Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus: Drei Studien [2. Bindung. Reprint 2021 ed.] 9783112472064, 9783112472057


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German Pages 316 Year 1985

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Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus: Drei Studien [2. Bindung. Reprint 2021 ed.]
 9783112472064, 9783112472057

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Günter Härtung

Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Günter Härtung

Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus Drei Studien

Akademie-Verlag • Berlin 1984

2. Bindequote Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 © Akademie-Verlag Berlin 1983 Lizenznummer: 202 • 100/179/83 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen Lektor: Elzbieta Mischke LSV 8021 Bestellnummer: 754 049 3 (2150/77) 01100

Inhalt

Vorwort Geschichtlicher Abriß des deutsch-faschistischen

.

7 14

Einleitende Bemerkungen Heimatliteratur Paul Ernst und die völkische Stilkunst um 1910 Ergebnisse des Weltkrieges Ernst Jünger und das faschistische Kriegsbild „Arbeiterdichtung" Literatur der N S D A P Assimilation völkischer und konservativer Autoren . . . . Einstige Expressionisten: Johst, Benn Dichtung des Dritten Reiches Zur „inneren Emigration" Ideologie und Religiosität in deutsch-faschistischer Dichtung Weiterwirkungen Ein Beispiel: Hans Baumann

14 19 51 63 69 77 80 85 88 102 104 107 118 122

Kulturpolitik

Schrifttums

und Ästhetik des deutschen Faschismus

Richtlinien 1933 Zur ideologiekritischen Methode „Weltanschauung" Kulturtheorie und -praxis Ästhetik Die Künste im ideologischen System Nationalsozialistische

Kampflieder

. . . .

135 135 140 147 164 177 190 199

„Deutschland, erwache!"

199 5

„Die Straße frei den braunen Bataillonen!" „Ein junges Volk steht auf" „Und heute gehört uns Deutschland / und morgen die ganze Welt" Anhang Exkurs über die Autonomie der Kunst

214 227 240 255 255

Anmerkungen

282

Personenregister

309

Vorwort

In dem 1980 erschienenen Sammelband Faschismusforschung bemerken die Herausgeber einleitend zu Recht, das „Interesse erfolgreichen Kampfes gegen den Faschismus" mache es erforderlich, „diesen als eigenen, selbständigen Forschungsgegenstand einer möglichst umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen"1. Die in der nachfolgenden Arbeit vereinten Abhandlungen verstehen sich als ein 'work in progress', das zur Lösung entsprechender Aufgaben auf literarischem und ästhetischem Gebiet beitragen soll. Wenn dabei die faschistische Literatur als ein abgrenzbarer Forschungsgegenstand behandelt wird, soll das weder bedeuten, daß sie aus der allgemeinen Literaturgeschichte herauszunehmen sei, noch daß ihre Behandlung prinzipiell neue Methoden erfordere. Doch bildet die methodische Isolierung dieses Schrifttums, welche Hand in Hand mit der Bestimmung seiner gesellschaftlichen Funktionen geschehen muß, die erste Voraussetzung dafür, sein Verhältnis zu anderen Strömungen, den Anteil am literarischen Prozeß und die Rolle bei der Etablierung und Stabilisierung faschistischer Diktaturen anzugeben. In solcher Absicht konzentriert sich die Untersuchung auf das deutsche Paradigma. Über die daraus entstandenen Methodenprobleme wird an geeigneten Stellen der Arbeit Rechenschaft abgelegt; hier sollen nur einige Bemerkungen zur Genese vorausgeschickt werden. Marxistische Forschungen auf dem Gebiet der faschistischen Literatur, Kunst und Ästhetik hält der Verfasser nicht nur aus aktuellem Anlaß, sondern auch deswegen für nötig, weil die antifaschistische Kritik aus der Exilzeit und den ersten Nachkriegsjahren später kaum weitergetrieben und jedenfalls bis in die 60er Jahre hinein von der Literaturwissenschaft vernachlässigt worden ist. Nach seiner Ansicht liegt hier eine Verpflichtung der DDR-Wissenschaft vor, Traditionen der ideologischen Auseinandersetzung aufzunehmen und zu aktivie-

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ren, eine Pflicht, deren Erfüllung wir nicht ausländischen Germanisten überlassen dürfen, so wichtig deren Arbeiten immer sind. Persönlich ist mir die Dringlichkeit bewußt geworden, als ich um 1965 die energische Befassung polnischer Kollegen mit der revanchistischen deutschen 'Polenliteratur' kennenlernte. Die unausgesprochene Ansicht, selbst die Literaturwissenschaft der D D R scheue vor solchen Unternehmungen zurück, war deutlich spürbar. Mit meiner Arbeit glaube ich außerdem die Verpflichtung einer Generation wahrzunehmen, die gerade noch aus Erfahrung sprechen kann und die ein reales Zeugnis der Überwindung faschistischer Einflüsse abzulegen hätte. Der Beitrag der Literaturwissenschaft zu jener im KPD-Aufruf vom 11. Juni 1945 geforderten „systematischen Aufklärung" über den barbarischen und verlogenen Charakter der national-sozialistischen Ideologie muß die Spezifik ihres Gegenstandes berücksichtigen. Wenn auch Literatur und Kunst nicht entfernt die Massenwirksamkeit politischer oder ökonomischer Maßnahmen erreichten, so wirkte das durch sie verbreitete Gift doch tiefer und nachhaltiger, zumal die Nazikunst über ideologische Indoktrination hinaus alle Verhaltensweisen aufgriff und verfestigte, die dem modernen Kapitalismus dienlich sind. Will die marxistisch-leninistische Wissenschaft sich nicht mit Pflichtübungen begnügen, wird sie solchen Verhaltensweisen, die der sozialistischen Demokratie widersprechen, bis ins einzelne nachgehen müssen und sie durch Bewußtmachung der Kritik aussetzen, anstatt sie zu tabuieren. Dies zur Begründung des vielleicht ungewohnten Verfahrens, auch miserabelste Kunsterzeugnisse ernst zu nehmen und auf sie Methoden anzuwenden, die herkömmlicherweise nur bei anerkannten Kunstleistungen angebracht sind. Bedenken können allenfalls daraus erwachsen, daß bei der Ideologiekritik die angegriffene Ideologie erst einmal nach ihrem inneren Zusammenhang vergegenwärtigt werden muß, bevor sie zerstört werden kann. Aber ungünstige Folgen sind um so weniger zu befürchten, je genauer und evidenter die Kritik vorgeht; außerdem wird das Verfahren, einzelne Kunstprodukte in ihren Funktionszusammenhängen darzustellen, wenn es richtig gehandhabt ist, seinen Sinn in der Schulung gesellschaftlichen, geschichtlichen, künstlerischen Bewußtseins weit über den Einzelfall hinaus erweisen. Zur Verdeutlichung sei ein Beispiel angeführt. - In einem 1975 erschienenen Gedicht Tabus hat Eva Strittmatter (geb. 1930) wie vor 8

und nach ihr zahlreiche DDR-Schriftsteller einige Folgerungen thematisch gemacht, die sich aus der faschistischen Vergangenheit für das gegenwärtige Literaturschaffen ergeben. Mein Lektor sagt mir: Die Wildgans Ist für nun und immer GERMANISCH. Schreibst du: im Herbst schrein die Gänse, So bist du V Ö L K I S C H U N D AHNISCH. Das hat Hermann Löns bedichtet. Und Schwäne sind auch tabu. [...] Wir haben Traditionen, Die sind sehr negativ. In dem Land, in dem wir wohnen, Klingen viele Worte schief. Natürlich: Die Gänse schreien. Und - Schwäne gibt es auch. [• • .P Einige Tabus, die durch Aufhellung beseitigt werden sollen, sind hier dem Lektor in den Mund gelegt. Allerdings ist dabei ein Irrtum unterlaufen, denn im Kleinen Rosengarten des Hermann Löns kommt wohl einmal die ziehende „Schneegans", jedoch nirgends der schrille Schrei der Wildgänse vor. Gemeint ist offenbar ein anderer Dichter und Löns-Verehrer, nämlich der Weltkriegssänger Walter Flex (1887

bis 1917) mit dem Gedicht Wildgänse rauschen durch die Nacht .. das in einer anonymen Vertonung noch lange in Jugendbünden und in der Hitlerjugend gesungen wurde. [•••] Wir sind wie ihr ein graues Heer und fahr'n in Kaisers Namen, und fahr'n wir ohne Wiederkehr, rauscht uns im Herbst ein Amenl 3 Hier wurde beim späteren Singen der Name des „Kaisers" gegen den des „Volkes", „Deutschlands" oder auch des „Führers" ausgetauscht. Das Entscheidende war die Gleichsetzung des Vogelzuges mit der „Fahrt" der Rußland-Armee „nach Norden", wodurch der Krieg als etwas unbefragt Natur- und Schicksalhaftes erschien, das aus der

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Haltung eines 'heroischen Pessimismus' heraus bejaht wurde. Die zweite Strophe lautete, leicht wagnerisierend: Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt, graureisige Geschwader! Fahlhelle zuckt, und Schlachtruf gellt, weit wallt und wogt der Hader. Aber selbstverständlich sind die Wildgänse dadurch noch nicht für alle Zeit „germanisch" geworden. Daß der fiktive Lektor sich so offensichtlich ins Unrecht setzt und daß er dann noch durch das unmögliche Wort „ahnisch" abgeführt wird, erweckt keinen günstigen Eindruck. Gewiß sind seine Bedenken gegen den Satz „Im Herbst schrein die Gänse" nicht zu teilen. Wohl aber hätte sich gegen ein Gedicht, in dem das stünde, mit Fug einwenden lassen, ob denn an den Wildgänsen heute nicht mehr oder anderes bedichtenswert wäre als gerade dieses Immergleiche. Im Heimatgedicht Theodor Storms stand es („Die Wandergans mit hartem Schrei / Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei") noch unverbraucht und völlig legitim. Meines Erachtens macht sich das Gedicht Tabus die Bewältigung „negativer Traditionen" zu leicht und verschenkt dadurch eine Chance gesellschaftlicher Aufklärung, die Schriftsteller wie Lektoren oder Wissenschaftler gleichermaßen angeht. In der ersten Studie der nachstehenden Arbeit sollte versucht werden, die geschichtliche Entwicklung der deutsch-faschistischen Literatur, ihren Klassencharakter und ihre Wirkungen im Umriß zu beschreiben. Der lang geratene Essay, erwachsen aus einer Rezension der Loewyschen Anthologie4, entstand 1967/68 größtenteils in Warschau. Indem aus der Not begrenzter Literaturverfügung eine Tugend gemacht wurde, sollte sich das Gesamtbild herstellen aus einer Reihe von Einzelbetrachtungen zu signifikanten Texten. Allerdings konnte es so nicht gelingen, die reale Breite und Verbreitung des faschistischen Schrifttums sichtbar zu machen. Die nach 1933 herrschende Literatur ist allzu kursorisch behandelt; Autoren wie Edwin Erich Dwinger, bei denen ein konservativer Antibolschewismus zielstrebig in faschistischen Antikommunismus überführt wurde, erscheinen gegenüber weniger wirksamen vernachlässigt. Wenn die Arbeit gleichwohl im folgenden fast unverändert publiziert wird, dann deswegen, weil ihr Druck in den Weimarer Bei10

trägen5, als der erste seiner Art, in der D D R auf ein großes Interesse gestoßen und vielfach herangezogen worden ist, - am ausführlichsten im Band 10 der elfbändigen Geschichte der deutschen Literatur. Für den vorliegenden Abdruck sind sachliche Irrtümer berichtigt und kleine Ergänzungen an solchen Stellen vorgenommen worden, wo seinerzeit Einfügungen in den Umbruch unberücksichtigt bleiben mußten. Gestrichen ist die einleitende Forschungsübersicht und eine Analyse, die in der dritten Studie näher ausgeführt w i r d ; im Interesse besserer Lesbarkeit habe ich Zwischenüberschriften eingefügt. D a der Zeitschriftendruck anscheinend internationaler Verbreitung ungünstig war - weder von Ilja Fradkin 6 noch von Lionel Richard" wird er erwähnt, und sogar bei Uwe-K. Ketelsen 8 scheint die Nennung nicht auf Autopsie zu beruhen brauche ich kaum auf Kritiken zu antworten. D i e einzige mir bekannt gewordene steht bei Klaus Vondung 9 . Vondung hatte vor, die Hauptrichtungen im einschlägigen Schrifttum unter Umgehung des Faschismusbegriffs zu klassifizieren, wofür er programmatische Dichteräußerungen nach 1933 heranzog, die sich ihm als „sinngebende Existenzentwürfe [ . . . ] , fundiert in der existenziellen Realität ihrer Schöpfer und Anhänger", darstellten. D e r Gesichtspunkt materialistischer Ideologiekritik lag dem Autor denkbar fern, und da er es außerdem für „zweifellos richtig" hielt, „daß die meisten Werke nationalsozialistischer Schriftsteller eine differenzierte philologische Interpretation gar nicht zulassen" 10 , kommt seinem Vorwurf, ich hätte „einen zu gesetzmäßigen und einsträngigen Kausalnexus zwischen ökonomischen und literatur-ideologischen Gegebenheiten" hergestellt, wenig Gewicht zu. Die Vorwürfe sind nicht belegt und folgen zu ahnungslos der bürgerlichen Anschauung „genereller marxistischer Defizienz", um ernst genommen zu werden. Begründeter ist der Hinweis, d a ß in meiner Arbeit wenig Psychologie getrieben werde, und wenn schon, dann unter Zurückhaltung von der üblichen Terminologie; in der Tat habe ich psychologische Gesichtspunkte, wo sie mir angebracht erschienen, bei den folgenden Arbeiten stärker berücksichtigt. Für ein linguistisches Kolloquium in Halle wurde auf Wunsch des Veranstalters die modellhaft gedachte Analyse eines faschistischen Liedes angestellt, welche stark erweitert 1974 in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Martin-Luther-Universitätu erschien. Auch zu dieser Publikation erreichten mich zustimmende Äußerungen. D a jedoch von Seiten der Sprachwissenschaft das Diskussionsangebot nicht aufgenommen worden ist, glaube ich mich jetzt berechtigt, den literall

turwissenschaftlichen Analyseteil unter Verzicht auf die begleitenden methodischen Reflexionen in eine größere Untersuchung einzuordnen. Die an dritter Stelle stehende Untersuchung, die am einflußreichen Genre des nationalsozialistischen Liedes historisch-systematische mit analytischer Betrachtung zu vereinen sucht, entstand zum größeren Teil im Sommer und Herbst 1978. Sie war zuerst f ü r den Band Faschismusforschung gedacht, konnte aber nicht rechtzeitig fertiggestellt werden. Für die jetzige Publikation habe ich die Darstellung so weit ergänzt, d a ß eine Übersicht über das nazistische Liedwesen herauskommt und d a ß gerade die wirksamsten Neuschöpfungen eine entsprechend genaue Analyse erfahren. D i e zuletzt geschriebene Studie zur faschistischen Weltanschauung, Ästhetik und Kulturpolitik ist aus dem Wunsch hervorgegangen, den Stellenwert des Liedes wie anderer Kunstgattungen im politischen und ideologischen Nazisystem anzugeben. Bei der Arbeit daran ergab sich die Notwendigkeit, d a ß vorher die zentrale Ideologie der Führungsclique festgestellt und einer historisch-materialistischen Analyse unterzogen werden mußte. (Mit Ausnahme der unmittelbar politischen und ökonomischen Ideologiezüge scheint mir auch in der Faschismusforschtmg die Aufgabe noch ungelöst.) D a Grenzüberschreitungen zur Philosophie, zur Kulturwissenschaft und zur allgemeinen Kunstgeschichte unvermeidbar waren, stellen sich die betreffenden Partien in besonderem M a ß e dem Meinungsstreit. Ihr allgemeinerer Wert kann in einer gewissen Konkretisierung und Bereicherung der ideologiekritischen Methode bestehen. In Hinsicht auf die Ästhetik sollte weiterhin ein Versprechen der ersten Studie eingelöst werden, d a ß nämlich die Theorie der sozialistischen Kunst dringend eine Untersuchung ihres erbittertsten Gegners verlange und d a ß sie sonst nicht hinreichend ausgebaut werden könne. Deshalb wurde hier das Prinzip, den faschistischen Geistesprodukten den Marxismus nicht nur mittels seiner kritischen Methode, sondern auch in positiven Leistungen entgegenzustellen, bis zu einem Exkurs über ästhetische Grundfragen ausgedehnt. Mit der Nachzeichnung der deutsch-faschistischen Ideologie in den Bereichen, die Kunsttheorie und -praxis betrafen, sollte eine allgemeine, aber unabdingbare Ausgangsposition für speziellere Untersuchungen geschaffen werden. In diesem Sinne ist das Liedkapitel suchungen geschaffen werden. In diesem Sinne ist das Liedkapitel an eine umfassende Geschichte der deutschen faschistischen Literatur gegangen werden kann. Für ein Kapitel über D r a m a und Theater,

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welches einerseits bei Paul Ernst, andererseits bei den völkischen Freiluft- und Kultspielen (etwa Ernst Wachlers) einzusetzen hätte, habe ich seit langem Material gesammelt, ohne Zeit zur Ausarbeitung zu finden. Auf anderen Gebieten ist die Forschungssituation noch ungünstiger. Wenn die Arbeit eingangs als ein 'Werk im Fortschreiten' bezeichnet wurde, dann sollte das auch dem Wunsch Ausdruck geben, daß sie möglichst viel Kritik und weiterführende Arbeiten auslösen möge. Fördernde Kollektivität habe ich insofern schon ausnutzen dürfen, als zahlreiche Kollegen an Gesprächen über oft diffizile Probleme teilnahmen. Für die Bereitschaft dazu und für zahlreiche Anregungen und Hinweise gilt mein besonderer Dank: Jan Choderat, Poznan; Johannes Dudda, Weimar; Dietrich Eichholtz, Berlin; Dietrich Freydank, Cäcilia Friedrich und Renate Fründt, Halle; Kurt Krolop, Weimar; Hubert Orlowski, Poznan; Dietrich Sommer, Willi Steinberg und Rüdiger Ziemann, Halle. Halle, im April 1982

Günter Härtung

Geschichtlicher Abriß des deutsch-faschistischen Schrifttums Dem Andenken des Antifaschisten und Hochschullehrers Ernst Hadermann gewidmet

'Einleitende

Bemerkungen

D i e nachstehende Untersuchung, ursprünglich aus einer Rezension der Anthologie E r n s t Loewys 1 hervorgegangen, hat sich zum Ziel gesetzt, eine kritisch-analytische Übersicht über die faschistische Literatur in Deutschland mitsamt ihren Vor-, Mit- und Nachläufern zu geben. Wenn dafür immer noch eine Begründung nötig sein sollte, wäre sie zunächst aus westdeutschen Zuständen zu beziehen: Angesichts zahlreicher Neuauflagen von Werken, die zuerst im Dritten Reich erschienen sind, und angesichts der Nach- und Neuwirkung von Autoren, welche die Nationalsozialisten als die ihren behandelten, ist es unumgänglich, die von 1933 bis 1945 herrschende Literatur nach Ursprung, gesellschaftlicher Funktion und Wirkung zu kennen, wenn man die gegenwärtige ausreichend erfassen will. N u r unter Berücksichtigung dieser Tradition lassen sich Schlüsse auf den literatursoziologischen Zustand ziehen. Es dürfen ferner Einsichten in Tendenzen der Faschisierung erwartet werden. Weiter wäre es mit Hilfe solcher Einsichten möglich, in den Kampf zwischen progressiven und apologetisch-reaktionären Literaturströmungen stärker einzugreifen. D a s Ziel der Untersuchung soll also ein aktuelles sein. Ohnedies wäre die herkömmliche Literaturgeschichtsschreibung mit ihrer Konzentration auf Tradierbares diesem Gegenstand besonders unangemessen. Sie würde nur den Schein von Freiheit und Autonomie verstärken, der die Zusammenhänge des imperialistischen Staates mit seiner Literatur verdeckt. Es wird gerade hier die Notwendigkeit einer Wissenschaft spürbar, die ihre Objekte als Glieder der gesellschaftlichen Dialektik versteht, sie auf den sozialen G r u n d ihres Entstehens und auf ihre Wirkung hin untersucht und die in jedem Werk den jeweiligen Wahrheitsgehalt aufzudecken imstande ist, an14

statt sich apologetisch an Texten zu betätigen, deren Wert durch Konventionen oder Vorentscheidungen bereits festzustehen scheint. In Hinsicht auf die D D R kann der aktuelle Wert einer solchen Analyse darin bestehen, daß man nachwirkende Verhaltensweisen der Kunst gegenüber, Ideale von Literatur und ihrer Wirkung, Geschmackskriterien deutlich macht, die von der Naziherrschaft entweder herstammen oder durch sie befestigt worden sind. Auch das literarische Bewußtsein ist historisch und gesellschaftlich bedingt und nichts Natürliches, das ohne Theorie und Kritik Wertmaßstäbe begründen kann. Aber selbst wenn man annehmen dürfte, daß die Folgen dieser Literatur überwunden seien, könnte doch die Theorie der sozialistischen Kunst ohne die Untersuchung ihres Gegners nicht hinreichend ausgebaut werden. Die Kritik der Naziliteratur in den Exilzeitschriften, vor allem im Wort, sowie in Einzelarbeiten der selben Zeit und in Publikationen der ersten Nachkriegsjahre ist später durch die marxistische Literaturwissenschaft nicht weitergeführt und zusammengefaßt worden. 2 Im folgenden wird also versucht, eine skizzenhafte Geschichte der faschistischen Literatur in Deutschland vorzulegen. Auf diejenige des Auslands können dabei mangels theoretisch umgreifender Arbeiten 3 nur Seitenblicke fallen, und auch die österreichischen Entsprechungen wurden ausgeklammert, da sie ihrer gesellschaftlichen Sonderbedingungen wegen eine eigene Darstellung erfordern. Noch ein Mangel sei gleich zu Anfang einbekannt: Die Forderung des Stoffes bestünde eigentlich darin, eine breite Masse von Literatur differenzierend darzustellen; da mir das nicht möglich ist, beschränke ich mich auf einige repräsentative und besonders wirksame Autoren und versuche, von ihnen aus jene Masse in Andeutungen sichtbar zu machen. Unter nationalsozialistischer Literatur wird dabei die unmittelbar mit der NSDAP, ihrer Ideologie und ihren politischen Zielen verbundene Belletristik verstanden, unter faschistischer Literatur allgemein diejenige, welche die Diktatur des staatsmonopolistischen Kapitalismus und seine Aggressionen vorzubereiten und durchzusetzen geholfen hat. Eine Bestimmung des Umfangs dieser Literatur wird zunächst von ihrem Selbstverständnis, d. h. von den nationalsozialistischen Literaturgeschichten 4 ausgehen, ohne sich auf sie zu verlassen. Diese Darstellungen waren einerseits von den offiziellen Regelungen abhängig, erwähnten also mißliebig gewordene Autoren, gleich welchen Ranges (z. B. Benn oder Ewers), oder sogar die radikal völkischen Sektierer 15

so gut wie gar nicht, versuchten aber andererseits, so viel Älteres wie möglich zu ihrem Schrifttum zu schlagen. Was den Zeitpunkt betrifft, an dem die Untersuchung zunächst einzusetzen hätte, so sieht man sich durch alle diese Literaturgeschichten auf die Jahre um 1890 verwiesen. Für die Zeit danach ist nämlich ein charakteristischer Selektionsprozeß zu beobachten: Während die vorhergehende Dichtung ungefähr vollständig behandelt wird, selbstverständlich in verzerrender Umwertung, erscheinen danach meist nur noch dem Faschismus genehme Autoren oder Werke. Walther Linden z. B. behandelt George und auch Rilke noch breit, Hofmannsthal dagegen nur in einer Zeile; von Thomas Mann werden die Buddenbrooks ausführlicher besprochen, die Werke danach bis hin zum Zauberberg als Zeugnisse des Abstiegs nur noch erwähnt. Ähnlich ist das Verfahren bei Ricarda Huch oder Ernst Wiechert. Hingegen werden weder Heinrich Mann noch Schnitzler, Musil, Broch, Kafka, Brecht usf. überhaupt genannt. Für diese ganze Sphäre tritt ein schemenhafter Begriff ein: Dekadenz, Entartung. Auch bei den verschämteren Autoren wie Paul Fechter5, der immerhin noch diese und andere Namen nennt, ist die Wertung damit konform. Als eigentlich darstellenswerte Literatur behandeln die Literaturgeschichten dafür die um 1890 einsetzende „volkhafte Dichtung", zunächst die „Heimatliteratur" und deren Ideologen. Damals habe sich demnach eine grundsätzliche Scheidung vollzogen. Auch hier waltet jenes bezeichnende Denkschema, auf das man in faschistischer Ideologie immer wieder stößt: die Aufspaltung eines widersprüchlichen Ganzen in negative und positive Polaritäten zum Zweck des gewaltsamen Zugriffs. Dieses Verfahren gilt nicht nur für die Literaturgeschichte, sondern ist für die faschistischen Erzeugnisse überhaupt so bezeichnend, daß es zu ihrer Definition heranzuziehen ist. Als Beleg genügt zunächst ein Verweis auf die Sprüche zur Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933, wo dieses Schema zu seiner grausigen Praxis kam. Der erste und zweite lauteten: Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky. Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner. 6 16

D e r erste spricht die generelle Stoßrichtung des Faschismus deutlich aus. Nicht die Klassengegensätze, sondern der Klassenkampf soll beseitigt werden, indem man die Sozialisten beseitigt; die „idealistische Lebenshaltung" bestätigt sich in der Vernichtung des kritischen Geistes. Antikapitalistische Affekte der kleinbürgerlichen Massen sind zu antimaterialistischen gemacht worden und dürfen sich an den Gegnern des Kapitalismus austoben. Auch diese Sprüche waren ein Teil jener brutalen Ästhetisierung, die der Faschismus der Politik angedeihen läßt und die er notwendig braucht. Sie hatte Walter Benjamin im Auge, als er 1936 schrieb: „Die zunehmende Proletarisierung der heutigen Menschen und die zunehmende Formierung von Massen sind zwei Seiten eines und desselben Geschehens. D e r Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindringen, anzutasten. E r sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. D i e Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. D e r Vergewaltigung det Massen, die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht." 7 Ein Hauptmittel volkstümlicher Ästhetisierung der Politik ist die Aufstellung anschaulicher Freund- und Feindbilder. Sowohl die nationalsozialistische Literaturgeschichtsschreibung als auch deren bevorzugte Objekte sind daraufhin ausgerichtet. Als Dichtung dieser Art im Jahre 1933 die Alleinherrschaft erhielt, verbannte sie gemäß ihrem Feinddenken alles andere nicht nur vom Markt, sondern auch nach Möglichkeit aus dem Leben." E s hat den Anschein, daß die These von den 'zwei Literaturen', die in den nationalsozialistischen Literaturgeschichten die Darstellung der jüngsten Vergangenheit beherrscht, eigens zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen aufgestellt wurde, 8 wennschon sie unformuliert bereits frühere Auslassungen bestimmte. In ihr offenbart sich die Ideologisierung der Literaturgeschichte am deutlichsten. Deshalb aber machte das, was jetzt die Diktatur ausübte, noch nicht die ganze faschistische Literatur aus. Deren Geschichte umfaßt vielmehr alles, was die Machtübernahme des Faschismus mit literarischen Mitteln vorbereitet hat. Das Selbstverständnis der Nazi-Literaturgeschichte kann nicht ein2

Härtung, Faschismus

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mal eine Materialbasis für die Geschichtsschreibung liefern, da es ideologisch verformt ist; aus verschiedenartigen, in verschiedenen Schichten beheimateten Werken, die nur die faschistische Tendenz gemein haben, konstruiert es eine einheitliche Traditionslinie zusammen, um dem Dritten Reich auch hierin einen Anstrich von Gesetzmäßigkeit zu verleihen. Demgegenüber hätte die Geschichtsschreibung der Naziliteratur von den einzelnen Werken oder Richtungen auszugehen und aus deren Wirkungszusammenhängen das Wesen faschistischer Literaturerzeugnisse zu bestimmen, anstatt sie einem festen Begriff zu subsumieren. Zu fragen ist nach ihrem Verhältnis zu den Klassenkämpfen im Unterbau der Ideologien, nach ihrer gesellschaftlichen Funktion, und dies nicht nur in Hinsicht auf die offenbaren Gehalte oder Tendenzen, sondern auch auf ihren sozialen Gestus, die literarischen Techniken und Stile. Mit einigem Recht könnte man freilich schon staatstreu imperialistische Dichtungen des Kaiserreiches als präfaschistisch bezeichnen; dennoch ist im Interesse begrifflicher Klarheit nur das hierher zu rechnen, was nach Tendenz und Wirkungsweise nicht auf die Unterstützung des Zweiten Reiches eingeschränkt blieb, sondern auch breitere Publikumsschichten für die nationalsozialistische „Revolution" gewinnen konnte. Solche Wirkung hing einerseits von der Art des antiliberalen Angriffs, andererseits und stärker noch von der Art der 'positiven' Gegenwerte ab. In letzter Hinsicht wird man die für den deutschen Faschismus und seine Machtergreifung spezifischen Ideologiezüge, die völkischen Lehren, besonders berücksichtigen müssen und andere, etwa die klerikalfaschistischen, vernachlässigen dürfen; zwar bezeichnen erstere das Wesen des Faschismus nur sehr indirekt, sie kamen aber auch nicht zufällig zu ihrer Rolle. Selbstverständlich können sie hier nicht für sich, als Ideologie, behandelt werden, zumal Literatur noch nicht analysiert ist, wenn man sie auf ihren pragmatischen Gehalt reduziert und dessen Entsprechungen unter den politischen Ideologien festgestellt hat. Literatur kann regressiv sein allein schon durch eine aufs bloß Affektive gerichtete Wirkungsweise. Den Beginn einer präfaschistischen Literatur als einer eigenen Bewegung, das heißt die Existenz einer so großen Menge verwandter Werke, daß es zu gegenseitigen Anregungen, Ausbildung von Theoremen, eigenen Zeitschriften und anderen Sammlungstendenzen kommt, wird man erst nach 1873, vor allem seit 1890 ansetzen. Zwar gibt es Vorläufer seit der Jahrhundertmitte, insofern auch aus der späten Romantik (Adam Müller, in einiger Hinsicht auch Görres und Ernst

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Moritz Arndt), als dort wie hier ein antikapitalistischer (oder nur antiintellektueller) Affekt sich nationalistisch und antisemitisch festlegte und sich auf die reaktionären Staatszüge Deutschlands orientierte - Grabbe oder Wagner, Riehl und andere wären neu zu untersuchen - , aber alle diese Erscheinungen, selbst Gobineau, waren Vorläufer im genauen Sinne des Wortes, d. h., es fehlte ihnen eine Massenbasis in politischer und literarischer Hinsicht und die zum Faschismus gravitierende Klassenkampfsituation. E i n e Massenbasis bildete sich langsam seit den 50er Jahren, mit der Kapitalisierung Deutschlands und dem Entstehen einer Arbeiterklasse und ihrer Partei, in den Mittelschichten heraus. Nach Ursprung und Wirkungsbereich, keineswegs nach ihrer Funktion, ist die deutsch-faschistische Literatur auf diese Schichten zu beziehen. Im langandauernden, zähen Todeskampf des altdeutschen Kleinbürgertums hat sie ihre Ursprünge. Dieses Kleinbürgertum mitsamt seiner historischen 'Bedientenhaftigkeit' (Engels) und seinem Stolz auf ältere Kulturleistungen, das nun sich von oben und unten bedroht sah, war sehr dazu geneigt, in Krisenzeiten seine Ängste gegen Demokratie, Öffentlichkeit, Technik, vor allem gegen die Sozialdemokratie abzulenken und dafür seine Hoffnungen auf die altertümliche Staatsspitze zu setzen, von deren diktatorischem Eingriff man sich die Rettung der alten Zustände erhoffte. D i e infame Politik, das aggressivierte Kleinbürgertum zur Stütze und zum Ausbau eben jener Macht zu benutzen, der es seinen Ruin verdankt, diese Politik begann seit den 70er Jahren mit ideologischen Vorstößen; es ist ein Jammer, wieviel alte Kultur, wieviel Begeisterung und Leidenschaft dadurch korrumpiert und verraten worden sind.

Heimatliteratur D e r Belletristik voran gingen antiliberale Ideologen. Doch haben die Kritiker des Liberalismus, vor allem Nietzsche, auf die faschistische Liteiatur nur einen sehr vermittelten Einfluß ausgeübt, und es ist nicht angängig, diese auf jene allein zurückzuführen. Einflußreicher waren Ideologen wie Paul de Lagarde oder Houston Stewart Chamberlain, die ein 'positives' Gegenbild entwarfen. Von den damals beliebten Polarisierungen (des Typs 'Kultur gegen Zivilisation') blieben die mittelständisch-volkstümlichen die wirkungsvollsten. D e r Bereich, mit dem die Literatur am engsten 2»

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zusammenhing, war die 'völkische' Ideologie, jener diffuse und schwer übersehbare Komplex von Anschauungen, in dem 'Volk' im Gegensatz zu Gesellschaft stand, nicht politisch, als Gesamtheit der Nichtherrschenden, sondern zunehmend biologisch und rassisch aufgefaßt wurde, wo die Tradition 'deutscher Innerlichkeit' verkam und auftrumpfend gegen das Ausland sowie gegen alles Moderne gewendet wurde, wo die Feindbilder des 'Undeutschen', der revolutionären Masse, des Intellektuellen und des Juden ihre Prägung empfingen. Ausgebildet hat sie sich mit großen regionalen Unterschieden, am breitesten und zuerst in Österreich, wo große und langlebige Parteien daraus hervorgingen, und zwar als Reaktion auf Sozialdemokratie, Liberalismus und nationale Bewegungen innerhalb der Monarchie; stärker konzentriert auf Polen und Juden in den preußischen Ostprovinzen; lokal zerstreuter, weniger organisiert und sowohl gegen das assimilierte Judentum als auch gegen den 'Westen' gerichtet in fast allen Gebieten Deutschlands. Literarische Entsprechungen fand sie zunächst in der sogenannten Heimatliteratur und vorher bei deren Theoretikern: bei dem 'Rembrandtdeutschen' Julius Langbehn, bei Friedrich Lienhard und Adolf Bartels. Ebenso wie die völkischen Lehren hat sich die Dichtung längere Zeit abseits des oberen Presse- und Feuilletonbetriebs und von ihm unbeachtet entfaltet; sie gehörte gleichsam zur unteren Sparte, zum 'low brow' des Kulturgeschäftes, und unternahm hier ihre ersten Vorstöße. An diese Tatsache sollte sich später die faschistische These von den 'zwei Literaturen' halten. Gleichwohl hat 'Heimatdichtung' in einem Prozeß, der am konsequentesten wohl auch in Österreich verlief, im breiten Lesepublikum zunehmend die großstädtische Modeliteratur verdrängt und ihre Leser dem Liberalismus zu entfremden geholfen. Der Ausgangspunkt für Langbehn und Bartels ist der offenbare Kulturverfall durch den modernen Kapitalismus, der sich ihnen als Kulturkrise des Zweiten Reiches darstellt. Beide gehen von der Ansicht aus, daß dem ökonomischen und politischen Aufschwung kein kultureller gefolgt sei, daß das Bismarckreich keine große Kunst hervorgebracht habe, und sie versuchen, den Weg dorthin vorzuschreiben. Der Standpunkt, von dem aus das geschieht, ist der des Reiches selber: E s s o l l eine große Kunst da sein, die es nach außen und innen repräsentieren kann. Dazu seien geistig-politische Veränderungen notwendig. Bismarck gilt dem Rembrandtdeutschen als größtes politisches Vorbild; Langbehn geht aber auch mit den 20

Regierungstendenzen Wilhelms II. konform, radikalisiert sie noch und erhebt das Feldgeschrei aller faschistischen Kunst: für 'geistige Erneuerung' über den unangetasteten Machtverhältnissen und zu deren höherem Ruhm. Seine Parole dafür ist der Individualismus. Die Kunst soll individuell durch Ausprägung lokaler Besonderheiten ständischer und stämmischer Art werden. Dieser Individualismus richtet sich gegen die nivellierenden Tendenzen des Kulturmarktes, aber ohne Individuation mittels Theorie und Kritik anzustreben, sondern er beharrt auf sozialen und regionalen Relikten des 'alten Deutschlands'. Seine soziale Grundlage ist die kleine Warenwirtschaft; Bodenständigkeit muß gegen ihre kapitalistische Auflösung verteidigt werden. Künstler Bauer König stehen und fallen mit einander; sie stehen und fallen mit Dem, was der Mensch Heimath nennt; und was ihm das Theuerste auf der Welt ist. Kranke Naturen halten es für eine Eigenthümlichkeit des Ideals, daß es unendlich fern sei; und es ist doch unendlich nah: die Heimath ist das Ideal. In diesem Sinne ist der Deutsche und, wenn man will, der Niederdeutsche eine vorzugsweise ideale Natur. Bauerngeist ist Heimathsgeist. 9 Rembrandt als Erzieher strebt ein Bündnis zwischen Kleinbürgern, Bauern und den Machtstellen des Kaiserreiches, der Feudalität, an, das sich gegen die liberale Bourgeoisie und gegen die Sozialdemokratie richtet, dabei jedoch das reale Bündnis von Adelsspitze und Großbürgertum nicht nur nicht antastet, sondern vielmehr unterstützt. Dem dient die ideologische Polarisierung von Großstadt und Land, die das ganze Buch bestimmt und der sich ein neuartig aggressiver Charakter mitteilt: „Man muß demnach politisch wie geistig die Provinzen gegen die Hauptstadt aufbieten, ausspielen, marschiren lassen; dann wird Das eintreten, was die Aerzte in Bezug auf den menschlichen Körper Entlastung des Zentrums nennen."10 Bismarcks wütender Wunsch aus der Revolutionszeit, die großen Städte seien vom Erdboden zu vertilgen, wird mit einer Reserve mitgeteilt, die lediglich dem Undurchführbaren dieses Wunsches gilt. Aggressiv ist der Rembrandtdeutsche vordergründig gegen den Liberalismus, die Fortschrittspartei, und gegen die positivistische Wissenschaft. In beiden spreche sich der „demokratisirende nivellirende atomisirende Geist des jetzigen Jahrhunderts aus". Kleinbürgerliche Opposition gegen den Kapitalismus wird aufgefangen und auf das assimilierte Judentum 11 sowie auf großstädtische Parvenüs abgelenkt; diese 21

Operation führt hier schon die sittliche Phrase im Panier: Von der „öden Plutokratie" habe sich der Deutsche fernzuhalten; [ . . . ] der rohe Geldkultus ist ein nordamerikanischer und zugleich - jüdischer Zug, welcher in dem jetzigen Berlin mehr und mehr überhand nimmt; eine deutsche und ehrenfeste Gesinnung sollte Dem gegenüber ganz entschieden Stellung nehmen. [ . . . ] Es wäre zu wünschen, daß einem solchen unwahren und frivolisirenden Treiben - das vielfach soziale Fäulniskeime in sich birgt - einmal von oben her Einhalt geboten würde; das die besseren Klassen sich endgültig demselben entzögen; daß ein scharfes Kaiserwort auch hier luftreinigend wirkte. Wilhelm II. hat es für seine Offiziere gesprochen; er dürfte es auch für seine Bürger sprechen; wir wollen Reinlichkeit! Eine adlige oder bürgerliche Gesellschaft, welche Leute, die das Zuchthaus mit dem Aermel gestreift haben, auch nur unter sich duldet, ist verloren. Hier liegen die wahren Keime zur Revolution! [ . . . ] Der eigentliche Daseinskampf des modernen Menschen ist der nicht materielle aber sittliche Kampf gegen das Geld; er soll es sich, aber sich nicht ihm unterjochen; es soll ihm Mittel, aber nicht Zweck sein. Der moderne Siegfried - der wiedergeborene Deutsche - soll diesen gleißenden Drachen tödten. 12 Langbehn erklärt sich deutlich gegen die Sozialdemokratie. Zu ihrer Bezwingung schlägt er eine gründliche Korruption vor, damit man ihre Kraft nationalistisch abfangen und einsetzen kann. Der Besitzlose - wenn er es nicht freiwillig und höheren Interessen zu Liebe ist - gehört stets zum Pöbel; so auch die gesammte Sozialdemokratie; dieser Pöbel muß wieder in Volk verwandelt werden. Er muß den nach außen hin eingegliederten Theil eines aristokratischen Ganzen bilden; natürlich kann dies nur auf nationaler Basis geschehen; und somit wird eine Aristokratisirung der heutigen Sozialdemokratie zugleich eine Nationalisirung derselben sein. Um beides zu vollbringen, bedarf es einet politischen Künstlerhand; sie wird den sozialdemokratischen Massenehrgeiz in Einzelehrgeiz verwandeln müssen; sie wird aus Nummern Menschen machen müssen. Dadurch werden die Enterbten wieder zu Erbenden werden; denn der Arbeiter, der einen Besitz oder einen Ehrgeiz hat, hinterläßt beides seinen Kindern; und er wie sie werden infolgedessen staatserhaltend gesinnt sein. Mit den fluktuirenden Elementen, die bei einer solchen wie bei jeder Entwicklung der Sache übrig bleiben, 22

wird man leicht fertig werden. Hat der Arbeiter eine eigene Heimath, so hat er ein eigenes Ideal; und damit ist ihm geholfen; er ist aristokratisch geworden. Er ist der Erde und ihrem Segen wiedergegeben.13 Erst mit dieser Macht in der Hand könnte das deutsche korporative Modell auf Europa übertragen werden; man käme dann zu den „Vereinigten Staaten von Europa", worin Deutschland „naturgemäß zum Vorsitz berufen"14 sei. Kaum etwas anderes offenbart so deutlich die Kontinuität von Bestrebungen des deutschen Imperialismus bis zum Nationalsozialismus und über ihn hinaus wie diese Meinungen des frühen und noch ungehemmten Ideologen. Dem inneren Aufbau nach ist Rembrandt als Erzieher eine wüste und wirre Sammlung von Affekten, Halbideen, analogischen Konstruktionen. Die Darstellung bewegt sich fort in schillernden Gegensatzpaaren, wie Krankheit-Gesundheit, Plebejertum-Vornehmheit, Preußentum-Niederdeutsches, also in jener Technik, die Thomas Mann später in den Betrachtungen eines Unpolitischen auf ihr höchstes Niveau gebracht und noch später, in den Zaitberberg-Dialogen zwischen Naphta und Settembrini, kritisch bis zu der „großen Konfusion" geführt hat, die ihren begrifflichen Ertrag ausmacht. Langbehns Buch enthält schon fast die ganze Gedankensubstanz des präfaschistisch Völkischen. Und zwar ohne jede Bezugnahme auf Nietzsche, den der Rembrandtdeutsche scheinbar nicht zur Kenntnis genommen hat. Das ist für eine Traditionsbestimmung der faschistischen Literatur nicht unwichtig, zumindest für diejenigen der Massenliteratur, denn auf diese hat Rembrandt als Erzieher, bis 1925 schon in 60 Auflagen erschienen, unmittelbar gewirkt. Im Gegensatz zu Nietzsche bietet Langbehn ein breites Betätigungsfeld für nationalistische Affekte und Ressentiments. Daß er sich ständig und in den unsinnigsten Zusammenhängen auf Rembrandt beruft, ist pure Ideologie; der Name soll nur dem Angestrebten einen künstlerischen Nimbus verleihen. Was die Kunst der Zukunft betrifft, bleibt ihm nur die Hoffnung auf Genies, die sich immer einstellt, wenn die Möglichkeiten für das Entstehen großer Kunst nicht durchdacht worden sind, und die auch noch die Verkündigungen Hitlers beherrschen wird. Das Ziel wäre eine Menge von niederdeutschen Defreggers plus Genialität. Doch ist auch in dieser Hinsicht das Feindbild viel deutlicher ausgemalt als das Ideal. Der Angriff richtet sich im älteren Bereich 23

vornehmlich gegen den Aufklärungsrationalismus, im neueren besonders gegen Zola und zugleich gegen jeden modernen Realismus. Zola und Dubois-Reymond sind Schulmeister. Indeß ist ihr schädlicher Einfluß nur von vorübergehender Art; sie sind nicht die Erbfeinde der deutschen Nation; aber wohl zeigt der Erbfeind in ihnen seinen Pferdefuß. Man hat von einem 'Gott det Deutschen' gesprochen; so giebt es auch einen 'Teufel der Deutschen' ; er wohnt in Paris und kehrt in Berlin gern ein. [ . . . ] er heißt Plebejertum; und äußert sich in der Kunst als Brutalismus, in der Wissenschaft als Spezialismus, in der Politik als Demokratismus, in der Bildung als Doktrinarismus, gegenüber der 'Menschheit' als Pharisäismus.15 Der Haß auf ihn, die sich andeutende Neigung zu Kunstpogromen sind deswegen so groß, weil sich schon eine Ahnung des Mißlingens ankündigt: Zu den Idealen gehören die Kontreideale; die einen sagen dem deutschen Menschen was er thun, die anderen was er lassen soll. Keine Liebe ohne Haß; zu dem sanften gehört stets der strenge Christus; sonst ist das Bild nicht vollkommen. Mögen darum auch die jetzigen Deutschen lernen, zu hassen; wer Haß sät kann Liebe ernten; und er wird sie ernten, wenn er jenen an die rechte Stelle sät. Zur Erziehung gehört die Ruthe! 10 Die Fortwirkung der zuerst durch Langbehn niedergelegten Anschauungen bis zum Nationalsozialismus hin läßt sich verfolgen an dem Werk seines Gesinnungsgenossen Adolf Bartels. Dessen Bemühungen sind freilich enger auf Literatur bezogen, dadurch begrenzter und zuweilen auch einsichtiger. Seit seiner Studie Die Alten und die ]ungen (1897), die nach 1898 als Die Deutsche Dichtung der Gegenwart17 viele Auflagen erlebte, war er der einflußreichste Vorläufer und Vertreter der faschistischen Literaturkritik, für die er fast alle Schlagworte und Verfahren bereitgestellt hat. Deren auffallendstes wurde im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts der Antisemitismus, den wohl Bartels als erster konsequent auf die Literaturkritik übertragen und mit dem Eifer des Gymnasialprofessors flachgetreten hat. Nun war der Antisemitismus, wie er zur Zeit der Befreiungskriege und dann massiver in den 60er Jahren auftrat, zunächst vornehmlich ein Reflex antikapitalistischer Haltungen; noch bei dem nationalliberalen Gustav Freytag richtet er sich gegen die Finanzbourgeoisie, und solche Funktion hat er auch später behalten; doch hat man mit

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Recht darauf verwiesen, daß einer der ersten offenen Ausbrüche sich 1858 „nicht etwa gegen liberale Politiker, nicht gegen die Parteigänger Bismarcks" richtete, „sondern gegen den ersten Organisator der deutschen Arbeiterklasse Ferdinand Lassalle" 18 . Die Vereinigung dieser beiden Angriffsziele im Feindbild „der Jude" und die Verlegung des Antisemitismus aus dem feudalen in den bürgerlichen Bereich, was alles später der Nationalsozialismus ausnützte, wurde von den Völkischen geliefert, und von ihnen hat Bartels das'Resultat in die Literaturkritik übernommen. Später will er damit vor allem die expressionistische und proletarisch-revolutionäre Literatur treffen; um 1900 wendet er sich vornehmlich gegen das Feuilleton- und Romangeschäft in Berlin. Bartels geht wie Langbehn von einer Kulturkritik des Kaiserreiches aus, er hat für die 70er Jahre den Begriff „Feuilletonismus" geprägt oder durchgesetzt und die Literatur der Lindau und Blumenthal ihrer Korruptheit überführt; eine Zeitlang hatten seine Invektiven gegen Hermann Bahr, den er den „Commis voyageur der jüngsten Literatur" 19 nannte, oder gegen das Berliner Tageblatt durchaus Verwandtschaft mit Karl Kraus' Angriffen auf die Neue Freie Presse und die liberale Korruption. Im Zeichen des Antijudentums verbindet aber Bartels diese Angriffe mit der Aggression gegen Demokratie und zeitgenössischen Realismus. Dazu hilft das Wort Dekadenz, das Bartels wohl als erster, nachdem es Bahr aus Frankreich eingeführt hatte, diffamierend auf die Literatur von 1865 bis 1900 anwandte.20 Er definiert „Decadence" als „Erkrankung des Volkstums, die individuelle abnorme Entwicklungen hervorruft"21. Abseits von Untersuchungen zur Haltung eines Werkes gegenüber der Wirklichkeit, worin dieser Begriff allein kritische Funktion haben könnte, wird er also gänzlich biologisiert und durch Verbindung mit dem „Volkstum" der rationalen Einzelkritik entzogen. Außerdem dient er nationalistischen Gefühlen, da das damit Bezeichnete als Import erscheint. Bartels erblickt solche „Decadence" zuerst bei Heine, auch Büchner und Grabbe, danach wieder in den 60er Jahren, und zwar sowohl in der neukapitalistischen Genußsucht, im vulgären Materialismus, als auch im Aufkommen der Sozialdemokratie; schließlich assoziiert er damit Pessimismus und „Unsittlichkeit", so daß nebeneinander Wagner und Offenbach betroffen sind und am Ende Wedekind als „die Höhe der deutschen Spätdecadence" erscheinen kann.22 Damit fallen alle Unterschiede zwischen Wirklichkeitstendenzen und ihrer Gestaltung, zwischen Stoff und Gehalt fort, und an ihre Stelle tritt bloße Schimpferei. 25

Das Heil dagegen erwartet Bartels jetzt, am mutmaßlichen Ende der „Decadence", von der Heimatkunst, die er wesentlich als „Stammeskunst" auffaßt. Sein Ideal davon ist mit den Vorstellungen von „Heimatstolz", Kraft und Optimismus verbunden, mit dem, was völkisch „Idealismus" heißt und den Inhalt der auch von Langbehn propagierten „Erneuerung" ausmacht. Über die Zeitbestimmung, von der er sich dabei tragen ließ, war sich Bartels durchaus im klaren: Absolute Treue [nicht etwa Wahrheit - G. H.] ist ihr [der Heimatschriftsteller - G. H.] Hauptbestreben, Treue in der Erfassung der Natureigenart und der Volksseele ihrer Heimat. Und da kommt ihnen eine gewaltige Zeitströmung entgegen: Der Rückschlag auf die verflachenden und schabionisierenden Wirkungen der Anschauungen der liberalen Bourgeoisie und der leeren Reichssimpelei, wie auch des Internationalismus der Sozialdemokratie.23 Diese obenhin benannte Zeitströmung ist eben die völkische. Auf sie reagieren neben Bartels und Langbehn früh schon Ferdinand Avenarius mit seinem Kunstwart (seit 1887), Heinrich Sohnrey (Zeitschrift Das Land, ab 1893), der Türmer des Herrn von Grotthuß (seit 1896) und vor allem der damals bekannteste Verfechter der Heimatkunst: Friedrich Lienhard. Von den Nazis ist er allerdings trotz seiner Programmschrift Die Vorherrschaft Berlins (1900) nicht allzu hoch erhoben worden, weil er ihnen zu wenig „Träger neuer volkhafter Ziele" 24 war. Lienhard fragt: „Was ist ästhetische Kultur?" und antwortet: Aesthetische Kultur nennen wir jenen harmonischen Zustand, in dem ein erhöhtes Empfindungsleben mit der edel erschauten Erscheinungswelt in Eintracht ist. [ . . . ] Die Sehnsucht nach ästhetischer Kultur ist demnach eine Sehnsucht nach Freude, Güte und Harmonie. Unser Auge wird in diesem Zeitalter des hastigen Wettbewerbes beleidigt durch Verzerrungen, unser Ohr durch Dissonanzen, unsere Seele durch Lieblosigkeiten. Das moderne Nerven- und Seelensystem leidet darunter.25 Die Flucht vor den Widersprüchen wird zum 'inneren Erlebnis' erklärt. Nicht sollen die Kleineigentümer gegen die Großstadt, gegen Sozialdemokraten und Liberale marschieren, um ihren Besitz zu sichern, sondern sie sollen ihn, als schon Enteignete, in die erhöhte Empfindung retten und mit der edlen Anschauung zufrieden sein. Sie sollen innerlich marschieren. Die Depravation der Klassik und 26

ihrer Tradition von Innerlichkeit hat hier einen äußersten Punkt erreicht. Aber wenn schon der Spießer sich den Besitz nehmen läßt, auf dem inneren Erlebnis besteht er; Lienhards Credo ist, daß die anderen, die es nicht haben, minderwertig sind. Auf dem Grunde dieses Bewußtseins regt sich die Angriffslust gegen alles „politischsoziale Weltverbessern", wird „Gesundheit" gegen die „Fäulnis" der Großstadt ausgespielt, der Haß auf „die Masse" kultiviert. 26 Die „Linien", die dieser Mann sieht und propagiert, laufen von der Klassik einerseits über Carlyle zu Emerson, Thoreau, Ruskin, andererseits zu Gobineau, Wagner und Nietzsche. Sie laufen alle um Realismus und Naturalismus herum. Wir kamen von einer religiösen Jugendzeit und aus den Märchenwundern unserer Waldstille; wir kamen von Wittenberg, Wartburg, Weimar und fanden nur in der Kultur Bayreuths inneren Anschluß. Hier konnte man anknüpfen; denn in diesem Geistesbezirk ist nicht Schilderung der Degeneration Ziel, Sinn, Wesen der Poesie, sondern entschlossene Hinwendung zur R e g e n e r a t i o n . Nicht Verfall, sondern Aufschwung, nicht Skeptizismus, sondern Glaube an das Gute im Menschen. Aber der Naturalismus betrachtete die Dinge von der Kehrseite; und er herrschte unbedingt. 27 Auffällig ist, daß sich bei allen diesen Leuten mit der antisozialen Tendenz eine regressive Kunstanschauung verbindet; denn vom Gesichtspunkt der literarischen Technik aus bedeuten ihre Theorien sämtlich einen bewußten Rückschritt. Bei Lienhard auf den Rest von Klassizismus, den die Liberalen übriggelassen haben; bei Langbehn auf einen illusorischen Individualismus; bei Bartels auf die nachrevolutionäre Literatur der 50er Jahre, auf Otto Ludwig und Hebbel vor allem. Die Traditionsbestimmung von Bartels dürfte dabei die einsichtigste sein, sie deutet schon auf die zwei Hauptverfahren der späteren faschistischen Literatur voraus: auf den oberflächentreuen Pseudorealismus und die klassizistische Monumentalkunst. Ausgespart und als dekadent geschmäht wird fast die ganze moderne Dichtung, die des Auslands sowohl als auch der deutsche Naturalismus, die neuere Lyrik und Wedekind. Wenn Bartels vom Naturalismus zu lernen empfiehlt, so meint er gerade nicht dessen progressive Techniken. Das technische Ideal ist vielmehr ein handwerkliches. Man produziert von vornherein Bestimmtes und Gewünschtes für den direkten Austausch. Den Literaturmarkt, die großen Publikationsapparate hat man nicht erreichen können oder wollen; nun geht man 27

um sie herum, anstatt sie zu verändern. Man sucht und bildet sich kein Publikum, sondern Gemeinden von Gesinnungsgenossen, Ortsgruppen. D e r H e r k u n f t nach gehören sie zu der bedrohten Schicht von Kleineigentümern und Beamten. Langbehns Vater war Lehrer in Hadersleben in Schleswig, Lienhard ist Sohn eines Lehrers, Bartels der Sohn eines kleinstädtischen Schlossermeisters. Aus der kleinen Warenwirtschaft gehen sie in die unteren Intelligenzschichten über und vermitteln zwischen diesen Bezirken. Ihr sozialer Gestus erinnert am meisten an den Wilhelminischen Gymnasialprofessor oder Dorfschullehrer. Im 'Dorfpropheten' könnte man ihr Urbild sehen. Sieht man auch die bei Hermann Gerstner und Karl Schworm 2 8 abgedruckten Lebensläufe durch, dann stößt man überall auf verwandte Bereiche. Kein Proletarier ist darunter, alle betonen ihre bäuerliche Abstammung, ohne selber noch Bauern zu sein. Sie haben sich gerade so weit von den Kleinproduzenten entfernt, d a ß sie deren Ideologen sein und sie dem Staatsimperialismus zutreiben können. In ihrer Ideologie spielen Bodenständigkeit und Heimat die entscheidende Rolle: Bedrohter Besitz wird mythisch verklärt und gegen seine Auflösung verteidigt. Diese Orientierung aufs Land hat mehrere Ursachen. Am Bauerntum zeigten sich die Folgen des vordringenden Kapitalismus krasser und sinnfälliger als am Kleinbürgertum der Großstädte, und andererseits bot Landbesitz sowohl den Eigentumsaffekten als auch der poetischen Anschauung weiteren Spielraum. Die Regression ins Biologische und Mythische ließ sich mittels solcher Stoffe am leichtesten ausdrücken. D i e Lage war außerdem für D e klassierte auf dem Lande viel schlimmer, und ebenso waren dort konservativer Widerstand und Bereitschaft zu Aktionen eher anzutreffen als im Kleinbürgertum der Städte. Im Dorf und in der bäuerlichen Anschauung hatte die Sozialdemokratie nicht festen F u ß fassen können, obwohl seit den 70er und 80er Jahren überall die kleinen Wirtschaften in Bedrängnis gerieten. D i e Durchsetzung eines nationalen Marktes für ihre Produkte und dessen Ö f f n u n g f ü r den Welthandel stellten an die Arbeitsproduktivität dieser Wirtschaften Ansprüche, denen sie selbst bei schärfster Ausbeutung ihrer Knechte und Besitzerfamilien nicht gewachsen waren. Bismarcks Schutzzölle kamen nur dem großen Grundbesitz und seiner Ausdehnung zugute und beschleunigten noch das Gütersterben. Allerdings bestanden bedeutende regionale Unterschiede, die auf historische Traditionen zurückgingen, von den Ideologen aber zu rein stämmischen erklärt wurden. Für 28

eine umfassende Geschichte der Literatur dieser Zeit wären sie stärker als bisher zu berücksichtigen; anscheinend waren die Gebiete mit einer alten freien Bauernschaft, wie Niedersachsen, Friesland, der Weichselwerder, für präfaschistische Ideologien und Aktionen zugänglicher als diejenigen, worin erst vor zwei oder drei Generationen die Leibeigenschaft aufgehoben worden war und ein Landproletariat der sozialdemokratischen Agitation aufgeschlossener gegenüberstand. Die starke Konzentration der frühen Heimatliteratur auf Nordwestdeutschland dürfte ebenso wenig ein Zufall sein wie die der Naturalisten auf Schlesien oder die kolonialen Ostgebiete. Immerhin war die beschleunigte Zersetzung der alten ländlichen Verhältnisse durch das Kapital ein Vorgang, auf den nicht nur die Heimatliteratur reagierte. Fast alle Dichter und Programmatiker des Naturalismus kamen aus überwiegend ländlichen Gebieten nach Berlin; in ihren Schriften ist etwas von dem Erschrecken geronnen, das den Mann vom Lande bei der Einfahrt in ein Sodom von verschandelter Natur, Mietskasernen und Fabrikschornsteinen befällt. Der Übergang vom schulmäßigen Naturalismus zur Heimatliteratur und zu präfaschistischen Ideologien ist daher nicht selten festzustellen, man braucht nur an Max Halbe, Paul Ernst oder selbst Bartels zu denken. Ob ein solcher Übergang subjektiv möglich war, hing vom jeweiligen Grad der Annäherung an die Arbeiterklasse und ihre gesellschaftliche Theorie ab; objektiv wurde er durch den Revisionismus in der Sozialdemokratie erleichtert. Er hatte aber auch Konsequenzen für die literarische Technik. Gerade das Verhältnis von technischen und gesellschaftlichen Tendenzen in dieser Übergangszeit scheint eine nähere Betrachtung zu erfordern. Besonders aufschlußreich dafür ist Der Büttnerbauer von Wilhelm von Polenz (1898), ein Roman, der sowohl von Bartels als auch von Plechanow gelobt wurde und in nicht nur stofflicher Hinsicht die Lage deutlich bezeichnete. Die Intention dieses Romans steht zweifellos den Bauerndarstellungen von Balzac oder Reymont näher als der Heimatliteratur. Als ein typischer und seinem Wesen nach gesellschaftlicher Vorgang wird beschrieben, wie ein selbständiger Mittelbauer ruiniert und bis zum Selbstmord getrieben wird, während seine Kinder in andere soziale Schichten abwandern, ins städtische Lumpenproletariat, in die Landarmut und - der tüchtigste Sohn - in die Großstadt und zur Sozialdemokratie. Auch darin, daß alle für die Fabel wesentlichen Milieus 29

erfaßt und sachlich geschildert werden, spricht sich eine redliche Absicht aus. Dieser Roman ist wohl der einzige unter den damaligen 'Bauernromanen', dem man eine Reproduktion typischer Charaktere in Wechselwirkung mit typischen Umständen nachrühmen kann. Gleichwohl fühlt sich der Erzähler ständig zu Kommentaren genötigt, die das Erzählte in größere Zusammenhänge stellen und solche letzten Gründe für den Untergang des Traugott Büttner anführen sollen, die sich anscheinend der dichterischen Reproduktion entziehen. Der Erzähler findet sie schließlich im Eindringen des römischen Rechts, in der Trennung von Eigentum und Besitz und der damit geschaffenen Aktionsfähigkeit des mobilen Kapitals. Solche Anschauung, die freilich die realen Zusammenhänge von Recht und Ökonomie auf den Kopf stellt, bestimmt in mancher Hinsicht auch die Fabel, die sich auf den Agenten des Kapitals als den Handelnden konzentriert. Traugott Büttner hat das Gut, da kein Testament vorlag, mit Hypotheken seiner Geschwister belasten müssen, und mittels dieser Hypotheken wird er zur Aufnahme von Wechselschulden getrieben, die ihn schließlich dem Spekulanten ausliefern. Durch diese Anlage kommt ein Moment blinden Zufalls in das Werk. Hätte der Vater ein Testament gemacht, hätte der Graf dem Büttnerbauern rechtzeitig Geld vorgestreckt oder wäre das nicht durch den Spekulanten vereitelt worden, hätte die Schwester einen ordentlichen Mann geheiratet - wäre nicht alles anders gekommen? Diese Fragen des naiven Lesers bezeichnen den Sachverhalt, daß an Stelle einer Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit eine Wechselwirkung von Fatum und Geschäftigkeit beschrieben wurde. D a aber eine gesellschaftliche Notwendigkeit fehlt oder verdeckt ist, richten sich beim Leser die Affekte auf den Agenten des Kapitals, und der ist ein Jude. Nun sind Juden realiter an solchen Geschäften stark beteiligt gewesen, und der Samuel Harassowitz ist sicherlich ein 'typischer Charakter* im herkömmlichen Sinn. Aber er repräsentiert der Wirkung nach nicht, was er doch soll, das mobile Kapital, sondern eben „den Juden". Die präfaschistischen Züge des Romans und seiner Wirkung setzen sich, wohl gegen den Willen des Autors, gerade durch die konventionell realistische Technik durch, d. h. durch literarische Personalisierung. Dadurch wird Erkenntnis auf Zweitrangiges abgelenkt und mit falschem H a ß verknüpft. Das schlechte Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem läßt sich mit Händen dort greifen, wo Kommentar an Erzählung grenzt und letztere zum Beispiel herabgedrückt wird: 30

E s war eine Art von Leibeigenschaft. Und gegen dieses Joch waren die alten Fronden, der Zwangsgesindedienst, die Hofgängerei und alle Spann- und Handdienste der Hörigkeit, unter denen die Vorfahren des Büttnerbauern geseufzt hatten, federleicht gewesen. Damals sorgte der gnädige Herr immerhin für seine Untertanen mit jener Liebe, die ein kluger Haushalter für jedes Geschöpf hat, das ihm Nutzen schafft, und es gab manches Band gemeinsamen Interesses, das den Hörigen mit der Herrschaft verband. Bei dieser modernen Form von Hörigkeit aber fehlte der ausgleichende und versöhnende Kitt der Tradition. Hier herrschte die parvenühafte Macht von gestern protzig und frivol, die herzlose Unterjochung unter die kalte Hand des Kapitals. Man mußte dem Händler eins lassen, er arbeitete geschickt, mit 'Diskretion', ja, mit einer gewissen Eleganz. Sam besaß das Talent seiner Rasse in hohem Maße, anderer Arbeit zu verwerten, sich in Nestern, welche fleißige Vögel mit emsiger Sorgfalt zusammengetragen, wohnlich einzurichten. 29 Der Erzähler ist zwar von Antisemitismus nicht frei, hat aber keineswegs die Absicht, die Schuld am Untergang des Traugott Büttner dem Judentum zuzuschieben, wie schon die Zeichnung anderer negativer Charaktere beweist. Außerdem kennt Polenz die Verhältnisse zu gut, um nicht einmal die Agenten allein zum Ursprung des Bösen zu erklären. D e m Büttnerhof werden nachdrücklich zwei rentable Wirtschaften gegenübergestellt, ein modern verwaltetes Feudalgut der Lausitz und eine kapitalistisch betriebene Großwirtschaft. Aber das alles beseitigt nicht die affektive Wirkung, die durch die literarische Technik bedingt ist. Die Aufgabe, die der Stoff stellte, wäre die Reproduktion eines großen gesellschaftlichen Zusammenhangs sachlicher Art gewesen, der über die Entscheidungen des einzelnen Betroffenen weit hinausreicht, und zwar um so weiter, je universeller der Kapitalismus die Gesellschaft ergriffen hat. An die Stelle dieses Zusammenhangs stellt der konventionelle Realist die individuelle Fabel und Charaktere alten Stils. Die Folge ist Personalisierung des Unheils und damit die Ablenkung davon. Der Tod des alten Büttner, mit innerem Monolog wirkungsvoll ausgemalt, klagt nicht die von Menschen gemachten und veränderbaren Zustände an, sondern das Schicksal und einige schlechte Menschen. D a s Mißlingen dieses Romans konnte die Schwierigkeiten signalisieren, die sich neuerdings für die Darstellung eines „gesellschaftlichen 31

