Beiträge zum antiken Realismus [Reprint 2021 ed.] 9783112595220, 9783112595213


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Beiträge zum antiken Realismus [Reprint 2021 ed.]
 9783112595220, 9783112595213

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Beiträge t(um antiken Realismus

SCHRIFTEN D E R WINCKELMANN-GESELLSCHAFT BAND III

Beiträge zum antiken Realismus Herausgegeben von

MAX K U N Z E

AKADEMIE-VERLAG 1977

• BERLIN

Herausgeber der Reihe: JOHANNES IRMSCHER

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/353/77 Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 752 864 6 (2160/3) • LSV 8104 Printed in GDR DDR 12,50 M

Inhalt Vorwort

7

1. Johannes Irmscher Reflexionen zum antiken Realismus

9

2. Heiner Protzmann Realismusproblem und Entwicklung des Realitätsverständnisses in der griechischen Kunst

13

3. Verena Zinserling Zum Problem von Alltagsdarstellungen auf attischen Vasen

39

4. Jürgen Dummer Realität des Lebens und Realitätsschwund in der Vasenmalerei

57

5. Eberhard Paul Arbeits- und Alltagsdarstellungen in der böotischen Terrakottaplastik? . . . .

63

6. Gottfried von Lücken t Entwurf und Ausführung auf Vasen des Kleophonmalers

71

7. Wolfgang Schindler Der Mars von Turda. Bemerkungen zum Realismus des Götterbildes in der römischen Kaiserzeit

73

8. Arne Effenberger Gibt es einen Realismus in der koptischen Kunst?

83

5

Vorwort Die in diesem Band vorliegenden Aufsätze sind das Ergebnis einer Arbeitstagung der Winckelmann-Gesellschaft, die im Oktober 1973 in Rostock stattfand. Zu diesem Zeitpunkt veranstaltete die Rostocker Kunsthalle in Verbindung mit allen Antikensammlungen der DDR eine umfangreiche Ausstellung von griechischer Kleinkunst. Für das Kolloquium ergab sich so eine fördernde Wechselwirkung von konkreter Anschauung mit theoretischer Erörterung. Einem interessanten kusttheoretischen Phänomen, dem antiken Realismus, galt das Thema der Tagung, die unter verschiedenen Aspekten einen wichtigen Beitrag zur Erhellung dieses Phänomens leisten konnte. Die Tagung wie der vorliegende Band greifen damit in die seit Jahren stattfindenden Realismusdiskussionen ein, allerdings in einer bewußten Beschränkung auf die antike Kunst. Doch ist darüber hinaus versucht worden, die definitorische sowie kunsttheoretische Klärung des Begriffs „antiker Realismus" weiterzuführen und gleichzeitig konkrete Untersuchungen zum Realismusgehalt und Realitätsbezug in den Darstellungen antiker Kunst zu untersuchen. Allein die Aktualität des Problemkreises rechtfertigt es, einer breiten Öffentlichkeit diese gesammelten und zur Publikation überarbeiteten Aufsätze zugänglich zu machen. Die Autoren sind Mitglieder der Winckelmann-Gesellschaft; ihnen sei für die freundliche Überlassung der Manuskripte gedankt, dem Akademie-Verlag für die Drucklegung. Max Kunze

7

JOHANNES IRMSCHER

Reflexionen zum antiken Realismus Es gehört zu den epochalen Leistungen der Griechen, daß sie den dialektischen Zusammenhang von Sprache und Denken erkannten und mit dieser Erkenntnis die Voraussetzungen dafür legten, daß eine Begriffssprache und Terminologie entstehen konnte, welche die wissenschaftliche Kommunikation bis in unsere Gegenwart in weitestem Ausmaße bestimmte. Eben jener dialektische Zusammenhang macht aber auch deutlich, daß diese Begriffssprache nicht unveränderlich und unwandelbar ist, vielmehr sich ihre Inhalte wandeln und verändern gemäß der allgemeinen Erkenntnis und insbesondere auch dem gesellschaftlichen Fortschritt. Diese Feststellung von allgemeinem Charakter war vorauszuschicken, um das Problem zu verdeutlichen, dem die nachfolgenden Überlegungen gelten. Die vertieften Einsichten, die uns der Marxismus-Leninismus ermöglicht, verbunden mit den erweiterten Aufgaben, die der sozialistische Aufbau der Wissenschaft stellt, beeinflussen notwendigerweise auch deren Begriffsapparat, fordern exaktere Abgrenzungen und Definitionen, geben vorhandenen Termini veränderte Inhalte, erheischen die Bildung neuer Begriffe. Diese geistigen Prozesse vollziehen sich indes nicht im Selbstlauf und sind auch keine Ressortangelegenheit der Philosophie und ihrer Spezialdisziplinen, sondern rufen zur Auseinandersetzung auf, an der Theoretiker und Praktiker gleichermaßen teilhaben müssen, schon um zu verhindern, daß, wie es leicht geschehen kann und gelegentlich auch geschehen ist, über den Nomina die Res vergessen, die Benennungen für wichtiger genommen werden als die Dinge, die sie bezeichnen, sowie deren Applikation in der gesellschaftlichen Praxis. Zu jenen Begriffen, die neue Inhalte in sich aufnahmen und neue Umgrenzungen erheischten, ist auf dem Felde der Ästhetik und der mit ihr verbundenen Kunst- und Literaturwissenschaft zweifelsohne der des Realismus einer der wichtigsten. Abgesehen von den spezifisch philosophischen Ausprägungen, von denen wir hier absehen können, bediente sich bereits die bürgerliche Kunst- und Literaturgeschichtsschreibung eines Realismusbegriffes, und zwar in recht differenten Ausprägungen. Ausgehend von dem unterminologischen Sprachgebrauch des Alltags „realistisch = die Wirklichkeit berücksichtigend" (Großer Duden von 1934), stellten manche Autoren in Kunst und Literatur Idealismus und Realismus einander gegenüber und führten diesen Gegensatz bis in frühe Entwicklungsperioden zurück; das Hildebrandslied wurde in solchem Sinne als ein Werk verstanden, das nach dem Vorbild der Natur und des realen Lebens gestaltet war, und mit den Dichtungen des ausgehenden 9. Jh. (Otfried von Weißenburg; Muspilli) konfrontiert, die eine dezidiert idealistische 9

Welt- und Kunstauffassung repräsentierten. Gegenüber dieser weiten und sehr wohl auch auf die antiken Phänomene übertragbaren Konzeption stand eine engere, welche den Realismus als Antipoden und Nachfolger der Romantik faßte und in den Zeitraum von 1830 bis 1880 fixierte; dabei wurde man durchaus inne, daß jene künstlerische Strömung durch die ökonomische und politische Entwicklung („Maschinenzeitalter", wachsende Rolle des „gewerbetätigen Bürgertums", zunehmende Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, Entstehung eines deutschen Nationalgefühls) bedingt war, erkannte parallele Entwicklungen in den Geistes- wie in den Naturwissenschaften und wollte doch zugleich die unter den Voraussetzungen des Realismus mögliche Blüte auf verstandesmäßig erzählende Schöpfungen wie Historienmalerei, Novelle und Roman begrenzt wissen. Dritte endlich setzten, zumal in der bildenden Kunst, Realismus und Naturalismus einander gleich oder verbanden sie doch eng miteinander, wobei die einen den Terminus allein auf die kontemporären Gegebenheiten beziehen zu dürfen meinten, während andere die gesamte antike Kunst seit dem 5. Jh., die gotische Plastik des 13. Jh., die Werke der Frührenaissance und den überwiegenden Teil des Kunstschaffens des 19. Jahrhunderts als naturalistisch, i. e. realistisch ansehen wollten. Es ist offenkundig, daß wir an keiner dieser Konzeptionen - und es sind keineswegs alle, die hätten aufgeführt werden können, unmittelbar anzuknüpfen vermögen; andererseits müssen wir uns vor Augen halten daß Überlegungen und Assoziationen, welche aus jenen Theorien resultieren, durchaus noch lebendig und anzutreffen sind. In der marxistisch-leninistischen Wissenschaft ist der Realismusbegriff zumindest für zwei Themenkreise konkret definiert und abgegrenzt. Da ist zuerst der kritische Realismus, der in der Literatur des 19. Jh. zutage trat und Werke hervorbrachte, die durch ihre Aussage die soziale Bedingtheit von Ereignissen und Charakteren aufzeigten, die Wirklichkeit als ein gesellschaftliches und damit geschichtliches Faktum erfaßten und ihre Autoren gewissermaßen zu Historikern und Kritikern der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden ließen; geschichtlicher Zeitroman, Bauernroman, Erzählung und Landschaftslyrik bildeten bevorzugte Genres. Diese in ihrer Tendenz fortschrittliche Richtung hatte die Französische Revolution mit ihren Einsichten und Errungenschaften zur Voraussetzung. Ihre Repräsentanten finden sich in allen zu jener Zeit entwickelten Ländern Europas, und auch in anderen Künsten schlug sich die Bewegung nieder. Sie scheiterte letztlich an ihrem Unverständnis des Proletariats, in dem sie vornehmlich die leidende, nicht aber die kämpfende Klasse erkannte, die imstande ist, die kapitalistische Entfremdung aufzuheben. Zum zweiten ist der sozialistische Realismus klar umschrieben als das gegenüber dem kritischen Realismus qualitativ Neue, als die künstlerische Methode, die in der bewußten Aneignung der Wirklichkeit und der sie bedingenden Gesetzmäßigkeiten und der ebenso bewußten Parteinahme für die Arbeiterklasse in ihrem Kampf für den Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab besteht, und mit der Methode wird zugleich die künstlerische Richtung bezeichnet, die sich dieser Methode bedient. Daß über solche Grundprinzipien hinaus Wesen, Anliegen und Perspektiven des sozialistischen Realismus unter Ästhetikern und Kulturpolitikern und nicht zuletzt unter den Künstlern selbst immer neu zum Gegenstand heftiger Debatten werden, liegt im Wesen 10

alles Lebendigen; ebenso verständlich ist aber auch, daß eine lebendige, zukunftsträchtige Bewegung nach ihren Wurzeln und Ursprüngen forscht, und zwar weit weniger aus einem historisch-archivalischen Interesse heraus als vielmehr deshalb, um jene Anfänge womöglich als Kraft- und Inspirationsquelle für die Gegenwart nutzen zu können. Die Frage nach dem antiken Realismus ist somit legitim; ihre Beantwortung stößt freilich auf Schwierigkeiten, die vor allem daraus resultieren, daß, wie wir sahen, der Realismusbegriff recht unterschiedlich umschrieben wird. Man kann ihn - und das wäre die erste Möglichkeit - in dem vorhin angedeuteten unterminologischen Sprachgebrauch „realistisch = die Wirklichkeit berücksichtigend" verwenden und in solchem Sinne von der Realistik der Tanagra-Figuren oder der Mimen des Herondas sprechen. Damit ist sicher manches für die interpretatorische Aussage, kaum jedoch etwas an methodologischer Erkenntnis gewonnen. Realistisch, in solcher Weise verwendet, hat die gleichwertige Aussagekraft wie Beiwörter ä la dynamisch, statisch, tektonisch, deren Gewichtigkeit damit nicht in Frage gestellt werden soll; nur von einer wissenschaftlich exakten, allgemein anerkannten und allgemein verstandenen Terminologie kann man in solchem Zusammenhang nicht sprechen. Nicht weit entfernt davon liegt die Applikation eines Realismusbegriffs, der so weit gefaßt ist, daß in ihm alle jene künstlerischen Prinzipien Raum finden, „die sich für eine wahrheitsgetreue künstlerisch-geistige Aneignung der Wirklichkeit in wesentlichen realen Zusammenhängen und Beziehungen bewähren". Die Autoren des „Kulturpolitischen Wörterbuchs", auf welches die zitierten Formulierungen zurückgehen, stellen dem skizzierten Realismus mit Recht ein Wirklichkeitsverhalten entgegen, „das durch Mythologie, Religion und als Doktrin oder Konvention gesetzte normative Themenund Regelvorgaben bestimmt ist", sind aber gleichzeitig genötigt, für die vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen das Vorhandensein realistischer Tendenzen und Elemente sogar „innerhalb der von Mythologie und Religion festgesetzten und geregelten Wirklichkeitsbeziehungen" zuzugestehen. Nicht umsonst hatte ja Karl Marx die griechische Mythologie (allerdings nur diese!) definiert als Natur und gesellschaftliche Formen, „in einer unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie", und ebendiese Mythologie als Voraussetzung, das heißt sowohl als Arsenal wie als Boden, der griechischen Kunst bezeichnet. Es wird deutlich, daß ein auf solchen Prämissen aufbauender Realismusbegriff sehr weit ausgreift und, wie es jüngst in einer Kollektivarbeit in den „Weimarer Beiträgen" geschah, neben den Humanismusbegriff gestellt wird, ohne diesem gegenüber differenzierend abgegrenzt zu werden. Im Endergebnis einer solchen Ausweitung werden der Terminus Realismus und mit ihm der Terminus Humanismus zu Synonymen für das progressive Kulturerbe schlechthin, für „alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll w a r " (so Lenin in der Auseinandersetzung mit dem Proletkult). Es scheint mir fraglich, ob ein derart weitgefaßter, gegenüber verwandten Termini kaum abgegrenzter Realismusbegriff noch wissenschaftlich aussagekräftig sein kann. Angesichts dieser Sachlage ist es nicht zu verwundern, daß auch andere Ableitungen des Realismusbegriffs gesucht wurden. Von der in sich eindeutigen Bezeichnung des

11

kritischen Realismus des 19. Jh. z. B . ergab sich unter Vermeidung jeglicher Modernisierung und strenger Beachtung der historischen Unterschiede eine Möglichkeit der Rückblendung auf die Antike in der Form, daß nach Werken gefragt wurde, die durch ihre Aussage auf die soziale Bedingtheit von Ereignissen und Charakteren hindeuten und die Wirklichkeit als ein gesellschaftliches und damit geschichtliches Faktum vorahnen. Zweifelsohne vermag ein solch begrenzter Realismusbegriff, der von vornherein darauf tendiert, lediglich bestimmte vorwärtsweisende Erscheinungen und beileibe nicht das gesamte fortschrittliche Kulturerbe zu erfassen, für den Bereich der antiken Literatur und vielleicht auch für Teilbezirke des antiken Kunstschaffens neue Einsichten und wohl auch verallgemeinerungsfähige Beispiele zu vermitteln. Zu fragen bleibt allerdings, ob es notwendig ist, mit einem derartigen neugeprägten und neubestimmten Terminus zu operieren, da der eingebürgerte, geläufige und kaum mißverständliche Begriff der Gesellschaftskritik die Überzahl der einschlägigen Phänomene zu erfassen vermag. E s bleibt noch eine letzte und, wie mir scheint, fruchtbarste Verwendung unseres Terminus. Sie geht aus von der modernen Bestimmung des sozialistischen Realismus und fragt nach jenen Elementen in den vorangegangenen Klassengesellschaften, und darunter auch der antiken, die auf den sozialistischen Realismus hinwiesen, ihn vorbereiteten, in ihn eingingen. Diese Auffassung geht davon aus, daß Realismus als voll ausgebildete künstlerische Methode erst auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung möglich ist, daß aber, ehe diese Stufe erreicht werden konnte, es langer Anläufe bedurfte, die zu partiellen Errungenschaften führten, welche ihrerseits für die spätere Synthese erhebliche Bedeutung besitzen und eine historisch gerechte Würdigung erheischen. E i n e solche historisch gerechte Würdigung wird einerseits verhindern, daß die antiken Leistungen unterschätzt und nicht in sich selbst, sondern nur im Hinblick auf Kommendes beurteilt werden, und andererseits vor Modernisierungen bewahren, wie sie ja stets naheliegen, wenn Begriffe, die aus den Gegebenheiten neuzeitlicher Gesellschaftsformationen erwuchsen, auf frühere Formationen übertragen werden. Im übrigen zeigt gerade von unserem Gegenstand her schon ein erster Blick auf die Antike die andersartige Situation gegenüber dem kritischen und vollends gegenüber dem sozialistischen Realismus: Nicht unterschiedliche, miteinander in Kampf und Auseinandersetzung stehende Richtungen vermögen wir im griechisch-römischen Altertum zu konstatieren, vielmehr kreuzen sich hier realistische und nichtrealistische Tendenzen in Werken einer Gattung, eines bestimmten Autors, ja zuweilen sogar innerhalb eines einzelnen Werkes. Reimar Müller hat in einem Aufsatz im „Altertum" dafür instruktive Beispiele zusammengetragen. E s sollte mit den vorstehenden Reflexionen der Versuch unternommen werden, die zum Teil recht differenten Ergebnisse einer seit langem breit geführten Diskussion festzuhalten, und zwar in den großen Linien unter Verzicht auf manche möglichen Varianten. D i e Übersicht möge gezeigt haben, daß die Problemstellung fruchtbar ist und gleichermaßen wissenschaftliches wie praktisches Interesse besitzt; um Lösungen zu finden, bedarf es der konkretisierenden Erörterung paradigmatischer Einzelfälle wie der zusammenfassenden, verallgemeinernden, auf Theoriebildung bedachten Synthese. Für beide Wege, so erwarten wir, wird unsere Tagung hilfreich sein.

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HEINER

PROTZMANN

Rudolf Schottlaender zum 75. Geburtstag

Realismusproblem und Entwicklung des Realitätsverständnisses in der griechischen Kunst I. Realitätsbegriff als Voraussetzung der Frage nach Realitätsgehalt und

Realismus

Nimmt man den neugeschaffenen Terminus „antiker Realismus" als Ausgangspunkt an, so zieht er einige Fragen nach sich. Erstens: Handelt es sich um einen Begriff, der Inhalte beschreibt, oder um ein zunächst leeres Verständigungswort? - Zweitens: Ist das Adjektiv „antik" vielleicht eine Einschränkung, da wir ja erwarten müssen, daß wir mit der Fracht moderner Realismusvorstellungen an den Klippen entlegener historischer Gestade scheitern? - Drittens: Wie trage ich dann dieser Einschränkung methodisch Rechnung, welche Möglichkeiten habe ich, meinen Realismusbegriff so allgemein zu halten, daß er sich der griechischen Kunstgeschichte als Maßstab anlegen läßt? Wir verfügen als Kompaß über das allgemeine Kriterium aller in der Geschichte einander ablösenden realistischen Bestrebungen, daß es sich bei ihnen stets um ästhetische Aneignungsversuche der Wirklichkeit auf der Basis bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsbedingungen handelt. - D a wir als Archäologen von der Anschaung der uns überlieferten Kunstwerke ausgehen, wird sich für uns empfehlen, das Bündel der damit aufgegebenen Probleme, um einen Anfang zu machen, von dort her aufzulösen, wo die Grundanschauungen der jeweiligen Epoche von ihrer Wirklichkeit im Werk selbst zu greifen sind. Die modernen Realismusvorstellungen haften an dem ausdifferenzierten Bild vom Menschen, das die neuere Literatur- und Kunstgeschichte herausgearbeitet hat. Lasse ich die damit verbundenen Assoziationen zum Zweck der nötigen Verallgemeinerung im Schmelztiegel der Abstraktion verdampfen, so sehe ich als Rest übrigbleiben einen zwar Undefinierten, aber unverächtlich festen Kern, der in jedem möglichen Realismus als Grundbestand nun einmal steckt: Realität; ich vermeide bewußt zu sagen „die Realität". Um genauer zu sein: es handelt sich nicht um Realität selbst, sondern um ihren Abdruck im Kunstwerk. Damit ist zugleich angedeutet, daß es sich bei der Realitätserfassung ebenso wie beim Realismus um Relationsbegriffe handelt. Von der Wirklichkeit, die jenseits des Subjekts und unabhängig von diesem existiert, hat jegliche Epoche ihre Vorstellung. Fixiert sich diese Vorstellung künstlerisch, so kann man sagen, die Epoche hat ihren Realitätsbegriff; auch dann, wenn dieser noch auf keinem Blatt Papier definiert steht. Ich verwende das Wort „Begriff" also hier in einem freizügigen Sinn, als vortheoretische Grundansicht: Realitätsbegriff im Sinne von 'R.e&lit&ts.verständnis. So unreflektiert dieses immer sein mag, um so sichtbarer 13

steht es im Kunstprodukt vor uns. Es ist zugleich Grundlage für die jeweilige Realitätser Schließung. Bleiben wir jetzt also bescheiden im Vorfeld der spezielleren Frage nach dem antiken Realismus stehen, um erst einmal zu versuchen, die unmittelbare Voraussetzung für das Wie und Was der künstlerischen Widerspiegelung von Realität zu fassen. Ich betone: die unmittelbare Voraussetzung; es geht also nicht um die transsubjektiven Antriebe und Ursachen der Kunst, die stets objektiv und also dem Subjekt mittelbar sind, sondern allein um die subjektive Struktur des Auffassungsvermögens einer Zeit. Auch sie ist historisch bedingt, was uns hier aber nicht kümmern soll, da wir nicht alles auf einmal tun können 1 . Erst nach Prüfung jeder Hauptstufe der Entwicklung des Realitätsverständnisses können dann unsere Erwartungen an den jeweiligen Realitätsgehalt im Sinne von Realismus angemeldet werden. Ich hatte das Substantiv Realität ohne Artikel gebraucht, um es wesentlich als Unbestimmtes zu kennzeichnen. Noch das differenzierteste Kunstwerk benutzt zur Wiedergabe von Realität Formen und Formeln, die, verglichen mit dem uferlosen Strom der Wirklichkeit und ihrem unerschöpflichen, verwirrend formlosen Angebot, die Dürftigkeit von Abstrakta haben. Für Auge und Verstand aber besitzen diese Formen gegenüber der Realität den unvergleichlichen Vorzug, definiert zu sein. Sie haben die Arbeit der Auswahl, des Ausschließens, Gliederns und Verknüpfens zur Erleichterung unserer Aufnahme schon geleistet. Zugleich diktieren sie allerdings die Richtung unseres Verstehens, das im unvermittelten Gegenüber der Realität noch richtungslos und, wie gesagt, noch reine Unbestimmtheit war. Wir dürfen nun nicht vergessen, daß der Apparat der ästhetischen Verarbeitung kein statisches Ding oder überzeitliches a priori ist, sondern sich mit der historischen Welt und mit der Erfahrung entwickelt. Dem nach und nach vom menschlichen Verstand ausgebildeten System von Verarbeitungsformen entspricht in der Kunst die Grammatik der Bildformen. Diese spiegelt uns die innere Welt des Künstlers und zugleich den unausweichlichen Horizont, in den ihn seine Zeit bannt. Abkürzungsschlüssel: AA

Archäologischer Anzeiger. Beiblatt zum Jahrbuch des Deutschen Archäologisehen Instituts

AbhMainz

Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Abhandlungen

Brunn-Bruckmann

Brunn-Bruckmanns Denkmäler griechischer und römischer Skulptur

der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse Diels-Kranz

H. Diels und W. Franz, D i e Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., 5. Aufl.

HallWPr.

Hallisches Winckelmannsprogramm

MarbWPr.

Marburger Winckelmann-Programm

ÖJh

Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts in Wien

RE

Paulys Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft. N e u e Bearbeitung.

1

Es bedarf kaum eines Hinweises, daß diese unmittelbaren Voraussetzungen, die ich im Realitätsbegriff zu beschreiben versuche, mit subjektiver Willkür nichts zu tun haben. Im Gegenteil entflieht kein Künstler diesen Grundtatsachen, die ihm aus seiner Epoche unwiderruflich zugewach-

14

In dem Spiegel dieser Subjektivität erkennen wir als den Grundriß, auf dem sich ihre Welt aufbaut, ihren Realitätsbegriff. Er liefert das konstruktive Gerüst, in das die Kunst ihre Formen einträgt, die insgesamt das System des Stils ergeben. Wir gewinnen ihn jedoch nicht durch Stilbeschreibung, obwohl er sichtbar wird nur in der Einkleidung des Stils. Der Stil entwickelt sich rasch, der Realitätsbegriff langsam. Wir müssen also vom Stil abstrahieren. Wie fassen wir nun bildnerisch den Realitätsbegriff, der weder mit Weltbild noch mit Kunstform identisch, sondern beider Voraussetzung ist? Er diktiert die Umsetzung der erlebten Wirklichkeit ins Bildhafte. Er diktiert diese Umsetzung aber nur dem Grundtext nach, nicht in allen Details. Oder, anders gewendet: er bestimmt die Sprache, in der die bildnerische Umsetzung geschehen soll, nicht die einzelnen Worte. Diese Definition ist provisorisch, da wir zunächst am konkreten Beispiel die Kriterien entwickeln müssen, nach denen die bildnerische Verarbeitung vor sich geht. Die Definition spricht eigentlich nicht den Begriff selbst aus, sondern seine Funktion. Auf diese ist es abgesehen, denn sie allein ist sichtbar. Nochmals also: der Realitätsbegriff diktiert die Umsetzung der erlebten Wirklichkeit ins Bildhafte. Damt ist das Realitätsverständnis nicht als statische Größe gefaßt, sondern als dynamisch-funktionale, entsprechend der dialektischen Bewegung der Realität selbst2. 11. Analyse des

Realitätsverständnisses

Die Definition muß nun ihre Praktikabilität in der Anwendung erweisen. Fragen wir uns vor dem Werk nach dem Wirklichkeitsprinzip, das - dem Künstler meistens in seiner vollen Tiefe nicht bewußt - bei seiner Arbeit motorisch wirkt, so finden wir in dieser Frage selbst den Schlüssel zu unserem Problem. Ein Prinzip ist Anfang von etwas, ein Agens, es tut Wirkung. Das Dynamische, Aktive, In-die-Speichen-Greifende ist ihm wesentlich. Das zwingt den Beobachter, sen sind und sein intellektuelles Blickfeld begrenzen. - Zum Folgenden grundlegend: B. Schweitzer, D a s Problem der Form in der K u n s t des Altertums, i n : Allgemeine Grundlagen

der

Archäologie, Hrsg. U. Hausmann, München 1 9 6 9 , 1 6 3 - 2 0 3 , bes. 1 8 7 ff. 2

D i e Frage nach der Entwicklung des Realitätsverständnisses zielt also nicht darauf zu erkunden, w i e sich die Abbildungsweise „der" Realität ändert. So zu fragen hieße ein Denkschema unterzuschieben, wonach Können und W o l l e n der Kunst sich entwickeln gegenüber einer Unveränderlichen, der Konstante Realität. D a s w ä r e das Ende der D i a l e k t i k ; indessen ist die Realität als ästhetisches Objekt selbst keineswegs konstant, erst recht aber entzieht sich ihr Begriff jeder ahistorischen Fixierung. D i e Frage kann also nur lauten: Wie Realitätsbegrifj?

