Ficta respublica: gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts [Reprint 2012 ed.] 3484150459, 9783484150454

Frontmatter -- Inhaltsverzeichnis -- Vorwort -- Einleitung -- 1. Kapitel: Schwierigkeiten einer Literaturgeschichte der

222 88 15MB

German Pages 472 [476] Year 1981

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Ficta respublica: gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts [Reprint 2012 ed.]
 3484150459, 9783484150454

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE H E R A U S G E G E B E N TON HANS FROMM UND HAN8-JOACHIM MXHL

B A N D 45

LUDWIG STOCKINGER

Ficta Respublica Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1981

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Stockinger, Ludwig: Ficta Respublica : gattungsgeschichtl. Untersuchungen zur utop. Erzählung in d. dt. Literatur d. frühen 18. Jh. / Ludwig Stockinger. - Tübingen : Niemeyer, 1981. (Hermaea ; N.F., Bd. 45) NE: GT ISBN 3-484-15045-9 ISSN 0440-7164 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen Printed in Germany Satz und Druck: Maisch + Queck, 7016 Gerlingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen D. 8

MEINEN ELTERN UND GESCHWISTERN

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

XIII

Einleitung I.

Grundlegende Interpretationsprobleme der Gattung und ihre typischen Lösungen

1

II.

Erste Abgrenzung der eigenen Position

4

III.

Programm der Arbeit und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

11

1. Kapitel: Schwierigkeiten einer Literaturgeschichte der utopischen Erzählung I.

Historische Gattung und allgemeiner Utopiebegriff. Forschungsgeschichtliche Ursachen einer Begriffsverwirrung...

15

15

Robert von Mohl und die Folgen (15) · Utopie als politischer Kampfbegriff (18) • Zusammenfassung: Probleme der Gegenstandsabgrenzung und der Bestimmung der utopischen Intention (23) · II.

Der Begriff der utopischen Intention und seine Beziehung zur historischen Gattung

28

Utopie als Appell zur Veränderung der Wirklichkeit: Voigt, Mannheim, Bloch (28) · Exkurs über die Folgen Blochs für den literaturwissenschafdichen Utopiebegriff (38) - Utopische Intention als Negation der Wirklichkeit: Traditionelle Utopieforschung, Tillich, Neusäss (41) · Zur Anwendbarkeit der Bestimmungen von Tillich und Neusüss (45) - Zusammenfassung (47) · III.

Der Begriff der utopischen Methode

49

Die utopische Insel als experimentelle Situation: Mach, Freyer (49) · Der allgemeine Begriff der utopischen Methode: Ruyer, Krymanski (52) · Zur Brauchbarkeit der instrumentalen Utopiebegriffe für die literarische Analyse (58) • VU

IV.

Die utopische Erzählung unter literaturwissenschaftlichen Fragestellungen

60

Rehm (60) · Brüggemann (61) · Brunner und Bohrer (63) - Hohendahl (69) • Seeber (71) · Utopische Erzählung und satirische Tradition (76) · Zur literaturwissenschafdichen Analyse der utopischen Fiktion: A. Schmidt, H. Mayer, Voßkamp und Hohendahl (87) · V.

Zusammenfassung der Forschungsdiskussion

94

2. Kapitel: Begriff und Bewertung der historischen Gattung im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert I.

Der Wortgebrauch von »Utopia« und »utopisch« im 18. Jahrhundert

100

100

Thesen Falkes (100) · Historische Bedeutungen: Schlaraffenland, »fiktive Welt«, »unvernünftige Erdichtung« (103) · Zusammenfassung (111) · II.

Die Beurteilung der utopischen Erzählung in Kompendien des späten 17. Jahrhunderts

112

Einordnung der Gattung in übergeordnete Begriffe (112) · Conring (113) · Morhof (114) · Pasch (116) · Zusammenfassung (127) · III.

Die Beurteilung der utopischen Erzählung in der deutschen Frühaufklärung

129

Thomasius' Rezension der Histoire des SSvarambes (129) - Der Wirklichkeitsbegriff der deutschen Frühaufklärung und die utopische Erzählung: Leibniz' Theodizee und die aufklärerische Wirklichkeitsauffassung (133) • Die Beurteilung der Gattung bei Leibniz (137) · Die Leibnizsche Metaphysik in der Popularisierung Gottscheds (138) Wolffs Distanzierung von der utopischen Erzählung (140) · Zedier (146) · Zusammenfassung (147) · IV.

Die poetologischen Normen der Frühaufklärung und ihre Bedeutung für die Interpretation der utopischen Erzählung.. Literarische Fiktion und »mögliche Welt« (150) · Das Problem der poetischen Wahrheit (160) · Moralische Absicht und ästhetische Wirkung (168) · Zusammenfassung (179) ·

VIII

149

3. Kapitel: Beispielanalyse 1: Philipp Balthasar Sinold von Schütz, Die glückseligste Insul auf der gantzen Welt I.

185

Vorbemerkungen zu den Texten und zur Biographie des Autors

185

Texte (185) · Biographische Daten und Werk (186) · II.

Die Glückseeligste Insul in Selbstauslegungen des Textes . . .

193

Titel (193) · Vorrede (195) · Einleitung (201) · III.

Analyse der satirischen Überredungsstrategien

208

Aufbau der Handlung (208) · Beschreibung der Insel in Negationen (212) · Satirische Bewertungsprozesse (217) IV.

Struktur und Wirklichkeitsbezug der utopischen Fiktion . . .

231

Neukombination semantischer Einheiten der Erfahrungswelt: Das königliche Arbeitszimmer als Beispiel (231) · Utopische Hofgesellschaft, Verfassung und Gesellschaftsordnung (233) · Zusammenfassende Bemerkungen zum Konstruktionsverfahren (243) * Abbildungen semantischer Einheiten der Erfahrungswelt: Vorbilder des »Landes der Zufriedenheit«: Pietismus und preußischer Staat (245) · Elemente der Erfahrungswelt in der Fiktion (251) · Abwandlung der Erfahrungswelt im utopischen Kontext (254) · »Hypothetische Voraussetzungen« der utopischen Fiktion: Konsens über Verhaltensnormen: »Harmonia« (258) · Gelingende Sozialisation (261) · Isolation des Systems (262) · Konstruktion der utopischen Welt und Textaussage (263) · Die utopische Insel als Strukturelement im Gesamttext (269) V.

Probleme der illusionierenden Darstellung

272

Integration der fiktiven Räume in den Handlungsverlauf: Klärung der Erzählsituation (272) · Trennung und Verbindung der Räume (274) · Verklammerung der Räume durch die Figuren (275) · Konkretisierung der utopischen Fiktion: Die Ankunft der Europäer auf der Insel als Beispiel (276) · Darstellungstechniken im Gesamttext (289) · Der Reisebericht als vorbildliche Textstruktur: Beispielanalyse: Der Frantzösische Robinson (293) · Bedeutung der Reiseberichtstruktur für die utopische Erzählung (299) • VI.

Sinolds Glückseeligste Insul und die gattungsgeschichtliche Situation im frühen 18. Jahrhundert

302 IX

4. Kapitel: Von Sinolds Glückseeligster Insul zu Schnabels Insel Felsenburg. Literaturgeschichtliche Voraussetzungen der Gattungsentwicklung 305 I.

Zur Entwicklung der Satire im frühen 18. Jahrhundert

305

Typen der Satire im 17. Jahrhundert: Moralsatire und Sünderbiographie (305) · Weiterentwicklung der Sünderbiographie im Bekehrungsbericht (310) · Die pietistische Moralsatire im frühen 18. Jahrhundert: Sinolds Satiren (318) · II.

Die Weiterentwicklung der Satire am Beispiel der Moralischen Wochenschrift Der Patriot (1724/26)

343

Wandlungen der satirischen Intention (343) · Reduktion der Thematik auf den Bereich des bürgerlichen Privadebens (349) · Darstellungstechniken (352) • Epische Integration der Sachthemen (363) • Zusammenfassung (371) · III.

Innovationen des Reiseberichts: Defoes Robinson Crusoe in Deutschland

376

Techniken der Wirklichkeitsdarstellung: Subjektivierung der Erzählperspektive (376) · Wirklichkeit als Objekt menschlicher Arbeit (384) · Zusammenfassung (386) · Zur Struktur der Erzählverläufe im Robinson Crusoe: Der Robinson Crusoe als Bekehrungsbericht (387) · Der Robinson Crusoe als Geschichte einer Weltveränderung (392) · Utopische Aspekte im Robinson Crusoe (395) · 5. Kapitel: Beispielanalyse 2: Johann Gottfried Schnabel, Wunderliche FATA einiger See-Fahrer (1731-43) 399 I.

Zur Selbstinterpretation des Textes im Vorwort

400

Argumentationsgang (400) · Das Vorwort im Kontext der Gattungskonvention (401) · IL.

Zum Aufbau der Erzählung Das System der Rahmenerzählungen (404) · Die Textelemente und ihr Bezug zur Gattungstradition: Erzählsituation (407) · EberhardErzählung als Besichtigungsreise (408) · Albert-Erzählung und Biographien als Darstellungen der Vorgeschichte (408) · Veränderungen des traditionellen Textaufbaus: Übergewicht der Vorgeschichte (409) · Subjektivierung der Darstellungsperspektive (410) • Neue Textstruktur und tradierte Gattungsintention (410) ·

X

404

III.

Das Problem der satirischen Textstruktur in der Insel Fel412 senburg, Techniken der Gegenüberstellung von Normfigur und Erfahrungswelt: Utopische Welt und europäische Wirklichkeit in der AlbertErzählung (412) · Thematische Bezüge zwischen Europa und Insel in den Lebensläufen (418) · Schlußfolgerungen: Privatisierung (431) · Auflösung der thematischen Gliederungsprinzipien (433) · Kompositorische Verteilung utopischer und satirischer Erzählelemente (433) · satirische Bewertungsprozesse (433) -

IV.

Probleme der wahrscheinlichen Darstellung utopischer 434 Wirklichkeit Status und Wirklichkeitsbezug der utopischen Fiktion (434) · Techniken der Veranschaulichung der utopischen Welt: Integration der fiktiven Räume (438) - Konkretisierung und Episierung der Inselwelt (440) ·

V.

Die Insel Felsenburg und die Tradition der utopischen Erzählung 444

XI

Vorwort

Die vorliegenden Untersuchungen zum Problem der literarischen Utopie gehen auf Anstöße zurück, die ich als Student in einem Regensburger Hauptseminar bei Prof. Dr. Hans-Joachim Mähl im Jahre 1969 erhalten habe. Die Arbeit ist 1976 abgeschlossen worden und lag im Frühjahr 1977 dem Fachbereich Philosophie der Universität Kiel als Dissertation unter dem Titel »Ficta Respublica. Studien zum Begriff der utopischen Erzählung am Beispiel der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts« vor. Sie erscheint nun in leicht veränderter, vor allem gekürzter Form im Druck, ohne daß an den Thesen der Arbeit Wesentliches geändert worden ist. In der Zwischenzeit erschienene Literatur wird nur mehr vereinzelt in Anmerkungen diskutiert. Die Arbeit repräsentiert also den Diskussionsstand von 1976; seither erschienene Arbeiten zum Thema haben mich zu einer Revision meiner Thesen nicht veranlaßt. Allerdings hat eine inzwischen vertiefte Kenntnis der politischen Ideengeschichte der frühen Neuzeit, vor allem der Legitimationsprobleme des frühneuzeitlichen Staates dazu geführt, daß ich die Bemerkungen zur Funktion der voraufklärerischen Utopie heute ausführlicher und differenzierter formulieren würde. Dies würde freilich zu einer ganz anderen Arbeit führen und das zentrale Anliegen dieser Arbeit verwischen, nämlich den Blick der Utopieforschung auf bisher vernachlässigte ästhetische Probleme der Gattung zu lenken. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, meine Thesen zur Funktion der Gattung im 16. und 17. Jahrhundert in einer gesonderten Untersuchung zu entwickeln und sie nicht mehr in die Druckfassung der Dissertation einzuarbeiten. Für seine Anregung des Themas und für sein wissenschaftliches und persönliches Engagement bei der Betreuung der Arbeit danke ich Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Mähl, für zahlreiche Verbesserungsvorschläge in der Endphase der Arbeit Dieter Lohmeier. Daß diese Arbeit Zustandekommen konnte, dazu haben Lilo Völtz-Lohmann, Michael Lohmann, Uschi Brennecke-Trautsch und Uwe Trautsch durch ihre Diskussionsbereitschaft und ihre Freundschaft viel beigetragen. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes gilt mein Dank für die Unterstützung durch ein Doktorandenstipendium. April 1981

Ludwig Stockinger

Einleitung

I. Grundlegende Inteipretationsprobleme der Gattung und ihre typischen Lösungen In der Utopia von Thomas Morus wird eine Diskussion über Fragen der Organisation von Staat und Gesellschaft dargestellt, in der einer der Gesprächsteilnehmer ein überraschendes Argument einbringt. Er argumentiert nicht mehr diskursiv, sondern erzählt von einer Reise in ein unbekanntes Land, beschreibt die öffendiche Ordnung dieses Landes, das Funktionieren der Verfassung bis in konkrete Details und kritisiert im Kontrast dazu die öffentliche Ordnung der zeitgenössischen Wirklichkeit. Die Utopia und die Texte der von ihr begründeten Gattungstradition haben der Forschung Interpretationsprobleme beschert, die sich aus dem Zusammenwirken scheinbar unvereinbarer Elemente ergeben. Einerseits wird eine Thematik abgehandelt, die Autoren — und Interpreten — ernst und wichtig nehmen, andererseits geschieht dies in einer literarischen Form, die auf den ersten Blick als dem Thema und der Intention der Autoren nicht angemessen erscheint, weil sie als Fiktion zu durchschauen ist und damit in ihrer Verbindlichkeit eingeschränkt erscheint. Dies hat dazu geführt, jeweils einen der beiden Aspekte als dominant zu setzen, und die Entscheidung, entweder Thematik und angenommene Intention oder die literarische Form hervorzuheben, hat zu gegensätzlichen Forschungspositionen geführt, die das heutige Verständnis der Gattung, wie der einzelnen Texte, prägen. 1. Utopie als politisches Programm Die gängige Assoziation, die sich beim Wort »Utopie« einstellt, ist: Programm zur umfassenden Reform von Staat und Gesellschaft, das die Eigenschaft hat, illusionär und undurchführbar zu sein. Das Duden Fremdwörterbuch umschreibt in diesem Sinne die Bedeutung von »Utopie« folgendermaßen: »als unausführbar geltender Plan ohne Grundlage, Hirngespinst«.1 Es dürfte unbestritten sein, daß es dieses Phäno1

Duden Fremdwörterbuch, Mannheim 1960, S. 676.

1

men gibt und daß die Abwertung von politischen Programmen als illusionär mit dem Kampfbegriff »Utopie« gebräuchlich und wirksam ist;2 die Frage ist nur, ob sich die Intention der Autoren, die Texte in der Tradition der Utopia verfaßt haben, damit identifizieren läßt. Wo dies geschieht, entstehen jedenfalls enorme Probleme gerade im Zusammenhang mit der literarischen Form dieser Texte. Da sie sich mit der unterstellten Intention nicht sinnvoll in Beziehung setzen läßt, wird sie als defizienter Aussagemodus empfunden. Dieses in der Utopieforschung gängige Urteil wird schon an ihrem Beginn bei Robert von Mohl formuliert: Für ihn sind utopische Erzählungen eine Sondergruppe der staatswissenschaftlichen Literatur. Sie gehören damit zu den Texten, in denen politische Theorien vorgetragen und konkrete Vorschläge zur Gestaltung der öffentlichen Ordnung unterbreitet werden, aber die Bezeichnung »Staatsroman«, die Robert von Mohl zur Unterscheidimg von der übrigen, diskursiv formulierten, staatswissenschaftlichen Literatur gibt, läßt mit ihrem pejorativen Nebensinn das negative Werturteil erkennen, zu dem der Autor aufgrund seiner Gattungszuordnung kommt: »Es ist (...) an und für sich sehr zweifelhaft, ob die Form des Romans mit Nutzen gebraucht werden kann, um jede Art von Vorschlägen zu neuen Staatseinrichtungen zu entwickeln (...) Poesie und Verordnungsblatt sind unvereinbare Dinge.«3 Wo man an der These vom politischen Programm festhielt, aber zu einem positiven Gesamturteil über den Text kommen wollte, mußte die literarische Struktur entweder ignoriert oder ausdrücklich für unwesentlich erklärt werden. Exemplarisch für diese Position ist etwa die Meinung des Soziologen Arnhelm Neusäss: Ihm gelten die Bildvorstellungen und Handlungsabläufe, aus denen die utopischen Erzählungen aufgebaut sind, »nur als flüchtige Surrogate dessen, was intendiert ist«.4 Sie seien so unwichtig, daß ein Autor, der einen Text in utopischer Absicht schreibe, auf sie verzichten könne.5 Eine solche Position mag auf Grund der Forschungstradition und des soziologischen Forschungsinteresses noch verständlich sein. Bedenklich aber ist

2

3

4

5

vgl. Thomas Nipperdey, »Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit«, Archiv für Kulturgeschichte, 44, 1962, S. 357-378, S. 357. Robert von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. I, Erlangen 1855, S. 213. Arnhelm Neusüss, »Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens«, in: Amhelm Neusüss (Hrsg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied Berlin 1968, S. 13-114, S. 111. vgl. Neusüss S. 32.

2

es, wenn sich die gleiche Einschätzung der literarischen Struktur auch in einer literaturwissenschaftlichen Publikation zum Problem der Utopie findet:* »Es scheint in der Tat angebracht, die Typologie der Utopien in ihren verschiedenen Erscheinungsformen von einem Blickpunkt außerhalb des Literarischen anzugehen, denn mag auch die Gestaltung der jeweiligen Rahmenhandlungen und Kontexte noch so poetischen Charakter haben: es wird immer die politische Verfassung des beschriebenen Gemeinwesens sein, die Kriterien für einen Vergleich mit anderen Entwürfen an die Hand gibt. So ist zwar überaus deutlich, in wie starkem Maße die Utopisten über die Intention anderer Autoren hinaus, die ohnehin durch ihr Schreiben eine eigene, poetische Wirklichkeit schaffen und sich damit nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt der >Wahrheit der Dichter< (Kayser) messen lassen müssen, >seinsstiftend< agieren und damit durch die Methoden traditioneller Literaturbetrachtung erfaßt werden können, doch wird hier gerade mehr >gestiftet< als nur poetische Realität: es geht um den Staat, wie er sein oder nicht sein sollte. Eine Typologie der Utopien muß also in der Hauptsache auf deren politischsoziale Organisation den Blick richten und darf die im Prinzip wunderbaren, in ihrer Wiederholung aber stereotypen Wege zur Entdeckung der fiktiven Staaten (Schiffbruch, abenteuerliche Reise, Raumflug, Traum, Trance etc.) zunächst bei Seite lassen.«

Auch diesem in sich widersprüchlichen Zitat liegt die These zugrunde, der eigentliche »Inhalt« der Texte, der »Entwurf« einer öffentlichen Ordnung, sei von der literarischen Struktur ablösbar und daher isoliert zu betrachten. Biesterfeld nimmt sogar eine Zweiteilung innerhalb der Texte vor: »Poetischen Charakter« hat nur die »Rahmenhandlung«; die fiktive Welt, die in dieser »wunderbaren« Rahmenhandlung entdeckt und beschrieben wird, offenbar nicht. Literarische Strukturanalyse, so nimmt Biesterfeld an, kann nur die verschiedenen Formen der Einkleidung erfassen und zur Interpretation des »Entwurfs« nicht beitragen. Das zentrale Problem scheint im Mittelteil des Zitats gestreift, wird aber sofort wieder beiseitegeschoben: die Tatsache, daß in utopischen Erzählungen der Prozeß der Entstehung einer poetischen Fiktion exemplarisch beobachtet werden kann. Gerade dieses Problem aber müßte bei einer Analyse der literarischen Struktur im Mittelpunkt stehen, und nicht die Analyse der Rahmenhandlung, auf die Biesterfeld die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers reduzieren möchte. Wenn es auch in diesen Texten um die Frage der Organisation von Staat und Gesellschaft geht und sich ein normativer Wirkungswille ausspricht, so bleibt der Text 6

Wolfgang Biesterfeld, Die literarische Utopie, Stuttgart 1974 (= Sammlung Metzler 127), S. 5.

3

trotzdem eine poetische Fiktion. Wenn Biesterfeld meint, es gehe um mehr als »nur« um poetische Realität, so unterschätzt er, in einem traditionellen Kunstbegriff befangen, die spezifischen Wirkungsmöglichkeiten poetischer Texte. 2. Utopie als autonomes literarisches Kunstwerk Die Gegenposition dazu wird exemplarisch von Rudolf Sühnel formuliert: »Weder Programm noch Theorie, ist eine Utopie primär ein Werk der Literatur. In poetischer Konkretisierung entwirft sie eine ideale Gesellschaftsordnung. Dies geschieht als Selbstzweck, um jener Freude willen, der alle Kunst gewidmet ist.« 7

Auch diese These geht von der Beobachtung aus, daß in utopischen Erzählungen das Thema der öffentlichen Ordnung abgehandelt wird und daß dies in einem poetisch strukturierten Text geschieht. Doch ist hier gerade die Tatsache der poetischen Formulierung Ausgangspunkt für die Festlegung der Autorenintention: Aus der poetischen Formulierung der Texte wird gefolgert, daß es nicht Absicht der Autoren gewesen sein kann, politische Programme und Theorien zu verbreiten, ja überhaupt mit ihren Texten irgendeinen Zweck verfolgt zu haben. Die Texte erscheinen als Produkte eines harmlosen Spieltriebs ohne Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese Schlußfolgerung ist m.E. nur auf der Grundlage eines autonomen Kunstbegriffs möglich, und es liegt auf der Hand, daß dieser Kunstbegriff für Texte der vorklassischen Zeit mit ihrem rhetorisch geprägten Poesieverständnis, insbesondere für die hier behandelte Gattung, nicht gilt.

II. Erste Abgrenzung der eigenen Position In meiner Arbeit sollen diese in langer Forschungstradition verfestigten Urteile zum Problem der Utopia und der von ihr ausgehenden Gattungstradition insofern in Frage gestellt werden, als ich versuchen werde, die Entscheidung eines Autors gerade für diese literarische Form als eine sinnvolle Entscheidung zu verstehen, die nicht im Widerspruch zu seiner Intention steht. Da ich davon ausgehe, daß »die aus dem Material der 7

Rudolf Sühnel, »Utopie«, in: Das Fischer-Lexikon, Literatur II, 2, S. 587-601, S. 590.

4

(natürlichen) Sprache geschaffene komplizierte künstlerische Struktur« es ermöglicht, »einen Informationsumfang zu übermitteln, der mit Hilfe der elementaren eigentlich sprachlichen Struktur gar nicht übermittelt werden könnte«,8 wird die Analyse der formalen Strukturen einen höheren Stellenwert einnehmen, als dies in Arbeiten zu dieser Gattung üblich ist. Aus dieser Einschätzung des Gewichts formaler Strukturen ergibt sich weiterhin, daß sich Bedeutungsfestlegungen, die nur unter Abstraktion von der literarischen Form möglich sind, verbieten. Daß sich z.B. die in Forschungsarbeiten dauernd wiederholte These vom Programmvorschlag für eine Umgestaltung der Wirklichkeit nicht halten läßt, läßt sich schon mit einer vorläufigen, historisch noch nicht differenzierten, Überlegung zu einigen grundlegenden formalen Merkmalen der Gattung zeigen. Eine solche Vorüberlegung kann auch erste Hinweise geben, wie die Bedeutung dieser Texte im Gegensatz dazu zu fassen wäre und welche Probleme der Gattung demzufolge der Literaturwissenschaftler zu untersuchen hätte: Mit der Utopia ist eine Gattungstradition poetischer Texte begründet worden, und das heißt fiktionaler, narrativer und bildhaft formulierter Texte. Damit unterscheidet sich die Utopia wesentlich von diskursiv formulierten Weltverbesserungsplänen, und dies begründet die spezifische Intention und Wirkungsweise dieser Gattung. Mit der Entscheidung für eine fiktionale Textstruktur nimmt sich der Autor einer utopischen Erzählung die Freiheit, eine Wirklichkeit darzustellen, die mit den Wirklichkeitsvorstellungen nicht übereinzustimmen braucht, mit denen man sich in der Lebenspraxis orientiert. Das kann die Darstellung einer Welt sein, die zwar erfunden ist, in der aber die Geschehensabläufe nach Regeln verlaufen, die mit den für die Erfahrungswelt vorausgesetzten Regeln übereinstimmen. Es kann aber auch die Darstellung einer Welt sein, in der grundsätzlich andere Strukturen für Handlungsverläufe und räumliche Zuordnungen gelten, als man dies für die geltende Wirklichkeitserfahrung der Lebenspraxis annimmt. Hierzu gehören z.B. Abweichungen vom jeweiligen physikalischen Weltbild oder Abweichungen von einer allgemein akzeptierten Vorstellung von der Natur des Menschen und seinen Verhaltensweisen. Während nichtfiktive Texte mit der Erwartung konfrontiert sind, Informationen zu geben, nach denen man sich in der Lebenspraxis richten kann, und Appelle auszusprechen, die auf die Regulierung des Handelns 8

Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 1972, S. 24f.

5

gerichtet sind, sind fiktive Texte einer solchen Kontrolle durch die Praxis nicht ausgesetzt. Schon aus diesem Grund wäre es problematisch, utopischen Erzählungen zu unterstellen, daß sie als Handlungsanweisungen gedacht sind, oder Texten die Bezeichnung »utopisch« abzusprechen, wenn sich eindeutig ergibt, daß sie diese Intention nicht objektivieren. Dies gilt vor allem dann, wenn die fiktive Wirklichkeit, die in diesen Texten dargestellt wird, in wesentlichen Prinzipien von den jeweils geltenden Vorstellungen über die Struktur der Erfahrungswelt abweicht und wenn diese Abweichung jenseits der geltenden Vorstellungen von den Möglichkeiten des Menschen liegt, in die Wirklichkeit verändernd einzugreifen. Bei der Entscheidung über die Intention der Texte ist also gerade diese Differenz zwischen den Strukturen der dargestellten Welt und den jeweiligen Vorstellungen über die Erfahrungswelt zu bestimmen. Und um bei der Feststellung dieser Differenz nicht vorschnell zum sattsam bekannten Vorwurf des utopischen Illusionismus zu kommen, wird gerade hier zu fragen sein, ob sie nicht ganz bewußt konstruiert wurde und Zeichen einer anderen Intention ist. Die Feststellung einer solchen Distanz zur Erfahrungswelt muß freilich nicht zu der These führen, ein solcher Text sei ein funktionsloses Produkt autonomer Kunst, wie dies Sühnel behauptet. Denn die spezifische Wirkung fiktionaler Texte auf das Bewußtsein des Lesers beruht gerade auf der relativen Distanz zur Wirklichkeitserfahrung. Indem der Leser die fiktive Wirklichkeit in seinem Bewußtsein realisiert, macht er die Erfahrung, daß die Welt, so wie er sie sieht, nicht unbedingt so sein muß. Indem sich im Leseprozeß »das imaginierende Bewußtsein aus dem Zwang seiner Gewohnheiten und Interessen«9 löst, wird eine Voraussetzung wirklichkeitsverändernden Handelns geschaffen: ein Freiraum des Bewußtseins gegenüber der Wirklichkeitserfahrung.10 Freilich sollte das Mittel der Fiktionalität in seiner Wirkung nicht überschätzt werden, da es für sich allein instrumental und wertfrei ist und genausogut zur Unterbindung von Kritik und zur Lähmung wirklichkeitsverändernden Handelns dienen kann. Die Darstellung einer idealen Wirklichkeit kann

' Hans Robert Jauss, Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972, S. 13. Vgl. auch Siegfried J. Schmidt, ästhetizität. philosophische beitrage zu einer theorie des ästhetischen, München 1971, S. 77 und Dieter Wellershoff, »Fiktion und Praxis«, in: Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland, hrsg. von Wolfgang Kuttenkeuler, Stuttgart, 1973, S. 329-340, S. 336. 10 Daß dies eine wesentliche Funktion der Darstellung utopischer Wirklichkeit ist, behauptet schon Nipperdey 62, S. 363. Leider sind die Anregungen dieses Aufsatzes von der Forschung bisher viel zu wenig weitergeführt worden.