Kausalnexus" (Brecht) auftaten. Nicht nur der Niedergang der 'Dorfgeschichte', sondern der des älteren Realismus überhaupt hingen mit der Veränderung ihrer Gegenstände zusammen. Man kann sich das vor Augen führen, wenn man etwa Gottfried Kellers Novelle Romeo und ]ulia auf dem Dorfe mit seiner späteren Das verlorene Lachen vergleicht und dabei feststellt, wie mühsam das kapitalistische Geldwesen in die Novellenform hineingezwängt wurde. Wenn keine Reduktion stattfinden sollte, hätten die neuen Verhältnisse zu einer stärkeren literarischen Abstraktion, zur Verwendung von Modellen, Parabeln, Typen anstatt Charakteren drängen müssen, jedenfalls zur Aufsprengung der natürlichen Oberfläche. Das Problem wurde gelöst, soweit Kunstprobleme überhaupt lösbar sind, wohl erst durch Brechts Theorie und Praxis des epischen Theaters; aber aufgegriffen und bezeichnet war es schon in den ersten Dramen Gerhart Hauptmanns. Über den Äußerlichkeiten der naturalistischen Poetik hat man die technische Progressivität dieser Stücke meist übersehen. Sie liegt, kurz gesagt, darin, daß zwar der gesellschaftliche Zusammenhang nicht reproduziert, er aber auch nicht personalisiert wird, daß die Oberfläche der Gesellschaft in einer unverhüllt brüchigen Gestalt erscheint, um an den Bruchstellen den dunklen Untergrund freizugeben. Die fragmentarische Fabel von Vor Sonnenaufgang, die Hineinnahme von Erzählungen und losen Episoden sind der offene Ausdruck sich auflösender Verhältnisse. Die einzig erfaßbaren Bruchstücke des Lebens sollen nicht ideologisch verkittet werden. Der Bühnenraum bekennt sich als Ausschnitt; gegen die draußen lauernde Dunkelheit und Not werden Wände aufgebaut, die jene sichtbar machen, indem sie sie abhalten sollen. Eine für Hauptmann charakteristische szenische Figur ist der Blick durchs Fenster: Helene: .. . was sieht man den ganzen Tag? (Sie ist vor das Fenster getreten und weist mit der Hand hinaus.) Hauptsächlich solche Gestalten. Loth: Hm! Bergleute. Helene: Welche gehen zur Grube, welche kommen von der Grube: das hört nicht auf. - Wenigstens ich sehe immer Bergleute. Denken Sie, daß ich alleine auf die Straße mag? Höchstens auf die Felder, durch das Hintertor. Es ist ein zu rohes Pack! - Und wie sie einen immer anglotzen, so schrecklich finster - als ob man geradezu etwas verbrochen hätte. - 3 0 Alle solchen Blicke fallen im Frühwerk auf die Opfer des kapitalistischen Aufschwungs. 32

Durch diese Aufsprengungen „zerfiel hier - wichtigstes Fortschrittselement des bald liquidierten Neuen - , zum Teil, weil diese Dramatiker unter dem Einfluß der großen bürgerlich-zivilisatorischen französischen Romane standen, hauptsächlich aber einfach, weil die Wirklichkeit selber hier zu reagieren begann, die dramatische Form des Dramas. [ . . . ] Man kann sagen, daß mit der 'undramatischen' Form auch die bestimmten realistischen Stoffe wieder verschwanden oder umgekehrt: die Dramatiker liquidierten ihre Versuche." 31 Ertragreich war diese Technik nur dort, wo sie zur Darstellung gesellschaftlich wesentlicher Vorgänge verwendet wurde, also an Brennpunkten des sozialen Geschehens ansetzte; auch bei Hauptmann zerfiel sie in einzelne Neuerungen, als an Stelle der dunklen Wirklichkeit dunkle Ideologie abgespielt wurde. Vor Sonnenaufgang beschrieb ja, im Gegensatz zur Heimatkunst, nicht die Auflösung einer Idylle, sondern den Übergang von altbäuerlicher Ausbeutung zur kapitalistischen, eine Korruption schon barbarischer Verhältnisse. Die Umstände von Hanneies Himmelfahrt dagegen sind gleichsam zeitlos; der Blick, der mitleidig die Seele des Opfers sucht, verschließt sich der bestehenden Gesellschaft und Vorstellungen ihrer möglichen Veränderung. Die einzelnen Innovationen des Naturalismus waren zu begrenzt, als daß man sie nicht außerhalb ihrer ursprünglichen Intention hätte verwenden können. Max Halbe etwa, der von Hauptmanns Technik der Milieuwiedergabe und des natürlichen Dialogs viel gelernt hat, macht daraus etwas durchaus Atmosphärisches, eine äußerliche Belebung der in alter Art 'geschlossenen' Form. Schon in fugend (1893) fällt der Blick durchs Fenster nur mehr auf quellende Frühlingsnatur. Was vom Gegensatz zwischen Stadt und Land, zwischen Alt-Heidelberg und moralischer Enge, noch behandelt wird, bleibt im bürgerlichen Umkreis der Pubertätsnöte, und was Halbe zu diesem immerhin echten Problem hinzugefügt hat, um daraus eine Handlung zu ziehen: einen Idioten und einen fatal erfundenen Asketen (den Kaplan Gregor von Schigorski), das führt noch weiter ins unveränderlich Biologische und in Rassismus hinein, während die Fabel sich billig und konventionell abschließt. In Mutter Erde (1897) wird die mythische Natur, nun als Macht des Bodens, schon so bestimmend, daß man nur mehr von Heimatliteratur sprechen und den kurzen Weg begreifen kann, den Max Halbe bis zum Treuegelöbnis von 1933 und zu seinen Erinnerungen Scholle und Schicksal (1933, 2. Aufl. 1940) noch zu gehen hatte. 3 Härtung, Faschismus

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Vor dem Hintergrund der durch den Naturalismus aufgeworfenen Gestaltungsfragen ist die Heimatliteratur generell als Rückschritt zu begreifen. Ihrer technischen Tendenz nach bedeutet sie die Verdrängung dieser Probleme. Durch Ausschluß der offenen Widersprüche gewinnt sie eine konventionelle Oberflächenrealistik zurück und suggeriert mit ihr Geschlossenheit und Sinn der Vorgänge. Unter dieser Oberfläche setzen sich Konstruktionsweisen durch, die eine offene Dialektik von Gestalten und Umständen nicht mehr kennen. Beide sind durch die angestrebte 'Aussage' von vornherein festgelegt; die sozialen Widersprüche erscheinen nur noch darin, daß sie ausgespart werden. Die Motivation wird ins Innere der Figuren verlegt, in die 'Macht des Blutes' oder andere Zeitungsmetaphern. Zur Norm wird eine Figurenbehandlung, die vom bäuerlichen Charakter als einer Urgegebenheit ausgeht und dessen Starrheit zu mythischer Heroik verklärt. Aufschlußreich für die Ursprünge ist ein Blick auf den bedeutendsten Vorläufer der Heimatliteratur, auf Otto Ludwig. Denn in dessen Werken, vor allem in dem Drama Der Erbförster, sind die späteren gesellschaftlichen und technischen Tendenzen schon erkennbar, haben sich aber noch nicht von ihrem Entstehungsgrund abgelöst. Das Stück ist während der Revolution von 1848/49 entstanden und verhält sich ablehnend zu ihr. Dabei werden von den Revolutionskräften nur die plebejisch-proletarischen bezeichnet, so daß Revolution generell als Angelegenheit der Unterklasse erscheint. "Jetzt ist Freiheit, und die Ordnung hat aufgehört [ . . . ] Und die Fleißigen sind Spitzbuben; denn sie sind schuld, daß die braven Leute, die nicht arbeiten mögen, arm sind." 32 Die Sphäre, aus der diese Karikatur stammt, ist die Ideologie des natürlichen Rechtes; offensichtlich ist das Negativbild aus einer einfachen Umkehrung der Kleinbürgermoral gewonnen worden. In der gleichen Sphäre ereignet sich nun der Zusammenstoß des 'Erbförsters' Christian Ulrich mit seinem Freund, dem Fabrikanten Stein, als Kollision von alter, natürlicher Pflicht mit bürgerlichem Besitzrecht. Nicht nur diese Kollision, sondern auch mehrere Vorgänge besitzen sozialgeschichtliche Bedeutung; was dem Kleinbesitzer die Exmittierung bedeutete, das haben Otto Ludwig oder Ferdinand Raimund lange vor den Naturalisten und ergreifender als sie ausgesprochen. Doch werden diese Einsichten durch Ludwigs Technik des 'poetischen Realismus' wieder zunichte gemacht. Beabsichtigt ist die strengste Motivierung des Geschehens allein aus den Charakteren, die in seinem Gesellschaftsbild die obersten Werte dar34

stellen. Gesellschaftliches soll nur als Anlaß und Zwang zur Bewährung dieser Werte hinzutreten. Deshalb wird der Konflikt aus der unscheinbarsten Privatsituation entwickelt und im gleichen Bereich zur Katastrophe geführt. Zugleich aber wird dadurch dem einzelnen dasjenige als Schuld aufgebürdet, was doch in Wahrheit die Gesellschaft erzwingt. Die Opfer des ökonomischen Fortschritts seien Opfer nur deshalb, weil sie sich zu starrsinnig behauptet haben. Mit einem zwiespältigen Affekt, der an Wagnersche Opernschlüsse erinnert, erscheint am Ende der Rechtliche zugleich als Held der alten Moral und als Opfer seiner eigenen Unbedingtheit. Das Todesurteil, das dem altdeutschen Kleinbürgergeist gesprochen wird, wird sogleich wieder aufgehoben: noch in seinem Untergang beweist er, daß Recht Recht bleiben muß. Diesen unbedingten Charakteren der alten Gesellschaft, die nicht vor Tötungen zurückschrecken, wenn sie das 'alte Recht' zu vertreten glauben, gelten auch die Sympathien der Nachfolger Ludwigs. Doch lösen sie jene Charaktere gänzlich aus Verhältnissen gesellschaftlicher Wechselwirkung heraus. Zur bewußten Heimatliteratur gehört es, daß das Bodenständige, Seßhafte vorweg als Höheres betrachtet und daß die kapitalistische Vergesellschaftung, die sowohl Freizügigkeit als auch Auflösung des kleinen Besitzes mit sich bringt, nicht nur abgelehnt, sondern auch in der Darstellung tunlichst umgangen wird. Heimat erscheint aus regressivem Widerspruch heraus als rein natürlicher, nicht sozialer Begriff, als wenn die Vertrautheit mit der Umgebung, in der man aufwuchs, schon Geborgenheit darin bedeutete. Knechten und Mägden empfiehlt die Literatur, die heimische Ausbeutung vor jeder anderen zu lieben; den Besitzern verschafft sie die Illusion, daß nichts Äußeres sie von ihrem Hof oder Laden vertreiben darf; dem bürgerlichen Lesepublikum spiegelt sie einen Ausweg ins Natürliche und Gesunde vor. Für die Flut von Heimatliteratur, die um 1890 anhob und von 1900 bis 1910 ihren zunächst höchsten Stand erreichte, sind diese Bestimmungen als rohe Beschreibung der Ergebnisse eines Prozesses zu verstehen; sie gelten nicht für alles Hierhergehörige gleichermaßen. Nicht z. B. für die besten Werke Ludwig Thomas, die vielmehr Walter Benjamins Dictum bestätigen, daß die Satire „die einzig rechtmäßige Form der Heimatkunst" 33 sei. Auch nur in einiger Hinsicht für die Heer, Zahn oder Ganghofer, die Heimatwerte als Marktware ihren liberalen oder nationalliberalen Fabeln aufklebten. Die neue Haltung zur Gesellschaft ging nicht plötzlich aus einer 3«

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alten hervor. Schon in Immermanns Münchhausen (1838/39) hatten antikapitalistischer und antifeudaler Profest zur Verklärung der bodenständigen Arbeit, fast schon der Feme gegriffen; doch besaßen dieser Roman und die darauf folgende Literatur, von Otto Ludwig bis zu Theodor Storm, oder von der Ebner-Eschenbach bis zu Peter Rosegger, immer noch künstlerische Legitimität, solange die Provinzen nicht von der Expansion des Kapitals erfaßt waren, Widersprüche vor allem zwischen Adel und Kleinbauerntum bestanden und deshalb noch lokal begrenzten Stoffen zu entnehmen waren. Die neue Provinzliteratur jedoch setzt der Absicht nach den 'poetischen Realismus' unter gewandelten Voraussetzungen fort, indem sie diese negiert. Sie trägt kaum mehr Widersprüche aus, sondern verbohrt sich blind ins Begrenzte. Individuation, die doch noch Storms Schimmelreiter prägte, wenn auch als fragwürdige, fällt zunehmend fort. An ihre Stelle treten Charaktermasken, irrationale Kollektive und die Abhängigkeit von mythischen Mächten. Das Selbstverständnis dieser Literatur mag eine Äußerung von Timm Kröger vertreten: Als wesentliches Merkmal der Heimatdichtung oder Heimatkunst erkenne ich ihre Gebundenheit an einen Ort oder an eine bestimmte Landschaft mit Unterstreichung der in dieser Umwelt hervortretenden Eigenart bei Menschen sowohl wie bei der Natur. [ . . . ] Nur in einem Punkt legen die meisten sich Beschränkung auf; sie lehnen es ab, in den Stürmen der Zeit die Rolle von Kämpfern zu übernehmen. - Und hier läuft, wie mir scheint, der Strich, der uns von den Ganzmodernen scheidet [ . . . ] Sie nehmen an, die Ideen ihrer Zeitdichtungen seien für uns zu groß, und ahnen nicht, daß sie uns zu klein erscheinen.3'* Das ist für faschistische Konsequenzen offen. Sie werden darin bestehen, daß dieses Höhere zum Kampf gegen die Weltverbesserer übergeht; daß aus 'Heimat' ein Mythos wird, der alle möglichen chthonischen Kulte mit Besitzerideologie zusammenmengt; daß dieser Besitzmythos in die Geschichte zurückprojiziert wird, bis die These untrennbarer Einheit von 'Blut und Boden' daraus entsteht; daß schließlich diese Vorstellungen sich nationalistisch aufladen und die äußere Aggression vorbereiten helfen. Solche Konsequenzen werden sich stofflich erst in den 20er und 30er Jahren ausprägen, im Schrifttum der Blunck, Griese, Hans Grimm, Josefa Berens-Totenohl, doch sind sie von der Literatur vor 1914 vorbereitet und zuweilen auch schon erreicht worden. Ihre politische Entsprechung hatten sie da36

mais vor allem im Alldeutschen Verband. Was diese Heimatliteratair vorführte, eine von nationaler und internationaler Ökonomie freie Bodenbeziehung mit mythischen Ursprüngen und von mütterlicher Fruchtbarkeit, solange der persönliche Besitz nicht verlorenginge, diese regressive Utopie verschleierte die Erkenntnis, daß die Aufrechterhaltung des kleinen Grundbesitzes nur durch universelle staatliche Maßnahmen zu ermöglichen wäre. Die Vorstellungen der Nazis von einem östlichen Agrargebiet, beherrscht von den Wehrhöfen blonder Neugermanen und bedient von einer Unzahl slawischer Knechte, diese auch in ökonomischer Hinsicht barbarischen Vorstellungen sind im Bilde der Heimatliteratur schon angelegt. Daß nur in Deutschland und anderen faschistischen Staaten der Versuch unternommen wurde, solche Absichten mit Gewalt zu verwirklichen, befreit dabei nicht von der Feststellung, daß reaktionärer Bauernpreis eine internationale Erscheinung ist; es genügt-, auf Hamsun, Giono, Timmermans, auf Maurice Barrés und dessen Roman der nationalen Energie, dem Mussolini die berüchtigte Formel „la terre et les morts"35 entnahm, oder auf Steinbeck36 zu verweisen. Für die deutschen Produkte scheint ein extrem niedriges literarisches Niveau und die enge Verbindung mit den völkischen Kleinbürgerschichten charakteristisch zu sein. Die „Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität" 37 ist ein weit reichendes Symptom der bürgerlichen Krise, das nicht auf die Heimatliteratur beschränkt ist; diese aber, und zumal die deutsche, hat eine solche Regression anscheinend am populärsten, am stofflichsten und sicher auch am wirkungsvollsten propagiert. Ihre Ausbreitung soll an einigen Repräsentanten dargestellt werden. Den ersten rauschenden Erfolg, der bald darauf den Übergang von Erfolgsliteraten wie Rudolf Herzog in dieses Lager nach sich zog (Die vom Niederrhein, 1903), erreichte 1901 Gustav Frenssen mit seinem Jörn Uhl. Ungeachtet seiner weiten Verbreitung ist das Buch von den Bartels allerdings nicht als Heimatliteratur anerkannt worden und hat kaum über den Weltkrieg hinaus gewirkt. Die äußere Tendenz war ja eher nationalliberal: Zwei Großfamilien, die Uhls, Marschbauern und Altgermanen, und die Kreyen, Geestleute, Händler, ehemalige Wenden, werden als immer schon feindliche Gegensätze einander gegenübergestellt, und erst die junge Generation findet den Weg zueinander und in den Kapitalismus hinein. Jörn Uhl, dessen Vater und Brüder abgewirtschaftet haben, gibt den Hof auf 37

und wird Ingenieur, und Fiete Krey, treu wie alle Häusler, entwikkelt sich in Amerika zu einem Geschäftsmann, der seine Heimat auf die Höhe bringen wird. Dieses Bündnis von Bauern, Geldleuten und Technikern ist bei Gravelotte geschmiedet worden: „Erst war ihre Batterie allein gewesen, damals, als sie auf zwei Dampfschiffen über die Elbe setzten. Dann waren sie Regimenter geworden, dann Korps, dann ein Heer. Seit gestern waren sie ein Volk." 38 Der Kitt aber, den das Buch dazufügen soll, ist eine neuartige Innerlichkeit des Landlebens. Ich, Jörn Uhl, habe mich und meine Sache nicht genau angesehen und habe mich nicht gekannt. Ich habe die Uhl festgehalten, die mir nicht gehörte, und habe damit die Lüge fortgesetzt, die Vater und Brüder getrieben haben und damit ihren Jammer. Ich habe in schrecklich großer Arbeit gestanden, wie ein Pferd am Zieglergöpel, und habe in greulich harten Sorgen gesessen. Ich meinte, meine Lebensaufgabe wäre, die Uhl festzuhalten. Die Uhl . . . was ist die Uhl? Was ist die Uhl gegen meine Seele? und gegen Lena Tarns Seele? Und wenn einer die ganze Welt gewönne! Und nimmt Schaden an seiner Seele? Wer heilt ihm wieder die Seele? Mir ist die Seele hart geworden, und Lena Tarn ist tot, und Wieten hat schlohweißes Haar. Ich bin von oben angefangen, von der hohen Uhl her, hoch von oben, und bin gesunken . . . gesunken. Hätte ich hier auf dem Heeshof gesessen oder auf einem anderen kleinen Geesthof oder hätte sonst irgend etwas angefangen, etwas Kleines mit meinen Kräften, so hätte Lene gute Pflege gehabt, und Wieten wäre nicht so alt und so weiß, und ich könnte noch singen, wie einst, als ich ein Junge war, und hätte nicht den Jähzorn. Und so hätten wir auf dem wirklichen Grund und Boden gesessen, und hätten uns hinaufgearbeitet. Von unten anfangen, das ist alles! Ich will wahrhaftig von unten anfangen. So wahr mir Gott hilft. Ich will anfangen mit Läuferspiel, und will ein Kind sein wie der Bootsmann und der Kriegskamerad. 39 Mittels solcher Tendenz und dem Spinnstuben- und Predigtstil des Erzählens kommt eine neue Art von Naturkult in die fortschrittsfrohe Geschichte. Nach bewährtem Muster sind Eheschließungen deren Knotenpunkte, aber vermittelt werden sie durch das heimatliche Land. Es gibt da ein Wasserloch, den „Goldsoot", an dem Naturgeister schon immer lauerten, „einen Menschen, der des Weges käme, nach ihrer Gewohnheit zu bezaubern, daß er Vorsicht und Bedacht38

samkeit, und was ihm an Ziererei anhaftete, fahren ließ, und der Natur, die in ihm war, ihren Willen ließ . . ." 40 Das geschieht mehrfach; eine seinerzeit berühmte Stelle des Romans, die Beschreibung eines nackten Jungen an der abendlichen Quelle, „dahingestellt", damit ein ehestörriges Mädchen „zur Natur gesunde", zeigt exemplarisch, worauf das bürgerliche Publikum ansprach: auf einen antizivilisatorischen Affekt, der Bauerntum mit Natürlichkeit gleichsetzte und darauf verdrängte Sehnsüchte lenkte. Der falsche Optimismus des Romans predigt die Unterwerfung des menschlichen Geistes unter die Natur, einen Rückschritt auf die biedere, fleißige Einfalt mit treuen Augen. Die junge Generation soll dann ohne die Skrupel der älteren, auf deren Schultern sie steht, leben und kämpfen können. Da kamen zwei junge Menschen des Wegs und gingen Hand in Hand den Fußsteig nach dem Goldsoot hinunter, der im Mondschein weißlich glänzte. In ihren jungen Gesichtern lag jene heilige, ernste Freude, mit welcher ein Menschenantlitz geschmückt wird, wenn inwendig in der Seele alles Gute aufgestanden ist und mobil gemacht hat. Von dem Heiligsten und Schönsten, was in ihnen war, von Vertrauen und Liebe und gutem Willen strahlten ihre jungen, unschuldigen Gesichter, und in ihren Augen blitzte es wie von goldenen Waffen, gegen alles Böse zu streiten.41 So etwas Böses wird zum Beispiel der Herero-Aufstand in DeutschSüdwestafrika sein, wohin die jungen Leute ziehen. Das Retournons ä la nature ist im Hochkapitalismus leicht zur Stütze des Staates und seiner Expansion einzusetzen. Frenssen, der mit landläufigem Kitsch begonnen hatte (Die Sandgräfin, 1896), hat später folgerichtig deutsche Kolonialpläne bedichtet (Peter Moors Fahrt nach Südwest, 1906) und seinen Naturkult zur eigenen Religion ausgebaut (Hilligenlei, 1905; Möwen und Mäuse, 1928; Der Glaube der Nordmark, 1936). Doch stärker als diese ideologischen Schriften verbreitete die schöne Literatur Kultgesinnung. Abseits von nationalliberalen Tendenzen brachte etwa Hermann Stehr chthonische Mystik mit bäuerlichem Besitzgeist zusammen und beschrieb den Konkurrenzkampf von Bauern als mythisches Gesetz (Der Schindelmacher, 1899; Drei Nächte, 1909; Der Heiligenhof, 1917 u. a.). Seinen Figuren ist die antirationale Reaktion als ihr Innerstes eingesenkt. Von den Nazis ist er als einer der ihren anerkannt worden, unbeschadet seiner Freundschaft mit dem AEG-Chef und 'Großschriftsteller' Walter Rathenau, gerade weil seinen Dichtungen die unmittelbar staatlichen Bezüge 39

fehlten und dafür antigesellschaftliche, auch antirevolutionäre Affekte tiefsinnig zum Angelpunkt der Darstellung wurden. Ähnliches gilt für die um 1900 einsetzende neue Balladenproduktion, deren bekannteste Vertreter Börries von Münchhausen (Gedichte, 1897; Juda, 1900; Balladen, 1901; Ritterliches Liederbuch, 1903), Agnes Miegel (Gedichte, 1901; Balladen und Lieder, 1907) und Lulu von Strauß und Torney (Gedichte, 1898; Balladen und Lieder, 1907) waren. Die deutsche Ballade hat ihre mythischen Ursprünge nie ganz verlassen. Im Stoff, in der lakonischen Gewalt ihrer Reime, in der lyrischen Einbettung des Geschehens prägte sie Unentrinnbarkeit aus und hatte den Tod nicht nur zum Lieblingsgegenstand, sondern auch zur inneren Tendenz. Durch den späten Goethe und eine Tradition des 19. Jahrhunderts war die Gattung liberalisiert worden; Wedekind und später Brecht gewannen ihr durch moderne Gegenstände und Reflexion verfremdende Schocks ab; demgegenüber gab sich die neue Ballade der Völkischen als einfache Erneuerung der alten. Sie reagierte auf eine Neigung der Mittelschichten zu volkstümlicher Erbauungskunst. Als das Verlagshaus August Scherl zu Ostern 1906 ein „Preisausschreiben zur Wiederbelebung der deutschen Balladendichtung" veranstaltete, erntete es 4900 Zusendungen, und für die 50 abgedruckten schrieb Joseph Lauff, jener Lieblingsliterat Wilhelms II., ein Einleitungsgedicht mit folgendem Programm: Balladenzauber . . . ! E r wirkt und webt, wo dunkle Föhren ragen, Das Mondlicht irrt um moosiges Gestein, Im stillen Forst die Nachtigallen schlagen Und Edelherr'n um Wassernixen frei'n, Wo Leid und Lust sich still die Hände reichen, Uralter Mund verträumte Zeiten weckt, Und, wenn im Ost die letzten Sterne bleichen, Geheimnisvoll der Nachtmahr sich versteckt. Das Hifthorn tönt . . . es gurrt der wilde Tauber . . . Ein Schrei im Wald . . . ein mörderisches Erz . . . Ein letzter Hauch . . . ! Das ist Balladenzauber! E r nimmt gefangen und bewegt das Herz, [...] Das Wort erstarb dem sagenfrohen Munde, 40

Vergrämte Sänger irrten durch Gefild; Ein neuer Geist behauptete die Stunde, Und fremde Zeichen hob er auf den Schild. Das Heute wollte andere Gesänge, Frivole Kost und nackte Wirklichkeit . . . Zuweilen nur revierten leise Klänge Aus alten Tagen durch die neue Zeit. 42 Diesem populären Programm hatten auch die Einsender entsprochen, sofern sie nicht neckische Romanzen lieferten oder im Anschluß an Fontanes John Maynard und einige Gedichte von Bürger und Goethe die Form mit liberalem Ethos zu füllen versuchten. Doch von solchem Konservatismus setzten sich einige Beiträge (u. a. der von Hermann Löns) und eben auch die vorausgehenden Bücher der Miegel und Münchhausen durch entschlossene Regression ab. Bei ihnen sind Gegenwart und bürgerliche Zustände vollständig übersprungen. Ihre präfaschistische Modernität bekundet sich darin, daß sie die Ballade nicht mehr als Form ästhetischer Gegenwartsflucht, sondern als Gefäß für mythische Wirklichkeit betrachten; die Gattung soll ihren einstigen tödlichen Ernst zurückbekommen. Klänge und Formeln der alten Tradition wuchern weiter in Gebilden, deren Sinn und Melodie das Opfer des bürgerlichen Individuums bedeuten. Die populären Gedichte Münchhausens, die über die Jugendbewegung in weite Kreise drangen, haben die feudalmilitärische Haltung gleichsam frei konvertierbar gemacht; durchtränkt mit Sentimentalität, verklärten sie kriegerischen Einsatz und Gehorsam, ohne die Frage nach dem Sinn zuzulassen. Wie Münchhausen die neufeudalen Aufgaben verstand, mag ein wenig bekanntes Gedicht bezeugen: Das sind wir! Zu Heim und Schild geboren, Zu des Landes Schutz erkoren, Dem König sein Offizier, Treu unsern alten Sitten, In unsrer Bauern Mitten, Das sind wir! Wir bauen unsre Felder, Wir hegen unsre Wälder Für Kind und Kindeskind. 41

Ihr spottet der Ahnen? D i e H ü t e r Sind sie der einzigen G ü t e r , D i e euch nicht käuflich sind. W i r stehn mit starrem N a c k e n In des Marktes Feilschen und Placken In strenger Ritterschaft, W i r wolln in stillem W a l t e n D e m L a n d e sein Bestes erhalten: Deutsche Bauernkraft!' 1 3 Deutsche Bauernkraft dieser propagandistischen A r t haben auch die Balladen der Agnes Miegel und Lulu von Strauß und Torney zum G e h a l t . Sie äußert sich bei ihnen in monumentaler Statuarik; die konventionell übernommene Form dient zum Ausdruck mythischer Unfreiheit. Ihre Figuren handeln wie unter einem Bann, der ihnen nur festgeprägte Verhaltensweisen befiehlt. Dieser selten ausgesprochene Bann ist die Ideologie unlösbarer Verbundenheit mit dem Boden. Im Zeichen der Heimatverherrlichung gilt es der Miegel schon gleich, ob sie die alten Preußen gegen den Deutschen O r d e n oder den O r d e n gegen die Litauer v e r k l ä r t : Alles gerät in eine Stimmung von tragischer Notwendigkeit, die keine Besinnung erlaubt und nur das Bewußtsein vermittelt, auf einem schicksalsgetränkten Boden zu stehen, der von der ewig gleichen H a l t u n g seiner Bewohner gezeichnet ist und der mit dieser H a l t u n g immer wieder verteidigt und notfalls heim ins Reich geholt werden m u ß . Auch Lulu von Strauß und Torney, sicher die bedeutendste Dichterin dieser Reihe, zwingt ihren Gestalten solche undurchdringliche Starrheit auf. Sie versetzt die Hartnäckigkeit ihrer bäuerlichen Zeitgenossen in die G e schichte zurück und formt daraus einen mythischen Charakter. Auch wo sie revolutionäre Stoffe aufnimmt, sogar in einem R o m a n über den Stedingeraufstand ( L u c i f e r , 1907), treten Bauern und Feudale wie Urmächte auf. Bauernkrieg und Bauernaufstände sind damals gar nicht selten behandelt worden, doch - im Gegensatz zu den Darstellungen von Robert Schweichel oder G e r h a r t H a u p t m a n n - ohne Reflexion durch historisches Bewußtsein: Bäuerliche U r k r a f t wird vielmehr als ein Ewiges behandelt u n d d a d u r c h unmittelbar aktualisiert. W e n n Börnes von Münchhausen die Glocken v o m Bernwardsturm „stürmen" läßt, dann l ä ß t er auch „des Uthörns Blasen" gellen und eine „tau42

sendjährige Bauernkraft" aufstehen, an der ihn lediglich ihre dumpfe Vernichtungsvvut interessiert. „Das Büffelhorn, das lange geruht, / Veit Stoßperg nahms aus der Lade, / Das alte Horn, es brüllte nach Blut / Und wimmerte: 'Gott genade!'" 44 Der historische Stoff war für den Ausdruck präfaschistischer Tendenzen im allgemeinen geeigneter als der zeitgenössische. Das bewies schon eins der ersten Heimatbücher: Bartels' Roman Die Ditbmarscher (1897) mit seiner Schilderung der Hemmingstedter Schlacht von 1500. 'Es ist dein Bruder!' flüsterte Hans Bahr. 'Den such' ich eben', entgegnete Johannes Holm ebenso leise und zog sein Schwert. 'Was willst du tun?' 'Vorwärts!' Sie waren dem Verfolgten fast auf den Fersen, da sprengte er plötzlich von der Landstraße einen Nebenweg ins Sarzbütteler Moor hinab. Dorthin, mochte er denken, folgen dir die Holsten nicht. Aber Johannes Holm folgte und langsamer Hans Bahr. Nun dachte Karsten Holm an Weib und Kind und suchte in Gedanken an sie Mut zum Widerstand zu fassen, doch kehrte er sich nicht dem Gegner zu, sondern ritt weiter und weiter, bis sein Pferd, vom Wege abgekommen, plötzlich tief im Moor einsank. Da wandte er sein Haupt, indem er gleichzeitig sein Schwert zog - und erkannte seinen Bruder, erkannte zugleich auch sein Schicksal. 'Laß mich leben, Johannes!' Er dachte an keine Lüge mehr. Johannes Holm aber sagte weiter nichts, als das eine Wort: 'Landesverräter!' und spaltete ihm mit mächtigem Schlage das Haupt. E r sank seitwärts hinüber, vom Pferd aufs Moor, und das sich vergeblich loszureißen strebende Pferd begrub ihn, als ihm der herzukommende Hans Bahr das Schwert in die Weiche stieß. Dann eilten die beiden Männer schweigend auf Sarzbüttel davon.45 Die Darstellung folgt noch der Tradition des deutschen 'Professorenromans', besitzt aber einen ungleich bewußteren Gegenwartsbezug. Es werden zeitgenössische Losungen propagiert, die aus einem Bauernverräter einen „Landesverräter" machen und vorschlagen, wie mit solchen zu verfahren ist. Gewiß bot der Stoff, die Verteidigung der Dithmarscher Bauernrepublik gegen dänische und holsteinische Feu43

dale, einige Anknüpfungspunkte dafür. Ihre Verwendung jedoch läuft darauf hinaus, das historische Modell auf das kaiserliche Deutschland zu übertragen und dieses von unten her ideologisch aufzurüsten. Der Roman ist geradezu ein Schulfall für unterirdische Aktualisierung: durch Tilgung der sozialen Widersprüche im Lande, durch die Konstruktion einer kämpfenden 'Volksgemeinschaft'. Mythisierung der Charaktere, Intellektuellenhaß (Karsten Holm war Schüler einer Lateinschule und ist Städter), Germanenkult und anderes mehr. Wie sehr Bartels Schule gemacht hat, bis zu welchen Konsequenzen diese politisch intentionierte Richtung noch vor dem Weltkrieg kam, belegt ein Gedicht, das am Vorabend des Krieges das erste Niedersachsenbuch einleitete: Niedersachsen sind wir! Edelvolkes Blut! Tausend wilde Schlachten gewann Niedersachsenmut. Aller Völker Fahnen sanken vor uns in den Staub, unser ward der Erdball als Siegesraub. Das Salz der Völker sind wir, sind auserkoren als Herrscher der Welt, zu Herren geboren! Niedersachsen sind wir! Edelvolkes Blut! Weh dir Welt, wenn einst zu Grunde geht Niedersachsenblut und - Mut! 46 Die weitaus größte Popularität erhielt Heimatliteratur durch das Werk von Hermann Löns. Heute noch umgibt diesen Namen in weiten Kreisen ein Nimbus, der gegen Kritik hartnäckig abgeschirmt ist, auch wenn man einzelne Schöpfungen wie das Matrosenlied („Heute wollen wir ein Liedchen singen . . . " ) gezwungenermaßen fallenläßt. Die Gedichte des Kleinen Rosengartens (1911), wozu jenes ursprünglich gehörte, sind in ihrer Vertonung durch Fritz Jöde, Ernst Licht und andere wie Volkslieder verbreitet worden, und die Affekte, die auf Versuche von Kritik laut werden, gründen sich eben darauf: unklar wehren sich jene Gefühle, die von der Kulturindu44

strie in deren untere Sparte verbannt wurden, gegen die obere und zugleich gegen jede autonome Kunst. 47 Den Grund dieser Volkstümlichkeit wird man darin finden, daß in Löns' Liedern, die schon beim Singen kollektivbildend wirken, die Sehnsüchte nach einfacher, ungeistiger Natur als bereits gestillte erscheinen. „Da hinten in der Heide, / Wo der Birkenbaum steht, / Da wartet ein Mädchen, / Ihr Haar und das weht." 48 Der kleine Rosengarten gibt eine Kleinwelt einfachster menschlicher Beziehungen wieder, der gesamtgesellschaftliche Vermittlungen fehlen. Die sprachliche Technik, die das bewirkt, mischt eine Unzahl rudimentärer Formeln des alten Volksliedes mit Wendungen und Anschauungen der Umgangssprache, wie es auch die unterirdische Tradition der Landstreicher- und Fernfahrerlieder tut, grenzt sich aber von diesen doch naiven Erzeugnissen ab durch den anspruchsvollen, sogar programmatischen Bezug auf das Volkslied. Darin steckt ein Stück völkischer Ideologie. Die alten Formeln, die den zwar begrenzten, aber sicheren Lebensverhältnissen des frühen Bürgertums entstammen, drücken jetzt gleichsam den Anspruch von Kleinbesitzern aus, ihre Lebenssehnsüchte als selbstverständliche 'gesunde Natur' zu empfinden und sie deshalb auch anderen vorzuschreiben: „Bester Schatz, bester Schatz, denn du weißt es, weißt es ja". Zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, die derart auf unbefragte Natur zurückgeschraubt werden, gehört neben der Jägerei vor allem das Militär; wie fast alle Regressionen ins natürliche Einfache mündet auch die Lönssche im Ideal des Soldaten. Auf

Feldwache

Ich weiß einen Lindenbaum stehen In einem tiefen Tal, Den möchte ich wohl sehen Nur noch ein einziges Mal; Ich weiß zwei blaue Augen Und einen Mund so frisch und rot, O grüner Klee, o weißer Schnee, O schöner Soldatentod. [•••] Wo sich die Straße wendet, Da wohnt die Liebste mein, Ist meine Zeit beendet, 45

So will ich bei ihr sein; Und kann es nicht so werden, Und muß ich fort beim Morgenrot, O grüner Klee, o weißer Schnee, O schöner Soldatentod.49 Eine ähnliche Kurve beschreibt auch die Epik dieses Mannes. Sie ist hervorgegangen aus Feuilletons in Provinzblättern, für die Löns zunächst Jagd- und Naturerfahrungen, dann seine Kenntnis des Bauerntums der Lüneburger Heide verwertet hat. Feuilletonmäßige Anbiederung steckt in allen seinen populären Tiergeschichten und macht sicher das Wesen ihres Erfolges aus; es ist dabei nicht nur für Löns bezeichnend, daß völkische Ideologie mit den Mitteln der geschmähten Liberalen verbreitet wird. Im Widerspruch zu dieser Form jedoch preist er die Jagd als bewußten Atavismus. „Wenn ich jagen will, will ich Wildnis haben, will ich keinen Menschen, keinen Wagen hören, nichts hören und sehen will ich dann von Kultur, Urmensch will ich sein in der Urnatur." 50 Seine Entdeckungen am Bauerntum gehören in die gleiche Sphäre. Schon die Skizzen, die später unter dem Titel Die Häuser von Ohlendorf zu dem Roman eines Dorfes vereinigt wurden, beginnen mit der Beschreibung einer Femeaktion gegen einen Zugereisten, der sich nicht ins Dorf und seine ungeschriebenen Gesetze einfügen kann, und enden mit der Geschichte eines Totschlägers und Landstreichers, den die Gemeinschaft für treue Dienste belohnt. Die Rangfolge nach dem Besitz, die Herrschaftsstruktur im alten Dorf, wird in keiner Weise in Frage gestellt; Heil oder Unheil des einzelnen liegen in seiner Fähigkeit, sich in der vorgegebenen Stelle einzurichten oder es nicht zu können. Eine positive Entwicklung in diesem Sinne gestaltete Löns mit seinem Roman Der letzte Hansbur (1909). Der Hoferbe eines altansässigen Geschlechtes, der wie viele seiner Vorfahren „zu viel Hitze im Geblüt hat" und wie sie „kein Mann für geruhige Zeiten" ist, sondern ein „Kerl, wie man sie braucht, wenn die Kriegsvölker zu Gange sind"51, dieser letzte Urbauer kommt in den friedlichen Zeiten der Jahrhundertmitte nach Wilderei, Kartenspiel und Trunksucht schließlich dazu, seine Kraft in die Modernisierung seiner Wirtschaft zu stecken, wird Vorstandsmitglied des landwirtschaftlichen Vereins und stirbt in Frieden und Ruhm. Ein Mann mit Lönsschem Humor beschreibt ihn wie folgt: „'Stimmt', meinte der Rittmeister; 'es ist, 46

als ob man einen von den alten Longobarden sähe, wie sie aus Jütland hier herunterkamen, sich die Lappen und Eskimos ansahen, die hier herumkrebsten, und sagten: 'So, nun wilt wi erst dat Takeltüg dotslan und denn 'n reellen Betrieb infoihrenl' Er hat das Zeug zu einem Eroberer in sich.'" 52 Auch Hehlmann, der letzte Hansbur, empfindet sich so. (Er hat seinem Pferd beim Sprung über einen Graben einen Pfahl in die Brust gejagt und muß es töten:) Er überlegte einen Augenblick, dann trat er dicht hinter das Tier, holte aus und schlug es mit der vollen Faust gegen den linken Schlaf, und so wie der Schlag gefallen war, ließ es den Kopf hängen. Der Bauer holte tief Luft und ihm war, als müsse er sich über seine Kraft freuen. Dann nahm er das Klappmesser, schnitt dem Fuchs die Schlagader am Hals durch und blieb so lange dabei stehen, bis er abgeblutet war. Einen Augenblick schämte er sich; er hatte das schöne Tier unnütz in den Tod gejagt. Aber dann bekam er blanke Augen; es war doch einmal etwas anderes, und wie er so dastand und das tote Tier ansah, das halb auf dem Ufer und halb im Wasser lag, da dachte er sich, wie einzig schön es sein müsse, so um diese Zeit, wenn der Himmel über dem Walde rot wird, langsam über das Schlachtfeld zu reiten und auf die hinzusehen, die steif und kalt neben ihren toten Pferden lagen. Das war denn doch noch ein Leben; wenn man auch selbst dabei vor die Hunde ging, das machte nichts aus. Wolf von Hohenolte hatte auch so gedacht. Der alte Pastor war beinahe umgefallen, als er Wolf fragte: 'Was ist ein seliger Tod, mein Junge?' und Wolf geantwortet hatte: 'Kugel vor den Kopf, Herr Pastor, und Salve über dem Grabe.' 53 In die ideologische Ehe zwischen Adel und Altbauerntum, die dem Löns wie allen Land-Ideologen seit Langbehn vorschwebte, hat er die atavistischen Verdrängungen der Bauern eingebracht, die durch ihn nach der „schlagsahnigen Frensserei"5* bewußt gemacht und mit aktuellen Bezügen propagiert wurden. Der letzte Hansbur ist ein Bauernkrieger in liberaler Zeit; in anderen Zeiten wird er andere Ventile finden. Wie er sich im Kriege benahm und wieder benehmen würde, das beschrieb Löns in seinem letzten und erfolgreichsten Roman: Der Wehrwolf (1910, entstanden 1909). Dieser Roman, den Walter Linden mit Recht ein „völkisches Grundbuch" nannte, hat den Freikorps und Femeverbänden der Nachkriegszeit Verhaltensmodelle, der völkischen Jugendbewegung ein Zeichen (die „Wolfs47

angel") und schließlich dem letzten Aktionsversuch der Hitlerjugend Namen und Symbol gegeben; seine Breitenwirkung ist schwerlich zu überschätzen. Sie beruhte auf einer fast schon faschistischen Vereinigung von Totschlagelust mit äußerer Legitimität. Beschrieben wird die Feme von Bauern gegen marodierende Soldaten und Plünderer im Dreißigjährigen Krieg, und zwar mit dem Gestus eines sehnsüchtigen Veteranen: E s war ein düsterer Spätherbsttag, als Harm Wulf auf immer schlafen ging, und während der Leichenandacht auf der Deele nieselte es. Als aber der Prediger nach der Beerdigung von der Kanzel den Nachruf für den Toten hielt, worin er ihn mit Simson verglich und mit Judas, dem Makkabäer, die ihre Völker vor den Feinden bewahrten, rot bis an den Hals vor Blut gewesen waren und doch Gott wohlgefällig, da kam die Sonne durch und alle Gesichter sahen hell aus, und auch die Wehrwölfe bekamen blanke Augen und dachten an die schrecklichen und doch so schönen Tage, da sie einen Tag um den andern die Bleiknüppel über der Hand hängen hatten. 5 5 Die Aktionen sind gegen revolutionäre Folgerungen sorgsam abgeschirmt, äußerlich durch ein gutes Verhältnis der Bauern zum Landesfürsten und zur Kirche, innerlich durch die Voraussetzung, daß nur Besitzende und ihre Getreuen mitmachen dürfen. 'Wulfsbauer', sagte der Engenser, 'wir können jetzt die Ohren steifhalten, wir gemeinen Bauern. Bei uns haben wir das schon abgemacht: Tatern [Zigeuner - G . H.] und anderes fremdes Volk, das sich bei uns sehen läßt, das wird ohne weiteres mit der Peitsche begrüßt, denn die Bande zeigt den Räubern, denn was anderes sind doch diese Kriegsknechte nicht, bloß den Weg, wo es was zu holen gibt. In Ehlershausen haben sie vorige Woche zwei von diesen Kerlen, die ein Pferd von der Weide geholt hatten, in aller Heimlichkeit aufgehängt und beigerodet. Und das ist ganz recht so: denn erstens sind es keine richtigen Menschen, und außerdem, warum bleiben sie nicht, wo sie hingehören?' 5 6 Auf dieser Basis entfaltet sich der gräßliche Schlaah-doot-Humor des Buches, der wohl zu gleichen Teilen vom Bauerntum wie von schlagenden Verbindungen herstammt und in den Kriegsberichten von 1914 eine aktuelle Entsprechung gefunden hat. Als der Weltkrieg ausbrach, sagte Löns: „Mein Kriegslied habe ich bereits 1910 geschrieben; das ist der Wehrwolf." 5 7 In der T a t entsprach sein

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Modell von 'verfolgender Unschuld' (Karl Kraus) der deutschen Ideologie des Krieges genau. E s reichte aber der Wirkung nach über sie hinaus, weil die Verhaltensweisen, die es propagierte, nicht aktuell eingeschränkt waren. Sie zielten darauf, soziale Aggressionen an Stelle der sozialen Revolution und also gegen sie freizusetzen. D a ß diese Tendenzen aber noch weiter zurückreichen und in Bauernstoffen nur ihr geeignetstes Material fanden, mögen schließlich einige Strophen von 1890 bezeugen. Sie sind einem Gedicht entnommen, das gewissermaßen die Periode von Löns' 'sozialer Dichtung' beendete, und zeigen, daß damals schon aus einer pseudorevolutionären Gesinnung, die nichts mit dem Proletariat und seiner Theorie zu tun hatte, Schlimmes hervorgehen konnte.

Neu

Thermopylä

Rechts unten da winkt hinter gähnendem Spalt D a s zwanzigste, neue Jahrhundert, Auf zackiger Klippe zusammengeballt Stehn ruhig die jungen Dreihundert, Dazwischen auch manch strammer Berserkergreis Mit schlachtnarbig ruhmvollem Leib, Und rosenwangig und händeweiß Manch stolzes und geistkühnes Weib. Von links her stürmen mit rohem Geschrei D e r Feinde wutspuckende Horden, Mit allem, was niedrig und ekelhaft sei, D i e heilige Schar zu ermorden. E i n Sprenggeschoßhagel fällt dicht auf uns ein, Umflötet uns Helme und Haupt, Kein einziger weicht aus den kampffrohen Reihn, An den Sieg jeder Mitkämpfer glaubt. [...]

Schon türmt sich von Leichen ein herrlicher Wall, Des Feindes Kadaver uns schützen, Auf krachende Schädel mit knirschendem Schall Die harten Gewehrkolben blitzen, O wonniges Fechten im spritzenden Blut, 4

Härtung, Faschismus

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Die brechenden Augen zu schaun, Zerplatzt ist des Feindes mordgrimmige Wut Und es packt ihn des Unsieges Graun. Der Sieg ist unser - hinab in die Gruft Die Leiber mit siegfrohem Blicke, Füllt aus des gestorbnen Jahrhunderts Gruft, Aus Feindleichen baut euch die Brücke, Stimmt an das neue Befreiungslied Im leuchtenden Frühsonnenschein, Mit klingendem Spiel die Treuschar zieht In das neue Jahrhundert hinein! 58 Was hier sich in Formen und Anschauungsweisen des 19. Jahrhunderts ausspricht, ist fast schon SA-Gesinnung. Haß und übermütige Angriffslust, vom Kapitalismus bei Opfern und Bedrohten massenhaft erzeugt, formieren sich zur militärischen Aktion für eben dieselbe Ordnung. Denn diese Truppe, die da „mit klingendem Spiel" ins neue Jahrhundert einziehen will, legitimiert sich dazu kaum noch durch Ideale oder Phrasen, aber um so mehr durch ihren eigenen „Mordgrimm", der freilich mit allem, „was niedrig und ekelhaft sei", sogleich auf den Gegner übertragen wird. Ohne Zweifel stellt sie kein Potential für die soziale Revolution dar. Eher bezeichnet sie die Rolle, die künftig Studenten in Freikorps und SA spielen werden. Auch wenn später einmal, was selten geschieht, die plebejischen Elemente der „Bewegung" literarischen Ausdruck finden sollen - bei Bronnen, Ernst von Salomon, Ewers - werden sowohl die Autoren als auch ihre Stoffe jener unteren Schicht von Intellektuellen entstammen, der schon Löns äußerlich und innerlich zugehörte. Die SA bot ein Aktionspotential, an das sich aggressive Sehnsüchte gleichsam anheften konnten. Wo solcher Anhalt noch fehlt, wird ein Autor wie Löns, der im Gegensatz zu den Frenssen und Lienhard den nackten Kampf sucht, Volksschichten bevorzugen, denen am ehesten solche nichtsozialistischen Aktionen zuzutrauen sind. Es ist eben dieses Moment realer Volkstümlichkeit, was den Löns von gleichzeitigen Gewaltpropheten ä la Ludwig Derleth und auch von den Aktivisten des Siebenten Ringes unterscheidet. Sogar im Neuen Reich, wo George sich und seine Schar der antiliberalen Aktion zur Verfügung stellt, wo „der Brandstifter als Entzünder, der Täter als Prophet des Büttels rezipiert"59 wird, bleiben doch noch die elitäre 50

Haltung und Selbstentscheidung gewahrt, die 1933 den Widerstand des Kreises und seine Unverwertbarkeit durch die Nazis bedingen sollten. Demgegenüber kennzeichnet es die Eigenart von Löns, daß er den unreflektierten, lenkbaren Aggressionsgelüsten im Volke selber Ausdruck gegeben hat.

Paul Ernst und die völkische Stilkunst um 1910 Es wäre unrichtig, beim Fall Löns von Renegatentum zu sprechen. Hermann Löns war der Sozialdemokratie nie verbunden, sondern hat nur eine Zeitlang die 'soziale Mode' mitgemacht, die auf den Naturalismus folgte. Renegat jedoch war ein anderer, mit Löns gleichaltriger Schriftsteller, der aus den gleichen Gärungszuständen hervorging, sich von seinen Gesinnungsverwandten aber durch ideologische und künstlerische Bewußtheit absetzte: Paul Ernst. Obwohl sein Werk wenig ins Breite gewirkt hat, repräsentiert es die Hauptstationen der frühen faschistischen Literatur wie keines sonst. Dieser Sachverhalt hängt sogar mit Emsts Renegatentum eng zusammen. Bekanntlich hat der Mitarbeiter der Neuen Zeit und Autor großer sozialökonomischer Studien, ein zeitweiliger Parteigänger der „Jungen", erst um die Mitte der 90er Jahre seinen Übertritt zur Literatur vollzogen und damit fürs erste sein politisches Engagement aufgekündigt. Zuerst veröffentlichte er 1898 zwei Einakter im naturalistischen Stil: Lumpenbagasch und Im Chambre séparée. Schon diesen Versuchen ist zu entnehmen, daß unter der literarischen Hülle sich hauptsächlich eine neue politische Ideologie ausbildete. Das geht zunächst daraus hervor, daß in diesen und in den zunächst folgenden Werken der ganze Bereich des Proletariats und der Revolution nicht mehr vorkam, und weiter erschließt es sich aus dem verborgenen Standpunkt, von dem aus das Dargestellte geordnet und gewertet worden ist. Dieser Standpunkt lag nicht mehr auf politischem oder sozialem, sondern auf rein moralischem Gebiet. Es war der gleiche, der dann Gehalt und Gestalt von Emsts Novellen bestimmte und schließlich in seinen Bemühungen um die Tragödie als zu einer eigenen Ideologie ausgeweitet erschien. Die spät erreichte Ideologie nun läßt sich definieren als eine radikale Ethik aus dem Geiste des Kleinbürgertums zur Erneuerung der Gesellschaft. In zehn Jahren dichterischer Produktion war damit ein ideologisches Moment zu sich selber und zum System gekommen, das doch schon Emsts frühere Arbeiten im Verborgenen mitbestimmt 4»

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hatte. Bekannt ist die Abfuhr, die seine Literaturkritik 1890 durch Friedrich Engels erfahren hat. 60 Engels polemisierte damals gegen das Schema 'spießbürgerlich', das Ernst unterschiedslos der modernen Literatur aufgelegt hatte, und traf damit einen neurotischen Punkt in dessen Vorstellungen. Denn schon den Sozialismus dieses Mannes färbte eine stark moralische Anschauung, die Tugenden wie Rechtlichkeit oder Treue auf das Proletariat projizierte und von ihm eine Art von Heroik erwartete, die im Kleinbürgertum, ihrer Geburtsstätte, nicht mehr anzutreffen war. Diese Ideale behielt er bei, als er sie in der Sozialdemokratie nicht mehr befolgt fand, und schließlich führte er sie gegen den Sozialismus ins Feld. Aus seiner sozialdemokratischen Zeit brachte er in die neue Ideologie den antibourgeoisen Affekt mit ein, ohne den keine faschistische Ideologie auskommt, wenn sie auf die Massen wirken will, und weiter eine gewisse Klarheit über die Aussichten des Kleinbürgertums als einer gesellschaftlichen Schicht; außerdem noch die Absicht, mit seiner Theorie nicht nur Teile der Gesellschaft, sondern ihr Ganzes zu umfassen. Die Heimkehr des verlorenen Sohnes geschah nicht auf naive Weise. Seine Ethik ist ohne Verheißung; Unterordnung, „reine Ehre und strenge Pflicht" verkündet sie den Massen, „höhere Wesenheit", die sich tragisch offenbart, den Führerpersönlichkeiten. Die Zuordnung der Menschen zu beiden Gruppen übernimmt, da Eigentum oder Besitz ethisch nicht in Frage kommen, ein unverhüllter Irrationalismus. Es entsteht gleichsam eine Metaphysik des Beamtentums, Pflichtethik in jener absoluten Gestalt, die faschistische Intentionen ohne die Stütze einer entsprechenden Partei annehmen, und mithin die Erneuerung eines vorbürgerlichen Modells personeller Herrschaft. Auf dem Wege dorthin machte auch Paul Ernst bei der Heimatliteratur Station. Der merkwürdige Roman Der schmale Weg zum Glück (1903, entstanden 1901), wohl das einzige Werk der Zeit, das den Programmen von Langbehn oder Lienhard nahekam, sie aber gerade dadurch desavouierte, stellte dieser Literaturrichtung ein überlegtes Modell auf. Seiner Fabel liegt das Muster des Entwicklungsromans zugrunde, das hier besonders deutlich eine Eignung für ideologischen Mißbrauch offenbart. Beschrieben wird der Weg eines Förstersohnes erst zum sozialdemokratischen Studenten und dann zum Besitzer eines Forstgebietes, und zwar unter ethischem Aspekt: als Läuterung des naiven Kleinbürgertums zu einem höheren der Idee. Diente der Vater noch einem Grafen, so dient der Held nur 52

mehr der Pflicht der Tradition; war jenem der Dienst natürlich und deshalb angemessen, so schließt das neue, ideelle Dienstverhältnis einen Anspruch auf Führung ein. Vom Harz geht der Sohn aus, zum Harz kehrt er zurück; die Antithese, die Negation in diesem Dreischritt, stellen die Großstadt, Berlin, und darin die Sozialdemokratie. Hans Werthers schließliche Abwendung von ihr wird folgendermaßen erzählt: D a erschien ihm plötzlich der Drang nach Gerechtigkeit und der Wunsch auf Gleichheit als ganz unreif, und er kam sich vor wie das Kind, das den Ozean mit der Nußschale ausschöpfen wollte, weil er einst geglaubt hatte, er könne durch ein Urteil über Recht und Unrecht in diesen gesellschaftlichen Vorgängen eine Einsicht haben, die doch durch den geheimen Lebenstrieb der gesamten Gesellschaft bestimmt werden; und in Wahrheit hatte er vielleicht die Auflösung und den T o d der Gesellschaft erstrebt durch seinen Drang und seinen Glauben. Ganz neu und unbestimmt kam ihm nun zuerst der Gedanke, daß dieser Maurer oder Zimmermann neben ihm nicht behaglich leben dürfe, wenn er selbst oder ein anderer sollte höher kommen können, nicht zu Behagen, sondern zu höherer Wesenheit, und indem fühlte er plötzlich, daß er diese Menge von dumpfen und selbstzufriedenen Menschen haßte. 6 1 Zugleich mit der Gesellschaftskritik wird jede Individuation abgewiesen, die sich auf rationale Erkenntnis gründet; Gesellschaft ist als etwas Irrationales gedacht; an die Stelle ihrer Veränderung tritt als Ziel eine persönliche 'Eigentlichkeit', die ohne weiteres das Opfer des Glücks anderer fordert und sich im H a ß auf die Masse bestätigt. Seine Persönlichkeit gewinnt der Held am zweiten Umschlagpunkt seiner Laufbahn, durch Heimkehr in die Tradition. Das Wesentliche, das in der Großstadt verlorenging und durch Boten der Heimat wiedergebracht wird, sei Kontinuität; nicht eine des Individuums, sondern eine der Familie und der Bindung an die Natur. Im Försterberuf, diesem völkischen Idol des Ausgleichs von natürlichem und institutionell gesichertem Leben, faßt sich das bequem zusammen. Hansens Vater war noch gräflicher Beamter in Treue und Redlichkeit, Hans jedoch wird der E r b e dieses Grafen, mit dem es abwärts ging, der Mann seiner Tochter und Förster aus Weltanschauung. Sein Glück ist freilich ebenso erlogen wie der schmale W e g dorthin. E i n Wunschtraum drückt sich darin aus, der auch in unverhüllter Offenheit erscheinen kann:

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In unserer Zeit ist die Gesellschaft bis in ihre letzten Tiefen aufgerüttelt, und alle alten Bande sind gesprengt, die bewirken, daß es ein Unten und Oben gibt. Manche Menschen meinen, daß dieser Zustände Ende eine völlige Gleichheit aller Menschen sein werde; wer aber genau zusieht, der wird merken, daß diese allgemeine Ungebundenheit im Gegenteil eine neue und tiefere Scheidung der Gesellschaft bewirkt, indem die Tüchtigen sich zu den Tüchtigen scharen und die Schlechten zu den Schlechten.62 „Unten", „Oben" und „Tüchtigkeit" sind verräterische Worte. Sie entledigen die „höhere Wesenheit" ihres schönen Scheins, so daß darin vor allem die Angst sichtbar wird, ins Proletariat abzusinken, wenn man nicht etwas Besseres und zum Herren bestimmt ist. Solche Angst ist aber nicht zu besiegen, sobald man erst einmal etwas von der Tendenz des Kapitalismus erkannt hat. Sie reproduziert sich in dem düsteren Fatalismus des Buches, wonach Tüchtigkeit oder Schlechtigkeit des einzelnen von seinem Willen überhaupt nicht abhängen. Nun aber, in dieser Nacht der Verzweiflung, habe ich ein neues Licht gesehen, und ich weiß nun, daß niemand eine Schuld hat, nicht meine Eltern und nicht ich, sondern wir sind getrieben durch eine Macht zu dem Ende, das sie gewollt hat, und ich glaube, daß ihr Wille gut und nützlich ist. Denn wenn die Macht den Willen hat, daß einer ins Licht kommen soll und sein Geschlecht in die Höhe führen, so ist der pflichtlos und heiter, sorgt nicht und ringt nicht, und ohne sein Zutun wächst er, wie der Baum wächst, hoch wird und breit, und seine Form ist ebenmäßig; aber wer ringt und wessen Gewissen kämpft und wer will und wessen Verstand ein Ziel sieht, der ist ein Mensch, der zerfällt, denn er hat sein Band nicht mehr. 63 In technischer Hinsicht führten diese Anschauungen zu konstruktiver Willkür, zum rücksichtslosen Zurechtmachen von Gehalt und Form. Dabei bestimmte die gleiche Absicht, welche die Fabel sich zurechtbog, auch die bewußte Formgesinnung. Deren Charakteristikum ist der Rückgriff auf vorpsychologisches Erzählen im parataktischen Märchenstil. Und zwar wird auf Psychologie deswegen verzichtet, weil sie bereits als 'zersetzend' erscheint, nicht wegen ihrer vermutlichen Irrelevanz für die Aufdeckung gesellschaftlicher Verhaltensweisen. Schon vor seinem Roman hatte Ernst die ältere Novellenform erneuert; deren statisches Menschenbild dient nun, ins Gefüge eines Entwicklungsromans überführt, zum Ausdruck starrer Fatalität. 54

Alle Wendungen des Verlaufs kommen durch ein „plötzlich" vom Himmel der Ideologie herab. Die Willkür der Fabel, die durch ein Liebesverhältnis Tüchtigkeit und Tradition mit dem nötigen Kapital versieht, brauchte zur Abdeckung Fügungen aus Lutherdeutsch, Töne von Novalis und Arnim neben jugendstilhaftem Kitsch: Wie eine harte Kruste verdeckt die Erzählsprache die abgetötete Wirklichkeit. Der Wille zum Stil, durch den sich Emsts Roman von der übrigen Heimatliteratur absetzte und mit dem eine Periode bewußter Monumentalisierung begann, bezeichnete außerdem einen noch tiefer liegenden Unterschied zur Mode: nämlich die Absicht, die reaktionären Gehalte von 'Heimat' und 'Tradition' aus einer pseudogesellschaftlichen Reflexion zu gewinnen, anstatt sie, wie üblich, naiv auszudrücken. Die gleiche Intention auf gesellschaftliche Verbindlichkeit veranlaßte anscheinend auch den Autor bald danach, die Brüchigkeiten seiner Ethik und seiner Prosa tilgen zu wollen, selbst wenn dabei der schmale Weg zum Glück gänzlich verlorenginge. Er schritt zu einer Ethik vor, die das Glück ganz und gar abweist, es höchstens in bewußter Entsagung sucht, und zum Drama als zu der abstraktesten Gattung. Paul Emsts neuklassizistische Dramen tragen die Absicht an der Stirn, eine geschlossene Ideologie in Form umzusetzen. Vorschwebt ihm Tragisches als ein so allgemeines Gesetz, daß alle individuellen Kollisionen in der reinen Form erlöschen. Doch liegt das Besondere und zugleich das Faschistische an diesem letzten Glied einer Kette von Versuchen, Tragik zum Welterlebnis zu verabsolutieren, in der Heroisierung und gleichsam ständischen Festmachung der tragischen Würde. Denn nur Edle gehen bei ihm tragisch unter, nicht durch Schuld, sondern Verstrickung, und nur durch diese Verstrickung beweisen sie Adel und Führertum. Später wird Ernst seine Intention so ausdrücken: Die künftige Religion, die am ehesten dem chinesischen Ahnenkult vergleichbar sein wird, weil hier wie dort die Tradition alles, der einzelne nichts gilt, „diese Religion würde das Ziel haben, daß die Menschen sich aufopfern, um ein Höheres aus sich zu schaffen". Schon längst hätte „unser höheres geistiges Leben" auf dem Lebensgefühl der Tragödie aufbauen müssen.64 Die Wendung zur Religion, also zur Verpflichtung der Massen auf die tragischen Führer, ist wohl erst durch den Weltkrieg ausgelöst 55

worden, wird aber in den Dramen schon vorbereitet. Es sind kultische Stücke. Und zwar gilt ihr Ritual einer gesellschaftlichen Ordnung, die den einen zum heroischen Herrscher, die anderen zur Menge bestimmt. Ihre kultische Form liegt in der starren Maskenhaftigkeit, mit der die Gestalten ihre Bestimmung verkünden: Ihr Menschen geht und kommt wie Meereswellen, Und jene neue wäscht der alten Spur, Die sich im Schlick des Strandes leicht gespült. Doch ein'ge Menschen gibt's von höhrer Art, Als euresgleichen scheinen sie euch nur, Weil gleich an Leib und Gliedern sie euch sind Und aller eurer Notdurft unterliegen; Die sind der Sturmwind, der die Wellen treibt. Wer solch ein Mensch ist, hat das höchste Amt, Jahrtausende schaun auf ihn hin die Andern Und bilden sich nach ihm - nach seinem Willen, Der göttlich war und göttlich wieder wird, Und Mensch nur wurde eine kurze Zeit. Siegfried ist solch ein Mensch, ich bin es selbst, Und unser Amt erfordert unsern Tod. 65 In Emsts Tragödien ist wohl der höchste Formstandard erreicht, auf den die deutsch-faschistische Literatur überhaupt kommen konnte. Erreicht ist eine monumentale, klassizistisch abgesicherte Fassadenkunst, die durch ihr Äußeres schon jenes Opfer von Glück, Individuation und Vernunft verkündet, das der moderne Kapitalismus fordert und der Faschismus für ihn eintreibt. Doch so wie in der Architektur, dem Lieblingskind der Nazis, auf eine im ganzen rückständige Bautechnik die Platten von Pseudomarmor aufgelegt wurden, ebenso ist in den Dichtungen die äußere Monumentalität nicht technisch verantwortet. Ausgesagter Gehalt und Fabel stehen wenig verbunden nebeneinander; im Innern der Werke trägt sich eher Spießerliches zu. Die Tragödie Brunhild. (1908) etwa, die laut Aussage ihres Verfassers seiner Intention am nächsten gekommen ist, füllt die Umrisse der eddischen Fabel so aus, daß zwei schroff entgegengesetzte Gruppen miteinander kollidieren: Auf der einen Seite stehen Brunhild und Siegfried als selbständige Edle, auf der anderen die niedrigen Burgunder. Chriemhild beabsichtigt, da sie kein Selbst ist, sich von Siegfried zur Höhe emporheben zu lassen, und Gunther will mit 56

der „Schwächlingslust an eigner Pein" alles Höhere zu sich herabziehen. D i e Tektonik dieser Verhältnisse liegt in Sentenzen wie diesen beschlossen: „Und jeder Mensch muß der sein, der er ist"; „Der E d l e will und kann nur Gutes wollen"; „Nicht was du tust nur, was du bist ist schändlich". 66 Sie w ü r d e eigentlich auf ein kultisches Festspiel tendieren, wird aber mittels der überkommenen M o t i v e in Bewegung gesetzt und dabei ungewollt zerschlagen. D a s Stück spielt am Tage nach Gunthers Hochzeit. Brunhild liebt Siegfried noch immer, muß sich aber in den Stolz retten, wenigstens mit dem Höchsten und Ersten verheiratet zu sein. Dieser Trost wird ihr genommen: Siegfried hat unter W i r k u n g des Zaubertranks den Diener nur gespielt, Gunther ist nicht der Erste, und nicht einmal in der Brautnacht w a r er's. D a bleibt der Königin nichts übrig, als den Geliebten umbringen zu lassen, weil sie alles, nur nicht Schande ertragen kann, weil sie Furcht v o r „Der Diener Mitleid und des Volks Verachtung" 6 7 hegt und weil es nicht heißen d a r f , Siegfried sei der Erste bei ihr gewesen; denn Chriemhild besitzt den Gürtel, den ihr G a t t e achtlos f o r t w a r f , und wird ihn übel v e r w e n d e n . A l s dann noch Hagens Beistand durch die Drohung gewonnen ist, nun nur mehr „Glück" zu wollen, „Siegfrieds Dirne" zu werden, kann nichts mehr die Katastrophe aufhalten. Einmal mehr ist hier der dramatische Knoten aus dem Jungfernhäutchen und aus dem Gürtel geschürzt worden, mit dem der schöne W a h n entzwei reißt, 6 8 die höhere Wesenheit ist von A u t o r s G n a d e n und enthüllt sich als bloße Reputierlichkeit. Es bedeutet einen sehr tiefen Punkt in der langen Geschichte des Stoffes, d a ß diese Brunhild nur mehr Scham und Angst zum Morde treiben und d a ß sie selber ihre Liebe zu Siegfried in ein Druckmittel f ü r Hagen v e r k e h r t : Bin ich nicht edel mehr, so leb' ich schamlos. Ich liebe Siegfried, und sein Name schon Schließt mein Verlangen auf, mein Herz w i r d weit, Glück will ich, Glück, G l ü c k und Vergessenheit, Und Siegfrieds D i r n e w i l l ich werden, wähle, Legst du zu Füßen mir nicht Siegfried tot. 6 9 In ihrem Ansehen, ihrer Vornehmheit v o r der Menge erschöpft sich der A d e l der Edlen. 7 0 D a s aber sind Voraussetzungen einer Herrschaft eher neufeudaler A r t . Paul Emsts Ethik hat in sich den W i d e r spruch, unbezweifelbares Führertum kreieren zu wollen, aber es durch