ändert

sich in der Kunstform

der

- A u f diese doppelte Historizität der Realität und ihres Begriffs auf der einen,

der K u n s t f o r m auf der anderen Seite muß hier um so mehr Nachdruck gelegt werden, weil in vorliegender Untersuchung die Notwendigkeit starker Zusammenziehung historischer Entwicklung besteht und sich daher leicht das Mißverständnis einschleichen könnte, als wären die Festlegungen des Realitätsbegriffs apriorischen

Charakters.

Der

Realitätsbegriff

ähnelt den

An-

schauungsformen Kants höchstens insofern, als er die jeweilige Form der ästhetischen Aneignung wenigstens in ihrer Grundrichtung determiniert. Jedoch ist er nicht v o r aller Erfahrung oder Erfahrung ermöglichend, sondern stammt selbst aus der geschichtlichen Erfahrung. Dieser geschichtliche Charakter w i r d hier vorausgesetzt und nicht selbst untersucht.

15

einen beweglichen Standpunkt einzunehmen, zwingt ihn, der Wirkungsweise dieses Prinzips mit der Schnelligkeit des Blickes zu folgen. Der Beobachter ist der Verfolger der Spur, die das Realitätsprinzip im Kunstwerk hinterlassen hat. Jeder Realitätsbegriff hat mit dem Wesen der Definition gemeinsam etwas Abgrenzendes, Ausschließendes. Er ergreift das Objekt des von ihm gewählten Wirklichkeitsausschnitts bei einem Aspekt, der die übrigen Aspekte im Sinne prinzipieller Nichtbeachtung ausschließt. Das wiederum bedeutet für uns: Jede Wirklichkeitsvorstellung, die als wirkendes Prinzip einem Kunstwerk zugrunde liegt, ist zu fassen an den Punkten, wo die Aufmerksamkeit des Künstlers konzentriert war. Wo seine Aufmerksamkeit hingegen aussetzte, greifen wir gewissermaßen von außen, aus dem Negativen, die Grenze, die der Realitätsbegriff des Künstlers seiner Wirklichkeitsfassung im Werk gesetzt hat. Erproben wir jetzt, ob sich dieser Grundsatz des Aspekts und der Aufmerksamkeit in bildnerisch faßbare Kriterien verdichten läßt. Nehmen wir ein beliebiges Beispiel, etwa die Figur eines strengrotfigurigen Schalen-Innenbildes3 (Abb. 1-2). Wir widerstehen der Verlockung, die reizvoll ausbalancierte, labile Komposition in ihrer Fülle als Lebenszeugnis auszukosten, sondern stoßen kühl durch die Erscheinung hindurch in die Leere des Grundes vor, aus dem sie erst entstehen soll. Der Maler imaginiert einen jugendlichen Zecher, dazu benötigt er neben dem attributiven Skyphos einen charakterisierenden Zustand als Thema, die Trunkenheit, die er in labilem Stand und leicht taumelnder Drehung zu schildern beschließt. Schrägstehender, fast schon fallender Knotenstock und ausgebreiteter Mantel sind zusätzliche Elemente der beweglichen Balance - die allernötigsten Requisiten. Diese Dinge hat der Künstler im Kopf, bevor er sie in den Grund skizzierend einritzt und mit Tonfarbe ausführt. Gehen wir noch eine Zeitstufe weiter zurück. Wie entsteht diese Bildvorstellung? Die Konstruktion der Komposition ist in Wahrheit früher als die Szene selbst. Die Komposition entspringt einer Welt, in der es ausgemessenen, körperlich erfüllten Raum und ebenso ausgemessene, erfüllte, zur Situation konzentrierte Zeit gibt. Beides sind in der Epoche, als der Antiphon-Maler dieses Bild herstellte, Neuentdeckungen, die mit der ganzen Lust am Neuen vorgeführt werden. Daher die diffizile Drehung, die sich in den Außenbildern wiederholt, daher die perspektivische Festlegung der Schrägansicht4. Hartes Gegeneinander von Vorderansicht und Profil gab es längst der Übergang zwischen beiden, auf den es hier so deutlich abgesehen ist, zeigt unserem Blick den Weg zwischen diesen Extremen, läßt uns den damit beschriebenen Raum erleben und zugleich die Zeit fühlbar werden, die zum Durchmessen des Raumes benötigt wird. Die perspektivischen Konvergenzen und Überschneidungen der Schrägansicht legen außer dieser selbst noch etwas anderes unversehens fest: sie halten den bis dahin 3

Schale des Antiphon-Malers. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Z V 9 3 0 . Abbildung 1 - 2 .

'' Zur frühklassischen Perspektive zuletzt: G. M. A . Richter, Perspective in Greek and Roman Art, London o. J., 2 1 ff. Zum einheitlich-dynamischen Körperraum der mit der Klassik beginnenden „hypotaktischen" Kompositionsweise grundlegend: G. Krahmer, Figur und Raum in der ägyptischen und griechisch-archaischen Kunst, 28. HallWPr.

16

1931.

lediglich als unbestimmtes Gegenüber vorausgesetzten Beschauer auf einem Punkt an, der fortan körperperspektivischer Blickpunkt sein wird 5 . Damit haben wir zwei Hauptkriterien für den Realitätsbegriff gewonnen: Zeitauffassung und Ansichtskonstruktion. Es ist offenkundig, daß diese raumzeitlichen Kriterien einer tieferen, langsamer bewegten, grundsätzlicheren Entwicklungsschicht angehören als der Stil und daß sie unmittelbar aus dem Realitätsbegriff nicht des Künstlers, sondern seiner Epoche entspringen. Gibt es weitere, ähnlich grundlegende und doch offenliegend sichtbare Kriterien? Wir verweilen noch einen Moment bei unserem Dresdener Beispiel. Carpenter hat auf den Verlauf und das Tempo der Linie im klassischen Vasenbild als Realitätskriterium hingewiesen6. Verfolgen wir also den Realitätsbegriff jetzt auf der feingezogenen Spur der Relieflinien unseres Schalenrundes. Grundsätzlich zieht die imitative Linie ihr Leben - so sollte man meinen - aus dem Inneren des von ihr umschriebenen Gegenstandes, wie Antaios seine Kraft aus der Erde zieht. Doch die Linie der vorklassischen und noch der frühen klassischen Kunst nimmt sich zu diesem Geschäft wenig Zeit. Sie ist straff, d. h. im Vasenbild: sie ist rasch und sicher gezogen, sie schießt auf ihrer einen Bahn entlang, und unser Blick gleitet ohne Aufenthalt mit entsprechendem Tempo auf ihr dahin. Was bedeutet das ? Die Linienaktion, wie Paul Klee sich ausdrückte, ist die elementarste Form der bildnerischen Erzählung. Je weniger die Linie von ihrer Hauptrichtung abirrt, je weniger sie sich schlängelt, verzweigt, kräuselt, zurückbiegt, desto mehr verzichtet sie auf stoffliche Charakteristik, auf die Wärme der lebendigen Oberfläche des atmenden Körpers, auf die tastbare, sinnliche Wirklichkeit - mit einem Wort: desto mehr abstrahiert sie, desto größere Regionen faßt sie gebieterisch zusammen, ohne sie im einzelnen zu beurteilen. Genauso verhält sich die Relieflinie im strengrotfigurigen Vasenbild. Sie verrät uns damit mehr über die zugrunde liegende RealitätsVorstellung, als das ganze Bild uns thematisch erzählen will. Sie ist nichts als Umriß und klare Zusammenfassung. „Abstrakt" ist sie aber keineswegs. Denn studieren wir sie etwas näher in ihrer Funktion, so zeigt sich, daß sie schon viel weniger konventionalisiert ist als noch bei den größten archaischen Zeichnern. Ihre Art von Gegenständlichkeit ist scharf und durchaus real. Doch ist diese Gegenständlichkeit auf Zusammenfassung größerer funktionaler Einheiten konzentriert. Wir sehen die Linie in feiner Vibration rasch im linken Bein der Figur ansteigen, diesen Teil des Körpers umschließen und in der Hüfte momentan innehalten - doch nur um die Verknüpfung im Gelenk zu markieren; diese Pause in der Hüfte ist weder mechanisch noch formelhaft, sondern gegenständlich 5

Von da an werden Bild und Beschauer aneinander gekoppelt durch ein anscheinend physikalisches Prinzip, die Perspektive, die in Wahrheit Subjektbezogenheit des Bildwerks ist. Dabei ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, daß sich die klassische Perspektive nur auf den einzelnen Körper bezieht. Vgl. Richter, (wie Anm. 4) mit Bibliographie. K . Schefold. Griechische Kunst als religiöses Phänomen, Hamburg 1 9 5 9 , 75 f. B. Schweitzer, Vom Sinn der Perspektive, Tübingen 1 9 5 3

ö

R. Carpenter, The esthetic Basis of Greek A r t of the 5th and 4th Cent., Bloomington 1 9 5 9 , 41 ff.

2

Realismus

17

und bewußt. Bevor der Umriß in zügiger Grazie weiter ansteigt, ist also die Gliederung bewältigt, die nicht Abtrennung, sondern Verbindung, bauliche Vereinigung zu größerer Ganzheit bedeutet. An dieser Stelle komme ich auf vorhin Gesagtes zurück. Jede Wirklichkeitsvorstellung, die als wirkendes Prinzip einem Kunstwerk zugrunde liegt, ist zu fassen an den Punkten, wo die Aufmerksamkeit des Künstlers konzentriert war. Aufmerksamkeit ist der eine, helle Punkt, der durch unseren Denkapparat wandert, gesteuert von unserem Interesse, um den herum in unserem Inneren die gespeicherten geistigen Vorräte, denen sich dieser Lichtpunkt nähert, fluoreszierend aufleuchten. Das Entsprechende geschieht außerhalb des Subjekts, in der objektiven Sphäre der Gegenstände. Wo unser Blick als Scheinwerfer unserer Aufmerksamkeit auf den Gegenstand trifft, schafft er eine relativ kleine Zone hervorgehobener Sicht. Wandert er, umkreist er eine bestimmte Region unseres Sehfeldes, so entsteht darin ein Bereich gesteigerten Interesses, das wir Aufmerksamkeitsfeld nennen wollen. Dabei ist zu unterstreichen, daß dies kein optischer, sondern ein geistiger und in keiner Weise aufs Sichtbare zu beschränkender Vorgang ist. Diese rasche Reise des Blicks im Dienste des interessierten Bewußtseins haben wir am vorliegenden Beispiel schon ausgeführt. Welches war hier das Aufmerksamkeitsfeld? Offenbar die ganze Figur in ihrer funktionalen Einheit, in der deutlichen Verknüpfung und reaktiven Korrespondenz der Teile. Das Ganze vor dem Teil und ihm übergeordnet - dies ist das klassische Aufmerksamkeitsfeld. Fassen wir das Resultat der Analyse zusammen, aus der wir unsere Kriterien für die Erfassung des Realitätsverständnisses nicht nur im Falle der Frühklassik, sondern grundsätzlich gewinnen wollten. Diese Kriterien ergeben nicht einfach in ihrer Addition den Realitätsbegriff. Sie sind vielmehr im Bildwerk selbst anzutreffen - wir sahen es eben. Sie sind nach rückwärts durch geistige Linien verbunden mit der Vorstellungswelt des Künstlers, dort konvergieren sie im Realitätsbegriff. Dieser läßt sich mit Hilfe seiner vier Kriterien für jede Epoche bestimmen: 1. die Zeitauffassung; 2. die Ansichtskonstruktion als jeweiliger Spezialfall der Raumauffassung; 3. das Verhalten der Linie - bzw. bei Plastik das Verhalten der Oberfläche zur beschriebenen Wirklichkeit; 4. aus Punkt 2 und 3 resultierend das Gliederungsprinzip, dessen positiver Inhalt nicht die lineare Begrenzung, sondern das jeweilige Aufmerksamkeitsfeld ist. Mit diesen Kriterien muß es möglich sein, ohne den Umweg über literarische Zeugnisse unmittelbar aus der Kunst ihren Realitätsbegriff zu entziffern.

III. Entwicklung

des

Realitätsverständnisses

Wir sind nun gerüstet, uns eine schematische Entwicklungsübersicht zu skizzieren. Dabei geht es hier nicht um die Feinabstufungen der Stilentwicklung, sondern um das Herausarbeiten der Wesenszüge großer Entwicklungsetappen. Die Auswahl weniger Beispiele aus verschiedenen Gattungen ist unvermeidlich subjektiv und also angreifbar, was jedoch in Kauf genommen werden muß. Glücklicherweise ist das Feld, das 18

wir betreten, nicht unbestellt. W i r haben lediglich die Konsequenzen aus Beobachtungen zu ziehen, die zu den Bauprinzipien der künstlerischen Form von der Forschung bereits an sehr vielen Objekten angestellt worden sind. Hier sind die Namen von Krahmer und Buschor zu nennen. Ferner hat in neuester Zeit Himmelmann-Wildschütz mit bahnbrechenden Arbeiten vor allem zur frühgriechischen Kunst unser Verständnis geometrischer und archaischer Formen auf neue Grundlagen gestellt 7 . Beim Sprung von der Klassik hinüber zur geometrischen Kunst sehen wir uns zunächst genötigt, unsere dem Klassischen relativ viel näheren Sehgewohnheiten nach Möglichkeit abzustreifen. Das reifgeometrische Bild des böotischen Kantharos im Albertinum 8 (Abb. 3) mit einer zum Reigen geordneten weiblichen Dreiergruppe und einem männlichen Kitharisten bedeutet schon Spätentwicklung mit seinen kleinen illustrativen Ausfransungen des abstrakten Schemas, doch der Bau seiner großen Figuren ist noch reine Verkörperung des Wesens dieser Stilstufe. Das lebendige Element der Einfühlung scheint hier vollständig zu fehlen. Hüftrundung und Schenkelspannung allenfalls lassen Körperliches ahnen, doch in den Gelenken endet dieses Interesse, der Oberkörper steht als reines Dreieck auf der Taille, der Leib als solcher fehlt, Kopf und Extremitäten kommen als körperliche Elemente nicht in Betracht. Die Folge dieser Auflösung der Erscheinung in abgeteilte, eng begrenzte Aufmerksamkeitsfelder 9 ist die Unmöglichkeit für uns, Umrißlinien zu umfahren. Himmelmann hat zurecht gegen die alte Auffassung der geometrischen Figur als Silhouette Stellung genommen 10 . Obwohl die erstarrte Formel „Mensch" alles andere als zufällig so gerät, ist der Zusammenhang der Teile doch gleichsam zufällig, weder gedacht noch gefühlt - geschweige denn gezeigt. Es handelt sich nicht einmal um pures Nebeneinander, sondern um reines Fürsich jedes Abschnitts; dieser wird lediglich äußerlich an den nächsten herangerückt, der wiederum unter anderem Gesichtspunkt entwickelt ist. 7

Krahmer (wie Anm. 4). E. Buschor, V o m Sinn der griechischen Standbilder, Berlin

1942.

N. Himmelmann-Wildschütz: Bemerkungen zur geometrischen Plastik, Berlin 1 9 6 4 ; Über einige gegenständliche

Bedeutungsmöglichkeiten

des

frühgriechischen Ornaments,

AbhMainz

1968

Nr. 7 ; Erzählung und Figur in der archaischen Kunst, AbhMainz 1 9 6 7 Nr. 2 (hier macht der Autor S. 80, Anm. 1 auf den „vom unsrigen ganz verschiedenen Charakter von Wirklichkeit" in der frühgriechischen Kunst aufmerksam). 8 9

Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Z V 1 6 9 9 . Abbildung 3. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hier hinzugefügt, daß der Begriff Aufmerksamkeitsfeld nicht starr und absolut gehandhabt werden darf. Er bezieht sich in diesem Essay auf die Figur. Selbstverständlich ist die Aufmerksamkeit des geometrischen Vasenmalers hell wach, wenn er die Gesamtgliederung seines Dekors festlegt. Doch dann denkt er momentan eben nicht an die Einzelfigur, sondern überhaupt an die Gesamtfläche des Gefäßes. Zeichnet er hingegen die Figur, so zieht sich seine Aufmerksamkeit augenblicklich zusammen und zerfällt gleichzeitig ganz unvermeidlich in die charakteristischen Elementarfelder des geometrischen Figuralstils. Ein zusätzlicher Gesichtspunkt ist allerdings der, daß mit eingespielter Routine die Elementarformel ihrerseits automatisiert wird und nicht mehr bei jeder Anwendung neu die konzentrierte Aufmerksamkeit beansprucht. Hiervon wird jedoch das gundsätzliche Problem der Struktur des Bildmechanismus nicht berührt.

10

2

Bemerkungen zur geometrischen Plastik, 7 ff.

19

Himmelmanns entscheidende Erkenntnis in diesem Zusammenhang ist nun die, daß die Kleinplastik der Zeit denselben Gesetzen folgt, daß es sich also bei dem Ansichtswechsel von Front zu Profil bei der Flächenkunst keineswegs um eine an die Zweidimensionalität gebundene Erscheinung handelt. Die von ihm besprochene New Yorker Bronzestatuette von einem Dreifußkessel 11 kann als Musterbeispiel der Gattung gelten, bei der es von vornherein nicht um das Problem gehen konnte, die Teile „vorstellig" in der Fläche auszubreiten, denn eine solche Bildfläche existiert nicht in der geometrischen Plastik. Vergleichen wir die Statuette mit unseren Vasenfiguren, so zeigt sich das gleiche Phänomen des wiederholten Blickpunktwechsels, am drastischsten in dem unvermittelten Beieinander des runden Hinterkopfs, der nur für sich allein gesehen werden kann und soll, und des flachen, betont lichtsammelnden, schräg aufwärts gerichteten Gesichts. Beides sind isoliert begriffene Formeln für Charakteristika, wie wir sie auch sonst in der geometrischen Kunst kennen und wie sie mit gutem Grund den Formeln der homerischen Sprache gern verglichen werden. Daß sogar einundderselbe Körperteil in dieser Weise optisch - d. h. zugleich in der künstlerischen Begriffsbildung - auseinanderfällt, ist höchst bezeichnend. Es handelt sich nach diesem Grundgesetz 12 in keinem Fall, sei es in der Plastik, sei es in der Flächenkunst, um simultane Ansicht aller Teile. Wenden wir hierauf also unser Kriterium der Ansichtskonstruktion an, so enthüllt sich die geometrische Kunst als das Gegenteil der klassischen und nachklassischen. In dieser ist der Gesichtspunkt perspektivisch festgelegt - in jener springt er plötzlich und ohne Übergang um. Der Bildraum der geometrischen Kunst ist nach Himmelmann nicht der einheitliche unserer Vorstellung, sondern diskontinuierlich strukturierter Raum. Nichts offenbart deutlicher ihren eigentümlichen Wirklichkeitscharakter. Das Erstaunliche und den Realitätsbegriff der Epoche Aufdeckende besteht nun nicht in der Konsequenz der Anwendung dieser isolierten Formeln in einer variablen Syntax, dem „geometrischen Stil", sondern vielmehr darin, daß dem Künstler diese Art von Wirklichkeitsfassung in allen Punkten Genüge tut, sei er nun Keramiker oder Verfertiger von Kleinplastik. Erstaunlich ist dies freilich nur für den modernen Betrachter, der zwar daran gewöhnt ist, die Kunstperioden nach ihren Stilen zu unterscheiden, jedoch nicht nach der Art ihres Realitätsbegriffs 13 . 11

Bemerkungen zur geometrischen Plastik, 13, Abb. 1 8 - 1 9 .

12

D a s Phänomen erkannte in seiner Bedeutung zuerst Krahmer, (wie Anm. 4). 19 ff. Himmelmanns zuletzt genannte Arbeit führt den Gedanken weiter und definiert den Begriff der „Wechselansichtigkeit" neu im Sinne von diskontinuierlicher Raumstruktur geometrischer Vorstellung (Bemerkungen zur geometrischen Plastik, 25).

13

Eine dem Optischen so ferne Formenwelt wie die geometrische kann gar nicht verwechselt werden mit der Realitätswelt, die den früheisenzeitlichen Menschen umgab und für die das zwar auch formeldurchsetzte, doch im übrigen so ungleich reifere epische Gedicht des fahrenden Sängers die adäquate Ausdrucksform war. Bei allen neueren Näherungsversuchen zwischen homerischem Epos auf der einen und geometrischer Form auf der anderen Seite, bei allen Hinweisen auf die Gemeinsamkeiten beider in der Verwendung stereotyper Epitheta bleibt doch die alte, schon Jacob Burckhardt beschäftigende Diskrepanz zwischen der hohen Reife des dichterischen

20

Dabei kommt das Problem der „Vollständigkeit" dieser Wirklichkeitsspiegelung eigentlich hier nicht in Betracht, sondern allein die Begriffs-Struktur. Diese hat nun allerdings insofern ein Verhältnis zur Vollständigkeit der erlebten, d. h. ästhetisch wirksamen und also „wirklichen" Welt, als jeweils das, was gesagt werden soll, in fester Formel ausgesprochen, also „Sprache" wird, die wie jede Sprache immer zugleich aussagt und verschweigt. Hier sind wir wieder bei der Frage des Genügens, das der primitive Künstler an der ihm überlieferten und individuell wenig wandlungsfähigen Formensprache findet. Er rüttelt nicht an diesem System, aber seine Formeln - sowohl die Figur wie das, was wir heute stark vereinfachend Ornament nennen sind für ihn ambivalent, d. h. auf verschiedene Aussagen hin ausrichtbar. Insofern zielen sie also wenigstens potentiell auf „Vollständigkeit" der Realitätserschließung im Rahmen dessen, was diese Sprache zuläßt. Nur ein Beispiel für diese zuletzt wieder von dem mehrfach zitierten Forscher14 ins Licht gerückte Erscheinung: Zwischen den Figuren des Dresdener Kantharos wachsen Blumen empor, deren Zickzackschäfte nichts anderes sind als rhythmische Aufnahme der ornamentalen Vertikalstreifen zu beiden Seiten des Bildfeldes. Im Rückseitenbild stehen ebensolche Zickzacklinien zwischen Kämpferfiguren, doch in der Reigenszene tragen zwei von ihnen Blüten, in die die Frauen greifen. So könnten auch die rechteckig gefaßten Zickzacklinien zwischen den Köpfen irgendeine gegenständliche Bedeutung annehmen - im konkreten Fall bleibt sie unklar. Das Entscheidende ist in dieser Formelwelt nicht die jeweils fixierte Bedeutung, sondern die Ambivalenz der Formel, die sich je nach Kontext mit Bedeutung aufladen kann. Hier liegt also die Möglichkeit und Grenze der geometrischen Formbegrifflichkeit: Was gesagt werden soll - und das sind bekanntlich sehr oft Themen, die die ganze Existenzspannung von Leben und Tod in sich fassen - , konzentriert sich in wenige bildnerische Symbole, und deren Syntax ist das einzige Bewegungsfeld der Phantasie früheisenzeitlicher griechischer Kunst. Die geometrische Formensprache ist demnach ausgebildet von einem diskontinuierlichen, in wenigen Wirklichkeitsbezeichnungen fixierten Realitätsverständnis. Bei jedem Zeichen hält der Vorgang der Wirklichkeitsinterpretation inne, er setzt gewissermaßen bei jedem Element seiner Erzählung neu an. Die Formensprache, karg genug, ist das dem einzelnen Künstler Gegebene. Sie wird bis an den Rand ihrer Aussagefähigkeit ausgenutzt und nirgends überschritten. Bezeichnend für die polare Spannung, die stets zwischen Mechanisierung und SponAusdrucks und der monotonen Kargheit der geometrischen Kunst bestehen. Sicherlich erklärt sie sich nicht nur durch die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung verschiedener Kunstgattungen, sondern vor allem auch durch einen erheblichen sozialen Niveauunterschied. Aber eben dadurch stellt sich für uns die einheitliche Urteilsebene unter dem Gesichtspunkt des Realitätsbegriffs wieder her: Mag die gesellschaftliche Repräsentanz bei Epos und geometrischer Kunst eine noch so unterschiedliche sein - wir wollen das hier offenlassen - , um in sich geschlossene Stilphänomene handelt es sich in beiden Fällen, was besagen will: um ästhetisch voll ausgemessene, verbindliche Fassungen von Wirklichkeit. 14

Vgl. Himmelmann-Wildschütz, Uber einige gegenständliche Bedeutungsmöglichkeiten des frühgriechischen Ornaments.