6

zu einem Instrument affirmativer Intentionen werden, wenn der Text den Eindruck erweckt, daß er ein Abbild der Wirklichkeit gebe oder wenn der vergleichende Rückbezug des Lesers auf seine Erfahrung verhindert wird und damit eskapistische Lesereaktionen ausgelöst werden. Utopisch sollten nur Texte genannt werden, in denen das Mittel der Fiktionalität erkennbar in wirklichkeitskritischer Funktion eingesetzt wird, wenn also sichergestellt ist, daß dem Leser die Differenz der fiktionalen Welt zur Erfahrungswelt bewußt bleibt und er dazu provoziert wird, die Erfahrungswelt einem kritischen Vergleich zu unterziehen.11 Nur mit dieser Einschränkung kann verhindert werden, daß »utopisch« zu einem bloßen Synonym für »poetisch« wird12 und damit der Begriff als Analyseinstrument seine Brauchbarkeit verliert. Als poetische Texte sind utopische Erzählungen nicht nur fiktional, sondern auch narrativ und bildhaft. Die Wirkung poetischer Texte vollzieht sich »seit eh und je auf der Ebene primärer Identifikation wie Bewunderung, Erschütterung, Rührung, Mitweinen, Mitlachen«. 13 Da dies Affekte sind, die die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung begleiten, muß ein poetischer Text, um diese Affekte hervorzurufen, die Illusion sinnlicher Wahrnehmung vermitteln, d. h. er muß so strukturiert sein, daß seine Realisierung im Bewußtsein des Lesers den Vorgängen sinnlicher Wahrnehmung ähnelt. Folglich muß er sich an die primären Kategorien der sinnlichen Wahrnehmung, Zeit und Raum, halten. Indem der Text Vorstellungen im Bewußtsein hervorruft, in denen räumliche Beziehungen zwischen den Einzelheiten hergestellt werden, ist seine Darstellungsweise bildhaft, indem er die Einzelheiten in einer Ordnung des zeitlichen Nacheinanders bringt, ist er erzählend. Bildhafte und erzählende Texte erreichen den Leser nicht mit einem Appell an das logische Denkvermögen, sondern an die Affekte. Die Überredung des Lesers, den Standpunkt des Autors zu akzeptieren, geschieht in diesem Fall nicht durch die Qualität und Striiigenz der Argumente, sondern durch die Qualität der Darstellungs- und Erzählkünste. Je konkreter die 11

12

13

Ich schließe mich damit Interpretationen an, die die Gattung vom übergeordneten Begriff der Satire her analysieren. Vgl. dazu vor allem Robert C. Elliott, »Die Gestalt Utopias« in: Rudolf Villgradter u. Friedrich Krey, Der utopische Roman, Darmstadt 1973, S. 104-125; A. R. Heisermann, »Satire in the Utopia«, PMLA, 78, 1963, S. 163-174; Hans Ulrich Seeber, Wandlungen der Form des utopischen Romans in England, Göppingen 1970, S. 51. Vgl. dazu auch mein Kap. I, S. 76ff. Daß dies eine spezifische Gefahr gerade literaturwissenschaftlicher Arbeiten zum Problem der Utopie ist, und warum ich diese Entwicklung des Utopiebegriffs für gefährlich halte, werde ich in Kap. I, S. 38ff. noch ausführlich darstellen. Jauss, S. 38.

7

sinnliche Vorstellung ist, die ein Text beim Leser hervorruft, umso größer ist dessen Illusion und umso größer ist die affektive Wirkung. Die Utopia ist als erster Text der Tradition vom Autor ganz bewußt als poetischer Text angelegt worden. 14 »Das >Ideelle< ist hier immer zugleich das Ideale im Sinne einer konkreten, in Bildern ausgeformten und vergegenwärtigten Wunschvorstellung«. 15 Diese Feststellung gilt auch für die Utopia und die von ihr begründete Gattung, obwohl man gerade hier bisher geneigt war, die ästhetische Seite zu unterschätzen oder zu ignorieren. Daraus ergibt sich, daß der Ausbau der bildhaften und narrativen Strukturen in der Gattungsgeschichte eine plausible und konsequente Weiterentwicklung des ursprünglichen Gattungsmusters ist und nicht von vornherein als Zeichen von abgeschwächtem Wirkungswillen und von Wirklichkeitsflucht interpretiert werden darf. 16 Gegenüber dieser gängigen Deutung des Phänomens kann nicht nur die Logik der Gattungsentwicklung ins Feld geführt werden, sondern auch der rhetorisch geprägte Literaturbegriff, der zur Entstehungszeit der Utopia und bis ins späte 18. Jahrhundert hinein gültig war. Da unter der Voraussetzung dieses Literaturbegriffs literarische Texte ganz selbstverständlich politischen und moralischen Zwecksetzungen unterworfen sind, ist poetische Darstellung zunächst einmal ein wirksames Mittel,

14

15 w

vgl. die Analyse von Elliott, der zeigt, daß die Diskussion zwischen »Morus« und Hythlodäus im ersten Buch der Utopia aporetisch endet. Das zweite Buch ist nun zwar »eine Antwort auf >Mores< Einwände« (S. 116), aber »genaugenommen werden >Mores< anfängliche Einwände gegen den Kommunismus nie widerlegt (...). Hythlodäus deutet auf Utopia hin und sagt: »Seht, wie es funktioniert!< Aber wir vergessen rasch die Oberflächlichkeit dieses >BeweisesPrinzipien< (...) unwandelbare (...) Denkform« (S. 12), von der »der Vorstellungs- oder Mitteilungsgehalt des utopischen Romans« (ebda.) abhänge. Dieser These ist insofern zuzustimmen, als die utopische Erzählung eine literarische Gattung mit eigenständiger Tradition ist und es deswegen durchgehende formale Strukturen und traditionelle Motive geben kann, welche die auf verschiedene Wirklichkeiten bezogene Aussage zum Teil präformieren. Zugestimmt wird dieser These auch insofern, als auch in meiner Arbeit von einem Wechselverhältnis zwischen Fiktion und Kritik ausgegangen wird. Die Art der Kritik wird von der Art der fiktiven Normfigur und erstenmal in Form einer fiktiven Stadtgründung erzählend vorgetragen wird, gibt es »eine Stadteinteilung nach streng symmetrischem Plan« (...) Denn die symmetrische Figur garantiert wie das Modell nicht nur Reproduzierbarkeit, sondern auch Vollendung. Symmetrie ist - in Anschluß an Hippodamus - zugleich Spiegel der richtigen sozialen Einteilung der Stadt. Sie ist vor allem aber das gottgegebene Muster. Die Städteplaner der Renaissance konnten sich auf antike Vorbilder in symmetrischen Anlagen berufen, etwa auf Rhodos und Halikarnass, vor allem aber auf Vitruv (...). Ab Filarete ist die utopische Stadt (...) eine symmetrische Figur. Wohl auch weil diese Figur geschichtslos perfekt ist.« (Hermann Bauer, Kunst und Utopie, Studien über das Kunst- und Staatsdenken in der Renaissance, Berlin, 1965, S. 74). 135 vgl. Krysmanski, S. 117: »Die Inhalts- und Motivanalyse führte zu einer >Ethnographie< Utopiens, die immer stärker reine Katalogisierung wurde, eine Systematisierung nach Themen und sozialen Lösungsversuchen brachte und den Unterschied zwischen utopischer Modellhaftigkeit und wirklichen Staatsverfassungen verwischte.«

57

den tradierten Methoden ihrer Herstellung bestimmt. Nur darf man nicht, wie dies bei Krysmanski geschieht, den instrumentalen Aspekt der Fiktion zum prädominanten Merkmal machen. Die Folge ist nämlich dann ein falsches Urteil über den ganzen Text: »Die konkrete Utopie ist (...) instrumental und daher zunächst >wertfreierkenntnistheoretischen< Möglichkeiten des utopischen Spiels bringen die konkrete Utopie in eine indirekte, aber sehr wirksame Beziehung zur Wirklichkeit, (...): Der utopische Roman (...) hat seinen Teil an der experimentellen Denaturierung der Primärerfahrung««. Vgl. auch S. 25: »(...) der politische Wille< der Utopisten ist immer >abgebogenobjektiven< (...) Beschreibung >wirklichen< Raumes durch den Kartographen oder Geographen verwandt« (S. 72) sei. Aufgrund von Brunners Vorentscheidung, daß nur subjektiv erlebte Raumbeschreibungen »poetisch«

1+4

vgl. Einleitung, Anm. 16.

63

seien,145 führen ihn diese Beobachtungen am Text der Utopia zu einem fatalen Schluß: » D e r poetische R a u m der Sozialutopien ist eine Sonderform des poetischen Raumes. Die Sozialutopie ist keine dichterische Gattung. Sie ist eine literarische F o r m des philosophischen Traktats. Alle poetischen, erzählenden Elemente in ihr sind sekundäre Z u t a t und nötigenfalls entbehrlich. Entfernte m a n sie, so bliebe immer noch ein respektabler Gedankengehalt

(...)«

(S. 7 2 f.).

In dieser Feststellung, die nur auf die besondere Erzählperspektive und auf Eigenheiten der Darstellung fiktiver Wirklichkeit zurückgeführt wird, spricht sich das alte Urteil über die Unvereinbarkeit von Erzählung und politischer Aussage aus. Hier wird das, was zu einer Untersuchungsaufgabe werden sollte, verdeckt, nämlich die Frage, was die von Brunner so genannte »Sozialutopie«, die in korrekter Terminologie »außenperspektivisch erzählte Utopie« heißen müßte, zu etwas vom sozialphilosophischen Traktat Unterschiedenem macht. Sicher kann man davon ausgehen, daß nach Abzug der epischen Darstellungsweise »ein respektabler Gedankengehalt« übrigbleibt; der bleibt auch bei anderen literarischen Werken übrig; aber es muß doch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß der übrigbleibende Gedankengehalt zwar respektabel, aber nicht derselbe geblieben ist, der er vorher war. Es sind die Leistungen dieser »sekundären Zutat«, auf die man sein Augenmerk richten muß. Die Verbindung eines aus Analysen der Erzähltechnik gewonnenen Begriffs mit dem inhaltliche Assoziationen hervorrufenden Terminus »Sozialutopie« macht die Analysen Brunners zur Weiterentwicklung der Gattung im 18. Jahrhundert mit der Insel Felsenburg problematisch: Nach der Einordnung der Insel Felsenburg in die Tradition der Utopia (vgl. S. 109) greift Brunner, um das Neue an der Insel Felsenburg herauszuarbeiten, wieder auf das Moment der Erzählperspektive zurück. Hinzu kommt die Frage nach der möglichen Illusionierung des Lesers: 145

vgl. S. 13: »Dem Geometer gliedert sich die Erde in meßbare Formen, die (...) keine Bedeutung für sein Bewußtsein haben. Für (...) das assoziierende, sich erinnernde, erlebende Bewußtsein aber gewinnen die objektiven Formen subjektive Inhalte (...). Der Raum erhält Bedeutungen (...).« Nur die Darstellung »erlebter Räume ist für Brunner »poetisch«: vgl. S. 14: »Im Interesse der Wahrscheinlichkeit und weil Dichtung es mit menschlichen Verhältnissen zu tun hat, ist die Raumgestaltung in der erzählenden Dichtung (...) dem erlebten Raum eng verwandt (...)«; und S. 17f.: »Der poetische Raum ist im Unterschied zum wirklichen Raum schon >erlebterInsel Felsenburg< dagegen ist auf der Insel selbst.« (ebda.) »Der Unterschied zur Sozialutopie wird durch einen anderen Gesichtspunkt noch deutlicher. Mit den Menschen eines utopischen Volkes kann sich der Leser gewöhnlich nicht identifizieren. Sie sind meist physiognomielos (...). Schnabels Felsenburger aber sind ausgewanderte Europäer (...) sie sind Individuen, haben ein Schicksal >wie du und ich< (...). Der Leser kann sich leicht und mühelos mit ihnen identifizieren« (S. 111).14Ä Die Insel Felsenburg wäre also, im Gegensatz zur Utopia, eine »innenperspektivisch erzählte Utopie«. Bei Brunner wird dieser Begriff mit dem Terminus »Fluchtutopie« (S. 112) versehen, und er leitet den Fluchtvorwurf direkt aus der Erzählperspektive und aus den illusionierenden Erzählmitteln ab: »Der Leser (...) wird nach Felsenburg versetzt und sieht mit den Augen des Insulaners (...) die Insel Felsenburg ist für ihn nicht Außen- sondern Innenraum (...). Diese Utopie regt ihn a l s o nicht an, über die Verhältnisse in seinem eigenen Land nachzudenken (...), sondern er wird selbst diesen Verhältnissen entrückt« (S. 110, Hervorhebg. von mir). Der Leser »blickt bald nicht mehr von Europa nach Felsenburg und vergleicht dieses mit jenem, um sich Gedanken zur europäischen Gesellschaftsordnung zu machen, sondern er ist froh, Europa (...) zusammen mit den Romanhelden entflohen zu sein« (S. III). 1 4 7 Grundlage der Interpretation ist die Meinung, illusionierende Erzählmittel seien mit der Aufforderung zur Wirklichkeitsflucht gleichzusetzen. Daß Brunner seinen erzähltechnisch begründeten Typus mit »Fluchtutopie« bezeichnet, hat seinen Grund darin, daß Brunner sich unkritisch in eine Wissenschaftstradition stellt, in der den Schriftstellern und Lesern des 18. Jahrhunderts Flucht vor der Wirklichkeit vorgeworfen wird. Schon Kippenberg meinte in seiner Behandlung des Robinsonmotivs in Deutschland, die Tendenz zur Weltflucht entspreche »einem Verlangen der Deutschen«,148 und auch Hans Mayer assoziiert Hi

Es wird noch zu fragen sein, ob der Standort des Erzählers wirklich auf der Insel Felsenburg liegt. Wenn Brunner S. 110 schreibt: »Die >Insel Felsenburg< (...) ist auf der Insel durch einen Felsenburger als eine Art Chronik niedergeschrieben. Nur durch einen in der Vorrede erzählten angeblichen Unglücksfall wird das Manuskript in Europa publik«, so ist dies eine schiefe Darstellung des Sachverhalts. 147 Man achte hier vor allem darauf, wie ohne weitere Begründung dargestelltes Handeln im Text auf Bewußtseinsvorgänge beim Leser übertragen wird: Wenn im Text Personen auswandern, so flieht der Leser automatisch in seiner Phatasie auch vor der Wirklichkeit. 148 August Kippenberg, Robinson in Deutschland bis zur Insel Felsenburg (1731-43). Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Hannover 1892, S. 96.

65

bei deutscher Literatur sofort »Innenwelt« und setzt »Innenwelt« wiederum ungeprüft mit »Flucht« gleich. 1 4 9 In dieser Tradition kommt auch Brunner zu der Behauptung, der poetische Raum der Insel erscheine in der deutschen Literatur »ausschließlich als fluchtutopischer Innenraum« (S. 1 4 1 ) . Abgesehen davon, daß diese Behauptung auf einer unzureichenden Quellenkenntnis beruht (schon Sinolds Insul,

Glückseeligste

ein im 18. Jahrhundert mehrmals aufgelegtes Werk belegt das

Gelegenteil), 150 muß überdacht werden, ob der bei Brunner implizit hergestellte Zusammenhang der Darstellung privater Verhaltensweisen in der Literatur des 18. Jahrhunderts mit der Haltung der Wirklichkeitsflucht 1 5 1 richtig ist. Z u bedenken ist hier vor allem die überindividuelle Bedeutung der privaten Moral und ihrer Darstellung im 1 8 . Jahrhundert, die den Autor der Insel Felsenburg

sehr wohl dazu veranlassen

konnte, den Angelpunkt seiner Kritik an der Wirklichkeit, auch ihrer öffentlichen

Institutionen,

in der

Kritik privater

Beziehungen

zu

sehen. 1 5 2 Hans Mayer, »Grundpositionen: Außenwelt und Innenwelt«, in: Hans Mayer, Von Lessing bis Thomas Mann, Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen 1959, S. 9-34, S. 13f. l i 0 Neuerdings wurde auch Sinolds Text, den Brunner bei einer genaueren Analyse sicher der »Sozialutopie« zugeordnet hätte, dem Thema »Weltflucht« zugeordnet: Vg. Bruno Hillebrand, Theorie des Romans I. Von Heliodor bis Jean Paul, München 1972, S. 91 über Schnabel und Sinold: »Das sind die Folgeerscheinungen der neuen Verbürgerlichung: (...) der pietistische Quietismus mit seinem Fluchtcharakter aus der bösen Welt, aus Hofquerelen und Ausbeutung, seiner Ängstlichkeit gegenüber kraftvoller Aktivität oder gar Kampf. Die Insel-Idylle Schnabels steht unter diesem kulturellen Vorzeichen wie vor ihm schon der symptomatisch betitelte Roman Sinolds: Land der Zufriedenheit (...)«. Mehr als den Titel kann Hillebrand wohl nicht gelesen haben! 151 vgl. Brunner, S. 113: »Die überzeugende Darstellung dieser Thematik machte die >Insel Felsenburg< zu einem Lieblingsroman der >Empfindsamkeitgroßen< Zusammenhängen (...), sondern nach der >kleinenGeste< der Empfindsamkeit gehört es, sich aus der leidigen Zeitwirklichkeit heraus zu sehnen und sich in der >kleinenrealistischen< konkurrieren, muß es ihm gelingen, die Illusion der Wirklichkeit zu erreichen. Der Erzähler muß den Denk- und Erlebnisgewohnheiten seiner Leser Zugeständnisse machen, er muß den Ubergang von der vertrauten Wirklichkeit in die Utopie vorbereiten, daß der Leser den Sprung akzeptiert.« Die Erzählprobleme an sich erfaßt Hohendahl damit sehr genau.

70

zu welchem Zweck die Autoren des 18. Jahrhunderts die poetischen Strukturen der Gattung ausbauten, warum sie auf Wahrscheinlichkeit und Illusionierung des Lesers achteten, ist also auch von Hohendahl noch nicht befriedigend beantwortet worden. Ebensowenig reflektiert er die Gründe, warum dieser Entwicklungsschub der Gattungsgeschichte gerade im 18. Jahrhundert einsetzt. 5. Auch Hans Ulrich Seebers Arbeit konzentriert sich auf die Darstellungsformen der Gattung und auf den Ausbau der poetischen Textstrukturen im Verlauf der Gattungsgeschichte, jedoch am Beispiel der englischen Tradition; 156 es geht ihm um den »Vorgang der Literarisierung und Episierung« (S. 2). Dabei spricht er statt von »Episierung« im Sinne des Ausbaus der narrativen Strukturen lieber von »Fiktionalisierung« (S. 18), womit der Ausbau auch der nichtnarrativen Elemente gemeint ist, also der bildhaften Schilderung von statischen Zuständen (vgl. S. 31 f.). Anders als bei Hohendahl bedeutet diese »Fiktionalisierung« nicht ein Defizit an Theorie, sondern nur eine Reduktion der »diskursiven Erörterung« (S. 245). Diese Fragen stellt Seeber im Gegensatz zu vorhergehenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten auf der Grundlage eines rhetorisch-pragmatischen Literaturbegriffs, der der Gattung und der Entstehungszeit der Texte angemessen ist, und deswegen wird bei ihm die übliche Koppelung von ästhetischer Qualität und vermindertem Wirkungswillen weitgehend vermieden. Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes erweist sich vor allem in Seebers Analyse der Utopia, in der geklärt wird, daß schon in der von Brunner so genannten »Sozialutopie« die rhetorischen Mittel illusionierender Schilderung eingesetzt werden. Seeber zeigt, daß vor der Erzählung über die Insel Utopia im Dialog die rhetorische Figur der demonstratio ad oculos ironisch zitiert wird. Diese Redefigur diente in der Gerichtsrede dazu, Richtern und Zuhörern die Schilderung einer Sachlage so anschaulich zu machen, daß sie »von der Tatsächlichkeit des Inhalts«157 überzeugt wurden. Der Redner versetzt sich und sein Publikum »in die Lage der Augenzeugen«.158 Da auf diese Redefigur in der Utopia von Hythlodäus unübersehbar hingewie-

156 157

158

vgl. Einleitung, Anm. 12. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. I, München, 1960, S. 180. Lausberg, Bd. I, S. 400. Lausberg zitiert hier den lateinischen Terminus: »ut (...) res ante oculos esse videatur.«

71

sen wird , 159 erscheint die Erzählung des Hythlodäus als beweiskräftige Tatsachenschilderung. Gleichzeitig wird aber dafür gesorgt, daß diese Ankündigung nur ironisch verstanden wird: »Hythlodays Bericht ist in der Tat eine gezielte Antwort auf Mores Zweifel an der Wirksamkeit des Gemeineigentums in Form einer unwiderlegbaren demonstratio ad oculos< — wenn das Land eben nicht Nirgendwo hieße« (S. 60). Mit diesem Verfahren werde einerseits die »Illusion einer Wirklichkeit« (S. 44) geschaffen, die andererseits für den, der die sprechenden Namen übersetzen kann, wieder aufgehoben wird. Daß die Insel Utopia sich außerhalb jeglicher Wirklichkeit befindet, sollte also trotz der Illusionierung des Lesers deutlich zum Ausdruck kommen. Im Hinblick auf den Inhalt der Überredungsabsicht hat dies zur Folge, daß Morus als Norm seiner Kritik an der Erfahrungswirklichkeit einen Standard voraussetzt, den er selber für unrealisierbar hält, daß er folglich an der Erfahrungswirklichkeit einen Aspekt kritisiert, der auch nach seiner eigenen Meinung nicht geändert werden kann. In diesem Punkt erbringt die Strukturanalyse Ergebnisse, die auch für die Frage nach der Intention von Bedeutung sein können: Die utopische Intention von Morus, so Seebers These, resultiere nicht aus »der unerschütterlichen Überzeugung, daß der historische Ablauf letzten Endes zum irdischen Paradies führt, sondern einem fundamental ironischen Bewußtsein von der Doppelbödigkeit der menschlichen Existenz — der Erfahrung der gefallenen Schöpfung, wie sie nun einmal ist« (S. 95). Die utopische Insel ist damit am Anfang der Gattungsgeschichte »kein zukünftiges, sondern ein hypothetisches Ideal«160. Damit kommt es von der literaturwissenschaftlichen Analyse her zu einer Revision der gängigen Vorstellungen über diesen Text. Die dargestellte utopische Welt braucht sich in diesem Text, der die Tradition begründet, nicht durch den Nachweis ihrer Realität oder Realisierbarkeit zu legitimieren. Dies ist also kein prinzipielles Problem der Gattung, 159

vgl. Utopia (Ed. Surtz-Hexter), S. 106: »Non miror inquit, sie uideri tibi, quippe cui e i u s i m a g o r e i , aut nulla succurrit, aut falsa. Verum si in Vtopia fuisses mecum, moresque eorum atque institute u i d i s s e s p r a e s e n s , ut ego feci (...), tum plane faterere, populum recte institutum nusquam alibi te u i d i s s e quam illic.« (Hervorhebg. von mir.) Vgl. auch S. 108: »Hanc unam occasionem, u i d e quam commodam illis sua fecit industria.« (Hervorhebg. von mir.) Raphael fordert die Zuhörer seiner Erzählung auf, den Bericht in optische Eindrücke aufzulösen, das Land »vor Augen« zu sehen. 160 Northrop Frye, »Spielarten der utopischen Literatur«, in: Frank E. Manuel, Wunschtraum und Experiment. Vom Nutzen und Nachteil utopischen Denkens, Freiburg 1970 (übersetzt von Otto Kimminich), S. 59-79, S. 65.

72

wie Hohendahl angenommen hat, sondern ein historisch begrenztes. Damit kommt es, ohne expliziten Bezug, zu einer Konvergenz mit Paul Tillichs Begriffsbestimmung der utopischen Intention. 161 Darüber hinaus kann Seebers Analyse der Utopia auch zeigen, daß das Prinzip der »Negation des Negativen« sowohl den Aufbau der fiktiven Welt Utopia als auch die Gesamtstruktur des Textes entscheidend prägt, da er die vorangegangenen Versuche der angelsächsischen Forschung, den Text von der Tradition der Satire her zu interpretieren, weiterführt und präzisiert, vor allem die Arbeiten von Elliott und Heisermann. 162 Wie Elliott ist auch Heisermann der Ansicht, »that the most thorough analysis of the ideational matter in Utopia does not illuminate its full meaning (...). This underscores the need for a critique of Utopia's literary form«. 163 Beide kommen in der Strukturanalyse zu einer Zuordnung des Textes zur Tradition der Satire. Elliott sieht in der Utopia eine »variierte Prosafassung der Verssatire«,164 wie sie in der römischen Literatur entwickelt worden ist, während Heisermann eine allgemeinere Zuordnung zum übergeordneten Begriff satirisch intendierter Darstellungsweisen vollzieht: »All parts of the work (.,.) are shaped to satisfy a s a t i r i c i n t e n t i o n « . 1 6 S Elliott stützt sich auf einen Aufsatz von Randolph 166 über die römische Verssatire. Danach sei die römische Verssatire »bi-partite in structure«; 167 sie stelle in einem Teil »some specific vice ore folly«168 dar, im andern »its opposing virtue«. 169 Diese Zweiteilung der Struktur gilt nach Randolph nicht bloß für die römische Verssatire und ihre Nachahmungen in den europäischen Literaturen, sondern für alle satirischen Gattungen. 170 Elliott sieht im Anschluß daran den Aufbau der Utopia durch eben diese »übergreifende NegativPositiv-Struktur« 171 bestimmt. Der Teil des Textes, der in satirischen

161

162 163 vgl. Kap. I, S. 42ff. vgl. Einleitung, Anm. 12. Heisermann, S. 163. Elliott, S. 108. 145 Heisermann, S. 163; vgl. auch S. 168: »This More combines conventions of structure (dialogue an fablous journey), persona (dialectitian, nonsense-babbler, traveller), and diction (plain style) to attack conventional objects (folly, courts, the times) (...) it vivifies the tradition by moulding commonplaces into a new unity.« 166 Mary Claire Randolph, »The Structural Design of the Formal Verse Satire«, Philological Quarterly, 21, 1942, S. 368-384. 1virtue< der Utopier verweist ironisch auf korrespondierende >vices< des Abendlandes.« Vgl. auch S. 72: »Man sieht, wie der Zusammenprall zweier grundverschiedener Welten auch die Struktur des zweiten Buches bestimmt.«

74

schiebt (vgl. S. 7), wird nie ganz klar, welche Funktion der Einsatz illusionierender Darstellungsmittel eigentlich haben soll und welche spezifischen Schwierigkeiten sich gerade bei dieser Gattung ergeben. So stellt Seeber zwar fest, daß die Entwicklung epischer Zeitstrukturen bei der Darstellung utopischer Inseln besondere Schwierigkeiten bereite (vgl. S. 32), er sieht aber nicht, daß die Brüchigkeit des Zeitgefüges geradezu notwendig ist, wenn es darum geht, den Eindruck der Aufhebung von Zeitverlauf zu erwecken.176 Unbegründet ist vor allem Seebers These, »daß die Utopie sich vor allem literarisch entfaltet, wenn sie als Idee selbst fragwürdig wird« (S. 26). Seeber entwickelt diese These aus Beobachtungen zur Entstehung des gegenutopischen Romans im 19. Jahrhundert;177 auf die Gattungsgeschichte insgesamt kann sie nicht übertragen werden, denn es gibt gerade im 17. und im frühen 18. Jahrhundert Texte, in denen von »gegenutopischen« Intentionen keine Rede sein kann, obwohl in ihnen der Prozeß der Fiktionalisierung sehr weit fortgeschritten ist, etwa die Geschichte der Sevarambett von Denis Vairasse, Samuels Gotts Nova Solyma und Schnabels Insel Felsenburg. Der gegenutopische Roman des 19. Jahrhunderts, von dem Seeber seine These ableitet, richtet sich im übrigen nicht gegen eine ahistorische utopische Intention, sondern gegen das Konzept, das sich im zeitgenössichen Zukunftsroman ausdrückt. Wie schon Brunner fällt hier auch Seeber im Grunde in die traditionelle Position zurück, daß die Zunahme von illusionierenden Erzähltechniken

176 177

vgl. dazu meine Bemerkungen im Anschluß an Bloch, Kap. I, S. 35f. Seebers These lautet: In der »Anti-Utopie« soll die Vorstellung einer statisch-zeidosen, konfliktfreien und harmonischen Gesellschaft als inhumanes und totalitäres Gesellschaftskonzept endarvt werden, in dem Individualität und Freiheit keinen Platz mehr haben. Zu diesem Zweck werden individuelle Figuren und ein konfliktreiches Geschehen mit der statischen Welt konfrontiert. Mit der Darstellung der Individualität und des Wandels mit dem Ziel der Kritik an utopischen Vorstellungen kommt es zu einem Einbruch von romanartigen Elementen in die Gattungstradition (vgl. dazu S. 255). Näher erläutert wird diese These von Seeber in dem Aufsatz »Gegenutopie und Roman: Bulwer-Lyttons >The Coming Race< (1871)«, DVJS, 45, 1971, S. 150-180. Vgl. S. 174: »In konventionellen Utopien vor Lytton gab es entweder überhaupt keinen tragenden, durchmotivierten Ereignisablauf oder nur in fragmentarischer (...) Form (...). Soziale, psychologische und moralische Konflikte als notwendiger Rohstoff epischer Dichtung werden durch die Idee der uhrwerksgleichen Harmonie der Gesellschaft aufgehoben (...). Für den Tory Lytton gab es dieses Dilemma nicht mehr. So konnte er (...) daran gehen, den utopischen Stoff zu literarisieren und zu diskreditieren.« Als These für die Funktion romanartiger Strukturen in der »Anti-Utopie« halte ich diesen Ansatz für bedenkenswert. Die Übertragung dieser Funktionsbestimmung poetischer Strukturen auf die gesamte Gattungsgeschichte ist hingegen nicht akzeptabel.