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Werte aus der deutsch-kleinbürgerlichen Sphäre begründen zu müssen; deshalb wird daraus eine nicht nur unbegründete, sondern auch sehr hohle Größe. Kehrseite und Voraussetzung seiner Tendenz, die destruktive Verzweiflung am Bestehenden, hat der Autor hier von seinen Hauptgestalten abgelöst und auf Nebenfiguren verlegt, 71 aber diese Vorsicht ist den positiven Gestalten auch nicht gut bekommen. Denn so wird nicht einmal der heroische Anspruch auf die Macht verständlich. Zu seinem Ziel wird dieses ganze Bemühen erst kommen, wenn sich der Kult der Edlen mit dem des Staates verbindet, d. h., wenn das tragische Opfer auch eine Staatsmacht begründen und stützen soll, die für alle Niedrigen verbindlich ist. Derartiges leistete Paul Ernst 1913 mit seinem Drama Preußengeist, mit dem er, der Harzdichter und Klassizist, unvermutet auf preußische Traditionen einschwenkte. Symptomatisch war diese Wendung auch deshalb, weil sie Ernst nicht allein vollzog; zur gleichen Zeit entstanden Hermann Burtes und Albrecht Schaeffers Tragödien Katte als Glieder einer ausgedehnten Fridericus-Literatur, die Klausvon-Bismarck-Dramen von Walter Flex und Samuel Lublinski oder Frenssens Bismarck-Epos - sämtlich Parallelerscheinungen zu Büchern wie Friedrich von Bernhardis Deutschland und der kommende Krieg und wie dieses Ankündigungen des Krieges nicht nur, sondern auch schon einer Staatsidee des „preußischen Sozialismus". Bemerkenswert ist die Koinzidenz von zwei so unterschiedlichen Autoren wie Paul Ernst und Burte in diesem Punkt. Beide hatten allerdings eins gemeinsam: die Intention auf gesellschaftliche Totalität und auf Stil. Herman Burte (eigentlich Strübe) kam von der extremsten völkischen Sektenbewegung her; sein Roman Wiltfeber der ewige Deutsche (1912) kann als repräsentativ für eine 'Stilkunst' gelten, deren Gestalt sich daraus ergab, daß pure Ideologie in Kunst einzukleiden war. Unter den vergleichbaren Schöpfungen (Ernst Wachlers Kultspielen, seinem Roman Osning [1914] oder dem Roman Helmut Harringa von Hermann Martin Popert, der zuerst 1910 erschien und 1927 bereits das 300. Tausend überschritten hatte) stellte er den umfassendsten Versuch dar, ein Totalbild der Gesellschaft aus völkischer Sicht zu entwerfen. Es war zugleich wohl die erste Aneignung Nietzsches für solche Zwecke, denn das Buch verwendet den Stil und das Aufbauprinzip von Also sprach Zarathustra zur Aufstellung eines Mustersystems über dieser Grundhaltung: „ [ . . . ] in den Dingen des Glaubens, der Rasse und der Macht, da verstehe 58

ich keinen Spaß." 7 2 D a s Verhältnis zu Nietzsche einerseits und zur Sozialdemokratie andererseits wird eindeutig formuliert: D e r große Sprüchemacher schrie und schrieb gegen den Pöbel und seine Herrschaft; D e r kleine Wünschemacher schreit und schreibt gegen die Wenigen und ihre Herrschaft; D e r vornehme Mensch, der ehrsame Müßiggänger empfand und erfand als sein Ziel den Übermenschen, D e r gemeine Mensch aber, der Arbeitsgänger, der möchte alle andern zu Leidensgenossen haben und lehrt als Ziel den Überstaat. Aber beiden entsteigt ihr Wunschbild demselben Krankheitsfelde: sie leiden beide an der Wunschsucht des Entschollten. Sehet, das ist Wiltfebers Lehre: D e r Übergott, welcher verschlingt alle Götter, wie die Schlange des Zehngebotemannes vertilgt die anderen Schlangen [ . . . ] er ist D E R R E I N E K R I S T , ja, der Reine Krist. 7 3 Dieser Christus hat mit Jehovah, dem „Stammesgötzen einer Wüstensippe", nichts zu schaffen; vielmehr ist er derjenige, „welcher in sich das Judentum überwand und äußerlich den Juden unterlag; ja, der Widerjuden Größter ist der Krist" 7 4 und mithin der Führer der Blonden, die man bald, wenn's mit der jüdischen Emanzipation so weitergeht, ins Ghetto sperren wird, der rechte Befehlsgeber für B e fehlende, der Herr für Herrscher, ein Wegweiser aufs Land, wo es den Menschen „zur Verehrung der Z E U G U N G , dieser Urmutter allen Seins", treibt, wo aber auch, wenn nichts geschieht, bald wie in den Städten das „deutsche Volk zu europäischem Pöbel" sich wandelt; kurz: der Reine Krist befiehlt den Herren: „Vernichtet die Menge um des Volkes willen" 7 5 , und Wiltfeber ist sein Prophet. Zu sich selber sagt er: „Du bist ein Mann aus deutschem Blute, aber deutsch heißt völkisch und arisch heißt herrisch, und so bist du von den Deutschen der oberen Rasse, welche herrscht oder stirbt." 7 6 Wiltfeber, der Nicht-Entschollte, kehrt nach neun Jahren Wanderschaft in sein Heimatdorf zurück, das Volk zu prüfen, und erlebt dort lauter Greuel: ein versinkendes Bauerntum, kümmerliche Bürger, Pietisten, die selbst mit Nietzsche nicht aufzuwecken sind, edle, aber schwache Adlige und pikanterweise auch die Sozialdemokratie; denn in der Nähe rauchen die Trümmer eines großen Hofes, wo man gemeinsam wirtschaften wollte und damit Schiffbruch erlitt. Das kam „von dem einen einzigen, falschen, erzübeln Stubenhockerge-

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danken: Teilung der Macht." 77 Der Freiherr, der alte Adel, resigniert; vor ihm zeichnet Wiltfeber „das uralte Hakenkreuz" 78 in den Staub und schickt sich an, die Führung zu übernehmen. Doch muß er sich erst entscheiden: Hält er es mit der schwarzen Madlee aus seiner Heimat, die volkhaft und sinnlich ist, oder mit der blonden Ursula von Brittloppen, der 'geistkühnen' Herrin aus Nordost? Auf die Dauer nur mit letzterer; sie weiß, daß „der König" (also Wilhelm II.) den Ansprüchen des Reinen Krist nicht genügen kann, und trägt sich schon mit Umsturzplänen. Leider läßt sie es an Sinnlichkeit fehlen. Doch vollbringt der ewige Deutsche auch hier das Unmögliche: Im Wald, unter Gewitter und Sturm, auf dem Steintisch einer sicher heidnischen Höhle vereinigen sich beide und erleiden die tiefe Ewigkeit, welche alle Lust will; da trifft der Blitz und schmiedet sie auf ihr Altarbett, erhöht sie zum Denkmal einer letzten und höchsten Einheit. Der Schluß dieses abstrusen Romans zieht die Konsequenz aus Wiltfebers Alternative von Herrschen oder Sterben und trägt einem Zustand Rechnung, den der Held so bezeichnet: „Die Geistigen müssen herrschen, und das Volk muß gehorchen: Das ist das Ziel, zu welchem noch kein Weg ist." 79 Wenn überhaupt, war das Ziel anscheinend nur durch eine völkische Befruchtung des preußisch-deutschen Staates zu erreichen; daher traf Burte mit den anderen Literaten der Erneuerungsdiktatur vorerst im Preis des Preußentums und später im Preis jenes Weltkriegsgefreiten zusammen, der die Synthese von Völkischem und Machtstaat einzig herstellen könnte. An ihren Dramen über Friedrich II. und Katte war immerhin neu, daß der Diktaturanspruch sich an geschichtlichen Vorbildern, nicht mehr an bloßen Konstruktionen stärkte und dadurch eine aktuelle Bindung ans Kaiserreich einging. Dessen Machtstruktur schien am ehesten die Diktatur der Zukunft zu verbürgen. Ihr Gesellschaftsbild schloß nunmehr die liberale Vorstellung vom Individuum aus. Diese neupreußische und die neugermanische Literatur (E. König, Wachler usf., Hardt, H. Schnabel u. a.) um 1910, die sich einander annäherten wie Diktatur und restaurierter Mythos, verkündeten das Ende des Liberalismus, noch bevor der Weltkrieg es herbeiführte. Doch anders als die meisten Expressionisten, die ebenfalls die Zeichen der Zeit sahen, standen dabei die Schöpfer mit der heraufziehenden Macht im Bunde. Den in der Heimatliteratur aufgespeicherten Aggressionsgelüsten fügte ihre Dichtung ein neues, gleichsam klammerndes Moment hinzu, das Ideal eines nationalen Machtstaates, in den diese 60

Aggressionen einmünden sollten und dessen Größe die Aufopferung des bürgerlichen Individuums verlangte. In der Tat ist das Opfer der thematische Kern dieser Werke. Eine nähere Untersuchung des Opfermotivs würde wohl deutlich machen, wie weit auch die primitive Erbauungsliteratur von Max Jungnickel80 und anderen und selbst die kulturkonservative Richtung sich bereits dem geahnten Staat annäherten. Als auf ein Zeichen dafür wäre auf den Erfolg von Rudolf G. Bindings Novelle Der Opfergang (1912) zu verweisen, die das Einverständnis schon im Titel verkündete. Bekanntlich wird hier die Geschichte einer Frau erzählt, die ihren Mann durch die Cholera verliert, es aber auf sich nimmt, seiner todkranken Freundin diesen Tod zu verbergen, indem sie die Kleider des Gestorbenen anlegt und an seiner Statt den Gartenzaun entlangwandelt. Ausgedrückt wird das mit einer Vornehmheit, die nichts den Vorgängen, alles ihrer Stilhülle zutraut und die imstande ist, ihren Geschöpfen Worte wie die folgenden in den Mund zu legen: „'Mein Freund', sprach sie - und ihre Stimme war so voller Leid wie das Klagen eines Wildes - 'mein Freund, dir ist mein Herz und dir ist mein Sehnen. Aber die Wünsche meines Schoßes sollen dir nicht mehr sein. - Und wären doch dein gewesen, unberührt, mit tausend Freuden, und dennoch: heute, heute - weine ich um sie.'" 81 Die dick aufgetragene Erlesenheit hat etwas Stockbürgerliches zu verdecken: die Anerkennung jener Mannes- und Herrschaftsmoral, welche sich zur Bestätigung die Unberührtheit der Frau fordert. Überhaupt erhält die ganze Fabel ihre Weihe nur durch die Voraussetzung, daß die Ehe ein Institut zur Wahrung von Besitz ist. Auch dieser Opfergang endet am Altar des bürgerlichen Eigentums. Die unerhörte Tat, einer Konkurrentin Hilfe zu geben - wenn auch nach Verlust des Streitobjektes - , dieses Opfer gegen alle Vernunft wird aber nicht nur zur Selbstbestätigung vorgezeigt; es hat auch die Aufgabe, alles Leid in Hamburgs Armenvierteln zu überbieten. [ . . . ] als ich aber das Gebaren dieser Frau sah, welche mit einer inneren Schwere ohnegleichen einen vorgeschriebenen Weg zu gehen schien, ergriff es mich, als ob das Leben in einer Art Wettstreit hätte zeigen wollen, daß es grausamere, blutigere Menschenopfer fordere, als jener dörrende Tod. 8 i Bezeugt wird eine Opferbereitschaft, die sogar bürgerliche Rationalität preisgeben, aber das bürgerliche Eigentum verteidigen wird, und sei es mit den Resten der darauf gewachsenen Kultur. Dieser Gesinnung darf man die barbarischste Rücksichtslosigkeit zutrauen, 61

falls einmal der Kult des Gefühls verteidigt werden muß; zumal da diese Gefühle sich ganz und gar gegen soziale Veränderungen richten. Denn 'innere Werte', die nur auf Privilegien von Besitz und Macht beruhen, sind selber Privilegien. Sie dienen zu wenig mehr, als ihre Besitzer und den Zustand, der sie ihnen erlaubt, gegen die Ansprüche der Unteren zu verteidigen. Alles für den Faschismus brauchbare Schrifttum aus der Zone Binding und Carossa ließe sich dadurch gesellschaftlich entschlüsseln, daß man die 'inneren Werte', die zu verteidigen es vorgibt, als eine notwendige Ergänzung der sozialen Ungleichheit auswiese und feststellte, welchen Wert sie für die Stützung des Ganzen haben. Jener Imperativ aus Carossas Rumänischem Tagebuch (1924): „Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!" spricht eben auch die Absicht aus, der Schlange nichts zu tun, und verwehrt außerdem das Nachdenken darüber, was es mit einem Licht auf sich habe, das aus oder vor dem Schlangenrachen geraubt werden kann. In der Moral dieser Schriften ist die geheime oder offenbare Konformität mit der Macht aufzudecken, auch wenn sie nicht politisch artikuliert ist. Dieser „Flügel der deutschen Rechten [ . . . ] ist zum Nationalsozialismus übergegangen, soweit man es ihm erlaubt hat, oder tobt sich in jener geistigen Handweberei aus, deren Figuren Lorenz und Cordula heißen. Sie dienen der Propaganda auf eigene Weise: ihr besonnenes Maßhalten dementiert das maßlose Grauen. 1914 begnügte sich die äußerste Gemeinheit mit dem Reimen, zu denen freilich auch Hofmannsthal beitrug. Im Zeitalter der Konzentrationslager haben die Skribenten das verschlossene Schweigen, die herbe Rede und die nachsommerliche Fülle gelernt." 83 Anders als die Wilhelm Schäfer, Ponten und Ina Seidel, die sich durch die Ausgestaltung völkischer und nationalistischer Anschauungen oder biologischer Kulte dem Faschismus nahestellten, besitzen jene 'unpolitischen' Schriftsteller eine breitere Wirkung über die Nazizeit hinaus, weil sie den Gebildeten ein Alibi liefern, das auch für die Duldung eines neuen Faschismus gelten kann. Doch reichte ihre Wirkungszeit weit zurück und begann schon, als sich der Imperialismus zu seinen Vorhaben, die Europa erschüttern sollten, mit Eifer rüstete.

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Ergebnisse des Weltkrieges Von der Nachkriegszeit aus gesehen, erscheinen die Bartels, Löns oder Paul Ernst als Vorläufer und Wegbereiter einer nun erst manifesten Literaturrichtung. Diese stellte allerdings auch jetzt keine nach Techniken oder Ideologie einheitliche Gruppierung dar; ihren Zusammenhang erhielt sie vielmehr dadurch, daß nunmehr eine faschistische Aktion existierte, auf die sie sich gewollt oder ungewollt beziehen mußte. Die Literatur wurde getragen von dem gleichen radikalisierten Kleinbürgertum, worin der Nationalsozialismus als Interessenvertretung des deutschen Imperialismus sein Massenreservoir fand, und sie teilte mit ihm die Funktion, diese Massen zu aktivieren. Sie näherte sich auch im gleichen Maße, wie der Nationalsozialismus Einfluß gewann, seiner „Bewegung" an. Von der Vorkriegsliteratur trennt sie etwas Entscheidendes: der konkrete Bezug auf Klassenkämpfe, in denen es um Ende oder Fortbestand des Kapitalismus ging. Unter geistesgeschichtlichem Aspekt wäre das faschistische Schrifttum als Ergebnis einer allgemeinen Politisierung der Literatur aufzufassen, wie sie sich seit dem Kriege überall beobachten ließe. Tatsächlich war einerseits das Gros der Literaten von den Stellen, wo sie Unterschlupf suchten, den Zeitungen, Kriegsarchiven, Presseämtern und Generalstäben, in Sold genommen worden, und auf der anderen Seite hatte sich zum ersten Mal eine Front bürgerlicher Pazifisten gebildet, aus der gegen Kriegsende auch Sozialisten hervorgingen. Gleichwohl läßt sich die fortschreitende Politisierung nicht als Phänomen an sich fassen, auch nicht als bloße Folge staatlicher Zwänge. Sie stellte vielmehr eine Reaktion darauf dar, daß seit jener Krise des Kapitalismus, die mit der Oktoberrevolution begann, die Schriftsteller und ihre Werke in einem gewandelten Verhältnis zur Gesellschaft standen. Große Klassenkämpfe und die neue Machtstruktur, die der Imperialismus zu seiner Verteidigung aufbaute, ließen dem antipolitischen Schriftsteller keinen Lebensraum mehr und verhinderten jedenfalls unpolitische Folgen seiner Arbeit. Dem Untergang der liberalen Parteien entsprach das Verschwinden jeder Art liberalen Literaturwesens aus dem Zentrum der entscheidenden Vorgänge. Unter diesen Umständen rückte alles das eng zusammen, was die imperialistische Diktatur heraufführen konnte. Man kann es auch so ausdrücken: Zu faschistischer Literatur wurde alles das, was seiner Funktion und Wirkung nach die Rettung der bürgerlichen Herrschaft durch Gewalt unterstützte. 63

Verbindend wirkte seit 1918 ein gemeinsames Feindbild: der Kommunismus und die soziale Revolution. Anders als bei den Vorgängern spielte dieses Feindbild eine derart zusammenfassende Rolle, daß auf der einen Seite selbst die ideologischen Polaritäten wie Materialismus und Idealismus unmittelbar darauf bezogen und auf der anderen Seite die ganze Weimarer Republik als Frucht der Revolution und Stütze ihrer Ausbreitung verurteilt wurde. Anfeuernd dazu wirkte ein schwer getroffener und irritierter Nationalismus, der die Niederlage Deutschlands auf innere Uneinigkeit zurückführen und das Konto der Regierung mit den Kriegsfolgen belasten wollte. Streben nach Revanche vereinigte sich mit dem Widerwillen gegen die Demokratie. Alle völkischen Affekte, die sich dem Deutschbewußtsein zuordneten, wurden nun politisch in dieser Richtung mobil. Gegen die Revolution hatten sie sich vorher auch schon gerichtet; doch nun fügten sich in ihr Bild vom „Undeutschen" die deutsche Revolution und deren Folgen ein und gaben ihm die Grundfarben. Der Weltkrieg hatte der faschistischen Literatur aber auch ein Gesellschaftsmodell vermittelt, aus dem sie ihr Ideal gewinnen konnte; der Grad der Faschisierung der Literatur läßt sich sogar danach bestimmen, wie weit dieses Modell die Schriften konstituierte. Es war dies der „nationale Sozialismus". Dahinter verbarg sich die erste Ausbildung eines staatsmonopolistischen Systems im Weltkriegsdeutschland, d. h. eine weitgehende Vereinigung der ökonomischen mit den staatlichen Gewalten, wie sie als Reaktion auf die Rohstofflage der Mittelmächte, die Blockade, den in der zweiten Kriegshälfte notwendigen Einsatz von Technik und vor allem den Widerstand des Proletariats vorgenommen wurde. Die äußerlich auffallendsten Stationen waren die Rathenausche Kriegsrohstoffabteilung vom August 1914, das „Kriegsamt" seit Januar 1916, schließlich der Sturz Bethmann-Hollwegs und die politische Führungsübernahme der Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff. Im Inneren bedeutete das sowohl eine außerordentliche Konzentration der Macht auf die führenden Konzerne und das Militär als auch die „totale Mobilmachung" des gesellschaftlichen Lebens, den Versuch, alle sozialen Kräfte in militärische Energie zu überführen. Das imperialistische Deutschland tat den bisher weitesten Schritt zur Vergesellschaftung der Produktion unter bürgerlichen Voraussetzungen. Das aber heißt: Die Vergesellschaftung stand im Zeichen des Krieges. Nicht nur hatte der Krieg dem Kapitalismus seine Möglichkeiten erst erschlossen; deren Realisierung war nur 64

im Kriege möglich und würde, neu begonnen, wieder in ihn einmünden. Technik, Produktion, soziale Verhältnisse sollten gewaltsam der Expansion von Kapital und Macht unterworfen werden. Die neueste Ideologie reagierte darauf, indem sie den Liberalismus endgültig verabschiedete. Außerdem wurde bald die neue Staatsstruktur so ideologisiert, daß man ein konterrevolutionär verwendbares Gesellschaftsbild erhielt. Schon der Initiator der praktischen Maßnahmen, Walther Rathenau, wies 1914 auf Ähnlichkeiten des von ihm Vorgeschlagenen mit dem Sozialismus hin, und seit 1915 fanden sich zahlreiche Schriftsteller, die den angestrebten Zustand als einen „militärischen", „preußischen", „deutschen", jedenfalls eigenständig „nationalen Sozialismus" verherrlichten. 84 Vorarbeiten des lebensphilosophischen Irrationalismus wurden in die neue Lehre eingefügt, dabei zugleich politisch aktualisiert und vergröbert. Charakteristisch für den Übergang von Literaten auf die neuen Positionen ist die Stellungnahme Walther Rathenaus, der schon im Übergang noch dessen Erschreckendes lustvoll auskostete. (An Hermann Stehr, 14. 8. 1914:) Ich bin mir klar, daß die Methoden, nach denen ich vorgehen muß, um dieses Ziel zu erreichen, tief in das Gefüge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eingreifen und dementsprechend auf starken Widerstand bei den Industriellen wie im Reichstag stoßen werden. Wenn ich tief in mich hineinhöre, weiß ich, daß ich mich selbst damit zum Werkzeug einer Entwicklung mache, durch die ich dazu beitrage, die Götter zu stürzen, welche die Welti vor dem August 1914 anbetete, eine Welt, der ich angehöre und durch die ich wurde, was ich bin: ein Individualist. Das ist es, was mich neben der Schwere der Aufgabe, die mir aufgebürdet wurde, in dieser nächtlichen Stunde, mein Freund, zu Ihnen treibt gleich einem Saulus, der zwar längst bereit ist, abzuschwören, und dennoch zögert, weil er fühlt, daß er auf dem Wege des Heils, für den er sich entschieden, eine Welt! zurückläßt, die bunter, vielfältiger und alles in allem wohl reicher und glücklicher war als die, die nun anbricht. Denn das Paradies kommt auch in der sich neu formenden Welt nicht, im Gegenteil: wir stehen vor einer unabsehbaren Periode der Umschichtungen, intellektueller und materieller, einer Periode, ich scheue mich fast, es auszusprechen, die vielen als die des europäischen Niedergangs erscheinen wird. Doch nur, wo Altes stürzt, kann Neues werden.. , 85 5

Hattung, Faschismus

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Was die Dichter anlangt, so genügt es, auf Paul Emsts Kriegsschriften zu verweisen, mit denen die Ideologie dieses Mannes auf ihre Höhe kam (Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus, 1916/17; Der Zusammenbruch des Marxismus, 1918). In ihnen wird das Heer als die heute einzig lebendige Form bezeichnet, mithin als das einzige gesellschaftliche Verhältnis, worin „das Pack" sich selbst und seinen Egoismus vergesse und zu hohen Leistungen gezwungen werde; Deutschland habe die Aufgabe, solche Formen auch für die Zukunft aufzustellen; seine neue Religion könne wohl nur daraus entstehen, daß „der Idee von der Göttlichkeit des Staates ein neues, höheres Leben eingepflanzt würde"86 und daß derart die einzig natürlichen Formen, Bauerntum und Feudalität, Besitz und Herrschaft, zu einer zeitentsprechenden Neufassung kämen. Wenn Ernst auch aus diesen Ansichten kaum mehr Dichtung formen konnte, so hat er damit doch die zwei wichtigsten Momente bezeichnet, die in der faschistischen Nachkriegsliteratur wirksam sein würden: den Eigentumsaffekt mit allen zu seiner Sicherung aufgebotenen Aggressionen, die vornehmlich am bäuerlichen Modell darzustellen waren, und jene Staatsgesinnung, die sich im Aufgehen des einzelnen in einem militärisch geordneten und handelnden Kollektiv zu bewähren hatte. Für den Nationalsozialismus sowohl als auch für die angeschlossene Literatur waren diese Ergebnisse des Krieges von so bestimmender Bedeutung, daß man darüber den möglichen Einfluß ausländischer Theorien seit Sorel, Barrés oder Mussolini als unerheblich vernachlässigen kann. Seiner politischen Tendenz nach strebte er die Wiedereinführung des „Kriegssozialismus" in einer Zeit an, als die Bourgeoisie davon wieder abgerückt war, sei es aus Gründen intermonopolistischer Konkurrenz, sei es aus Furcht vor allem, was irgend etwas mit dem Sozialismus gemeinsam haben könnte, und wenn es nur der Name wäre. Eine gewisse Massenbasis hatte der Nationalsozialismus zunächst unter enttäuschten Frontkämpfern, die sich nicht nur um die materiellen Erfolge des Krieges, sondern auch um ihren Lorbeer betrogen sahen, sowie unter breiteren Schichten des Kleinbürgertums. Aus dem kaum auflösbaren Komplex von enttäuschtem Nationalismus und Revolutionsfeindschaft, der dort sich verdichtete, nährte sich die frühere „Bewegung". Allerdings reichte dieses Potential nicht aus. Zwar wurden die Freikorps, Heimwehren, Femegruppen zunächst von der Weimarer Regierung gegen das Proletariat gebraucht, aber zum Ende der revolutionären Nachkriegskrise, Ende 1923, als sich die Bourgeoisie innenpolitisch gefestigt und außenpolitisch arrangiert

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hatte, konnte man jene Verbände fallenlassen und den bayrischen Putsch blutig niederschlagen. Man durfte hoffen, mit der demokratischen Staatsform durchzukommen. In den Jahren von 1925 bis 1929 war die NSDAP, gemessen an ihren Wahlerfolgen, eine bedeutungslose Partei. Die Stabilisierung des Kapitalismus und eine gewisse außenpolitische Normalisierung entzogen ihr die Massen der Wähler, ohne daß die völkischen Affekte zur Ruhe gekommen wären. Doch hatte der „Kriegssozialismus" dem Kapital Erfahrungen eingebracht, die es nicht vergißt. Benötigt wurden sie wieder in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, als die ökonomische Situation und vor allem die Revolutionsgefahr das Bürgertum veranlaßten, auf jene Herrschafrsorganisation und zu ihrer Einrichtung auf die Truppen zurückzugreifen, die der Nationalsozialismus mittlerweile aufgestellt hatte. Die nationalsozialistische Bewegung hat sich daher während ihrer Kampfzeit im partiellen Gegensatz zu den wirtschaftlichen wie staatlichen Funktionären des Kapitals ausgebildet, und dieser Gegensatz bedingte zugleich mit der antibürgerlichen Demagogie auch die „Schlagkraft" der Partei. Die Lehren, die Hitler aus dem 9. November 1923 gezogen hatte und seit 1925 praktizierte, bestanden vornehmlich darin, daß er nicht durch Putschversuche, sondern nur im Bündnis mit der Großindustrie durchkommen konnte, daß er zum Kampf gegen die Kommunisten und Demokraten eine Hausmacht brauchte und daß im übrigen zur Gewinnung von Wählern die Ideologie der NSDAP der jeweiligen Taktik unterzuordnen und wie Reklame zu behandeln sei.87 In eine wechselnde und wechselnd akzentuierte Masse von Ideen, in welcher der völkische Affektschatz und die „nationalsozialistischen" Theorien die Kerne darstellten, wurde alles mögliche aus den übrigen, meist viel geschlossener angelegten Systemen der Rechten aufgenommen und nach den Bedürfnissen der Massenpropaganda verwertet. Weil sich die Partei mit Rücksicht auf ihr politisches Ziel davor hütete, ein geschlossenes System zu vertreten, mußte sie allerdings Widersprüche und sogar Brüche mit allzu konsequenten Ideologen in Kauf nehmen. So bedingte die Geschichte der „Machtergreifung" etwas, das man den „ideologischen Überschuß" über die eigentlich rationelle Tendenz zur staatsmonopolistischen Diktatur nennen könnte. Schließlich lag ein Sammelsurium von Affekten, Theoremen, Ideen und dergleichen vor, das zwar notwendig gebraucht wurde und seine eigene Macht entwickelte, das aber das ge5»

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seilschaftliche Wesen des deutschen Faschismus nur sehr vermittelt bezeichnet. Ähnlich läßt sich das Verhältnis der faschistischen Literatur zur Bewegung und zur Bourgeoisie bestimmen. Selbst wenn die Autoren der NSDAP fernstanden und nur Reflexe und Affekte von Kleinbesitzern ausdrückten, konnten ihre Schriften der politischen Aktion zugute kommen. Sie mußten es in dem Maße, wie sich die Hitlerpartei zur stärksten Sammelbewegung für die Reaktion entwickelte. Gerade infolge der Unbestimmtheit der nationalsozialistischen Theorie konnte sie alle gegen Sozialismus und Liberalismus gerichteten Bestrebungen auffangen, mit denen sie den Feind, wenn auch nicht das Ziel gemein hatte. Deshalb wurde die Kulturpolitik seit 1930 zu einem wichtigen Instrument der Einflußgewinnung, und deshalb errang der Nationalsozialismus auf diesem Gebiet seine ersten parlamentarischen Erfolge. Hier konnte jener ideologische Überschuß frei erscheinen, weil er nur immer sammelnd wirken mußte. Dazu gehörte, um ein Beispiel zu nennen, vor allem der politische Antisemitismus. E r war dem Hitler seit seinen Wiener Jahren eingepflanzt und war anscheinend eines der wenigen Dinge, an denen er innerlich festgehalten hat. Gleichwohl wurde damit nicht anders verfahren als etwa mit der „Brechung der Zinsknechtschaft". Golo Mann hat darauf aufmerksam gemacht,88 daß in Manifesten und Führerreden von 1930 bis 1933 Antisemitisches weitgehend fehlte und daß danach die schlimmsten Aktionen immer erst erfolgten, wenn die Nazis einen außen- oder innenpolitischen Sieg errungen hatten, so wie das Pogrom von 1938 auf das Münchener Abkommen folgte. Es wäre deshalb falsch, bei aller deutsch-faschistischen Literatur Antisemitismus vorauszusetzen oder sie gar dadurch zu definieren, so sehr andererseits feststeht, daß literarischer Judenhaß in den 20er Jahren nur faschistisch funktionieren konnte. Aus Gründen der Massenpropaganda hielt es Hitler 1928 für notwendig, sich von seinem thüringischen Gauleiter Artur Dinter zu trennen, ihn sogar aus der NSDAP auszuschließen, aber der Bann galt weder damals noch nachher für dessen Elaborat Die Sünde wider das Blut (1917) und für eine Verwertung durch den „Kampfbund für deutsche Kultur". Allerdings hätte Dinter sich nach 1945 als einen „unerwünschten Autor" einstufen lassen können. Überhaupt ist es ein für die neue Reaktion bezeichnendes Verfahren, den deutschen Faschismus auf jenen Überschuß zu reduzieren und es mit dessen „Bewältigung" gut sein zu lassen. Das fällt um so leichter, als die rein ideologischen, nur aus 68

Weltanschauung konstruierten Werke ohnedies kaum mehr wirken. Demgegenüber stellt sich für eine Geschichtsschreibung dieses Schrifttums die Aufgabe, dessen damalige Funktion für die Vorbereitung der Diktatur zu bestimmen, also die darin wirkende und die neuerdings darüber ausgebreitete Ideologie durch Kritik aufzulösen. Noch stärker freilich gilt das für die wenigen Autoren und Werke von einigem Rang, auf die man sich seit 1948 mit Vorliebe beruft. Sie besitzen allerdings meist direktere Beziehungen zur gesellschaftlichen Situation. Solcher Rang hängt weniger von literarischen Fertigkeiten als vom jeweiligen Gehalt ab; man darf ihn dort erwarten, wo auf Wirklichkeitserfahrungen reagiert, ein gewisses Maß an realen Voraussetzungen miterfaßt wurde, also die Widersprüche des Kapitalismus, die zu faschistischen Lösungsversuchen trieben, nicht von vornherein übertüncht wurden. Das aber war am ehesten der Fall bei der Literatur über Ergebnisse und Erfahrungen des Weltkrieges.

Ernst Jünger und das faschistische Kriegsbild Die fundamentale Bedeutung des Krieges für die faschistische Ästhetik und Kunst hat Walter Benjamin unübertrefflich bezeichnet: „Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg, und nur der Krieg, macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben. So formuliert sich der Tatbestand von der Politik her. Von der Technik her formuliert er sich folgendermaßen: Nur der Krieg macht es möglich, die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren. Es ist selbstverständlich, daß die Apotheose des Krieges durch den Faschismus sich nicht dieser Argumente bedient." 89 Benjamin belegt diese Feststellungen 1936 mit einem Manifest Marinettis zum Kolonialkrieg gegen Äthiopien; im anderen Zusammenhang hätte er hinzufügen können, daß die dort postulierte Ästhetisierung schon einmal vorgenommen worden war. Denn das beste Potential dafür hatten die „Materialschlachten" des Weltkrieges geboten, und die Auswertung war bald darauf gefolgt, in Büchern von Ernst Jünger. So wollen wir trinken und die Scherben gegen die Wand spritzen lassen und uns freuen, das harte Werkzeug eines harten Willens zu sein. Was in der großen Schlacht, die uns erwartet, geschehen wird, darauf besitzen wir keinen Einfluß mehr. Es

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ist schon längst entschieden und wird dort allen Augen offenbar. Die große Rechnung ist aufgestellt; dort wird nur der rote Schlußstrich gezogen, und wir gehören zu den kleinen Ziffern, mit denen gerechnet wird. Wir haben es auszutragen und zu erleiden; auf uns ruht die große, eiserne Last. Darum laßt uns trinken und in dem, was das Schicksal will, auch noch unseren eigenen, persönlichen Willen sehen. Kameraden, erzählt, daß ihr Kerle gewesen seid • [ . . . ] Und laßt das Bild der großen Schlacht aus dem Rausch aufschießen wie eine blutrote Orchidee, mit goldenen Feuerstreifen geflammt. Das ist ein Kunstwerk, wie es Männern Freude macht. [ . . . ] Die glühenden Gefilde, die uns erwarten, hat noch kein Dichter in seinen Träumen geschaut. D a sind eisige Kraterfelder, Wüsten mit feurigen Palmeninseln, rollende Wände aus Feuer und Stahl und ausgestorbene Ebenen, über die rote Gewitter ziehen. D a schwärmen Rudel von stählernen Vögeln durch die Luft, und gepanzerte Maschinen fauchen über das Feld. Und alles, was es an Gefühlen gibt, vom gräßlichsten körperlichen Schmerz bis zum höchsten Jubel des Sieges, wird dort zu einer brausenden Einheit, zu einem blitzartigen Sinnbild des Lebens zusammengeballt. Singen, Beten und Jubeln, Fluchen und Weinen - was wollen wir mehr? 90 Ernst Jüngers literarische Tendenz besteht darin, die Hölle, in die man ihn geschickt hat, zum „inneren Erlebnis" für sich und andere zu machen. Zum Erlebten verhält er sich mit ästhetischer Unmittelbarkeit; nur vom Stil des Beschreibens wird Distanz erfordert. Doch ist auch die Unmittelbarkeit des Erlebten nur scheinbar. Der Schein entsteht dadurch, daß Vermittlungen zur Gesamtgesellschaft vorausgesetzt, aber nicht expliziert werden. Die enge Perspektive schließe das Soziale nicht aus, sondern falsch ein. Schon die Figur des Berichterstatters ist genau bestimmbar: Es spricht ein Offizier, dem der Haß aufs bürgerlich zivile Leben eingewurzelt ist und der sich nur in der Befehlsordnung zu Hause weiß. Bedientwerden gilt ihm so selbstverständlich wie ihm der Prolet in der Uniform fremd ist; sein Modell von Frontgemeinschaft besitzt Machtstruktur. Jüngers erstes und bekanntestes Buch In Stahlgewittern (1920) beginnt mit der Ankunft an der Front und endet mit dem Erhalt des Pour le mérite ; dieses Buch wie die zunächst folgenden führten den Krieg als eine geschlossene Welt vor, von der aus und aus deren Perspektive nur noch Seitenblicke auf die Gesellschaft fallen: 70

D a s ist das Material. Vor dem Blick tauchen weite Industriebezirke mit den Fördertürmen von Kohlenschächten und dem nächtlichen Glanz von Hochöfen auf - Maschinensäle mit Treibriemen und blitzenden Schwungrädern, mächtige Güterbahnhöfe mit blinkenden Gleisanlagen, dem Gestöber bunter Signallaternen und der Ordnung der weißen Bogenlampen, die den Raum geometrisch erhellt. J a , dort hinten wird es gefügt und geschmiedet in den peinlich geregelten Arbeitsgängen einer riesenhaften Produktion, und dann rollt es auf den großen Verkehrswegen an die Front als eine Summe von Leistung, als gespeicherte K r a f t , die sich vernichtend gegen den Menschen entlädt. D i e Schlacht ist ein furchtbares Messen der Industrien und der Sieg der Erfolg einer Konkurrenz, die schneller und rücksichtsloser zu arbeiten versteht. 91 Hier wird die Technik von vornherein als entfremdete erschaut. D a ß in dieser Vision alle Menschen fehlen, Besitzende wie Arbeiter, kennzeichnet präzise ein Wunschdenken, das die Produktion gänzlich dem Kriege unterordnen möchte und deshalb jede Gesellschaftsordnung, die das leisten kann, rückhaltlos unterstützt. Der Soldat Jünger hat dem Einsatz der entfremdeten Technik standgehalten, nicht aber der Frage, auf wessen Kosten diese Orchideen blühen und wer sie in Geld verwandelt. Statt dessen gelten seine Bemühungen mit zunehmender Intensität dem neuartigen Menschenwesen, das aus den Materialschlachten hervorgeht. Dessen Erlebnisse und Reaktionen hätten, so heißt es, wieder „Elementares" freigelegt. In Wirklichkeit ist aber dieses Elementare eine Reduktion. Dem Graben- und Sturmkämpfer wird ein Spezialistentum im Töten aufgezwungen, dessen wilde Wut durch einen Sturm von Technik angefacht ist und das sich gegen die „Feinde" nur entlädt, weil es vor „dem Material" hilflos bleibt. Der Rausch des Kampfes, den zu beschwören Jünger nicht müde wird, ist alles andere als ein freies Aufbrechen zivilisatorischer Krusten; man hat ihn technisch erzeugt und kann ihn dirigieren. An seiner Beschreibung ist ein repressives Moment beteiligt: D a s sollen alle erleben, weil wir es erlebt haben. D i e Darstellung bezweckt keine Aufklärung über die Hölle, sondern deren Propaganda. Über die Erfahrungen ist eine stilistische Hülle gebreitet worden, die nicht der Reproduktion des ganz und gar Gräßlichen dient, sondern ihm gegenüber Haltung suggeriert. An deren sozialem Wesen lassen schon die stehenden Formeln „köstlich" und „herrlich", der Humor des 71

„erquickenden Schlummers" im Unterstand oder Wendungen wie „den Gegner im Kampfe aufsuchen" keinen Zweifel: Es ist die Haltung eines bürgerlichen Offiziers, der sich feudale Überlegenheitsund Herrschaftsformen aneignet. Und zwar mit der Wirkung, dem Beschriebenen eine ritterlich unbezweifelte Notwendigkeit zu verleihen. Für die Stiltendenz ist bezeichnend, daß die nüchtern berichtenden Einleitungssätze des Buches In Stahlgewittern seit der 2. Auflage gestrichen waren, so daß der ursprünglich zweite, ungleich kunstvollere Absatz an den Anfang kam: Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner - der eine früher, der andere später? 92 Schon der Einsatz gibt dem organisierten Vorgang einen Anstrich von Schicksal. „Der Zug" fungiert als Erscheinungsform einer unbegriffenen Macht, die mit ihren Opfern beliebig verfährt, aber unbesehen anerkannt wird. Und zwar mit dem Anspruch auf Freiheit: „Wir stiegen aus", heißt es gleich danach, wie nur immer in bürgerlichen Reiseromanen. Die Front, an die man transportiert wurde, zieht sich sogleich in das Bild des „Walzwerkes" zusammen, das mit barbarischer Sorgfalt ausgeführt wird. Ästhet, der er ist, kann der Berichterstatter den langsamen Takten dieses Menschenwalzwerkes nur „lauschen". Vorausgestellt, gleichsam zur Einstimmung, wird eine Wendung, die jede Opposition ausschließt („mit ungläubiger Ehrfurcht"), und übereinstimmend damit dient die weitere Bilderfolge dazu, die Vorgänge als rein technische von den Menschen und von menschlichem Eingreifen impressionistisch abzulösen. Den Dingen steht ein Undefiniertes „Wir" gegenüber, das von Anfang an „Frontgemeinschaft" vortäuscht. Der ganze Absatz, in eine schlechte rhetorische Frage auslaufend, bedeckt das Grundmuster einer sachlichen Berichtexposition vollständig mit Ästhetik, so daß alle hier möglichen Informationen fortfallen; im Tonfall ruhiger Überlegenheit werden sie durch Ideologie ersetzt. 72

In der Folge mobilisierte Jünger mit zunehmender Zielsicherheit seine Erfahrungen dazu, die Lust an diesem Inferno wieder anzufachen. Jenes „Elementare" sei der Vorbote eines Zeitalters, worin der Frontkämpfer den bestimmenden „neuen Typ Mensch" darstellen werde. Ins Zentrum seiner Betrachtungen rückte er seit Mitte der 20er Jahre ein Produkt des Weltkrieges, den modernen Landsknecht, wie er zuerst in den technischen Waffengattungen erschienen war, und er hielt „diesen Schlag für fähig, von nun an und durch diesen Krieg in Bewegung gesetzt, im Europa von morgen in Krieg und Frieden eine führende Rolle zu spielen. In diesen Männern [Jünger spricht von einer Kampffliegerstaffel - G. H.] glaube ich eine noch unbekannte Erscheinung des Menschen zu wittern, der ich gerade im letzten Jahre, und 2war etwa von der Cambraischlacht an, immer häufiger begegnet bin. Beim Anblick mancher Gesichter fällt es mir wie Schuppen von den Augen; es ist, als ob aus ihnen der erste Gruß eines neuen, rätselhaften und gefährlicheren Lebens spräche, das man mit Lust und Schrecken bejaht."93 Mehr mit Lust als mit Schrecken; gestützt auf solche Beobachtungen und auf die Nachgeschichtc jener Kämpfer in Freikorps und SA entwickelte er anfangs der 30er Jahre die Ideologie des „Arbeiters" als Helden des faschistischen Zeitalters. Sie geht auf Hoffnungen aus der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise zurück: Weit hinten erwarten die riesigen Städte, die Heere von Maschinen, die Reiche, deren innere Bindungen im Sturme zerrissen werden, den neuen Menschen, den kühneren, den kampfgewohnten, den rücksichtslosen gegen sich selbst und andere. Dieser Krieg ist nicht das Ende, sondern der Auftakt der Gewalt. Er ist die Hammerschmiede, in der die Welt in neue Grenzen und neue Gemeinschaften zerschlagen wird.0'1 Begriffe und Theoreme des Buches Der Arbeiter (1932), seine Gleichordnung von Liberalismus und Marxismus, die Verwertung der bisherigen Lebensphilosophie und einiger mythologischer Schnörkel, dies alles rückt den Verfasser nahe an andere Ideologen des „Kriegssozialismus"; das Besondere seiner Darstellung jedoch liegt darin, wie mittels einer anthropologischen Typologie aus dem Verhalten jener Kämpfer die neue Staatsidee abgeleitet wird. Das militärische Grundelement des Faschismus ist nirgends so kompromißlos ausgesprochen worden wie hier. Viele Beobachtungen, wie der Spätkapitalismus mit dem bürgerlichen Individuum verfährt, sind zweifellos wahr; aber sie werden systematisiert von einem, der sich 73

schon als Offizier der neuen Massen fühlt. Ihnen befiehlt er eine neuartige Einheit von Herrschaft und Dienst: Ihre Freiheit sei lediglich auf den Staat, nicht auf die Gesellschaft oder den einzelnen zu beziehen; zu produzieren hätten sie nur mehr für den Staat und seine Kriege. So sehr diese Utopie auch gegen das Bürgertum sich richtet, vom Kapitalismus kommt sie schon deswegen nicht los, weil die Frage nach dem Besitz der Produktionsmittel nur umgangen, nicht beantwortet wird und weil die Machtstruktur der imperialistischen Wirtschaft jederzeit vorausgesetzt ist. Selbstverständlich erklärt sich der Ideologe des „Arbeiters" gegen das Streikrecht und gegen jede Organisation des Proletariats als Klasse. Von den faschistischen Praktikern unterscheidet ihn nur die durchkonstruierte Lehre; zu ihnen verhält er sich wie etwa ein Generalstäbler der Kriegsakademie zum Requirierungsamt. Als Jünger 1933 sah, wie sich seine Idee in der Realisation ausnahm und was für Leute nötig waren, damit überhaupt etwas aus ihr wurde, ließ er seine Enttäuschung, daß man nicht auf ihn gehört hatte, die Nazis entgelten und wandte sich von der Politik ab. Er kündigte den Bund von Literatentum und Macht auf, zog auf Marmor-Klippen in die Rauten-Klause und erklärte sich zum Sachwalter des schönen Geistes. Auf den Marmorklippen (1939) war ein kleinmeisterlich gearbeiteter Schlüsselroman, worin die Gestalt des „Oberförsters" und seiner Gefolgschaft ein böses Bild vom Hitlertum entwarfen. Ihn zu schreiben und zu veröffentlichen erforderte viel Mut, aber wenig Gewissen. Denn der Gegensatz, den dieses Buch als aktuellen aufstellt, ist einer von Gedanken und Bildern, Geist und Idolen; von konventioneller Ordnung aus Hoch und Niedrig und blutiger Anarchie; von Kultur und Primitivität, Südländischem und Nordischem, kurz: von einer konservativen Ordnungslehre, der alle konkreten Bezüge zum Spätkapitalismus fehlen, und der völkischnationalsozialistischen Praxis. Dennoch werden immer, wenn der freie Geist sich Herrschaftssitze gründet, auch die Autochthonen sich ihm zugesellen, wie die Schlange zu den offenen Feuern kriecht. Sie sind die alten Kenner der Macht und sehen eine neue Stunde tagen, die Tyrannis wieder aufzurichten, die seit Anbeginn in ihrem Herzen lebt. Dann entstehen in den großen Orden die geheimen Gänge und Gewölbe, deren Führung kein Historiker errät. Dann entstehen auch die feinsten Kämpfe zwischen Bildern und Gedanken, Kämpfe zwischen den Idolen und dem Geist. 05 74

Als hätten ei und Bruder Otho nie zum „Aufmarsch des Nationalismus" geblasen und den Oberförster dadurch unterstützt, daß sie seine Mannschaft mit Lust und Schrecken bejahten, sehen sie nun verächtlich auf die politischen Kämpfe herab und schaffen sich ein bürgerliches Alibi, indem sie neuerdings Faschismus und Kommunismus in eins setzen. In diesen Kämpfen, die zu Menschenjagden, Hinterhalten und Mordbrand führten, verloren die Parteien jedes Maß. Bald hatte man den Eindruck, daß sie sich kaum noch als Menschen sahen, und ihre Sprache durchsetzte sich mit Wörtern, die sonst dem Ungeziefer galten, das ausgerottet, vertilgt und ausgeräuchert werden soll. Den Mord vermochten sie nur auf der Gegenseite zu erkennen, und dennoch war bei ihnen rühmlich, was dort als verächtlich galt. Während ein jeder die anderen Toten kaum für würdig hielt, bei Nacht und ohne Licht verscharrt zu werden, sollte um die seinen das Purpurtuch geschlagen werden, es sollte das Eburnum klingen und der Adler steigen, der das Lebensbild der Helden und Seher zu den Göttern trägt.96 Was an Jüngers Büchern seit 1933, die Afrikanischen Spiele ausgenommen, so widerwärtig berührt, ist die vom Erzähler eingenommene Haltung des Überlegenen, die nicht durch Verantwortung gedeckt wird: Während Mauretanien untergeht, zieht er in die Freiheit des Hochlandes: unangefochten von Not, durchs Militär beschützt, im Panzer seiner Erlesenheit. Einen besseren Repräsentanten konnte die bürgerliche Nachkriegsideologie kaum finden. Aber trotz aller Konformität mit dem neubürgerlichen Hitlerbild, mit EuropaIdeologien und dergleichen ist später die militärfaschistische Utopie nicht vollständig verworfen worden; lediglich die Einsicht kam hinzu, daß es schlecht um ihre Verwirklichung steht. „Sie lebten alle auf die Katastrophe zu", heißt es im Besuch auf Godenholm (1952), „nicht mehr in Übermut wie früher, sondern mit apokalyptischer Angst." 97 Solche Angst gilt sowohl dem Sozialismus als auch der kapitalistischen Wirtschaft, welche beide durch die Formel „moderne Industriegesellschaft" in Jüngers Sinn zu ideologisieren sind. Noch die Gläsernen Bienen (1958), einen Roman, der sich durch mühsame Ironie von den vorhergehenden abhebt, konstituiert der Ärger, daß sich Wirtschaft, Technik und disponierende Intelligenz dem Kommando der Helden entzogen haben, daß sie auch die Plebs, den finnigen Arbeiter aus Manchester - nur in diesem Gegenbild lebt der deutsch-faschistische „Arbeiter" fort - bewaffneten und gegen 75

die „leichten Reiter" einsetzten und daß sie nun diese selber in Dienst nehmen. Zwischen überlegener Anpassung an die neuesten Ideologien des Kapitalismus und Träumen von Militärdiktatur hält sich Jüngers Spätwerk schwankend in der Mitte. Die breite Wirkung seiner Kriegsbücher lag darin begründet, daß sie Erfahrungen dessen vermittelten, was dem Menschen im Feuer der Weltkriegsschlachten geschehen war. Die Geburt des faschistischen Kämpfers, jenes Soldatentyps, der bis heute die Stoßtrupps aller imperialistischen Heere stellt, und seine Funktion für den totalen Staat sind die Wirklichkeitsmomente, welche Jüngers Werk zwar verklärt, aber auch aufbewahrt. Ähnlich, nur mit geringerer Konsequenz, verhalten sich die Bücher von Ernst von Salomon und einige von Arnolt Bronnen zum Faschismus. Durch einen erheblichen Wirklichkeitsgehalt setzen sie sich vom Gros ab, wenn auch ihre Wahrheit nichts ist als Haß auf die liberale Phrase und Lust an der Aggression. Zumal Arnolt Bronnen, der Artist dieser Gruppe, hat solche im Bürgertum glimmenden Aggressionsakte mit Lust herausgestellt und sie literarisch so weit ausgeführt, daß ihre orgiastische Entladung als Befreiung erscheinen konnte. Die übrige vom Krieg lebende Literatur, die mit Vorstößen seit den frühen 20er Jahren (Schauwecker, Beumelburg), in Masse seit 1929/30 auftrat (Dwinger, Wehner, Euringer, Bröger, Zöberlein, Steguweit, Grabenhorst, Sander und andere), kam ohne größere Reflexion von Wirklichkeit aus. Zwar sind die Verfasser durchweg ehemalige Frontsoldaten, aber die Verwertung ihres Kriegserlebnisses dient ganz und gar einer ressentimentgeladenen Propaganda. Zu Jünger verhalten sie sich etwa wie heute die Landser-Helte zu Gaisers Sterbender Jagd. Dem Haß auf eine Nachkriegsgesellschaft, die dem imperialistischen Deutschland seine Annexionen und ihnen den Ruhm verweigerte und die sie außerdem zwang, im Dschungel des Alltags zu kämpfen, diesem tödlichen H a ß verschaffen sie einen uniformen Ausdruck. Zwar gibt es neben Nuancen der Erzählfertigkeit auch solche des Gehalts, je nachdem, ob die Verhältnisse mehr verklärt oder zynisch bejaht, ob der Hauptgegner im Feindes- oder Hinterland vermutet, stärker Bankiers oder Sozialisten bedroht werden; doch bleiben Haupttendenz und die pseudorealistische Oberfläche der Werke fast überall gleich. Wieder ist die Darstellung ganz auf den Frontbereich beschränkt, wo allein der Mann noch was wert sei; die Vorkriegswelt erscheint als tot und mechanisch, die Heimat als eine Beute von Wucherern, die politische Führung als kor76

rupt; während hinter der Front Klassenkampf und Konkurrenz herrschen, seien hier, und nur hier, echte Kollektivbindungen gewachsen. An diesem Schrifttum hatte die Ideologie der „Frontgemeinschaft" und einer nach deren Vorbild zu schaffenden „Volksgemeinschaft" ihren festesten Halt. Beide Kollektive sind dadurch definiert, daß in ihnen der Klassenkampf zugunsten einer Ordnung aus Führertum und Gefolgschaft, der jeder seinen freien Willen aufzuopfern habe, abgeschafft wird und daß sie nur im Angriff funktionieren. Aus dem Erlebnis eines „Aufgehens im Ganzen" zogen Leute, denen der Kapitalismus seine eisige Schulter gezeigt hatte, ihr Ideal vom Staat, um damit vielleicht die Nation gewinnen und wieder einen Krieg verlieren zu können. In den Krisenjahren arbeiteten sie damit nicht nur für die faschistische Aktion, sondern auch unmittelbar für die Interessen des Kapitals, das sich wieder in die Rüstung rettete. Ihre „Aussage" wurde benötigt gegen die gleichzeitigen sozialistischen und bürgerlich-pazifistischen Darstellungen des Krieges, welche mit sachlichen Berichten den Kriegsmythos untergruben oder, wie Arnold Zweigs Streit um den Sergeanten Grischa, gerade jenen Punkt kritisch behandelten, wo die liberale Staatsauffassung in die staatsmonopolistische überging. Unter den Feindgestalten der nationalsozialistischen Kriegsliteratur stehen die kommunistischen und demokratischen Zersetzer obenan; wie man mit ihnen zu verfahren gedachte, das verkündeten Edwin Erich Dwingers Romane deutlich.

„ Arbeiterdichtung" Alle diese Bücher waren in erster Linie für ein Publikum aus einfachen Kriegsteilnehmern bestimmt. Sie fügten sich in die Bemühungen der neuorganLsierten Nazipartei ein, proletarische Massen hinter sich zu bringen. Überhaupt war die Propaganda der N S D A P in erster Linie auf die Klassenkämpfe in Deutschland bezogen und benutzte die äußere Aggression, d. h. die Massenaffekte gegen Versailles oder den Young-Plan, vornehmlich als Mittel zur inneren Machtergreifung. Dabei war der Hauptgegner die K P D ; ein Idol wie die Volksgemeinschaft erfüllte besonders im Kampf gegen sie seine Aufgabe. D a ß diese Propaganda Erfolge hatte, bewies der Übertritt von Arbeiterdichtern wie Lersch, Bröger, Max Barthel und anderen zu den Nazis. 77

Gewiß hatten aber Leischs und Brögers Gedichte schon vorher im profaschistischen Sinne gewirkt. Dazu befähigte sie eine Sehnsucht nach Erlösung, die persönlich und innerlich gerichtet war und den Klassenkampf umging. Denn jede Absicht, dem Arbeiter menschliche Erfüllung i n n e r h a l b der entfremdeten Arbeit und nicht durch Veränderung der Produktionsverhältnisse zu verschaffen, befestigt diese nur um so mehr und leitet Wasser auf die Mühlen des Faschismus. Der Demagogie war es angelegen, an Stelle der Befreiung des Proletariats dessen Tröstung durch Rehabilitation zu setzen, in der Art etwa, wie Heinrich Anacker es unerschrocken formulierte: Dem deutschen

Arbeiter

Kamerad, deine Hände sind rauh Und voller Narben und Schwielen. Du trügest die Steine zum Bau, Drin die Kinder der andern jetzt spielen. Kamerad, dein Gesicht ist hart Und ernst und entschlossen: D u hast deine Träume verscharrt, Wo andre sorglos genossen. Du warst der getreue Knecht Im Gedröhn der Maschinen: So wuchs dir ein heiliges Recht Aus Opfern und Dienen. Der Zukunft gewaltige Schau Soll die Müh' dir verklären: Kamerad, deine Hände sind rauh: Wir wollen sie ehren I98 Was hier als Inhalt eines offiziellen Kultes gefordert war, brachten jene Arbeiterdichter aus innerem Antrieb bei, und zwar noch bevor die Faschisten sich ihnen zuwandten. Schon im Weltkrieg hatten sie das Opfer des Proletariats verheißen, wenn ihre Klasse dafür vorm Nationalismus gerechtfertigt würde. 78

Nun lebt wohl, Menschen, nun lebt wohl! Wenn wir jetzt für euch und unsere Zukunft fallen, Soll als letzter Gruß zu euch hinüberhallen: Nun lebt wohl, Menschen, nun lebt wohl! Ein freier Deutscher kennt kein kaltes Müssen: Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!" Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt, bloß wir haben sie nie bei ihrem Namen genannt. Herrlich zeigte es aber deine größte Gefahr, daß dein ärmster Sohn auch dein getreuester war. Denk es, o Deutschland. 100 Befreiung wird von Integration erwartet. Auch in der vergleichsweise friedlicheren Nachkriegslyrik geht es höchstens um private, nie um gesellschaftliche Freiheit. Lersch und Bröger sprechen, fast im Gleichklang, für Arbeiter, die von der Novemberrevolution enttäuscht worden sind und sich Erlösung außerhalb des Klassenkampfes erhoffen. Aus der entfremdeten Arbeit schöpfen sie innere Erlebnisse; seelischen Aufschwung gewinnen sie der Unterwerfung ab; indem sie ihre Tätigkeit zu mythischen Schöpfungs- und Zeugungsvorgängen erhöhen, opfern sie dem Kult der Arbeit, den die Bourgeoisie vor ihre Kritik gesetzt hat. Die von ihnen bevorzugte Bildwelt von zeugenden Hämmern oder Pflügen und empfangenden Ambossen oder Äckern ist als ganze provinziell und regressiv. Einerseits werden darin die modernen Produktionsverhältnisse verdrängt - und zwar zu einer Zeit, als das Fließband aufkam - , und andererseits werden Herrschaft und Unterordnung zum biologischen Gesetz erhoben. Produktion erscheint als ein Naturvorgang und wird für völkische Mythenbildung aufgeschlossen. „Mein Junge, für jedes Weib einen Acker! Einen Pflug jedem Zeugenden in die Hand!" 1 0 1 Freilich bleibt in dieser Dichtung eine Hoffnung lebendig, aber eine von solcher Art, daß ihr Ausdruck lediglich ihrer Vereitelung dient. Weniges ist so mißbraucht worden und so mißbrauchbar gewesen wie die Sehnsucht nach einer „Neuen Zeit". Sie kann schon gestillt werden durch dumpfe Kollektivität, durch ein Schreiten Seit' an Seit', das von der sozialen Realität wegführt und Kraft damit beweist, daß es die Natur stört. Nicht sich selber, sondern der alten Mutter Erde sei der Mensch zu eigen, keiner wage zu hadern, wenn man ihn mit der Sonne abspeist, die nach einer Woche Ham79

merschlag für alle scheint. Die Scheu vor der Einsicht, daß Natur und menschliches Wesen nur über rationale Erkenntnis und gesellschaftliches Handeln wiedererlangt werden können, diese Scheu ist leicht zu verstehen; sie ist aber auch gefährlich. Der Faschismus wird sie aufgreifen und in H a ß umwandeln. Lersch wird sich später wütend gegen die „marxistischen Korsettträger" erklären, „die Bürgerjüngelchen, die ja mehr vom Arbeiter wußten als wir, die ihr Leben unterm Proletariat verbrachten, zum Teufel! Dies hat mich zuerst bewogen: Heil Hitler! zu sagen" 102 .

Literatur der

NSDAP

Den Arbeiter zum Soldaten zu erheben war eins der Mittel, ihn dazu zu machen, und zwar schon lange vor dem Krieg. Seinem Freunde Richard Flisges, der 1923 im Bergwerk verschüttet wurde und also „als tapferer Soldat der Arbeit in den schweren Tod ging", widmete Joseph Goebbels 1929 seinen Roman Michael. Dieses deutsche Schicksal in Tagebuchblättern ist das instruktivste Zeugnis für nazistischen Kunstmißbrauch in der Zeit, als man proletarische Wähler gewinnen wollte und Goebbels den „Sturm auf das rote Berlin" unternahm. An einem Modellfall wurde das Entstehen jener Volksgemeinschaft vorgeführt, die weder Unternehmer noch Arbeiter noch die Kleinbesitzer etwas kosten sollte. Als Form bot sich wieder der Entwicklungsroman an. Der Held, eine Faustnatur durch und durch, vor kurzem noch Frontsoldat, studiert Philosophie in Heidelberg, ohne Genüge zu finden, entsagt sogar der Liebe, weil er so furchtbar ringen muß, und erlebt sein Damaskus erst beim Anhören einer Führerrede: Nun ist sein Weg hell, er geht ins Bergwerk, um wieder Frontgemeinschaft zu suchen, und findet sie, nachdem er sich als Streikbrecher bewährt hat. Ausgedrückt wird das in einem Unstil, der das völkische Feuilleton zugleich ausnütze und verachtet. Der Gestus gemahnt an Herrn Cipollas hypnotische Operationen und ihre Aufhebung durch Peitschenhiebe: „Christus gab mir viel - aber nicht alles" [ . . . ] „Ein Gedicht ist ja schließlich nichts anderes als eine Momentaufnahme aus dem Bereich der künstlerisch gestimmten Seele. Kunst ist Ausdruck von Gefühl" [ . . . ] „Dieses Schwabing muß einmal ausgeräuchert werden. Es ist die Brutstätte der zersetzenden Tendenzen; und dabei hat es mit dem eigentlichen München gar nichts zu tun." 103 Ein Bodensatz völkischer Innerlichkeit, mitsamt 80

Restbeständen von Religion und dem seit Chacnberlain, Bartels und Dietrich Eckart obligaten Goethekult, wurde in die politische Demagogie übernommen. Weniges offenbart so deutlich die Nähe des liberalen Feuilletons, der durchs Zeitungsgeschäft korrumpierten Sprachverfügung, zu den Machtmitteln der Diktatur. Dieser Michael und ähnliche Bücher von Richard Euringer (Die Arbeitslosen, 1930), Max Barthel (Das unsterbliche Volk, 1933) oder Johst (Schlageter, 1933) waren eine Reaktion auf die anwachsende proletarisch-revolutionäre Literatur, eine bewußte Gegenaufklärung; neben die nationalsozialistischen Kriegsbilder stellten sie sich als deren Aktualisierungen für die Gegenwart. Dieses NSDAP-Schrifttum im genauen Sinne des Wortes paßte sich der Propaganda an, konnte aber dabei ideologische Kontinuität wahren, weil die Hauptideen, welche die Partei von Anfang an vertrat, hier taktische Rücksichten kaum unterlagen. Es scheint notwendig zu sein, die tragende Ideologie und vor allem ihr Feindbild an den frühesten literarischen Äußerungen der NSDAP aufzuzeigen, d. h. an Dietrich Eckarts Nachkriegsgedichten und seiner Wochenschrift für Ordnung u. Recht: Auf gut deutsch (1919-1921), aus der 1921 der Völkische Beobachter hervorging. Sturm, Sturm, Sturm! Läutet die Glocken von Turm zu Turm! Läutet, daß Funken zu sprühen beginnen, Judas erscheint, das Reich zu gewinnen, Läutet, daß blutig die Seile sich röten, Rings lauter Brennen und Martern und Töten. Läutet Sturm, daß die Erde sich bäumt Unter dem Donner der rettenden Rache. Wehe dem Volk, das heute noch träumt, Deutschland, erwache!104 Solche Gedichte wirken vorab betäubend. Die Worte machen soviel Lärm, daß es syntaktisch schon gleich gilt, ob nun Brennen, Martern und Töten das Werk von Judas ist oder das Ziel des funkensprühenden Glockengeläuts. (Da weiterhin von rettender Rache die Rede ist, werden jene Tätigkeiten wohl zum Programm gehören.) Doch wer ist Judas? Das wird nicht gesagt, der Sänger scheint feinsinnig 6

Härtung, Faschismus

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auf die Verwechslung mit Juda, „All-Juda", zu vertrauen. Wie aber will der das Reich gewinnen? Mittels der Sozialisten. Das Probeheft von Auf gut deutsch erschien am 7. Dezember 1918, also mitten in der bayrischen Revolution, und zwar mit dem Auftrag, noch in die Vorgänge einzugreifen. Deutschland sei unterlegen allein durch den Wucher, und darum müsse man gegen „unsichtbare Gebieter der Weltwirtschaft" zur „Verstaatlichung des gesamten Kredites" schreiten, was durchaus möglich sei „ohne Ausartung in den phantastischen, zur allgemeinen Verwahrlosung führenden Bolschewismus, auf völlig g e s e t z l i c h e Weise" 1 0 5 . Auf gut deutsch hieße das, die Regierung Kurt Eisner solle die Revolution von den Arbeiter- und Soldatenräten fernhalten und umfassende Sozialisierungen verhindern. Der Angriff auf das „mobile Kapital" allein, der zu der Formel „Brechung der Zinsknechtschaft" gerann, war dabei ein alter, schon von de Lagarde vorgetragener Affekt aus der Zeit, da Kapital überwiegend durch den Handel und durch Spekulationen akkumuliert wurde, und konnte nach der Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital nur noch demagogisch wirken. Während dieser Feind vorerst im Nebel blieb, richteten die ersten Hefte bereits das Feuer auf die Reichskonferenz des Spartakusbundes vom 29. Dezember, auf der die K P D gegründet wurde. Schaurige Verleumdungen Karl Radeks, des Gastdelegierten der Bolschewiki, führten erstmals jene Tonart des politischen Antisemitismus vor, die später im Stürmer oder Schwarzen Korps schabionisiert werden sollte. Bezeichnenderweise erhielten die seit langem angehäuften antisemitischen Affekte, die man gegen anonyme Weltherrschaftspläne geschürt hatte, ihre heftigsten, weil personell gerichteten Entladungen gerade im Bereich der Arbeiterbewegung. Gleichzeitig erklärte Eckart, die Judenfrage sei „die Menschheitsfrage, d a s Problem, in dem alle, aber auch alle übrigen Probleme enthalten sind" 106 . Im 4. Heft handelte Karl Graf von Bothmer über „Sinn und Widersinn des Sozialismus" und führte Eckarts Intentionen zu kriegssozialistischen Folgerungen weiter. Sozialismus sei nicht, erklärte er, „die möglichste Einschränkung aller Arbeitsleistung und die Aufteilung alles Besitzes", sondern „in Wirklichkeit nichts anderes, wie die Eingliederung jedes einzelnen in die Gemeinschaft und die Steigerung größtmöglicher Arbeitsleistung zugunsten der Gemeinschaft. Sozialisierung heißt keineswegs die Ausschaltung privatwirtschaftlicher Initiative, sondern heißt Organisation einer nationalen Wirtschaft, in der das mobile Kapital genossenschaftliches B e t r i e b s m i t t e l , aber 82

nicht M a c h t m i t t e l ist". 107 Der Graf verfocht den „Zwang zur Arbeit", verlängerte Arbeitszeiten, Beibehaltung der Akkordlöhne, Kampf gegen proletarischen „Individualismus" und resümierte: „Also ein ernst gewollter Sozialismus führt immer mehr vom Klassenkampf weg." 108 Mithin diente bereits im frühesten Zentrum der „Bewegung", im Kreis der Eckart, Hitler und Rosenberg (der seit 1919 als Eckarts „Freund" und Mitarbeiter fungierte und eigenem Zeugnis nach frühzeitig den Leitartikel des Völkischen Beobachters besorgte) der Antisemitismus dazu, die Tendenz zum Staatskapitalismus mit dem Kampf gegen die Kommunisten scheinrevolutionär zusammenzuklammern. Der Theorie der ersten Parteischriften109 zufolge hätte die „jüdischmammonistische Plutokratie" neuerdings den Bolschewismus erfunden, um die einigen Völker zu teilen und in den künstlichen Spalten ihre Herrschaft einzurichten. Wenn das gelungen sei, müßten die Nichtjuden, die die Revolution erkämpft haben, wieder sehen, wo sie bleiben. Gegen diese Pläne helfe nur die militärische Einheit der Nation und des Volkes. Diese Schriften, die alle ihre Abkunft schon im Titel zeigen, lassen erkennen, wie die alte völkische Lehre einerseits der Konterrevolution angepaßt, andererseits dem Ziel des „nationalen Sozialismus" aufgeschlossen wurde und sich dabei politisierte. Schließlich verkümmerte der Antisemitismus zu einem schaurigen Ornament, auf das man auch verzichten konnte, wenn es um die Erringung der Macht ging, das man aber danach nur um so schauriger in Verbrechen umsetzen würde. Der Politisierungsprozeß läßt sich besonders gut bei Dietrich Eckart verfolgen, der zunächst den Vorkriegsideologien am engsten verhaftet war und sogar noch am Anfang seiner Zeitschrift erklärt hatte, wer es heute gut mit dem deutschen Volk meine, der bekämpfe die diesem Volk „gottlob unnatürliche Neigung zur Politik". Je weiter die bayrischen Klassenkämpfe auf die Räterepublik hinführten, desto wüster reagierte er auf die Spartakisten. „Immer nur schreien sie von der Schwerindustrie, von den Agrariern, von lauter Nebensachen; denn das s i n d Nebensachen, gemessen an dem Riesengewicht der Zinsherrschaft!" Es seien Lügner, „die euch ablenken vom Wichtigsten, vom allein Wichtigen, damit nur ja der Kapitalismus, der eigentliche Kapitalismus, das ist das unermeßliche Judengeld, nicht in Bedrängnis gerate!" 110 Zugleich verstärkten sich auf dem Kunstsektor die Bemühungen um aggressive Volkstümlichkeit. Eckart, der Gedichte auf Lettow-Vorbeck und dergleichen beisteuert, Hagens 6*

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Selbstverteidigung gegen der „Hunnen tückisches Geschlecht" in Verse bringt oder etwa einen obskuren Maler namens Edmund Scheppes feiert, agitiert auf der anderen Seite ebenso gräßlich gegen die Expressionisten, vornehmlich gegen Becher, und läßt nicht einmal mehr den Thomas Mann der Betrachtungen eines Unpolitischen als Verbündeten gelten: Das Buch enthalte zwar einige Gedanken, bringe aber nichts über die Judenfrage, was unaufrichtig sei (jüdische Frau! jüdischer Verleger!), und zeige überhaupt, daß der Mann zuviel Verständnis für die Gegenseite habe und halt doch nur ein Ästhet sei.111 Aus dem in der ersten Kampfzeit angehäuften Ideenvorrat ließen sich die ideologischen Bedürfnisse der N S D A P nach der Neuorganisation noch immer speisen, wenn auch die Propagandataktik ständig Änderungen und Anleihen bei der Konkurrenz erforderte. Hitlers Bestrebungen seit 1925 gestalteten sowohl seine Partei als auch deren „Weltanschauung" zu reinen Machtmitteln um und deformierten dabei die altvölkische Lehre. Doch betraf das eben die Literatur und die Kulturpolitik nur wenig. Die Auseinandersetzungen zwischen Goebbels und Rosenberg, worin deutlich die neuen und alten Prinzipien aufeinanderstießen, verhinderten nicht, daß der erstere „Kulturbolschewisten" wie Arnolt Bronnen heranzog und der zweite seinen „Kampfbund" gründete, und zwar beide unter offiziösem Auftrag. Tiefere Voraussetzungen für solche Kampfbündnisse bot die Struktur der ganzen faschistischen Literatur selber, deren Bezug auf Affekte, ihre unpräzise, mit längst veralteten und verschwommenen Gefühlsvokabeln hantierende Sprache, das Fehlen eines rationellen Kerns, kurz: ihre allgemeine Brüchigkeit. Was dabei die nationalsozialistische Sturmlyrik anlangt, so reproduzierte sich in ihr einerseits das irrationale Feindbild, das nur selten die Deutlichkeit von „Rotfront und Reaktion" erhielt, als ein dumpfer Haß- und Richtungsaffekt, der zum Marschieren trieb, und andererseits die blinde Gemeinschaft in einem Wir, das als suggestiver Ausdruck militärisch handelnder Gruppen fungierte. Anscheinend war Dietrich Eckart der erste Vertreter der Methode, völkische Lieblingsvorstellungen wie Glocken, Erde, Mädchen und Buben, Mütter, Wiegen usf. so nebeneinander- und einem verborgenen Gegner entgegenzuwerfen, daß eine Stimmung des Fanatismus entsteht, die sich sogleich in schlagkräftigen Parolen entladen kann. Er hat nicht nur den SA-Standarten die Losung „Deutschland erwache!" verschafft, wennschon mit dem 84

richtigen K o m m a - dessen Wegfall ungefähr anzeigt, wieviel Niveau noch aufzugeben war - , sondern auch ihren Trägern den Gegenruf „Juda, verrecke!" Allerdings besaßen die anderen Sänger der Kampfzeit, die Baidur von Schirach, Hermann Bangert, Heinrich Anacker, nicht einmal diese Fähigkeiten zur Demagogie. Sie brachten ihre Ideologie eher mittels Schillertönen zum Ausdruck; nach 1933 erstarrte dann diese Art Dichtung zu einer toten Architektur von Kultrwörtern.

