos: da si quid ultra est. Es gilt für Clytaemnestra im 'Agamemno' 20 ebenso wie für Oidipus, dem nach der Anagnorisis keine Strafe ausreichend scheint, das Ungeheuerliche zu sühnen 21 ; und es gilt in ganz besonderem Maße für Medea, die wie Atreus von wilden Rachegedanken erfüllt nach einer Strafe für Jason dürstet, die alles bisher Dagewesene übertrifft 22 . Immer wieder messen sich die Helden, wie Atreus, an den Taten und Untaten anderer, an der eigenen Familie, an sich selbst. So Clytaemnestra, die eine Flucht mit Aegisth ablehnt, weil sie Helena damit nur imitieren, nicht aber übertreffen würde (123f.) 23 ; so Phaedra, deren Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytus in ihren eigenen Augen und in den Augen der Amme und des Hippolytus die perverse Liebe ihrer Mutter Pasiphae zu einem Stier übertrifft (112ff.); so besonders wieder Medea, die in Ermangelung 19 20
HF 27fF., 75ff„ lOOff.
Ag. 114ff., 192ff. 21 Oed. 868ff. (879), 926ff. (936ff.); cf. auch Phoen. 8 , 4 6 f f „ 90ff., 143ff., 157ff., 166ff„ 174ff, 24 Iff. 22 Med. 13flf. (19, 24, 48-50), 122ff„ 397ff. (405f„ 423-25), 566f., 670ff. (674f„ 690-93), 8 9 3 f f , 982ff. (991-94), 1009-1011,1019f. 23 Ag. 123f. quid timida loqueris furta et exilium et fugas, / soror ista fecit, te decet maius nefas.
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geeigneter Verwandter sich vor allem an sich selbst mißt. Medea - fiaml (170) Bereits im Prolog erklärt sie, wie wir gesehen haben, daß sie als Mutter größere Untaten vollbringen müsse denn als Jungfrau (50); fordert sich dann nach einem letzten Versuch, Jason zurückzugewinnen, erneut auf, sich selbst zu übertreffen (560fF.), und bezeichnet schließlich auf dem Höhepunkt des Stücks, unmittelbar vor dem Kindermord, alle ihre bisherigen Untaten als kindliche Vorübungen fur das, was sie jetzt zu tun gedenke (904-10): Quidquid admissum est adhuc pietas vocetur. hoc age et faxo sciant quam levia fuerint quamque vulgaris notae quae commendavi scelera. prolusit dolor per ista noster: quid manus poterant rüdes audere magnum? quid puellaris furor? Medea nunc sum; crevit ingenium malis. Der Autor teilt die Leidenschaft seiner Geschöpfe für das maius solito et audacius. Immer ist er auf der Suche nach einer Pointe oder überraschenden Paradoxie, nach einer Hyperbel oder einer knappen Sentenz. „Rhetorik": lautet der Vorwurf seiner Gegner seit Quintilian 24 ; „leere Rhetorik" der seiner Feinde seit Caligula und Fronto 25 . Gewiß: das ist Rhetorik. Seneca, der Sohn eines Mannes, dessen Werk wir unsere Kenntnisse über die Rhetorik der frühen Kaiserzeit verdanken, erzogen in der Rhetorenschule und so begeistert von den großen Deklamatoren seiner Zeit, daß der Vater ihn warnen mußte, ihnen nicht völlig zu verfallen 26 : dieser Seneca ist nur zu verstehen als Kind der neuen anticiceronianischen Rhetorik seiner Zeit, und er wird ihr leuchtender Stern; seine Prosa bleibt für
24
Quint. 10,1, 125-31; cf. dazu Th. Geizer, Quintilians Urteil über Seneca, Eine rhetorische Analyse, Mus. Helv. 27,1970,212-23. 25 Suet. Calig. 53,2; Fronto, p. 155f. Naber; Gellius, 12,2,1. 26 Sen. Pat. Suas. 6,16, 27.
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Generationen von Schülern und Bewunderern das Muster des „neuen Stils", wie Norden ihn genannt hat 27 . Hier galt das Natürliche als langweilig, das Gewöhnliche als ordinär. Ingenium: Genie war das Schlagwort der Modemen, der Redner und der Dichter. Und sein Genie konnte man am besten im Wettstreit mit Vorgängern und Zeitgenossen beweisen. Beklatscht und gepriesen wurde die schärfere Antithese und das unerwartete Paradoxon, die gewagtere Hyperbel, die gelehrtere Anspielung und der gewaltigere Exkurs - vor allem aber die geistreichere Sentenz. Vom Knappen zum Dunkeln, vom Großen zum Geschwollenen, vom Pointierten zum Gezierten ist hier oft nur ein Schritt. Das Lächerliche liegt dicht neben dem Erhabenen. Doch das Risiko wird bewußt in Kauf genommen. „Es gibt Leute", sagt Seneca im 114. Brief, „die niemals bis an die Grenze zum Fehlerhaften (vitium) herangehen"; das aber sei nötig, fährt er fort, wenn man etwas Großes erreichen wolle 28 . Hier liegt die stilistische Wurzel des 'comparativus Senecanus'. Der Drang der Helden zum mains solito et audacius entspringt nicht zuletzt dem Stilwillen ihres Schöpfers, der immer darauf aus ist, seinem Stoff die raffinierteste Formulierung und die überraschendste Pointe abzugewinnen. Der Überblick über den 'Thyestes' hat das, denke ich, bereits so deutlich werden lassen, daß ich mich auf ganz wenige Beispiele beschränken kann: Typisch in seiner komprimierten Kürze und gelehrten Anspielung ist der Fluch der Furie im 'Thyestes' (56): Thracium fiat nefas - maiore numero. Typisch auch pointierte chiastische Antithesen wie ζ. B. Thy. 41f.: liberi pereant male / peius tarnen nascantur oder Ag. 25f.: vincam Thyestes sceleribus cunctos meis: 27 28
E. Norden, Die antike Kunstprosa, Stuttgart 2 1909 (1958), 270ff. Ep. 114,11; cf. auch Sen. Pat., Controv. II 1,24; Plinius, Ep. 9,26.