75

von der Abnahme an politischem Wirkungswillen begleitet sei. Dies verwundert bei Seeber umso mehr, als er die Gattung innerhalb eines rhetorischen Literaturbegriffs interpretiert und sie der Satire zuordnet. 6. Mit der Zuordnung der utopischen Erzählung zu den satirischen Gattungen müßte es möglich sein, den illusionierenden, romanhaften Elementen eine Funktion innerhalb einer satirischen Textstruktur zuzuschreiben, und sie als Mittel der satirischen Überredungsabsicht zu interpretieren. Sie sind dann kein Zeichen einer Gattungsentwicklung von der Zweckform zum autonomen Kunstgebilde, denn eine autonome Satire stellt, obwohl auch nach ihr schon gesucht worden ist,178 einen in sich widersprüchlichen Begriff dar. 179 In meiner Arbeit wird die angelsächsiche Forschungstradition zur Utopia weitergeführt, an die sich auch Seeber angeschlossen hat. Damit distanziere ich mich von Definitionsversuchen, in denen »Utopie« und »Satire« als getrennte Begriffe für zwei verschiedene Darstellungsweisen der Wirklichkeit aufgefaßt werden. 180 Karl Reichert ζ. B. stellt bei einem solchen Vorgehen die These auf, in der Utopie werde im Gegensatz zur Satire »das Ideal dargestellt«, während die »Wirklichkeit als Gegenpol ungestaltet und (...) nur implizit wirksam« 181 werde. Mit einer solchen Definition werden zwei abstrakte Darstellungsprinzipien getrennt, ohne daß deren Zusammenwirken in einem Text geklärt wird. Auch Helmut Arntzens Bonmot, Satire sei »Utopie ex negativo«,182 hilft bei der Klärung der Gattungsstruktur nicht weiter. Diese Definitionen von »Utopie« und »Satire« sind nicht an der literarischen Gattung ausgerichtet, sondern an einem allgemeinen Utopiebegriff. Da dies aber nirgends präzise zum

178

vgl. Klaus Lazarowicz, Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire, Tübingen 1963, S. 26f. Hier wird genau der Gegensatz zwischen Ästhetik und Zweckhaftigkeit konstruiert, der auch viele Urteile über die utopische Erzählung bestimmt hat. 179 Zur Kritik an Lazarowicz vgl. Ulrich Gaier, Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart, Tübingen 1967, S. 1 und S. 331ff.; Jörg Schönert, Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik, Stuttgart 1969, S. 32. Jürgen Brummack, »Zu Begriff und Theorie der Satire«, DVJS, 45, 1971, Sonderheft Forschungsreferate, S. 275-377, S. 339f. und Klaus W. Hempfer, Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts, München 1972, S. 31. 180 Zu diesen Versuchen vgl. Brummack, S. 348. 181 Reichert, »Utopie und Staatsroman«, S. 271. In gleicherweise auch in seinem Aufsatz »Utopie und Satire in J. M. von Loens Roman »Der redliche Mann am Hofespielenden VertilgensTones< orientieren, die >Kleinform< Satire, soll als >Satyra< bezeichnet werden.« Über die Methode der Konfrontation von Wirklichkeit und Norm in der römischen Satire handelt Randolph, die diese Methode zur satirischen Methode schlechthin macht; vgl. zu diesem Problem auch Ulrich Knoche, Die römische Satire, Göttingen, 2. Aufl. 1957, S. 39: Varro habe in seinen Menippeischen Satiren »seine Zeitkritik mit Vorliebe antithetisch formuliert«, indem er das gegenwärtige Rom mit dem alten Rom vergleicht. Die gleiche Methode verwende auch Juvenal (vgl. Knoche, S. 94). Auf

82

vorausgesetzt werden kann, einer konkreten Ausgestaltung, in der sie nicht zuletzt auch »für den Leser attraktiv«225 gemacht werden muß. Dies geschieht in der Regel durch eine »Normfigur«, eine fiktive Person als »Träger der satirischen Normen« 226 . Bei dieser Methode ist es auch notwendig, daß die Erfahrungswelt selbst »durch geschickt manipulierende Nachahmung« 227 dem Leser so präsentiert wird, daß er von ihrer Negativität überzeugt wird. Es muß also eine in satirischer Absicht die Wirklichkeit verzerrende Fiktion dargestellt werden, die als Abbild der Wirklichkeit ausgegeben werden muß. 228 Dies geschieht in der Regel zusätzlich durch die Verfremdung der Beobachterperspektive: Die Strukturen der vertrauten Welt werden mit den Augen eines Fremden, des ingenu,229 gesehen, von dessen naiver Vernunft her die vertraute Welt als willkürlich und unvernünftig erscheint.

Die Interpretation der utopischen Erzählung kann von diesen Ergebnissen der Satireforschung wertvolle Anregungen übernehmen, wenn man die Gattung prinzipiell als satirische Gattung betrachtet. (1) Im Rahmen der satirischen Textstruktur hat die Darstellung der utopischen Insel ihre feste Funktion: Sie vertritt die Stelle der satirischen Normfigur. 230 Auch hier ist also die Methode der Konfrontation von Wirklichkeit und Norm strukturbestimmend. (2) Da die Norm dem Leser anschaulich und attraktiv gemacht werden muß, ist der Einsatz illusionierender Darstellungsmethoden selbstverständlich: Die utopische Welt muß sowohl wahrscheinlich als auch schön erscheinen, damit die in ihrem Namen ausgesprochene Negation der Erfahrungswelt überhaupt akzeptiert werden kann. Poetizität bedeutet also nicht Abschwächung oder Indirektheit des Wirkungswillens. (3) Die Methode der Konfrontation von Norm und Wirklichkeit erfordert auch in der utopischen Erzählung die verfremdende Darstellung der Randolph beruft sich Mack, S. 83ff.: Er verwendet wie später Seeber die Kategorien der epideikrischen Rede, laus et vituperatio, zur Kennzeichnung dieser Struktur vgl. auch Gaier, S. 266ff. 225 Schönen, S. 30. 224 ebda. 227 Schönere, S. 10. 228 Gaier, S. 345f. beschreibt diesen Vorgang unter der Bezeichnung »Synekdoche«: Die Satire greife ein Objekt an, das einen Teilausschnitt der Wirklichkeit darstelle und gleichzeitig die ganze Wirklichkeit repräsentiere. Aufgabe des Satirikers sei es, dem Leser zu suggerieren, daß das dargestellte Objekt die Wirklichkeit bedeute: »In jedem Falle (...) ist das Objekt der Satire nicht das einzige, was gemeint ist, sondern es vertritt dessen Stelle (...). Das Objekt der Satire fordert zur Rückübersetzung in die gemeinte Wirklichkeit auf.« m Zur Funktion des ingenu als Medium satirischer Distanz zur vertrauten Erfahrungswelt vgl. Wölfel, S. 89 und Schönert, S. 16. 230 vgl. Schönert, S. 31.

83

Erfahrungswelt. Daß dies schon in der Utopia geschieht, wird oft übersehen, weil der vom üblichen Utopiebegriff gelenkte Leser das erste Buch meist überschlägt und sich sofort auf die »Reformvorschläge« im zweiten Buch konzentriert. Wenn entschieden werden soll, ob der Ausbau illusionierender Erzähltechniken Ausdruck von Wirklichkeitsflucht ist oder nicht, muß geprüft werden, inwiefern die doppelpolige Struktur, die die Utopia aus der Satiretradition übernimmt, in der Gattungsgeschichte erhalten bleibt. (4) Die Methode der Verfremdung der Erfahrungswelt durch Einführung einer neuen Perspektive ist auch in der utopischen Erzählung zu beobachten. Schon Hythlodäus in der Utopia ist als ein Fremder und Außenstehender dargestellt, weil er Utopia gesehen hat und seither die Normensysteme Europas nicht mehr akzeptieren kann. Eine solche Perspektive des Erzählers ergibt sich für alle Texte der Gattung ganz von selbst aus der Erzählsituation des Reiseberichts; der jeweilige Erzähler muß ja das fremde Land gesehen haben, um davon berichten zu können, und er blickt deswegen in jedem Fall mit verändertem Bewußtsein auf Europa. Als außenstehende Beobachter vertrauter Wirklichkeit können auch Personen aus der utopischen Insel fungieren, wenn sie über europäische Verhältnisse informiert werden und dann diese Informationen oder die Verhaltensweisen der Reisenden kommentieren. Sie verkörpern dann gleichzeitig die traditionellen Rollen der Normfigur und des ingenu?iX Auch dies ist eine prinzipielle Möglichkeit, die in der tradierten Gattungsstruktur angelegt ist. (5) Wenn die utopische Erzählung als Satire betrachtet wird, so kann auch ihre historische Entwicklung im Rahmen der Geschichte der Satire gedeutet werden. Zur Interpretation der historischen Veränderungen der Gattung im 18. Jahrhundert sind also die entsprechenden Ergebnisse der Satireforschung zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Frage nach der Entwicklung der Gattung aus der antiken Literatur. Elliotts These von einer Prosafassung der römischen Verssatire ist allerdings unnötig kompliziert, da es bereits in der Antike eine Prosaform der Satire gibt, die Menippea,232 für die ebenfalls die Konfrontation von Norm und Wirklichkeit strukturbestimmend ist233 und zu deren festen Traditionen seit Varro und Lukian die Verwendung des Abenteuer- und Reisero-

231 232

233

Zum Zusammenhang von ingittu und utopischer Fiktion vgl. Worcester, S. 102f. Zum Begriff der menippeischen Satire vgl. Rudolf Sühnel, »Satire/Parodie«, in: Das Fischer Lexikon. Literatur 2,2, S. 5 0 7 - 5 1 9 , S. 514ff. vgl. Knoche, S. 39.

84

mans gehört. Nicht ohne Grund wird Lukian in der Utopia ausdrücklich erwähnt.234 (6) Historisch gehört der Anfang der Gattung in jene Zeit, in der in satirischen Texten die Totalität der Wirklichkeit erfaßt werden soll und die Normfiguren außerhalb der erfahrbaren zeitlichen und räumlichen Wirklichkeit liegen. Dem Prinzip der Negation des Negativen im Sinne Tillichs entspricht ein Wirklichkeitszusammenhang als dargestellte Normfigur, dessen hypothetische Voraussetzungen dem Zugriff menschlichen Handelns entzogen sind. Von der Moralsatire herkömmlicher Art unterscheidet sich die Utopia allerdings durch ihre Thematik und durch die Eigenart der Normfigur, in der das historisch Neue der Gattung sichtbar wird. Elliott, Heisermann und Seeber sehen in der utopischen Erzählung ja nur eine konventionelle Satire mit verschobenen Proportionen zwischen Normdarstellung und Kritik, und das dürfte zu wenig sein. Die Moralsatire nämlich teilt die Welt nach einem Katalog von Tugenden und Lastern ein und führt sie als Revue von Einzelpersonen, einzelnen Situationen oder allegorischen Figuren vor, die jeweils eines der Laster verkörpern. Soweit diese Verhaltensweisen als standestypisch angesehen werden, kann auch die Welt nach Ständen gegliedert dargestellt werden. Es geht hier zwar auch darum, die Welt in ihrer Totalität zu erfassen, aber sie wird durch Addition gewonnen. Morus bringt dagegen einen völlig neuen Darstellungstyp in die Tradition ein. Er zeigt nicht mehr, wie der grundlegende Zustand der gefallenen Welt sich auf die Verhaltensweisen von Einzelpersonen oder Ständen auswirkt, sondern wie dieser Zustand fehlerhafte Zusammenhänge hervorbringt und damit die Struktur der öffentlichen Ordnung insgesamt bestimmt. Indem er Privateigentum und mangelnde Rationalität des politischen Handelns als zwei Folgen der Erbsünde herausgreift und sie nicht als Habsucht oder Dummheit behandelt, sondern vorführt, wie diese beiden Elemente Ursache für die fehlerhafte öffentliche Ordnung selber sind, stellt er eine neue Art von Totalität her: einen Zusammen-

234

vgl. Utopia, S. 182. Der erste Hinweis auf den satirischen Charakter der Utopia in der Literaturwissenschaft beruft sich auf diese Stelle. Vgl. Richard Förster, »Lucian in der Renaissance«, Archiv für Literaturgeschichte, 14,1886, S. 337-363, S. 347: »Auch die Utopia kann eine gewisse Beziehung zu Lucian nicht verleugnen, wie ja die Utopier von Lucians Witzen und Spaßen ganz bezaubert sind. Wie Lucian in seiner >wahren Geschichte< zur Verspottung unglaubwürdiger Geschichtsschreibung eine Reise mit den fabelhaften Erlebnissen erdichtet, so beschreibt Morus in jener gegen die Schwächen seiner Zeit, besonders Englands, gerichteten Satire das Leben auf einem glückseligen Eiland, wo es keinen Streit, Hochmuth, Betrug, Rache, Habsucht, Aberglaube, Müssiggang gibt.«

85

hang von Ursachen und Wirkungen anstatt von Additionen. Dies ist zur Abfassungszeit der Utopia eine sehr wesentliche Kritik an den Grundprinzipien, auf denen im entstehenden modernen Staat die Legitimation politischen Handelns beruht. Sie trifft zunächst einmal die religiöse Begründung staatlicher Machtausübung als einem gottgewollten Instrument, das dem erbsündigen Fehlverhalten der Menschen steuern soll, denn der Staat erweist sich in seiner grundlegenden Struktur selber als mit dem Stigma der gefallenen Welt behaftet. Mit welchem Recht kann ein Staat Diebe hängen, wenn der Raub das Prinzip seiner Organisation ist? Ein so strukturierter Text negiert darüber hinaus auch eine Begründung politischen Handelns aus der bloßen Erfahrung gegenüber einer theologischen Begründung, wie dies von Machiavelli versucht worden ist. Dieser Versuch wird hier durch die Darstellung einer Norm zurückgewiesen, die dezidiert außerhalb der Erfahrungswelt liegt.235 Die Darstellung eines Systems öffentlicher Ordnung als satirischer Norm bringt überdies gegenüber den Tendenzen einer Ausgrenzung politischer Verhaltensnormen aus den übrigen Bereichen gesellschaftlicher Moral die »Totalität menschlicher Lebensbezüge«236 zur Geltung. Damit wird gerade die Unteilbarkeit theologisch begründeter moralischer Normen unterstrichen, denen sich der politisch Handelnde nicht entziehen darf, wenn er eine gute Ordnung garantieren will, weil wegen des Systemcharakters der Wirklichkeit ein Abweichen von moralischen Grundsätzen nicht auf einen Lebensbereich beschränkt bleibt. Hier wird noch einmal sichtbar, daß die Intention der utopischen Erzählung nur historisch differenziert erfaßt werden kann und daß alle Versuche, mit anthropologischen oder theologischen Kategorien die utopische Intention schlechthin zu beschreiben, nichts anderes als Enthistorisierungen bestimmter Stufen der Gattungsentwicklung sind. Die Negation des Negativen, die Kritik der Wirklichkeit im Namen einer außergeschichtlichen Norm ist gebunden an eine geschichtliche Situation, in der man gerade anfängt, für das politische Handeln die Verbindlichkeit solcher Normen zu bezweifeln. Dieses Gegenkonzept zur Begründung des neuzeitlichen Staates kann nur mit einer satirischen Normfigur dargestellt werden, in denen die gute Ordnung nicht mehr in Einzelpersonen oder -Tugenden, sondern als Zusammenhang einer politischen und gesellschaftlichen Welt anschaulich gemacht wird, in der die Abänderung der in der 235 236

vgl. Nipperdey 66, S. 365f. Nipperdey 62, S. 369. Daß diese Intention auch im 18. Jahrhundert noch die Struktur der Gattung prägt, zeige ich in meinen Interpretationen von Sinold und Schnabel in Kap. III und V.

86

Erfahrungswelt negierten Strukturprinzipien alle Einzelheiten prägt. Ein Ganzes wird diese fiktive Welt nicht durch die Vollständigkeit der aufgeführten Einzelheiten, sondern durch die einheitliche Strukturierung nach einem grundlegenden Prinzip. Diese Eigenart der satirischen Normfigur hat es der instrumentalen Utopieforschung ermöglicht, im Begriff der »utopischen Methode« die Logik der Bewußtseinsoperationen zu analysieren, die zur Erfindung solcher von der Erfahrungswelt prinzipiell abweichenden Wirklichkeiten führen. Man sieht jetzt, daß auch dieser ahistorisch aufgefaßte Utopiebegriff an einer bestimmten Stelle der Geschichte der Satire und innerhalb einer bestimmten satirischen Gattung eine sinnvolle historische Funktion hat. 7. Daß die satirische Normfigur der utopischen Erzählung in literaturwissenschaftlichen Analysen noch nicht zureichend beschrieben worden ist, zeigen exemplarisch die Versuche, die fiktive Wirklichkeit der utopischen Insel in der Insel Felsenburg in ihrem Verhältnis zur Erfahrungswelt zu beschreiben. Es zeigt sich dabei, daß eigentlich nur der Außenseiter Arno Schmidt in einer Nebenbemerkung die Darstellungsprobleme dieses Textes zureichend erfaßt. Bei der theoretischen Begründung neuer Prosaformen, die die Verarbeitung der Wirklichkeitserfahrung im Bewußtsein darstellen sollen,237 kommt Schmidt zu Beobachtungen an Schnabels Insel Felsenburg, die sich an die bisherigen Erläuterungen zur Gattungsstruktur in meiner Arbeit durchaus anschließen lassen. Nachdem er Prosaformen der Erinnerung abgehandelt hat, wendet er sich Prosaformen zu, die die Bewußtseinsformen »Traum« und »längeres Gedankenspiel« mitzuteilen in der Lage sind: »Das wichtigste Bestimmungsmerkmal dieser neuen Gruppe ist, daß in beiden Fällen eine > d o p p e l t e H a n d l u n g < vorliegt. Oberwelt und Unterwelt.« (S. 294). »Unterwelt« bezeichnet »objektive Realität« (ebda.), die auch bezeichnet wird als »Erlebnisebene I, abgekürzt E I « (ebda.). Durch die Bezeichnung »Erlebnisebene« macht Schmidt deutlich, daß man den Ausdruck »objektive Realität« nur im Sinn von aufgefaßter Realität, Erfahrungswirklichkeit verstehen darf. »Oberwelt» steht für »subjektive Realität« oder »Erlebnisebene II = Ε II« (ebda.). Damit wird eine die Erfahrungswirklichkeit umgestaltende Phantasievorstellung bezeichnet. Im Gegensatz zum Traum, wo »E II« »in ausschlaggebendem Maße passiv erlitten wird« (ebda.), schaltet 237

Arno Schmidt, »Berechnungen I« und »Berechnungen II«, in: Arno Schmidt, Rosen und Porree, Karlsruhe 1959, S. 283-292 und S. 293-308.

87

»beim Gedankenspiel das Individuum wesentlich souveräner, aktiv auswählend« (ebda.). 238 Schmidts Formel für diese Prosaform heißt: »LG = Ε I + Ε II« (ebda.). Zur Darstellung des »längeren Gedankenspiels« gehört also auch immer die Darstellung der Erfahrung, von der »E II« ausgeht, da sich »E II« auf »E I« inhaltlich bezieht239 und aus ihm hervorgeht. 240 »E II« kann dabei aber auch eigene Energien entwickeln, vgl. dazu die Unterscheidung von Nachttraum und Tagtraum bei Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 86-128. Bloch meint mit »Tagtraum« das gleiche, was Schmidt unter »LG« versteht. Vgl. ζ. B. S. 96: »Anders als der nächtliche Traum zeichnet der des Tages frei wählbare und wiederholbare Gestalten in die Luft, er kann schwärmen und faseln, aber auch sinnen und planen.« 2 3 9 vgl. Schmidt, S. 296, wo er sich als Sujet des »LG« einen Beinamputierten vorstellt, »der sich zum mächtigen Direktor einer Butterfabrik ernennt, und in seinem Werk natürlich lauter Kriegsbeschädigte beschäftigt.« »Ell« hat hier zwei Bezugspunkte zu »E I«: Die Position des Direktors in »E II« ist die Umkehrung der Ohnmacht des Versehrten in » E I « und die Beschäftigung von Schicksalsgenossen in »E II« ist die Umkehrung der Erfahrung in »EI«, daß Kriegsbeschädigte schwer eine Arbeit finden. »E II« ist in diesem Beispiel Schmidts durchaus als ein kritisches Gegenbild zu »E I« konzipiert. Vgl. Schmidts Konsequenzen ebda.: »Selbst die Grammatik erkennt die Existenz des Gedankenspiels so bedingungslos an, daß sie das ganze Riesengebäude eines besonderen Modus dafür erfunden hat: den Konjunktiv! Jeder Gebrauch eines >hätte, wäre, könnte< gesteht das Liebäugeln mit einer >veränderten< Realität, und leitet so recht das LG ein. Man kann den Konjunktiv natürlich auch eine gewisse innere Auflehnung gegen die Wirklichkeit nennen; meinetwegen sogar ein linguistisches Mißtrauensvotum gegen Gott.« In Schmidts Typisierung der »LG«s freilich reiht er das »LG« mit einer kontrastierenden schöneren »Ε II« in den niedrigst bewerteten Typ der ichbezogenen Flucht in eine Scheinwelt ein. Vgl. S. 300: »Das Ε II besteht hier aus den normalen Flitteridealen: Illustrierten, Filmen, Schlagersuggestionen entlehnt.« In dem bei Schmidt positiv bewerteten »Typ 3« des »LG« hingegen ist »E II« nicht besserer Kontrast zu »E I«; vielmehr »tritt das Ε II als pessimistische Steigerung auf« (S. 301). Nur dieser Typ ist für ihn »ins bedeutend Allgemeine gewandt, tiefsinnig, utopienverdächtig« (ebda.). Nur in ihm gelingt ein Zurückdrängen des privaten Aspekts durch die »in Ε II apokalyptisch-grandios erlittene (...) Sorge um das Ganze« (S. 306). Schmidt denkt bei diesem letzten Typ offenbar an die »Anti-Utopien« des 20. Jahrhunderts, die als die einzig verantwortbaren »LG«s erscheinen. Er sieht dagegen im kontrastierend positiven »E II« nur den »Wachtraum bequemer, läppischer, roher, fluchthafter, abwegiger und lähmender Art« (Bloch, PH, S. 98) und nicht den »verantwortlichen, scharf-tätig in die Sache eingesetzten« (ebda.). »E II« als Kontrast zu »E I« kann demnach bei Schmidt nicht »tunlichst exaktes Phantasieexperiment der Vollkommenheit« (Bloch, PH, S. 106) sein und nicht über den bloß privaten Wunsch hinausgehen. Diese Typisierung der »LG«s auf die Tradition der utopischen Erzählung zu übertragen, hieße, die ganze Tradition bis zu den »Anti-Utopien« in den Typ 1 einzuordnen. Ob die inhaltliche Füllung von »E II« mit positiven Kontrasten zu »E I« für einen heutigen Erzähler oberhalb des Qualitätsniveaus von Typ 1 noch möglich ist, ist eine ganz andere Frage. 238

240

vgl. Schmidt, S. 306: »Zu Anfang ist eine längere Darlegung des Ε I unerläßlich, aus der sich langsam-konsequent dann das Ε II entwickelt, Topf und Kaktus (...). Assimilierbares wird aus Ε I nach der biologischen Regel von trial and error aufgenommen, und nach persönlichen Gleichungen< transformiert (...).«

88

kann sich »durch Sprossung, Teilung« (ebda.) selbst vermehren und so als »ichverändernde Kraft« (ebda.) »den Schatz (? wohl besser Schutthaufen) der Erfahrungen« (ebda.)241 vermehren. Als Beispiel für einen Prosatext nach der Form des »längeren Gedankenspiels« bringt Schmidt die Insel Felsenburg: »Das bedeutendste Beispiel der Weltliteratur ist Johann Gottfried Schnabels »Insel FelsenburgInsel im Südmeer< gegenüber. In völliger Übereinstimmung mit der noch zu entwickelnden Klassifizierung ist Ε II bei Schnabel nicht mehr bejammernswertes Exil (...), sondern utopisches, heilignüchternes Asyl.« (S.299) 2 4 2

Abgesehen davon, daß auch Arno Schmidt in diesem Zitat dem Felsenburgtopos Exil-Asyl folgt, zeigt er hier, in welcher Weise die Textstruktur jeder utopischen Erzählung erfaßt werden kann. Schmidt unterscheidet im Text zwei unterschiedliche fiktive Räume, in denen sich die Erzählhandlung bewegt, und weist ihnen durch die Zuordnung zu »EI« und »E II« unterschiedliche Bezüge zur Erfahrungswelt zu. Der Raum der utopischen Insel und die Geschehnisse auf ihr werden mit der Zuordnung zu »E II« in ein funktionales Verhältnis zum Raum »Europa« und dadurch zur Erfahrungswelt gebracht: Die Gegenüberstellung der beiden fiktiven Räume entspricht der Gegenüberstellung von Gedankenexperiment und Realitätserfahrung, in der das Gedankenexperiment aus der negativen Realitätserfahrung hervorgeht, sie nach einer Regel umformt und sich kritisch auf sie zurückbezieht. Zur gleichen Zeit hat auch Hans Mayer versucht, die Insel Felsenburg zu analysieren. Er trennt die Darstellungsweisen nach dem konventio-

241

Diese selbständige Erweiterung von »E II« läßt sich vergleichen mit der augmentation de conscience bei Ruyer: Indem sich der Gedankenspieler in der Operation mit den Elementen der Wirklichkeit von einer festen Regel leiten läßt, gewinnt »E II« bzw. l'exercice mentale einen gewissen Grad von Selbständigkeit, der eine neue Erfahrung nie gekannter Realität ermöglicht. 242 Schmidt hätte als Beispiel für seine Prosaform viele utopische Erzählungen heranziehen können. Besonders instruktiv wäre für Schmidt ζ. B. Friedrich Leopold Stolberg, Die Insel, 1788, gewesen (Nachdruck Heidelberg 1966), und zwar deswegen, weil hier in einer bedeutenden Neuerung der Tradition die Verankerung der utopischen Fiktion in der Phantasie des erlebenden Subjekts und der Bezug dieser Fiktion zur Erfahrung des Subjekts in der Prosaform veranschaulicht wird. Die Fiktion der utopischen Insel wird in diesem Text nämlich nicht mehr per Schiff entdeckt, sondern in einem Kreis von Freunden im dialogischen Tagtraum entwickelt, wobei es zu allmählichen Übergängen von der konjunktivischen Entwicklung der Fiktion zur Darstellung im Indikativ kommt.

89

nellen Gegensatzpaar »Realismus« und »Irrealismus«.243 Diese beiden Begriffe sind freilich von ihm so definiert, daß sie den Gegensatz der fiktiven Räume »utopische Insel« und »Europa« überhaupt nicht erfassen, denn die Grenze zwischen »Realismus« und »Irrealismus« ist für ihn die Grenze zwischen »realistischen« Darstellungen in Europa und auf der utopischen Insel einerseits und den »Elementen des Romanesken« — Wundern, Geistererscheinungen, seltsamen Abenteuern — andererseits, die ebenfalls in beiden Räumen angetroffen werden. Damit wird die Struktur der utopischen Erzählung verfehlt. Diese Analyse, die an der Oberfläche der Darstellungsweise stehen bleibt und die strukturellen Unterschiede der Raumkonstruktionen nicht erfaßt, zeigt in aller Deutlichkeit, wieviel Gewinn es bringen kann, wenn man in die Textanalyse die Ergebnisse der Forschungen zur utopischen Methode einbringt. Darüber hinaus gibt Mayers Analyse auch eine indirekte Auskunft über den Text. Offenbar ist dem Autor eine Textstruktur gelungen, in der die Oberfläche der Darstellung den Leser über die grundlegenden Unterschiede der beiden fiktiven Räume hinwegtäuscht. Der Leser Hans Mayer hat sich von dieser Strategie täuschen lassen. Der gleichen Irritation durch die Textstruktur der Insel Felsenburg ist auch Wilhelm Voßkamp erlegen.244 Voßkamp geht davon aus, daß sich in der Insel Felsenburg zwei Ebenen der Darstellung gegenüberstehen, die »historisch-zeitgeschichtliche Realität des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts« (S. 144) und die »Konstruktion eines idealen Staatswesens auf der Insel Felsenburg« (ebda.). Die Struktur des ganzen Textes beschreibt er als eine Spannung zwischen den »Schilderungen des Empirisch-Realen (...) und geschichtsfreiem utopischen Entwurf« (ebda.). Er zieht also die Raumgrenze dort, wo Arno Schmidt sie gezogen hatte. Dann aber wendet er sich einer ganz anderen Fragestellung zu: Er vergleicht die im Raum Europa dargestellten historischen Ereignisse mit den tatsächlichen Ereignissen in der Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts, denn für ihn ist die »Annäherung oder Entfernung von historischer Treue im Nachvollziehen des Geschehens ein Gradmesser für die Tendenz der literarischen Fiktion zum HistorischWahren und Wahrscheinlichen oder Unwahrscheinlich-Wunderbaren« (ebda f.).

243

244

vgl. zum Folgenden Hans Mayer, »Die alte und die neue epische Form. J. G. Schnabels Romane«, in: Hans Mayer, Von Lessing bis Thomas Mann, S. 35—78, S. 64f. Wilhelm Voßkamp, »Theorie und Praxis der literarischen Fiktion in Johann Gottfried Schnabels Roman >Die Insel Felsenburg«., in: GRM, NF., 18, 1968, S. 1 3 1 - 1 5 2 .