Assimilation völkischer und konservativer Autoren Eine ähnliche Kurve durchlief auch die nicht der N S D A P verpflichtete völkische Literatur, die ja von den gleichen Massenaffekten getragen wurde und abhing, auf welche die Nazis sich taktisch einstellten. Ihre Radikalisierung seit 1918 erklärt sich aus der elenden Lage und der weiteren Verelendung der standesbewußten Mittelschichten. W i e nichts zuvor hat die sogenannte Inflation im Volk ein Bewußtsein erzeugt, von drohenden, aber personell nicht faßbaren Mächten abzuhängen, eine Angstneurose, die den damals besonders heftig auftretenden Antisemitismus einigermaßen erklären kann. D i e während der Inflation und in der folgenden Stabilisierungsperiode vor sich gehende Rationalisierung der Wirtschaft, die Kapitalkonzentration, die die Mittelschichten weiter dezimierte, verstärkten die gegen das Ausland und die Demokratie gerichteten Gefühle. Als Deutschland neuerdings eine durchgreifende Kapitalisierung erfuhr, wurden die Folgen wieder als typisch „undeutsch" empfunden. Widerstand richtete sich weniger gegen das eindringende amerikanische Kapital als vielmehr gegen die Einfuhr amerikanischer Lebensweisen: die Kapitalisierung des Sports, den Jazz, moderne Tänze und dergleichen, was alles von Berlin aus vordrang. Vor allem aber wurden Angst und Wut, die dem unverstandenen Neuen in der Gesellschaft galten, gefahrlos auf die moderne Kunst verlagert, die Ausdruck oder Reproduktion dieser Zustände sein wollte und als „kulturbolschewistisch" fast ohne Unterschied der Acht verfiel. Völkisches radikalisierte sich im Sinne eines neuen und nun auch politisch gerichteten Sendungsbewußtseins. Blättert man in den zahllosen Zeitschriften der Vereine für reines Leben und Innerlichkeit, der rechtsstehenden Jugendbünde, Deutschkundler und Anhänger „nordischer Kultur" oder arischer Nacktkultur, dann fällt gegenüber den Entsprechungen aus der Vorkriegszeit sowohl die stärkere Polari-

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sierung voi, Deutschem und Undeutschem auf als auch der Ruf nach Maßnahmen und nach dem Staat, der sie anordnen würde. Zu lauten Aktionen steigerte sich das während der Wirtschaftskrise. In der sich schnell vergrößernden Masse von proletarisierten Kleinbürgern oder Beamten, die nicht als Masse handelte, da jeder Betroffene einzeln ins Proletariat gestoßen wurde, nisteten eingebildeter Individualismus und Haß auf die Arbeiter ebenso wie der Wunsch, in einem neuen Kollektiv wieder Geborgenheit zu finden. Man rief nach der Zensur und meinte die Diktatur. In politischer Hinsicht hatten sich die Nazis von den Völkischen besonders durch ihre Bemühungen um das Proletariat entfernt. Jene Kleinbürger erwarteten von der Diktatur eine Heilung der Welt nach ihren Vorstellungen, wobei sie weder die Beziehungen zur Bourgeoisie noch zum Proletariat durchdachten, während die NSDAP ein festes Bündnis mit ersterer eingegangen war und zugleich die Stimmen der Arbeiter und Arbeitslosen suchte. Doch konnte sie im Bereich der Kulturideologie immer noch völkische Stimmungen auffangen und sie politisch verwerten. Die diesem Bereich zugehörige Literatur hatte Höhepunkte in der Nachkriegskrise und seit dem Ende der 20er Jahre, erstarrte aber nach 1933 in ideologischen Schemata; zwar nicht bedeutende, doch wirksame Werke hat sie nur vor 1933 hervorgebracht. Ältere Ansätze kamen jetzt zu ihrer Konsequenz. So wurde der Boden- und Heimatmythus durch Griese und Blunck mit oder ohne realistische Beimengungen ausgestaltet; Stehr (Natbanael Mecbler, 1924) und Frenssen (Lütte Witt, 1923) führten ihre antirevolutionären Tendenzen offen aus; für die expansive Ausnutzung von „Blut und Boden" lieferte Hans Grimms Volk ohne Raum (1926) das Schlagwort und den Anschauungszwang. Ein Geschichtsgebäude erbaute Erwin Guido Kolbenheyer mit dem Mythos einer arthaften Kunstentwicklung, die sich auf Kosten des einzelnen Trägers biologisch durchsetze (Paracelsus-Trilogie, 1917, 21, 25). Im Unterschied zur nationalsozialistischen Kampfliteratur, die sich an das Fronterlebnis und dessen Folgerungen hielt, und im Gegensatz zur proletarischen Berichtsliteratur und zur „Neuen Sachlichkeit" pflegte man eine Methode des „künstlerischen Idealismus": Man baute Konstruktionen aus entlegenen Stoffen auf. Diese Dichtungen offenbaren ihren Kleinbürgergeist darin, daß sie nicht auf eine politische Perspektive hin verfaßt sind. Ihre Stärke war die Ausbildung von Aggressionen, die vermittelt aus der Erschütterung der Mittelschichten hervorgingen und letzten Endes

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zum Schutz des Kleineigentums aufgeboten wurden; daher konnten zeitgenössische Vorgänge nur selten verwendet werden. Den Vorrang hatten mythische und historische Stoffe, wobei besonders das Germanentum dazu herhalten mußte, eine ganze, nach aktuellen Schlagworten geordnete Welt vorzuspiegeln (Bloem, Jansen, Blunck und andere). Schon auf den ersten Blick ist die Faschisierung dieser Produktion am Verzicht auf den sachhaltigen Stil der „Professorenromane" und an der Aufnahme der Volk-ohne-Raum-These abzulesen, die man mit heroischer Tragik umgab. Wenn Stilgefühl vorhanden war, pflegte man offener propagandistische Formen: Paul Ernst stellte mit seinem Kaiserbuch (1923 ff.) eine Galerie von Führerbildern auf, und Wilhelm Schäfer bedachte in 13 Büchern der deutschen Seele (1922) nationalgeschichtliche K l i schees mit Stabreimen. Auch Autoren des kulturkonservativen Lagers, das sich überhaupt dem völkischen enger anschloß, begaben sich auf eine solche Ebene: Wilhelm von Scholz, Ernst Bertram, Josef Ponten, Emil Strauß, Ina Seidel. Nichts bezeichnete die Absicht der Konservativen, das „wahre Sinnbild auf das völkische banner" zu heften, deutlicher als Stefan Georges Band Das Neue Reich (1928), worin Zeichen und Symbole sich eng den Schlagworten der „konservativen Revolution" anglichen. Solche Absicht stellte schon der Titel aus. Das meistzitierte Gedicht, Der sänger aber sorgt in trauerläufen, übernahm nicht nur die Verheißung, „daß einst / Des erdteils herz die weit erretten soll", sondern auch Feindbilder von „dem geilen markt", „dünnem hirngeweb", „giftigem flitter" sowie den Slogan der „verruchten jähre" und verstand sich dazu, dem „jung geschlecht" aufzugeben, daß es dereinst „Den einzigen der hilft den mann gebiert" : D e r sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten Die Ordnung, geißelt die verlaufnen heim Ins ewige recht wo großes wiederum groß ist Herr wiederum herr, Zucht wiederum zucht [ . . . ] 1 1 2 D a ß im Verlauf der Krise auch liberale Bildungsschichten affiziert wurden, belegt der Übertritt von Marktautoren ins nationale oder völkische Lager, am deutlichsten der des Hanns Heinz Ewers. Dieser Literat, der seit dem Jahrhuridertbeginn von pikanten Stoffen gelebt hatte und dessen Charakteristikum wohl darin besteht, daß er die einst antibürgerlichen Affronts von Phantastik und Sexualität am 87

weitesten dem Markt ausgeliefert hat, dieser einstige „Commis voyageur ins Transzendente" (Karl Kraus), der freilich im Weltkrieg schon gezeigt hatte, daß er auch anders konnte, der entdeckte am Anfang der 30er Jahre die Verwandtschaft seiner Abenteurer- und Zuhältergestalten mit den Helden der Bewegung und schrieb zwei Romane (Reiter in deutscher Nacht, 1932; Horst Wessel, 1932), worin jene als nationale Kämpfer wiederauferstanden. Seine Zuhälterei hat ihm freilich nichts genützt; er kam zu spät damit, brachte dem Dritten Reich eher negative Propagandaerfolge ein, und außerdem hegte das Regime unbesiegbares Mißtrauen gegen Leute, die zu viel Geschicklichkeit zu verkaufen hatten. Erst 1943 fand man ihn wieder im Börsenblatt, und zwar als Herausgeber einer Anthologie: Die schönsten Hände. Geschichten in der Sonne. Es ist müßig, weitgehende Überlegungen anzustellen, was aus der Literatur unterm Hakenkreuz geworden wäre, wenn die Bedingungen ihrer Herrschaft und ihre Ideologie den Machthabern gestattet hätte, mit dem Gros der Literaten und Feuilletonisten geschickter zu verfahren und größere Teile des Literaturbetriebes beizubehalten. Zweifellos hätte dann eine Bilanz der Zulieferer, wie sie Loewy aufgestellt hat, eine Reihe von Erfolgsautoren verzeichnen müssen, die längst schreiben konnten, wie es gewünscht wurde. (Wulf hat z.B. auf Reinhold Conrad Muschlers Bianca Maria, 1932, aufmerksam gemacht; 113 von dem Reisefeuilletonisten A. E . Johann wird noch zu reden sein.) Goebbels, selber mit allen Wassern des Journalismus gewaschen, mußte anscheinend bei seinem Machtkampf mit Rosenberg derartige Absichten aufgeben. Prinzipiell verbot das Regime, wie Hitler bereits auf dem ersten Parteitag (30. August-3. September 1933) dartat, allen älteren Literaten den Zutritt, wenn sie nicht ein gewisses Maß an Bewährung in der „Kampfzeit" erfüllt hatten.

Einstige Expressionisten: Jobst, Benn Es finden sich daher unter den Parteigängern des Nationalsozialismus kaum ältere Autoren, deren Namen mit wesentlichen technischen Neuerungen oder auch nur mit Moden verknüpft sind. Ausnahmen machten nur einige Expressionisten, und das Verhältnis von Expressionismus und Faschismus ist deshalb, vor allem mit Bezug auf Gottfried Benn, in der antifaschistischen Diskussion von 1936/37 viel erörtert worden. Es ist hier noch einmal zu berühren. Zwar hat es, 88

anders als in der bildenden Kunst, in der Literatur des Dritten Reiches keine starken oder länger andauernden Bestrebungen gegeben, den Expressionismus zum Erbe zu schlagen, und auch die Bemühungen Benns darum waren schon 1934 gescheitert, aber das beantwortet noch nicht die Frage nach einer möglichen faschistischen Funktion dieser Bewegung. Zu nennen sind, neben Bronnen: Kurt Heynicke, Hanns Johst und Benn. Doch kann man im Fall der ersten beiden eigentlich nur dann den Expressionismus belangen, wenn man ihn als einheitliches Phänomen auffaßt und nicht willens ist, zwischen Sprachwerten und Konfektion zu unterscheiden. Ein Dichter, der zur gleichen Zeit SturmLyrik und dies zu schreiben vermochte: Konservenwurst und Liebe. Ein fröhlich Spiel aus der Kriegszeitm, der hat sich jeden Anspruchs auf Authentizität begeben. Das zeigen Heynickes Gedichte freilich auch in ihrem Innern. Eines der seinerzeit bekanntesten lautet: Volk Mein Volk, blüh ewig, Volk. Strom, ausgespannt von Mitternacht zu Mitternacht. Strom, groß und tief von Meer zu Meer, aus deiner Tiefe stürzen Qellen, urewig speisend dich, das Volk. Mein Volk, blüh ewig, Volk. Du träumst dir Zukunft an die Brust. Einst wird kein Tag mehr deinen Traum zerschlagen, die Berge deiner Seele werden in den Himmel ragen und uns erheben, uns, das Volk. Ich bin ein Baum im Walde Volk. Und meine Blätter speist die Sonne. Doch meine Wurzeln schlafen ihren Schlaf der Kraft in dir, mein Volk. 89

Mein Volk, einst werden alle Dinge knien vor dir. Denn deine Seele wird entfliegen hoch über Schlote, Städte in dein eigenes Herz. Und du wirst blühn, mein Volk. Mein Volk. In dir. 115 Hier stimmt nichts. Beginnend mit dem Strom, der ausgespannt, aber groß und tief sein soll und aus seiner Tiefe Quellen stürzen läßt, die ihn urewig speisen - was sie doch höchstens könnten, wenn sie in seinen Tiefen quillen würden bis hin zu der Seele des Volks, die in das Herz des gleichen Volkes „hoch entfliegen" wird, sind lediglich gefühlige Vokabeln ausgesucht und um das Wort Volk gruppiert worden. Der Schein von Geschlossenheit rührt daher, daß alle Wörter dem gleichen völkischen Gefühlsbereich entsprechen. Mit expressionistischer Technik hat das nur insofern zu tun, als auch in den Antikriegs-Gedichten dem Einzelwort eine beschwörende Wirkung abgefordert wurde, welche die kommunikative Sprache nicht mehr herzugeben schien. Doch machte es einen nicht nur verbalen Unterschied, ob „der Mensch" oder „mein Volk" angerufen war. Im ersten Falle wendete sich humanitäres Pathos gegen die Ideologie des Nationalismus; im zweiten herrschte Konformität mit ihr. So wenig das Ich des zitierten Gedichtes der Welt oder dem Staat gegenübersteht, so wenig auch sein Autor jener bürgerlich mißbrauchten Sprache, aus deren Bruchstücken die Expressionisten Funken schlagen wollten. Die Einheit mit dem Volk, die erst zu schaffen wäre, wird als vorhandene dargestellt, also erlogen. Worin das Ich aufgeht, ist nur ein ideologisches Raunen. Einzelne Wendungen („Einst werden alle Dinge knien vor dir") verraten außerdem eine bedenkliche Neigung, die eigene Schwäche am Gedanken zu stärken, alle hätten derart im Volk aufzugehen. Heynickes Beziehungen zum Expressionismus überdauerten nicht die Zeit von dessen modischer Geltung. „Gegen Ende des Krieges schliefen meine Beziehungen zum Sturm ein. Ich war ihm entwachsen." 116 Und zwar in Steiners Anthroposophie hinein. Das daraus Bezogene wurde allerdings in der Folgezeit mit so viel völkischem Unterhaltungsgut vermischt, daß 1933 kaum mehr etwas gleichzuschalten war. Ohne Mühe entwuchs der Dichter ins Dritte Reich:

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Neurode (chorisches Spiel, 1933), Der Weg ins Reich (chorisches Spiel, 1934). Letzteres wurde sicher, wie sein Autor es sagt, von irgend jemandem „bald nach Erscheinen als unerwünscht bezeichnet", aber doch 1935 mit einer Musik von Georg Blumensaat gedruckt; denn: Das Leben sagt ja (Gedichte, 1936). Und wenn man damals, nach der deutschen Wiederbewaffnung, zu fragen vermochte: Herz, wo liegst du im Quartier? (heiterer Roman, 1937), dann war man auch im ersten Kriegsjahr zu diesem Titel imstande: Der Baum, der in den Himmel wächst (heiterer Roman, 1940). Nicht mehr heiter, aber immer noch tröstlich klang es 1942: Rosen blühen auch im Herbst (Roman, 1942), doch geradezu entwaffnend 1948: Es ist schon nicht mehr wahr (Roman, Stuttgart, 1948). „Ich bin", erklärte der Dichter 1959 mit einer unbezahlbaren Vermengung von durativem und iterativem Aspekt, „Ich bin, die menschlichen Entwicklungen eines Lebens einbegriffen, gläubig geblieben, wie in der ersten Zeit meines lyrischen Schaffens." 117 Eine Zuordnung Hanns Johsts zum Expressionismus kann sich nur auf einige Werke der Jahre 1917 bis 1919 stützen, und auch da nur auf Einzelheiten; nicht dagegen auf die vorangehenden Versuche: eine Bauernkomödie Stroh (1915), Beiträge zu Pfemferts Aktion oder den Roman Der Anfang, die vielmehr bare Heimatliteratur sind. Zum frühen Expressionismus fehlten alle Beziehungen. Aber auch die Werke um 1918 hatten mit Antikriegsmanifesten nichts gemein; weniger von der pazifistischen Massenbewegung waren sie inspiriert als vielmehr vom krisenhaften Nationalismus des Kriegsendes. Wie Heynicke kann Johst nicht einmal eine völkische Spielart des Expressionismus, sondern nur die völkische Ausnutzung der Mode belegen. Aber hinter der modischen Sprachkulisse trug sich in seinem Fall Schlimmeres zu. Es sei an das damals erfolgreichste Stück erinnert, an das Grabbe-Drama Der Einsame. Ein Menschenuntergang, das wegen „einer lächerlichen Auffassung des Genies und des Amoraten" 118 wenig später Brechts Gegen-Stück Baal hervorrief. Es hat bezeichnenderweise den „deutschen Dichter", nicht den jungen oder gar revolutionären zum Gegenstand. Auf der Bühne steht eine Gestalt, die mittels Grabbezitaten und Feuilleton die bürgerlichste Nationalmeinung vom Genie vorbringt, damit das Publikum sie ihrem Schöpfer gutschreibe: Oh! Dies Gefühl! Nicht um einen Thron möchte ich es eintauschen! Dieses Gottvatergefühl! Himmel und Erde wird Will91

kür meiner Gunst! Ich bin der Kosmos! Und ohne mein Wort und ohne die glühende Guirlande meiner Dichtung zerfällt dies alles - Geschichte, Vernunft, Gegenwart und Seele von tausend Gottesäckern zu wesenlosem Staube. Genies lebten ein Leben lang zwischen hochtrabendem Plan und erbärmlichem Appetit auf Preßsack oder rote Grütze! Ich aber packe sie am Genick! Ein Wort! Und sie sind wesentlich! Und ohne Behang des Alltags! - 1 1 9 Dieses Schöpfertum wird, zur völligen Mythisierung, sogleich mit natürlicher Fruchtbarkeit gleichgesetzt. Anna: Wie ich mich freue! Christian Dietrich!!! Christian: Wir zwei Du!? Sind wir nicht Symbole der Welt! Fruchtbar? Und Liebe? Dein Leib schwillt, eine goldene Ähre der Ernte zu! (Er ist aufgestanden und legt seinen Arm um ihre Schultern) Und mein Werk rang sich von mir los und wurde Unsterblichkeit! - So stehen wir beide im Zeichen unendlichen Lebens und strömen uns aus, verströmen Geburt um Geburt! 120 Mit diesem Schmus ist der deutschvölkische Dichter schon definiert. Er schöpft aus Urquellen und kann nicht mehr arbeiten, wenn sie versiegen; Tragödien schreibt er nicht, sondern „lebt" sie, indem er untergeht. Weitab liegt die Einsicht, welchen Menschenuntergang eine Gesinnung bezeichnet, die durch Leichenfledderei eigene Erfolglosigkeit und Unfähigkeit tragisch aufwerten möchte. Des Dichters Untergang beginnt hiernach schon mit dem Verlust biologischer Ganzheit. Als Grabbes Geliebte im Wochenbett stirbt, ist seine Bindung ans Leben zerrissen, und er wird amoralisch. Aber für diese Amoralität wird um Mitleid geworben. Sie ist nur scheinbar, halb Täuschung, halb Rücksichtslosigkeit mit schlechtem Gewissen, die nirgends für sich einsteht und die Konsequenzen trägt, sondern immerfort tränig nach dem Spießer blickt: D a habt ihr's, ein deutscher Dichter ist eben was ganz Besonderes. Der Untergang endet auch versöhnlich: „Die Jugend", aufgebaut wie nach einer KunstwartIllustration, bringt dem toten, aber nicht totgeglaubten Grabbe ein Ständchen. Mit dem radikalen und, wie abstrakt auch immer, doch ethisch begründeten Haß der Heym oder Becher auf „den Bürger" ist das nicht zu verwechseln. Das Stück entwickelt sich vielmehr zur Tragödie verhinderter Volksgemeinschaft zwischen Genie und Publikum. Seine Stelle in der Gemeinschaft gewänne der Dichter, wäre die irrationale Lebensbindung unzerbrochen, nicht durch Erkenntnisse oder stellvertretendes Leid, sondern durch Führercharisma: 92

„Denn die Menschen sind gut, solange man selbst sicher i s t . . . Sie sind wie Dienstboten, sie hören an deiner Stimme, ob du zum Herrn bestimmt bist . . . Als Anna erlosch, wurde meine Stimme brüchig und heiser . . . So ergab sich alles von selbst . . ." 121 Allein für die Vorführung dieser Genielehre - die ersichtlich die faschistische Gleichsetzung von Politik und Kunst variiert - wird ein pseudoexpressionistischer Stil bemüht. Zur einen Hälfte entspringt er anscheinend der Rücksichtnahme auf die Mode, zur anderen der bloßen Unfähigkeit, sich genau auszudrücken. Echt ist dagegen der Haß auf verantwortlich gestaltete Kunst. (Man streitet über Heine:) Grabbe: Daß ich lache! - eine gerade Seele? - So etwas! Welche Gleichung!? - Hat krumme Beine, krumme Nase, krumme Haare . . . Und soll eine gerade Seele haben!! - Er ist ein Jüd! Und damit Streusand auf die Sau! (trinkt) [...] Grabbe: Bravo! Wir wären wieder bei unserem Formproblem. Die Wahrheit, die Leidenschaft, kurz, das Herz ist sekundär, zuerst die Form, der Adel! - Da gehen natürlich die Herren vom hohen Von mit den literarischen Semiten Hand in Hand! Von Uechtritz: Weswegen immer gleich persönlich, Grabbe!? Bleiben wir bei der Sache! Grabbe: Das Wesen dieser Sache ist persönlich! Hier geht es um die Seele der Kunst! Da gibt es für den Künstler keine Theorie, keine Objektivität und dergleichen Spitzfindigkeiten. Aber für Euch kluge Schreiberseelen gibt es kein Herz, sondern nur Gehirn! Und das ist noch verkümmert, weil es vom Affen stammt und nicht vom lieben Gott! 1 2 2 Hier zeichnet sich schon der Gestus eines Mannes ab, der beim Worte Kultur seinen Browning entsichert. In der bösartigen Neigung zum Attentat, in der lustvoll unreflektierten Aggression scheint Johsts Eigenstes zu liegen. Denn auch aus den Nachkriegsgedichten Rolandsruf (1919), die durchweg völkische Anschauungen in Verse bringen, sticht ein düster brachiales Moment hervor: Du mein gekreuzigtes Volk, schweige zum Spott der Schächer! Siehe, die Berge stehn schwarz. Über den Bergen der Sprecher sammelt die brüllenden Wolken, 93

speichert den zornigen Blitz. Fühle, mein Volk, des Sturmes dunkle Verkündigung: Wahrlich, - du wirst mit geballten Fäusten Himmelfahrt halten! 123 Sozial zu beziehen sind diese Haltungen am ehesten auf studentische Freikorpskämpfer. Schon Johsts Grabbe, von dem eine Geliebte sagt, er sei „wie Samt und Seide", wäre ausgezeichnet zu kommentieren durch jene apokryphe Strophe des Studentenliedes Ein Heller und ein Batzen, welche lautet „War das 'ne große Freude, / als ihn der Herrgott schuf, ja schuf; / ein Kerl wie Samt und Seide, / nur schade, daß er suff, ja suff." Solcher Humor war dem, der in den Freikorps gepflegt wurde, nahe verwandt; Johsts Schauspiel Schlageter (1933) ist voll davon. Dort sagt ein Soldat, der sich vom Titelhelden nur durch das Fehlen von taktischen und politischen Berechnungen unterscheidet: Den Kram kenne ich von 18 . . . Brüderlichkeit, Gleichheit . . . Freiheit. . . Schönheit und Würde! Mit Speck fängt man Mäuse. Auf einmal, mitten im Parlieren: Hände hoch! Du bist entwaffnet— Du bist republikanisches Stimmvieh! - Nein, zehn Schritt vom Leibe mit dem ganzen Weltanschauungssalat... Hier wird scharf geschossen! Wenn ich Kultur höre . . . entsichere ich meinen Browning! 124 Der reflektierende Schlageter jedoch bringt nicht nur sich zum Opfer, den Schlaf der Nation aufzustören, sondern kalkuliert auch politisch mit seiner Person: Die Hauptsache: das Volk muß nach Priestern schreien [ . . . ] , die Blut, Blut, Blut vergießen . . . nach Priestern, die schlachten.125 Mit diesem Dichter gerät man an das brutalste und ehrlichste Element des Faschismus: die terroristische Gruppe. Seine Bombenleger kennt der Autor von innen; der einzige Wert des Schlageterstückes liegt darin, daß es sie mit ungeschminktem Naturalismus abbildet. Freilich geht Johst über deren gleichsam naives Bewußtsein hinaus. Er entwickelt Weltanschauung, die noch über die Terroristen politisch verfügt. Der völkische Messianismus von einst hat sich zum Dienstbewußtsein an der nationalsozialistischen Erhebung fortentwikkelt. Vielleicht darf man sagen, daß Johst die politische Aktion des Nationalsozialismus seinerzeit am offensten und konsequentesten be94

dichtet hat und mit Recht zum Hauptfunktionär für Erneuerung des Schrifttums bestellt wurde. Er ist nach dem Kriege als „Hauptschuldiger" eingestuft und 1949 zu zehn Jahren Berufsverbot verurteilt worden, konnte aber noch vor Ablauf dieser Frist wieder publizieren. 1955 erschien ein Roman Gesegnete Vergänglichkeit, der in einer merkwürdig ruhigen, konventionellen Sprache geschrieben ist, in ihr aber nichts als die Entstehung des Terrorismus erzählt: die Geburt einer heldisch nationalen Haltung aus dem Geiste des antibürgerlichen Protestes bei jungen Bürgern. Auf seine Art beweist Johst dem Führer die „liebende Verehrung und unwandelbare Treue", die er ihm einst in der Widmung von Schlageter verhieß; auch er gehört, um es mit einem bei Dwinger zitierten Lied zu sagen, zu den „letzten, die am Feind geblieben". Wenn aber auch das Œuvre Hanns Johsts über das Verhältnis von Expressionismus und Faschismus keine oder nur unzureichende Auskunft gibt, so doch der Fall Gottfried Benn. Dies um so zwingender, als keinerlei Beimischungen volkstümlicher oder gar völkischer Art mitsprechen. Zwar hat sich der Dichter einmal, zum 1. Mai 1933, dazu verstanden, als die „ausgezeichnetsten deutschen Erzähler", als Repräsentanten „guter deutscher Volksliteratur", die folgenden zu nennen: Bonseis, Bloem, Hauptmann, Paul Keller, Hermann Hesse, von Münchhausen, Ina Seidel, von Molo, Frenssen; 126 aber diese Reihe belegt doch eher - abgesehen davon, daß sie auch die literarische Moral des Aufstellenden bezeichnet - seine politische Moral, in diesem Fall einen faßbaren Opportunismus. Der Beitrag, worin das geschah, war der zweite in einer Reihe von Verkündigungen, mit denen sich Benn unerwartet und unerwartet offen zum Dritten Reich bekannte. Über diese Heroldsreden freilich sind die Akten zu schließen; der Abfuhr, die sie durch Karl Kraus erfahren haben, ist kaum etwas hinzuzufügen. Benn lieferte in der Tat „das Äußerste, was Wortverfügung, die sich dem Furor anpaßt und nun vielleicht wirklich von ihm hin- und von der eigenen Spur weggerissen ist, zu bieten vermöchte"127, und stellte damit dem Regime den einzigen intellektuellen Lobredner in einer Zeit, da es sie für das Aus- und Inland noch dringend brauchte. Feuilletongerede von „neuem Typ Mensch", „mutierender Geschichte", „Stoßkraft" und dergleichen, ein „intellektuell-mythischer abgründig seichter Schmus" (Kraus) wurde aufgeboten, dem Terror eine schmucke Fassade und dem Verfasser eine Heimstatt dahinter zu verschaffen.

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Als inneres Motiv dafür nahm Karl Kraus 1933 puren Opportunismus an, der noch durch Intelligenz gesteift sei: „Sein Glaube an eine geschichtliche Zwangsvollstreckung, die in Wahrheit so disponibel ist wie das Wort des Literaten; sein Vertrauen in eine Notwendigkeit, die nicht so unabwendbar scheint wie der durch Organisation entfesselte Zufall - solches Zurechtlegertum ist wohl mehr Sache dessen, der sich einen freien Kopf bewahrte, weil ihn der Ziegelstein nicht getroffen hat. Er wird es einst mit seinem Gewissen auszumachen haben, ob der Unterschlupf auch die Gelegenheit war, geschichtsphilosophisch auszuschweifen, und ob der, der mit dem Chaos paktiert hat, berechtigt war, dessen Initiatoren, Persönlichkeiten vom Format der Berchtold und Hindenburg junior, für Werkzeuge der Vorsehung auszugeben."128 Diese Frage hat Benn später nicht beantwortet, er hat sie sich auch, trotz Doppelleben (1950), nicht einmal gestellt. Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus war derart, daß er zwar von dessen Furor hin-, aber deswegen doch nicht von der eigenen Spur weggerissen wurde. Die „mutierende Geschichte" meinte er ernst; zumindest einige Zeit lang schien ihm der Nationalsozialismus die Bestätigung und Realisierung von Ideen zu bringen, die er schon davor und ohne ihn gehegt hatte. Den Apologeten Benns von heute ist nicht der „Irrtum" ihres Meisters entgegenzuhalten, auf den sie ihn hinausreden wollen, sondern Gehalt und Gestus seiner Proklamationen selber: „[. . .] der Vers von heute lautet: Geistesfreiheit, um sie für wen aufzugeben? Antwort: für den Staat!" 129 Das Ende dessen, was man zu Recht als Irrtum bezeichnen darf, nämlich als Irrtum über die politische Praxis der Nazis, und damit auch das Ende seiner pronazistischen Publizistik brachte der 30. Juni 1934, der sogenannte Röhm-Putsch. Danach galt: „Ein deutscher Traum - wieder einmal zu Ende - : Konradin; in 300 Jahren sitzt in einer bayrischen Hütte eine Sagengestalt und der Schnurrbart wächst ihr durch die Holzplatte."130 Diese Verschränkung von Barbarossa mit Hitler zuungunsten des letzteren, die aus ähnlichen Quellen stammt wie Jüngers „Oberförster"-Bild, deutet ebensoviel von Benns Hoffnungen an wie vom Grund ihrer Enttäuschung. Das neue Reich wünschte sich der Ästhet als einen Staat von strenger, gleichsam neuarchaischer Formkultur, und er war bereit, dafür allen Terror in Kauf zu nehmen, solange man ihn mit guten Formen handhabte. Als Ausdruck einer Gesinnung, die ohne Bedenken das Glück anderer für die Realisierung ihrer Kunstideen opfert, und als Modell für 96

die erwartete Kultur hatte er noch kurz zuvor Sparta und den „dorischen Stil" gefeiert: Und dabei Form nie als Ermüdung, Verdünnung, Leere im deutsch-bürgerlichen Sinne, sondern als die enorme menschliche Macht, die Macht schlechthin, der Sieg über nackten Tatbestand und zivilisatorische Sachverhalte, eben als das Abendländische, die Überhöhung, der reale eigenkategoriale Geist, der Ausgleich und die Sammlung der Fragmente. 131 Dieser Begriff von Form, der keinen Bezug zu Inhalten und nur die verfügende Macht anerkennt, ist ohne Zweifel ein faschistisches Prinzip. Deutlich korrespondiert „der Ausgleich und die Sammlung der Fragmente" mit der militärisch geordneten Volksgemeinschaft. Benns Schriften bestätigen noch einmal, daß archaischer Klassizismus das Kunstprinzip ist, zu dem sich der Faschismus einzig aufschwingen kann. Wenngleich seine Theorie kaum in Abhängigkeit) vom Nationalsozialismus aufgestellt wurde, so entstand sie doch nicht ohne Bezug auf die Ideologien, die jenem den Weg bereiteten. Mit ihnen hat sie, freilich auf vermittelte Weise, ein Feindbild gemein, das gleichermaßen Liberalismus wie Sozialismus einschließt.132 Der Kult der zu „Form" verinnerliohten Machtausübung wurde essayistisch erst seit 1930 etwa verfochten, besonders energisch in dem Essay Nach dem Nihilismus von 1932: Also konstruktiver Geist als betontes und bewußtes Prinzip weitgehender Befreiung von jedem Materialismus, psychologischer, deszendenztheoretischer, physikalischer, ganz zu schweigen soziologischer Art. 133 Hingegen hatte der frühe Benn noch „Sicherheit des Geformten" als ein Negativum auf die ganze bürgerlich-liberale Welt bezogen, vor allem auf deren Individualismus, auf den „Mann mit Eigenschaften", und er hatte in dieses Verdikt den Krieg und die deutsche Ideologie von Kulturverteidigung mit eingeschlossen. Gegen solche Realität waren die irrationalen Tiefen des Traumes und Rausches anzurufen, Entgrenzung ins Vorbewußte, „Züge über das Meer und südliche Schlachten". Es versteht sich, daß diese Gegenwelt nicht wörtlich zu nehmen war, womöglich als Ziel, sondern daß sie ein böser Blick aufs Bürgertum zur Folie nahm, dessen „Mechanistisches" herauszuheben. Im Dienste dieses bösen Blicks trat neben den Feinsinn aus Kulturgeschichte und Blumen auch ein Ästhetizismus des Barbarischen, dessen Gestalt etwa Alaska hieß: 7

H ä r t u n g , Faschismus

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Alaska Europa, dieser Nasenpopel aus einer Konfirmandennase, wir wollen nach Alaska gehn. Der Meermensch, der Urwaldmensch, der alles aus seinem Bauch gebiert, der Robben frißt, der Bären totschlägt, der den Weibern manchmal was reinstößt: der Mann.134 Dadurch hatte die ästhetische Bürgerfeindschaft, die Benn mit dem Expressionismus teilte, eine zum Faschismus hin offene Seite. Sie war gleichermaßen so radikal und so unbestimmt, daß „der Bürger" mit vielen Gehalten identifiziert werden durfte, auch mit humanen, vor allem aber mit rationalen, und daß aus ihr Lust zur „Tat", zur Aggression hervorgehen konnte. Provoziert durch die scheinbare Sekurität des Vorkriegskapitalismus, spielte man eine Primitivität gegen ihn aus, die nur durch diesen Gegensatz bestimmt und dem Angegriffenen gleichrangig war. Marinettis Futurismus belegt sogar, daß mit revolutionären Phrasen auch ein Idol wie das der losgelassenen Technik anzubeten war. Solange weder die sozialistische Revolution noch die faschistische Bewegung sich real ereignet hatten, konnte diese Intention noch im sozialen Niemandsland bleiben und sich selber über ihre Zugehörigkeit unklar sein; danach aber nicht mehr. Von den deutschen Futuristen hat einzig Benn den faschistischen Weg eingeschlagen. Schon während des Weltkrieges enthielt er sich aller pazifistischen Manifeste, in der Zeit des Kriegsendes und danach aller revolutionären. Diese Enthaltsamkeit wurde begünstigt durch den Arztberuf, also durch ein Spezialistentum, das eine besondere Optik mit sich brachte. Über Benns Medizinertum drangen auch fortwährend jene feuilletonistischen Züge in seine Prosa und Lyrik ein, die mit zunehmendem Abstand von seinem Werk immer kahler hervortreten. Die Feindwelt schon der frühen Dichtungen ist lediglich aus ideologisch und naturwissenschaftlich vermittelten Zügen des Liberalismus gewonnen worden. Sie bezieht sich auf dessen Ideale von Fortschritt und naturwissenschaftlicher Aufklärung; Anschauungsmodelle stellte der Virchow- oder Sauerbruchtyp. Zunächst und auf weite Strecken bleibt auch die Polemik im medizinischen Bereich. Ihre Energie verdankt sie einigen Ahnungen, 98

wie weit kapitalistische Rationalität über Arbeitsteilung und Spezialistentum in die Medizin eingedrungen ist und den einzelnen Fachmann von gesellschaftlicher Verantwortung entfernt hat. Aber die Opposition dagegen unterliegt ebenso der Arbeitsteilung, kommt gar nicht aus dem Bereich der Privilegien hinaus. So führt etwa der Widerwille dagegen, daß die Medizin den Warengesetzen unterliegt, der Arzt für Geld jeden gegen alles behandeln kann und muß, schließlich zu Reflexionen, wer überhaupt Behandlung und Heilung verdiene und wer nicht, bleibt also in den Denkkategorien der Macht. H a ß auf die Berufsmedizin überträgt sich auf ihr Objekt, den Durchschnitt, das Ordinäre, den „kleinen Mann". Bezeichnend für Benns gesamte Dichtung und deren Struktur ist, daß er gesellschaftliche Problemstellungen nie anerkannt, sondern sie stets medizinisch-biologis'chen Analogien unterworfen hat. Ein sacrificium intellectus hat er nicht erst 1933 begangen; es liegt schon vor, wenn die ideologischen Allgemeinbegriffe sich als Wesenheiten aufspielen, die Entscheidungen über Tod und Leben treffen: „ [ . . . ] zermatscht, verschmiert muß eine Menschheit werden, die in Maschinen denkt" 135 . Wenn der falsche Gegensatz dichterisch ausgetragen wird, geschieht das frühzeitig in faschistischen Gesten. Ithaka (1914) ist ein extremes Beispiel. Dem Gerede des Karikatur-Professors begegnet man nicht mit Argumenten, sondern mit der Androhung von Tätlichkeiten: Lutz: Und wenn sich eines Tages Ihr gesamtes Auditorium erhöbe und Ihnen ins Gesicht brüllte, es wolle lieber die finsterste Mystik hören als das ständige Geknarre Ihrer Intelligenzakrobatik, und Ihnen in den Hintern träte, daß Sie vom Katheder flögen, was würden Sie dann sagen? [. • -I136 Professor: Wenn Sie zu schwächlich sind für den Weg zur neuen Erkenntnis, den wir gehen, bleiben Sie doch zurück. Schließen Sie die Anatomien. Betreiben Sie Mystik. Berechnen Sie den Sitz der Seele aus Formeln und Korollarien; aber lassen Sie uns ungeschoren. Wir stehen über die Welt verteilt: ein Heer: Köpfe, die beherrschen, Hirne, die erobern. Was aus dem Stein die Axt schnitt, was Feuer hütete, was Kant gebar, was die Maschinen baute137- das ist in unserer Hut. Unendlichkeiten öffnen sich. [• - -] Professor: Und die Menschlichkeit? Einer Mutter das Kind erhalten, einer Familie den Ernährer? die Dankbarkeit die in den Augen aufblinkt 7«

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Könne: Lassen Sie's aufblinken, Herr Professor! Kindersterben und jede Art Verrecken gehört ins Dasein wie der Winter ins Jahr. Banalisieren wir das Leben nicht.138 Die Lust zum Angriff steigert sich an der Wahrnehmung, daß der Gegner schwach ist. E r will sich nicht „in Situationen begeben, denen - sagen wir - die heutige Gesellschaftsordnung nicht gewachsen ist" 139 , aber die Studenten wollen es: „Wir sind die Jugend. Unser Blut schreit nach Himmel und Erde und nicht nach Zellen und Gewürm." 140 Der intellektuelle Angreifer bedient sich der Wut auf das intellektuelle Privileg, welche mit fortschreitender Arbeitsteilung bei den zur Handarbeit Verurteilten wie bei den Lehrlingen der Zunft sich ansammelt, und unterlegt ihr seinen Ästhetizismus. Die Szene ist so aufgebaut, daß zunächst dem Professor der noch unreflektierte Haß der Studenten entgegenschlägt, daß dann Benns Sprecher, Rönne, hinzutritt und dieser Wut Worte und Theorie leiht, bis schließlich soviel antizivilisatorischer Zündstoff angehäuft ist, daß sich die „Tat" gleichzeitig mit dem Durchbruch im Traum und Rausch ereignen kann. Rönne: O es rauscht wie eine Taube an mein Herz: lacht - lacht - Ithaka! - Ithaka! . . . Oh, bleibe! Bleibe! Gib mich noch nicht zurück! O welch ein Schreiten, so heimgefunden, im Blütenfall aller Welten süß und schwer... Ich will dir eine Tat tun, bleibe, bleibe! O, was ist Kerker und was ist Tod. Rausch, Rausch ist stärker als der Tod. (Ergreift den ProfessorJ141 Die Funktion des Artisten ist es, die Aggression auszulösen, der Jugend die Bahn freizuräumen, während er sich in die Vision verliert; sein Einsatz und seine Vision formen die Jugend zur Gefolgschaft um: „Wir wollen den Traum. Wir wollen den Rausch. Wir rufen Dionysos und Ithaka! ~" 1 4 2 Unter den Modellen einer neuen Einheit von Dichtertum und Tat, die der Expressionismus aufgestellt hat - danebenzuhalten wäre das Bild des Dichters, der von Tribünen herab die Massen verbrüdert - , bietet dies die faschistische Variante. Es wirkt noch in der Rolle nach, die Benn 1933 dem Artisten zumessen wird. Aber die Beziehungen zum deutschen Faschismus sind von noch handgreiflicherer Art. Denn Charakter und Ausdruck der geschilderten Aggression verbinden sich mit einem konkreten Gestus: Man brauchte für den medizinischen Bereich nur den 100

soziologischen oder sexualpathologischen einzusetzen, und man hätte eine Szene des Jahres 1933 nach der Natur vor sich („Lutz: Würde? Wer sind Sie? Antworten sollen Sie, Los!" 1 '* 3 ). Der Realitätsgehalt von Benns Dichtung verdankte sich den antiintellektuellen Aggressionen in der Intelligenzschicht selber. Doch verlangte der Nationalsozialismus von seinen Autoren nicht nur Übereinstimmung mit ihm im Feindbild, sondern auch in der „positiven" Weltanschauung, d. h. im Kult der Volksgemeinschaft, und da ließ es Benn an vielem fehlen. Zwar hatte sich in den 20er Jahren das, wofür 1914 Ithaka stand, allmählich aus der poetischen Vision in eine nur noch poetisch kaschierte Ideologie umgewandelt, die den gängigen Irrationalismus und viel Kryptowissenschaft aufnahm, und nach 1930 hatte sich Benn sogar entschlossen, das „Urgesicht" nicht mehr von der entgrenzten Subjektivität, sondern von der mutierenden Geschichte zu erwarten, bis er es schließlich 1933 im totalen Staat entdeckte, - aber immer blieb dabei eins unangetastet: das Privileg einer intellektuellen Elite, sich als Kulturträger von den Massen fernzuhalten und ihnen ihre Form vorzuzeichnen. Auch die Dichtungen dieser Zeit, vom Oratorium Das Unaufhörliche (1931) bis zur zweiten Auflage der Ausgewählten Gedichte (1936), entsprachen zwar durch heroischen Formkult und härteres Vokabular den gleichzeitigen Theorien („Doch da an einer Warte I von Zucht und Ahnen alt I lehnt eine flügelharte / unsägliche Gestalt"), beschränkten sich aber mit wenigen Ausnahmen, wozu die Olympische Hymne von 1934 gehört, doch darauf, Benns ästhetisches Programm lediglich auszusprechen, anstatt es an der Behandlung von nationalsozialistischen Gehalten zu praktizieren. Doch dir bestimmt: kein Werden, du bleibst gebannt und bist der Himmel und der Erden Formalist.14,5 Diesen Anspruch konnte aber der Faschismus nicht dulden. Gleichgültig, ob jener wüste Angriff im Schwarzen Korps vom Mai 1936 nun privater Ranküne entsprang, wie Benn selber annahm, oder nicht - , das Regime bewahrte sein Mißtrauen gegen die Intelligenz, auch wenn sie Verrat geübt hatte, und hätte den Ästheten so oder so verabschiedet. Der Versuch, dem Dritten Reich einen höheren Ausdruck als die reine Massendemagogie zu verleihen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. 101

Dichtung des Dritten Reiches Bereits vor der „Machtergreifung" waren die wichtigsten Punkte der nationalsozialistischen Demagogie mit Literatur besetzt worden. Wie groß deren Wirkung war und welchen Anteil sie am Machtwechsel des 30. Januar 1933 besaß, ist jedoch schwerlich genau auszumachen, da sie mit der Propaganda die Wirkungsweise teilte. Vor allem dürfte sie Abneigungen gegen Sozialismus, Demokratie und gesellschaftliche Vernunft verstärkt, also das faschistische Feindbild befestigt haben. In der Wechselbeziehung zu Massenaffekten besaß sie ihr einziges Lebenselement. Als 1933 die „Volksgemeinschaft" eingerichtet wurde und sich als staatskapitalistische Diktatur enthüllte, kam zwar die ihr folgsame Literatur zur Alleinherrschaft, verlor aber zur gleichen Zeit jene Verbindung und damit den inneren Antrieb. Die als „Auslese des heutigen Schrifttums" 145 geförderten Werke, gewaltsam ins Publikum gepumpt, sorgten für Apologie des Geschehens; aber die Nachfuhr stockte. Die erwarteten „genialen" oder auch nur die zu erwartenden leidlich geschickten Neuschöpfungen blieben aus. Fast alle repräsentativen Werke der Naziliteratur sind vor 1933 geschrieben worden; kaum einer ihrer Autoren konnte seine Leistungen aus der „Systemzeit" später einmal überbieten. Die Wirklichkeit des Dritten Reiches, die konsequente staatsmonopolistische Diktatur, führte in der Ideologie zum allmählichen Abbau der altvölkischen Lehren und in der Praxis dazu, daß das Schrifttum dieser Herkunft zu einer Provinzliteratur zweiten Grades absank. Es konnte sich zwar, dank uneinheitlichen Tendenzen in der Kulturpolitik, noch am Leben erhalten und sogar ausbreiten, wurde aber vom Regime weder subjektiv noch objektiv so gefördert wie die Apologie der neuen Staatsordnung. Nur in wenigen Gebilden, Marschliedern vor allem, fanden die an den „Umbruch" geknüpften Erwartungen einen populären Ausdruck. Es waren junge Leute, die den Bedarf der Organisationen, des Deutschen Jungvolks, der Hitlerjugend, des Bundes Deutscher Mädel, der Frauenschaft, des Reichsarbeitsdienstes usf. an kollektivem Gebrauchsgut deckten. Diese Werner Altendorf, Hans Baumann, Eberhard Wolfgang Möller brachten dazu außer ihrer Begeisterung noch eine kunsthandwerkliche, aus dem Abhub von Neuromantik und Jugendbewegung geschöpfte Sprache mit, die ihre Lieder sowohl von den Gedichten der Kampfzeitsänger als auch von den SA- und 102

Militärliedern alten Schlages vorteilhaft unterschied. Allerdings überlebten doch diese Traditionen; im ersten Fall entstand daraus eine immer akademischere Feierlyrik, im zweiten ein Vorrat von Kriegsliedern, der schließlich für jeden Feldzug, jede Waffengattung und jeden Mädchennamen etwas Spezielles vorsah. Jene Massenlieder der nationalsozialistischen Kollektivität waren demgegenüber das einzige, worin die Ideologie der Volksgemeinschaft zu einer eigenen Form kam. Entsprechende Bemühungen im dramatischen Fach, Chorspiele, Kantaten, „Thingspiele" (Euringer, Möller, Heynicke u. a.) gingen an dem Widerspruch von geforderter Monumentalität und immer hohlerem Gehalt nach kurzer Zeit zugrunde. Die anderen dramatischen Hervorbringungen, teils Spießereien, teils klassizistische Geschichtsdramen, sind schon wegen ihrer dürftigen Wirkung kaum der Erwähnung wert. Die Masse des Schrifttums stellten immer noch Romane und Erzählungen, die nun gerne in Serien und Bündeln auftraten. Neues brachten auch sie nicht. Man bevorzugte nach wie vor Blut und Boden, germanische und deutsche Geschichte und den Weltkrieg. Die Heimatliteratur überwucherte schließlich, nicht nach den Wünschen der Machthaber, alles andere. Die jüngste Geschichte blieb meist dem Entwicklungsroman vorbehalten, einem „zusammengestoppelten Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem" 146 (Benjamin), das ohne weiteres jeden konformistischen Gehalt aufnehmen konnte. Natürlich wurde hier weder das Werden einer Individualität noch der Aufbau eines Weltbildes gezeigt, sondern bestenfalls nur die Leitlinie einer allmählichen Annahme der nationalsozialistischen Weltanschauung mit deren leidlich systematischer Darstellung verbunden. Für echte Nazis (Dwinger, Paust, Sander und andere) galt das ebenso wie für verschämte oder für Opportunisten. Ein Beispiel für letztere ist der Feuilletonist A. E. Johann (Pseudonym für Alfred Wollschläger), der als neusachlicher Ullstein-Autor um 1929 debütiert hatte (Mit 20 Dollar in den wilden Westen, 1928) und aus Amerikaund Kanada-Erfahrungen schon damals Romane zusammenstellte (Die innere Kühle, 1929), so daß man verfolgen kann, wie er später, seit 1938 nicht mehr bei Ullstein, sondern beim „Deutschen Verlag, Berlin", diese Erlebnisse auf faschistisch ergänzte und stilisierte, ihnen mit antipolnischem Volkstumskampf, Fronterlebnis, Freikorps- und Kapp-Putsch-Bildern aufhalf, damit sich ein Weg ins Dritte Reich abzeichne: Im Strom, 1942, Das Ahornblatt. Kanadisches Zwischen103

spiel, 1 9 4 4 y a Zustatten kam ihm dabei eine Kindheit im Osten, die neuerdings reichlich Zinsen abwarf. Daß nach der Machtübernahme eine Verlagerung der Aggressivität nach außen zu erwarten stand und daß mit solchen Stoffen sowohl die antibolschewistischen als auch die expansiven Tendenzen zu bedienen waren, hatten einige schon beizeiten bemerkt (Ponten, Barthel u. a.). Je weniger im Inneren die sozialen Widersprüche gelöst wurden, desto bereitwilliger boten sich Dichter an, sie gleichsam nach außen zu verlagern und den Plänen des Regimes eine Massenbasis zu schaffen.148 In der Mitte der 30er Jahre war die große Zeit der Volksdeutschen Dichter im Ausland angebrochen; nicht nur auf deren Schöpfungen, sondern auch auf ihre Stoffe verlagerten sich die Aggressionen der Naziliteratur mit zunehmender Energie, wodurch selbst die harmlosesten Gedichte von Auslandsdeutschen in einen bösen Wirkungszusammenhang gerieten. So mündete die Flut der Dichtung wieder dort ein, von wo sie einst ausgegangen war: in den Krieg. In den letzten Jahren des Nazireichs war seine Literatur vollständig den militärischen Bedürfnissen unterworfen. Es hörte, bis auf sorgsam manipulierte Sondersparten und einiges Heimatschrifttum, sogar die Freiheit der Stoffwahl auf, die vorher noch Variationen ermöglicht hatte; der totale Krieg brachte auch denen die totale Unterordnung, die sie einst für andere gefordert und eingerichtet hatten.

Zur ntinneren Emigration" Brecht schrieb 1934 einmal, indem er das Schimpfwort „Asphaltliteratur" aufnahm, es gegen „Blut und Boden" wendete und positiv auf solchc Werke bezog, die „ein bestimmtes Minimum jener bürgerlichen rationellen Vernünftigkeit" der Swift, Voltaire, Lessing, Goethe bewahrt hätten: „Die gegenwärtigen legalen Druckerzeugnisse des Dritten Reiches, dieser kümmerliche Zweig des internationalen Rauschgifthandels, könnte natürlich in keinem einzigen Exemplar zur Asphaltliteratur gerechnet werden. Alles, was mit diesem 'Blut' zusammenhängt, das vergessen wird und vergessen werden soll, und diesem Boden, der natürlich der gute alte berüchtigte Boden der Tatsachen ist, auf den sich die Kopflanger der Unterdrücker gestellt haben, ist nie und nimmer Asphaltliteratur."149 Dieses Urteil ist gegenüber Rechtfertigungsversuchen der „inneren Emigration" zu bekräftigen. Es zeigt den engen Rahmen, in den selbst

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eine echte innere Emigration eingespannt war, wenn ihre Arbeiten gedruckt werden sollten, und damit den ihr zugewiesenen Funktionszusammenhang. Die Erkenntnis, daß ein faschistischer Staat auch Sondersparten und vornehme Zurückhaltung verwerten kann, war dem Propagandaministerium vertraut, wennschon es ihr nicht einmal richtig folgen durfte. Durch solche Feststellungen können Mut und persönliche Integrität von Autoren nicht geschmälert werden, die den ihnen gestatteten Spielraum zur Opposition ausnützten; aber ebensowenig wie ihre Standhaftigkeit ist die teuflische Regie zu vergessen, die noch Einsätzen gegen das Regime eine apologetische Wirkung abgewann. In der Abweichung vom Vorgeschriebenen um Nuancen konnte sich eine große Moral offenbaren; doch offenbarte sie sich eben in der Nuance. Während der „Kampfzeit" war die Nazipropaganda so weit aufgefächert worden, daß sie mehrere Ideologien benutzen und alle im Bürgertum wurzelnden Affekte ansprechen konnte, ohne den Wünschen konsequenter Ideologen entsprechen zu müssen; danach führte der Widerspruch zwischen dieser Weltanschauung, mit deren Hilfe man zur Macht gekommen war, und der Tatsache, daß man nun zuerst von der kapitalistischen Wirtschaft abhing und nach deren Tendenzen die Weltanschauung zu modeln hatte, uneingestandenermaßen zu einem wüsten Durcheinander verschiedenster Anschauungen. Darin konnten sich gleichermaßen Opposition wie Opportunismus ansiedeln. Oft waren Bücher oder kulturpolitische Maßnahmen aus dem gleichen Fundus ebensogut zu bejahen wie zu verwerfen. Die Ideologie durfte nur dort nicht beschädigt werden - abgesehen von einzelnen bei den Machthabern fixierten Meinungen - , wo sie näher an die Grundlagen der Macht heranreichte; in den entlegeneren und vermittelten Zonen der Kulturideologie, und namentlich der „positiven", kam es auf Einzelheiten so genau nicht an. Doch konnten auch wieder durch irgendeine Wendung der Politik oder durch innerparteiliche Kräfteverschiebungen solche Grenzbereiche plötzlich zu zentralen werden. Diese Verhältnisse sind heranzuziehen, wenn sich Günstlinge des Regimes heute darauf berufen, daß einzelne ihrer Bücher „als unerwünscht bezeichnet" oder daß ihre Theaterstücke vom Spielplan abgesetzt wurden. Ein sehr populäres Buch zum Beispiel, der Roman André und Ursula von Polly Maria Höfler, erlebte nur zwei Auflagen, 1937 und 1939, während ein früheres, weniger bekanntes Werk der gleichen Autorin, ein Grenzlandroman aus Lothringen-, Der Weg 105

in die Heimat, 1940 schon in vierter Auflage erscheinen konnte; im ersten Fall war offensichtlich ein Verbot ergangen, und das konnte man nach 1945 zur Rechtfertigung von Massenauflagen und sogar einer Verfilmung ausnützen. Doch ist leicht einzusehen, daß jenes Verbot kein Alibi bedeutet. Der Roman enthält eine Liebesgeschichte: Eine Studentin hat von ihrem Vater das Tagebuch eines französischen Frontkämpfers erhalten und findet 1937 beim Versuch, es der Familie zuzustellen, den Totgeglaubten als Arzt in Nordfrankreich wieder. André ist seiner im Tagebuch niedergelegten Gesinnung, aus dem verbindenden Frontkämpfertum des Weltkrieges Verständigung zu entwickeln, treu geblieben und lädt Ursula zu sich ein; man lernt sich kennen und sich lieben. Aber einige Tage vor der Hochzeit wird André durch seinen geisteskranken Bruder umgebracht, und Ursula kehrt nach Deutschland zurück. - Jene nichtswürdige Sentimentalität des gemeinsamen Kriegserlebnisses, die den Krieg als Schicksal und alle Machtverhältnisse als Naturgegebenheiten hinnimmt, trägt das ganze Buch. Es ist mit dem entsprechenden Lyrismus geschrieben, die Fabel so geführt, daß alle gesellschaftlichen Konflikte auf private Zufälligkeiten reduziert und an Stelle von Widersprüchen nur „Probleme" beredet werden; die Treue zu Nazideutschland und seinem Führer steht außer Zweifel. 'Sie sind also als Deutsche auch der Ansicht, daß < le Führer > es mit seinen Friedensversicherungen ernst meine?' 'Heilig ernst', entgegne ich. 'Da können Sie jeden Deutschen befragen, Monsieur. Wir müssen es doch schließlich wissen, nicht wahr? Denn es ist ja unser eigenstes Fühlen und Denken, was der Führer in seinen Worten ausdrückt.'150 Es ist einsichtig, daß solche Beteuerungen nach dem Münchener Abkommen nur noch in kleinen Dosen und seit Kriegsbeginn überhaupt nicht mehr erwünscht waren. Die Vermutung jedoch, daß die Autorin Camouflage betrieb, also den Kriegsplänen bewußt entgegenarbeitete, muß angesichts der gläubigen Erzählweise und der entsprechenden Gesamtwirkung des Buches ausscheiden. Zweifellos drückte das Buch den im Volk allgemeinen Wunsch nach Frieden aus. Es befand sich aber damit 1937 nicht nur im Einverständnis mit der Propaganda, sondern auch in deren Dienst, da man vor der Annexion Österreichs und vor dem Münchener Abkommen solchen Anschein nach innen und außen nötig hatte. Was die Haltung zu Frankreich anlangt, so gewährte die Ideologie hinreichend Spielraum, je nach dem Stand der Volksfrontkämpfe und der Kriegsvorbereitung entweder die 106

Kämpfer des Weltkrieges und Enkel von Franken zu rühmen oder aber die negroid verseuchten Südländer mitsamt ihrer „jüdischen Regierung" zu verdammen. Derartige Widersprüche konnte freilich auch die Opposition ausnützen, wie vornehmlich Ehm Welks Versuche beweisen, unter dem Tarnmantel von Heimatliteratur Blut und Boden sozial zu definieren. Doch dienten sie in der Regel nur Kultivierteren dazu, ein Publikum zu erreichen, das vom Stürmer und von den Schriften der Paust, Zöberlein, Dwinger abgestoßen wurde. Es hat sogar den Anschein, daß das Schrifttum vom Typ André und Ursula, das man als nationalsozialistische Variante des früheren liberalen Romans definieren kann, das größte Publikum gehabt hat. Nach dem Kriege war es nicht auf die unsicheren neuen Naziverlage angewiesen, sondern wurde von Verlagen wie Eugen Diederichs, Bertelsmann, Stalling, Ehrenwirth usw. betreut. In seinem Bereich trifft man mutmaßlich die meisten Ideologeme, Gefühle und Anschauungen an, die sich beim gehobeneren Publikum bis in die Gegenwart gerettet haben.