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a fratre vincar. Typisch vor allem Hyperbole und Paradoxon: Da birgt sich auf dem gräßlichen Höhepunkt des 'Thyestes' Nacht in Nacht (993f.); da ruft Tantalus nach einer Strafe, vor der selbst Cerberus und Acheron sich furchten (15-17); da prophezeit die Furie ein Mahl, vor dem selbst ein Tantalus fliehen wird (66f.). Das ist immer gut formuliert, fast immer geistreich, oft wirkungsvoll, nicht selten aber auch, um Senecas eigene Worte aufzunehmen, an der Grenze oder jenseits der Grenze zum vitium, verstiegen oder auch schlicht geschmacklos 29 : eine Gefahr, der auch die anderen Dichter dieser Zeit (seit Ovid) nicht immer entgehen. Der stilistische Aspekt des 'comparativus Senecanus' läßt sich, wie wir gesehen haben, gut aus den Tendenzen des neuen Stils erklären, der Rhetorik und Poetik der frühen Kaiserzeit beherrscht. In dieser Hinsicht kann das maius-solito-Motiv (und seine sprachlich-stilistischen Erscheinungsformen) - wie der senecanische Stil insgesamt - durchaus als rhetorisch bezeichnet werden. Doch darf man hier nicht stehenbleiben, Senecas Tragödie nicht auf den stilistisch-literarischen Aspekt einengen und als poetisches Pendant zu den papierenen Deklamationen der Zeit mißverstehen, wie wir sie aus Seneca pater kennen. Die senecanische Tragödie ist durchaus 'tragoedia rhetorica'; aber sie ist mehr als das, und das gilt auch - und besonders- fur den hier thematisierten Stilzug. Wenn auch nicht immer, so ist das hektische Suchen nach dem maius aliquid, nach dem audacius solito doch oft thematisch adäquat und dramatisch höchst wirkungsvoll. Das unersättliche Jagen von einem emotionalen Höhepunkt zum anderen, das ständige sich Anspornen und Überbieten, Verwerfen und erneute Überbieten, erzeugt eine Atmosphäre nervöser Ruhelosigkeit und den Ton eines schrillen Fortissimo und ist damit
29
So ζ. B. wenn Phaedra ihre Ansicht, sie leide schwerer als ihre auch von widernatürlicher Liebe ergriffene Mutter Pasiphae, mit dem Apercu begründet: sed amabat aliquid.
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
perfekter Ausdruck der dargestellten zerstörerischen Affekte: dolor, ira und furor30. Nach den Beobachtungen zum stilistischen Aspekt des maius-solitoLeitmotivs nun ein Wort zu seiner dramatischen Funktion, zu seiner Bedeutung für die dramatische Einheit des 'Thyestes'. Die Frage nach der Einheit der senecanischen Tragödie hat in den letzten 50 Jahren einen besonderen Schwerpunkt der Forschung gebildet. Ausgangspunkt war Regenbogens These von der Auflösung des Dramenkörpers31, die W. H. Friedrich in seiner grundlegenden Dissertation durch die Analyse von 6 der 8 senecanischen Dramen (es fehlen nur Ag. und Thy.) zu untermauern versuchte32. Sein Ergebnis lautete: Fortschreitende Emanzipation der Einzelszene, d.h. Aufgabe eines organischen Handlungszusammenhangs zugunsten einer nur locker verbundenen Reihe von Episoden. Dieses Ergebnis hat stark gewirkt, hat aber auch Widerspruch hervorgerufen. Seine Gegner - ich nenne nur Steidle, Müller und Schetter33 - haben eine Fülle schöner Beobachtungen zur dramatischen Technik Senecas sowie zu Aufbau und Komposition einzelner Stücke zusammengetragen.
30 Cf. Regenbogen, s. o. Anm. 40, 30, 31. - Die von vielen Interpreten zu Recht betonte typisch senecanische Verbindung von Rationalität und Affekt tritt in diesem Stilzug kraß in Erscheinung. Die Einheit von scharfsinniger Kalkulation und unkontrollierter Leidenschaft zeigt sich gerade bei der Suche nach dem nie gewagten Verbrechen und wirkt hier besonders erschreckend. 31 Regenbogen, s. o. Anm. 4, 26, 55. 32 W. H. Friedrich, Untersuchungen zu Senecas dramatischer Technik, Diss. Freiburg (1931), Borna-Leipzig 1933. 33 Cf. e.g. W. Steidle, Zu Senecas Troerinnen, Philologus 94, 1941, 266-84 (Nachdr. in: Senecas Tragödien, WdF 310, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1972, 210-229; id., Bemerkungen zu Senecas Tragödien, Philologus 96, 1943, 250-64 (Nachdr. in: Senecas Tragödien, WdF 310, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1972, 286-91, 490-99; G. Müller, Senecas Oedipus als Drama, Hermes 81, 1953, 447-64 (Nachdr. in: Senecas Tragödien, WdF 310, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1972, 376-401); W. Schetter, Sulla Struttura delle Troiane di Seneca, RFIC ser. 3, 93, 1965, 396-429 (Nachdr. in deutscher Sprache in: Senecas Tragödien, WdF 310, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1972, 230-71.
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Maius solito
50 Jahre nach Regenbogen und Friedrich scheint deutlich, daß die These Regenbogens - richtig verstanden - durchaus ihre Berechtigung hat34. Die Tendenz zur Verselbständigung der Einzelszene, die sich im Epos immer deutlicher ausprägt, bestimmt auch die senecanische Tragödie. Die Einheit einer sich organisch entfaltenden Handlung, in der, aristotelischen Maßstäben folgend, jeder Schritt sich entweder notwendig oder doch wahrscheinlich aus dem vorangegangenen ergibt, ist weitgehend aufgegeben. Nebenumstände werden vielfach einfach weggelassen, die Motivation ist oft nachlässig; zeitliche und logische Sprünge sind nicht selten. Doch nur unter diesem Aspekt (der folgerichtigen Entwicklung und sorgfältigen Verknüpfung) kann man der senecanischen Tragödie die Einheit absprechen. Einheit des Themas dagegen und Einheit des Pathos, dazu Einheit des Stils, des Tons und der Atmosphäre wird ihr niemand bestreiten können, und auch in dem Kompositionsprinzip der pathetischen Reihung ist der bestimmte Wille des Autors zu klarer und wirkungsvoller Architektonik immer deutlich zu erkennen. Das gilt ganz besonders für den 'Thyestes':
34
Α
Β
Vorbereitung der Tat
Durchführung der Tat
E. Lefövre, Versuch einer Typologie des römischen Dramas, in: E. L. (ed.), Das römische Drama, Darmstadt 1978,1-90 (4Iff.).