90

Das ist eine problematische Festlegung. Denn die einzelnen geschichtlichen Ereignisse können als Elemente der Erfahrungswelt in der Fiktion noch so exakt dargestellt werden: entscheidend für den Bezug der Fiktion zur Erfahrungswelt ist die Frage, wie diese Einzelelemente zu einem Ganzen verbunden werden. Die Begriffe des »Wahrscheinlichen« und des »Wunderbaren«, die Voßkamp in vager Anlehung an die Aufklärungspoetik als Analyseinstrumente verwendet, sind bei ihm überdies so definiert, daß sie die für eine Trennung der beiden fiktiven Räume entscheidenden Merkmale gerade nicht erfassen. Wegen dieser Ungenauigkeit tritt für Voßkamp das »Wunderbare« sowohl im nichtutopischen Raum »im Gewand des Abenteuerlichen« (S. 150) auf, als auch im utopischem Raum, der das »Wunderbare« schlechthin darstellt (S. 151). Voßkamps Begriff des »Wunderbaren« umfaßt also ganz verschiedene Sachverhalte, einmal die Darstellung des Sensationellen, also das, was Hans Mayer die »Elemente des Romanesken« genannt hat, zweitens in einem dichtungslogischen Sinn die Struktur eines fiktiven Raumes, der zwar in seinen Bedingungen von der Erfahrungswelt abweicht, in dem aber überhaupt nichts »Wunderbares« im ersten Sinn zu geschehen braucht. Damit zeigt sich, daß die Begriffe des »Wahrscheinlichen« und des »Wunderbaren« in der Form, wie sie Voßkamp einführt, für die Analyse der utopischen Erzählung nichts erbringen. Hohendahl 245 bringt auch in dieser Frage einen gewissen Fortschritt. Auch er trägt die Begriffe der Aufklärungspoetik als analytische Hilfsmittel an die Texte heran, doch in einer differenzierteren Form, die dem Stand der poetologischen Diskussion in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts angemessener ist als die Voßkamps (vgl. S. 95f., Anm. 29). Während nämlich Voßkamp die Wahrscheinlichkeit der Erzählweise Schnabels an der getreuen Nachbildung tatsächlichen Geschehens mißt, unterscheidet Hohendahl die Darstellung des Historisch-Wahren von der wahrscheinlichen Darstellungsweise einer Fiktion, die sich aus der Übereinstimmung des Fiktiven mit den Gesetzen ergibt, welche die Vernunft in der Natur erkennt. »Über den Grad der Wahrscheinlichkeit entscheidet nicht so sehr der materiale Gehalt als der formale Wirklichkeitsausweis.« (S. 97) Dieser Wirklichkeitsausweis, »die Illusion des Wirklichen« (ebda.), wird erreicht durch die »innere Wahrscheinlichkeit und die innere Glaubwürdigkeit« (S. 96). Diesen »Wahrscheinlichkeitsbegriff der Widerspruchsfreiheit« (S. 95, Anm. 29) sieht Hohendahl bei Schnabel auch im utopischen Raum erfüllt; er ist 245

vgl. Einleitung, Anm. 20

91

demnach nicht zum Wunderbaren zu rechnen. Da Hohendahl beiden fiktiven Räumen Wahrscheinlichkeit gerade im logischen Sinn zuerkennt, fehlt ihm ein Begriff, um die Grenze zwischen den beiden fiktiven Räumen zu markieren. Zur Kennzeichnung der utopischen Fiktion fällt ihm deswegen auch nicht mehr ein, als daß sie »ein mehr oder weniger systematisches Bild eines vollkommenen Lebenszustandes« (S. 79) sei, »eine mögliche und wünschbare Welt, deren Verwirklichung nur erhofft werden kann« (S. 102),246 oder »die Darstellung einer Welt, die nicht ist, aber sein könnte« (S. 94). Hohendahl macht gleichzeitig Beobachtungen am Text, die im Widerspruch zu diesen Deutungen stehen, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Er sieht, daß in der Insel Felsenburg die Raumgrenzen vor allem durch die Darstellungsweise an der Oberfläche verwischt werden. Dies geschehe vor allem dadurch, daß sich »die ungewöhnlichen, erstaunenswerten Ereignisse außerhalb der Insel abspielen« (S. 96), wohingegen »die Schiffbrüchigen sich so auf der Insel einrichten und so ihre soziale Gemeinschaft aufbauen, wie es prinzipiell auch in einer dem Leser bekannten Umgebung möglich wäre« (ebda.). Das müßte aber fraglich werden, wenn man überprüft, in welcher Weise die Verknüpfungen zwischen den Ereignissen auf der Insel hergestellt werden und von welchen Voraussetzungen her das Leben auf der Insel möglich ist. Es ist die Ruyersche Frage nach dem changement de l'axiomatique, nach den princtpes differents, die die logische Struktur dieser oberflächlich so wahrscheinlich erzählten Wirklichkeit zu enthüllen vermag. Schon Hohendahl erwähnt die »wenigen Eingriffe der göttlichen Providenz« (ebda.) in das Leben der Inselbewohner. Wenn nun diese Eingriffe konstitutiv für das Funktionieren des Insellebens sein sollten, dann handelt es sich nicht mehr um ein Leben, das »prinzipiell auch in einer dem Leser bekannten Umgebung möglich« ist, denn nicht diese Eingriffe allein sind »wunderbar«, während das übrige Leben »wahrscheinlich« ist, sondern das ganze Inselleben ist im fiktionslogischen Sinn als »wunderbar« zu bezeichnen, weil es ohne diese göttlichen Eingriffe

246

Im Schlußsatz der Utopia heißt es bekanntlich gerade umgekehrt, daß man die Zustände der utopischen Welt nicht erhoffen, sondern nur wünschen kann. Wenn Hohendahl bei seinem Ausdruck »mögliche Welt«, den er als »zukünftige Wirklichkeit« versteht (vgl. S. 111: »ihr Wahrheitsanspruch beruht auf ihrer zukünftigen Möglichkeit« und S. 112: »Die Utopie wird durch die Möglichkeit ihrer Verwirklichung legitimiert«), an den Begriff des 18. Jahrhunderts mit gleichem Namen gedacht haben sollte, müßte er korrigiert werden: Im 18. Jahrhundert bedeutet »mögliche Welt« nie die Zukunft der wirklichen Welt.

92

überhaupt nicht in Gang gekommen wäre. Hohendahl kann diese Konsequenzen nicht ziehen, weil er, wie schon Voßkamp, den aus der Aufklärungspoetik stammenden Begriff des »Wunderbaren« sowohl im Sinn des Sensationellen der Darstellung als auch im fiktionslogischen Sinn gebraucht: Die Annahme, daß nur utopiewürdige Menschen auf der Insel sich einfinden (...) i s t n i c h t w a h r s c h e i n l i c h , s o n d e r n a l s p r o v i d e n t i e l l e F ü g u n g zu v e r s t e h e n . D a s G l e i c h e g i l t für die A r t , w i e die Kinder v o n A l b e r t Julius zur rechten Zeit mit E h e g a t t e n v e r s e h e n w e r d e n . Aber von w e n i g e n A u s n a h m e n abges e h e n , zu d e n e n a u c h die E r s c h e i n u n g v o n D o n C y r i l l o s G e i s t zu r e c h n e n i s t , h a t d a s W u n d e r b a r e u n d P h a n t a s t i s c h e auf der Insel keinen Platz (...). Die w u n d e r b a r e n E i n g r i f f e sind als >Anfangshilfen< der göttlichen Vorsehung zu verstehen, die dazu gedacht sind, die Inselbewohner in d e n S t a n d z u v e r s e t z e n , sich zu behaupten (...). Schnabel beabsichtigt, (...) die beiden Teile der dargestellten Welt, den >wirklichen< und den utopischen, zu einer Einheit zusammenzuzwingen, so daß die Utopie nicht mehr im herkömmlichen Sinn als wunderbar oder phantastisch zu gelten hat.« (S. 97f., Hervorhebg. von mir)

»Wunderbar« im Sinn von »phantastisch« ist die Insel sicher nicht dargestellt, aber sie kann doch als »wunderbar« im logischen Sinn empfunden werden, wenn man, wie es die zeitgenössische Aufklärungsphilosophie tut, aus der diese poetologischen Begriffe abgeleitet sind, die Welt als einen lückenlosen Zusammenhang von Ursache und Wirkung interpretiert. Im Rahmen dieser Vorstellung nämlich bleiben die sehr auffälligen »Anfangshilfen« Grundlage aller kommenden Ereignisse in dieser Welt, und wenn die Erzählung noch tausend Jahre ohne Eingriffe von außen überspannen würde. Da das Verhältnis der als satirische Norm eingesetzten utopischen Fiktion zu den Gesetzen der Erfahrungswelt, wie sie der zeitgenössische Leser sieht, entscheidend für die Deutung der utopischen Intention ist, muß die Textanalyse bis zu dieser logischen Struktur vordringen. Abgesehen von diesen Einwänden müssen die Beobachtungen dieser Textanalysen festgehalten werden, denn sie lassen sich, zusammen mit Seebers Beobachtungen zur Utopia, verallgemeinern: In beiden Fällen handelt es sich um eine Fiktion, die im logischen Sinn von den Gesetzen der Erfahrungswelt abweicht, und in beiden Fällen ist der Autor bemüht gewesen, diese Fiktion möglichst wahrscheinlich darzustellen, als eine sinnliche erfahrbare Realität, die im Augenblick des Lesens in ein Konkurrenzverhältnis zur gewohnten Sicht der Erfahrungswelt treten kann. Mit diesem offensichtlich traditionsbestimmen93

den Merkmal der Illusion authentisch erlebter Wirklichkeit läßt sich die utopische Erzählung auch von Nachbargattungen abgrenzen, die in der Forschung oft unter dem gleichen Begriff behandelt werden, nämlich satirischen Texten nach dem Verfahren der geographia ad sensum moralem reducta, in denen moralische Begriffssysteme in Form einer Reise durch verschiedene Länder dargestellt werden, die als Allegorien einzelner Begriffe fungieren.247 Diese Darstellungen erwecken nicht die Illusion authentisch erlebter Wirklichkeit, ja sie stellen gar nicht eine ideale Wirklichkeit als Maßstab und Konkurrent der Erfahrungswelt dar. Sie sollten deshalb präziser als bisher von der Tradition der utopischen Erzählung unterschieden werden. Die Grenzen der Hohendahlschen Analyse lassen erkennen, daß die Begriffe Ruyers durchaus hilfreich sein können, die fiktionslogische »Tiefenstruktur« der satirischen Normfigur zu erfassen; es zeigt sich hier aber auch, daß diese Begriffe historisiert werden müssen, weil die Frage nach dem, was eine fiktive Welt von der Erfahrungswelt unterscheidet, was sie »wahrscheinlich« oder »wunderbar« erscheinen läßt, jeweils nur in Relation zu den herrschenden Deutungssystemen beantwortet werden kann. Erst wenn klar ist, welche Struktur im 18. Jahrhundert eine Aussage haben mußte, um als Aussage über die Wirklicheit akzeptiert zu werden, kann entschieden werden, ob für den zeitgenössischen Leser die hypothetischen Voraussetzungen des Schnabelschen Gedankenexperiments noch »wahrscheinlich« gewesen sind. Deshalb müssen die poetologischen und philosophischen Grundbegriffe der Zeit genauer rekonstruiert werden, als dies bei Voßkamp und Hohendahl der Fall ist.248

V. Zusammenfassung der Forschungsdiskussion Die Analyse der Traditionen, die in der Utopieforschung wirksam sind, und die Sichtung der Beobachtungen, die in der Forschung zur utopischen Erzählung gemacht worden sind, haben negativ ergeben, daß die heute gängigen Bedeutungen von »Utopie« mit der historischen Gattung nicht viel zu tun haben: Sie sind in einem historischen Kontext entstanden, der sich von den politischen Anschauungen, vom Literaturver247

244

Die Episode der »Reise nach Laputa« in Swifts Gulliver's Travels ist ein typisches Beispiel für ein solchens Verfahren. Zur Unterscheidung der Traditionen vgl. Gerber, S. 106 und S. 108. vgl. dazu mein Kap. II, S. 149ff.

94

ständnis und von den grundlegenden Deutungsmustern der Wirklichkeit in der frühen Neuzeit wesentlich unterscheidet. Es ist deshalb notwendig, den Utopiebegriff konsequenter als bisher zu historisieren und die utopische Intention im Kontext der jeweils zeitgenössischen Deutungsmuster zu interpretieren. Erst auf dieser Grundlage kann dann gefragt werden, inwieweit diese Textstruktur traditionsbildend gewesen und aufgrund welcher gemeinsamer Merkmale diese Tradition zu identifizieren ist. Die heute gängigen Versuche, einen allgemeinen Utopiebegriff zu formulieren, sind für diese Aufgabe nur bedingt geeignet, denn sie explizieren meist nur ein umgangssprachliches Vorverständnis des Utopischen, das aus einer bestimmten Entwicklungsstufe der Gattungstradition abgeleitet ist, und machen daraus eine Wesensbestimmung des Utopischen schlechthin. Zudem erfassen sie, mehr oder weniger reflektiert, einen Gegenstandsbereich, der über die historische Gattung hinausgeht oder sie im Extremfall gar nicht einschließt. Aus den Schwierigkeiten dieser Versuche läßt sich allerdings schon so viel erkennen, daß die Absicht, einen Vorschlag zur Reform der öffentlichen Ordnung zu unterbreiten, nicht zu den traditionsbestimmenden Merkmalen der Gattung gehört. Ebensowenig gelten für diese Texte die Bewertungsmaßstäbe, die aus der Bezeichnung »Staatsroman« abgeleitet sind, denn die Absicht, eine epische Großform zu schaffen, individuelle Schicksale und Konflikte zu erzählen und autonome Kunstgebilde zu schaffen, ist sicher nicht als Gemeinsamkeit dieser Gattungstradition anzunehmen. Die Versuche der literaturwissenschaftlichen Utopieforschung, den Ausbau der romanhaften Elemente als Zeichen nachlassenden Wirkungswillens zu deuten, haben sich deshalb bei näherem Zusehen als wenig überzeugend erwiesen. Ein Vergleich der in der Forschung gemachten Beobachtungen an den Texten allerdings zeigt, daß unabhängig vom zugrundegelegten Utopiebegriff bestimmte Merkmale immer wieder genannt werden, wenn es um Texte der historischen Gattung geht; diese Beobachtungen können die Grundlage für eine Bestimmung der traditionsbildenden Textstrukturen werden, zumindest für die Gattung vor dem 18. Jahrhundert. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich folgendes Bild für Intention und Struktur der Texte: 1. Utopische Erzählungen sollen nicht Rezepte für wirklichkeitsveränderndes Handeln liefern und keine Abbildungen erhoffter Zukunft sein, sondern den Leser von der Negativität seiner Wirklichkeit und von der mangelnden Legitimation der geltenden Verhaltensnormen und Institutionen überzeugen. Diese Negation geschieht im Namen einer Norm, die 95

von der Idee absoluter Vollkommenheit ausgeht und deshalb als außerhalb der historisch und geographisch erfaßbaren Wirklichkeit liegend gedacht werden muß. Thematisch sind die Texte auf den Bereich der öffentlichen Ordnung eingeschränkt, auf die Regelungen des Zusammenlebens im außerprivaten Bereich durch gesellschaftliche Verhaltensnormen und gesetzliche Regelungen, wobei das wechselseitige Bedingungsverhältnis der Einzelbereiche besonders betont wird. Soweit private Verhaltensweisen dargestellt werden, erscheinen sie deshalb in ihrer Abhängigkeit von den Regelungen der öffentlichen Ordnung oder umgekehrt in ihrer Bedeutung für den Zustand der öffentlichen Ordnung. Diese Intention ist historisch einer Situation zuzuordnen, in der versucht wird, den Anspruch absoluter und allgemeiner moralischer Normen für das politische Handeln zu bestreiten, die Normen politischen Handelns den Bedingungen der Wirklichkeit anzupassen und die öffentliche Ordnung in unabhängige Teilbereiche mit unterschiedlichen Normensystemen zu gliedern. Die Intention der utopischen Erzählung ist der Widerspruch gegen diese grundlegenden Legitimationsmuster des frühneuzeitlichen modernen Staates.249 2. Diese Intention erfordert sowohl die Vermittlung einer negativ wertenden Vorstellung der Erfahrungswelt als auch eines normativen Standards, dessen Verbindlichkeit dem Leser überzeugend klargemacht werden muß. Ebenso muß dem Leser die Einsicht in die Interdependenz aller Bereiche der Wirklichkeit vermittelt werden. Für die Textstruktur grundlegend ist demnach ein Aufbau aus zwei kontrastierenden fiktiven Räumen, von denen einer die Darstellung der Norm, der andere die Darstellung der negativ bewerteten Wirklichkeit enthält. Die Norm wird der Intention gemäß als ein Wirklichkeitszusammenhang dargestellt, der sich in grundlegenden und unaufhebbaren Strukturprinzipien von dem unterscheidet, was zur jeweiligen Zeit als Erfahrungswelt gilt. Er wird konstruiert durch die hypothetische Veränderung dieser Strukturprinzipien und durch das Durchspielen der möglichen Folgen einer solchen Veränderung für alle Bereiche der Wirklichkeit in einem Gedankenexperiment. Damit wird auch die Interdependenz aller Lebensbereiche verdeutlicht. 249

Zu diesem Problem vgl. neben den Aufsätzen von Nipperdey vor allem Koselleck, Kritik und Krise, S. 11-39, und Gerhard Oestreich, »Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat«, in: Albrecht Schöne (Hrsg.), Stadt Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, München 1976, S. 10-21, vor allem S. 17-19.

96

3. Bewertung der Erfahrungswelt und Gedankenexperiment werden in der utopischen Erzählung mit den Mitteln erzählender und bildhafter Darstellungsweise formuliert. Dem fiktiven Raum, der als Norm fungiert, wird durch diese Darstellungsweise die Illusion authentisch erlebter Wirklichkeit verliehen. 4. Die Kombination dieser Merkmale ergibt eine sinnvolle Struktur für die Lenkung des Leseprozesses im Sinn der Textintention: Der Aufbau der Erzählung aus zwei kontrastiven Räumen und das Zusammenwirken dieser beiden Räume innerhalb der Textstruktur bestimmen den Ablauf der beabsichtigten Bewußtseinsprozesse beim Leser. Der Leser muß für den normativen Raum Wohlgefallen empfinden und ihn positiv bewerten, und er muß die kritisch-manipulierte Darstellung der Erfahrungswirklichkeit im negativen Raum als ihr reales Abbild akzeptieren und die negative Bewertung des Autors über sie nachvollziehen. Indem im negativen Raum die Erfahrungswirklichkeit kritisch dargestellt wird, verändert der Autor das Leserurteil über die Erfahrungswirklichkeit derart, daß er die normative Fiktion als vollkommen im Vergleich zur Erfahrungswirklichkeit empfindet. Indem er dem Leser gleichzeitig die normative Fiktion positiv wertend und illusionierend vor Augen führt, verändert er dessen gewohnte Wirklichkeitserfahrung und macht ihn bereit, die Wirklichkeitskritik zu akzeptieren. Zwischen beiden fiktiven Räumen besteht also ein Funktionsverhältnis, das den Leseprozeß so steuern soll, daß schließlich das negative Werturteil über die Wirklichkeit nachvollzogen wird. Da die intendierte Negation der Wirklichkeit nur erreicht wird, wenn der Leser einen Maßstab akzeptiert, der außerhalb der Möglichkeiten der Erfahrungswirklichkeit liegt und dem Vorstellungsbereich des Lesers fremd ist, hat die poetische Textstrukturierung die Aufgabe, diese begrifflich schwer zu übermittelnde Norm anschaulich erfahrbar zu machen. Die poetische Darstellung des experimentell hergestellten Wirklichkeitszusammenhangs und die Mittel, um die affektive Identifikation des Lesers mit dieser fiktiven Wirklichkeit herbeizuführen, sollen den Nachvollzug der Normvorstellung erleichtern. 5. Über diese grundlegenden Merkmale hinaus werden in der Forschung regelmäßig Motive angeführt, an denen die Texte beim normalen Lesen als zur Gattung gehörig erkannt werden. Es handelt sich dabei um Merkmale, die sekundär aus der grundlegenden Struktur ableitbar sind. Sie betreffen den Bereich von Bildvorstellungen und Handlungsab97

laufen, die sich als erfolgreiche Problemlösungen in der Tradition verfestigt haben. a) Die Bipolarität des Textaufbaus aus zwei fiktiven Räumen und ihr funktionales Verhältnis zueinander ergeben gattungstypische Darstellungsprobleme: Notwendig ist die Trennung der beiden Räume und gleichzeitig die Herstellung eines Bezugs zwischen ihnen, um den Prozeß des kritischen Vergleichens in Gang zu bringen. Eine musterhafte und oft nachgeahmte Lösung bietet bereits die Utopia in folgendem Erzählverlauf: Schiffsreise, Ankunft auf einer unbekannten Insel, Besichtigung der Insel und deren Beschreibung nach der Rückkehr. Dem gleichen Zweck wie das am häufigsten verwendete Motiv der Insel können auch alle anderen abgeschlossenen Räume dienen. b) Weitere Motivtraditionen ergeben sich aus der Notwendigkeit, die normative Fiktion als vollkommen darzustellen. Aufgrund der traditionellen formalen Bestimmungen der Vollkommenheitsidee haben die Bildvorstellungen utopischer Räume eine Tendenz zur Uniformität und zur geometrischen Regelmäßigkeit. Diese Tendenz regiert die Ausgestaltung der fiktiven Gesellschaftsordnungen ebenso wie die Anlage der Architektur und die Sitten der Bewohner. Diese Bildvorstellungen sollen die Aufhebung der Zeit im Zustand der Vollkommenheit veranschaulichen. Das gattungstypische Übergewicht bildhafter Schilderungen gegenüber der Erzählung von Handlungsverläufen dient dem gleichen Darstellungsziel. Die Idee der Identität von Subjekt und Objekt im Zustand der Vollkommenheit wird traditionell in der sozialen Gleichheit der Bewohner und in der extrem umgestalteten Natur veranschaulicht. Im Gegensatz zu Paradiesesvorstellungen und dem Mythos vom Goldenen Zeitalter wird in utopischen Erzählungen die Identität des Menschen mit der Natur nicht als »Naturalisierung des Menschen« sondern als extreme »Humanisierung der Natur« dargestellt. Der Zustand der Vollkommenheit erscheint in diesen Bildvorstellungen als das Ergebnis menschlicher Naturgestaltung. Die utopischen Erzählungen beziehen ihre Vorstellungen aus der Urbanen Zivilisation, nicht aus vorgeschichtlichen Mythen. Diese Tendenz ergibt sich schon aus der gattungsbestimmenden Thematik der öffentlichen Ordnung. 6. Wo man den Begriff einer »utopischen Darstellungsweise« allgemeiner Art entwickeln möchte, müßte er sinnvollerweise aus dem Begriff der utopischen Erzählung entwickelt werden. Dieser Begriff müßte das Merkmal der Poetizität, das der kritischen Intention und das einer grundlegend von der Erfahrungswirklichkeit abweichenden Fiktion auf98

weisen. Erweiterungen wären demnach zunächst einmal nur bei der Thematik möglich. Die nächste Frage, die über die utopische Erzählung hinausgeht, wäre somit an Texte gestellt, die unabhängig von ihrer Thematik durch die Darstellung von fiktiven Wirklichkeiten mit eigenen Strukturgesetzen Kritik an der Erfahrungswirklichkeit hervorrufen wollen.

99

2. Kapitel: Begriff und Bewertung der historischen Gattung im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert

I. Der Wortgebrauch von »Utopia« und »utopisch« im 18. Jahrhundert Die Utopia von Thomas Morus ist im 18. Jahrhundert ein bekannter Text. Die literarische Gattung, die sich auf die Utopia zurückführen läßt, wird allerdings nicht mit »Utopie« bezeichnet,1 weswegen eine Geschichte des Wortes »Utopie« nicht automatisch eine Geschichte des Begriffs der utopischen Erzählung ist.2 Andererseits ist das Wort auch im 18. Jahrhundert der Titel eines bekannten Werks der Literatur. Die Bedeutungen des Wortes »Utopie« geben deswegen eine erste Auskunft über die Assoziationen, die sich beim Namen dieses Textes eingestellt haben. 1. Zur Bedöutungsgeschichte des Wortes »Utopie« gibt es den zeitlich weiter ausgreifenden Aufsatz von Rita Falke,3 der hauptsächlich die Entwicklung im romanischen Sprachgebiet nachzeichnet. Aus ihren Beobachtungen zum Wortgebrauch im 16. und 17. Jahrhundert und aus der Tatsache, daß in den großen französischen Lexika des 18. Jahrhunderts das Wort fehlt, folgert Rita Falke für den hier in Frage kommenden Zeitraum: »Man kann daraus wohl schließen, daß dieses Wort noch nicht von dem speziellen Werk des Thomas Morus abgelöst war.«4 Das würde bedeuten, daß bis ins 19. Jahrhundert immer dann, wenn das Wort »Utopie« gebraucht wurde, nichts anderes als ein einziger Text gemeint war und kein allgemeiner Begriff. 1

2

3 4

vgl. Art. »Utopie« in: Philosophisches Wörterbuch, hrg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Berlin (DDR) 7. Aufl., 1970, Bd. II, S. 1 1 1 - 1 1 3 , S. 112: »Für die seit Anfang des 17. Jahrhunderts (...) entstehende Gattung der Staatsromane, für die die Utopia als ein Muster anzusehen ist, wurde der Name Utopie nicht übernommen.« Rita Falke, »Utopie — logische Konstruktion und chimere. Ein Begriffswandel«, in: Villgradter-Krey, S. 1—8, suggeriert mit ihrem irreführenden Titel »Ein Begriffswandel« diese Automatik. Was sie bringt, ist eine Geschichte der Wortverwendung in verschiedenen Bedeutungen. Die historische Entwicklung eines Problems läßt sich kaum am Leitfaden eines gleichbleibenden Wortkörpers allein verfolgen. Ob die Wertungen, die sich mit dem Wort »Utopie« verbinden, auch Wertungen über die literarische Gattung enthalten, ist jeweils nach Prüfung des Bedeutungsumfangs zu entscheiden. vgl. Anm. 2. Falke, S . 3 .

100

Dies trifft jedoch nicht einmal für die von Falke selbst herangezogenen Beispiele aus dem 16. Jahrhundert zu. Zu der von Falke angeführten Bemerkung von Bonivard, daß selbst im calvinistischen Genf menschliche Bosheit anzutreffen sei und Prozesse in die Länge gezogen würden, und daß dies überall geschehe, »sinon en Utopie«, schreibt sie als Erklärung: »Nur in dem nicht existierenden besten Staat - aber eben auch: n u r in dem L a n d e , das a u f d i e s e r W e l t k e i n e n P l a t z h a t , werden Prozesse nicht um der Gewinnsucht willen in die Länge gezogen.«5 Das bedeutet doch, daß mit »Utopie« hier gar nicht der literarische Text Utopia bezeichnet wird, sondern eine Vorstellung von einem Zustand, der außerhalb der Erfahrungswirklichkeit liegt und vollkommen ist. Die Verbindung dieser mit »Utopie« bezeichneten Vorstellung zur Utopia ist dadurch gegeben, daß das von Thomas Morus in seinem Buch dargestellte Land Utopia ein bekanntes Beispiel für diese Vorstellung ist. »Utopie« bezeichnet hier also schon nicht mehr einen ganz bestimmten individuellen Text, sondern einen allgemeinen Begriff: Vorstellung eines Zustandes der Vollkommenheit außerhalb der Erfahrungswirklichkeit. Auch in den von Falke zitierten Stellen bei Rabelais bedeutet »Utopie« nicht mehr bloß die Utopia oder das in diesem Text geschilderte Land. Rabelais' fiktives Land hat zwar den gleichen Namen wie das von Morus, stellt aber eine Neuschöpfung dar. Somit bezeichnet auch hier »Utopie« schon etwas anderes als das Werk von Morus allein. Das Wort bezeichnet also schon sehr früh einen allgemeinen Begriff, der mehr umfaßt als einen einzigen Text, der aber bestimmte Aspekte der Utopia mit einschließt. Auch im deutschen Sprachraum, wo der Name »Utopia« spätestens seit der Übersetzung von Gargantua und Pantagruel durch Fischart eingeführt war,6 ist diese Entwicklung zu beobachten. Als eine Zusam5 6

Falke, S. 2 (Hervorhebg. von mir). vgl. dazu Johannes Poeschel, »Das Märchen vom Schlaraffenlandes Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur, 5 , 1 8 7 8 , S. 3 8 9 - 4 2 7 , S. 4 2 5 : »Utopia (...) ist dann als bezeichnung für Nirgendheime aller art adaptiert worden; nur um zwei namhaft zu machen, von Rabelais in Gargantua und Pantagruel, und nach dessen vorgange von Fischart, der noch mehrere synonyma dazu erfand: Nienenreich, Nichilburg, Nulliburgen und Nullenstein.« Hubertus Schulte-Herbrüggen, Utopie und AntiUtopie. Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie, Bochum-Langendreer 1960, S. 5 bringt Beispiele aus dem englischen Sprachraum, die eine ähnliche Entwicklung dokumentieren: Während 1551 das Wort noch die Insel in der Utopia allein bezeichnet, bedeutet es ab 1610 schon allgemein »imaginary (...) region«.