Ideologie und Religiosität in deutscb-fascbistiscber Dichtung Nicht nur ihrer Weltanschauung, sondern auch ihrer gesamten literarischen Technik nach war die nationalsozialistische Literatur regressiv. Auf die Auswirkung dieser Technik ist umso mehr zu achten, als sie bisher kaum untersucht wurde. Den gegen Sozialismus und Demokratie gerichteten Aussagen entsprach im Innern der Werke eine Struktur, die jede gesellschaftliche Aufklärung abwies. Für die angestrebte Wirklichkeitsbeziehung gilt eine stehende Formel: „die Literatur leben". Diese imperative Haltung, Kunst und Leben wieder zu vereinigen, richtet sich einerseits gegen den kapitalistischen Literaturbetrieb und bezieht aus solcher Opposition ihre Energien; aber andererseits erklärt sie jede realistische Kunst, die eine Dialektik von Subjekt und Gegenstand voraussetzt, für zersetzend. Nichts liegt faschistischer Literatur ferner als Dialektik. Die Trennung der Kunst von den Massen soll überwunden werden, ohne daß die Grundursachen dieser Trennung, die gesellschaftlicher Art sind, überhaupt reflektiert werden, das heißt durch einen irrationalen Akt auf Seiten des Künstlers und durch diktatorische Gängelung in Hinsicht aufs Publikum. Aber nur in ganz dumpfen, ungegliederten Kollektiven könnte eine unmittelbare Einheit von Tat und Ausdruck sich herstellen. Ihre Voraussetzung nämlich wäre die Entfernung von jedem 107

gesellschaftlichen und historischen Bewußtsein, also das reine 'Erlebnis'. Insofern ist einer Definition Geißlers zuzustimmen: „Das Kernproblem der für den Nationalsozialismus prädisponierten Literatur liegt darin, daß sie an der traditionellen, im 18. Jahrhundert geprägten Auffassung von der Gefühls- und Erlebnisgrundlage aller Kunst festhält. D e r Krieg, die Landschaft, die Erde, das Jahr, die Gemeinschaft, alles wird zum Erlebnis, und die Dichtung hat die Aufgabe, den Massen diese Erlebnisse zu vermitteln." 151 Solche Erlebnisse werden im Spätkapitalismus niemals einem seiner selbst mächtigen Subjekt zuteil. Was in ihnen zum Ausdruck kommt, sind durchweg abgeleitete, von den Bewußtseinsapparaten erzeugte oder gesteuerte Emotionen, bestenfalls genormte Verhaltensweisen. Mit der ebenfalls gesteuerten Ideologie zusammen bilden sie einen Bewußtseinszustand aus, der seinen Besitzern als einfach und natürlich erscheint, weil er sich ohne ihre Anstrengung hergestellt hat. D a s Ziel einer daraus hervorgehenden Literatur kann nur die Bestätigung des 'Erlebnisses' durch Ausdruck und seine Übertragung auf andere Personen sein. Grundsätzlich bezweckt die nationalsozialistische Technik eine unmittelbare Identifizierung des Aufnehmenden mit den ihm vorgesetzten Gestalten und Werten. E s wird nichts durchgelassen, was aus dem jeweiligen Affekt- und Ideologiekomplex hinausführt; die Gestalten sind so einlinig angelegt wie die G e schehnisse, und alles zusammen unterliegt einer ursprünglichen Determination. Dem Leser wird keine Freiheit gelassen, die Wirklichkeit mit ihrem Bilde zu vergleichen, nicht einmal Distanz: Man behandelt ihn wie die Reklame den Kunden. D a ß die Literatur des Nationalsozialismus ebensowenig wie dessen politische Praxis Kritik förderte oder erlaubte, versteht sich bei alldem von selbst. Weit entfernt, die Kluft zwischen Dichtung und Volk schließen zu können, hat die faschistische Literatur sie vielmehr unerhört vertieft. D a s Empfinden für Echtheit, für die jeweils in der Sprache sich offenbarende Moral der künstlerischen Arbeit ist weiter verdorben worden. Befestigt wurde das Verlangen nach leichter Eingängigkeit und Identifikation, das sowohl auf alle schwierige als auch auf alle widerspruchsreiche, verfremdende, dem Publikum kritisch gegenüberstehende Kunst mit Wut reagiert. Neben den Verhaltensweisen z u r Literatur, die das nationalsozialistische Kunstdiktat förderte, wären vor allem jene Verhaltensweisen genauer festzustellen, die d u r c h die Nazidichtung verbreitet wurden, also die faschistischen unter den gesellschaftlichen Reaktionen, welche 108

meist zählebiger als Ideologien sind und sich in mehrere von diesen einhüllen können. Die Belletristik hat sich um viele dieser Verhaltensweisen verdient gemacht, am stärksten und spezifischsten aber wohl um eine: jene antirationale, unbestimmt religiöse Haltung der Gesellschaft gegenüber, die das populäre Lebenselement des Faschismus war. Die 'arischen' Religionserneuerungen freilich sind mit den Nazis vergangen, jener „deutsche Glaube", der seit de Lagarde von den Völkischen verfochten wurde, sich später in einzelne Richtungen verlief und dessen Funktion darin bestand, gerade jenes Moment von Internationalismus, das dem Christentum seit Beginn innewohnt, und jene zivilisatorischen Kräfte, die es im Lauf der Geschichte ausgebildet hat, zugunsten eines nationalistisch verwertbaren Glaubensrestes abzubauen. D a ß von den Einzelsparten, Dinters „Geistchristentum", Burtes Kult des „Reinen Krist", dem „Glauben der Nordmark" ä la Frenssen usf., keine Rede mehr ist, geht allerdings auf die Nazis selber zurück, die sich hüteten, durch Festsetzung einer Staatsreligion ihre Anhängerschaft zu verringern. Statt dessen ließen sie es beim Kult der schicksalhaften „Vorsehung" und ihres Beauftragten Adolf Hitler bewenden und bauten um diese Inhalte für die Gefolgschaft ihren „braunen K u l t " (Gamm) auf. Für die Massen sollte es genügen, daß eine möglichst undogmatische Hülle von religiösen Gefühlen um die Machtstruktur in Staat und Wirtschaft gelegt wurde. An dieser Hülle hat die Literatur immerfort gewebt, auch wo sie nicht die speziellen Kulte bediente. Deutlich geht die Funktion dieser Art von Religiosität aus ihrem Bild des alt-bösen Feindes hervor. D a s nämlich ist der 'Materialismus', womit alle Versuche zu gesellschaftlicher Aufklärung gemeine sind. In der Scheu davor trafen sich Anhänger und Verwalter des Kultes. Nicht nur im Bewußtseinszustand der Kleinbürger hat die faschistische Religiosität ihre Wurzeln, sondern auch in den Verheißungen, die der Nationalsozialismus für sie bereit hatte. Oder anders ausgedrückt: D a s nationalsozialistische Programm war nicht minder absurd als die Hoffnungen, die es zu erfüllen versprach. Ein vollkommener Widerspruch wie die 'Volksgemeinschaft', die für jede Schicht gleichermaßen Erlösung verhieß, war überhaupt nur in religiösen Kategorien anzuerkennen. Der Nationalsozialismus forderte ein modernes Credo quia absurdum, dessen Inhalt das Selbstopfer für den Staat bedeutete. D i e gläubige, antirationale Struktur jeder faschistischen Dichtung ist durch ihren Gegenstand und dessen soziale Perspektive, die vorgeschlagene wie die verschwiegene, von vornher109

ein gefordert. Diese Wurzel haben Brechts Hitlerchoräle freigelegt, indem sie die neuen Religionsinhalte durch altreligiöse Formen und Gesten verfremdeten: II Bittet den Anstreicher, daß er den Zinsfuß uns senke! Und ihn zugleich Auch noch erhöh in sein'm Reich Ohne d a ß der sich verrenke 1 f...] Mög er der Löhne der Arbeiter gnädig gedenken! Sorg er für sie! Doch auch für Industrie! Mög er den Arbeitslohn senken! III Befiehl du deine Wege O Kalb, so o f t verletzt Der allertreusten Pflege Des, der das Messer wetzt! Der denen, die sich schinden Ein neues Kreuz ersann D e r wird auch Wege finden Wie er dich schlachten kann. [• • -I 152 Als Beleg dafür, d a ß solche Gesinnung für alle gesellschaftlichen Verhältnisse gewünscht wurde, mag hier ein Gedicht von Heinz Steguweit stehen: Deutschland Die im Abgrund dennoch singen, Hingegeben an den Geist, D e r im Kämpfen und Vollbringen Glauben, nichts als Glauben heißt: Denen, Bruder, wird die Hände Unseres Gottes Güte weihen. Bete um der Arbeit Spende, Bete für des Werks Gedeihen! 110

Bruder, soll der Angst Gebärde Alles sein, was uns verblieb? Hab* den Himmel, hab' die Erde, Hab' die alten Wälder lieb! Säe, wo die Väter starben, Ernte, wo die Mütter ruhn, Und in jedes Bündel Garben Schließe ein dein gläubig Tun! Gott hat unser Blut gebunden An die Furche, die uns nährt, Wer in Arbeit Gott gefunden, Ist des Brotes Segen wert! Diese Demut, Bruder, trage Tief in deine Seele ein, Und du lernst mit einem Schlage Das Geheimnis, Volk zu sein! - 1 5 3 Jener altdeutsche Kleinbürgergeist, der das Bete und Arbeite sich zu eigen gemacht hatte, wird überführt in eine Religion der Arbeit. „Bete um der Arbeit Spende" läßt sogar offen, ob darum gebetet werden soll, daß alle Mühe wenigstens etwas einträgt, oder ob man schon dankbar sein muß, wenn einem nur Arbeit, d. h. der Arbeitsplatz, gegeben wird. Schwerlich könnte man sich eine offenherzigere Definition des nationalsozialistischen Volksbegriffes vorstellen als diese, derzufolge er die Demut einschließt, in der Arbeit statt Lohn und Befriedigung Gott zu finden. In der Tat würde man, wäre diese Demut da, mit einem Schlage das Ziel erreichen, das in der Wirklichkeit des Klassenkampfes nur mit sehr vielen Schlägen zu erreichen war. Im Imperativ verkündet das Gedicht das Staatsgebot als ein religiöses. Noch über den Kreis der völkischen Kultwörter hinausgreifend, baut es aus einerseits „Angst", andererseits „Segen", „Demut" oder „Geheimnis" ein Feld um die Staatsinteressen auf; die verwendeten Wörter bezeichnen eine kleinbürgerliche Variante jenes 'Jargons der Eigentlichkeit' (Adorno), der heute ohne völkischen Aufputz und Anschein des Natürlichen, scheinbar unideologisch, als Salb- und Schmieröl des staatskapitalistischen Betriebs fungiert. Die nationalsozialistische Ideologie und Literatur hatte den Auftrag, möglichst alle Lebensbereiche durch derartige Irrationalisierung dem Zugriff der Faschisten aufzuschließen. Damit wurden allerdings 111

Tendenzen fortgesetzt, die schon lange in der Ideologie der Mittelschichten wirksam waren; der eigentümlich farbige Schimmer, in dem jedem, der in dieser Tradition aufwuchs, heute seine Jugenderinnerungen erscheinen, ist vor allem Reflex dieser weitgetriebenen Entrationalisierung des Lebens. Allerdings hatten die Nazis derartiges für große Bereiche der Produktion und des Staates noch nachzuholen, da der bloß völkischen Ideologie eine Romantik des Proletariats, der Industrie oder des totalen Staates naturgemäß fernlag. Welche Mühe ihnen das machte, kann an extremen Produkten wie etwa Haanes Kremers Roman Gottes Rune (1938) abgelesen werden. Leichter war es in den vermittelt sozialen Bereichen, in denen die Völkischen energisch vorgearbeitet hatten. Das gilt vor allem für die Sexualbeziehungen. Daß die nationalsozialistische Staatsideologie dieses Gebietes einem alten und großen Nährboden entwuchs, zeigen sowohl die völkischen Programme der Vorkriegszeit als auch die unzähligen Vereine und Zeitschriften für Lebensreform aus den ersten Nachkriegsjahren. Eine davon, willkürlich herausgegriffen, verkündet z. B. das Folgende als Programm: „Dieser Jugendbewegung" - der Verfasser spricht von den Jugendbünden seit dem Altwandervogel, mit denen er sich solidarisiere „war schließlich die Forderung vernünftiger Leibeszucht (welche Enthaltung von Rausch- und Rauchgiften und die Heiligung des Geschlechtslebens im Dienste der Fortpflanzung in sich schließt) zur Selbstverständlichkeit und Grundlage aller Neukultur geworden." Dazu fügen sich weitere Forderungen: „Die deutsche Religion von Luther bis Lagarde"; „Die Ehrfurcht und die Liebe zur Arbeit müssen durch praktische Tätigkeit in Handwerk und Gartenbau geweckt werden"; „Mit aller Kraft müssen wir uns gegen die Bestrebungen wenden, die deutsche Jugend zu politisieren."154 Diese deutsche Tiefe spricht in einem Stil aus parlamentarischem Jargon („Mit aller Kraft müssen wir uns gegen Bestrebungen wenden") und Oberlehrerfloskeln („vernünftige Leibeszucht"). Ihre „Heiligung des Geschlechtslebens im Dienste der Fortpflanzung" verkündet zweierlei: auf der einen Seite die Tabuierung des Sexus als eines menschlichen Verhältnisses, auf der anderen seine schon staatlich gedachte Rationalisierung. Die nationalsozialistische Literatur setzt beides im Sinne ihres totalen Staates fort. Wenn das jeweils historische Verhältnis der Geschlechter zueinander anzeigt, „inwieweit das natürliche Verhalten des Menschen menschlich oder inwieweit das menschliche Wesen ihm 112

zum natürlichen Wesen, inwieweit seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist," 155 dann verraten Sexualtabus die Unversöhntheit der gesellschaftlichen Seite des Menschen mit seiner natürlichen. Ihre Versöhnung und den Traum davon verbietet man sich selber, weil sie in der bestehenden Gesellschaft unrealisierbar sind. Im Kleinbürgertum, und zumal im deutschen, galt es seit alters als Gesetz, daß sich die Liebe dem Geschäftsleben unterzuordnen habe. Ebenso blieb die Entsprechung dazu, die Verfemung der unverwertbaren sexuellen Lust, in gleicher Stärke erhalten. Mit Ahnungen, daß selbst die emanzipierten deutschen Sozialisten die „spießbürgerliche Moralprüderie" nicht abwerfen würden, bemerkte Friedrich Engels einmal : „Es wird nachgerade Zeit, daß wenigstens die deutschen Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen ebenso unbefangen zu sprechen wie die romanischen Völker, wie Homer und Piaton, wie Horaz und Juvenal, wie das alte Testament und die 'Neue Rheinische Zeitung'." 156 Zu solchen Ermahnungen gaben die Haltung der Sozialdemokratie und auch die damalige sozialistische Literatur genügenden Anlaß. Sie waren um so notwendiger, da zur gleichen Zeit im Bereich der Völkischen dieser Komplex sich politisch auflud. Es wurde da ein Verdrängungsvorgang aggressiv festgelegt: Die sexuelle Lust, die man sich unter gesellschaftlichem Zwang selber versagte, schrieb man den Befehdeten zu und genoß sie an ihren vermeintlichen Handlungen stellvertretend mit. Das Feindbild des 'Undeutschen', das sich auf Juden wie auf Romanen oder Slawen bezog, erhielt dadurch einen Inhalt, der starke emotionelle Energien freisetzte. Material für die Geschichte und Vorgeschichte dieser Haltung hat Glaser beigebracht; dahin gehören unter anderen die Gegensatzpaare Elsa und Ortrud oder Elisabeth und Venus in Richard Wagners Opern, welche die falsche Polarisierung des Gebietes volkstümlich ausprägten. Wagners Verfahren im Tannhäuser, erotische Entladungen vorzuführen und zugleich dafür zu sorgen, daß deutsch-germanische Keuschheit den Ruhm davontrüge, dieses Verfahren hat noch nationalsozialistischen Werken als Muster gedient. Ihm entsprachen die lautstarken Erklärungen gegen Pornographie und Unsittlichkeit seitens ihrer Literaturkritiker. So wie sich die verdrängten Triebe in die Literatur retteten, so wurde auch die Polemik dorthin abgelenkt und die Pornographie für Zustände verantwortlich gemacht, aus denen sie erst hervorging. 'Pornographie' diente dann, ähnlich wie und oft gleichsinnig mit S

Härtung, Faschismus

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'Dekadenz', nur noch als summarisches Schimpfwort. Alle früheren und späteren Faschisten sind sich einig im Eifern gegen eine Kunst, die entweder jene Sexualtabus nicht respektierte oder aus Protest gegen sie zu Schocks griff; die Wirkungsgeschichte Wedekinds in Deutschland stellt dafür ein reiches Material. Allerdings konnte eine Zeitlang, als die Bewegung noch halb anarchistische Strebungen auffing, auch das 'Sinnenglück' zu ihren Parolen gehören. Sexualität hatte dann neben 'Fruchtbarkeit' oder 'Leben' zum Kampf gegen das 'Mechanistische' anzutreten. Doch zeigte selbst bei den vermehrungswütigsten Ariophilen, den Lanz von Liebenfels, Guido von List usf., die Verbindung von Sexus mit Eugenik, von erotischem Einsatz mit Sozialdarwinismus, daß auch in diesem Bezirk Verdrängungen in diktatorische Ersatzaffekte überführt wurden. Ein extremes deutsches Beispiel ist Hermann Burtes Wiltfeber von 1912, das bedeutendste ausländische sicher das Werk von David Herbert Lawrence. In Lady Chatterley's Lover sind Impotenz, Unfruchtbarkeit, Rationalität durch einfache Vermittlungen sowohl dem Kapitalismus als auch dem Proletariat zugeordnet, während auf der Gegenseite freie Sexualität sich mit Natur und Anarchismus verbindet; anscheinend wurden diese Gleichungen durch die ungebrochene, bis ins Großbürgertum reichende Tradition des Puritanismus provoziert. In Deutschland überwog jedoch die 'Heiligung' des Erotischen, d. h. seine Verdrängung mit aggressiven Auswirkungen, alles andere. Dasjenige, was der Nationalsozialismus diesem Komplex hinzugefügt hat, läßt sich dessen umfassende Integration in den Staatsimperialismus nennen. Auf der einen Seite wurden die Tabus im Kampf gegen politische Gegner ausgenutzt und befestigt, wie etwa das über die Homosexualität bei der sogenannten Röhm-Revolte oder im Kirchenkampf; auf der anderen, für den Faschismus 'positiven' Seite wurde Sexualität einbezogen in die staatliche Nachkommensregelung, mithin in die Züchtungsvorhaben für den Krieg. „Die Frau", verkündet Goebbels' Michael, „hat die Aufgabe, schön zu sein und Kinder zur Welt zu bringen . . . D a f ü r sorgt der Mann für die Nahrung. Sonst steht er auf der Wacht und wehrt den Feind ab." 157 Im Sinne entsprechender Vorhaben, für deren Deckung die Formel 'gesunde Sinnlichkeit' eintrat, erfolgten Absagen an die Prüderie, ließ man Nacktkultur wieder zu,158 propagierte man mit allen Mitteln den Mütterkult. Von der Literatur durften dabei große Dienste erwartet werden, sie stellte ein geeignetes Propagandafeld dar. Dem 114

Griff des Staates nach der Sexualität entsprach sie dadurch, daß sie das Erotische ganz und gar in die ideologische Konstruktion ihrer Werke einbezog. Das geschah, wie die Werke zeigen, selten mit gesellschaftlicher Bewußtheit. Die überkommenen Affekte, die den Autoren wie ihrem Publikum eigen waren, schienen ihnen vielmehr Natur und 'echtes Erlebnis' zu verbürgen. Durch die Darstellung von Liebesverhältnissen glaubte man anscheinend, dem Seelischen nahe zu sein, der angestrebten antirationalen Tendenz am besten zu dienen. Nicht sollten die Liebesverhältnisse Wahrheit darüber aussprechen, „wieweit das natürliche Verhalten menschlich geworden ist", wie weit also die Gesellschaft Versöhnung mit der menschlichen Natur gestattet - was doch der große Roman auch des 20. Jahrhunderts tat - , sondern sie sollten die unbestimmte Totalität der nationalsozialistischen Weltanschauung vorführen helfen. In Wirklichkeit sprachen sie nichts als Unfreiheit aus. Bestätigend stehen in diesen Werken neben den politischen Positiv- und Negativbildern die erotischen, mit jenen eng durch Analogien verbunden. Das wäre an einem repräsentativen Werk zu belegen. Als besonders geeignet dazu empfiehlt sich einer jener Entwicklungsromane, welche die nationalsozialistische Ideologie am vollständigsten verkörperten, und unter ihnen derjenige mit der größten Konsequenz: Hans Zöberleins Der Befehl des Gewissens (1937). Diesen Roman nämlich bestimmt ein ganz besonderer Totalitätsanspruch. Der Verfasser hat sich die Mühe gemacht, zu allen möglichen Kulturproblemen seine Meinung abzugeben und diese Meinungsäußerungen auf dem Faden einer positiven Entwicklung aufzureihen. In die Fabel und ihr Beiwerk ist das erotische Element konsequent einbezogen worden, allerdings unter Ausschluß tabuierter Zonen (wie der Homosexualität). Von Anfang bis Ende ergibt sich so ein Parallelismus des erotischen mit dem politischen Verlauf. In das geordnete Schema von Entwicklung zum Nationalsozialismus hin, das hier an einem Hans Krafft und der Zeit von 1918 bis 1923 exemplifiziert wird, schließt sich dessen Liebesgeschichte als ebenso vorbildliches Modell ein. Der Heimkehrer aus dem Krieg, Typ des einfachen Frontkameraden, wird zu Beginn, seinem politischen Niveau entsprechend, in naiver Reinheit vorgestellt. Jetzt erst soll er an Frauen und ans Heiraten denken, weil er schließlich „im Krieg doch von einem Buben zu einem richtigen Mannsbild geworden ist". Wie Wasser ist der Krieg von ihm abgelaufen, Jung-Siegfried entsteigt dem Blutbad, und die pflichtgemäße Verdrängung des Sexuellen in das Töten, wozu der Graben8»

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krieg zwang, erscheint als blanke Unschuld. Doch haben sich Herrschaftsgelüste erhalten: Aber Geduld muß man haben, denn bis er so eine findet, wie er sie sich vorstellt! So ein Wesen voll Leben und Lust und Lachen, ein mutiges und gescheites Ding mit einem Herzen von Eisen und auch wieder von Wachs, wie man es halt gerade braucht. 159 Ein Wesen von solcher Beschaffenheit - für die das Wort 'Mädel' eintreten müßte - findet er nach dem Entschluß zur politischen Aktion, im Freikorpskampf gegen die bayrische Räterepublik. Auch entspricht der faschistischen Motivierung dieses Kampfes („Wir kämpfen fürs ganze Volk, nicht bloß für einen Teil" 160 ) eine besondere Volkstümlichkeit des nun erscheinenden Modells. Das Mädel entstammt romantischen Traditionen, ist eines Wirtes Tochter, hat aber das herbe Herz auf dem rechten Fleck, steht ohne Besinnen und mit einem Humor, der schaudern macht, auf der Seite der Helden und hegt außerdem Sinn für Höheres. Hans Krafft vermag sie zu bestimmen, für ihn in den Isarauen Solvejgs Lied zu singen, bevor er sie, zur Belohnung gleichsam, das erstemal küßt. Nun tritt, auf der Stufe, die durch die Niederschlagung der Revolution gewonnen ist, reine Natur in die Darstellung ein: Man wandert tagelang in Bayern umher. Sie baden im klaren See miteinander und freuen sich heimlich an ihren ranken Körpern. Er am Feinen, Graziösen und dem Hauch der kindlichen Unschuld ihres Leibes, sie an seiner Kraft, der schnellen Geschmeidigkeit und stolzen Haltung. 161 Eine Trübung des Idylls kann nur von außen kommen; es ist die Stelle erreicht, wo die Gefährdung der deutschen Substanz zu zeigen wäre. Das leistet jene Szene infamsten Schmutzes, mit der sich ihr Verfasser als Schüler Julius Streichers und einstiges Mitglied von dessen „Deutschsozialer Arbeiterpartei" ausweist: Berta wird im Freibad von Juden belästige („lauter feixende Judengesichter", „geile Pfoten"), bis Hans herbeieilt, jene in die Flucht schlägt und vom Badewärter vergeblich das verlangt, was nach 1933 deutsches Recht wurde. Derart kommen die Schwächen der 'Systemzeit' ans Licht. Bertas Äußerungen danach offenbaren deshalb mehr das Herz von Eisen als das bisher enthüllte von Wachs: Mir dreht sich das Herz um, wenn ich das sehen muß [ . . . ] Diese Judenschweine richten uns zugrunde, das ganze Blut versauen sie uns. Und Blut ist das Beste und das Einz'ge, was wir noch haben. 116

Und Hans sekundiert: Die Juden sind für unser Empfinden schmutzig, schweinisch, ehrlos - kurz gesagt, das genaue Gegenteil von uns. 162 Die Szene dient jedoch nicht nur dazu, den Antisemitismus erotisch anzufeuern, sondern auch dazu, die Erotik antisemitisch zu entladen. Denn anschließend baden beide zum erstenmal nackt im See, um sich von den Berührungen reinzuwaschen, und da kommt ein Hauch von Begehren auf. Das Reinigungsbad sichert die Triebe gegen die völkische Keuschheit ab und entfesselt sie zugleich; die verdrängte Lust wird nicht nur am Gegner miterlebt, sondern ihm auch allein zugeschoben. „Ich gehöre dir", sagt Berta, und darauf, mit forschem Humor: „Vorhin war es fast nackte Tatsache." 163 Erotik ist es auch, mit der später Juda in Gestalt eines Apothekers und dessen Tochter Mirjam den deutschen Hans ködern will. Selbstverständlich mißlingt das Vorhaben ebenso wie alle Versuche, den Faschismus zu untergraben, für welche es gleichnishaft steht. Aber das notwendige Minimum an Entwicklungskrisen ist damit erbracht, und dem Kitzel wird Genüge getan in Szenen, deren Anschauungsfarbe sich Franz von Stucks Bild Die Sünde verdankt: „Ein Bild, aus dem einen das unsagbare Grauen schaudernd anhauchte und doch eine lockende Süße ins Blut griff." 164 Das Ende des Romans, das auf den Marsch zur Feldherrnhalle weist, muß auch die bürgerliche Moral durch Resultate befriedigen. Krafft ist Architekt geworden, wie sein Schöpfer auch, und kann ans Heiraten gehen. Eine Heirat, und zwar eine mit religiöser Weihe, ist unabdingbar, doch da die kirchliche Eheschließung nicht in Frage kommt und die nationalsozialistische noch nicht erfunden ist, muß als deren Vorform eine halb naturmythische eintreten. Man vollzieht sie mit etwas Ritual in freier Natur. Sie haben „eine wunderbare, stille Hochzeit, [. . .] ganz allein vor Gott", beileibe nicht vor und für sich selbst, und tun sich dann im Dorfwirtshaus zusammen. Sie sieht ihn, wie er die Arme seufzend dehnt im Mondlicht, wie sein Haar hell durchleuchtet ist, und wie ein silbern-bleicher Rand um seinen nackten Körper flimmert. Das Herz schlägt ihr vor banger Süße bis zum Hals hinauf, wie sie auf den Zehen zu ihm hinschleicht und die weichen Arme hingebend um seinen stolzen Nacken schlingt. Erschauernd spürt er das feine Zittern ihres köstlichen Leibes sich an den seinen drängen und sieht, wie sie mit dem Schleier ihrer Haare das Gesicht verbirgt vor ihm. 165 117

Der Blick, der in diese Hochzeitskammer fällt und sich am jungen Manne entzündet, ist der Blick eines Voyeurs und Züchters. Doch hat dieser erzählende Voyeur nicht einmal jene „Kraftprobe des natürlichen Empfindens" zu bestehen, die nach Karl Kraus darin liegt, d a ß der Wille, das Weib mit dem Manne zu sehen, selbst den Widerwillen überwinden muß, den Mann mit dem Weibe zu sehen, 166 weil ihm schon dieser Widerwille fremd ist. Erotische Schwäche stärkt sich an den Wunschbildern des herrischen Jünglings und des Mädchens, das den ersten Schritt zu ihm tut, und vereinigt beide zum Musterpaar des neuen Deutschlands. Im Gedanken, Menschen zu züchten, verbindet sich die Vergewaltigung der Liebe für das Regime mit einer erotischen Unfähigkeit, die sich an der Vorstellung kräftiger Geschlechtsakte aufreizt. Eine Figur dafür lieferte die nationalsozialistische Literatur. Sie bedeutet die Zurücknahme der Kultur, welche die Menschheit durch Vergeistigung und Individualisierung ihrer Natur erlangen konnte. Sie rückt Liebe in den massenhaften, anonymen Vollzug zurück und erteilt dem die Weihe des imperialistischen Staates. -

Weiterwirkungen Die Schwierigkeiten, die sich einer kritischen Erfassung der Fortund Nachwirkungen faschistischen Schrifttums entgegenstellen, liegen vor allem darin begründet, daß sich die faschistischen Tendenzen in der Bundesrepublik nicht wie im Weimarer Staat in einer demagogisch 'revolutionären', gegen Kommunismus u n d Kapitalismus auftretenden Ideologie zeigen. Sie werden teilweise im allmählichen Ausbau der staatskapitalistischen Macht im Innern wirksam. Brechts Macheath von 1934, diese Personaleinheit von Gangster, Kapitalist und Führer, sah damaLs die Zukunft so: „Wir brauchen Männer, die über den Parteien stehen, so wie wir Geschäftsleute. W i r verkaufen unsere W a r e an arm und reich. W i r verkaufen jedem ohne Ansehen der Person einen Zentner Kartoffeln, installieren ihm eine Lichtleitung, streichen ihm sein Haus an. Die Leitung des Staates ist eine moralische Aufgabe. Es muß erreicht werden, daß die Unternehmer gute Unternehmer, die Angestellten gute Angestellte, kurz: die Reichen gute Reiche und die Armen gute Arme sind. Ich bin überzeugt, daß die Zeit einer solchen Staatsführung kommen wird."

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D e r Führer prophezeite also die 'formierte Gesellschaft'. E r setzte hinzu: „Sie wird mich zu ihren Anhängern zählen." 1 6 7 D i e Tatsache aber, daß eine in diesem Sinne aufgebaute, also reibungslos funktionierende und verfügende staatsmonopolistische Ordnung eine Organisation wie die N S D A P , die ihren eigenen Machtapparat besaß und schwer zu kontrollieren war, nicht als Führungsspitze zulassen wird, bedingt grundsätzlich auch die Bedürfnisse an Ideologie und damit die Verwertbarkeit der überkommenen nationalsozialistischen. Daher kann sich die neueste Ideologie gerade als 'Entideologisierung' maskieren. Allerdings tritt in der Nachkriegszeit, infolge der neuen Weltlage, das innenpolitische Ideologiebedürfnis gegenüber dem außenpolitischen zurück. Auf weite Strecken kann man mit dem negativen Bestandteil, dem Antikommunismus, auskommen, aber zur Erreichung des Hauptziels wird etwas Positives hinzutreten müssen. D e r Antibolschewismus hätte sonst nicht nur die innere Reaktion zu tragen, die Niederdrückung der Opposition ebenso wie den Abbau der Demokratie, sondern auch allein für die wirtschaftliche und politische E x pansion den Überbau zu liefern. Vor allem im Bereich der letzteren Bedürfnisse haben nun die nationalsozialistischen Bestände ihr Aktionsfeld gefunden, wenngleich eingeengt durch den Mißerfolg des Hitlerunternehmens und durch außenpolitische Rücksichten. Wesentliche Teile der faschistischen Ideologie waren nur von 1945 bis 1948 zum Schweigen verurteilt, sie blieben aber auch in dieser Zeit lebendig, und zwar vor allem unter ehemaligen Nazis und Nutznießern des Regimes sowie unter Offizieren, Umsiedlern und im 'Mittelstand'. Gefördert wurden sie dadurch, daß breite Schichten heute das Potsdamer Abkommen ebensowenig akzeptieren, wie sie seinerzeit die Versailler Beschlüsse annahmen, und daß die Grundlage für Massenaffekte, die Konzentration von Kapital und Grundbesitz, weiter andauert. D e r allmähliche Zusammenschluß rechtsextremer Gruppierungen (Sozialistische Reichspartei, 1 9 4 9 - 1 9 5 2 ; Deutsche Reichspartei, 1 9 5 0 - 1 9 6 5 ; Deutsche Partei 1 9 4 7 - 1 9 6 1 , dann Fusion mit dem Gesamtdeutschen B l o c k / B H E zur Gesamtdeutschen Partei) in der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands ( N P D ) und deren Wahlerfolge seit Mitte der 60er Jahre bezeichnen sowohl die Fortschritte der Monopolisierung als auch die Zunahme faschistischer Reaktionen darauf. Allerdings steht die N P D unter Funktionskontrolle seitens der Großbourgeoisie und ihrer Partei, der C D U , die in jenSr Partei einerseits ein politisches Alibi ausnützt, andererseits sie jederzeit vorschieben kann, wenn der Parlamentarismus weiter abgebaut werden

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soll. D i e von den Parteien getragene Belletristik läßt sich nur sehr grob dahingehend bestimmen, daß der N P D überwiegend altnazistische, der C D U vor allem neufaschistische Werke entsprechen. Im allgemeinen gilt, daß man mehr oder weniger vom früheren ideologischen Überschuß über Bord geworfen hat und sich dieses Über-Bord-Werfen als Antifaschismus zugute hält. Einige Extreme sind offiziell beseitigt worden: der Antisemitismus, die nordische Rassenlehre, Züchtungsvorhaben usw., ohne daß dadurch die Basis angegriffen wurde; die 'Volksgemeinschaft', von extremen Parteien unverblümt gefordert (SRP, D R P ) , lebt in der 'formierten Gesellschaft* wieder auf, die 'deutsche Religion' hat ihre Aufgaben an Abendlandlehren und politischen Klerikalismus weitergegeben. D a s neue Kräfteverhältnis in Europa veranlaßt die neufaschistischen Tendenzen, an die letzte Phase der nationalsozialistischen anzuknüpfen, an die 'Europa'-Idee des gemeinsamen Kampfes unter deutscher Führung. D e m entspricht auch die Behandlung des zweiten Weltkrieges seitens der Dwinger, Josef Martin Bauer, Konsalik usf. Sie besitzen, anders als ihre Kollegen von 1930, ein vor allem außenpolitisches Engagement und orientieren sich antisowjetisch nach dem 'Europa'-Modell. Wesen und Umfang 1 6 8 dieser Literatur können hier nicht dargestellt werden; als Probe sei lediglich der wohl aktivste Publizist dieser Richtung, Kurt Ziesel, in Kürze zitiert. Dieser Kriegsanthologist rechnet sich unter diejenigen, deren Idealismus von den Nazis mißbraucht wurde, die also „wahrhaft tragisch" verstrickt waren, weil sie eigentlich nur gegen den Bolschewismus und nicht für Hitler kämpfen wollten: [. . . ] begreiflich aber auch, daß diese Hoffnung auf einen Zusammenschluß der westlichen Welt gegen die verbliebene, ebenso bedrohliche diktatorische und inhumane Staatsform zielte, wie sie im Osten schon lange vor Hitler zu einer so schauerlichen Realität geworden war. 1 6 9 Deshalb behauptet er eine damals (gegen Kriegsende) „fast einhellige Bereitschaft" der Deutschen, mit den Westmächten gegen „die wahrscheinlich noch viel gefährlichere Versuchung" des Bolschewismus zu ziehen. E r nimmt also die schon halb offizielle Lehre auf, wonach jene krampfhaften Versuche der Regierung Dönitz nur an der Blindheit der Westmächte gescheitert seien. Die Funktion dieser Ideologie ist es, die antifaschistische Entwicklung der Jahre 1945 bis 1948 als Fehlentwicklung und Folge eines westlichen Zwanges zu brandmarken, der eine antibolschewistische Kontinuität vom Dritten Reich 120

(nach Hitlers Selbstmord) in die Bundesrepublik störend unterbrochen habe. Dieser Taktik entspricht auch Ziesels Feindbild: Dort, wo der Nationalsozialismus die Juden einsetzte, stehen bei ihm nur mehr die Kommunisten, die demokratischen Intellektuellen und die Emigranten. Wie schon seinerzeit in Rosenbergs „Kampfbund" kann auch jetzt auf dem 'kulturellen Sektor' dieses Denkens differenzierter und massenwirksamer agitiert werden: D a ich den Eindruck gewann, daß in weiten Bereichen der Literatur einem skrupellosen und zynischen Nihilismus, vermischt mit pornographischen Exzessen und einer Spekulation auf die niedersten Instinkte der Massen gehuldigt wurde, trat ich dagegen auf [Ziesel meint sein Buch Die Literaturfabrik, 1955 - G. H.] und forderte eine Besinnung auf jene unvergänglichen Werte, die auch nicht dadurch, daß Hitler sie für seine Zwecke mißbraucht hatte, einen Funken von ihrer Wirklichkeit und Kraft verloren haben. Ich kann mich jedenfalls nicht zu der Auffassung bekennen, daß etwa die Autobahnen 'Verkörperung des Bösen' seien. Weitere unvergängliche Werte, nächst den Autobahnen, sind: „Ehrung von Müttern", „Förderung der Familie" und - gerichtet gegen „gewisse Entartungserscheinungen der Modeliteratur, der atonalen Musik, der abstrakten Malerei", womit gemeint ist: gegen diese Dinge a 1 s Entartungserscheinungen - sogar der „Einsatz für das Bauerntum" und „die heilsame Erziehung junger Menschen durch Arbeitsdienst oder Landdienst" 170 . Auch wenn das Wort „Entartung" nicht fiele, wäre offensichtlich, daß hier das alte Dekadenz-Schema zur Rechtfertigung nicht nur von faschistischer Kulturpolitik, sondern auch von neuen Zwangsmaßnahmen verwendet wird. Dabei bezeichnet die Reihe von den Autobahnen bis zum Reichsarbeitsdienst ungefähr die heute möglichen Demagogiefelder fürs Kleinbürgertum, angeordnet nach ihrer Verwertbarkeit in abnehmender Folge. Diese Reihe, zusammen mit den entsprechenden Negativbildern, könnte man zum ersten Ausgangspunkt nehmen, wenn man die nach- und neufaschistische Literatur nach ihren 'Motiven' im Sinne Loewys dokumentieren wollte. Als Material für solche Darstellung würde sich zunächst die Produktion von Verlagen wie Bertelsmann in Gütersloh, Ehrenwirth in München, G. Stalling (Oldenburg), Eugen Diederichs usf. empfehlen. Allerdings müßte dann nach oben und nach unten, einerseits bis zu Gaiser etwa, andererseits bis zu Pabels Landserheften und den offenkundigen Naziverlagen, ein großer Bereich hinzugezogen 121

werden. Hinsichtlich der Autoren wäre zunächst, wie es auch bisher immer geschieht, von den überlebenden Nazi-Schriftstellern auszugehen, da in der Tat fast alle heutigen Faschisten ein, wenn auch bescheidenes, Debüt vor 1945 hatten. Selbstverständlich kann man die Untersuchung nicht auf Altnazis beschränken; doch sind deren Übergänge auf die Nachkriegspositionen besonders aufschlußreich für Art und Funktion des erneuerten Faschismus.

Ein Beispiel: Hans Baumann Abschließend soll wenigstens einer dieser Übergänge etwas genauer dargestellt werden. Ich wähle dazu das Werk eines der seinerzeit populärsten Dichter, dessen Produktion nach 1945 von seiner vorhergehenden immerhin derart abstach, daß selbst in der DDR von „humanistischer Tendenz"171 gesprochen werden konnte. Hans Baumann, geboren 1914, debütierte 1933 in einem Münchener Verlag mit Gedichten Macht keinen Lärm. Gewidmet war der Band De« schweigsamen Werkleuten am Dom des Reiches. Diese doppelte Hervorhebung von Stille ist zwar charakteristisch, aber auch irreführend, da gegen Ende ziemlich viel Lärm erzeugt wird: Dort steht nämlich schon das berüchtigte Lied von den zitternden morschen Knochen der Welt. Es beschließt mit dem Band dessen zweiten, Deutschland überschriebenen Teil, der sich durch ein plötzlich eintretendes Wir und politischen Gehalt deutlich vom ersten abhebt. Doch ist hier offensichtlich kein Opportunismus beteiligt. In dieser Zweiteilung reproduziert sich der „Aufbruch" des Jahres 1933 als Aufbruch deutscher Innerlichkeit zur Tat, zu einer Tat allerdings, die in jener vorbereitet war und dort gleichsam auf der Lauer lag. Zuerst eine wundersame Geschichte auf eine Madonna von Tilman Riemenschneider Die Frau mit ihrem Kinde trat heut zu mir herein und legt es mir behutsam grad in mein Herz hinein. 122

Es lachten viele drüber und sahn mich seltsam an ich gottbeglückter Träumer, ich glaub noch heute dran.172 Die Strophen stehen im Heineton, verwenden ihn jedoch ohne Ironie, als etwas von seinem Ursprung längst Abgetrenntes, übriggeblieben ist eine Handvoll kurrenter Floskeln und Klänge, die Kindlichkeit ausdrücken. Aber diese Kindlichkeit hat etwas Auftrumpfendes („ich gottbeglückter Träumer"), das gegen die anderen sich richtet. An Stelle der Schlußpointe, welche bei Heine vielfach die Sphäre der Konvention aufreißt, steht das Bekenntnis zum Geborgensein im Allgemeinen. Das Ich stellt sich selber als Hort von Gläubigkeit aus. Dabei fehlen dem Glaubensinhalt die eindeutig christlichen Attribute, so daß „die Frau mit dem Kinde" eher in jenen Bereich gehört, wo Madonnenanbetung unversehens zum Mütterkult wird. Auf die gleiche völkische Zone weist auch die Nennung Tilman Riemenschneiders, dessen Gestalten, zusammen mit den Naumburger Stifterfiguren und dem Bamberger Reiter, schon lange als Ausdruck zeitlos germanischen Wesens gedeutet wurden. (Baumanns letzter Vorgänger darin war Hanns Johst: Ave Eva, 1932.) Wie der Ton der Überschrift schon andeutet, werden hier Restbestände von Innigkeit veräußert. Ein armes Ich hält sich selber seine Armut zugute. Solche repressive Innerlichkeit ist auch ein Grundzug der übrigen, meist noch dilettantischeren Gebilde. Selbst Liebesgedichte haben diesen Kinderton, mittels dessen Ich-Schwäche nach einer kollektiven Bestätigung verlangt. Sie fließt ihm aus einer Sprachkonvention zu, worin sich Heinesche Geläufigkeit mit Erlesenem aus Romantik und Rilke mischt, also aus einem gleichsam für sich dichtenden Jargon. Einer armen Kindheit und einem geduckten Ich sollen Glanz und Bestätigung werden, ohne daß dieses Ich den Mut zu irgendeiner selbständigen Ansicht aufbrächte; da wird sich seine schließliche Mobilisierung auch nur im vorgezeichneten Rahmen vollziehen. Abendlegende Nur ein paarmal im ganzen Jahr erzählt der Vater vom Kriege wie alles so schrecklich war. — Dann hört man die Maus in der Stiege. 123

W i r Buben sitzen herum, ein jeder mit heißen Blicken; auch die Mutter ist dann ganz stumm und vergißt sogar auf das Stricken. Nur manchmal, da fährt sie leis und verstohlen nach ihren Augen, wo sie ein paar Tränen weiß, die ihr fast das Herz absaugen. Doch keiner von uns hats bedacht: denn kaum war vom Munde die Gabel ein Gewehr hat sich jeder gemacht und einen riesigen Säbel! Sie siehts und lächelt so still, als wär das zum Waschen und Kochen und die Maus im Treppengestühl, die hat sich beschämt verkrochen. 173 Diesem Bild aus dem Kleinbürgerhause setzt nicht nur der Titel Lichter von Weihe a u f ; das Ganze ist von Anfang an einem verklärenden Klischee angeglichen. Dazu gehören das 'Kriegserlebnis' als Familienfeier, die Umsetzung seines Schreckens in Begeisterung und vor allem der Heroismus der künftigen Soldatenmutter, der sogar die Mäuse beschämt. Aber ebenso schlimm wie der dargestellte Vorgang ist das Sentiment, das ihn umhüllt, jene Ideologie des 'Leisen', deren Verbreitung und Funktion einmal genau zu bestimmen wären; solche Imperative wie „Macht keinen L ä r m ! " sollen eine Stille schützen, in der sich das Herz der Konformität ergibt. Eine Haltung wie diese, die von der Praxis der Schlägerkolonnen doch entfernt ist, dient ihr gleichwohl durch geschmackvolles Einverständnis. Auch Baumanns spätere Lieder, die wie keine anderen in B D M und Frauenschaft beliebt waren, beziehen sich immer auf Sonderbereiche und -kollektive, niemals unmittelbar auf die nazistische Wirtschaft und Politik. Jenen Bereichen entsprechen ihr Schatz an blauen Bildern und die kunstgewerbliche Sprachform. In der hellen Morgenfrühe sind wir da, keiner wird uns hier den W e g vertreten, die Städte weit und die Felder nah, und die Lerchen, die Lerchen, die hören wir beten. 174 124

W a s diese Sprache schon an der Jugendbewegung verübte, den unstillbaren, vom Kapitalismus immer neu erzeugten Drang nach Natur und freier Bewegung in völkische Religiosität zu überführen, das leisteten Baumanns Lieder unter der Nazidiktatur und für sie. Aus der Sehnsucht, der Flucht in die Natur, die ihr Lebenselement ist, holen sie nicht nur Kultstimmung, sondern auch Anpassung ans militärische Marschieren und Gehorchen. Deutlich zutage tritt ihr faschistischer Bezug in Naturbildern, die sich 'kämpferisch' geben und sich gern an Vorstellungen vom germanisch-deutschen Krieger anlehnen: Von allen blauen Hügeln reitet der Tag ins Land, er reitet mit wehenden Zügeln, er reitet mit weiter Hand. Er rücket stolz zu Felde und schlägt die Nacht entzwei, er nimmt sie ganz gefangen und macht die Erde frei. [•••] Nun stößt seine blitzende Klinge der Morgen ins Firmament, entfaltet sein blaues Banner, darinnen die Sonne brennt. 175 Im Bilde des Reiters mit wehenden Zügeln und weiter Hand erkennt man Rilkesche Erlesenheit, allerdings in weit herabgekommenem Zustand. Dieser Lichtreiter ist eine Metamorphose des Cornets ins Kultisch-Allgemeine. Aber von pubertärer Erlösungs- und Todessehnsucht ist dies hier zum Unerotischen fortgeschritten. An dem Bild fällt das gleichsam geschlechtslos Jünglingshafte auf: Es sind Jugendstilgestalten, die man sich dabei vorstellen mag. Hier bestätigen sich unerwartet Beobachtungen Walter Benjamins: „Das Grundmotiv des Jugendstils ist die Verklärung der Unfruchtbarkeit. Der Leib wird vorzugsweise in den Formen gezeichnet, die der Geschlechtsreife vorhergehen. Dieser Gedanke ist mit dem der regressiven Auslegung der Technik zu verbinden. [ . . . ] Der Jugendstil [ . . . ] begriff sich nicht mehr als von der konkurrierenden Technik bedroht. Um so umfassender und um so aggressiver war die Kritik der Tech125

nik, die in ihm verborgen liegt. Ihr ist es im Grunde darum zu tun, die technische Entwicklung zu sistieren." 1 7 6 In der T a t ist dieses Liedwesen (welches das um 1900 Begonnene in den totalen Staat überführt hat) regressiv schon deshalb, weil die Lieder in keiner Weise für reale, durch die Produktion verknüpfte Kollektive, sondern nur für organisierte Sondergemeinschaften singbar sind. D e r Geist aber, in dem die Gemeinschaft sich festigt und bestätigt, ist wieder ein militärischer. E s wird kein Vertrauen auf die eigene Kraft erzeugt, sondern der Glauben an Siege, die so prompt eintreffen wie der Tagesanbruch nach der Nacht. Solches Siegbewußtsein und Bilder eines Reitens, das „die E r d e frei" macht, konnten sich damals allerdings nur zu einer politischen Tendenz vereinigen: zum Ritt nach Ostland. Dazu hat Baumann auch eine Reihe von Spielen und Chorwerken geschrieben. Sie alle umkleiden die geplante Expansion mit Romantik und Kunsthandwerk; gesichtslose Reiter, halb „Jungbauern", halb Ordensritter und auch wieder keines von beiden, bevölkern da eine ebenso unbestimmte Frühlingslandschaft und bereiten sich zum Aufbruch vor. D a s Thema taucht schon in Baumanns erstem Gedichtband auf, wird dort aber noch vergleichsweise ehrlich und ungeschickt behandelt. E i n Grenzstein ist gegen seinen Willen versetzt worden; nun liegt er mitten im Hof und zwingt sogar die Kühe zu undeutschem Handeln: Sie geben fremde Milch nun und fressen deutsches Gras wär auch mein Herz von Eisen, die Augen würden naß. Doch einmal wird er den „Leuten, die ihn dorthin gebannt", Meinung sagen, daß sie Verbrecher seien

die

und daß am Jüngsten Tage wohl kommt ihr Stündelein da schlägt er diesen Leuten den hohlen Schädel ein. 1 7 7 ' D i e Vorsehung' wird wieder einmal der große Alliierte sein. Bemerkenswert, daß die Brutalität immer noch mit christlichen Vorstellungsresten kaschiert wird. Wie schnell diese mitsamt aller Innerlichkeit aufgegeben werden, wenn das Ich im faschistischen Kollektiv 126

aufgeht, offenbart dann freilich das Lied Und heute gehört uns Deutschland ..., das zu recht als Inbegriff des nazistischen Massenliedes gilt und das bereits 1938, nach unverdächtigem Zeugnis, „straßauf und straßab von unseren Marschkolonnen gesungen" 178 wurde. Hans Baumanns erster Gedichtband war ein typisches Produkt von Begeisterung n a c h der Machtübernahme. Der „rote Krieg" schien gewonnen zu sein, die blutigen Hände erhielten Handschuhe, Idealismus konnte sich ausbreiten. Alle weiteren Werke bis 1945 - es sind viele, darunter auch klassizistische Dramen und Naturgedichte alten Stils - haben diesen verschämten Opportunismus, diesen Höhenflug über der Staatsbasis. Noch das letzte Produkt vor Kriegsende, 1944 als Sonderheft einer vom Autor herausgegebenen Schriftenreihe zur Truppenbetreuung erschienen, wahrte Geschmack und feine Gesinnung. Es hieß Der rote Totentanz und bediente sich der mittelalterlichen Tradition, um dem Regime Trost zu spenden. Den Holzschnitten und Begleitgedichten zufolge morden nicht Wehrmacht und SS in der Sowjetunion, sondern der Tod selber holt die Roten, die daran allein schuld sind. Man sieht dort z. B. einen wüst aussehenden Mann im Muschikkittel, eine Bombe in der Hand; der Tod umarmt ihn und weist ihm ein Ziel; dazu den Vers: D u Tod, der Rußlands Söhne morden heißt Die letzte Mine dein Geripp zerreißt Ähnliches wird dem „Flintenweib" in Aussicht gestellt, dessen Attribute der Galgen, Knute, Fuchtel, zerbrochener Hammer und zerspellte Sichel sind. Am Ende heißt es: Tränen auf Trümmern Blut auf Brachen Gram auf Gräbern Wo ist Gott? Zuckend im Frühlicht Öffnen sich Gräber Öffnen sich Herzen Liebe kehrt heim. 179 Wenig Gedichtetes der Kriegszeit ist so nichtswürdig wie dieser Feinsinn, der imstande ist, noch den Ermordeten und zu Ermordenden Liebe anzubieten, weil es mit seiner Macht zu Ende geht. Schon 127

sieht er sich nach Möglichkeiten des Weiterbestehens um; über pseudochristliche Brücken wird sich das faschistische Bewußtsein in die Nachkriegsideologie hinüberretten. Hans Baumanns erste Publikation nach dem Totentanz konnte erst 1948 erscheinen, wieder bei Eugen Diederichs, nur in Düsseldorf statt in Jena. Sie hieß: Das Kind und die Tiere. Legenden. In der ersten Geschichte wird ein Engel losgeschickt, für Christus ein Reittier zu suchen. Vergeblich streiten das Pferd Salomonis, der Bukephalus und der Hippogryph um die Ehre; der Engel geht an ihnen vorbei „bis zum Rande des Angers. Dort graste ein Esel, taub für den Lärm, noch der Disteln sich freuend": Dieser ist es. In einer anderen Legende wird erzählt, daß sich eine Eule aus Athen aufgemacht habe, die drei Weisen aus dem Morgenlande zu warnen, aber angesichts des Kindes zur Renegatin geworden und bei ihm geblieben sei. - Weisheit und Kunst haben abzudanken vorm Reich der Kindlichkeit und des Kunstgewerbes. Die einfachsten Anstandsbegriffe hätten einen Autor mit solcher Prätension zum Schweigen veranlassen müssen, wenn er nur etwas Gewissenserforschung auf sich und seine Taten verwendet hätte; statt dessen erklärt sich wiederum, wie 1933, die Einfalt gegen die Aufklärung, nur mit ein wenig anderen Worten. Bewahrt ist die repressive Haltung eines, der sich im Besitz des sicheren Glaubens weiß. Die Funktion seiner Schriften hat sich kaum verändert; das erforderte allerdings einen Stellungswechsel von der Verwurzelung im Volk ins Lager der im Glauben Geborgenen. Ohnedies war seine Gläubigkeit seit je von der durch Untertänigkeit und Repression gezeichneten Art, in der die religiösen Einzelheiten austauschbar sind. Wie weit das gute Gewissen des Autors reichte, dokumentiert eine 1950 im Möseler-Verlag, Wolfenbüttel, erschienene Auswahl. Dort fehlen die morschen Knochen und die ganze Jungbauerei, aber alle anderen, einst dem B D M teuren Lieder sind da. Wieder geht die helle Flöte, die Morgenfrühe ist immer noch unsere Zeit, der Tag reitet und die Hohe Nacht scheint, ein Feuer soll die Türangeln ausheben, alle Menschen packen und vornehmlich „jeden Müden hundertmal", soll bis ans Meer fliegen, hell springen und „alle Niedertracht" verzehren. Die zweifellos gut überlegte Auswahl läßt aber auch Rückschlüsse darauf zu, welche Bestandteile des faschistischen Ideologiekomplexes im Publikum unverdrängt erhalten blieben und eine vorerst noch wenig artikulierte Kriegsunschuldlüge aufzubauen halfen. 128

Denn Baumanns Lieder unterstützten wirksam die Meinung, daß jener nationalistische 'Idealismus' etwas vom Nationalsozialismus Unabhängiges und von ihm nur Mißbrauchtes gewesen sei. In einer eigenen oder zumindest vom Verfasser autorisierten Sprachregelung von 1959 stellen sie sich dar als Lieder, die Hans Baumann als Achtzehn- bis Zwanzigjähriger schrieb und komponierte und die zum Teil zeitverhaftet sind, zum weit größeren Teil aber Volksliedcharakter haben und nach 1945 in rund 200 Liederbüchern erschienen: für Schulen und Verbände, Diözesen und Gewerkschaften, Feuer- und Bundeswehr usw.180 Der Versuch, die Vergangenheit loszuwerden, führt, da er sich opportunistisch wieder auf den Erfolg beruft, nur um so tiefer in sie und in ihre Gegenwart hinein. Hans Baumann hat 1954, als Autor von Kinderbüchern neu etabliert, eine verschlüsselte Rechtfertigung vorgelegt, die eine entsprechende Art von Vergangenheitsbewältigung darbot: Steppensöhne. Vom Sieg über Dscbingis-Khan. Eine Rahmenhandlung, die das Zusammentreffen zweier verfeindeter Nachkommen Temudschins beschreibt, lenkt den Blick auf ihn und sein Heer zurück, „das keine Macht der Erde aufzuhalten" 181 vermochte. Dschingis-Khan ist ein Mann mit Führer-Charisma, der direkt mit dem Himmel verkehrt und die Priester ums Brot bringt, unwiderstehlich im Kampf, kriegerisch hart, aber gerecht und nicht unvernünftig, nur leider nicht gegen Betrug durch seine Unterführer gefeit. Den Schah Muhamed fällt er übers 'Dach der Welt' an und findet in ihm einen Feigling, den die Seinen verraten. Bei seinem Volk hingegen entscheidet Kriegerleistung alles, das Geld nichts; Seßhaftigkeit ist verpönt; die Gefangenen werden niedergemacht, weil man Korruption scheut. Die Gegenwelt dazu ist China. Da gibt es Reisbau, Großstädte, den Unterschied von arm und reich und eine Kultur der Umgangsformen; an China würde selbst Dschingis-Khan scheitern. Nun zeigt sich aber ein entsprechender Gegensatz neuerdings auch im Innern des Militärreiches. Einer der beiden Führernachkommen ist ein Mensch mit Gewissen, dem schon der erste Mord Skrupel erregt; er erweist sich als gläubig und aufrichtig, tierlieb, wissensdurstig usw., kurz: als weich, aber nicht schwach und wandert zu den Chinesen ab. Dort herrscht er weise und vermag es am Ende, seinen steppentreuen Bruder durch Güte zu versöhnen. Denn dessen Haß auf ihn war „eine Liebe, die enttäuscht wurde. [ . . . ] Oder eine Liebe, die für manches erblindet ist"182. 9

Härtung. Faschismus

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Mit diesem Modell von Versöhnung mündet der Roman in die westdeutsche Ideologie ein. Die aufgestellte Antithese ist offensichtlich auf das Gegensatzpaar militärisch-deutscher Sozialismus - westliche Demokratie bezogen, bildet also eine faschistische Polaritätskonstruktion nach, nur daß darin die Akzente anders gesetzt werden, als es vor 1945 geschah. Die einstigen Gegner werden auf Güte verpflichtet, da die Liebe zu ihnen nur enttäuscht wurde oder vielleicht sogar eine Zeitlang erblindet war. Güte erst wäre der wahre Sieg über den Welteroberer. Faschistisches Handeln wird ebensowenig begründet wie gerechtfertigt, sondern erscheint mitsamt dem Führerkult als natürliche Gegebenheit. Aber die Haltungsmodelle von Tapferkeit, Treue, Abenteuerlust leben ohne Kritik in bunten Episoden fort, während von China nur Exotisches referiert wird. Rechtfertigung und Entschuldigung aus dem Verständnis überwiegen noch immer; auch dieser Versuch läßt den Schluß zu, daß man ohne gesellschaftliche Einsicht und Kritik, nur durch Wechsel der Ideologie, niemals aus einem Nationalsozialisten zum Antifaschisten werden kann, selbst wenn man es selber glaubt. Denn um glaubhaft zu sein, müßte etwas von der Erkenntnis erscheinen, daß man mit solchem Ideologiewechsel wieder im öffentlichen Fahrwasser schwimmt, wieder der Macht untertänig ist, die das Alte mit ebenfalls gewandelten Methoden weiterführt; echter Antifaschismus hätte sich in der Kritik am Nachkriegsstaat zu bewähren. Im Jahre 1959 wurde der „in 25 Jahren zurückgelegte Weg" des Autors zum Gegenstand einer öffentlichen Affäre, die auf ihn ebenso viel nachteiliges Licht warf wie auf seine Umwelt. Die 'Freie Volksbühne' in Westberlin hatte ein unter Pseudonym (Hans Westrum) eingereichtes Stück Baumanns Im Zeichen der Fische mit dem Hauptmann-Preis für 1959 bedacht, wenig später aber die Verleihung abgesagt, nachdem der Ausschußvorsitzende den Namen des Verfassers erfahren hatte. Hans Baumann unterschrieb eine Erklärung, derzufolge er „mit Rücksicht auf die besondere Lage in Berlin auf eine öffentliche Verleihung des Preises verzichte unter der Bedingung der Umwandlung in ein Stipendium und der Empfehlung des Stückes an das Theater am Kurfürstendamm" 183 . Abgesehen davon, daß dieser Kaufpreis später nicht bezahlt wurde, bezeichnete er doch die Denkweise des Autors so gut wie das Dilemma der Preisrichter. Denn wenn „die besondere Lage in Berlin", also Rücksichten aufs Frontstadtrenommee und auf die öffentliche Meinung in der D D R , nicht gestatteten, einen ehemaligen nationalsozialistischen Liederdichter 130

auszuzeichnen, so mußte sie doch andererseits auch verbieten, diese Tatsache zuzugeben und ein Stück, das als für Westberlin günstig betrachtet wurde, n i c h t auszuzeichnen. Der Tagesspiegel empfahl daher auch im Nachhinein, in solchem Fall es dann doch lieber mit den Antifaschisten als mit den Antikommunisten zu verderben: Nun aber war diese Entscheidung nur vor dem Forum der Literatur, nicht aber vor dem der Biographie des Autors zu rechtfertigen. Die Jury aber hat sich auf Argumente zurückgezogen, die die Basis in Frage stellen, von der aus wir die Auszeichnung von Männern wie Pasternak und Quasimodo verteidigten. Sie hat - verschreckt, verängstigt und am eigenen Urteil irre geworden - die Politik über die Kunst gestellt. Sie hat damit dem Protest einen schlechten Dienst erwiesen, den wir tagtäglich gegen die Verquickung von Literatur und Politik in der Zone erheben.184 Diese dem Tagesspiegel besonders gut zu Gesicht stehende Trennung von Politik und Kunst war aber schon von den Preisrichtern desavouiert worden, als sie dem Drama bescheinigten, es „greife ein zeitnahes Problem auf und trete für Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und die Idee der Freiheit ein". Am Stück selber fand also keiner der Beteiligten etwas auszusetzen; anscheinend empfand man es als der „besonderen Lage in Berlin" ganz angemessen. Seine Fabel, die sich auf die Mauritiuslegende stützt, läßt sich wie folgt wiedergeben. Den Befehlen Diokletians gemäß, der aus blinder Furcht alle Christen umbringen läßt, wird in Helvetien die thebaische Legion niedergemacht, weil sie sich hinter ihren Obersten Mauritius stellt und sich weigert, den geforderten Eid abzulegen. Mauritius, der einst aus Opportunismus der neuen Lehre beigetreten war, wird zum Christen erst in der Stunde der Entscheidung; nun stellt er seine Wahrheit über alle Rücksichten auf sich und andere, treibt seine Geliebte in den Tod und tut nichts, seine Legion zu retten. Die Soldaten sind zwar überwiegend keine Christen, folgen aber ihrem schweigenden Befehlshaber. Der das Urteil über die Meuterer sprechen muß, ist ein alter Statthalter, Carus, der an nichts mehr glaubt; derjenige, der es einfordert und ausführen läßt, ist der Gesandte des Kaisers, Sejan, der beste Freund des Mauritius. - Fünf Jahre darauf erscheint Sejan wieder bei Carus, nun als Bote Konstantins: Der neue Kaiser holt aus dem Christentum seine Staatsräson und will die thebaische Legion kanonisieren lassen. Vorher sind die wenigen Überlebenden umgebracht worden. Diesen Kaiser haßt Sejan, weil durch 9*

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die Heiligsprechung der Meuterer seine Staatstat von einst zur Untat erniedrigt wird; er will ihn forträumen. Allerdings wird er von seinem Freund und Nachfolger im Kaiserdienst, einem blonden Befehlsanbeter aus Norden, schon beargwöhnt. Doch kommt es weder zum Mord noch zur Verhaftung: Carus zwingt den Sejan, G i f t zu trinken, und begibt sich seufzend wieder an sein mühseliges Alltagsgeschäft. Zweifellos hat der Autor einiges Technische gelernt, und sei es auch nur die Fähigkeit, wirkungsvolle Situationen aufzubauen. Der Ablauf kontrastiert Haltungen mit sich wandelnden Umständen und legt dadurch eine differenziertere Moralproblematik nahe. Nicht wird einfach standhaftes Christentum verherrlicht, vielmehr erscheint seine Befolgung gemäß dem Satz: „Niemand hat das Recht, sich wichtiger zu nehmen als die Wahrheit" 1 8 5 unter Aspekten von Menschlichkeit als bedenklich. Livia, die ihres Geliebten Erweckung nicht nachvollziehen kann, Heidin ganz und gar, liefert sich selber den Löwen aus, die Legion wird von ihrem Anführer in den Untergang gerissen. Freilich nur nach dem Willen des Autors; nichts im Stück erklärt ihre bedingungslose Gefolgschaftstreue. Ersichtlich ist die Fabel mühevoll auf eine Entscheidungssituation hin entwickelt, in der Humanität und Bekenntnis zur Wahrheit einander ausschließen. Ganz entsprechend wird im zweiten Teil Sejan so geführt, daß ihm der Satz „Niemand hat das Recht, Menschenleben wichtiger zu nehmen als die Freiheit" zum Verderben gereicht, nur mit noch waghalsigeren Mitteln. Denn diese Sprachröhre, die bislang für Rom und für den absoluten Staat getönt hat, wird nun plötzlich mit der Ehre des einzelnen und mit Freiheitsdurst beschickt, ohne dafür Eignung gezeigt zu haben. E s liegen überhaupt keine tragischen Kollisionen vor, sondern nur verneinte Haltungen, die durch einige Veranstaltungen des Autors mit tragischem Schimmer ausgestattet worden sind. D a s geschah offensichtlich mit der Tendenz, eine andere Gestalt als positiv erscheinen zu lassen: den Statthalter Carus. D e r hat unter dem Druck der Tatsachen die Legion des Hochverrats schuldig gesprochen und muß nun den Sejan verurteilen. Und zwar für dessen hypothetische, nur im Konjunktiv vorgetragene Absicht, seine Legion, wäre er ihrer nur gewiß, gegen den Kaiser und ins Verderben zu führen. Diesmal entschließt sich Carus zu einem Schritt, durch den er laut Vorwort des Verfassers „über sich hinauskommt": E r bringt den Empörer schon vorher um. So wie das Stück begann, so endet es auch; der glaubenslose alte Mann versucht dem Volk, das sich zu seinen Sprechstunden drängt, soviel alltägliche Hilfe wie möglich zu geben. D a s Ende ver132

wertet sicherlich Anregungen durch Dürrenmatt; derart soll die noch mögliche Menschlichkeit erscheinen. Doch ist das wahre Zentrum des Stückes ein ganz anderes als das vorgeschobene: E s ist die Unangreifbarkeit des Staates. Anstatt die realen Möglichkeiten von Humanität zu beschreiben, wird dem Opportunismus tragische Tiefe zugesprochen. Sinnvoll sind die Entscheidungssituationen nur unter der Voraussetzung, daß keiner gegen den Staat und die Macht etwas ausrichten kann, und erst auf Grund dieser stillschweigenden Voraussetzung erhält der Untertan seine Aureole. D i e Moral wird noch deutlicher vor einer Folie zeitgenössischer Analogien, die, wenn auch vielleicht nicht beabsichtigt, das Stück doch strukturieren. Diokletian kann für Hitler stehen, Konstantin für die bundesrepublikanische Offizialität, die das Christentum im Staatswappen führt und die Meuterer gegen Hitler zu ihren Märtyrern erklärt hat. Unter dieser Konstellation verkündet das Stück eine grundsätzliche, nicht aus der konkreten Lage begründete Abwehr von Bekennertum und Freiheitskampf und eine ausschließliche Rechtfertigung des loyalen Staatsdieners, der tut, was er tun muß, und rettet, was er retten kann. Zwar hat sich der Autor durch einiges abgesichert, unter anderem durch die Beigabe jenes blonden SS-Mannes, aber diesem hat er wie dem Sejan soviel Männlichkeit, Freundes- und Prinzipientreue mitgegeben, daß der Respekt gewährleistet ist. Auch das Bild vom Kapitalismus weist in die gleiche Richtung. Ein Tempelaufkäufer, Großhändler in veralteten Göttern, Vabalathus, wird durch Konstantin vernichtet, steht aber sogleich wieder auf in einem „Plutus", der mit neuen Göttern handelt: beide ewige Schmarotzer an der Macht, die Händler neben den Helden. Dieses Bild vom Bürgertum ist dem faschistischen verwandter als irgendeinem anderen. Die Anreicherung der Konstellation mit Tragik reproduziert nur das Dilemma, das die offizielle Ideologie an ihren Pflichten hat, einerseits Rechtsnachfolge des Dritten Reiches zu vertreten, andererseits zur Absicherung gegen dessen Untaten sich auf die Männer des 20. Juli 1944 berufen zu müssen. Dasjenige, was dabei unerwähnt und verdeckt bleibt, die Kontinuität des Staatskapitalismus, erscheint offener in Baumanns Drama als die unerschütterliche Macht des Staates. Wenn auch des Dichters Stellung zum Dritten Reich anders worden ist, bewahrt hat er sich seine damalige Aufgabe: abseits den Klassenkämpfen eine Kunst herzustellen, die nach Tendenz Form diese Kämpfe im Sinne der Macht dadurch unterstützt, 133

gevon und daß

sie sie geschmackvoll negiert. E r schreibt keine Lieder mit „Volksliedcharakter" mehr, doch ist ja auch die Volksgemeinschaft zur Zeit nicht aktuell. Bei klarer Siebt Leere Boote aus leerer Bucht treibend vom gestern gewesenen Wind: Netze verfließen im Nichteinholbaren, Segelschnee schmilzt in lockendem Licht. Im wiederentdeckten Eibengehölz fällen Fischer Boote für morgen.186 Die Formkonvention ist nicht mehr so offenkundig. Sicher hat der Dichter Modernes gelesen, Eich vielleicht, daher zerfließen Netze im Nichteinholbaren; doch ist Mörike noch gegenwärtig, verschandelt durch Stabreim („vom gestern gewesenen Tage"), der überhaupt im Wagnerton den deutsch-völkischen Geschmack anspricht. In modischer Verknappung lebt das Alte wieder auf, Bestätigung des Bestehenden und Kommenden, Herstellung eines freundlichen Betriebsklimas. Was Vergangenheit repräsentiert und sich leer treiben läßt man soll wohl an Baumanns kritische oder gar oppositionelle Zeitgenossen denken - löst sich auf im Licht, das der Autor verbreitet. Aber eine interessante Note gibt dem Ganzen doch das wiederentdeckte Eibengehölz, in dem die Fischer wider alle Bootsbauervernunft ihre Boote schlagen: Mit der Eibe, dem immergrünen Baum, betrieb man im Dritten Reich den Kult germanischen Auferstehens. Diese Baumannsche Wiederentdeckung mobilisiert schon unverwertbar geglaubte Bestände. Sein Eibengehölz bezeichnet einen auffallenden Punkt: Es ist einer von denen, wo die altfaschistische Konformität von der neuen berührt wird und mit hellem Optimismus in sie übergeht.