21

taneität in der Formenentwicklung besteht, ist der weitere Weg, den die griechische Phantasie nimmt. W i r beobachten im Archaischen zwei gegensätzliche Tendenzen: Auf der einen Seite drängt der neue Realitätsbegriff spontan zur Erweiterung des Aufmerksamkeitsfeldes und schafft sich so gegenüber der zerlegenden geometrischen Sehweise als wesentliches Novum die einheitliche, vorperspektivische Bildfläche. Diese Entwicklung führt zur Monumentalfigur der archaischen Plastik. Die gegenläufige Tendenz konventionalisiert den neuen Formapparat. Sie lenkt das Interesse auf das Erfassen jedes Dinges in seinem Für-sich-Sein. Diese Tendenz ist naturgemäß auf die Dauer die stärkere, denn sie wurzelt im Boden der Tradition und zieht aus ihm die isolierende Sehweise. Mit dieser archaischen Formsprache muß alles zu Sagende fortan ausgedrückt werden - bei allem Fortschritt in der Beobachtung der organischen Welt. Mit dem Gesetz der archaischen Formisolierung ist allerdings ein wesentlicher Gewinn verbunden: die Intensität, Kraftgeladenheit und Wirklichkeitshaltigkeit der Einzelform. Diese repräsentiert nun nicht mehr nur zeichenhaft, sondern körperlich verdichtet ein konzentriertes Allgemeines, sie sammelt Wirklichkeit in einer Weise, die noch weit über die Grenze zur Klassik Anwendung findet. Beide Grundtendenzen weist bereits die große früharchaische Gorgonenvase von Eleusis 15 auf (Abb. 4 - 5 ) . Im Gegensatz zur formal disziplinierten korinthischen Kunst ist die Linie der altattischen Vasenmaler voll jugendlichen Ungestüms. Sie will mehr, als sie formal vorerst bewältigen kann. W i e das Polyphem-Bild am Hals der eleusinischen Amphore zeigt, gebiert diese Linie Gestalten von ungefüger Sperrigkeit, erreicht aber damit eine urwüchsige Ausdrucksgewalt. Geometrischer Zerlegung ledig, bekommt die Linie Gestus. Sie wird heftig aktiviert, sie schießt vorwärts, stockt in den Gelenken, durchläuft scharf abgebremst die Biegung, um sich neu zu beschleunigen. Was sie umschreibt, sind noch keine Ganzheiten, doch die Teile sind nun sichtbar aneinander gebunden, ihre scharf gegliederten Elemente sind nicht mehr von absoluter Selbständigkeit. Trotz der noch nachklingenden geometrischen Artikulation spielt die Polyphemszene klar erzählend im Profil, damit ist eine gewisse Einheitlichkeit der Bildauffassung gewonnen. Andererseits verrät ein kleiner Zug, der von Polyphem gehaltene Becher, aus dem er den süßen Schlaftrunk genossen hat, das Merkmal der Situationslosigkeit der archaischen Kunst 16 . Es handelt sich um das von Homer (Od. 9, 346) Kissybion genannte Gefäß, das der aus schwerem Schlaf gerissene, berauschte Kyklop zur Zeit der Blendung eigentlich nicht mehr halten konnte - hier hält er es als Zeichen der Vorgeschichte der gezeigten Handlung. Damit wird die Gesamterzählung ineins gezogen. Wir erhalten durch diese Art kontrahierender Charakteristik einen Einblick in die besondere Zeitauffassung der archaischen Kunst, die noch keine situationsgebundene Aufspaltung der Dauer in fixierte Augenblicke kennt. Jede Szene, jede 15

Abbildung 4 - 5 . W.-H. Schuchardt, Antike W e l t 1 9 7 3 , Heft 2, 32 ff., Abb. 1 - 4 . Zum Wirklichkeitsgehalt früharchaischer Malerei vgl. J. L. Benson, D i e Geschichte der korinthischen Vasen, Basel 1 9 5 3 , 65 ff.; K . Kübler, Altattische Malerei, Tübingen 1 9 5 0 , 2 9 f.

16

Vgl. Himmelmann-Wildschütz, Erzählung und Figur in der archaischen Kunst, bes. 81 f. mit Anm. 2.

22

Figur ist vielmehr selbst verkörperte Dauer. In diesem Sinne möchte verstanden werden, was soeben über die Art des „Sammeins von Wirklichkeit" im archaischen Bildwerk gesagt wurde. Alles was zum Helden gehört, ob es in die „Situation" paßt oder nicht, wird gezeigt, daher die Überdeutlichkeit aller attributiven Beschreibung der Figuren. Besonders in scheinbar so situationsbezogen pointierten Szenen wie beim Andokides-Maler mit seinem Herakles am Hadeseingang 17 wird das deutlich. Die Feinheit der Augenblickserfassung ist im Spärtarchaischen so weit fortgeschritten, daß sie in Widerspruch gerät zum Ausbreiten der Attribute. Allein die Kette, mit der sich Herakles verschlagen-sanft dem Kerberos nähert, ist hier real dienlich - die übrigen Requisiten seines Heldentums eher lästig, doch sie gehören zur Definition „Herakles", sie sind. Herakles in einem höheren Sinn, als ihn der geschilderte Augenblick allein verkörpern kann. Die demonstrative Attributlosigkeit der Figuren des Strengen Stils steht dazu in deutlichster Opposition, obwohl sie ihrerseits auch nicht ohne weiteres auf realistische Erfassung des Augenblicks festzulegen sind. Das Hauptbild der eleusinischen Amphora erinnert uns daran, daß wir damit in der Zeit der grandiosen visionären Erfindungen stehen, wie sie besonders in den bronzenen Greifenköpfen zu uns sprechen, die als Protomen an die Ränder großer Dreifußkessel genietet waren. An derartige Kessel gemahnt die Form der Gorgonenhäupter 18 dieses Bildes (Abb. 5), an denen Löwenköpfe bzw. Schlangen in offenkundiger und absichtlicher Analogie zu den Protomen der Bronzekunst sitzen. Im Gegenzug zur Befreiung der Linie zu gestischem Ausdruck saugt sich die archaische Phantasie beharrlich am Einzelphänomen fest und legt ihre ganze Wucht gerade im vorliegenden Fall in dasjenige Detail, dessen vordringliches Interesse den übrigen Partien des Bildes alle Kraft entzieht. Die abstrakte Zerlegung dieser Schreckgesichter in geometrisch charakterisierte Zonen läßt nur mit gewisser Mühe einheitliche Sicht entstehen und bewirkt eben dadurch das Lähmende und zugleich bestürzend Zufahrende im Blick und Anblick dieser starren Botinnen des Entsetzens, die Perseus verfolgen, um ihre Schwester Medusa zu rächen. Die Szene, die sich in ihren übrigen Teilen im Profil entwickelt, setzt bei diesen Köpfen in ihrer Seitwärtsbewegung aus, der Blick wird angehalten, um ins Wesen dieser Ungeheuer zu dringen. Dieser archaische Topos bleibt auch später für die Meduse verbindlich, doch hier ist er erfunden und zeugt für die isolierende Akzentuierung der archaischen Phantasie. Fassen wir die Kriterien des archaischen Realitätsbegriffs am Beispiel des Kuros von New York zusammen19 (Abb. 6). Das eigentümlich Unentschiedene, das zugleich die Spannung der archaischen Kompositionsweise ausmacht, beruht auf der Überlagerung zweier Aufmerksamkeitsfelder. Die proportional bewältigte Gesamtmasse der Statue mit ihrer streng einheitlichen Achsenrichtung und vitalen Anspannung ist das Neuartige. Doch kommt es dazu nur durch die bekannte Gleichgewichtigkeit in der Akzentuierung der Teile, durch das System der Addition im metrischen Schema des

17

P. E. Anas, M. Hirmer, Tausend Jahre griechische Vasenkunst, München 1960, Taf. XXIX.

18

Vgl. Schuchardt (wie Anm. 15) 36, der die Absichtlichkeit der Analogie ohne Grund in Frage stellt.

19

Brunn-Bruckmann 7 5 1 - 7 5 5 . Abbildung 6.

23

gleichmäßig unterteilten Gesamtmaßes. Diese aperspektivische Methode ermöglicht nur eine bedingte Raumeinheit, denn sie läßt kein echtes Kontinuum entstehen. Damit ist zugleich die Möglichkeit unterbunden, Zeitmaß als Mittel der Demonstration räumlicher Abläufe zu erkennen. Alles Geschehen in der archaischen Kunst ist deshalb auch bei äußerlich situationeil gebundenen Motiven heftiger Bewegung eingespannt in den überzeitlichen Rahmen der Situationslosigkeit. Man kann also summieren: Die archaische Ansichtigkeit beruht auf einem Realitätsbegriff, der wohl energisch auf das Ganze der Welt zustrebt, der sich jedoch der jeweiligen Totalität seines Gegenstandes nur im metrischen Schritt-für-Schritt-Tempo zu nähern vermag und an den phänomenal isolierten Abschnitten seiner Wirklichkeitsgliederung unlöslich haftet, ohne sie im ganzen und als Ganzes zu überblikken20. Unsere Übersicht kann für die Klassik an den Ausführungen anknüpfen, die das Realitätsverständnis grundsätzlich entwickelten. Nehmen wir nun als Beispiel eine Kleinbronze Strengen Stils, den spendenden Appollon des Mt. Holyoke College, einen interessanten Vorläufer des kanonischen Kontraposts der Hochklassik21 (Abb. 7 - 8 ) . Das klassische Aufmerksamkeitsfeld erweitert sich in dieser dritten Hauptetappe der Gesamtentwicklung erneut. Es umfaßt nun die ganze Figur in ihrer funktionalen Einheit. Die Beziehungen der einzelnen Elemente der Komposition werden aus dem metrischen Schema archaischer Aufrisse entlassen und zu inneren Beziehungen, zu reflexiven Verbindungen und Entgegensetzungen umgewandelt, die den Körperbau als Schauplatz der Auseinandersetzung seiner vitalen Energie mit der Schwerkraft demonstrieren. Die Figur wird unter ein regierendes Zentrum gestellt, wie Krahmer treffend sagte22. Damit entsteht innerhalb der Grenzen der Figur echter, kontinuierlicher Kaum, in dem sich die funktionalen Zusammenhänge und Abläufe in der Zeit darstellen. Greifen wir noch einmal auf unsere Antiphonschale zurück (Abb. 2) und sehen uns die körperperspektivischen Drehungen ihrer Athleten an. Wir sahen schon, daß die Schrägansichten, Konvergenzen und Überschneidungen strengrotfiguriger Vasenbilder den Blickpunkt festlegen und damit die Wirklichkeit zum erstenmal auf das Subjekt hin konzentrieren. Die klassische Raumzeit schafft die subjektiv bezogene Bildein-

20

Krahmers „parataktische" Komposition, (wie Anm. 4 ) 7 ff. Krahmer macht im Vergleich zur ägyptischen bei der archaischen Statue auf die Anspannung der vitalen Energie als zusätzliches Element der Ganzheit aufmerksam, in dem sich die funktionale Totalität der Klassik vorbereitet (Krahmer 4 6 lf., 5 5 ) . - R. Heidenreich, Über die Bildungsgesetze einer archaischen Statue, in: Corolla L . Curtius, Stuttgart 1 9 3 7 , 67 ff. Vgl. auch G . M. A. Richter und I . A . R i c h t e r zu Brunn-Bruckmann 7 5 1 - 7 5 5 . Ferner Verf. in Festschrift G. v. Lücken, Wiss. Zeitschrift. Univ. Rostock, ges.- u. sprachwiss. Reihe 17, 1 9 6 8 , 7 2 3 , sowie Verf., ÖJh. 5 0 , 1 9 7 3

Hauptblatt,

87 f. - Zur Isolierung des Einzelphänomens im Denken und Erleben des archaischen Griechen vgl. K. Deichgräber, D i e Antike 15, 1 9 3 9 , 1 1 8 . 21

Abbildung 7 - 8 . K . Schefold, Meisterwerke griechischer Kunst, Basel 1 9 6 0 , N r . 2 7 3 . Himmelmann-Wildschütz, M a r b W P r . 1 9 6 7 , 3 2 , 3 6 .

22

24

28. HallWPr. 13, 3 0 . Vgl. F. Hiller, Zun^Kanon Polyklets, M a r b W P r . 1 9 6 5 , 1 ff.

heit. Dies ist der Angelpunkt der prinzipiellen Wende, die den klassischen Realitätsbegriff heraufführt 23 . Tun wir einen kurzen Rückblick, um der Tragweite dieses Entwicklungsschrittes inne zu werden. Als wesentliches Merkmal der Evolution des künstlerischen Wirklichkeitsbegriffs erkannten wir die schrittweise Ausdehnung des Aufmerksamkeitsfeldes: vom geometrischen Einzelelement zur proportionalen Verknüpfung zu metrischer Ganzheit der Komposition in geschlossener Ansicht im Archaischen - das war der erste Schritt. Wir sahen freilich, daß er keinen vollen Durchbruch zur Totalität einheitlicher Sicht bedeutete, denn die archaische Ganzheit löste sich uns durch ihren immanenten Widerspruch immer wieder in ihre Teile auf, die lediglich als Teile größeres Eigengewicht als in der geometrischen Kunst hatten. Also war im Archaischen das Aufmerksamkeitsfeld doch nur eine Erweiterung der Teilsicht, freilich mit der Tendenz zu übergreifender Ganzheit, die nur metrisch-additiv anvisiert wurde 24 . Die Klassik tut den Schritt zum Ganzen noch einmal und erzielt den Durchbruch von bloß proportionaler zu raumzeitlicher, funktionaler Totalität. Der genauere Vergleich der archaischen Leistung mit der klassischen zeigt mithin, daß die Dinge nicht so einfach liegen, als könnten wir sie wie einen gradlinigen Fortschritt auf gleicher Ebene beschreiben. Hier ist an die Feststellung zu erinnern, daß die Entstehung von Aufmerksamkeitsfeldern kein optischer, sondern ein geistiger Vorgang sei. Jede Vergrößerung der Zone gleichzeitiger, hervorgehobener Sicht intensiviert die inneren Bezüge ihrer Details, aktiviert also das Leben des künstlerischen Objekts, das dieses in unserer Vorstellung führt. Dieser Sachverhalt führt beim Entwicklungsschritt vom archaischen zum klassischen Realitätsbegriff zu eklatanter Veränderung des Bewußtseinscharakters der Darstellung. Das reaktive Austauschverhältnis, in dem die Formen innerhalb des klassischen Aufmerksamkeitsfeldes stehen, steigert die Intensität des Erlebens derartig, daß sich mit der Komposition der innere Ausdruck der Darstellung verändert 25 . Berühmtes Beispiel für viele sei das Siegerrelief von Sunion26 (Abb. 9) mit seiner Bewußtseinsschwere, die nicht nur thematisch bedingt ist, wie der oberflächliche Einwand lauten könnte 27 . Vergli23

Vgl. R. Bianchi-Bandinelli, Plato und die Malerei seiner Zeit, in: Antiquitas Graeco-Romana ac Tempora nostra, Prag 1968, 426 f.

24

Seit Riegl den Begriff des Kunstwollens eingeführt hat, ist derjenige des Könnens als Maßstab für den Vergleich von entwicklungsgeschichtlich früheren und späteren Kunstleistungen besonders in der deutschsprachigen Literatur in Mißkredit geraten. In der Tat „kann" der archaische Künstler noch nicht räumlich einheitlich auffassen. Doch hängt dies nicht an seinem fachspezifischen Können, sondern am Vermögen seines Realitätsverständnisses, das seine Formvorstellung determiniert.

25

Hinzu kommt die Neuheit dieser Verhältnisse, die zur Zeit der Herausbildung des Strengen Stils als intensivierender Faktor gewirkt haben muß. Vgl. Verf., ÖJh. 50, 1973 89 f.

20

R. Lullies, M. Hirmer, Griechische Plastik, München i 9 6 0 , Taf. 96. Abbildung 9.

27

Ohne daß der Appell an Autoritäten hier gesucht werden müßte, sei daran erinnert, daß besonders Buschor, Schweitzer und Schefold - doch nicht sie allein - großen Nachdruck legen auf das Moment vertieften Wissens in den dargestellten Charakteren der klassischen Kunst. - D i e Klassik ist die Epoche, in der Ästhetisches überhaupt als Problem ins Bewußtsein erhoben wird. Vgl. W. Perpeet, Antike Ästhetik, Freiburg-München 1961, 33 ff.

25

chen mit der ungebrochenen, vitalen Strahlkraft archaischer Figuren haben sich klassische auf sich selbst zurückgezogen. In dieser Eigenschaft bilden sie einen bedeutungsvoll dunklen Kontrast zu dem unreflektierten Nach-draußen-Schauen des naiven archaischen Ich, das wir mit Wölfflin primitiv nennnen können. Klassik ist also in erster Linie ein Reflexionsphänomen^ Damit wechselt unser Untersuchungsgegenstand nicht nur seine Beleuchtung, sondern droht geradezu der bisherigen Betrachtungsebene zu entrücken; denn mit dem Gesichtspunkt des Bewußtseins werden wir gezwungen, die Grenze des aus reiner Formbetrachtung Gewinnbaren zu überschreiten. Das würde uns an dieser Stelle auf das Feld der Deutung klassischer Bildform im Kontext klassischer Bewußtseinsformen führen. Ich setze also im Interesse des Fortgangs der Darstellung diesen Gesichtspunkt hier beiseite, um im Schlußabschnitt das Klassische als Reflexionsphänomen wenigstens in einem Punkt versuchsweise zu deuten; damit wäre dann unsere Ausgangsfrage nach dem Realitätsgehalt wieder erreicht. Vorerst soll anhand einiger Vergleichspaare Ergänzendes zum klassischen Realitätsbegriff gesagt und zugleich der hellenistische als Abschluß dieser Übersicht deutlich gemacht werden. Die drei Kriterien Raum, Zeit und Gliederung sind zum klassischen Realitätsverständnis bereits befragt worden. Es bleibt das Verhalten von Linie und Oberfläche zur beschriebenen Wirklichkeit zu prüfen. Wir tun dies an zwei Dresdener Werken, einem Heraklestorso der Hochklassik29 (Abb. 10) und als hellenistischem Gegenstück an dem zusammenbrechenden Gallier aus einem pergamenischen Siegesdenkmal30 (Abb. 11). Der polykletisch beeinflußte Herakles mit geschulterter Keule, der wahrscheinlich auf ein attisches Kultbild zurückgeht, steht ruhig-zuständlich da - im Gegensatz zu dem Kelten, der tödlich getroffen im letzten Aufflammen seiner Widerstandskraft kurz vor ihrem Erlöschen dargestellt ist. Doch ziehen wir diesen motivbedingten Unterschied ab, bleibt genügend Differenz im Verhalten der Oberfläche zur Substanz übrig, um uns die Entwicklung des Wirklichkeitsverständnisses und der Realitätserschließung klarzumachen. Die Oberfläche der klassischen Figur verhält sich genau entsprechend der Linie im Vasenbild, sie zieht mit rascher, gespannt gekurvter Bewegung über ihren Gegenstand, der sich aus einfachen, übersichtlichen Wölbungen zusammensetzt, die sich in ebenso klaren Zäsuren treffen und voneinander abheben. Die Muskelpartien der Hüften, des Bauchs und der Brust werden leicht übertreibend ins Spiel gebracht, ihr pointiertes Wechselverhältnis ist das plastische Hauptthema. Sucht man sich diese Darstellungsart in einem Wort zu vergegenwärtigen, so hieße es Abgrenzung; nämlich Abgrenzung der Einzelpartien gegeneinander und der ganzen Figur gegen den Raum, der sie umgibt. 28

Vgl. Verf., ÖJh. 50, 1973 68 ff. D a s neue Bewußtsein der frühen Klassik wurde schon vor Buschors berühmten Ausführungen (Vom Sinn der griechischen Standbilder 15 ff.) von Krahmer in nuce dargestellt (wie Anm. 4), Anm. 42.

29

Skulpturensammlung Dresden, Hermann-Verz. 93. Abbildung 10.

30

Skulpturensammlung Dresden, Hermann-Verz. 154. Abbildung 11.

26

Das hellenistische Kontrastbeispiel führt sofort vor Augen, daß der Begriff Abgrenzung hier ungültig wird, und dies in mehreren Hinsichten. Zunächst ist die pointierende Binnengliederung zurückgenommen, das Achsenkreuz von Linea alba und Brustmuskel nahezu verschwunden. Mag dies durch die Hebung des Schultergürtels mitbedingt sein, so greifen wir damit zugleich ein Merkmal des hellenistischen Zeitbegriffs: Die heftigen Spannungen und scharfen Zäsuren - besser gesagt Knicke sind nicht mehr physiognomisch-zuständlicher Art, sondern mimischer Augenblicksschilderung unterworfen, sie müssen also beim Vergleich in Abzug gebracht werden. Der hellenistische Zeitbegriff, den wir damit beiläufig erfassen, ist durch schärfere Eingrenzung aufs Momentane deutlich vom klassischen geschieden31. Gegenüber der abstrahierenden Gleichmäßigkeit, ja kosmischen Regelmäßigkeit, mit der die klassische Oberfläche ihren Körper umkreist, stellt man nun eine vibrierende Unruhe fest. Versuchen wir, die Gegenstandsgrenze der hellenistischen Figur zu fassen, so scheint sie sich entziehen zu wollen. Die Oberfläche trennt nicht mehr Figur und Raum, sondern sie dient dem Spiel der Lichter und Schatten zum geschäftigen Austausch zwischen Innen und Außen. Wir fassen hier also nicht mehr die Abgrenzung, sondern ihr Gegenteil, den Einbezug der unmittelbaren Umgebung des Körpers, auf die sich das hellenistische Aufmerksamkeitsfeld mit einem weiteren Schritt seiner konsequenten Entwicklung ausgedehnt hat. Ein Wort noch zu dem Verhältnis von Oberfläche zu Substanz32. Das Thema des klassischen Künstlers ist eine fast formelhaft allgemeine Definition von Bau und funktionalem Beziehungssystem des menschlichen Körpers. Diese Kenntnisse voraussetzend, konzentriert der hellenistische Künstler seinen Blick auf das empirisch Phänomenale. Also spezialisiert sich die Wiedergabe „positivistisch" auf das, was man eigentlich allein sieht33, nämlich die Hautschicht, die in erster Linie sich selber und erst durch diesen Schleier den Körperbau zeigt, die aber niemals abstrakt abgrenzend wirken kann wie die noch wirklichkeitsferne klassische Oberfläche. Wir stoßen also auf ein scheinbares Paradoxon: Das Aufmerksamkeitsfeld der Klassik war an den Grenzen der Figur zuende, dasjenige des Hellenismus überschreitet diese Grenzen, wird also umfassender, obwohl sich gleichzeitig der Blick empirisch einengt. Wir werden dieser Merkwürdigkeit sogleich wiederbegegnen. 31

Zur Gesamtentwicklung des Zeitmaßes grundlegend F. Brommer, D i e Wahl des Augenblicks in der griechischen Kunst, München 1969.

32 33

Zum Folgenden vgl. Hiller, MarbWPr. 1965, 5 f. D i e nachklassische Medizin wendet sich vom spekulativen Physisbegriff hinweg zur empiristischen Methode mit „positivistischem" Einschlag. Vgl. dazu Deichgräber, in: D i e Antike 15, 133 ff. - Zum tieferen Sinnzusammenhang des empiristischen Phänomenalismus der hellenistischen Zeit, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann, nur folgendes: D i e Zeitenwende in der Philosophie um 300 v. u. Z. ist gekennzeichnet durch den Zusammenbruch des idealistischen Kampfes gegen den Augenschein. Mit Epikur und Zenon wendet sich das Denken der Immanenz und realistischen Sinnlichkeit zu. In großen Distanzen gerechnet bildet dieser Phasenwechsel in der philosophischen Entwicklung eine Parallele zur Entwicklung des künstlerischen Realitätsbegriffes. Dieser Phasenwechsel ist nicht aus autonomer Gesetzmäßigkeit der geistigen Evolution erfolgt, also in purer „geistgeschichtlicher" Erklärung nicht zu erfassen. Er aus dem Zusammenbruch

der Polis als maßgebender

politischer

Einheit

resultiert

und dem damit einher-

27

Hochklassische Gestalten wie die Athena Lemnia 34 (Abb. 12) stehen isoliert in der Umgebung, ihre Komposition kreist in einfachen Linien in sich selber. Schon Figuren des 4. Jahrhunderts reagieren auf den Außenraum, wenn wir etwa an den lateranischen Sophokles denken 35 (Abb. 13). Frühhellenistische Gewandstatuen wie die Kleine Herkulanerin 36 (Abb. 14) zeigen verschärften Sinn für das fluktuierende Spiel der stofflichen Oberfläche und stellen sich damit in gleichen Gegensatz zur Klassik wie der Galliertorso als Aktfigur. Zugleich mit dieser Spezialisierung des Blicks auf das empirische Erscheinungsbild wird das Widerspiel von Figur und Außenraum aktiviert. Im Frühhellenismus geschieht dies spezifisch negativ, indem die Statue sich gegen die Umgebung abschließt; im Hochhellenismus teilt sie umgekehrt ihr sprühendes Leben verströmend an die Umgebung mit (Abb. 15), wie die über einem Wasserbassin als Bugfigur eines Kriegsschiffes in die Landschaft einkomponierte Nike von Samothrake 37 . Beide Fälle aber stellen sich unter das eine Gesetz, den Einbezug der Umgebung als Reaktionsraum der hellenistischen Figur. Dabei ist die Schärfe und Einengung des Blickes auf das Phänomen bei der Nike nicht mehr zu überbieten. Nirgends wird deutlicher, daß die Bildung des Aufmerksamkeitsfeldes kein optischer Vorgang ist, denn in der Entwicklung zum Hellenismus zeigt sich gerade, daß die Erweiterung dieses Feldes einhergeht mit einer Zusammenziehung des Blicks auf das stoffliche Detail 38 . Ich muß es mir angesichts der Überfülle herandrängender Probleme versagen, hier auf die für unsere Entwicklung sehr ergiebige Bildnisgeschichte einzugehen. Werfen wir nur einen Blick auf das dramatischste aller hellenistischen Porträts, den Kopf eines unbekannten Dichters 39 (Abb. 16). W i r sehen, wie der optische Phänomenalismus keineswegs die Darstellung eines geistigen Typus unterbindet. Aber das Allgemeine, Spirituelle ist hier überall in höchster, angespanntester Konkretheit ins Relief der Oberfläche getrieben. Je fixierter der Zeitpunkt, in dem die Situation des Individualcharakters erfaßt ist, desto größer der dahinter spürbare Druck und Materialwiderstand der Welt, die diesem Individuum das charakterliche Profil eingeschnitten hat 40 . Abermals taucht hier jener Widerspruch auf zwischen der Ausdehnung des intellektuellen Horizonts und der Kontraktion des Blickfeldes aufs Phänomenale. gehenden Schwinden schaubares Isolierung 34 35

Ganzes

der Grundlage

für abgeschlossenes,

- die Stadtgemeinde

- bezogenes,

beherrschendes

formtypisches,

eine gesellschaftliche

auf ein relativ Einheit

in

überrelativer

Denken.