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Ein dynamischer Vierschritt, ganz auf das Wesentliche konzentriert und ohne letzte Rücksicht auf zeitliche oder logische Konsistenz. Zwei große Szenen dienen der Exposition von Täter und Opfer sowie der Planung und Vorbereitung der Tat; zwei weitere der Durchführung der Rache: I und III ganz dem Atreus gewidmet; II und IV von paralleler Struktur: zunächst Thyestes, von bösen Ahnungen überfallen und doch schon verloren - im Hintergrund steht der lauernde Atreus bereit und weidet sich am Anblick seines Opfers; dann die beiden Begegnungen der ungleichen Brüder; zweimal das souveräne Katz-und-Maus-Spiel des Bösen mit dem Schwachen; zuerst das heimtückische Verhüllen der wahren Absichten, dann das nicht weniger heimtückische Enthüllen der Wahrheit. Davor der Prolog, der nicht so sehr die Handlung, als vielmehr Atmosphäre und Ton des Stücks exponiert und in den Visionen und Prophezeiungen des Tantalus und der Furie das folgende Stück und seinen schrecklichen Höhepunkt, wie Anliker betont hat, mehr vorauserlebt als voraussagt35. Das maius-solito-Leitmotiv verknüpft, wie wir gesehen haben, die einzelnen Szenen des Stücks. Seine besondere dramatische Funktion liegt darüber hinaus darin, daß es nicht nur einzelnen Monologen und Dialogen, nicht nur Szenen und Akten, sondern der gesamten Handlung eine klare gradlinige Bewegung und eine starke innere Dynamik verleiht. Steidle hat zutreffend von Crescendo-Technik gesprochen36. In der Tat ist damit ein fur Seneca zentrales Bauprinzip getroffen, durch das oft die lockere Bilderfolge seiner Tragödien zusammengehalten wird. So bestimmt den 'Oidipus' ein Crescendo des Schreckens und der Furcht; die 'Troades' ein Crescendo des Schmerzes und des Leidens; die 'Medea' ein Crescendo des rasenden Zorns. So ist der 'Thyestes' ein gewaltiges Crescendo des Hasses und der Bosheit: von der Entwicklung des Plans bis zum Kindermord und 35
K. Anliker, Prologe und Akteinteilung in Senecas Tragödien, Noctes Romanae 9, Bern-Stuttgart 1960,23-29 (27). 36 Steidle, s. o. Anm. 33, Troerinnen, 284.
Maius solito
Mahl, von Atreus' Selbstanstachelung bis zu seiner Selbstverwirklichung als monumentale Inkarnation des Bösen.
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perversen
Als drittes seien einige Überlegungen zum philosophischen Aspekt des 'comparativus Senecanus' angeschlossen. Daß die senecanische Tragödie nicht als 'tragoedia rhetorica' begriffen werden dürfe, sondern nur als 'tragoedia philosophica' erklärt werden könne, hat in diesem Jahrhundert als erster Theodor Birt37 mit Nachdruck vertreten. Er sah in den meisten der Tragödien Versuche des Nero-Erziehers, seinen gefährdeten Zögling durch 'Abschreckungsbilder' zu warnen vor dem Mißbrauch der Macht und vor der zerstörerischen Gewalt der Affekte. Diese recht enge pädagogische These Birts ist in der Folge dann von Egermann erweitert worden, der die senecanischen Helden und ihre Schicksale als beispielhafte „Veranschaulichung stoischer Postulate" bezeichnete38. In dieser Form hat der philosophische Interpretationsansatz stark gewirkt. Er darf jedoch nicht überzogen oder gar verabsolutiert werden39; und es ist zu bedenken, daß die Eigengesetzlichkeit der literarischen Gattung, die Adaption bereits geprägter Stoffe und Gestalten und die zentralen Motive des Mythos und seine innere Logik nicht selten zu dramatischen Situationen und Lösungen fuhren, die sich mit Hilfe stoischer Philosophie nicht erklären lassen oder gar im Gegensatz zu ihr stehen. Das haben Gegner einer allzu rigorosen 'interpretatio Stoica' zu Recht betont40. Keinesfalls gerechtfertigt ist es jedoch, wie jüngst geschehen, von einer antistoischen Tendenz der Tragödien zu sprechen41. Wir können den Dichter Seneca nicht vom 37
Th. Birt, Was hat Seneca mit seinen Tragödien gewollt?, NJBB 27 (= Jahrg. 14), 1911,336-64(233). 38 F. Egermann, Seneca als Dichtelphilosoph, NJBB NF 3, 1940, 18-36 (21-24). 39 Diese Gefahr ist vor allem in den Arbeiten von B. Marti deutlich: Seneca's Tragedies, A New Interpretation, ΤΑΡΑ 76, 1945, 216-45; The Prototypes of Seneca's Tragedies, CP 42, 1947,1-16; cf. auch J. F. Brady, Stoicism in the Tragedies of Seneca, Diss. Columbia Univ. New York, 1958. 40 Cf. e.g. G. A. Seeck, Senecas Tragödien, in: Das römische Drama, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1978, 378-426 (402-407). 41 J. Dingel, Seneca und die Dichtung, Heidelberg 1974.
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Philosophen Seneca trennen. Die gedanklichen Beziehlingen zwischen der philosophischen Prosa und den Tragödien sind eng und vielfältig, und die Interpretationen von Knoche (zum Thy.) und Maurach (zur Med.), von Zintzen (zum HF) und von Lefevre (zu Phae. und Ag.) haben an der Notwendigkeit und Fruchtbarkeit dieses Interpretationsansatzes
keinen
42
Zweifel gelassen . Ich
beschränke
mich
im
wesentlichen
auf
Implikationen des fur den „Thyestes" zentralen
die
philosophischen
maius-aliquid-Motivs.
Vorausgeschickt sei, daß man Atreus' durch nichts zu befriedigendes Streben nach dem summum malum auch verstehen kann als Verkehrung des alten griechischen Heldenideals: ανέν άριστεύειν και ύπείροχον εμμεναι άλλων. Auch Atreus will der Beste sein; auch er will - wie wir gesehen haben - alle anderen, Tote und Lebende, übertreffen und unsterblichen Ruhm erringen. Im Lichte stoischer Ethik gewinnt der 'comparativus Senecanus' jedoch tiefere Bedeutung. Atreus' wahnsinnige Jagd nach der Perfektion seiner Rache macht ihn zum vollkommenen Bösewicht. Knoche hat in seiner Analyse der Atreus-Gestalt schön herausgearbeitet, daß Atreus, der sich über alle gültigen menschlichen Gefühle und Normen hinwegsetzt und in der
42
U. Knoche, Senecas Atreus. Ein Beispiel, Antike 17, 1941, 60-76 (Nachdr. in: Senecas Tragödien, WdF 310, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1972, 58-66, 477-89); G. Maurach, Jason und Medea bei Seneca, A & A 12, 1966, 125-40 (Nachdr. in: Senecas Tragödien, WdF 310, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1972, 292-320); C. Zintzen, Alte virtus animosa cadit, Gedanken zur Darstellung des Tragischen in Senecas 'Hercules Furens', in: Senecas Tragödien, WdF 310, ed. E. Lefevre, Darmstadt 1972, 149-209; E. Lefevre, Schicksal und Selbstverschuldung in Senecas Agamemnon, Hermes 94, 1966, 482-96; id., Die Schuld des Agamemnon. Das Schicksal des Troja-Siegers in stoischer Sicht, Hermes 101, 1973, 64-91; id., Quid ratio possit?, Senecas Phaedra als stoisches Drama, WS 82, 1969, 131-60; cf. weiter: zur Phaedra: A. D. Leeman, Seneca's Phaedra as Stoic Tragedy, in: Misc. trag, in Hon. J. C. Kamerbeek, Amsterdam 1976, 199-212; zum Oidipus: D. J. Mastronarde, Seneca's Oedipus, The Drama in the Word, ΤΑΡΑ 101, 1970, 291-315; vgl. jetzt auch die interessante Sammlung von Aufsätzen zur senecanischen Tragödie: Ramus 12, 1983.