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Kulturpolitik und Ästhetik des deutschen Faschismus

Richtlinien 1933 In seiner Rede auf der „Kulturtagung des Reichsparteitages" am 1. September 1933 stellte Hitler dem deutschen V o l k „einen neuen Lebens-, Kultur- und Kunststil" in Aussicht, dem allerdings die gleiche „weltanschauliche Erneuerung und damit rassische Klärung" 1 vorausgehen müsse, die der Nationalsozialismus „auf fast sämtlichen Gebieten des völkischen Lebens" 2 erstrebe. „Weltanschauliche E r neuerung" war das A und O der ganzen Proklamation, mit der zum erstenmal so etwas wie ein Nazi-Kulturprogramm vor die Öffentlichkeit kam. An entsprechenden Stellen seiner Regierungserklärung vom 23. März 1933 hatte Hitler immer nur von „moralische [r] Sanierung an unserem Volkskörper" oder von „Voraussetzungen für eine wirklich tiefe, innere Religiosität" 3 gesprochen, als er „kulturelle" Aufgaben umriß, er hatte jedoch nirgends Zweifel daran gelassen, daß die Künste ausschließlich dienende Funktion zu erfüllen hätten. „Unser gesamtes Erziehungswesen - das Theater, der Film, Literatur, Presse, Rundfunk - sie werden als Mittel zu diesem Zwecke angesehen und demgemäß gewürdigt. Sie haben alle der Erhaltung der im Wesen unseres Volkstums liegenden Ewigkeitswerte zu dienen; die Kunst wird stets Ausdruck und Spiegel der Sehnsucht oder der Wirklichkeit einer Zeit sein." 4 Zwar sollten hier bereits, wie es in Kürze hieß, „Blut und Rasse wieder zur Quelle der künstlerischen Intuition" 5 werden, doch wenn schon einmal von der „weltanschaulichen Geschlossenheit des deutschen Volkskörpers" geredet wurde, war das lediglich auf die „Durchführung der positiven Aufgabe der Gewinnung des deutschen Arbeiters für den nationalen Staat", auf die „Herstellung einer wirklichen Volksgemeinschaft" zu beziehen 6 ; das Weltanschauungsprogramm hielt sich also noch im politischen Rahmen etwa der Harzburger Front 7 vom Oktober 1931.

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Im September 1933, nach erfolgter Aus- und Gleichschaltung auch der bürgerlichen Parteien, konnten Rücksichtnahmen auf den einstigen Deutschnationalen Verbündeten entfallen. Der „Führer" behauptete jetzt nicht nur, daß am 30. Januar allein die N S D A P „mit der politischen Führung des Reiches betraut" 8 worden sei, er verkündete auch ihre totale Diktatur auf ideologischem Gebiet. Zwischen dem 30. Januar und „Ende März", d. h. zwischen 'Machtergreifung' und 'Ermächtigungsgesetz', sei „die nationalsozialistische Revolution äußerlich abgeschlossen" worden, soweit es die Grundlagen der Macht betreffe. „Weltanschauungen aber sehen in der Erreichung der politischen Macht nur die Voraussetzung für den Beginn der Erfüllung ihrer eigentlichen Mission." 9 Indem der Redner den Nationalsozialismus generell zur „Weltanschauung" erhob, gab er die Anpassung an den Parlamentarismus, die 1920 zum Namen „Partei" für die „Bewegung" geführt hatte, auf - „es war damals schwer, den Leuten begreiflich zu machen, daß jede Bewegung, solange sie nicht den Sieg ihrer Ideen und damit ihr Ziel erreicht hat, Partei ist" 1 0 - , und er versuchte zugleich, einen neuartigen Totalitätsanspruch zu begründen. Denn Weltanschauung sei immer - in Hinsicht auf ihre führenden Vertreter - „der Ausgangspunkt für die Stellungnahme zu allen Erscheinungen und Vorgängen des Lebens und damit ein bindendes und verpflichtendes Gesetz für jedes Wirken". Kriterien wie „richtig oder falsch" kämen für sie nicht in Frage; höchstens könne man an den „natürlichen Gesetzen des organischen Lebens" 1 1 einen Maßstab finden. Was nun die „Mission" betraf, so blieb ihr Inhalt weithin im dunkeln. Fürs erste wurden nur innenpolitische Konsequenzen sichtbar. Als Ursprung und Ziel der Gesellschaft erschien ein Zustand, wo „das unverdorbene, primitive Volk die natürlichste Weltanschauung in seinem Instinkte" trage, wo es „automatisch", „unbewußt" und völlig einheitlich „zu allen Lebensforderungen" Stellung nehmen, also durchweg mit seiner Führung konform gehen würde. Hitlers anschließender Satz: „Die Gleichheit der Lebewesen einer bestimmten Art erspart damit förmlich die Aufstellung bindender Regeln und verpflichtender Gesetze", enthielt unausgesprochen ein Staatsideal. E s sah unbeschränkte Verfügungsgewalt auf der einen und vollkommene Rechtlosigkeit auf der anderen Seite vor; denn diesmal waren juristische Regeln und Gesetze gemeint, welche die Führung irgendwie hätten binden oder verpflichten können. Nur solange es im Volk abweichende Meinungen oder, auf Hitlerisch, „die physische Ver136

mengung innerlich verschiedenartiger Einzelwesen" gebe, so lange müsse eine Ideologie „als allgemein verpflichtende" aufgestellt werden, und ebenso lange bestehe auch der „ Z w a n g " , ihr mittels „ G e s e t z und Regel einen einheitlichen Ausdruck zu ermöglichen" 1 2 . (Letzteres bezog sich o f f e n b a r auf das im April erlassene G e s e t z Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und gab eine nachträgliche L e g i timation seiner Bestimmungen, denen zufolge sowohl B e a m t e „nichtarischer A b s t a m m u n g " [§ 3] als auch solche, „die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die G e w ä h r d a f ü r bieten, d a ß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten" [§ 4 ] , sofort aus dem Dienst zu entlassen waren. 1 3 ) Für den vollkommen faschisierten Staat wären jedoch weder solche Gesetze noch eine Verfassung oder ein geschriebenes Recht nötig. D i e „Weltanschauung" sollte gleichsam den Ü b e r b a u der faschistischen „Volksgemeinschaft" und ein Mittel zu deren Herstellung bieten. Mit H i l f e Undefinierter Beziehungen zwischen dem Grundwert „ R a s s e " und der Realität des deutschen Volkes, das aus „verschiedenen rassischen Substanzen" gemischt sei, wurde von Hitler zunächst eine K a d e r a u s w a h l begründet. „Indem er [der Nationalsozialismus G . H.] die ihrer innersten Veranlagung nach zu dieser Weltanschauung gehörenden Menschen erfaßt und in eine organische G e meinschaft bringt, wird er zur Partei derjenigen, die eigentlich [ ! ] ihrem Wesen nach einer bestimmten Rasse zuzusprechen sind." 1 ' 1 Mit dem Wort „ H e r o i s m u s " schließlich, das vor allem diese „innerste V e r a n l a g u n g " bezeichnete und auch zur Definition der „Weltanschauung" herangezogen wurde, kam etwas von den außenpolitischen Inhalten der „ M i s s i o n " ans Licht: D e r Nationalsozialismus bekennt sich damit zu einer heroischen Lehre der Wertung des Blutes, der Rasse und der Persönlichkeit sowie der ewigen Auslesegesetze und tritt somit in unüberbrückbare Gegensätze zur Weltanschauung der pazifistisch-internationalen D e m o k r a t i e und ihren Auswirkungen. 1 3 Unter die „Auswirkungen" waren die Versailler Verträge, der YoungPlan usw. zu zählen. E r s t beim weiteren F o r t g a n g der R e d e stellte sich heraus, warum solche G r u n d s ä t z e auf einer „Kulturtagung" ausgebreitet wurden. Im Programm „weltanschaulicher Erneuerung" war nämlich den K ü n sten - nur auf sie bezog sich „ K u l t u r " - eine unersetzbare Funktion zugedacht. „ D i e K u n s t " , hieß es, „ist eine erhabene und zum F a n a tismus verpflichtende Mission." 1 6 Bereits die bloße Haltung des 137

Kunstschaffenden wurde als Vorbild für den sonderbaren „Idealismus" gebraucht, den das Regime zu erziehen wünschte. Hitler setzte künstlerisches Ethos mit einem „Heldentum" gleich, dessen Wesen im Verzicht auf die einfachsten Menschenrechte und dessen Auftrag darin bestand, „den deutschen Menschen aus der Tiefe einer nur materialistischen Lebensauffassung" 17 herauszuheben. „Der Mensch, der zur Befriedigung und Ausfüllung seines Lebens nichts benötigt als Essen und Trinken, hat nie Verständnis besessen für den, der lieber am täglichen Brot kargt, um den Durst seiner Seele und den Hunger seines Geistes zu stillen." 18 Ein banales Bild des Genies, worin der geborene Künstler und der geborene Staatsmann zur Dekkung kamen, sollte die „dazu nicht Geborenen [ . . . ] zum mindesten in scheuen Respekt versetzen", wenn es sie schon nicht zur Nacheiferung bringen konnte. Es verstand sich anscheinend von selbst, daß die Fähigkeit dafür nur in bestimmten Rassen und selbst da nur bei wenigen Exemplaren, doch keinesfalls im Judentum („überhaupt ohne eigene künstlerisch produktive Fähigkeit" 19 ) anzutreffen war. So verband sich der absolute Herrschaftsanspruch pervers mit der Verweigerung grundlegender Menschenrechte. „Die Befriedigung der animalischen Bedürfnisse liegt im Wesen aller Menschen. Keine Art könnte daraus die besondere Berechtigung ableiten, andere zu führen oder gar zu beherrschen. Was den Menschen allein dafür auserwählt erscheinen lassen kann, ist die ersichtliche Fähigkeit, sich über das Primitive zu erheben und die gemeinen Züge des Lebens zu veredeln." 20 Heldische Veredlung gemeiner Züge, wie Hitler sie von der Kunst erwartete, besaß weiter den Auftrag, Grundwerte der „Weltanschauung" zu propagieren. Ohne daß es ausgesprochen wurde, stand dahinter das Bewußtsein, daß die irrationale Ideologie anders kaum anschaulich gemacht werden könne. Dem „Führer" ging es um Idole für die Masse und um Leitbilder für die zu züchtende Elite. „So wie aber zur Aufrechterhaltung jeder menschlichen Gesellschaft gewisse Prinzipien vertreten werden müssen ohne Rücksicht darauf, ob alle einzelnen sich damit einverstanden erklären, so muß das kulturelle Bild eines Volkes geformt werden nach seinen besten Bestandteilen und, dank ihrer Art, einzig dazu geborenen Trägerin [?] der Kultur." 21 Hitler verzichtete auf nähere Ausführungsbestimmungen, ließ es sich aber angelegen sein, wenigstens für die Bereiche der Plastik und Architektur, in denen er hauptsächlich verweilte, mit Nachdruck 138

das „Schönheitsideal der antiken Völker und Staaten" 22 hervorzuheben. „Und es ist daher kein Wunder, daß jedes politisch heroische Zeitalter in seiner Kunst sofort die Brücke sucht zu einer nicht minder heroischen Vergangenheit. Griechen und Römer werden dann plötzlich den Germanen so nahe, weil alle ihre Wurzeln in einet Urrasse zu suchen haben. [ . . . ] D a es aber besser ist, Gutes nachzuahmen, als neues Schlechtes zu produzieren, können die vorliegenden intuitiven Schöpfungen dieser Völker heute als Stil ohne Zweifel ihre erziehende und führende Mission erfüllen." 23 Vorläufig wurde bewußter Klassizismus empfohlen. Hitler hatte es nur deswegen eilig, seinen Künstlern Traditionswerte vorzulegen, weil er damit die Positivität seiner Kulturpolitik betonen und sie in Gegensatz zur vorausgegangenen Epoche stellen wollte. Es ist kein Zufall, daß das weltanschaulich verschwommenste Zeitalter in seiner liberalistischen Freizügigkeit - sprich: Unsicherheit - auch auf dem Gebiet des kulturellen Schaffens unsicher war. In knapp einem Jahrhundert wurden die Kunstleistungen der Völker und Weltanschauungen fast aller Zeiten durchprobiert und wieder abgelegt. In dem kubistisch-dadaistischen Primitivitätskult hat diese Unsicherheit endlich den einzig passenden, weil sicheren Ausdruck gefunden. Es ist dies die kulturelle Lebensäußerung des kulturlosen Bodensatzes der Nationen. Der Marxismus mündet nicht nur politisch, sondern auch kulturell zwangsläufig in den Nihilismus. 24 Die Feindbestimmung, die in keiner Führerrede fehlen durfte und hier nur besonders akzentuiert herauskam, stellte das Negativbild zur beabsichtigten Kunstlenkung dar. „Freizügigkeit" wurde nun durch verpflichtende Orientierungen, „Unsicherheit" durch vorgeschriebene Normen ersetzt; der sogenannte „Primitivitätskult" hatte dem Kult heroischer Ideale zu weichen; was hier „Nihilismus" hieß und dem „Marxismus" als Erben des „Liberalismus" zugerechnet wurde, sollte sich in bewußtem Verzicht auf Menschenglück und -würde verkehren. Alles aber ordnete sich einem obersten Zweck zu: das beherrschte Volk für die ihm zugedachte „Mission" reif zu machen. So undeutlich der Führer über die „Missionen" der Kunst, der Weltanschauung, des Nationalsozialismus immer redete, er gab doch zu erkennen, daß sie nicht nur in Dimensionen der Nationalgeschichte zu denken seien. „Es wird daher jedes große politische Zeitalter in der Weltgeschichte das Recht seines Daseins durch die sichtbarste Urkunde seines Werts sich ausstellen, die es gibt: durch seine kulturellen Leistungen." 25 139

D a s „politische Zeitalter" verwies auf mehr als bloß die Revision des Versailler Vertrages. Eher als Vorbereitung für einen gewalttätigen Einbruch in die Weltgeschichte war es zu verstehen, wenn Hitler seine Kulturrede mit der dröhnenden Aufforderung an die Künstler schloß: „ [ . . . ] da Torheit und Unrecht die W e l t zu beherrschen scheinen, [ • . . ] die stolzeste Verteidigung des deutschen Volkes mitzuübernehmen durch die deutsche Kunst". 2 6

Zur ideologiekritischen Metbode Hitlers „Kulturrede" wurde eingangs so ausführlich zitiert, weil sie einen Einstieg in das unübersichtliche Feld kultureller Theorien und Praktiken ermöglicht, das dem deutschen Faschismus eigen war und von ihm zu einem umfassenden Herrschaftsmittel ausgebaut wurde. Dieses Feld soll im folgenden nach seinen bestimmenden Linien untersucht werden. Gegenstand der Darstellung sind die wichtigsten Theorien, die im Gesamtbereich des deutschen Faschismus vor 1933 entwickelt und dann von der nationalsozialistischen Führung unter Modifikationen praktiziert wurden; weder sollen alle zum Faschismus gravitierenden Kunstlehren erfaßt, noch soll der Mechanismus praktischer Kunstlenkung ausführlich dargestellt werden. Was letztere anlangt, m u ß ich die Arbeiten von Strothmann, Hildegard Brenner oder Hubert Orlowski als bekannt voraussetzen, obwohl sie in der D D R nur wenigen Lesern zugänglich sind. 27 Mir kommt es vor allem darauf an, jenes kulturelle Führungskonzept, das die kulturpolitischen Maßnahmen und repräsentativen Kunstprodukte bestimmte, in seinem Zusammenhang mit der politischen Strategie und Taktik des Hitlerfaschismus herauszuarbeiten. Trotz dieser Einengung dürfen wohl auch Aufschlüsse f ü r Einzelgebiete der Faschismusforschung erwartet werden. Jede so geartete Untersuchung m u ß freilich, wie aus Hitlers Rede hervorgeht, früher oder später auf den Sachverhalt stoßen, d a ß der Komplex kultureller Anschauungen nicht nur in konkrete Machtpolitik, sondern auch in die tragende Ideologie, eben jene 'Weltanschauung', aufs engste eingepaßt war. Es ist daher unumgänglich, mit einer Kritik der zentralen politischen Ideologie zu beginnen. Für diese gilt nun das gleiche wie für den abhängigen Bereich der Kulturtheorie, d a ß nämlich die 'nationalsozialistischen' Anschauungen durch zahlreiche andere faschistischer Art vorbereitet, angeregt oder 140

direkt beeinflußt waren und teilweise auf diese zurückwirkten. Alle sich daraus ergebenden Abhängigkeiten festzustellen ist heute noch nicht möglich und wäre auch wenig sinnvoll; es dürfte genügen, den spezifisch nationalsozialistischen Komplex vor dem Hintergrund der gemeinfaschistischen Ideologien (wenigstens in Deutschland) zu profilieren und dabei in Fällen offenkundiger Abhängigkeit die Umwandlungen und Einpassungen ins System darzustellen. Ich hoffe damit, Fehler zu vermeiden, die man älteren marxistischen Kritiken und noch der größten unter ihnen, Lukács' Zerstörung der Vernunft, zu Recht vorwerfen kann: eine zu geistesgeschichtliche Linienziehung und die Begrenzung der untersuchten Linien auf den quasi philosophischen Bereich. Die Annahme, daß ein „Strom" des Irrationalismus „von Schelling [bzw. von Schopenhauer, Nietzsche u. a. - G. H.] zu Hitler geht", daß dieser Strom den „Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie" bezeichne, 23 ist zu einfach, zu monokausal konstruiert, und die Rückbeziehung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit verkennt allzusehr die konkreten politischen Konstellationen und Antriebsmomente. „Hitler und Rosenberg tragen alles, was über irrationellen Pessimismus von Nietzsche und Dilthey bis Heidegger und Jaspers auf den Lehrstühlen, in den intellektuellen Salons und Cafés gesprochen wurde, auf die Straße" 29 : Selbst wenn man die Tatsachen, daß Hitler Nietzsche vor Mein Kampf bestimmt nicht gelesen hatte, Houston Stewart Chamberlain ihn kurz und deutlich ablehnte (kein ethisches Vorbild! 30 ), Dietrich Eckart ihn für einen verrückten Nihilisten hielt 31 und Rosenberg ihm bei partiellen Anerkennungen doch die Prophetenrolle fürs „kommende Reich" 32 geradezu aberkannte, selbst wenn man solche Fakten als unwesentlich beiseite schiebt, weil es da indirekte Vermittlungen gegeben habe, müßten doch die Zusammenhänge etwa Rosenbergs mit der zaristischen Reaktion, Eckarts mit Freikorpsführern, Hitlers mit der Reichswehr und aller drei zusammen mit der bayrischen Konterrevolution für die Ideologiegeschichte mindestens ebenso relevant sein und bleiben. Lukács hat zudem „entschieden reaktionäre Denker, bei denen der Irrationalismus nicht den Mittelpunkt ihrer Gedankenwelt ausmacht, [ . . . ] Moeller van den Bruck usw. usw." 33 erklärtermaßen unbehandelt gelassen. Zu diesen „konservativen Faschismustheoretikern" liegt seit kurzem die erste umfassende, völlig aus dem Material gearbeitete Darstellung Joachim Petzolds vor, die alle direkten und indirekten Abhängigkeiten von den Spitzen der deutschen Monopolbourgeoisie genau nachweist.34 Allerdings hat sich 141

Petzold wiederum auf die unmittelbar politische Ideologie konzentriert, so daß andere Traditionslinien zurücktreten. Das Verhältnis der Nazis zu den jungkonservativen Theoretikern ist meines Erachtens zu weit auf Abhängigkeit reduziert. Gewiß ist es richtig, daß die Nazis ihre Hauptlehren durchweg von anderen bezogen und daß selbst Hitlers Mein Kampf so gut wie keinen konzeptionellen Gedanken enthielt, „der nicht schon bei reaktionären Ideologen vorgezeichnet gewesen wäre". Nur wird man in Anbetracht der Nazis nicht bei der Behauptung stehenbleiben dürfen, sie hätten nur die Gesellschaftstheorien der Jungkonservativen und diese bloß „simplifizierend" „vergröbernd" in ihre „primitive Agitation" übernommen,35 weil dies noch nicht die Tatsache erklärt, daß sie bei anfänglich viel geringerer materieller und geistiger Unterstützung durch die herrschende Klasse doch eine „Bewegung", ein eigenes Machtpotential auf die Beine brachten, das sie später zum Bündnispartner und Mandanten der Monopolbourgeoisie erst qualifizierte. Wenn man den Unterschied nur im Bereich der Massenagitation sucht, bleiben einige Probleme ungelöst. Zum einen: In der Zeit der ersten Erfolge und des wesentlich mit agitatorischen Mitteln erzielten Aufstiegs der Hitlerschen NSDAP in München, also etwa vom Herbst 1919 bis zum Winter 1920/21, waren die wichtigsten jungkonservativen Theorien weder ausgearbeitet noch bekannt genug, um als fertige Grundlage dienen zu können. Zum anderen belegen frühe Hitlerzeugnisse die geringe Bedeutung solcher Theoreme und die weitaus größere, ja entscheidende Rolle des „wissenschaftlichen Antisemitismus", der offenkundig eine Basis zur ideologischen Vereinigung mit Eckart und Rosenberg bildete. Auf den politischen Antisemitismus als integrierenden Teil einer konterrevolutionären Ideologie wird sich jede Kritik des Hitlerfaschismus konzentrieren müssen. Bereits in einem Brief vom 16. September 1919 hat Hitler den „Antisemitismus als politische Bewegung", den „Antisemitismus der Vernunft" zum Zentrum seiner Ansichten erklärt und eine Absicht kundgegeben, die sich bis zu seinem letzten Schriftstück nicht mehr ändern sollte: „Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." 36 Und dies, obwohl 1919 in der Öffentlichkeit „von einem planmäßigen Antisemitismus gar keine Rede sein"37 konnte und die Nazi-Agitation dadurch nicht erleichtert wurde. Wenn aber der Antisemitismus in der konterrevolutionären Münchener Gruppe eine so zentrale Rolle spielte, muß der Kreis „reak142

tionärer Ideologen", der Anregungen lieferte, mehr als die Jungkonservativen eingeschlossen haben, bei denen latente Judenfeindschaft sich nicht zu bestimmenden Ideologemen verdichtete. Die hier in Betracht kommenden „Sozialdarwinisten" und politischen Rassisten sind bei Lukäcs mit ein oder zwei Ausnahmen scharf gekennzeichnet worden, allerdings unter Absehen von den „deutschvölkischen" Parteien und Sekten. Hier wären detailliertere Untersuchungen nötig, schon um dem Begriff „völkisch" so genaue Konturen zu geben, daß er für die ideologiegeschichtliche Forschung besser verwendbar wird. In der vorliegenden Arbeit ist dies nur so weit möglich, als es die spezifisch nationalsozialistische Ideologie und deren Traditionsverhältnis betrifft. D a s Problem der Kritik spitzt sich mithin darauf zu, ob die nationalsozialistische „Weltanschauung" nur pragmatischen Charakter besaß oder ob sie so weit in sich geschlossen war, daß man von einem System mit eigenen Antriebsmomenten sprechen kann. Lukäcs hat Hitlers Ideologie „nichts weiter als ein äußerst geschicktes zynischraffiniertes Ausnützen" einer politischen Konstellation genannt und ihr jegliche „ideologische bona fides" abgesprochen. 38 Allerdings standen ihm für das betreffende, noch während des zweiten Weltkrieges geschriebene Kapitel nur die Gesprächsaufzeichnungen Hermann Rauschnings zur Verfügung, 3 9 deren Authentizität anzuzweifeln ist, weil Rauschning ein starkes persönliches Interesse daran hatte, Hitler auf eine „Revolution des Nihilismus" festzulegen/' 0 (So hat er auch dazu beigetragen, daß der grauenhafte Ernst des Hitlerschen Antisemitismus lange Zeit verkannt wurde.) Joachim Petzold, welcher den Stadtler, Moeller van den Bruck usw. zuspricht, „das vorgefundene propagandistische Material zu einem bestimmten ideologischen System verschmolzen" zu haben, 41 und bei einzelnen konstatiert, sie hätten ihre Gedanken selber ernst genommen, 42 scheint beides den Nazis nicht zugestehen zu wollen. Nun bedeutet es keine Abschwächung der faschistischen Gefahr, sondern im Gegenteil eine bessere Einsicht in sie, wenn man die Macht, die Ideologien über ihre Träger gewinnen können, realistisch zur Kenntnis nimmt. Alle agitatorischen Äußerungen der Nazihäupter führen zu dem Schluß, daß sie Endziele nicht als Mittel der Agitation, sondern die Agitation als Mittel für jene benutzten und daß sie den Einsatz genau kalkulierten. Hitlers Politik wäre ohne die Existenz eines abgeschlossenen und blutig ernst genommenen Systems auf weite Strecken nicht zu verstehen. Dessen extreme Scheuß143

lichkeit befreit die Kritik leider nicht von der Aufgabe, es bloßzulegen und seine Funktionen zu beschreiben. „Ideologie" wird dabei besser in jenem älteren und engeren Sinn genommen, der dem Wort in seiner napoleonischen Entstehungszeit eigen war43 und der auch von Marx und Engels mit Präzisierungen beibehalten wurde, um den Gegensatz ihrer Methode gegen „die ideologische der deutschen Philosophie"4'' um 1840 hervorzuheben. Engels definierte (im Brief an Mehring vom 14. Juli 1893): „Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein'"'5; oder ausführlicher (in Ludwig Feuerbach): „Ideologie, d. h. Beschäftigung mit selbständigen, sich unabhängig entwickelnden, nur ihren eigenen Gesetzen unterworfenen Wesenheiten" 46 ; und analog in den Vorarbeiten zum Anti-Dübring-. „ P r i n z i p i e n , Ausgangspunkte [ . . . ] aus dem Kopf konstruieren, von ihnen als Grundlage ausgehn und weiter daraus die Welt im Kopf rekonstruieren ist I d e o l o g i e , eine Ideologie, an der bisher auch jeder Materialismus gelitten [ . . .]" 47 Daß die „Weltanschauung" der Nazis Ideologie in solchem Sinne war, daß also hier die Welt nach bestimmten Prämissen „im Kopf rekonstruiert" wurde, steht ebenso außer Zweifel wie der Sachverhalt, daß sie zum Überbau eines expansiven Machtstaates mit staatsmonopolistischem Charakter gehörte. Allerdings läßt sich ihre Gesamtfunktion nicht auf die objektive Interessenvertretung des deutschen Imperialismus beschränken, weil in der Hitlerschen Politik ideologisch gesteuerte Handlungen mit Einsichten in die Chancen imperialistischer Politik sich ständig verschränkten, einander überlagerten oder auch - besonders seit 1938 - in Widerspruch zueinander treten konnten. Es gab da offenbar einen Überschuß an irrealen Vorstellungen, der aus Hitlers Frühzeit stammte. Die ideologischen Antriebsmotive waren im System, in jener „granitenen Weltanschauung" verfugt, die „der Führer" bei seinem Eintritt in die Politik bereits mitbrachte und die dann freilich durch die Lehren Gottfried Feders48, sowie durch jungkonservative Einflüsse (vermittelt durch Max Erwin von Scheubner-Richter)49 in gesellschaftspolitischer Richtung ausgebaut wurde. Aber ein Grundgefüge blieb bestehen. Es mußte auch bestehen bleiben, wenn „der Führer" sich nicht selber aufgeben wollte. Vor der demagogischen Wirkung nach außen ist zuerst die Funktion einer Ideologie für den Inhaber in Rechnung zu stellen. Wenn eine Lehre dazu beitragen kann, eine wachsende Menge von Sympathisierenden, 144

eine Anhängerschaft und eine zu allem entschlossene Terrortruppe zu versammeln, muß sie vorher den Verkünder durchdrungen haben. Vielleicht darf man sogar sagen, daß die charismatische Wirkung weniger vom Inhalt des Geredeten als von dem Eindruck abhing, daß der Redner an das, was er redete, selber 'fanatisch glaubte'. In den Köpfen Hitlers und einiger Getreuer erfüllte die Ideologie notwendige Aufgaben einer Selbstfanatisierung, durch welche die Träger sich erst auf die Höhe ihrer „Mission" brachten, den geschlagenen deutschen Imperialismus zur Neuaufnahme seines Kampfes um die Welt zu befähigen. Was Marx über das „Verhältnis der p o l i t i s c h e n und l i t e r a r i s c h e n V e r t r e t e r einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten", im Hinblick auf die Ideologen des Kleinbürgers schrieb, daß sie nämlich „im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener [der Kleinbürger - G . H.] nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben" 50 , - das gilt in vollem Umfang für das Subjekt Hitler im Verhältnis zu jenen 'reaktionärsten und chauvinistischsten Elementen des Finanzkapitals', die gleichsam das treibende Subjekt des deutschen Imperialismus bildeten. Nur daß dieser Mensch einen weiten Weg hatte und starke Antriebe brauchte, um sich in eine Position zu bringen, in der er als 'politischer Vertreter' überhaupt ernst zu nehmen war. Seine Weltanschauung half ihm den Weg zur Macht und dann freilich seiner Macht den Weg in den Untergang bereiten. Unter den vielen Unterschieden zwischen dem Bonapartismus von 1851 und dem Faschismus nach 1918, die eine theoretische Gleichsetzung verbieten, ist derjenige nicht unwesentlich, daß Hitler zwar wie Napoleon III. ein größenwahnsinniger Abenteurer war, doch nicht jener „ernsthafte Hanswurst, der, zur Macht gekommen [ . . . ] seine Komödie als Weltgeschichte nimmt" 51 , sondern vielmehr ein besessener Ideologe, der die Weltgeschichte mit seiner Person verknüpfte und noch den eigenen Untergang zur Götterdämmerung eines Volkes auszugestalten bereit war. Wenn für die folgenden Betrachtungen vor allem Hitlers Mein Kampf und seine Reden herangezogen werden, soll das selbstverständlich nicht heißen, daß der deutsche Faschismus auf seinen „Trommler" und „Führer" reduziert werden kann. Andererseits darf man aber auch nicht, aus Aversion gegen die im Westen gepflegte Personalisierung, die reale Macht, die Hitler auf seine Person ver10

Härtung, Faschismus

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einte, den autoritären Charakter seiner Herrschaft inner- und außerhalb der „Bewegung" und seine enorme initiatorische Rolle zu gering ansetzen. Beiden Gefahren entgeht die Kritik wohl am ehesten, wenn sie die Ideologeme möglichst konkret zur jeweiligen Praxis in Beziehung setzt. Was das grundsätzliche Verhältnis von Ideologie und politischer Taktik anlangt, so hat Hitler sich darüber in einer Rede vor den Kreisleitern der NSDAP am 29. April 1937 mit Deutlichkeit ausgelassen: „[. . .] das Endziel unserer ganzen Politik [in der Judenverfolgung - G. H.] ist uns ja allen ganz klar. E s handelt sich bei mir nur immer darum, keinen Schritt zu machen, den ich vielleicht wieder zurück machen muß, und keinen Schritt zu machen, der uns schadet. Wissen Sie, ich gehe immer an die äußerste Grenze des Wagnisses, aber auch nicht darüber hinaus. D a muß man nun die Nase haben, ungefähr zu riechen: 'Was kann ich noch machen, was kann ich nicht machen?'" 52 Das gleiche Prinzip befolgte der „Führer" auch in der Kulturpolitik. Selbst auf diesem weniger wichtigen Gebiet hat er das Heft nicht aus der Hand gelassen, alle großen Objekte sich direkt unterstellt und im übrigen sich vorbehalten, auf den „Kulturtagungen" der jährlichen Reichsparteitage die Linie anzugeben. Bezeichnenderweise nahm die Rede von 1933 auf den in Gang befindlichen Macht- und Richtungskampf zwischen Goebbels und Rosenberg nicht Bezug, vermied überhaupt Festlegungen zu offenen Fragen, deren Lösung die Praxis bringen würde. Diese Unbestimmtheit bei gleichzeitiger Orientierung auf eine - in entscheidenden Punkten ebenfalls unklar gehaltene - „Weltanschauungs"-Strategie hat damals auch scharfblikkende Kritiker über das dahinterstehende Machtkonzept zu täuschen vermocht. Karl Kraus schrieb in der Dritten Walpurgisnacht: „Und wie zeigte wieder die große prinzipielle Auseinandersetzung über Kunst und Kultur, die seit dem Tag von Nürnberg als grundlegend anerkannt wird, dieses Schürfen nach Erkenntnissen, das zugleich ein Ringen nach Formulierungen ist, wie sie der Ausdrucksweise der Gebildeten zukommen. Bezeichnend für diesen ehrlichen Drang ist vor allem die 'Synthese', deren Notwendigkeit der Führer so häufig betont, aber auch die 'Gegebenheit der rassischen Substanzen' wie deren 'bewußtes Herausstellen', ferner Fremdwörter und Termini wie 'organisch', 'Konglomerat', die 'Neuorientierung' [ . . . ] . Wenn es nicht von Goebbels aufgesetzt ist, so berührt es durch Unmittelbarkeit." 53 Diagnostiziert wurde hier an Hitlers Sprachgebrauch die Absicht, dem eigenen Wollen Legitimation durch Anschluß an wissenschaft146

liehe Ausdrucksformen zu geben, sowie der Dilettantismus des Versuchs; konstatiert an Zitaten aus Mein Kampf das „redliche Bemühen, in eigenen Gedankengängen zum Gemeinplatz zu gelangen"54. In der Tat war aber die Sprachverwendung durchweg auf rhetorische Massenwirkungen abgestellt. Selbst Mein Kampf ist nur eine Sammlung von Hitlerreden, welche in der Landsberger Haft vor den Getreuen zu Testzwecken -gehalten und anschließend durch Rudolf Heß redigiert wurden.55 Zahlreiche Fremdwörter, die hypotaktischen, Logik vortäuschenden Satzperioden, jene von Brecht beschriebenen Sprachposen des Argumentierenden,56 alles dies diente neben der Einfühlung auch der Einschüchterung des Zuhörers und bei der Kundgabe von Absichten gleichzeitig deren Verhüllung. Gewisse Endabsichten, wie sie die 'Neuordnung Europas', die 'Endlösung der Judenfrage' oder auch Hitlers 'Mission' als Religionsstifter betrafen, sind in Mein Kampf so formuliert, daß man den Redner nicht auf sie festlegen konnte. Immerhin gibt es auch verräterische Stellen, wo der Zusammenhang es erlaubte, daß dem Zwang sich auszusprechen Genüge ward, wo Wunsch und Wollen hervortreten. Auf solche Stellen wird die Untersuchung, da Sprachkritik nicht ihre Aufgabe ist, sich zu konzentrieren haben.

n

Weltanschauung'

Man kann das allen deutsch-faschistischen Lehren gemeinsame Substrat an Philosophie mit einer faschistischen Formel den „heroischvölkischen Realismus"57 nennen. Einen Realismus (im philosophischen Sinne) deswegen, weil durchweg eine Wirklichkeit vorausgesetzt wird, die unabhängig vom einzelnen Bewußtsein besteht. Unter Umgehen der Frage, wie diese Realität ihrem Wesen nach beschaffen sei, ob materiell oder immateriell, und ebenso der erkenntnistheoretischen, wie sie sich daher zum erkennenden Subjekt verhalte, wird lediglich dekretiert, daß die für das menschliche Dasein bestimmende Wirklichkeit über den philosophischen Gegensatz von Materie und Geist erhaben sei, da sie beides in sich vereine. Carl Schmitt-Dorotic hat 1919 solche generelle Rückwendung zur unkritischen Ontologie sehr deutlich formuliert, indem er sie freilich schon in die „Geistlage" der Zeit um 1800 hineindeutete: „Zwei neue diesseitige Realitäten traten auf und setzten eine neue Ontologie durch, ohne auf die Beendigung der erkenntniskritischen Diskussion 10*

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zu warten. Völlig irrational, wenn man sie mit der Logik der rationalistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts betrachtet, aber objektiv und evident in ihrer überindividuellen Geltung, beherrschten sie in realitate das Denken der Menschheit als die beiden neuen Demiurgen. Der erste war die Gemeinschaft, die in verschiedenen Gestalten als Volk, Gesellschaft, Menschheit, aber immer in derselben Funktion wirksam wurde." 5 8 (Der zweite Demiurg soll „die Geschichte" gewesen sein; allerdings erscheint sie selbst bei Schmitt in starker Abhängigkeit von der „Gemeinschaft".) Bei der Zurückverlegung dieses völkischen Realismus in die Revolutionszeit dürfte neben anderem der Wunsch mitgewirkt haben, Abhängigkeiten von der sogenannten Lebensphilosophie zu verwischen. In deren Entwicklung hatte das bei Dilthey noch als individuellhistorisches Erkenntnisobjekt aufgefaßte „Leben" immer mehr die Eigenschaften einer letzten Gegebenheit angenommen. So etwa bei Georg Simmel: „Das Leben scheint die äußerste Objektivität zu sein, zu der wir als seelische Subjekte unmittelbar vordringen können. Mit dem Leben stehen wir in der Mittelstellung zwischen dem Ich und der Idee, Subjekt und Objekt, Person und Kosmos." Deshalb sei auch die bisherige „Grundfrage der neueren Philosophie" in die folgende abzuändern: „Ist das Bewußtsein vom Leben oder das Leben vom Bewußtsein abhängig? [. . . ] Das Leben ist der höhere Begriff und die höhere Tatsächlichkeit über dem Bewußtsein; dieses ist jedenfalls Leben." 59 Der hier erreichte Irrationalismus wurde von den faschistischen Lehren aufgenommen und in Richtung auf völlige Regression aus der gesellschaftlichen in eine biologische Realität fortgesetzt. Wenn nämlich das „Leben" dem Bewußtsein über- und vorgeordnet ist, dann muß letzteres auch vom ersteren abhängig sein. Im Unterschied zum ontologischen Denken vor Kant, das die Welt als in sich vernünftig begriff, indem es sie auf eine unendliche Gottesvernunft zurückführte, wird der Seinsgrund nun in einer irrationalen Gegebenheit gesucht, welche vom rationalen Denken nicht zu erfassen sei, ja ihm fremd und feindlich entgegenstehe. Angemessen wären dem Bewußtsein 'anschauende' Haltungen und ein bloß operationelles Denken, das über seinen Ursprung und sein Ziel nicht reflektiert. „Entscheidend ist", schrieb Herbert Marcuse 1934, „daß hier vor die Autonomie der Vernunft als ihre prinzipielle (nicht bloß faktische) Schranke irrationale Gegebenheiten gelagert werden [ . . . ] , von denen die Vernunft kausal, funktional oder organisch abhängig ist u r d 148

bleibt. Gegenüber allen abschwächenden Versuchen kann nicht oft genug betont werden, daß eine solche Funktionalisierung der Vernunft bzw. des Menschen als vernünftigem Lebewesen die Kraft und Wirkung der Ratio an ihren Wurzeln vernichtet." 60 Es lag ganz auf dieser Linie, wenn Moeller van den Bruck sein Lebenswerk dahin zusammenfaßte, er habe „mit allen Waffen der Ratio gegen die Ratio" gekämpft, um „der mythischen Zukunft" 61 den Weg zu bereiten. Die faschistische Theorie machte sich den Irrationalismus der Lebensphilosophie zu eigen, verschwieg in der Regel aber die Quelle. Offensichtlich war 'Leben' ein zu allgemeiner, zu unkonkreter Begriff, um aktivistische Folgerungen abzuleiten. Man griff statt dessen im Bereich des 'Lebens' nach bestimmteren Entitäten, denen gleichwohl der Schimmer des 'Natürlichen' und 'Organischen' anhängt; „es ist die Natur, die Eigenart des Volkes (der Völker) als natürliche Gegebenheit und historische Gewordenheit" 62 , was nach jungkonservativer Auffassung Tun und Denken der Menschen bedingen soll. Dieser „völkische" Realismus ist als Gesellschaftstheorie erst 1918/19 wenn nicht entstanden, so doch hervorgetreten, als der herkömmliche Nationalismus nicht mehr ausreichte. Zwar sind 'Volk' und 'Nation' eng benachbarte, auch im faschistischen Sprachgebrauch einander überlappende Begriffe, 'Volk' hebt jedoch stärker die stämmischen, 'natürlichen' Gemeinsamkeiten hervor als 'Nation', welchem Fremdwort mehr Bezugnahme auf staatliche Traditionen anhaftet. Im Unterschied zu Barrés und der Action Française oder selbst zum Faschismus Mussolinis, der sich auf das altrömische Imperium berufen konnte, verfügte der deutsche Faschismus nicht über feste, allgemein vertraute nationalstaatliche Leitbilder. Das mittelalterliche Reich der Hohenstaufen kam wegen seiner Italienpolitik nicht recht in Frage, das habsburgische nicht als Vielvölkerstaat. 1918 war mit dem Zweiten Kaiserreich, auf das sich die 'groß'- und 'alldeutschen' Pläne gestützt hatten, die letzte historische Bezugsgröße verschwunden. In dieser Situation bildete 'Volk' einen günstigen Sammelbegriff, der die 'Volksdeutschen' sowohl in Österreich als auch in den seit Versailles abgetrennten Gebieten umfaßte und sich deswegen für revanchistische Absichten empfahl. Außerdem ließen sich an die Vorstellung des Volkes Ideen über dessen arteigene Gesellschafts- und Staatsstruktur anknüpfen. 'Volk' fungiert in der konservativ-faschistischen Theorie als die ursprüngliche Ganzheit und oberste Realität, die vor aller gesellschaftlichen Differenzierung in Klassen, Schichten usw. liege und deshalb weder 149

die Begriffe noch den Gegensatz von Individuum und Masse enthalte. Wenn politische und soziale Zerrissenheit auftritt, dann als eine von außen eingedrungene geistige Erkrankung des Volkskörpers; der Bazillenträger heißt in der Regel „Liberalismus". Moeller van den Bruck erblickte dessen erste Siege dort, „wo sich das Individuum den mittelalterlichen Bindungen entrang" 6 3 . Das Feindbild meinte nicht den wirklichen Liberalismus, also die Gesellschaftstheorie des vormonopolistischen Industriebürgertums, sondern eine daraus bis zur Unkenntlichkeit abgeleitete 'Weltanschauung', die mit jenem nur die allgemeinsten Elemente gemein hat: Rationalität, Individualismus, Anschauung der Gesellschaft als eines selbstregulierenden Systems und anderes mehr. D i e auffällige Ideologisierung hatte ihren Grund. So konnte das, was der rechtsradikalen u n d der liberalistischen Theorie gemeinsam war, nämlich die Beibehaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln, mit Schweigen übergangen und statt dessen der wirkliche Gegner beider, der marxistische Sozialismus, als Fortsetzer des „Liberalismus" in dieselbe Feindfront eingereiht werden. D e r Kampf gegen die Kriegsfolgen, Versailler Diktat und Weimarer Demokratie, dehnte sich auf Feinde und Störfaktoren des expansiven Imperialismus aus, die ihn an der Erreichung seiner Kriegsziele gehindert hätten. Zugleich erhielten die Tendenzen zum staatsmonopolistischen Kapitalismus in der Lehre von der 'Gemeinschaft' und vom 'Staat als Selbstzweck' ihr ideologisches Korrelat. In dem während des Weltkrieges aufgekommenen Schlagwort vom „deutschen Sozialismus" faßte auch Moeller van den Bruck „das Problem einer neuen Weltordnung zusammen, die nach dem Willen der Weltgeschichte berufen ist, im Zeitalter der Technik, der Überbevölkerung und des von allen Völkern verlorenen Weltkrieges die Lebensordnungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die Demokratie, den Liberalismus und den Parlamentarismus abzulösen". „Jedes Volk hat seinen eigenen Sozialismus. [ . . . ] D e r Bolschewismus war russisch. Und er war nur russisch [ . . . ] W i r verstehen unter deutschem Sozialismus vielmehr eine körperschaftliche Auffassung von Staat und Wirtschaft, die vielleicht revolutionär durchgesetzt werden muß, aber alsdann konservativ gebunden sein wird. Verwurzelung, Staffelung, Gliederung [ . . . ] nicht atomistisch [ . . . ] organisch [ . . . ] durchaus dualistisch und polar": An diesen Ideologemen läßt sich hinreichend die „konservativ-revolutionäre" Funktion des organizistisch gedeuteten Volksbegriffs ablesen, die darauf hinauslief, die Arbeiterbewegung aufs Haupt zu schlagen,

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den Klassenkampf abzuschaffen und den Klassengegensatz zu konservieren. Was unter „dualistisch und polar" zu verstehen sei, erläuterte der Autor sofort durch einen Hinweis auf den „Führergedanke [n] einer neuen Jugend" 64 . Eine von den Volksangehörigen zu erwartende 'heroische' Haltung folgt aus den jungkonservativen Lehren unmittelbar, wenn auch der „heroische Realismus" vornehmlich von militärfaschistischen Theoretikern entwickelt wurde. Als Schlagwort vielleicht von Werner Best geprägt, erschien er 1930 mehrfach in Ernst Jüngers Sammelband Krieg und Krieger.65 Die schärfste Fassung erhielt er im politischen Existenzialismus des Staatsrechtlers Carl Schmitt-Dorotic. Schmitt zufolge steht jedes menschliche Dasein unter unabänderlichen, 'seinsgemäßen' Sachverhalten, deren eingreifendster das Freund-und-FeindVerhältnis zwischen staatlichen Einheiten darstelle; die wichtigste existentielle Menschenbeziehung sei der Krieg. 'Volk' und 'Volkszugehörigkeit', die im allgemeinen mit Hilfe des irrationalistischen 'Naturalismus' abgeleitet wurden, konnten leicht in den Rang eines solchen 'Existenzials' aufsteigen; auch Schmitt meinte, daß „der stärkere Mythos [als jeder soziale - G. H.] im Nationalen liegt" 66 . Ausschlaggebend ist bei allen „heroischen" Lehren die grundsätzliche, nicht nur auf den Kriegszustand bezogene Entwertung der materiellen Sphäre menschlichen Daseins. Ihre Funktion hat sie im Kampf gegen den „Materialismus", den man als „niedriges" Verlangen nach persönlichem Glück, Liebe, Essen und Trinken verteufelt und mit dem man vor allem den marxistischen realen Humanismus zu treffen sucht. Folgerichtig predigt der „heroische Realismus" eine streng innerweltliche Askese. Sein Ideal ist der Mensch, der sein ganzes Dasein unter die Idee des 'Dienstes' stellt, der sich jederzeit fraglos 'einsetzt' und opfert, gehorsam den Befehlen mythischer Befehlshaber, und dies alles nicht seines irdischen oder überirdischen Heils wegen, sondern weil die Mächte, 'aus' denen er lebt, es so wollen. Wie in seiner Erkenntnistheorie läuft der „heroischvölkische Realismus" in seiner Ethik auf äußerste Zweideutigkeit hinaus; denn er lehrt einen absoluten 'Idealismus', der jedoch ohne Sinn und Verstand gesetzmäßig aus der 'Natur', aus dem 'Leben' hervorgehen soll. Die „nationalsozialistische Weltanschauung" enthielt die prä- und profaschistischen Ideologeme in weit herabgekommenem Zustand, d. h. 151

nur mehr als D o g m e n , die ohne die geringste Bezugnahme auf philosophische Fragestellungen vertreten wurden. Versuche zu einer pseudophilosophischen Darstellung sind - durch Baeumler, Krieck u. a. - erst nach 1933 unternommen worden. Hitler und nach ihm Rosenberg benutzten, wenn sie eine „Weltanschauung" verkündeten, die durch Houston Stewart Chamberlain eröffnete Möglichkeit, hemmungsloses Dogmatisieren als ganzheitliches D e n k e n auszugeben. „W e l t a n s c h a u u n g habe ich statt Philosophie gesetzt, denn dieses griechische 'Weisheit liebend' ist eine traurig blasse und kalte Vokabel, und gerade hier handelt es sich um Farbe und Glut [ . . . ] U n d weil dem so ist, kommt es für den verhältnismässigen Wert einer Weltanschauung mehr auf die Sehkraft als auf die abstrakte Denkkraft an, mehr auf die Richtigkeit der Perspektive, auf die Lebhaftigkeit des Bildes, auf dessen k ü n s t l e r i s c h e Eigenschaften (wenn ich mich so ausdrücken darf) als auf die Menge des Geschauten." 6 7 A l l e faschistischen Theorien beruhten auf dogmatischen Voraussetzungen. D o c h innerhalb der Dogmatik gab es spezifische Unterschiede zwischen nazistischen und konservativ-faschistischen Lehren, und eben diese differentiae spezificae sind es, worauf die größere ideologische Schlagkraft der 'Bewegung' sich zurückführen läßt. In der 33er Kulturrede nannte Hitler seine Weltanschauung eine „heroische Lehre der Wertung des Blutes, der Rasse und der Persönlichkeit sowie der ewigen Auslesegesetze". D a s ist zwar schlechtes Deutsch in jedem Wort, doch daneben eine brauchbare Zusammenfassung dessen, was in den 'Weltanschauungs'Kapiteln von Mein Kampf (besonders 1.11 und I I . l ) als Lehre verkündet worden war. - Auffällig ist zunächst, daß in der Formel ebenso wie im 25-Punkte-Programm das Wort 'völkisch' nicht vorkommt. Bei programmatischen Anlässen wurde es seiner „begrifflichefn] Unbegrenztheit" 6 8 wegen erklärtermaßen vermieden, da es dem Anhänger noch zuviel „Freigabe seines individuellen Denkens und Handelns bedeuten" 6 9 konnte. Hitler identifizierte das Losungswort nicht ohne Grund mit jenen seit etwa 1875 aufgekommenen „deutschvölkischen" Sekten, Parteien oder Trutzbünden, deren ideologische Basis der Antisemitismus war und von denen er seine Partei, nach Herkunft und ursprünglichem Programm ihnen ganz gleichartig, bewußt abheben wollte. D e n n diese Splittergruppen, mehr von „religiösen Reformatoren auf altgermanischer Grundlage" als von Politikern geleitet, hätten so deutlich „den Wahrheitsbeweis für die eigene 152

Unfähigkeit in vierzigjähriger Tätigkeit erbracht", daß eine Bewegung, die auf „die breite Masse" spekulierte, mit ihnen nichts anfangen könne - es sei denn, jene „völkischen" Vereinsgründer unterwürfen sich ein für allemal einer autoritären politischen Führung. 70 Dementsprechend wurde im Kampfbuch Julius Streicher, der mit seiner in Franken ansässigen Deutsch-sozialen Arbeiterpartei eingeschwenkt war, ausdrücklich gelobt, wohingegen mit den beschimpften „völkischen Ahasveren" Ludendorff und vor allem Artur Dinter gemeint waren, die während Hitlers Haft die Verschmelzung der N S D A P mit der in Thüringen behausten Deutschvölkischen Freiheitspartei betrieben. 71 E s war auch eine Lehre aus solchen Vorgängen, wenn bei und nach der 1925 erfolgenden Neugründung der N S D A P die p o l i t i s c h e n Programmpunkte stärker akzentuiert und die Nähe zu den Jungkonservativen mehr betont wurde, als das in der ersten N S D A P der Fall gewesen war. Doch der politische Gebrauch des Wortes 'völkisch', wie er auf der Linie jungkonservativer Programmschriften lag, kam dabei nicht in Betracht. E r bot noch zu viele Ansatzpunkte für historisches Denken und für Objektivität anderen Völkern gegenüber; ganz unannehmbar war die grundsätzliche Ablehnung der „alten" westlichen Nationen (unter Einschluß Englands) und die positive Bewertung des russischen Volkstums ä la Dostojewski, dessen Schriften wie nichts sonst Moeller van den Bruck angeregt hatten. Für die Nazi-Ideologie durfte 'Volk' kein oberster Wert sein. Über solche Konstruktionen war man hinaus, weil man längst weiter zurück ins Ungeschichtliche gegriffen hatte und als ursprüngliche Realität jene „rassischen Urelemente" ansetzte, die sich schlechterdings jeder Nachprüfbarkeit entzogen. Sicher haben konservative Faschisten die „Haltlosigkeit und Zweischneidigkeit" 72 dieses Rassismus durchschaut, aber was machte das schon, da eben auf solchen Eigenschaften sich die uneinnehmbare Burg des Wahngebildes erhob! Mit den hier angelegten Manipulationsmitteln konnten die des „Politischen Kollegs" bei weitem nicht wetteifern. „Man darf sich nicht durch Verschiedenheiten der einzelnen Völker die größere Rassengemeinschaft zerreißen lassen. Der K a m p f , der heute tobt, geht um ganz große Ziele: eine Kultur kämpft um ihr Dasein, die Jahrtausende in sich verbindet und Griechen- und Germanentum gemeinsam umschließt." 73 Dahinter verbarg sich im wesentlichen die Chamberlainsche Geschichtskonstruktion - aus der arischen ( = indoeuropäischen) Stammfamilie seien durch Vermischun153

gen inner- oder außerhalb und damit durch Höher- oder Niederzüchtung auf der einen Seite die „Germanen" (ursprünglich eine Einheit aus Kelten, Urslawen und den Germanen der Tacitus-Zeit) und weiter die heutigen Nordeuropäer entstanden, auf der anderen Seite im Orient und im Mittelmeerraum mehr oder minder „bastardisierte" Völkerschaften bis hin zum vorderasiatischen „Völkerchaos", vor dessen Hintergrund sich übrigens das Judentum als reingehaltene Rasse abhebe - , doch diese Konstruktion auf ein Schema reduziert, wo zwischen der völlig mythisierten Urrasse und den gegenwärtigen Völkern jede wissenschaftlich begründete Vermittlung ausscheidet. So konnte man die letzten Reste geschichtlichen Denkens verschwinden machen. Selbstverständlich rechneten die Nazis in ihrer Politik mit Nationen und Völkern als historischen Gegebenheiten; aber ihre Ideologie gebrauchte 'Volk' und 'Völker' als verfügbare Größen, deren 'rassenmäßige Bewertung' je nach den Umständen vorzunehmen war. (Im Gegensatz zur ernsthaften Wissenschaft von den Menschenrassen, die nur mit großen Einheiten rechnet,74 wollte man etwa die Zusammensetzung des deutschen Volkes bis ins einzelne bestimmen, ohne sich schon über die Zahl der beteiligten „Rassen" einigen zu können; Rosenberg setzte autoritativ die Zahl fünf fest.) Seinen fürchterlichsten Sinn gewann der ganze Humbug aber erst dadurch, daß er sich, wie Hitler offen aussprach, mit einer durchgehenden „Wertung des Blutes, der Rasse" verband. 'Blut* und .Rasse' scheinen hier identische Formeln zu sein, sind es aber nicht der Funktion nach. Denn 'Blut' betont die äußere, biologische und physiognomische Seite der Sache, während 'Rasse' mit geistigen Wertvorstellungen beladen werden kann, auf welche die 'Wertung' sich dann beruft. Ihr Kernpunkt ist jene von Chamberlain beiläufig erfundene und durch Rosenberg zum Systempfeiler ausgeformte „Rassenseele"75, deren manipulatorische Möglichkeiten auch Hitler gern in Anspruch nahm, etwa wenn er für seine Kaderelite „innerste Veranlagungen", die „eigentlich" Rasseneigentümlichkeiten seien, zur Bedingung machte. Das ideologische System schließt sich mit den „ewigen Auslesegesetzen" vollends gegen Wissenschaftlichkeit ab, obwohl gerade sie einen betont wissenschaftlichen Anstrich haben. Mein Kampf leitet sie her aus der „inneren Abgeschlossenheit der Arten sämtlicher Lebewesen dieser Erde" und aus dem ebenso frech behaupteten „Willen der Natur zur Höherzüchtung des Lebens überhaupt", wobei jedoch „die Voraussetzung hierzu [ . . . ] nicht im Verbinden von Höher154

und Minderwertigem, sondern im restlosen Siege des ersteren" liegen soll. 76 Damit wäre denn auch der „Heroismus" biologisch begründet. Nur hat das alles mit der biologischen Realität nichts zu tun; zwei darwinistisch klingende Formeln sind ihr wie der Gesellschaft einfach aufgezwungen worden. Nicht einmal bei der Mehrzahl der seit 1875 auftretenden 'Sozialdarwinisten', welche die gesellschaftlichen Verhältnisse als biologische interpretierten und für 'Auslese' oder 'Höherzüchtung' eintraten, geschweige bei Darwin selbst hat die Vorstellung Raum, daß die einander verwandten Arten eines Lebensraumes ewig höher- oder minderwertig seien und daß z w i s c h e n i h n e n der Daseinskampf mittels Zuchtwahl geführt werde. Hitlers alberne Beispiele: „Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin [ . . . ] der Wolf zur Wölfin usw." 77 sollen nur die These von der „Abgeschlossenheit" belegen; sobald die Rede auf den Hauptpunkt kommt, hört das Analogisieren mit einem Schlage auf und statt der Natur wird „geschichtliche Erfahrung" bemüht: „Sie zeigt in erschreckender Deutlichkeit, daß bei jeder Blutsvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern als Ergebnis das Ende des Kulturträgers herauskam." 78 Verwandlung alles geschichtlichen Geschehens in einen übergeschichtlichen „Rassenkampf" 79 ist der Sinn der „heroischen Lehre". In den Köpfen der Nazis hatte dieses Phantom eine so beherrschende Stelle inne, daß es zum Zentrum ihrer weltumfassenden Ideologie werden konnte. Dazu war freilich weitere Vereinfachung nötig. „Alles was wir heute auf dieser Erde bewundern - Wissenschaft und Kunst, Technik und Erfindungen - , ist nur das schöpferische Produkt weniger Völker und vielleicht ursprünglich e i n e r Rasse": „des Ariers". 80 Das „vielleicht" dieses ungeheuerlichen Satzes besitzt lediglich Einführungswert und spielt hernach keine Rolle mehr; in der Tat sollten sämtliche Kulturleistungen mit der arischen Rasse identifiziert werden. Deren Haupteigenschaft nannte Hitler „Idealismus" und wollte „darunter nur die Aufopferungsfähigkeit des einzelnen für die Gesamtheit" 81 verstanden wissen, also eine existenzielle Dienstbereitschaft, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecke. Besonders verräterisch ist die Bemerkung, daß der Arier unter Arbeit „keineswegs eine Tätigkeit zum Lebenserhalt an sich versteht, sondern nur ein Schaffen, das nicht den Interessen der Allgemeinheit widerspricht" 82 . Offensichtlich zeigte die positive Rasse das in den Mythos projizierte Ideal eines Staatsvolks, wie es sich der „Führer" nur wünschen konnte. „Wahrer Idealismus [ . . . ] allein führt die Menschen zur freiwilligen 155

Anerkennung des Vorrechts der Kraft und der Stärke und läßt sie so zu einem Stäubchen jener Ordnung werden, die das ganze Universum formt und bildet." 8 3 Durch solchen Salto wäre endlich noch „das aristokratische Prinzip der Natur" ins System eingebracht und die Wertung der „Persönlichkeit" begründet. Eben weil der Arier der Größte ist, unterwirft er sich bereitwillig der geborenen Autorität aus seinem Stamm. Daher kann der arische Satz auch so lauten: „Was wir an materiellen Erfindungen um uns sehen, ist alles das Ergebnis der schöpferischen Kraft und Fähigkeit der einzelnen Person."8/' Doch sollte das nur innerhalb der positiven Rasse gelten; alle übrigen konnten als höchstens „kulturtragende" (wenn sie unter der Faust der einzig „kulturschöpferischen" stehen) dem Ideologen gleichgültig sein, - mit einer einzigen, „kulturzerstörerischen" Ausnahme: „Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude." 8 5 „Der Jude" des Nationalsozialismus ist ein parasitisches Rassensubjekt ohne „Idealismus" und Glauben, triebhaft eigennützig, intellektuell begabt und deshalb zum Zusammenhalt mit seinesgleichen geneigt, wenn es keine Opfer kostet, grundsätzlich antinational, sogar an einem eigenen, „räumlich begrenzten" 86 Staat nicht interessiert, kurz: das Negativbild des gewünschten Untertanen und ein Zerrbild des internationalen Sozialisten. Mit der Polarisierung des „Rassenkampfes" auf den Gegensatz von „Arier" und „Jude", mit dieser Fassung der existenzialistischen Feind-Verhältnisses, erreichte das System eine Abgeschlossenheit, die es gegen alle Einwände logischer, historischer oder naturwissenschaftlicher Art unzugänglich machte. Man kann den Gedankenstrudel, der jedes Gegenargument in seinen Abgrund reißt, deutlich an der Weise erkennen, wie Hitler die prinzipielle Gleichsetzung von Kapitalisten und Sozialisten, die ja schon vor ihm im Schwange war, nun mit Hilfe seines „Juden" vornahm: Während sich das Bürgertum um diese so schwerwiegende Frage überhaupt nicht kümmert, sondern gleichgültig die Dinge laufen läßt, erfaßt der Jude die unübersehbare Möglichkeit, die sich hier für die Zukunft bietet, und indem er auf der einen Seite die kapitalistischen Methoden der Menschenausbeutung bis zur letzten Konsequenz organisiert, macht er sich an die Opfer seines Geistes und Waltens selber heran und wird in kurzer Zeit schon der Führer ihres Kampfes gegen sich selbst. Das heißt freilich, nur bildlich gesprochen, 'gegen sich selbst'; denn der große Meister im Lügen versteht es, sich wie immer als den Reinen erscheinen zu lassen und die Schuld den anderen aufzubürden. 87 156