Skulpturensammlung Dresden, Hermann-Verz. 49. Abbildung 1 2 . K . Schefold, Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker, Basel 1 9 4 3 , 92 f. Abbildung 1 3 .

36

Skulpturensammlung Dresden, Hermann-Verz. 3 2 7 . Abbildung 1 4 .

37

Lullies-Hirmer (wie Anm. 26) Taf. 2 6 2 . Abbildung 15.

38

Vgl. A . v. Salis in seiner unübertroffenen Charakteristik hellenistischer Seheigentümlichkeiten (Der Altar von Pergamon, Berlin 1 9 1 2 , 1 7 1 ) : „Es ist, als seien dem Menschen plötzlich Schuppen von den Augen gefallen: er sieht viel schärfer, und er sieht viel mehr als die früheren Generationen", (usw.) Vgl. auch Salis, D i e Kunst der Griechen, Leipzig 1 9 2 3 , 2 0 9 .

39

Schefold (wie Anm. 35) 1 3 4 ff. Abbildung 1 6 .

40

Vgl. E. Buschor, Das Porträt, München 1 9 6 0 , 1 1 7 f.

28

Wie archetypisch einfach war dagegen die Klassik auch im Bildnis! Weder zeitlich noch räumlich lassen sich diese kosmisch abgeklärten Formen eindeutig festlegen. Wie bei den kanonischen Kompositionen Polyklets stellen wir uns vor jeder Statue hochklassischer Herkunft immer wieder die Frage: Was ist eigentlich gemeint, welche Art von Wirklichkeit ist repräsentiert? Die empirische Realität ist hier noch ganz eingehüllt in ein lückenloses System motivischer und formaler Konvention, die darin der archaischen jedenfalls noch näher ist als der nachklassischen, daß sie den neuen raumzeitlichen Realitätsbegriff in archetypischer Formelhaftigkeit neutralisiert 41 . Klassische Figuren sind nicht wie platonische Ideen durch einen schroffen Chorismos von der empirischen Welt getrennt. Aber ähnlich diesen sammeln sie Realität in einer konzentrierten Helligkeit, die den Blick für die weitläufige Wirklichkeit eigentümlich überstrahlt. Wie sollen wir diese Art von Realitätsverarbeitung deuten?

IV. Zur Deutung des klassischen Realitätsbegriffs - ein Strukturvergleich

Parallelerscheinungen in verschiedenen Teilen eines kulturellen Gesamtsystems gleicher Zeit sind selten ursächlich direkt miteinander verknüpft. Aber es gibt für den Stand des Bewußtseins und des Lebensgefühls einer Epoche eine kommunizierende Gleichmäßigkeit des Niveaus, einen Pegelstand, der an verschiedenen zutage tretenden Stellen die gleiche Höhe anzeigt. Der Grundansatz unserer Frage nach dem Realitätsverständnis bestand darin, nicht bei der fertig vorliegenden, „toten" Form zu beginnen, sondern bei ihrer Auslösung im Willen, im Vorstellungsschatz, in der Phantasie des Künstlers. Also war zu suchen nach Spuren der Aktivität, nach dynamischen Elementen im Werk. Diese Suche führte nicht zu grundsätzlich anderen Objekten als denen der kunstgeschichtlichen Analyse - lediglich ihre Auswahl und Beleuchtung hatte sich verändert. In der folgenden Betrachtung bleibt der Zielpunkt derselbe, obwohl sich unser Blickfeld weitet, um die geistige Landschaft erscheinen zu lassen, der die hochklassische Kunstform angehört. Welche Art von Realitätsvorstellung ist in dieser hochgesteigerten, verallgemeinernden Kunst zusammengefaßt? Diesmal fragen wir nicht allein nach der formschaffenden Funktion des Realitätsbegriffs, deren Entwicklung soeben skizziert wurde, sondern nach der Realität selbst, die sich in ihm niederschlägt. Die klassische Erweiterung des Aufmerksamkeitsfeldes erwies sich nicht nur als eine quantitative Entwicklung, sondern als ein qualitativer Sprung zu gesteigerter Intensität. Das innere Wechselspiel der Kräfte im organischen Ganzen der klassischen

41

Zum „Schrittstand"-Motiv der Klassik als situationsfreiem Topos und seiner archaischen Typenherkunft vgl. abermals Himmelmann-Wildschütz, Die Schrittstellung des polykletischen Diadumenos, MarbWPr. 1 9 6 7 , 27 ff. Vgl. auch Himmelmann, AbhMainz 1 9 6 7 Nr. 2, 88 f., Anm. 1. Weitere

Untersuchungen

derartiger langzeitig

gebräuchlicher Topoi,

die nicht

situationell-

direkt gelesen werden dürfen, bleiben dringend erwünscht, da auch dem Fachmann das „Ablesen" der Bildsymbole ohne vorherige Prüfung ihres Stellenwertes im Kontext und der typologischen Zusammenhänge immer wieder Streiche spielt.

29

Komposition bedeutet Vertiefung des Erlebens, Steigerung der Vorstellungskraft, Licht eines neuartigen Bewußtseins. Klassisches Aufmerksamkeitsfeld deckt sich begrifflich mit Ganzheit und Geschlossenheit eines Systems lebendiger Beziehungen. Halten wir, um diese sichtbaren Eigentümlichkeiten hochklassischer Komposition in Begriffe zu fassen, in der Klassik Umschau, so empfiehlt es sich also, auf Indizien für Ganzheitsdenken, für Beziehungsreichtum, für Verknüpfung der Einzelphänomene zu systematischer Totalität zu achten. Elemente dieser Art sind es, die das gedankliche Reservoir des klassischen Zeitalters rasch anwachsen ließen. Die denkerischen Wege, die Wege der Imagination führen immer häufiger über die Brücken der Analogie zur diskursiven Verbindung aller irgend vergleichbaren Teilbereiche der Vorstellung. In allen Zonen geistiger Betätigung steigt die Assoziationsfähigkeit sprunghaft an. Das Streben nach Totalität der Realitätsvorstellung beherrscht die wissenschaftliche Aktivität, ob sie nun auf Natur oder Gesellschaft gerichtet ist. Diese Symptome treten an verschiedenen Punkten zutage, sie kommen aus der Philosophie und deren jungen Sprößlingen Medizin, Naturforschung, Gesellschaftsdenken. Für den rückwärts fragenden Historiker empfiehlt sich der Ansatz dort, wo sich die vereinzelten Anzeichen zu einem geschlossenen und greifbaren Phänomen vereinigen. Ich beginne also bei Piaton und gehe von ihm aus auf das 5. Jahrhundert zurück. Es ist mit der Anwendung des Begriffs Idealität auf die zusammenfassend-allgemeine klassische Kunstform stets ein gewisses Quantum Piatonismus unvermeidlich gegenwärtig - ob erwünscht oder nicht. Dabei kann nur Piaton der Empfangende gewesen sein, und er stand diesem Erbe bekanntermaßen eher ablehnend gegenüber, wie der Gorgias zeigt und wie seine Stellungnahmen zur bildenden Kunst kritisch darlegen; auch wenn sich die Spitze dieser Kritik nicht direkt auf die Hochklassik, sondern die Nachfolgegenerationen richtet. Keinesfalls hat er die Idealität der perikleischen Kunst im Licht seiner Ideenlehre gesehen. Aber wir fragen gar nicht nach Piatons Stellung zu dieser Kunst, sondern nach Gemeinsamkeiten, die unabhängig vom Bewußtsein der Autoren in Kunst und Philosophie sichtbar werden. Es liegt nahe, die Idealität der Kunst um Phidias und Polyklet, wenn man sie nach ihrem Gehalt an gesellschaftlicher Wirklichkeit befragt, als paradigmatisch, als symbolische Verdichtung eines gesellschaftlich Allgemeinen in der Einzelfigur zu interpretieren: das Ganze im Einzelnen sinnbildlich und leitbildhaft konzentriert 42 . Schwerlich wird sich gegen diese Auffassung viel einwenden lassen - noch schwieriger freilich ist sie faktisch zu erweisen als Denkbild des Künstlers der Hochklassik 43 .

42

Vgl. W . Schindler, Der Doryphoros des Polyklet. Gesellschaftliche Funktion und Bedeutung, in: Der Mensch als Maß aller Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis. Hrsg. von R. Müller, Berlin 1 9 7 6 , 2 1 9 ff. - Zu Kanon und Paradigma vgl. W . Jaeger, Paideia II, Berlin 1 9 5 4 , 3 8 9 f.

43

Im Gegensatz zur römischen geht die griechische Kunst ursprünglich vom allgemeintypischen Grundbestand der Wirklichkeit und nicht von deren individueller Ausfaltung ins Einzelne

-

also nicht von der konkreten optischen Erfahrung des faktischen Bestandes der Erscheinungswelt aus. So ist zunächst das Allgemeine die stille Voraussetzung - bis zu dem Augenblick, da

30

Immerhin: der Gedanke der Totalität, verkörpert im Kleinen als Abbild des Großen, ist wenigstens noch klassisch! Denn genau dies ist der konstruktive Grundgedanke der Politeia, des platonischen Staates. Sokrates wendet die bis dahin vergebliche Diskussion über individuelle Gerechtigkeit in seinem berühmten Schriftgleichnis vom Einzelfall weg aufs Ganze des Staates als vergrößertes Abbild des Einzelnen. Geben wir ihm das Wort 44 : „Die Untersuchung, die wir aufnehmen, ist nichts Kleines, sondern für scharfe Augen, wie mir scheint. Da wir nun einmal keine Meister sind, dünkt mir rätlich, die Untersuchung hier gerade so zu führen, als ob man ein wenig Kurzsichtigen kleine Schrift von fern zu lesen gäbe und einer dann bemerkte, daß dieselbe Schrift noch woanders stünde, nur größer und an einem größeren Gegenstande. Da würde es als ein Glück erscheinen, dies zuerst zu lesen und alsdann nachzuschauen, ob die kleinere wirklich dieselbe ist. - Ganz gewiß. Nur welche Ähnlichkeit, Sokrates siehst du darin mit der Untersuchung über das Gerechte? - Ich will es dir erklären. Gerechtigkeit, sagen wir, ist des einzelnen Mannes Sache, ist aber auch die des ganzen Staates? - Gewiß. - Nichtwahr, größer ist der Staat als der Mann? - Größer. - So ist denn vielleicht mehr Gerechtigkeit im Großen und läßt sich da leichter begreifen." Piaton faßt den gesamten Staat als riesig vergrößertes Abbild des Einzelnen. Diese Metapher wird systematisch durchgeführt und ist die Bauidee des ganzen „Staates" es handelt sich, genau genommen, um viel mehr als eine Metapher, nämlich um eine erkenntnisfördernde, Realität beschreibende Analogie. Alle Grundeigenschaften des Einzelnen finden sich als vergrößernde Projektionen im Staat und in dessen entsprechend gegliederten Ständen wieder, einzelne Tugenden sind jeweils als vorherrschende Seelenteile in bestimmten Menschentypen, analogen Menschenklassen und Charakteren ganzer Völker verkörpert. „Gerechtigkeit" ist das ausgewogene Verhältnis dieser Grundeigenschaften, also der Seelenteile im Einzelmenschen, der charaktertypisch gesonderten Stände im Gesellschaftskörper45. Diese großartige synoptische Systematik ist aus einer über hundertjährigen, mit den Pythagoreern beginnenden Tradition46 der Anwendung erkenntnisfördernder Anadiese b e w u ß t w i r d . M a n darf indessen diese A r t v o n A l l g e m e i n h e i t nicht m o d e r n - a b s t r a k t im S i n n e v o n abgezogenen A l l g e m e i n b e g r i f f e n mißdeuten, sondern m u ß sich sagen, d a ß die G r i e chen tatsächlich ihre optischen Eindrücke sofort

jedoch

die optische

Erfahrungsebene

zu verlassen.

und spontan

ins Allgemeine

auslegten,

Sie „sahen" anders und dachten

als

ohne Sehende,

d. h. dachten anders als w i r . V g l . L. M a l t e n , D i e Sprache des menschlichen Antlitzes im frühen Griechentum, Berlin 1 9 6 1 , 6 5 . Dementsprechend nimmt gegen abstraktologische Interpretation der platonischen I d e e n l e h r e Stellung J a e g e r (wie A n m . 4 2 ) 1 5 8 ff. 4''

Politeia III 3 6 8 c - 3 6 9 a, Deutsch leicht gekürzt nach W . A n d r e a e .

45

W e i t e r e Stellen aus Piaton ( w i e A n m . 4 4 ) : I V 4 3 1 b - d , 4 3 4 e, 4 4 1 d - 4 4 4 a ; V I I I 5 4 4 d. Z u r A n a l o g i e p a r a l l e l e v g l . K . Praechter, D i e Philosophie des A l t e r t u m s (Überwegs G r u n d r i ß der Geschichte der Philosophie I), D a r m s t a d t

1958,

3 7 3 ff. F e r n e r J a e g e r

(wie Anm. 42)

103,

2 7 1 ff., 2 8 0 , 3 1 6 f f . ; ders. P a i d e i a III, Berlin 1 9 5 5 , 5 0 , 5 7 . R. Schottlaender, Früheste G r u n d s ä t z e der W i s s e n s c h a f t bei den Griechen, Berlin 1 9 6 4 , 2 9 ff. D e r s e l b e , M u s i k als Brücke zwischen M a t h e m a t i k u n d Medizin in den A n f ä n g e n des Pythagoreismus, in: W i s s . Zeitschr. H u m b o l d t - U n i v . Berlin, G e s . - u. sprachwiss. Reihe 1 5 , 1 9 6 6 , 3 8 1 ff. Zur M e t h o d e s. unten A n m . 5 8 .

31

iogien erwachsen. Dabei interessiert hier nicht das metaphysische Zentrum der platonischen Philosophie, sondern die Anwendungsebenen, auf denen sich Piatons Analogien ins Jahrhundert der Hochklassik zurückverfolgen lassen. Es sind deren drei: die erkenntnismethodische, die politische und die ästhetisch-erzieherische Ebene. Ohne diese in enger Wechselbeziehung stehenden Anwendungsbereiche formal zu trennen und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit sei hier das wesentliche Material zusammengestellt. Eines der wichtigsten erkenntnismethodischen Zeugnisse führt uns mitten in die Hochklassik hinein. Es steht im Phaidros und beschäftigt sich mit Perikles als Inbegriff politischer Rhetorik und dessen methodischer Schulung an der Naturphilosophie als Ursache für die Vollendung seiner Kunst 47 . Man ist anfangs mit dem jungen Gesprächspartner Phaidros verwundert, wieso „naturbezogene Feinerörterung und Höhenforschung" 48 zu den Voraussetzungen „jeglicher großen Kunst" gezählt werden. Perikles habe sie von Anaxagoras erworben und daran seine große Gesinnung und Vollkommenheit entwickelt. Diese allgemeine Behauptung mündet in eine analogisierende Beweisführung. Wer den Körper heilen will, muß dessen Natur und deren Existenzbedingungen ebenso kennen, wie derjenige die Natur und Wesensart der Seele kennen muß, der ihr mit Hilfe der Rede Überzeugung vermitteln will. Der Sinn des Ausgangspunktes bei der Naturphilosophie ist also die Prinzipienforschung, die analog auf dem jeweiligen Anwendungsgebiet allein zum Erfolg führt. Ähnlich den Analogien in der Politeia hören wir im weiteren Verlauf dieser Erörterung, den Arten der Seele entsprächen jeweils gewisse Arten der Rede49. Weittragend ist die Bedeutung der in diesem Text gebrauchten medizinischen Analogie. Sie weist ausdrücklich auf Hippokrates und dessen den menschlichen Körper und seine Umwelt in gesetzmäßigen Zusammenhang stellenden Physis-Begriff50. In diesem vom 5. Jahrhundert entwickelten Naturverständnis 51 erscheint als begriffene Einheit, was die ältere Zeit noch in phänomenaler Isolierung einfach geschaut hatte, ohne Zusammenhänge zu erfassen. Die spekulative Medizin der Klassik zieht erst zu einer geschlossenen Welt- und Wirkungseinheit zusammen, was seitdem als Umwelt und Existenzgrundlage des Menschen erkannt ist. Aus dieser Richtung fällt auf das organisch geschlossene Aufmerksamkeitsfeld der klassischen Kunst schlagartig das für sein inhaltliches Verständnis nötige Licht.

« Phaidros 269 e - 2 7 2 b. 48 Diesen interpretierenden Übertragungsvorschlag für die Worte dtSoXeoxia x a i ¡xeTeojpoXoyia tpuaeco? n i p i macht mir R. Schottlaender mündlich. 4(1

Phaidros 271 c - 2 7 2 b.

30

Phaidros 270 b - d .

51

H. Leisegang, R E X X 1 (1941), 1140 (s. v. Physis). M. Pohlenz, D e r hellenische Mensch, Göttingen (1947), 62 f., 169 f., 298 f. Pohlenz, Hippokrates, in: D i e Antike 15, 1939, 1 ff. Deichgräber, D i e Stellung des griechischen Arztes zur Natur, ebendort 116 ff. Zur Analogie als Methode in den hippokratischen Schriften vgl. O. Regenbogen, Eine Forschungsmethode antiker Naturwissenschaft, in: Stud. z. Geschichte d. Mathematik I 2, 1930, 131 ff.

32

Darüber hinaus aber erhalten wir im Ganzheitsdenken der hippokratischen Medizin zur ganzheitlichen musisch-gymnastisch-philosophischen Charakterbildung der platonischen Paideia mehr als eine bloße Parallele. Piaton hat seine Methode wesentlich am Vorbild der Medizin, auf die er analogisierend des öfteren verweist, entwikkelt°2. Überhaupt ist der Reichtum assoziativer Verbindungen zwischen Denkfiguren verschiedener Fachbereiche bei Piaton auf ein durchgehend an Gesetz und Einheit aller Erkenntnis orientiertes Interesse zurückzuführen. Mit diesem Interesse aber knüpft er bei seinen klassischen Vorgängern an. So gewinnen wir für Piatons Analogie des Großen und Ganzen des Staates zum Einzelnen wiederum Anschluß an die vorangehende Generation in Demokrits berühmter, freilich mangelhaft überlieferter Mikrokosmos-Theorie 53 . Ein später Autor setzt unter Verwendung einer demokritischen Vorlage Göttliches, Menschliches und Tierisches je nach seiner Teilhabe am Herrschen und Beherrschtwerden in Analogieparallele zu Logos, Mut und Begierde im Menschen, der als „kleiner Kosmos" eine Entsprechung zur ganzen Welt darstelle. Dieser bemerkenswerten Einsicht gemäß wird in Demokrits Kulturtheorie die Techne des Menschen mit der für diesen vorbildlichen Wirkungsweise der Natur verknüpft. Die Analogie führt hier direkt zur These von der Nachahmung der außermenschlichen durch die menschliche Aktivität, etwa indem das Spinnen der Spinne, der Nestbau der Schwalbe als Modelle für die entsprechenden Zweige der menschlichen Techne genannt werden 54 . Berücksichtigt man, daß Demokrits Kulturtheorien wesentlich beeinflußt sind von seinem Landsmann Protagoras, so gelangt man mit derartiger Denkweise vielleicht wiederum bis in die Hochklassik hinauf. Protagoras hat selbst in anderem Zusammenhang das Mittel der Analogie benutzt. So übertrug er seine subjektivistische Erkenntnistheorie vom Einzelnen auf die Gesamtheit der Gesellschaft als erkennendes Wesen55. Für die demokritische Theorie der Nachahmung natürlicher Techne durch die menschliche sieht Praechter schon in Heraklit einen Vorgänger 56 . Freilich ist der sehr allgemeine Satz Heraklits über die Verbindung gegensätzlicher Elemente zur Einheit erst in einem Aristotelestext naturgeschichtlich angewendet, und zwar abermals im Sinne der Nachahmung natürlicher Prozesse durch die menschlichen Künste 57 . Aus Entgegengesetztem und nicht aus Gleichem schaffe die Physis, wie durch Paarung des Männlichen mit dem Weiblichen. Ähnlich verfahre die Malerei, mit kontrastierenden Farben Zusammenklang erzeugend; die Musik mit ihrer Harmonie aus hohen und tiefen, langen und kurzen Tönen gegensätzlicher Stimmen; die Schreibkunst mit ihrer Anwendung von Vokalen und Konsonanten. An dieser Stelle zieht Aristoteles Heraklits Wort heran von der Verbindung des Ganzen mit dem Nichtganzen, des 52

Nachweis bei Jaeger (wie Anm. 42) 195 Anm. 30; 160 f.

53

Demokrit: 68 B 34 Diels-Kranz.

34

Übersicht bei Praechter (wie Anm. 45) 109 f. mit Lit.

53

Protagoras: 80 A 21 a Diels-Kranz (Bd. II, S. 260, Zeile 25 ff.). Vgl. Praechter (wie Anm. 45) 119.

56

Praechter (wie Anm. 45) 110.

57

Heraklit: 22 B 10 Diels-Kranz.

3

Realismus

33

Einträchtigen mit dem Zwieträchtigen, des Einklanges mit dem Zweiklang - wie aus Allem Eins und aus Einem Alles werde. Man gewahrt hinter all diesen Analogie-Motiven die Aufmerksamkeit der mit neuartiger Beweglichkeit vergleichenden Blickes forschenden Intelligenz des klassischen Zeitalters. Über die weitgreifendsten und engsten Beobachtungsfelder gebeugt, erlebt der Mensch das Aufblitzen der Erkenntnis, wenn die Phänomene durch ein plötzlich sichtbares Netz von Beziehungen in Korrespondenz treten gleich dem Zusammenschießen von Kristallen58. Mag die Analogie, wie schon in der kosmisch-arithmetischen Spekulation der Pythagoreer, zu phantastischen und irrtümlichen Resultaten verleiten, denn auf seiner Jugendstufe kennt das kombinatorische Denken noch weder Mißtrauen noch Vorsicht. Wesentlich ist das Grunderlebnis des Zusammenhangs der Welt, das Streben nach Einheitlichkeit des Erkennens, entscheidend ist der neue, von Physis und Logos bestimmte Realitätsbegriff. Das Verwenden der Methode des Analogieschrittes auf politischer Ebene bei Piaton hat seine tiefsten Wurzeln sicherlich in pythagoreischer Tradition, die er auf seinen Reisen in den hellenischen Westen studierte. In der Nachbarschaft des Perikles und des Protagoras finden wir den Städteplaner und Gesellschaftsdenker Hippodamos von Milet59, dessen rationalistische Analogiekonstruktionen deutlich von der Dreizahl beherrscht werden60. Er gibt seinem utopischen Staat drei Bevölkerungsklassen, drei Arten von Gesetzen, drei Formen des Bodenbesitzes. Die nüchtern-zweckmäßige Einteilung des „hippodamischen" Stadtplan-Systems erinnert an den kühl radikalen Konstruktivismus, mit dem einst Kleisthenes61 die altattische Gesellschaft ohne Rücksicht auf ihre gewachsenen Zusammenhänge aus reinem Nachdenken über die beste Art des Funktionierens einer neugeschaffenen Demokratie umgegliedert und mit neuen Bezugslinien durchschossen hatte. Pohlenz vermutet, daß andererseits die hippodamische Dreiteilung der Gesellschaft direkt auf diejenige Piatons gewirkt hat62. Die Analogieparallelen zwischen organischer Natur und Mensch, die wir bis zu Demokrit und Hippokrates zurückverfolgt haben, reichen chronologisch noch viel weiter hinauf. Gesellschaftsdenken und Heilkunde waren bereits in der kosmischen Spekulation der Pythagoreer verknüpft63. So ist es kein Zufall, wenn schon der pythagoFür diese Haltung typisch und als Analogie von Sichtbarem zu Unsichtbarem in diesem Zu-

58

sammenhang zu erwähnen ist der Erkenntnissatz des Anaxagoras (59 B 21 a Diels-Kranz): „Die sichtbaren Dinge sind die Grundlage für die Erkenntnis der unsichtbaren." Dazu und zur analogisierenden Methode bei den Vorsokratikern H. Diller, Hermes 67, 1 9 3 2 , 1 4 ff. Hippodamos schon seit der Frühklassik für Athen tätig: E. Fabricius, R E VIII 2, 1 7 3 1 ff. s. v.