Maius solito
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höchsten Schlechtigkeit das höchste Glück findet, für den Stoiker den „Geist der Widernatur" verkörpert 43 . Er ist der Anti-sapiens, der stoische Weise auf den Kopf gestellt. Nach stoischer Auffassung strebt jeder Mensch (oder sollte doch streben) nach Herrschaft, Freiheit und Macht; aber wenn die Herrschaft nicht Herrschaft über sich selbst ist, die Freiheit nicht Gleichgültigkeit gegen äußere Güter und Ereignisse, die Macht nicht Macht über die zerstörerischen Affekte, so müssen sie bloße Illusion bleiben. Herrschaft über andere, Freiheit zu tun, was man will - gut oder böse -, und Macht über eine Welt, deren wahre Herrscher die ewige Natur und das unabänderliche Fatum sind, können keine wahre Erfüllung menschlichen Strebens nach Glück bringen, sondern fuhren notwendig zu immer neuen Enttäuschungen und zu immer neuen Begierden, was auch immer vorübergehend erreicht wird. Der stoische Weise ist suo contentus. Dazu bildet Atreus' unersättliche Gier nach dem maius aliquid den denkbar stärksten Kontrast 44 . Ein zweiter Aspekt ist ebenso wichtig für eine interpretatio Stoica des 'Thyestes'. Atreus'
rasender Zorn
ist eine eindrucksvolle
poetische
Demonstration der stoischen Theorie von der Natur der Affekte. Die Stoa definierte seit Zenon den Affekt als όρμή πλεονάζουσα, als einen das Maß überschreitenden Trieb, einen nach mehr und mehr strebenden Drang, der die Seele in Verwirrung stürzt, nicht zu zügeln und maßlos 45 . Die peripatetische 43
Knoche, s. o. Anm. 42, 66-76. A. Dihle weist mich darauf hin, daß Cicero einmal von einer der Pyramide der bona mit dem summum bonum an der Spitze genau entspechenden Pyramide der mala spricht (Cie. Acad. 2.132; vgl. auch Aug. de civ. dei 19.4). Atreus (selber ein summum malum) gibt sich erst zufrieden, als er das summum malum erreicht hat. 44 D. Armstrong weist mich darauf hin, daß in einer interpretatio stoica Thyestes, der sich, obwohl er in der Verbannung den falschen Schein der Herrschaft durchschaut hat, dennoch auf den gefahrlichen Gipfel der Macht zurücklocken läßt, als προκύπτων aufzufassen ist, als derjenige, der zwar durchaus Fortschritte auf dem Wege zur Weisheit gemacht hat, im strengen Sinne jedoch immer noch ein verlorener Narr ist. Wer unter Wasser ist, lautet die pointierte Formulierung der Stoa, der ertrinkt, sei er einen Fuß oder 500 Klafter unter der Oberfläche. 45 Cf: SVF (v. Arnim), I 50f., III 92ff. (e.g. όρμή έκφερομένη καν άπειθής λόγω; ... ύπερτείνουσα τά κατά τόν λόγον μέτρα. Α. Long macht mich darauf
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Auffassung - ich zitiere Μ. Pohlenz -, „daß die Affekte in der Natur des Menschen mitgegeben und, in den richtigen Grenzen gehalten, wertvolle Helfer der Vernunft und unentbehrlich fur die rechte Lebensführung seien, da das theoretische Urteil allein zum Handeln nicht genüge, sondern triebhafter Impulse ... bedürfe", diese Auffassung wurde scharf bekämpft. Für die Stoa „braucht die Tugenderkenntnis keine Bundesgenossen, und die Forderung, das Pathos in den rechten Grenzen zu halten, verkennt dessen Wesen, das eben darin besteht, daß es keine Grenzen innehält"46. In seiner Schrift 'Über den Zorn', die für den 'Thyestes' wie für die 'Medea' beinahe den Wert eines Kommentars hat47, bezeichnet Seneca die ira, den Zorn, als den gräßlichsten und wildesten der Affekte, den es nicht zu mäßigen, sondern zu tilgen gelte: er läßt sich nicht beschneiden oder vermindern (nec recidi se nec minui patitur, 1,8); er ist nicht zurückzurufen (irrevocabilis, 2,35), zügellos und nicht zu bändigen (effrenata et indomita, 1,9) und läßt kein Maß zu (modum non accipit, 1,8), sondern verstärkt seine
aufmerksam, daß die Vorstellung von einer durch nichts zu befriedigenden Begierde auch epikureisch beeinflußt sein kann (epikureische Elemente finden sich auch in der Verfiihrungsszene, besonders Thy. 450fF., und natürlich in den Briefen); zum „unbegrenzten Begehren" (Lukr.) vgl. W. Schmid, Lucretius Ethicus, in: Lucröce, Entretiens sur l'antiquit6 classique 24,1978,123-65 (137-51). 46 M. Pohlenz, Die Stoa, Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde., Göttingen 1948/49 (41972), 150. 47 Cf. dazu jetzt: Ä. Bäumer, Die Bestie Mensch, Senecas Aggressionstheorie, ihre philosophischen Vorstufen und ihre literarischen Auswirkungen, Diss. Mainz (1981), Studien zur Klass. Phil. 4, Frankfurt - Bern 1982; im zweiten Buch, Kap. 35, entwirft Seneca ein dämonisches Bild des Zorns, das sich zum 'Thyestes' verhält wie eine Skizze zum ausgeführten Gemälde. Genauso wie hier die ira beschrieben wird, steigt zu Beginn des 'Thyestes' die Furie aus dem Hades, allegorische Verkörperung des aus dem Hades der Seele steigenden Rachezorns; genauso rast Atreus in seinem maßlosen Zorn, angesteckt vom Geist des Tantalus, dessen Strafe in der allegorischen Interpretation der Stoa nur ein mythisch-poetisches Bild sein kann für die niemals zu stillenden Begierden des Menschen nach leeren Vergnügen und nichtigen Zielen; cf. auch G. A. Staley, Ira, Theme and Form in Senecan Tragedy, Diss. Princeton Univ., 1975 (micr.).
