Kunstperiode: Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts [Reprint 2021 ed.] 9783112472347, 9783112472330


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German Pages 256 Year 1983

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Kunstperiode: Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts [Reprint 2021 ed.]
 9783112472347, 9783112472330

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Kunstperiode

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Kunstperiode Studien %ur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts von einem Autorenkollektiv Peter Weber (Leitung) Anneliese Klingenberg Gerda Heinrich Hans-Ulrich Kühl Dorothea Böck

Akademie-Verlag • Berlin 1982

E r s c h i e n e n im A k a d e m i e - V e r l a g , D D R - 1086 Berlin, L e i p z i g e r S t r a ß e 3—4 Lektor: Jutta Kolesnyk © A k a d e m i e - V e r l a g B e r l i n 1982 L i z e n z n u m m e r : 202 • 100/168/82 G e s a m t h e r s t e l l u n g : IV/2/14 V E B D r u c k e r e i »Gottfried W i l h e l m Leibniz«, 4450 G r ä f e n h a i n i c h e n / D D R • 5799 B e s t e l l n u m m e r : 753 943 3 (2150/75) • L S V 8021 Printed in G D R DDR 9 , - M

Inhalt

Veter Weber Einleitung:

„Kunstperiode"

als literarhistorischer Begriff

7

Peter Weber Politik und Poesie. Literarische Öffentlichkeit im Übergang zur Kunstperiode Anneliese Klingenberg Smith-Rezeption als ideologische Einleitung der Kunstperiode. Beziehungen von Ökonomie, Staatskritik und Kunstidee . .

73

Gerda Heinrich Autonomie der Kunst und frühromantisches Literaturprogramm. Friedrich Schlegels frühe geschichtsphilosophischästhetische Konzeption

104

Hans-Ulricb Kühl Kunstproblematik und „klassische" Romanform bei Goethe. Von der Theatralischen Sendung zu den Lehrjahren

144

Dorothea Bäck Grundzüge der literarischen Periode — Struktur des künstlerischen Werks. Zu Problemen der Jean-Paul-Interpretation

177

Anmerkungen

210

Personenregister

252

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31

Peter Weber

Einleitung „Kunstperiode" als literarhistorischer Begriff

Für die deutsche Literaturentwicklung zwischen ausgehender Aufklärung und Vormärz ist kein eigentlicher Periodenbegriff gebräuchlich; „Goethezeit" und „Klassik" fungieren aushilfsweise. Ist der eine Begriff fatal personalistisch geprägt, so schwankt der andere zwischen der Bezeichnung einer bestimmten literarischen Strömung („Weimarer Klassik") und eines Kanons rezeptionswürdiger Werke des 18./19. Jahrhunderts. Walter Dietze hat diese zweite Bedeutungsrichtung mit dankenswerter Konsequenz herausgestellt. „Die Kategorie des Klassischen", schreibt er, „umfaßt in der marxistisch-leninistischen Erbetheorie jene kulturellen und künstlerischen Leistungen, die in besonders hohem Maße ästhetische Vergegenständlichung und aktiver Impuls der allgemeinen Bewegungsgesetze der Geschichte sind . . . und die Tendenz implizieren, ein Optimum an Gültigkeit und Wirkung auch über ihre E p o c h e hinaus zu erreichen" So werden zur „klassischen deutschen Literatur" gezählt: „Teile der aufklärerischen Literatur (etwa von Lessing an), auch Teile der romantischen Literatur (vorwiegend aus ihrer frühen Phase, aber zum geringeren Teil auch aus ihrer späteren Entwicklung), die sogenannte Weimarer Klassik mitsamt ihren klassizistischen Tendenzen, die bürgerlich-demokratische Literatur vom T y p Seume und die jakobinische vom Typ Forster; schließlich eine Literatur mit zwar deutlich divergierenden, aber das klassische Konzept weder sprengenden noch negierenden Tendenzen (es genügt, in diesem Zusammenhang die Namen Herder oder Hölderlin, Jean Paul oder Fichte zu nennen)" und eventuell „auch einzelne bedeutende Werke aus der Literatur des deutschen Vormärz". Logischerweise lehnt Dietze es ab, dem so bestimmten Begriff der Klassik „lediglich den Radius und die Wirkungskraft einer literarischen ,Schule', ,Strömung' oder . R i c h t u n g ' " zuzubilligen oder ihn „ohne weiteres und undifferenziert zur Bezeichnung einer literarischen Etappe, Phase oder Periode" 2 zu verwenden.

7

In der Tat ist die Frage nach einem stichhaltigen Periodenbegriff durch Modifizierung des Erbekanons nicht beantwortet. Was die Literaturgeschichtsschreibung betrifft, so verlangt solche Modifizierung aber geradezu, jene „Teile" im Zusammenhang eines je historischen Ganzen zu erfassen, um ein Mehr an realer Dialektik in unser Geschichtsbild einbringen zu können. Vorzugsweise sprechen marxistische Literaturhistoriker seit einiger Zeit von „Klassik/Romantik" und versuchen damit, einen Periodenbegriff als Summe charakteristischer und komplementärer Strömungen zu bilden. In diesem Sinne wird im einschlägigen Band unserer Literaturgeschichte ein weiterer Schritt getan, die Literaturentwicklung zwischen 1789 und 1830 als „ein einheitliches und zugleich widerspruchsvolles Ganzes" zu bestimmen; hier ist der zu behandelnde Gegenstand definiert als die „Entwicklung von drei Hauptrichtungen des Gesamtzeitraums: der klassischen und romantischen sowie einer bürgerlich politisch-aktivistischen Literatur" 3 . Zweifelhaft muß nun allerdings sein, ob der W e g zu einem Periodenbegriff durch das Aufzählen von Hauptrichtungen oder Strömungen überhaupt gangbar ist. Selbst wenn „Klassik/Romantik" durch „politisch-aktivistische Literatur" und zumindest auch „Trivialliteratur" (bzw. „Massen"- oder „Unterhaltungsliteratur") ergänzt werden könnte — man also das Wortungetüm nicht scheuen müßte —, entstünde kein Begriff für ein geschichtliches Ganzes, sondern eher ein Raster, der schematische Zuordnungen erzwingt. Deshalb wird im vorliegenden Band „Kunstperiode" als literarhistorischer Periodenbegriff verwendet. Das impliziert einen theoretischmethodischen Vorschlag, die deutsche Literaturentwicklung zwischen ausgehender Aufklärung und Vormärz als einheitliche, durch spezifische Beziehungen von Literatur und Gesellschaft geprägte Periode zu untersuchen und darzustellen: „Kunstperiode" bezeichnet hier nicht bestimmte Strömungen oder Gruppierungen — Klassik und Romantik —, sondern die Gesamtheit eines in sich differenzierten Bereichs literarischer Kommunikation, in dem die „Kunstidee" (Heine) sowie die W e r k e der Poesie und Belletristik eine historisch signifikante Stellung einnehmen. Der entsprechenden Historisierung des Kunstproblems messen die Autoren vorliegenden Bandes angesichts jener Entwicklung in unserer Gegenwartsliteratur besondere Aktualität zu, die als „ästhetische E m a n z i p a t i o n " b e z e i c h n e t worden ist. Denn die gesellschaftlichgeschichtliche Bedeutung dieser „Emanzipation" erschließt sich nicht

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dadurch, daß einem gleichsam überzeitlichen Wesen von Kunst überhaupt nachgefragt wird, sondern nur aus der historisch unverwechselbaren Konstellation ideologisch-literarischer Kommunikation und Auseinandersetzung. Literatur vermag sich auch als Kunst nicht auszugliedern aus dem ideologischen Bereich, aus der Ideologie als „Eigenschaft gesellschaftlichen Bewußtseins, gesellschaftliche Interessen auszudrücken und die Praxis gesellschaftlicher Subjekte zu vermitteln" 5 . Wenn Kunst „als eine mögliche Kompensation der Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten der Ideologie und Politik begriffen" wird, so zeigt das jedoch an, daß ihre spezifische Stellung im ideologischen Bereich in Veränderung begriffen ist; und daraus resultiert die Aufgabe, „die Reaktionsweise der einzelnen Seiten der sozialistischen Ideologie, den Zusammenhang ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und auch die Fähigkeit der funktionellen Ausgleichung der Mängelleistungen eines Bereichs durch die Aktivierung eines anderen näher zu erforschen" 6 . Zur theoretisch-methodischen Aufgabe für Literaturgeschichtsschreibung verallgemeinert, heißt das: Es geht um die Erforschung von Literatur — ihrer Gehalte, Formen und Funktionen — im Bezug auf den Gesamtkomplex gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung, im Rahmen einer ideologisch-kommunikativen Konstellation, die — letztlich auf einem bestimmten Stand sozialökonomischer und politischer Entwicklung basierend — jeweils historisch unverwechselbar ist und die Struktur des Literaturprozesses periodencharakteristisch prägt. Der Periodenwechsel in der deutschen Literatur um 1830 ist bekanntlich bereits seinerzeit als Ende der Kunstperiode bezeichnet worden. Als Heinrich Heine 1828 feststellte, daß das „Prinzip der Goetheschen Zeit, die Kunstidee, entweicht, eine neue Zeit mit einem neuen Prinzipe" 7 aufsteigt, sprach er aus, was viele Zeitgenossen empfanden; und als er im Jahre des Hambacher Festes und des Todes von Goethe das Ende „unserer Kunstperiode" und den Beginn der „politischen Periode" 8 konstatierte, hatte er die allgemeine Losung geschichtlichen Selbstverständnisses der gesellschaftlich engagierten Autoren gegeben. Möglichkeit und Notwendigkeit schriftstellerischer Operativität in den beginnenden politischen Bewegungen des Vormärz führten zum Bruch mit den vornehmlich an klassischen und romantischen Traditionen orientierten Literaturbegriffen. Die Unterscheidung von Kunst und Politik als der „Prinzipien" zweier Perioden kennzeichnet jedoch lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner progressiven kulturgeschichtlichen Denkens 9

im Vormärz. Gerade Heine war zu sehr zeitverbundener Künstler wie zugleich als Schüler und Kritiker Hegels zu sehr dialektischer G e schichtsdenker, als daß er Kunst und Politik einander ausschließend hätte konfrontieren können. Bei Hegel waren Kunst, Religion und Philosophie als Formen gesellschaftlichen Bewußtseins bestimmt worden, die einander insofern historisch ablösen, als jeweils — in Antike, Reformation und 18./19. Jahrhundert — „höchstes Interesse des G e i s t e s " 9 ihre Stellung bestimmt. Mit anderen W o r t e n : Im Gang der Geschichte gibt es Umstrukturierungen des gegenseitigen Verhältnisses der Bewußtseinsformen, ohne daß damit die nicht dominierenden gänzlich abgelöst werden, stehen doch alle „ihrem Inhalt nach auf ein und demselben B o d e n " 1 0 der Etappen des zu sich kommenden „Weltgeistes". W e n n Hegel also mit der ausgehenden Antike das Ende der Kunst ansetzte, so fragte er zugleich nach ihren weiteren historischen Schicksalen, den Veränderungen ihrer Gehalte und Strukturen wie ihrer Stellung im Ensemble der Bewußtseinsformen. 1 1 „Heines These vom E n d e der Kunstperiode ist sachlich eine Antwort auf Hegels These vom E n d e der Kunst. Sie fordert Auskunft darüber, wie Kunst unter den neuen Bedingungen zu leisten sei, welchen Charakter sie h a b e . " 1 2 Heines Konzeption — aufs Ganze gesehen — schließt ein, Hegels „Weltgeist", der mit der bürgerlichreformerischen Umwälzung des Feudalismus zur Ruhe kommt, in revolutionär-demokratischer Orientierung und prosozialistischer geschichtsphilosophischer Tendenz durch das materiell-reale Subjekt der Geschichte zu ersetzen, Hegels Schema der abfolgend dominierenden Bewußtseinsformen zu modifizieren und insbesondere durch die Politik zu ergänzen; darüber hinaus wird ein Verhältnis von Philosophie, Politik und Kunst auf der Höhe sozialer und politischer „Zeitbewegung" 1 3 nach 1830 bestimmt. Dabei bewahrt Heine „den Gedanken von der Befreiung der künstlerischen Subjektivität in einer Welt entfremdeter Objektivität und den Gedanken der Freiheit als letztem Inhalt der K u n s t " . „Heine sprengte somit nicht nur das G e schichtskonzept Hegels zur Zukunft hin auf, die gleiche veränderte Beziehung zum gesellschaftlichen Lebensprozeß ließ ihn die klassizistischen Schranken seines Kunstbegriffs aufbrechen und realistische Einsichten freisetzen, wesentlich aus dem objektiven Idealismus der Weltanschauung hinausführen, Kunst als Organ der Gesellschaftsbewegung und Emanzipation begreifen, ohne ihren spezifischen Charakter und damit seine Utopie und Schönheit preiszugeben. E r 10

entdeckte zugleich ästhetische Möglichkeiten der vom industriellen Kapitalismus entwickelten neuen Kommunikationsmedien und nutzte sie als Organe seiner künstlerisch-politischen Kommunikation, weil zugleich Erkenntnis." 14 Fortgesetzte, stetig vertiefte und differenzierte Auseinandersetzung mit der Kunstperiode war ein wesentliches Moment in Heines weltanschaulicher und künstlerischer Entwicklung. So blieb er nicht dabei stehen, das „tote Scheinwesen der alten Kunst" 15 zu attackieren. In unentwickelten politischen Intentionen, in philosophischen Errungenschaften wie in bestimmten Kunstmitteln der vergangenen Periode erkannte er zugleich Keime, fruchtbare, wiewohl oftmals fehlgerichtete Ansätze einer für ihn modernen Literatur. Ein ganz anderes Verständnis des Traditionsbruchs und damit der Kunstperiode prägte dagegen die erste eigentliche — und unvergleichlich einflußreiche — Literaturgeschichte, die fünfbändige Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1835/42) von Georg Gottfried Gervinus. Das von Gervinus gezeichnete Bild der Literaturentwicklung entsprang altliberalnationalen politischen Intentionen und damit zugleich der Feindschaft gegenüber revolutionärdemokratischen Bestrebungen wie auch gegenüber antikapitalistischen Tendenzen, ebenso der einfachen Ablehnung von Hegels kulturgeschichtlicher Dialektik. Die Entwicklung der Kunst sah Gervinus als generell beendet: „Man habe den Mut, das Feld eine Weile brachliegen zu lassen und den Grund unserer öffentlichen Verhältnisse . . . neu zu bestellen, . . . und eine neue Dichtung wird dann möglich werden, die auch einem reifen Geiste Genüsse bieten wird." lfi In absehbarer Zeit gehe es nicht um Kunst; vielmehr müsse man „die Talente, die nun kein Ziel haben, auf die wirkliche Welt und den Staat locken" i7 . Das neue Ziel war für Gervinus: liberal-konstitutionelle Reichseinigung unter Führung Preußens. Wie Gervinus die Kunst aus der „politischen Periode" ausschied, so meinte er andererseits, daß im 18. Jahrhundert und bis zur jüngsten Vergangenheit die Absage an Politik „das ganze Leben der Nation gleichsam ausfüllte" : „Wir hatten in Deutschland keine Geschichte, keinen Staat, keine Politik, wir hatten nur Literatur, nur Wissenschaft und Kunst. Sie überflügelte alles, sie siegte allerwege, sie beherrschte daher alle Bestrebungen der Zeit." 18 Es liegt auf der Hand, daß diese Prämisse einen reellen Kern besaß; in ihrem Schematismus war sie jedoch ungeeignet, die Dialektik von gesellschaftlicher und literarischer Bewegung in der Kunstperiode zu erfassen. Gervinus sah nur zwei

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Zusammenhänge als Grundlage seines streng historischen Vorgehens: zum einen den — ganz allgemein gefaßten — Prozeß einer Verbürgerlichung der Dichtung, die „seit dem 16. Jahrhundert in den Händen der bevorrechteten Stände w a r " 1 9 ; zum anderen vor allem das — rein negative — Bestimmtsein der Literatur durch den desolaten staatspolitischen Zustand des Deutschen Reiches. Allenthalben habe es daher der deutschen Literatur gefehlt an „politischen Anschauungen und E r f a h r u n g e n " 2 0 , an „Sinn für das handelnde Leben und die politische Geschichte", an „Sinn für Vaterland, Staat und Nationalität" - 1 . Lediglich bei Lessing und vor allem bei Schiller fand Gervinus etwas von diesem Sinn, der den Wieland, Herder und Goethe gänzlich abgegangen sei. Sie vor allem hätten einer verblasenen Geschichtsphilosophie und einem abstrusen „System des Weltbürgertums" gehuldigt; dieses „wurzelte so tief in die Nation ein, daß noch heute diese politische Universalität . . . einen Hauptgrundsatz in dem Gedankensysteme der Deutschen bildet" 2 2 . Forster, den Gervinus wegen der Anlage, „ein wahrhaft großer Staatsmann zu werden", ins „ Gedächtnis der Nation" zurückrief, sei ob seiner politischen Praxis entschuldigt, folgte er doch den herrschenden Grundsätzen: „Sich aus dem Vaterland nichts zu machen, das hatte ja das deutsche Vaterland in Theorie und Praxis g e l e h r t ! " - ' Gervinus verschwieg, daß Forsters politische Praxis jakobinisch war. Dagegen sah er in Herder den Stammvater des „Jakobinismus in unserer Literatur". Über Jean Paul reiche die „eigentliche Schreckenszeit, jene Periode der Originalgenies, die jedes Herkommen verachteten, jede Autorität mit Füßen traten", „bis auf die heutigen politischliterarischen Freiheitsmänner herüber, welche Verbindung denn mit der ganzen schriftstellerischen und menschlichen Art der jetzigen J u gend wohl zeigt, daß wir die revolutionäre Stimmung noch nicht gänzlich erstickt haben" 2 ' 1 . Dazu gehöre, daß diese Jugend, wo sie „durch die Gewalt abgeschreckt wird, in die Untergrabung der bestehenden Gesellschaftsprinzipien durch die Weltliteratur abbeugt, zu der Goethe das erwünschte Stichwort gegeben" 25. Gänzlich gefährlich erschien es Gervinus, daß Goethe bei allen „Äußerungen eines Höflingssinns" 2 6 von — allerdings nicht gewünschten — „Umwälzungen" gesprochen hatte, die in Deutschland eine „Nationalliteratur" vorbereiten müßten. „Und wäre denn dazu durchaus Umwälzung nötig", erwiderte Gervinus, „. . . daß wir ein Regiment begehrten, das des Volkes innere Kräfte schätzen lernte und ihnen Spielraum gäbe? . . . weder die .Behaglichkeit der früheren Märchen', 12

noch die Unbehaglichkeiten der früheren und späteren Dichter konnten uns dahin führen. Sondern ein Mann tat uns not, der dieses Ziel mit gerader Bestrebung ins Auge faßte . . Neben jenem Erbe, das er des revolutionären Demokratismus verdächtigte, verwarf Gervinus mit den „Unbehaglichkeiten" der Dichter auch die Traditionen zeitgenössischer Kritik der kapitalistischen Gesellschaft. Im Bereich „des gesellschaftlichen und Privatlebens" habe „das große Talent keinen Gegenstand mehr": „. . . jetzt ist die Gewalt der Konvenienz, Mißstand und Unnatur des Privatlebens so gebrochen, daß es den Mann von Geist und Kraft nicht mehr unterdrücken kann . . . Nur das Staatsleben beugt die freie Entwicklung noch nieder . . ." 2 8 Dagegen berief sich Gervinus auf den „gereinigten ästhetischen Sinn" 2 9 der Kunstperiode. Das bedeutete vor allem ein nationales Programm. Denn: „Erst wenn man bei Goethe und Schiller angelangt ist, sehen wir uns auf eigenen Füßen" ; die „älteren Koryphäen" dagegen seien von ausländischen „Influenzen" 3 0 abhängig gewesen. Wie also Goethe und Schiller eine national-eigenständige Kunst schufen, so habe dieser Leistung nun eine entsprechende Politik zu folgen. Was das bedeutete, darüber ließ Gervinus keinen Zweifel. So schrieb er über das Ende der „Schreckensherrschaft" des Sturm und Drang: „Allmählich besann man sich jetzt. Herder kehrte zurück und suchte Bande zwischen Regel und Freiheit zu knüpfen; . . . und die größte Persönlichkeit unter den jungen Dichtern der Generation, Goethe, der vorhin ganz in dem demagogischen Sinne mitgewirkt hatte, ging dahin über. Ein Prinzip der Mäßigung faßte mitten unter den dauernden Stürmen Fuß. Zu Goethe gesellte sich Schiller. Sie waren schon ihren Schicksalen nach zweiseitige Männer der Mitte." 3 1 Am schönsten fand Gervinus diese „Mitte" in Schillers Idee, daß „ein ästhetisches Volk durch seine harmonische Bildung befähigt wird zur Schöpfung eines harmonisch gegliederten Staatssystems" :!2 . Und in Schillers letzten Dramen sah er die eigenen liberal-konstitutionellen nationalen Intentionen und beabsichtigten schriftstellerischen Wirkungen vorweggenommen. Bei Schillers Tod angelangt, konnte Gervinus „streng genommen hier abschließen" 33 . Denn was folgte, war ihm der Abfall der Dichtung von ihrer beispielgebenden Höhe, ein qualvolles Hinauszögern des unumgänglichen Anbruchs der politischen Periode. — Die Romantiker leisteten zwar anfänglich Respektables im Kampf gegen „die gemeine Denkart und die selbstgefällige Plattheit" 3 4 ; doch entwickelten sie 13

zunehmend „Neigungen für das rein Formale der Poesie" 35 und entfernten sich in ihrer „Sektentendenz" 3. Deshalb ist noch für diese Zeit eine streng kategoriale Scheidung der „revolutionären Kräfte" von jenen, die „den Weg von Reformen oder einer .Revolution von oben' beschreiten wollten" 25 , problematisch. Letzteren Kräften ein „Übergewicht" 2(i zuzuschreiben, wird aber der Situation mindestens vor 1806 nicht gerecht: das Übergewicht in der praktischen Politik erlangten eindeutig die konservativ-restaurativen Kräfte.

2. Die bestimmenden sozialen Prozesse und charakteristischenpolitischen Entwicklungen der Zeit werden an der Geschichte des wohl wichtigsten Reformunternehmens von öffentlicher Bedeutung, an der Geschichte des preußischen Allgemeinen Landrechts, besonders deutlich. 1780 hatte Friedrich II. die Erarbeitung eines Gesetzbuches befohlen. — Es war die Zeit, da nicht nur das Aufbegehren unter den Bauern zunahm; es trat auch „diejenige Gruppe unter den Manufakturunternehrqern stärker in Erscheinung, die an einer freien, vom Staat unabhängigen Entwicklung interessiert war und deshalb auf die 38

staatliche Wirtschaftspolitik im Sinne der in England und Frankreich entwickelten ökonomischen Lehren einzuwirken versuchte" 27 . Verstärkung erhielt diese bürgerliche Opposition durch einen Teil jenes Adels, der Anschluß zum kapitalistischen Fortschritt suchte. England hatte durch die industrielle Revolution seinen Markt für Rohstoffe und Nahrungsmittel enorm vergrößert und damit eine besondere Chance für Gutsbesitzer des Festlandes, vor allem Nordwestdeutschlands, der baltischen Länder und Ostelbiens, insbesondere Ostpreußens, eröffnet. Aus diesen Kreisen, die zumeist gegenüber bürgerlichen Unternehmern privilegiert waren, regte sich Widerspruch gegen absolutistische Handelsbeschränkungen. Ein anderes Moment kam hinzu: War beim „Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus . . . der wichtigste Widerspruch derjenige, der davon hervorgerufen war, daß die Gutswirtschaft einerseits schon mit dem Warenmarkt, sogar mit dem kapitalistischen Weltmarkt, eng verbunden war, und andererseits doch ihren feudalen Charakter zu behalten strebte" 2 8 , so wurde nun in Kreisen der wirtschaftlich aktivsten Gutsherren die bis zur Grenze der Möglichkeit gesteigerte Fronarbeit als ökonomisch ineffektiv erkannt. Sie „war jetzt nicht nur ein Hindernis für die Entwicklung der bäuerlichen Wirtschaft, sondern auch ein Hemmnis für die Entwicklung der gutsherrlichen Wirtschaft geworden" 2 9 , und in der Befürwortung ihrer Ablösung trennte sich eine fortschrittliche Fraktion vom konservativen Gutsadel. Vereinzelt gab es bereits vor 1806 Ablösungen der Frondienste.1''0 Unüberbrückbar blieben freilich die Gegensätze zwischen dem gesamten Adel und den Bauern mit eigener Wirtschaft, deren beträchtlicher Restbestand 31 vom preußischen Staat aus fiskalischen und militärischen Interessen mit Schutzverordnungen zu bewahren gesucht wurde. Gerieten die einzelbäuerlichen Wirtschaften durch Frondienste und Gesindezwang an den Rand des Ruins, so wurde ihre Existenz durch weiteres Bauernlegen gänzlich bedroht, das „trotz zahlloser Edikte" 3 2 gerade vom fortschrittlichen Adel praktiziert wurde, um Wirtschaftsflächen zu vergrößern und Arbeitskräfte freizusetzen. In der Niederhaltung des stärker werdenden bäuerlichen Widerstandes waren sich konservativer wie fortschrittlicher Adel und feudalabsolutistischer Staat weitgehend einig. In dieser Situation vielfacher Gefährdung der bestehenden Ordnung sollte das zu erarbeitende Gesetzbuch die weitere Funktionsfähigkeit der feudalen Klassenjustiz gewährleisten, insbesondere den Ermessensspielraum der Richter einschränken und die Lücken schlie39

ßen, die die Patrimonialgerichtsbarkeit und die differierenden Provinzialgesetze ließen. Bei der kaum lösbar erscheinenden Aufgabe, das Chaos feudaler Rechtsnormen praktikabel zu kodifizieren, sah sich der Großkanzler der Justiz, Freiherr von Carmer, auf die entscheidende Mitarbeit bürgerlicher Justizbeamten angewiesen. Hauptautoren des Gesetzbuches wurden Carl Gottlieb Svarez, Sohn eines Advokaten, und Ernst Ferdinand Klein, Sohn eines Kürschnermeisters. Beide gehörten der 1783 gegründeten Berliner Mittwochsgesellschaft an, zu deren Mitgliedern auch Johann Erich Biester, der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, der Verlagsbuchhändler und Schriftsteller Friedrich Nicolai sowie eine Reihe anderer Aufklärer, unter ihnen höhere Staatsbeamte, zählten. „Diese Gesellschaft führte streng geheimgehaltene Gespräche über politische und juristische Themen." 33 Im Zentrum standen dabei offenbar Probleme des kapitalistischen Fortschritts unter preußischen Bedingungen: Sicherung des bürgerlichen Eigentums und des in Verwandlung zu kapitalistischem Eigentum befindlichen feudalen Grundbesitzes, allmähliche Ablösung der Frondienste und des Gesindezwangs und Ausschaltung staatlich-merkantilistischer Eingriffe in das Wirtschaftsleben, vor allem Abschaffung der „Verbote von Getreideausfuhr, Bodenverkauf und Bauernlegen" 34 . Svarez und Klein suchten liberale Positionen bei der Kodifikation der bestehenden feudalen Rechtsnormen zur Geltung zu bringen. Naturgemäß konnte dieses Bestreben in den konkreten Bestimmungen des Gesetzbuches kaum Ausdruck finden, wohl aber in den allgemeinen Definitionen, die sich vor dem fürstlichen Auftraggeber als für eine Systematisierung notwendig rechtfertigen ließen. So wurde — in weitgehendem Widerspruch zu einer Fülle das Eigentumsrecht einschränkender Bestimmungen — der Eigentümer definiert als „derjenige, welcher befugt ist, über die Substanz einer Sache, oder eines Rechtes, mit Ausschließung anderer, aus eigener Macht, durch sich selbst, oder durch einen Dritten zu verfügen" 35. Ein kühner Vorstoß war vor allem die bürgerliche Definition des Staatszwecks, wozu es unter anderem hieß: „Die Gesetze und Verordnungen des Staates dürfen die natürliche Freiheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken, als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert." 36 Auf konkrete Fortschritte zielten die Autoren besonders mit einem Verbot königlicher „Machtsprüche". Das bedeutete, daß der Herrscher nicht in Gerichtsverfahren eingreifen oder ihre Ergebnisse kassieren durfte und „kein Zivilbeamter des ihm einmal verliehenen 40

Postens, ohne Urteil und Recht, wieder entsetzt werden" 37 durfte. Damit wollten die Justizreformer die Positionen fortschrittlicher Beamter im Staatsapparat sichern und weiter ausbauen. Die von 1784 bis 1788 jeweils zur Leipziger Messe erscheinenden sechs Teile des Gesetzbuchentwurfs wurden zur öffentlichen Diskussion gestellt, an der sich außer einigen Bremer und Hamburger Kaufleuten bürgerliche Regierungsbeamte aus mehreren deutschen Staaten beteiligten. Als nun aus diesem Kreise die Forderung nach „Dismembrirung der großen adlichen Güter" erhoben wurde, erwiderte Svarez, daß „dadurch der Adel sehr herunterkommen" würde; und auf die Forderung nach „Aufhebung der Erbuntertänigkeit" lautete die Antwort, „daß nicht gänzliche Aufhebung oder Umschmelzung, sondern nur Verbeßrung, Berichtigung und Ergänzung der bisherigen Rechte die Absicht des neuen Gesetzbuches sein soll" 38 . Widersprach die erste Forderung der Orientierung auf kapitalistische Umgestaltung der feudalen Gutswirtschaft, so die zweite notwendigem politischen Taktieren. Klein suchte bei späterer Gelegenheit einem Kritiker klarzumachen: „Am Ende werden vielleicht die Landsherren genötigt sein, zu diesem Mittel ihre Zuflucht zu nehmen. Aber so dienlich es auch wäre, schon entstandene Unruhen zu dämpfen, so gewiß würde es da Unruhen erregen, wo keine sind. Eben um dieses gefährliche Mittel überflüssig zu machen, ist es hohe Zeit, daß die Gutsbesitzer nach und nach ganz in der Stille sich wegen Abschaffung der unseligen Frondienste mit ihren Bauern vergleichen . . . Ein Befehl von oben herab muß so lange als möglich vermieden werden." 3 » Mit solchem Taktieren konnten die ersten Vorstöße der konservativen Kräfte abgewehrt werden. Diese Kräfte machten geltend, daß der Geist des Gesetzbuches im Gegensatz stehe zu den seit 1786 in rascher Folge ergangenen königlichen Publikanda gegen den „Ungehorsam der Untertanen", ihr „beharrliches, ungestümes Querulieren" und ihre „Prozeßsucht", gegen die „unbefugten Consulenten und Winkelschriftsteller", die für Bauern und andere Angehörige der unteren Schichten schriftliche Eingaben verfaßten. 40 Ernstlicher noch wurde die Arbeit am Gesetzbuch gefährdet, als der aufklärungsfreundliche Minister von Zedlitz fiel und Johann Christoph von Wöllner, Mitglied des religiös-mystischen Rosenkreuzerordens, 1788 das staatliche Departement für geistliche Angelegenheiten übernahm. Es trat sogleich ein Edikt über die Religionsverfassung in den preußi41

sehen Staaten in Kraft, das jeden Geistlichen bei Strafe auf die obrigkeitlich verordnete kirchliche Lehrmeinung festlegte. „Solange der absolutistische Fürst im Bündnis mit den kapitalistisch-merkantilistischen Schichten seiner Macht sicher war, hatte er am protestantischen Klerus nur so weit Interesse, als er im Dienst der staatlichen ,Policey' Beamtendienste erfüllte und nicht unter Berufung auf das eigene Amtscharisma mit räsonierenden Untertanen Obstruktion betrieb . . . Erst . . . als Absolutismus und Bürgertum zu Gegnern wurden, förderte der Staat die Geistlichkeit und zog sie heran zur Domestikation antiautoritärer Gewalten: zum Beispiel das Bündnis zwischen Staat und Kirche während der neunziger Jahre in Preußen und Hessen. Erst mit dem gestiegenen Funktionswert erreichte der Stand staatliche Förderung, die Naturalabgaben wurden in Geld abgelöst und die soziale Stellung gehoben."'51 Die kirchlich-religiöse Restauration durch Wöllner — der übrigens in ökonomischen Fragen durchaus die Positionen der Justizreformer teilte — stand konträr zu den Bestimmungen des Gesetzbuches über Religionsfreiheit. Insgesamt aber kam das Gesetzbuch in ein gefährliches Schußfeld durch die auf das Religionsedikt folgenden Auseinandersetzungen. Denn angesichts des publizistischen Widerstandes gegen die kirchlich-religiöse Restauration, der lebhaften Verteidigung öffentlicher Aufklärung 42 *, stellte der preußische König fest, daß „die Preßfreiheit in Berlin in Preßfrechheit ausgeartet und die Bücherzensur völlig eingeschlafen" sei. Er gab Anweisung, die Zensur zu reorganisieren und zu verschärfen: „Ich will Meinen Untertanen alle erlaubte Freiheit gern accordiren, aber ich will auch zugleich Ordnung im Lande haben, welche durch die Zügellosigkeit der jetzt sogenannten Aufklärer, die sich über alles wegsetzen, gar sehr gelitten hat." 43 Die Justizreformer taten alles, um hier nicht angesprochen zu sein; ihr Verhalten gegenüber den bei sämtlichen fortschrittlichen Geistern verhaßten preußischen Religions- und Zensuredikten von 1788 war völlig opportunistisch.44* 1791 fertiggestellt, wurde das Gesetzbuch in 10000 Exemplaren in alle preußischen Provinzen und ins Ausland verschickt. Es sollte im Juli 1792 in Kraft treten, wurde jedoch kurz zuvor auf unbestimmte Zeit „suspendiert". Der Grund war, daß die „Französische Revolution während ihrer Entwicklung langsam, besonders in Zusammenhang mit den polnischen Bewegungen, auch zur Verschärfung der inneren Gegensätze in Preußen geführt hatte, diese Verschärfung aber den extrem reaktionären Kräften innerhalb der Feudalklasse die 42

Führung in die Hände gespielt hatte". Die „Prinzipien des Allgemeinen Gesetzbuches, sein umfassender Charakter, seine von der formalen Gleichheit ausgehende Systematik und seine staatsrechtlichen Bestimmungen" 45 fielen als untragbares Zugeständnis an die Aufklärung. Vergeblich machten die Justizreformer geltend, das Gesetzbuch sei eine Wehr gegen Unruhe und Aufruhr. Die Gegner beriefen sich auf den „überall herrschenden Volksglauben, . . . daß neue Gesetze neue Vorteile mit sich führen müßten", so im April 1792 der Küstriner Regierungspräsident; es habe sich schon die Ansicht verbreitet, „daß durch die neuen Gesetze der dienstbare Stand gänzlich aufgehoben worden" 46 . Nur brutales Zuschlagen konnten die Herrschenden gebrauchen, als 1792/93 der schlesische Bauernaufstand ein bedrohliches Ausmaß erreichte. Als es galt, das 1793 eroberte polnische Südpreußen staatlich zu integrieren, wurde die Einführung des Gesetzbuches erneut akut. Es sollte nun jedoch von allen Sätzen gereinigt werden, die den Konservativen ein Dorn im Auge waren. Carmer erklärte, „daß es das Vertrauen der Untertanen, sowie ihre Zufriedenheit mit der Regierung, unter welcher sie leben, gar sehr schwächen dürfte, wenn man gegenwärtig, durch Übergehung und Weglassung dieser Sätze eine Mißbilligung derselben zu erkennen geben und die (sie!) Verläumdungen derjenigen, welche den preußischen Staat der Despotie beschuldigen, einen so scheinbaren Vorwand leihen wollte" 4 '. Nach solchen „Declamationen und verfänglichen Äußerungen" 48 bekam der Großkanzler vom König einen Assistenten zugeteilt, „der die Stellen angibt so er nicht siehet oder sehen wil" 49 . Es ging vor allem um das Verbot königlicher „Machtsprüche" — denn das „Vertrauen der Untertanen, daß ihr Landesherr nur gerechte Befehle gebe", sei „die sicherste Stütze der Regierung" — und um die Definition des Staatszwecks als „für den unwissenden und größten Hauffen schädlich" ; könne er doch veranlaßt werden, „eine neue Verordnung oder Einrichtung" 50 an seinen eigenen Interessen zu prüfen. Selbst der egalitäre Begriff „Bürger" war nicht mehr tragbar, und schließlich wurde die neue Bezeichnung „Gesetzbuch" zugunsten der herkömmlichen „Landrecht" getilgt. So hatte sich, als das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten 1794 in Kraft trat, Svarez' Hoffnung zerschlagen, die Gesetzgebung werde eine „Feste" sein, „in welche sich die durch Zeitgesetze gedrängte Freiheit zurückziehen, und aus der sie, unter günstigem Umständen zur Wiedererlangung ihrer gekränkten Rechte mit gestärkten Kräften zurückkehren kann" 51 . 43

3. Mit der restaurativen Amputation des preußischen Gesetzbuches fiel zugleich eine „Feste" der seit den achtziger Jahren im Entstehen begriffenen oppositionellen Öffentlichkeit, gegen die die Herrschenden nach 1790 zu den entscheidenden Schlägen ausholten. Bei der Kaiserwahl von 1790 hatte das Kurfürstenkollegium Leopold II. empfohlen, oppositionell wirksame Literatur einzudämmen. Praktische Schritte folgten mit den Beschlüssen des Reichstags von 1791. Zwar kam ein eigentliches Reichsgesetz gegen oppositionelle Literatur — wie es Kurmainz, Kurköln und andere, von unmittelbaren Einwirkungen der Französischen Revolution bedrohte Feudalstaaten des rheinischen Gebiets forderten — nicht zustande; aber mit Ausnahme des in Personalunion mit England regierten Hannover stimmten alle Reichsstände einem Gutachten zu, das den Kaiser aufforderte, „bei den sämtlichen Reichskreisen wirksame Maßnahmen und gleichmäßiges Vorgehen" 52 zu veranlassen. Im Reichsgutachten hieß es, daß „der Verbreitung aller, zu Empörung und Aufruhr anfachender Schriften und Grundsätze, sonderlich solcher, wodurch der Umsturz der gegenwärtigen Verfassung oder die Störung der öffentlichen Ruhe befördert werde, durch wachsame Aufsicht auf die Urheber, Verfasser und Verbreiter, durch scharfe Bestrafung derselben und durch unnachsichtliche Konfiszierung dergleichen in- und ausländischer Schriften mit desfallsiger wechselseitiger Bewirkung sorgfältigst vorgebogen, auch überhaupt verhütet werde, damit nirgends in dem Reiche einige öffentliche Unruhe und Empörung entstehe" 53. In Preußen wurde das Reichsgutachten umfassend realisiert, nachdem 1791 Ewald Friedrich von Hertzberg, Leiter der gegen Österreich gerichteten frankreichfreundlichen Außenpolitik, abgesetzt worden war. Hofrat Hillmer, der „dem neuen Examinationswesen zur Schaffung einer rechtgläubigen Geistlichkeit" 54 vorstand und die theologischen Schriften zensierte, zog auch die Zensur aller Zeitschriften an sich. Biesters Berlinische Monatsschrift wurde deshalb mit Beginn des Jahrganges 1792 in Jena, später in Dessau gedruckt. Sie veröffentlichte im Januar 1792 unter der Überschrift Friedrich Wilhelm der Gesetzgeber. Einige wichtige Stellen aus dem Neuen Preußischen Gesetzbuch achtzig Paragraphen, um die auf „bürgerliche und religiöse Freiheit" bezüglichen „Stellen des vortrefflichen Neuen Gesetzbuches so bekannt" zu machen, „als sie es allgemein zu sein ver44

dienen". Dazu gehörten u. a. Paragraphen über den Staatszweck, über das Verbot königlicher „Machtansprüche" in Rechts- und Eigentumsfragen, über die rechtliche Gleichheit aller „ohne Unterschied des Standes, des Ranges und Geschlechts", über „vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit" und über das Recht, „Zweifel, Einwendungen und Bedenklichkeiten gegen Gesetze und andere Anordnungen im Staate" sowohl dem König wie den Ministern zur gewissenhaften Prüfung anzuzeigen.55 Zum wichtigsten Refugium kritischer Publizität wurde SchleswigHolstein mit den Zentren Kiel und Altona.56* In diesem zu Dänemark gehörenden Gebiet existierte von 1770 bis 1799 zwar nicht für Zeitungen, jedoch für Bücher, Flugschriften und Journale Zensurfreiheit.57 Sie wurde allerdings auf Interventionen deutscher Regierungen — vor allem der preußischen — im einzelnen wiederholt aufgehoben. Und hinzu kam ein weiteres Problem: Wenn die an Orten ohne Zensur oder — wie in Jena und Dessau — mit milder Zensur gedruckteLiteratur ein breiteres Publikum erreichen und in den größeren deutschen Staaten nicht der Nachzensur und Konfiskation zum Opfer fallen sollte, so mußte von vornherein eine Selbstzensur geübt werden, die den Spielraum der Informations- und Meinungsfreiheit äußerst einschränkte und die Vorteile des Druckortes weitgehend wieder aufhob. Selten war die Konstellation so günstig, wie im Falle jener Informationen der Berlinischen Monatsschrift über das preußische Gesetzbuch. Denn konnten sie auch in Preußen bereits nicht mehr gedruckt werden, so war doch ihre Verbreitung vor der offiziellen „Suspendierung" des Gesetzbuches kaum zu verbieten. Das von Biesters Journal gespendete Lob, daß Friedrich Wilhelm II. „mit der Denkungsart und den Begriffen seines Zeitalters Schritt" 58 halte, verfing dagegen beim preußischen König längst nicht mehr. Dieser Herrscher zeigte sich vielmehr besonders engagiert, wenn es um die Unterdrückung einer kritischen Öffentlichkeit ging. So verlangte er im speziellen „ein Verbot des angesehensten Organs wissenschaftlicher Kritik im damaligen Deutschland, der Jenaischen Allgemeinen Literatur^eitung", und sogar die „Unterdrückung jener Bulletins oder geschriebenen Zeitungen, die durch das ganze . . . Jahrhundert hindurch gegen schweres Geld ihre Abnehmer etwas reichlicher und eindringlicher über Hof- und Regierungsangelegenheiten zu unterrichten pflegten, als die meisten gedruckten Zeitungen es konnten oder durften". 59 Noch die theologische Zensur wurde vom König und seinem Zensurkollegium übertrumpft, wie selbst der 45

berühmteste Vertreter der preußischen Aufklärung, Immanuel Kant, erfahren mußte. Nachdem Kants religionsphilosophische Abhandlung Vom radikalen Bösen (1792) die Vorzensur mit dem Bemerken passiert hatte, daß „doch nur tiefdenkende Gelehrte die kantischen Schriften lesen"60, wurde der folgenden Abhandlung Von dem Kampfe des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen die Druckerlaubnis verweigert. Kant wandte sich daraufhin an die zensurbefugte theologische Fakultät der Königsberger Universität, an der er lehrte, welche keinen Anstoß nahm. Nachdem beide Abhandlungen 1793 in erster und 1794 in zweiter Auflage unter dem Titel Die Re/igion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erschienen waren, erging im Oktober 1794 eine königliche Kabinettsorder, die dem Philosophen „Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums" vorwarf und ihn aufforderte, künftig im Sinne der „landesväterlichen Intention"1'1 zu wirken. Die Königsberger Hochschullehrer wurden schriftlich verpflichtet, keine Vorlesungen über dieses Werk zu halten; Kant selbst — zum Widerruf nicht bereit — sah sich gezwungen, auf fernere Schriften und öffentliche Vorträge über Religion zu verzichten. Das war genau zehn Jahre, nachdem Kant 1784 in der Berlinischen Monatsschrift mit seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? die für gesellschaftlichen Fortschritt unabdingbar erklärte und zugleich unter preußischen Bedingungen als möglich erachtete Freiheit verfochten hatte, „von seiner Vernunft in allen Stücken ö f f e n t l i c h e n G e b r a u c h zu machen", wenn auch im „bürgerlichen Posten oder Amte" 62 gehorcht werden müsse. Und hatte Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft (1781) seine Zeit als „das eigentliche Zeitalter der Kritik" bezeichnet, „der sich alles unterwerfen muß", wiewohl „Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, . . . sich gemeiniglich derselben entziehen" wollen, so war es den deutschen Feudalregierungen bis 1794 weitgehend gelungen, die „freie und öffentliche Prüfung" 63 eben dieser Gegenstände zu unterdrücken. Gestützt auf Ideen Kants und Positionen des preußischen Gesetzbuches, argumentierte 1791 Schillers Freund, der kursächsische Oberkonsistorialrat und Assessor der Landesökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation64* Christian Gottfried Körner gegen Zensurverschärfungen und Verbotsmaßnahmen, 46

als er auf Anregung des Vizekanzlers — von 1792 bis 1797 Kanzlers — Friedrich Adolf von Burgsdorff eine Denkschrift Über die Wahl der Maßregeln gegen den Mißbrauch der Preßfreibeit ausarbeitete. Sie wurde, so schrieb er im Juli 1792 an Schiller, zu den Regierungsakten genommen und gelangte „bis zum Churfürsten" ß5. Daß Friedrich August III. im Vergleich zum preußischen König bedächtiger an die Realisierung des Reichsgutachtens ging und die Meinung eines bürgerlichen Beamten über Zensur- und Verbotsmaßnahmen vortragen ließ, lag weder an mehr Neigung zur Aufklärung noch etwa daran, daß dieser Fürst von lesenden Untertanen weniger zu befürchten gehabt hätte. Vielmehr hatten ja gerade kursächsische Staatsorgane die von Karl Friedrich Bahrdt geleitete Deutsche Union im Frühsommer 1789 zerschlagen, die aufklärerische Schriften „bis in die Hütten des Volkes" 6 6 verbreiten und so eine Massenbasis für gesellschaftliche Veränderungen schaffen wollte. In diesem Zusammenhang berichtete ein dann auch an der Niederschlagung des kursächsischen Bauernaufstands zu Beginn der neunziger Jahre beteiligter Offizier namens Liebenroth: „Man muß sich wundern, daß der sächsische Bauer von Natur gern liest. Man findet Journale und andere Schriften bei ihnen, und ich kenne sogar einige, welche von der in der nächsten Stadt befindlichen Lesebibliothek Gebrauch machen." In den Dörfern sehe „man zuweilen einen Zirkel von neugierigen Landleuten um den Schulmeister herumsitzen . . ., welcher ihnen gemeiniglich die Zeitung oder den Boten vorliest", wonach politische Diskussionen „mit großer Hitze" geführt würden. Mit dem Ausbruch der Französischen Revolution war solche „Neugier" noch gefährlicher geworden; denn „die Tat", so vermutet Liebenroth ganz richtig, „daß das Volk in Frankreich einen übernatürlich geizigen Kornjuden an einen Laternenpfahl aufgehangen, mochte gewiß ihren völligen Beifall haben, und es mochten ihnen vielleicht bei dieser Gelegenheit . . . ebenso hart und unmenschlich gesinnte Pächter oder Gutsbesitzer einfallen, welche eine ähnliche Behandlung verdient hätten". Deshalb erwögen „vernünftige Männer, daß man das Lesen der Zeitungen und anderer Schriften dem gemeinen Mann ganz und gar untersagen sollte . . . Der gemeine Mann soll nicht denken lernen. Er soll arbeiten und gehorsam sein. Die Aufklärung macht ihn nur mit seinem Schicksal unzufrieden; er wird trotzig, faul, widerspenstig und zur Empörung geneigt" 67 . 47