101

menfassung des deutschen Wortgebrauches von »Utopie« und seines Bedeutungsumfangs bis zum 18. Jahrhundert kann der Artikel am Ende des beobachteten Zeitraums im Universal-Lextkon von Zedier angesehen werden: Das Stichwort »Utopie« ist hier verzeichnet,7 aber an dieser Stelle wird auf das Stichwort »Schlaraffenland« verwiesen. Dort heißt es dann: 8 »Schlaraffenland, lat. Utopia, welches im Deutschen Nirgendwo heißen könte, ist kein wirckliches, sondern erdichtetes moralisches Land. Man hat es aus dreyerley Absichten erdacht. Einige stellen darunter eine gantz vollkommene Regierung vor, dergleichen wegen der natürlichen Verderbniß der Menschen in der Welt nicht ist und nicht seyn kan; und thun solches zu dem Ende, damit sie in einem Bilde desto deutlicher und bisweilen auch ungestraffter, alle diejenigen Thorheiten und Unvollkommenheiten zeigen können, denen unsere Monarchien, Aristocratien und Democratien unterworffen sind. Andere suchen das Elend und die Mühseligkeit des menschlichen Lebens dadurch vorzustellen. Deßwegen erdichten sie solche Länder oder Insuln, darinnen man ohne Arbeit alles erlangen kan, d.z.E. Seen voll Wein, Ströme voll Bier, Teuche und Wälder voll' gesottener Fische und gebratenen Vögel sind und was dergleichen mehr ist. Noch andere stellen darunter die lasterhaffte Welt vor, und mahlen die Laster unter Bildern der Länder ab, z.E. die Landschaft Bibonia, die Republic Venena, Pigritia und andere mehr.«

Zur Wortbedeutung von »Utopie« in diesem Artikel ist festzuhalten: — »Utopia« und »Schlaraffenland« werden als Synonyme gebraucht. - »Utopia« und »Schlaraffenland« fungieren als Sammelbezeichnungen poetischer Raumvorstellungen mit sehr heterogener Thematik. - Der Autor des Lexikonartikels versucht offenbar die nachträgliche Rationalisierung eines in langer Tradition eingespielten Wortgebrauchs, indem er die einzelnen Bedeutungsbereiche unter einen gemeinsamen begrifflichen Nenner bringt. Als Gemeinsamkeiten aller aufgeführten poetischen Raumvorstellungen stellt er zwei Merkmale heraus: Erstens, daß es sich um »erdichtete«, in der Wirklichkeit nicht existierende Räume handelt, und zweitens, daß diese fiktiven Räume allesamt dem Zweck der Kritik an der Wirklichkeit dienen. Die Kombination der Merkmale »fiktiver Raum« und »kritische Intention« ergibt den allgemeinen Begriff, der es erlaubt, die heterogenen Vorstellungen unter den Bezeichnungen »Utopia« und »Schlaraffenland« zusammenzufassen. — Der Begriff »Utopie« hat drei Unterbegriffe, von denen der erstge7

8

Johann Heinrich Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 51, Leipzig - Halle 1747, Sp. 1043. Zedier, Bd. 34, 1742, Sp. 1828f.

102

nannte die Gattungstradition der utopischen Erzählung umfaßt. Die ersten beiden Raumvorstellungen sind positive Gegenbilder zur Wirklichkeit und dienen als Norm der Wirklichkeitskritik. Sie sind unterschieden durch ihre Thematik: die erste Vorstellung umfaßt den Aspekt der Organisation von Staat und Gesellschaft, die zweite die materiellen Bedingungen des menschlichen Lebens. In der ersten Fiktion wird eine »gantz vollkommene Regierung« dargestellt, in der zweiten der mühelose Erwerb der notwendigen Güter zur Reproduktion des Lebens. Sie umfaßt damit die Vorstellung des Schlaraffenlandes in unserem heutigen Sinn. Die dritte Raumvorstellung umfaßt allegorische Darstellungen moralischer Begriffe in Form von Ländern in satirischer Absicht. Dies ist die Tradition der Geographia ad sensum moralem reducta. — Der erste Unterbegriff gibt eine vorläufige Auskunft über den Begriff der utopischen Erzählung im 18. Jahrhundert. Es zeigt sich also, daß die Gattung als eigenständige Einheit wahrgenommen wurde. Der Artikel gibt folgende Merkmale an: Die Texte der Gattung sind mit der Absicht geschrieben, Kritik an der Ordnung der gegenwärtigen Staaten zu üben. Als Norm dieser Kritik wird eine öffentliche Ordnung in einer literarischen Fiktion vorgestellt, die vollkommen ist. Die Darstellung dieser Norm geschieht »in einem Bilde«. Der dargestellte Zustand der öffentlichen Ordnung ist in der Wirklichkeit nicht aufzufinden, und seine Realisierung ist nicht möglich, auch nicht zukünftig möglich, denn er beruht auf der Voraussetzung einer veränderten Natur des Menschen. Die Wendung »in der Welt nicht ist und nicht seyn kan« bedeutet auf jeden Fall, daß der dargestellte Zustand den Strukturgesetzen der Welt widerspricht, die nach der Auffassung der Aufklärung nicht bloß den gegenwärtigen Zustand der Wirklichkeit bestimmen, sondern ihren Ablauf zu allen Zeiten. Ob die Wendung »nicht seyn kan« auch noch bedeutet, daß dieser Zustand nicht bloß in der Welt unmöglich, sondern überhaupt denkunmöglich ist, wird an späterer Stelle auf der Grundlage des aufklärerischen Möglichkeitsbegriffs noch zu überprüfen sein. 2. Der Bedeutungsumfang des Wortes »Utopia« in Zedlers Lexikon stellt die Zusammenfassung einer langen Entwicklung dar, deren einzelne Stationen sich in Umrissen erkennen lassen.9 ' Falke beklagt sich, daß die Wörterbücher von Grimm und Trübner kein Material zur Bedeutungsentwicklung liefern (S. 3). Beide Lexika stellen Material bereit, aber unter dem Stichwort »Schlaraffenland«.

103

Das Wort »Schlaraffenland« und die damit verbundene Vorstellung von einem Zustand des mühelosen Lebens in Überfluß sind älter als das Wort »Utopia«.10 Der synonyme Gebrauch beider Wörter läßt sich vom Anfang des 17. Jahrhunderts an nachweisen. In einem Beleg bei Grimm von 1618 heißt es: »Schlaraffenland, insulae fortunatae, Utopia«.11 In Kaspar Stielers Stammbaum von 1691 heißt es präzisierend: »schlauraffen- sive Schlaraffenland, nomen fictitium Utopiae cuiusdam, ubi omnia sine labore, periculo et pretio suppetunt«.11 In dieser Bedeutung gebraucht 1713 Hunold in seiner Einleitung zur Teutschen Poesie das Wort: »Allein wunderliche Phantasien, die man im Schlafe hat, machen keine Erfindung gut und vernünftig. Es gemahnet mich damit ebenso, als wenn einer in Utopia will gewesen sein und gesehen haben, daß die gebratenen Haasen am Spieße laufen«. 13

Daß es zu der Wortentwicklung von »Utopia« zum Synonym für »Schlaraffenland« in dieser Bedeutung kommen konnte, liegt offenbar daran, daß die Zeitgenossen in beiden Vorstellungen vor allem die Unmöglichkeit ihrer Realisierung wahrgenommen haben. Für die synonyme Verwendung der beiden Wörter in der bei Zedier angegebenen dritten Bedeutung, als Bezeichnung für allegorische Darstellungen von Moralbegriffen, findet sich ein ausführlicher Beleg im Anhang einiger Ausgaben des Atlasses von Homann-Hübner von 1732. 14 Hier findet sich eine Landkarte mit dem Titel »accurata Utopiae tabula, das ist der neu entdeckten Schalckwelt oder des so offt benannten, doch nie erkannten Schlaraffenlandes, neu erfundene lächerliche landtabelle, worinnen alle und jede Laster in besondere Königreiche, provintzen und herrschaften abgeteilet werden«.15 »Die himmelsrichtungen werden hier bezeichnet durch den zeidichen aufund Untergang des wollebens, den ewigen Mittag der auserwählten und die ewige mitternacht der gotdosen, die beiden pole durch das neue Jerusalem und den höllenpfuhl; der Zugang zu ersterem wird durch die Virtutis Ardua, das rauhe Tugent-Gebürg, ungemein erschwert, weshalb auch die ganze 10

11 12 13

14 15

vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. IX, Sp. 494: »es kann wol als sicher gelten, dasz das wort zunächst ohne beziehung auf die Utopia gebraucht worden ist.« Grimm, Sp. 4 9 5 . vgl. Grimm, Sp. 4 9 5 und Trübner, Deutsches Wörterbuch, Bd. VI, S. 102. zitiert bei Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1 6 7 0 - 1 7 4 0 , Bad Homburg - Berlin - Zürich 1970, S. 85. vgl. Poeschel, S. 425f. Grimm, Sp. 4 2 5 .

104

nördliche zone Terra Sancta incognita geblieben ist, zum höllenpfuhl dagegen führen bequeme niederungen, und auch der allenfalls hinderliche Nothfluss wird durch die Teufelspruck leicht passierbar. Vom Juventae regnum im nordosten führt der Krebsgang der fleissigen und frommen jugend durch das Magni Stomachi imperium, Mammonia und Prodigalia nach der nordwestlich gelegenen Senectae regio, wo er selbst zum Krebsgang des schlaraffischen wollebens wird. Im centrum des festlandes am Truncken-See, in welchem der Ueber-Fluss und ein arm des weitverzweigten Bier-Flusses münden, liegt die hauptstadt Schlaraffenburg. Weiter südlich sind die reiche Bibonia, Respublica Venena, Stultorum regnum, Litigonia usw., und der ganze gewaltige continent wird vom Doli und vollen, dem Luder-Meer mit der Tobago insula, und im nordwesten von dem Traurigen Meer bespült«. 16

Eine ähnliche Karte befindet sich auch auf dem Frontispiz von Jacob Bidermanns Utopia,17 die in die Tradition der allegorisch-satirischen Literatur einzureihen ist. Eine deutsche Übersetzung des Bidermannschen Textes, die Christoph Andreas Hörl 1677 als eigenes Werk herausbrachte, heißt deswegen auch Bacchusia oder Faßnacht-Land.n Derartige Bücher und Landkarten sind die Ursache dafür, daß unter dem Stichwort »Utopia« in Zedlers Lexikon auch diese literarische Tradition erfaßt wird. Auch Vorstellungen, die zum Topos der »verkehrten Welt« gehören, wurden mit »Schlaraffenland« bezeichnet.19 Immer handelt es sich um Fiktionen, deren Kompositionsprinzipien eine erhebliche Abweichung des Dargestellten von der Wirklichkeitserfahrung bewirken. Neben den bisher angeführten Bedeutungen kann »Utopia« und 18. Jahrhundert im weitesten Sinn als Bezeichnung für überhaupt gebraucht werden. In Johann Rists Schauspiel Das wünschende Teutschland von 1647 stellt sich Merkur mit der kung vor, es sei kein Gott:

im 17. Fiktion FriedeBemer-

" Poeschel, S. 425f. Goedeke (2. Aufl., Bd. II, S. 282) und Grimm, Sp. 497 bringen einen ähnlichen Titel ohne Jahresangabe: »Erklärung der Wunder-seltzamen Land-Charten Utopiae, so da ist / das neu-entdeckte Schlaraffen-Land«, der »um 1600« angesetzt wird. Vgl. dazu Joseph Prys, Der Staatsroman des 16. und 17. Jahrhundert und sein Erziehungsideal, Würzburg 1913, S. 36f. Hier wird dieser Titel genau zitiert und das Buch beschrieben. Prys weist nach, daß es erst nach dem Erscheinen von Bidermanns Utopia geschrieben wurde, also nach 1640. 17 Jacob Bidermann, Utopia Didaci Bemardini, seu Jacobi Bidermanni, e Societate Jesu Sales musici. Quibus ludicra mixtim & seria litterate ac festive denarrantur, Dillingen, 3. Aufl. 1691; Das Frontispiz zeigt eine Landkarte mit dem Titel Vera utopiae descriptio, mit allegorischen geographischen Angaben. 18 Christoph Andreas Hörl, Bacchusia oder Faßnacht-Land, München 1677. Vgl. dazu G. Westermayer, »Jacob B. Bidermann«, ADB, Bd. II, S. 617f., S. 618. " vgl. Trübner, S. 102.

105

»Unterdessen / damit ihr gleichwol eigentlich wisset / wer und von wannen ich sey / so leugne ich zwar nicht / daß ich ein vermummter Mercurius / a b e r n i c h t der M a i e n S o h n bin / sondern ein alter Teutscher /Priesterlicher Mercurius / und komme ich gleich itz auß den alten Eliseischen Felderen / welche anmuthige Felder / Wiesen und Garten s e h r f e r n e von h i e r im L a n d e U t o p i a / dort in jener Welt gelegen / woselbst sich auch unteranderen die alte Teutsche Helden / welche vor vielen Hundert Jahren gelebet haben / nach ihrem Tod auff-halten. D i e s e F e l d e r w e r d e n nun a u c h n o c h b i ß a u f f d i e s e n h e u t i g e n T a g so g e w i s s e und w a h r h a f f t i g d a s e l b s t g e f u n d e n / so g e w i s s e ich der M a i e n S o h n / der M e r c u r i u s b i n . Ihr sollet aber wissen / daß ich in diesen also genenneten Felderen oder in dem erwähnten Utopia ein hohes und herrliches Amt bediene Merkur stellt sich vor als eine Gestalt aus dem Lande »Utopia« und behauptet, dieses Land gebe es wirklich. Gleichzeitig wird diese Behauptung ironisch zurückgenommen, weil er sie mit dem Widerruf einer im vorhergehenden Satz aufgestellten Behauptung koppelt. Da Merkur von sich sagt, er sei »nicht der Maien Sohn«, und die Realität des Landes Utopia so gewiß ist, wie die Tatsache, daß er »der Maien Sohn« ist, gibt er seine Eigenschaft als fiktive Person preis, als Person aus dem Lande Utopia. In gleicher Bedeutung erscheint das Wort »Utopia« einige Jahrzehnte später in Jacob Friederich Reimmanns Poetik von 1703. 2 1 Reimmann macht im zweiten Teil seiner Poetik den Versuch, die verschiedenen poetischen Bildvorstellungen in eine begriffliche Systematik zu bringen. Dabei fällt das Wort »Utopia« bei der Unterscheidung von Emblema und Symbolum: Der Aufbau von Emblema und Symbolum aus pictura und scriptura, Bild und Interpretation der Bildbedeutung, sei gleich. Der Unterschied zwischen beiden liege in der Qualität der pictura·. »Denn ob wohl die beyden angeführten Stücke auch zu einem Symbolo erfodert werden / so ist doch zwischen diesen und jenen ein solcher Unterschied als zwischen einem Conterfai und einem Bilde / das der Mahler nur bloß nach seiner Phantasie gekünstelt hat. Gestalt denn in jenem nicht das geringste Pünctgen und Strichelgen umsonst darff gezogen seyn / wenn hie gantze Bilder und Landschaften aus Utopien geduldet werden«.22

20

21

22

Johann Rist, Sämtliche Werke, hrg. von Eberhard Mannack, Bd. II: Dramatische Dichtungen, Berlin-New York 1972, S. 46. (Hervorhebg. von mir). Jacob Friderich Reimmann, Poesis Germanorum Canonica et Apogrypha. Bekandte und Unbekandte Poesie der Deutschen, Leipzig 1703. Reimmann, S. 85f. (vgl. Brunner, S. 73). Wenn Reimmann von >Emblema< spricht, so meint er nicht bloß Embleme im engeren Sinn mit graphisch dargestellter pictura, sondern genauso auch die Darstellung der Bilder und ihre Ausdeutung mit den Mitteln

106

Zur Verdeutlichung sagt Reimmann etwas weiter unten: »In einem Emblemate muß man mit keinem Gemähide aufgezogen kom-

men / daß nicht ex historia naturali νel artificiali genommen sey. Denn ein Emblema ist ein Gemähide / darinnen ein Orator denen Zuhörern zu erkennen giebet / wie die Moralia auch in der Natur und Kunst gegründet sind«,23 während »in einem Symbolo bißweilen das Morale selbst zu einem Bilde gebrauchet wird«.24

Es geht Reimmann hier darum, den Unterschied zwischen der allegoretischen Ausdeutung der existierenden Wirklichkeit und der bildlichen Darstellung eines Begriffs in einer erfundenen Allegorie klarzustellen. Das Emblema ist eine Allegorese: Es deutet den Sinn eines Gegenstandes der existierenden Wirklichkeit aus. Das Symbolum ist eine Allegorie: Es konstituiert erst einen fiktiven Gegenstand, dem ein Sinn zugeordnet wird. Um diesen Unterschied, vor allem den fiktiven Charakter des Bildes im Symbolum unmißverständlich zu bezeichnen, wählt Reimmann für den Bereich, aus dem die Bilder bei einem Symbolum stammen dürfen, die Bezeichnung »Utopia«. Bei der Wahl dieses Ausdrucks konnte er offenbar Einverständnis darüber voraussetzen, daß dieser Bereich auf jeden Fall als Fiktion aufgefaßt wurde. Ebenfalls fiktive Wirklichkeit, aber mit negativer Bewertung, bedeutet »Utopia« in Gotthard Heideggers Polemik gegen die Romanliteratur. 25 Heidegger wendet sich nicht gegen fiktive Literatur überhaupt, sondern speziell gegen die Romane seiner Zeit wegen ihrer »Fähigkeit (...) zur vollkommenen Illusionierung, indem ihre literarische Struktur Fiktion als Wahrheit imaginiert und den Wahrheits-Sctam als Wahrheit ausgeben kann«. 26 Unter diesem Aspekt werden die Romane gegen die antiken Erzählungen ausgespielt, denn letztere »tretten in keiner larve der Wahrheit auf (...). Darum seyen sie minder gefährlich. Hergegen wollen die Roman=Schreiber den Leser zum Narren machen / wie man etwa die Kinder mit dem Claus äfft / und mahlen alles so

23 24 25

26

der Sprache allein. Für Reimmann liegt die Besonderheit nicht im Zusammentreten von bildender Kunst und Dichtung, sondern in der Herkunft der emblematischen Bildvorstellung aus der Erfahrungswelt. Damit erfaßt der die Tradition der allegoretischen Weltausdeutung. Zum Begriff des Emblems an dieser Textstelle vgl. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1964, S. 29-32. Reimmann, S. 86. Reimmann, S. 106. Gotthard Heidegger, Mythoscopia Romantica, oder Discours von den so benanten Romans, Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698, hrg. von Walter Ernst Schäfer, Bad Homburg — Berlin - Zürich 1969. Voßkamp, Romantheorien, S. 124.

107

possierlich vor / daß auch ein verständiger / in dem er lieset / zuweil in Utopien entrinnet / und dabey ist«. 27 »Utopia« bezeichnet hier die Welt, in die der Leser Phantasie durch die Vorkehrungen der wahrscheinlichen Erzählweise entführt wird. Es ist auffällig, daß gerade bei diesem Aspekt der wahrscheinlichen Darstellung von fiktiven oder gar unmöglichen Zuständen die Verteidigung der Romane einsetzt, die in einer Leibniz zugeschriebenen Rezension der Schrift Heideggers vorgetragen wird, und daß als instruktives Beispiel für den Nutzen einer solchen literarischen Struktur ausgerechnet die utopische Erzählung angeführt wird: »In übrigen verwundert sich der Autor / daß die Mademoiselle de Scudery (...) den nutzen der Romanen / und daß man vermittelst selbiger zu allen Tugenden und zur Gottesfurcht selbst / wie auch zu den Wissenschaften ohne eckel und mit einer löblichen annehmlichkeit geleitet werden könne / behaupten wollen. Allein es scheinet / daß solches eben nicht ungereimt / w e n n u n t e r e r d i c h t e t e n B e s c h r e i b u n g e n und e r z e h l u n g e n / s c h ö n e i d e e n / so s o n s t in der W e l t m e h r z u w ü n s c h e n a l s a n z u t r e f f e e n seyn / vorgestellet werden: davon in den Scuderischen Romanen selbst einige nicht geringe proben anzutreffen. Wie dan auch dergleichen in denjenigen Büchern zu ersehen / die e i n e e r w ü n s c h t e R e g i e r u n g g e d i c h t s - w e i s e v o r g e s t e l l e t . Und o b s c h o n die V o l l k o m m e n h e i t n i c h t v ö l l i g z u e r r e i c h e n / so ist doch deren Vorbildung nützlich und einiger massen nötig / weiln wie Cicero wohl sagt / stultissimum est sibi ad imitandum ttott optima quaeque proponere. Wenn derowegen ein Roman oder ander gedieht dergestalt gemacht / ist es nicht allein nicht zutadeln / sondern hoch zurühmen«.28 In dieser Entgegnung an Heidegger werden die Romane nicht dadurch verteidigt, daß die kritisierten Punkte in Abrede gestellt werden, sondern es wird der Zusammenhang von Fiktion und Wahrscheinlichkeit noch deutlicher herausgearbeitet, indem nicht bloß auf die Entfernung des Dargestellten von der tatsächlichen Wirklichkeit, sondern auch von der bloßen Möglichkeit, Wirklichkeit zu werden, hingewiesen und die illu27

28

Heidegger, S. 81, vgl. dazu auch S. 73: »(...) wann wir die Romans lesen /meinen wir/ wir sehen gleichsam denen die Lippen gehen / die uns da reden sollen / und möchte wol bey manchem dahin kommen / daß er aus stark-gefaßter Imagination lange Zeit hernach schweren solte / er hette ein und anderes / weiß nicht wo mit äugen gesehen.« Gottfried Wilhelm Leibniz, Rezension von Heideggers >Mythoscopia RomanticaBegriff< nicht mitgeteilt werden kann - das ist die Aufgabe der Kunst.« 159 vgl. Baumgarten, S. 9, § XVI: »Si in repraesentatione A plura repraesententur, quam in B.C.D. etc. sint tarnen omnes confusae. A erit reliquis EXTENSIVE CLARIOR.« 160 vgl. Baumgarten, S. 10, § XVII: »Hinc repraesentationes extensive clariores sunt maxime poeticae.« und § XVIII, ebda.: »Quo magis res determinants, hoc repraesentationes earum plura complectuntur; quo vero plura in repraesentatione confusa cumulantur, hoc fit extensive clarior (...) magisque poetica (...). Ergo in poemate res repraesentandas quantum pote, determinari poeticum (...).« 161 vgl. Baumgarten, S. 10, § XIX: »Individua sunt omnimodo determinata, ergo repraesentationes singulares sunt admodum poeticae.« 157

174

meiner Begriffe durch konkretere Unterbegriffe. 1 6 2 Auch die poetische Darstellung philosophischer Gegenstände habe durch konkrete Bildvorstellungen zu geschehen. 1 6 3 Auch Breitinger hält an der Forderung fest, daß Dichtung eine moralische Zielsetzung haben müsse. Das »Ergetzen«, das die Dichtung bewirke, müsse »den Menschen zur Beobachtung der natürlichen, bürgerlichen und christlichen Pflichten aufmuntern«

(CD,

S. 1 0 2 ) , der

Dichter unterscheide sich darin v o m Philosophen, daß er die M o r a l »auf eine angenehm-ergetzende, allgemeine und sinnliche Weise vorstellet« (ebda.). Auch Breitinger sieht die Besonderheit der poetischen Überredungsweise unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten. Die »poetische Mahlerey« bringe »Herz und Sinnen rührende Bilder« (CD, S. 3 0 ) hervor. Sie wird deshalb ausdrücklich von der begrifflich-analytischen Wirklichkeitsdarstellung unterschieden: »Diese p o e t i s c h e n S c h i l d e r e y e n sind von derjenigen Art der eigentlich sogenannten B e s c h r e i b u n g e n gantz unterschieden, welche die N a t u r d e r S a c h e n nach ihren w e s e n t l i c h e n Umständen e r k l ä r e n , und mehr besorget sind, den V e r s t a n d zu u n t e r r i c h t e n , als die P h a n t a s i e durch eine geschickte Wahl und s i n n l i c h e V o r s t e l l u n g derer Umstände, durch welche sich die Sachen d e n ä u s s e r l i c h e n S i n n e n a m l e b h a f f t i g s t e n e i n d r ü c k e n , mit E r g e t z e n zu r ü h r e n . Weil die vornehmste Absicht dieser Art B e s c h r e i b u n g e n ist, den V e r s t a n d zu erleuchten, muß der p h i l o s o p h i s c h e V e r f a s s e r derselben alle U m s t ä n d e u n d M e r k m a l e einer Sache, dadurch dieselbe von andern unterschieden wird, sorgfältig auf- und zusammensuchen; zumahl jeder Umstand dem neuen Begriff einen neuen Zusatz von Licht mittheilet; hingegen muß der p o e t i s c h e M a h l e r , der durch seine Gemähide die P h a n t a s i e e i n n e h m e n w i l l , und das G e m ü t h e in eine angenehme Bewegung setzen will, nur die k l e i n s t e n u n d absonderlichsten U m s t ä n d e auslesen, und.mit einander verbinden, durch welche ein Ding von allen andern nur dem ä u s s e r l i c h e n A n s c h e i n nach unterschieden ist, und die seine Absicht, das Gemüthe auf eine gewisse Weise zu rühren, am meisten befördern helfen; was aber w e s e n t l i c h e E i g e n s c h a f t e n eines Dinges sind und was diese m i t a n d e r n v o n i h r e r A r t g e m e i n h a t , muß er mit eben so vieler Sorgfalt hinauswerffen, als der Verfasser derer andern sie zusammenlesen muß.« (CD, S. 47f., Hervorhebg. von mir) 142

163

vgl. Bauingarten, S. 10, § XX: »(...) generis inferioris & speciei magis poeticae quam generis, aut generis superioris«.

repraesentationes

vgl. Baumgarten, S. 22, § 5 8 : »Si philosophica vel universalia quaevis repraesentanda poetice, determinare quam maxime (...) exemplis involvere (...) eaque loci Sc temporis (...) & enumeratis aliis quam pluribus variis describere (...) mens est; experientia non sufficiente vera, nec historia quidem satis divite, figmenta probabiliter heterocosmica necessaria (...).«

175

Breit ausgeführt und eindringlich legt hier Breitinger dar, daß Beschreibungen an und für sich noch nicht das Wesen der Poesie ausmachen, sondern nur Beschreibungen, die der sinnlichen Erfahrung nachgebildet sind. Er unterscheidet deswegen Beschreibungen, die der wissenschaftlichen Information dienen, von den »poetischen Schildereyen«. »Beschreibungen« stellen eine Sache in begrifflichen Zerlegungen dar. Sie isolieren die Merkmale eines Gegenstandes, die seine Zuordnung zu einem allgemeinen Begriff erlauben. »Poetische Schildereyen« hingegen bringen von einer Sache den sinnlichen Oberflächeneindruck mit konkreten und individuellen Details. Die Entscheidung für die poetische Art der Darstellung ist deswegen kein Verzicht auf Wirkung des Textes an sich, sondern die Entscheidung für eine bestimmte Art der Wirkung, die auf wissenschaftliche Information verzichtet. Bei der Begründung dieser Entscheidung ist Breitinger dann freilich nicht mehr so fortschrittlich wie Wolff mit seiner Theorie der »anschauenden Erkenntnis«, sondern er greift auf die Topoi der rhetorischen Poetiktradition zurück. Die Dichtung eigne sich deswegen so gut für die Übermittlung moralischer Verhaltensnormen, weil »der größte Haufen der Menschen zu den abgezogenen Untersuchungen des reinen Verstandes nicht aufgeleget, (...) sondern alleine von den Sinnen geleitet wird, und sich nach einer empfindlichen Lust sehnet, die man ohne mühsames Bestreben erlangen kan« (CD, S. 5). Breitinger zitiert nach diesem Satz die tradierte Metapher von der überzuckerten Pille und faßt dann zusammen: »(...) man lernete gleich aus der Erfahrung, daß die Vorstellung abgezogener Wahrheiten unter sinnlichen Bildern und Gleichnissen (...) mit einem empfindlichen Ergetzen auf das menschliche Gemüthe eindringet, und dasselbe mit solcher Gewalt rühret, daß es ihr nicht leicht widerstreben mag; da die dogmatische und schliessende Lehrart hingegen viel zu mühsam gefunden ward.« (CD, S. 8)

Breitinger greift hier auf die von Wolff und Baumgarten schon überwundene konventionelle Auffassung zurück, Dichtung sei nur die Übersetzung theoretischer Erkenntnisse in bildhafte Sprache für diejenigen, denen die »dogmatische Lehrart« zu schwierig sei. Freilich ist sie »herzrührend« und damit in ihrer Wirkung nicht mehr auf die Vernunft und den Verstand gerichtet, wie dies für Gottsched noch gilt. Die Aufklärungspoetik bis 1740 weist unter dem Aspekt der Funktion von poetischen Texten zwei Gemeinsamkeiten auf, die für die Interpretation der zeitgenössischen Texte, also auch der zeitgenössischen utopischen Erzählungen, wichtig sind: Erstens: Die Vorstellung von einer 176

autonomen, zweckfreien Dichtung, die nicht an »außerliterarische« Normen gebunden sei, ist den Aufklärungspoetiken ebenso unbekannt, wie den Äußerungen der Polyhistoren: Dichtung ist eine Strategie der Überredung zu vernünftigem Verhalten. Die formalen Strukturen eines Textes werden unter dem Aspekt ihrer überredenden Wirkung wahrgenommen. Diese Tendenz verstärkt sich im Laufe des 18. Jahrhunderts und führt dann in den vierziger Jahren bei Baumgarten zur Begründung einer neuen philosophischen Disziplin, der Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Wahrnehmung. Zweitens: Um mit poetischen Texten überreden zu können, hat sich ein Autor nach der Theorie der Aufklärung für die Wirkung auf die »unteren Erkenntniskräfte« entschieden. Er muß gemäß dieser Entscheidung die Textstruktur der Struktur der sinnlichen Wahrnehmung anzugleichen versuchen. Dies gilt umsomehr im Rahmen derjenigen Ansätze, die die Erregung von Affekten zum Hauptzweck der Poesie machen wollen und vernünftiges Handeln nicht mehr durch Belehrung des Verstandes sondern durch Erregung »vernunftgemäßer« Gefühle herbeiführen wollen. Gerade in diesem Konzept muß eine Darstellungsweise, bei der diskursiv formulierte Passagen in die Erzählung eingebaut sind, unbefriedigend erscheinen. Man kann von diesem Standpunkt aus auf jegliche Traktatstruktur verzichten und doch den Anspruch auf belehrende Wirkung beibehalten. Für den Interpreten werden in diesem Zusammenhang die konkreten Anweisungen interessant, die die Poetiken gegeben haben, um sinnliche Vorstellungen beim Leser zu erwecken. Auch die Aufklärungspoetiker, nicht bloß Gottsched, greifen in dieser Frage auf den Erfahrungsschatz der Rhetorik zurück. In der Rhetorik kommt der narratio probabilis die Aufgabe zu, den strittigen Sachverhalt so darzustellen, daß die Zuhörer in der folgenden Argumentation von der Glaubwürdigkeit des Parteistandpunkts überzeugt werden können. 164 Dabei hat der Redner vor allem dann alle Kunstmittel der Darstellung einzusetzen, wenn die res in der narratio nicht den realen Tatsachen entsprechen. Das Mittel zur Herstellung der Wahrscheinlichkeit, zusammengefaßt unter dem Begriff der evidentia ist die »lebhaft detaillierte Schilderung eines (...) Gesamtgegenstandes (...) durch Aufzählung (wirklicher oder in der Phantasie erfundener) sinnenfälliger Einzelheiten«,165 wodurch der Zuhörer in eine vorgestellte Augenzeugenschaft versetzt werden soll. Um das Publikum in diesen Zustand versetzen zu können, muß der Redner in seiner Vorstellung den darzustellenden Gegenstand in allen seinen sinnenfälligen Einzelheiten reproduzieren. »Die Detaillierung des Gesamtgegenstandes (...) ist ein Produkt des Phantasieerlebnisses (...) im Autor und

li4 165

vgl. Lausberg, S. 181 (SS 3 2 3 , 3 2 4 , 325) und S. 190, ($ 348). Lausberg, S. 399. Vgl. zum Folgenden S. 399ff.