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Gewalt immer mehr (vim suam magis et magis tendit, 3,1) und rast über alles Gewöhnliche hinaus (super solita saevit, 3,19). So ist Atreus' nicht zu befriedigende Gier nach Rache, die Jagd nach dem maius aliquid, die Seneca so vielfältige Möglichkeiten zu rhetorischstilistischer Raffinesse und zu geistreicher Pointierung bot und die dem Stück dabei zugleich seinen fiebrigen Rhythmus und seine dramatische Dynamik und Einheit verleiht, schließlich drittens der poetische Ausdruck für die stoische Theorie von der Natur der Affekte, die, wenn einmal zugelassen, immer weiter wachsen und durch nichts zu befriedigen sind. Als vierter Aspekt seien abschließend - nach einem Seitenblick auf die Dichtung der Zeit - die historischen Hintergründe des 'comparativus Senecanus' wenigstens kurz skizziert. Mancher wird sich bei diesen Überlegungen zum senecanischen 'Thyestes' an Lucans 'Pharsalia' erinnert gefühlt haben oder an Statius' 'Thebais', manchem mögen Verse oder Szenen aus Valerius Flaccus oder auch Silius Italicus in den Sinn gekommen sein. Überall in der großen Dichtung der frühen Kaiserzeit48 findet sich dasselbe Streben nach dem maius solito et audacius\ überall - wenn auch unterschiedlich stark - der Versuch, die Vorgänger zu überbieten, einem Thema noch größere Wirkung abzugewinnen, einem Motiv eine neue Pointe zu verleihen, einem Gedanken eine raffiniertere Formulierung zu geben; überall mehr oder minder lockere Reihen pathetischer Einzelszenen, zusammengehalten durch die dramatische Technik des Crescendo; überall Helden ohne Maß und Selbstbeschränkung, von Flüchen getrieben, von Furien gehetzt: das gilt für den lucanischen Caesar ebenso wie für den Hannibal des Silius; fur die Gegenspieler Jasons, Pelias und Aeetes, bei Valerius genauso wie fur die Brüder Eteokles und
Cf. E. Burck, Vom römischen Manierismus, Darmstadt 1971; M. Fuhrmann, Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung, in: Die nicht mehr schönen Künste, Grenzphänomene des Ästhetischen, ed. H. R. Jauß, Poetik und Hermeneutik 3, München 1968,23-66 (Disk. 531-47).
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Polyneikes bei Statius; immer dieselbe düstere Atmosphäre, derselbe schrille Ton; überall der grausame Kampf um die Macht, Bruderkrieg und Brudermord; überall die gräßliche Lust am Perversen, die Lust am Grauen, die Lust am Leiden und am Sterben und die Lust an der großen Tat - vor allem der großen Untat: dem maius scelus, dem maius nefas: Der lucanische Caesar, der nach der Schlacht von Pharsalos auf dem mit Leichen bedeckten Schlachtfeld ein Festmahl richten läßt, um sich an den toten Gesichtern seiner Feinde weiden zu können (7,792ff.), oder der furchtbare Zweikampf der Brüder Eteokles und Polyneikes bei Statius (ll,57ff.), von dem sich auf Befehl Juppiters die Götter abwenden und zu dem die Seelen der verdammten Thebaner aus dem Hades emporsteigen, weil das bevorstehende Schauspiel alle ihre Verbrechen übersteigen wird (11,423): vinci sua crimina gaudent. Angesichts dieses Befundes drängt sich die Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen dieser sehr weitgehenden stilistischen und thematischen Übereinstimmungen und der Wurzel des Strebens nach dem maius solito geradezu auf. Vincere: übertreffen, übersteigen ist in der Tat ein Schlüsselwort der Zeit. Nach einem Jahrhundert blutiger Bürgerkriege hatte die pax Augusta einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Die Ausdehnung des Welthandels ließ alle Kostbarkeiten der Welt und alle ihre Seltsamkeiten in Rom zusammenströmen, und der äußere und innere Frieden gewährte die Muße, sie zu genießen: Größer und höher, eleganter und kostbarer, lautet das ungeschriebene Gesetz des Jahrhunderts von Actium bis zu den Wirren des Dreikaiserjahrs; und neu mußte es sein, ungewohnt, nie dagewesen 49 . Nihil iuvat solitum lautet Senecas prägnante Formel 50 : Das gilt für den luxus mensae, fur die kleinen und großen Schlemmereien und Symposia der
49 Reiches Material für diese Tendenz bei P. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine, Bd. 2, Leipzig 91920. 50 Ep. 122,14.
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literarischen und historischen Society von Trimalchio bis Nero; immer neue Speisen aus aller Herren Länder, immer outriertere Gerichte, immer kostbarere Ausstattung mit Blumen und Düften, Aufführungen und Geschenken: „man speit, um zu essen", sagt Seneca sarkastisch, „und man ißt, um zu speien"51. Es gilt ganz analog für Kleidung und Schmuck, und es gilt für private und öffentliche Bauten und ihre Einrichtungen. Seneca spricht in der Trostschrift an Helvia (9) von immer längeren Säulengängen, immer höheren Türmen, immer tieferen Grotten gegen die Hitze des Sommers und immer aufwendigeren Speisesälen. Immer größer werden in dieser Zeit die Villen und Paläste, immer feiner und raffinierter in Anlage und Konstruktion; immer kostbarere Materialien für Säulen, Wände und Decken werden aus allen Wäldern und Steinbrüchen des Imperiums herbeigeschafft. Neros domus aurea - im Vestibulum die fast 40 m hohe Statue mit den Zügen des Kaisers - ist nur der Gipfel dieses Strebens nach dem mains solito et audacius, das die Epoche beherrscht und das schließlich auch einen Bereich bestimmt, der uns wieder dichter an die Tragödie Senecas heranbringt: die Spiele, die immer häufiger werden und immer länger, immer aufwendiger und immer sensationeller, immer brutaler und immer blutiger: Tierhetzen mit den seltensten und wildesten Tieren aus aller Welt, nachgestellte historische Seeschlachten auf natürlichen und künstlichen Seen (Claudius läßt auf dem Fucinersee 19 000 Mann kämpfen!) und schließlich die (oder besser das) Gladiatorenschlachten. In den Spielen finden sich alle besprochenen Charakteristika der senecanischen Tragödie wieder: die Suche nach dem Grandiosen und dem Niedagewesenen ebenso wie die Dramaturgie des Crescendo, die fiebrige Atmosphäre und der schrille Ton, ebenso wie die rasende Leidenschaft (in der Arena und vor allem auf den Rängen), dasselbe Übermaß an Schmerz und Leiden und dieselbe Suche nach der höchsten und raffiniertesten Steigerung der Grausamkeit; oft beflügeln Mythos und Literatur die krankhafte Phantasie der Gastgeber und ihrer Regisseure und
51
Cons. Helv. 10,3.