Im Grunde genommen hätte man also den Buchhandel abschaffen müssen, von dessen Florieren aber das Wohl der „Landesökonomie" besonders abhängig war. Denn mit der Entwicklung der „organisatorischen Fundamente des literarischen Marktes im modernen Sinn" 08 * war Leipzig zum deutschen Zentrum dieses einträglichen Gewerbezweiges geworden, das durch drastische Maßnahmen ernsthaft gefährdet werden mußte. Nichts fürchtete der knausrige Landesherr mehr, als eine Schmälerung seiner Einkünfte. „Der Churfürst", so schätzte Schiller die Lage ein, „wird doch seiner Stadt Leipzig nicht so feind sein, um einen Schritt gegen die Bücherfreiheit zu thun, der dem leipziger Buchhandel so gewiß schaden würde, als es gewiß ist, daß er seinen Zweck verfehlt." 69 Auch Körner machte in seiner Denkschrift zunächst ganz praktische Gesichtspunkte geltend. „Jedes verbotene Buch aber", so schrieb er, „bekommt schon dadurch, daß es im Namen des Staats für gefährlich erklärt wird, eine gewisse Wichtigkeit. Die Neugierde des Publikums wird darauf gespannt und es entsteht eine größere Nachfrage."" 0 Zudem ginge die bisherige Verbotspraxis zu Lasten der Buchdrucker und Verleger, was unzumutbaren „Verlust für die Geschäfte" 71 mit sich bringe; eher sei die Belangung der jeweiligen Autoren vertretbar. So weit mochte der „in den engsten Vorstellungen dynastisch-feudalistischer .Legitimität' befangene" 72 Landesherr Körners Überlegungen nachvollziehen; er tat es gewiß nicht mehr, wenn nun die Intention des preußischen Gesetzbuches gegen „Machtsprüche" aufgenommen und mit bürgerlichen Rechtserwägungen fortgefahren wurde: „Um aber das Willkürliche in dergleichen Urteilssprüchen zu verhüten, würde eine gesetzliche Bestimmung nötig sein, welche Vergehungen eines Schriftstellers für strafwürdig anzusehen wären." 73 Tatsächlich gab es keine verbindliche Auslegung der traditionellen Zensur- und Verbotskriterien des feudalabsolutistischen Staates. Deren klassische Formulierung findet sich in Johann Heinrich Gottlob von Justis Ausführlicher Vorstellung der gesamten Policey-Wissenschaft von 1761: „Meines Erachtens müssen die Bücher, welche im Lande gedruckt werden, oder einzuführen und zu verkaufen, erlaubet werden sollen, nichts gefährliches vor die Religion, nichts zum offenbaren Verderb der Sitten, und nichts wider die Ruhe des Staates, und wider die, denen Regenten schuldige, Ehrerbiethung in sich enthalten." 74 Praktisch bedeutete das, daß Re48

ligionskritik als Propagierung der „Irreligion" oder des „Atheismus", Kritik der feudalständischen Ordnung und der Regierungsmaßnahmen als Befürwortung der „Anarchie" und Vertreten entschieden oppositioneller Moralprinzipien als Verführung zur „Unsittlichkeit" verfemt werden konnten. Lakonisch hieß es in einem der unter die „Inkommunikabilien" 7r> verwiesenen Epigramme Goethes von 1790: „Leider läßt sich noch kaum was Rechtes denken und sagen, / Das nicht grimmig den Staat, Götter und Sitten verletzt." 76 Der Jurist Körner nahm in seiner Denkschrift die Fembegriffe der Zensur beim Wort, um abgrenzend jenen Raum für „die Freiheit, über Gegenstände der Religion, der Staatsverfassung und der Sitten zu schreiben" 77 , bestimmen zu können, den er für „den Fortschritt zu höherer Vollkommenheit im Denken und Handeln" 78 als unabdingbar erklärte. Eine Grenze dürfe dieser Freiheit „bloß die verletzte Achtung gegen Religion überhaupt" 79 setzen, während „freimüthiger Prüfung einzelner Lehren der Theologie oder kirchlicher Einrichtungen" nichts in den Weg zu legen sei. Das müsse auch gelten für die „öffentliche Beurteilung von Gesetzen, Regierungsanstalten und Amtsverwaltungen einzelner Staatsbedienten", sofern nicht „die Achtung gegen das obrigkeitliche Ansehen überhaupt dabei verletzt" werde, die „auf dem Abscheu vor Anarchie und der lebhaften Überzeugung vom Werte einer wohlgeordneten Staatsverfassung" 80 beruhe. Drittens müsse eine „gewisse Achtung für Sittlichkeit überhaupt" gesichert sein, mit deren Verletzung jedoch „nicht alle Untersuchungen über Gegenstände der Sittlichkeit oder alle Darstellungen unmoralischer Handlungen verwechselt werden" 8 1 dürften. Insgesamt empfahl Körner der Regierung, statt durch Verbote „den schädlichen Wirkungen anstößiger Schriften entgegen zu arbeiten" 82 , doch jeweils „ein zweckmäßiges Gegenstück zu liefern" 83 . Körner plädierte vergeblich für einen umfassenden Freiraum kritischer Publizität. — Die „betonte Toleranz, die noch in den sechziger und siebziger Jahren die sächsischen Behörden kennzeichnete, wich verhältnismäßig rasch einem schärferen autoritären Regime" 8,!. Und wenn es hinsichtlich der „freimütigen Prüfung" von Religion und Kirche eine reaktionäre Wende wie 1788 in Preußen nicht gab, so deshalb, weil das traditionell orthodoxe kursächsische Kirchenregime noch wenig aufgelockert worden war. Desto besser funktionierte in den neunziger Jahren das Bündnis zwischen der Regierung des katholischen Fürsten und der 4

Kunstperiode

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lutherischen Landeskirche. Von Dresden aus wurden die Belange staatskirchlicher Ideologie sogar am entschiedensten über die Landesgrenzen hinweg verteidigt. So ging die Entlassung Johann Gottlieb Fichtes aus seinem Jenenser Lehramt auf die Forderung der kursächsischen Regierung zurück, den Philosophen für seinen — in Sachsen konfiszierten — Aufsatz Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798) als „Atheisten" zu maßregeln, andernfalls kursächsischen Untertanen der Besuch der Universität Jena verboten werde. Die Weimarer Regierung habe ihn, schrieb Fichte im Mai 1799 an seinen Amtsvorgänger Reinhold, entfernen müssen „zufolge des allgemeinen, besonders von Kursachsen kräftigst ergriffenen Plans": „Vom Departement der Wissenschaften zu Dresden ist bekannt gemacht worden, daß keiner, der sich auf die neuere Philosophie lege, befördert werden . . . solle. In der Freischule zu Leipzig ist sogar die — Rosenmüllersche Aufklärung 85 * bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist neuerlich dort wieder eingeführt und die Lehrer sind von neuem auf die symbolischen Bücher confirmirt worden." 86 Jenen Burgsdorff, der Körners Denkschrift veranlaßt hatte, bezeichnete Fichte als den Drahtzieher des gegen ihn gerichteten Komplotts. Körners Forderung nach Freiheit für die „öffentliche Beurteilung von Gesetzen, Regierungsanstalten und Amtsverwaltungen" besaß besondere Brisanz, stand doch die ökonomische Macht der kursächsischen Bourgeoisie einschließlich des sogenannten Neuadels im krassesten Widerspruch zu ihrer politischen Ohnmacht, zur staatspolitischen Übermacht des Feudaladels. Dieser klammerte sich im Bündnis mit Fürst und Landeskirche an seine Privilegien, während bereits seit den siebziger Jahren beachtliche Kräfte auf eine Reform der politischen Verfassung in Richtung des englischen Vorbildes drängten. 87 Die öffentliche „Diskussion um die spezifisch kursächsischen Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsverhältnisse" blieb lange unterdrückt; als „erster wesentlicher Beitrag" 88 erschien 1791 anonym Carl Heinrich von Römers Schrift Über den Verfall der Städte, insbesondere der kursäcbsiscben. Römer trat insbesondere für Handelsfreiheit und Besteuerung des Adels ein. Seine Kritik war dabei sehr vorsichtig formuliert, denn er „wollte ein Verbot der Veröffentlichung auf jeden Fall vermeiden" 89 . Zu scharfer öffentlicher Konfrontation führten die Ereignisse des Landtags von 1793, auf dem entschieden „Steuererleichterung für die .niederen Stände', die fast die gesamte Steuerlast 50

allein trugen", gefordert wurde. Vorreiter dieser Forderung — zum jährlichen Steueraufkommen von 2,4 Millionen Talern brachte die Ritterschaft ganze 25000 ak „Donativ" bei — war das zünftlerische Kleinbürgertum der „allgemeinen" Städte, während die Bourgeoisie der größeren Städte vorsichtig lavierte. Karl Gottlob Schmorl, Stadtschreiber und Akzise-Inspektor zu Prettin bei Torgau, verfaßte eine Vorstellung an die Herren Abgeordneten des städtischen engeren Ausschusses, in der die Forderung nach gleichmäßiger Steuerbelastung mit einer Untersuchung über das historische Entstehen der ritterschaftlichen Steuerfreiheit und einer ungeschminkten Darstellung der Not der „arbeitenden Volksklassen" und den daraus zu befürchtenden „Folgen für den Staat und seinen Thron" 90 unwiderlegbar begründet wurde. Bereits im Februar 1793, wenige Wochen nach ihrer Verabschiedung durch die Abgeordneten der „allgemeinen" Städte, zirkulierte Schmorls Vorstellung im „Publiko" nicht nur der Hauptstadt, sondern „auch bereits im Lande" 91 — wie die Regierung erschreckt feststellen mußte. Georg Friedrich Rebmann berichtet in seiner Vollständigen Geschichte meiner Verfolgungen und meiner Leiden: „Die Schrift wurde auf jede Art außer Umlauf gebracht und den Augen des Publikums entzogen. Daß dies nicht ganz gelang, verhinderte ich, und das war meine erste revolutionäre Handlung. Ich bewirkte wenigstens soviel, daß mehrere Patrioten die Hauptgebrechen ihrer Landesverfassung dargestellt und ihre schlimmen Folgen ausgeführt sahen. Die Unterdrücker antworteten darauf durch — ein Verbot des Journals, in welchem diese für Sachsen wichtigen Aktenstücke abgedruckt waren." 92 * Weder 1793 noch auf den Landtagen von 1799 und 1805 konnte das Steuerprivileg des Adels gebrochen werden; und jedesmal gelang es der kursächsischen Regierung, die aufflackernde öffentlich-politische Diskussion, die an das Vorbild Römers und Schmorls anknüpfte, durch Verbot und Konfiszierung mißliebiger Schriften zu unterdrücken. Doch selbst die günstigste Möglichkeit im deutschen Reich, über „Gesetze, Regierungsanstalten und Amtsverwaltungen" öffentlich zu urteilen, wurde ausgeschaltet, als Ende 1792 die hannoversche Regierung sich der allgemeinen Kampagne gegen oppositionelle Presse und Literatur anschloß und den Göttinger Professor August Ludwig Schlözer zum Schweigen brachte, der „die deutsche Publizistik zu einer politischen Gewalt" 93 erhoben hatte. 4»

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Das von deutschen Regierungen oft — und insbesondere zur Rechtfertigung ihres konterrevolutionären Komplotts — bemühte Argument, daß die „Unruhe" ihrer Untertanen von außen komme — nicht aber aus längst virulenten, durch internationale Ereignisse verschärften inneren Widersprüchen —, ließ sich gegenüber Schlözer nicht geltend machen. In seinem Briefwechsel politischen Inhalts (1776 bis 1782) hatte er gegen den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg Stellung genommen, und in den Staatsan^eigen (1783 bis 1793) schilderte er bereits seit der Jahreswende 1789/90 die französischen Revolutionsereignisse in schauerlichen Farben. Dennoch hielt der loyale Unterfan des englisch-hannoverschen Fürsten und Bewunderer der politischen Verfassung Englands auch während der neunziger Jahre öffentlich an seiner Überzeugung fest, daß es kein Gottesgnadentum der Fürsten gebe und die staatsbürgerlichen Rechte der Untertanen nur durch zwei Institutionen zu gewährleisten seien: durch politisch potente, gleichsam zu Parlamenten modernisierte Ständevertretungen und durch freie Presse. War Schlözers Publizistik der siebziger Jahre „fast nur statistischen Inhalts und dazu nur zum geringeren Teil mit deutschen Dingen beschäftigt"9,4, so verlagerte sich in den achtziger Jahren das Schwergewicht „auf Bekanntgebung und Beurteilung deutscher Staats- und Regierungsverhältnisse" 95 , über die zahlreiche Korrespondenten — zum Teil hochgestellte Persönlichkeiten — Mitteilungen an Schlözer gaben. Gegen Interventionen der Angegriffenen erwiderte die hannoversche Regierung zu dieser Zeit, daß die Preßfreiheit „nicht zu sehr beschränkt werden dürfe, wenn Gelehrsamkeit und einer allgemeinen nützlichen Aufklärung kein Schaden zugefügt werden solle". Allerdings wies sie Schlözer zugleich darauf hin, daß seine Kritik nur so weit reichen dürfe, „als die Aufforderung zum Einschreiten nicht etwa von Orten komme, denen man gefällig zu sein gute Ursache" 96 habe. So richteten sich Schlözers Attacken vor allem gegen geistliche Fürsten, städtische Magistrate und in Zusammenhang mit den Illuminatenverfolgungen vor allem gegen Bayern, 97 verschonten aber nicht nur Hannover selbst, sondern weitgehend auch Österreich, Sachsen und Preußen. Immerhin wurde „schon von Maria Theresia berichtet, daß sie einen Beschluß ihres Geheimen Rates mit dem Bemerken zurückgewiesen habe: Was wird Schlözer dazu sagen?" 98 Schlözer entging nicht die wachsende Empfindlichkeit der Herr52

sehenden gegenüber kritischer Publizität. Bereits Ende 1784 bekannte er sich zu „Verdienst, Gefahr und Ehre des Märtyrertums für deutsche Preßfreiheit" 99 , und er stellte sich den verschärften Konflikten zu Beginn der neunziger Jahre. So veröffentlichten die Staat ¿anzeigen eine scharfe Abrechnung mit Hillmer, dem Berliner Zensor, die ein „Patriot des preußischen Landes und der deutschen Literatur" 100 aus Potsdam eingeschickt hatte. Auch Schmorls Vorstellung, die in Sachsen konfisziert worden war, wurde von Schlözer bekannt gemacht. 101 Und bei der insgesamt lobenden Besprechung der polnischen Verfassung von 1791 stellte er kritisch aus, daß diese Verfassung „den Grundstoff der Nation, die Bauern, in der Leibeigenschaft ließ"; damit aber sei die Nation bestimmt, „innerlich Sklave zu bleiben" )02 . Solche Informationen und Erklärungen trafen die zur Unterdrückung einer politischoppositionellen Öffentlichkeit vereinigten Regierungen empfindlicher, als ihnen Schlözers antirevolutionäre Stellungnahmen nützlich waren. Das Ende der Staatsan^eigen markierte das vorläufige Ende des Entstehens jener Öffentlichkeit. Damit brach — gekennzeichnet durch die Gründung des Geheimbundes der Eudämonisten im Jahre 1794103* — die große Zeit der reaktionär-konservativen Gegenliteratur an, die jenes Feld öffentlich-legaler Meinungsbildung besetzte, aus dem die politisch-oppositionelle Literatur durch Zensur und Verbote vertrieben worden war. Die Gegenliteratur funktionierte also nicht, wie es Körner bei seinem Vorschlag an die Regierung bezweckt hatte: als feudalstaatliche Aktivität, die sich nur auf bekämpfbare Argumente stützte und Zwangsmaßnahmen ausschloß; sie war vielmehr die Ergänzung solcher Maßnahmen und ihr unmittelbarer Handlanger dort, wo sie nach dem Vorbild der von Leopold II. unterstützten Wiener Zeitschrift (1792/93) des Leopold Alois Hoffmann persönlich-denunziatorisch vorging.

4. Im Mai 1792 teilte Körner dem Freund in Jena mit: „Jetzt mache ich den Aufsatz über Preßfreiheit für den Präsidenten fertig. Alsdann geht es an's preußische Gesetzbuch, und unterdessen soll ein Brief, hoffe ich, von Dir über die Gründe der Ästhetik eingehen." 104 Noch sieht er — ehe einen Monat später die geplante 53

Arbeit über das Gesetzbuch aufgegeben wird 105 * — juristische und ästhetische Theorie als gleichermaßen relevant für eine zu entwickelnde bürgerliche Öffentlichkeit an. Bereits im März allerdings hatte er an Schiller geschrieben: „Für die Preßfreiheit zeigen sich traurige Aussichten in unseren Gegenden. Man spricht von strengen Censurverordnungen und Bücherverboten. Der Mercur. . ., die deutsche Monatsschrift und andere Journale werden genannt. Der Reichstag soll bei dem Churfürsten, als kreisausschreibenden Fürsten im obersächsischen Kreise, Anregung getan haben. Auch sagt man, die Literatur%eitung würde im Preußischen verboten werden. Von ihrer Zeit verstoßen flüchte Die ernste Wahrheit zum Gedichte, Und finde Schutz in der Camönen Chor. Übrigens bin auch ich von gewissen Grenzen der schriftstellerischen Freiheit überzeugt; nur glaube ich nicht, daß die durch gesetzlichen Zwang, sondern durch Veredlung des Geschmacks bewirkt werden müssen. Z e r s t ö r e n ist ein unwürdiges Geschäft für ausgezeichnete Kraft, so lange es noch irgend etwas zu schaff e n gibt . . . Daher eine weise Schonung gegen Meinungen, Empfindungen, Einrichtungen etc., die einen Keim von Menschenwerth enthalten, der einer Entwickelung würdig ist. Auch darüber mündlich mehr." 106 Nicht spontan wies Körner hier mit dem Zitieren von Versen aus Schillers Gedicht Die Künstler (1789) auf die Kunst als Refugium öffentlicher Bewußtseinsbildung hin. Bereits in der Debatte um Schillers Götter Griechenlands (1788) hatte er das gleiche Thema mit seinem Aufsatz Über die Freiheit des Dichters bei der Wahl seines S t o f f s (1789) behandelt. Die politische Konstellation dieser Debatte umriß das Fragment eines Briefes an einen deutschen Schriftsteller, über Schillers Götter Griechenlands (1789) von Georg Forster, der Schillers Gedicht gegen die „neueren Attentate gegen die Denkund Gewissensfreiheit" 107 — es war die Zeit der preußischen Religionsund Zensuredikte — verteidigte, zu deren Handlanger sich Friedrich Leopold zu Stolberg mit seinen religiös-denunziatorischen Gedanken über Herrn Schillers Gedicht: Die Götter Griechenlands (1788) gemacht hatte. „Ich sehe wohl" — so Stolberg, der Schiller „Lästerung" 108 vorwarf — „das poetische Verdienst dieses Gedichts ein, aber der wahren Poesie letzter Zweck ist nicht sie selbst." 109 „Wer kann fordern", schrieb Forster im November 1789 an Ja54

cobi, „daß allen alles gefalle? Aber muß man in der gelehrten Welt jenen Ton dulden, dann hat alle Gedankenfreiheit ein Ende." 1 1 0 An zweiter Stelle stand bei Forster der Vorwurf, daß Stolberg „ein Meisterwerk der Fiktion" — nicht auch als „Fiktion" behandelte: man müsse sich „an die r e l a t i v e Wahrheit halten, welche der Dichtung eigen ist" Wenn Körner allein diesen Gedanken in seinem Aufsatz ausführte, so ging es auch ihm um öffentliche „Gedankenfreiheit", im Unterschied zu Forster aber um die Sicherung eines bestimmten Raums dieser Freiheit unter Berufung auf die Spezifik des Ästhetischen: „Es giebt aber interessante Seiten der menschlichen Natur auch außerhalb der Gränzen der Wahrheit und Moralität. Es giebt einen ä s t h e t i s c h e n Gehalt, der von dem moralischen Werthe unabhängig ist." 112 Bestand Körners Taktik einerseits darin, Kunst durch ihre Abgrenzung von „Wahrheit und Moralität" prinzipiell dem Gegenstandsbereich feudalstaatlicher Aufsicht zu entziehen, so andererseits darin, in der Literatur als Kunst ein universales Medium für die freie öffentliche Behandlung gesellschaftlicher Probleme zu gewinnen: „In Ansehung der Mannigfaltigkeit des Stoffs hat unter allen Künsten die Poesie den weitesten Umfang . . . Und gleichwohl ist es eben ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Redner und dem Dichter, der diesen bei der Wahl seines Stoffs zu einer größern Freiheit berechtigt, als jenen." 113 Die gleiche Taktik verfolgte Körner 1791 in jener Denkschrift zum Problem der Preßfreiheit. Im Anschluß an ein Plädoyer für die Freiheit moraltheoretischer und sozialpsychologischer Literatur hieß es dort: ^Sollten ferner Werke der Darstellung in Ansehung des Stoffs bloß auf Gegenstände von sittlicher Vollkommenheit eingeschränkt werden, so dürften sie an Wahrscheinlichkeit, lebhafter Täuschung, gespannter Erwartung und Mannigfaltigkeit, kurz, an aesthetischer Wirkung so viel verlieren, daß zugleich die nicht zu verachtenden Vortheile, welche die moralische Veredlung mittelbar von ihnen zu erwarten hat, fast gänzlich aufgeopfert werden würden." 1Vi In Körners Betonen der ästhetischen Spezifik künstlerischer Literatur fielen zwei Seiten seines Reagierens auf die gesellschaftliche Situation zusammen: publizistisch-taktische Erwägungen und weltanschaulich-strategische Positionen. In jenem Brief vom März 1792 wird auf künstlerische Literatur nicht nur als ein Refugium vor feudalstaatlichen Zensur- und Verbotsmaßnahmen 55

orientiert; „Veredlung des Geschmacks" — also ästhetische Wirkung — wird zugleich als angemessene Umsetzung einer gegen jedes gewaltsame „Zerstören" — gegen Rebellion wie gegen Restauration — gerichteten Philosophie der „Entwickelung" bestimmt. Bereits in jenem 1788 ausgearbeiteten Aufsatz Über die Freiheit des Dichters bei der Wahl seines S t o f f s war der „ästhetische Enthusiasmus", „die Bildung des Geschmacks" als Ausgangspunkt praktischer Gesellschaftsveränderung dargestellt worden. Wer den echten Künstler zu genießen verstehe, „fühlt sich emporgehoben über das Prosaische des alltäglichen Lebens, in schönere Welten versetzt, und auf einer höheren Stufe der Wesen". „Und daß dieser Zustand nicht immer bloß ein augenblicklicher Schwung ist, daß der Nachhall dieser Empfindungen noch oft in der wirklichen Welt fortdauert, ist der Grund, warum eine V e r e d l u n g der M e n s c h h e i t d u r c h K u n s t möglich ist": „Die schönste Wirkung der Kunst ist die edle Scham, das Gefühl seiner Kleinheit, das einen Menschen von Kopf und Herz bei Betrachtung jedes Meisterstücks so lange verfolgt, bis es ihm selbst gelungen ist, in seiner Sphäre Schöpfer zu seyn." 115 So wurde Kunst zum übergreifenden Medium bürgerlicher Ideologie erhoben, wurde an der Kunst ein öffentlich kommunikables Programm von Gesellschaftsveränderung als Summe individueller Haltungen („in seiner Sphäre Schöpfer zu seyn") formuliert zu einem Zeitpunkt, da in sozialökonomischen „Sphären" der Gesellschaft praktische Bestrebungen der bürgerlichen Umwälzung in Gang kamen, jedoch stagnierten und isoliert blieben, und die Ansätze zur Formierung einer politischen Oppositionsbewegung zurückgedrängt und zerstört wurden. Die pragmatische Literatur erschien deshalb in ihren gesellschaftlichen Funktionen gegenüber der künstlerischen als partiell: Während „der Redner zu belehren, zu überzeugen, durch Erweckung von Leidenschaften eine bestimmte Absicht zu erreichen sucht", die „Sprache als Mittel zu einem besonderen Zwecke, nicht zur Darstellung seines Ideals" gebraucht, sei Kunst „selbst ihr eigener Zweck" 116. Schiller, gerade an seinem Gedicht Die Künstler arbeitend, ergänzte diesen Gedanken: „Kurz, ich bin überzeugt, daß jedes Kunstwerk nur sich selbst, d. h. seiner eigenen Schönheitsregel Rechenschaft geben darf und keiner anderen Forderung unterworfen ist. Hingegen glaub' ich auch festiglich, daß es gerade auf diesem Wege alle übrigen Forderungen m i t t e l b a r befriedigen muß, weil sich 56

jede Schönheit doch endlich in allgemeine Wahrheit auflösen läßt." Der Zusammenhang von Akutwerden der bürgerlich-kapitalistischen Umwälzung, politischem Defizit der deutschen Emanzipationsbewegung und geschichtsphilosophisch-ästhetischer Konzeptionsbildung wird besonders deutlich an Wilhelm von Humboldts Schriften vom Beginn der neunziger Jahre. Humboldt hatte den 1790 in Berlin mit großen Hoffnungen auf eine bedeutende Tätigkeit angetretenen Staatsdienst bereits nach einem Jahr enttäuscht quittiert, reflektierte anschließend aber desto intensiver generelle Probleme der bürgerlichen Umwälzung. So veröffentlichte er im Januarheft 1792 der berlinischen Monatsschrift seine Ideen über Staatsverfassung, durch die neue Französische Konstitution veranlaßt. Aus einem Briefe an einen Freund, vom August 1791. Das neue französische „Staatsgebäude", entwickelte Humboldt unter Berufung auf die Erklärung der Menschenrechte als Grundlage der ersten französischen Verfassung, könne keine „Dauer" haben, weil es „nach bloßen Grundsätzen der Vernunft" errichtet worden sei. Nirgends aber in der Geschichte sei eine dauerhafte gesellschaftlich-staatliche Konstitution aus der Idee entsprungen, überall vielmehr aus dem Kampf realer Widersprüche, aus dem „Zufall", den „die Vernunft. . . nur zu lenken strebt". „Aus der ganzen, individuellen Beschaffenheit der Gegenwart — denn diese von uns unerkannten Kräfte heißen uns doch Zufall — geht dann die Folge hervor, die Entwürfe, welche die Vernunft dann durchzusetzen bemüht ist, erhalten, wenn auch ihre Bemühungen gelingen, von dem Gegenstand selbst noch, auf den sie angelegt sind, Form und Modifikation." n 8 Das war eine weltanschaulich souveräne Kritik heroischer Illusionen der Revolution und zugleich — dem Zustand der deutschen Emanzipationsbewegung entsprechend — der Verzicht auf ein politisches Programm für die Lösung der epochebestimmenden gesellschaftlichen Widersprüche. Deren sozialen Charakter und ihre Internationalität sah Humboldt durchaus. So schrieb er über die gesellschaftliche Entwicklung seit dem Ausgang des Mittelalters: „Der Adel verband sich mit den Regenten, das Volk zu unterdrücken, und von hier aus hebt die Verderblichkeit des Adels an, der immer nur ein nothwendiges Uebel war, und jetzt ein überflüssiges geworden ist." — Ein Satz, den der Zensor strich. li9 — „Seitdem diente nun alles den Absichten des Regenten allein. Den57

noch gewann die Freiheit. Denn da das Volk mehr dem Regenten, als dem Adel unterworfen war; so verschaffte schon die weitere Entfernung von jenem mehr Luft. Dann konnten jene Absichten auch nicht sowohl mehr, wie sonst, unmittelbar durch die physischen Kräfte der Unterthanen — woraus vorzüglich die persönliche Sklaverei entstand — erreicht werden. Es war ein Mittel nothwendig, das Geld. Alles Streben gieng nun also dahin, von der Nation, soviel als möglich, Geld aufzubringen. . . . Jenen Zwek nicht zu verfehlen, mussten ihr allerlei Quellen der Industrie eröfnet werden . . . Hierauf gründen sich eigentlich alle unsre heutigen politischen Systeme. . . . und so entstand das Princip, dass die Regierung für das Glück und das Wohl, das physische und moralische, der Nation sorgen muss. Gerade der ärgste und drükkendste Despotismus. Denn weil die Mittel der Unterdrükkung so versteckt, so verwikkelt waren; so glaubten sich die Menschen frei, und wurden an ihren edelsten Kräften gelähmt. Indess entsprang aus dem Uebel auch wieder das Heilmittel. Der auf diesem Wege zugleich entdeckte Schatz von Kenntnissen, die allgemeiner verbreitete Aufklärung, belehrten die Menschen wieder über ihre Rechte, brachten wieder Sehnsucht nach Freiheit hervor." 120 Für Humboldt folgte daraus, „dass die Resultate an sich nichts sind, alles nur die Kräfte, die sie hervorbringen, und die aus ihnen entspringen" m . Jene gelähmten „edelsten Kräfte" der Menschheit zu aktivieren, schien ihm die entscheidende Aufgabe — und hier traf sich seine Konzeption der Gesellschaftsveränderung genau mit Körners Bestimmung der Wirkung von Kunst („in seiner Sphäre Schöpfer zu seyn"). Demgegenüber erschien die Revolution als ein transitorisches „Extrem", als ein durch „die gefährlichsten Blossen" 122 , die sich der französische Feudalabsolutismus gegeben hatte, veranlaßter Versuch ohne „Dauer", die Ideen der Aufklärung ohne Rücksicht auf objektive Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Entwicklung zur Wirklichkeit werden zu lassen. Klar war für Humboldt, daß mit der Krise des aufgeklärten Absolutismus die bürgerliche Umwälzung auf die Tagesordnung getreten war. Unklar war ihm die „Beschaffenheit der Gegenwart" hinsichtlich der politischen Kräfte, die diese Umwälzung vollziehen konnten. Aus der Kryptopolitisierung der deutschen Emanzipationsbewegung zeichnete sich noch kein praktikables staatspolitisches Programm ab. Und auf die Probleme dieser Bewegung 58

fixiert, war Humboldt — im Gegensatz zu seinem Freund Forster123* — auch nicht in der Lage, in die Dialektik von „Zufall" und „Vernunft" einzudringen, die das französische Revolutionsgeschehen bestimmte. So mündete seine im Ansatz politische Erörterung der Erfordernisse bürgerlicher Umwälzung in ein Programm geschichtsphilosophisch-ästhetischer Bildung individueller „Kräfte", deren Entfaltung den gesellschaftspolitischen status quo auf weite Sicht gleichsam aushöhlen sollte. Dementsprechend hieß es in Humboldts Fragment Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte: Es ließen sich wohl „die Gesetze entdekken, nach welchen die einzelnen Theile einer Reihe auf einander folgen, . . . allein unerforschbar menschlicher Einsicht möchten wohl die bleiben, nach welchen das ganze Gewebe sich durcheinander verschlingt" 124 . Desto wichtiger sei, „das Fortschreiten unsrer eignen, sich entwikkelnden Kräfte, und ihre Verhältnisse zu den Dingen um sie her . . . tiefer und vollständiger einzusehen" 125. Trotz solcher Konzeption vom gesellschaftlichen Fortschritt aus individueller Tätigkeit und ohne politisches Programm verzichtete Humboldt nicht darauf, sein vom Liberalismus der ökonomischen Gesellschaftslehre Adam Smith' geprägtes Staatsideal zu formulieren. Mit den Ideen ^u einem Versuch, die Gründen der Wirksamkeit des Staats bestimmen entwickelte er ausführlich die Forderung, daß der feudalabsolutistische Staat auf dem Weg von Reformen seine Wirksamkeit aus den Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft, der Privatbeziehungen, der Erziehung und des Kultus abziehe und sich darauf beschränke, das selbsttätige Funktionieren der Gesellschaft polizeilich und militärisch — nicht mit Söldnern, sondern mit einer Bürgerarmee — abzusichern. Dabei argumentierte Humboldt jedoch nicht spezifisch sozialökonomisch oder politisch, sondern — ausgehend von der Frage nach dem „Glük des rüstigen, kraftvollen Menschen" 126 — insgesamt anthropologisch-ästhetisch. Der Mensch blühe „zu einer entzükkenden Schönheit auf in einer Lebensweise, die mit seinem Charakter übereinstimmt". „So Hessen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwerkern K ü n s t l e r bilden, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und eigne Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellektuellen Kräfte kultivirten, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten." 127 59

Humboldt betonte denn auch, daß er keine „Theorie der eigentlichen Politik" gebe, sich darauf beschränke, „die reine Theorie zu entwikkeln" 128. Als die „allgemeinsten Grundsätze der Theorie aller Reformen" gab er lediglich an, daß man das Ideal vom Staat nur in dem Maße praktisch umzusetzen suchen dürfe, in dem die gesellschaftliche Wirklichkeit dazu auch vorbereitet sei und „jede Reform von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgehen" 129 könne. Wie aber der „Staatsmann" und „Gesetzgeber" unter solchen Voraussetzungen „einen neuen Zustand der Dinge in den bisherigen kunstvoll zu verweben" 130 habe, das nannte Humboldt ein Problem der „Ausführung, die freilich nie specielle Regeln erlaubt, sondern, wie überall, so auch hier, allein das Werk des Genies ist" 131. Sah Humboldt sich also außerstande, ein politisches Programm der bürgerlichen Umwälzung zu entwickeln, so bestimmte er doch Ansatzpunkte auf Gesellschaftsveränderung zielender bürgerlicher Ideologie. Denn seitens der Herrscher und der „dienenden Theile" im Staatsapparat sei für Reformen „ein höherer Grad von Kultur nothwendig, sich mehr an der Thätigkeit zu erfreuen, welche nur Kräfte schafft, und ihnen selbst die Erzeugung der Resultate überläßt, als an derjenigen, welche unmittelbar diese selbst aufstellt" 132. Und andererseits müßten „die Menschen" durch Übung „intellektueller und moralischer Kräfte" ihren „Fesseln" entwachsen, „ihren Druck fühlen, und also in diesem Stücke zur Freiheit reif" 133 werden, während noch „durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staats die Energie des Handelns überhaupt" 134 leide. Hier schloß sich der Bogen zu Körners Bestimmung, daß die Kunst der „Erhaltung der Energie" diene: „Der Mensch ist oft schwach, weil er seine Kräfte nicht kennt. Er entbehrt oft die höhern Freuden, weil er sie niemals gekostet hat. Ihn zum Gefühl seines Werths zu erheben, und ihm durch würdigere Genüsse die niedrigen Befriedigungen der Eitelkeit und thierischen Sinnlichkeit zu verekeln, ist das wichtigste Geschäft der ächten Ausbildung, ohne welches alle übrige Kultur Flitterstaat ist. Und hier zeigt sich das wahre Verdienst der K u n s t in seiner Größe." 135 Einzelne Abschnitte der Ideen einem Versuch . . . erschienen 1792 in der berlinischen Monatsschrift und in Schillers Neuer Thalia. Das gesamte Manuskript wollte Humboldt in Berlin drucken lassen. Aber: „Der eine Zensor verweigerte sein Imprimatur ganz, der andre hat es zwar erteilt, allein nicht ohne Besorgnis, daß er 60

deshalb noch künftig in Anspruch genommen werden könne." Schiller wurde gebeten, bei dem befreundeten Leipziger Verleger Göschen anzufragen — „doch so, daß der Zensuranstand in Berlin nicht weiter bekannt würde" 136. Als dann der Berliner Verleger Vieweg definitiv abgelehnt hatte, schrieb Schiller im November 1792 an Göschen: „Die Schrift enthält allerdings sehr fruchtbare politische Winke und ist auf ein gutes philosophisches Element gebaut. Sie ist mit Freiheit gedacht und geschrieben, aber da der Verfasser immer im Allgemeinen bleibt, ist von den Aristokraten nichts zu besorgen. Schriften dieses Inhalts und in diesem Geiste geschrieben, sind ein Bedürfnis für unsere Zeit, und ich sollte denken auch ein Artikel für den Verleger." 137 Doch Göschen lehnte die Veröffentlichung ebenfalls ab; und als Schiller schließlich im Januar 1793 einen Verleger gefunden hatte, war es Humboldt, der den „Aufschub des Drucks" auf unbestimmte Zeit wünschte. Dabei spielte nicht nur die Befürchtung, als politischer Schriftsteller gemaßregelt zu werden, eine Rolle: Viele Stellen bedürften „einer gänzlichen Umarbeitung", und er habe auf absehbare Zeit „ganz heterogene Beschäftigungen" 138 . Beschäftigt war Humboldt nämlich Anfang des Jahres 1793 mit dem Aufsatz Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondere, einer Ausarbeitung jener ästhetischen Wirkungsstrategie, die in seinen Schriften zu Staatsproblemen angelegt war. Dabei fällt auf, daß Humboldt nicht nur den „materialen" Nutzen dieses Studiums — Stoff für andere Wissenschaften zuzuarbeiten — als untergeordnet behandelte, sondern auch davon sprach, daß der „ästhetische" Nutzen zwar „überaus wichtig, aber nicht der Einzige" sei. Gemeint war: Wichtiger, als „die Ueberreste des Alterthums an sich und als Werke der Gattung, zu der sie gehören", zu betrachten — „also allein auf sie selbst" zu sehen —, sei, „sie als Werke aus der Periode, aus welcher sie stammen", zu begreifen. Aufgabe des Antikestudiums wie jeden Geschichtsstudiums war für Humboldt „Kenntnis der verschiedenen intellektuellen, empfindenden, und moralischen menschlichen Kräfte, der Modifikationen, die sie durch einander gewinnen, der möglichen Arten ihres richtigen und unrichtigen Verhältnisses, der Beziehung der äusseren Umstände auf sie, . . . kurz der Gesetze der Nothwendigkeit der von innen, und der Möglichkeit der von aussen gewirkten Umwandlungen" 139 . Solche Kenntnis sei insbesondere „dem handelnden 61

Menschen" unentbehrlich, dem praktisch bis zum „Regieren des grossesten Staats" 140 Tätigen, und dem in die Breite wirkenden Künstler, der im Unterschied zum Historiker und Philosophen „zur Klasse der praktischen Menschen" zu rechnen sei. Die „Geistesprodukte" der Antike — „Geschichte, Dichtung (wozu ich hier Kunst überhaupt rechne) und Philosophie" — müßten also anthropologisch-historisch studiert werden, zumal Dichtung als wichtigstes dieser Produkte „bei den Griechen aus Sitten und öffentlichen Einrichtungen" entsprang und bis „in die spätesten Zeiten einen Anstrich dieses historischen, nicht eigentlichen ästhetischen Ursprungs" 142 behalten habe. Nicht Kenntnisse jedoch, sondern Ästhetisches in der „höchsten, proportionirlichsten Ausbildung des Menschen" war für Humboldt der letzte Zweck des historischen Studiums der Antike, die „auf einer niedrigeren Stufe der Kultur v e r h ä l t n i s m ä s s i g mehr Entwicklung der Persönlichkeit in ihrem Ganzen, als bei Nationen auf einer höheren" 4 4 3 zeige: „ . . . n u r häufiges Betrachten des Menschen in der Schönheit seiner Einheit führt den zerstreuten Blick auf den wahren Endzwek zurück", bilde jene — bereits in den staatspolitischen Schriften als Ausgangspunkt gesellschaftlichen Fortschritts berufene — „Energie" w ' . Humboldts Aufsatz zielte zugleich darauf ab, ästhetische Bildung durch historisches Studium der Antike zu i n s t i t u t i o n a l i s i e r e n . Dieses Bemühen — so die Hinweise auf zu erschließende Quellen und Zeugnisse sowie zu erarbeitende geschichtswissenschaftliche Werke und zu schaffende Übersetzungen — ging konform mit der Ausbreitung des Neuhumanismus. Insbesondere Christian Gottlob Heyne, seit 1763 Professor der klassischen Philologie in Göttingen, hatte eine „poetische" Sicht des Altertums entwickelt, die „nicht bloß auf Sprachgelehrsamkeit . . . vielmehr auf Bildung des Geschmacks, auf Veredelung des Gefühls und auf Vervollkommnung unserer ganzen moralischen Natur" 1 4 5 zielte. Nach 1783, dem Jahr der von Zedlitz veranlaßten Berufung Friedrich August Wolfs an die Universität Halle, faßte der Göttinger Neuhumanismus in Preußen Fuß und gewann jenen entscheidenden Einfluß auf das höhere Bildungswesen im nördlichen Reichsgebiet, der 1810 in der von Humboldt geprägten Gründung der Berliner Universität gipfelte. Bereits seit den neunziger Jahren aber entwickelte sich diese Art des Antikestudiums zusammen mit Geschichtsphilosophie und Dichtung im gebildeten Bürgertum und 62

Reformadel „zum Substrat der a l l g e m e i n e n B i l d u n g , dem Pendant der Fachschulung" 146 , die vor allem ökonomisch ausgerichtet war.