177

hat dementsprechend auf das Publikum eine >realistische< (...) und affekterregende Wirkung.« 166 Auf dieser Grundlage gibt Gottsched seine Empfehlungen zur Herstellung einer Illusion: »Die Nachahmung der Natur (...) kann auf dreyerley Art geschehen. Die erste ist eine bloße Beschreibung, oder sehr lebhaffte Schilderey von einer natürlichen Sache, die man nach allen ihren Eigenschaften, Schönheiten oder Fehlern, Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten seinen Lesers k l a r u n d d e u t l i c h vor die Augen mahlet, und gleichsam mit lebendigen Farben entwirft: so daß es fast eben so viel ist, als ob sie wirklich zugegen wäre« (VCD I, S. 195, Hervorhebg. von mir). Die besondere Art der »anschauenden Erkenntnis« hat Gottsched hier noch nicht erkannt. »Beschreibung« und »Schilderey« sind bei ihm noch nicht, wie bei Breitinger, unterschieden. Auch die Verwendung der Termini »klar« u n d »deutlich«, die im zeitgenössischen Sinn der Cognitio clara et distincta gelesen werden müssen, gibt den Hinweis, daß Gottsched den Unterschied diskursiver und bildhafter Beschreibungen noch nicht kennt. Über die Beschreibung setzt Gottsched freilich die E r z ä h l u n g , die » B e g e b e n h e i t « , um den Leser illusionieren zu können. Die »Fabel«, definiert als »die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit« (VCD I, S. 204), ist für Gottsched »Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst« (VCD I, S. 202). Evidentia wird demnach erreicht durch detaillierte Beschreibung des fiktiven Gegenstands und durch Umsetzung des Gegenstands in erzählbare Handlungsverläufe. Wenn der Dichter eine »mögliche Welt« darzustellen habe, die »bey der itzigen Ordnung der Dinge sehr unglaublich« (VCD I, S. 206), aber dennoch möglich sei, müsse er besonders darauf achten, solchen Erzählungen »einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit« (VCD I, S. 207) zu geben. In diesem Fall empfiehlt Gottsched, Umstände hinzuzuerfinden, unter deren Voraussetzung das Unglaubliche glaubhaft erscheine; der Autor müsse »eine Fabel durch die andere wahrscheinlich machen« (ebda.). Gottsched empfiehlt hier, und das ist im Hinblick auf spezifische Schwierigkeiten der utopischen Erzählung festzuhalten, den schrittweisen Aufbau der unglaublichen Fiktion aus Fiktionen, die der Erfahrungswelt des Lesers näher stehen. Baumgartens Bestimmung der poetischen Beschreibung mit dem Begriff der »extensiven Klarheit« im Gegensatz zur begrifflichen Beschreibung, deren Kennzeichen »intensive Klarheit« ist, trennt schärfer als Gottscheds Bestimmungen diskursive und bildhafte Beschreibungsformen. Wie Gottsched führt auch Baumgarten die Unterscheidung von Beschreibung und Erzählung weiter: Da die Dichtung im Gegensatz zur Malerei auch die Bewegung darstellen könne, gebe sie von einem Gegenstand mehr zu erkennen als die Malerei und sei deswegen von größerer extensiver Klarheit als diese.167 Die Intensität der Illusion wird demnach durch das Moment der Erzählung gesteigert. U6 147

Lausberg, S. 402. vgl. Baumgarten, S. 17f., § XL: »Pictura cum repraesentet phantasma in superficie tantum, eius non est omnem situm ullumque motum repraesentare, sed est poeticum, quia his etiam repraesentatis plura in objecto repraesentantur, quam non repraesentatis iis, 8c hinc fit illud extensive clarius (...).«

178

Breitinger übernimmt, wie bereits zitiert, die Unterscheidung verschiedener Beschreibungsformen, und er verweist an den entsprechenden Stellen auf Quintilians Rhetorik. 1 6 8 Darüber hinaus hält er auch fest, daß im Gegensatz zur Malerei die Dichtung durch das Moment des Zeitverlaufs und der Bewegung noch an Lebendigkeit und damit an illusionierender Wirkung 1Μ gewinnt.

Die Anweisungen, die in den zeitgenössischen Poetiken für die wahrscheinliche Erzählweise gegeben werden, zeigen die darstellungstechnischen Konsequenzen, die sich aus der grundlegenden Gattungsintention der narratio verisimilis für die utopische Erzählung im 18. Jahrhundert ergeben könnten: Abbau der diskursiv formulierten Passagen und möglichst weitgehende Formulierung des Textes in narrativen und bildhaften Strukturen. Nur so kann nach der Auffassung der Zeit die Phantasie des Lesers eingenommen werden, und dies ist genau der Ansatzpunkt, von dem aus der Autor einer utopischen Erzählung die Bewußtseinsprozesse des Lesers in Gang bringen will. 4. Die utopische Erzählung wird in den Poetiken der Aufklärung ausdrücklich nur bei Gottsched erwähnt. Auch diese Stelle ist nicht als typisch für die Haltung der Aufklärungspoetik anzusehen, weil Gottsched nicht überall seinen theoretischen Ansatz durchhält. Bei der Behandlung der utopischen Erzählung reproduziert er im Wesentlichen nur die polyhistorische Überlieferung. Einer der Gründe für das Schweigen der Poetiken ist die Tatsache, daß die Gattung nicht zum Kanon poetikfähiger Texte gehörte. Es kommt als zweiter Grund hinzu, daß Gottscheds Dichtkunst der letzte Versuch war, im Rahmen einer umfasli8

1KünsteSpectateur< und sein Shakespearebild, zugleich ein Beitrag zur kontinentalen Frühgeschichte der moralischen Wochenschriften«, in: Shakespeare-Studien, Festschrift für Heinrich Mutschmann, hrg. von Walter Fischer und Karl Wentersdorf, Marburg 1951, S. 1 2 7 - 1 6 0 , S. 130f. vgl. Blassneck, S. 5 3 - 5 5 . vgl. die Nachweise bei Scheibe, S. 1 9 1 - 2 3 7 .

191

Übersetzung lobend erwähnt und der kritisierten Versübertragung Neukirchs gegenübergestellt. 3 7 Das eigenständige schriftstellerische W e r k Sinolds wird von ihm selber durch die W a h l verschiedener Pseudonyme gruppiert. Die erste Gruppe bilden Kirchenlieder und religiöse Erbauungsbücher für den täglichen Gebrauch privater Hausandachten und persönlicher Meditation. T e x t e dieser Sparte erscheinen unter dem Pseudonym »Amadeus Creutzberg« oder latinisiert »Amadeus ä M o n t e Cruris«. Als Erbauungsschriftsteller w a r Sinold offenbar erfolgreich. Die Betrachtungen

auf alle Tage

des gantzen

Jahres

Gottseeligen

waren die tägliche

Lektüre Friedrich Wilhelms I. von Preußen und sind 1 8 5 6 noch neu herausgegeben worden. 3 8 Eines der Erbauungsbücher Sinolds erscheint auch in der exemplarischen »Frauenzimmerbibliothek« im Hamburger Patriot:

Die Liste der religiösen Literatur enthält »Amadei Creutzbergs

Betrachtungen des Leidens Christi«. 3 9 Die Empfehlung im Patriot

ist

bemerkenswert, weil ansonsten die Verfasser der Wochenschriften ihre Absichten von denen der Pietisten klar abgrenzen und die Erscheinungsformen des Pietismus kritisieren. 4 0 37

38 39

40

vgl. Breitinger CD, Bd. II, S. 184ff. Mit der Übersetzung dieses Textes befindet sich Sinold freilich schon außerhalb der strengen Doktrin des Hallischen Pietismus. Im Kreis um Francke war jeder Roman verpönt. Hieronymus Freyers Behandlung der Romane im Schulprogramm des hallischen Pädagogiums nennt dabei auch Fenelons Telemaque ausdrücklich als schädlichen Roman. Vgl. Hieronymus Freyer, »Vom Romanlesen«, in: Ernst Weber (Hrg.), Texte zur Romantheorie I (1626-1731), München 1974, S. 539-547, S. 546. vgl. Brümmer, S. 400f. und Barthold, II, S. 227. vgl. Der Patriot. Nach der Originalausgabe Hamburg 1724—26 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch herausgegeben von Wolfgang Martens, Berlin 1969—1970, Bd. I, S. 67, Nr. 8. Zur Einschätzung dieser Liste durch orthodoxe Theologen vgl. Wolfgang Martens, »Die Flugschriften gegen den Patrioten (1724). Zur Reaktion auf die Publizistik der frühen Aufklärung«, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730, Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag, S. 515-536, S. 526-528: Die Liste enthalte »Papistische / Calvinistische / und andere Schwarm-Bücher«, bemerkt ein zeitgenössischer Rezensent. vgl. Martens, Botschaft der Tugend, S. 259. Auf S. 260 und S. 324 weist Martens jedoch darauf hin, daß zwischen den Wochenschriften und dem Pietismus zwar ein Dissens in der Begründung des Handelns besteht, daß die praktischen Folgerungen zumindest beim Pietismus Franckescher Prägung ähnlich sind: Beidemale ist im Vergleich zur Haltung des 17. Jahrhunderts der Wille zu verspüren, die Wirklichkeit konkret zu verändern, nicht bloß ihre Verworfenheit zu konstatieren. Im Gegensatz zu Martens bin ich der Meinung, daß die Wochenschriften von den Bemühungen der Pietisten wohlwollend Notiz genommen haben, sie gebrauchen nur dort nicht den Namen. Wo von Pietisten in den Wochenschriften die Rede ist, meinen sie nur die mystischen und schwärmerischen Randerscheinungen. Man vgl. dazu im Patriot die Nummer 131 (Bd. III, S. 210ff.), in der mit großer Sympathie der Hof eines Landadeligen beschrieben wird, dessen Verhalten ganz den pietistischen Forderungen entspricht. 192

Die Glückseeligste Insul gehört zur zweiten Gruppe, zu Sinolds Satiren.41 In den Texten dieser Gruppe will er zeigen, in welcher Weise der religiös begründete Standpunkt des Pietismus über die Veränderungen des privaten Lebens hinaus Konsequenzen für die Beurteilung der öffentlichen Ordnung nach sich zieht. Unter Verwendung der verschiedensten Verfahren der tradierten Satire unterzieht er in diesen Werken die zeitgenössischen Verhältnisse in den kirchlichen Gemeinden, im gesellschaftlichen Leben und in der Politik der absolutistischen Staaten einer scharfen Kritik. Diese Textgruppe erscheint unter dem Pseudonym »Ludwig Ernst von Faramund« oder »Faramond«. Während seiner Verwaltungstätigkeit im schlesischen Fürstentum Oels beschäftigte sich Sinold auch mit kirchengeschichtlichen Fragen. Unter dem Pseudonym »Irenicus Ehrenkron« brachte er 1715 eine zweibändige Schlesische Kirchen-Historie heraus. Insgesamt ergibt sich aus der Biographie und dem schriftstellerischen Gesamtwerk Sinolds das Bild eines Verwaltungsbeamten kleiner Territorien, der unmittelbaren Einblick in die politischen Verhältnisse seiner Zeit nehmen und vor allem in pietistisch geprägten Territorien Erfahrungen sammeln konnte. Der Schriftsteller Sinold ist Verfasser von Gebrauchsliteratur, die dem Zweck dient, den religiösen, moralischen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Gruppen um Spener und Francke Verbreitung zu verschaffen.

II. Die Glückseeligste Insul in Selbstauslegungen des Textes In der Glückseeligsten Insul bedient sich Sinold zum Zweck der Verbreitung pietistischer Vorstellungen der tradierten Struktur der utopischen Erzählung. Auskunft über sein Gattungsbewußtsein und sein Verständnis der Gattungstradition geben die Selbstauslegungen des Textes in Titel, Vorrede und Einleitung, mit denen er Leseanweisungen und Verständnishilfen gibt. 1. Das Titelblatt gibt in geraffter Form den Inhalt des Textes wieder und informiert gleichzeitig über die Textstruktur und die Gattungszugehörigkeit. Dem Leser der Glückseeligsten Insul werden zwei inhaltliche Komplexe angekündigt: ein Bericht über den Verlauf einer Entdek41

Zwei dieser Satiren, Das unchristliche Christenthum (1717), Das Reich der Eitelkeit von Thorheit (1732) werde ich noch analysieren. Vgl. mein Kap. IV, I, 3, S. 318ff.

193

kungsfahrt und eine Beschreibung einer neu entdeckten Insel. Der zweite Komplex wird dabei im Titel vorrangig behandelt, da die einzelnen Unterpunkte dieser Beschreibung bereits genannt werden, während über den Reiseverlauf keine Einzelheiten angekündigt werden. Dieser Titelform kann der Leser entnehmen, daß der Text einem bekannten literarischen Strukturmuster folgen wird: Der Titel kündigt ihm einen Reisebericht mit einem großen geographischen Exkurs an. Nicht abenteuerliche Erlebnisse einer Seefahrt werden ihm angekündigt, sondern eine wissenschaftliche Topographie mit Informationen über Lage, Klima, Bodenbeschaffenheit, Verhaltensnormen der Bewohner und Organisation des öffentlichen Lebens in einem neu entdeckten Land.42 Der Leser erfährt aus dem Titel auch noch einen inhaltlichen Aspekt des beschriebenen Landes. Die Insel wird als die »glückseeligste Insul auf der ganzten Welt« bezeichnet, ihr Name ist »Land der Zufriedenheit«. Den Grund für das Glück und die Zufriedenheit der Bewohner gibt die Inschrift des Titelkupfers an: »O Seegen volles Land! mit allem Wohl umgeben Wo Fried, Gerechtigkeit u. Treu verbunden leben.« Dem Leser wird damit die Beschreibung eines Landes angekündigt, dessen Bewohner im Besitz der höchsten sozialen Tugenden sind, und damit ist der Leser darüber informiert, daß er einen Text der Gattung Ficta respublica vor sich hat. Der Autor bedient sich einer Titelform, die in ihrer ursprünglichen Funktion eine Textstruktur zur Übermittlung empirischer Daten ankündigt, aber ein ausdrücklicher Anspruch auf die Tatsächlichkeit der dargestellten Fakten, wie er im gleichzeitigen Avanturierroman schon im Titel üblich ist,43 wird nicht erhoben. Der Titel verbindet die Ankündigung einer offensichtlichen Fiktion mit der Geste authentischer Berichterstattung und verweist damit auf die Kombination von Fiktivität und Wahrscheinlichkeit, die auch von der zeitgenössischen Gattungstheorie der utopischen Erzählung wahrgenommen worden ist.

42

43

Diese gegenüber dem Titel der Utopia bemerkenswerte Auflistung der wichtigsten Sachpunkte ist bereits im Titel des Königreichs Ophir vorgeformt worden, wo die behandelten Sachpunkte bis in die letzten Einzelheiten der Staatsverwaltung aufgegliedert werden. Der Leser bekommt hier den Eindruck, die verwaltungswissenschaftliche Beschreibung eines Regierungssystems vorgesetzt zu bekommen, und er hat damit auch Recht. Welchen Sinn eine so »unpoetische« Darstellungsweise von erdichteten Zuständen bei der Überredung des Lesers haben könnte, wird uns noch beschäftigen. vgl. Spiegel, S. 14ff. und S. 18.

194

2. In der Vorrede 44 behandelt der Autor die Frage nach der Faktizität des dargestellten Landes und die Frage nach der intendierten Funktion der Darstellung. Es fällt auf, daß bei der Behandlung der ersten Frage die Vorrede keine eindeutige Antwort gibt. Das »Land der Zufriedenheit«, so wird dem Leser zunächst zugegeben, werde er in den »sogenannten Atiantibus und Land-Charten-Büchern vergeblich suchen«. Damit sei aber noch keineswegs gesagt, daß es dieses Land nicht gebe, denn man wisse, daß die Erde noch längst nicht vollständig entdeckt sei. Es gebe auf den Landkarten einen ziemlich großen leeren Fleck, der mit dem Namen Terra Australis incognita ausgefüllt sei. Ein Urteil, ob es das »Land der Zufriedenheit« gebe, sei deshalb beim jetzigen Wissensstand der Geographie gar nicht möglich, man solle die Entscheidung aufschieben, bis die ganze Erde erforscht sei. Diese Argumentation ist zur Abfassungszeit des Textes immer noch mehr als eine konventionelle Floskel. In den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts gab es über die Verhältnisse im Bereich des Pazifischen Ozeans nur lückenhafte Verstellungen.45 Es gab im 16. und 17. Jahrhundert nur zwei von spanischen Schiffen benutzte Routen zur Überquerung des Pazifik, auf denen man kein Land berührte. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein war deswegen der Pazifik eine unbekannte Wasserfläche, der sich die Phantasie nicht nur der Dichter, sondern auch der wissenschaftlichen Geographen angenommen hatte. Auf Grund der theoretischen Vorstellung von einem notwendigen Gewichtsausgleich zwischen den Landmassen der nördlichen und südlichen Halbkugel vermutete man im Südpazifik einen großen Erdteil, die Terra Australis. Zur Abfassungszeit des Textes waren auf der Suche nach der Terra Australis nur die Salomonen,46 Tasmanien und Neuseeland47 entdeckt worden. Vom nördlichen Pazifik hatte man nur vage Vorstellungen. Der Verlauf der Westküste Nordamerikas nördlich von Kalifornien war völlig unbekannt. 48 Erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts begann man den 44

45

46

47 48

Zur Tradition und Funktion der Vorrede im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Hans Ehrenzeller, Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul, Bern 1955; und Ernst Weber, Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Zur Theorie und Praxis von »Roman«, »Historie« und pragmatischem Roman, Stuttgart 1974, S. 19-40. vgl. zum Folgenden Hans Plischke, Der Stille Ozean, Entdeckung und Erschließung, München - Wien 1959, S. 25f. entdeckt im Jahre 1568. Man glaubte damals, das biblische Land Ophir, aus dem Salomo Gold eingeführt hatte, wiederentdeckt zu haben. Im Jahre 1642/43; vgl. Plischke, S. 30. Eine Karte von Amerika in einem Atlas aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Johann Baptist Homann (Atlas novus terrarum orbe imperia regna et status, UB Kiel) läßt auf ganz unklare Vorstellungen schließen. Nördlich 40° nördlicher Breite zeichnet der Kartograph eine Küstenlinie quer über den Pazifik ein, die er »Costa Terrae Boraelis« nennt. Man hat also entsprechend der Terra Australis auch eine Terra Borealis im Norden angenommen.

195

Pazifik systematisch zu erforschen. 1767 wird dabei Tahiti entdeckt.49 Die Fülle von phantastischen Vorstellungen, die durch die Entdeckung Tahitis hervorgerufen wurden, dokumentiert die Bereitschaft der Europäer im 18. Jahrhundert, in den Verhältnissen der Südsee die eigenen Wunschvorstellungen realisiert zu sehen und stilisierte Beschreibungen als Tatsachenberichte zu akzeptieren. Der gesamte pazifische Bereich bekam in der europäischen Vorstellungswelt erst im späten 18. Jahrhundert seine heute bekannten Konturen. Dies ist das Verdienst der wissenschaftlich geplanten Entdeckungsfahrten von James Cook, die zwischen 1768 und 1780 stattfanden. 50 Erst jetzt wird die Vermutung widerlegt, daß es im Süden des Pazifik eine große Landmasse gebe. Reiseberichte waren überdies im 18. Jahrhundert in jedem Fall auf den Glauben der Leser angewiesen. Der Leser des 18. Jahrhunderts stand bei der Lektüre eines solchen Berichts vor der Entscheidung, ohne den Beweis fotographischer Dokumente der Wahrheitsbeteuerung des Berichterstatters zu vertrauen. Er konnte nur aus dem Vergleich des Berichteten mit der eigenen Erfahrung die Entscheidung treffen, daß die Existenz der dargestellten Wirklichkeit zumindest nicht auszuschließen ist. Im Gegensatz zu Informationsvorgängen mit modernen Nachrichtenmedien, die eine direkte Teilnahme an räumlich entfernter Erfahrung ermöglichen, war der Prozeß der Informationsübermittlung im 18. Jahrhundert auf Medien angewiesen, die einen Akt des Vertrauens in die Zuverlässigkeit des Berichterstatters notwendig machten. Fiktive Reiseberichte, die ihre Fiktivität in keiner Weise signalisierten und Fakten berichteten, die nicht außerhalb jeglicher Erfahrung lagen, konnten von authentischen Reiseberichten nicht unterschieden werden, es sei denn, man hätte sich aufgemacht, um sich an Ort und Stelle von der Wahrheit des Dargestellten zu überzeugen. Die Nachahmung der Darstellungsstrukturen authentischer Reiseliteratur hatte deswegen einen hohen Illusionswert.51 M a n hat bei der Argumentationsweise des Vorworts den Eindruck, als wolle der Autor beim Leser einen Rest des Zweifels über die Frage der Authentizität zurücklassen, als wolle er bei ihm die Bereitschaft wecken, sich das dargestellte Land wenigstens während der Lektüre als existierend vorzustellen und dabei das Wissen um dessen Fiktivität zunächst einmal auszuschalten. D a s nächste Argument des Vorworts läßt diese Strategie noch deutlicher hervortreten: »Bey dieser Gelegenheit muß ich meine Schwachheit bekennen, daß ich mich nemlich des Lachens niemahls enthalten kan, so offt es mir einfället, was 49 50 51

vgl. Plischke, S. 37f. vgl. Plischke, S. 39ff. Sinold spricht selbst davon, daß man vor den Fahrten des Amerigo Vepucci über Amerika »sehr geringe und ungewisse Nachricht davon gehabt, bey welcher sich mehr fabelhafftes Wesen, als Wahrheit befunden: Denn von weit entferneten Orten pfleget man bekannter massen gerne die grösten Lügen auszusprengen« (Gl, S. 1). Hier erinnert der Autor den Leser direkt daran, daß jeder Reisebericht ohne Wahrheitsgarantie ist, nicht bloß der vorliegende (zur Tradition dieses Hinweises auf Reiseberichte vgl. Swoboda, S. 92-96).

196

masen viele neugierige Gemüther zu erforschen sich unterstehen, ob und was vor Creaturen sich in denen Sternen befinden, indem sie dieselben nach ihrer weitsehenden Phantasie zu lauter Welten machen, und es ist zu verwundern, daß sie dem gemeinen Wesen von diesen neuen Welten noch keine LandCharten mitgetheilet haben (...).«

Indem der Verfasser den Leser an Reiseberichte in den Weltraum und an theoretische Spekulationen über die pluralite des mondes erinnert, stellt er einen Vergleichsmaßstab her, von dem aus die Phantastik der eigenen Erdichtung geradezu realistisch erscheint. Dieser Vergleich wird mit umgekehrten Vorzeichen wiederholt: Niemand zwinge den Leser dazu, alles zu glauben, was in dem folgenden Bericht stehe, »so wenig als man es dir verargen kan, wenn du nicht alles gläubest was in denen gedruckten und geschriebenen Zeitungen stehet«. Das scheint eine Relativierung des Wahrheitsanspruches zu sein, aber es setzt die Glaubwürdigkeit des eigenen Textes auf eine Stufe mit der Glaubwürdigkeit einer literarischen Gattung, die dem Leser als Medium der Information über empirische Tatsachen bekannt ist. Der Leser wird aufgefordert, dem Text genauso zu vertrauen wie den Zeitungsberichten: Im 18. Jahrhundert eine doppeldeutige Aufforderung! An dieser Stelle wird endgültig klar, daß es dem Autor gar nicht um eindeutige Information über den Wirklichkeitscharakter des Textes geht, sondern um eine bewußte Verwirrung des Leserurteils in dieser Frage. Die Vorrede enthält damit einerseits Informationen über den nachfolgenden Text, sie ist andererseits schon in die Illusionsstrategien des Textes selber integriert und von ihrem Aussagegegenstand nicht eindeutig getrennt. Damit weicht der Autor von der im 18. Jahrhundert üblichen Vorredenstruktur ab, die in der Regel »eindeutig, mehr oder weniger systematisch und informativ«52 ist, er hält sich aber, wie ein Blick auf die Utopia zeigt, an eine spezielle Gattungskonvention. Morus schreibt seine Vorrede in Form eines Widmungsbriefes an Peter Giles, den er als Augenzeugen des dargestellten Geschehens einführt. Er erinnert seinen Briefpartner an die gemeinsame Diskussion mit einem Fremden namens Raphael, die bereits ein Jahr zurückliege. Das vorliegende kleine Buch sei nun endlich das Protokoll jener Diskussion. Eigentlich hätte es schon längst fertig sein können, »quippe quum scires mihi demptum in hoc opere inveniendi laborem neque de dispositione quicquam fuisse cogitandum« (Utopia, S. 38). Wie um inventio und dispositio habe er sich auch um die elocutio nicht zu kümmern brauchen, da er in seiner Niederschrift möglichst genau die »neglecta simplicitas« (ebda.) der Sprache Raphaels habe nachah-

52

Weber, Selbstreflexion, S. 28.