In der Klitterung einer allgemeinen Nationalgeschichte, die zum Abschluß des Volk und Rasse überschriebenen Kapitels die Niederlage von 1918 erklären soll, ist der jüdischen Aktivität buchstäblich jeder Schritt zugeschoben, der die „Gemeinschaft" von einem ursprünglichen Idealzustand - mit „Kreislauf der nationalen Produktion", „Grundlagen einer persönlichen Besitzerschaft"88 und autoritärer Staatsgewalt - immer weiter entfernt haben soll. Das Bild heiler Zustände läßt dabei erkennen, wo man den subjektiven Ursprung der Hitlerschen Gesellschaftsanschauung zu suchen hat: weniger beim Sozialcharakter des Kleinbürgers denn des Staatsbeamten, der sich als Sachwalter des Bestehenden fühlt. Dem entsprach die unbedingte Anerkennung der gegebenen Eigentumsverhältnisse und die vollkommene Verachtung der „breiten Masse", die nur als Objekt von Zucht und Demagogie gedacht war. Freilich wurde das 'Bestehende' hier, im Unterschied zur konservativen Anschauung, in einer „völkischen Gemeinschaft" gesehen, welche als Gemeinschaft keinerlei Gegensätze in sich habe und Führer wie Geführte unter dem selben mythischen Willen vereine. Alle historisch auftretenden Widersprüche, vom Frühkapitalismus bis zur Sozialdemokratie, konnten als Zersetzungen der ursprünglichen Substanz durch einen äußeren Feind pseudobiologisch gedeutet werden. So fügten sich Antisozialismus und Judenfeindschaft wohl schon vor 1914 zu einer Motiveinheit, wenn auch die antikommunistische Verschärfung erst nach 1917 hinzukam. Im Wiener Mein Kampf-Kapitel zeichnete Hitler 1924 die Ausbildung seiner Feindbilder „Marxismus und Judentum" nach, um deren eingangs postulierte Identität - „der Jude" die Triebkraft der Zersetzung, der „Marxismus" sein modernes Vehikel-als Resultat eigenen Nachdenkens darzubieten. Ausgehend von der Behauptung: „Nur die Kenntnis des Judentums allein bietet den Schlüssel zum Erfassen der inneren und damit wirklichen Absichten der Sozialdemokratie", wurden einerseits die Erfahrungen mit klassenbewußten Arbeitern, andererseits die Aneignung antisemitischer Klischees, wie des 'Kaftanjuden' oder des allgegenwärtigen 'Zionismus', im groben nacherzählt, damit am Ende die These bewiesen erschien: „Indem ich den Juden als Führer der Sozialdemokratie erkannte, begann es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen [ . . . ] Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden."89 Wenn auch dieser Bericht von der mittlerweile entfalteten „Weltanschauung" gefärbt sein mag, - unverkennbar war doch der Antisemitismus für das Individuum Hitler während seiner „Wiener Lehr157

und Leidensjahre" zum entscheidenden Moment geworden, um die Minderwertigkeitskomplexe des deklassierten Beamtensohns, des verhinderten Architekten und Volksredners aufzufangen und um ihnen ein Objekt des Abreagierens zu verschaffen, das die persönliche und die „nationale" Sache gleichermaßen betraf. Ein starker Einschlag von Verfolgungswahn, von Paranoia, läßt sich darin nicht verkennen. Er durchdrang die Ideologie so sehr, daß taktische Schläue, Berechnung, sogar ein gewisser politischer Realismus sich zeitweise ungehemmt entfalten konnten. Paranoisch war nicht nur die absolute Fixierung auf das Wahngebilde: „Wo immer ich ging, sah ich nun Juden . . . " , sondern auch das Erleuchtungsgefühl bei jeder selbstgeschaffenen Systembestätigung: „So wie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst [des kulturellen Lebens - G. H.] hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, o f t g a n z g e b l e n d e t v o m p l ö t z l i c h e n L i c h t e , [Hervorhebung - G. H.] ein Jüdlein . . ," s o ; vor allem aber war es die schon von Viktor Klemperer gekennzeichnete Affektmischung, die immer wieder „Ausdruck des verächtlichen Hohns und Ausdruck des Entsetzens, der panischen Angst"91 miteinander vereinte. Aufs höchste stiegen Angst und Wut, wenn Hitler an eine siegreiche proletarische Revolution dachte: Indem der Jude die politische Macht erringt, wirft er die wenigen Hüllen, die er noch trägt, von sich. Aus dem demokratischen Volksjuden wird der Blutjude und Völkertyrann.92 Zweifellos vereinigten sich die Elemente des Hitlerschen Weltbildes erst unter dem Eindruck der europäischen Revolutionen von 1917/18 zu einer alles umfassenden politisch-religiösen, ja heilsgeschichtlichen Lehre. Als wütende Konterrevolutionäre und „fanatische Antisemiten" fanden sich die ersten Häupter des Nationalsozialismus: Hitler und Dietrich Eckart mit Rosenberg, dem Augenzeugen der Oktoberrevolution, ideologischen Schüler der Ochrana und der „Schwarzen Hundertschaften", der Die Protokolle der Weisen von Zion kolportierte, 1919 persönlich wie „weltanschaulich" in München zusammen. Mit ihnen erstieg der politische Rassismus einen unüberbietbaren Höhepunkt. Seine Geschichte von Gobineau über Chamberlain bis Hitler war die zunehmende Konzentration aller Feindbilder des jeweiligen Konservatismus auf e i n e n mythisch-personalen Feind. Da im Kampfbuch mehrfach mit anonym gehaltenen Vorgängern polemisiert wird, läßt sich ablesen, welchen Gewinn an Fanatisierung 158

das vereinheitlichte Feindbild erbrachte. Wenn Hitler z. B. die Auffassung bekämpft, bei den Juden handele es sich um Nomaden (und nicht um Schmarotzer), hat er einen früheren Adolf namens Wahrmund im Auge, der 1887 Das Gesetz des Nomadentums und die heutige Herrschaft der ]uden darzustellen unternahm. Das Insistieren auf den „ewig unabänderlichen Naturgesetzen" dürfte auch Distanzierung von Chamberlain bedeuten. Denn dieser war für seine Person und für die Gegenwart kein 'Sozialdarwinist'; er schaute vor allem Weltanschauungen an, stellte die „christlich-ideale" der „Nordeuropäer" der angeblich materialistischen, rationalistischen, nichtmythischen des Alten Testaments entgegen und verwahrte sich sogar gegen „die geradezu lächerliche und empörende Neigung, den Juden zum allgemeinen Sündenbock für alle Laster unserer Zeit zu machen". „In Wahrheit liegt die 'jüdische Gefahr' viel tiefer; [ . . . ] wir haben sie selbst erzeugt und müssen sie selbst überwinden. Keine Seelen dürsten mehr nach Religion als die der Slaven, der Kelten und der Teutonen: ihre Geschichte beweist es; an dem Mangel an einer wahren Religion krankt unsere ganze germanische Kultur [. . .], daran wird sie noch, wenn nicht beizeiten Hilfe kommt, zu Grunde gehen."93 Daß der Nationalsozialismus Chamberlains Prophezeiung erfüllen werde, gab Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts bereits im Titel zu verstehen. Aber Hitler selbst hielt seine „Weltanschauung" für eine Religion kommender Zeitalter; „die Vorsehung" hatte ihn auserkoren, einen „politischen Glauben" zu stiften, der durch Feuer und Schwert auszubreiten war und der freilich mit germanischer Mythologie ebenso wenig gemein hatte wie mit der Religion Christi. Welche Anleihen der „Führer" auch beim katholischen Kultus machte, wie geschickt der Politiker mit den Kirchen paktierte, - insofern blieb doch ein Minimum an Konsequenz gewahrt, als er sich zwar manchmal einen „treuen Sohn der [katholischen - G. H.] Kirche", doch niemals öffentlich einen Christen genannt hat. Nicht einmal die von Chamberlain in die Welt gesetzte und von den „deutschvölkischen" Ideologen, besonders Dinter, aufgegriffene These, daß der Nazarener, der Galiläer Jesus „kein Jude war, daß er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in den Adern hatte"94, wurde von ihm verwertet. Hitlers Religion beruhte auf den pseudo-darwinistischen „Auslesegesetzen". Seinen wichtigsten Vorläufer und Anreger hat er im Kampfbuch mit Schweigen übergangen: den österreichischen Sektierer, entlaufenen Zisterzienser und Möchte-gern-Ordensgründer Joseph 159

Lancs, der unter dem Namen „Lanz von Liebenfels" in Wien seit 1905 die Heftreihe Ostara herausgab und mit ihr einen Sammelpunkt radikal-völkischer Bestrebungen einrichtete. 95 Dieser Lanz hatte sich eine „arisch christliche Renaissance" in den Kopf gesetzt. Seine aus Sexualitätsschwäche, vielleicht verdrängter Homosexualität genährte Ideologie reduzierte bereits alles geschichtliche Geschehen auf einen polaren Rassenkampf, der mittels Nieder- und Höherzüchtung geführt werde. Die Arier oder „Asen" sind demnach die hohe Rasse, „Wanen" heißen die zur Vermischung tendierenden oder aus ihr entstandenen minderen Arten (anscheinend waren Slawen in der k.u.k. Monarchie gemeint), der böse Feind aber sind die (im allgemeinen als Juden vorgestellten) „Tschandalen". Diese teuflisch kleine, aber sexuell aktive Rasse richtet ihre Energie auf den schwächsten Punkt des Ariogermanentums, auf die blonde Frau, und entzieht sie durch den Koitus ein für allemal ihrem Stamm. Ein Endkampf steht bevor; massenhafte Reinzucht tut not. Für solchen Zweck hatte Lanz nicht nur hygienische Vorschriften, Eheanbahnungsinstitute, eine eigene Ordensburg bereit; er sah auch die Einrichtung von „Ehehelfern" bei zeugungsunlustigen Germanen vor und erwartete Messiasse in Gestalt gottähnlicher „Asinge". Hier war also der Sozialdarwinismus erstmals in Heilsgeschichte überführt worden, und eben ein solcher Glaube, eine pervertiert diesseitige Religion, mit deistischer „Vorsehung", Satan und eschatologischem Zubehör, bildete den trüben Grund der Hitlerschen Weltanschauung. Was sie aber tauglich machte, eine politische Globalstrategie zu tragen, war die absolute Fixierung auf den mit allen Mitteln zu bekämpfenden Feind, welcher in fast manichäischer Weise als eigenständige böse Macht erschien. „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: I n d e m i c h m i c h d e s J u d e n e r w e h r e , k ä m p f e ich für das W e r k des H e r r n." 9 6 Arische Vergehen gegen die „Reinhaltung ihres Blutes" galten dem „Sündenfall im Paradiese" gleich, dem „noch immer die Vertreibung aus demselben gefolgt" 97 sei; denn: „Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde [!] dieser Welt und das Ende einer sich ihr ergebenden Menschheit." 98 Die Schlange, „Personifikation des Teufels" 9 9 , war selbstverständlich „der Jude", und durch sein Geschlechtsglied brachte er das Böse in die Welt. „Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens, Volke raubt. . ," 1 0 0 Das Heil wäre 160

erst mit dem „Endsieg" und der endgültigen Vernichtung des Teufels erreicht; kein Mittel dürfte dabei verschmäht werden. Wann und durch wen auch die erste Adaption des „Tausendjährigen Reiches" für die Naziherrschaft erfolgte - Mein Kampf spricht mit bezeichnender Verkehrung nur vom „tausendjährigen Judenreich" 101 vermutlich wirkte doch das Apokalyptische nach, wo „der Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel", eine Weile gebunden sein sollte: „Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas loswerden aius seinem Gefängnis, und wird ausgehen, zu verführen [. . .] an den vier Enden der E r d e [. . .] Und sie zogen herauf auf die Breite der Erde und umringeten das Heerlager der Heiligen [. . ,]"102 Nur hoffte das neue Manichäertum nicht mehr auf ein „Feuer von Gott aus dem Himmel", sondern stellte es selber her. Was sich hinter dem grauenhaften Jargonwort von der „Endlösung der Judenfrage" verbarg, war auch die technische Ausführung wahnsinniger Pläne eines Religionsstifters. Nur deswegen ist es erlaubt und leider nötig, solchen Weltbildern auf den Grund zu gehen, weil sich hier Motivationen, ideologische Antriebsmomente finden, deren Wut und Wucht der Marxismus unter keinen Umständen verkennen darf. Im Fall der Nazis erklären sie zumindest die Überlegenheit über andere faschistische Bewerber um die Macht. Die paranoische Vereinfachung des Freund-und-FeindDenkens, die Zurückführung auf einen weltbestimmenden Gegensatz, der doch nirgends offen zutage lag, das Konzept eines unabweislichen „Weltkampfes" - mit solchen besessenen Motiven konnten die der 'konservativen' Faschisten nicht konkurrieren. Der Einschlag von Furcht und Zittern, „ob nicht doch vielleicht das unerforschliche Schicksal aus Gründen, die uns armseligen Menschen unbekannt, den Endsieg dieses kleinen Volkes in ewig unabänderlichem Beschlüsse wünsche" 103 , jener 'tragische Pessimismus', der das ideologische Äquivalent zur Aussichtslosigkeit deutscher Weltherrschaftspläne bildete, schwächte die Entschlossenheit nicht ab, sondern half nur, sie zum eisigsten Fanatismus zu steigern. Daher lieferte die „Weltanschauung" Grundlagen für eine imperialistische Großstrategie. „Wir alle ahnen, daß in ferner Zukunft Probleme an den Menschen herantreten können, zu deren Bewältigung nur eine höchste Rasse als Herrenvolk, gestützt auf die Mittel und Möglichkeiten eines ganzen Erdballs, berufen sein wird." 104 Im „wissenschaftlichen Antisemitismus" konnten End- und Teilziele ihre ideologische Deckung finden. So die kontinentale, gegen 11

H a l t u n g , Faschismus

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die Sowjetunion gerichtete „Großraumpolitik", in deren Konzept sich die Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus" mit der Herstellung eines „Großgermanischen Reiches", mit der „Germanisierung" Osteuropas verband, wie sie nach völkischer Ansicht immer „nur am Boden vorgenommen werden kann und niemals am Menschen" 105 . Aber in das Feindbild paßten auch kapitalistische Konkurrenzmächte hinein, wenn die Lage es erforderte. Mit dieser Rassenlehre war schlechthin jeder Machiavellismus zu begründen. Ein Musterbeispiel stellte Mein Kampf mit der theoretischen Behandlung Japans, die der späteren Bündnispolitik vorarbeitete und sie an Hand englisch-japanischer Bündnisbestrebungen gegen Amerika, welche „rassisch gedacht, vielleicht unverantwortlich, staatspolitisch jedoch die einzige Möglichkeit" 106 seien, von langer Hand her einleitete. Wenn nötig, wurde der eigene Wahn auch verborgen. Zum Beispiel läßt sich der folgenreichen Rede vom 27. Januar 1932 vor dem Düsseldorfer Industrie-Klub entnehmen, wie Hitler es verstand, alle seine Ideologeme so einzukleiden - als „Persönlichkeitswert", „Volkswert", „Herrenstellung der weißen Rasse", „Weltidee des Bolschewismus", welcher „den asiatischen Kontinent aus der menschlichen Wirtschaftsgemeinschaft herausbricht", usw. bis hin zu der gerade angedeuteten „tiefste [n] Wurzel in Rassetatsächlichkeiten"107 - daß sich immer noch arische u n d jüdische Bourgeois angesprochen fühlen konnten. Entsprechende Erfolge dem Katholizismus gegenüber belegten schon vor dem Reichskonkordat zahlreiche Äußerungen der 'Amtskirche', wie etwa der bekannte Hirtenbrief vom 8. Juni 1933: „Nicht mehr soll also der Unglaube und die von ihm entfesselte Unsittlichkeit das Mark des deutschen Volkes vergiften, nicht mehr der mörderische Bolschewismus mit seinem satanischen Gotteshaß die deutsche Volksseele bedrohen und verwüsten."108 Abwechselnd oder gleichzeitig befolgte der „Führer" die zwei fundamentalen Prinzipien seiner Demagogie, die darin bestanden, „selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen" 109 , und: „das jetzt zu erreichende, besser zu erkämpfende Teilziel als das einzig und allein der menschlichen Aufmerksamkeit würdige [. . .] hinzustellen"110. Das erste und bis 1933 ausschlaggebende „Teilziel" war die Eroberung der politischen Macht in Deutschland, die Vernichtung der Arbeiterparteien, die Zerstörung der Weimarer Demokratie. Dann war unverzüglich eine Staatsmacht aufzubauen, die für die weiteren Ziele das Instrument zu bilden hatte. Da Hitler „im Staat prinzipiell 162

nur ein Mittel zum Zweck" 111 sah, behandelte er, im Unterschied zu 'konservativen' Faschisten und 'linken' Parteiideologen um Gregor und Otto Strasser, alle Losungen vom „preußischen", „deutschen", „nationalen Sozialismus" lediglich als demagogische Tricks. Sein Staatsbild orientierte sich von vornherein auf die Mobilisierung des nationalen Potentials für den Eroberungskrieg. Die ideologische Formel seiner Absichten lautete: „Einen germanischen Staat deutscher Nation." 112 „Deutsche Nation" war selbstverständlich 'völkisch' aufzufassen, sie sollte möglichst alles 'Volksdeutschtum' unter Einschluß Österreichs umfassen. Das Wort „germanisch" aber, das die 'deutschvölkischen' Affekte ansprach, wurde gerade nicht für religiöse oder kultische, sondern nur für politische Zielsetzungen verwendet. „Dem [jüdischen Parlamentarismus - G. H.] steht gegenüber die wahrhaftige germanische Demokratie der freien Wahl des Führers mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen." 113 Es handelte sich um einen Rückgriff auf die Germanen etwa der frühen Völkerwanderungszeit, von denen ja auch das „Führer-und-Gefolgschafts"-Ideal bezogen war. Die ideologische Manipulation bestand darin, daß die anhaftende Vorstellung kleiner kriegführender Völkerschaften ohne kodifizierte Verfassung auf die moderne Nation übertragen wurde, so daß jeder Gedanke an Klassen, Klassenvertretung oder Staatsrecht verschwand. „Der Staat muß in seiner Organisation, bei der kleinsten Zelle, der Gemeinde angefangen bis zur obersten Leitung des gesamten Reiches, das Persönlichkeitsprinzip verankert haben." 114 Das hieß: „Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben" 115 , gestützt auf das allein vom obersten Führer ausgehende Befehlsrecht; die Vertretungskörperschaften würden ohne Wahl „in politische und berufliche ständische Kammern" gefaßt; sie hätten in jedem Fall nur beratende Funktion. „In keiner Kammer und in keinem Senate findet jemals eine Abstimmung statt." 116 Hitler war sich bereits 1927 klar darüber, daß der „Wandel" zu dieser verfassungslosen Staatsform „auch die gesamte übrige Gesetzgebung, ja das allgemeine bürgerliche Leben durchdringen" müsse, und er richtete „die nationalsozialistische Bewegung" so ein, daß sie nach Machtantritt dem neuzubildenden Staat „bereits den vollendeten Körper ihres eigenen Staates zur Verfügung stellen" 117 konnte. Unter welchen Veränderungen das geschah, wie dabei die SA geopfert wurde und selbst die NSDAP - seit dem 1. Dezember 1933 Ii*

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eine „Körperschaft des öffentlichen Rechts" - an Bedeutung verlor, braucht hier nicht beschrieben zu werden; entscheidend war, daß die überkommene Staatsgewalt Schritt für Schritt ausgehöhlt und durch eine „Führergewalt" ersetzt wurde, die de facto unbeschränkt regierte. 118 Für die wichtigsten politischen Aufgaben im nationalen und globalen Maßstab, nämlich für „Sicherung der Macht, Bevölkerungspolitik, Besatzungspolitik, Verfolgung aller tatsächlichen und angeblichen Gegner des Regimes" 119 , wurde eine eigene Exekutive geschaffen, die allein der „Führergewalt" unterstand, von der staatlichen Verwaltung unabhängig und von allen äußeren rechtlichen und sittlichen Normen befreit war: die aus den „Schutzstaffeln" von 1925. hervorgegangene SS. In der SS fand die nationalsozialistische „Weltanschauung" den schärfsten „Ausdruck" und ihren schlagkräftigsten „Körper".

Kulturtheorie und -praxis Für das ideologische System der Nazis bedeutete „Kultur" wesentlich mehr, als in der Agitation sichtbar wurde. Während etwa im 25Punkte-Programm das Wort gar nicht auftauchte, „Kunst und Literatur" erst unter Punkt 23 und dort mit negativem Aspekt vorkamen (gefordert wurde der „gesetzliche Kampf" gegen eine „Richtung, die einen zersetzenden Einfluß auf unser Volksleben ausübt" 120 ), bezeichnete es in den zur Begründung des Parteiprogramms geschriebenen Mein K«»2p/-Kapiteln einen obersten Wert, gleichsam die höchste Berufungsinstanz. Die Arier seien zur Herrschaft erwählt, weil sie „die ursprünglichen Träger der menschlichen Kultur waren und damit die wirklichen Begründer dessen, was wir mit dem Worte Menschheit alles umfassen" 121 . Dementsprechend hieß die aktuelle Polarität „arische Arbeits- und Kulturstaaten" versus „jüdische Schmarotzerkolonien" 122 . Es ist notwendig, den hier verwendeten Kulturbegriff, der offenbar mit dem Langzeitprogramm eng zusammenhing, genau ins Auge zu fassen. Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers. Gerade diese Tatsache aber läßt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, daß er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Worte 164

'Mensch' verstehen. Er ist der Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirne der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorsprang, immer von neuem jenes Feuer entzündend, das als Erkenntnis die Nacht der schweigenden Geheimnisse aufhellte und den Menschen so den Weg zum Beherrscher der anderen Wesen dieser Erde emporsteigen ließ. 1 2 3 Hitlers pathetische Auslassung ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Im ganzen zeigt sie die Denkweise des Machtpolitikers, der über Werte ideologisch verfügt, bevor er real über sie verfügen kann. Er schlägt sie seiner Oberrasse zu, um damit deren Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Anders als bei Nietzsche, wo eine ästhetizistisch verabsolutierte Kultur das Ziel bildete, das selbst gesellschaftliche Barbarei rechtfertigen könne, bedient sich hier die Barbarei der „Kultur" als eines Propagandamittels. Denn mit der Behauptung, daß Güter seit je nur durch die arische Art hervorgebracht seien, wird die „Kultur" nicht nur ins System des „heroisch-völkischen Realismus" eingefügt, sie kann es sogar krönend abschließen. Irgendwo verlangt ja die „Wertung des Blutes, der Rasse und der Persönlichkeit" einen übergeordneten Maßstab, ohne den sie allzu willkürlich erschiene; zu diesem Zweck griff man auf anerkannte Werte zurück, unter die traditionell, zumal in Deutschland, die Kultur gehörte. Wenn nun gefragt wird, was Hitler darunter verstand, fällt sogleich die Beschränkung auf fertige Produkte auf. Vom Prozeß ihrer Herstellung wurde abgesehen, die Genese ausschließlich in die „Genialität" einzelner Arier verlegt, so daß also mit dem schon bekannten Trick auch der „Persönlichkeitswert" noch eine Bestätigung f a n d : „Die größten Umwälzungen und Errungenschaften dieser Erde, ihre größten kulturellen Leistungen [ . . . ] sind für ewig unzertrennbar verknüpft mit einem Namen und werden durch ihn repräsentiert." 124 D a ß zu den Kulturgütern auch, im Unterschied zur konventionellen Auffassung, Ergebnisse der Wissenschaft oder sogar der Technik zählen sollten, machte nichts aus, da ja immerfort auf den irrationalen Schöpfungsakt hin abstrahiert wurde. Deren Träger sei „der Künstler" schlechthin, welcher wieder nach verbreiteter Anschauung dadurch definiert war, daß sein Schaffen rationaler Einsicht unzugänglich und gesellschaftlicher Verantwortung überhoben sei. Wenn nun noch die politische Sphäre einbezogen wurde, wie das bei den Nazis regelmäßig geschah, zeigte sich die angestrebte Ästhetisierung in voller Funktion: So wenig ein berühmter Meister ersetzt werden kann [ . . . ] so 165

wenig ist der große Dichter und Denker, der große Staatsmann und der große Feldherr zu ersetzen. Denn deren Tätigkeit liegt immer auf dem Gebiete der Kunst; sie ist nicht mechanisch anerzogen, sondern durch göttliche Gnade angeboren.125 Der faschistische Ansatz, Kultur auf geniales Schöpfertum zu reduzieren und dieses 'naturalistisch' in der Ideologie zu verankern, wäre kaum erfolgreich gewesen, wenn ihm nicht die bürgerliche Ideologie vorgearbeitet hätte. Insbesondere seit Ferdinand Tönnies' Buch Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) 126 kam in Deutschland eine Auffassung zum Durchbruch, wonach die „Kultur", beschränkt auf geistige Güter, auf Kunst, Philosophie, menschliches Innenleben, grundsätzlich von der bloß technisch-ökonomischen „Zivilisation" abzuheben sei. Thomas Mann führte 1914 die gleiche Polaritätsformel in die deutsche Weltkriegsideologie ein, indem er ihr „aufschließende Bedeutung für die Psychologie der Völker" zumaß und die Pole auf Deutschland und „den Westen" verteilte. 127 „Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; [. . .] ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar [ . . . ] Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sättigung, Skeptisierung, Auflösung, - Geist." 128 Wenngleich man vor dem Weltkrieg und außerhalb des Nationalismus auch die Ferne der Kunst zum Leben beklagte, gern von „Tragik" oder „Krise" der Kultur sprach, verstärkt das doch nur die idolhafte Vorstellung, wonach Kultur - so Alfred Webers „soziologischer Begriff" 1912 - in der Art eines Kunstwerks existiere, „das vielleicht ganze Lebensformen und Lebensgrundsätze in Verwirrung bringt, das zersetzend und zerbrechend wirken kann, und dessen Existenz wir doch höher fühlen als alles Gesunde und Lebendige, was dadurch zerstört wird" 129 . Walter Benjamin hat 1937 auf diesen Keim der seither emporgeschossenen Unmenschlichkeit hingewiesen. „Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozeß, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden, trägt der Begriff der Kultur [ . . . ] einen fetischistischen Zug. Sie erscheint verdinglicht." Was an Kunstgütern aber fertig dazuliegen scheint, „dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern in mehr oder minderem Grade auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen"130, und ist daher in der Klassengesellschaft immer zugleich ein Dokument der Barbarei. 166

So hat die marxistische Kritik beharrlich nicht nur die Entgegensetzung von materieller und geistiger Kultur abgelehnt, darin einen typischen Intellektuellenstandpunkt gesehen, sondern auch darauf bestanden, daß die wirkliche Kulturhöhe einer Gesellschaft zuerst an der Menschlichkeit ihrer Verhältnisse gemessen wird. „Das Recht", schrieb Marx in den Randglossen zum Gothaer Programm, „kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft." 131 Über die untrennbare Einheit von Kultur und realem Humanismus waren sich die Marxisten mit bürgerlichen Humanisten wie Karl Kraus oder Heinrich Mann immer einig. Der Nazi beutete hingegen die konventionelle Vorstellung aus, um die Enthumanisierung perfekt zu machen. Man kann die Absicht mit Händen greifen, wo immer Hitler den Untergang aller „großen Kulturen der Vergangenheit" auf „das Vermessen" zurückführte, „daß alle Kultur vom Menschen abhängt und nicht umgekehrt", - wo er also ganz im Sinn der oben zitierten Stelle behauptete, daß „der Mensch" von der Kultur abhänge, die wiederum ein Produkt nur des Ariers sei. Da nun dessen „Erhaltung [ . . . ] an das eherne Gesetz der Notwendigkeit und des Rechtes des Sieges des Besten und Stärkeren" gebunden wurde, zeigte sich wieder die typische Perversion: „Kultur" rechtfertigte unmittelbar Unterdrückung und Ausbeutung. Nicht die Humanisierung der menschlichen und außermenschlichen Natur, sondern gerade die Inhumanität sollte den Wertmaßstab bilden. „Sicher fußte die erste Kultur der Menschheit weniger auf dem gezähmten Tier als vielmehr auf der Verwendung niederer Menschen. Erst nach Versklavung unterworfener Rassen begann das gleiche Schicksal auch Tiere zu treffen und nicht umgekehrt, wie manche wohl glauben möchten." 132 Es erübrigt sich, die radikale Verkehrung auf allen Lebensgebieten nachzuweisen. Selbstverständlich fühlte sich der Nazi berufen, „mit der Vorstellung aufzuräumen, als ob die Behandlung seines Körpers jedes einzelnen Sache selber wäre" 133 . Er verkündete mit eiserner Stirn: „Auch die Ehe kann nicht Selbstzweck sein, sondern muß dem einen größeren Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse, dienen." 134 In keiner Hinsicht war das beabsichtigt, was „man heute mit dem Worte Zivilisation bezeichnet. Diese scheint im Gegenteil eher eine Feindin wahrer Geistes- und Lebenshöhe zu sein." 135 Beabsichtigt wir vielmehr, mit der Kulturideologie und mit ihr entsprechenden Kunstwerken ein wirksames Herrschaftsinstrument einzurichten. 167

Was die Verheißungen einer 'neuen' Kultur anlangt, hatten wieder die Jungkonservativen Vorarbeit geleistet, indem sie Unzufriedenheit mit dem bürgerlichen Kulturverfall in ihr politisches Konzept einbezogen. Die Symptome wurden nicht mehr als „Krise der Kultur" schlechthin gedeutet, sondern dem „Liberalismus" und seinen Agenten „Individualismus" oder „Nihilismus" angelastet, durch deren Schuld die ursprüngliche geistige Einheit, die Kultur bedeute, zersetzt worden sei. (Nihilismus heißt auf faschistisch immer nur die Abwesenheit völkischer Bindungsideale.) Erneuerung sei von politischer Gemeinschaft, vollkommen erst vom arteigenen Staat zu erwarten. Die Integration der Kunst ins Leben sollte demnach nicht über die alltägliche Lebenspraxis, über die Wirklichkeit des Klassen-und Konkurrenzkampfes vor sich gehen; Kunst hätte vielmehr die Idee der Organisation ins Bild zu setzen und sie gestaltgebend dem Leben aufzuprägen. Erste Vorformen erblickten die Kulturtheoretiker des „Politischen Kollegs" in der bündischen Jugend. Vollkommene Durchdringung von Kultur und volklicher Organisation werde insgesamt ihren Ausdruck in einem neuen Lebens- und Kunststil finden. Moeller van den Bruck, der bereits 1915 in Gedankengängen des 'preußischen Sozialismus' die Politisierung des von Wölfflin herstammenden Begriffs vornahm, definierte Stil wie folgt: Stil ist geistige Kunst. Das reine Sein hat einst den Menschen erdacht. Im unreinen Sein wurde der Mensch verwirklicht. Im Stil findet der Mensch wieder zu seinem Ebenbilde zurück. Stil ist Bewußtsein [ . . . ] eine äußerste Form, die nicht menschgestaltig und nicht weltgestaltig, sondern selbstgestaltig ist [ . . . ] nur auf geistiger Grundlage möglich, auf mythischer oder religiöser und philosophischer.136 Da es aber „eigentlich gar nicht die Menschen sind, die Formen bilden, sondern die Natur, die Nation, die Zeit in den Menschen,"137 wäre demnach Stil der Ausdruck jener den Menschen übergeordneten 'Seinsmächte', die die höhere Wirklichkeit ausmachen. Wenn 1915 noch einigermaßen sachhaltig „Der Preußische Stil" gefeiert wurde - „Preußen ist die größte politische Tat des Deutschtums, wie Deutschland die größte politische Tat des Preußentums sein wird", lautete der Vorspruch zu Moeliers Buch - , dann traten nach 1918 „konservativ-revolutionäre" Stilvorstellungen in den Vordergrund, die freilich, wie noch in Gottfried Benns Dorischer Welt, immer totalitäre Staatsideen, „ein Gesetz gegen das Leben, ein Gesetz nur für Helden" 138 , verkündeten. 168

D i e nazistische Verwertung der 'Kulturkrise' unterschied sich von der konservativ-faschistischen dadurch, daß sie ohne Abstrich auf den „germanischen Staat deutscher Nation" orientiert war, daß also hier Kulturwerte lediglich als Mittel und nicht auch als Ziele fungierten. Von einem „neuen Lebens-, Kultur- und Kunststil" redete Hitler erstmals auf dem Parteitag 1933, und auch da nur als von etwas Entferntem, das sich erst in der Folge totaler Durchorganisierung einstellen werde. In der Zeit vorher diente die im Kampfbuch ausgebreitete Ideologie zur Ausrichtung der Parteikader, während die praktizierte Kulturpolitik für die Öffentlichkeit gemacht wurde. Der Bereich unterstand damit dem von Hitler nach der Neugründung seiner Partei (1925) scharf herausgearbeiteten Unterschied zwischen „Organisation" und „Propaganda". Diese Dichotomie, zu der es bei den Jungkonservativen keine Entsprechung gab, war sehr bezeichnend für die politische Taktik des Nationalsozialismus. Sie vereinte in sich Erfahrungen der faschistischen Stoßtrupps (vom Typ der „Schwarzen Hundertschaften" oder der „Fasci") mit überlegter Anpassung an die Kampfsituation der Weimarer Demokratie. „Organisation" betraf die Hitlersche Hausmacht, den autoritär und paramilitärisch aufgebauten „Körper der Bewegung", der den Terror gegen die Arbeiterparteien zu besorgen hatte und zur Keimzelle des künftigen Staates bestimmt war, also die N S D A P mit SA, SS und weiteren „Gliederungen"; die „Propaganda" diente dem legalen Weg zur Macht durch Gewinnung von Wählerstimmen. Die Propaganda bearbeitet die Gesamtheit im Sinne einer Idee und macht sie reif für die Zeit des Sieges dieser Idee, während die Organisation den Sieg erficht. [ . . . ] D e r durchschlagendste Erfolg einer weltanschaulichen Revolution wird immer dann erfochten werden, wenn die neue Weltanschauung möglichst allen Menschen gelehrt und, wenn notwendig, später aufgezwungen wird, während die Organisation der Idee, also die Bewegung, nur so viele erfassen soll, als zur Besetzung der Nervenzentren des in Frage kommenden Staates unbedingt erforderlich sind. 1 3 9 Fragt man nach der Rolle von Kunstprodukten für die „Organisation", so stellt sie sich als äußerst gering heraus. Abgesehen von den Parteiemblemen und der Architektur des Münchner „Führerhauses", denen Hitler selber Mühe zuwandte, hatten eigentlich nur ein paar Gedichte und eine Reihe von Liedern Anteil an ihrer „Schlagkraft". Während es in dieser Hinsicht vor 1933 so gut wie keine Kulturpolitik gab, lag die Sache für die „Propaganda" anders. Hier konnte man nicht nur 169

vorliegende oder eigens angefertigte Tendenzdichtungen unterschiedlichster Autoren verwenden; hier wurde auch Kulturpolitik überhaupt erst in Betrieb gesetzt. Dies allerdings erst spät, weil man nüchtern kalkulierte, daß die Erreichbaren sowieso keine große Masse ausmachten, und weil man die Anziehungskraft der sozialistischen, insbesondere der sowjetischen Kunst und Literatur lange unterschätzt hatte. Mit dem Ziel, „den nationalsozialistischen Gedanken in Kreise zu tragen, die durch Massenversammlungen im allgemeinen nicht gefaßt [!] werden können", wurde auf dem Parteitag 1927 die Einrichtung einer nach außen überparteilich, sogar unpolitisch erscheinenden Auffangorganisation beschlossen.140 Die durch Rosenberg seit August 1927 vorbereitete „Nationalsozialistische Gesellschaft für deutsche Kultur" trat dann, aus Tarngründen in „Kampfbund für deutsche Kultur" umbenannt, am 23. Februar 1929 in München mit einem Vortrag des Wiener Professors Othmar Spann über Die Kulturkrise der Gegenwart geräuschvoll an die Öffentlichkeit. Rosenberg hatte bereits im Mai 1928 in seiner Zeitschrift Der Weltkampf erklärt: „Wir hoffen [...] daß in der Abwehr aller deutschfeindlichen Mächte auf kulturellem Gebiet sich gerade auch jene volksbewußten Persönlichkeiten zusammenfinden werden, die vielleicht in Fragen der politischen Neugestaltung Deutschlands glauben andere Wege gehen zu müssen wie die N.S.D.A.P." 141 Die Taktik des „Kampfbundes" bestand generell aus Aggressionen, die als Verteidigungen ausgegeben wurden; „deutsch" sollte den Einzugsbereich für konservative, jungkonservative und deutschvölkische Kreise offen halten. Entscheidend war aber die Richtung, in welche die vorhandenen Unzufriedenheiten abgelenkt wurden. Hinter den „Kultur"-, „Kunst"-, „Musik"- und allen möglichen anderen „Krisen" erschien ein direkter Gegner, ein Feind, der sich ins Kulturgebiet eingeschlichen habe und dort die nationalen Kräfte zersetze: der „Kultur"- oder „Kunstbolschewismus". Obschon das Schlagwort vermutlich in der von Eduard Stadtler gegründeten „Antibolschewistischen Liga" und ihrer Nachfolgeorganisation, der „Liga zum Schutz der deutschen Kultur" 142 , aufgebracht wurde, hat es doch seine eigentliche Funktion erst bei den Nazis erhalten. Sie belegten damit nämlich nicht nur Werke, die kommunistische Tendenzen zu erkennen gaben, sondern sämtliche Kunsterscheinungen, die in irgendeiner Weise gegen Rezeptionsgewohnheiten verstießen, angefangen bei den 170

von Hitler ständig wiederholten „Sammelbegriffen des Kubismus und Dadaismus seit der Jahrhundertwende" 143 bis hin zum Jazz oder zum 'Neuen Bauen'. Gewiß war es den Nazis ernst mit der Verurteilung der künstlerischen Moderne, wie sie denn kaum einen Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen, „entarteten", Autoren machten; die Hauptabsicht bestand jedoch darin, den p o l i t i s c h e n Gegner zu treffen. Ganz im Sinne des Kampfbuches sollten sich die bekämpften Kulturphänomene als „geistige Vorbereitung des politischen Bolschewismus" darstellen. „Der Bolschewismus der Kunst ist die einzig mögliche kulturelle Lebensform und geistige Äußerung des Bolschewismus überhaupt."144 Auch wer unter den Sympathisierenden die angelegten Gedankengänge zur „jüdischen Weltverschwörung" nicht mitging, wurde doch auf den Hauptfeind Kommunismus hingelenkt, und darauf kam es an. Wahrscheinlich gehörte es zu den Erfolgen dieser Taktik, daß der „Kulturbolschewismus" unter die Angriffsobjekte der 'Harzburger Front' eingereiht wurde (zwischen „Blutterror des Marxismus" und „Zerreißung der Nation durch den Klassenkampf") 145 und daß er ganz ähnlich in der Regierungserklärung v. Papens (4. Juni 1932) figurierte146; sicher hat die NSDAP durch ihre kulturpolitische Propaganda zahlreiche Wähler aus dem 'Mittelstand' und aus bürgerlichen Bildungsschichten gewonnen. Die eigentlich 'kulturellen' Folgen zeigten sich nach dem 30. Januar 1933 in ungünstigerem Licht, als Rosenbergs Kampfbundtruppen zu wüsten „Säuberungs"-Aktionen übergingen und als sie damit ein Chaos anzurichten drohten, das die Hitlerregierung innen- wie außenpolitisch belasten mußte. Vorkämpfer überfielen Akademien, Kunstschulen, Bibliotheken, warfen Lehrer und Werke hinaus, forderten die Einrichtung bildnerischer, sogar musikalischer147 „Schreckenskammern" und setzten ihr Vorhaben, beginnend mit der Karlsruher Ausstellung Prof. Hans Adolf Bühlers Regierungskunst von 1918 bis 1933, an mehreren Galerien in die Tat um. Die bekannteste Aktion, die Bücherverbrennung vom Mai 1933 in den Universitätsstädten, unterschied sich von den Kunstexzessen nur dadurch, daß Goebbels' geschicktere Regie dafür die Universitäten selber, also staatliche Einrichtungen, zu mobilisieren gewußt hatte. Immerhin stellt sich die Frage, warum der „Führer und Reichskanzler", obgleich er sich im Hintergrund hielt, um von seinen Leuten notfalls abrücken zu können, doch monatelang solche Fortsetzung der 171

nur negativen Propaganda geschehen ließ. Der besinnungslose Antimodernismus, der ja nicht nur zum faschistischen Italien, wo seit Anfang die wildeste Dekadenz (D'Annunzio) und die provokativste Moderne (Marinetti) an der Spitze marschierten, einen Gegensatz bildete, sondern der auch politische Anhänger unter den Künstlern (Emil Nolde, Arnolt Bronnen, Benn) abstoßen mußte, kann nicht allein aus ideologischen Vorurteilen oder Geschmacksgründen erklärt werden. Offenbar wollte Hitler auf k e i n e m Gebiet mitsprechende Eliten dulden; keinerlei modernistische, doch ebensowenig, wie auf dem Parteitag 1934 klargestellt wurde, irgendwelche „völkischen". E r nahm sogar das Fehlen positiver Orientierungen in Kauf, nur um zu vermeiden, daß die Kunstpolitik zu früh personell blockiert und stilistisch festgelegt würde. Mein Kampf hatte es noch für möglich erachtet, daß im Interesse der Machtsicherung für Jahrzehnte „kulturelle Aufgaben in den Hintergrund gedrängt" werden müßten.1,58 Außerdem war dort ein großer Zeitraum „der Erziehung sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer im Sinne eines beiderseitigen Eingliederns in den Rahmen der Volksgemeinschaft" vorgesehen, um „langsam jenen allgemeinen Stil [zu] bilden, der dann einst die neue Zeit als eine wirklich innerlich festfundierte erscheinen läßt" 1 4 9 . Die positiven Richtlinien der „Kulturtagung" 1933 waren entsprechend dilatorisch gehalten. Doch wurde hier und auf den folgenden Tagungen die negative Orientierungimmerfort bekräftigt; die „Kunstbolschewisten" und ihre Verteidiger blieben der Hauptfeind. Die Überleitung in die offizielle M a s s e n p r o p a g a n d a geschah im Juli 1937 mit der Münchener Ausstellung Entartete Kunst. Ihre monströsen Schreckenskammern waren mittels Gruppierung und Beschriftung so eingerichtet, daß dem Beschauer alle Werte der nationalsozialistischen Weltanschauung ex negativo vorgeführt wurden. Auffällig blieb dabei nur der späte Zeitpunkt. Einerseits hatte man vorher jede künstlerische Opposition zum Schweigen bringen müssen, was nach Hitlers wüsten Schimpfereien auf der „Kulturtagung" 1936 schließlich im November 1936 durch das Goebbelssche Verbot der Kunstkritik besorgt worden war; auf der fälligen Tagung 1937 bekräftigte Hitler das Verbot und erklärte, es sei „die heilige Pflicht einer politischen Leitung", von den angeprangerten Werken „nun den nationalen Kunstbesitz zu säubern" 150 . Andererseits hatte die Generalabrechnung nicht erfolgen sollen, bevor man einer positiven Gegenbilanz sicher sein konnte. 172

Ebenfalls im Sommer 1937 wurde im Münchener „Haus der Deutschen Kunst" die erste „Große Deutsche Kunstausstellung" feierlich eröffnet; beide Ereignisse standen im Zusammenhang miteinander. Hitler bestätigte das auf dem Parteitag des Jahres, als er sich schreiend gegen die verhaßten Kunstkritiker, die „Literaten", wandte, die „durch eine fortwährende Anwendung des Wortes 'Kitsch' auf eine gut gewollte anständige Mittelleisüung" 151 alle nationalsozialistischen Versuche lächerlich gemacht hätten und denen gegenüber er nun einen plebiszitären Erfolg auszuspielen hatte: „Fragen Sie doch die Massen, die abwechselnd [!] in die 'Entartete Kunst' und in die Ausstellung der Deutschen Kunst hineingehen oder die die Werke in unseren Museen besuchen, was auf sie m e h r Eindruck macht. Fragen Sie diese gesunden Menschen, und Sie werden eine eindeutige Antwort bekommen." 1 5 2 Die Wendung zum „kulturellen Aufbau", durch den die ursprünglich vorgesehene Wartezeit drastisch abgekürzt wurde, der Befehl, nunmehr eine „positive Förderung und Behandlung der kulturellen Aufgaben sicherzustellen" 133 , war öffentlich auf dem Reichsparteitag 1935 ergangen. Jetzt sollte also die Ideologie, die den Arier zur Weltherrschaft berief, in Kunstwerken Gestalt annehmen. Der Galimathias der diesmaligen Kulturrede ließ die Absichten der Führung sehr deutlich hervortreten. Hitler zeigte sich überzeugt, daß die Kunst „unbewußt weitaus den größten direkten Einfluß auf die Masse der Völker ausübt" - vorausgesetzt, sie zeichne „ein wirkliches Bild des Seelenlebens sowie der angeborenen Fähigkeiten eines Volkes und nicht eine Verzerrung derselben" 1 5 4 - , und er hielt ihren Einsatz für unaufschiebbar, „wenn die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Nöte einer Zeit geradezu gebieterisch eine Verstärkung des inneren Haltes einer Nation erfordern". Andernfalls könnten „politische oder wirtschaftliche Sorgen" das Volk „nur zu leicht im Glauben an seine höheren Werte und damit an seine Mission schädigen" 1 5 5 . D,ie erwähnten wirtschaftlichen und politischen Nöte hingen mit der im März wiedereingeführten Wehrpflicht und mit der Aufrüstung zusammen; die Kunst erhielt den doppelten Auftrag, das Volk von seinen materiellen Sorgen ab- und auf die nächsten „Teilziele" hinzulenken. „Die nationalsozialistische Bewegung", hieß es weiter, „wird sich dabei ihre eigene Arbeit und ihren Kampf nur erleichtern, indem sie für die Größe ihrer Absichten das Verständnis des Volkes steigert durch die tiefe Wirkung, die zu allen Zeiten von den großen kultu173

rellen Leistungen und insbsondere solchen der B a u k u n s t ausgegangen ist." 156 Hitler gab seinen Anhängern zu verstehen, daß beim „kulturellen Aufbau" vor allem an Propagandakunst gedacht war und daß die „tiefe Wirkung" gerade nicht zu wirklicher Politisierung führen solle. Der Reichspressechef Otto Dietrich erklärte wenig später: „Der Nationalsozialismus verlangt nicht vom einzelnen im deutschen Volke, daß er politisch denkt und fühlt." 157 Die alte Dichotomie von „Organisation" und „Propaganda" behielt also ihre Gültigkeit; nur wurden die Grenzen mit Ausdehnung der „Organisation" auf Militär, Reichsarbeitsdienst und Jugendverbände seit 1935 fließender, und ein gewisses Nachlassen der „weltanschaulichen" Indoktrination fand auch in den „Organisationen" statt. Zu ihrem Bereich gehörten die reine Lehre der „Weltanschauung", der sie zelebrierende braune Kult sowie die dabei verwendeten Kunstprodukte, unter Einschluß der Parteibauten. Die Schriften der „Bewegung" mußten im „Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachf., München" erscheinen und fielen unter die Kompetenz der von Philipp Bouhler geleiteten „Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums". Bezeichnenderweise wurden hier „Bücher, die sich in erzählender Form [ . . . ] mit der nationalsozialistischen Revolution und den sie begleitenden Ereignissen beschäftigen", im Oktober 1934 als unerwünscht bezeichnet. 158 Ganz ähnlich verfügte Goebbels für den „Propaganda"-Bereich den Schutz der Partei- und Führer-Legenden vor profanierender Gestaltung. Bouhler verlangte, was Kunsterzeugnisse anging, mit Nachdruck nur die Kontrolle über Liederbücher159, so daß sich annehmen läßt, dieses Genre habe auch in der „positiven" Phase der Kulturpolitik seinen Vorrang behalten. (Unter dem Gesichtspunkt der „Organisations"-Kultur wäre eigentlich die SS, die geschlossenste Organisation der „Führergewalt", eingehend zu untersuchen, wozu aber bisher entscheidendes Material fehlt. Dort wurde eben am wenigsten Propaganda gemacht. Innerhalb der perversen Theokratie des „Dritten Reiches" verstand sich die Himmlersche SS als ein „Orden", der Kirchenschutz, Ketzerverfolgung und Kreuzzüge zu besorgen hatte, gleichsam als Jesuiten-, Dominikaner- und Ritterorden in eins. Das Interesse für mittelalterliche Ketzerbewegungen beruhte kaum, wie Hans Buchheim es hinstellen will, auf Selbstidentifikation mit der Häresie, auf einer 'kämpferischen Haltung aus Prinzip', die der 'kritischen aus Prinzip' nahe verwandt sei,160 sondern gehörte zur Waffensammlung gegen „Rom". Die Strategie des 174

„Weltkampfes" gegen die Feindmächte „Bolschewismus", „Weltjudentum", „Weltfreimaurertum", „politisches Priesterbeamtentum" wurde hier nach ihrer sowohl machtpolitischen als auch ideologischen Seite radikal ausgebaut. 1 6 1 In den verwinkelten Gängen dieses Baues nistete das völkische Sektiererwesen fort, gab es Kulte, die die sonderbarsten Überlieferungen mischten; wenn Heinrich Himmler, so wird erzählt, in der germanisierten, mit einem apsidialen Hakenkreuz versehenen Quedlinburger Stiftskirche eine Fahnenweihe vornahm, war das Schiff mit blauem Samt ausgeschlagen, und der Ordenschef entstieg einem unterirdischen Gang vor dem Altar. Allerdings scheint die eigenständige Kunstproduktion der SS kümmerlich gewesen zu sein; die Liedtexte etwa, welche die bundesrepublikanischen Traditionsblätter unverfroren abdrucken, entstammen größtenteils der Waffen-SS und stellen oberflächliche Adaptionen faschistischer Soldatenund Jugendlieder dar.) Betrachtet man unter dem Gesichtspunkt von „Organisation" und „Propaganda" den kulturpolitischen Machtkampf des Jahres 1933, dann erscheint der schließliche Sieg Goebbels' als eine weitere Entscheidung zugunsten des Propagandaprinzips. Der Chefideologe Rosenberg hatte sich weder eine parteiamtliche noch staatliche Institution zueignen können; zuletzt wurde ihm sogar seine „ N S Kulturgemeinde" weggenommen. Zum Ausgleich war er ab Januar 1934 „ D e r Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Erziehung der N S D A P " . Doch dem aufgeblähten Titel zum Trotz besagte dieses Amt nur, daß die von Rosenberg vertretene Lehre aus den Regulierungsmechanismen der entwickelten Diktatur praktisch ausgeschaltet wurde. An die Stelle weltanschaulicher Indoktrination trat zunehmend, je größere Massen der Jugend von der „Organisation" erfaßt wurden, eine nichtgeistige, motorische, paramilitärische Disziplinierung, die ja auch den 'alltäglichen' Faschismus immer weiter durchdrang. Noch mehr schwand die doktrinäre „Weltanschauung" aus Kunstprodukten, die über herkömmliche Medien ins Volk gedrückt wurden. Der Herrscher über diesen Bereich, D r . Joseph Goebbels, seit 1929 Reichspropagandaleiter der N S D A P und seit dem 13. März 1933 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, war durch Führererlaß am 30. Juni 1933 zuständig erklärt worden „für alle Aufgaben der geistigen Einwirkung [!] auf die Nation, der Werbung [!] für Staat, Kultur und Wirtschaft, der Unterrichtung der in- und ausländischen Öffenlichkeit und der Verwaltung aller diesen Zwecken dienen175

den Einrichtungen". Bereits im Herbst (Gesetz vom 22. September 1933) wurde mit der „Reichskulturkammer" die erste „berufliche ständische Vertretungskörperschaft" geschaffen, mit deren Hilfe sowie durch Verfügung über das Filmkapital 1 6 2 und die „Reichsrundfunk G m b H " Goebbels die gesamte Kunstproduktion und -distribution im Reich einer totalen Lenkung unterwarf. Dieser mit allen Wassern gewaschene Manipulator, als Fachmann des „Angriffs" bei der nazistischen Eroberung Berlins bewährt, bester Schüler des Revolverjournalismus und sein einziger Erbe, dessen Züge auch „faktisch weniger die neue Wirklichkeit v e r b ü r g t e n als die ältere Ironie" 1 6 3 , hatte schon den Propagandaapparat der N S D A P nach Reklamegrundsätzen eingerichtet und vollbrachte nun die Leistung, den kapitalistischen Kulturbetrieb ohne einschneidende Änderungen dem „Führerstaat" und dessen staatsmonopolistischer Basis „gleichzuschalten". Die verheerenden Auswirkungen auf das Kultur- und Kunstverständnis breiter Massen sind gar nicht zu überschätzen. Trotzdem gelang es weder Goebbels noch seinen Konkurrenten im Bereich der „Organisationen", Kunstwerke zu erzeugen, die den eigenen Wünschen nach kultureller Repräsentanz hätten genügen können. Seine Insolvenzerklärungen („Unsere Klassiker marschieren noch in der Hitlerjugend" 1 6 4 ) machte sich Hitler auf der Kulturtagung 1937 zu eigen. „Wenn also in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine V e r a r m u n g an großer d i c h t e r i s c h e r u n d musikalischer G e s t a l t u n g s k r a f t eingetreten zu sein scheint, dann ist neben anderen Gründen sicherlich dieser eine mit entscheidend, daß sehr viele in ihrem Innern musisch veranlagte Menschen heute G e s c h i c h t e m a c h e n , s t a t t s i e z u b e s c h r e i b e n." 1 6 5 Von der gleichen Rede 1937 datierte das inoffizielle E n d e jener positiven' Phase und die offizielle Wendung in den Propagandainhalten zu einer scheinbar unpolitischen und unideologischen Massenmanipulation. D a s früher aufgestellte Ziel, die „Weltanschauung" mittels „Kultur" möglichst allen Menschen „aufzuzwingen" (s. o. S. 169), wurde zugunsten unauffälliger Beeinflussung zurückgestellt. Mit Ausnahme der Großarchitektur und angeschlossener Disziplinen, so deutete Hitler an, hätten sich die Künste der direkten Verkündigung nationalsozialistischer Ideologeme zu enthalten. Um so stärker sollten sie die indirekte Apologie und Repräsentation der Staatsmacht übernehmen. Auf mehreren Gebieten mußte die „aktive Kunstpolitik" in konservative Traditionspflege umgewandelt werden: „Ich glaube, wir können vor der deutschen Geschichte und vor unseren Nach176

kommen kulturell heute gar nichts Besseres tun, als alles das ehrfürchtig zu pflegen, was große Meister der Vergangenheit uns hinterlassen haben." 166 Ausdrücklich wurde sogar der Maßstab „augenblicklich herrschender Auffassungen" 167 und damit der Primat der „Weltanschauung" für Bewertungen des Erbes abgelehnt. Noch bezeichnender war die Rehabilitation „der heitern Muse", des Wunsches „außer nach Brot auch nach Spielen" im Volke, kurz: die Umpolung auf systemstützende Unterhaltungskunst, um „unser Volk wieder auf diesem Weg über die Freude und Schönheit, wenn möglich, zum Erhabenen zu führen" 168 . Auf fast allen Gebieten bestätigte der „Führer" also die Kulturpolitik Goebbels' und die Tendenz der von ihm gelenkten Kulturindustrie. Es gehörte zu den Folgen, wenn radikale und in ihren Grenzen konsequente Nazikünstler, die in konventionellen Genres arbeiteten, allmählich aus der Propaganda verschwanden, wie auf der anderen Seite die wirksamsten Propaganda-Medien, Film und Rundfunk, von faschistischer Kunsttheorie kaum mehr bedacht wurden. Für das „Erhabene" unmittelbar hatte nur noch die Baukunst zu sorgen, von der Hitler 1937 aussagte, daß sie wie nichts sonst zur Erhöhung der Staatsautorität nach innen und außen da sei. „Diese gewaltigen Werke werden aber zugleich auch die erhabenste Rechtfertigung darstellen für die politische Stärke der deutschen Nation." 169 Mit seinen Steinklötzen verband der „Führer" abschließend noch einmal die Ideologie einer „höheren Kultur", das Rechtfertigungsmittel für imperialistische Weltherrschaftspläne, die er unablässig betrieben hatte und deren Ausführung jetzt nahe bevorstand: „D e n n a u c h die R ü s t u n g eines V o l k e s ist nur d a n n moralisch b e r e c h t i g t , w e n n sie S c h i l d und Schwert[!] e i n e r h ö h e r e n M i s s i o n ist." 1 7 0

Ästhetik Wenn der Nazi von „Kultur" redete, hatte er Artefakte im Sinn, die als Schöpfungen einzelner Genies vorgestellt wurden; er meinte eigentlich „Kunst", und in Kunstpolitik erschöpfte sich wesentlich die Kulturpolitik des Dritten Reiches. Es ist die Frage zu stellen, welche Ästhetik mit welchem Stellenwert in der Nazi-Ideologie enthalten war. Der Begriff Ästhetik kann, wie der Faschist Alfred Baeumler ganz richtig bemerkte, „die 'Lehre vom Schönen' [ . . . ] aber auch die prima philosophia in Hinsicht auf die Erscheinung der Kunst" 171 bedeuten. 12

H a l t u n g . Faschismus

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In beiderlei Sinn gehörten ästhetische Sätze zum Ideologiesystem des Nationalsozialismus; ohne sie hätte es nicht jene Abrundung gehabt, die zur Funktionstüchtigkeit nötig war. Wenn die Häupter der Partei das Wort ungern oder im abschätzigen Ton gebrauchten, sprach aus ihnen Aversion gegen die philosophische Konsequenz, die mit dem Begriff verbunden war, nicht aber Aversion gegen die gemeinte Sache. Im Kampfbuch hat der Redaktor Heß eine Stelle stehen gelassen, in der Hitler Klartext redete: „Wenn man aber versucht, in solchen Dingen [Rassen- und Völkerkampf etc. - G. H.] mit dem Gefasel der Ästhetik usw. anzurücken, dann kann es darauf wirklich nur eine Antwort geben: Schicksalsfragen von der Bedeutung des Existenzkampfes eines Volkes heben jede Verpflichtung zur Schönheit auf." 172 Es wurde also kundgetan, daß die einzusetzenden Mittel weder mit sittlichen noch ästhetischen Normen etwas zu tun haben würden. Zugleich geht aus der Stelle hervor, daß Hitler jener Ästhetisierung des Krieges, wie sie Marinetti neben dem Futuristischen Manifest in der Bataille de Tripoli und nach ihm Ernst Jünger in einigen Kriegsbüchern vorgenommen hatten, keinen Geschmack abgewann. Die von ihm gepflegte Ästhetisierung galt dem „genialen Staatsmann", der als ein Künstler in Menschenmaterial arbeitet und es im Kult der Aufmärsche sich zum Bilde gegenüberstellt. Wenn jedoch sein Kampf nicht schön aussehen sollte, dann hinderte das den Verfasser keineswegs, in anderen Dingen mit dem Gefasel der Ästhetik anzurücken, sobald die Kunst zum Kampfmittel geeignet schien. So sollte es eine „Ästhetik des Ebenbildes des Herrn" 173 geben; sie bezog sich auf die Herstellung menschlicher Zuchtmodelle. Hitler folgte dabei dem „arischen Stil", den der Rassefanatiker Hans K. F. Günther predigte. - Etwas theoriebewußter erwies sich Rosenberg, wenn er lediglich die bisherigen Kunstlehren verurteilte: „Sie schauen alle fast nur nach Griechenland und sprechen alle noch von einer möglichen 'allgemeinen Ästhetik'." 174 Seine arteigene Kunsttheorie muß, so belanglos sie in philosophischer Hinsicht ist, im folgenden kurz charakterisiert werden. Vor allem aber hat sich die Kritik mit Alfred Baeumlers torsohafter Ästhetik von 1934 zu befassen, weil dieses anspruchsvolle Buch die beste Auskunft über philosophische Traditionswahl und Feindbestimmung im deutschen Faschismus gibt. Allgemein gesprochen, besaß die Ästhetik des rassistischen 'Realismus* zwei wichtige Funktionen: Sie hatte zum einen den Künsten jeden Selbstzweck abzusprechen und sie unter das Gebot des 'ewigen Seins' 178

zu stellen; sie hatte zum anderen die Unterwerfung als naturgegebene Einheit von Kunst und 'Leben' darzustellen und daraus eine zusätzliche Rechtfertigung der „heroischen Lehre" zu gewinnen. (Darüber hinaus gewann ein traditionelles Moment der Ästhetik für die „Weltanschauung" selbst große Bedeutung: die Zweckfreiheit der Kunst, die nach der Seite des künstlerischen 'Idealismus' hin verabsolutiert, auf die Ethik übertragen und zu einem Postulat der „heroischen Lehre" gemacht worden war. Die geforderte „heldisch-künstlerische Haltung" [Rosenberg] oder jedenfalls die Fähigkeit, sie einzunehmen, wurde natürlich nur dem Arier zugeschrieben und auf diese Weise im System des völkischen 'Realismus' verankert. Man kann sagen, daß auf solcher Manipulation die gesamte Ästhetisierung der Politik, soweit sie den Nazis eigen war, theoretisch fußte, obschon die Theoretiker kaum entsprechende Ableitungen vornahmen. Im allgemeinen begnügten sie sich mit einer normativen Ästhetik, welche die Kunst dem politischen Irrationalismus unterwarf.) Die nichtrationale oder jedenfalls nicht nur rationale Form des künstlerischen Gehalts sollte einen irrationalen Seinsgrund beweisen. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob hier die Ästhetik wieder einmal erkenntnistheoretisch ausgenutzt worden wäre. Aber die neue Identitätslehre unterschied sich von der Schellingschen grundsätzlich, weil dort die „ästhetische Anschauung" ein „Organ der Philosophie", die Objektivierung einer Erkenntnis bilden sollte, welche nur in der Kunst anschaulich objektiviert werden könne, wohingegen hier Dialektik oder nur die bloße Entgegensetzung von Subjekt und Objekt gar nicht in Frage kam. . Der springende Punkt des Verfahrens war vielmehr, Kunst und Realität von vornherein in eins zu setzen. Wenn nämlich die irrationalen Gegebenheiten dem Subjekt nicht als Objekte gegenüberstehen, sondern das Subjekt völlig bedingen, seine Denk- und Auffassungsweisen formen, dann ist die Kunst nicht Aneignung oder Widerspiegelung, sondern schlechterdings nur A u s d r u c k des übergeordneten Seins, und dies um so reiner, je weniger Ratio und subjektives Bewußtsein hineinspielen. Auf diese Behauptung läuft im Grunde die ganze faschistische Ästhetik hinaus. W a s dieses oberste Sein sei, darüber konnte man verschieden dekretieren; wenn es als das vorgegebene Feind-Verhältnis von Menschenrassen dargestellt wurde, war die Nazifizierung der Ästhetik perfekt. Doch begann die Faschisierung bereits dort, wo das Grundpostulat des mythischen 'Realismus' aufgestellt wurde. 12*

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Die Ursprünge hat Georg Lukäcs 1934 eindeutig bestimmen zu können gemeint: „Es gibt kein einziges Motiv der faschistischen Ästhetik, das nicht direkt oder indirekt von Nietzsche herstammen würde; [ . . . ] angefangen von der Mythentheorie und vom Antirealismus." 173 Abgesehen von dem unpassenden Ausdruck „Mythentheorie", ist gegen diese Bestimmung wieder einzuwenden, daß sie sich zu schnell und zu geistesgeschichtlich auf Gipfelpunkte reaktionären Denkens orientiert. Wieviel Unheil Nietzsche auch mit seiner Theorie der nötigen Barbarei in der Kultur, mit seinem 'heroischen Pessimismus', dem Ideal der zweckfrei 'soldatischen' Haltung oder mit anderen Idolen angerichtet hat, die er „euch lehrte", - seine Erkenntnistheorie blieb doch durchaus auf Agnostizismus, seine Ethik auf subjektive Entscheidungen und seine Gesellschaftstheorie auf Eliten bezogen, welche er sich weder als national noch völkisch noch gar rassisch gegeben dachte. Gewiß hat er für Baeumler „Motive" bereitgestellt; aber die Grundlegung des faschistischen 'Realismus' ist ihm kaum zuzuschreiben. Bezeichnenderweise hat Oswald Spengler an Nietzsche das „Praktisch-Ethische" gelobt, ihn als Propheten, als radikalen Sprecher der abendländischen „Zivilisation" anerkannt, seiner Philosophie dagegen jede wissenschaftliche Einsicht abgesprochen.176 Spengler selbst kannte natürlich die höheren Mächte. Es sind, wie man weiß, die „Kulturen", mythische Organismen, die ein unabwendbar biologisches Schicksal haben, die geboren werden, reifen, altern und sterben, ohne dabei etwas Rechtes voneinander zu wissen. Im Verhältnis zu den „Kulturen", oder eigentlich zu deren „Seelen", seien die menschlichen Phänomene - „Völker, Sprachen und Epochen, Schlachten und Ideen, Staaten und Götter, Künste und Kunstwerke, Wissenschaften, Rechte, Wirtschaftsformen und Weltanschauungen, große Menschen und große Ereignisse" - sämtlich nur „Symbole" und als solche eine „Wirklichkeit geringeren Ranges" 177 . Die Menschen stellen lediglich den „Stoff" dar, in dem sich die Kulturen ausdrücken; alle Geistesäußerungen müßten auf ein Bedingendes bezogen werden; selbst „Wahrheiten gibt es nur in Bezug auf ein bestimmtes Menschentum"178. Am nächsten komme man der jeweiligen „Kulturseele" in dem, was Spengler das „Ursymbol" nennt und womit er ein Urverhältnis zu Raum und Zeit meint, das selbstverständlich bei jedem „Menschentum" anders sein muß. So sei das Ursymbol der „antiken Kultur" annäherungsweise der stoffliche Einzelkörper, das der „abendländischen", d. h. westeuropäisch-nordamerikanischen, hingegen der unendliche Raum. 180

„Aber das Ursymbol selbst verwirklicht sich nicht. Es ist im Formgefühl jedes Menschen jeder Gemeinschaft, Zeitstufe und Epoche wirksam und diktiert ihnen den Stil sämtlicher Lebensäußerungen."i*> Bei aller gewaltsamen Willkür hatte Spenglers Ideologie den einen Vorzug vor der nazistischen, daß sie ihre Bezugspunkte und Absichten nicht verbarg. „Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung n u r der abendländischen Seele [ . . . ] und zwar n u r in deren heutigen, zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind." 180 In politischer Hinsicht wurde die Tragweite durch den berüchtigten Satz: „Ich lehre hier den I m p e r i a l i s m u s [ . . . ] als das typische Symbol des Ausgangs begreifen" 181 , deutlich bezeichnet. Was den kulturpolitischen Geltungsbereich betraf, so setzte die Auffassung, daß innerhalb jeder „Kultur" auf eine blühende Kunstund-Kultur-Zeit immer eine Epoche formalistischer „Zivilisation" folgen müsse, der Verwertung durch die Nazis gewisse Grenzen, ähnlich wie es Spenglers Orientierung auf die neuen, „cäsarischen" Wirtschaftsführer in politischer Hinsicht tat. Aber der „Gehalt als Weltanschauung" war doch weitgehend disponibel für andere faschistische Ausmünzungen, nicht zuletzt in der Ästhetik, der Spengler eine zwar nicht vorrangige, aber doch gewichtige Rolle beim Aufbau seines Systems zumaß.182 Nur um die Übertragbarkeit zu zeigen, seien einige Sätze aus Ernst Jüngers Vorwort zu Krieg und Krieger zitiert: Der innere Zusammenhang [ . . . ] in diesem Buche [.. .] ist der des deutschen Nationalismus, dessen Kennzeichen es ist, daß er den Anteil sowohl am Idealismus der Großväter als auch am Rationalismus der Väter verloren hat. Seine Haltung ist vielmehr die eines heroischen Realismus, und das, was er zu begreifen wünscht, ist jene Substanz, jene Schicht einer unbedingten Wirklichkeit, von der sowohl die Ideen wie die verstandesmäßigen Schlüsse nur die Äußerungen sind. Daher ist diese Haltung zugleich eine symbolistische, insofern sie jede Tat, jeden Gedanken und jedes Gefühl als das Symbol eines einheitlichen und unveränderlichen Seins begreift, dem es unmöglich ist, sich seiner eigenen Gesetzmäßigkeit zu entziehen.183 Die „unbedingte Wirklichkeit" würde demnach in einer mythischmilitaristischen Volks- oder National-„Seele" liegen; ansonsten verläuft hier alles in den Gedankenbahnen der „Kulturmorphologie". 181