5. Schiller diskutierte seit 1792 mit Humboldt und Körner den Plan eines Journals, das er sich schließlich in Gestalt der Hören als „Epoche machendes Werk" 147 dachte. Nichts Geringeres war hier beabsichtigt, als jene sich herausbildende Fortschrittsideologie, welche konkrete Probleme der bürgerlichen Umwälzung ins Weltanschauliche abstrahierte und öffentlich kommunikabel war, in ihren drei Bereichen — Geschichte, Philosophie und Poesie — unter der Dominanz letzterer zusammenzufassen und auf dem Literaturmarkt wirkungsvoll zu etablieren. Im Juni 1794 verschickte Schiller die Einladung ^ur Mitarbeit an der neuen Monatsschrift. Sie werde, so hieß es, „sowohl philosophischen Untersuchungen als historischen und poetischen Darstellungen offen stehen". „Alles, was entweder bloß den gelehrten Leser interessieren oder was bloß den nichtgelehrten befriedigen kann, wird davon ausgeschlossen sein; vorzüglich aber und unbedingt wird sie sich alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht." Was „ein dauerndes Glück bei dem Publikum" betraf, so wagte Schiller mit folgenden Überlegungen den „problematischen Erfolg": „Für Zeitschriften dieses Inhalts fehlt es gar nicht an einem zahlreichen Publikum, aber in dieses Publikum teilen sich zu viele einzelne Journale . . . Treten nun die vorzüglichsten Schriftsteller der Nation in eine literarische Assoziation zusammen, so vereinigten sie eben dadurch das vorher geteilt gewesene Publikum, und das Werk, an welchem alle Anteil nehmen, wird die ganze lesende Welt zu seinem Publikum haben . . . Ein Verleger, der diesem Unternehmen in jeder Rücksicht gewachsen ist, hat sich bereits (in dem Buchhändler Cotta von Tübingen) gefunden . . ." 148 Schiller hatte die Umladung gemeinsam mit Wilhelm von Humboldt, Johann Gottlieb Fichte und dem Historiker Karl Ludwig Woltmann ausgearbeitet. Dieser Kreis stellte den ursprünglichen — bald durch Schiller und Goethe praktisch abgelösten — redaktionellen Ausschuß dar, der sich die Entscheidung über die Auf63

nähme geeigneter Beiträge vorbehielt. Zur Mitarbeit wurde eine Vielzahl recht unterschiedlicher Publizisten und Schriftsteller, Gelehrter, Wissenschaftler und Künstler, selbst ein Regierender (Karl Theodor von Dalberg) eingeladen, darunter: Goethe, Herder und Kant, Gleim und Klopstock, Johann Wilhelm von Archenholz, Johann Jakob Engel und Christian Garve, Friedrich Gentz, August Wilhelm Iffland, Alexander von Humboldt und Gottlieb Hufeland, Friedrich Matthison und Johann Heinrich Meyer, schließlich der Jenenser Professor und Herausgeber der Allgemeinen Literatur^eitung Christian Gottfried Schütz, mit dem Schiller ein Abkommen über besondere Propagierung der Hören in jenem führenden Rezensionsorgan traf. In der öffentlichen Ankündigung stellte Schiller seine Zeitschrift als ein Organ der Bewußtseinsbildung vor, welches sich über den „Kampf politischer Meinungen und Interessen" erhebe und „die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen" suche. „Aber indem sie sich alle Beziehungen auf den j e t z i g e n Wettlauf und auf die n ä c h s t e n Erwartungen der Menschheit verbietet, wird sie über die vergangene Welt die Geschichte und über die kommende die Philosophie befragen, wird sie zu dem Ideale veredelter Menschheit . . . einzelne Züge sammeln und an dem stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze und edlerer Sitten, von dem zuletzt alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt, nach Vermögen geschäftig sein." Die Zeitschrift werde „dem frivolen Geschmacke, der das Neue bloß um der Neuheit willen sucht, keineswegs nachgeben" 149 . Auf die überwältigende Autorität und Attraktivität der Mitarbeiter hoffend sowie gestützt auf das starke Engagement des Verlegers Cotta, glaubte Schiller für kurze Zeit, jene „Kaufmannsrücksichten" zurückstellen zu können, die schon zehn Jahre zuvor bei Gründung der Thalia von Belang gewesen waren und sich seither immer mehr in den Vordergrund geschoben hatten. So hielt Schiller dem Freund Körner in der anhaltenden Diskussion um die Etablierung einer gefragten Zeitschrift 1788 vor: „Für die Grundlage eines Journals, das man in v i e l e Hände bringen will, ist Dein Plan offenbar zu ernsthaft, zu solid — wie soll ich sagen? zu edel . . . Vor allen Dingen müßten wir es uns zum Gesetz machen, unseren Stoff entweder aus dem Moment, d. h. aus dem Neuesten zu wählen, was bei der Lesewelt eben in Umlauf 64

ist, oder aus den entlegensten Feldern, wo wir durch das Bizarre und Fremde Eingang finden würden . . . Meine Hauptidee ist, wirklichen Gehalt der Autoren und Sachen womöglich zur Lockspeise zu machen, diese aber in M o d e s t o f f arbeiten zu lassen." 150 Daß nun der Hören-Plan sich auf „Modestoff" gründete, davon kann keine Rede sein. Denn was war solcher Stoff? — Im Zeichen von Christian Gotthilf Salzmanns sechsteiligem Roman Carl von Carlsberg oder Über das menschliche Elend (1783 bis 1788), so hieß es 1792 Über ModeEpochen in der deutschen Lektüre im Journal des Luxus und der Moden, habe alles „von Reformieren der Welt, von Verbesserung einzelner Einrichtungen" gesprochen. Für die Tatsache, daß die breitenwirksame literarische Kommunikation zu Beginn der achtziger Jahre Züge einer konstruktiven oppositionellen Öffentlichkeit anzunehmen begann, ist auch der Erfolg von Johann Heinrich Pestalozzis Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk (1781 bis 1787) bezeichnend. Jedoch diese „Epoche" ging mit den achtziger Jahren zu Ende und Rittergeschichten wurden „die neue Lieblingslektüre", der bald die „Geisterseherei" folgte — darunter „Schillers mit Recht bewunderter", vom Autor allerdings als ökonomische „Schmiererei" 151 angesehener und schließlich abgebrochener Fortsetzungsroman Der Geisterseher: „Seitdem liest man nichts mehr gern, wobei's natürlich zugeht, und fühlt wenig Interesse bei Dingen, die nicht durch verborgene Kräfte bewirkt werden." Solche Produkte habe „wahrscheinlich das Bedürfnis der Lesewelt herausgepreßt". „Sie sind mehr verschlungen als gelesen, und wahrscheinlich ist von ihnen in der schönen Welt mehr gesprochen worden als in der gelehrten von Kants sämtlichen Schriften." Ergänzt werde dieses dominierende Publikumsinteresse — so fügten die Herausgeber des Journal des Luxus und der Moden an — durch eine „weit mächtigere Mode-Lektüre als alle vorhergehenden": durch die Lektüre der Zeitungen und fliegenden politischen Blätter", die ihr Publikum vom „Regenten und Minister an bis herab zum Holzspalter auf der Straße und dem Bauer in der Schenke, von der Dame an der Toilette bis zur Scheuermagd in der Küche" i52 fänden. Jedoch je weniger das politische Interesse praktisch werden konnte, desto enger verbanden sich beide „Mode"-Interessen in den neunziger Jahren. Diese Verbindung literarisch manifest zu machen, war das Erfolgsgeheimnis von Romanautoren wie Carl 5

Kunstperiode

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Gottlob Cramer und Christian Heinrich Spieß, die in abenteuerlichen und phantastischen Kunstwelten als Ersatz realer politischer Handlungsräume antiaristokratische Stimmungen zur Aktion machten. So konnte Cramer im Jahre 1800 feststellen, daß der Leser, „unzufrieden mit seiner Situation und den ihn situierenden Gewalten", seine Romane verschlungen habe, „weil er immer was für seine Umstände darin zu finden und sich einmal recht satt ärgern und fluchen zu können wußte" i-r>;5. Entgegen solchen eingängigen Wirkungsstrategien auf Bildung durch „schöne" Kunst zu setzen, das bedeutete, sich sowohl gegen das Lesepublikum in seiner großen Mehrheit wie gegen den Marktmechanismus zu stellen. Körner kommentierte das „Schönheits"-Konzept der Hören: „Dadurch, daß Staatsreligion und politische Verfassung von dem Stoffe ausgeschlossen werden, entgeht man vielen Unannehmlichkeiten: theils in Ansehung der Censur, theils in dem Verhältnisse des Ausschusses zu den Mitarbeitern. Als beurtheilendes Mitglied würde ich z.B. gegen Z e r s t ö r u n g e n in dem, was Religion und Staat betrifft, stimmen. Dies würde manchen eine Beschränkung der Freimüthigkeit scheinen. Aber nach meinem Glauben bedarf es dieser Freimüthigkeit nicht, wenn der Mensch auf dem Wege der Schönheit weitergekommen ist."15/1 Dieser — von Schiller geteilte — „Glaube" war eine Strategie ö f f e n t l i c h e n Wirkens, der politisches Interesse unmittelbar zugrunde lag. 153 Schillers Theorie der Schönheit, wie sie in den sogenannten Ka//ias-Briefen an Körner 1793 entwickelt worden war, nahm nicht nur Kants intellektuell-moralischen Imperativ auf, sein „Bestimme Dich aus Dir selbst" — „Es ist gewiß noch von keinem sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische" 15(1 —, sondern auch Kömers und Humboldts Anschauung der Kunst als Mittel zur Erhaltung von „Energie", als Musterbild für eine zu selbsttätig-schöpferischem Handeln befähigende „harmonische" Ausbildung der „Kräfte". Die gleiche Anschauung fand sich bereits in Schillers Mannheimer Schaubühnenrede vorgebildet: Der „ästhetische Sinn oder das Gefühl für das Schöne" sei es, was dem in einseitigen Anstrengungen erschöpften Menschen „die harte Spannung zu sanfter Harmonie" herabstimme; es sei die Kunst, welche „dem nach Tätigkeit dürstenden Geist einen unendlichen Kreis eröffnet, jeder Seelenkraft Nahrung gibt, ohne eine einzige zu überspannen" 157 . 66

Schönheit, so lautete dann der Kernsatz der Ka/Zias-Brieie, sei „Freiheit in der Erscheinung"1"»8. Freiheit wird unter Berufung auf Kant begriffen als „Selbstbestimmung", d. h. „Nichtvonaußenbestimmtsein" lr>u ; aber im Gegensatz zu Kants „subjektiv-rationaler" Theorie der Schönheit entwickelte Schiller eine „sinnlichobjektive", gegen Kants „freie und intellectuirte Schönheit" setzte er die „höchste Schönheit des Menschen" 1(i", , die als wesenhaft-selbstbestimmte Harmonie von Vernunft und Sinnlichkeit im Kunstwerk e r s c h e i n t . „Diese große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit." 1(il Solche Erscheinungen zeigen „Freiheit in der Technik" 1 , 0 ihrer Gestalt, und gleiches wird vom schönen Produkt — selbst vom „Rock, den ich auf dem Leibe trage" 11 ' 3 — gefordert: „In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden, sondern zu allem schlechterdings consentiren muß." 1 M Trotz mehrfacher Ansätze hat Schiller seine Theorie der Schönheit nicht systematisch ausgearbeitet. Den Ka/Zias-Bciefen ließ er zunächst die Briefe an den Erbprinzen von Schleswig-HolsteinAugustenburg — Vorstufe zu Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Keihe von Briefen — folgen, „wo ich das Schöne und den Geschmack bloß in seinem Einfluß auf den Menschen und die Gesellschaft betrachte" 165 . „Ist es nicht außer der Zeit", fragte Schiller im Brief an den Erbprinzen vom 13. 7. 1793, „sich um die Bedürfnisse der ästhetischen Welt zu bekümmern, wo die Angelegenheiten der politischen ein so viel näheres Interesse darbieten?" 16,i Natürlich verneinte Schiller diese Frage, sollte doch ästhetische Erziehung als Voraussetzung politischen Fortschritts gezeigt werden. Dabei handelte es sich nicht primär um eine Reaktion auf die Französische Revolution — schon gar nicht konnte es sich zu diesem Zeitpunkt um eine Reaktion auf deren bourgeois-prosaische Ergebnisse handeln —, sondern um eine aus den deutschen Verhältnissen erwachsene geschichtsphilosophische Konzeption; ihr war gleichsam zur Bestätigung die Sicht auf die französischen Ereignisse untergeordnet: „Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht" ; er habe gezeigt, „daß 5»

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derjenige nicht reif ist zur b ü r g e r l i c h e n Freiheit, dem noch so vieles zur m e n s c h l i c h e n fehlt". Schiller sah bei den „niedern Klassen . . . nichts als rohe gesetzlose Triebe"; andererseits „geben uns die civilisierten Klassen den noch widrigeren Anblick der Erschlaffung, der Geistesschwäche, und einer Versunkenheit des Karakters, die um so empörender ist, je mehr die Kultur selbst daran Theil hat" 1(i7 . Das war keine Untersuchung der Widersprüche im französischen Revolutionsprozeß; es waren vielmehr deutsche Erfahrungen, jenem Prozeß untergelegt: die Erfahrung revolutionärer Unreife — „unser rohes, armes, ungebildetes Volk kann nur wüten, aber nicht sich konstituieren", meinte selbst Forster 168 — und die Erfahrung, daß alles Eindringen aufklärerischer Bildung in die „höheren Stände" diese nicht zu entsprechendem Handeln befähigt hatte, „bloß theoretische Kultur" 1 6 9 geblieben war, die in der Krise des aufgeklärten Absolutismus vor den historischen Aufgaben erbärmlich versagte. Nicht also das Denken, sondern die gesamte Haltung der Zeitgenossen müsse verändert werden, um „politische und bürgerliche Freiheit" — „immer und ewig das heiligste aller Güter" — auf lange Sicht erreichen zu können. „Das dringendere Bedürfnis unseres Zeitalters scheint mir die Veredlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens zu seyn, denn für die Aufklärung des Verstandes ist schon sehr viel gethan worden. Es fehlt uns nicht sowohl . . . an Licht als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur. Diese letztere halte ich für das wirksamste Instrument der Charakterbildung, und zugleich für dasjenige, welches von dem politischen Zustand vollkommen unabhängig, und also auch ohne Hülfe des Staats zu erhalten ist." 170 Die Inthronisation der ästhetischen Erziehung als Garant politischen Fortschritts war selbst unter den Gründern der Hören nicht unumstritten. Fichte entwickelte in Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen die Theorie, daß der „ästhetische Trieb" lediglich höchste Verfeinerung des „praktischen Triebes", der grundlegenden menschlichen Lebenskraft sei. Erst müßten also die praktischen Existenzprobleme gelöst sein, ehe der Mensch „den ästhetischen Eindrücken sich hingeben kann": „Daher sind die Zeitalter, und Länderstriche der Knechtschaft zugleich die der Geschmacklosigkeit ; und wenn es von der einen Seite nicht rathsam ist, die Menschen frei zu lassen, ehe ihr ästhetischer Sinn entwickelt ist, so ist es von der andern Seite unmöglich, diesen zu entwickeln, ehe 68

sie frei sind; und die Idee, durch ästhetische Erziehung die Menschen zur Würdigkeit der Freiheit, und mit ihr zur Freiheit selbst zu erheben, führt uns in einem Kreise herum, wenn wir nicht vorher ein Mittel finden, in Einzelnen von der großen Menge den Muth zu erwecken, Niemandes Herren und Niemandes Knechte zu seyn." 171 Fichte näherte dann eingangs des dritten und letzten seiner Briefe diese „demokratisch scheinen könnende"172 — jedoch tatsächlich nicht als revolutionäre Forderung gemeinte173 — Ansicht der Schillerschen Konzeption ästhetischer Erziehung wieder an und pries Werke Goethes, welche freilich die Masse des Publikums noch nicht zu genießen vermöchte, weil sie „die durch die Fülle der Kraft gehaltne Kraft . . . mit der Kraftlosigkeit" verwechsele. Die meisten Leser „mögen im Bilde lieber die rohe aber kraftvolle Sitte unserer UrAhnen sich angetäuscht sehen . . . oder vergnügen sich wohl auch an den wunderlichen Renkungen in unsern gewöhnlichen Ritter Romanen, und an hochtönenden und vermessenen R e d e n " D e r HorenHerausgeber allerdings hielt sich an die Differenz im GrundsätzlichGeschichtsphilosophischen und schloß die Briefe Fichtes als angeblich nicht „allgemein verständliche und allgemein interessierende Untersuchung" 17r> von der Veröffentlichung aus, was zum Bruch mit diesem Mitarbeiter führte. Woltmann17,1 dagegen suchte mit seinem Beitrag einer Geschichte des französischen National-Cbarakters Schillers Konzeption gleichsam welthistorisch zu verifizieren. Er stellte zunächst dar, daß Poesie den französischen Nationalcharakter geprägt, eine „Kultur der Phantasie" geschaffen habe, die zur Grundlage einer nationalen politischen Verfassung geworden sei: „Die niedrigem Volksklassen gewöhnten sich an eine höhere Art zu empfinden, und ein verschönernder Schleier der Phantasie ward durch die Dichtkunst um den rauhen Geist des Adels gewunden." Die andersartige deutsche Entwicklung sah Woltmann darin begründet, daß Poesie beim Fehlen eines einheitlichen Nationalverbandes solche Bedeutung für den Abbau sozialer Gegensätze nicht haben konnte. Deshalb verharrten die Deutschen in einseitiger Kultur des Verstandes, unfähig zu politischem Fortschritt „in einem pedantischen zwangvollen Zustande". Bei den Franzosen aber sei durch die katholische Religion im Laufe der Zeit die sittliche Kultur verwildert; sie zeuge in der Gegenwart zwar von Energie und Heroismus, gleichermaßen jedoch auch von anarchischen Leidenschaften. Mit Bezugnahme auf Schillers Briefe Über die ästhetische Entwicklung — den Hauptbeitrag der ersten beiden Horen69

Hefte — forderte nun auch Woltmann eine Kultur „aus dem völlig gleichen Bunde zwischen Sinnlichkeit und Vernunft", welche allein die „zwanglose Bildung einer Nation" garantiere. Solche Kultur erst könne die französische Umwälzung zur menschheitsgeschichtlichen Errungenschaft läutern: „Aesthetische Erziehung ist die einzige, welche für die Neufranken noch Nutzen haben kann; nur durch die Kunst können sie fähig gemacht werden, Republikaner zu seyn . . . Frankreich muß erst zum Garten der Schönheit werden, zuvor die Früchte der Freiheit in ihm reifen sollen . . ." Und wie die „Morgenröthe der Kunst" in Frankreich die „Nacht der Anarchie" vertreiben, in Deutschland die Kräfte für reformerischen Fortschritt bilden werde, sieht Woltmann die ferne Perspektive eines fränkisch-deutschen Universalstaates im Zeichen der „Schönheit" 177 . Anliegen der Hören war es jedoch nicht nur, Philosophie politischen Fortschritts als Ästhetik vorzutragen; vor allem sollte ästhetische Bildung praktisch ins Werk gesetzt werden. Als Fichte jene Zurückweisung seines Beitrages mit Kritiken an Schillers Prosastil beantwortete — man müsse Schillers philosophische Schriften erst aus ihrer Bildhaftigkeit in klare Begrifflichkeit „übersetzen" 178 , um sie überhaupt verstehen zu können —, formulierte der Horaz-Herausgeber das von ihm verfolgte und für die gesamte Zeitschrift als musterhaft angesehene poetisierende Verfahren: „Meine beständige Tendenz ist, neben der Untersuchung selbst, das Ensemble der Gemüthskräfte zu beschäftigen, und soviel möglich auf alle zugleich zu wirken. Ich will also nicht bloß meine Gedanken dem andern deutlich machen, sondern ihm zugleich meine ganze Seele übergeben, und auf seine sinnlichen Kräfte wie auf seine geistigen wirken." 17a Ausführlich, und dabei scharf polemisch, hat Schiller dieses „eigentliche Verdienst der schönen Schreibart" 18(1 1795 in den Hör«»-Aufsätzen Von den notwendigen Grenzen des Schönen insbesondere im Vortrag philosophischer Wahrheiten und Über die Gefahr ästhetischer Sitten verteidigt. Schiller verschmolz hier seine ästhetische Theorie mit dem Literaturbegriff. Durch die Einteilung der gesamten Literatur in „darstellende" und „bloß didaktische" wurden die gescheiterten Ansätze politisch-operativen Funktionierens der Literatur nun auch theoretisch verabschiedet; und hoch erhob sich zugleich der darstellende Schriftsteller über den belehrenden. Der Schriftsteller als Künstler sei „ganz und gar nicht dazu gemacht, einen Unwissenden mit dem Gegenstande, den er behandelt, bekannt zu machen oder, im eigentlichen Sinne des Wortes, zu lehren. Dazu ist er glücklicherweise auch 70

nicht nötig, weil es für den Unterricht der Schüler nie an Subjekten fehlen wird." 181 Seine Aufgabe sei vielmehr, „der Imagination Genüge zu thun", „die ganze Unordnung einer spielenden und bloß sich selbst gehorchenden Einbildungskraft", „ästhetische Freiheit" zum Produktionsprinzip zu machen: „Eine solche Darstellung, könnte man sagen, ist ein o r g a n i s c h e s Produkt, wo nicht bloß das Ganze lebt, sondern auch die einzelnen Teile ihr eigentümliches Leben haben; die bloß wissenschaftliche Darstellung ist ein m e c h a n i s c h e s Werk, wo die Teile, leblos für sich selbst, dem Ganzen durch ihre Zusammenstimmung ein künstliches Leben geben." 182 Alle Literatur also, die sich in ihrer gesellschaftlichen Relevanz über den Schulunterricht erhebt, habe Kunstwerk zu sein; und Kunstwerk ist Gegenmodell der immer wieder mit den Begriffen des Mechanischen beschriebenen ständisch-absolutistischen Gesellschaftsverfassung. 181 Schiller ging auch auf den empfindlichsten Punkt ein, den Fichte berührt hatte, als er für sich „Popularität" in Anspruch nahm — er greife „sehr gemeine Erfahrung" auf und führe sie zur Abstraktion; bei ihm stehe „das Bild nicht an d e r S t e l l e des Begriffs, sondern v o r oder n a c h dem Begriffe, als Gleichniß" — und gegen Schiller den „Ausspruch des Publikums" berief, wie dieser erbittert vermerkte, da es doch „nichts roheres als den Geschmack des jetzigen deutschen Publikums" gebe und eben „Veränderung dieses elenden Geschmacks" ,sr> die große Aufgabe sei. Nach einigen Ansätzen, die „schöne Schreibart" als eigentlich populäre zu erweisen, machte Schiller entschieden Front gegen das Publikum: Da der ästhetische Schriftsteller „durch die vereinigte Aufforderung der sinnlichen und geistigen Kräfte immer den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, so hat er wahrhaftig nicht um so viel schlechter geschrieben, als er dem Höchsten näher gekommen ist. Der gemeine Beurteiler freilich, der ohne Sinn für jene Harmonie immer nur auf das Einzelne dringt, . . . muß ihn freilich erst übersetzen, wenn er ihn verstehen will . . . Aber von der Beschränktheit und Bedürftigkeit seiner Leser empfängt der darstellende Schriftsteller niemals das Gesetz . . . Es werden viele zurückbleiben: denn so selten es schon ist, auch nur denkende Leser zu finden, so ist es noch unendlich seltener, solche anzutreffen, welche darstellend denken können." 180 — Im Hintergrund stand hier die spezielle Erfahrung, daß das Hören-Projekt eigentlich schon geschei"tert war. Unter den zahlreichen Zeitgenossen, die Schillers geschichtsphilosophischer Konstruktion und seinem Literaturbegriff kritisch 71

gegenüberstanden, 187 * waren freilich nicht nur Leute, die — wie Goethe dem „so guten und wackern" Garve bescheinigte — „keine Spur eines ästhetischen Gefühls" 188 besaßen. Hätte auch Schillers Journal nie „die ganze lesende Welt zu seinem Publikum haben", so doch wesentlich größeren Einfluß gewinnen können, wenn nicht gerade hinsichtlich des besonders von Goethe als am wichtigsten erachteten „poetischen Theils der Hören" 189 die Voraussetzung des Herausgebers gänzlich irrig gewesen wäre, daß er „hinreichend mit Materialien versehen" 190 sei. Schillers volle Zuwendung zur Dichtung war auch durch diese praktische Erfahrung bedingt. Was die Hören betraf, so schrieb Schiller bereits im November 1795 an Cotta: „Es mag also bey Fortsetzung der Hören bleiben, und an mir soll es nicht fehlen, für die Popularität der Materien und Darstellungsarten alles zu thun, was vernünftiger Weise erwartet werden kann. So schwere Sachen wie meine aesthetischenBriefe kommen ohnehin nicht mehr vor und vor so dunkelgeschriebenen, wie man sagt daß die Humboldtischen Aufsätze seyen, sollen Sie künftig auch nichts mehr zu besorgen haben. Ich werde nach und nach schon Mitarbeiter auftreten lassen, die dem Publikum gefallen, wenn sie gleich mir sehr fatal seyn sollten." 191 Als dann das Ende beschlossene Sache war, „weil es uns ganz und gar an Mitarbeitern fehlt, auf die man sich verlassen kann", wurde Goethe vorgeschlagen, die Zeitschrift „von selbst selig einschlafen" zu lassen. „Sonst hätten wir auch in dieses 12te Stück (von 1797 — P. W.) einen tollen politisch-religiösen Aufsatz können setzen lassen, der ein Verbot der Hören veranlaßt hätte, und wenn Sie mir einen solchen wißen, so ist noch Platz dafür." 192

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Anneliese Klingenberg

Smith-Rezeption als ideologische Einleitung der Kunstperiode Begebungen von Ökonomie, Staatskritik und Kunstidee

Die Literaturwissenschaft überzeugt sich zunehmend davon, daß die deutsche Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht nur auf die Französische Revolution, sondern zuvor bereits in wichtigen Momenten auf die gesellschaftliche Entwicklung Englands reagiert hat. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, nach dem Einfluß des führenden kapitalistischen Wirtschaftstheoretikers der Zeit, nach dem Einfluß von Adam Smith zu fragen, dessen Hauptwerk A.n Inquiry into the Nature and tbe Causes of the Wealth of Nations 1776 erschien. In wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen ist der Tatsache, daß die deutsche Literatur bereits seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts Theoreme von Smith aufgenommen — nach dem Entwicklungsstand und den Bedürfnissen der bürgerlichen Klasse in Deutschland rezipiert — hat, zumeist keine Beachtung geschenkt worden. 1 * Setzt man die deutsche Smith-Rezeption erst mit den neunziger Jahren an, so hat das zwar insofern seine Berechtigung, als die Etablierung der politischen Ökonomie als Fachwissenschaft zutreffend datiert wird; dagegen werden jedoch Ereignisse der allgemeinideologischen Entwicklung übersehen, die für den Übergang von der Aufklärung zur Kunstperiode von wesentlicher Bedeutung sind.

1. „Die Ökonomie, die früher entweder von Finanzmännern, Bankiers und Kaufleuten, also überhaupt von Leuten, die unmittelbar mit ökonomischen Verhältnissen zu tun hatten, oder von allgemein gebildeten Männern wie Hobbes, Locke, Hume behandelt wurde, für die sie als Zweig des enzyklopädischen Wissens Bedeutung hatte — die Ökonomie wurde erst durch die Physiokraten zu einer besonderen Wis73

senschaft erhoben und seit ihnen als solche behandelt", schreibt Marx'-'. Gründer der Ökonomie als Wissenschaft war François Quesnay. Mit der Zusammenarbeit zwischen Quesnay und Mirabeau begann Ende der fünfziger Jahre die große Zeit der Physiokratie in Frankreich, wo sie in den sechziger Jahren zu einem Faktor der Regierungspolitik wurde, gegen Ende der sechziger Jahre aber bereits wieder an Einfluß und Bedeutung verlor. Die Ursache dafür, daß sich die Physiokratie in Frankreich um die Mitte des 18. Jahrhunderts herausbildete und hier einen ebenso starken wie rasch vergänglichen Einfluß gewann, ist darin zu sehen, daß Frankreich ein überwiegend agrikoles Land war, weshalb die hier entwickelte kapitalistische Wirtschaftsthcorie sich auf die Landwirtschaft konzentrierte. Die Physiokratie sieht die schlimmsten Übel des feudalen Staats, die Zustände in Landwirtschaft und Steuerwesen — so heißt es bei Marguerite Kuczynski — „als ernsteste, unbedingt zu korrigierende Mißstände, die sie jedoch durch geeignete Maßnahmen glaubt beheben zu können, ohne die Grundlage, das Feudalsystem, anzutasten. Sie sieht sie nicht als unlösbare Widersprüche, welche, dem Feudalsystem selbst entwachsen, nur mit dessen Zerstörung gelöst werden können. Deshalb verliert sie mit der Zuspitzung der Widersprüche, mit dem Heranreifen der revolutionären Situation . . . die Resonanz, welche sie sich hatte verschaffen können . . . Adam Smith' Wealth of Nations, erschienen im selben Jahr, welches auch den Sturz des als Generalkontrolleur quasi die Funktion eines Premierministers ausübenden und sein Amt im Geiste der Physiokratie versehenden Turgot sah, gewann rasch Einfluß . . . Das, wodurch das Buch sich seinen Einfluß eroberte, war nicht das, was Quesnay und Smith gemein war, was Smith zum Teil bei Quesnay gelernt hatte, sondern das, was sie grundlegend trennte — die Smithsche Lehre von der Produktivität industrieller Arbeit." :i Hier sind die Fingerzeige zum Verständnis auch der einschlägigen deutschen Problematik gegeben. — Die große Zeit der Physiokratie in Deutschland lag in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Dabei wurde, im Unterschied zu Frankreich, die Physiokratie in Deutschland nicht als spezielle Fachdisziplin behandelt, sondern von Leuten betrieben, „die unmittelbar mit ökonomischen Verhältnissen zu tun hatten" — nämlich vorwiegend von bürgerlichen Beamten im Dienste der absolutistischen Bürokratie — oder aber von „allgemein gebildeten Männern". In Deutschland sind nicht selten — da für die bürgerlichen Intellektuellen der Dienst in der Verwaltung eines der deut74

sehen Kleinstaaten meist die einzig mögliche Existenzgrundlage war — die „allgemein gebildeten Männer" zugleich diejenigen, die — wie Goethe, Schlosser, Merck, Bürger und Schlettwein, der deutsche „Hauptphysiokrat" selbst — „unmittelbar mit ökonomischen Verhältnissen zu tun hatten". So wird die Auseinandersetzung um die Realisierbarkeit physiokratischer Theorien — seit etwa 1776 als Streit zwischen Physiokraten und Smithianern geführt — keineswegs als Fachfrage, sondern als Teil allgemein interessierender Gesellschaftsproblematik in publizistischen und literarischen Medien behandelt, nicht nur in Traktaten und Essays, sondern ebenso in poetischen Werken. Wie in Frankreich entsprach auch in Deutschland die Begeisterung für den Physiokratismus einer ganz bestimmten Phase der sozialökonomischen und politischen Entwicklung. In ihrer Bindung an Vernunftvertrauen, speziell an das Vertrauen in die Vernunft der Herrschenden, erwiesen sich die physiokratischen Ideen als Bestandteil des Aufklärungsdenkens wie als Bestandteil des aufgeklärten Absolutismus. Bürgerliche Aufklärer und aufgeklärte Herrscher arbeiteten bei den wenigen praktischen Versuchen in Deutschland eng zusammen. Da diese Zusammenarbeit letztlich auf einem historischen Mißverständnis beruhte, mußte das Bündnis gerade an diesen praktischen Versuchen zerbrechen, und die Enttäuschung über die Nichtrealisierbarkeit der physiokratischen Ideen wurde eine der Wurzeln für die Krise aufklärerischen Denkens. 1770 begannen in dem Frankreich benachbarten Markgrafentum Baden-Durlach die von seinem Regenten Karl Friedrich und dem bürgerlichen Aufklärer Johann August Schlettwein geleiteten Bemühungen, die Wirtschaft dreier Dörfer nach physiokratischen Gesichtspunkten umzugestalten. Hier waren die Bauern dermaßen verarmt, daß sie in Scharen nach Amerika auszuwandern begannen. Mit Hilfe der physiokratischen Prinzipien hoffte der Markgraf, die Dörfer sanieren und die Untertanen im Land behalten zu können. Die Umgestaltung der Landwirtschaft und des Steuerwesens in diesen drei Dörfern weckte die Aufmerksamkeit aller gesellschaftlich Interessierten in Deutschland und verhalf dem Physiokratismus zunächst zu ungebrochenem Ansehen. So waren die Rezensionen ökonomischer Titel im berühmten Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen — von Goethes Schwager Johann Georg Schlosser verfaßt oder zumindest redigiert — physiokratisch geprägt; die Gedankengänge des Physiokratismus bestimmten so sehr die Vorstellun-

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gen der jungen Dichtergeneration, daß Kurt Braunreuther seiner Untersuchung des deutschen Physiokratismus den Untertitel Ein geschichtlich-politökonomiscber Beitrag %ur „Sturm-und-Drang-" Zeit geben konnte. Jürgen Kuczynski und Kurt Braunreuther haben diese Entwicklung des deutschen Physiokratismus aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht eingehend untersucht; Heinz Stolpe und Pierre-Paul Sagave behandelten physiokratische Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Wirken Herders und Goethes/* Nicht beachtet wurde bisher, wie das Scheitern der physiokratischen Versuche reflektiert worden ist. Braunreuther zeigt vor allem, daß der fortschrittliche Teil des deutschen Bürgertums sich der Ideen des Physiokratismus bemächtigte, um „im Interesse der Volksmassen die Verhältnisse zu ändern" 5 . Offen bleibt, ob der Physiokratismus überhaupt zu verwirklichen war und welche Desillusionierung sein Scheitern schließlich bewirkte. Allerdings vermerkt Braunreuther zwei Momente, die der Realisierung des Physiokratismus im Wege standen: Die von Pächtern betriebene landwirtschaftliche Großkultur, auf die der französische Physiokratismus sich bezog, gab es hier nicht, und statt auf fermiers mußte Schlettwein seine Reformen auf Leibeigene und Häusler stützen; zudem offenbarten sich bereits bei der Planung des neuen Steuersystems die Differenzen zwischen dem bürgerlichen Aufklärer und dem aufgeklärten Fürsten. Während Karl Friedrich mit Selbstverständlichkeit annahm, daß die bisherige Steuersumme erhalten bleibe und lediglich in der Form verändert werde, ging Schlettwein wie alle bürgerlichen Physiokraten davon aus, daß die Steuerhöhe nicht von den Bedürfnissen des Regenten, sondern von den Möglichkeiten der Bauern aus zu bestimmen sei. Auf die gleiche Weise wie der Markgraf von Baden interessierte sich auch der Herzog von Sachsen-Weimar für physiokratische Reformen, nachdem er sich auf einer Reise durch Süddeutschland über Maßnahmen zur Aufteilung großer Güter informiert hatte. Am 1. Januar 1780 wandte sich Karl August an Johann Heinrich Merck in Darmstadt: „1.) wünschte ich einen schriftlichen Aufsatz zu bekommen über den Vortheil, welchen die neumodische Zerschlagung der Güter bringt, nebst einer Berechnung eines derselben in Ihrem Lande, nebst der Operation, um zu sehen, wie sie die alten Revenuen herausgebracht haben." 0 In zwei Gutachten über die Aufteilung des Hofgutes Roßdorf bemühte sich Merck, Karl August die Vorteile vor Augen zu führen, die die Parzellierung der großen Domänen 76

der Hofkammer einbringe. Doch erst 1785 versuchte man sich im Sachsen-Weimarischen mit der Aufteilung des Gutes Burgau bei Jena. Der Versuch schlug fehl. Denn bei der Aufteilung der Domänen in Bauernland hätte beispielsweise die Weimarische Kammer auf Weideland für Schafe und damit auf die sicheren Einkünfte aus dem Wollverkauf verzichten müssen zugunsten der unsicheren Aussichten, auf die die bürgerlichen Reformer verwiesen. Wie entscheidend das Feudalinteresse jeden Fortschritt bäuerlichen Wirtschaftens behinderte, zeigte sich gerade in Sachsen-Weimar wiederholt. So verlangte 1782 ein Reglement, wie es hinfüro bey Ansähung des Klees ingleichen der Esparsette in dem Fürstenthum Weimar gehalten werden soll von den Bauern gleichzeitig den Anbau von Futterkräutern auf der Brache wie deren Aufrechterhaltung für die Trift der Kammerschafe. Der Landwirtschaftswissenschaftler Johann Christian Schubart von Kleefeld kritisierte in seinen Ökonomisch-kameralistischen Schriften denn auch die Unentschiedenheit dieses Reglements, was Goethe am 26. November 1784 gegenüber Karl August zu folgender Bemerkung veranlaßte: „Schubartens Ausfall auf unser Reglement habe ich gelesen und wußte schon vorher, daß es nichts taugte. Es ist aber nicht eigentlich der Fehler, daß man ein schlechtes Reglement gemacht hat, sondern daß man eines gemacht hat unter solchen Umständen. Der ganze Grundsatz desselben ist: Ihr s o l l e t z w e e n H e r r e n dienen."7 Das war eine Erfahrung, die keinem der bürgerlichen Reformer jener Zeit erspart blieb. Schlettwein, Schlosser, Goethe und Merck zogen sich ganz oder weitgehend aus dem Staatsdienst zurück. Bei letzterem wird die Desillusionierung über die Realisierbarkeit physiokratischer Ideen mit persönlichem Betroffensein zum Thema literarischer Produktion. — Die 1778 im Teutsehen Merkur veröffentlichte Geschichte des Herrn Oheim beschränkt den Anspruch der Gesellschaftsveränderung bereits zum individuellen Ausweg. Der Autor konstruiert aus patriarchalischem Hausvaterideal, physiokratischen Theoremen und Momenten des englischen Agrarkapitalismus ein Wunschbild, das gegen die Plagen der residenzstädtischen Beamtenexistenz gerichtet ist, nicht zuletzt aber auch gegen die Risiken des kapitalistisch wirtschaftenden Agrariers — ahnungsvolle Vorausnahme gleichsam von Mercks Scheitern als Unternehmer im Jahre 1788. Einziges Prinzip, auf das Herr Oheim sein Landleben baut, ist das Prinzip der Autarkie. So werden alle gesellschaftlichen Probleme, mit denen die deutschen Physiokraten zu kämpfen hatten, individuell 77

und zum eigenen Behagen geregelt. Die Verwendung von Elementen kapitalistischer Agrarwirtschaft rechnet Merck seinem Helden dabei als besondere Klugheit zu — kein Gedanke daran, daß sie einer historischen Entwicklung zugehören, die Herrn Oheim zutiefst verunsichert, daß sie sich schlecht als Bausteine für eine patriarchalische Haus- und Hofwirtschaft eignen. Burghardt Dedner und Norbert Haas haben darauf aufmerksam gemacht, daß Merck versuchte, durch Genauigkeit des Details das Illusionäre der Erzählung als Realität erscheinen zu lassen. 8 Dieses Illusionäre enthüllt Merck selbst wenige Jahre später durch die 1781/82 ebenfalls im Teutschen Merkur veröffentlichte Spiegelungsgeschichte Herr Oheim der Jüngere. Mit Selbstironie läßt er es gerade seine Oheim-Geschichte sein, deren Lektüre die Hauptgestalt der zweiten Erzählung, den Sekretär Strephon, veranlaßt, von seinen Ersparnissen Land zu kaufen, um sich eine gleich glückliche Existenz zu schaffen. Stück für Stück führt die Spiegelungsgeschichte jene Utopie ad absurdum. Bald sieht Strephon ein, „daß es besser sey, mit den Gliedern der menschlichen Gesellschaft in näherer Verbindung zu stehen, und lieber diejenigen, die eine gewisse Hanthierung von Jugend auf gelernt hatten, für sich sorgen zu lassen, als selbst alles bestreiten zu wollen, und mit Unbehaglichkeit unabhängig zu seyn. Das Brot vom Becker gebacken schmekte doch besser, als das was in seinem eignen Ofen mißrathen war." 9 Doch mit dem Scheitern des Autarkiestrebens brechen zugleich die allgemeinen Bedrückungen der landwirtschaftlichen Kleinbesitzer herein: Abgaben, die kaum aufgebracht werden können, Verpflichtungen, die die Bewirtschaftung des eigenen Hofes hindern, Abweisung aller protestierenden Eingaben. Strephon flieht schließlich zurück in jene Existenz eines fürstlichen Beamten, der Herr Oheim glücklich entronnen war; er gibt alle Ideale von Gesellschaftsveränderung auf und wird an Charakter und Gestalt höchst unansehnlich. Die ersten Erfahrungen der Unrealisierbarkeit physiokratischer Ideen — die Einstellung der Reformen in den badischen Dörfern Bahlingen und Theningen im Jahre 1776 auf Grund eines vernichtenden Gutachtens von Schlosser — fielen zusammen mit dem Erscheinen der englischen Ausgabe und des ersten Bandes der deutschen Übersetzung von Adam Smith' Wealth of Nations. Bereits jetzt kamen Smithsche Argumente in die Diskussion um die Problematik des Physiokratismus. Daß die physiokratischen Forderungen die Ansprüche des dritten Standes zwar anzumelden, aber keineswegs durch78

zusetzen vermochten, war für einen bedeutenden Teil der fortschrittlichen Ideologen seit dem Ende der siebziger Jahre keine Frage mehr. Was beispielsweise Schlosser seit 1777 an Antiphysiokratischem äußert, ist von Smithschen Positionen beeinflußt. „Das kleineBüchlein, welches ich Dir in dieser Absicht wiedme", so heißt es dann 1784 bei Übersendung seines Dialogs Xenocrates oder über die Abgaben an Goethe, „enthält sehr andere Ideen, als die waren, womit wir uns vormals beschäftigten." 10 Daß Kurt Braunreuther die Präsenz Smithscher Gedankengänge — freilich weniger mit dem Verständnis und Vokabular von Fachökonomen als demjenigen „allgemein gebildeter Männer "vorgetragen — übersieht, führt ihn zu einer Fehleinschätzung der antiphysiokratischen Argumente. Er klassifiziert sie — besonders augenfällig und unzutreffend bei Dohm — samt und sonders als reaktionär. 11

2. Austragungsort des Streits zwischen Physiokraten und Smithianern waren vor allem zwei literarisch-politische Periodika: Isaac Iselins Ephemeriden der Menschheit oder Bibliothek der Sittenlehre, der Politik und der Gesetzgebung und das von Heinrich Christian Boie und Christian Wilhelm Dohm herausgegebene Deutsche Museum. Von der Produktivität auch der nicht-landwirtschaftlichen Arbeit überzeugt und sich darin offensichtlich auf Smith' Theorie stützend, versuchte Schlosser mit den 1777 im Deutschen Museum veröffentlichten Politischen Fragmenten Quesnays berühmte Ökonomische Tafel zu korrigieren. (1784 verfaßte er eine Denkschrift für Karl Friedrich, in der er die Forderung entwickelte, „daß in einem sehr oder auch nur mittelmäßig bevölkerten Land das erste, was zu befördern wäre, das Fabrikenwesen sein müse, aber so, daß diese Beförderung nicht zum Präjudiz des Ackerbaues geschehe, und daß, wie das Fabriken- und Gewerbewesen im Gange ist, man dieses nur nicht hindern, alsdann aber mit allen Kräften den Ackerbau unterstützen sollte" 12 .) Die Ephemeriden waren dagegen vor allem das Organ der Physiokraten. So wurde über die physiokratisch inspirierte Gesetzgebung von Toscana berichtet, die Herzog Leopold, später österreichischer Kaiser, unter großer öffentlicher Anteilnahme eingeleitet hatte. 1777 unterbrach der Herausgeber Iselin die über mehrere Lieferungen laufende Rezension von Condillacs Le Commerce et le Gouvernement 79

considérés relativement /' uni' autre, um das Buch eines „engelländischen" Autors anzuzeigen, „welches die gleiche Absicht hat und welches in Rücksicht auf die Gründlichkeit und die Umständlichkeit noch vieles voraus zu haben scheinet". „Der Verfasser dieses Werkes ist der durch seine Theorie der moralischen Empfindungen schon lang rühmlich bekannte Herr Smith." Den grundlegenden Unterschied zwischen der Theorie der Physiokraten und derjenigen von Smith verstand Iselin jedoch nicht, und die ausschlaggebende Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit hielt er für einen Übersetzungsfehler. Iselin blieb bei der physiokratischen These, daß die Manufakturarbeit „keine Hervorbringung, sondern nur eine Veränderung und eine Versetzung des hervorgebrachten" bewirkt. 13 Dagegen argumentierte Dohm 1778 im Deutseben Museum, daß der „Werth einer Fabrikwaare" ein „neuer, vom künstlerischen Arbeiter geschaffener Werth" sei, wie schon ein „scharfsinniger englischer Schriftsteller, Herr Adam Smith", angemerkt habe.*4 In den Baierischen Beiträgen %ur schönen und nützlichen Litteratur erschien 1779 Eine politische Rhapsodie. Aus einem Aktenstock entwendet des zu dieser Zeit eng mit Schlosser und Dohm verbundenen Friedrich Heinrich Jacobi. 15 Im ersten, einige Jahre zuvor entstandenen Teil steht Jacobi noch auf physiokratischem Standpunkt: „Die Erde ist bekanntlich die einzige Quelle aller Reichthümer." 10 Der zweite, 1779 geschriebene Teil dieser Arbeit verteidigt den Getreidefreihandel und Smith' Grundsatz, daß nicht die Menge des im Lande befindlichen baren Geldes den Reichtum einer Nation ausmache, sondern die Lebhaftigkeit des Handels und die freie Nutzung von Kapital. „Jedermann bestrebt sich allezeit", heißt es mit Ausdrücken von Smith, „die vortheilhafteste Anwendung irgend eines Capitals, das in seinem Vermögen steht, zu entdecken. Zwar ist es sein eigener, und nicht der Vortheil der Gesellschaft, den er sich dabei vorsetzt. Allein das Befleißigen auf seinen eigenen Vortheil führt ihn natürlicher oder nothwendiger Weise dahin, daß er demjenigen Geschäfte, das auch für die Gesellschaft am vortheilhaftesten ist, den Vorzug giebt." 17 An Dohm anknüpfend, entwickelte Jacobi umfassende liberale Forderungen, die er konsequent auf die staatliche Sphäre mitbezog: „Die Gesellschaft also, in so ferne sie auf äußerlicher Form beruht, und eine Maschine des Zwanges ist, hat zu ihrem Gegenstande einzig und allein Beschirmung, das ist, jeden Schaden, der aus Ungerechtigkeit entstehen könnte, von jedem Gliede der Gesellschaft abzuwenden; oder jedem Gliede das unverletzliche Eigenthum seiner Person, 80

den freyen Gebrauch aller seiner Kräfte, und den vollkomenen Genuß der Früchte ihrer Anwendung, auf gleiche Weise zu versichern", heißt es in Etwas das Lessing gesagt hat18. Jacobi ist einer der ersten, die Theoreme von Smith zur liberalen Staatskritik am Absolutismus ausbauten. Diese spezifisch deutsche Methode der Smith-Rezeption hat er an Wilhelm von Humboldt vermittelt. Dabei nimmt Jacobi, der Sohn eines Unternehmers aus dem industriell besonders entwickelten niederrheinischen Reichsgebiet, mehr noch als Dohm oder Schlosser unter den frühen deutschen Smithianern einen dezidiert prokapitalistischen Standpunkt ein. Er betont nicht nur die Produktivität der Manufakturarbeit, sondern zieht auch bereits Adam Fergusons Luxusbegriff zur Abwehr der Ansprüche aus unteren Schichten heran. Gerade die auf Ferguson fußenden Teile seines Romans Woldemar hat Jacobi 1779 im Deutschen Museum vorveröffentlicht. Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft habe „Epoche in seinem Leben gemacht" 19 , heißt es von Woldemar. Mit Ferguson ist dieser reiche Kaufmann dafür, daß vom Luxus, „seiner durchaus relativen Natur wegen, nie ein fester Begriff statt finden kann. In der ärmsten Bauernhütte, in dem Winkel eines Bettlers, kann mehr Ueppigkeit im Schwange seyn, mehr Unmäßigkeit, mehr Verschwendung und böse Lust, als oft in dem reichsten Pallast voll Glanz und Schimmer. Mein seidener Rock, den ich gewiß mit Unschuld trage, würde an dem Leibe jedes andern von Thorheit oder gar von Laster zeugen. Person und Umstand machen hier die Sache aus." 20 Und Woldemar führt einen „Bauernkerl" vor Augen, den der „ihm nicht zustehende" Wunsch nach einer ledernen Hose ruiniert. Zwei Probleme vor allem bestimmten die Auseinandersetzung zwischen Physiokraten und Smithianern. Kann, zum einen, wirklich nur — wie die Physiokraten meinten — die Erde und also derjenige, der als Bauer etwas aus ihr „hervorzieht", als produktiv betrachtet werden, oder erhöht nicht die „Kunst" des Handwerkers und Manufakturarbeiters den Wert des von der Erde gelieferten Stoffes? Der zweite Streitpunkt betraf die von den Physiokraten aus ihrer Theorie der Produktivität abgeleitete und durchaus antifeudal intendierte Forderung nach einer Einheitssteuer auf Landbesitz. Hier lautete die drängende Frage: Wer sollte diese Steuer berechnen, wer konnte Adel und Geistlichkeit zwingen, sie auch zu bezahlen? Während es den dezidiert prokapitalistischen Smithianern insbesondere um die Anerkennung der Produktivität gewerblicher Tätigkeit und entsprechende Freiheit für Kapitalanlagen und Handel 6