50

Hippodamos 3. F. Schachermeyr, Geistesgeschichte der perikleischen Zeit, Stuttgart 1 9 7 1 , 1 0 5 ff. Hippodamos: 39, 1 Diels-Kranz (Bd. I, S. 3 8 9 f., Zeile 25 ff.). Vgl. W . Capelle, Die V o r -

60

sokratiker, Berlin 1 9 6 1 , 3 9 0 f. M. Pohlenz, Aus Piatons Werdezeit, Berlin 1 9 1 3 , 2 1 6 , 2 2 8 ff. (Piaton von Hippodamos beeinflußt), 2 3 1 f. Zustimmend Praechter (wie Anm. 4 5 ) 2 7 4 . Jaeger, Paideia II, 2 7 3 f. So Schachermeyr (wie Anm. 5 9 ) 1 0 6 (ohne Annahme eines Einflusses der Phylenreform auf

61

Hippodamos). 62

s. Anmerkung 60.

63

s. Anmerkung 46.

34

reische Arzt Alkmeon von Kroton 64 lehrte: „Gesundheitbewahrend sei die Gleichberechtigung der Kräfte, des Feuchten, Trocknen, Kalten, Warmen, Bittern, Süßen usw., die Alleinherrschaft dagegen sei bei ihnen krankheitserregend. Denn verderblich wirke die Alleinherrschaft des einen Gegensatzes." Für Gleichberechtigung steht im Text isonomia, für Alleinherrschaft, die in warnender Unterstreichung wiederholt wird, monarchia. Die Analogie ist offenkundig. Piatons häufige Verwendung von Analogieparallelen und Gleichnissen aus der bildenden Kunst 65 haben im 5. Jahrhundert weit weniger Vorgänger. Diese Tatsache ist ein statistischer Beleg für den verhältnismäßig späten, mit Sokrates beginnenden Einbezug der Kunst in die intellektuelle Debatte. Immerhin haben wir bei Empedokles ein bedeutendes Gleichnis, in dem er seine Elementenlehre am Beispiel der Farbenmischung in der Malerei verdeutlicht 66 . Die Methode der Analogie als Erkenntnishilfe für die Naturforschung ist im übrigen in der bildhaften Sprache des Empedokles bewußt am Werk. Polyklet und die pythagoreische Zahlenspekulation hat als erster Diels diskutiert 67 . Philipp macht auf ein Zeugnis des Pythagoreers Philolaos aufmerksam, der die Macht der Zahlen analog wie in allen Dingen auch in Musik und bildender Kunst behauptet 68 . Außer jener schon zitierten Analogieparallele von rhetorischer Seelenführung zur Heilkunde 69 findet sich im Phaidros die ästhetisch folgenreiche Analogie des organischen Baues der Rede als gegliedertes Ganzes zum Bau eines Lebewesens 70 . Die darin deutliche Aufwertung der politischen Rhetorik mit Nennung des Namens Perikles zeigt beim reifen Piaton gegenüber der Frühzeit seiner Schriftstellerei ein

64 63

Aikmeon: 24 B4 Diels-Kranz. Hier einige Ergänzungen zur behandelten politischen Analogie der Politeia: Gorgias 504 a - d (Regelmäßigkeit und Ordnung analog in Medizin, Athletik, Haus- und Schiffsverwaltung, Seelenleben); vgl. 5 0 6 d ; 5 0 7 e - 5 0 8 a (Kosmos-Analogie: Ganzheit und Ordnung als Band zwischen Göttern und Menschen). Politeia III 4 1 1 e - 4 1 2 a (Kunst und Leibesübung und ihr A b gestimmtsein aufeinander in der Charakterbildung, Gleichnis der Saitenspannung bis zum Erreichen der Harmonie, dazu Jaeger (wie Anm. 4 2 ) 3 0 9 f . ) ; ferner die Paradigma-Gleichnisse von Staatenbildner und bildendem Künstler, Politeia V 4 7 2 d; V I 4 8 4 c - d ; VII 5 2 9 d - e ; VII 5 4 0 c (Bildhauergleichnis auf dem Höhepunkt der Erziehung der Herrscher!). - Gleichnismaterial zur bildenden Kunst verarbeitet bei P.-M. Schuhl, Piaton et l'Art de son Temps (Arts plastiques), Paris 1 9 5 2 ; B. Schweitzer, Piaton und die bildende Kunst der Griechen, Tübingen 1953.

66

Empedokles: 31 B 23 Diels-Kranz. Vgl. W . K r a n z , Empedokles. Antike Gestalt und romantische Neuschöpfung, Berlin o. J., 1 4 1 , 7 0 f. (Analogie als Erkenntnismittel bei Empedokles). Zu B 23 vgl. H. Philipp, Tektonon Daidala. Der bildende Künstler und sein W e r k im vorplatonischen Schrifttum, Berlin 1 9 6 8 , 4 1 , 46, 4 8 f.

67

A A 1889, 10.

63

Philipp (wie Anm. 66) 48, Philolaos: 4 4 B 1 1 Diels-Kranz.

69

s. Anmerkung 47.

70

Phaidros 2 6 4 c. Vgl. P. Friedländer, Piaton II, Berlin 1 9 3 0 , 4 8 8 ff. T. B. L. Webster, A r t and Literature in Fourth Century Athens, London 1 9 5 6 , 1 5 2 .

3*

35

gewandeltes Verhältnis zur Hochklassik71. Von Einfluß dürfte in diesem Zusammenhang Piatons Beschäftigung mit Dämon gewesen sein, der mit seiner politisch-ethischen Musiktheorie Einfluß auf die Gestaltung der Bildungspolitik im perikleischen Athen zu nehmen versuchte72. Schachermeyr sieht in Piatons Darstellung der musikalischen Erziehung in der Politeia geradezu einen Abriß der Stiltheorie Dämons73, der denn auch namentlich genannt wird74. Zum Inhalt der Lehre hören wir Schachermeyr selbst70: Dämon betrachte die Musik „als das künstlerische Korrelat des seelischen Erlebens, als das Korrelat auch einer Ethik des Seelischen". - Man darf hinzufügen: wie später Piaton konstruiert Dämon demnach eine Analogie zwischen musikalischen Formen und charakterlichen Eigenarten. Hören wir weiter. „Es wurden einerseits die Prinzipien des Humanen, der Ordnung und der Gerechtigkeit, andererseits die der Zerrüttung, des Übermuts und des Bösen, ebenso auch das Gegenüber von Beständigkeit und vom Schwanken, nicht nur im Seelischen, sondern auch in der Musik verwirklicht. Dämon untersuchte nun, in welcher Weise die Tonarten, die Kompositionsformen und die musikalischen Stile den seelischen Phänomenen entsprächen." Ob Myrons von Schachermeyr in diesem Zusammenhang genannte bronzene Gruppe von Athena im Streit mit Marsyas um das Flötenspiel schon unter Dämons Einfluß entstand, bleibe dahingestellt76. Auf einen politischen Akzent in dieser auffälligen Thematik hat schon Lippold77 hingewiesen. Wie aktuell ein solches Sujet jedoch war, zeigt seine Gestaltung in einem bedeutenden Weihgeschenk am Beginn der Hochklassik. Aus alledem folgt: Piatons wiederholte Parallelisierung musikalischer Harmonie mit der Wohlgefügtheit des individuellen Charakters und der Gerechtigkeit im Staat darf also im Lichte der perikleischen Klassik gelesen werden. Nach Betrachtung der Analogien soll schließlich noch einmal die Frage nach der gesellschaftlichen Realität ins Auge gefaßt werden, die hinter dem Menschenbild der Hochklassik steht. Daß schon Sokrates in der Schönheit klassischer Bildwerke gesammelte, auf einen Punkt konzentrierte Wirklichkeit sah, bezeugt zuverlässig Xenophon'8. Wir greifen in der Literatur des späten 5. Jahrhunderts ein klares Beispiel für die überpersönliche Idealität der Auffassung vom Polisbürger in der berühmten Grabrede des Perikles bei Thukydides79. Da finden wir den Einzelnen völlig umhüllt vom staatlichen Ganzen, dessen Lob das Lob jedes Gefallenen als Person mit umschließt. Es heißt ausdrücklich80, daß mit der Preisrede auf Athen das Wesentliche über Athens n

Vgl. Friedländer (wie Anra. 70) 5 0 0 .

72

F. Schachermeyr, Dämon, in: Beiträge 2ur Alten Geschichte und deren Nachleben (Festschrift F. Altheim) I, Berlin 1 9 6 9 , 1 9 2 ff.

73

Politeia III 4 0 0 e - 4 0 1 d ; dazu Schachermeyr (wie Anm. 72) 2 0 0 .

74

Platonische Zeugnisse zu Dämon bei Diels-Kranz 3 7 B 8 - 1 0 .

75

Schachermeyr, Geistesgeschichte der perikleischen Zeit, 1 0 4 .

76

Schachermeyr, Dämon (wie Anm. 72) 1 9 8 ; Geistesgeschichte der perikleischen Zeit, 43.

77

G. Lippold, Die griechische Plastik (Handbuch d. Archäologie III, 1), München 1 9 5 0 , 1 3 9 .

78

Xenophon, Memorabilien III 10, 2.

79

Thukydides II 3 5 - 4 6 .

80

Thuk. II 42, 1 - 2 .

36

Kriegstote bereits gesagt sei. Diese bleiben als Personen völlig im Hintergrund. Betont werden nicht so sehr die Taten der Krieger als vielmehr ihr Bewußtsein, ihre Staatsgesinnung, ihr Patriotismus, den sie mit der Tat unter Beweis gestellt haben. In diesem Geist geht der Einzelne im Ganzen auf und wird vom Staat wie in dieser offiziellen Feierstunde ideal verkörpert. Das Bild, das Thukydides zeichnet, ist retrospektiv gesehen, doch sofern es das perikleische Denken spiegelt, eignet dieser Rede des alternden Perikles schon ein Anflug von Wunschdenken. So war Athen um 430 schon nicht mehr81. So war es eigentlich nie. Die heroisch disziplinierte, elitäre Geistigkeit, die hier dem Hörer zugleich mit der eleganten Entspanntheit klassischer Lebensführung aufs angenehmste suggestiv vtorgespiegelt wird, ist ein utopischer Appell - nicht viel mehr jedenfalls. Sie ist ein idealisiertes Denkmal attischer Herrlichkeit. Soweit die Rede ein Appell ist, richtet sie sich allerdings noch an die Bürgerschaft als Kollektiv zum Wohl des Staates. Bei Piaton hat sich die Blickrichtung umgekehrt: Hier ist das Individuum und seine Charakterbildung nach dem Muster des idealen Staates der Zielpunkt. Jaeger hat gezeigt, daß die staatsbildnerische Arbeit dem Einzelnen gilt, der Norm für das menschliche Leben als Typus - unabhängig von der weiteren Frage, ob ein solch paradigmatischer Idealtypus des Staates auch möglich sei, wie Piaton sagt82. Dieser hatte in Sizilien solche Realisierungsmöglichkeiten gesucht, aber schon in seinen mittleren Jahren das Scheitern als Wahrscheinlichkeit ins Auge gefaßt, wie eben dieselben Belegstellen in der Politeia beweisen. Darin offenbart sich in diesem Klassiker selbst die Krise des klassischen Wirklichkeitsbegriffs, die Lockerung der Verbindung von Normdenken und gesellschaftlicher Realität. Beim Überschauen alles zur Deutung des klassischen Realitätsverständnisses Gesagten soll nun keinesfalls der Schluß suggeriert werden, daß die bildenden Künstler der Hochklassik ihren Werken selbst ausdrücklich den Wert von Sinnbildern der kollektiven Wirklichkeit des Gesellschaftswesens Polis zugeschrieben hätten83. Doch weiß man, daß das Kunstwerk als Objekt, indem es sich trennt von seinem Schöpfer, zuweilen klüger wird als dieser und daß es die Verlautbarungen des Künstlers über seine eigene Arbeit an Reichtum und Realitätsbezug sogar in der Regel übertrifft. Stellen wir also zwischen der organischen Totalität der klassischen Figur auf der einen Seite und auf der anderen dem gleichzeitigen Physisbegriff, der ganzheitlichen Methode des Denkens in Analogieschritten und der politischen Analogie des gesellschaftlichen Ganzen zur Einzelperson Parallelen fest, so tun wir zwar mehr, als dem Künstlerbewußtsein jener Zeit zugeschrieben werden kann. Doch als Parallelen müssen wir diese Erscheinungen immerhin gelten lassen. Sie stehen zueinander in keinem 81

Vgl. Schachermeyr, Das Periklesbild bei Thukydides, in: Antike und Universalgeschichte (Festschrift H. E. Stier), Münster 1 9 7 2 , 1 7 6 ff., bes. 1 9 5 f. Allgemein vgl. Schachermeyr, Perikles, Stuttgart 1 9 6 9 , 2 0 8 ff.

83 83

Paideia III, 87 ff. Vgl. Politeia V 4 7 2 d, IX 5 9 2 a - b . Das beharrliche Wiederkehren der Paradigma-Analogie zur bildenden Kunst (s. Anm.

65)

bei dem Kunstgegner Piaton ist dennoch bedeutsam und sicherlich mehr als das bloße Festhalten eines einmal gefundenen Vergleichs (vgl. auch Politeia II 3 6 1 d). Es könnte als Widerschein einer schon in vorplatonischer Zeit verbreiteten Denkgewohnheit aufzufassen sein.

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direkten Kausalverhältnis. Eher lassen sie sich mit nebeneinander stehenden Bäumen vergleichen, die in einem Boden wurzeln und deren Zweige ineinandergreifen, ohne demselben Stamm anzugehören. Doch ist das alles? Finden wir nicht einen Punkt, in dem die Linien sich treffen? Es ist das Realitätsverständnis, das jeder A r t von klassischer Totalität zugrunde liegt84. 84

Die Parallelführung des Strukturvergleichs zwischen klassischem Aufmerksamkeitsfeld und gleichzeitigem Philosophieren wird hier absichtlich an keiner Stelle im konvergenten Sinn verlassen. Es gibt wenige, doch wichtige Punkte, an denen die Linien von Philosophie und bildender Kunst einander schon im 5. Jahrhundert schneiden. Sie liegen im Pythagoreismus Polyklets, vor allem aber im Kreis des Perikles. Soweit sie sich fassen lassen, sind die Beziehungen Phidias - Perikles - Anaxagoras bereits behandelt (umfassend J . Liegle, Der Zeus des Phidias, Berlin 1952. Verf., Perikles und die klassische Kunstanschauung, in: Staatliche Museen zu Berlin, Forschungen und Berichte 16, 1974, 169 ff. mit weiterer Lit.). Doch sind diese Beziehungen wiederum nur im allgemeinsten Sinn erhellend insofern, als einzelne hervorragende Künstler mit ihrem Bewußtsein die Sphäre philosophischer Realitätserschließung berühren. Gundsätzlich ist aber festzuhalten, daß diese Einzelkontakte allein noch nicht Merkmale allgemeinster Parallelität im hier dargestellten Sinn erklären können, weil diese Merkmale zugleich Symptome für den Entwicklungsstand des Erschließens von Realität auf breitester Front sind. Diese Entwicklung geschieht gleichzeitig auf bewußtem und unbewußtem Niveau - ja sie hat ihren Schwerpunkt und ihre eigentliche Tiefe unter der Bewußtseinsschwelle.

A b b i l d u n g s v e r z e i c h n i s und -nachweis (Dresdener Werke nach Foto Staad. Kunstsammlungen Dresden) Abb. 1 - 2 . Schale des Antiphon-Malers, Dresden, Antikenabt. der Skulpturensammlung, ZV 930. Innen- und Außenbild. Abb. 3. Geometrischer Kantharos, Dresden, Antikenabt. d. Skulpturensammlung, ZV 1699. Abb. 4. Gorgovase, Eleusis, Halsbild. Nach P. E. Arias, M. Hirmer, Tausend Jahre griechische Vasenkunst, München 1960, Abb. 13. Abb. 5. Gorgovase, Eleusis, Detail des Hauptbildes. Nach Antike Welt 1973, Heft 2, 35, Abb. 3. Abb. 6. Kuros, New York, Metrop. Mus. Nach G. M . A. Richter, Kouroi, London 1960, Abb. 25. Abb. 7 - 8 . Bronzestatuette, Mt. Holyoke College, Mass. Nach K. Schefold, Meisterwerke griechischer Kunst, Basel 1960, Nr. 273. Abb. 9. Sieger-Relief von Sunion, Athen, Nat.-Mus. Nach R. Lullies, M . Hirmer, Griechische Plastik, München 1960, Abb. 96. Abb. 10. Herakles-Torso, Dresden, Antikenabt. d. Skulpturensammlung, Hm. 93. Abb. 11. Gallier-Torso, Dresden, Antikenabt. d. Skulpturensammlung, Hm. 154. Abb. 12. Athena Lemnia, Dresden, Antikenabt. d. Skulpturensammlung, Hm. 49. Abb. 13. Sophokles-Statue, Rom, Lateran. Nach K. Schefold, Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker, Basel 1943, 93. Abb. 14. „Kleine Herkulanerin", Dresden, Antikenabt. d. Skulpturensammlung, Hm. 327. Abb. 15. Nike von Samothrake, Paris, Louvre. Nach Lullies, Hirmer, Griechische Plastik, Abb. 262. Abb. 16. „Aristophanes", Neapel, Nat.-Mus. Nach Schefold, D i e Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker, 135. 38

VERENA

ZINSERLING

Zum Problem von Alltagsdarstellungen auf attischen Vasen Um die antiken Vasen ist, seit der Staub der Jahrhunderte über ihnen abgetragen wurde, eine neue dichte Hecke gewachsen. Seit den großen Funden des 19. Jahrhunderts wuchs sie aus antiquarischer Begeisterung und kunsthistorischer Gelehrsamkeit, so daß es heute schwer ist, einer antiken Vase, zumal einer attischen, unvoreingenommen zu begegnen. Man glaubt, keine wirklich neue Frage an sie stellen zu dürfen, ja nicht einmal, eine zu finden. Nur noch der Vasenspezialist besitzt die Legitimation zu fragen, zu entscheiden und Antworten zu geben, die weitgehend nur noch für Eingeweihte bestimmt sind. Entweder man stellt sich naiv und disqualifiziert sich für die Vasenforschung, oder man dringt am genial geknüpften Faden vor in das Labyrinth der Hände und Datierungen und stellt die Frage nach dem Sinn der Bilder und unserer Bemühungen um sie im Vor- oder Nachwort. Eigentlich ist schon alles untersucht, zumindest begonnen: Sir John Beazley und seine fruchtbaren Jünger haben die Borde ausgeschildert, auf denen die Vasen nun liegen und schweigen. Sie schweigen, weil, so genial und notwendig es war, die Stilgeschichte der Vasenmaler zu schreiben, sie doch nur Ansatzmöglichkeiten schaffen kann für die Klärung der Bedeutung ihrer Objekte. D e r ursprüngliche Sinn der griechischen Vasen ist für den heutigen Forscher so sehr von der Bedeutung, die sie für ihn unter einer bestimmten Problematik angenommen haben, verstellt, daß es überhaupt schwer ist, die richtigen Fragen zu finden, die vielleicht von woanders herkommen müßten als bisher. Man hat die Vasen in den beiden Jahrhunderten der Beschäftigung mit ihnen sehr viel gefragt und, so seltsam und deprimierend es klingt: kaum eine Frage ist wirklich vollständig und einhellig geklärt. Man hat beispielsweise immer wieder darüber gesprochen, wieso die Vasen in Gräber gestellt worden sind, vor allem in etruskische und unteritalische. Immer wieder haben die großen Vasenkenner, allerdings meist nur nebenbei, grundsätzliche Fragen, die sie allerdings in dem Maße für sie noch nicht waren, weil die wesentlichere Qualifizierungsarbeit noch geleistet werden mußte, beantwortet und in gewisser Hinsicht damit für Jahrzehnte durch ihre Autorität determiniert und blockiert. H. B . Walters hat in seiner 1905 verfaßten History of Ancient Pottery mit der Bestimmung des Hauptzweckes der griechischen Vase als Totengeschirr die Beschäftigung mit dem Sinn der Vasen und ihrer Bilder bis in die Gegenwart beeinflußt und auch festgelegt. 1 1

H. B . Walters, History of Ancient Pottery I, London 1 9 0 5 , 141 „The most important use, however, for which vases were employed, and that to which their preservation is mainly due, was

39

Die Bilder der Vasen, ihre Inschriften, die Fundorte und sehr wenige literarische Quellen geben Hinweise auf ihren Zweck und deuten mögliche Sinngehalte an. Die bemalten Tongefäße fanden im Leben der Griechen vielfältige Verwendung 2 : in einfacher Ausführung im Haushalt, als Geschirr bei den Männergelagen, den Symposien, als Gefäße zum Wasserholen, als Behältnisse für Wein, Öl, Getreide, Obst und Gemüse, als wertvolle Preise bei den Panathenäen, als Kultgefäße bei Hochzeit, Tod und Götterdienst, zur Aufbewahrung von Toilettengerät und Schmuck im Besitze der Frau. Sie wurden als Weihgeschenke in den Heiligtümern aufgestellt und den Toten ins Grab gegeben. Aber griechische Vasen waren auch ein wichtiger Posten im Exportgeschäft. Man schätzte sie als Ware, deren Gebrauchswert zwar selbstverständlich war, nicht aber das entscheidende Kriterium ihres Wertes schon in der Antike ausmachte. Die Vase als Handwerksprodukt wurde teuer und begehrt durch die Qualität der Form und Dekoration. 3 Der Katalog der Verwendungszwecke hilft jedoch nur bedingt weiter zur Deutung der Vasenbilder, zur Bestimmung ihres Aussagewertes. Die Bilder sind für uns insofern nicht eindeutig, selbst wenn es das dargestellte Thema pragmatisch ist, als wir die vielfältigen Fäden ihres Beziehungsgeflechtes nur noch unvollkommen rekonstruieren können und unsere Hypothesen aus anderen Bereichen der Kenntnis über die Antike ableiten müssen. Es ist ein Unterschied, ob man eine Symposionszene als mehr oder minder wirkliche Begebenheitsschilderung des attischen Alltags versteht oder den Fundort des Gefäßes, ein etruskisches Grab, als Ausgangspunkt der Deutung unter eschatologischem und sepulkralem Aspekt verwendet oder eine Art Analogiezauber zum Nutzen der Toten erkennen will4. Es ist auch ein Unterschied, die im Strengen Stil so häufigen Krieger-Abschiedsszenen von vornherein für den Gebrauch als Totenvase bzw. direkt als Urne konzipiert zu for purposes connected with funeral ceremonies."; P. E. A n a s - M. Hirmer, Tausend Jahre griechische Vasenkunst, München 1960, 16 „Nie sollte der einzigartige Charakter dieser lebendigen Zeugen der Totenkultur vergessen werden."; J. Thimme, D i e Stele der Hegeso als Zeugnis des attischen Grabkultes, in: Antike Kunst 7, 1964, 28 Anm. 6 5 ; ders., Bilder, Inschriften und Opfer an attischen Gräbern, in: Archäologischer Anzeiger 1967, 1 9 9 - 2 1 3 ; A. Effenberger, D a s Symposion der Seligen, in: Forschungen und Berichte 14, 1972, 137; anders: H. Sichtermann, D i e griechische Vase, Berlin 1963, 29 f . ; K. Schauenburg, A I N E A S K A L O S in: Gymnasium 76, 1969, 5 2 ; ders., Zu attisch-schwarzfigurigen Schalen mit Innenfriesen, in: Studien zur griechischen Vasenmalerei, 7. Beih. Antike Kunst 1970, 3 8 ; A. Lane, Greek Pottery, 3. Aufl. London 1971, 8 f. 2

Vgl. dazu: Walters (wie Anm. 1) 153 ff.; E. Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen I, München 1923, 240 ff.; 318 (Verhältnis von Verwendungszweck und Vasenbild); Sichtermann (wie Anm. 1) 25.

3

Zum Verhältnis der Wertschätzung von Gefäßform und Dekoration vgl. J. Charbonneaux

-

R. Martin - F. Villard, D a s archaische Griechenland, München 1969, 8 7 ; Lane (wie Anm. 1) 4 9 ; R. M. Cook, Greek Painted Pottery, London 1960, 257. 4

E. Langlotz, Vom Sinngehalt attischer Vasenbilder, in: R. Boehringer, Eine Freundesgabe, Tübingen 1957, 407, 4 2 1 ; ders., D e r Sinn attischer Vasenbilder, in: D i e griechische Vase, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock XVI, 1967, Gesellsch.- und Sprachwiss. Reihe H. 7/8, 4 7 3 - 4 7 9 .