Unverkennbar hing von Spengler auch Der Mythus des 20. Jahrhunderts ab, der im Untertitel Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit hieß. Die Kritik am Vorgänger erschöpfte sich darin, daß er „die rassisch-organische Entstehung" seiner „Kulturkreise" nicht geprüft habe. 181 Rosenbergs Buch, das nach Angaben des Autors schon 1917 konzipiert wurde und 1925 großenteils fertig war, auch in einzelnen Weltkampf-Kttike\n vorabgedruckt wurde, kam als Ganzes erst 1930 und nicht im offiziösen EherVerlag heraus. Hitlers Verwahrung gegen Parteiamtlichkeit, die sich im aufgenötigten Vorwort niederschlug - die „politische Bewegung" habe sich „als O r g a n i s a t i o n fernzuhalten von Auseinandersetzungen religiöser, kirchenpolitischer Art ebenso wie von der Verpflichtung auf eine bestimmt« Kunstphilosophie"185 - erfolgte offenbar nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch wegen Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der Innerlichkeit, der „Seele", in der Ideologie. Wenn Hitler in der Bischofsaudienz vom 26. April 1933 Rosenberg als „Protestanten" preisgab,186 kam seine Aversion gegen die „geistig-seelische" Fundierung der vom Mythus geforderten Kirche zum Ausdruck. („Die Sehnsucht, der nordischen Rassenseele im Zeichen des Volksmythus ihre Form als Deutsche Kirche zu geben, das ist mit die größte Aufgabe unseres Jahrhunderts." 187 ) In der von Rosenberg gepredigten Weltanschauung hatte der „oberste Grundsatz", die „höchste Idee", jenes „Absolutum", hinter dem es nichts zu forschen und zu suchen gebe, die folgende Gestalt angenommen: Auseinandersetzung zwischen Blut und Blut, Rasse und Rasse, Volk und Volk. Und das bedeutet: Ringen von Seelenwert gegen Seelenwert . . , 188 Rassengeschichte sei „deshalb Naturgeschichte und Seelenmystik zugleich" 189 . Nicht mit dem Alterszustand des 'Abendlandes', sondern „mit der Richtung des seelisch-rassischen Stroms des Germanentums" seien „Vernunft und Willen in Übereinstimmung zu bringen" 190 ; das „Asphaltmenschentum der Weltstädte" bilde kein arisches Schicksal, sondern müsse überwunden werden; wo Spengler „Kultur" und „Wissenschaft" gesagt hatte, sagte Rosenberg „Blut" und „Mythus"; doch beharrlich setzte er neben die „Rasse" deren eigentümliche „Seele", die er im Grunde für alles Geschehen verantwortlich machte, auch wenn sie nur „symbolisch" in Erscheinung treten könne. „Erblicken wir in der heldisch-künstlerischen Haltung hier das Wesentliche, gleich ob es sich um Krieger, Denker oder Forscher handelt, dann 182

wissen wir auch, daß a l l e Heldenhaftigkeit sich um einen Höchstwert gruppiert. Und dies ist immer die Idee der geistig-seelischen Ehre gewesen." 191 So ergab sich eine durchgehaltene Polarisierung der Ideologie nach der Formel „Blut und Ehre", welche später auf den Dolchen der Hitlerjugend ihren Platz finden sollte. Für die Ästhetik im engeren Sinne, der das mittlere von drei Büchern des Mythus gewidmet war, erhob sich dieselbe doppelte Wertsetzung: „eines rassischen Schönheitsideals in physischer Hinsicht und eines rassisch gebundenen Höchstwertes seelischer Art" 192 . Rosenberg zeigte sich wieder einmal ideologiebewußter als sein „Führer". Interessant ist aber, wie der Ideologe in der Tradition Spenglers und der 'deutschen Geistesgeschichte' die Pole verteilte. „Das artbedingt-Schöne als äußere Statik der nordischen Rasse, das ist Griechentum, das arteigen-Schöne als innere Dynamik, das ist nordisches Abendland." 193 Somit wurde der Hitlersche Klassizismus in bestimmte Grenzen verwiesen und die „deutschvölkische" Tradition als die aktuellere hingestellt. Rosenberg bevorzugte entschieden die „Gotik", worunter er allerhand Zeugnisse vom Nibelungenlied über Kirchenbauten und mystische Schriften bis hin zum Meister Eckehart verstand; in der Gegenwart galt seine Vorliebe Dichtern wie Hermann Löns, Hamsun, Hans Grimm oder Kolbenheyer. 194 Der bei allen verspürte „ästhetische Willen" - „wenn nicht der stärkste, so doch sicher der umfassendste Ausdruck des menschlichen Willens überhaupt" 195 - darf freilich nicht mit Wölfflins Begriff des „Kunstwollens" verwechselt werden. Gemeint war ein nordischer „Tatwilkn", der sowieso ästhetisch im weiteren Sinne war und der eigentlich immer schon auf Religion und Kirche hinauswollte, doch durch „Roms" Schuld einen fast ausschließlich künstlerischen Ausdruck gefunden habe. Immer noch wären Religion und Kirche seine Ziele. Von der vorbereitenden und begleitenden „nordischen" Kunst der Gegenwart verlangte Rosenberg schwierige Kunststücke: „Das höchste Kunstwerk des Abendlandes ist deshalb nicht ein 'Schönes', sondern das Werk, welches das Äußere mit seelischer Stoßkraft durchsetzt, es von innen heraus über sich selbst erhebt." 196 Die verworfene Moderne stütze sich nur auf die sinnlich-triebhafte Seite des Menschen, faschistische Kunst dagegen auf die „übersinnlich-willenhafte", bleibe jedoch immer an „Blut und Ehre" gebunden. „Das Streben des modernen 'Gotikers' strebt nicht durch die Wolken empor, sondern geht auf wuchtende Arbeit aus." 197 Wenn es überhaupt eine 183

programmatische Theorie für die Plastiken der Thorak und Breker gab, dann war sie in dieser Kunstlehre zu finden. Der im Mai 1933 auf den Berliner Lehrstuhl für „politische Pädagogik" berufene Alfred Baeumler verzichtete in seiner Ästhetik auf Kunstprogramme. E r hatte die Absicht, Ästhetik und politische Ethik ontologisch zu begründen, indem er beide auf dieselbe 'Seinsgegebenheit' zurückführte. Sein Buch behandelte nebeneinander die Kunstphilosophie und die 'Lehre vom Schönen' in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Ausgangspunkt in beiden Richtungen war Piaton. Doch erschien Piaton nicht nur als Anfang, sondern auch als geheimes Ende des Philosophierens. Die Kurve, die das ästhetische Denken in seinen Werken beschreibt, wurde als eine vorbildliche Linie ausgegeben, durch deren Nachvollzug man neuerdings zu einer Ontotogie des Schönen kommen könne. „Die ästhetische Reflexion hat sich nicht an der Erscheinung der Kunst, sondern an der Erscheinung des Schönen entzündet; das ist das erste und folgenschwerste Ereignis der Geschichte der Ästhetik." 198 Piatons Weg nehme im Symposion und Phaidros bei der „Bezauberung des Autors durch die lebendige Schönheit der athenischen Jünglinge" seinen noch unphilosophischen Anfang, führe im Staat, wo „die staatlich-kriegerische Erziehung des Jünglings" das Thema sei, zur entschiedenen Feindschaft gegen alle auf Abbildung, Mimesis, gegründeten Künste, um dann in den Spätschriften, vorzüglich den Nomoi, bei einer neuartigen Kunstlehre zu enden.199 Doch die Anerkennung gelte nunmehr der „Angemessenheit der Wirkung für einen bestimmten politisch-pädagogischen Zweck", und die bejahte Kunst sei nur noch „ h e i l i g e Kunst - Grundlage eines der Entwicklung entrückten, auf die uralten Maßnormen gegründeten Staatswesens".200 Demgegenüber beginne mit Plotin, der ähnlich am Ausgang der antiken Philosophie stehe wie „Hegel am Ende der Epoche der christlichen"201, die Erbsünde der Ästhetik. Denn hier, wo der Geist als das gestaltende Prinzip, das Schöne als ein Gestaltetes erscheint, vollziehe sich der folgenschwere Übergang zur Ideenlehre, zur anschauenden Haltung, kurz: zu jenem „Subjektivismus", der noch die deutsche philosophische wie literarische Klassik im Innersten bestimmt habe. „Plotin gibt das Beispiel für die folgenden Jahrhunderte, wie man auf dem Wege über die Gestalt ins Gestaltlose fliehen kann, wie Nihilismus und Ästhetik zu verbinden sind." 202 Baeumler 184

behandelt die weiteren Kunstphilosophien zwar mit Sachkenntnis und verbalem Respekt, doch ohne den Vorwurf des „Nihilismus" je zurückzunehmen; er hält ihn aufrecht, wo immer von Freiheit, Selbstbestimmung des Subjekts die Rede sein kann. Das Subjekt wieder an absolute Gegebenheiten zu binden bleibt das Ziel der Darstellung. Der Faschist will eine verpflichtende Gehaltsästhetik aufstellen und braucht dazu ein natürliches, jeder Geschichte und jeder Kritik entzogenes 'Sein*. Wenn für diesen Zweck Piaton aktualisiert wird, muß sogar die Ideenlehre fallen, weil sie dem Gegensatz von Subjekt und Objekt noch zuviel Raum gibt. Das gesuchte Reale findet Baeumler nun in den Nornoi unter der pythagoreischen Vorstellung der „Maßnorm". Aus einer mythischen Zahlenlehre wird eine normative Ontologie gemacht. „Die Begriffe Maß und Symmetrie [ . . . ] entstammen einem reinen Gehaltsdenken, das wir auch ein Denken in Symbolen nennen können. Es ist diesem Denken eigentümlich, daß es das Weltall und den Menschen einem 'Dritten* unterstellt, das nichts Äußerliches und Fremdes gegen sie ist, sondern ihr Gemeinsames und Wesentliches. Dieses Dritte ist das Maß, nicht als Form, sondern als Gehalt; nicht als abstraktes Gesetz, sondern als konkrete Seinsbestimmung."203 Scheinbar Piaton folgend, leitet der Faschist daraus kurzerhand eine affirmative Staatslehre ab: „Im Notfall müssen die Menschen gezwungen werden, in der Ordnung zu sein. Unter der Voraussetzung der Maßnorm fehlt diesem Gedanken jeder vergewaltigende Charakter [ . . . ] Nicht in Neuerungen, im Umsturz der Weisen des Gesanges und des Lebens liegt das Heil, sondern in der Bewahrung dessen, was den ewigen Ordnungen entspricht und niemals sich wandeln kann." 204 Dementsprechend enthalte die „Maßnorm" eine Ästhetik, „die weder 'Schönheits'lehre noch 'Kunst'lehre ist - auch diese Sphären sind noch nicht auseinandergetreten - sondern schlechthin Ästhetik der O r d n u n g " . Die ihr gehorchende Kunst bilde nicht ab, sondern stelle „symbolisch" dar; statt mit den Höhlenmalereien beginne ihre Geschichte mit Musik, Reigentanz und Architektur, da diesen Künsten eigen sei, daß sie eine „menschliche Darstellung der göttlichen Ordnung des All" gäben.205 In der Tat: wenn zwischen Urbild und Abbild kein metaphysischer Unterschied besteht, ist der „Seinsgrad" des die Ordnung nachbildenden Kunstwerks „um nichts geringer als der alles übrigen Seins" 206 ; dann bilden der richtige Staat und die richtige Kunst nur gleichartige Ausformungen der mythischen Realität. Weit über Piaton hinausgehend, formuliert Baeumler all185

gemein: „Die Künste [ . . . ] , welcher Art sie immer sein mögen, können nie einen anderen Inhalt und eine andere Form haben als das Maß, das dem Ganzen innewohnt, in das er geboren ist." 207 Piatons Autorität wird in Anspruch genommen, um Staat und staatspädagogische Kunst gleichermaßen absolut zu setzen. Die schielende Formulierung, daß die „heilige" Kunst zwar die „Grundlage" des richtigen „Staatswesens", dieses selber jedoch auf den uralten Maßnormen „begründet" sei (s. o. S. 184), kann nur bedeuten, daß Kunst und Staat sich zwar auf dasselbe beziehen, letzterer aber seine Ausprägung nicht ohne erstere erhalten könne. Mit anderen Worten: Das gewünschte Staatswesen wird sich nicht allein aus der politischen Integration ihm unterworfener Menschen ergeben, sondern bedarf prinzipiell ihrer Erziehung im Sinne eines autoritären Gesetzgebers, der sich auf überzeitliche Ordnungen beruft. Von Piaton leitet der Professor für nationalsozialistische Bildung seinen Auftrag her, den 1933 geschaffenen Machtstaat durch geistige Formung der Jugend zu stabilisieren. Außerdem findet er dort die früheste Quelle für jene Ästhetisierung der Politik, die mit der Identität von Staat und Kunstwerk, Staatsmann und Künstler arbeitet. (Immerhin geht es selbst hier nicht ohne Verfälschungen ab; denn in der Platonischen Antwort der Staatsgründer auf die Anfrage der Tragödiendichter, ob sie im Staat Aufnahme finden können: „ [ . . . ] wir sind selber Dichter einer Tragödie und sogar womöglich der schönsten und besten", hat immer noch die „der Wahrheit entsprechende Gesetzgebung" den Vorrang, wohingegen Baeumler von der nichtrationalen Lehre zum mythischen Irrationalismus weitergeht: „ [ . . . ] dieser Staat ist das höchste Kunstwerk, aber nur in d e m Sinne 'Kunstwerk', wie die von den Göttern geordnete Welt ein Kunstwerk ist." 208 ) „Daß das Kunstwerk Ausdruck ist, daß es Teil eines Lebensganzen ist, ist uns heute eine Selbstverständlichkeit" 209 , heißt es zum Abschluß. Die deutsch-faschistische Ästhetik knüpft ohne weiteres an das konventionelle 'Ausdrucks'-Prinzip an. Nur soll das Innere, das zum Ausdruck kommt, von allem Subjektiven rein bleiben; keine Vernunftidee dürfte das Werk gestalten, blind und bewußtseinslos hätte es der ewigen „Maßnorm" zu dienen. Mit großem Geschick hat Baeumler die oberste 'Realität' so weit formalisiert, sie gleichsam noch hinter die geläufigen biologischen Organismen - Kulturen, Völker, Rassen - ins 'Kosmische' zurückverlegt, daß alle faschistischen Idole ein Quartier erhalten. Als ausdrucksformende Qualitäten können sie im Begriff des „Stils" unterkommen. „Wohl führen die großen 186

Stile letztlich auf die Ausdruckskategorie zurück; sie sind alle Ausdruck des Daseins und der Gestaltungskraft von Völkern und Rassen. Völkern und Rassen ist ein bestimmtes Schönheitsideal eigen, und keine historische Kunstgestalt, sofern sie echt ist, kann unabhängig von diesem arteigenen Ideal bestehen . . ,"210 Wichtiger noch als das Kunststück, Piaton mit Rosenberg zu synthetisieren, war der angestrengte Versuch, unter Rückgriff auf antike Autoritäten nicht nur den „Liberalismus", sondern vor allem die klassische Philosophie und Ästhetik mitsamt ihrer marxistischen Aufhebung theoretisch zu vernichten. „Von Pythagoras zu Vitruv, von da über das Mittelalter zur Renaissance und zur Gegenwart, schwingt sich der Bogen einer Ästhetik der M a ß n o r m. Es würde uns schwerfallen, diesen Bogen zu rekonstruieren, wenn nicht gerade in der Mitte ein wichtiges Stück erhalten geblieben wäre. Dieses Stück finden wir in Piatons Spätschriften." 211 - Immerhin schwingt sich der weitere Verlauf zwischen den Pfosten der „Renaissance" und der „Gegenwart" schwindelnd über die gesamte neuere Philosophie hinweg. Noch in seiner Dissertation von 1923 hatte sich Baeumler bemüht, Kants Genie- und Geschmackslehre für den Irrationalismus zu retten, da in ihr das entscheidende Problem der Individualität wenigstens aufgegriffen, wenngleich noch rationalistisch gelöst worden sei. „Man nennt diese klare Einsicht in das aller logischen Durchsichtigkeit entzogene Wesen der Individualität I r r a t i o n a l i s m u s" 212 , hieß es damals. Mit solchen Halbheiten war 1933 offenbar kein Staat mehr zu machen. Die Ästhetik von 1934 drückte sich um eine eindeutige Stellungnahme zur Klassik herum. Doch daß da jetzt ein Feind erblickt wurde, hatte Baeumlers Antrittsvorlesung vom 10. Mai 1933 deutlich zu verstehen gegeben. Sie ließ keinen Zweifel an der Verwerfung des entgegenstehenden „anderen Denksystems [ . . . ] eines bildlosen Idealismus", der von der „falschen Antithese Geist - Macht" ausgehe und an die Stelle des Soldaten den Denkenden gesetzt habe. „Die Nationalsozialisten aber", so referierte die noch nicht ganz gleichgeschaltete Vossiscbe Zeitung, „wüßten um die Symbole, und sie wüßten um die Wirklichkeit eines Führers und um die Wirklichkeit einer Fahne." 213 Als ein „Symbol" waren ohne Zweifel auch die Bücherverbrennungen aufzufassen, zu deren Berliner Premiere Baeumler stehenden Fußes von seiner Vorlesung aufbrach. Denn der Mensch sei, wie es 1934 heißen wird, „nicht ein Wesen, dessen Sein dadurch bestimmt ist, daß er teilnimmt an einer höheren 'geistigen Welt'", 187

sondern im Gegenteil „ein ursprünglich handelndes Wesen" 21 ''. Noch unmißverständlicher hatte Baeumlers Kollege Ernst Krieck, einstiger Mitarbeiter an Moeller van den Brucks „politischem Kolleg" und nunmehr ebenfalls Professor für politische Pädagogik, sich 1933 über die Klassik geäußert: „Der deutsche Idealismus muß darum nach Form und Inhalt überwunden werden, wenn wir ein politisches, ein handelndes Volk werden wollen." 2 1 5 Die von Baeumler verwendete Feindformel, in der die Bedeutungsbreite des Begriffs „Idealismus" durch „bildlos" stark eingeschränkt war, richtete sich eindeutig gegen die klassische deutsche Philosophie, und zwar gegen deren Ethik sowohl wie gegen die Ästhetik. E s genügt, auf Kant Bezug zu nehmen. Kants Sittenlehre hatte die Willensfreiheit als eine Idee der Vernunft bestimmt, deren objektive Realität an sich zweifelhaft sei, deren regulative Notwendigkeit sich aber aus rationalen Gründen unzweifelhaft ergebe. Diese Ethik war 'bildlos' in dem genauen Sinne, daß sie alle Idolatrie, jede Aufrichtung von Gottes-, Götter- und Götzenbildern, verwarf. „Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hineind e n k t , überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich h i n e i n s c h a u e n , h i n e i n e m p f i n d e n wollte." 21G Auf sich selber gestellt, vermag sie mit dem freien Willen zugleich die Gesetze, die er sich gibt, unwidersprechlich zu begründen. D i e daraus hervorgehende, für Kant bezeichnende Abstraktheit des praktischen Imperativs („daß das Prinzip der Handlung von allen Einflüssen zufälliger Gründe, die nur Erfahrung an die Hand geben kann, frei sei") und nicht weniger die damit verbundene Neigung zu einer 'absoluten Moral', welche unter Entgegenstellung zum Naturgesetz der Triebe und Leidenschaften „nichts von der Neigung des Menschen, sondern alles von der Obergewalt des Gesetzes und schuldigen Achtung für dasselbe" 2 1 7 erwartet, - diese „heroischen Züge im Antlitz des deutschen Idealismus", die nach Benjamins großer Formulierung in Wahrheit „die hippokratischen, die Züge des Todes" 2 1 8 waren, hatte einst Chamberlain zu Wertzeichen des „echten Christentums" und der „germanischen Weltanschauung" machen wollen: „Jetzt erst wurde das Leben wahrhaft tragisch. Die freie That des Menschen, der sich gegen seine eigene animalische Natur erhob, hatte das vollbracht." 2 1 9 Aber der machthabende, aufs Ganze gehende Faschismus konnte und wollte sich mit solchen Anpassungen nicht begnügen. E s war die Absicht seiner philosophischen Theorie, den Menschen mit K o p f , Herz und allen Organen jenen Mächten zu unterstellen, in deren 188

Namen die Diktatur ihres Amtes waltete. Totale Versklavung stand im Zentrum seiner Ideolgoie. Der „heroisch-völkische Realismus" mußte deshalb auch in der klassischen Ästhetik einen Feind erblicken. Denn hier bildete, ebenso wie in Logik und Ethik, das denkende, sich selbst bestimmende Subjekt die erste Voraussetzung. Kant hatte die ästhetischen Urteile an allgemeine menschliche Vermögen gebunden, die zwar selbständig seien, doch im Verhältnis zu anderen eine vermittelnde Stelle innehätten. Es waren dies (in Hinsicht auf die „Seelenvermögen" überhaupt) zunächst das „Gefühl der Lust und Unlust", welches weder eine Einsicht noch ein Willensmotiv enthalte, doch von beiden affiziert werde, und weiter (in Hinsicht nur auf die „Erkenntnisvermögen") die „Urteilskraft", die ihrerseits zwischen dem „Verstand" (oder der „reinen", auf Selbstergründung gerichteten „Vernunft") und der praktischen Vernunft die Mitte bilde. „Urteilskraft" wurde die Fähigkeit genannt, vom Besonderen aufs Allgemeine und umgekehrt zu schließen; „reflektierend", wenn nur die Angemessenheit äußerer Objekte für Verstand und Vernunft in Betracht kam. Kant meinte nun, daß bei ästhetischen Gegenständen (der Natur oder Kunst) diese innere Reflexionstätigkeit harmonisch verläuft, eine Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck erkennt und dadurch ein Gefühl der Lust hervorruft, das zwar bei allen Menschen anzutreffen ist, jedoch nicht in Verstandesbegriffe überführt werden kann. Das „Schöne" bezeichne so zwischen dem „Angenehmen" und dem „Guten" ein spezifisches Verhältnis des Gegenstandes zum Subjekt; es errege ein Lustgefühl, das auf dem freien Spiel des Verstandes und der Einbildungskraft beruht. „Man kann sagen: dass unter allen diesen drei Arten des Wohlgefallens das des Geschmacks am Schönen einzig und allein ein uninteressiertes und f r e i e s Wohlgefallen sei; denn kein Interesse, weder das der Sinne noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab." 220 Beim „Erhabenen" hingegen beziehe die ästhetische Urteilskraft den Gegenstand auf die praktische Vernunft, um mit deren Ideen (Unendlichkeit, Freiheit) subjektiv übereinzustimmen. Kants Ästhetik war also rational, ohne das Ästhetische der Logik unterzuordnen; sie zeigte Gründe des Wohlgefallens am Schönen und Erhabenen, die „mit dem Prinzip des Rationalismus zusammen bestehen können" 221 ; sie war aber auch idealistisch (im Kantschen Sinne), da sie keine realen Zwecke der Natur, sondern nur eine Zweckmäßigkeit im denkenden Subjekt annahm, „wo es Gunst ist, womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt" 222 . 189

Das Ästhetische bewirke eine Kultur der Verstandes- und Gemütskräfte, die mit Humanisierung ein und dasselbe ist. D a die klassische Ästhetik der autonomen Vernunft untersteht und die Vervollkommnung des Menschen im Auge hat, mußte sie sich die Feindschaft des Faschismus zuziehen. E r wollte keine Spielräume dulden, die sich der totalen Funktionalisierung entzogen hätten. In jeder verantwortlichen, sich selbst bestimmenden Kunst sah er einen Gegner. Vielmehr sollte die Kunst ihrer Selbständigkeit beraubt, in den Dienst der Propaganda gestellt und auf die Stufe irrationaler Kulte zurückgebracht werden. E s war die Aufgabe der faschistischen Ästhetik, dafür, so gut es ging, die Begründung zu liefern.

Die Künste im ideologischen System Herrschaftstechnische Instrumentalisierung der Künste war das Hauptziel nationalsozialistischer Kulturpolitik nach der Machtergreifung. D a ß die Kunst kein Eigenrecht besitze, daß sie jede erworbene Selbstbestimmung aufzugeben habe, darüber bestand schon vorher E i n mütigkeit unter den deutsch-faschistischen Ästhetikern. Allerdings ist die Theorie über diesen Punkt hinaus kaum verlängert worden. Überlegungen zur spezifischen Wirkungsmöglichkeit und zum entsprechenden Einsatz der Kunstmittel wurden zwar angestellt, fügten sich aber nicht zu einem ästhetischen System. Am besten läßt sich die Art des vorgesehenen und praktizierten Mißbrauchs daran erkennen, welche Künste vor anderen bevorzugt wurden. In der T a t zeichnete sich eine solche Wertungshierarchie, beschränkt auf traditionelle Gattungen, sowohl in der Gesamtheit der Theorien als auch in der kulturpolitischen Praxis ab, wennschon es dabei einige Umstellungen gab, die dem zunehmenden Machtgewinn entsprachen. D i e absolute Spitzenstellung der Architektur (neben der Musik), wie sie sich im Kampf buch und vorher bei Moeller van den Bruck ankündigte, dann durch Baeumler theoretisch ausgedrückt wurde, dürfte ein Ergebnis der Machtübernahme 1933 gewesen sein. Noch für den Bayreuthianer Chamberlain stand fest, daß jedes „echt künstlerische Schaffen [ . . . ] dem unbedingten Primat der Poesie" 2 2 3 unterliege. Freilich meinte er mit „Poesie", welche der „Litteratur (auf Deutsch 'Buchstäblerei')" 2 2 4 entgegenzustellen und seit Urzeiten in E i n heit mit Musik zu denken sei, nur das Ausdrucksorgan einer auf „unmittelbarer Erfahrung" beruhenden irrationalen Weltsicht. „In der Trias Weltanschauung, Religion, Kunst [welche Dreiheit die „Kultur"

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ausmache - G. H.] könnten wir die Kunst am allerwenigsten entbehren. Denn unsere germanische Weltanschauung ist eine transcendente und unsere Religion eine ideale, und darum bleiben beide unausgesprochen, unmittelbar, den meisten Augen unsichtbar, den meisten Herzen wenig überzeugend, wenn nicht die Kunst [ . . . ] vermittelnd dazwischentritt." 225 - Rosenberg fand den Unterschied zwischen Hellas und dem „nordischen Abendland" in den Typen „künstlerisch-statisch" versus „künstlerisch-dynamisch-willenhaft" widergespiegelt (s. o. S. 183); indem er dem Norden die „zeitlichen Künste" mehr als die „räumlichen" zuwies, 226 schwebte ihm etwas Ähnliches wie die Chamberlainsche „Poesie" vor. Den Kult seiner „Deutschen Volkskirche" wollte er mit „gotischer" Mystik, der Edda, Bibelzitaten (aber ohne das Alte Testament und unter Hinzufügung eines „fünften Evangeliums"), mit neugedichteten Sprüchen sowie reichlicher Musik bestreiten, 227 so daß auch hier - wie es dann die „Feiergestaltungen" der NS-Gemeinden praktizierten - die „zeitlichen" Künste den Vorrang hatten. Die auffallende Umwertung seit 1933, durch welche die Baukunst nach vorn kam, ist damit zu erklären, daß die frühen Ideologen immer nur an weltanschauliche Indoktrination gedacht hatten, während die wirklichen Machthaber weiterreichende Mittel der Massenbeeinflussung ins Auge faßten. Baeumler beschloß 1934 seine Ästhetik mit einem Nietzsche-Zitat: Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art MachtBeredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend [ . . . ] Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat, die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewußtsein davon lebt, daß es Widerspruch gegen sie gibt, die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: D a s redet als großer Stil von sich.228 Die „Macht-Beredsamkeit", die sich in der wortlosen Form des Monumentalbaus ausspricht, veranlaßte zweifellos auch den „Führer" zu seiner Bevorzugung dieser Kunstart. Alle großen Architekturvorhaben hingen direkt von ihm ab. Den Primat hatten zunächst „Bauten der Bewegung", so vor 1933 die Ausgestaltung des „Führerbaues" in München und danach das „Reichsparteitagsgelände" bei Nürnberg, - Anlagen, in denen sich die propagandistische Wirkung auf 191

das Volk mit der organisierenden auf die Anhängerschaft vereinte. Was dabei die letztere, hauptsächliche Funktion anlangt, so entsprach sie durchaus kultischen Absichten, nur daß der Kult des „Führers" sich von dem Rosenbergschen in wichtigen Punkten unterschied. Er war von vornherein für große Massen berechnet; daher legten Hitler und seine Architekten (bis 1934 Paul Troost, dann Albert Speer) das Schwergewicht auf die Gestaltung von Plätzen, von Freiräumen, denen die Fassaden riesiger Bauten den Rahmen zu geben hatten. Das Ritual sollte in militärischen Formen verlaufen; daher die Gestaltung der Räume als Aufmarschplätze für das „Menschenmaterial". Zutreffend nannte ein Kunsthistoriker die erstarrten Blöcke aus Viererreihen, zwischen denen der Führer die „politisch-kultische Handlung" zelebrierte, „eine menschliche Architektur"229. Und schließlich mußte die Steinarchitektur dem autoritären Staatscharakter Ausdruck geben; daher die durchgeplante Gliederung der Anlagen. In Mein Kampf hatte es mit Hinblick auf München geheißen: „Nur das Vorhandensein eines solchen, mit dem magischen Zauber eines Mekka oder Rom umgebenen Ortes kann auf die Dauer einer Bewegung die Kraft schenken, die in der inneren Einheit und der Anerkennung einer diese Einheit repräsentierenden Spitze begründet liegt." 230 Gemäß dem polaren Verhältnis einer erstarrten „Bewegung" zu dem herausgehobenen, die „Spitze" bildenden Führer, waren alle jene Baukomplexe konzipiert, die nach dem Münchener und Nürnberger Vorbild an den Sitzen von „Gauleitungen" entstanden. Als Hitler auf dem Parteitag 1935 den Grundstein der Kongreßhalle", dieses „ersten Riesen unter den Bauten des Dritten Reiches" legte, redete er vom „Monumentalbau" nicht nur „der Bewegung", sondern auch schon von einem künftigen „des Staates" 231 . Damit war die Ausgestaltung großstädtischer Zentren gemeint, wie sie bald darauf in Angriff genommen wurde. Die gigantischen, zuerst in Berlin verwirklichten Vorhaben dokumentierten eine sichtbare Ausdehnung der „Führergewalt" auf den traditionellen Staat. Von den „Bauten der Bewegung" hoben sie sich insoweit ab, als die geplanten Ensembles an Plätzen und Stadtachsen etwas mehr zur Rahmung von Truppenparaden, Vorbeimärschen, denn Aufmärschen dienten, und als sie am Alltag von den Menschenmassen mehr in der Zerstreuung denn in kultischer Sammlung aufzunehmen waren. Die a l l e n Großbauten zugedachten Funktionen lassen sich in die folgende Reihe bringen: Das Regime wollte Ansprüche auf ewige Dauer in der Weltge192

schichte anmelden (Hitler 1935 mit Blick auf die Pyramiden, die Akropolis oder mittelalterliche Dome: „Kein Volk lebt länger als die Dokumente seiner Kultur" 232 ); die Staatsmacht sollte unübersehbar in Erscheinung treten („Je größer die Anforderungen des heutigen Staates an seine Bürger sind, um so gewaltiger muß der Staat auch seinen Bürgern erscheinen [ . . . ] Die Gegner werden es ahnen, aber vor allem die Anhänger müssen es wissen: zur Stärkung dieser Autorität entstehen unsere Bauten!" 233 ); außer an imponierende war an einschüchternde Wirkungen gedacht („Nichts ist mehr geeignet, den kleinen Nörgler zum Schweigen zu bringen, als die ewige Sprache der großen Kunst" 234 ); und endlich hatte sich alles in der disziplinierenden Ausrichtung des Volkes auf seine militärische „Mission" zu vereinigen. Bezeichnenderweise kam in keinem Führerwort der Wohnbau vor. Seine als „Bauten der Gesellschaft" deklarierten Staatsunternehmungen setzte Hitler, „national-sozialistischer" Demagogie folgend, ausdrücklich den „Industriewerken, Banken, Börsen, Warenhäusern und Hotels usw. bürgerlicher Kapitals- und Interessengemeinschaften" entgegen. 235 Damit wurde aber nur die staatskapitalistische Tendenz verschleiert, der gerade die Monumentalarchitektur wie keine andere Kunst zustatten kam. Ein dunkler Satz auf der „Kulturtagung" 1935: „Der gesamte Fortschritt entstand und entsteht durch die fortlaufende Einsparung von Arbeitskräften auf bisher als lebensnotwendig empfundenen Produktionen und ihre Hinüberführung auf neuerschlossene und damit stets nur einer kleinen Anzahl von Menschen materiell und geistig zugängliche Gebiete"23®, verkündete gerade starke Kapitalkonzentration unter staatlicher Aufsicht im Bauwesen. Das bedeutete zugleich die Zurückweisung jener 'mittelständischen' Bauunternehmer oder Handwerksbetriebe, die einst, bestochen durch die „Kampfbund"-Agitation, zu Hitlers treuen Wählern gezählt hatten. Man darf also den Primat der Architektur damit erklären, daß sie die besten Mittel für indirekte Beeinflussung, Einschüchterung und Disziplinierung großer Massen bereitstellte. Bei Hitlers Denkweise war es kein Wunder, wenn andere Künste als von ihr abhängig erschienen. D a ß niemals in der deutschen Geschichte größere Steinkolosse errichtet wurden, betrachtete er als „das Wichtigste" seiner Kunstpolitik: „Denn die Architektur bestimmt auch Plastik und Malerei." 237 Gewiß war die Plastik der Breker und Thorak auf Groß13

H a l t u n g , Faschismus

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bauten bezogen, erhielt von ihnen den monumentalen Maßstab, Aufstellung- und Wirkungskriterien (noch einen Monat vor Kriegsbeginn erklärte Hitler befriedigt, die Architektur finde „nunmehr auch eine immer würdigere Ergänzung auf dem Gebiet der Plastik und Malerei" 2 3 8 ); aber die behauptete Verbindung mit letzterer blieb doch etwas rätselhaft, zumal ja kaum an eine Gestaltung von Außenwänden gedacht war, die über architektonische Gliederung und Besetzung mit emblematischen Reliefs hinausgegangen wäre. D a s Rätsel löst sich, wenn man den primären Effekt der Massenpropaganda in Rechnung stellt. Mit den Imponierfassaden seiner Kunsttempel wollte das Regime Mäzenatentum und Verfügungsgewalt über die dahinter ausgestellten Werke demonstrieren; es wollte deren Wirkungsmöglichkeit gleichsam nach außen verlängern. Zum Münchener „neuen Tempel der Göttin der Kunst" 2 3 9 wurde bereits am 15. Oktober 1933 der Grundstein gelegt, ohne daß man überhaupt wußte, was da hineinkommen sollte. D a s fertige „Haus der Deutschen Kunst" besaß eine kolossale Schauseite, hinter deren Säulenreihen der Eingang kaum zu finden war. 2 4 0 Gewiß kalkulierten die Nazis mit der ideologisch-thematischen und mehr noch mit der allgemein affirmativen Wirkung, die von den Sujets und der glatten Technik ihrer Mal werke ausging; sie konnten aber nicht an der Tatsache vorbei, „daß die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simultanen Kollektivrezeption darzubieten, wie es von jeher für die Architektur, wie es einst für das Epos zutraf" 2 4 1 . „ D a s Gemälde hatte stets ausgezeichneten Anspruch auf die Betrachtung durch einen oder durch wenige": Solche Herkunftsmale einer aristokratischen Kultur machten sich die neuen Führer positiv zunutze, indem sie, überdimensionale Parvenüs, die sie waren, sich als Gönner und Besitzer des Kulturerbes zeigten. Ein „europäisches Kunstzentrum" in Linz war gleichsam zum gebauten Triumphzug bestimmt, der die namhaftesten Gemälde seit der Renaissance, so viele man nur erbeuten konnte, zum höheren Ruhm des deutschen Imperiums in sich aufnehmen sollte. Auch hier hatte man die Baupläne fertig, bevor noch der ganze Raub vorlag. 2 4 2 Was die hoch bewertete, meist neben der Architektur eingestufte Musik anging, so hatte ihre Schätzung ziemlich konventionellen Charakter. Ästhetiker wie Baeumler bezogen sich auf antike Lehren, Chamberlain oder Hitler auf das Wagnersche Musikdrama. Bei allen 194

kam diese Kunst nur in Betracht, wo sie in Verbindung mit anderen eine unterstützende Rolle einnahm. D a ß „Dichtkunst und Tonkunst eine einzige Kunst sind, dass sie zusammen erst eigentliche Poesie ausmachen", war laut Chamberlain „der springende Punkt für das Verständnis unserer germanischen Kunst - auch der bildenden" 2 4 3 . Unter Mißbrauch des Aufklärungspostulats möglichster Eindeutigkeit wollte er sogar die Emanzipation des Musikausdrucks vom Wort rückgängig machen und verstieg sich bis zu der Behauptung: „ [ . . . ] nie hat die Musik vermocht, sich abseits von der Dichtkunst zu entwickeln." 244 Aus ihm sprach dabei nicht nur Bayreuther Opposition gegen die „Schwärmer für eine angeblich 'absolute' Musik" 2 4 5 , sondern auch schon die Absicht, der sich abzeichnenden Krise des bürgerlichen Konzertwesens durch erneute religiöse Einbindung ein Ende zu machen. Denn im Unterschied zu fortschrittlichen Versuchen der 20er Jahre, die der Musik beim Zusammenwirken mit anderen Künsten Autonomie, 'Trennung der Elemente' sicherten, sollte hier ihre „symbolische, logisch nicht analysierbare Ausdruckskraft" 2 4 8 zum Transport irrationaler Denkgehalte dienen. Selbstverständlich wurde die 'ausstrahlende', 'bannende' Wirkung auf ein passives Publikum vorausgesetzt. Diese Seite der Musikrezeption war es gerade, was die Interessen der Demagogen und Kultschöpfer ansprach. Rosenberg rechnete für seine „Deutsche Kirche" mit starkem Einsatz musikalischer Mittel, und Hitler bezog sich bei den bekannten sachkundigen Erörterungen, wie „Massensuggestion" zu erzielen sei, gleichermaßen auf den katholischen Kultus wie auf Parsifal-Aufführungen in Bayreuth. 247 Wenn er in Kulturreden die Musik erwähnte, war eigentlich immer „die weitaus eigenartigste Kunstschöpfung des nachantiken Theaters", die Oper, gemeint (der parteitreue Setzer verdeutlichte den Volksanteil durch den Druckfehler „die Opfer" 248 ), und gerade auf diesem Gebiet ließen sich die Mißerfolge der „aktiven Kunstpolitik" leichthin in Erfolge konservativer Kunstpflege ummünzen. 249 Im politischen Massenkult beschränkte sich der Musikgebrauch der Führung auf Stimmungsmache: flotte Militärmusik bei den Kundgebungen, anhaltendes Glockengeläute vor den Reichsparteitagen, Fanfaren und geblasene Hymnen zur Rahmung von Führerauftritten. Niemals wollte man jedoch auf die Wirkungen verzichten, die kollektive Musikausübung für die daran Beteiligten haben kann. Das Singen in geschlossener Gruppe war sogar die bei weitem wichtigste Musikart faschistischer „Organisationen", und zwar von den ersten 13«

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„Sturmabteilungen" an bis hin zu den Truppen des zweiten Weltkrieges. Auf politische Funktionalisierung des Singens liefen alle Theoreme hinaus, die unter Berufung auf Piaton Musik zum staatspädagogischen Mittel erklärten. Ihr wichtigster Vertreter in den 20er Jahren wat der Volksschullehrer Ernst Krieck, damals neben Rudolf Pechel und Paul Fechter Mitarbeiter in der „Arbeitsstelle für Kulturpolitik" beim jungkonservativen „Politischen Kolleg". 2 5 0 Anders als Chamberlain verurteilte er die 'absolute' Musik vom faschistischen Staatsideal aus. Sie habe „als eine in sich ruhende und sich selbst genügende Welt n e b e n den entgöttlichten Staats- und Gesellschaftsordnungen" jenen liberalistischen Geist weitergetragen, durch den „unser Staat verweltlicht und versachlicht, von Religion und dem Kult gelöst, rationalisiert und technisiert" worden sei. 2 o t Oberster Gesichtspunkt für die Jugendmusik müsse ihre Wiedereingliederung in den „Raum musischer Zucht und Ordnung" sein; nicht nur an das Wort, sondern auch an kollektive Bewegung habe sich die Tonkunst zu halten, damit „die geheimnisvolle Urgewalt des Rhythmus [ • . •] zur Stillung und Bindung des Menschentums" führe. 2 5 2 Was sich vorerst noch hinter der Idee einer „mystischen Gemeinschaftseinung" 2 5 3 verbarg, trat nach der Machtergreifung offener als Disziplinierungsabsicht hervor: „Aus der wehrhaften Übung allein kann der soldatische Geist nicht erwachsen; Wehrhaftigkeit vollendet sich erst im Seelischen, in Haltung und Ethos, in Ehre, Hingebung und Gefolgschaftstreue. Dahin führt aber zusammen mit der leiblichen Übung erst die musische Erziehung durch die Formgewalt der rhythmischen Künste." 2 5 4 Dank seinen praktischen Erfahrungen in der Jugendmusikpflege hat Krieck, dessen Schriften sich außerdem durch relativ präzisen Gebrauch des faschistischen Vokabulars auszeichnen, frühzeitig jenen Künstlertyp gesichtet, der der Hitlerjugend das beste Gebrauchsgut liefern sollte. „Der ursprüngliche Meister der musischen Bildung ist also der Dichter-Komponist selbst, der für die Kultfeier und an den Palästren zum Chormeister [ . . . ] wird." 2 5 5 Unter dem Absingen von Marschliedern und Hymnen hatte sich das „gestillte Menschentum" des Reiches in den totalen Staat einzufügen. D a s reale Verhältnis der Naziführung zur verwendungsfähigen Sprachkunst - die in den offiziellen Reden kaum beachtet, sogar zu den „begleitenden Künsten" 2 5 6 gezählt wurde - war von zwei einander 196

überlagernden Tendenzen bestimmt: das rationale Moment der Sprache so weit wie möglich zurückzudrängen und die unumgänglichen Einsätze in die PseudoÖffentlichkeit von Massenveranstaltungen zu legen. Bei gesprochenen Texten war die Wirkung leichter zu berechnen und, wenn nötig, zu kontrollieren als bei still gelesenen; so haben Gedichte in alt- und in neonazistischen257 Versammlungen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Was die erste Tendenz, Aversion gegen Rationalität in der Sprache, anlangt, so wurden in der faschistischen Kulturtheorie Angriffe auf den „Literaten", den „Schriftsteller", den „Ästheten", ja die „Literatur" selber von Anfang an vorgetragen. In den 20er Jahren tat sich besonders der Literat Paul Fechter hervor, der außer am „Politischen Kolleg" auch an großbürgerlichen Zeitungen mitwirkte, durch Dichtermonographien und Literaturgeschichten Einfluß besaß und der 1935 mit Recht für sich in Anspruch nahm, beharrlich jene „zweite Literatur" gefördert zu haben, die eigentlich „keine Literatur, sondern im Gegensatz zu der offiziellen immer noch so etwas wie Dichtung im alten deutschen Sinne" geblieben sei.258 Was man darunter zu verstehen hatte, läßt sich am besten wieder bei Krieck nachlesen. Auch die Dichter, erklärte er 1924, seien „zu Propheten und Bildnern ihrer Lebensgemeinschaft berufen". Wenn aber „Dichtung in einem abgetrennten Gebiet entstehen und sich selbst genügen soll, dann liefert sie sich der Willkür, dem Verdorren aus" 209 ; sie sinke unweigerlich „zum spielerischen Virtuosentum [ . . . ] zur bloßen Literatur herab". Durch Kult und Dichtung werde immer schon „das gesamte Dasein auf eine Über- oder Hinterwelt bezogen" 260 ; Sprache sei dabei „das notwendige Ausdrucksmittel", nichts weiter; sie bringe „Bilder zur Darstellung; bildhafte Sprache und sprachliche Bildkraft sind der Poesie wesenseigen" 261 . Klare Begriffe, in der Sprache leider auch enthalten, müsse man zu umgehen suchen. „So tritt die Dichtung als beherrschende Lebensfunktion auf an allen Stellen, welche den Ablauf des Alltags unterbrechen [ . . . ] und stets als einigende und bindende Macht der Gemeinschaft." 262 Nun hat die nationalsozialistische Bewegung der „Kampfzeit" keineswegs auf die geschmähte „Literatur" verzichtet und durch Tendenzromane wie Dinters Sünde wider das Blut, Hans Grimms Volk ohne Raum, Goebbels' Michael oder den Horst Wessel des Hanns Heinz Ewers auch Propagandaerfolge erzielt, doch dabei wurde nicht vergessen, daß gedruckte Literatur immer nur einen begrenzten Kreis von Lesern erreicht und daß ihre Wirkung sich direkter Kontrolle 197

entzieht. Jeder Lesende ist mit seinem Buch allein. Man konnte zwar dafür sorgen, und das taten Goebbels' Leute nach Kräften, daß er nichts Antifaschistisches in die Hand bekam, doch verwendete man lieber Darbietungsformen, in denen Selbstbesinnung, stiller oder lauter Widerspruch des Publikums auszuschalten waren, wo „Beeinträchtigungen der Willensfreiheit des Menschen" 263 leichter zustande kamen. Daher die gleich 1933 einsetzenden Bemühungen um das „Thingspiel", die Re-Kultisierung des Theaters, daher die Obsorge für „Flammen"-, „Weihe"-, „Feiersprüche", und daher die sorgfältige Betreuung des Liedgutes. Die Nazidiktatur bevorzugte und züchtete einen illiteraten Menschentyp, weil ihr bereits die zivilisatorischen Kräfte, die im artikulierten Wort wohnen, eine Gefahr bedeuteten.

Nationalsozialistische Kampflieder

n.Deutschland,

erwache/"

Als das erste lyrische Zeugnis der faschistischen „Bewegung" in Deutschland kann das unter verschiedenen Titeln gedruckte Gedicht Sturm, Sturm, Sturmi von Dietrich Eckart gelten, das in jeder Anthologie des Nazireichs den Beginn seiner arteigenen Dichtung bezeichnete. Der Verfasser1, geboren am 23. März 1868 als Sohn eines Juristen im bayrischen Neumark, vom Medizinstudium wegen Morphinismus relegiert, war an verschiedenen Orten Mitarbeiter konservativer oder deutschvölkischer Blätter gewesen, hatte von 1899 bis 1911 und noch einmal 1913/14 in Berlin vergeblich versucht, mit seinen Stücken am Theater anzukommen - nur eine Peer Gynt-Bearbeitung wurde 1914 im Königlichen Schauspielhaus aufgeführt - , und lebte seit 1915 wieder in München oder der näheren Umgebung unter Fühlung mit den reaktionärsten bayrischen Kreisen. Enge Kontakte besaß er zu monarchistischen Offizieren, aber auch zu dem völkischen HugoBruckmann-Verlag und zum Miesbacher Anzeiger Klaus Ecks. Während der Räterepublik aus München geflüchtet, kehrte er gleich nach ihrer Niederschlagung in die Stadt zurück, wo er bereits Anfang 1919 3 den aus Moskau und Reval via Berlin zugereisten Alfred Rosenberg kennengelernt hatte. Die Freundschaft mit Hitler datierte aus dem Herbst 1919 und war durch Anton Drexler, den Gründer der Deutschen Arbeiterpartei, daneben wohl auch durch Gottfried Feder vermittelt. Eckart beschaffte Ende 1920 die Hälfte der Summe zum Kauf des Völkischen Beobachters (60 000 RM über den Ritter von Epp) 3 , wurde unmittelbar nach der Hitlerschen Übernahme des Parteivorsitzes (29. Juli 1921) Hauptschriftleiter der Zeitung und ließ um ihretwillen seine eigene, im Dezember 1918 begonnene Wochenschrift Auf gut deutsch sogleich eingehen. Als 55jähriger machte er den Marsch zur Feldherrnhalle mit. Er wurde danach kurze Zeit in Haft 199

gehalten und starb wenig später, am 26. Dezember 1923, in seinem Berchtesgadener Exil. Hitler widmete ihm 1926 den zweiten Band des Buches Mein Kampf. Das Sturmlied entstand als zunächst einstrophiges Gedicht (die jetzige zweite Strophe) im Frühjahr 1919, wahrscheinlich im engen Zusammenhang mit einem Flugblatt An alle Werktätigen, das Eckart „einen Tag vor der Errichtung der 'Räterepublik Baiern' [also am 6. April 1919 - G. H.] durch ganz München mittels Auto verbreiten"4 ließ und das ihn bereits als ebenso fanatischen Antisemiten wie Konterrevolutionär zeigte: Abgelenkt werden wir geflissentlich auf das weitaus geringere Übel [das Industriekapital und den Großgrundbesitz - G. H.], damit wir das Hauptübel nicht sehen, das alles verschlingende Leihkapital; und so wird es gehandhabt seit M a r x und L a s s a 11 e bis herauf z u L e v i e n , L a n d a u e r und M ü h s a m ! [...] b i s s c h l i e ß l i c h r e s t l o s d i e g a n z e M e n s c h heit als Z i n s s k l a v e der g o l d e n e n I n t e r n a t i o nale dient!5 Das Gedicht wurde allerdings damals zurückgehalten oder nur mündlich verbreitet.6 Der erste Druck geschah wieder in einer zugespitzten Situation innenpolitischer Auseinandersetzungen, nachdem der linke Zentrumspolitiker Wirth zum Kanzler eines „Erfüllungs"-Kabinetts berufen worden war, in das vor allem Sozialdemokraten und Demokraten einzogen. Am 11. August 1921 erschien die Strophe unter der Überschrift Feuerjo! im Völkischen Beobachter, mitten auf der Titelseite und umgeben von einem Eckartschen Leitartikel Vor dem Glockenschlag zwölf voll wüster Drohungen gegen Matthias Erzberger7, den Zentrumsführer, „Novemberverräter" und „Erfüllungsminister" der frühen Weimarer Republik, der soeben sein Comeback in die Politik angekündigt hatte und der schon am 26. August der gegen ihn geschürten Mordstimmung zum Opfer fallen sollte. Eckart war damals bereits häufig als Versammlungsredner der NSDAP aufgetreten. Offenbar für solchen agitatorischen Gebrauch wurde 1922 eine einleitende Strophe hinzugedichtet, und in dieser Gestalt war das Gedicht dann „bald am Schluß jeder größeren Versammlung"8 zu hören. Noch 1922 erhielt es von einem Pg. Hans Gansser aus Stuttgart eine hymnenartige Vertonung; Hitler selber diktierte die Strophen im Bürgerbräukeller seiner SA, worauf Gansser die Musik einübte.9 Auf dem ersten Parteitag der NSDAP (26. Januar 1923) fand die Uraufführung statt. Nach der im Februar 1925 er-

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folgten Neugründung der Hitlerpartei behielt das Lied längere Zeit den Charakter einer internen Hymne. Im 1926 erscheinenden Liederbuch der NSDAP nahm es als Sturmlied die erste Stelle ein, und zwei Jahre darauf bestätigte Alfred Rosenberg den offiziösen Gebrauch: „Die Worte D e u t s c h l a n d , E r w a c h e leuchten eingewirkt auf den Standarten [ . . . ] , das (von Hans Gans [s] er vertonte) Kampflied aber ertönt schmetternd auf jedem Parteitag der Bewegung." Wenngleich das Gedicht aus Gründen schlechter Singbarkeit später von seiner Spitzenstellung verdrängt wurde, blieb ihm doch der Ruhm, zu den frühesten Offenbarungen des Nationalsozialismus zu zählen; die vertonte Fassung soll auch später noch auf den Parteitagen zur Weihe neuer Standarten erklungen sein. Sturm, Sturm, Sturm! Läutet die Glocken von Turm zu Turm! Läutet, daß Funken zu sprühen beginnen, Judas erscheint, das Reich zu gewinnen, Läutet, daß blutig die Seile sich röten, Rings lauter Brennen und Martern und Töten. Läutet Sturm, daß die Erde sich bäumt Unter dem Donner der rettenden Rache. Wehe dem Volk, das heute noch träumt, Deutschland, erwache! Sturm, Sturm, Sturm! Läutet die Glocken von Turm zu Turm! Läutet die Männer, die Greise, die Buben, Läutet die Schläfer aus ihren Stuben, Läutet die Mädchen herunter die Stiegen, Läutet die Mütter hinweg von den Wiegen. Dröhnen soll sie und gellen, die Luft, Rasen, rasen im Donner der Rache. Läutet die Toten aus ihrer Gruft, Deutschland, erwache! 10 Wegen der geschilderten Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ist es angebracht, die Musik zu vernachlässigen und die Textbetrachtung mit der genetisch ersten Strophe zu beginnen. Schon an ihr fällt eine Stimmung explodierender Angst und Wut auf; das Gefühl, vor einer Katastrophe zu stehen, sollte offenbar mit 201

allen Mitteln auf den Hörer übertragen werden. Das Gedicht setzt mit einem Sprachsignal ein, dem dreifachen „Sturm!", in welchem der alte Wortsinn einer hereinbrechenden 'Störung' aktualisiert ist. An den Alarmruf schließt sich eine Imperativform, die die ganze Strophe durchzieht und gliedert, bis die angelegte Steigerung sich in einem neuen Imperativ entlad: „Deutschland, erwache!" Gegenüber den appellativen Anrufen treten alle anderen Formen sprachlicher Mitteilung vollkommen zurück. Die Häufung von Imperativen scheint das Gebilde in die Nähe gleichzeitiger expressionistischer Verkündigungen zu rücken. Doch abgesehen davon, daß Eckart sich über den Expressionismus bloß feindlich und verständnislos geäußert hat,11 bleiben auch die strukturellen Ähnlichkeiten äußerlich und belegen nur eine allgemeine Politisierung der deutschen Lyrik seit dem Weltkrieg. Weder in der konservativen Sprach- und Versbehandlung noch in den verwendeten Motiven lassen sich Gemeinsamkeiten mit expressionistischer Dichtung finden; selbst Hanns Johsts völkische „Rolandsrufe" (s. o. S. 93 f.) haben nicht solche verbissene Starre. Augenscheinlich hat Eckart auf ältere Traditionen politischer Lyrik zurückgegriffen und sie der revolutionären Nachkriegssituation anzupassen versucht. Das zentrale Motiv ist von einer alten Vorstellung bezogen, der des Sturmläutens von Ort zu Ort bei Feuersbrünsten oder Überfällen, wie es in ländlichen Gegenden durch Jahrhunderte üblich war. „Rastlos nun erklang das Getön der stürmenden Glocke", erzählt der linksrheinische Richter in Hermann und Dorothea12, und in Schillers Glocke, die ohnedies von Goethes Epos Anregungen erhielt, erklingt bereits der Eckartsche Reim („Hört ihr's wimmern hoch vom Turm! / Das ist Sturm!"13), der freilich als ein naturgegebener auch bei anderen Dichtern zu vernehmen war. Doch wenn Goethe, Schiller oder Uhland (Des Knaben Berglied) das Sturmgeläut bedichteten, handelte es sich um die Wiedergabe eines Geschehens aus der zeitgenössischen Realität, wohingegen bei Eckart die Vorstellung nicht nur längst anachronistisch geworden ist, sondern auch nur noch in übertragener Bedeutung steht. Als Wecksignal zum nationalen Kampf hatten die Sänger der Befreiungskriege das Motiv eingesetzt (Arndt: „Laßt Sturm von allen Türmen ringen,/Die Freiheit soll die Losung sein"14), und der metaphorische Gebrauch war dann im Laufe des 19. Jahrhunderts von den liberalen zu nationalistischen und schließlich zu deutschvölkischen Dichtern übergegangen, doch mit der gleichbleibenden Funktion, volk202

liehe Selbstwehr gegen einen ideologischen Feind auszudrücken. Die antiklerikal-großdeutschen Gedichte des Tirolers Arthur von Wallpach („Wir sind des Nordens blonde Rasse, / Wir sind das Edelvolk der Welt" 1 5 ) erschienen 1902 in Linz unter dem Titel Die Sturmglock', und den gleichen Namen sollen revoltierende Bauern noch 1930 in Schleswig-Holstein für ihre Zeitung vorgesehen haben. 16 Auch Eckart hatte ein gleichnishaftes Sturmläuten im Sinn. Nur sah er 1919 offenbar keinen Menschen, der auf den Sturm gefaßt, und noch weniger eine Gruppe, die zum Läuten bereit gewesen wäre Das Eigenartige des Gedichtes besteht gerade darin, daß der Imperativ „läutet!" keinen Adressaten hat. Nicht das Volk wird angerufen, sondern irgend jemand, der helfen könnte, das Volk aufzuwecken, und dieser Jemand ist nirgends zu erblicken. Die Strophe spricht aus einer Situation des Klassenkampfes, wo der reaktionäre Ideologe einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr nichts entgegenzusetzen hat als panische Angst und Wut. Aus solchem Affekt heraus wurde hier jene Haltung blinder Verbissenheit ausgeprägt, die für die Gestik des Nationalsozialismus typisch werden sollte, sich dann sprachlich in der Inflation von 'fanatisch' oder 'kämpferisch' äußerte und noch später aus allen Bildern oder Plastiken mit heldischen Sujets dem Betrachter entgegenschlug. „'Begreifst du denn nicht, daß es nur um eins noch geht in diesen Tagen? Nur um das eine - Deutschland!' Sein Blick stach, zu Fäusten ballten sich seine Hände. Und flüsternd, gepreßt, kamen die Worte aus [!] seinen Lippen: 'Sturm! Sturm! Sturm! Läutet die Glockenf.. .]"' 1 7 So, mit voller Zitierung der Strophe, wird 1932 von Hanns Heinz Ewers der Berliner Sturmführer Horst Wessel vergegenwärtigt. Indem der Literat dem SAMann das Gedicht in den Mund legt, läßt er ihn zu Recht als Vollstrecker von Eckarts Willen erscheinen, gleichsam als die Tat zu dessen Gedanken. Der Dichter des Sturmliedes sah sich im Frühjahr 1919 als einsamen Rufer in der Wüste. Sein „Deutschland", das aufwachen soll, ist gleichbedeutend mit „dem Volke, das heute noch träumt", das also selbst in der Stunde der Gefahr den konventionellen Eigenschaften einer Nation von 'Dichtern und Denkern' treu bleibt. Wer es heute gut mit den Deutschen meine, hatte Eckart zu Beginn seiner Wochenschrift erklärt, der bekämpfe die diesem Volk „gottlob unnatürliche Neigung zur Politik" 18 . Der Anruf des Gedichtes steht dazu nicht im Widerspruch; es wird eine Erweckung angestrebt, die weder in gewohnten politischen Formen vor sich gehen noch zu tra203

ditionell politischen Aktionen führen soll, sondern die zuerst darin bestünde, daß die Angerufenen von ihren gewohnten Tätigkeiten fortliefen, um sich irgendwie auf der Straße gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinigen. Hier wäre einzuschalten, daß der gleichzeitige Expressionismus (von sehr wenigen völkischen Epigonen abgesehen), wenn er Arbeiter, Soldaten oder das Volk anrief, hinter den Schranken der Klassen oder Stände immer 'den Menschen' suchte, der zur Brüderlichkeit zu erwecken war. Im Gedanken einer inneren Läuterung lag die Möglichkeit begründet, Motive und Bilder aus der christlichen, insbesondere pietistischen Tradition zu übernehmen und sie im Sinne des politischen Pazifismus umzudeuten. Eckarts Erweckungsideologie hat hingegen nichts von Innerlichkeit. Sie verwendet aber auch keine alttestamentlichen Motive vom Kampf eines Gottesvolks gegen die Gottlosen, Philister, Pharaonen oder „Babel", wie sie in der Kampflyrik aller christlichen Konfessionen immer wieder aufgetaucht waren. Die Gemeinschaft, die Eckart erwecken möchte, wird an der Reihe Männer, Greise, Buben, Mädchen, Mütter vergegenwärtigt, die ziemlich systematisch nach Geschlechts- und Altersstufen mit abnehmender Kampftüchtigkeit geordnet ist, aber von sozialen Gliederungskriterien völlig absieht. Nicht einmal von Konfessionen oder Korporationen, geschweige denn von Berufen oder Arbeitsplätzen ist die Rede. Was sich hier zeigt, ist nicht eine konservative, sondern eine „völkische", rein biologische Sicht der Gesellschaft, die statt nach ständischen Gemeinsamkeiten nach stämmischen sucht. Auch daß „die Toten aus ihrer Gruft" dem Bann folgen sollen, dürfte weniger als poetische Hyperbel denn als Inanspruch- und Beschlagnahme nationaler Uberlieferungen zu verstehen sein. Die Geschichte des Volkes, das 'Blut' aller Generationen, soll mit in den Kampf. Man erfährt aber aus der 1919 entstandenen Strophe nicht, gegen wen es geht. Nicht einmal, ob es sich um einen äußeren oder inneren Feind handelt, wird deutlich. Der Sinn dieser Unbestimmtheit tritt zutage, sobald man sich die literarischen Traditionen ansieht, die Eckart seinen Zwecken angepaßt hat. Für ihn wie für alle Nationalisten seiner und der benachbarten Generationen war der nächstliegende Traditionsbereich die Lyrik der antinapoleonischen Kriege. Theodor Körners Gedicht Das Volk steht auf, der Sturm bricht los besaß eine lange Wirkungsgeschichte nationalistischen Mißbrauchs, die noch bis zu Goebbels' Verkündi204

gung des „totalen Krieges" und bis zum „Volkssturm" reichen sollte. Eckart dürfte sich eher an Arndt und speziell an ein Lied der Rache aus dem Jahre 1812 gehalten haben. Zu Vergleichszwecken seien die ersten vier Strophen von insgesamt sieben hierhergesetzt: Auf zur Rache! auf zur Rache! Erwache, edles Volk! erwache! Erhebe lautes Siegsgeschrei! Laß in Tälern, laß auf Höhen Der Freiheit stolze Fahnen wehen, Die Schandeketten brich entzwei! Denn der Satan ist gekommen, Er hat sich Fleisch und Bein genommen, Und will der Herr der Erde sein; Und die Weisheit tappt geblendet; Und Mut und Ehre kriecht geschändet, Und will nicht in den Tod hinein; Und die Wahrheit trauert verstummet, Die brandgemalte Lüge summet Frech jede große Tugend an; Nichts als Henker, Peitschen, Beile Des Zornes heil'ge Donnerkeile Nicht mehr die Zunge schwingen kann. Drum zur Rache auf! zur Rache! Erwache, edles Volk, erwache! Und tilge weg des Teufels Spott! Schlage! reiße! töte! rase! Zur Flamme werde! brenne, blase In jeden Busen ein den Gott! 1 9 Trotz allen ins Auge fallenden Ähnlichkeiten bleiben gewichtige Unterschiede bestehen. Das von Arndt angerufene „edle Volk" war eingeschränkt auf die waffenfähige männliche Bevölkerung und erhielt ein klares Programm: Es sollte, wie der zweite Gedichtteil ausführt, zum Degen greifen, das Schwert schwingen, mit Trommelschlag und Pfeifen, Posaunen und Kartaunen, „frisch in den heil'gen Krieg hinein". 205

Arndts soziale und geistige Herkunft aus dem freien Bauerntum Vorpommerns legte eine direkte Traditionsziehung zu den Germanen der „Hermannsschlacht" nahe und erlaubte ihm, ein urtümliches Gesellschaftsbild ohne feste soziale Schranken auf das Heer und den zu erkämpfenden Staat seiner Gegenwart zu übertragen. Seine Kreuzzugsideologie richtete sich nicht gegen Frankreich als Nation oder Volk, sondern gegen das französische Heer unter Einschluß ihm verbündeter deutscher „Buben", „Knechte" und vor allem „Tyrannen". Aus einer sehr weitherzigen, eher alttestamentlich als christlich aufgefaßten, für Protestanten wie Katholiken offengehaltenen Gottesvorstellung heraus war Napoleon, Sohn und Erbe der „gottlosen" Revolution, zum fleischgewordenen Teufel erklärt worden. Doch dabei dominierte beständig der nationale Aspekt über den religiösen. Daß dieser Satan „Herr der Erde" sein wolle, ist nicht metaphysisch, sondern unmittelbar zu verstehen, wie denn auch die Attributenreihe des bösen Feindes und selbst die maßlosen Imperative „Schlage! reiße! töte! rase!" immer noch einen primären Bezug auf den Volksund Partisanenkrieg gegen die Fremdherrschaft behalten. Ganz anders bei Eckart. Der 1919 ausgesparte Gegner des völkischen Deutschlands ist in der 1922 gedichteten Strophe zwar benannt, erscheint hier aber in einem eigentümlichen Zwielicht als überdimensionaler Außen- und Innenfeind zugleich. Die Nennung sowie die auffälligen Erhitzungen im Affekt- und Bildbereich bis hin zu den Visionen, „daß Funken zu sprühen beginnen", „daß blutig die Seile sich röten", sind wahrscheinlich aus der drohenden Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Imperialisten zu erklären, daneben aber auch daraus, daß nun mit der faschistischen SA jene sturmbereite Truppe da war, die der Dichter am Vorabend der bayrischen Räterepublik vergeblich herbeigesehnt hatte. Der Hauptfeind aber, den Eckart für alle Bedrohungen der deutschen Substanz verantwortlich machte, war immer derselbe geblieben, konnte nur jetzt deutlicher gekennzeichnet werden. Er hieß „der Jude", pathetisch „Juda" und noch pathetischer „Alljuda". Im Fall dieses treuen Eckarts läßt sich die individuelle Ausformung antijüdischer Affekte bis zu einer umfassend antisemitischen „Weltanschauung" einwandfrei nachzeichnen. Der junge Medizinstudent und dilettierende Dichter war davon noch entfernt, schwamm vielmehr in den seichtesten Gewässern des Liberalismus mit. „Deine Mutter, schönes Kind, / Ist ein viel zu vernünft'ges Wesen / Doch wie meist die Mütter sind,/In der Liebe nicht belesen./Niemals

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kann sie sich erwärmen/Für dergleichen - o wie s c h a d e ! - / U n d wenn wir für Heine schwärmen / Lobt sie Klopstocks Messiade." 20 Sein Biograph Rosenberg, der dies Gedicht nicht ohne Tadel mitteilt, wußte auch, daß Eckart „in jungen Jahren Morphinist" war und eine Heilanstalt aufsuchen mußte.21 Unschwer erkennt man in all dem den unbewußten Versuch einer Auflehnung gegen den Vater und die von ihm repräsentierten altbayrisch-monarchistischen Werte. Aus dem Zusammenbruch seiner Opposition trug der junge Mensch aber nicht nur den übersteigerten Willen zur Selbstbehauptung, sondern auch die befestigte Autorität von Kaiser, König und Reich und eine gegen die eigene Revolte gewendete Verteufelung der Libido davon. Ausfälle gegen Sexualität und sinnliche Lust finden sich in fast allen seinen Schriften, sogar noch in jenem gegen Erzberger gerichteten Leitartikel: „In Fetzen die geile [!] Satansbibel, das Alte Testament!" Seine Ethik orientierte sich dauerhaft an Schopenhauer und dessen Verneinung des Willens, so daß die gleichzeitig aufgespeicherten Aggressionen auch Nietzsche trafen. „Den 'Willen zur Macht' hat nicht umsonst mit so ungeheuerer Leidenschaft der (wie es zutreffender hieße) g e m ü t s k r a n k e Nietzsche gepredigt, dessen bloßer Name schon seltsamerweise auf das N i c h t s hindeutet; und Hand in Hand mit seiner, von ihm selbst ausdrücklich betonten a n t i c h r i s t l i c h e n Gesinnung ging seine ebensowenig verhehlte Bewunderung für die g r o ß e n V e r b r e c h e r der Menschheit."22 Das Entscheidende war aber, daß unter dem Einfluß Houston Stewart Chamberlains die Weltlust mit dem „alttestamentlichen Materialismus" gleichgesetzt und „der Jude" zur stärksten Inkarnation des Machtwillens erklärt wurde. „Jude gleich Wille, / Christ gleich Stille" 23 lautete ein gern zitierter Spruch des Dichters. Hinzu kam, daß die Peer Gj»