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Ingenieure 52 , wie umgekehrt ohne Zweifel die Exzesse der Arena die perverse Phantasie der Poeten beflügeln. Ein Stück wie der 'Thyestes' ist auch - und nicht zuletzt - eine Art ästhetisch-literarisches Gladiatorenspiel, Ausdruck und Spiegel der Zeit. Seneca charakterisiert in 'de brevitate vitae' seine Zeit als ein saeculum, das nur in der Erfindung neuer Laster Genie zeige 53 , und spricht in 'de ira' (2.9) von einem Wettkampf der Niedertracht und des Nichtsnutzes: Täglich wächst die Lust am Frevel: maior cottidie peccandi cupiditas. Den makabren Höhepunkt der alle Lebensbereiche durchdringenden Tendenz zum insolitum und zum maius aliquid stellen die Principes und ihre Exzesse dar, die facinora insolita und scelera inausa eines Caligula oder eines Nero, auch wenn gewiß nicht alles, was unsere antiken Quellen ihnen 'cum ira et studio' zuschreiben, stimmt 54 . Hier liegt der konkrete politische Aspekt des 'comparativus Senecanus'. Leider ist der 'Thyestes' wie die anderen Stücke Senecas nicht datiert 55 . Auch auf die römische Tragödie trifft zu, was für die griechische gilt: Es ist einerseits problematisch und nur in seltenen Fällen möglich, einzelne Verse oder Situationen als versteckte Anspielung auf ganz bestimmte aktuelle Ereignisse zu verstehen; es ist andererseits aber immer notwendig, sich die allgemeine politische Situation und die geistigen und gesellschaftlichen Tendenzen der Zeit vor Augen zu halten. Die politische Hellhörigkeit des kaiserzeitlichen Publikums ist durch eine ganze Reihe von Anekdoten und
52
Friedländer, s. o. Anm. 49, II 90f. Ludi apparatissimi gab es offenbar bereits in der ausgehenden Republik. Die von Cicero, ad fam.7.1, und Horaz, Epist. 2.1.187ff., kritisierten pompösen Inszenierungen waren gewiß auch von dem Ehrgeiz beflügelt, frühere Aufführungen zu übertreffen. Ähnliches gilt übrigens auch für andere der oben angeführten Bereiche. Dennoch erscheint es gerechtfertigt, für die frühe Kaiserzeit von einer neuen Qualität des Strebens nach dem maius solito zu sprechen. 53 De brev. vitae 12.8. 54 Cf. e.g. J. Baisdon, The Emperor Gaius, Oxford 1934 (1964). 55 In der Datierungsfrage haben weder innere noch äußere Kriterien zu sicheren Ergebnissen gefuhrt; weder die absolute noch die relative Chronologie ist geklärt.
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Berichten bezeugt56, und bei keinem anderen Thema lag - um eine Metapher des Horaz zu übernehmen - das gefährliche Feuer unter einer so dünnen Schicht von Asche. Die Dramatisierung der Atreus-Thyestes-Geschichte hätte, wenn wir Cassius Dio glauben dürfen, schon Aemilius Scaurus das Leben gekostet. Tiberius glaubte in Atreus sich selbst sehen zu müssen und zwang den Dichter mit den Worten: „Bin ich Atreus, so werde ich ihn zum Aias machen," zum Selbstmord57. Berühmter noch ist der von Tacitus überlieferte Ausspruch des Maternus, der, als seine Freunde ihm rieten, seine 'Cato'-Tragödie zu entschärfen, wenn er dem Haß der Mächtigen entgehen wolle, stolz erwiderte, daß der 'Thyestes', an dem er gerade arbeite, eine noch deutlichere Sprache sprechen werde. „Was Cato nicht gesagt hat, wird demnächst Thyestes sagen"58. So wenig ein athenisches Publikum zur Zeit des peloponnesischen Krieges die aktuelle Bedeutung des trojanischen Krieges in einer ganzen Reihe von euripideischen Stücken übersehen konnte, so wenig konnte einem römischen Publikum die Aktualität gerade dieses Stoffes verborgen bleiben, und Seneca hatte die Wiedergeburt des Tantaliden-Mythos im julischclaudischen Haus aus unmittelbarer Nähe verfolgt, und war selber tief darin verstrickt. Im Falle des 'Thyestes' können wir die politische Aktualität noch weiter konkretisieren. Pöschl59 versteht das Stück als Selbstaussage und Selbstbefreiung Senecas, als Ergebnis und Verarbeitung seiner Erfahrung im Umgang mit der Macht, und hat sich folgerichtig nicht auf Atreus, sondern auf Thyestes konzentriert, in dem er, wohl zu Recht, eine Selbstdarstellung des Autors sieht60.
56
Cf. dazu Pöschl, s. o. Anm. 15,224f. Cass. Dio 58,24. 58 Tac. Dial. 3,3. 59 Pöschl, s. o. Anm. 15. 60 Die These (s. o. Anm. 44), daß Thyestes als προκύπτων aufzufassen ist, paßt gut dazu. Seneca hat sich selbst wiederholt als proficiens bezeichnet. 57
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Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica
Für uns steht Atreus im Zentrum der Frage nach der politischen Bedeutung des mythischen Stoffes und seiner Gestaltung. In der dritten Herrschergeneration
der
mythischen
bzw.