Kunstperiode

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ging, wurden stärker bäuerlich-plebejisch orientierte Ideologen zumeist über die Steuerfrage zu Antiphysiokraten und letzten Endes Smithianern. So erwarteten Jakob Michael Reinhold Lenz wie auch Johann Karl Wezel oder Johann Christian Schmohl von der physiokratischen Land- und Steuerreform keine Verbesserungen für die Bauern, sondern lediglich für die Grundherren, und nur Abgabenfreiheit für die Armen oder zumindest progressive Besteuerung nach dem Einkommen ließ sie ein besseres Leben der Volksmassen erhoffen. Lenz hat mit der 1777 im Deutseben Museum veröffentlichten Erzählung Der Landprediger eine Vorstellung entworfen, wie Verbesserung auf dem Lande möglich sei, die des Glaubens und des Appells an die Vernunft der Herrschenden entbehren kann. Pfarrer Mannheim, in allen ökonomischen Dingen wohlerfahren, predigt seinen Bauern, „wie sie durch eine ordentliche Haushaltung sich den Druck der Abgaben erleichtern könnten, deren Notwendigkeit er ihnen deutlich machte". Er verwandelt die Sonntagsnachmittagsvesper in eine „ökonomische Gesellschaft" und baut selbst einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb auf. „Endlich, damit er mit desto mehrerer Zuverlässigkeit von allen diesen Sachen mit ihnen reden könnte, ging er mit einem der wohlhäbigsten Bürger seines Dorfs einen Vertrag ein, vermittels dessen jener ihm, gegen soundso viel Stück Vieh und Auslagen der Baukosten, einen verhältnismäßigen Anteil an seinem Kornacker sowohl an seinem Wiesenbau zustund; zu diesem gesellte sich noch ein anderer, der einen Weinberg hatte, und siehe da ein kleines Landgut entstehen, das in sich selbst gegenseitige Unterstützung fand, weder Dung noch Holz zu bezahlen brauchte und in einigen Jahren meinen Pfarrer und seine Mitinteressenten reich machte. Itzt beeiferte sich jeder, einen gleichen Vertrag mit ihm einzugehen, und da dieses nicht wohl sein konnte, schlössen sie sich aneinander und ahmten seinem Beispiele nach. So ward in kurzer Zeit das Dorf eines der wohlhäbigsten in der ganzen Gegend." 21 Diese Modellvorstellung, die mehr den Wünschen des Autors als realen Möglichkeiten entsprach, flankierte Lenz mit einer scharfen Satire auf feudale Indienstnahme physiokratischer Reformen wie mit praktischen Vorschlägen, die nun allerdings nicht des Appells an die Herrschenden entbehren konnten. — In den Briefen eines Uvländers von Adel an seine Mutter in L. heißt es: „Liebe Mama! wenn ich nach Hause komme, soll alles anders werden. Ich sehe es kommt nichts dabei heraus wenn der Bauer wie das Vieh gehalten wird, er wird faul und 82

unlustig. Es will ja bei uns mit nichts recht fort. Der Herr Professor sagt: die Schuld liegt am Bauer, denn der Bauer ist die Stütze des Staats. Wissen Sie wie ich's mache, wenn ich nach Hause komme. Ich lasse mein ganzes Gut aufnehmen nach Ruten und Schuhen . . . alsdenn teile ich jedem Bauer, der Wirt ist und große Söhne oder Knechte hat, so und so viel Ackerland aus und sag: hör lieber Freund, das ist nun dein Eigentum, darüber kannst du schalten und walten wie du willst. Nur mußt du mir davon die und die Fronen entrichten, das versteht sich am Rande. . . . wenn ich erst sehe, daß es meinen Bauren gut geht und da muß ich mich aufs Spionieren legen und daß sie durch ihren Gewerb und Verkehr was vor sich gebracht haben, so komme ich ganz leise und milche sie ein bißchen, das will soviel sagen, Mama: ich komme und setz ihnen ein wenig mehr an an Zehnten und dergleichen, was sie bei uns die Gerechtigkeit nennen . . ," 22 „Theurer Schlettwein und andere", so beschwört Lenz schließlich den deutschen „Hauptphysiokraten" selbst in seinem für KarlAugust von Sachsen-Weimar oder den König von Frankreich gedachten Traktat Über die Soldateneben, „die die ganze Masse der n o t wendigen Einkünfte des Fürsten auf den Bauren legen wollten, damit der sie auf die Früchte schlüge, habt ihr auch bedacht, daß das heisse, das Gewicht, das itzt von hunderttausend Schultern getragen wird, auf die Schulter eines einzigen fallen lassen, damit er es weiter schiebe? Alles würde gut gehen, wenn nur — das armseelige, wenn nur — der eine nicht vorher davon zerquetscht würde." 23 Nicht solche Umverteilung der Steuerlast, sondern generelle Reduzierung des Steueraufkommens sei nötig — und auch möglich, wenn die stehenden Söldnerheere abgeschafft würden. Hier klingt das Argument der Unproduktivität gegen eine entscheidende Institution des Feudalabsolutismus an, das sich später in der von Smith inspirierten liberalistischen Staatskritik entfalten sollte. Lenz entwirft ein idyllisches Bild von dem Zustand, da die Bauern „von den Abgaben befreyt" 2/' sind und Soldaten und Offiziere Familien gründen, zu denen sie jährlich für mehrere Monate entlassen werden, um als Zivilisten zu leben und zu arbeiten: Handel und Künste werden aufblühen, Bürger, Bauer und Soldat glücklich sein. „Was ist eine Menge Stroh in Koth getreten — das wahre Bild unsers heutigen Volks — gegen eine Nation, die den göttlichen Lebenshauch der Natur in ihren Adern fühlt, nicht arbeitet, um zu dulden, sondern um zu gemessen und zu seyn und zu preisen und zu jauchzen dem der die geschaffen hat!" 25 Einen solchen Zustand hält auch Johann Karl Wezel in seinem 1779/80 erschienenen 6»

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Roman Robinson Krusoe — gleichsam einer Sozialgeschichte der Menschheit — für möglich, wenn die Bauern das Land als ihr Eigentum und ohne Abgaben bewirtschaften können. Johann Christian Schmohl, bis 1779 Lehrer am Dessauer Philanthropinum und 1783 auf einer Reise nach Amerika verschollen, verfocht mit eindeutig Smithschen Argumenten bäuerliche Interessen. Das gilt insbesondere von seinem Aufsatz Vermischte land- und staatswirtschaftliche Ideen im Deutschen Museum von 1781: „Wenn die Bauern allein produzirten, wenn die Naturprodukte allein wahre Reichthümer wären, so müßten die Bauern auch am reichsten sein. Das ganze Sistem widerspricht überhaupt aller Erfahrung . . . Jeder Bandfabrikant und Zeughändler in Basel solte es Hr. Iselin beweisen können, daß es einen reinen Ertrag der Fabriken und des Handels gibt. . ." 26 Nichtsdestoweniger könnten auch die Bauern wohlhabend sein, wenn nicht die Feudalverhältnisse ihre „Aufklärung" hinderten: „Bei keinem Handwerk, keiner Kunst können so viele Wissenschaften nützlicher angewendet werden, als beim Ackerbau; und kein Geschäft gewährt einem denkenden Geist höhere Freuden als dies. Ich verstehe aber unter Aufklärung nicht die Einsicht in die Falschheit und Ungereimtheit der meisten Religionslehren; sondern bessere theoretische und praktische Einsicht und Geschicklichkeit in seinem Fach, in der Landwirtschaft. Daß der vernünftigere und bravere Bauer mit seinem Stand unzufrieden sein und seine Wissenschaften und höhern Kräfte misbrauchen wird, ist nur dann zu fürchten, wenn die höhern Stände nicht zugleich mit vernünftiger und braver werden. Hört der Bauer auf, Vieh zu sein, und der Fürst will nicht auch aufhören ; so ist der freilich mehr in Gefahr als jetzt, da der Bauer seine Menschenrechte so wenig kent, als der Fürst."-' Entschieden wies denn auch Schmohl mit seinem im April 1783 in der berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Aufsatz Von dem Ursprünge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft die Auffassung zurück, daß feudale Abhängigkeit ihren Ursprung und irgendeine fortdauernde Berechtigung in ökonomischen Bedürfnissen der Abhängigen habe. Die Oberhoheit des Adels und der Fürsten sei vielmehr ursprünglich allein zum Schutz gegen Gewalt eingeräumt worden; die spätere und zeitgenössische feudale Herrschaft — so gibt Schmohl deutlich zu verstehen — sei reiner Mißbrauch des Schutzamtes. Schlosser hat im selben Jahr 1783 gewissermaßen die Grabreden auf den Physiokratismus gehalten. — Im Deutschen Museum leitete er die Veröffentlichung von Karl Friedrichs Antwort auf die Danksagung 84

des Landes nach Aufbebung der Leibeigenschaft und einiger Abgaben mit einem Schreiben an Dohm ein. Während jene Antwort noch immer die physiokratischen Grundsätze hochhält, sind sie für Schlosser abgetan, und mit diplomatischem Geschick unterstellt er diese Einsicht auch dem Markgrafen: „Sie wissen, mit wie viel Eifer der Markgr. von Baden, den ich so gern meinen Herrn nenne, vor verschiedenen Jahren das schöne philosophische System der Regierungskunst, das Quesnays Namen verewigen wird, aufnahm. Einige seiner Diener veranlaßten durch unrichtig angegebene Data Proben seiner Anwendung im Badischen; der Markgr. sähe aber bald ein, daß die Sache lange nicht genug vorbereitet wäre . . ," 28 Und in der Rede, die Schlosser am 3. Juni 1783 anläßlich Iselins Tod in der Helvetischen Gesellschaft hielt, hieß es über die Leistung des Schweizer Physiokraten: „Aber es ist leichter in die Dämmerung des menschlichen Denkens Licht zu bringen, als in dem Irrgarten des menschlichen Handelns, die richtige Straße zu finden. Das jetzige Bedürfniß, das die Erndte, die das Sistem versprach, nicht erwarten konte, und tausend andere Nebenumstände, hinderten fast überall die Einführung des neuen, lange nicht genug vorbereiteten, mit zu viel Zutrauen auf die Menschen des 18. Jahrhunderts, ersonnenen Finanzplans. Und auch er blieb liegen in zahlreichen Schriften und Gegenschriften! Und so ging es leider der ganzen edlen schönen Philosophie unseres Freundes. Es ist nicht, meine Brüder, es ist noch nicht die Zeit, wo Weisheit ihr Haupt erheben, und der Mensch wieder Mensch werden kan! O könten wir's, die Lehren unsers Freundes und sein edles Beispiel hätten uns dazu gemacht, aber wir sind, wie selbst unser Freund in seiner Geschichte der Menschheit sagt, viel näher noch an der alten Barbarei, als wir glaubten." 29 Bereits 1782 publizierte Georg Andreas Will einen die einschlägige französische und deutsche Literatur sichtenden und kritisch resümierenden Versuch über die Pbysiokratie, deren Geschichte, Literatur, Inhalt und Wert und erklärte im gleichen Tenor wie Schlosser: „Allein ich muß doch sagen, daß mein Herz das System liebe, seine Wahrheit wünsche und nach der darinnsteckenden Befreiung von mannichfältiger Sklaverei, Despoterei, Tirannei, seufze und strebe; daß aber meine Einsichten dem System widersprechen, es nicht einmal für möglich, noch weniger in unserm eignen und sich allein gleichen deutschen Vaterlande für ausführbar halten." 30 Solche resignativen Töne können nicht verwundern. Hatte doch der Physiokratismus der bürgerlichen Intelligenz die Hoffnung vor85

gespiegelt, im Bündnis mit dem aufgeklärten Fürsten das Leben der Bauern und den Status der Gesellschaft tatsächlich verändern zu können. Die Erkenntnis, daß die Ideen des Physiokratismus zumindest in Deutschland nicht zu verwirklichen waren, brachte zwar — mit der Einsicht in die unversöhnlichen Gegensätze zwischen feudalen und bürgerlichen Interessen — theoretischen Gewinn, nahm aber der bürgerlichen Intelligenz und vor allem den Beamten unter ihr jede Möglichkeit sinn- und wirkungsvollen Eingreifens in ökonomische Prozesse. Wo sie — wie Merck — Smithsche Ideen mit Fabrikgründungen auf eigene Faust verwirklichen wollten, scheiterten sie ebenso wie dort, wo sie — wie Goethe oder Schlosser — sich im feudalen Staatsauftrag um Industrieunternehmen mühten. Der genuin privatkapitalistische Sektor war aber, wie auch das Unverständnis erhellt, das seine eigentlichen ökonomischen Funktionsmerkmale bei den deutschen Smithianern fanden, so unbedeutend, daß er das Bewußtsein der „allgemeingebildeten" Männer noch in keiner Weise zu bestimmen, ihr Selbstbewußtsein nicht zu tragen vermochte, denn der entwickeltere Buchmarkt erlaubte nicht automatisch Aufschlüsse über das Wesen der ganzen materiellen Produktion. Was also außer der natürlich weiterlaufenden Kritik am feudalen Staat und der Ständeordnung blieb, war die Möglichkeit, die Ideen des neuen Gesellschaftssystems aufzunehmen und anzuwenden auf das Gebiet, über das die „allgemeingebildeten" Männer in Deutschland Herr waren: auf das Gebiet von Kunst und Literatur. Aus dieser Konstellation erklärt sich die Transformierung von Impulsen des ökonomischen und politischen Liberalismus Smithscher Prägung in Ästhetik — ein Prozeß, der wesentlich beigetragen hat zur Ablösung des operativ intendierten Literaturbegriffs der Aufklärung durch die „Kunstidee", zur Differenzierung von pragmatischer Literatur und Poesie31* sowie zur Erhebung letzterer zum übergreifend-allgemeinen Medium gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung. 3. Als einer der ersten verdeutlichte Karl Philipp Moritz den Zusammenhang von Smithianismus und Kunsttheorie. — Moritz, der wiederholt im Deutschen Museum publizierte und in seinem eigenen Magazin der Erfahrungsseelenkunde Dohm zu Wort kommen ließ, war mit der Auseinandersetzung zwischen Physiokraten und Smithianern vertraut und schlug sich auf die Seite letzterer. So finden wir Smithsche Posi86

tionen in seinem Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik von 1785, wenn erzählt wird, wie der Hofmeister Stahlmann seinen Zögling lehrt, Zusammengehöriges und Nichtzusammengehöriges zu unterscheiden. Stahlmann trennt zu diesem Zweck die „Naturwelt" von der „Kunstwelt": „Erdboden, Baumstamm, Strauch" werden als Beispiele für erstere genannt; „Buch, Pflug, Peitsche, Tisch, Stuhl, Feder" dagegen stehen für die „Kunstwelt". „Die Kunst hat hier so eingegriffen, daß der Natur fast nichts übrig geblieben ist — denn selbst der Acker ist auch ein Werk der Kunst, oder des menschlichen Fleißes, weil die Natur von selbst keinen Acker hervorbringt, und so auch der Teich, welcher von Menschenhänden gegraben wird. Die ganze Bekleidung des Knaben, des schreibenden Mannes, des Bauers und des Fischers muß zur Kunstwelt gerechnet werden, so auch die Riemen und das Sattelzeug der Pferde." 32 Moritz schätzte nicht nur Smith' Theorie; er war auch von sehnsüchtiger Bewunderung erfüllt für das Land, aus dem diese Theorie kam. 1782 reiste er, von Berliner und Hamburger Kaufleuten an Handelspartner empfohlen, nach England. Vom 31. Mai bis zum 20. Juni hielt er sich in London auf, bis zum 12. Juli durchwanderte er das Land. Die Reisen eines Deutschen in Tingland im Jahre 1782. In Briefen an den Herrn Oberkonsistorialrath Gedike — den Mitherausgeber der Berlinischen Monatsschrift — erschienen 1783 und beginnen mit dem Satz: „Endlich, liebster Gedike, befinde ich mich zwischen den glücklichen Ufern des Landes, das zu sehen, schon Jahre lang mein sehnlichster Wunsch war . . ," ;i:! Moritz bewundert die politische Verfassung Englands, die die Menschen dieses Landes prägt, ihr gesellschaftliches Zusammenleben, ihre körperliche wie geistig-seelische „Bildung". Allein das Erlebnis der Parlamentsdebatten habe ihn für die Reise „hinlänglich belohnt" 34 . „Ich bin nachher fast alle Tage im Parlament gewesen, und ziehe diese Unterhaltung, die ich dort finde, den meisten andern Vergnügungen vor." 35 Eine Parlamentswahl unter freiem Himmel, inmitten einer Volksmenge, wird zum überwältigenden Zeichen der Freiheit und erweckt „alle Bilder von Rom, Koriolan, Julius Cäsar, und Antonius": „O lieber Freund, wenn man hier siehet, wie der geringste Karrenschieber an dem, was vorgeht, seine Theilnehmung bezeigt, wie die kleinsten Kinder schon in den Geist des Volks mit einstimmen, kurz, wie ein jeder sein Gefühl zu erkennen giebt, daß er auch ein Mensch und Engländer sey, so gut wie sein König und Minister, dabei wird einem doch ganz anders zu muthe, als wenn wir bei uns 87

in Berlin die Soldaten exerciren sehen." 36 Ganz England erscheint Moritz als Gegenbild der ständisch parzellierten und absolutistisch beherrschten deutschen Gesellschaft. Die Städte haben „weder Mauren noch Thore, noch sonst etwas dergleichen. Keinen lauernden Visitator, keine drohende Schildwache wird man gewahr, sondern frei und ungehindert geht man durch Flecken und Städte, wie durch die große offne Natur." 37 Sinnbild einer natürlich-freien Gesellschaftsordnung sind für Moritz selbst „die schönen grünen Hecken, welche die Landstraßen in England einzäunen" 38. Sie assoziieren keinen Gedanken an die Einhegungen, an die brutale Durchsetzung kapitalistischen Wirtschaftens auf dem Lande. Zu sehr nämlich sticht die „Nettigkeit in der Bauart der Häuser" von „unseren Bauerhütten" 39 ab; und überall erblickt Moritz Bauern, die „in gutes, feines Tuch, auf eine geschmackvolle Art gekleidet" 40 sind. Moritz bezweifelt Smith' These von der Übereinstimmung kapitalistischen Profitstrebens mit dem Interesse der gesamten Nation so wenig, wie er in England wirkliche Not zu entdecken vermag. Und was dem englischen Ökonomen die „unsichtbare Hand zur Beförderung eines Endzweckes" ist, den sich der einzelne Unternehmer „nicht vorgesetzt hatte" 41 , ist für den pantheistisch philosophierenden Deutschen die in einer „freien" Gesellschaft gleichsam ungehindert waltende „Natur", die zwar Unterschiede hervorbringt, aber all ihren „selbsttätigen" Geschöpfen ein angemessenes Lebensrecht verbürgt. — „Es macht mir ein wahres Vergnügen, so oft ich von Charingkroß, den Strand hinauf, und so weiter, vor der Paulskirche vorbei, nach der Königlichen Börse gehe, wenn mir vom höchsten bis zum niedrigsten Stande fast lauter wohlgestaltete, reinlich gekleidete Leute im dicksten Gedränge begegnen, wo ich keinen Karrenschieber ohne weiße Wäsche sehe, und kaum einen Bettler erblicke, der unter seinen zerlumpten Kleidern nicht wenigstens ein reinliches Hemd trüge." 42 Vor allem „lauter blühende, schlanke, rüstige Knaben" 43 mögen Moritz als Gegenbild der eigenen Kindheit erschienen sein, die ihn zu dieser Zeit als Gegenstand seines ersten Romans beschäftigte: 1783 erscheint in der Berlinischen Monatsschrift das "Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte. „O ihr blühenden jugendlichen Wangen, ihr grünen Wiesen, und ihr Ströme in diesem glücklichen Land, wie habt ihr mich verzaubert! Allein dieß soll mich nicht abhalten, auf jene dürren, mit Sand bestäubten Fluren wieder zurückzukehren, wo mein Schicksal mir den Fleck meiner Thätigkeit angewiesen hat." 44 Mit diesen Worten verabschiedet sich Moritz von England. 88

Der Englandaufenthalt hat insbesondere Moritz' Überzeugung gefestigt, daß Ferguson und Smith die Arbeitsteilung zu Recht als Voraussetzung menschlicher Produktivität ansahen. Im Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik heißt es: „Diejenigen, welche z. B. einmal zum Herumreichen der Materialien bei Errichtung eines Gebäudes bestimmt sind, müssen immer Materialien zureichen, und dürfen sich nicht einfallen lassen, ihrer thätigen Kraft eine Richtung auf etwas anderes zu geben, weil sonst die ganze Sache in Unordnung geraten würde — die jedesmaligen Zuträger der Materialien müssen also, so lange, bis das Gebäude fertig ist, auf jeden andern freiwilligen Gebrauch ihrer thätigen Kräfte Verzicht thun." 45 Anerkennt Moritz die Arbeitsteilung für den jeweiligen Produktionsprozeß, so beurteilt er sie ganz anders, wenn sie sich ihm — wie in der feudalständischen Ordnung — als Prinzip des gesellschaftlichen Lebens überhaupt darstellt. In Andreas Hartknopf. Eine Allegorie wird den in jener Ordnung Herrschenden vorgehalten: „Weh euch dann, die ihr den Menschen ihren einzelnen ächten Werth raubet, um Lücken mit ihnen auszustopfen; wenn ihr es nöthig fandet, Moräste mit ihnen auszudämmen, damit dem stampfenden Roß ein Weg zum Feinde gebahnet sey — die ihr um einer Chimäre, um eines allgemeinen abstrakten Begriffs willen, den ihr S t a a t s k ö r p e r nennt, den Menschen nicht mehr um sein selbst, sondern bloß um dieser Chimäre, um dieses abstrakten Begriffs willen, wollt existieren lassen! Also damit es einen Staat gebe, müssen so viele tausende auf alle Ansprüche Verzicht thun, wozu sie ihre angestammte Menschenwürde berechtiget? — Sie müssen sich für bloß n u t z b a r e Wesen halten, wie das Korn, das gemähet, und der Baum, der gefällt wird, damit der eine dem Menschen Wärme und Obdach, und das andre ihm Nahrung gebe. — Tausende müssen sich von Jugend an gewöhnen, zu denken, daß sie nur um andrer willen, keiner aber um ihretwillen da ist, und daß sie keinen für sich bestehenden Werth haben." 46 Moritz fragt sich: „Wie ist es möglich, daß der einzelne Mensch seine freie Selbstthätigkeit so aufgiebt?" 47 , und antwortet: Dem Menschen werde ein Zweck „untergeschoben", der ihn dahin bringt, auf seine „Denkkraft" zu verzichten. — „Der Zweck, der seiner Denkkraft listiger Weise untergeschoben wird, ist, als müsse er dieß thun, weil er sonst seine körperlichen Bedürfnisse nicht würde befriedigen, seinen Hunger nicht stillen, seinen Körper nicht bedecken können"; denn der „listigere und verschlagenere Theil der Menschheit" habe 89

dem „ehrlichen und gutmüthigern" seine notwendigen Bedürfnisse entrissen.158 Das erscheint — zumal es plebejische Interessen anklingen läßt — wie Kapitalismuskritik, ist in der Tat jedoch liberalistisch inspirierte Kritik der außerökonomischen Zwänge des Feudalsystems und seiner Staatsmacht. Eine republikanische oder konstitutionelle Verfassung ist für Moritz der geeignete Zustand, trotz notwendiger Arbeitsteilung und Abhängigkeit im Produktionsprozeß „freie Selbsttätigkeit" zu garantieren. Solche Verfassung, so meint er, gebe allen Menschen den Repräsentanten ihres Willens, „durch dessen Gedanken sie ihren Arm nach einer gewissen Richtung ausstrecken, und ihre Füße nach einer gewissen Richtung emporheben lassen". Sollte aber der Wille zunächst nur derjenige eines einzelnen sein — so verallgemeinert Moritz das Erlebnis der Londoner Parlamentsdebatten —, so ist dieser genötigt, die anderen vom Allgemeininteresse seines Zwecks zu überzeugen. „Hier findet also nichts Gewaltsames, keine Beraubung der natürlichen Freiheit, kein Zerreißen der Verbindung zwischen Gedanken und Bewegung statt — niemand ist hier ganz Maschine."''9 „In der Republik müssen von dem denkenden Theile, der sich die Erreichung großer Endzwecke vorsetzt, erst Reden an das Volk, oder dessen Repräsentanten gehalten werden, um diesen Endzweck in die Köpfe der Mitglieder des Staates zu verpflanzen, ehe diese sich willig finden lassen, durch Vereinigung und Unterordnung ihrer Körper- und Geisteskräfte dieselben befördern zu helfen. . . . In einem Monarchischen Staat ist es nicht nöthig, daß Reden an das Volk oder dessen Repräsentanten gehalten werden, um die Endzwecke desjenigen, der sich für alle Übrigen zu denken unterfängt, erst in die Köpfe derselben zu verpflanzen." 50 Wenn Moritz gegen den „Nutzen" polemisiert, dann stets gegen dieses Be-Nutzen des seiner „Natur" nach „selbsttätigen" Individuums; in der „herrschenden Idee des Nützlichen" 51 sieht er gleichsam eine geistige Infektion der Gesellschaft durch die Herrschenden. Die politische Alternative konnte für Moritz indessen nur Ideal, nicht Programm sein. Er teilte die tiefe Ernüchterung über die Möglichkeit gesellschaftsverändernden Handelns nach dem Scheitern physiokratischer Reformversuche — ja, in seinem Andreas Hartknopf erscheinen sogar zwei philanthropische „Weltreformatoren" geradezu als Handlanger der Herrschenden und boshafte Denunzianten jener, die das einzig Angemessene tun: durch stille Taten dazu beizutragen, „daß die Unglücklichen nach ihrer Art ein wenig glücklicher werden, 90

durch Gesundheit, Zufriedenheit und Arbeit" 52 . „O ihr Menschenfreunde, die ihr den Willen und die Kraft habt, außer euch zu wirken, stellt euch doch . . . wie der gute Pestalozzi in der Schweiz, unten an, wenn ihr wirken wollt — das sinkende Gebäude braucht Stützen, nicht Statuen." 53 1785 unternimmt Moritz in der Berlinischen Monatsschrift den Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sieb selbst Vollendeten. Das nicht zu praktizierende Gesellschafts- und Menschenideal soll sein hoffnungsbewahrendes Symbol in der Kunst erhalten. Was jenes Ideal postuliert, erscheint sinnlich in der Kunst: sie existiert „um ihrer selbst willen" und als „harmonisches Ganzes"5'«, Moritz weist jeden außerhalb des Kunstwerks liegenden Zweck zurück, fordert dagegen dessen „höchste innere Zweckmäßigkeit oder Vollkommenheit" 55 . Der von partiellen Interessen und Zufälligkeiten abhängige Beifall des Publikums könne demgegenüber nicht der primäre Gesichtspunkt des Künstlers sein, „so wie der wahre Weise die höchste, mit dem Lauf der Dinge harmonische Zweckmäßigkeit in alle seine Bemühungen zu bringen sucht und die reinste Glückseligkeit oder den fortdauernden Zustand angenehmer Empfindungen als eine sichere Folge davon, aber nicht als das Ziel derselben betrachtet" 5. Die Forderung nach „mehr Gerechtigkeit" ist also im Grunde nichts anderes als die Forderung nach Anerkennung der im dichterischen Werk enthaltenen Arbeitsmenge, nach Anerkennung seines ökonomischen Werts. Schiller, der seit dem Entschluß zum „freien" Schriftstellerberuf im Jahre 1784 mit Aufmerksamkeit seine materiellen Existenzbedingungen reflektierte, sprach 1788 davon, daß dieser Beruf „ökonomische Schriftstellerei" verlange, „denn es giebt auch einen ö k o n o m i s c h e n Ruhm" 7 5 . Nüchtern hatte Schiller das Verhält-, nis von Arbeitsaufwand und entgoltenem Wert durchgerechnet: „Mit der Hälfte des Werths, den ich einer historischen Arbeit zu geben weiß, erreiche ich mehr Anerkennung in der sogenannten gelehrten und in der bürgerlichen Welt, als mit dem größten Aufwand meines Geistes für die Frivolität einer Tragödie. Glaube nicht, daß dieses mein Ernst nicht sei, noch weniger, daß ich Dir hier einen f r e m d e n Gedanken verkaufe. . . . Für meinen Carlos — das Werk dreijähriger Anstrengung bin ich mit Unlust belohnt worden. Meine niederländische Geschichte, das Werk von fünf, höchstens sechs Monaten, wird mich vielleicht zum angesehenen Manne machen." 7 6 Generell, so stellte es sich für Schiller dar, war dichterische Produktion unrentabel, also keine Existenzgrundlage: „Erstens. Ich muß von S c h r i f t s t e l l e r e i l e b e n , also auf das sehen, was e i n t r ä g t . Zweitens. Poetische Arbeiten sind nur meiner L a u n e möglich, forcire ich diese, so mißrathen sie. . . L a u n e aber geht nicht gleichförmig mit der Z e i t — aber meine Bedürfnisse. . . Drittens. . . Was ich von mir gebe, steht nicht in Proportion mit dem, was ich empfange. Ich bin in Gefahr mich auf diesem Wege auszuschreiben. Viertens. E s fehlt mir an Z e i t , Lernen und Schreiben gehörig zu verbinden. Ich muß also darauf sehen, daß auch L e r n e n als Lernen mir rentire! Fünftens. . . Zu einem Schauspiel brauche ich kein Buch, aber meine ganze Seele und alle meine Zeit. Zu einer historischen Arbeit tragen mir Bücher die Hälfte bei. . . am Ende eines historischen Buchs habe ich Ideen erweitert, neue empfangen; am Ende eines verfertigten Schauspiels vielmehr verloren. Sechstens. Bei einem großen Kopf ist jeder Gegenstand der Größe fähig. . . Siebentens. Weil aber die Welt das N ü t z l i c h e zur höchsten Instanz macht, so wähle ich einen Gegenstand, den die Welt auch für nützlich hält. Meiner 100

Kraft ist es eins, oder soll es eins sein — also entscheidet der Gewinn. Achtens. Ist es wahr oder falsch, daß ich darauf denken muß, wovon ich l e b e n soll, wenn mein dichterischer Frühling verblüht?" 77 Für Schiller spielte zu dieser Zeit die Überlegung eine Rolle, ob das allgemein anerkannte „Nützliche" über seine schriftstellerische Rentabilität hinaus nicht auch tatsächlich das gesellschaftlich Wichtige sei. Die Formulierung von der „Frivolität einer Tragödie" war nicht bloße Koketterie. — Sei vielleicht das speziell „ U n t e r r i c h t e n d e . . . von weit höherem Rang, als das bloß Schöne oder Unterhaltende? So urtheilt der Pöbel — und so urtheilen die Weisen. . . Wenn es Nothdurft ist, die Geschichte zu lernen, so hat derjenige nicht für den Undank gearbeitet, der sie aus einer trockenen Wissenschaft in eine reizende verwandelt . . ." 78 Indessen machten zwei Momente diese Versöhnung mit den gegebenen Marktverhältnissen bald hinfällig. Zum einen war die Frage, ob „unterrichtende" oder „schöne" Literatur in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung „von weit höherem Rang" sei, mit der Konstituierung des Programms ästhetischer Erziehung eindeutig zugunsten letzterer entschieden worden. Zum anderen zeigte sich, daß keineswegs eine bedeutsame und „reizende" Literatur des „Unterrichtens" am rentabelsten war, sondern eine Unterhaltungsliteratur, deren geringer ideeller Gehalt und zweifelhafter ästhetischer Wert es Schiller bereits 1789 unmöglich erscheinen ließ, die marktorientierte und auch recht einträgliche „ Schmiererei" 79 an seinem Fortsetzungsroman Der Geisterseher weiterzuführen. Mit der Entscheidung für eine weltanschaulich-ästhetisch anspruchsvolle Poesie, die er als wichtigstes Medium gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung ansah, nahm Schiller bewußt den Widerspruch seiner Arbeit zu Markterfordernissen, zur „Nützlichkeit" für den eigenen Lebensunterhalt wie für die Verwertung des Verlegerkapitals in Kauf. Dabei verkannte er freilich weder die Tatsache, daß jene Poesie — sollte sie ein breiteres Publikum erreichen — auf den Markt als Institution öffentlicher Vermittlung angewiesen war, noch verzichtete er darauf, den Arbeitsaufwand dichterischer Produktion als ökonomischen Wert geltend zu machen. Schillers Schriftstellerlaufbahn stellt sich nicht zuletzt dar als ein mit unterschiedlichen Methoden stets wieder aufgenommenes Ringen um Anerkennung beim Publikum und damit „ökonomischen Ruhm" bei den Verlegern. 101

Als die rasche Kapitalisierung des Buchmarkts in den achtziger Jahren dazu führte, daß die „allgemein gebildeten" deutschen Smithianer den Unterschied zwischen dem bewußtseinsbildenden und dem ökonomischen Wert geistig-künstlerischer Produktion begriffen, kündigten sich zugleich in den wirtschaftlich entscheidenden Bereichen der Gesellschaft Fortschritte an, die den Smithianismus auch in Deutschland zur Fachwissenschaft werden ließen. — 1787 konnte die Berlinische Monatsschrift über zwei Erfolge im Kampf gegen absolutistische Wirtschaftsreglementierung berichten: Ueber den freien Getreidebandel in den preußischen Staaten und Ueber den freien Gold- und Silberbandel. Der als Fachtheorie kapitalistischen Wirtschaftens in Hannover — dem durch einen gemeinsamen Herrscher mit England verbundenen deutschen Staat aufkommende Smithianismus fand eine weitere und kräftigere Basis in Preußen, bei jener Gruppe der bürgerlichen Unternehmer und des Gutsadels, die praktisch am ökonomischen Liberalismus interessiert war. 1791 begannen die Universitätsprofessoren Georg Sartorius im hannoverschen Göttingen und Christian Jakob Kraus im ostpreußischen Königsberg, Vorlesungen über Smith' Wealth of Nations zu halten. 1796 erschien in Berlin das erste deutsche Kompendium des Smithianismus, Sartorius' Handbuch der Staatswirtbschaft %um Gebrauche bey akademischen Vorlesungen, nach Adam Smith' Grundsätzen ausgearbeitet. Zu dem einst so umstrittenen Problem produktiver Arbeit hieß es hier kurz und bündig: „Hervorbringende Arbeit nennt man diejenige, welche dem Gegenstande, auf welchen sie gewandt wird, einen Werth zusetzt, und dessen vergrößerter Werth nun daran haftet; unproduktive oder nichts hervorbringende Arbeit wird das Gegentheil genannt. Als Beyspiele können die Arbeiten eines Manufakturarbeiters und eines Lakaien dienen. Die Arbeit des ersten hat den Werth der Waare, auf welche sie gewandt ward, erhöht, um so viel als die Arbeit betrug, dieser Werth bleibt in ihr, der Preis derselben Waare ist gestiegen, und durch denselben kann immerhin wieder eine gleich große Quantität Arbeit in den Gang gebracht, oder gekauft werden. Bey der Beschäftigung des Lakaien ist dies aber keineswegs der Fall. Zu dieser unproduktiven Klasse gehören nun alle Bediente der Privatpersonen oder der Regierung, alle Militairpersonen, alle Gelehrte, in so fern sie keine literarische Handelsprodukte liefern, alle Geistliche, Schauspieler, Tänzer, Gaukler u. s. w." 8 0 102

Die Etablierung des Smithianismus als Fachwissenschaft bestätigte den „allgemein gebildeten" Ideologen des deutschen Bürgertums nicht nur jene Einsichten, die sie in den ökonomischen Status ihrer Arbeit gewonnen hatten; sie bestätigte im speziellen auch jene wesentlich durch die frühe Smith-Rezeption geprägte Auffassung der Kunst als wichtigsten Mittels gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung. Denn insofern die politisch-oppositionellen Konsequenzen der nun klar formulierten Theorie des ökonomischen Liberalismus nicht öffentlich wirksam gemacht werden konnten, lieferte auch die Etablierung des Smithianismus als Fachwissenschaft eine Bestätigung der partikularen Rolle aller „unterrichtenden" Literatur im Verhältnis zu der in der „Kunstidee" konzipierten übergreifenden Bedeutung „schöner" Literatur.

Gerda Heinrich

Autonomie der Kunst und frühromantisches Literaturprogramm Friedrieb Schlegels frühe gescbicbtspbilosopbiscb-ästhetiscbe Konzeption Programmatisch schrieb Friedrich Schlegel 1791 an den Bruder August Wilhelm: „Der Zweck der Kunst ist, die Schönheit des Lebens hervorzubringen." 1 Und im 1797 erschienenen Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie hieß es: „Die Schönheit ist ein ebenso ursprünglicher und wesentlicher Bestandteil der menschlichen Bestimmung als die Sittlichkeit. Alle diese Bestandteile sollen unter sich im Verhältnis der Gesetzesgleichheit (Isonomie) stehen, und die schöne Kunst hat ein unveräußerliches Recht auf gesetzliche Selbständigkeit (Autonomie)." 2 Dieser der Kunst emphatisch zudiktierte Zweck und die damit verknüpfte Autonomie der Kunst verweisen auf die g e s e l l s c h a f t l i c h e Intention eines ästhetischen Programms, dessen weltanschauliche Grenzen zwar mit seinem utopischen und anthropologischgeschichtsphilosophischen Charakter bezeichnet sind, das sich aber einer Deutung als „funktionslos", „resignativ" oder "affirmativ" und „apologetisch" widersetzt. 3 In der internationalen literaturwissenschaftlichen Debatte ist das Konzept „autonomer" Kunst seit den sechziger und siebziger Jahren von den verschiedensten ideologischen Standorten her kritisch thematisiert und mit den Attributen der Weltfremdheit und Praxisferne belegt worden: „Die mit Anspruch auf allgemeine Geltung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auftretende Bestimmung der Kunst als einer ,autonomen' mißt ihr einen gesellschaftlichen Status zu, der in der Negation von gesellschaftlichem Status selbst besteht. Als funktionslos oder funktionsneutral soll Kunst nur auf die Subjektivität ihres Produzenten sich beziehen, der als Genie zum ,Außenseiter der Gesellschaft' wird. Kunst ist somit die Absage an überhaupt Außerkünstlerisches und geschieden von jeglicher NichtKunst, d. h. abgesondert vom Allgemeinen und Gesellschaftlichen." 4 104

Divergierende a k t u e l l e weltanschauliche Interessen haben das Verständnis der geschichtlichen Erscheinungsformen der Kunstautonomieidee belastet und drohen ihre jeweilige historische Funktion zu verdecken. Zunächst war die Idee der Kunstautonomie von einer Variante „linker" bürgerlicher Literaturwissenschaft transportiert worden, die auf die subjektivierte Geschichtsdialektik der „Kritischen Theorie" speziell Adornos und Marcuses zurückgriff. Sie setzte in Abwehr gegen die „Umklammerung durch eine monopolkapitalistische sogenannte ,Kulturindustrie'" und die Vergesellschaftung der literarischen Produktion im Bereich der Massenmedien mit ihrer manipulatorischen Wirkung 5 auf das „kritische Potential" der Literatur und Literaturwissenschaft, die ihre emanzipatorische Aufgabe jedoch nur durch „rücksichtslose Autonomie der Werke, die der Anpassung an den Markt und dem Verschleiß sich entzieht" 6 , wahrzunehmen vermag. In mechanischer Trennung von Subjekt und Objekt stand Kunst hier als Antithese einer gegebenen „schlechten" Wirklichkeit gegenüber, die nur in ihrer starren Zuständlichkeit, nicht aber in ihrer Prozeßhaftigkeit und den ihr inhärenten objektiven Triebkräften und dynamischen Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung wahrgenommen wurde. Literatur und Literaturwissenschaft wurden o

geschichtsphilosophisch überfrachtet und als antizipatorisches Modell „herrschaftsfreier Kommunikation", als Gleichnis und verwirklichende Macht idealer gesellschaftlicher Beziehungen konzipiert. „Nur als freies Gegenüber kann Literatur eine Dimension der Kritik und der Erfahrungserweiterung sein, in der die Praxis sich erkennen, spiegeln und korrigieren kann." 7 Diese „kritische" Literaturwissenschaft suchte sich an historischen Gegenständen zu legitimieren, deren geschichtliche Spezifik durch die weltanschauliche Aktualisierung verstellt wurde. Das betraf besonders die deutsche Frühromantik. 8 Die „kritische" Literaturwissenschaft wiederum verfiel unter weltanschaulichen und methodologischen Aspekten der Kritik seitens einer materialistisch orientierten Richtung „linker" Literaturgeschichtsschreibung, die die Verwechslung von geistigkünstlerischer mit gesellschaftlicher Praxis und deren soziologische und philosophische Wurzeln bloßlegte. Ihre Verfechter, inspiriert von politischen Oppositionsbewegungen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, bemühten sich um eine methodische Neubesinnung ihres Fachs, die durch ein verändertes 105

Funktionsverständnis der Literaturwissenschaft als einer Gesellschaftswissenschaft mit praktisch emanzipatorischen Zielen veranlaßt war. Sie grenzten sich polemisch gegen eine autoritäre, verselbständigte Tradition bürgerlicher Literaturwissenschaft ab, vor allem gegen stilgeschichtliche, geistesgeschichtliche und werkimmanente Verfahren bei der Interpretation literarischer Phänomene, für deren Wertungskanon sie das Kunstautonomiepostulat, wie es sich Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete, verantwortlich machten. Wohl stießen Gegner wie Protagonisten der Kunstautonomie auch zu Ansätzen ihrer historischen Erschließung vor, die aber nur in wenigen Fällen gelang. 9 * Denn als Bezugspunkt wurde ein Autonomiebegriff unterstellt, der Kunst als strikt abgehoben von gesellschaftlicher Realität entweder ideologisch diffamierte oder feierlich hypostasierte, der mithin allenfalls Aspekte bürgerlicher Kunstentwicklung seit dem l'art pour l'art treffen mochte. Dieser nicht historisierte Autonomiebegriff warf seine Schatten auf die geschichtlichen Ursprünge der Kunstautonomie. Die geschichtsphilosophische wie die ideologiekritische Anstrengung blieb im Horizont einer spätbürgerlichen Autonomieauffassung befangen. Zahlreiche Untersuchungen haben zu wesentlichen Erkenntnissen über die Entstehungsbedingungen des Kunstautonomiegedankens beigetragen. Man sieht sie allgemein in einer bestimmten historischen Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (in der Verdrängung des „halbkünstlerischen" Handwerks durch die Manufaktur 10 und der damit besiegelten Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit in der materiellen Produktion), im Übergang von Geld in Kapital und in der Dominanz der Tauschwertbeziehungen, die den Individuen als Warenbesitzern bei Verhältnissen sachlicher Abhängigkeit den Schein persönlicher Unabhängigkeit vermitteln. 11 * Was jedoch die historische Leistung der Kunstautonomie betrifft, so wird sie vor allem als Reaktion auf eine historisch wenig präzisierte, mit der Herausbildung der „bürgerlichen Gesellschaft" einhergehende „Entfremdung" betrachtet und damit aus der Optik gegenwärtiger gesellschaftskritischer Auseinandersetzung mit monopolkapitalistischen Verhältnissen nur in ihrer antikapitalistischen oder antibürgerlichen Funktion wahrgenommen. In der marxistischen Analyse dieses Problemfeldes wurden vorwiegend der sozialökonomische Kontext der gegenwärtigen Kunstautonomiedebatte und ihre methodo106

logische Bedeutung für die Literaturgeschichtsschreibung aufgearbeitet. 12 Wertvolle Ansätze zur historisch materialistischen Bestimmung der gesellschaftlichen Ursachen von Kunstautonomie als Ergebnis der Entwicklung des literarischen Marktes und der Kapitalisierung der Literaturverhältnisse finden sich in Martin Fontius' Studie zur Ästhetik Karl Philipp Moritz'. 1:1 Aber auch die marxistischen Autoren haben in bezug auf die Funktion des Kunstautonomiepostulats vor allem dessen antikapitalistische Komponente im Blick. 14 Demgegenüber trachtet diese Untersuchung, anknüpfend an ein von der marxistischen Literaturwissenschaft angeregtes methodisches Prinzip, den „Gesichtspunkt der sozialen Funktion in seinem geschichtlichen Wandel" 13 geltend zu machen. Wenn man wie bislang kurzschlüssig von den geschichtlichen Grundlagen der Kunstautonomie auf ihre Funktion folgert und deren Phasenwandel in der Frühromantik unberücksichtigt läßt, kann man weder die dialektische Einheit der konzeptiven bürgerlichen Ideologien von etwa 1791 bis 1796 erfassen, die auf dem überwiegend a n t i f e u d a l e n Gehalt der Kunstautonomieidee gründet, noch kann man die Spezifik der einzelnen Positionen und die Herausdifferenzierung des genuin frühromantischen Konzepts der Kunstautonomie mit seinen vorherrschend k a p i t a l i s m u s k r i t i s c h e n Zügen erschließen. Der Nachweis, daß in dieser ersten Etappe die Anhänger der Kunstautonomieidee auf ein gemeinsames Programm gesellschaftlicher Reform eingeschworen sind, soll Klassik und Romantik aus ihrer traditionell antinomischen Betrachtungsweise herausführen helfen. 10 * Er soll ferner die These von der Unverbindlichkeit „autonomer" Kunst widerlegen und einem reduzierten Verständnis der darauf basierenden ästhetischen Entwürfe vorbeugen, das eine unhistorische Sicht auf die Kunstperiode insgesamt vorbereitet.