197

men wollen. Sein Ziel sei, möglichst wahrheitsgetreu zu schreiben. Da er sich an eine Kleinigkeit im Bericht Raphaels nicht mehr richtig erinnern könne, möge ihm Petrus mitteilen, was er bezüglich der Länge der Brücke über den Anydrus in Erinnerung habe: »Nam ut maxime curabo, ne quid sit in libro falsi, ita si quid sit in ambiguo, potius mendacium dicam, quam mentiar, quod malim bonus esse quam prudens (Utopia, S. 40). Eine ungemein wichtige Information fehle ihm allerdings. Keiner habe Raphael gefragt, wo die Insel Utopia denn liege. Ein Theologe habe sich nämlich entschlossen, sich zum Bischof der Utopier weihen zu lassen und sie zu missionieren. Petrus möge sich bei Raphael darüber erkundigen. Den Schluß der Vorrede bildet eine Verteidigung seines Werkes gegen das Publikum und die Kritiker und eine Einordnung in die Gattung der Satire.53 Die Vorrede enthält nebenbei alle traditionell geforderten Elemente der Exordialtopik: 54 Der Leser erfährt den Inhalt und das Thema des Textes, die Geschichte seiner Entstehung, die Quellen und die Veranlassung des Autors, den Text niederzuschreiben. Der Redestil wird gerechtfertigt, das Werk gegen Kritiker verteidigt, und der Autor gibt schließlich noch Angaben über seine Person und seine Lebensumstände. Aber das Vorwort ist mehr als eine geschlossene Abhandlung über den folgenden Text, sie ist schon Teil der fiktionalen Erzählung von dem Gespräch mit Raphael, die den Inhalt des folgenden Buches ausmacht. Der Autor und sein Briefpartner sind in dieser Vorrede einerseits Personen der Erfahrungswelt, die über einen realen Gegenstand, das Buch, das der Autor seinem Briefpartner zuschickt, Informationen austauschen. Sie sind aber gleichzeitig schon in diesem Widmungsbrief zwei Figuren einer fiktionalen Erzählung, Teilnehmer an einer erfundenen Diskussion mit einer erfundenen Person, für deren Authentizität sie als reale Personen verbürgen und so die Wahrscheinlichkeit des Dargestellten absichern. Diese Strategie zum Aufbau einer Illusion wird aber im gleichen Vorwort durch den Gegensatz von erstrebter Wahrhaftigkeit und Detailgenauigkeit und den sprechenden Namen wieder aufgehoben. Überdies übernimmt der Autor seine Wahrheitsgarantie nur für den Wortlaut der Diskussionsbeiträge und den Verlauf des erzählten Gesprächs, nicht aber für die Wahrheit der Erzählungen des Diskussionsteilnehmers Raphael. Der Autor entzieht sich damit einerseits dem illusionszerstörenden Einwand des Lesers, ob er denn selbst in Utopia gewesen sei, er entzieht sich aber auch einer ausdrücklichen Wahrheitsgarantie für diesen Teil des Textes. Die Antwort auf die Frage nach der Fiktivität des Dargestellten wird demnach nicht direkt gegeben, sie bleibt bewußt unscharf. Der Text soll dem Leser ein anschauliches Bild von Utopia vermitteln, er soll sich in diese Vorstellung versetzen können — dem dient der Aufbau einer Wahrheitsfiktion —, er soll aber nicht zur diskursiv formulierbaren Überzeugung gelangen, daß es Utopia wirklich gibt - dem dient die ironische Aufhebung der Wahrheitsfiktion. 55 53 54 55

vgl. dazu Seeber, S. 48f. vgl. die Zusammenfassung dieser Elemente bei Ehrenzeller, S. 35-39. Dieses Spiel mit der Wahrheitsbeteuerung und deren ironischer Aufhebung wiederholt der Autor in einem zweiten Brief an Peter Giles, der in der Pariser Ausgabe von 1517 am Schluß des Textes beigefügt wird. Hier geht er noch einmal auf die Frage ein, ob die

198

Verglichen mit dem aufwendigen und sorgfältigen Einsatz des rhetorischen Mittels der Ironie, mit dem M o r u s in seiner Vorrede die Balance zwischen Illusion und Desillusion zu halten versteht, erscheint das V o r w o r t Sinolds sehr einfach. 5 6 Vor allem fehlt die für den Aufbau der fiktiven Authentizität notwendige Klärung der Erzählsituation. 5 7 Während T h o m a s M o r u s hier von Anfang an die Verhältnisse klärt, indem er sich selber als erlebendes Subjekt des erzählten Dialoges einführt, innerhalb dessen eine eigenständige Figur v o n Utopia erzählt, erfährt der Leser bei Sinold nichts über das Verhältnis des Autors zum Inhalt seiner Geschichte. Weder ist er selber das erlebende und mitbeteiligte Subjekt des erzählten Geschehens, noch erfährt man etwas v o n einer Instanz, die ihm den Inhalt vermittelt hätte. 5 8 D o c h davon abgesehen, bleibt bei Sinold die Grundstruktur der rhetorischen Strategien erhalten, die v o n

Erzählung erdichtet oder wahr sei, und enthüllt deren Fiktivität mit einem Hinweis auf die sprechenden Namen, den er allerdings wieder in eine ironische Beteuerung der Wahrheit einkleidet: Wenn er, so schreibt Morus an Giles, selber eine Schrift zum Thema der öffentlichen Ordnung hätte schreiben wollen und wenn ihm dabei eine Geschichte wie die eingefallen wäre, die Raphael erzählt, so hätte er sie sicherlich so geschrieben. Denn mit Honig bestrichen sei die Wahrheit akzeptabler für die Leute. Aber er hätte in einem solchen Fall durch sprechende Namen für die Gebildeten (litterariores, peritores) deutliche Zeichen gesetzt, die ihnen einen Hinweis darauf gegeben hätten, daß die Insel nirgendwo zu finden sei, daß die Hauptstadt nur ein Trugbild der Phantasie sei, usw. Dies wäre sicher geistreicher gewesen als die »barbarischen und bedeutungslosen« Namen »Utopia, Anydrus, Amaurotum und Ademus«, die er unter dem Zwang historisch getreuer Berichterstattung verwendet habe (vgl. Utopia, S. 250). Morus verläßt in der Formulierung selbst nie die Ebene der fiktiven Authentizität. Ironisch wird die Passage nur für die peritores, die mit ihren Griechischkenntnissen die Namen übersetzen konnten. Auch in diesem Brief verweist Morus wieder auf das Zeugnis des Hythlodäus. Man möge ihn nur selbst fragen, er sei noch nicht gestorben. Er selber könne sich nur für seinen eigenen Bericht verbürgen, nicht für den eines Fremden (vgl. S. 252). Zu diesem ironischen Einsatz der Wahrheitsfiktion im Widmungsbrief Mores und generell in der Gattung vgl. Gerber, S. 91. 56 Daß bei Sinold die poetischen Elemente der Gattung auf ein Mindestmaß zurückgeschraubt sind, wird in der Analyse immer wieder festzustellen sein. Die Gründe hierfür müssen nicht im Unvermögen des Autors gesucht werden, sondern eher in einem religiös begründeten Mißtrauen gegenüber der Dichtung. 57 »Erzählsituation« bezeichnet hier das Verhältnis des Erzählers zum Erzählinhalt. Die entscheidende Frage ist die nach der Herkunft des Erzählerwissens über die Informationen, die er mit seiner Erzählung gibt: Gibt er als Beteiligter die Information als Erleben oder Miterleben aus, oder stellt er sie als Unbeteiligter als vermitteltes Wissen über Dritte dar? Vgl. dazu Dieter Janik, Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein Semiologisches Modell, Bebenhausen 1973, S. 30-34 und S. 661. 58 Sinold hätte dabei wie Morus seine eigene Person in das Spiel mit der Fiktion hineinziehen müssen. Morus ist in seinem Widmungsbrief eine Person der Realität, gleichzeitig spielt er aber schon die fiktive Person >Morusaktuelle Diskussion< und >Reisebericht< gleichmäßig auf zwei Bücher verteilt sind und für die Projektion der Erzählung von Utopia auf die aktuelle Situation ein eigener fiktiver Rahmen erfunden wird. Sinold vereinfacht hier die Gattungsstruktur, indem er die erzählte Diskussion mit ihren unterschiedlichen Standorten durch unvermittelte und eindeutige Autorkommentare ersetzt. Ist die Erzählung von Utopia bei Morus Teil eines erzählten Dialogs, so ist sie bei Sinold Teil eines Traktats, dessen Sprecher nicht vom Erzähler der Entdeckungsreise und von dem im Vorwort auftretenden empirischen Autor unterschieden wird. Interpretationsschwierigkeiten, widersprechende Thesen über die wahren Absichten des Verfassers, wie sie für die Deutungsgeschichte der Utopia typisch sind, sind bei Sinold kaum zu erwarten. Der Verfasser hat in radikaler Weise für Eindeutigkeit in seinem Urteil über das »Land der Zufriedenheit« und über die europäische Gesellschaft gesorgt. Identisch mit der Utopia ist jedoch der Zweckbezug der Fiktion. Mit seinem Einleitungskommentar gibt der Autor zu erkennen, daß der Leser nie

59

Zum ersten Mal in der Geschichte der lutherischen Kirche haben die hallischen Pietisten die Heidenmission in Angriff genommen (vgl. Schmidt, Pietismus, S. 80ff.). Die Grundsätze der pietistischen Heidenmission waren im Kontrast zu den Praktiken der katholischen Kirche, namentlich zur Form gewaltsamer Massentaufen in Südamerika, formuliert. Im Gegensatz zu ihnen verlangte man von den Taufkandidaten eine begründete Entscheidung für den christlichen Glauben. Die jeweiligen Landessitten wurden nach der strengen pietistischen Moral beurteilt, weswegen man von den Neubekehrten die Absage an die jeweiligen Stammessitten verlangte. In diesem Punkt hatte die katholische Kirche immer versucht, die tradierten Landesgebräuche und auch die heidnischen Kulte zu belassen und mit der Ausübung des Christentums in Einklang zu bringen (vgl. zum Ganzen Carl Mirbt, »Pietismus«, Realenzyklopädie für protestan• tische Theologie und Kirche, 3. Aufl. Leipzig 1904, Bd. 15, S. 774-815, S. 806).

203

vergessen soll, die Fiktion als Hilfe zur Bewertung der Erfahrungswelt zu betrachten und sie jederzeit auf die aktuelle Redesituation zwischen Autor und Leser über die Normen des Handelns zu übersetzen. Darüber hinaus gibt der Autor mit dieser Einleitung auch inhaltliche Hinweise auf die Absicht, mit der er die Geschichte erzählen wird. Die Erörterung der bisherigen Entdeckungsreisen stellt eine Kontrastfolie her, deren Gegenteil die Absichten des eigenen Reiseberichts erkennen läßt: Die Reiseberichte von Columbus und Vespucci hatten nach dem Urteil des Autors nur die Absicht, die Europäer über den unermeßlichen Reichtum an Edelmetallen und Juwelen in den neuentdeckten Ländern zu informieren, weswegen es zu den bekannten bösen Folgen für die Eingeborenen und die Europäer gekommen ist. Das bedeutet für die Absicht der eigenen Erzählung, daß sie von keinen Reichtümern berichten, die Begierde nach Gold und Besitz nicht anstacheln, sondern verächtlich machen wird, und daß sie dazu dienen soll, die Ausübung des Christentums in Europa zu verbessern. Die Reisenden in der Erzählung treten ihre Reise nicht an, um Schätze zu sammeln wie die Spanier, sondern aus wissenschaftlichen und religiösen Gründen, zur Erweiterung ihres Kenntnisstandes und zur Vertiefung ihres Glaubens.60 Auch mit dieser Polemik gegen Reisen um des Besitzes willen ordnet sich der Text in die Gattungstradition ein. Seit der Utopia gehört die Kritik am Privateigentum, am Geld als seiner sichtbarsten Form und am »Geldgeiz« zu den wichtigsten Themen der Gattung. Die Argumentation Sinolds ist durch das Königreich Ophir vorgebildet, denn dieser Text enthält schon im Titel den Hinweis auf das Geld als Antrieb des Reisens in ferne Länder: Ophir ist ja, wie Eldorado, eines der sagenhaften Goldländer, die man im Zeitalter der Entdeckungen ernsthaft gesucht hat. 61 Das Vorwort dieses Textes nimmt diese Vorstellung zwar 60

61

vgl. S. 6: Eine englische Gesellschaft rüstet ein Schiff aus, damit »dasselbe seinen Lauff gegen West-Indien richten, und nicht ehe zurück kommen solte, biß es etwas merkwürdiges entdecket habe, welches allen bisherigen Schifffahrten annoch verborgen blieben wäre«. Dies war im späteren 18. Jahrhundert dann tatsächlich das primäre Motiv der Expeditionen von Bougainville und Cook (vgl. Plischke, S. 34ff.). Im Verlauf der Erzählung präzisieren die Seefahrer selber ihre Absichten gegenüber einem Eingeborenen des »Landes der Zufriedenheit« mit einem Hinweis auf den religiösen Sinn der Wissenserweiterung: »Sie berichteten ihm demnach, daß sie Europäer wären, welche ihre Gemächlichkeit und alle andere Vortheile ihres Vatterlandes verlassen hätten, um sich der Gefahr des wüttenden Meeres zu unterwerffen, und die Wunderwerke GOttes auf eine solche Weise zu betrachten, wie es vernünfftigen Geschöpften und wahren Christen gebührete« (S. 14). verbürgt durch die Nennung in der Bibel: 1 Kg., 9, 26-28; 1 Kg., 1 0 , 1 0 und 1 Kg. 10, 22.

204

auf, verspricht dann allerdings einen anderen Weg zum ersehnten Reichtum, nämlich die vernünftige Regierung eines Landes, die von selbst aus jedem Land ein Goldland machen soll (vgl. Ophir, S. 3 ff. und S. 607L). Mit der Distanzierung der erzählten Entdeckungsfahrt von solchen in der Wirklichkeit verbindet sich im Königreich Ophir ebenso wie in der Glückseeligsten Insul eine Kritik dieser Verhaltensweisen. Damit löst der Autor schon in den diskursiven Einleitungsparagraphen sein im Vorwort formuliertes Versprechen ein, einen Text mit kritischer Intention zu schreiben. Da er sich hier noch nicht der poetischen Mittel bedient, kann er in der Form der diskursiv formulierten Kritik dem Leser die logische Struktur der poetischen Verfahren in einfacher Form vorführen, die er im Text verwenden wird. Indem er ζ. B. die vorgegebene Absicht der Spanier bei der Eroberung Amerikas mit ihren wahren Motiven konfrontiert, zeigt er den logischen Ablauf der satirischen »Entlarvung«. Sinold bleibt dabei in seiner Ausdrucksweise im Bildbereich des Verhüllens und Enthüllens: »Wer etwas eigennütziges vorhat, dem ist es ein großer Vortheil, wann er sich mit dem Deck-Mantel einer fälschlich-vorgegebenen guten Meinung masquiren kan. Den Spaniern fehlete es hieran keinesweges, und es hätte mit der menschlichen Vernunfft kein besserer Vorwand erdacht werden können, als daß sie sageten: Man müsse in alle Welt gehen, und die Heiden bekehren (...)« (S.2)

Eine weitere satirische Technik, die im Text die größte Rolle spielen wird, ist die Konfrontation von Wirklichkeit und idealer Norm. Der Autor führt die Grundstruktur dieser Technik vor, indem er die »Bekehrungs-Art« der Spanier mit dem Verhalten Christi vergleicht und die fehlende Übereinstimmung des Vorbildes mit der vorgeblichen Nachahmung konstatiert: »Man that gerade das Gegentheil dessen, was Christus gethan hatte. Dieser predigte von der Busse, ermahnete mit Sanfftmuth und Demuth zur Bekehrung und Veränderung des Sinnes, (...) und verlangete von denenjenigen, welche er bekehren wolte, keinesweges reich zu werden (...). Die Spanier aber, welche doch vermeinen die Chrisdichste Christen zu seyn, kamen zu den armen nackenden Americanern mit Feuer und Schwerdt, und frageten wenig darnach, wie es um ihre Seelen, desto fleissiger aber, wie es um ihre Schätze stünde.« (S. 3f.)

Schließlich berichtet der Autor noch von der Interpretation, die die Eingeborenen aus ihrer Perspektive dem Vorgang der spanischen Eroberung gegeben hatten. Dabei weist er auf den wahren Kern dieser an sich inadäquaten Sicht des Vorgangs hin:

205

»Es wundert mich gar nicht, daß diese armen Creaturen gedachten, es kämen Missionarien von dem Satan zu ihnen, als sie sahen, daß die Spanier mit langen Dingern auf sie zieleten, welche Feuer speyeten (...)« (S.3). »Sie hatten bißhero den Teuffei angebetet, (.. .)• Anjetzo aber hätten sie lieber ihre Bekehrer, als eingefleischete Teuffei, auf solche Weise angebetet: Wer wundert sich denn nun, daß ein gewisser Americaner, als seine Frage, ob nemlich auch Spanier im Himmel anzutreffen wären, mit ja beantwortet wurde, sich vernehmen ließe, so verlange er demnach nicht in den Himmel zu kommen.« (S.5)

In der Weiterführung einer literarischen Tradition seit Las Casas werden Vorstellungen über die europäischen Christen aus der Sicht der Eingeborenen referiert, die sich ihre eigene Erklärung vom Zusammenhang der Ereignisse zurechtgemacht haben, hier vom Zusammenhang von Missionierung und Gewaltanwendung. Ihre Erklärung wirft ein charakterisierendes Licht auf die Fakten, deren Negativität durch die europäischen Erklärungskonventionen nur kaschiert wird. Indem der Autor diesen Standpunkt referiert, führt er die Struktur einer weiteren satirischen Technik vor, die er verwenden wird, nämlich die verzerrte Wirklichkeitsdarstellung aus der /«^««-Perspektive. Bei dieser Technik wird ein Beobachter mit einer Wirklichkeit konfrontiert, deren Struktur er nicht durchschaut. Nur auf Grund der sichtbaren Fakten sucht der ingenu einen Begründungszusammenhang herzustellen, der vom gängigen Begründungszusammenhang oft grotesk abweicht. Da der ingenu weder die tradierten Normen noch die unausgesprochenen Übereinkünfte zur Beurteilung von Fakten kennt, beurteilt er die Handlungen der Menschen bloß nach ihrem Ergebnis aus der Sicht einer voraussetzungslosen Vernunft. Selbstverständliche Vorstellungen über die Zusammenhänge der Erfahrungswirklichkeit werden damit in Frage gestellt. Im Verlauf der Erzählung Sinolds werden die Bewohner des »Landes der Zufriedenheit« mehrmals diese Rolle übernehmen. Der Autor führt den Leser an diese Technik schrittweise heran. Zwischen sein eigenes Referat einer /«^««-Perspektive in der zitierten Passage und der Konfrontation der Insulaner mit den Informationen über die europäische Realität schiebt er im Verlauf der Erzählung die Rede eines Eingeborenen der Insel »S. Isabelle« im Gebiet der Salomonen (vgl. S. 8ff.). Hier spricht bereits eine fiktive Figur über das Thema des Einleitungskommentars. Sie ist so konstituiert, daß sie die Missionierung der Spanier als eigene Erfahrung widergeben kann. Die Person ist noch auf einer geographisch erfaßbaren Insel angesiedelt. Die Perspektive dieses Insulaners nimmt somit zwischen der des Autors und der utopischen Insulaner eine vermittelnde Stellung ein. Die Rede dieses

206

Eingeborenen zeigt freilich nicht mehr die Naivität des Standpunkts, den der Autor selber referiert hatte: Er weiß, daß die Spanier keine mythischen Wesen sind, sondern nur »entsetzliche Leute« (S. 8), und er ordnet das Verhalten der Spanier in einen größeren Zusammenhang ein: Es ist für ihn beispielhaft für das Verhalten der Europäer insgesamt. Die kleine Zahl »guter und tugendhaffter Leute« (S. 9), auf die der Schiffskapitän zur Verteidigung Europas hinweist, ist nach den Worten des Eingeborenen schwerer zu finden als ein Goldkorn im Meersand, weil man bei den Europäern »den falschen von dem wahren Glantz der Tugend« (S. 10) nicht unterscheiden könne. In dieser Rede ist eine eigentümliche Vermischung satirischer Techniken zu beobachten: Der außenstehende ingenu ist gleichzeitig die wissende satirische Person. Sein Urteil ist nicht naiv und grotesk, sondern vernünftig und mit dem des Autors identisch. Die Bewohner des »Landes der Zufriedenheit«, die dann diese Rolle übernehmen werden, sind darüber hinaus auch noch Christen und Verkörperungen einer idealen Verhaltensnorm. In ihnen sind die Funktionen der satirischen Normfigur und des ingenu völlig vereinigt. Der Autor führt also den Leser schrittweise in die utopische Fiktion hinein und baut die satirische Perspektive so langsam auf, daß ihr Verständnis sichergestellt bleibt. Gleichzeitig ist die Rede des Insulaners auf den Salomonsinseln eine letzte Präzisierung des Themas, bevor die Erzählhandlung endgültig auf der »Insel der Zufriedenheit« ankommt: Hatte man in der Einleitung noch vermuten können, es sei eine bloße Satire über die Spanier und über die katholische Mission zu erwarten, so erfährt der Leser nun, daß die gesamte europäische Gesellschaft in allen Konfessionen erfaßt werden soll. Es läßt sich insgesamt festhalten, daß der Autor in seinen Aussagen über den Text ein klares Gattungsbewußtsein dokumentiert und dem Leser die Bedeutung der einzelnen Strukturmerkmale der Gattung unmißverständlich erläutern will. Offenbar hat er dabei ein Publikum vor Augen, das poetischen Texten reserviert gegenübersteht und deswegen wenig Erfahrung im Umgang mit derartigen Textstrukturen hat. Um Mißverständnisse zu vermeiden, geht der Autor in der Offenlegung der Textstruktur sehr weit. Der Text bietet für den Interpreten deswegen die Möglichkeit, an einem Exemplar der Gattung das leere Gerüst der Gattungsstruktur zu studieren.

207

III. Analyse der satirischen Überredungsstrategien 1. Der Textaufbau folgt einer einfachen Erzählhandlung: Eine Gesellschaft in England rüstet ein Schiff für eine Forschungsexpedition aus und wählt dazu einen Schiffskapitän namens Nettuno, 62 der auf früheren Expeditionen Erfahrungen gesammelt hat, »mit sonderbarer Geschicklichkeit in allerhand Wissenschaften gezieret, und der wahren Gottesfurcht ergeben« (S. 6) ist. Ihm werden seine Freunde Rosalves und Clorimenes als Begleiter zugeteilt, beide ebenso gelehrt und fromm wie Nettuno. Alle drei beherrschen die griechische und die hebräische Sprache. Die Reise, deren Verlauf vom Erzähler nicht weiter geschildert wird, führt zunächst in den pazifischen Ozean zur Insel S. Isabelle in der Gruppe der Salomonsinseln. Dort kommt es zu dem Gespräch der Engländer mit einem eingeborenen Heiden über die Mission der Spanier und den Zustand des europäischen Christentums. Nach dieser Zwischenlandung geht die Seefahrt im Pazifik in nördlicher Richtung weiter bis an die Treibeisgrenze.63 Dort kommen sie eines Tages an eine mit weißen Felsen umgebene Insel, die sie anfangs für eine Ansammlung von Eisbergen halten. Durch eine Lücke zwischen den Felsen gelangen sie in eine Bucht, von der sie das Innere der Insel überblicken können. Sie sehen ein fruchtbares Land mit mediterraner Vegetation, das die Spuren menschlicher Zivilisation trägt. Es ist in gleichmäßige Felder abgezirkelt und mit Kulturpflanzen bebaut. Sie treffen am Ufer einen fremdartig gekleideten Menschen, der sie in hebräischer Sprache begrüßt - eine Verständigung ist wegen der Sprachkenntnisse der drei Expeditionsführer möglich. Dieser Bewohner erweist sich als der »Stadthalter» der nächstgelegenen Stadt, der für die Unterkunft der Schiffsmannschaft sorgt und Nettuno mit seinen beiden Gefährten bei sich einquartiert. Sie besichtigen die Stadt und führen am Abend mit dem »Stadthalter« ein

62

63

Die echten Namen will der Erzähler nicht nennen (vgl. S. 6). Auch Morus gibt ja nicht preis, wo Raphael zu finden ist. Wie im Vorwort fehlt eine zufriedenstellende Auskunft, in welchem Verhältnis der Erzähler zu Nettuno, dem Gewährsmann der Erzählung, steht. Mit dieser Bestimmung eines klimatischen Details gibt der Autor dem Leser eine Hilfe zur ungefähren geographischen Einordnung der »Insel der Zufriedenheit«. Sie liegt im unentdeckten Bereich des nördlichen Pazifik. Im Atlantik, dessen Verhältnisse dem Leser des 18. Jahrhunderts bekannt sein konnten, verläuft die Treibeisgrenze zwischen 40° nördlicher Breite an der Ostküste Amerikas und 60° nördlicher Breite in Europa. Die »Insel der Zufriedenheit« denkt sich der Autor demnach im Pazifik zwischen 40° und 60° nördlicher Breite, d. h. etwa auf der Höhe von England, Irland oder Neufundland.

208

Gespräch, in dessen Verlauf sie erste Erläuterungen ihrer Eindrücke bekommen. Sie erhalten Informationen über Besiedlung und Christianisierung des Landes, und es werden ihnen die Landesgebräuche erläutert, die Art der Kleidung und der Bücherbesitz. Nach dem abendlichen Gespräch werden die Reflexionen Nettunos über diese Eindrücke vor dem Einschlafen geschildert: Er vergleicht die einfache Tracht der Insulaner mit der modischen Kleidung in seiner Heimat. Am nächsten Tag besuchen die Europäer einen »Kirchen-Lehrer«, den sie bei der Gartenarbeit antreffen. Er informiert die Fremden über alle Fragen der Religionsausübung. In ihrem Quartier führen die drei Gefährten danach ein langes Gespräch, in dem sie die religiösen Verhältnisse und die Kirchenverfassung der Insel mit denen bei ihnen zuhause vergleichen und zu einer negativen Bewertung des europäischen Christentums kommen. Einen Tag später gehen sie wieder in der Stadt umher und informieren sich über das tägliche Leben der Bewohner, über Handwerk, Handel, Gasthäuser und Familienleben. Nach einigen Wochen Aufenthalt in dieser Küstenstadt begeben sie sich ins Landesinnere in die Hauptstadt, um den König des Landes zu besuchen. Sie besichtigen die königliche Hofhaltung und lernen das Regierungssystem des Landes kennen. Dabei werden in loser Aneinanderreihung und ohne Bezug zu Erlebnissen der Europäer noch eine Reihe weiterer Themen behandelt, die für die öffentliche Ordnung des Landes von Belang sind und sich nicht in den Verlauf der bisherigen Handlung haben einfügen lassen. Schließlich wird noch berichtet, daß die Engländer schon ein ganzes Jahr auf der Insel zugebracht haben. Sie haben einigemale schon geplant, »ihre übrige Lebens-Zeit in stiller Ruhe und in der Gesellschaft solcher rechtschaffenen Christen zuzubringen« (S. 242), kommen aber schließlich zu dem Entschluß, nach Europa zurückzukehren »und unter ihren Landes-Leuten dasjenige auszuüben, was sie allhier gelernet und erfahren hatten« (ebda. f.). Sie lassen sich auch vom König nicht zum Bleiben überreden, weil sie es für ihre Pflicht halten, den Europäern von diesem vorbildlichen Staat zu berichten. 64 Der König tröstet sich damit, daß sie sich im Himmel Wiedersehen werden, »allwo sie das rechte Land der Zufriedenheit antreffen würden« (S. 248). Sie müssen sich eidlich verpflichten, die Lage der Insel zu verschweigen. Nach einigen Monaten

64

Man vgl. dazu die Kritik der Einleitung an Reiseberichten, die nur die Begierde nach Gold anstacheln und das Christentum nicht verbessern. Zu diesem Motiv vgl. Utopia, S. 106: Raphael sagt, er wäre nicht von Utopia weggegangen, »nisi ut novum ilium orbem proderem«.

209

kommen sie in England an. In London sehen sie »so viele Sünden-Greuel (...), daß sie unterweilen die Reue ankam, sich nach ihrem Vaterland zurück begeben zu haben.« (S. 250). Die Skizze des Handlungsablaufs zeigt gegenüber dem Muster der Utopia drei Veränderungen: a) Während in der Utopia die Haupthandlung eine Diskussion ist, innerhalb derer die Entdeckungsreise als Diskussionsbeitrag berichtet wird, ist bei Sinold diese Entdeckungsreise die einzige Handlung. b) Die Beschreibung Utopias durch Hythlodäus geschieht als thematisch gegliederte,65 generalisierende Zusammenfassung von Einzelbeobachtungen, die der Berichterstatter während seines Aufenthalts gemacht hat. Die Abfolge der Themen wird nicht von der Reihenfolge der Erfahrungen des Reisenden bestimmt. Nur gelegentlich wird in die allgemein gehaltene Beschreibung ein konkretes Erlebnis des Reisenden zur Veranschaulichung der allgemeinen Feststellungen beigefügt.66 Der Bericht von Utopia ist nicht die Erzählung eines Erfahrungsprozesses, sondern die diskursive Zusammenfassung und Erläuterung von Beobachtungsdaten, deren Sammlung zu Beginn des Berichts bereits abgeschlossen ist. Für den Ausgangspunkt Sinolds ist es wichtig, daß sein unmittelbarer Vorgänger in der deutschsprachigen Literatur, der Verfasser des Königreichs Ophir, diese diskursive Darstellung eines fiktiven Raumes in extremer Form ausgebildet hat. Erzählbare Handlung, wie Reise zur utopischen Insel und Aufenthalt auf ihr, wird in diesem Text fast vollständig vorausgesetzt. Alles, was ausdrücklich darüber gesagt wird, steht in dem Satz des Vorworts, daß man das Glück gehabt habe, in das Land Ophir hineinzukommen, und sich dort öffentlich umgesehen habe. Danach beginnt sofort die Beschreibung, die jedoch auf einen nicht explizierten fiktiven Erfahrungsprozeß des Berichterstatters rückbezogen wird: »Wer in ein gantz frembdes und unbekandtes Land kömmt / ist vor allen Dingen bemühet zu erforschen / was die Leute und Innwohner desselben für

65

66

vgl. Utopia, S. 108: Die Zuhörer verlangen von Raphael eine expositorische Beschreibung: »describe nos insulam. nec velis esse brevis, sed explices ordine, agros, fluvios, urbes, homines, mores, instituta, leges, ac denique omnia, quae nos putes velle cognoscere«. vgl. ζ. B. Utopia, S. 152ff. (Gesandtschaft der Anemolier), S. 180ff. (die Utopier lernen Griechisch und übernehmen den Buchdruck), S. 184 (Aufnahme der Besucher durch die Utopier), S. 216f. (Utopier werden zum Christentum bekehrt).