der
historischen
Familie
entsprechen einander Atreus und Gaius, genannt das Stiefelchen, und es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß Seneca sich bei dem Porträt des Atreus an seinem Caligulabild orientierte. Caligula, den Seneca überall in seinen Prosaschriften mit bitterem Haß verfolgte; Caligula, von dem er ζ. B. in der Trostschrift an Helvia (10.4) erklärt, daß ihn die Natur hervorgebracht habe, um zu zeigen, was die höchste Lasterhaftigkeit im höchsten Glück vermöge; Caligula, der, wenn wir Sueton (30) hier glauben dürfen, das berühmte Tyrannenwort „oderint, dum metuant" aus dem 'Atreus' des Accius zu zitieren liebte, sich also selbst in der Rolle des Atreus gefiel. Es wäre ein eigener Vortrag, alle Stellen des senecanischen 'Thyestes' vorzufuhren, die sich als Anspielung auf Caligula oder doch als von ihm inspiriert verstehen lassen. Ich greife nur drei Punkte heraus, die m. E. besonders instruktiv sind: So korrespondiert die grausige Stilisierung der Ermordung der Kinder als 'Opferzeremonie' mit Senecas sarkastischer Charakterisierung des sich als Juppiter optimus maximus gelierenden Caligula als „deus noster", dem täglich Menschenopfer dargebracht werden (de tranq. 14); und das scheußliche mythische Mahl hat eine kaum weniger scheußliche historische Parallele in dem auch schon von Regenbogen zitierten Mahl, zu dem Caligula den Ritter Pastor am Hinrichtungstag seines Sohnes geladen haben soll. Caligula setzte ihm, so Seneca in de ira 2.33, einen Krug mit Wein vor und zwang ihn zum Trinken. Der unglückliche Vater gehorchte in dieser furchtbaren Situation, in der es ihm vorkommen mußte, als trinke er das Blut des eben ermordeten Sohnes. „Du fragst", fährt Seneca fort, „warum der Vater sich bezwang: er hatte noch einen zweiten Sohn"; und wie bei Atreus verbinden sich in den schaurigen Geschichten, die unsere antiken Quellen von dem monstrum Caligula erzählen, immer wieder die Maßlosigkeit seiner Bosheit und Brutalität und die Sucht nach der theatralischen Inszenierung neuer unerhörter Verbrechen mit skrupelloser
Maius solito
449
amoralischer Offenheit und einer beißend bösen Zunge: sein Satz: „Ich wünschte, das römische Volk hätte nur einen Hals", ist eines Atreus wahrhaft würdig 61 . Es hat sich gezeigt, daß ein Stilzug, der besonders oft und schnell dem Verdikt „leere Rhetorik" zum Opfer fiel, im 'Thyestes' nicht nur dramatisch adäquat und eindrucksvoll ist, sondern auch die notwendige Form des Ausdrucks darstellt für die philosophische Aussage des Stücks und für seine existentielle und politische Thematik. Der 'Thyestes' kann nur als tragoedia rhetorica-philosophica-politica verstanden werden. In dieser inneren Einheit von Form und Gehalt, die nicht in gleicher Vollkommenheit für alle senecanischen Stücke gilt, ist er ein großes Werk seiner Zeit. Er unterscheidet sich von der großen tragischen Dichtung der Hellenen wie das kaiserzeitliche Rom von der demokratischen Polis Athen, wie Nero von Perikles, wie die Paläste auf dem Palatin von den Tempeln auf der Akropolis, oder wie der Koloß des Nero von den Statuen des Phidias; und das bedeutet: lieben werden wir die senecanische Tragödie wohl kaum, aber verstehen können und sollten wir sie - und vielleicht auch bewundern.
61
Suet. Cal. 30.
Stellenregister Aisch. Agam. 11:347 587 ff.: 344 855 ff.: 344. 347 905 ff.: 347 1107 ff.:347 1127 f.: 347 1258 f.: 348 1343 ff.: 255 f. 1389 ff.: 347 1415 ff.: 346 1434 ff.: 348 1438 ff.: 346 1523 f.: 347 1551 ff.: 346 1625: 347 f. 1654 ff.: 347 Aisch. Cho. 869 ff.: 256. 274 f. Aisch. Dikt. 773 ff.: 381 Aisch. Isthmiastai frg. 78 c 5 ff.: 398 Aisch. Pers. 1:263 Anm. 40. 584 ff.: 304
1109 ff.: 277 1417 ff.: 251
Cass. Dio 58, 24: 446
Aristot. Poet. 1448b 5 ff.: 222 1449a 19 ff.: 368 1449b 36-50a3: 68 1450a 20-22: 179 f. 1450a 33 ff.: 285.312 1450a 39-b2: 67 1450b 8-10: 69 1452a 14-18: 285 1452a 22 ff.: 285. 286 ff. 292. 309 ff. 1452a 24-29: 289. 290 1452a 26:311 1453a 4-6: 233 1453a 7-17: 281 ff. 1453b 11 ff.: 221 f. 239. 1453b 14-22: 283 1454a 5 ff.: 284 1455a 22-26: 287 1949a 32-37: 404
Chaimaleon frg. 38 Wehrli: 371
Aristot. Pol. 1341b 32 ff.: 241 Aristot. Rhet. 1371b 4 ff.: 222. 232
Aisch. Prometheus Pyrkaeus frg. 204b: 382
Astydamas II Herakles, frg. 4: 374
Aristoph. Frösche 738 ff.: 251
Augustin. Conf. 3,2,2-4: 220
Cie. de opt. gen. orat. 1: 126 Cie. fin. 2, 32, 105: 226 Demetrios, Hesione: 378 Eur. Alkestis 747 ff.: 396 Eur. Bacch. 45 ff.: 327 165 ff.: 132 170 ff.: 122. 129 ff. 136 184 ff.: 130 ff. 193: 131 215-262: 145 ff 232: 149 233-38: 151 f. 248-51: 134. 166 260-62: 149 f. 330 ff.: 147 358 f.: 147 f. 363 f f : 130. 133 449 f.: 162 f. 453-59: 152 f. 158 489 ff.: 153. 161 616 ff.: 148 f.