1. Friedrich Schlegels Art, „Zweck" und „Autonomie" der Kunst zu verklammern, ist zunächst nichts spezifisch Romantisches. Sie enthüllt sich als Bindung der Kunst an das Konzept ästhetischer Erziehung als geschichtsphilosophisch-ästhetische Modifikation eines realistischen gesellschaftlichen Reformprogramms. Perio107

dentypisch reflektiert auch Schlegels Plan ästhetischer Erziehung die nichtrevolutionäre deutsche Situation und artikuliert das Bestreben, durch Kunst — als gegenüber den staatlich bevormundeten Ideologiebereichen „autonomes" Medium gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung — die bürgerliche Umwälzung einzuleiten. Und nicht anders als etwa bei Wilhelm von Humboldt steht auch bei Schlegel die Dominanz der Kunstidee keineswegs von vornherein fest. So interessieren ihn neben Kunst und griechischer Antike Geschichte, Philosophie und vor allem „Staatswissenschaft und Politik" 17 . Noch um die Mitte der neunziger Jahre ist offen, welchen Gegenstand er wählen wird, seine Vorstellungen über die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Zeitalters darin auszudrücken: „Aber ich weiß noch nicht, ob ich unter jenen Fächern (d. h. der antiken griechischen Literatur — G. H.) oder unter andern meine Gedanken ausführen werde." 18 Die Entscheidung für das „Fach" der Kunstphilosophie fällt nicht zuletzt unter dem Einfluß Körners, dem Schlegel in seiner Dresdner Zeit (1794—1796) nahestand. Körner diskutierte mit Schlegel insbesondere dessen AntikeStudien. Über Körners Einfluß dürfte kaum Zweifel bestehen, zumal er Schlegels Bekanntschaft mit Wilhelm von Humboldt, mit Schiller und mit bekannten Verlegern vermittelte. Neben Körner und Humboldt gaben ihm Kant, Fichte, Schiller und nicht zuletzt Forster geistige Orientierung. Außer Humboldts Ideen einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats ^u- bestimmen beeinflußten vor allem Schillers ästhetische Schriften der frühen neunziger Jahre und Fichtes Jenenser Vorlesungen von 1794/95 den weltanschaulichen Werdegang des jungen Friedrich Schlegel. Fichte hatte aus der nüchternen Erkenntnis, daß in Deutschland alle objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer politischen Revolution fehlten, mehrmals eindringlich darauf hingewiesen, „daß jede gewaltsame Revolution das Volk wenigstens in eine vorübergehende, und das deutsche Volk gewiß in eine langwierige Barbarei versenken würde" 19 . Er hatte den sozialen Fortschritt auf evolutionärem Wege durch wissenschaftlich gebildete und aufgeklärte einzelne, die sich in einem „glücklichen Mittelstand" zusammenfinden und allmählich den gesellschaftlichen Spielraum aller Unterdrückten vergrößern würden, sich vollziehen sehen. 20 Eine analoge Auffassung bestimmt auch die ästhetischen Schriften Schillers seit der Schaubühnenrede von 1784, in der noch die aufklärerische Überzeugung erscheint, daß die Schaubühne als 108

Instrument sittlicher Besserung auch die Regierenden beeinflußt und zu Reformen veranlaßt. Seit etwa 1790 bis um die Mitte der neunziger Jahre ist bei Schiller der Gedanke von der geschichtsmächtigen Rolle der Kunst mit einer nichtrevolutionären Konzeption gesellschaftlichen Fortschritts gekoppelt- 1 , die sich am Modell der Natur orientiert. 22 * Einer allmählichen und schrittweisen Form der Entwicklung wird von Schiller in den Kallias-Briefen direkt das Attribut der Schönheit und der Autonomie zugesprochen, während plötzliche und sprunghafte Veränderung auf Gewalt und damit auf Heteronomie deute 23 . Instrument und Garant des geschichtlichen Fortschritts ist die — der Reglementierung durch den feudalen Staat entzogene — Sphäre der Kunst in ihrer Eigenschaft als Mittler zwischen physischer Welt (der außermenschlichen und menschlichen Natur als dem zu bildenden Rohstoff) und moralischer Welt (der realexistierenden Gesellschaft mit allen ihren Mängeln). Ausgeprägt findet sich diese Vorstellung sozialer Evolution durch moralische Verbesserung der Individuen mittels der Kunst in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, von denen Friedrich Schlegel Anregungen empfing. Desillusioniert „über die Möglichkeiten wirksamer antifeudaler Aktivität" in Deutschland und motiviert durch die „Verabsolutierung deutscher Erfahrungen", die sein Verständnis der revolutionären Prozesse in Frankreich durch eine teilweise moralisierende Sicht behinderte, hatte Schiller seit 1790 zunehmend zu einem utopischkulturphilosophischen Geschichtsprogramm gefunden. 24 Die Bedingungen für die Ablösung des Naturstaats (des feudalen Staats) durch den Vernunftstaat verlegt er in die individuelle Sittlichkeit. Der Vernunftstaat werde sich in dem Grade verwirklichen, „als sich die Teile zur Idee des Ganzen hinaufgestimmt haben", als „ihre subjektive Menschheit . . . zur objektiven veredelt ist". 23 Das aber leiste ästhetische Erziehung, die den Dualismus der menschlichen Natur bezwingt, die innere Harmonie des Menschen herstellt und damit in den einzelnen die Voraussetzung schafft, diesen harmonischen Zustand zu einem allgemein gesellschaftlichen zu erheben. Die Kunst als eine Quelle zur „Veredlung der Denkungsart", „die von dem Staat nicht abgeleitet" ist und „sich also bei allen Mängeln desselben rein und lauter erhalten" kann 26 , erweist sich gerade kraft ihres „autonomen" Status als eine Möglichkeit, den fatalen deterministischen Zirkel in der Beziehung von Politik und Moral, von Zustand des Staats und Zu109

stand seiner Bürger zu durchbrechen. Dieser Entwurf ästhetischer Erziehung faßt die politisch nicht lösbaren objektiv realen Klassengegensätze anthropologisch: als Widerspruch zwischen der abhängigen sinnlichen und der freien, selbsttätigen geistigen Sphäre der menschlichen „Natur", was dann theoretisch auch ihre Aufhebung von dort her ermöglicht — auf dem Wege der Humanisierung des einzelnen, die letztlich eine grundlegende Umwälzung der Gesellschaft bewirkt. 27 Trotz dieses utopisch illusionären Moments hatte gerade Schiller „dem Zeitbedürfnis und dem Zeitgeschmack eine entscheidende Stimme" 28 bei der Wahl der zu untersuchenden Wahrheiten zugebilligt. Und er hatte der „Zeit" entsprochen, insofern das Programm ästhetischer Erziehung Ausdruck bürgerlichen Reformstrebens war und einen sachlich nüchternen Sinn für die tatsächlichen politischen Perspektiven des deutschen Bürgertums bekundete. Die realistische Seite dieses Programms erweist sich da, wo es mit den praxiskundigen Vorstellungen und Zielen derjenigen Pragmatiker zusammentraf, die mit Teilreformen zweckdienliche Schritte und Maßnahmen im Sinne einer bürgerlichen Umwälzung einzuleiten suchten. So hatte z. B. Christoph Goßler, preußischer Geheimer Oberrevisions- und Kammergerichtsrat und Mitglied der Gesetzgebungskommission, weltanschaulich-ideologischer Kommentator und Popularisator des Preußischen Gesetzbuches in Biesters Berlinischer Monatsschrift, bereits vor Schiller dafür gehalten, „daß auch im Fache der Gesetzgebung die Reformen den Revoluzionen, die vorsichtigen Verbesserungen den gewaltsamen Umwälzungen jederzeit vorgezogen werden müssen" 29 . Dem besonnenen Praktiker bürgerlicher Umgestaltung war wie den konzeptiven bürgerlichen Ideologen Schiller oder Humboldt klar, „daß die Grundsätze des Feudalsystems mit der gegenwärtigen Staatsverfassung durchaus unverträglich sind. Dies System wieder einzuführen, würde ebenso unmöglich sein, als Kinderkleider einem ausgewachsenen Körper gewaltsam anzupassen. Bei jeder Bewegung müßten sie zerreissen. Man kann nur einzelne Stücke davon gebrauchen, und man muß sie mit neuem Zeuge erweitern und verlängern; man muß ferner sie so zusammensetzen, daß der ausgedehnte Körper in seinen kraftvollen Bewegungen weder gehindert noch gedrücket werde." 30 Seine Vorstellung über den Weg dieser allmählichen gesellschaftlichen Veränderung drückt er in einem Bild aus, das später in Schillers Briefen Über die ästhetische HO

Erziehung des Menseben wiederkehrt: in der Staatsmaschine, deren viele, zum Teil feine Räder so leicht schadhaft werden, müsse eine gleichförmig wirkende Kraft das Schadhafte ausbessern, während das Kunstwerk des Staatsgefüges in heilsamer Bewegung bleibe. 34 Der politische Realismus des Reformkonzepts einte Vertreter einer gemäßigten Haltung wie etwa Humboldt oder Schiller und die enthusiastischen Parteigänger der Französischen Revolution wie Forster, Reichardt oder Fichte, soweit diese aus sachlicher Analyse der geschichtlichen Bedingungen in Deutschland die Übertragung revolutionärer Praxis ablehnten, mit den tätigen Sachwaltern bürgerlicher Interessen. Auch Friedrich Gentz würdigte diesen Aspekt der Schillerschen Ästhetik 1795 in der Deutschen Monatsschrift, wo er in einem Aufsatz Über den Einfluß der Entdeckung von Amerika auf den Wohlstand und die Kultur des menschlichen Geschlechts vor den schädlichen Folgen warnt, „die es hat, wenn man statt S c h r i t t e S p r ü n g e tun und die Reife übereilen will" 32 . Das Kunstautonomiepostulat — eingebettet in ein evolutionäres Gesellschaftsmodell, das den spezifischen Bedingungen bürgerlicher Emanzipation in Deutschland angemessen war — fiel dem Verdikt einer engagierten Literaturwissenschaft anheim, die in methodischer Hinsicht einen zwiefachen Fehler beging. Einmal verkürzte sie die gesellschaftliche Funktion von Literatur auf eine vordergründige politische Tendenz oder Aussage; zum anderen verfuhr sie unhistorisch, indem sie den reformerischen Weg von der Warte der politischen Revolution in Frankreich als gegenüber bestehenden Zuständen resignativ oder affirmativ verwarf. 33 Spuren dieser Interpretationsweise finden sich auch in der marxistischen Literaturwissenschaft dort, wo sie der klassischen Ästhetik mit dem Blick auf prorevolutionäre zeitgenössische Positionen die Intention auf politische Emanzipation bestreitet und die Etablierung der Kunstautonomie vereinfachend und ahistorisch als einen „in ihrer Gesamtheit . . . regressiven Vorgang" abtut. 34 Ein solches Urteil verkennt gerade den Wirklichkeitsbezug dieser widersprüchlichen, ästhetisch fundierten geschichtsphilosophischen Entwürfe. Ihre utopische Seite allerdings provozierte schon Fichtes energischen Einspruch. Ohne selbst eine andere Lösung bieten zu können als die Hoffnung auf kühne einzelne, die sich aus eigener Kraft aus den bedrückenden Umständen herausarbeiten würden, kritisierte er das Programm ästhetischer Erziehung mit dem deterministischen Argument, daß die Epochen und Län111

derstriche der Knechtschaft keinen Raum lassen für jene freie Muße, der die Beschäftigung mit Kunst bedarf: „In einem solchen Zeitalter hat der Unterdrückte zu thun, um unter dem Fuße des Unterdrückers sich lebendig zu erhalten, die nothwendige Luft zu schöpfen und nicht völlig zertreten zu werden, und der Unterdrücker, bei den mannichfachen Krümmungen und Wendungen des ersten im Gleichgewicht zu bleiben und nicht umgeworfen zu werden . . ." 35 Fichte* Sohn eines armen Leinewebers, wußte zu beurteilen, was für ein soziales Privileg solche Muße bedeutete. Namentlich Humboldt hatte in seinen Ideen von 1792 das reformerische Konzept vorgegeben und darin auch die theoretische Grundlage des Kunstautonomiepostulats gestiftet. Diese Schrift nimmt für Schiller, Fichte und den jungen Friedrich Schlegel eine Schlüsselstellung ein, bevor sich ihre weltanschaulichen Standpunkte differenzieren. Wie Fichte, der es vorwiegend politisch bestimmt, bezieht auch Humboldt das Autonomiepostulat nicht vorrangig oder gar ausschließlich auf die Kunst wie Schiller oder Schlegel. Das macht den antifeudalen und probürgerlichen Charakter dieses Postulats besonders deutlich. Die Autonomieidee dient Humboldt dazu, in Anlehnung an Smith eine bürgerlich liberale Staatsauffassung zu begründen, die den Staat auf den Endzweck verpflichtet, die Individualität seiner Bürger nicht nur zu achten, sondern deren eigentümliche Anlagen in all ihrer Mannigfaltigkeit auszubilden. Bei Humboldt wird sichtbar, welch konkret historischer Inhalt sich mit dem Ideal des ganzen Menschen verbindet, des total entwickelten Individuums, das dann von der Frühromantik gegen gesellschaftliche Erscheinungen des Kapitalismus aufgeboten wird. Dieses Ideal bezieht sich auf bestimmte Schichten des Bürgertums: diejenigen, die den Prozeß der materiellen Produktion aktiv gestalten und bestimmen, die kapitalistischen Unternehmer als Initiatoren des ökonomischen Fortschritts und der Produktivkraftentwicklung; daneben aber auch auf jene „kultivierten Bürgerlichen als Depositäre der im Staate zirkulierenden Kenntnisse und Ideen" 36 , die nach hohen Beamtenstellen in der feudalen Administration drängten. Sie traten mit einer umfassenden geistig-kulturellen Bildung in Konkurrenz zum Geburtsadel, wollten diesen in führenden sozialen Positionen ablösen, dadurch hierarchische Strukturen lockern und die Bedingungen für die Entfaltung ihrer Klasse organisieren. Im Lichte der allenthalben 112

geführten Diskussionen um die Vorrechte des Geburtsadels auf die ersten „Staatsbedienungen" und die ihm traditionell zugeschriebenen gesellschaftlichen Vorzüge erweist sich auch die politisch emanzipatorische Funktion dieses in Ästhetik und Geschichtsphilosophie angesiedelten Ideals.:i7* Indem Humboldt Energie und Tätigkeit zur höchsten menschlichen Tugend erklärt, die er an das Eigentum (nicht als bloßen passiven Besitz, sondern als aktiv angeeignetes) bindet, nimmt er eine klassische Formel bürgerlichen Selbstgefühls und Selbstverständnisses vorweg, die sich später ähnlich in Hegels Phänomenologie des Geistes findet: „Alle Kraft setzt Enthusiasmus voraus, und nur wenige Dinge nähren diesen sosehr, als den Gegenstand desselben als ein gegenwärtiges oder künftiges Eigentum anzusehen. Nun aber hält der Mensch das nie sosehr für sein, was er besitzt, als was er tut, und der Arbeiter, welcher einen Garten b e s t e l l t , ist vielleicht in einem wahreren Sinne E i g e n t ü m e r , als der müßige Schwelger, der ihn genießt." 38 * Humboldts Freiheits- und Autonomiepostulat mündet in ein theoretisches Modell der freien Konkurrenz: „Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst, und um seiner selbst willen sich entwickelte. Physische und moralische Natur würden diese Menschen schon noch aneinander führen", und dann würde „das Ringen der Kräfte dieser Menschen die höchste Energie zugleich beweisen und erzeugen". 39 Auch Friedrich Schlegels Autonomieidee ist einem geschichtsphilosophischen Plan zugeordnet, der von der Möglichkeit ausgeht, das öffentliche Bewußtsein über Poesie zu revolutionieren und dadurch in den gesellschaftlichen Prozeß einzugreifen. Die Geschichte der Menschheit ist ihm das Werk ihrer Selbsttätigkeit, und wie Schiller sieht er die Entwicklung von der sinnlichen zur selbsttätigen Natur des Menschen durch das Schöne vermittelt. 40 Wachsende Sittlichkeit der einzelnen gilt auch Schlegel als das Kriterium geschichtlichen Fortschritts. „Die Epochen einer wissenschaftlichen Geschichte der Menschheit", so hatte er Condorcets Annahme einer Gesetzmäßigkeit der Geschichte ergänzt, „müssen nicht nach glücklichen äußern Veranlassungen, und daraus erfolgten merkwürdigen äußern Revolutionen, sondern nach den notwendigen Stufen der innern Entwicklung eingeteilt werden" 41 . Diese wird als aktiver Vollzug der im Menschen angelegten Perfektibilität, als individuell-moralische Leistung gesehen. Organ 8

Kunstpenode

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dieses Fortschritts ist K u n s t , b e v o r z u g t P o e s i e ; denn sie bereitet „ d i e g r o s s e moralische R e v o l u z i o n " v o r , „ d u r c h welche die Freyheit in ihrem K a m p f e mit d e m Schicksal (in der B i l d u n g ) endlich ein entscheidendes U e b e r g e w i c h t über die N a t u r b e k o m m t " / l 2 . Wie bei Schiller v e r m a g Poesie das, weil ihre R e z e p t i o n wie P r o duktion weit ungehinderter e r f o l g e n kann als die anderer K ü n s t e : der G e s c h m a c k ist „ungleich freyer v o n äusserer G e w a l t und v o n verderblicher A n s t e c k u n g " als die sittliche B i l d u n g , und insbesondere Posie kann sich der Barbarei gotischer (d. h. feudaler) V e r f a s s u n g e n weit eher widersetzen als beispielsweise die Plastik, weil die Phantasie als ihr W e r k z e u g u n a b h ä n g i g sei v o n äußerer Einwirkung.4:1 In seinem Stuäium-Auhatz wird die „physische R e v o l u z i o n " v o n Schlegel der N a t u r und damit den blinden, spontanen u n d zerstörerischen K r ä f t e n z u g e s c h l a g e n , die den Fortschritt der menschlichen G a t t u n g über ihre allseitige B i l d u n g zu Freiheit und S e l b s t b e s t i m m u n g aufhalten oder unterbrechen, ja „alle K u l tur mit einem Streich vernichten" können'' , '' , . D i e s e A b l e h n u n g der „physischen R e v o l u t i o n " entspringt jedoch nicht wie bei H u m boldt, Förster oder auch Goethe' 1 "' besonnener historischer E i n sicht, sondern einem D e n k e n , das v o n der U t o p i e griechischer Schönheit lebt. Friedrich Schlegel setzt darüber hinaus physische R e v o l u t i o n nicht mit politischer U m w ä l z u n g g l e i c h / ' 6 Schiller war v o m v o r h a n d e n e n Z u s t a n d der politischen V e r f a s s u n g e n a u s g e g a n g e n und hatte die humanisierende M i s s i o n der K u n s t in der b e s t e h e n d e n gesellschaftlichen Wirklichkeit angesiedelt. K u n s t blieb dadurch verbindendes G l i e d im objektivven historischen Geschehen. Schlegels geschichtsphilosophischer A u s g a n g s p u n k t ist entgegengesetzt. E r f r a g t nach den g ü n s t i g s t e n B e d i n g u n g e n f ü r eine neue Glanzzeit der P o e s i e . D i e beispielhafte Blüte griechischer Poesie erkundend, stößt er auf die N o t wendigkeit politischer Freiheit als deren V o r a u s s e t z u n g . E r h e g t ein I d e a l menschlichen Z u s a m m e n l e b e n s , in d e m die K u n s t ihren erzieherischen E i n f l u ß entfalten k a n n : „ E r s t wenn die G e s e t z mäßigkeit der ästhetischen K r a f t durch eine objektive G r u n d l a g e und R i c h t u n g gesichert seyn wird, kann die ästhetische B i l d u n g durch F r e y h e i t d e r K u n s t und G e m e i n s c h a f t d e s Ges c h m a c k s d u r c h g ä n g i g durchgreifend und ö f f e n t l i c h w e r d e n . " Inzwischen solle m a n nicht säumen, der ästhetischen Mitteilung jeden erdenklichen R a u m zu schaffen, damit die K u n s t bereits

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an vielen einzelnen Punkten in Gestalt „echter Schönheit" F u ß fasse. W i e dieser ideale öffentliche Zustand erreicht werden soll, bleibt offen. Vage hofft Schlegel auf einen „glücklichen äussren A n s t o ß " , der eine der Kunst günstigere „neue politische F o r m " hervorbringe/* 7 Diese von Wunschbildern gesättigte idealische Unbestimmtheit hinsichtlich eines denkbaren politischen Wandels unterscheidet Schlegels von Schillers Kunstprogramm. Sie bleibt dennoch der gemeinsamen Idee einer „ästhetischen Revolution" und des dadurch ausgelösten moralischen Umbruchs unterstellt — einer Idee, die Poesie zum Schöpfer neuer gesellschaftlicher Organisations- und Kommunikationsformen proklamiert.

2. In Schlegels Kunstphilosophie war von vornherein eine „republikanische" Radikalität des Kunstautonomiepostulats angelegt, die die relative Nüchternheit bürgerlich-liberal intendierter K o n z e p t e der ästhetischen Erziehung überschritt. Sucht man nach materiellen Veranlassungen dafür, so sind sie darin zu finden, daß Schlegels Entscheidung für den Schriftstellerberuf auf die Dauer den ideellen Bruch mit den praktischen Möglichkeiten und Bedürfnissen der bürgerlichen Umwälzung einschloß. Mit dem verehrten Vorbild Forster teilte Schlegel das Streben nach einem nützlichen und tätigen Dasein. Und wie dieser und viele andere Zeit- und Standesgenossen, die in starre hierarchische Gesellschaftsstrukturen eingezwängt waren, erfuhr er schmerz^ lieh die Unmöglichkeit zu handeln. E r beneidete die „wahrhaft c o l o s s a l i s c h e n Menschen" der Antike, die sich ihm im Gegensatz zu seiner Zeit als eine „erleuchtete muth- und thatvolle W e l t " darstellte: „Das was bey uns oft der edelste Theil des Lebens ist, war bey ihnen Vorbereitung; nehmlich die Beschäftigung mit den besten Wissenschaften und Künsten, Leibesübungen und Reisen durch die schönsten Theile der Erde bis ins dreyssigste J a h r , da unterdessen die colossalischen Thaten eines Sulla vor ihren Augen geschahen. Erst alsdann fing ihr Leben an, da unseres oft schon aufhört." / l 8 Und eine Lebensstimmung, die der junge E . T . A . Hoffmann in die eindrucksvolle Formel von „Mißmuth und feuriger O h n m a c h t " / l 9 gebracht hatte, erschien bei Friedrich Schier 8«

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gel 1793 als „völlige Unzufriedenheit", als „Hoffnungslosigkeit" seiner Aussichten und als ein Gram, dem „verzehrenden Triebe nach Thätigkeit" r,ü nicht folgen zu können, der sich bis zu Ekel und Lebensüberdruß steigerte. Nach abgebrochener Kaufmannslehre hatte er, da er sich in den bornierten Lebenszuschnitt eines kleinlichen Krämerdaseins nicht zu fügen vermochte, ein Jurastudium begonnen. Die Rechtswissenschaft verhieß einerseits Möglichkeiten umfassenderer Wirksamkeit — zeigten sich hier doch in wie immer verkümmerten Reformen erste Ansätze einer Liberalisierung; andererseits wurde sie insgesamt genutzt, um feudalstaatliche Herrschaftsmethoden zu perfektionieren, so daß gerade sie für einen fragwürdigen Kompromiß von Theorie und Praxis stand. Das hatte Novalis zu der bissigen Bemerkung veranlaßt, daß man der Jurisprudenz selbst den Prozeß machen müsse. 5 1 Der junge Wackenroder zerbrach an der juristischen Praxis; E. T. A. Hoffmann floh diese Laufbahn. Friedrich Schlegel beobachtete in seinem Umkreis, wie eine „Civilbedienung" — eine Anstellung im feudalen Staatsapparat — den geistigen Schwung lähmt und die erträumte „herrliche Unabhängigkeit" des Lebens zerstört. Sehr bald erkannte er für sich „die offenbare Unmöglichkeit", sich „itzt in ein bürgerliches Joch zu schmiegen, um einem dürftigen Lohn meinen Geist, das bessere Theil meines Lebens unwiederbringlich hinzuopfern, ohne Ersatz, ja! ohne Linderung des harten Schicksals" 52 . Als Alternative zu feudaler Abhängigkeit — von privatem Mäzenatentum als Hofmeister oder vom Staat als Beamter — wählte er die Existenz eines freien Schriftstellers, die er schon durch seine Arbeiten zur griechischen Poesie sichern zu können glaubte. „ E s war zuerst die Neigung", so deutete er dem Bruder den speziellen Inhalt dieser Lebensentscheidung an, „welche mich antrieb, die Kunst da zu erforschen, wo sie einheimisch ist. Daß ich aber in dem Entwürfe meines Lebens mit der Kunst den Anfang mache, das ist so tief in meiner Natur und in meinen Absichten gegründet, daß vielleicht nur ich selbst den Grund davon einsehen kann . . . Sie selbst ist mir nothwendig . . ."53 In der Kunst glaubte Schlegel einen sozialen Freiraum zu finden, in dem Pläne künftiger freier gesellschaftlicher Verhältnisse entworfen werden können. Kunst hielt er für das geeignete Mittel, die individuell erfahrene Lebens- und Wirklichkeitsproblematik zu bewältigen: Speziell die Literatur schien ihm nicht nur die Di116

vergenz zwischen isoliertem Wirken und gesellschaftlichem Bewirken aufzuheben, sondern zugleich eine Existenz zu gewährleisten, in der sich persönliche Emanzipation von feudaler Unfreiheit mit geschichtlich folgenreichem Handeln produktiv verbindet. Literatur avanciert ihm zur Lebensform und zu jener Form von Praxis, die es ermöglicht, sich schreibend der Wirklichkeit zu bemächtigen. „Man kann", schrieb Friedrich Schlegel schon 1793, „die menschlichen Dinge nur recht fassen, wenn man frey ist, und gleichsam von aussen. Es springt in die Augen, daß unsre besten Köpfe durch ihre bürgerliche Bestimmung verstümmelt sind. Ich sehe die Abgründe, über die ich hinschreite; aber ich will hinüber." 54 Schlegel artikuliert sich zunächst als aus ständischen Bindungen freigesetzter Intellektueller, dabei jedoch nicht — wie Humboldt und andere — als Ideologe bürgerlich-kapitalistischer Umgestaltung. Die Spezifik seines Schriftstellerdaseins bestimmt ohne Zweifel die dominante Rolle, wie er sie der Kunst zumißt. In der Weltanschauung derjenigen, die wie Humboldt als zeitweiliger hoher Staatsbeamter oder Fichte als Teilhaber an einer Bandwebermanufaktur in die Praxis der Durchsetzung bürgerlicher Interessen integriert waren, konnte Kunst diesen Platz nicht einnehmen. Als Schriftsteller war Schlegel im „Akt des Produzierens" dem kapitalistischen Charakter der Produktion kaum unterworfen. 55 * Die von der fortschreitenden Arbeitsteilung verschont gebliebene Struktur seiner Arbeit mit ihren Analogien zur vorkapitalistischen kleinen Warenproduktion, etwa zum Handwerk, die hier ausbleibende Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln und die relative Unabhängigkeit von äußeren Bedingungen im unmittelbaren Arbeitsvorgang schufen eine praxisenthobene Situation, der ein objektiver Schein „autonomer" Existenz anhaftete. Zugleich entstand die Gefahr, der Mystifikation durch die eigene Arbeit zu erliegen und diese Art der Emanzipation unzulässig zu verallgemeinern — eine Gefahr, die sich in zunehmender Favorisierung der Kunst verdeutlicht. Schlegels Entscheidung für die Schriftstellerlaufbahn war darüber hinaus von euphorischer Gewißheit guter Verdienstaussichten getragen, was noch in den kühnen Kalkulationen um den finanziellen Ertrag des Atbenaeum zu spüren ist. Begriff er doch die Kapitalisierung der Literaturverhältnisse und die Konkurrenz der Schriftsteller auf dem Buchmarkt zunächst durchaus als Chance.56* Er sah, daß die Universalität anonymer Nachfrage 117

auf dem Buchmarkt gegenüber den festgelegten Anforderungen ständischer Auftraggeber eine Reihe neuer Möglichkeiten für Literatur eröffnete. Der Künstler, sobald er aus dem Status persönlicher Dienstleistung heraustrat, schien weit eher seinen eigenen Intentionen folgen zu können."»7 Die andere Seite der Produktion für den Buchmarkt — lohnarbeiterähnliche Abhängigkeit von „knackscheeligen, filzigen, unwissenden Buchhändlern" 58 — war davon vorerst überdcckt.

3. Die dann um 1800 durchschlagende Erfahrung, daß breite schriftstellerische Wirksamkeit nur um den Preis der Unterwerfung literarischer Arbeit unter den Verwertungsprozeß des Kapitals möglich sei, sollte Schlegels antikapitalistische Kulturkritik komplettieren. Sie war bereits beim frühen Schlegel in seinem Ideal des Republikanismus vorgegeben, dessen antiabsolutistische Radikalität den Keim der späteren antibourgeoisen barg. Traf doch der Vorwurf des Despotismus jede gesellschaftliche Organisationsform, in der das Privatinteresse das allgemeine unterwirft.™ Darum kann Schlegel später den Begriff des Despotismus auf die universelle Herrschaft des Geldes beziehen. Gegensatz dieses Despotismus — so entwickelt es Schlegel 1796 in seinem Aufsatz Versuch über den Begriff des Republikanismus, einer Entgegnung auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden — ist eine Idee des Republikanismus, die in ihrer Tendenz „eine absolute Gleichheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Staatsbürger"' 50 beinhaltet. Dieses „extensive und intensive Quantum der wirklich erreichten Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit" entscheidet nach Schlegel über den „politischen Wert eines republikanischen Staats"*'1. Da das Maximum dieser für möglich gehaltenen absoluten Gleichheit nur über einen geschichtlichen Prozeß unaufhörlicher Annäherung erreicht werden könne, begnügt er sich vorerst damit, den Willen der Mehrheit als Surrogat des allgemeinen Willens anzuerkennen. Das läßt seinen Republikanismus „notwendig demokratisch" sein. Von dieser Position aus begreift Schlegel nicht, wie Kant den Begriff der Volksmajestät und Volksmehrheit ungereimt finden kann, und weist Kants These, daß der Demokratismus notwendig despotisch sei, entschieden zurück/' 2

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Schlegels Republikanismusideal nährt sich vom Beispiel der ihrerseits verklärten kleinbürgerlichen Jakobinerdiktatur, deren widersprüchliche innen- und außenpolitische Praxis vor allem mit den aufrechterhaltenen Le Chapelierschen Gesetzen und dem zwiespältigen Taktieren mit den feudalen Mächten 63 * Schlegel nicht wahrnimmt. Diese Diktatur verwirklicht für ihn die citoyenUtopie. Ihr wird ein Musterbild politischer Öffentlichkeit indiziert, das sich auf unbeschränkte s o z i a l e Gleichheit gründet und das konträr gegen j e d e „bürgerliche Bestimmung" steht. Dieses Musterbild und ein damit verknüpfter illusionärer Staatsbegriff prägen die Spezifik von Schlegels Autonomieauffassung. Denn der Begriff des Staates könne nur einer menschlichen Gesellschaft zukommen, die die Kriterien solchen Ideals erfüllt und „deren Zweck G e m e i n s c h a f t der Menschheit ist (die Z w e c k an s i c h , oder deren Zweck m e n s c h l i c h e Gesellschaft ist)"1''1 (Hervorhebungen — G. H.). Seine eigenen politischen Lcit- und Wunschbilder projiziert Schlegel in die athenische Polisdemokratie als den legendären Archetyp erträumter politischer Freiheit. Das zur poetischen Fiktion stilisierte Antike-Bild verschmilzt mit seinem abstrakten politischen Rigorismus und bildet die Radikalität seiner Kunstautonomieidee aus. Schiller hatte — wie Humboldt'" — in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung der modernen Poesie, der Schlegel lediglich transitorischen Wert zugestehen wollte, den Vorzug vor der antiken Poesie gegeben. In geschichtlicher Distanz hatte er die Gültigkeit ihrer Maßstäbe begrenzt.(i,> Schlegel, der sich zunächst mit Schiller in Übereinstimmung wähnte, verzeichnet das in der Vorrede zu seinem Studium-Aufsatz mit Enttäuschung. Er weigert sich, die Vorbildhaftigkeit antiker Polis auf einzelne Züge zu reduzieren und die Unterscheidung von antik und modern als relativierenden Prüfstein der Antikerezeption zuzulassen. Die in der französischen Aufklärung durch die Querelle des anciens et des modernes scheinbar längst entschiedene Debatte um die Überlegenheit der alten oder neuen Kunst G7 und das von Winckelmann geprägte Bild der griechischen Antike als spezifisch deutscher Form „heroischer Illusionen" der bürgerlichen Klasse*'8 werden bei Friedrich Schlegel mit emphatischer Uneingeschränktheit wieder aufgenommen. Das bewirkt bereits deutliche Differenzen zu den zeitgenössischen ästhetischen Entwürfen und bereitet die antikapitalistische Potenz von Schlegels citoyen-Utopie vor. Von dieser Utopie gibt es keine Rückkopplung zur Praxis der beginnenden bürgerlichen Umwälzung 119

in Deutschland. Das führt zu unverwechselbaren Vorstellungen über das gesellschaftliche Ziel, dem ästhetische Erziehung zu dienen habe, und weist autonomer Kunst spezifische gesellschaftliche Funktionen zu. Am geschichtlichen Sujet der griechischen Poesie demonstriert Schlegel den für ihn entscheidenden Zusammenhang von Kunst und Politik. Er schließt an die ab etwa 1790 weitverbreitete Erkenntnis der gesellschaftlichen Determiniertheit von Kunst, der Abhängigkeit ihres Zustandes und ihrer Leistung von den politisch-sozialen Verhältnissen einer Nation an,69 die ihm über Heydenreichs und Moritz' Ästhetik, 70 über Friedrich August Wolfs Arbeiten zu Homer 71 und über Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten72 vermittelt wird. Vor allem aber Forsters jährlichen Berichten zur Geschichte der englischen Literatur, die in den von Archenholz herausgegebenen Brittischen Annalen erschienen, verdankt Schlegel die Einsicht, daß der Grund für die Beschaffenheit einer Literatur in objektiven „notwendigen Bedingungen des Zeitalters" 73 liege. Forster hatte das aus seinem sensualistischen Erkenntnisprinzip gefolgert: Da die lebendigsten Begriffe jederzeit aus dem unmittelbaren Anschauen entspringen, bestimmen Sitten und Verfassungen den Zustand der Poesie.7'' Die sozialen Ursachen hatte er über die natürlich-geographischen gestellt; denn sind auch die Kräfte und Tätigkeiten der Nationen vom Klima und anderen Lokalumständen abhängig, so werden sie doch „durch Verfassungen gleichwohl am wesentlichsten afficiert, und entweder zur Wirksamkeit hervorgerufen, oder zur Unthätigkeit gebunden" 7r>. Daran anknüpfend, hat Friedrich Schlegel sein literaturgeschichtliches Verfahren namentlich im Briefwechsel mit dem Bruder diskutiert.7(> Man müsse ergründen, wie sich die literarische Produktion „nach der jedesmaligen äußeren Welt modificirte und an sie anschloß" 77 ; dem Bruder rät er, „für die mittelalterliche Literatur, speziell den Dante, auch Geschichte zu studieren, etwa die Geschichte der italienischen Stadtrepubliken" 78 . Im Zusammenhang mit dem „ächten Demokratismus" der Gesellschaftsstrukturen im antiken Athen hatte er den apodiktischen Grundsatz formuliert: „Niemals wird einer, der den Geist der Solonischen Gesetzgebung (nach Schlegel ein „Meisterstück der Gerechtigkeit und Weisheit" — G. H.) nicht kennt, die Winke der Alten über den Dithyrambus verstehn, und wer kann den Pindarischen Rhythmus begreifen, dem die Sitten und die Staatsverfassung der Dorier fremd sind." 79 120

Dabei ist Schlegel zugleich die griechische Poesie zur Zeit der athenischen Polisdemokratie der „kräftigste, reinste, bestimmteste, einfachste und vollständigste Abdruck der a l l g e m e i n e n (Hervorhebung — G . H.) Menschennatur", hervorgebracht von „Bürgersinn" und „schöner Geselligkeit". 8 0 Ähnlich hatte Forster die Jakobinerdiktatur — in Übereinstimmung mit seinem ebenfalls antikisierenden Kunstideal — als Durchbruch zu einer „schönen" Gesellschaft brüderlicher Tugenden und humaner Verhältnisse gesehen, als Alternative nicht nur zum stagnierenden feudalständischen Gesellschaftszustand, sondern auch zu der von Profitstreben und E g o i s m u s , von Unterordnung des „allgemeinen" menschlichen unter das bornierte Privatinteresse geprägten dynamischen kapitalistischen Gesellschaft Englands. 8 1 War für Forster mit der Jakobinerherrschaft auch „das Reich der Vernunft . . . angegangen", so hatte er keinen Zweifel darüber gelassen, daß der historische Gehalt dieses Vernunftreichs nicht das Wirklichwerden eines Ideals, sondern daß es von genuin bürgerlicher Art war: „Freyheit der Person" war ihm untrennbar mit der „Sicherheit des Eigenthums" zusammengeschlossen, und A u f h e b u n g des Eigentums galt ihm als „Excentritäten". 8 - Immer wieder wehrte Forster die „Schwärmerei für demokratische Freiheit" ab und warnte davor, Politik nach Idealen zu treiben. Unter diesem Aspekt wandte er sich gegen abstrakte Gerechtigkeit und egalitäre Gesellschaftsmuster dort, wo die „ N a t u r " Ungleichheit gesetzt habe. Nach Forster kann — im Gegensatz zu Schlegel — keine moralische Freiheit je so vollkommen gedacht werden, um die Zulassung einer absoluten bürgerlichen Freiheit zu rechtfertigen. Mit dem Argument, daß eine konsequente Durchsetzung republikanischer Grundsätze, die alle gleich behandeln, zu Einförmigkeit führen würde, stützt er Vorstellungen, die Humboldts Modell der freien Konkurrenz gleichen: „nur im Streit entgegengesetzter Begierden und Vorstellungsarten offenbart sich die Vernunft in ihrer erhabenen Größe" und entfalten sich alle Kräfte der Menschen. 8 3 Schlegel aber ging es um gesellschaftliche Therapie mittels der Restitution eines an der Antike exemplifizierten Ideals, das er nach dem Untergang der Jakobiner und dem Anbruch des „Reiches der Bourgeoisie" in Frankreich nicht nur beibehielt, sondern auch gegen den unverkennbaren G a n g der Weltgeschichte und trotz der ebenso unübersehbar nichtrevolutionären Situation in Deutschland zu praktischer Wirkung zu bringen suchte. D a s hatte zur Folge, daß das antikisierende Ideal der Gegenwart 121

postulativ gegenübergestellt, nicht aber mit ihr vermittelt wurde. Das zeigt sich zunächst in Schlegels Auffassung über Politik, in der er die geschichtsphilosophische Intention seiner Antike-Studien mit dem ästhetisiertenLeitbild unbegrenzter Volkssouveränität verknüpft: „An G e m e i n s c h a f t der S i t t e n ist die politische Kultur der M o dernen noch im Stande der Kindheit gegen die der Alten . . . D i e Unkenntniß der politischen Bildung der Griechen und Römer ist die Quelle unsäglicher Verwirrung in der Geschichte der Menschheit, und auch der politischen Philosophie der Modernen sehr nachtheilig, welche von den Alten in diesem Stücke noch viel zu lernen haben. E i n e Vermittlung zwischen antikisierendem Ideal und Gegenwart wird von Schlegel nun über die Kunst zwar angestrebt, aber gerade dieses Vorhaben erzwingt den Bruch mit dem deterministischen A n satz seiner literaturhistorischen Konzeption, ja nachgerade eine U m kehrung der Erkenntnis, daß die Kunstentwicklung durch den Zustand der politischen Verfassung bedingt ist: So wird für die Gegenwart Kunst als Hebel einer gesellschaftlichen Veränderung gewonnen, die nicht im Horizont des real Möglichen gesucht, sondern im Ideal angesiedelt wird. Scheinbar objektive Gesetzmäßigkeit verleiht Schlegel dieser subjektiv-idealistischen Geschichtskonstruktion, indem er sein Ideal mit dem Attribut der Schönheit als Ausdruck überzeitlicher menschlicher „Natur" kennzeichnet. Diese Schönheit, die die Übereinstimmung von gesellschaftlicher Organisation und Eigenart der Kunst umgreift, macht die „Objektivität" griechischer Poesie aus. Ihr setzt Schlegel die Künstlichkeit entgegen, die die Poesie zum Selbstzweck erniedrige und die mit dem Verlust der politischen Freiheit in der griechischen Dichtung anhebe. 8 "' Die gesellschaftliche Bestimmung autonomer Kunst in der Gegenwart entlehnt Schlegel also seiner Interpretation der Autonomie griechischer Poesie, die durch glückliche Verschränkung von Kunst und Politik Ausdruck politischer Selbstbestimmung und „das schönste Symbol bürgerlicher Freiheit" 8 1 ' gewesen sei. Indem er die historischen Widersprüche antiker Polisdemokratie bewußt vernachlässigt 8 7 *, gerinnt sie ihm im Ideal „schöner Republik" zum ästhetischen Bild eines unwirklichen Menschheitsfortschritts, dessen Zweck er mit ethischen und ästhetischen Kategorien umschreibt. 8 8 Solche Bindung autonomer Kunst an ein gesellschaftliches Ideal droht ihre Zweckbezogenheit ständig zu desavouieren. Das zeigt vor allem ihre politische Funktionsbestimmung, wo sie — geschichtlich gesehen — ins Leere zielt. Schlegels heftige Ausfälle 122

gegen die „politische Pfuscherey" 89 des Feudalstaates, die alle politische und literarische Öffentlichkeit schonungslos unterdrückt und die „ F u r c h t " zum „großen Princip des modernen Lebens" 90 erhebt, befehden mehr als dessen konkret historische Strukturen und Mechanismen. Aus dem „Fundamentalgesetz" der Kunstautonomie folgt für Schlegel, daß die politische Kunst generell streben muß, „sich selbst überflüssig zu machen" 91 . Diese Forderung, die von den politischen Frühschriften Fichtes inspiriert ist 92 , wo sie die notwendige künftige Selbstauflösung des f e u d a l e n Staates einschließt, verdeutlicht, daß schon zur Zeit des iVW/Ä/ff-Aufsatzes Schlegels Funktionsverständnis von autonomer Kunst nicht in ihren antifeudalen Momenten aufgeht. In seinem Kepublikanismus-huhMZ hatte er festgehalten, daß die höchste Form der politischen Freiheit „der moralischen adäquat" wäre, „welche von allen äußeren Zwangsgesetzen ganz unabhängig" sei und „nur durch das Sittengesetz beschränkt" würde.9?' Eine Utopie, die das geschichtlich mögliche Maß an Freiheit derart überschritt, mußte zwangsläufig auch mit der Realität jener politischen Machtverhältnisse kollidieren, die durch die bürgerliche Revolution etabliert wurden. Sie mußte dahin tendieren, autonome Kunst von der sozialen Realität generell abzulösen. Vor den weltanschaulichen Folgen solchen Überschwangs, der gegenwärtige politische Praxis nach den Normen idealisierter Antike glaubt dirigieren zu können, hatte schon 1793 Johann Erich Biester gewarnt. In seinem Aufsatz Einige Nachrichten von den Ideen der Griechen über Staatsverfassung, der im Juniheft der Berlinischen Monatsschrift erschien, polemisiert er gegen die „neuern Franzosen" und „die Lobredner einer ganz allgemeinen Republikanischen Verfassung", die sich auf die „uneingeschränkteste Volksherrschaft" bei den alten Griechen zu berufen pflegen. Biester geht es um den Nachweis, „daß die Begriffe von reiner Demokratie, von Einheit der Republik, von Zerstörung des Adels, von Haß gegen die Könige, von Gleichheit der Bürger, und kurz alle bei den itzigen Weltverbesserern so fest haftenden Begriffe, nicht die mindeste Bestätigung aus dem Beispiele der Griechen erhalten können" 9 ' 5 . Gegen die Ansprüche „phantastischer Spekulation" 95 macht er — ähnlich wie Humboldt oder Gentz — den Standpunkt der Erfahrung geltend, der von der Widersprüchlichkeit des Geschichtsprozesses ausgeht. Biester verweist auf die unversöhnlichen Gegensätze der athenischen Polisdemokratie, bezeichnet den Haß zwischen Armen und Reichen als unheilbares Gebrechen der 123

griechischen Republiken und benennt den Mangel an „wahrer Gleichheit" und die durch Geburt und Besitz verursachten Unterschiede auch in der politischen Stellung der Bürger 90 als konstituierendes Moment ihrer Verfassung. Sein entscheidendes Argument gegen das zeitgenössische Wunschbild antiken Gemeinwesens lautet: „Die Anzahl der Sklaven überstieg in ganz Griechenland bei weitem die Anzahl der Bürger." 97 Die illusionslose Sicht der Geschichte geht bei Biester einher mit einem geschärften Blick auch für die Widersprüche der Jakobinerherrschaft. Er registriert, daß die französischen Gesetzgeber „nur auf Abstellung der Titel dringen, aber an das Wesen der Gleichheit, die sie doch für ihre Göttin erklären, nicht denken" 98 . Damit greift er Edmund Burkes scharfsinnige Kritik an der französischen Verfassung von 1791 auf, die den Widerspruch von formaler politischer Gleichheit und fortbestehender ökonomischer Ungleichheit aufgedeckt und von einer konservativen Position aus den empfindlichen Punkt bürgerlicher Emanzipation getroffen hatte.99 Biester nimmt am Gegenstand der Antikerezeption zum Streit um das Verhältnis von Theorie und Praxis Stellung, der 1793/94 in der Berlinischen Monatsschrift geführt wurde. Beteiligt waren namentlich Kant, Gentz und Rehberg; darüber hinaus nahmen aber alle weltanschaulich bedeutsamen Beiträge des Journals auf diesen Streit Bezug. Anhand des Zusammenhanges von philosophischer Spekulation und politischer Praxis wurden die verbindlichen Kriterien und der Modus diskutiert, nach denen eine Verfassung einzurichten sei, die den aktuellen und spezifischen Bedürfnissen und dem Entwicklungsstand des deutschen Bürgertums angemessen sei. Als Pragmatiker der bürgerlichen Emanzipation beharrt Biester (wie Gentz und Rehberg) auf der Trennung von Theorie und Praxis, weil er die Gefahren ihrer voluntaristischen Verknüpfung überschaut. Mit historischer Nüchternheit betont er, daß jede forciert moralisierende Wertung des Gesellschaftszustandes, jede unvermittelte Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit den Blick für tatsächliche Veränderungsmöglichkeiten verstellt und unabänderlich zum bloßen Leiden an der Wirklichkeit verurteilt. Diese weltanschauliche Entwicklung ist dann tatsächlich bei Friedrich Schlegel zu beobachten, den auch Novalis vor der Unersättlichkeit und Überspanntheit des Ideals gewarnt hatte.100 Sie äußerte sich in Schlegels Lebensgefühl, „Kain des Weltalls" i()1 zu sein, in der anhaltenden Stimmung verzweifelter Unrast und in einer tiefen Krise des Denkens, die einsetzt, als die Erfahrung des unversöhnlichen Gegensatzes 124

von einstigen revolutionären Prinzipien und ideologischen Vorgaben einerseits und der bourgeoisen Praxis in Frankreich andererseits die begeisterten Anhänger der Revolution wie Fichte und die Frühromantiker ernüchterte. Im unterschiedlichen Gehalt des an die Autonomieidee gebundenen Postulats politischer Freiheit — Freiheit auf der Basis sozialer Gleichheit bei Schlegel; Freiheit in der Verfügung über E i g e n t u m bei Humboldt oder Gentz 10 - —, in der aufscheinenden Kluft zwischen einem überwiegend utopisch-egalitären und einem vorherrschend praxisbezogen-liberalen Standpunkt zeichnet sich bereits die spätere Differenzierung bürgerlicher Ideologen ab. Sie wird seit etwa 1796/97 wirksam und ist durch die allmähliche Erkenntnis ausgelöst, daß die mit der bürgerlichen Emanzipation errungene Stufe der Menschheitsbefreiung geschichtlich begrenzt ist und neue gesellschaftliche Antagonismen hervortreibt. Die unterschiedliche Verarbeitung dieser Problematik beendet die Periode relativer weltanschaulicher Gemeinsamkeit unter antifeudalem Vorzeichen mit einer deutlichen ideologie- und literaturgeschichtlichen Zäsur. Ein Scheidepunkt in diesem Differenzierungsprozeß ist die Stellungnahme für oder gegen den bürgerlich-kapitalistischen Fortschritt. Diese Entscheidung wurde nicht nur vom ökonomischen Status und soziologischen Standort der konzeptiven bürgerlichen Ideologen, vom Grad ihres Verwickeltseins in handfeste bürgerliche Interessen bestimmt, sondern auch von ihrem Alter und ihrer Lebensund historischen Erfahrung. Sie ist meßbar an der Fähigkeit, soziale Widersprüche geistig zu bewältigen, am Beibehalten eines dialektischen Wirklichkeitsverständnisses als dem subjektiven Vermögen, sein Denken nicht auf einen harmonischen Zustand einzuschwören, sondern auf einen Prozeß von unabsehbarer Dauer und Mühe einzustellen. Fichte, durch seine Tätigkeiten als Hochschullehrer und nebenbei als kapitalistischer Unternehmer in unmittelbare praktische, oft drastische Auseinandersetzung mit den realen gesellschaftlichen Mächten und Prozessen verstrickt 103 *, akzeptierte die Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen Fortschritts als notwendig und „vernünftig", d. h. gesetzmäßig. Die philosophische Orientierung auf große, übergreifende Tendenzen der Epochenentwicklung führte ihn — ähnlich wie Goethe, Schiller, Humboldt oder schließlich Hegel — nach 1800 zur Annahme einer idealistisch formulierten objektiven Gesetzmäßigkeit der Geschichte, in der er Subjekt und Objekt dia125

lektisch zusammenschloß, insofern individuelles Handeln überindividuelle Vernunft realisiert. Sie ließ ihn — im Gegensatz zu Schlegel — eine produktive Haltung zur neuen Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung finden. Der durch seine soziale Herkunft bedingte durchgängige demokratische Grundzug seiner Weltanschauung half Fichte, die citoyen-Utopie im Ideal des absoluten Staates als künftig gewiß zu bewahren H V '*, als Friedrich Schlegel seine politischen Jugendideale verabschiedete und alle H o f f n u n g an die geschichtsbildende Kraft einer Poesie delegierte, deren Autonomie er nun in der strikten Absage an die konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit begründete.