40

deuten oder als Reflex eines Selbstverständnisses von Polisbürgern, die im Auszug eines ihrer Mitglieder den Ruhm und die höhere Legitimation ihres Status als Bürger dokumentierten. Bei allen vorgenommenen Deutungen ist die Gefahr eines zu direkten Verständnisses gegeben, insofern, als Entwicklungslinien bestimmter Themen nicht mehr erkennbar sind, gewissermaßen die „ideologische" und motivkundliche Vorgeschichte fehlen kann. Die Vasenbilder sind in bestimmter Hinsicht auf zwei Ebenen deutbar: einerseits auf der sich leichter und unmittelbar erschließenden, unter pragmatischem Aspekt, also: was ist dargestellt, und andererseits auf der einer tieferen Ausdeutung: was sagt ein Vasenbild aus über den Zustand der Gesellschaft seiner Schöpfer. In welcher Hinsicht sind überhaupt Aussagen über gesellschaftliche Zustände ablesbar? Um dies zu verdeutlichen: Die Rückseiten von Amphoren und Krateren werden im Laufe des 5. Jh. zunehmend mit sog. Stock- oder Mantelfiguren (Abb. 17), die als sich „unterhaltend" zu denken sind, geschmückt. Die menschliche Gestalt, die auf den Vorderseiten der gleichen Gefäße mit praller Vitalität das Bildfeld füllt, wird zum Gestaltornament ohne, wie es scheint, tiefere Bedeutung. Abgesehen von der Frage, ob die Rückseitenabwertung mit einem besonderen Aufstellungsort, beispielsweise, wie man vermutet hat, auf einer an die Wand gerückten Säule 5 , erklärt werden könnte, stellt sich das Problem, ob nicht auch diese Bilder irgendeinen Aussagewert über die attische Gesellschaft bzw. ihre konventionellen Verhaltensweisen enthalten. E s ist bedenkenswert, daß nicht nur Männer, in dicke Mäntel gehüllt, plaudern, sondern auch Frauen, zwar in keiner Weise näher qualifizierbar, in die Konventionsunterhaltungen einbezogen sind. Man hat offenbar das Allerselbstverständlichste, und nur das war es möglich derart abzuqualifizieren, Männer und Frauen zusammen redend, dargestellt. Nun ist für uns aber oft gerade das in der Antike ganz Selbstverständliche verlorengegangen, und andere Stimmen, die, aus welchen Gründen auch immer, deutlicher reden, beispielsweise die Philosophen, Politiker und Dichter über die abgeschlossene und untergeordnete Stellung der attischen Frau, werden durch die zahlreichen und vom Mann nicht qualitativ unterschiedenen Vasendarstellungen von Frauen und Mädchen als ungezwungene Teilnehmerinnen des Polislebens relativiert und damit unser Bild über die wirkliche Stellung der Frau erweitert und berichtigt. Die weniger bedeutenden Maler leisten uns insofern einen Dienst, als ihre stereotypen Szenen nicht den Verdacht nahelegen, hier sei etwas nur den Maler Interessierendes, Einmaliges oder Außergewöhnliches gestaltet worden, sondern gerade die Leere an wirklichem Geschehen im Bild läßt auf die Selbstverständlichkeit der dahinterstehenden und daher künstlerisch so uninteressanten Wirklichkeit schließen. D a s Spannungsverhältnis zwischen Künstler und Thema bestimmt sich danach, ob eine persönliche Stellungnahme vorhanden ist, ein mit Für oder Wider zu bewertendes Verhalten von Personen, ein Zeitproblem, eine Lebensform mit Affinität zur jeweiligen Gesellschaftssituation gestaltet wird, oder ob das Thema eigentlich keines mehr ist und insofern auch keinerlei Spannung und Interesse hervorruft. Dabei ist nicht in erster Linie wichtig, ob bestimmte Gestalttypen vorgegeben und eventuell 5

Vgl. Walters (wie Anm. 1) 136.

41

nur von Gesellen ausgeführt worden sind; interessant ist, daß sie für Produzenten und Käufer zu so gebräuchlichen Typen werden konnten. „ D i e Interpretation der Vasenbilder hat mit ihrer stilistischen Erforschung nicht Schritt gehalten", konstatierte G. Rodenwaldt 1932 im Archäologischen Anzeiger, und bis in die Gegenwart wurde eine zusammenfassende Deutung der Vasenbilder nicht geschrieben trotz zahlreicher Einzeluntersuchungen, die meist unter anderem Aspekt zu den Vasen griffen, um Stützen und Vergleiche für Probleme, die in anderen Gattungen angesiedelt waren, zu finden. D i e von E . Langlotz aufgeworfene, so seltsam simple und doch nicht beantwortete Frage „warum der antike Käufer oder Besteller einer Vase gerade dieses Bild ausgesucht hat" 6 hat sich keinesfalls erübrigt, ja sie wäre dahin zu erweitern: was veranlaßte die Vasenproduzenten zu ihrer Themenwahl? Die auf Vasen vorkommenden Mythen sind von F. Brommer 7 gesammelt, den Götterbildern sind eingehende Studien teils unter religionshistorischem, teils unter lediglich stilgeschichtlichem Aspekt gewidmet worden. Die Vasenbilder aber, die das Leben der Griechen spiegeln oder zumindest bestimmte Seiten desselben erschließen lassen, also die sich allerdings vielleicht schwer öffnende Fundgrube von direkter Wirklichkeitsinformation - deutlicher zumindest als im mythischen Bild - hat man bis heute nur ganz oberflächlich und partiell ausgeschöpft, bzw. Versuche in dieser Richtung liegen so weit zurück, daß sie vom heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis neu unternommen werden müssen 8 . Wenn wir hier nur attische Vasen in den Kreis der Betrachtung einbeziehen, so hat das vor allem zwei Gründe: Im 6. und 5. Jh. ist die attische Keramik führend auf dem antiken Markt. Sie wurde in fast alle damals erreichbaren Gebiete der Welt exportiert als geschätztes Luxusgerät in vielfältiger Verwendung in vieler Herren Ländern, wie eine sorgfältig reparierte und dann als Grabbeigabe einer keltischen Fürstin verwendete rotfigurige Schale ganz augenfällig macht9. Attische Vasen stellen das Gros unserer Funde, und sie sind am reichsten und originellsten meist in schwarzund rotfiguriger Technik bzw. Mattmalerei auf weißem Grund bebildert und liefern uns heute noch ein so geschlossenes Bild des einst Vorhandenen, wie es in keiner Gattung der antiken Hinterlassenschaft sonst der Fall ist. Der zweite Grund, warum wir uns auf die attische feine Keramik der archaischen und klassischen Zeit beschränken wollen, ist die Art unserer Fragestellung. Wenn man ein Vasenbild deuten will, d. h. tiefer seine vielfältigen Verwurzelungen, Beziehun6

Vom Sinngehalt attischer Vasenbilder, in: Boehringer, Eine Freundesgabe, 197.

7

F. Brommer, Vasenlisten zur griechischen Heldensage, 2. Aufl. Marburg 1960.

8

T. Panofka, Bilder antiken Lebens, Berlin 1 8 4 3 ; E . Gerhard, Auserlesene griechische Vasenbilder IV, Griechisches Alltagsleben, Berlin 1 8 5 8 ; O. Jahn, Darstellungen des Handwerks und Handelsverkehrs auf Vasenbildern, in: Berichte der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Phil.-hist. K l . am 21. 5. 1 8 6 7 ; H. Blümner, Scenen des Handwerks, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung 14, 1889, 1 5 0 - 1 5 9 ; H. B. Walters, History of Ancient Pottery II, London 1905, 1 5 4 - 1 8 6 ; W. Schiering, Klassische Firniskeramik mit eingeritzten Darstellungen, in: D i e Werkstatt des Pheidias, in: Olympia l . T e i l , Olympische Forschungen V, Berlin 1964, 2 3 7 - 4 2 .

9

42

Dazu Langlotz, in: D i e griechische Vase (wie Anm. 4) 474 Anm. 5.

gen, Absichten und Zufälligkeiten verstehen will, sind Voraussetzungen notwendig, die nur für Athen anhand der günstigen Quellenlage schon geschaffen worden sind, obwohl auch hier das Dunkel vieler Bedeutungen nie mehr aufzuhellen sein wird und wir über die Konstatierung hypothetischer Vermutungen in vielen Fällen nicht hinauskommen werden. Unbehagen stellt sich ein, wenn man für das, was auf den attischen Vasen abgebildet ist und nicht eindeutig durch Beischriften oder bezeichnende Charakterisierung in den Bereich des Mythos verwiesen werden kann, den modernen Begriff des Alltags, der Alltagsschilderung verwendet. Alltag ist im modernen Sprachgebrauch Werktag, die kleine Begebenheit, die Genreszene, das tägliche Leben in der Mitte, komplettiert durch den Festtag, wo meist die Geschehnisse von höherer Bedeutung im Leben der Menschen angesiedelt sind. Diese Trennung in Alltäglich und Festlich, man könnte erweitern in Wirklich und Mythisch, ist aber als Kriterium zur Beurteilung von antiken Vasenbildern nicht sonderlich günstig, da das Besondere dieser Darstellungen eben gerade darin liegt, daß sie sich weitgehend einer klaren Einordnung entziehen. Ihr Reiz liegt in der für uns oft eigenartigen Mischung aus Augenblicksbeobachtung und Allgemeingültigkeit, einer Glätte, die dennoch nicht tote Form ist, einem Leben, das wirklich und doch nicht konkret bestimmbar ist. Mythische und menschliche Szenen wachsen auseinander hervor, und selbst alltägliche Verrichtungen, wie Wasserholen am Brunnen und Toilettenszenen, enthalten „unwirkliche" Elemente, die ihnen dennoch nichts von ihrer Wirklichkeitsdichte nehmen, sondern sie sogar erhöhen können10. Dieser Mann auf dem Wege zum Markt, begleitet von einem kleinen Negersklaven, ist sehr individuell und möglicherweise ganz aus der Anschauung des Malers geschöpft (Abb. 18), also gewissermaßen ein „reines" Alltagsbild, wie auch der Blick in eine Erzgießerei auf der berühmten Berliner Schale (Abb. 19). Schon anders aber ist der einer burlesken Genreszene entstammende wasserschöpfende, etwas obszöne Greis auf einer schwarzfigurigen Pelike (Abb. 20), der durch die Nachbarschaft eines Satyrn wieder in den Bereich des Unwirklichen und Mythischen gerät, wie auch das Hydrienbild in Mailand (Abb. 21), mit Vasenmalern, die von Athena und zwei Niken bekränzt werden, als allegorische Standesdokumentation natürlich nicht nur ein Alltagsbild darstellt. Bilder des Lebens sind sie alle, insofern als Elemente der Realität gestaltet und vom Künstler mit verschiedenem Anspruch aus ihrem sozial-gesellschaftlich determinierten Lebensgefühl, ihrer, wenn das Wort erlaubt ist, „Weltanschauung" gedeutet werden. Geschmacks- und auch Bildungskonventionen werden im Vasenbild mittelbar deutlich. Der zunehmende Mangel an „Wirklichkeitsgehalt" in den Schöpfungen des ausgehenden 5. Jh. spricht vom Illusionsbedürfnis bestimmter Schichten, von Umstrukturierungen im Bildungsniveau und gibt vor dem Hintergrund des Peloponnesischen Krieges interessante Hinweise auf das Verhältnis einer bestimmten Kunstgattung zur politischen Situation. Auch die offensichtliche Divergenz von beiden, einerseits Operettenekstase im Vasenbild und zum anderen das Desastre des

10

Auf die

fließenden

Ü b e r g ä n g e zwischen A l l t a g s - und mythischen Szenen wies K .

Schauenburg,

E i n Psykter aus d e m U m k r e i s des A n d o k i d e s m a l e r s , i n : Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 80, 1 9 6 5 , 8 5 f. hin.

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Krieges, ist aussagereich über die verschiedenen Ebenen der attischen Wirklichkeit, die nicht mehr abbildbar war, sondern in der Kunst nach einer Kompensation suchen ließ, die den sog. reichen Stil hervorbrachte. 11 Das Verhältnis zur Realität nun gerade gilt es zu untersuchen: ein Verhältnis, das jede Generation und jede Handwerker- und Künstlerpersönlichkeit neu und unterschiedlich eingegangen ist und das weitgehend von anderen Faktoren als gattungsspezifischen bestimmt war. Diese Faktoren müßten nun sorgfältig bestimmt werden, um zutreffende Deutungen zu ermöglichen. Hier seien nur die wichtigsten genannt. 1. Faktoren, die zur Wahl bestimmter Themen führen konnten a) Die gesellschaftliche Bedeutung des Themas für Produzent und Konsument, die eine traditionelle oder auch aktuelle sein kann b) Das Außergewöhnliche einer Situation oder Erscheinung c) Chronistisches Interesse an bestimmten Geschehnissen d) Der Auftrag aus persönlichem Motiv e) Eine Anregung aus anderen Kunstgattungen. 2. Es wäre wichtig, genauer zu wissen, wer die Produzenten der Vasen waren, Kenntnis zu haben über ihre soziale Stellung, ihren Bildungsstand, ihr Selbstverständnis, Wirtschaftsorganisation, Situation des Handwerks und Preisentwicklung. Drittens geht es um die Faktoren, denen die Vasenmalerei als Gattung der bildenden Kunst unterworfen war. Beispielsweise stellt sich die Frage, inwieweit sind die Themen abgeleitet aus anderen Gattungen, etwa der Monumentalmalerei, und inwieweit bedeuten derartige Ableitungen einen Verlust an schöpferischer Potenz oder im Gegenteil eine Bereicherung des Themenkatalogs der Vasenmaler. Die Wandlungen der Themen sind als Reflexe von Veränderungen zu untersuchen, die sich auf gesellschaftlicher Ebene vollziehen. In der Vasenmalerei als „volkstümlicher" Gattung, sie wird es in zunehmendem Maße wie die Preise 12 sinken und die Ergasterien stärker kapitalisiert werden - , weisen sich soziale Differenzierungen und Veränderungen früher und auch direkter nach als in der großformatigen Kunst, die auch „ideologisch" sehr viel belasteter, d. h. programmiert war. Beispielsweise das große Thema des Frauenlebens 13 , und zwar in zunehmendem Maße das der Hausfrau, findet sich seit der Früh- und vor allem der Hochklassik zuerst auf Vasenbildern und macht eine Privatisierungstendenz deutlich, eine Aufwertung einer zuvor doch stärker verborgenen Gruppe von Menschen. Sie ermöglichte sich wahrscheinlich in der Vasen11

Vgl. M. Robertson, Griechische Malerei, Genf 1 9 5 9 , 1 4 9 .

12

F. Villard, in : J. Charbonneaux - R. Martin - F. Villard, Das klassische Griechenland, München 1 9 7 1 , 2 2 9 f. spricht vom Rückgang der Preise nach 4 8 0 v. u. Z. ; Vgl. auch J. H. Jonkees, On Price Inscription on Greek Vases, in: Studia Archaeologica Gerardo van Hoorn oblata, Leiden 1 9 5 1 , 6 6 - 7 4 ; Lane (wie Anm. 1) 2 7 4 ; D . A . Amyx, The Attic Stelai III, Vases and other Containers, in: Hesperia 27, 1 9 5 8 , 1 6 3 ff.; R. Haekl, Merkantile Inschriften auf attischen Vasen, in: Münchener archäologische Studien 1 9 0 9 , 5 - 1 0 6 .

13

Vgl. Elena Zevi, Scene di gineceo e scene di idillio nei vasi greci della seconda metà del secolo quinto, in: Atti Reale Accademia Nazionale dei Lincei 1 9 3 7 X V 6. Ser. Vol. V I 2 9 1 ff.; Erika Götte, Frauengemachbilder in der Vasenmalerei des fünften Jahrhunderts, Phil. Diss. München 1957.

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maierei, weil die Gattung im Schatten der großen Malerei stehend ihre Potenzen nicht mehr so sehr den „Leitbildern" ihrer Zeit zuwenden konnte 14 , sondern - pointiert ausgedrückt - die Maler als private Individuen das nunmehr interessante Leben einer wie sie selbst gesellschaftlich nicht im öffentlichen Interesse stehenden Bevölkerungsgruppe, die Frauen, entdeckten. Eine Frage hat sich allen Vasenforschern immer wieder gestellt: wie steht es mit dem selbständigen Wert der Vasenbilder? Bedeutet ihre Funktion als Schmuck eines dreidimensionalen Körpers, der gewölbten Ober- oder Innenfläche eines Gefäßes aus Ton nicht von vornherein einen hohen Grad an Abstraktion, eine Reduzierung der Vitalität des Geschehens auf die Kompositionsgesetze der Fläche? H. Sichtermann 10 hat die Meinung H. D. F. Kittos zitiert: „Wenn sie (die Vasenmaler - V. Z.) eine friesartige Prozession darstellen, dann bedeutet das nur, daß eine friesartige Prozession sich wirkungsvoll als Verzierung einer Vase verwenden läßt, und nicht, daß der Tanz so ausgesehen hat." Sichtermann fügt die gegensätzlichen Meinungen wie die Gottfried Sempers (Der Stil 11,86), der von den Bildern, „die als wahre Bildtafeln gedacht und förmlich an das Gefäß mit Säumen und Kopfbändern angeheftet zu denken seien", sprach. Es kann kaum bezweifelt werden, daß die Bilder ganz naiv als Wirklichkeitsimagination gemeint waren. Niemals hätte sich sonst eine derartige Variationsfülle von Motiven und Themen herausbilden können; die redenden Beischriften wollen einen - man könnte sagen - Empfindungsnaturalismus beim Betrachter suggerieren. Allerdings sind derartige Genreszenen selten wie die auf einer Leningrader Pelike des Euphronios (Abb. 22), wo die gemütlich beisammen sitzenden Bürger sich über die erste Schwalbe mit den Worten austauschen: „Sieh, die erste Schwalbe." „Ja, beim Herakles." „Da ist sie." „Schon ist Frühling." Die Vasen sind vom antiken Käufer gewiß nicht zuletzt wegen der abgebildeten Themen gekauft worden. Preisinschriften und auch Künstlersignaturen würden sinnlos, wenn sie nicht eine publizistische Funktion zu erfüllen hätten. Die Bilder sollten erzählen und vielleicht auch werben. Fraglos wechselte das zu schildernde Sujet mittels des jeweiligen Stils und der Meisterschaft des Malers in die ästhetischen Bedingungen der Malerei auf Tongefäßen. Dies aber ist der sekundäre Vorgang. Die künstlerische Umsetzung eines Themas baute es nicht, wie es in der modernen Malerei möglich ist, in seinem Realitätsgehalt ab, sondern setzte diesen lediglich um, immer mit dem Bedürfnis, ihn möglichst eindringlich herauszustellen, das beweist nicht zuletzt die Detailfreudigkeit der Maler, die uns so reichhaltiges kulturgeschichtliches Material vermittelt. Wenn wir nun vom „Problem" der Lebens- und Alltagsbilder auf Vasen zu diesen 14

E. Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen II, München 1 9 2 3 , 5 1 0 „ W a r den klassischen Vasenmalern das Höchste versagt, konnten sie Kunst und Leben ihrer Zeit nicht so weitgehend spiegeln wie ihre archaischen Vorgänger, so blieb ihnen doch ein eigenes Gebiet freier Betätigung, das die große Kunst der hohen Stile fast ganz unberührt ließ; das Kleine und Feine aller Art, das Leben der Frauen und Kinder . . .".

15

W i e Anm. 1, 2 5 ; vgl. auch die Rezension von A . Greifenhagen, in: Gymnasium 71, 1 9 6 4 , 4 1 2 -414.

45

selbst kommen, so müssen sofort mehrere Einschränkungen gemacht werden: die Fülle des Materials und der daran geknüpften Einzelfragen sind so umfangreich, daß sich hier nur die Vorstellung eines Hauptkomplexes ermöglicht: die Szenen, die das Leben des attischen Mannes schildern. Aussparen müssen wir die große Fülle der Frauendarstellungen, die von den Pflichten der Hausfrau bei Wollbereitung, Spinnen und Weben, von Kultgebräuchen bei Hochzeit und Tod erzählen, die ihr öffentliches Auftreten bei Prozessionen, am Grab und an den Opferfeiern der Polis berichten. Die Frau musiziert, tanzt und greift auch hin und wieder zu Schreibzeug und Buchrolle. Sie ist nicht nur Hetäre, der man sich mit dem Geldbeutel in der Hand nähert, sondern Partnerin des Mannes im ungezwungenen Gespräch. Aber auch hier ist die Szene ganz auf die selbstverständlichen Lebensformen der Frauen aus den oberen Klassen abgestellt. Die Rübenkohlgemüsebutterweiber, die Zwiebelkäsebäckerkneipenfrauen des Aristophanes erscheinen nicht im Vasenbild. Frauenszenen besitzen eine große Affinität zu teils illusionistischer Aufhöhung oder märchenhaftem Eingesponnensein. Sie sind weniger real deutbar und verständlich als die Szenen aus dem Bereich des Mannes. Die attische Gesellschaft war eine Männergesellschaft, und sie war es auch für die bildende Kunst, zumindest bis zur Hochklassik, wo, wie schon angedeutet wurde, das weibliche Element zumindest in der Vasenmalerei an Boden gewinnt. In den Lebensformen der Männer spiegeln sich die Leitbilder der Zeit. Bestimmte Standesideale prägen das Verhalten des Kollektivs. Auch die griechischen Männer teilten sich in arm und reich, sie gehörten konträren Klassen und Schichten an, lebten unterschiedlichen politischen Überzeugungen und in oft fest gegeneinander abgeschlossenen Gruppierungen. Fragt man nun, inwieweit sich diese Verhältnisse in den Vasenbildern aufzeigen lassen, so ist es erstaunlich, eine ziemlich klassenindifferente Schilderungsweise anzutreffen, die über die wirkliche Struktur der Gesellschaft nur minimal Aufschluß gibt. Dennoch lassen sich gewisse Aussagen machen: Dargestellt werden vorrangig die Lebensformen der Aristokratie, die im Demokratisierungsprozeß Athens von dem zu Wohlstand und politischer Macht aufgestiegenen Mittelstand assimiliert werden. Diese Lebensformen dokumentieren den hoch bewerteten Standesstandard, und werden insofern zum verbindlichen Modell für die Künstler, die für die verschiedenen Seiten des Lebens bald bestimmte formale Typen schufen, die sich aufnahmebereit zeigten für die Auffüllung mit individuellen Beobachtungen und stilistischen Besonderheiten. Diesen großen Themen wie Krieger, Symposion, Palästra, Kult, Musik und Liebe steht eine vergleichsweise geringe Anzahl von Darstellungen gegenüber, die das Leben von der Seite der nicht repräsentativen Wirklichkeit zeigen: Szenen aus dem Erwerbsleben, Handwerk, Landwirtschaft, Handel, Fischfang und Jagd. Diese Darstellungen verfolgen einen oft unterschiedlichen Zweck und Anspruch, der von der burlesken volkstümlichen Genreszene ohne tiefere Bedeutung bis zur bewußten Standesdokumentation reichen kann. Der arbeitende Mensch als Thema der attischen Vasenmalerei muß an dieser Stelle ebenfalls ausgeklammert werden. Das Thema mit der höchsten Würde war das des Kriegers. Der Kampf war nicht nur für Heraklit der Vater aller Dinge, sondern auch das Feld, auf dem der Mann

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allein und für die Gemeinschaft stand, die Aufgabe seines Lebens, dem ein Großteil seiner Ausbildung und seiner Mannesjahre gewidmet war. D a s Leben war nirgends so ernst wie in der Schlacht, und Schlachten und Kriegszüge machen die griechische Geschichte aus seit dem trojanischen Krieg. Der Mann stand immer irgendwo im Krieg oder an der Grenze, das Kalos-Ideal wurzelte in den Erfordernissen der Wehrfähigkeit. Der Aristokrat hatte vor allem im Kriege seine Vorzüge zu beweisen, und auch die Demokratie stand und fiel mit der Qualität ihrer Krieger. Kriegsdienst war das Selbstverständlichste, aber auch das Ehrenvollste, die Bürgerpflicht, die immer an erster Stelle stand und den direkten Weg zu Ansehen und Ruhm bedeutete. Alle Bereiche der griechischen Kunst haben sich dieses Themas bemächtigt. In der Vasenmalerei nun gehören der Krieger und das Kriegserlebnis zu den Hauptthemen. In zahllosen Darstellungen werden die Grundsituationen des Kriegerdaseins geschildert, und damit ist schon etwas Wichtiges festgestellt: Auf Grundsituationen, wie Auszug und Heimkehr, den Kampf und auch den Tod, werden die vielfältigen Fälle und Zufälle des Lebens reduziert. Früh werden sie zum festen Typus, dessen einzelne Elemente vom jeweiligen Meister in nur bedingter Freiheit kombiniert werden können. Darstellungstypen sind nichts Außergewöhnliches in der Vasenmalerei. Auch Symposion- oder Palästra-Szenen sind typisiert. Der Unterschied liegt aber im Ernst des Kriegerthemas, dem Beladensein mit der Möglichkeit des Todes. Dieser Ernst nun legt nicht nur die mythische Parallele so nahe, sondern verbietet in gewisser Weise auch das sonst so beliebte Fabulieren der Maler. Strenge und Feierlichkeit sind trotz der großen Stilunterschiede fast allen Darstellungen mehr oder minder eigen. Gerade diese Bedeutung des Themas hat in der archaischen Malerei die Grenzen zwischen mythischem und menschlichem Kampferlebnis völlig verschwinden lassen16. Im Mythos der Griechen nimmt der kämpfende Held die erste Stelle ein, und mindestens seit Homer sind auch die Götter eng in verschiedene Kampfgeschehen verwickelt, deren Episoden das unerschöpfliche Reservoir waren für alle bildenden Künstler, denen die Szene gestattete, den vorgegebenen Mythos zu gestalten und im Bilde weiterzudichten. Die mythischen Heroen waren aber gerade im K a m p f e am menschlichsten, das heißt, die Möglichkeit der Identifikation lag nirgends näher als bei diesem Thema, und so sind die mythische und die menschliche Szene dicht nebeneinander gerückt. Hektor auf der Münchener Amphora des Euthymides (Abb. 23) rüstet sich im Beisein seiner Eltern nicht anders als die namenlosen bzw. mit Alltagsnamen bezeichneten jungen Krieger auf zahlreichen Hydrien und Amphoren, die diesem Thema gewidmet sind, etwa der junge Thorykion auf einer vom gleichen Meister bemalten Amphora ebenfalls in München. Der Alltag erscheint hier in einem sehr feierlichen Spezialfall, dem Auszug des Krieges. Der Hoplit steht seit der Mitte des 6. Jh. im Mittelpunkt dieser Szenen, die damit auf die drei solonischen Schätzungsklassen zugeschnitten sind und insofern der Erlebnissphäre der wohlhabenden Polisbürger entsprachen. Gerade in die Reihen der Hopliten waren zwischen Perserkriegen und Peleponnesischem Krieg sehr viele Theten aufgestiegen. 16

Vgl. Pfuhl (wie Anm. 2) 328.