Stellenregister
655: 161 686-88: 163 670 f.: 148 758 f.: 158 800 f.: 161 f. 803: 158 805 ff.: 163 810-812: 151. 155 854 f.: 137 857-61: 138. 140 912 ff: 136 ff. 327 925 ff.: 137. 328 934: 183 957 f.: 150 f. 965: 184 1036 ff.: 185 1043-47: 183 1051-57: 184 f. 1058-62: 185 1063 ff.: 328 1078-81: 185 1084-87: 186 1093-1100: 186 f. 1106: 187 1114: 187 1131-33: 188 1184: 188 1238-40: 189 1242: 188 1246 f.: 188 f. Eur. Cycl. 41 ff.: 387 Anm. 101 94 : 389 Anm. 107 96 f.: 396 Anm. 132 204 : 389 Anm. 107 217 f f : 389 Anm. 107
272 ff.: 393 Anm. 120 285 ff.: 381. 397 Anm. 132 495 ff.: 382. 388 511 ff.: 388 582 ff.: 402 608 ff.: 388 630 ff.: 387 Anm. 101 Eur. El. 73 f f : 199 f. 184 ff.: 200 404 ff.: 200 520 ff.: 265 ff. 747-60: 259 ff. Eur. Helena 417 ff.: 203 431 ff.: 203 f. 437-482: 204 ff. Eur. Her. 728 ff.: 319 815 ff.: 319 884:319 922 ff.: 319 1153 ff.: 319 1248: 64 1348: 65 Eur. Heraclidae 630 ff: 131. 134 Eur. Hipp. 198 f f : 324 353 f f : 326 419 ff: 326
4SI
433 ff:326 687 f.: 326 946 ff: 325 993 ff: 324 1034 f.: 325 1104 f.: 325 1173 ff: 325 Eur. Med. 263 ff: 350 271 ff: 344 340 ff: 321 395 ff: 350 593 ff: 321 802 ff: 321 866 ff: 344 938 ff:321 1021 ff: 323 1040 f.: 96 1046 f.: 96 1056-80: 88-109 passim. 1078-80: 103 ff. 1236-41: 101 f. 1240 f.: 93 f. 1347 ff: 322 1363 ff: 322 1413 f.: 322 Eur. Or. 1061 f.: 210 1126-8: 119 f. 1246 ff: 261 1296 ff: 261. 274 f. 1366-68: 112 f. 1395 ff: 261 1503-36: 109-120 passim. 207 ff. 1539 f.: 119
452
1549 f.: 118 f. 1554 ff.: 117 1558: 118 f. 1629 ff.: 261 Eur. Phoen. 404 f . : 212 748 ff.: 264 1544 f f . : 213 1612 f f . : 213 Eur. Tro. 95 f f . : 317 484 ff.: 316 511 f f . : 316 634 ff.: 304 643 f f . : 316 743 f . : 316 895 f f . : 305 998 ff.: 318 1180 f f . : 316
Stellenregister
1, 599: 134 24, 507-17: 239 f. Hör. ars poet. 220 ff.: 375. 380 Lucan. 7,792 ff: 443 Lucr. rer. nat. 2 , 1 ff.: 228 f. 231 Plat. Nomoi 653 e: 223 Plat. Phileb. 48a5 ff.: 219 Plat. Rep. 605d-606c: 241
Eur. Fragmente frg. 573 N 2 , 3 f.: 240
Plut. Quaest. Conv. 5, 1 (673c-674c): 222 f.
Fronto p. 155 f. Naber: 433
Pollux 4, 142:377
Gorg. Hei. 8 ff.: 217. 240
Python, Agen: 374
Herod, hist. 6,21,2: 227 Hesiod. Erga 11-20: 248 f. 25 f.: 249 Horn. II.
Quint, inst. 10, 1, 125-31 : 433 Sen. Ag. 25 f.: 434 123 f.: 432 Sen. epist. 114,11:434
122, 14: 444 Sen. Helv. 10,4: 448 Sen. Here. fur. 613 f.: 432 Sen. ira 1,8 f.: 442 2, 9:446 2, 33: 448 3, 1:443 3, 19:443 Sen. Med. 41 ff.: 418. 433 170: 432 560 ff.: 433 904 ff.: 433 Sen. Phaedr. 112 ff.: 432 Sen. prov. 2: 234 Sen. Thy. 4 ff.: 423 f. 15 ff.: 435 18 ff.: 424 41 f.: 434 56 f.: 424.434 66 f.: 435 67 ff.: 424 f. 123 ff.: 425 192 ff.: 425 220:425 242 f.: 425
453
Stellenregister
246: 426 252 ff: 426 f. 267: 422 267 ff.: 427 279 f.: 427 404 ff.: 428 625 ff.: 428 682 ff.: 429 713: 429 744 ff.: 429 755 ff.: 429 782 f.: 429 f. 890 ff.: 430 911 ff.: 430 993 f.: 435 1004 f.: 431 Anm. 18 1030 f.: 431 1052 ff.: 431 1065 ff.: 431 1096 f.: 431 Sen. tranq. 14: 448 Soph. Aias 89 ff.: 54 193 ff.: 52 f. 271 ff.: 42 275: 49 308 ff.: 49 326: 35 346 ff.: 42.49 351 ff.: 52 361:52 364 f.: 49. 302 387 ff.: 60 394 f.: 57 398 ff.: 55 401 ff.: 54
403 f.: 51. 52 412 ff.: 81 434 ff.: 55 450 ff.: 54 457 ff.: 55 f. 458: 53 460 ff.: 51. 55. 60 470 ff.: 60 479 f.: 57 646 ff.: 58 651:76 758-77: 82 762 ff.: 54 815 ff.: 40 835 ff.: 61 843 f.: 56 854 ff.: 81 1008 ff.: 60 Soph. Ant. 1-99: 301 Anm. 51 31 f.: 76 632 ff.: 42 635 ff.: 79. 301 Anm. 52 758: 79 760 ff.: 43 773 f.: 35 806 ff.: 42.46 821:46 1068 ff.: 37 1180 ff: 42 1220 ff: 33 1224 f.: 40 1231 ff: 34. 39 1235: 45 1244 f.: 38 1253 ff:38 1301 ff: 34. 40
1304 f.: 44 Soph. Elektra 80f.: 267 f. 86 ff: 77 97-99: 77 227-81:77 328 ff:301 404 ff: 268 893 ff: 269 900 f.: 268 920 ff: 270 1098 ff: 270 1126 ff:270 1174 ff: 270 1222: 270 1398-1421: 257 ff. 1415: 77 Soph. OK 1-13: 16 f. 14: 17 34 f.: 17 36 f.: 17 86 ff: 13 115 f.: 18 141:26 179 ff.: 11 394:3 720-1043: 22 ff. 765 ff: 25 868 ff: 25 1254-1446: 20 ff. 1542 f.: 11 1549 f.: 19 1592: 28 1597 ff: 20 Soph. OT
454 1-13: 16 f. 14: 17 80 ff: 17 87 f.: 17 91 f.: 17 96-98: 5. 9 142: 18 236 ff.: 13 300-462: 20 ff. 297 454 ff: 9 513-677: 22 ff. 634 ff: 6.298 1017 ff: 42 1056 ff: 42. 298 1062 f.: 43 1068 f.: 43 1073 f.: 38 1110 ff: 297 1179 f.: 297 1183: 19 1223 ff: 19 f. 1241 ff: 34. 38 1244: 35 1245 ff: 40 1251 ff : 34 1261 f.: 35 1263 ff: 34
Stellenregister 1282 ff: 7 1297: 26 1375 ff:7 1455-1458: 8 Soph. Philoktet 219-390: 81 628-75: 81 Soph. Tr. 103 ff: 348 536 ff : 348 686: 348 734 ff: 42 807 ff: 43 813 f.: 39 899 ff: 34 903 ff: 35. 39 920 ff: 40 Soph. Fragmente frg. 636 Radt: 229 frg. 952 Radt: 63 Sositheos Daphnis: 374 Lityerses: 374
Stat. Theb. 11,423:444 Suet. Calig. 30: 448 53,2:433 Suda 370
s.v.
Pratinas:
Tac. dial. 3, 3: 447 Thuc. 2,45, 2: 336 Anm. 28 Timokles frg. 6 K., 1-16:228 Vitruv. 5, 6, 9: 376 Zenob. 5,40: 371