4. Der geschichtliche Funktionswandel von Schlegels Kunstautonomiepostulat spiegelt sich im damit entstehenden frühromantischen Literaturprogramm auch als veränderte Stellung zu literarischen Formen und ihren weltanschaulich bedingten Strukturen: als Übergang v o m Fragment zum Roman und in der Subjektivierung der Romankonzeption. G e o r g Forster hatte gemäß der Einsicht, „daß Deutschland lange noch nicht reif zu einer Änderung seiner Verfassung ist", seine Sendung als Schriftsteller in den Dienst einer umfassenden Aufklärung gestellt, die die moralische Reife befördern und damit zur allmählichen Verbesserung der Gesellschaft beitragen sollte. E r war überzeugt, „daß die m o r a l i s c h e Bildung unserer Nation, wenn sie mit der des K o p f e s Schritt hält, uns wie von selbst frei machen muß". Sein schriftstellerisches Credo bezeugt in klassischer Weise das Bündnis von Literatur und gesellschaftlichem Reformprogramm: „Wenn man aber schon schreiben muß", hatte es 1792 in einem Brief an J o hannes von Müller geheißen, „ s o sei es zum Nutzen und fürs wahre Beste aller. Alle haben eine vernünftige Seele, eine moralische Perfektibilität; diese Eigenschaften machen mir den ärmsten Bauern heilig und wert. Die moralische Vervollkommnung ist unsere Bestimmung, und hier öffnet sich dem Schriftsteller ein unabsehbares Feld und eine große E r n t e ! " 1 0 5 Friedrich Schlegel hatte sich in seinen poetologischen Überlegungen zunächst auch an dieser Konfession Forsters orientiert. 1797 entwickelte er in seinem Aufsatz über Forster an dessen Beispiel die 126

Kriterien des gesellschaftlichen als eines für demokratische und humanistische Ideen engagierten Schriftstellers. Die „unerschütterliche N o t w e n d i g k e i t d e r G e s e t z e d e r N a t u r und die unvertilgbare V e r v o l l k o m m n u n g s f ä h i g k e i t des Menschen" hatte er als „die beiden Pole der höhern politischen Kritik" und als die festen Grundbegriffe von Forsters Weltanschauung bezeichnet. 1(xi Der Terminus der höhern politischen Kritik zielte auf die geschichtsphilosophische Dreieinigkeit von intellektueller Bildung, sittlicher Vervollkommnung und politischer Freiheit. Ästhetische Konsequenz eines schriftstellerischen Anliegens, dem ein „lebendiger Begriff von der Würde des Menschen" zugrunde lag, war die — von Forster erreichte, von Schlegel erstrebte — Popularität der Form. Sie entsprang dem Bemühen, alle Erkenntniskräfte des Menschen zu aktivieren, und war in Forsters demokratischem Bildungsideal angelegt, das die Masse des hier noch undifferenziert gesehenen dritten Standes zum Adressaten erkor. Die „Richtung" dieser Literatur auf die „Gesetze und Forderungen der Menschheit", ihre „Weltbürgerlichkeit und Geselligkeit", „der Blick ins Ganze" erheischten nach Schlegel einen umfassenden Literaturbegriff im Sinne Lessings. Der Publizist Forster habe mit seinem „großen Reichtum der verschiedenartigsten Sachkenntnisse" der philosophischen und kunstwissenschaftlichen Prosa den Weg zu ästhetischer Ebenbürtigkeit gebahnt. 107 Auf diese publizistische Universalität zielte Friedrich Schlegels Konzeption von Fragment und Roman als Formen, welche die kanonische Trennung der literarischen Gattungen durchbrechen sollten. Neben dem Rückgriff auf Forsters Literaturauffassung wird in der frühromantischen Ästhetik des Fragments Fichtes philosophischer „Jakobinismus" verarbeitet, der nach einem Wort Friedrich Schlegels aus dem Jahre 1803 „die Prinzipien der Freiheit konstituierte" und mit spekulativer Stringenz den Menschen als vernunftbegabtes und selbsttätiges Wesen zum souveränen Subjekt der Geschichte erhob. Schon dieser ideengeschichtliche Ursprung verbürgt die Intention auf gesellschaftliche Wirksamkeit, auf geschichtsphilosophisch fundierte Operativität und damit einen instrumentellen Literaturbegriff. So wurde das schon von der Aufklärung in weltanschaulichen Fehden genutzte Fragment unter Berufung auf Chamfort und Lessing ausdrücklich als ein publizistisches Genre kultiviert, das rasches Reagieren auf aktuelle Ereignisse und Probleme ermöglichen sollte. Als streitbares „Ingrediens" der Zeitschrift Athenaeum (1798—1800), einem Sprachrohr für alles, „was sich durch e r h a b n e 127

F r e c h h e i t auszeichnete"108, suchte es Voltaires aggressiven Witz zu imitieren. Die Intention des Schlegelschen Fragments konnte sich auf verbreitete zeitgenössische Überzeugungen stützen, wie sie etwa in Reichardts Deutschland artikuliert wurden. Hier fand sich zu Schlözers Formulierung über die Schriftsteller als „freiwillige Stände" der Kommentar, daß ihnen im Rahmen von Reformbestrebungen die Rolle mächtiger Ephoren der öffentlichen Angelegenheiten zukomme. Zugleich wurden die Universitäten als potentielle Sachwalter wissenschaftlich betriebener Regierungsgeschäfte dargestellt.109 Die an die Fragmente geknüpften übertriebenen Erwartungen schriftstellerischer Wirksamkeit hatten einen bescheidenen realen Boden in den zeitweiligen Möglichkeiten eines aufklärerischen Zentrums wie der Universität Jena rnit ihrer ideologischen Ausstrahlung. Dort hatten sich Mitte der neunziger Jahre freidenkende Männer wie Paulus, die Hufelands, Fichte, August Wilhelm Schlegel und Schelling unter dem Protektorat Goethes und Voigts zusammengefunden, um bürgerliche Kultur, Philosophie und Wissenschaft zu fördern. Die Ballung so bedeutender bürgerlicher Denker hatte Fichte zu der Äußerung hingerissen, daß man in Jena „um ein Jahrhundert weiter" sei als sonst selbst in dem aufgeklärten Sachsen.110 Der aktivistische Grundzug der Fichteschen Philosophie, das Pathos des in ihr verankerten Selbstwertgefühls erneuert sich im frühromantischen Entwurf von Literatur als Movens und Ferment des Geschichtsprozesses, in ihrem universellen kritischen Anspruch als „unentbehrliches Organ der großen Revolution". Die Fragmente werden als „ein Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis", als kritische „Randglossen zu dem Texte des Zeitalters" oder als „fermenta cognitionis" gekennzeichnet,111 die ein breites Publikum in „Motion, Agilität, Aktion" versetzen würden.112 Die Parallele zu Fichtes Formulierung von der politischen Verantwortung der Kunst als „ein Saatkorn für die Ernte künftiger Generationen" ist jedoch unübersehbar.113 In einer Rezension zu Schillers Hören hatte Friedrich Schlegel 1796 festgehalten, daß es jetzt, „wo alles Gute von Wissenschaft und Aufklärung ausgeht", „heilige Pflicht des Philosophen" sei, „sich wenigstens in so weit unter den Haufen zu mischen, als es die Beförderung dieses großen Zwecks erfordert, und sobald sich nur eine Möglichkeit zeigt, daß das Gute in den Staaten die Oberhand behalten könne, darf und soll er auch politisch tätig sein" 1,4 . In der Ästhetik des Fragments erscheint das Autonomiepostulat 128

als die energische Forderung, daß diese poetische Form das „Selbstdenken" — als spezifischen Ausdruck der Fichteschen „Selbsttätigkeit" — bei Literaturproduzent wie auch -rezipient zu initiieren bzw. zu ermuntern habe. Gerade die Anwendung des Autonomiegedankens in der Fragmentpoetik widerlegt die pauschale These vom angeblich „kontemplativen Grundzug der Ästhetik der deutschen Kunstperiode" 115 — ungeachtet ihrer illusionären Voraussetzungen. Die offene Form des Fragments ist dialogisch und als solche eingebettet in „eine p r a k t i s c h e W i s s e n s c h a f t , im K a n t i s c h e n Sinne dieses Worts, deren Objekt die Relazion der praktischen Individuen . . . ist". Diese Relation versteht Schlegel als wechselseitige gemeinschaftliche Mitteilung, d. h. als funktionierende öffentliche Kommunikation über das Medium der Literatur, die einen wesentlichen und übergreifenden Bereich gesellschaftlicher Praxis ausmacht. Fichtes Satz „Das Ich soll sein" auf die Gesellschaft anwendend, bestimmt er die Mitteilung und den Einfluß aller aufeinander als menschliche Grundvermögen und verbindet sein Republikanismusideal unmittelbar mit seiner Vorstellung von Publizität und schriftstellerischer Wirksamkeit.116 Dem entspricht das Fragment mit seinen Charakteristika von Gespräch und intellektuell-sittlichem Appell. Wie der Roman zugleich als „Roman des Romans" gedacht ist 117 , wird auch dem Fragment abverlangt, daß es die Theorie seines Genres mitliefere. Dieser poetologische Anspruch ist in Analogie zum Kritikbegriff der Fichteschen Wissenscbaftslehre ausgebildet, seiner in der Formel von der „Wissenschaft der Wissenschaften" fixierten Forderung, daß die Philosophie ihr eigenes theoretisches Vorgehen kritisch reflektiere.118 Die provokative Unabgeschlossenheit des Fragments entsprach nicht nur der widersprüchlichen Wirklichkeit einer gesellschaftlichen Umbruchs- und Übergangsperiode mit ihren dynamischen Strukturen, sondern sie sollte vor allem „die rückwirkende Selbsttätigkeit eines hellen Verstandes" 119 anregen. Durch die lebendige formale Organisation des Fragments wird der Autor veranlaßt, seinen Schaffensprozeß ständig gedanklich zu durchdringen. Der Leser wird an diesem Reflexionsvorgang beteiligt, indem im poetischen Produkt der Akt des Produzierens und die Wirkungsabsicht transparent sind. Indem der Autor mittels bewußter Unfertigkeit und pointierter Kürze die Relativität der Wahrheit in seinen Aussagen einkalkuliert120*, ermöglicht er dem Leser, eigenständige Interpretationen zu entwickeln und seine Assoziationen beizutragen.121* 9

Kunstpen ode

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Kunst wird damit als Instrument zugänglich gemacht: Wie der Leser für die Konstruktionsprinzipien, den Prozeß der Konstitution von Literatur und für ihre Strukturen sensibilisiert wird, so ist der Autor angehalten, seinen Text so zu gestalten, daß er eine Vielzahl variabler Rezeptionsmöglichkeiten bereithält. Das Fragment insistiert auf den mündigen Leser als gleichberechtigten Partner des Schriftstellers, einen Leser, der nicht eine vorgefertigte Erkenntnis aufnimmt, sondern s e i n e Erkenntnis produziert. „Der synthetische Schriftsteller", hatte Friedrich Schlegel in den Lyceums-Ftagmenten gefordert, „konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn, es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie." 122 Das ist ein Schlüsselsatz frühromantischer Fragmentkonzeption, die allen ständischen Schranken der Rezeption absagt, hierarchische Autor-Leser-Beziehungen verwirft und neuartige Rezeptionshaltungen eröffnen will. Rezeptionsästhetische Erwägungen verschmelzen mit den produktionsästhetischen Gesichtspunkten. 123 Durch das Fragment soll Erkenntnis zum Genuß werden — analog der Fichteschen intellektuellen Anschauung als Bestätigung der ursprünglichen Selbsttätigkeit des Subjekts, das sich seiner „Autonomie" als denkendes und fühlendes Individuum versichert 12/'. Das Recht des „Selbstdenkers" heißt für Friedrich Schlegel selbstbestimmte Individualität und ihre unaustauschbare Einzigartigkeit, die er dem Fichteschen Ich — einem aus der Gesamtheit der menschlichenGattung abstrahierten Subjekt des Geschichtsprozesses — unterlegt. „Daß jegliches Individuum eigentlich absolut", so interpretiert er den Kern des Fichteschen Denkens, „ist ein großer Hauptsatz der Absoluten Philosophie . . . Alles Göttliche in seiner Philosophie ist kritischer Instinkt — Projekte und Fragmente" 125. Daraus schließt er, daß auch die „Formen der modernen Philosophie . . . ganz individuell" seien, „— Briefe, Autobiographien, Romane, Fragmente" . In der Ästhetik des Fragments liegt eine Tendenz zur Subjektivierung von zwiefacher gesellschaftskritischer Ausrichtung. Zunächst verwirft der, oft bis zu Willkür gesteigerte, Individualität behauptende Anspruch auf Eigenwilligkeit der Form „System" und „philosophische Deduktionen" als Indiz reglementierten Denkens. Die ver130

wendete Metaphorik enthüllt mit ihrer ironischen Anspielung auf das stehende Heer der Feudalstaaten ,2ti oder auf den höfischen Kunstbetrieb 127, daß sich der Gebrauch dieser literarischen Form nicht nur gegen den Druck geistiger Traditionen wendet. Der Zwang des „Systems" steht gleichnishaft für das System feudaler Gewaltherrschaft und Bürokratie. Schlegel folgt hier Gedankengängen Forsters, der in seiner Geschichte der englischen Literatur von 1791 beim Vergleich des englischen und deutschen Publikums festgestellt hatte, in welchem Maße despotische Regierungen das Selbstdenken unterdrücken. „Ein gebildetes Publikum", hatte Forster geurteilt, „will Gedanken, Reflexionen, Anregungen eines eigenthümlichen Ideenganges, zarte Berührungen, leichte Übergänge, umfassende Blicke, mit einem Worte, Geist und Gefühl, wo dem roheren, langsameren, durch Lage und Regierungsdruck gefesselten und verkümmerten nur grobe Speise, unmittelbar zu benutzender und zum nothdürftigen Unterhalt anwendbarer Unterricht, oder auch derbe Erschütterungen nöthig sind." Und er hatte „schneidende Eigenthümlichkeit" als Merkmal der „seltenen Vortrefflichkeit" der wenigen „edlen, reifen Früchte der deutschen Literatur" benannt.128 In diesem Sinne ist die „Individualität" der Fragmentform ästhetischer Ausdruck bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen, analog Zu Humboldts Forderung nach Freiheit der Individuen gegenüber dem feudalen Staat. Das Beharren auf Individualität hat jedoch noch eine weitere gesellschaftskritische Dimension. — In der Sphäre der Politik unterjochte die feudale Staatsmaschinerie als Verkörperung eines allmächtigen Allgemeinen die einzelnen. Schiller hatte in den üriefen über die ästhetische Erziehung beklagt, „daß das Abstrakt des Ganzen" jetzt „das einzelne konkrete Leben vertilgt" 129. Im Bereich der Ökonomie aber entstand auch in Deutschland bereits ein neues „Abstrakt des Ganzen" durch die „Entwicklung der Tauschwerte (und der Geldverhältnisse)" : Die Macht des Kapitals, die sich im universellen „Gleichsetzen des Ungleichartigen" manifestierte, und die fortschreitende Arbeitsteilung in der kapitalistischen Manufaktur drohten in einem wachsenden Bereich des gesellschaftlichen Lebens alle Individualität zu nivellieren.130 Die frühromantische Ästhetik reagiert bereits auf solche Erscheinungsformen der Kapitalisierung, was nicht nur der Inhalt zahlreicher Fragmente belegt 131 , sondern sich auch in der Art zeigt, wie das Fragment als eine philosophisch-poetische Form kultiviert wird. Ein Aufsatz Kants, der wie eine Polemik gegen die Theorie des 9*

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Fragments gelesen werden kann, ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Er erschien im Maiheft 1796 der Berlinischen Monatsschrift unter dem Titel Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der "Philosophie und richtete sich gegen subjektivistische, schwärmerische und esoterische Auffassungen von Philosophie bei Johann Georg Schlosser und Friedrich Leopold Stolberg.132* Kants Bildwahl und Argumentation geben Aufschluß darüber, daß die Wahl bestimmter Darstellungsformen auf weltanschauliche Differenzen weist. Er mißbilligt den „geniemäßigen" Charakter einer „vorgeblichen Philosophie, bei der man nicht a r b e i t e n , sondern nur das Orakel in sich selbst anhören und genießen darf". Dieser „ästhetischen Vorstellungsart", die sich Methode und System verweigert, hält Kant „das Gesetz der Vernunft, durch Arbeit sich einen Besitz zu erwerben", entgegen. Kant verwendet mit uneingeschränkter Zustimmung Metaphern aus der bürgerlichen Produktionssphäre bei gleichzeitigem Vorbehalt gegen den „fabrikenmäßigen" feudalen Staat: Aufgabe der Philosophie sei „nicht eine plan- oder gar f a b r i k e n m ä ß i g (zum Behuf des Staats) eingerichtete willkürliche F o r m g e b u n g , sondern eine vor allem das gegebene Objekt handhabende M a n u f a k tur". Ganz im Sinne eines bürgerlichen Selbstverständnisses schließt er: „Im Grunde ist wohl alle Philosophie prosaisch; und ein Vorschlag jetzt wiederum poetisch zu philosophieren, mögte wohl so aufgenommen werden, als der für den Kaufmann: seine Handelsbücher künftig nicht in Prose sondern in Versen zu schreiben!" 133 Kant machte die willkürliche Inanspruchnahme der Philosophie Piatos für diese poetisierende Art des Philosophierens verantwortlich und bot dagegen Aristoteles als Anwalt einer nüchtern arbeitsamen Vernunft auf. Friedrich Schlegel hatte sich zur Legitimation seiner Fragmentkonzeption ausdrücklich auf Piaton gestützt.134 Die für das Fragment entwickelten Kriterien mit ihrem Beharren auf Individualität von Aussage und Gestaltung stehen im Gegensatz zu den von Kant an die philosophische Darstellung erhobenen Forderungen. Interpretiert die neuere literaturwissenschaftliche Forschung die unkonventionelle Form des Romans L.ucinde als poetisch sinnfälligen Protest gegen eine „gesellschaftliche Ordnung der Dinge", deren „Vernünftigkeit" bezweifelt und mittels Zerschlagung der herkömmlichen epischen Strukturen und mit dem Verzicht auf eine überschaubare Fabel als vorgeblich entlarvt wird 133 , so kündigt sich diese Art Protest schon in der Form der Fragmente an. Um 1800 ist für Schlegel dann einzig die Poesie Bewahrerin der Individualität und 132

als solche Widerpart einer gleichmacherischen und austauschbaren Vernunft 136 , die sich als bloße ökonomische „Rationalität" entpuppt hat. Zunächst sollte die lebendige Eigentümlichkeit der Form den Fragmenten ein breites Publikum sichern. „Je weniger Monotonie der Schreibart, je mehr Popularität", lautete Friedrich Schlegels Kalkül. 137 Gerade aber die hartnäckig individualistische Gestalt der Fragmente beschwor die Gefahr, Literatur mangels Verständlichkeit für ein umfassenderes Publikum aus der Verbindlichkeit ihres gesellschaftlichen Auftrags zu entlassen und die Fragmente auf den von Novalis benannten nur „transitorischen Wert" als „Spielmarken" 138 introvertierter Selbstverständigung oder des Austausches innerhalb eines engen, eingespielten und gleichgesinnten Kommunikationskreises zu reduzieren. Diesen Widerspruch verdeutlichen die zeitgenössischen Rezensionen der Fragmente. Huber verwarf den Anspruch der Atbenaeum-Kutoicn, „Zeitschriftsteller" sein zu wollen, und attackierte den durch sie entfachten „literarischen Factionsgeist" 139 . Zugleich zieh er die Fragmente der „Sucht nach Originalität" und des „affectirtesten und unverständlichsten Wortklanges" 14°. Jenisch gar spottete ihrer Verspieltheit und salongerechten Belanglosigkeit.1'*1 Diese und zahlreiche ähnliche Reaktionen weisen aus, daß die Fragmente mit der Art ihres „Selbstdenkens" sogar innerhalb der gebildetenLeser nur einen kleinen Teil erreichen konnten. Zwar wußte Schlegel durchaus, daß das Publikum „gar keine Sache, sondern ein Gedanke, ein Postulat, wie Kirche" 142 sei. Dennoch glaubte er — wie die Überlegungen bei der Gründung des Athenaeum zeigen — sich ein Publikum erziehen zu können und bereits einen Kern von Lesern vorzufinden, deren idealisiertes Bild er den sozial begrenzten Erfahrungen mit der geselligen Kultur der Berliner literarischen Salons der Henriette Herz und Rahel Levin entnahm, die damals seinen Umgang bildeten. Er überschätzte die gesellschaftliche Ausstrahlung dieser kleinen exklusiven Zirkel. Schlegels hypothetischer mündiger Leser fand keine reale Entsprechung in der Masse der Literaturkonsumenten. Die Dominanz jeweils anderer literarischer Genres signalisiert unterschiedliche Phasen im weltanschaulich-ästhetischen Selbstverständnis der Frühromantik. Die zentrale Stellung des Fragments als Versuch, eine operative literarische Form zu konstituieren, zeugt von den Hoffnungen einer historisch kurzen Übergangszeit, deren 133

unentfaltete Widersprüche noch eine Vielzahl neuer Wirkungschancen zu verheißen schienen. Ein Aufsatz von Georg Anton Friedrich Ast, einem Jenenser Schüler Friedrich Schlegels, belegt den Zusammenhang von Preisgabe der Fragmentform mit politischer Desillusionierung, dem Verfall utopischer Vorstellungen über mögliche Handlungsspielräume anhand eines historischen Gegenstandes. 1804 schrieb Ast in Schlegels Zeitschrift Europa über "Epochen der griechischen Philosophie und erhellte damit rückblickend die Verknüpfung von normativem Antike-Ideal, citoyen-Utopie und der Fragmentform: „Piaton konnte seine Ideen nicht systematisch vortragen, denn seine Philosophie war nicht bloß abstractes Speculiren, sondern sie gestaltete sich unmittelbar zum höchsten Leben. Was er schrieb, setzte er daher nur als schöne Denkmähler . . . seines reellen Speculirens für die Nachwelt auf . . . ; daher in allen seinen Schriften die Spuren des griechischen Lebens: die dialogische, schöne, beredte Form. Denn nur Athen hatte eine Republik, nur im Zeitalter des Perikles konnte sich die Philosophie so als freies Leben darstellen und sich unwillkürlich in Poesie verwandeln, da die Menschen selbst un? mittelbar und ursprünglich im poetischen, freien Elemente einer Republik lebten. Nachdem aber das demokratische, freie Leben verschwunden war, zog sich auch die Philosophie aus dem öffentlichen Leben wieder zurück, in den Schriften der Philosophen verschwanden die Spuren des freien Lebens, und die systematische, rein wissenschaftliche Form wurde herrschend, das Interesse der Philosophie für das Leben war verschwunden, und so blieb allein das Wissenschaftliche übrig." Vl7> Novalis' Kennzeichnung der Fragmente als „echte revolutionäre Affichen" w* bringt sie in die Nähe von Formen politisch operativer Literatur wie die Maueranschläge und Flugschriften während der Französischen Revolution1''5, die in den unmittelbaren Tageskampf verflochten waren und sich auf politische Massenbewegungen stützten. Der gesellschaftsverändernde Anspruch der Fragmentkonzeption mußte wegen seiner illusionären Prämissen scheitern. Positiv zeigt sich der Zusammenhang von politischer Formierung der bürgerlichen Klasse und operativer Literatur später darin, daß die in der Poetik des Fragments entwickelten ästhetischen Überlegungen zu einer offenen publizistischen Form im Vormärz fruchtbar wurden: Die Jungdeutschen knüpften unter veränderten Wirkungsbedingungen literarischer Kommunikation an die frühromantische Subjektivierung von Poesie an, die bei ihnen als Ausdruck persönlichen Engagements des 134

Schriftstellers, der Parteinahme in den Klassenauseinandersetzungen seiner Epoche erschien.1''6 Heine apostrophierte 1831 „die selbsttrunkenste Subjektivität, die weltentzügelte Individualität" als produktives und notwendiges Begleitphänomen einer geschichtlichen und literarischen Übergangsphase, weil sie die Kunst dem Anspruch einer sich wandelnden Wirklichkeit offenhalte.147 5. Im Abschlußmanifest des Athenaeum, dem 1800 erschienenen Aufsatz Über die Unverständlicbkeit, wird die Fragmentkonzeption aufgegeben. Gerade die Erfahrungen mit dem Atbenaeum — die zunehmenden Auseinandersetzungen mit den Verlegern um Honorare, Preis und Gestaltung der Zeitschrift im Interesse ihrer Verkäuflichkeit, die Absatzschwierigkeiten und das Desinteresse des Publikums — belehrten Friedrich Schlegel handgreiflich über die Unterordnung der Literatur unter kommerzielle Gesichtspunkte. Hatte er 1796 noch unbefangen „die kleine Allmacht des immer anwachsenden Geldreichtums" als einen emanzipatorischen Faktor betrachtet, weil sie „die Scheidemauer zwischen den Ständen" niederreißt148, so konstatiert er jetzt sarkastisch und resigniert die „Objektivität des Geldes" als „ein populäres Medium", das überall verstanden werde und das als „reelle Sprache" die der Poesie ersetzen könne.1''9 Der auch von Novalis kritisch zitierte „Galvanismus des Geldes", die Kennzeichnung der realen Lebenszusammenhänge als „Jahrmarkt" und „Warentheater" 150 und die damit verknüpfte, an Hobbes gemahnende Feststellung, daß alle Menschen „in einem perpetuierlichen Duell begriffen" sind, fixieren in suggestiven Bildern den Widerspruch zwischen dem allgemeinmenschlichen ideologischen Anspruch bürgerlicher Emanzipation und dem seit dem Direktorium in Frankreich offen und machtvoll sich entfaltenden partikularen Interesse der Bourgeoisie. 151 Was in Westeuropa alle Lebensbereiche erobert hatte, bestimmte in Deutschland mit seinem entwickelten Buchmarkt gerade den persönlichen Erfahrungsbereich der Romantiker als Schriftsteller. Das euphorische Streben nach Instrumentalisierung der Literatur zur Bewältigung der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird preisgegeben, weil Poesie von dieser Wirklichkeit überwältigt zu werden droht. Das Fragment kann nicht mehr das „ E x p e r i m e n t i e r e n . . . im Geiste der revolutionären Praxis" 152 leisten, wenn 135

sich diese Praxis als universelle Durchsetzung der Tauschwertbeziehungen enthüllt, die auch die literarische Kommunikation erfaßt hat. Der aufbrechende Widerspruch zwischen bourgeois und citoyen 153 , die Beobachtung, daß auch das politische Leben der bürgerlichen Gesellschaft in die ökonomischen Interessen der kapitalistischen Privateigentümer einfunktioniert wird, erzwang eine Änderung des frühromantischen Literaturprogramms: Friedrich Schlegels Ausgangspunkt wird jetzt die „absolute Unvereinbarkeit des Subjects und Objects" 15'* und die Klage um den Verlust jenes illusorischen „allgemeinmenschlichen" Gehalts des gesellschaftlichen Lebens, für den ihm die antike Polisdemokratie nach wie vor ein Beispiel bleibt.155 In der Rede über die Mythologie wird der Zusammenbruch der „heroischen Illusionen" als Fehlen einer allgemeinverbindlichen weltanschaulichen Sinngebung und damit eines würdigen objektiven Gegenstandes für den Dichter signalisiert.156* In seinen literaturgeschichtlichen Vorlesungen von 1803/04 kommt Friedrich Schlegel noch einmal auf den charakteristischen Unterschied zwischen antiker Zeit und Gegenwart zurück, der ihm nun Ansatz besonders für seine Ästhetik des Romans wurde: „Der öffentliche allgemeine Geist beherrschte bei den Griechen mit so gleicher Kraft die Gemüter, daß nicht, wie in unseren Zeiten, bei unsern gemischten Verfassungen, das Individuum sich über sein Zeitalter erheben konnte." 157 Der Roman, zunächst dem Fragment gleichgestellt und mit ähnlichen geschichtsphilosophischen und poetologischen Forderungen bedacht, wird ab etwa 1798 zum dominanten poetischen Genre erklärt, das „die ganze moderne Poesie" bestimme. Die Favorisierung verdankte er ursprünglich seinem ästhetischen Spielraum, der „liberalen Form", die nicht vom Repräsentations- und Regelzwang der herkömmlichen „hohen" Gattungen belastet war und die ihn deshalb nach einem Wort Friedrich Schlegels geeignet scheinen ließ, nicht Schul-, sondern Lebensweisheit zu verkünden. Ästhetischer „Republikanismus" konstituierte mit dem Roman eine offene Form, der die „Mischung aller Dichtarten" als „ein politisches Prinzip" galt. Der Roman — fähig, alle anderen Genres aufzunehmen — verwirklichte durch seine formale Unbestimmtheit die in der Definition der romantischen Poesie als „progressiver Universalpoesie" angekündigten unerschlossenen und vielfältigen Möglichkeiten moderner Literaturentwicklung. 158 Überdies reagiert die frühromantische Ästhetik mit der Bevorzugung des Romans auf veränderte Rezeptionsbedingungen. War doch mit der Kapitalisierung des Buchmarktes „Lektüre als 136

weitaus überwiegende Rezeptionsform von Literatur institutionalisiert worden".159* Der Übergang zum Roman auf Kosten des Fragments impliziert jene Subjektivierung frühromantischer Ästhetik, mit der das Kunstautonomiepostulat sein spezifisch romantisches Gepräge erlangt. Poesie und Wirklichkeit treten in einen unversöhnbaren Gegensatz zueinander. Das Kunstautonomiepostulat erreicht zugleich eine neue geschichtliche Qualität: Die in ihm sich artikulierenden antibourgeoisen Momente überwiegen von nun an die antifeudalen. Galt etwa die frühe Polemik gegen die „Nützlichkeit" von Poesie ihrer ideologischen Indienstnahme für feudale Staatsräson, so gilt sie nun ihrer „ökonomischen Richtung", die alles, was „sich nicht der Brauchbarkeit für irdische Angelegenheiten fügen" will, als „Überspannung und Schwärmerei" denunziere.160 In der Reise nach Frankreich hat Friedrich Schlegel die Ursachen für die „europäische Gleichheit", die jegliche Individualität vernichtet, in der Herrschaft des Geldes und der Tauschwertbeziehungen benannt: „. . . das Leben scheint aufgelöst in ein allgemeines Kaufen und Verkaufen . . ." ; „. . . das herrschende Princip der menschlichen Angelegenheiten gegenwärtig, was alles lenkt und endlich entscheidet aber, ist Gewinn und Wucher, und überall nichts als Gewinn und Wucher". 101 Die Poesie wird als Feld wahrhaft „menschlicher" Kommunikation abgehoben von der dem einzelnen gegenüber anonymen Allgewalt eines durch „Nützlichkeit" und „Brauchbarkeit" diktierten sozialökonomischen Kommunikationszusammenhanges, der sich über den Markt realisiert und der seinen sichtbarsten Ausdruck in der „Macht des Geldes" findet, in der „die Verselbständigung der Produktionsund Verkehrsverhältnisse überhaupt am deutlichsten" hervortritt^. Die poetische Utopie befreiter Menschlichkeit wird deshalb von einer ganz ins Private abgedrängten Individualität her entworfen. Diese Individualität wird zwar als „repräsentativ" gedacht — noch anklingend an die „Objektivität" griechischer Poesie. Nur kann eine Individualität, die es lohnt, „zur Menschheit zu erweitern" 163, nicht mehr das konkrete geschichtliche Individuum sein, eingebunden in die gesellschaftlichen Mechanismen und entstellt von ihren Zwängen. „Ohne irgendeine Ausnahme für besondre Naturen gelten zu lassen," so malt August Wilhelm Schlegel später in düsteren Farben die gesellschaftliche Perspektive der einzelnen aus, wie er sie aus der Aufklärung folgen sieht, „sollten alle gleichermaßen in das Joch gewisser 137

bürgerlicher Pflichten gespannt werden, in das Gewerbs- und Amtsund dann das Familienleben, und zwar nicht aus Patriotismus und Liebe, sondern um den Acker des Staats wie Zugvieh zu pflügen . . ." 164 Aus dem Protest gegen gesellschaftliche Zustände, die sich, „verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer", „als bitter enttäuschende Zerrbilder" (Engels) erwiesen hatten, ergeben sich einschneidende Konsequenzen für Sujet und Form des Romans, die erst die Konstituierung dieses Genres als romantische Kunstform ermöglichen. Was Friedrich Schlegel im Studium-Aufsatz kritisch als eine zu überwindende, wenn auch notwendige Durchgangsstufe moderner Poesie entwickelt — die Herrschaft des Charakterischen, Individuellen und Interessanten —, wird von veränderten weltanschaulichen Voraussetzungen her programmatisch als Möglichkeit eines poetisch-antizipatorischen Gegenbildes zur Wirklichkeit bejaht. Das implizierte freilich, in der poetischen Fiktion Gesellschaftliches nur in der Negation zu zeigen. Die dargestellten Personen werden in ihren Verhaltensweisen, Motivationen, intellektuellen und emotionalen Äußerungen von den Determinanten der sozialen und geschichtlichen Umwelt getrennt, da der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang für sie wie für den Autor zerstört bzw. undurchschaubar geworden ist und die Wirklichkeit in ihrer individuell erfahrenen Sinnlosigkeit nicht mehr als Ort tätiger Bewährung akzeptiert wird. Außenwelt, soweit sie überhaupt noch einbezogen wird, erscheint — wie im Heinrich von Ofterdingen — als willkürliche poetische Schöpfung, die märchenhafte Züge annimmt. Der Schwund an kompetenter Gestaltung der Realität als einer Gesamtheit dynamischer Zusammenhänge bestimmt die subjektive Optik der Erzählperspektive, veranlaßt die Reduktion des poetischen Gegenstandes auf einen intimen Bereich privater Lebenserfahrung, persönlichen Erlebens, Fühlens und Denkens, aus dem Poesie nun ihre Authentizität beziehen soll.1® Im Gespräch über die Poesie urteilt Friedrich Schlegel, „daß das Beste in den besten Romanen nichts anders ist als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers, der Ertrag seiner Erfahrung, die Quintessenz seiner Eigentümlichkeit" 166 . Der Roman nähert sich dem spontanen Lebenszeugnis, entwickelt sich zu einem formal schwer faßbaren Gemisch aus Brief, Tagebuch, Erlebnisreflexion. Schlegel kann sich „einen Roman kaum anders denken als gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen" i67, wobei diese „Formen" durchgängig als Gestaltungsmittel der Innerlichkeit isolierter 138

Individuen verstanden werden.108* Was in weltanschaulicher Hinsicht eine problematische Seite im Denken der deutschen Frühromantik bezeichnet, wird ästhetisch produktiv, indem mit der Konzentration auf die seelische und intellektuelle Landschaft der Individuen ästhetische Strukturen revolutioniert und neue Erzähltechniken erschlossen werden. Die Verdrängung von Fabel, sozialem Milieu, Charakteren durch unverbundene oder scheinbar willkürlich verknüpfte Assoziationen der Phantasie, durch Reflexion und Ironie als Mittel spielerischer Relativierung von Standpunkten, Sachverhalten und Vorgängen und als ästhetischer Metaebene literarischer Gestaltung leitet eine Entwicklung des Romans ein, die zwar nicht für die unmittelbar folgende Zeit bestimmend wurde, aber für die Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts konstitutive Bedeutung erlangt hat und auf Autoren wie James Joyce, Virginia Woolf oder Hermann Broch verweist. lti9 * Solche verfeinerte Darstellung der psychisch-geistigen Physiognomie der Individuen mittels veränderter poetischer Methoden und Verfahren macht insbesondere Friedrich Schlegels 1799 erschienenen Roman Lucinde zu einer exemplarischen Kunstleistung der deutschen Frühromantik. Der Lucinde-Roman reflektiert zugespitzt den Sieg bourgeoiser Partikularinteressen, den Hegel später in die resignierte Formel vom „Zusammenbrechen des Allgemeinen" 170 faßt. Thema ist die Liebe als das Private und damit als Hort der Menschlichkeit und Residuum von Selbstbestimmung. Der Rückzug auf private Sujets, fünfzig Jahre zuvor in der Gellert-Periode noch Ausgangspunkt einer neuen bürgerlich-emanzipatorischen Kunst, kritisiert hier bereits die praktischen Ergebnisse der bürgerlichen Emanzipation. „Es gibt noch keine Philosophie der Liebe; vielleicht ist sie nicht bloß der beste, sondern der einzige Gegenstand der Romanpoesie", notiert Friedrich Schlegel 1797.171 Ein Vergleich mit seinen frühen Schriften enthüllt das eingeengte Verständnis der Liebe, ausgelöst durch politische Desillusionierung. Im Aufsatz Über die Grenzen des Schönen von 1795 erscheint die Liebesbeziehung zwar ebenfalls als Inbegriff der Zweckfreiheit von ökonomischen und konventionellen Rücksichten, aber als ihre höchste Form gilt „die Vaterlandsliebe": „Im ächten Staate, dessen Zweck Vollständigkeit in der Gemeinschaft mehrer freyer Wesen ist, giebt es eine öffentliche Liebe, einen unendlichen Wechselgenuss Aller in allen. Das war es, dessen Verlust der unglückliche Lacedämonier, den das Gesetz mit Schande belegte, nicht überleben konnte; das unterschied die D o r i e r durch milde 139

Grossheit von den Römern, das verbreitet über das Leben des Brasidas den Glanz selbstgenügsamer Freudigkeit."! 72 Bei den Modernen jedoch konnte sich dieses Gefühl nur im Bereich des Individuellen und Privaten entfalten: „Die Liebe war bey den Modernen lange Zeit, zum Theil noch jetzt der einzige Ausweg für jeden freyeren Schwung höheren Gefühls, der sonst der Tugend und dem Vaterlande geweiht war." Das habe zwar die moderne Dichtkunst sehr bereichert, verschulde aber auch „Fantasterey und Bombast" der Gefühle, die „sublimierte Mystik und die ordentlich scholastische Pedanterey in der Metaphysik der Liebe vieler moderner Dichter" 173 — von der auch Lucinde nicht freigesprochen werden kann. Wie aber soll die Liebe nicht zur „Metaphysik" forciert werden, wenn sie als Refugium überanstrengt wird, wenn kreatürliches individuelles Glücksempfinden den Verlust gesellschaftlichenLebenssinns kompensieren soll! Die Liebenden sind überfordert, wenn einer des anderen Universum sein m , wenn pantheistische Sehnsucht Erfüllung finden soll, sich über die Liebesbeziehung der verlorenen Ursprünglichkeit einer Natur zu verbünden, die selbst eine poetische Fiktion ist.«® Die in diesem Roman entworfene ästhetische Utopie erhebt den Ausschluß von sozialer „Welt" zum bewußten, ja programmatischen gestalterischen Prinzip des Romans. Der gesellschaftliche Bezug dieser Ausprägung autonomer Kunst behauptet sich in der negierenden Verdrängung des Gegebenen als poetischer Gegenstand — im Entzug, der Kunst wie Individuum aus den determinierenden Zwängen historischer Wirklichkeit losreißen soll. In der poetischen Darstellung von Umerziehung und -Organisation der Gefühle und des Geschlechterverhältnisses sollen gänzlich neue, alternative Möglichkeiten sozialer Beziehungen erschlossen werden. Paradigmatisch wird ein Ideal von Liebesmoral und -verhalten demonstriert und in entlarvender, Veränderung provozierender Weise den gesellschaftlichen Zuständen einer „tiefen Verderbnis und Heuchelei" konfrontiert. „Es ist nur abstrahiert von der bürgerlichen Welt und ihren Verhältnissen", heißt es in Schleiermachers einfühlsamem Kommentar zur lauernde, „weil sie so sehr schlecht sind", zu gemein und unwürdig, um „die Liebe zu erläutern oder zu verherrlichen".176 Die „Liebe in ihrer inneren Schönheit und Majestät" wird zum hinreichenden konstitutiven Gegenstand einer „Dichtung auch von der größten Gattung", wie sie der Roman darstellt, erklärt. Hierin erweist sich hucinde als poetisches Komplement zur ästhetischen Theorie, die als 140

„romantisch" definiert, „was uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt". Dieses „Sentimentale" aber, das nur die Phantasie zu fassen vermag, deutet sie als das, „was uns anspricht, wo das Gefühl herrscht, und zwar nicht ein sinnliches, sondern das geistige", dessen Quelle und Seele die Liebe sei, die überall die romantische Poesie beherrschen muß.*'7 Die Beschränkung des Romans auf die „liebenswürdige Moral der Liebe", auf „die unsichtbare Gemeinschaft der Geister" und „die schöne Magie dieser Gemeinschaft" mit ihrem „inneren Reichtum und ihrer inneren Unendlichkeit" (Schleiermacher) zielt — an die aufklärerische Intention des Studium-Aufsatzes anknüpfend und diese gleichzeitig verengend — auf ein geschichtsphilosophisches Programm: Alle herkömmliche Moral als Spiegel einer veränderungsbedürftigen gesellschaftlichen Realität soll „zu Wahrheit und Unendlichkeit" hin aufgesprengt und eine „Vermenschlichung" der Welt durch die Liebe ins Werk gesetzt werden. Diese Wirkungsabsicht, von Schleiermacher in seiner Rezension des Romans im berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks herausgestellt 178 , veranlaßte Karl Gutzkow 1835 zu der Äußerung, daß die L.ucinde „der einzige positive Versuch" der Frühromantiker gewesen sei, „das Leben selbst in die künstlerische Bewegung hineinzuziehen" 179. Das Vertrauen auf die realitätssetzende Kraft der utopischen Alternative und ihrer literarischen Gestaltung weist auf die Kontinuität zur Fragmentkonzeption mit ihrem illusionären Streben, „die Philosophie und das gesellschaftliche Leben en rapport" 1 8 0 zu setzen. Das kommunikative und emanzipatorische Anliegen des Romans spiegelt sich in der subjektivierten, zu „Formlosigkeit" und „Unform" aufgebrochenen Struktur und Komposition des Romans wider, die mit ihrem Appell an Aktivität und Assoziationsvermögen des Lesers an das Fragment anschließt. Novalis hatte für die epische Form notiert: „Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume . . Die „Unbequemlichkeiten einer chronologisch fortschreitenden Erzählung" hatte er als die Phantasie einschränkend zurückgewiesen und statt dessen gefordert: „Eigner historischer Sinn und Takt. Eigenthümlicher Geist jeder Begebenheit." 181 Friedrich Schlegel hatte ähnliche theoretische Vorgaben für den Roman geliefert: „Im philosophischen (dem romantischen — G. H.) Roman alles m a s s e n w e i s e hingeworfen ohne Verflechtung." 182 „Das Wesentliche im Roman" sei „die chaotische Form" 183 . In der 'Luctnde hatte er gleich anfangs auf die bewußte Vernichtung 141

dessen, „was wir Ordnung nennen", verwiesen und die produktive Funktion des Chaos als die „reizende Verwirrung" der Phantasie betont, die eine eigene Welt schafft, indem sie die beengenden Gesetze der kargen Vernunft entmachtet.18/> In der Sprengung aller traditionellen Formen und Normen des Romans vereint die lauernde als „eine Form der Emanzipation des Individuellen von der Norm des Ganzen, des Besonderen vom Allgemeinen" noch einmal die antifeudalen, repräsentationsfeindlichen Züge der Fragmentform mit dem ästhetischen Dementi einer fragwürdig gewordenen rationalen Ordnung der bürgerlichen Alltagswelt, das in der spielerischen Ironisierung und Ablehnung abstrakter Arbeit, dem Verdikt über das arbeitsteilig versklavte Reich des Prometheus in der Idylle über den Mäßiggang seine inhaltliche Entsprechung findet. Schleiermacher verteidigte die vielgerügte „Unzüchtigkeit der Form" mit rezeptionsästhetischen Argumenten der Fragment- und Ironiekonzeption und deren bildend erzieherischem Modell: Es zieme dem Künstler, „daß sein Denken doch auch zu dem gehört, was dargestellt werden soll", und „die Kunst des Buches" stelle „selbst sich bisweilen als Prolog und Epilog hin, um über die Komposition mit dem Leser freundlich zu reden".185 Der hohe intellektuelle Anspruch begrenzte allerdings den tatsächlichen Adressatenkreis durch den erforderlichen gedanklichen und sprachlichen Konsensus in ähnlicher Weise wie schon beim Fragment. War mit der Darstellung des Liebesverhältnisses auch ein symptomatisches gesellschaftliches Verhältnis angesprochen186, so zeichnen sich in der Verabsolutierung der Liebe zum alleinigen Instrument menschlicher Emanzipation und der Überwindung sozialer Antagonismen weltanschauliche Schranken ab, die sich bei Feuerbach und dem „wahren Sozialismus" erneuern.187 Im Roman Lucinde ist die Verbindung der Helden dadurch der „objektiven Logik der Klassenbeziehungen in Liebesdingen" 188 entzogen, daß sie in problematisch elitärer Ausschließlichkeit vorgeführt wird. Alle sozialen Konflikte sind ausgespart. Dadurch kann sich die Liebesbeziehung in der Totalität ihres humanistischen Anspruchs entfalten. Der privilegierte sozial-ökonomische Status der Beteiligten ist dabei stillschweigend vorausgesetzt. Zugleich wird demonstrativ das Thema des repräsentativen bürgerlichen Bildungsromans — Wilhelm Meisters Lehrjahre — zu Lehrjahren für Gemüt, Gefühl, Phantasie verinnerlicht. Innerhalb 142

dieses verarmten Sujets aber sind Möglichkeiten sensibler, hochkultivierter Individualität — die im Prozeß jener von Marx und Engels beschriebenen „bürgerlichen Auflösung der Familie" 189 gegeben waren — äußerst differenziert entfaltet. Auch Schiller und Humboldt hatten das Geschlechterverhältnis und seine gewandelte Qualität thematisiert. Schiller plädierte noch vor den Frühromantikern für eine „gleichmäßige Kultur der Empfindungen". Im Gegensatz zu ihnen bleibt bei ihm — nicht ohne philiströse Seitenwege — die individuelle Beziehung abstrakt eingebunden in den Emanzipationsprozeß der Gattung. Humboldt hingegen entwickelte jene Normen der Geschlechterbeziehung, die im folgenden historischen Zeitraum in den Spitzen der Bürgerklasse gesellschaftlich praktikabel und tatsächlich wirksam waren. 1 9 0 Der Roman Lucinde verbindet mit der Kritik an klerikaler Entmündigung der Individuen die Abwehr der dürftigen Moral einer erwerbsbesessenen Bourgeoisiegesellschaft, die der Liebe keinen selbständigen Wert einräumt und sie nur „als mehr oder weniger unentbehrliches Mittel, unvermeidliches Übel oder verwerfliche Abweichung" von dem betrachtet, was „das einzige notwendige und heilsame" sein soll — „das trockne Leben und Geschäftführen und das dazu eben so unumgängliche nötige Denken" 191 . Liebe als „autonom" gegenüber „schlechter" Wirklichkeit, Liebe, der nur Poesie gerecht zu werden vermochte, konnte eine Neigung zu real nicht einlösbarem Anspruch und zu seelenschwelgerisch introvertierter Übersteigerung nicht leugnen. In der emanzipatorischen Verteidigung des individuellen Glücksverlangens, in der souveränen Betonung der Freude, des Spiels und der Phantasie als tragender Momente der Liebe, in der Darstellung ihres freien und selbständigen Charakters, in der gegen jede „dualistische Praktik" gerichteten „Durchgeistigung der Sinnlichkeit" (Robert Musil) und in der kühnen Polemik gegen eifernden Asketismus erkannte schon die nachfolgende Generation eine bewahrenswerte sozialkritische Leistung dieses „glänzenden Kunstmeteors der Liebe". „Wie verzeihlich", so schrieb Ludolf Wienbarg 1834, „. . . war sein (Schleiermachers — G. H.) Irrtum! Er glaubte an die Kraft und Zauberei der Liebe, die aus dem zierlichen Malerstock des Julius gelegentlich eine Herkuleskeule zaubern könnte; er ergänzte an Julius den Cäsar und sah Taten im Hintergrunde seines Verhältnisses mit der Lucinde, . . . wo nur die Dysenterie des Katholizismus folgen konnte". 1 9 2 143