47

Die unteren Stände, die im attischen Heer als Leichtbewaffnete Dienst taten, werden zwar hin und wieder auch ins Bild gebracht, in Handlungsszenen jedoch niemals in der Repräsentativfunktion der Hauptfigur 17 . Sie stellen lediglich Staffagefiguren dar, dienen der Komplettierung der Szenen oder sind aus Interesse am orientalischen Kostüm (Abb. 24) oder barbarischem Exterieur (Abb. 25) geschildert. Beispielsweise haben die den Athenern als Polizei dienenden skythischen Bogenschützen18 immer wieder das Interesse der Maler, wie auf dem Londoner Teller Epiktets, geweckt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß trotz der großen Bedeutung, die, zumindest seit dem themistokleischen Flottenprogramm, die Schiffsbesatzungen in den attischen Kriegen hatten, diese nicht in den Themenschatz der Vasenmaler Eingang fanden 19 . Als Erklärung bietet sich an, daß vor allem Theten auf den Schiffen Dienst taten und diese wiederum kaum als Käufer der teuren bemalten Vasen in Betracht kamen. Um 500, also zur Zeit der Demokratie kleisthenischer Prägung, malte Duris die Vorbereitungen der sich rüstenden Epheben (Abb. 26). Auf dem Schalenkörper ist die ganze Unruhe des Aufbruchs ins Bild gesetzt, Details, wie Vogelbälge zum Reinigen der Lanzen, sind sorgfältig beachtet. Die Abschiedsspende, kredenzt aus der Kanne einer reich gekleideten Frau, füllt das Innenbild (Abb. 27). Nach ist sehr viel Selbstverständlichkeit in dieser Geste, die dann in der Hochklassik ausersehen wird, die ganze Schwere des Geschicks, das über Menschen kommen kann, einzuschließen. Die attische Familie, sonst selten gemeinsam auftretend, hier erscheint sie: der Vater in der Würde des Alters, verdient in der Stelle, die nun der Sohn auszufüllen hat, und die Mutter, Frau oder Schwester als Spenderin des häuslichen Segens. Die Frauen üben die Kultzeremonie, schenken die letzte Spende ein und reichen den Willkommenstrunk oder dem Sieger einen Kranz. Das Thema ist auch, als die Vasenkunst in der öffentlichen Wertschätzung abgesunken war und die großen Themen auf Wand- und Tafelmalerei beschränkt blieben, in statuarischer Strenge und Sinnbildlichkeit gestaltet (Abb. 28). Es ist nun bemerkenswert, daß im Gegensatz zu Palästra- und Symposion-Szenen den Kriegerdarstellungen weitaus seltener Namen beigeschrieben sind, die eine bestimmte Identifikation nahelegen. Das Thema des abschiednehmenden Kriegers entzog sich offenbar stärker einer Intimisierung, die durch Namensbeischriften ja immer angestrebt war. Das Allgemeingültige 20 der Vasenszene tritt nirgends so stark wie bei diesem Thema in Erscheinung. Der Krieger war von Hause aus ein reines Adelsthema. Am deutlichsten wird das, wenn der schwergewaffnete Hoplit im vom Drei- oder Viergespann gezogenen Streitwagen in die Schlacht fuhr. So fahren die Götter aus, oder sie nehmen teil an der Ausfahrt eines ihrer Lieblingshelden, aber so scheint auch der adlige Kämpfer in den Krieg gezogen zu sein, könnte man den Bildern der Hydrien, Am17

Vgl. R. Blatter, Rüstungsszenen auf einer attischen Schale, in: Antike Kunst 7, 1964, 4 8 - 5 0 .

18

Vgl. M. F. Vos, Scythian Archers in Archaic Attic Vase-Painting, Groningen 1963.

19

F. Villard (wie Anm. 3) 356 weist darauf hin, daß nach 479 v. u. Z., zur Zeit des Flottenneubaus, sich die Vasenmaler viel weniger für die Geschehnisse des täglichen Lebens interessieren.

20

48

Vgl. Sichtermann (wie Anm. 1) 42 f.

phoren und Kratere trauen, die immer wieder die Zurüstungen zur Ausfahrt eines Schwergewaffneten im Beisein der Familie, von Gefolgsleuten und dem Wagenlenker zeigen. Hinter diesem Typus, der im Rotfigurigen weniger häufig auftritt, stand nun in keiner Weise das Erlebnis der Realität. Die Kriegstechnik bediente sich im 6. und 5. Jh. längst nicht mehr des Streitwagens. Einst war der homerische Einzelkämpfer auf dem Wagen in den Kampf gezogen, und auch da kann man streiten, ob nicht zu Homers Zeiten diese Technik schon der Vergangenheit angehört hat 21 . In Wirklichkeit wurde der einachsige Wagen nur zum hippischen Agon, zum Wagenrennen, einer Domäne der Aristokratie, verwendet. Die Ausfahrt des Kriegers auf Vasenbildern ist als spezifisches Adelsthema ein gewissermaßen „archaisches" Zitat einer im Mythos wurzelnden Tradition, die sich die großen Geschlechter geschaffen hatten22. Für die meist adligen Käufer der großen Gefäße, die zur Zeit der Hochblüte der Wagenausfahrten noch sehr teuer waren, müssen diese nicht in der Wirklichkeit wurzelnden, sondern der Repräsentation ihres Standesbewußtseins dienenden Darstellungen bestimmt gewesen sein. Zugleich muß ihr langsames Wegfallen im Laufe des 5. Jahrhunderts irgendwo als Demokratisierungstendenz angesehen werden. Der Hoplit, waffenanlegend oder beim Abschied von der Familie, war ein realer Vorwurf, der trotz adliger Tradition und ausgebildeter Typisierung zum bürgerlichen Thema werden konnte, bei dem ein echter Aktualitätsbezug für die zum Teil vom Thetenstand aufgestiegenen Familien des Mittelstandes und auch der beiden oberen Klassen vorhanden war. Der Ernst des Lebens, Krieg und Kriegsdienst haben trotz oder vielleicht wegen der Nähe zum Mythos niemals so sehr die Phantasie und den Witz der attischen Vasenmaler angeregt wie zwei Themen, die in unendlicher Fülle immer wieder variiert werden: die Ausbildung der jungen Athener in Gymnasien und Palästren und die unerschöpfliche Thematik des zechenden und schwärmenden Symposiasten. Beide Themen haben ihre Blüte im letzten Viertel des 6. und im ersten Viertel des 5. Jahrhunderts. D a s Symposion hat man in eschatologischem Sinne gedeutet beziehungsweise ihm eine besondere Affinität zu mythisch-heroischer Erhöhung nachgesagt 23 . E s wird wie seine Vorbereitungen und Folgen erst zur Zeit der höchsten Blüte der attischen Vasenkunst in den Jahrzehnten um 500 zur Urbanen Gesellschaftsform, die die Vasenmaler und Töpfer als Produzenten des dazu benötigten Geschirrs zum Bildtypus ausformten. Diese Szenen zieren vor allem Trinkschalen, die in besonders prächtigen Exemplaren bei den Gelagen von Hand zu Hand gingen, beziehungsweise an den Wänden gleich Bildern aufgehängt, zu betrachten waren. Den ausgebildeten Typus 21

Vgl. J . Kromayer - G . Veith, Heerwesen und Kriegführung der Griechen und Römer, München

22

Der Typus der Wagenausfahrt wurde, wie ein Olpenpaar in Rom und London zeigt, auch

1928, 2 1 , 2 6 , 52 f. variiert: Dieses ca. 450 gemalte Gespräch zwischen einem jungen Krieger und seinem Wagenlenker vor der Ausfahrt zeigt, wie auch nicht der Wirklichkeit entnommene Themen realistisch gestaltet wurden. Obwohl die Personen namenlos sind, deutete E . v. Mercklin, Antiken des R. Museo Artistico Industriale in Rom, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 38/39, 1923/24, 96 ff. Tf. 3, 4 die Szene als mythologisch gemeinte. 23

So Effenberger (wie Anm. 1) 144.

4

Realismus

49

dieses Genres zeigt etwa die Londoner Schale des Duris (Abb. 30). Die Männer liegen auf ihren mit Kissen gepolsterten Klinen, vor sich die Speisetische, von Knaben bedient und von Hetären unterhalten. Diese Gelage waren in Athen bei allen freien Bürgern Sitte, die einen bestimmten Wohlstandsstandard erreicht hatten. Es ist unklar, ob die Symposien streng nach Ständen geschieden waren, ob beispielsweise Metoiken und Fremde zusammen mit den Vollbürgern zechten oder ob vielleicht bestimmte Berufsgruppen sich zusammen vergnügten. Die Namensbeischriften auf den Symposionsdarstellungen sind nur selten aufschließbar, so daß man über die gesellschaftliche Stellung der benannten Personen kaum etwas Genaues weiß. Auf dem berühmten Bnüsseler Stamnos des Smikros (Abb. 31) bildet sich dieser selbst als Symposiast ab und liefert damit das einzige uns erhaltene Selbstporträt eines Malers, wie es Beazley24 formuliert hat. Auf einem Krater in München hat Euphronios 25 den Namen des Smikros ebenfalls einem Symposiasten beigeschrieben, ein weiterer Hinweis auf die Teilnahme des zu seiner Zeit höchstwahrscheinlich stadtbekannten Malers am Gelage, der Vergnügung mit adliger Tradition. Auch der Toast für Euthymides auf der Münchener Hydria des Phintias könnte als weiteres Zeugnis des sozialen Selbstbewußtseins der Vasenkünstler gelten26. Die Zecher boten nun Gelegenheit zu den schönsten Einzelbeobachtungen der Maler, die oft eine naturalistische Derbheit besitzen, die nur gezielte Karikaturen haben können, wie beispielsweise der in eine Kanne Pissende des Epiktet (Abb. 32) oder die sich Erbrechenden, sowie auch ein sich hemmungslos Entleerender nur als schokkierender Spaß für die Benutzer der Schale27 gedacht waren. Nicht alle Darstellungen besitzen diese Drastik, fast allen aber eignet eine große Suggestivkraft, die teils durch redende Beischriften28, wie Liedanfänge, die dem Mund des Singenden entströmen, oder Ausrufe wie „ich kann nicht mehr" oder „trinke auch Du und sei gegrüßt" aufgehöht werden. Die Hetäre als Gefährtin bei Gelagen und Umzügen oder selbst als Symposiastin wie auf dem Psykter des Euphronios (Abb. 33) teilt sich mit den Knaben, den 24

J. D . Beazley, Potter and Painter in Ancient Athens, London 1946, 19 Tf. 1, 4 ; Arias-Hirmer (wie Anm. 1) 1 0 5 - 1 0 7 ; A. Greifenhagen, Smikros, Lieblingsinschrift und Meistersignatur, in: Jahrbuch der Berliner Museen 9, 1967, 3 - 2 5 ; ders. Neuerwerbungen der Staatlichen Museen Berlin: Rotfigurige Vasen, in: D i e griechische Vase (wie Anm. 4) 452 f.; Hanna Philipp, Tektonon Daidala, Der bildende Künstler im vorplatonischen Schrifttum, Phil. Diss., Berlin 1968, 96.

25

Vgl. Emily Vermeule, Fragments of a Symposion by Euphronios, in: Antike Kunst 8, 1965, 34 ff. Taf. 11; 12, 1; 13, 1 ; Greifenhagen, in: Die griechische Vase (wie Anm. 4) 453.

36

München 2421:KaXoi cot, revSi Eu&ufJuSei. Vgl. G. M. A. Richter, Attic Red-Figured Vases, A Survey, N e w Häven 1946, 15.

27

Zum Beispiel: D i e rotfigurige Schale in Brüssel, Musées Royaux d'Art et d Histoire; Corpus Vasorum Antiquorum III, I c Pl. 20, 4.

28

P. Kretschmer, D i e griechischen Vaseninschriften ihrer Sprache nach untersucht, Gütersloh 1894, 82 f. ; Walters (wie Anm. 8) 236 ff. ; 261 ff. ; J. D . Beazley, Some Inscriptions on Vases, in : American Journal of Archaeology 2. Ser. 31, 1927, 3 4 5 - 3 5 3 ; D . M. Robinson - E. J. Fluck, A Study of the Greek Love-Names, Baltimore 1937, 31 f.; Richter (wie Anm. 26) 15; dies., Handbuch der griechischen Kunst, Köln 1966, 369 f.

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Paidika, in ein Nachbarthema der Gelage, in die öffentliche Liebe. Es ist hier unmöglich, die vielen Liebeswerbungen und Unterhaltungen oder gar die derb-erotischen Szenen vorzuführen, die allerdings so ganz in den griechischen Alltag, d. h. zum Selbstverständlichen des Lebens gehörten; für dieses interessante Genre sei lediglich die Berliner Schale des Peithinos (Abb. 34) ausgewählt, der so programmatisch die Frage nach homo- bzw. heterosexueller Liebe stellte und sich - so scheint es - doch stärker zur Knabenliebe hingezogen fühlte, war doch die Päderastie sozial niemals so degradiert, einfach, weil es keine institutionelle Prostitution von Knaben gab, ja sogar von Solon erlassene Gesetze Verstöße streng ahndeten, wie auch diese Art der Liebe nur Freien vorbehalten blieb 29 . Die Namensbeischriften zu Zechern und Komasten haben zwar zum Teil nur redenden Sinn wie beispielsweise der Name Komarchos 30 , häufiger sind es jedoch, wie die Lieblingsnamen, in Athen gebräuchliche Rufnamen; sie erlauben im Verein mit den teilweise frappierenden Versuchen der Vasenmaler nach Individualisierung 31 den Schluß, daß diese Gefäße und ihre Bilder ganz eindeutig auf die attische Gesellschaft, denen Bild und Namen etwas zu sagen vermochten, bezogen waren. Die Verwendung vieler Stücke für den Export hat sich nicht im Bildprogramm der Vasenmaler niedergeschlagen. 32 Waren Symposion und Liebe vor allem Sache der Männer, so füllen die attischen Knaben und Jünglinge die Bilder eines Themas, das besser als Symposion und Komos geeignet war zu direkter Aufnahme und Formulierung von Leitbildern: wir meinen die Szenen aus Palästra, Gymnasion und Reitbahn. Die führenden Maler machten sich zu Chronisten der Athleten, ihrer Übungen, Körperpflege und Unterhaltung. Die Vorgänge in der Palästra interessierten die ganze Stadt, die Jünglinge und ihre Trainer kannte man, sie waren es, die im großen Aufgebot zu den panhellenischen Festspielen reisten, um die Ehre der Polis und auch die ihrer Familie zu repräsentieren. Sie waren die Hoffnung und der Stolz der Väter, die die Polis regierten, aber auch der einfache Mann konnte sich mit dem auf Körpertüchtigkeit ausgerichteten Ideal voll identifizieren. In den Ausbildungsstätten, die, teils öffentlich, teils im Besitze von Berufspaidotriben waren, konnte sich der Sohn wohlhabender Eltern präsentieren. Allerdings scheint es Beschränkungen für Metoiken und Fremde gegeben zu haben. Die Übungen zum Pentathlon gehören zu den beliebtesten Sujets, und auch die Atmosphäre in der Palästra bemüht man sich, in der Schilderung vieler Zufälligkeiten 29

Vgl. Aisch. Timarch. 1 9 ; Robinson-Fluck

(wie Anm. 28)

14, 2 4 f., 3 9 ; K .

Schauenburg,

Erastes und Eromenos auf einer Schale des Sokles, in: Archäologischer Anzeiger 1 9 6 5 , 8 4 9 - 8 6 7 ; Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2 1 . Hbd. ( 1 9 2 1 ) s. v. Knabenliebe 9 0 1 f. (W. Kroll). 30 31

Vgl. Kretschmer (wie Anm. 28) 8 4 f . ; Walters (wie Anm. 8) 2 6 0 ; Pfuhl (wie Anm. 2) 4 3 8 . Pfuhl (wie Anm. 2) 3 6 4 weist darauf hin, daß Brygos aus dem edlen Grundtypus durch leichte Verschiebungen einen ordinären Zechkumpanen gemacht hat.

32

Anders Langlotz (wie Anm. 4) 4 1 2 ; F. Villard (wie Anm. 3) 3 0 8 : Die Werkstatt des Nikosthenes sei auf den etruskischen Export ausgerichtet gewesen. Vgl. auch R. M. Cook, Die Bedeutung der bemalten Keramik für den griechischen Handel, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 74, 1 9 5 9 , 1 1 6 ; ders. (wie Anm. 3) 2 7 3 .

4*

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und Details zu vermitteln. Die verschiedenen Disziplinen füllen die Schaleninnenbilder, die Wände von Krateren und Amphoren und geben uns eine deutliche Vorstellung von der antiken Athletik. Aber nicht nur die Disziplinen füllen die Gefäßbilder, sie zeigen die Knaben sich auskleidend, waschend, salbend und schwatzend in Pausengesprächen, und Bilder von den Siegeszeremonien erzählen unermüdlich vom Alltag und Festtag der attischen Jugend. Und sie ist nicht namenlos. Athleten, Trainern und Flötenspielern sind Namen beigeschrieben, die nicht anders als auf die Bildfiguren bezogen sein können. Da mehrere dieser Namen und Personen von verschiedenen Meistern verwendet werden, wird es sich um stadtbekannte Leute gehandelt haben, über die man, angeregt durch ein Vasenbild, gemeinsam sehr gut sprechen, vielleicht auch klatschen konnte. Außer den einfachen Namensbeischriften, die kaum anders als Identifikationsgebot 33 gemeint sein können, erscheinen seit der Mitte des 6. Jh. bis ins dritte Viertel dei 5. Jh. die sog. Lieblingsnamen auf den attischen Vasen: einem Namen ist kalos beigefügt, manchmal durch vaijrt, oder x a p x a verstärkt oder allgemein 6 roxi

Z. Milea (wie Anm. 3), S. 5 7 8 .

75

in dieser Form nicht mehr anzutreffen ist, sondern vielmehr in die trajanisch-hadrianische Zeit zurückverweist. Eine solche Datierung legen auch die Einzelformen nahe, etwa der Gesichtsbau und der Auftrag der plastischen Substanz, die auf den späteren Gestaltungsstufen schon des 2. Jh. u. Z. an Dichte und Geschlossenheit verlieren. Andererseits unterscheidet sich unsere Statuette von der organischer durchstrukturierten Gestaltungsauf fassang des Klassizismus der frühen Kaiserzeit. Auf Vergleichsbeispiele, um diese Unterschiede zu verdeutlichen, will ich hier verzichten. Der Mars von Potaissa erweist sich somit als eine Schöpfung der mittleren Kaiserzeit, vermutlich jener Jahrzehnte, die durch das Regnum der Kaiser Trajan und Hadrian geprägt wurden. Allerdings ist damit die Frage nach dem Prototyp unserer Statuette noch nicht beantwortet; denn es steht wohl außer Zweifel, daß das durch die Bronzestatuette bezeugte Bildnis des Kriegsgottes keine reine Erfindung des 2. Jh. v. u. Z. sein dürfte. Ihr liegt ein Prototyp zugrunde, dessen Ursprünge in früherer Zeit gesucht werden müssen. Die klassizistischen Züge der Statuette lassen dabei an die augusteische Periode denken, in der die Rezeption der Götterbilder von klassischen und klassizistischen Vorbildern griechischer Prägung nachhaltig beeinflußt worden ist. Als ein einprägsames Beispiel dafür, das unlängst der Forschung zugänglich geworden ist, sei die großartige Statuette der Victoria von Akasztö-Döbrögecpuszta genannt, die im Budapester National-Museum aufbewahrt wird. E. B. Thomas hat in ihr die Reproduktion eines in der frühen Kaiserzeit standardisierten Victoriabildes entdeckt 13 , jener Zeit also, in der wir auch den Nährboden des Prototyps unserer Statuette zu suchen haben. Darauf deuten an dem Mars von Potaissa vor allem das in der Balance verharrende Standmotiv sowie die dazu in Einklang gebrachte Armhaltung, zwei Momente, die kunstvoll ineinander verflochten und aufeinander abgestimmt sind. Wiederum kommt das in der Vorderansicht besonders deutlich zum Ausdruck, in der die Ausgewogenheit der oberen Körperpartie besonders in die Augen fällt. Zugleich gibt dieser oder ein ähnlicher Blickwinkel die nicht geringe Drehung der Figur in den Raum zu erkennen, ein Merkmal, das jener Verräumlichungstendenz zugeschrieben werden muß, die seit dem Hochhellenismus in der griechischen Kunst Epoche gemacht hat und an deren Errungenschaften die römische Kunst trotz des häufig dominierenden klassizistischen Auswahlprinzips nachweislich angeknüpft hat. Halten wir in den voraufgehenden Jahrhunderten nach ähnlichen Bewegungsmotiven, wie sie der Mars von Potaissa darbietet, Umschau, so können wir allenfalls bis in die zweite Hälfte des 4. Jh. v. u. Z. zurückgehen, einer Zeit also, in der sich die Öffnung der freiplastischen Gestalten in den umgebenden Raum künstlerisch durchzusetzen beginnt. Diese Öffnung vollzog sich jedoch vorwiegend nur in einer Richtung. Dabei werden die in dieser Richtung verlaufenden Bewegungsimpulse meist durch gegenläufige Bewegungsansätze geschickt abgefangen und im Sinne nachklassischen Gestaltens aufgehoben. Das kann z. B. an Figuren wie dem Apollon vom Belvedere 14 13

Cumania I : Archeologia. Kecskemet 1 9 7 2 , S. 57 ff. Abb. 2 - 1 4 .

14

L. Alscher, Griechische Plastik III: Nachklassik u. Vorhellenismus.

Berlin

1956,

S. 1 0 1 ff.

Abb. 3 5 a. G. Zinserling, Abriß der griechischen und römischen Kunst. Leipzig 1 9 7 0 , S. 2 1 1 ff. Abb. 1 2 1 .

76

veranschaulicht werden. Der den Bogen haltende linke Arm des Gottes stößt in die durch Kopfdrehung und Blickrichtung vertiefte Raumflucht zu seiner Linken vor, während Beinstellung und rechter Arm diesen Vorstoß ablenken und eindämmen. Viel nachhaltiger entlädt sich die Aktion der Bronzestatuette des Mars konzentriert in die e i n e Richtung zu seiner Linken hin. Armhaltung und Beinstellung, Kopf- und Rumpfdrehung betonen diese Aktionseinheit, die allenfalls durch das leicht wippende Auftreten des Gottes etwas gemildert wird. Das sind Unterschiede gegenüber Beispielen wie dem Apollon vom Belvedere, die eine festere Verankerung des gesuchten Prototyps unserer Marsstatuette im 4. Jh. v. u. Z. verbieten. Ein solcher Prototyp müßte, wenn seine Anfänge bzw. seine Vorläufer bis ins 4. Jh. v. u. Z. zurückreichen, starken Veränderungen unterlegen haben, um einen glaubhaften Ausgangspunkt des Aufbaus und des Motivs der Marsstatuette abzugeben. Der Prozeß solcher Wandlungen führt uns wiederum in die hellenistischen Jahrhunderte hinab. Bringen wir außerdem das bereits angedeutete Moment der Körperdrehung des Mars voll in Anschlag, so gelangen wir mit der Bestimmung des Prototyps in den späten Hellenismus bzw. in die frühe Kaiserzeit. Hier dürfen wir - wie bei der Victoriastatuette von Akasztö-Döbrögecpuszta - die Schaffung eines Monumentalwerks vermuten, das zumindest bis in die mittlere Kaiserzeit nachgewirkt zu haben scheint, wie unsere Marsstatuette bezeugt. 4. Stellen wir bei unserer Statuette die Frage nach dem Realismusgehalt, so bedarf der Versuch einer Antwort auf diese schwierige Frage einer Vorüberlegung grundsätzlicher Art. Ohne die Breite der Realismusdebatte referieren zu wollen, sei nur so viel bemerkt, daß die angedeutete Fragestellung bei unserer Statuette nur sinnvoll sein kann, wenn wir vor allem nach der gesellschaftlichen Repräsentanz, weniger nach der individuellen Eingrenzung des Menschenbildes, in unserem Falle des Götterbildes, das in der Antike stets aufs engste mit dem allgemeinen Menschenbild verknüpft war, fragen. Die Statuette des Mars verkörpert einen gesellschaftlichen Sachverhalt, der weniger nach seiner individuellen Realisierung als vielmehr nach seinem allgemein verbindlichen Charakter, seiner Leitbildfunktion untersucht werden muß, damit wir zu einer Auskunft über den realistischen Bedeutungsgehalt gelangen. Das Götterbild der römischen Kaiserzeit ist ähnlich dem der Griechen aufs engste mit dem allgemeinen Menschenbild als Ausdruck gesellschaftlicher Forderung und Wirklichkeit verknüpft. Die in ihm verkörperten Gesellschaftsnormen haben Leitbildcharakter, sind ideologiehaltig; sie spiegeln den Prozeß der Integration des Individuums, der Gruppen und Klassen in der Gesellschaft wider. Befragen wir Götterbilder nach ihrem Realismusgehalt, so empfiehlt sich, die Ebene solcher Prozeßstrukturen aufzusuchen, die das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, von Götter- und Menschenbild, von Ideal und Wirklichkeit verdeutlichen helfen; denn gerade auf dieser Ebene werden wir auf eine ganze Reihe von ideologiebildenden Faktoren stoßen, die die Beantwortung der aufgeworfenen Frage erleichtern dürften. 77

5. Die Bronzestatuette des Mars von Potaissa vergegenwärtigt den Kriegsgott in idealer Nacktheit. Bis auf den schön geschmückten Helm entbehrt er der Ausrüstung, die für viele Marsbilder kaiserzeitlicher Prägung typisch ist. Dieses Fehlen von Panzer und Beinschienen, anderen Kleidungsstücken und Rüstungsteilen verleiht ihm jenen Zug kriegerischer Schönheit, in der sich die brutale Kriegsgewalt zu überlegener kämpferischer Gebärde mäßigt, der noch etwas vom griechischen Erbe der „theoi rheia zöontes" 15 - wenn auch verkümmert - anzuhaften scheint. Andererseits wohnten dem Gotte jene Aktivität und Rastlosigkeit, jene Energie und Unnachgiebigkeit inne, Qualitäten, in denen wir die Verkörperung des langerprobten, bewährten römischen Kriegswesens wiedererkennen, das dem Imperium als seine eigentliche Stütze so viele Erfolge und Siege gebracht hatte, offensiv jedenfalls bis zu jener Zeit, die wir als die Entstehungszeit der Statuette von Potaissa vermutet hatten. Neben diesem Typus des kämpfenden Mars gibt es eine große Zahl der in repräsentativer Pose verharrenden Standbilder des Kriegsgottes. Als Beispiel sei nochmals die Marsstatuette aus Neumagen in Erinnerung gebracht 16 . Dieser Figurentypus zeigt den Kriegsgott in fast selbstfeierlich verharrender Stellung, ein Motiv, das seit der späten Republik bis in die mittlere und spätere Kaiserzeit nachweisbar ist. Dieser Typ hat offenbar eine weitere Verbreitung gefunden als der Typ, der unserer Statuette aus Potaissa zugrunde liegt. Ersterer hat im Laufe der Jahrhunderte aufschlußreiche Wandlungen hinsichtlich des Bedeutungsgehaltes durchgemacht. Die Neumagener Statuette bezeichnet dabei die mittlere Phase, die noch von der klassizistischen Ponderation zu zehren scheint, deren Ursprünge wir gleichfalls, nach Ausweis von Münzen 17 , in der spätrepublikanisch-frührömischen Kaiserzeit zu suchen haben. Von dort kann die typologische Reihe auch noch weiter zurückverfolgt werden. 18 Demgegenüber beansprucht die Marsstatuette von Potaissa ein entschieden höheres M a ß an Bewegungsintensität und gezielter Aktivität, Merkmale, die das kriegerische Wesen dieses Gottes als Inbegriff römischer Kampfauffassung und imperialer Kriegsführung zu verdeutlichen scheinen und sich in einem gewissen Zusammenhang mit der militärischen Situation des römischen Imperiums im 2. Jh. u. Z., speziell in trajanischhadrianischer Zeit, begreifen lassen. Damals hatte die Expansion der römischen Kriegsmaschine ihre äußerste Grenze erreicht, und das Leistungsvermögen des römischen Heeres war, etwa in den schweren Dakerkriegen Trajans oder bei seinen Operationen im Zweistromland, die zur kurzweiligen Herausbildung der Provinzen Armenia, Mesopotamia, Assyria führten, voll ausgeschöpft worden. Freilich sind es nicht nur militärpolitische Gründe gewesen, die in der Folgezeit militärisch zur Stagnation und zunehmend zur Defensive des Imperiums geführt haben. 15 16

S. G. Rodenwaldt, in: Abhandlungen d. Preuß. A k . d. Wiss. Jg. 1 9 4 3 , Phil.-hist. Klasse Nr. 13. Menzel (wie Anm. 7) Taf. 6 - 8 , Nr. 1 2 .

17

Vgl. Neugebauer (wie Anm. 9) 2 3 4 ff. Taf. 23,2.

18

D e r Prototyp dieses Standmotivs wird stilistisch spätestens in der 1. Hälfte des 4. Jhs v . u . Z . begründet worden sein, vgl. die Darstellung der allgemeinen Stilentwicklung z. B. bei Alscher (wie Anm 1 4 ) S. 2 2 ff.

78

6. Der Mars von Potaissa scheint diesen Gipfelpunkt imperialer Machtentfaltung zu bezeichnen. Die ideale Gesichtsbildung und Körpergestaltung deutet auf einen Prozeß der Verallgemeinerung, der in mehrfacher Hinsicht äußerst aufschlußreich ist. Einmal wird hier das seit Beginn der Kaiserzeit programmatisch erschlossene Erbe griechischer Idealität weitergeführt. Der Anspruch des Imperiums und seiner Führungsschicht auf die Fortsetzung und Bewährung des republikanischen Prinzips mit monarchischer Staatsspitze konnte künstlerisch keine geeignetere Ausdrucksform finden als diese von der griechischen Polisentwicklung her begründete, im Hellenismus der zunehmenden Individualisierung erschlossene Idealgestaltung. Sie hatte sich in augusteischer Zeit umfunktionieren lassen und war von nicht geringer stilbildender Bedeutung für die Folgezeit gewesen, besonders in jenen Epochen, die wir stark verallgemeinernd als klassizistisch bezeichnen. Das gilt auch und zunächst für die Entstehungszeit unserer Statuette in der ersten Hälfte des 2. Jh u. Z. Als gesellschaftliche Voraussetzung trug dazu nicht nur die Restaurierung des Prinzipats in trajanischer Zeit, sondern auch die Griechenfreundlichkeit des Kaisers Hadrian wesentlich mit bei. Am augenfälligsten wird dieser Prozeß der Verallgemeinerung an dem Zurücktreten jener Gestaltungsmerkmale, die aufs engste mit der sonst so nachdrücklich stilbildenden Ikonographie des Kaiserporträts verbunden sind. Alle diese Züge scheinen um auf unsere Statuette zurückzukommen - aus dem Antlitz des Kriegsgottes verbannt zugunsten einer Normativität, der sich auch das Staatsoberhaupt zu beugen scheint und das bei einer Kaiserpersönlichkeit - wenn wir etwa an Trajan denken die wie kaum eine andere die Strapazen des Krieges auf sich genommen und der wahrhaftige Kriegsgott der Truppe gewesen sein mag, doppelt zu wiegen scheint. Denkmäler wie die Trajansäule bezeugen das ausführlich. Es ist kein Zufall, daß Kaiser Trajan als Optimus Prinzeps tituliert wurde, als der Erneuerer eines Führungsprinzips, das Augustus begründet, jedoch seine Nachfolger veruntreut hatten. Hier liegen die Wurzeln jenes Klassizismus, dem auch unsere Statuette ihre Idealität zu verdanken hat. Wenn wir diese Idealität in der angedeuteten Weise zu begründen versuchen, überfordern wir die Marsstatuette hinsichtlich der Möglichkeit diffizilerer Durchgestaltung wohl kaum, wollen aber bei einer solchen Analyse gerechterweise daran erinnern, daß der Berücksichtigung der Kaiserikonographie in der Kleinkunst natürlich Grenzen gesetzt waren. Welche Annäherungswerte bei der Einbettung individueller Züge dennoch erreicht wurden, kann die Statuette eines Mars im Britischen Museum 19 veranschaulichen, ohne daß diese Züge hier näher ausgedeutet werden sollen. Eines jedoch machen die Gesichts-, besonders die Augenbildung dieser Statuette sofort deutlich, nämlich daß sie aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. u. Z. stammt, also aus einer Zeit frühestens, in der unsere Marsstatuette nach Potaissa gelangt sein wird. Vielleicht befand sich unsere 10

J. M. C. Toynbee, Art in Roman Britain. London 1963 2 , S. 131, Nr. 16, Taf. 19.

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Statuette im Besitz eines Offiziers, wie Z. Milea vermutet 20 , und verkörperte den Glanz und den Erfolg des römischen Heeres, die möglicherweise nicht mehr als ganz zeitgemäß empfunden und deshalb um so mehr geschätzt wurden, in einer Zeit, in der die militärische Grenzsicherung des Imperiums - erinnert sei nur an die langwierigen Markomannenkriege Marc Aurels - ein immer schwerer zu lösendes Problem darstellte. Eben aus diesem Grunde wurde damals auch die Legio V Macedonica zur Verstärkung der Nordgrenze Dakiens nach Potaissa verlegt, eine Truppenverschiebung, der wir offenbar die viel westlicher oder aber südlicher entstandene Bronzestatuette des Mars in Turda zu verdanken haben. Dabei verdient die südliche Variante insofern besondere Beachtung, als die V Macedonica vormals in Troesmis saß, einem geographischen Punkt, der den östlichen Kunstzentren um vieles näher lag als den westlichen 21 . 7. Indem wir der Marsstatuette dieses M a ß gesellschaftlicher Repräsentanz zugestehen oder - anders gesprochen - ein solches M a ß von Realismusgehalt zuerkennen, bleiben wir uns bewußt, daß damit vor allem ein Moment der allgemeinen Imperiumslage angesprochen wird, das als komplexes Merkmal, gleichsam als Strukturelement, auch den anderen Kunstgattungen mutatis mutandis abzulesen ist. Das gilt in erster Reihe für die Römerporträts, die den Prozeß der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft, vermittelt durch die verschiedenen Formen der Kollektivund Gruppenbindungen, zur vollen Evidenz bringen. Damit sind alle jene Gestaltungsmerkmale gemeint, die sich nicht in der Physiognomie etwa der Kaiserbildnisse erschöpfen, sondern über die ikonographische Konstanz derselben hinausführen und allgemein zeitgenössische bzw. epochale Sachverhalte ausdrücken. Dabei handelt es sich keineswegs nur um jene Momente, die idealisierend von der Individualität des Dargestellten hinwegführen, sondern umfassender um ein System allgemeiner Züge und Merkmale, in das diese Individualität eingebettet erscheint. Würden wir nun hier eine Trennung zwischen Individualporträt einerseits und Idealporträt bzw. allgemeinem Zeitporträt andererseits durchführen und herkömmlich nur dem ersteren Realismusgehalt zubilligen, so müßten wir allerdings alles das, was wir als realistisch an unserer Statuette erkannt hatten, in Abrede stellen. Doch würde eine solche schematisierende Betrachtung unweigerlich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Konflikt geraten, da sie deren Normen- und Idealbildungen zu erkennen sowie deren Leitbildfunktion zu ermitteln auch nicht annähernd in der Lage wäre. Gerade in der römischen Kunst will das Spannungsverhältnis zwischen Einzelwesen und Gesellschaft, zwischen Individuum und Zeitgefüge, so wie es in den Bildwerken

20

(Wie Anm. 3) S. 5 7 8 .

21

Trotz dieses geographischen Sachverhalts will bedacht sein, daß selbst die Stützpunkte an der unteren Donau noch stark im Ausstrahlungsbereich der westlichen Provinzen lagen (diesen Hinweis verdanke ich Herrn AI. Suceveanu, Bukarest), so daß selbst bei der möglichen Herkunft unserer Statuette aus diesem Bereich westliche Provenienz nicht ausgeschlossen ist.

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seinen künstlerischen Niederschlag gefunden hat, voll beachtet und künstlerisch aufgeschlossen werden. So gesehen, sei der in aller Kürze angedeutete Realismusgehalt der Bronzestatuette des Mars von Potaissa zur Diskussion gestellt.

A b b i l d u n g s v e r z e i c h n i s

und

- n a c h w e i s

A b b . 60.

M a r s von T u r d a . Rechte Schrägansicht.

Abb. 61.

Schräge Rückansicht.

A b b . 62.

Vorderansicht.

Abb. 63.

Leichte rechtsschräge Ansicht.

Abb. 64.

Oberpartie. (nach F o t o W . Schindler)

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ARNE EFFENBERGER

Gibt es einen Realismus in der koptischen Kunst? Die koptische Kunst, das heißt die von der allgemeinen spätantiken und frühbyzantinischen Kunst klar geschiedene ägyptische Volkskunst, hat in der allmählichen Entfaltung eigener Formkräfte das spätantik-hellenistische Erbe teils aufgegeben, teils sich anverwandelt. Überblickt man die koptische Kunst insgesamt, so könnte man geneigt sein, eine größere Anzahl ihrer Produkte „realistisch" zu nennen. Diese Kennzeichnung würde vor allem solche Werke treffen, die noch mehr oder weniger stark in einer von der alexandrinischen Kunst bis weit in die Spätantike hinein bewahrten hellenistischen Tradition stehen. Je nachdem, in welchem Maße koptische Werke thematisch und formal an diesem überlieferten Realismus zu partizipieren scheinen, würde man gefühlsmäßig eine Auswahl treffen. Dieser Gruppe könnte man im Vergleich zu einer anderen und weit größeren Anzahl koptischer Kunstwerke aller überlieferter Gattungen wie Skulptur, Malerei und Textilkunst das Prädikat „noch realistisch" zuerkennen. Die andere Richtung würde man hingegen, je nach der ästhetischen Position des Betrachters, abstrakt, provinziell, volkskunsthaft, primitiv oder barbarisch nennen. Beide Gruppen lassen sich vom späteren 3. bis zum ausgehenden 7. Jh. verfolgen, so daß ihre Unterscheidung zunächst durchaus etwas für sich zu haben scheint. Sieht man jedoch genauer hin und verfolgt gerade die stilistische Entwicklung der koptischen Kunst, so wird man doch feststellen müssen, daß diese ihrem innersten Wesen nach eher danach drängte, die ererbten Überreste des spätantiken Realismus allmählich wieder auszuscheiden. Haben also der koptischen Kunst eigene realistische Tendenzen demnach völlig gefehlt? W a r es der oft beschworene Gegensatz zwischen dem griechischen und dem ägyptischen Bevölkerungsanteil, der in Ägypten den radikalen Bruch mit dem antiken Formenerbe herbeigeführt hat? Die Frage nach dem Verhältnis der koptischen Künstler zu der in den sinnlich wahrnehmbaren Formen der Umwelt oder der bereits überlieferten Bildtypen enthaltenen Wirklichkeit sollte man besser nicht aus der Sicht des nachgelassenen spätantiken Formenschatzes beantworten. In einigen Gattungen der koptischen Kunst kann man nämlich die interessante Beobachtung machen, daß der scheinbare Primitivismus der Formen mit einer Verkomplizierung der Technik einhergeht. Dies ist zum Beispiel bei den späten koptischen Stoffen der Fall, wo die oft bis zur Unkenntlichkeit übertriebene Auflösung der natürlichen Erscheinung von einer raffinierten Ausnutzung bestimmter webtechnischer Besonderheiten bestimmt wird. Bei anderen Werken wie6*

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der ist zwar auch die technische Ausführung eher primitiv zu nennen, doch überrascht dann eine um so eindrucksvollere Steigerung des Symbolischen. Diese interessanten Eigentümlichkeiten der koptischen Kunst seien zunächst an einigen Werken aufgezeigt. Aus der Gruppe eines im Fajum besonders beliebten Typs von Grabstelen wählen wir zunächst drei Beispiele aus. Ein vorzüglich erhaltenes und bereits christliches Stück in Moskau zeigt eine Matrone in der immer wiederkehrenden Haltung der „Orans" unter einer Rundbogenarchitektur 1 . Ihre stilistische Verwandtschaft mit einer Gruppe von Kalksteinskulpturen aus Schech Abade (Antinoe) spricht für eine Datierung in die zweite Hälfte des 4. Jh. 2 . Von hellenistischem Formempfinden zeugt hier noch die organische Bildung von Körper und Gewand, vor allem aber die noch sicher beherrschte Ponderation. Der beginnende Koptisierungsprozeß hingegen läßt sich nicht nur in der Aneignung und Verchristlichung dieses Bildtyps, sondern vornehmlich in der beginnenden Überproportionierung des Kopfes gegenüber dem Körper und der Augen gegenüber den übrigen Gesichtsteilen feststellen. Die Stele einer koptischen Christin namens Theodora in der Berliner Sammlung gehört bereits dem fortgeschrittenen 6. Jh. an 3 . Ihr Stil ist gekennzeichnet durch eine fast gleichwertige Zusammenstellung der verschiedenen Bildbestandteile - Orans, Muschel, Rahmenarchitektur, Kreuze, Tauben, Akroterpalmetten und tabula ansata - , weiterhin durch eine Reduktion des plastischen Volumens, durch einen scharfen und harten Schnitt in der Ausführung aller Teile, durch kantige Modellierungen und endlich durch eine unorganische, auf symbolische Ausdruckswerte drängende Wiedergabe der menschlichen Gestalt, insbesondere des Gesichtes mit den großen und starren Augen. Diese Entwicklungstendenz hat in einem auf das Jahr 703 fest datierten Grabrelief in Berlin ihren inneren Abschluß gefunden 4 . Hier ist die gesamte Darstellung nurmehr noch von der Vorderfläche des Steines aus konzipiert worden, und allein durch die Vertiefung des „Grundes" tritt die Gestalt scheinbar plastisch hervor. Konsequent wird daher auf Grabstelen des 8. und 9. Jh. die ursprüngliche Vorderfläche durch einen harten Schnitt der Konturen bei weitestgehendem Verlust jeglicher Modellierungen erhalten. Als Beispiele sei auf ein Relief der Berliner Sammlung 5 und eine Stele aus E d f u (?) im Britischen Museum 6 verwiesen. In diese klare Entwicklung wollen sich nun einige andere Werke scheinbar nicht einfügen. D a s bekannte Grabrelief der koptischen Christin Rhodia, das sich ebenfalls in 1

Abgebildet bei K . Wessel, Koptische Kunst. D i e Spätantike in Ägypten, Recklinghausen 1963, S. 12 Abb. 3.

3

Vgl. aus der Gruppe der Isismysten das Exemplar in München, Ägyptische Staatssammlung Inv. 4 8 6 0 : H. W. Müller, Pantheon 18, 1960, S. 267 ff., F a r b t a f e l ; ferner die Grabstele eines Jünglings ehem. Sammlung Esch/Duisburg, abgebildet ebd. S. 269 f. Abb. 4 (aus Antinoe).

3

Inv. 4 7 2 3 : O.Wulff, Altchristliche und byzantinische Kunst, Bd. 1,Berlin 1914, S. 143, Abb. 132.

4

Inv. 4 4 7 7 : D o r a Zuntz, Mitteilungen des Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde

5

Inv. 10 786, aus G i z e : Wessel (wie Anm. 1) S. 110 Abb. 79. Abgebildet bei Wessel ebd. S. 116 Abb. 85.

in Kairo 2, 1932, Taf. IV c. (J

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Berlin befindet 7 , kann nach seiner plastischen Struktur nur in das ausgehende 4. oder beginnende 5. Jh. datiert werden. Die zunächst ganz und gar primitiv anmutende Gestalt scheint einer annähernden Gleichzeitigkeit mit der Matrone in Moskau zu widersprechen. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch die außerordentlich sorgfältige Durchbildung der architektonischen Rahmung auf. Unfähigkeit des Steinmetzen kann man also kaum für die eigentümlich abstrakte Bildung der Orans verantwortlich machen. Weiterhin bemerkt man an der Rhodia eine geradezu penible Vollständigkeit in der Wiedergabe aller Einzelheiten: am Gewand fehlen nicht einmal die bis zum Saum des Chitons hinabreichenden Claven! In dieser radikalen Verfremdung des Oransbildes muß also eine deutliche Absicht walten, die kaum mit einer antihellenistischen Gesinnung des Steinmetzen begründet werden kann. Sie ist vielmehr Ausdruck eines Bestrebens, durch Vernachlässigung des Leiblichen die Identität des Bildes mit der irdischen Wirklichkeit zu durchbrechen, um zu einer höheren geistigen Wirklichkeit vorzudringen, von der aus erst alle Formen ihre eigentliche Wesensbestimmung erfahren haben. Dieser in der koptischen Kunst mehr oder minder wirksame Einfluß einer im geistigen Bewußtsein produzierten Vorstellung von einer höheren und urbildlichen Wirklichkeit bestimmte auch die jeweilige Anschauung der sinnfälligen Realitäten, soweit ein Künstler unter solchen Voraussetzungen überhaupt noch einer konkreten Anschauung bedurfte. Zwei Werke der Berliner Sammlung mögen dieses interessante Phänomen beleuchten. W i e das Grabrelief der Rhodia, so scheint sich auch die Stele des Apa Schenute, des berühmten Gründers des Weißen Klosters bei Sohag, nicht recht in die aufgezeigte Entwicklung der Grabreliefs zu fügen 7 . Da Schenute 451 starb, kann die Stele kaum später als in der zweiten Hälfte des 5. Jh. entstanden sein, ist also mindestens drei Generationen älter als das Theodora-Relief. Mutet dieses vergleichsweise auch „realistischer" an, so bedeutet diese Kennzeichnung tatsächlich doch nichts für den Charakter und die künstlerische Eigenart des Schenute-Reliefs. Die riesige Gestalt des Abtes scheint die wieder viel sorgfältiger ausgeführte Rahmenarchitektur fast zu sprengen. Schenute steht streng frontal, angetan mit dem gegürteten weiten Mönchsmantel, das Haar zur Tonsur geschoren, und umfaßt mit der Rechten einen Stab, das Zeichen seiner Abtswürde, während die Linke in einer fast herrscherlichen Weise in das Pallium greift. Die nur schematische, nach Körperlosigkeit strebende Zeichnung der Einzelheiten, die Betonung des mönchischen Habitus und der Abtswürde, der Gegensatz von starrer Frontalität und jäher Geste - all das macht deutlich, daß wir es hier nicht mit einem getreuen, individuellen Abbild Schenutes, sondern mit einem erinnerungsmächtigen Symbol zu tun haben. Denn erst durch die Assoziationen, die sich an den inschriftlich bezeugten Namen Schenutes knüpfen, und durch die magische Identität von Namensinschrift und Darstellung wird in diesem Bild wirklich die Gestalt des großen Mönchvaters gegenwärtig. Diese von der geistigen Vorstellung und nicht von der sinnlichen Anschauung oder von bereits vorgegebenen Typen bestimmte Darstellungsweise wird am deutlichsten dort erkennbar, wo nicht einfach vorgefundenes Formengut umgeprägt, sondern wo 7

7

Inv. 4 4 7 5 : Wessel ebd. S. 1 2 1 Abb. 86. Realismus

85

selbst ganz neue und eigene Ausdrucksmittel entwickelt wurden. Das veranschaulichen sehr eindrucksvoll zwei als Gegenstücke gearbeitete und auf den ersten Blick etwas gar zu primitiv anmutende Löwen-Statuetten in Berlin 8 . D a ß hier Löwen gemeint sein sollen, erkennt man vielleicht nicht sofort, wohl aber, daß es wilde und furchtbare Bestien sind. Genau das wurde für die Wahl der formalen Mittel durch einen ganz natürlich und ursprünglich fühlenden Bildhauer zunächst bestimmend. D i e Verfremdung des Naturvorbildes war somit bereits geistig vorweggenommen, ehe der Steinmetz an die eigentliche Arbeit ging. Das Motiv des halb aufgerichtet sitzenden Löwen war gewiß nicht neu. D i e Art und Weise aber, wie die körperliche Spannung der sich drohend aufrichtenden Bestien von den Hinterbeinen über die ganz abstrakt gekerbte Mähne zur breit ausladenden Schulterpartie vordrängt, um sich hier in der furchterregenden Wildheit des fratzenhaften Gesichtes zu entladen, ist ganz überzeugend. Unbewußt werden beim Betrachter zunächst Empfindungen ausgelöst, die nicht von zoologischer Anschauung, sondern von geistiger Erfahrung gespeist sind, ehe dann die rationale Identifikation des Bildes mit der begrifflichen Kategorie eines zähnefletschenden Löwen vorgenommen wird. Unwillkürlich fühlt man sich angesichts dieses Löwenbildes an eine der wundersamen Begebenheiten aus den Apophtegmata Patrum erinnert, die geeignet scheint, das mehr kontemplative Verhältnis der Kopten zur Wirklichkeit, die Formung ihrer Eigenschaften durch die Macht geistiger Geschlossenheit, zu beleuchten: „Es war einmal ein Greis, der hatte sich am Jordan niedergelassen und lebte als Anachoret. Und er ging in eine Höhle hinein in der Hitze und fand einen Löwen an jenem Ort, der begann mit den Zähnen zu knirschen wider ihn und brüllte. D a sagte der Greis zu ihm: .Weswegen regst du dich auf? E s gibt hier Platz, der würde mich und dich aufnehmen. Willst du dich aber nicht zu mir niederlegen, so steh auf und geh hinaus'. Der Löwe aber ertrug ihn nicht und ging hinaus" 9 Dieselbe Kraft, die den Dingen ihre Eigenschaften und somit auch ihr Aussehen aufzwang, finden wir in der entwickelten koptischen Kunst, die sich daher nicht scheute, die natürlichen Erscheinungen im geistigen Sinne umzuprägen und zu deformieren, um die augenfällige, aber in Wahrheit nur scheinbare Identität von Naturvorbild und Nachbildung zu Gunsten einer übersinnlichen Wirklichkeit zu überwinden. 8

Inv. 4 4 5 8 / 5 9 , das besser erhaltene Exemplar abgebildet bei Wessel ebd. S. 26 Abb. 22.

9

Koptischer Text bei W . Till, Koptische Grammatik, 2. Aufl. Leipzig 1961, S. 265 Nr. 18.

Korrekturzusatz:

Zu dem hier behandelten Problem und den erwähnten Werken vgl.

A. Eifenberger, Koptische Kunst, Leipzig 1975.

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¡sails

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