Hans-Ulrich Kühl

Kunstproblematik und „klassische" Romanform bei Goethe Von der nTheatralischen Sendung' zu den nLehrjahren"

In seiner Bruchstück gebliebenen Theorie der Bildung des Menschen (1793) hob Wilhelm von Humboldt als Problem bei der „Erziehung des Menschengeschlechts" hervor, „daß zwar Vieles um uns her zu Stande gebracht, aber nur wenig in uns verbessert wird". Einer der Gründe dafür sei, „dass man über der höheren, und nur für Wenige tauglichen wissenschaftlichen Ausbildung des Kopfes die allgemeiner und unmittelbarer nützliche der Gesinnungen vernachlässigt" i . Um diese Kluft zwischen Geistes- und Charakterentwicklung zu überwinden, brauche der Mensch einen „Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen; so muss er der Gegenstand schlechthin, die Welt seyn, oder doch . . . als solcher betrachtet werden. Nur um der zerstreuenden und verwirrenden Vielfalt zu entfliehen, sucht man Allheit . . ." 2 Was Humboldt hier als Problem einer „Theorie" der menschlichen Bildung reflektiert, entwickelt Schiller aus vergleichbaren Intentionen, doch mit anderen Akzentuierungen in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menseben als Aufgabe der „schönen Künste". Gegen, wie Schiller schreibt, die „Absonderung der Stände und Geschäfte" 3 mobilisieren die „schönen Künste" das „ganze Wesen" des Menschen — als Forderung der „Vernunft" und vor allem auch als elementares menschliches „Bedürfnis", seine Verhältnisse nach dem höchst möglichen Grad menschlicher Entfaltung zu gestalten. Die bei Humboldt geforderte „Wechselwirkung" von „Ich" und „Welt" 4 erfüllt in Schillers Verständnis noch nicht die antizipierenden Möglichkeiten der Kunst. „Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern." 5 Jene, in der Wirklichkeit nicht gegebene „Wahr144

heit" manifestiere Kunst als „Schein" der „Wahrheit". Schiller bezeichnet seine Verfahrensweise als ,,transcendentale[n] Weg" 6 . Er hat diesen Weg in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen als notwendiges Durchgangsstadium menschlicher Entwicklung aus den entfremdenden Bedingungen der bestehenden „Cultur" und des ökonomischen „Apparates" begründet. 7 Seinen theoretischen Entwurf endet Schiller mit der praktisch entscheidenden Frage: „Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins? und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele; der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden . . . " 8 Das Problematische des vorgeschlagenen transzendentalen Weges durch das „Ästhetische" liegt in dieser Unterscheidung zwischen „dem Bedürfnis nach" und „der Tat nach". Ähnlich mußte Humboldt zwischen „Empfänglichkeit" und praktischem Tun des Menschen unterscheiden. Mit seinem Wilhelm Meister-Roman hat Goethe poetisch-praktisch sich den Konsequenzen derartiger Unterscheidungen gestellt. Die Widersprüche zwischen „Bedürfnis" und „Tat" werden in diesem Roman in vielschichtigen Schattierungen als subjektiv und objektiv bedingtes Problem einer Individualitätsentwicklung unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Der Roman zielt auf die sich verschärfenden Diskrepanzen zwischen aufklärerischen Grundüberzeugungen von der Emanzipation des Menschen und den gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen einer im internationalen Maßstab sich abzeichnenden Kapitalisierung und sozialen Differenzierung. Auf Widersprüche zwischen Weltanschaung und geschichtlichen Erfahrungen hin werden bestehende Konzepte einer ästhetischen Erziehung des Menschen, insbesondere das Schillersche, kritisch hinterfragt. Als der klassische Roman einer ästhetischen Erziehung gehen die Lehrjahre wesentlich über zeitgenössische Erziehungskonzepte hinaus. Das betrifft insbesondere auch die Differenzierung einer emanzipatorischen Funktionssetzung von Kunst. Kunst, die als entscheidendes „Werkzeug" 9 zur Überwindung der Kluft zwischen „Bedürfnis" und „Tat" verstanden wird, muß den „Schein" der Wahrheit geschichtlich begründen. Wie kann aber eine auf das „Schöne" gerichtete Kunst historisch wirksam sein, solange die ästhetische Wirksamkeit von der praktischen 10

Kunstpenode

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a b g e h o b e n w i r d ? Wie m u ß K u n s t b e s c h a f f e n sein, u m die fehlende „ W e c h s e l w i r k u n g " zwischen „ B e d ü r f n i s " und „ T a t " zu erreichen, s o w o h l als „ B e d ü r f n i s " wie als „ T a t " ? D i e grundsätzliche F r a g e , die H u m b o l d t , Schiller, G o e t h e , s c h o n früh Herder u n d andere v o r ihm in diesem Z u s a m m e n h a n g reflektierten, ist die nach der „ W e c h s e l w i r k u n g " zwischen der n o t w e n d i g e n V e r ä n d e r u n g des Menschen als B e d i n g u n g f ü r die V e r ä n d e r u n g geschichtlicher Verhältnisse und der n o t w e n d i g e n V e r ä n d e r u n g dieser Verhältnisse als V o r a u s s e t z u n g d a f ü r , daß sich der Mensch verändern kann. E n t s c h e i d e n d f ü r den gesellschaftlichen Prozeß menschlicher B i l d u n g ist f ü r G o e t h e die Fähigkeit zur tätigen Selbsterneuerung. E r verstand diese Fähigkeit, a n a l o g z u m „ W e r d e n und V e r g e h n " der „ G e s a m t n a t u r " , als tätige A u s e i n a n d e r s e t z u n g des M e n s c h e n mit der „ a l l u m f a s s e n d e n N a t u r " sowie als B e t ä t i g u n g der m e n s c h lichen N a t u r . P r o m e t h e u s war d a f ü r S y m b o l , das in G o e t h e s gesamtem S c h a f f e n in immer neuen A k z e n t u i e r u n g e n der historisch gewachsenen F o r m e n menschlicher Produktivität wiederkehrt. D i e mit ihm z u m A u s d r u c k gebrachte Produktivität des M e n s c h e n blieb f ü r G o e t h e durch alle geschichtlichen W a n d l u n g e n hindurch der eigentliche K e r n f ü r das B e g r e i f e n der Geschichte, er verstand sie als deren treibende K r a f t . In der K u n s t ist menschliche P r o d u k tivität gesteigert, weil bewußt u n d mit „ F r e i h e i t " v o l l z o g e n . D i e s e schöpferische Selbstbetätigung u n d S e l b s t b e s t ä t i g u n g des M e n schen b e s t i m m t f ü r G o e t h e die emanzipatorische F u n k t i o n v o n K u n s t . D i e Literatur sichert im Weltanschaulich-Ästhetischen einen R a u m menschlicher E m a n z i p a t i o n , der der Vielfalt u n d Widersprüchlichkeit des „wirklichen L e b e n s " entspricht, als „ z w e i t e " , weil menschlich vollendete „ N a t u r " w i r k s a m wird. E s geht im F o l g e n d e n u m einen A s p e k t dieser G o e t h e s c h e n K o n z e p t i o n , u m die F r a g e , w a s eine auf E m a n z i p a t i o n ausgerichtete D i c h t u n g praktisch leistet. I m Ü b e r g a n g v o n der Theatralischen Sendung zu den Lehrjahren lassen sich b e s t i m m t e Z u s a m m e n h ä n g e v o n gesellschaftlichen und literarisch-kommunikativen V e r änderungen erkennen. I m Z e n t r u m des G o e t h e s c h e n N a t u r - u n d E n t w i c k l u n g s k o n zepts steht der menschliche Gestaltwandel b e i m Ü b e r g a n g zu einer neuen Gesellschaft. G o e t h e reflektiert die Gleichzeitigkeit d e s geschichtlich U n g l e i c h m ä ß i g e n als H a n d l u n g s r a u m f ü r V e r ä n d e rungen. D i e stadial-regionalen Unterschiede in der e u r o p ä i s c h e n

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E n t w i c k l u n g sind G r u n d l a g e d a f ü r . D e r Aufenthalt im „klassis c h e n " R o m während seiner ersten Italienreise hatte ihm eine k o n krete V o r s t e l l u n g v o n d e m „ I n - E i n s " 1 0 der Zeiten v e r m i t t e l t . 1 1 * Im k o n k r e t e n R a u m seines „ g e g e n w ä r t i g e n D a s e i n s " erlebte er den Z u s a m m e n h a n g v o n V e r g a n g e n e m und Z u k ü n f t i g e m . 1 2 Mit den Lehrjahren e r p r o b t G o e t h e eine M e t h o d e epischer D a r stellung, die diesem Zeit-Raum-Verhältnis und d a m i t den Ü b e r l a g e r u n g e n verschiedener „ E p o c h e n " im europäischen U m b r u c h gerecht zu werden v e r m a g . D i e A b s o n d e r u n g des „ s c h ö n e n Scheins" v o n der Wirklichkeit, wie sie in der ästhetischen T h e o r i e der K u n s t p e r i o d e v o n unterschiedlichen A n s ä t z e n her v o r g e n o m m e n w i r d , war in diesem Z u s a m m e n h a n g gerichtet g e g e n eine H e r r s c h a f t des „ ö k o n o m i schen N u t z e n s " . A n den inhaltlichen W a n d l u n g e n , die der B e g r i f f des „ ö k o n o m i s c h e n N u t z e n s " v o m j u n g e n Herder bis zu Schlegel erfährt, ließen sich die W i d e r s p r ü c h e der ästhetischen E r z i e h u n g s k o n z e p t e zwischen A n s p r u c h u n d tatsächlicher E i n f l u ß n a h m e aufzeigen. D i e Wilhelm Meister-Romane G o e t h e s (Theatralische Sendung, Lehrjahre, Wanderjahre) reflektieren ein solches S p e k t r u m : In der Theatralischen Sendung ist mit d e m sich ausbreitenden „ ö k o n o m i s c h e n G e i s t " noch mehr eine bürgerlich-philisterhafte V e r e n g u n g menschlicher K r ä f t e g e m e i n t , g e g e n die die „ s c h ö n e n K ü n s t e " , auf die geistig-sinnliche Totalität des M e n schen gerichtet, w i r k s a m zu w e r d e n v e r m ö g e n . D i e Wanderjahre fassen darunter p r o d u k t i v e materielle E n e r g i e n der b ü r g e r l i c h e n E n t w i c k l u n g , v o r allem den technischen Fortschritt in seiner G r ö ß e f ü r die B e h a u p t u n g des Menschen g e g e n ü b e r der N a t u r u n d in seiner G r e n z e f ü r die menschliche Individualität. D i e E r z i e h u n g des „ g a n z e n M e n s c h e n " erfolgt hier, ohne eigentlichen E i n f l u ß auf jene technischen Prozesse, in „ p ä d a g o g i s c h e n P r o v i n z e n " . D i e Lehrjahre sind in dieser Hinsicht zwischen Theatralischer Sendung u n d Wanderjahren angesiedelt. D e m reflektierten geschichtlichen E n t w i c k l u n g s s t a n d entsprechend, geht es u m V e r m i t t l u n g v o n s o z i a l ö k o n o m i s c h e m Fortschritt und menschlicher E m a n z i p a t i o n . Vereinseitigende F o l g e n jenes Fortschritts sollen durch A n e i g n u n g ästhetischer Werte ausgeglichen werden. D i e latenten W i d e r s p r ü c h e zwischen ästhetischer P r o g r a m m a t i k und der Praxis bürgerlicher E n t w i c k l u n g hat G o e t h e in seinen literarischen W e r k e n als P r o b l e m der zeitgenössischen K u n s t artikuliert. Wilhelm Meisters Lehrjahre sind für die Artikulation dieser 10'

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Kunstproblematik wie für den Versuch, deren Lösung voranzutreiben, von allgemeinerer Bedeutung. Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang dieses Romans, der Übergang von der Theatralischen Sendung zu den Lehrjahren verweisen auf einschneidende Veränderungen der literarischen Verhältnisse. Die Lehrjahre haben den Widerspruch zwischen einer möglichen emanzipatorischen Funktion bürgerlicher Kunst und ihrem sozial verschiedenen, überwiegend von dieser Funktionssetzung entfremdeten Gebrauch als eines der wesentlichen Entwicklungsprobleme moderner Kunst zu fassen versucht. Der Wandel von ästhetischer Konzeption und poetischer Werkstruktur im Übergang von der Theatralischen Sendung zu den Lehrjahren gewinnt in dieser Hinsicht paradigmatische Bedeutung für die Situierung der Kunst am Beginn der Kunstperiode.

1. Nicht erst die Lehrjahre, auch das Kunstkonzept der Theatralischen Sendung ist wesentlich durch die Reaktion auf Diskrepanzen zwischen möglicher Funktion und tatsächlichem gesellschaftlichen Gebrauch der Kunst bestimmt. Die in der Theatralischen Sendung entwickelte Kunstproblematik resultiert aus der Unvereinbarkeit eines Gebrauchs von Kunst als feudales Divertissement 1 3 bzw. als Lebensersatz mit ihrer potentiellen Funktion, Medium nationaler Verständigung zu sein, ausschlaggebend für die geistig-sittliche Formierung der bürgerlichen Nation. Im Unterschied allerdings zu den Lehrjahren erscheint in der Theatralischen Sendung das Widersprüchliche im Verhältnis von möglicher Kunstfunktiorj und praktischem Kunstgebrauch zunächst durch die Präzisierung bürgerlicher Wertvorstellungen sowie durch eine Reformierung der Kunst überwindbar zu sein. Wilhelm Meisters theatralisches Sendungsbewußtsein ist heroischillusionäre Reaktion auf die Misere seines Standes und der erfahrenen Standeswelt. Seine Entwicklung ist darauf gerichtet, ein Wirkungsfeld zu finden, das die Einseitigkeiten sowohl der bürgerlichen Handelswelt als auch die der „vornehmen" Stände zu überwinden hilft. Eine „freie" Künstlerexistenz erscheint dafür geeignet. Das Theater wird als Instrument ideologischer Auseinandersetzungen mit der gegebenen Standeswelt genutzt, mit ihm 148

werden bürgerlich-heroische Alternativvorstellungen erprobt. D i e G r ü n d u n g eines Theaters v o n nationaler Repräsentanz erhält M o dellwert f ü r die Reformierung der bestehenden „ C u l t u r " . Dieser konzeptionelle Ansatz der Theatralischen Sendung wird v o r allem durch Goethes E r f a h r u n g präzisiert und problematisiert, die das Scheitern des „Weimarer E x p e r i m e n t s " mit sich brachte. V o n E i n f l u ß war die Einsicht, daß, vorausgesetzt, Weimar wäre das Modell eines aufgeklärten Absolutismus g e w o r d e n , seine Signalwirkung für eine allgemeine Veränderung in Deutschland gering bleiben mußte. D i e Wirkungslosigkeit des praktischen Versuchs, den A b s o l u t i s m u s in einem Kleinstaat zu reformieren, stellt die Frage, welchen E i n f l u ß die K u n s t auf die anstehenden Veränderungen zu nehmen v e r m a g , in einem neuen Lichte. D i e besondere Stellung des Künstlers gegenüber anderen sozialen Schichten, v o r allem gegenüber dem Handelsbürgertum, gewinnt in diesem Z u s a m m e n h a n g an Bedeutung. Der bürgerliche K ü n s t ler und der bürgerliche Handelsmann sind schon in der Theatralischen Sendung zwei in ihrer A r t und Wirksamkeit sehr verschiedene Vertreter einer geschichtlichen B e w e g u n g , die sich g e g e n den herrschenden Feudaladel zu behaupten versucht. Wilhelm Meisters W e n d u n g ins Allgemeine moralischer Besserung des Menschen, seine Sehnsucht nach d e m Schönen und G u t e n sind F o l g e n seiner bürgerlichen Existenz, die alles Menschliche, alles Schöne d e m „ ö k o n o m i s c h e n N u t z e n " , dem Expandieren des G e s c h ä f t s opfert. D u r c h die V e r b i n d u n g mit Mariane erscheint Wilhelm das Theater als greifbare Alternative zu dieser Existenz. D i e Liebe zu Mariane ist für ihn E r f ü l l u n g aller geheimen T r ä u m e . D a s naive Vertrauen in die „Realität" seiner T r ä u m e p r ä g t in der Misere seiner tatsächlichen Situation sein heroisches Sendungsbewußtsein, Schöpfer eines Nationaltheaters zu werden und damit entscheidenden E i n f l u ß auf die sittliche Besserung der Menschen zu gewinnen. D i e s e Heroisierung eines „ p r i v a t e n " Vorsatzes macht Wilhelm unfähig, die eigenen naheliegenden Probleme zu klären, und verklärt auch zunächst seinen U m g a n g mit K u n s t . In Wilhelms Kindheitsentwicklung funktioniert das Theater b z w . Puppenspiel ausgleichend gegenüber der E n g e und N ü c h ternheit der Familienverhältnisse. ( Z u m Z w e c k e einer solchen positiven B e g r ü n d u n g des Theaters wird die ausführlich geschilderte Kindheitsentwicklung nach der B e s t i m m u n g der A u s g a n g s situation des R o m a n s eingeschoben.) Diese ausgleichende Wir149

kung von Kunst wird auf der Handlungsebene problematisiert: Wie weit reicht die Wirksamkeit einer „originalen" Kunst, die nicht nur auf Selbstbestätigung des Individuums g e g e n eine es depravierende Gesellschaft gerichtet ist, sondern auf eine Persönlichkeitsentwicklung durch tätige Wirksamkeit in der Gesellschaft. Die Wirkungspotenz von Kunst, wie sie im Roman ursprünglich bestimmt werden sollte, lag — dem allgemeinen weltanschaulichen Ansatz nach — im praktikablen Kenntlichmachen von jenem „geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt" Vl . Ganz in diesem Sinne ist in der Theatralischen Sendung zunächst die HaWiZ-Interpretation als entscheidender Drehpunkt des Romans angelegt. Hamlets Schicksal verdeutlicht das komplizierte Verhältnis von „prätendierter Freiheit" menschlichen Handelns und dessen Determinierung durch objektive Umstände, die die Folgen subjektiven Verhaltens einschließen. „Hier hat der Held keinen Plan, aber das Stück hat einen." '!> Der „Plan" des Stücks ist das gestaltete Leben selbst, damit schöpferische Leistung des Künstlers: „. . . was sich das Schicksal allein vorbehalten hat" 16 , ist hier „gebändigt" in künstlerischer Form. Kunst ist in diesem Sinne „bestimmendes Element einer . . . in der Auseinandersetzung mit der Natur möglichen Humanisierung und Sozialisierung" ,7 . Mit dieser Funktion soll Kunst institutionalisiert werden. Die Nationaltheaterproblematik erhält damit ein besonderes Gewicht: Gefragt wird nach einer bürgerlichen Kunstinstitution, die die Vermittlungen zwischen Kunstentwicklung, Entwicklung des Menschen und geschichtlichen Prozeß umfaßt. Wie und unter welchen subjektiven und objektiven Voraussetzungen kann das Theater „Organ" nationaler Verständigung, Modell bürgerlicher Einflußnahme, Medium für die geistig-sittliche Formierung des Menschen, der „menschlichen Natur" sein? Die im Roman gezeigten Stufen der Theaterentwicklung — von den Schaustellern zu einer Theatertruppe in höfischen Diensten, vom feudalen Mäzenat zu einer „freien" Wanderbühne, die nicht lebensfähig ist, von dort schließlich zum bürgerlichen Stadttheater — verweisen auf eine Umfunktionierung des feudalständisch geprägten Theaters zu einem Theater von nationaler Repräsen150

tanz. Sie schließt die Bündelung produktiver Momente der Kulturtraditionen aller Stände, von den plebejischen Schichten bis zum höfischen Adel, ein. Damit ist jedoch die Frage nach dem sozialen Träger dieser Kunstinstitution noch nicht beantwortet. Offen bleibt, ob der Verweis auf die Amazone, mit dem das Fragment endet, dafür zu nehmen ist, daß die Lösung dieses Problems im Bündnis mit verbürgerlichten Vertretern des hohen Adels — in einer Verbindung zwischen Wilhelm und der Amazone — gesucht wird. Offenbar verneint wird die Frage, ob das gezeigte Bürgertum die Entwicklung einer Kunst von nationaler Bedeutung zu tragen in der Lage ist. Die Künstlerexistenz, der Wilhelm Meister entgegenstrebt, ist nicht auf eine bestimmte soziale Schicht begründet. Mit dem letzten Buch der Theatralischen Sendung, das entstehungsgeschichtlich im Zusammenhang mit Goethes ItalienReise steht, mit seinem Versuch, als unabhängiger Künstler zu leben, rückt das Problematische solcher „freien" Künstlerexistenz in den Mittelpunkt. Kann ihr eine gesellschaftliche Alternativkraft abgewonnen werden? Welche soziale Rolle spielt der Künstler? In welchem Maße vermag Kunst auf jene gesellschaftlichen Prozesse verändernd einzuwirken, denen sie selbst in ihrer Entwicklung unterliegt? Insbesondere Aurelies „Leidensweg" bringt das Problematische dieser Künstlerexistenz zum Ausdruck. Ihr Talent entfaltet sich zunächst in einer angenommenen glücklichen Übereinstimmung mit den allgemeinen Forderungen der Nation. Auf der Höhe ihrer Kunst erkennt sie die Diskrepanzen zwischen diesen allgemeinen Forderungen und den individuellen Ansprüchen des Publikums; sie erfährt die „durchschlagende Wirkungslosigkeit" (Brecht) ihrer Repräsentationen. „Es war mir eben, als wenn die ganze Nation sich recht vorsätzlich bei mir durch ihre Abgesandten habe prostituieren wollen." 18 Ihr Rückzug ins Private untergräbt ihre Existenz als Schauspielerin. „Ich spielte nun nicht mehr nach meinem Gefühl, nach meiner Überzeugung, sondern wie er (Serlo, als geschäftstüchtiger Theaterunternehmer — H.-U. K.) es anwies, . . . Es ging Geld ein, er konnte nach seiner Willkür leben, und wir hatten gute Tage mit ihm."i y Aus diesem „handwerksmäßigen Schlendrian" 20 befreit sie die Liebe zu Lothar, einem Mann aus „vornehmen" Kreisen. Ihr persönliches Glück weckt neue uneinlösbare Prätentionen. „Lothar hatte mir immer die Deutschen von der Seite ihrer Tapferkeit vorgestellt und mich versichert, daß keine 151

bravere Nation in der Welt sei, wenn sie recht geführt werde. Dies fiel mir auf, und ich schämte mich, daß ich niemals an diese erste Eigenschaft gedacht hatte . . . ich fragte nicht mehr nach Bildung, nach Art und Weise und ließ mir die rauhe und unansehnliche Schale des trefflichen Kerns wegen gefallen." 2 1 Als Lothar sie verläßt, verdeckt in der Übermacht verletzter Gefühle ein tragisch-pathologisches Weltgefühl die Probleme ihrer Schauspielerexistenz. „Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine Deutsche bin. E s ist der Charakter der Deutschen, daß sie über alles schwer werden und daß alles über ihnen schwer w i r d . " 2 2 Ihre Zurschaustellung verletzter Innerlichkeit ist nur die Kehrseite des beklagten Verhaltens ihres Publikums. Aurelies U m g a n g mit Kunst reduziert sich auf den Ausdruck der eigenen subjektiven Befindlichkeit, mit Vorliebe in tragischen Rollen. D a s Pathologische ihrer Existenz ist Resultat eines ihr auferlegten Rollenspiels. D a s Rollenspiel wiederum ist Ursache für ihre Unfähigkeit, die eigene Situation, ihr Leiden in seinen wahren Ursachen zu begreifen. Ophelias Schicksal ist für Aurelie die „schöne" Folie, mit der sie ihr armseliges Leiden verklärt zu begreifen vermag. Aurelies sensible Individualität zerbricht an den Diskrepanzen jener Forderungen, die sie sich selbst als Künstler auferlegt und denen sie in ihrer Rolle als Künstler unterliegt. Die Probleme ihrer Schauspielerexistenz verweisen auf die Unvereinbarkeit von Persönlichkeitsentwicklung und sozialem Rollenspiel. D a s Unvereinbare ihres Anspruchs und ihrer tatsächlichen sozialen Rolle als „freier" Künstler resultiert ebenso aus der K o n stitution ihrer Individualität wie aus der des Theaters als „freie" bürgerliche Kunstinstitution. Serlo ist der dieser Kunstinstitution angemessene Charakter. Seine robuste Natur ist die Umkehrung von Aurelies krankhaft gesteigerter Sensibilität. Sein „glückliches Naturell fand jeden Ausdruck, nur das Rührende, Herzliche nicht" 2 3 . Sein Charakter ist das entgegengesetzte Resultat vergleichbarer Spannungen zwischen persönlichem Anspruch und sozialem Rollenspiel. Beide Figuren, Serlo und Aurelie, sind Ausdruck einer entschiedenen Desillusionierung über die Wirkungsmöglichkeiten eines „freien" Künstlers auch jenseits der zu reformierenden feudalständischen Kunstverhältnisse. Wilhelm Meister war mit der Überzeugung angetreten, im Theater den „Heilort" für sein eingeschränktes Leben zu finden. D a s 152

erreichte „Ziel" wird zu einem notwendigen neuen Ausgangspunkt für die Suche nach einer Alternative für die Kunst, die weder Serlo noch Aurelie repräsentieren. Die in der Überwindung des engen Nützlichkeitsdenkens seines Standes individuell positiv begründete Wirksamkeit kann gesellschaftlich auf keiner der dargestellten Standesebenen realisiert werden, auch nicht auf der Ebene einer „freien" Künstlerexistenz. Im Moment seiner Entscheidung für Serlos Bühne formuliert Wilhelm seine Theaterbeziehung als ein problematisches Verhalten zum Leben: „War jene Aussicht, jener Ausweg nach dem Theater bloß einem unordentlichen unruhigen Menschen willkommen, der ein Leben fortzusetzen wünschte, das ihm die Verhältnisse der bürgerlichen Welt nicht gestatteten, oder war es alles anders, reiner, würdiger?" 2 '' Die Alternative zwischen „Würde" und „unordentlichem" Leben, die Wilhelm auch als Problem des Theaters formuliert, hebt ähnlich wie Aurelies Geschichte die Künstlerexistenz in ihrer Alternativbedeutung zu einem eingeschränkten bürgerlichen Leben auf. Die sich öffnende Schere zwischen einer „hohen" Kunst und den realen Publikumsinteressen, zwischen Anspruch und Rollenspiel des Künstlers zeigt das „Bürgerliche" einer „freien" Künstlerexistenz als negative Bestimmung: auf der einen Seite Kunst als Lebensersatz bzw. ihre Verwendung zu Repräsentationszwecken, auf der anderen Seite, im Streben nach geistiger Höhe, nach einer nationalen Repräsentanz über die nationale Konstitution hinweg, die Tendenz zur Isolierung der Kunst im Ästhetizismus. Der konzeptionelle Bruch, der zum Neuansatz des Wilhelm Meij-/e/--Romans führt, liegt im Problemgehalt des Serloschen Theaters begründet. Das „Bürgerliche" im Nationaltheaterkonzept, verstanden als Modell für die Reformierung feudalständischer Kunstverhältnisse, war zunächst in der Theatralischen Sendung — ähnlich wie in Schillers Schaubühnen-Rede von 1784 — mehr programmatisch-perspektivischer Entwurf als nüchterne Analyse. Der gesellschaftlich-geschichtliche Charakter dieser Kunstinstitution blieb als Gegensatz zu den bestehenden, feudal geprägten Theatern noch weitgehend unreflektiert. Die kurzlebigen Experimente zur Begründung eines Nationaltheaters in Hamburg und in Mainz brachten erste Einsichten; doch das enttäuschende Verhalten des Hamburger Handelsbürgertums gegenüber dem Schröderschen National theaterexperiment25 wurde erst mit der Ende der achtziger Jahre in einem besonderen Maße einsetzenden „Verbürgerli153

chung" der Literatur- und Kunstverhältnisse als für das Verhältnis von Kunst und Bürgertum problematisch reflektiert. Die Kluft zwischen einem emanzipatorischen Funktionsverständnis von Kunst und ihrem tatsächlichen, davon entfremdeten Gebrauch verbreitet und vertieft sich insbesondere mit dem Entstehen eines literarischen Unterhaltungsmarktes. Diese Entwicklung setzt in Deutschland etwa ab 1787, im sogenannten „nachreichschen Zeitalter" des Buchhandels, verstärkt ein. Damit erhält die Künstlerthematik eine für die bürgerliche Entwicklung verallgemeinerbare sozialgeschichtliche Dimension. 2 6 Mit der Neukonzipierung des Wilhelm Mg/j/ir-Romans geht Goethe im Erfassen der sich verändernden Literaturverhältnisse über das Konstatieren des Widerspruchs zwischen programmatischer Funktion und praktischem Kunstgebrauch hinaus. Die sozial verschiedene Rolle von Kunst und Künstler, wie sie der Roman reflektiert, einem ersten Ansatz nach auch unter dem Aspekt des Marktwertes ästhetischer Produkte 2 7 *, führt notwendig zu Konsequenzen für die funktionale Orientierung der Kunst. In der Hinwendung zur Prosa bürgerlicher Verhältnisse, dem Inhalt und der Form nach, versucht Goethe mit den Lehrjahren, Ursachen und Konsequenzen dieses Widerspruchs aus gesellschaftlichen Entwicklungszusammenhängen zu bestimmen. Hier wird ein Konzept menschlicher Produktivität literarisch-praktisch erprobt, das Kunst als aktivierendes Instrument begründet, die widersprüchliche Gesamtheit menschlicher Beziehungen zu begreifen.

2. Die Funktion der Kunst für die Bildung und Erziehung des Individuums wird in den 'Lehrjahren insbesondere aus den gesellschaftlichen Bedingungen künstlerischer Wirksamkeit, aus den sich verändernden literarischen Verhältnissen präzisiert. Goethe konfrontiert Wilhelm Meisters Anspruch, sich gegen die bestehende „Verfassung der Gesellschaft" 28 mit dem Theater zu einer „öffentlichen Persönlichkeit" auszubilden, mit den Entwicklungsbedingungen des Serloschen Theaters. Mit der Frage nach der Wirksamkeit ästhetischer Erziehung des Menschen ist so gleichermaßen die Frage nach der historisch-sozialen Konstitution des Theaters für eine ästhetisch-erzieherische Einflußnahme gestellt. Goethe 154

gewinnt so gestalterisch einen Ansatz, mit dem viel nüchterner, illusionsloser als etwa in Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung, vor allem frei von aller „politischen Metaphysik" 29 , die Möglichkeiten und Bedingungen ästhetischer Erziehung aus den geschichtlichen Erfahrungen der achtziger und neunziger Jahre erfaßt werden können. Vor Eintritt in das Serlosche Theaterunternehmen formuliert Wilhelm jene Grundsätze und Ziele, die er mit dem bürgerlichen Stadttheater realisieren will. Sie richten sich auf eine harmonische und allseitige Ausbildung seiner Persönlichkeit, die ihm auf Grund seiner sozialen Stellung versperrt ist. Wilhelm formuliert hier einen Gegenentwurf zu Werners Programm, sein Handelsgeschäft durch Geldverleih und Landaufkauf zu einem expansiven Unternehmen umzugestalten, um teilzuhaben an dem unter den „Großen dieser Erde" 30 verteilten Besitz. Gegen Werners Fetischisierung des „ökonomischen Nutzens" als Maß menschlicher Tätigkeit setzt Wilhelm die Ausprägung einer harmonischen, allseitigen Innerlichkeit des Menschen. Ebenso absolut wie Werner die „ökonomische" Tätigkeit als einziges Mittel zum Aufstieg des Bürgers innerhalb der bestehenden Ordnung versteht, begreift Wilhelm diese menschliche Innerlichkeit, ihre Bildung und Entwicklung als Bedingung für die Überwindung aller durch die Gesellschaft verschuldeten Vereinseitigungen. Werners Entwicklung zu einem finanzkräftigen, doch menschlich verkümmerten Handelsmann wird als Gegensatz zu Wilhelms Entwicklung als Künstler gesetzt, zu Wilhelms idealem Bemühen um Bildung und Erziehung des „ganzen Menschen". Goethe versucht damit, die gesellschaftliche Relevanz ästhetischer Erziehung im Vergleich von „ökonomischer" und künstlerischer Tätigkeit zu fassen. Wilhelm begreift geschichtlich tiefgründig die „menschlichen" Konsequenzen der sozialen Standesstruktur. Seine persönlichen Schlußfolgerungen daraus, seine Entscheidung, über das Theater seinen Anspruch auf „private Befreiung" (Brecht) durchzusetzen, erweitert Wilhelm auf die Regulierbarkeit ständischer Verhältnisse. Das bestimmt seine illusionäre Position. Wilhelm trennt in seinem Konzept ästhetischer Erziehung menschliche Innerlichkeit und „Verfassung der Gesellschaft" voneinander. Er glaubt, mit dem Theater einen Raum gefunden zu haben, der als Öffentlichkeit autonom ist, der die Ausbildung einer harmonischen 155

Persönlichkeit und ihre öffentliche Wirksamkeit garantiert. Wilhelm setzt das Vorbildhafte der Kunst und darin die Wirksamkeit des Theaters als notwendiges Bedürfnis des Menschen, ohne die Bedingungen für ein Wirksamwerden der Kunst zu hinterfragen. Diese illusionäre Position schränkt auch den Erfolg aller Bemühungen um Lösung seiner persönlichen Probleme ein. Wilhelms Persönlichkeits- und Öffentlichkeitsanspruch gerät, auf das Theater umgesetzt, zunehmend in Widerspruch zu den praktischen Forderungen und Einschränkungen des Theaters als Institution und Medium bürgerlicher Öffentlichkeit. Wilhelm wird mit der Entwicklung an diesem Theater, mit der Wandlung dieses Theaters von einer Kunststätte zu einem kommerzialisierten Unternehmen auf die Probleme seiner Herkunft zurückgeführt, die er mit dem Theater zu überwinden glaubte. Nicht an irgendeiner öffentlichen Wirksamkeit als Künstler, sondern allein an dem, was er in den Auseinandersetzungen auf diesem Wege zum Ausgangspunkt zurück an Erkenntnissen und Fertigkeiten gewonnen hat, zeigt sich die Wirkung seiner künstlerischen Bemühungen. Wilhelms Konzeption ästhetischer Erziehung ist auf eine Synthetisierung jener menschlichen Kräfte gerichtet, die durch die „Verfassung der Gesellschaft", durch die Rollenverteilung in der Standeswelt getrennt sind. „Ein Bürger kann sich Verdienste erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, . . . " 3 1 Der Edelmann hingegen sei — selbst auf Kosten einer „Depravation des Charakters" 3 2 — durch die Entfaltung eines „vornehmen Anstands" als „öffentliche Persönlichkeit" prädestiniert: „ J e gehaltener und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommener ist er" 3 3 . Der Edelmann, durch seinen „Stand" in der Lage, öffentlich zu repräsentieren, sei durch die Darstellung seiner Persönlichkeit alles, der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts. Er sei durch die gesellschaftliche Rollenverteilung zur Ausbildung einzelner Fähigkeiten zwecks ihrer „Brauchbarkeit" für die Gesellschaft und nicht zur Harmonie seines Wesens „bestimmt". „An diesem Unterschied ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst schuld." 3 4 Der Mensch könne als Bürger den Anspruch auf harmonische Ausbildung seiner Persönlichkeit nur erfüllen, indem er sich über die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse hinwegsetzt: „Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend 156

auf mein Wunsch und meine Absicht . . ., nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind." 3 5 „Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glänze als in den obern Klassen; Geist und Körper müssen bei jeder Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut sein und scheinen können als irgend anderswo." 36 In welchem Maße dieser gegen die „Verfassung der Gesellschaft" erhobene Anspruch Wilhelm Meisters für das Kunstproblem des Romans das Lebensgefühl der heranwachsenden Schriftstellergeneration reflektiert, verdeutlicht eine Briefstelle des zwanzigjährigen Clemens Brentano an seinen älteren Bruder Franz: „In der itzigen Welt kann man nur unter zwei Dingen wählen, man kann entweder ein Mensch oder Bürger werden und man sieht nur, was man vermeiden, nicht aber was man umarmen soll. Die Bürger haben die ganze Zeitlichkeit besetzt, und die Menschen haben nichts für sich als sich selbst. Wird der nicht der Verächtlichste, der sein Ich, seinen einzigen Besitz, sich armselig in die Arme wirft, wird er nicht eine Luftblase in der großen jetzigen Gärung? Ein Bürger werde ich wohl nicht werden, denn es ist mir zur Freude zum Besitz nichts aus meiner Erziehung geblieben als mein Herz, mein Kopf und die Trümmer meines Charakters . . . Hier ist mein fester unwandelbarer Entschluß, ich will für die Aufopferung, die ich der Welt bringe, Entschädigung, ich will alle meine Anlagen in mir ausbilden, . . ." 37 Er sei entschlossen, diesen Vorsatz nach dem Tode des Vaters auch ohne „bürgerlichen" Beruf zu realisieren. Deshalb bittet er den Bruder, ihm mitzuteilen, mit welchem Erbteil er rechnen könne. Wilhelm Meisters Persönlichkeits- und Öffentlichkeitsanspruch ist problematisch vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen setzt er die Aufhebbarkeit gegebener Standesschranken voraus, auf dem Theater könne der Mensch „so gut sein und scheinen . . . als anderswo"; zum anderen verweist die Überzeugung, die Beziehungen zur Welt unter subjektiven Ansprüchen regeln zu können, auf eine subjektivistische Verengung des Anspruchs auf Veränderung des Bestehenden durch die Kunst. Das sind die beiden einander sich ausschließenden Aspekte seines Konzepts, die Goethe als das Problematische einer im „Ästhetischen" belassenen Erziehungsfunktion der Kunst herausstellt. Ein Reagieren auf die dominierende Tendenz der Zeit zum „äußerlichen Nutzen" mit dem Konzept ästhetischer Erziehung, wie es Wilhelm mit dem 157

Theater zu realisieren versucht, indem er sich „mit anständiger Kühnheit" 38 über die „Verfassung der Gesellschaft" hinwegsetzt, ein solches Reagieren scheitert an der gesellschaftlichen Bedingtheit des Theaters in seinem Gebrauch als Mittel zur „ästhetischen Befreiung" des Menschen. Die Entwicklung des Serloschen Theaters ist durch die Konsequenzen der allgemeinen bürgerlichen Umgestaltung, durch eine Auflösung und Neuorientierung sozialer Strukturen, kultureller Werte beeinflußt, durch eine Umstrukturierung literarischer Kommunikation als Folge einer „Verbürgerlichung" der Kunst bestimmt. Serlos Positionen als Theaterdirektor bringen diese Entwicklung in all ihren Widersprüchen zum Ausdruck. Serlo vermag die Intentionen einer „hohen" Kunst mit den äußerlichen Bedürfnissen, denjenigen des Publikums sowie seinen eigenen, durchaus zu verbinden. Nüchtern und nicht ohne Sarkasmus verweist er immer wieder auf die Grenzen dieses Theaters, auf die tatsächlichen Publikumsinteressen, wenn Wilhelm ihm seine Pläne ästhetischer Einflußnahme entwirft. Seine Position ist mit der des Theaterdirektors im Vorspiel auf dem Theater des Faust vergleichbar. Wilhelms Eintritt in das Theaterunternehmen war für Serlo Teil notwendiger Erneuerung. Das alte Ensemble hatte seine Möglichkeiten „ausgespielt". Das Publikum war seiner überdrüssig geworden. Mit anderen Schauspielern, mit einem „anderen Geist", wie ihn Wilhelm mit viel Elan einbringt, soll ein Neuansatz gefunden werden. Auf dieser Woge des Neuen vermag das Serlosche Theater sich zu einer Kunststätte zu entwickeln, „so vollkommen . . . als irgend eine deutsche sich hätte rühmen können" 39 . Die erfolgreiche Ham/et-Auifühtung kennzeichnet Höhe- und Umschlagspunkt dieser Entwicklung und bringt modellhaft die Problematik des Theaters als bürgerliche Kunstinstitution zum Ausdruck. In Wilhelms Regie dieses Stücks ist der Widerspruch zwischen einer unbegrenzten Perfektibilität des Menschen und seiner Beschränkung durch die gegebenen Verhältnisse akzentuiert. Seine Erarbeitung des Hamlets ist entscheidend für das Begreifen der eigenen Positionen. In seiner Regiekonzeption artikuliert Wilhelm das Problematische seines idealen Anspruchs an die Kunst. Das Bemühen, die mit dem Stück begriffene „Wechselwirkung" von objektiven Bedingungen und subjektiven Möglichkeiten bei der Entfaltung und Wirksamkeit großer Persönlichkeiten auf das Verständnis anderer Menschen (insbesondere auf Aurelie) und 158

seiner selbst anzuwenden und dabei die Widersprüche zwischen Idealem und Wirklichem auszutragen, ein solches Bemühen und nicht die Annäherung an eine ideale Vorstellung bringt ihn in seiner Persönlichkeitsentwicklung und als Künstler voran. Diese „Praxis" als Künstler führt den illusionären Kunstbegriff ad absurdum, auf den Wilhelms Öffentlichkeitsanspruch im Brief an Werner gegründet war. Für das Publikum sowie für seine Schauspielerkollegen hingegen ist Wilhelms Regieidee für den Hamlet das „ H ö c h s t e " , was ihnen für die Selbstdarstellung bzw. für ein Selbstverständnis zugemutet werden kann. Schauspieler und vor allem das Publikum erwarten vom Theater als Ersatz für ihre eingeschränkte Existenz bzw. als Bestätigung ihrer Rollen das „Außergewöhnliche", welches, mit einem Wort Lotharios, das „außer der O r d n u n g " 4 0 ist. Hier deutet sich, weit unterhalb illusionär-idealer Kunstansprüche, die Begrenztheit eines gesellschaftlich verbreiteten Kunstgebrauchs an. Die erste Aufführung des Hamlet vermochte das Bedürfnis nach dem „Außergewöhnlichen" noch durch die besondere künstlerische Leistung in ihrem Neuheitswert befriedigen. Bei der zweiten A u f f ü h r u n g ist die „Empfänglichkeit für das Außerordentliche" 4 1 nicht mehr auf das Stück, sondern auf die äußeren Umstände seiner A u f f ü h r u n g gerichtet: Im Theater war nachts ein Brand ausgebrochen, die Kirche nahm diesen zum Anlaß, um das „Strafgericht G o t t e s " 4 2 über das Theater zu verhängen, das Theater solle geschlossen werden. Gegen ein solches Ansinnen der Kirche behauptet Serlo seine Interessen, indem er ihnen eine gemeinnützige Funktion gibt: E s sei „zur Aufheiterung der erschreckten Gemüter die A u f f ü h r u n g eines interessanten Stückes mehr als jemals am Platze" 4 3 . Serlos Theater wendet sich in der Konsequenz solcher Vorkommnisse zu einem kommerziellen Unternehmen. Die Befriedigung vorhandener Bedürfnisse wird entscheidend, nicht deren Kultivierung. Melina tritt als Wilhelms Konkurrent hervor. Sein Konzept richtet sich auf eine „Vermischung des Theaters, das nicht recht Oper, nicht recht Schauspiel sei" 4 4 . „Melina scherzte nicht ganz fein über Wilhelms pedantische Ideale dieser Art, über die Anmaßung, das Publikum zu bilden, statt sich von ihm bilden zu lassen, und beide (Serlo und Melina — H.-U. K . ) vereinigten sich mit großer Überzeugung, daß man nur Geld einnehmen, reich werden oder sich lustig machen solle . . . " 4 5 Serlo allerdings begreift die Folgen dieses K o n z e p t s : „der Über159

rest von Geschmack"'' 6 werde damit aufgegeben. In der Aussicht, durch die Vermarktung der Kunst reich zu werden, akzeptiert er die Verflachung des Geschmacks als Reverenz an das Bedürfnis nach Zerstreuung. Den Anspruch, das entscheidende Medium nationaler Verständigung und bürgerlicher Erziehung zu sein, kann dieses „freie", von keinem Mäzenat abhängige Theaterunternehmen n u r im Einverständnis mit einem „freien" Publikum realisieren. Dieses Publikum ist „frei" auch in einem negativen Sinne: in seinem Kunstumgang durch keinerlei „Convenienz" gebunden und zugleich unfähig, dieses Ungebundene durch eine „würdevolle" eigenständige Haltung zur Kunst auszufüllen, für das Verständnis und die Beherrschbarkeit seiner Verhältnisse zu nutzen. Dieses Publikum gebraucht das Theater auf verschiedene Weise als Kompensation seiner eingeschränkten Existenz. Gegen diesen trivialen Umgang mit Kunst gewinnt Wilhelm Meisters Anspruch, über die Kunst Einfluß auf die „Verbesserung" der Welt zu nehmen, trotz des Illusionären ein gewichtiges Profil. Wo Serlo nüchtern mit den bestehenden Bedürfnissen und Möglichkeiten des Theaters kalkuliert, behauptet Wilhelm seinen Vorsatz, Einfluß auf die Veränderung des Bestehenden zu nehmen. Gegen Serlos Bereitschaft, einem breiten unbedürftigen Publikum Konzessionen zu machen („Wer das Geld bringt, kann die Ware nach seinem Sinne verlangen." 47 ), gegen eine solche Markt-Haltung setzt Wilhelm die Entwicklungsfähigkeit eines bürgerlichen Publikums, versteht er es als ein mündiges Publikum gerade im Unterschied zu dem Kunstgebrauch der „Vornehmen" und Reichen. Man könne das Publikum nicht wie „Kinder" behandeln, „denen man das Geld abnehmen will", und nicht wie „Vornehme" und Reiche, „um den Irrtum, den man nutzt, zu verewigen". „Man bringe ihm nach und nach d u r c h das Gute Gefühl und Geschmack f ü r das Gute bei, und es wird sein Geld mit doppeltem Vergnügen einlegen, . . ." Serlos pragmatische Entscheidungen entsprechen der aufgezeigten „Verbürgerlichung" des Theaters. „Eine jede gute Sozietät existiert nur unter gewissen Bedingungen, so auch ein gutes Theater."' 59 Wilhelms Absicht, das Publikum „für das Gute" zu erziehen, wird dieser konkreten Situation des Theaters ebensowenig gerecht, wie Melinas Meinung, der Künstler solle sich stattdessen vom Publikum bilden lassen, die Beeinflußbarkeit des Pu160

blikums und dessen Grenzen erfaßt. Das Publikum ist durch absolute Werte nicht zu etwas zu bringen, was nicht an seine Lebenserfahrungen anknüpft. Kunst wird wirksam erst, indem sie den Menschen zu einer geistig-tätigen Auseinandersetzung mit dem Leben, mit sich selbst hinführt. Wo diese Intention ausbleibt, herrscht, wie bei Aurelie und bei der Stiftsdame, der Gebrauch des „schönen Scheins" als Lebensersatz oder, wie bei den „Vornehmen" und Reichen, der Gebrauch von Kunst, „um den Irrtum, den man nutzt, zu verewigen" 5 0 . Kein Genuß sei vorübergehend, „und was man mit Fleiß und Anstrengung tut, teilt dem Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wissen kann, wie weit sie wirkt" 5 1 . Wilhelm erfaßt, indem er das, „was man mit Fleiß und Anstrengung tut", zu einer „verborgenen Kraft" stilisiert, Kunst als Form menschlicher Produktivität. Er begreift Kunst als entscheidende Form menschlicher „Selbstbestätigung". Kunst ist in diesem Sinne produktiv für die Bewältigung menschlicher Verhältnisse. Das Mechanisch-Illusionäre seiner Vorstellung gründet darin, daß er diesen Aspekt künstlerischer Produktion bedingungslos für die Rezeption sowie als Maßstab für menschliche Tätigkeit verabsolutiert. Das individuell Schöpferische des Künstlers teile sich gleichsam dem Publikum mit und werde zum Maßstab praktischen Verhaltens. Diese Theorie wird in der Praxis des Theaters widerlegt. Wilhelm hatte zu Beginn seiner Verbindung mit Serlo das Theater als eine tragbare Alternative zu seiner bürgerlichen Existenz begriffen. Auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Entwicklung an Serlos Theater erscheint ihm jedoch die Künstlerexistenz in einem ebenso negativen Lichte wie das Handelsgewerbe: „Das Geschäft war lästig und die Belohnung gering. Er hätte jedes andere lieber ü b e r n o m m e n . . . als dieses, wo man nach überstandenen mechanischen Mühseligkeiten noch durch die höchsten Anstrengungen des Geistes und der Empfindung erst das Ziel seiner Tätigkeit erreichen soll." 52 Diese Wandlung seines Verhältnisses zum Theater zeigt, die künstlerische Tätigkeit führt als B e r u f in der Persönlichkeitsentwicklung nicht notwendig weiter als das Handelsgewerbe. Die „Kunst", sich selbst und seine Welt in dem, was man tut, aus einem übergreifenden allgemeinen Zusammenhang zu begreifen, kann hier wie dort vernachlässigt und entwickelt werden. Ästhetische Erziehung ist mit einem Theater nicht als Modell für alle Formen menschlicher Tätigkeit institutionalisierbar. 11

Kunstperiode

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Das Theater vermag allerdings unter bestimmten Voraussetzungen diese Fähigkeit des Menschen in einem weit stärkeren Maße als das Handelsgewerbe zu fordern und zu fördern. Die ökonomisch-gewerbliche und die künstlerische Tätigkeit werden in der geschichtlichen Bedeutung, wie mit der alternativen Entwicklung von Wilhelm und Werner sowie im Turm mit der Alternative von Kunst und Ökonomie zum Ausdruck kommt, als zwei in ihren besonderen Zwecken gleichberechtigte Formen menschlicher Produktivität gefaßt. Sie werden allgemein unter dem Maßstab bewertet, was sie jeweils für die geistige und praktische Beherrschung des menschlichen „Schicksals" zu leisten vermögen. Damit wird nicht vorrangig zur Diskussion gestellt, w a s die Menschen „materiell" voranbringt. 53 * Hier wird vor allem danach gefragt, welche Konsequenzen das in seiner Notwendigkeit und Überwindbarkeit einkalkulierte vereinseitigende Voranschreiten für die „Gesamtkonstitution" des Menschen hat und wie diese Entwicklung zu beeinflussen sei. Ausschlaggebend für alles menschliche Tun und also auch für die Kunst sei, in welchem Maße es im Konkreten ermöglicht, daß der Mensch, wie es in den Lehrjahren heißt, „die Umstände so viel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen läßt" 5 ''. Die „Umstände so viel als möglich" zu bestimmen und „sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen" zu lassen, das meint die Kraft des Individuums und der Gattung zur Bestimmung seiner Verhältnisse sowie die Bestimmbarkeit des Menschen durch die Verhältnisse. Der Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Bestimmung durch die Verhältnisse sei entscheidend für die objektiv-geschichtliche wie für die subjektiv-individuelle Entwicklung. Menschliche Produktivität erwächst aus den Widersprüchen beider Seiten, schließt diese als Bedingung für ihre Entfaltung mit ein. Die Frage nach der Wechselwirkung zwischen der notwendigen Veränderung des Menschen als Bedingung für die Veränderung der Welt und der notwendigen Veränderung der Verhältnisse als Bedingung für die Entfaltung des Menschen wird von Goethe in dieser Weise als Problem eines Wechselverhältnisses von tätiger Auseinandersetzung mit der Welt und Betätigung der menschlichen „Natur" beantwortet. Schiller hat in den Briefen ^ur ästhetischen Erziehung dieses Problem in ähnlicher Weise formuliert. Nur ist für Schiller die „bildende" Funktion der Kunst vor allem auf 162

die vernunftsgemäße „Ausbildung des Empfindungsvermögens" 55 gerichtet und wird als Imperativ verstanden. „Erkühne dich, weise zu sein." 50 Schiller fragt: „Die theoretische Kultur soll die praktische herbeyführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen seyn? Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen — aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?" 57 Das Instrument, diesen „Zirkel" aufzuheben, sieht Schiller in einer den gesellschaftlichen Zwängen gegenüber autonomen Kunst: „Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergiebt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bey aller politischen Verderbniß rein und lauter erhalten." „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern." 58 Für Schiller wird Kunst als ein solches „Werkzeug" praktisch erst wirksam nach vollzogener gesellschaftlicher Veränderung. Kunst ist das entscheidende „Werkzeug", diese Veränderung und damit zugleich die Bedingungen ihrer vollen Wirksamkeit herbeizuführen. Schiller ist sich der Konsequenzen, die der von ihm entworfene Weg durch das „Ästhetische" mit sich bringt, durchaus bewußt. „Zwar wird uns dieser transcendentale Weg eine Zeitlang aus dem traulichen Kreis der Erscheinungen und aus der lebendigen Gegenwart der Dinge entfernen und auf dem nackten Gefild abgezogener Begriffe verweilen; aber wir streben ja nach einem festen Grund der Erkenntniß, den nichts mehr erschüttern soll, und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern." 59 Goethe weist auch gerade mit den 'Lehrjahren sowohl die Notwendigkeit dieses „transcendentalen Weges" als auch dessen Wirksamkeit für die Bildung einer unerschütterlichen Erkenntnisbasis, für die Entfaltung der „schönen Künste" zurück. Die „Wahrheit" liegt für ihn in der naturgesetzlich begriffenen „Wirklichkeit". Das Konzept, das Goethe mit den Lehrjahren Schillers Thesen entgegensetzt, wird deutlich mit der Anlage der Wilhelm-Meister-Figur, mit dem Inhalt des für diese Figur konzipierten „ästhetisch-sittlichen Traum" 60 . Ein naiv-sentimentales Weltverhältnis, die als Alternative zum bürgerlichen Leben gesuchte Künstlerexistenz, ideale Vorstellungen von der den Menschen bessernden Kraft der Kunst bestimmen die poetische Grundidee dieser Figur. Gegenüber der Theatralischen Sendung wird in den Lehrjahren das Naiv-Sentimen163

tale der Wilhelm Meister-Figur, ihres Weltverhältnisses und Kunstverständnisses nicht mehr vorrangig als heroisch-illusionäre Reaktion auf die Misere ihres Standes gefaßt. Es wird differenzierter in seinen gesellschaftlichen Ursachen und darin auch als Resultat einer bestimmten Kunstintention verstanden. Als ästhetisches „Gegengewicht" zur bestehenden Wirklichkeit auf diese absolut und unmittelbar angewandt, etwa als praktische Handhabe für eine Orientierung im Leben, ohne die Macht der Lebensumstände einzurechnen, in einer solchen unmittelbaren Nutzbarmachung führt, wie Wilhelms Entwicklung an Serlos Theater zeigt, ein „sentimentaler" Kunstgebrauch notwendig zur Selbsttäuschung. Das Sentimentale als Selbsttäuschung im praktischen Leben liegt von der Seite der Kunst, des Umgangs mit Kunst wesentlich in jenen Problemen des Rollenspiels und des Ästhetizismus begründet, wie sie schon in der Theatralischen Sendung Aurelies Geschichte, in den Lehrjahren neben dieser Künstlerexistenz besonders auch die Bekenntnisse der Stiftsdame, verallgemeinernd für eine „Epoche geselliger Kreise", zum Ausdruck bringen. Was bei beiden Figuren zu einer regressiven Entwicklung führt, erhält für Wilhelms Umgang mit Kunst, in dem Maße, wie er die illusionäre Forderung einer „Selbstbefreiung" durch Kunst überwindet, eine positive Seite. Er allein erreicht am Ende die Fertigkeit, die Welt „sentimentalisch" zu begreifen, und mit diesem „sentimentalischen" Bewußtsein die Möglichkeit, praktisch wirksam zu werden. Dafür wie überhaupt für die Strategie dieser Figur ist das Element des Naiven in Verbindung mit dem Sentimentalen von besonderer Bedeutung. Mit ihm wird das relativierende Spektrum, werden die Bezüge zu den gesellschaftlich-praktischen Entscheidungen eingebracht, ohne daß sie, wie bei Aurelie und der Stiftsdame, auf seine Ansprüche an die Welt nivellierend wirken. 61 * Kunst gab Wilhelm zunächst, gerade in der Überhöhung seines Sendungsbewußtseins, die Möglichkeit, seine Ansprüche an die Welt zu artikulieren, sich über den eingeschränkten Horizont seiner Herkunftswelt zu erheben. Die Idealität seines Anspruchs an die Welt ist einerseits Voraussetzung dafür, daß er die Welt, wie er sie findet, nicht als unumstößlich Gegebenes hinnimmt, daß er die Vielfalt menschlichen Lebens in sich aufzunehmen vermag. Mit berechtigtem Stolz berichtet Wilhelm Werner, wie weit er in „jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt" 62 , schon gekommen sei. Die Idealität seines An164

spruchs an die Welt ist andererseits Quelle seines Leidens. Sie führt ihn in seiner bürgerlichen Herkunftswelt, an Serlos Theater wie auch im Turm in eine Isolation. Diese isolierende Wirkung eines idealen Lebensanspruchs wird deutlich in Wilhelms Verhältnis zu Mariane. Die Liebe zu Mariane ist für Wilhelm sinnliche Erfüllung seiner frühen Träume. Die Lebensbedingungen seiner Geliebten, die zum tragischen Ende dieser Liebe führen, hinterfragt Wilhelm erst, nachdem er Marianes Tod, ihre Treue erfahren hat, zu einem Zeitpunkt, da er seine „kalte Eigenliebe", seine theatralische Selbstüberschätzung erkannt und überwunden hat. Diese isolierende Wirkung wird unter umgekehrten Vorzeichen deutlich in Wilhelms kritischem Verhalten gegenüber den Turmmitgliedern. Indem Wilhelm die Turmgesellschaft in den verkündeten Grundsätzen des „Lehrbriefs" ernst nimmt, stellt er sich der Diskrepanz zwischen den Forderungen ihrer Lebensprinzipien und der Realität ihrer Lebenspraxis, zwischen der theoretisch-ideologischen Form und dem wirklichen Gehalt dieser Gesellschaft — und darin dem wesentlichen Widerspruch seines Lebens. Dieser Widerspruch bestimmt auch die Existenz der Turmmitglieder, den Mischcharakter dieser Figuren. Lotharios „heroisch-praktischer Traum" 6 3 beispielsweise hat mit Natalies sittlichen Vorstellungen wenig zu tun. Lothario ist ein zutiefst widersprüchlicher Charakter, geprägt durch die Umbrüche seiner Zeit. Seine Biographie vereinigt so gegensätzliche Pole wie eine jugendliche Sturm-undDrang-Zeit (Genie-Kult gegen die begrenzte „Welt der Väter"), Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, tiefe Resignation nach Amerika, ein feudales „Lotterleben" in Herrnhut bis zum Tode des Oheims (zum Beginn der Turmhandlung beschäftigen ihn nur seine Affären) und schließlich das Bemühen um Agrarreformen, die Lothario, den Konsequenzen geschichtlicher Entwicklung folgend, plant, um seinen feudalen Besitz gegen die sich abzeichnenden gesellschaftlich-sozialen Veränderungen zu sichern: „Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen." 6 4 * Natalie ist der große Gegensatz zu Lothario: „ . . . meine angenehmste Empfindung war und ist es noch, wenn sich mir ein Mangel, ein Bedürfnis in der Welt darstellt, sogleich im Geiste einen Ersatz, ein Mittel, eine Hilfe aufzufinden" 65 . Dieses Bemühen um Ausgleich der vom Mangel der Welt geprägten menschlichen Bedürfnisse bestimmt das Ausgeglichene ihrer „Na165

tur". Die Harmonie ihres Wesens ist ideale Einschränkung insofern, „da ihre Natur nichts fordert, als was die Welt wünscht und braucht" Natalie deutet selbst auf die Grenze einer solchen ausgleichenden Wirkung: „Ich habe immer gesehen, . . . daß unsere Grundsätze nur ein Supplement zu unseren Existenzen sind. Wir hängen unseren Fehlern gar zu gern das Gewand eines gültigen Gesetzes u m . " 6 7 Für den familiären Zusammenhang wie für die Interessenverbindung dieser Gesellschaft ist der eine mit seinen Vorzügen „Supplement" für des anderen eingeschränkte Existenz. Dementsprechend erhält auch die Kunst im T u r m die Funktion als „Supplement" zu den ökonomischen Bestrebungen dieser Gesellschaft. Der Widerspruch zwischen „reiner" ästhetischer Gestalt und praktischer Funktion bestimmt die Kunstproblematik, wie sie im T u r m insbesondere mit dem „Saal der Vergangenheit" entwickelt wird. Der „Saal der Vergangenheit" ist die Schein und Wirklichkeit vereinende ästhetische Sphäre, deren Vergegenständlichung. Dieses Kunstgebäude bewahrt im Schein der Wahrheit, was in der Wirklichkeit und für die absehbare Entwicklung preisgegeben wurde. D a s prägt seine Gestalt, seine Funktion ist von dieser verschieden. Dieses Kunstmodell steht neben dem eigentlichen Entscheidungsfeld der Turmgesellschaft. Seiner Funktion nach ist es Gegenpol, ästhetisches „Supplement" zu den ökonomischen Bestrebungen dieser Gesellschaft. Der „Saal der Vergangenheit" tritt für die Turmgesellschaft in ihrer Umorientierung an die Stelle des inhaltlich entleerten, nur formal bewahrten Rituals des einstigen Geheimbundes, ohne die organisierend-aktivierende Kraft dieses Rituals übernehmen zu können. E r ist Ort einer Beschaulichkeit und eines Genusses, den die ökonomische Tätigkeit nicht gewährt. A u s dem Widerspruch zwischen der ästhetisch-emanzipatorischen Funktionssetzung des mit dem „Saal der Vergangenheit" geschaffenen Kunstmodells und seinem Gebrauch als „Supplement" zu den ökonomischen Bestrebungen ergibt sich die Frage, wie eine gegenüber allen partikularen Zwecken autonome Kunst auf die besonderen Zwecke des Menschen zurückwirkt, wie eine emanzipatorisch ausgerichtete Kunst für die praktischen Entscheidungen des Menschen nutzbar gemacht werden kann, um mehr als nur „Supplement" zu sein. Die Turmgemeinschaft verweist auf keinerlei Vermittlung in dieser Hinsicht. Allein Wilhelm vermag in seiner Mittelmäßigkeit zu vereinen, was die Turmmitglieder in ihrer jeweils einseitigen Existenz gegenein-

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ander auszeichnet. Wilhelm erreicht eine ästhetisch-sittliche Bildung und gelangt zugleich zum praktischen Handeln. Das hat, alle Einschränkungen dieser Figur eingerechnet, programmatische Bedeutung. Wilhelms Protest gegen den Verlust menschlicher Identität in der Turmgesellschaft richtet sich, mit einem Wort Novalis', „gegen das Eindringen des Evangeliums der Ökonomie"' 18 . Doch ist diese „retardierende" Funktion nicht passiv, ohnmächtiger Protest eines von den „Bildungsmächten" des Turms Beherrschten. Wilhelm verbindet den Anspruch auf ein uneingeschränktes Glück, wie es ihm die Beziehung zu Natalie eröffnet, mit der Erkenntnis, daß „Besitz" (in einem umfassenderen als nur ökonomischen Sinne) für die Sicherung menschlichen Glücks unabdingbar notwendig sei. „. . . jetzt, da in diesem Herzen alle Empfindungen zusammentreffen, die den Menschen glücklich machen sollten, jetzt bist du genöthigt zu fliehen! Ach! warum muß sich zu diesen Empfindungen, zu diesen Erkenntnissen das unüberwindliche Verlangen des Besitzes gesellen? und warum richten, ohne Besitz, eben diese Gesinnungen, diese Überzeugungen jede andere Art von Glückseligkeit völlig zu gründe?" 01 ' Mit solcher Konsequenz macht eigentlich nur Wilhelm Meister diesen ungelösten und, wie das Romanende zeigt, auch unlösbaren Zusammenhang von unbedingter zweckfreier Liebe und notwendiger Sicherung des Glücks durch Objektivierung in einem allgemeineren Nutzen geltend. Aller Besitz, alle Tätigkeit ins Große und Allgemeine sei nichts, „wenn das e i n e fehlt, das dem Menschen alles übrige wert sei!" 7 0 Dieses „eine", das Wilhelm meint, bleibt ebenso ambivalent wie sein Begriff vom notwendigen Besitz. Dieser Begriff meint den Besitz einer „schönen Seele" wie Natalie ebenso wie das für die Realisierung einer Mesalliance mit ihr notwendige Besitztum sowie das durch die Verbindung mit Natalie rückerwerbbare Erbteil seiner Familie, die Kunstsammlung des Großvaters. Das alles zusammen, diese Quersumme der von Wilhelm aufgenommenen „Welten" macht offensichtlich erst das „eine" aus. Das Bewußtsein von diesem „einen", das „dem Menschen alles übrige wert" sein sollte, gegen die zunehmende Parzellierung und Spezialisierung des Menschen zu wecken, es als Bedürfnis zu entwickeln und zu erhalten, ist Zweck des ästhetisch-sittlichen Vermögens, auf das Wilhelm in seinem Protest gegen die ökonomischen Bestrebungen des Turm insistiert. Die geschichtlich notwendige Dif167

ferenzierung der ästhetisch-sittlichen Kräfte des Menschen wird insbesondere mit der Wilhelm Meister-Figur entwickelt. Das ästhetisch-sittliche Vermögen des Menschen bedeutet in der mit dem Roman gesuchten Differenzierung vor allem die ästhetische Fähigkeit, den Menschen in seiner „inneren und äußeren Natur", die menschliche Existenz in der Gesamtheit ihrer Beziehungen, in der „Einheit" ihres Widerspruchs zu begreifen. Es meint die „sittliche" Kraft des Menschen, die widersprüchliche Spanne zwischen dieser Gesamtheit menschlicher Beziehungen und den partiellen Zwecken des Menschen zu „beherrschen". Dieser Inhalt bestimmt allgemein die Qualität ästhetisch-sittlicher Erziehung sowie den gesellschaftlichen Wert künstlerischen Produzierens. Der Roman nimmt das „ästhetisch-sittliche" Vermögen des Menschen in dieser Bedeutung als das zwar nicht allein bestimmende, doch eben ausschlaggebende Maß menschlicher Tätigkeit: die Gesamtheit menschlicher Beziehungen zu begreifen und diese für das praktische Leben nutzbar zu machen, indem die partikularen Zwecke des Menschen auf diese Gesamtheit hin befragt werden. Entscheidend für Goethes Bestimmung der „ästhetisch-sittlichen" Kraft des Menschen ist die Kategorie des „Traums". Traum bezeichnet hier eine geschichtsphilosophische Relation zwischen dem „ästhetisch-sittlichen" Vermögen des Menschen im Allgemeinen und dessen jeweilige Situierung im geschichtlich Konkreten. Der Begriff ist Maßstab für eine in diesen Relationen zu erprobende Orientierung. 71 * Die geschichtsphilosophische Erkenntnisleistung und Erfahrungsvermittlung verstand Goethe als elementare Forderung, die die „Zeiten einer allgemeinen Auflösung" 7 2 an die Kunst stellen. Diese Forderung resultiert für Goethe aus der konkreten geschichtlichen Situation, in der und für die sie wirksam werden soll, aus der Situation des Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft. Diesen Übergang weltanschaulichgeschichtsphilosophisch zu erfassen und künstlerisch zu gestalten, ist für Goethe die auch geschichtlich entscheidende Aufgabe der Kunst. Denn dieser Übergang wird als Existenz-, Handlungs- und Erfüllungsraum menschlicher Entwicklung gefaßt. 73 Existenzraum, insofern ein Ende dieses Übergangs für Goethe nicht absehbar war. Die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft endet seiner Überzeugung nach nicht mit dem Durchsetzen der international sich abzeichnenden Kapitalisierung, sondern tritt mit ihr in eine entscheidende Phase 168

ihrer widersprüchlichen Entwicklung zur „höheren" Menschheitsstufe. Dieser Übergang ist für Goethe Erfüllungsraum, insofern er als naturgesetzlich-geschichtlicher Entwicklungsprozeß zu einer „menschlich" entwickelteren Gesellschaft führen werde. Die Kunst habe diesen Übergang in seiner konkreten geschichtlichen Gestalt und Entwicklungsperspektive aufzuschließen, in dem Bestehenden das gesetzliche Werden sichtbar zu machen. Der Inhalt, den Goethe mit dem Begriff „ästhetisch-sittlicher Traum" faßt, bestimmt die Form der Lehrjahre. Goethes Verständnis der Funktion ästhetischer Erziehung manifestiert sich in der Art und Methode epischer Darstellung sowie in dem Rezeptionsangebot des Romans.

3. Resümieren wir die in den Lehrjahren vorgeführte Kunstproblematik: Der Roman faßt als entscheidendes Moment geschichtlicher Entwicklung das Auseinanderfallen von sozial-ökonomischer und geistigkultureller Emanzipation des Bürgertums. Das betrifft das dargestellte Handelsbürgertum in einem besonderen Maße, aber auch die von Wilhelm gesuchte bürgerliche Künstlerexistenz und das mit der Turmgesellschaft entwickelte historische Modell für die zu erwartende gesellschaftliche Entwicklung. Die literarischen Verhältnisse sind vor allem geprägt durch die Vertiefung der Kluft zwischen Kunstprogrammatik und sozial differenziertem Kunstgebrauch. Die bei Goethe reflektierte Trennung des Ökonomischen von den eigentlich menschlichen Interessen, wie sie die Kunst ins Bewußtsein zu rücken versucht, kennzeichnet allgemein das Problembewußtsein der bürgerlichen literarischen Intelligenz um 1800. Das Begreifen des Problematischen der sozialökonomischen Emanzipation des Bürgertums prägt zugleich ihr Sendungsbewußtsein, die Borniertheiten der geschichtlichen Entwicklung überwinden zu müssen. Die Veränderungen zwischenmenschlicher Beziehungen, die Einschränkung der individuell-schöpferischen Entfaltungsmöglichkeiten im Gefolge zunehmender Arbeitsteilung, einer wachsenden Parzellierung des Menschen und eines in neuen sozialen Gegensätzen sich verhärtenden Rollenspiels, diese „Tendenzen" der Zeit seien für die Entwicklung und Wirksamkeit menschlich allseitiger Produktivität ungünstig. Gerade weil die Zeiten sich den für die Menschheitsentwick169

lung unverzichtbaren Werten, wie sie die Kunst formuliert, widersetzen, gewinnt eine auf den „ganzen Menschen" orientierte Kunst besondere Verantwortung. Die Kunstproblematik dieses Romans ist Ausdruck des unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen der für die bürgerliche Emanzipation erhobenen Forderung nach Ausbildung des „ganzen Menschen" und dem geschichtlichen Tatbestand, daß die sich sozial-ökonomisch emanzipierende Bürgerklasse ein „verkümmertes" Individuum, den „vereinzelten Einzelnen" hervorbringt. Dieser unlösbare Zusammenhang bringt eine antifeudal ausgerichtete bürgerliche Kunst auch in Widerspruch zur realen bürgerlichen Bewegung. Kunst, indem sie sich diesem Widerspruch stellt, erhält angesichts einer gesellschaftlichen Praxis, die beim Mangel politischheroischer Bewegung sich weitgehend aufs Ökonomisch-Prosaische beschränkt, eine „allgemeinmenschliche" Funktion: Als das Medium gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung soll sie alle Formen menschlichen Bewußtseins vereinen und ebenso allgemein und umfassend wie konkret und praktikabel die geistig-sinnliche Emanzipation des Menschen fördern. Dem im Roman verhandelten Kunstproblem hat sich Goethe mit dem Roman nicht entzogen. Die Lehrjahre sind nicht Ausdruck einer „ästhetischen Restauration"7/1, sondern im Gegenteil: Hier wird gegen eine ästhetisch-restaurative, die gegebenen Gesellschafts- und Kunstverhältnisse bejahende Kunst polemisiert. Die Unlösbarkeit des reflektierten Widerspruchs zwischen Kunst-Programmatik und den geschichtlichen Möglichkeiten ihrer Realisierung bestimmt die in der Forschung mehrfach kritisierte Ambivalenz der angebotenen „Lösungen" des Romans: Die „allgemeinmenschlichen" Aussagen und ästhetischen Einsichten, die beispielsweise der Lehrbrief als Erfahrungsschatz ganzer Generationen erfaßt, werden unter dem Aspekt ihrer Handhabbarkeit für die gegebene geschichtliche Situation wieder relativiert. Wilhelm Meister kann mit diesem in Lehrsätzen konzentrierten Wissen seine Probleme nicht lösen, die Anforderungen, die die Gemeinschaft an ihn stellt, nicht einlösen; diese „Phrasen" 75 verwirren ihn mehr, als daß sie ihm helfen. Für die Turmgemeinschaft sind die geweihten Vorsätze nur „Supplement zu unseren Existenzen" < ' >. Dieser Widerspruch zwischen theoretischen Einsichten und praktischen Konsequenzen der Turmgesellschaft, zwischen „allgemeinmenschlicher" Emanzipation und konkreter geschichtlicher Entwicklung ist in den Lehrjahren dem Inhalt und der Form nach entwickelt; er bestimmt insbesondere die Erzählstruktur des Romans. 170

In der Forschung umstritten ist gerade die Erzähl- und Darbietungsqualität der Lehrjahre. Die Einwände richten sich hauptsächlich gegen die Vieldeutigkeit und Ambivalenz des Dargestellten, gegen das „Auseinanderfallen der äußeren Erscheinungen und des künstlerischen Gehalts des Romans" 77 , gegen die Abstraktheit der Darstellung. Verbreitet ist die Meinung, der Schritt von der Theatralischen Sendung zu den Lehrjahren führe zu einer „Entstofflichung" des Romans, zur „Vergeistigung" seiner Darbietung 78 , zur Einschränkung des „Realismus" 79 . Auffallend bei diesen Urteilen ist das Gegensätzliche ihrer Wertungskriterien. Baioni versucht mit seiner Kritik an der Einschränkung der „realistischen" Darstellung in den Lehrjahren die vom „klassischen" Goethe vollzogene „ästhetische Restauration" 80 zu belegen. Rasch zielt mit vergleichbaren Argumenten auf das Klassisch-Kanonische als geschichtliche Leistung dieser Literatur: „die klassische Form der Erzählkunst" (wie sie Rasch in den Lehrjahren realisiert sieht) komme „zustande durch Negierung der außerordentlich realistischen Ansätze in der Theatralischen Sendung"&K Der erhobene Vorwurf verlorener Unmittelbarkeit in der epischen Darstellung der Lehrjahre wird weder bei Baioni noch bei Rasch auf jene Probleme literarischer Produktion und Rezeption hinterfragt, die der Roman dem Inhalt nach entwickelt, auf die er seiner Form nach zu reagieren versucht. Eine Bewertung des Romans mit abstrakten Normativen wie „Realismus", „ d a s Klassische", „als das In-sich Ruhende" verdeckt das Kunstproblem dieses Romans mehr, als daß sie es zu bezeichnen hilft. In der Theatralischen Sendung ist zweifelsohne mehr an „Unmittelbarkeit" epischer Darstellung gegeben. Doch grenzt diese „Dinghaftigkeit" den Gestaltungshorizont ein. Die in der Theatralischen Sendung historisch verifizierbare Theaterentwicklung ist in den Lehrjahren in einem viel breiter und differenzierter gefaßten Gesellschaftszusammenhang eingebettet und deshalb nur unter den speziellen Gesichtspunkten der Theatergeschichte „unkonkreter". Das Erzählen wird in der Theatralischen Sendung bestimmt durch ein Bemühen um Authentizität, um historische Beziehbarkeit der verhandelten Sachzusammenhänge. Bei aller kritischen Distanz des medialen Erzählers 82 * gegenüber Vereinseitigungen und Übertreibungen des „Helden" in seinem Streben nach einer national wirksamen Kunst sind die Überzeugungen dieses Erzählers von der Wirksamkeit der Kunst grundsätzlich nicht verschieden von denen, die der „Held" des Romans vertritt. Diese relative Nähe der Grundpositionen und -inten171

tionen ändert sich erst mit dem konzeptionellen Bruch am Ende des Fragments. Die Erzählstruktur der Theatralischen Sendung ist bis zum sechsten Buch, mit dem der Roman abbricht, deutlich als Wahrheitsfindung, als Suche nach einer vorausbedachten Lösung gekennzeichnet. Der Leser wird auf einen Nach- bzw. Mitvollzug dieser Lösungssuche orientiert. Die Lehrjahre entwickeln demgegenüber eine Motivationstechnik, mit der die widersprüchliche Prozeßhaftigkeit des Lebens intensiver und konsequenter vermittelt werden kann, als die Entwicklungsgeschichte eines „Helden" in der bis dahin romangeschichtlich-bestimmenden Prägung zu tragen vermochte. In den Lehrjahren wird die epische Welt in ihrer determinierenden Wirkung auf das Wollen und Tun der Figuren gefaßt. Gegen die „Forderungen" der gestalteten Wirklichkeit werden die Vorsätze der Figuren gesetzt. Die produktive Leistung einer solchen Figurensituierung wird insbesondere bei Wilhelm Meister sichtbar in der Behauptung des „ästhetisch-sittlichen Traums" gegen eine ihm widersprechende Wirklichkeit. Die vorgeführte Figurenentwicklung erfüllt sich nicht, wie Hegel verallgemeinernd „das Romanhafte" moderner Literatur bestimmt, in der „Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit" 83 . Das Individuum artikuliert in der Auseinandersetzung mit der „vorhandenen Wirklichkeit" zugleich auch den Anspruch und die Fähigkeit zur Veränderung des Bestehenden. Und erst aus diesem Widerspruch von „prätendierter Freiheit unseres Wollens" und „notwendigem Gang des Ganzen"8"5, von Ideal und Wirklichkeit wird die „Wechselwirkung" von subjektivem Vermögen und objektiven Bedingungen gesellschaftlicher Veränderung aufgezeigt. Diese Widerspruchsrelation von „allgemeinmenschlicher" Wandlungsfähigkeit und historisch konkreten Entwicklungsbedingungen bestimmt die geschichtsphilosophische Qualität Goethescher Wirklichkeitsdarstellung. Wilhelm Meister ist in dieser Hinsicht Testfigur, „Träger" eines Experiments: Überkommene Vorstellungen von der menschlichen Emanzipation werden in der Konfrontation mit den reflektierten geschichtlichen Verhältnissen nach ihrem Bestand und Nicht-Bestand befragt. Enthüllt wird mit dieser Figur und ihrer Geschichte nicht nur die Unangemessenheit ihres idealen Anspruchs an die Welt. Diese Welt wird im Widerspruch zwischen möglicher Perspektive und realer Konsistenz in den Bedingungen ihrer notwendig heranreifenden Veränderung enthüllt. Eine solche wechselseitige Durchdringung bestimmt von der Handlungs- und Figurenentwicklung her die Spielsphäre des Romans. 172

Eine variabel gehaltene Distanz von Figuren und Erzähler zum Handlungs- und Reflexionsgeschehen gibt dem Erzählen in den Lehrjahren eine ausgeprägte Relativierungskraft. In unterschiedlicher Nähe und Distanz zum Verhandelten bringt der Erzähler seine Positionen als jemand ein, der zwar nicht unmittelbar betroffen ist, doch die aufgeworfenen Probleme auch in Relation zu seiner „Existenz" als Erzähler begreift. Und diese Fähigkeit, die Probleme „anderer" aufzunehmen, sie auf die eigenen Erfahrungen zu beziehen, aus einer tieferen Einsicht zu verstehen, durch Absonderung des „Notwendigen" und des „Vermeidbaren" sie lösen zu können, diese (ähnlich auch mit Wilhelms HaWiZ-Interpretation) vorgeführte Fähigkeit der Erzählerfigur bestimmt das Vorbildhafte ihrer Weltsicht und ihres Weltverhaltens. Doch dies ist nur ihre unmittelbare Modellwirkuna für eine erstrebte Rezeption des Werkes. Die Sicht des medialen Erzählers, sein Verständnis der Dinge wird gegenüber den Figurenanschauungen nicht als das allein Bestimmende, als „höhere" Bedeutungsebene herausgestellt. Die verschiedene Sicht der Figuren auf ihre Lebenswelt erhält für die Differenzierung des gestalteten epischen Bildes von der Welt eine vergleichbare Wichtigkeit. Die gegenständlichen Darstellungen, insbesondere die symbolischen, vom konkreten Gegenstand auf andere Sinnzusammenhänge verweisenden, sind ebenso wichtige Bedeutungsträger. Die semantischen Relationen dieser gegenständlichen bzw. symbolischen Darstellungen ergeben zusammen mit den Anschauungen der Figuren und des Erzählers ein vielfältiges, zum Teil widersprüchliches Spektrum möglicher Bedeutungen. Ein Sinnzusammenhang ergibt sich erst aus der spiegelbildlichen Brechung und Durchdringung verschiedener Bedeutungsebenen. Das bestimmt die Struktur des Erzählens : Vermittelt wird ein episches Bild von der Welt, das im Gegenständlichen, in weltanschaulich-geschichtsphilosophischer Fragestellung, in Metaphorik, in Symbolen einen kollektiven, den Leser aktiv einbeziehenden Klärungs- und Konkretisierungsvorgang in der Aneignung der Welt darstellt. Das Aktivierend-Relativierende dieser Erzählstruktur wird deutlich mit den Eingriffen, Handlungs- und Problembezügen, Motiven und Symbolen, die durch die Turmgesellschaft getragen oder vermittelt werden. Solange der Turm selbst nicht als Träger einer Handlung in Erscheinung tritt, prägt neben den „unmittelbaren" Eingriffen des medialen Erzählers insbesondere er als „Träger des Gehalts" 85 * eine Weltanschauungsebene, die Handlungs- und Figurengeschehen über173

lagert (überlagert auch in dem Sinne, daß sie die konkreten Probleme dieses Geschehens nicht abzudecken vermag). Die von den Turmabgesandten eingebrachten Anschauungen, vor allem ihre Überzeugungen von der Beherrschbarkeit des menschlichen „Schicksals", die vorgegebene „Vernünftigkeit" dieser Gesellschaft werden in dem Augenblick relativiert, in dem die Turmgesellschaft in die Handlung eintritt und ihre eigene Schicksalsabhängigkeit, die „Unlogik" ihrer Existenz offenbar wird. Kennzeichnend für die Art und Weise des Erzählens ist vor allem auch der offene Schluß des Romans. Der Erzähler tritt am Ende des Romans hinter das Geschehen weitgehend zurück; er demontiert sich selbst in der fragwürdigen Konstellation eines „glücklichen Endes". Seine Funktion ist damit erfüllt, daß er in diesem Ende alle wesentlichen Figuren und Handlungsteile in einen personalen Zusammenhang gebracht hat. Den „Sinn" dieses Zusammenhangs muß der Leser mit den bis dahin gesammelten Einsichten sich selbst erschließen. Dieses Ende ist offen nicht nur im Sinne einer eröffneten Perspektive der Handlung und Figurenentwicklung; der Schluß des Romans weist auf den Beginn der vorgeführten Entwicklung zurück. 86 * Erzählen ist in den Lehrjahren, darin besteht gegenüber dem Roman der Aufklärung das Neue, ein unabgeschlossener Prozeß im Begreifen der Welt. Die Funktion des Erzählers besteht darin, diesen Prozeß zu organisieren. Er ist aus jener „Verantwortung" entlassen, die ihm noch beispielsweise Wieland übertrug: dafür zu sorgen, „daß sich kein hinlänglicher Grund angeben lasse, warum es nicht gerade so, wie es erzählt wird, hätte geschehen können" 87. Der Erzähler in den Lehrjahren setzt verallgemeinernd Orientierungswerte und stellt sie in ihrer Brauchbarkeit wieder in Frage. In dieser Hinsicht korrespondiert das Erzählen mit der verhandelten Kunstproblematik: Alles theoretisch Gesagte wird im konkreten Gebrauch wieder relativiert. Darin liegt die Ironie der Darstellung insgesamt, nicht nur der opernhaften Schlußszenerie. Das Nicht-zum-Abschluß-Kommen des Romans verdeutlicht im Besonderen die bewegte Perspektive seines Gehalts, das Gegeneinanderstellen und Ineinanderspiegeln der Ansichten, Handlungsstränge, Problembezüge. Mit den Spiegelungen verschiedener Handlungsabschnitte und Problemebenen wird der gestaltete Entwicklungsraum der Wilhelm Meister-Figur in einen übergreifenden Zeitzusammenhang gebracht — im Sinne des eingangs zitierten Romerlebnisses. Die Entwicklung dieser Figur wird in einen geschichts174

philosophischen Kontext gestellt. Ein konkret gestalteter Sachverhalt erhält im Wechsel der Perspektiven, aus denen er „betrachtet" werden kann, eine allgemeinere Bedeutung. Diese Methode epischer Darstellung ist darauf gerichtet, das Wesen und die Erscheinung einer Sache, das Allgemeine und das Besondere einer Situation als dialektischen Zusammenhang zu vermitteln. Der Leser soll den Zusammenhang der verschiedenen Bcdeutungsrelationen sich selbsttätig erschließen. Aus der Identität bzw. aus dem Widerspruch zu den semantischen Relationen des Textes werden seine eigenen Erfahrungen und Ansichten als etwas für das Romanganze Notwendiges mobilisiert; ohne sie bleibt der Roman „unfertig". Die Mobilisierung der Anteilnahme des Lesers zu einer aktiven Teilnahme soll ein selbsttätiges Verhalten zu dem intendierten Sinn entwickeln. Der mit diesem Verhalten initiierte Austausch ist als „probender Eintritt in eine bestimmte Verhaltensart" 88 angelegt. Darin erfüllt sich für Goethe die „bildende Funktion" einer „schönen Kunst". Ästhetische Erziehung ist für Goethe in diesem Sinne auf eine „Wechselwirkung" von „Empfänglichkeit" für die vorgeschlagene Weltsicht und aktive „Selbstthätigkeit" des Lesers gerichtet, auf eine individuelle, im Austausch „kollektivierbare" geistig-sinnliche Betätigung. Mit der Aktivierung eines „mündigen", in seinem Kunstumgang ständisch ungebundenen Lesers wird auf die praktische Umsetzung seiner Vorstellungen von Sinn und Zweck ästhetischer Erziehung hingearbeitet. Diese Aktivierungsleistung macht in Goethes Verständnis den Roman auch als „Halbbruder" 89 der Poesie zu einer Gattung von durchaus poetischer Wirksamkeit. Die Anforderungen an einen idealen Leser widersprechen jenen Rezeptionsgewohnheiten, mit denen Goethe für seinen Roman rechnen mußte und gegen die er im Zusammenhang mit der Wandlung des Serloschen Theaters im Roman polemisiert. Dieser Widerspruch ist Bestandteil der Kunstproblematik dieses Romans. Geschichtliche Wirklichkeit wird in den Lehrjahren von einem weltanschaulichgeschichtsphilosophischen Allgemeinkonzept her nach Veränderungsmöglichkeiten, ihren Voraussetzungen und Bedingungen künstlerisch erprobt. Die Kriterien dieses Allgemeinkonzepts werden in ihrer Anwendbarkeit überprüft; Grundpositionen werden als für die Menschheitsentwicklung unverzichtbar verteidigt. Die Bedeutung des Romanganzen wird als ein Geistig-Konkretes konstituiert. 90 Der Reichtum, auf den ein solches geistig-konkretes Bild von der Welt deutet, zielt auf die sinnlich-geistige Aktivierung des Lesers. Er soll 175

sich die Welt in dem angebotenen Sinne erschließen und aus eigenen Erfahrungen weitere Bedeutungszusammenhänge aufschließen. Die auch in diesem Sinne offene Werkstruktur der Lehrjahre resultiert aus der nicht bewältigten, aber auch nicht übersprungenen oder verdeckten, sondern „in Angriff genommenen" Diskrepanz zwischen allgemeiner literarischer Strategie und dem dafür notwendig bereitzustellenden Instrumentarium: Eine auf geschichtsphilosophische Erkenntnis orientierte K u n s t setzt ein geschichtsphilosophisches Konzept voraus; dieses soll mit Hilfe der K u n s t erarbeitet werden. Für das erprobende Austragen derartiger Widersprüche zwischen allgemeiner literarischer Strategie und verfügbarem Begriffs- und Gestaltungsinstrumentarium ist der Roman als Gattung in einem besonderen Maße geeignet. Diese E i g n u n g gibt ihm in der entwickelten Kunstperiode, insbesondere bei den Romantikern, einen besonderen Stellenwert im Gattungsgefüge. Für diese Entwicklung haben die Lehrjahre einen wesentlichen Beitrag geleistet. V o n Einfluß war insbesondere die Konsequenz, mit der Goethe hier die organische Allseitigkeit der Welt als Beziehungsreichtum menschlicher Individualität erfaßt und in eine F o r m brachte, die im konkreten Gegenstand allgemeine Zusammenhänge sichtbar macht. Gemessen aber am Epos-Ideal»*, an der in diesem Ideal verstandenen poetischen „Welthaltigkeit" waren für Goethe mit den Lehrjahren inhaltlich und vor allem formästhetisch Einschränkungen verbunden. D a s Bemühen um eine dem klassischen Vorbild entsprechende epische Dichtung, um Überschaubarkeit und Simplizität der Darstellung eines „für sich" bedeutsamen Gegenstandes resultiert vor allem auch aus der Erfahrung, daß die offene Ensemblestruktur eines Romans die Rezipierbarkeit des Textes einschränkt. 9 2 * Doch wird in diesem Bemühen das epische Konzept der Lehrjahre nicht durch das poetisch geschlossenere von Hermann und Dorothea abgelöst; das Konzept epischer Dichtung wird vielmehr in fortgeführten Versuchen beider „Macharten" komplementiert. Der F