210

einer Religion? (...) Sothane Sorge ist auch unsere Vornehmste gewesen / als [wir L. S.] dieses berühmte und von vielen gesuchte Land Ophir betreten haben. Weßwegen wir denn von desselben Religions-Zustand / und der Inwohner Lehre und Leben den Anfang machen wollen.« (Ophir, S. 8-10) Dieser Text ist nur mehr implizit narrativ. Der Erfahrungsprozeß, der der Beschreibung vorausgeht, muß vom Leser hinzugedacht werden, auch die Verallgemeinerung und Analyse der Einzelbeobachtungen muß man sich vor der Niederschrift des Reiseberichts denken. Sinold versucht offenbar gegenüber der Utopia und dem Königreich Ophir eine andere Lösung: Die Beschreibung der utopischen Insel folgt bei ihm dem zeitlich strukturierten Beobachtungsvorgang der Reisenden. Damit wird aus der Beschreibung und Analyse des fiktiven Gegenstandes die Erzählung eines Beobachtungsvorgangs. 67 Wie weit diese für die Illusionierung des Lesers wichtige Umformung gelungen ist, wird uns noch im Verlauf der Analyse beschäftigen. c) Durch die Reduzierung des Aufbaus aus Rahmenerzählung und Binnenerzählung auf die bloße Binnenerzählung ändert sich bei Sinold auch die Gewichtung der fiktiven Räume, in denen sich die Erzählung abspielt. In der Utopia findet die aktuelle Diskussion der gegenwärtigen Verhältnisse in einem fiktiven Raum statt, der in der empirischen Wirklichkeit lokalisiert wird; die Normfigur ist im Raum der utopischen Insel angesiedelt. Die beiden fiktiven Räume sind dabei nicht nur im Verlauf der erzählten Reise durch das Meer als Raumgrenze getrennt, sondern die Darstellung der Norm und die Anwendung dieser Norm bei der Kritik der Erfahrungswelt sind auf zwei getrennte Textabschnitte verteilt, Buch I dient vornehmlich der Kritik, Buch II der Normdarstellung. Die Struktur des Textes ergibt sich aus dem wechselseitigen Bezug der beiden Aufbauglieder beim satirischen Überredungsprozeß. Die Herstellung dieser Textstruktur aus dem zweiteiligen Textaufbau ist dabei teilweise dem Leser selbst überlassen. Er hat die Aufgabe, die Bezüge zwischen den weit auseinander liegenden, thematisch korrespondierenden Abschnitten in den beiden Büchern selbst herzustellen. Dadurch wird ihm beim Lesen suggeriert, den letzten, entscheidenden Schritt zu einem kritischen Werturteil über die Erfahrungswelt selbständig vollzogen zu haben. Um die Herstellung der satirischen Textstruktur beim Leser sicherzustellen, gibt der Text allerdings auch Hilfestellungen: Schon im ersten Buch wird die Norm67

Diese Neuerung der Gattungsstruktur ist nicht von Sinold selbst erfunden worden. Im Anschluß an den Reisebericht wendet erstmals Bacon in der Nova Atlantis von 1627 dieses Darstellungsverfahren an. Vgl. dazu Seeber, S. 108-111. In der Histoire des Sevarambes (1675) von Denis Vairasse, die seit 1689 in deutscher Übersetzung vorlag, ist dieses aufwendige Darstellungsprinzip bereits in vollendeter Form angewandt worden.

211

figur »Utopia« als Gegenbild zur Realität neben einer Reihe von anderen fiktiven Staatswesen, dem Staat der Polyeriten (Utopia, S. 74ff.), der Achorier (S. 88ff.) und der Makarenser (S. 96), an mehreren Stellen genannt. Der Leser weiß also schon, in welcher Funktion innerhalb des Gesamttextes er die Beschreibung der Utopier im zweiten Buch zu lesen hat. Das Lob der utopischen Staatsverfassung schließt sich an die Exempelreihe der anderen Normfiguren an und bildet den Schluß des ersten Buches. Ebenso wird der Leser auch im zweiten Buch durch ausdrückliche Hinweise des Erzählers Raphael zu direkten Vergleichen mit der Realität angeregt.68 Raphael bedient sich dabei verschiedener Techniken. Er spricht im Zusammenhang der Darstellung die kritische Schlußfolgerung oft selbst aus, er legt die Kritik den Utopiern in den Mund, und er gestaltet in der Szene der Gesandtschaft der Anemolier (vgl. Utopia, S. 152ff.) den Zusammenstoß zweier Welten in einem grotesken Handlungsverlauf. Die Anemolier vertreten dabei die Verhaltensweise der Europäer. Die von Giles und Erasmus in den Erstausgaben angefügten Randglossen verdeutlichen ebenfalls gelegentlich die kritische Funktion des Landes Utopia.69 Es bleibt aber trotz all dieser Hilfestellungen im zweiten Buch noch genügend Gelegenheit für den Leser, eigenständig seine Schlüsse zu ziehen und versteckte Anspielungen zu enträtseln.70 Bei Sinold ist der Aufbau aus zwei fiktiven Räumen trotz der Veränderungen im Handlungsaufbau noch vorhanden. Die Handlung beginnt in Europa, überwindet die Raumgrenze zur utopischen Insel und endet wieder in Europa. Aber der überwiegende Teil der Handlung spielt auf der utopischen Insel. Das Geschehen in Europa ist so abgekürzt, daß keine Möglichkeit mehr bleibt, eine satirische Darstellung der Erfahrungswelt hier unterzubringen, auf die sich dann die Darstellung der utopischen Insel beziehen könnte. Der Autor muß also, wenn er die satirische Textstruktur der Utopia überhaupt bewahren wollte, seine Intention auf andere Weise verdeutlicht haben. 2. Sinolds satirische Überredungsstrategien werden in den dominanten Beschreibungsformen sichtbar, mit denen dem Leser eine Vorstellung von den Zuständen im »Land der Zufriedenheit« vermittelt werden soll. Der vom Autor nicht unterschiedene Erzähler unterbricht für diese* Beschreibungen den Geschehensverlauf und beschreibt jeweils den Ausschnitt der insularischen Welt, den die Europäer auf ihrer Besichtigungsreise gerade vor Augen haben. Erst im Schlußteil des Textes wird diese Gullivers Reisen« und Mores >Utopiaerzählten Welt< an der >besprochenen< und der daraus resultierende defiziente Modus der >erzählten Welt< zieht unweigerlich auch eine Verniedlichung des Sprachkunstwerks nach sich.«

291

werden diskursiv gegeben. Die Herstellung von evidentia durch Konkretisierung der abstrakten Konstruktion, wie sie am Textanfang zu beobachten ist, bleibt somit auf halbem Wege stehen. Was nun den Gesamtaufbau der Darstellung angeht, so ist er zwar an den zeitlichen Ablauf des Erfahrungsprozesses gebunden, und er ist deswegen narrativ gegliedert. Es stellt sich jedoch die Frage, in welchem Maß der zeitliche Verlauf des Beobachtungsvorgangs die Reihenfolge der Informationen bestimmt. Am Anfang werden die einzelnen Daten noch ohne Rücksicht auf ihren thematischen Zusammenhang gemäß dem Verlauf des Beobachtungsvorgangs mitgeteilt: Bodenbearbeitung, Klima, Kleidung, Isolation, Religion, Gesellschaftsordnung werden durch einzelne Angaben kurz genannt und wieder verlassen, je nachdem, was die Beobachter gerade sehen. Dann aber fallen die Texteinheiten, die durch zeitliche Strukturierung geschaffen werden, mit räumlichen Einheiten zusammen, und beide Einheiten umgrenzen jeweils die Behandlung eines einzigen Themenkomplexes. Sinold gliedert den Handlungsverlauf zeitlich durch Angabe von markanten Einschnitten des physikalischen Zeitverlaufs, z.B. Mittag, Abend, neuer Tag. An solchen Einschnitten wird in zeitlicher Raffung meist ein Ortswechsel der Figuren erzählt, ζ. B. vom Haus des »Stadthalters« zum Haus des Pastors, vom Eßzimmer zum Schlafzimmer, von der Hafenstadt in die Hauptstadt. Zwischen solchen zeitlich gerafften Einschnitten stehen zeitdeckende Dialogpartien, sowie zeitdehnende Beschreibungen und Kommentare aus der diskursiven Perspektive.220 Diese durch den Wechsel der Zeitbehandlung und durch Angaben von Zeitabschnitten gebildeten Teile bilden auch jeweils die Kapitel für die Behandlung eines abgeschlossenen Sachthemas.221

220 221

vgl. zu diesen Begriffen Lämmert, S. 23, S. 73 und S. 82-86. vgl. dazu folgende Übersicht über die Gliederung des ersten Buches. Die linke Reihe nennt den Handlungsverlauf, die rechte Reihe das behandelte Thema: S. 17f.: Die Europäer kommen in die Hafenstadt Beschreibung der Stadt S. 18ff.: Empfang beim »Stadthalter« Besiedlung und Missionierung der Insel S. 26ff.: Abendessen Kleidung der Insulaner S. 28ff.: Nettuno geht zu Bett Kleidung der Europäer S. 32-79: Am nächsten Morgen. Standortwechsel Religion und Kirchenverfassung in das Haus des Pastors. Vortrag des Pastors S. 79—106: Mittagessen. Die Europäer gehen Religion und Kirchenverfassung in ein Zimmer und diskutieren in Europa S. 106ff.: Neuer Tag. Besichtigung der Stadt Verschiedene Aspekte des öffentlichen Lebens mit Ausnahme der Regierungsform

292

Aus dieser Parallelität von zeitlicher, räumlicher und thematischer Gliederung, die zum Schluß des zweiten Buches zugunsten einer rein thematisch gegliederten Aufzählung verschiedener Nachträge aufgegeben wird, ergeben sich Rückschlüsse auf die Prioritäten der ganzen Konstruktion: Das Primäre war auch bei Sinold noch der Katalog von Sachthemen, die er abhandeln wollte, und dieser Katalog ist durch den narrativ bestimmten Textaufbau hindurch noch deutlich zu erkennen. Obwohl Sinold im Handlungsaufbau gegenüber der Utopia und dem Königreich Ophir einen wichtigen Fortschritt zu einer Auflösung der diskursiven Struktur angestrebt hat, erreicht er nicht die Möglichkeiten, die Bacon und Vairasse schon dem neuen Handlungsaufbau abgewonnen hatten. 3. Wie bei der Frage der Raumaufteilung, so muß auch bei der Gliederung des Textes durch unterschiedliche Darstellungsweisen auf den nichtfiktiven Reisebericht als vorbildliche Textstruktur hingewiesen werden. Ein Blick auf die Funktionen dieser Darstellungsweisen im Reisebericht kann verdeutlichen, was diese Struktur in der utopischen Erzählung zu leisten vermag und warum sie für die speziellen Darstellungsprobleme in dieser Gattung Problemlösungen anbieten konnte. a) Als Beispiel für den zeitgenössischen Typ des Reiseberichts, auf den Sinold zurückgreifen konnte, wird hier der Frantzösische Robinson vorgestellt, dessen erste deutsche Übersetzung 1709 erschienen ist.222 In diesem Text wird von einer Schiffsreise erzählt, auf der der Berichterstatter Leguat und seine Gefährten unter anderem auch auf einer

222

Francois Leguat, Der Frantzösische Robinson oder Franc. Laguet Eines geborenen Frantzosens/ Wahrhafftige Beschreibung seiner Reisen und wunderliche Begebenheiten nach zweyen unbewohnten Ost-Indischen Insuln, nebst einer Erzehlung der merckwürdigsten Dinge, die sie auf der Insul Mauritii, zu Batavia, an dem Cap der guten Hoffnung, auf der Insul S. Helena und anderen Orten worauf sie zukommen / angemercket haben. Mit Land-Carten und Figuren versehen. Franckfurt und Leipzig 1723, 2 Bde. Ich zitiere aus dieser Ausgabe von 1723 und beziehe mich bei der Analyse auf den ersten Band. Die erste Übersetzung von 1709 ist mit der Ausgabe von 1723 identisch. Nur der Titel wurde 1723 geändert, weil man sich an den buchhändlerischen Erfolg des Robinson Crusoe anhängen wollte. Vgl. Hermann Ullrich, Robinson und Robinsonaden. Bibliographie, Geschichte, Kritik. Ein Beitrag zur vergleichenden Litteraturgeschichte, im Besonderen zur Geschichte des Romans und zur Geschichte der Jugendlitteratur, Weimar 1898, S. 115f. und Kippenberg, S. 50. Rein chronologisch besteht die Möglichkeit, daß Sinold den Text gekannt hat. Aber darauf kommt es hier nicht an, denn es soll keine historische Abhängigkeit zwischen zwei Texten nachgewiesen werden. Es geht hier nur um die Textstruktur, auf die beide Texte zurückzuführen sind.

293

unbewohnten Insel landen und dort zwei Jahre zubringen. Aus diesem Grund wird der Text gewöhnlich zu den »Robinsonaden« gezählt.223 Im Gegensatz zur Glückseeligsten Insul ist die Erzählsituation von Anfang an klar: Der Erzähler ist an dem Geschehen selbst beteiligt. Er berichtet die Geschehnisse in der ersten Person, meist im Plural, soweit die Geschehnisse die ganze Gruppe betreffen. Bis Seite 9 berichtet Leguat nur von den Geschehnissen der Schiffsreise in chronologischer Reihenfolge mit Datumsangaben, die das Zeitgerüst bestimmen. Dort heißt es dann: »Den 2 8 . marchierte gleichsam eine unzehlbare Arme Meerschweine bey uns vorbey, welches eine rechte Lust anzusehen war. Es ließ in Wahrheit, als wenn sie in Schlacht-Ordnung gestellet wären und Sprüngen zwar zuweilen ein oder anderes auf, blieben doch aber in ihrer Ordnung. Sie kamen uns so nahe, daß wir eines harpunieretert, mehr aber verlangeten wir nicht. Man wirfft ihnen ein dreyzackichtes Eisen, so an einem Strick feste gemacht ist, in den Leib. Wenn sie getroffen sind, muß man sie durch den Verlußt ihres Blutes sich abmatten lassen, und alsdenn sind sie leicht ins Schiff zu bringen. Sie haben warm Blut, und tragen ihre Jungen im Leibe, wie die Wallfische, Lamentins, und einige andere Fische. Inwendig im Leibe sehen sie fast wie ein Schwein aus, das Fleisch aber schmeckt starck nach Oele, und auch sonst nicht gut. Den 6. Octobr. begegnete uns (...)«. (S. 10)

Diese Textpassage enthält zunächst einen Bericht von einem zeitlich fixierten Erlebnis der Schiffsbesatzung. Dann wechselt der Darstellungsgegenstand: Es wird nun eine Anweisung gegeben, wie »Meerschweine« generell gefangen werden müssen. Im Anschluß daran wird wiederum nicht das eben gefangene Exemplar, sondern die Gattung der »Meerschweine« beschrieben. Diese naturwissenschaftliche Information wird 223

Diese Zuordnung gilt nur auf der Grundlage der alten Definition von Hermann Ullrich: »Aufgenommen und als Robinsonaden von mir bezeichnet sind (...) alle mir bekannt gewordenen Werke, die das Hauptmotiv des Robinson, insularische Abgeschlossenheit von der menschlichen Gesellschaft, zum Mittelpunkt der Erzählung machen oder doch episodisch verwerten, mögen sie sich als Robinson oder Robinsonade bezeichnen oder nicht« (S. XIV). Auch in der Brüggemannschen Begriffsergänzung mit dem Merkmal »Exil« gehört der Frantzösische Robinson zur Gattung der Robinsonade. Es fällt auf, daß ein Text, der Jahre vor dem Robinson Crusoe geschrieben worden ist, alle Merkmale aufweist, die zur Einordnung in den üblichen Begriff der Robinsonade verlangt werden (vgl. zur Vorgeschichte des Inselmotivs Kippenberg, S. 1-11). Der Begriff der Robinsonade in diesem Sinn erfaßt also das spezifisch Neue von Defoes Roman überhaupt nicht, und es ist die Frage, ob der Name für diesen Begriff je einen Sinn hatte. Er darf auf keinen Fall im Sinn von »Nachahmung des Robinson Crusoe« verstanden werden. Ein Begriff der Robinsonade in diesem zweiten Sinn, der sich auf die besonderen Innovationen Defoes beziehen würde, dürfte sehr viel weniger Texte umfassen, als dies bei dem traditionellen Begriff der Fall ist.

294

durch eine Zeichnung ergänzt. Der ganze Exkurs bezieht sich auf Tatsachen, die unabhängig von den konkreten Beobachtungen während der erzählten Reise gültig sind. Die Informationen, die in diesem Exkurs gegeben werden, sind deshalb auch nicht abhängig von der Beobachterperspektive des Erzählers während seiner Reise. Sie setzen vielmehr voraus, daß der Erzähler nach Abschluß seiner Reise sich mit den zeitgenössischen Ergebnissen der Naturwissenschaft zu dieser Frage vertraut gemacht hat und sie an passender Stelle seiner Erzählung zur allgemeinen Orientierung des Lesers über den konkreten Gegenstand hinaus anfügt. In solchen Exkursen werden nicht bloß Zustände behandelt, sondern auch Handlungsverläufe. Sie werden dabei so weit abstrahiert, bis sie modellhaft für das Verhalten in allen ähnlichen Situationen sein können. Dies gilt für das Jagen von »Meerschweinen«, es gilt auch für die Mitteilung speziell nautischer Kenntnisse: »Den 11. hatten wir das erste mal einen von denen zwar kurzen, aber sehr schlimmen Stürmen auszustehen, welche die Seefahrer Grams nennen, deren wir aber von Zeit zu Zeit, biß jenseits der Linie, mehr bekamen. Diese Grams, sind eine Art von sehr hefftigen Wirbel-Winden, mit Regen vermischet, welche in einem Augenblick entstehen, gemeiniglich aber keine Viertelstunde dauren. Man kan sie sehen schon von weitem kommen, und sich also vor ihnen vorsehen; man ziehet alsobald die Ober-Segel ein, denn sonst würden sie bald zerrissen, und die Segelstangen zerbrochen werden. Wenn der Wind gar zu hefftig werden will, ziehet man alle Segel ein, oder lasset ihr, so wenig als möglich, aufgespannet (...).« (S. 22) In gleicher Weise bringt der Text geographisch relevante Daten getrennt von den Erfahrungen auf der Reise aus der Erzählerperspektive: »Den folgenden Tag, als den 1. May 1691 begab ich mich auch an Land zu meinen Camaraden. Der Name dieser Insul ist Diego-Rodrigo, oder Diego-Ruys, oder Rodrigo, und lieget unter dem 19. grad Südlicher Breite. Ihr Umfang ist ohnegefehr 20. Meilen, und ihre Länge gehet von Osten nach Westen, die Gestalt aber ist, wie man sie in dem Abrisse zu ersehen hat. Wir Hessen uns nieder, unweit der See, in Nord-Nord-Westen, in einem schönen Thale (...).« (S. 72) Man vergleiche im Kontrast dazu die Beschreibung der Insel Tristan im gleichen Text: Die Seite der Insel, »die wir sahen, war zum höchsten über zwei Meilen nicht lang. Sie kam uns sehr annehmlich vor, obgleich mit sehr steilen Ufern umgeben, (...) wiewohl wir sie vor dem Nebel zuweilen gar wenig, und offt gar nicht sehen kunten. An der Küste war alles überall, von oben biß unten, aufs schönste grün, und zwischen den hohen und geraden Bäumen, womit die 295

Berge biß an den Gipfel bewachsen waren, sähe man die Wolcken mit der größten Lust. Vögel flogen auf allen Seiten, und frisch Wasser flöß an vielen Orten überflüßig, biß es von einer Höhe auf die andere herabfiel, und also wunder-schöne Cascadett machete, endlich aber an den Küsten sich mit einem starcken Rauschen in die See stürtzete. Alle diese unterschiedliche Annehmligkeiten, machten uns eine grosse Begierde, sie näher anzuschauen, oder uns zum wenigsten an einem so lustigen Orte zu erfrischen: aber vergebens.« (S. 39)

In der ersten Passage folgt auf den Bericht, daß das beobachtende Subjekt an Land gegangen ist, eine Information über die wesentlichen geographischen Daten. Alle diese Daten bestehen unabhängig von der damaligen Reise, und sie haben mit dem erzählten Aufenthalt und dem Standort der Personen nichts zu tun. Eine Bildvorstellung von dem Anblick entsteht deswegen nicht. Über den Anblick der Insel aus der Beobachterperspektive zur Erzählgegenwart informiert der Text getrennt von der Übermittlung geographischen Sachwissens: Die Seefahrer sind in einem »schönen Thale«. Bei der Beschreibung der Insel Tristan fällt dagegen auf, daß alle Daten über diesen Gegenstand eng an die Beobachterperspektive innerhalb des zeitlichen und räumlichen Standorts zur Erzählgegenwart gebunden sind. Es wird nur das genannt, was man vom Schiff aus sehen konnte. Sofort entsteht eine anschauliche und sinnenfällige Bildvorstellung. Die Informationen über den Gegenstand werden durch optische (Nebelschwaden, grüne Farbe, Wolken, Wasserfälle) und akustische Details (Rauschen der Wasserfälle) übermittelt. Die räumliche Zuordnung der Details wird durch eine Fülle von Umstandsergänzungen geklärt (»von oben biß unten«, »zwischen«, »biß an den Gipfel«, »auf allen Seiten«, »an vielen Orten«, »von einer Höhe auf die andere«, »in die See«). Die ganze Beschreibung ist also an sinnliche Wahrnehmungsprozesse gebunden. Geographisch relevante Daten, durch die man die Insel Tristan von anderen Inseln unterscheiden könnte, enthält die Beschreibung nicht: Die Lage wird nicht genannt, die Größe bleibt unerwähnt, die Längenangaben werden geschätzt und gelten nur für die Seite, »die wir sahen«. Selbst wenn man die sinnenfälligen Details abstrahieren und auf geographische Begriffe zurückführen wollte, ergäben sich unzuverlässige Ergebnisse, weil sie nur auf den Daten beruhen, die man während der einmaligen Vorbeifahrt gewonnen hat. Dafür ist die Beschreibung voll von emotionsgeladenen und wertenden Bestimmungen (»sehr annehmlich«, »aufs schönste«, »frisch Wasser«, »wunder-schöne Cascaden«, »lustigen Orte«), die die Bindung der ganzen Bildvorstellung an die Gefühle des beobachtenden Subjekts betonen. Auch diese Gefühle kommen zur Sprache (»mit der größten 296

Lust«, »grosse Begierde«, »erfrischen«, »vergebens«). Die Insel Tristan wird hier als Gegenstand affektiver Identifikation beschrieben, und sie ist in dieser Funktion nur innerhalb der erzählten Reise existent. Beide Möglichkeiten der Darstellung eines Gegenstandes kommen im Text zur Anwendung, je nachdem, ob der Gegenstand als geographisches Faktum interessiert oder als Erlebnis während der Reise. 224 Leguat und seine Gefährten landen schließlich auf einer unbewohnten Insel, auf der sie zwei Jahre zubringen. Im Gegensatz zum tagebuchartig protokollierten Verlauf der Schiffsreise bestimmt der zeitliche Verlauf dieser zwei Jahre und die Aufeinanderfolge der Erlebnisse jetzt nicht mehr die Gliederung des Textes. Mit der Ankunft der Schiffsmannschaft auf der Insel (S. 73ff.) wird der zeitlich gegliederte Handlungsablauf unwichtig. Der Text beschreibt mit Hilfe einer beigefügten Landkarte die Insel, wie in einem der geographischen Exkurse, nach den Sachthemen Klima, Boden, Pflanzen, Tiere gegliedert. Der Unterschied zu den bisherigen geographischen Exkursen ergibt sich aus der unterschiedlichen Erzählsituation: Bis zur Landung auf der Insel haben die geographischen Exkurse nur bekanntes Wissen repetiert, das durch die Beobachtungen auf der erzählten Reise weder ergänzt noch widerlegt worden ist. Jetzt wird zum erstenmal ein Gegenstand beschrieben, der auf der erzählten Reise zum erstenmal gesehen worden ist. Die geographischen Informationen über diesen Gegenstand beruhen auf Beobachtungen des Erzählers selbst, deren Verlauf er erzählen könnte. In gleicher Weise hat z.B. die Beschreibung Utopias durch den Entdecker Raphael einen Bezug auf den fiktiven Erfahrungsprozeß des Entdeckers. Dieser Erfahrungsprozeß, der praktisch den Handlungsverlauf während der zwei Jahre Aufenthalt auf der Insel ausmacht, kommt bei Leguat während des geographischen Exkurses zur Sprache, indem er an die Behandlung der einzelnen Sachthemen kurze narrative Passagen oder auch nur einzelne narrative Sätze anschließt, in denen jeweils berichtet wird, was die neuen Bewohner während ihres zweijährigen Aufenthalts mit den beschriebenen Fakten angefangen haben, wo sie den Boden bebaut und Hütten errichtet, welche Pflanzen und Tiere ihnen zur Nahrung gedient haben (vgl. S. 81ff., S. 92f., S. 95f., S. 97). In ähnlicher Weise werden in der Utopia einzelne konkrete Erlebnisse Raphaels bei bestimmten Sachthemen zur Illustration angefügt. Eine Abfolge von Geschehnissen ist aus

224

Dabei kann der gleiche Gegenstand auf beide Arten beschrieben werden. Vgl. S. 42f.: Das Kap der guten Hoffnung wird zuerst als Ziel der Sehnsucht geschildert, dann folgt sofort die Information über die geographisch relevanten Tatsachen.

297

diesen Einschüben jedoch nicht zu rekonstruieren, so daß der Verlauf des Beobachtungsvorgangs ungeklärt bleibt. Die narrativen Einschübe sind der thematischen Gliederung untergeordnet, wie vorher die diskursiven Einschübe der narrativen Gliederung der Schiffsreise untergeordnet worden sind. Über die zwei Jahre Aufenthalt auf der Insel geht der Text hinweg, als wäre die Zeit stillgestanden, oder zumindest, als wäre das Leben so gleichförmig verlaufen, daß die Erfahrung von Zeit als Erfahrung erinnerbarer Veränderung nicht gemacht werden konnte. Erst als der Text von den Versuchen der Bewohner berichtet, von der Insel wegzukommen, wird wieder in zeitlicher Ordnung erzählt (vgl. S. 15 Iff.). Der Reiseverlauf dient im Text nicht nur dazu, geographische und naturwissenschaftliche Exkurse anzuhängen, sondern der Erzähler nimmt einzelne Erlebnisse auch zum Anlaß, Kommentare und Betrachtungen über alle möglichen Themen assoziativ an die Erlebnisse anzubinden, wie dies etwa im folgenden Beispiel geschieht: »(...) dem erschrecklichen Ungewitter selbst kunten wir keinen anderen Nahmen geben, als eines Orcans, dessen wahrhafftige und nachdrückliche beschreibung wir im 107. wie auch im 29. Psalm Davids funden, und mit Lust und Verwunderung lasen. Man mag des Virgilii Worte und Gedancken, die er in Beschreibung dergleichen Ungewitters geführet hat, so hoch erheben als man will, so können sie doch den tiefsinnigen Redens-Arten dieser beyden Psalmen keines weges beykommen. Wie denn auch alles, was in den Griechischen und Lateinischen Poeten von den Pedanten so hoch bewundert wird, nur gar was geringes ist, gegen den hohen und unvergleichlichen Liedern des Königs David.« (S. 50)

Die Textstruktur des Frantzösischen Robinson verweist auf zwei verschiedene intendierte Funktionen, die in einem einzigen Text kombiniert werden sollen. Einerseits handelt es sich um die unterhaltsame Erzählung von Erlebnissen auf einer Reise, andererseits vermittelt der Text geographisches, naturwissenschaftliches und nautisches Sachwissen. Darüber hinaus gibt die locker gefügte Aneinanderreihung von Erlebnissen und der schnelle Wechsel der räumlichen Standorte reichlich Gelegenheit zur assoziativen Zuordnung von Reflexionen verschiedenster Thematik zum erzählten Geschehen. Der Text ist also gleichzeitig Sachbuch zur Übermittlung objektiven Wissens, Träger von essayistischen Reflexionen heterogenster Art und unterhaltende Erzählung persönlicher Erlebnisse. Diese Erzählung hält die heterogenen Elemente zusammen und bestimmt die Gliederung des Gesamttextes. Die Textstruktur des Reiseberichts, die man als ahistorische Konstante in der 298

Literaturgeschichte betrachten darf, 2 2 5 kam den Forderungen des 1 7 . und 1 8 . Jahrhunderts nach der Nützlichkeit von unterhaltender Literatur vor allem so lange entgegen, als noch nicht der Wölfische Gedanke v o m speziellen Nutzen der poetischen T e x t e 2 2 6 ins allgemeine Bewußtsein vorgedrungen war. h)

Für die utopische Erzählung bringt die Reiseberichtstruktur Dar-

stellungsmöglichkeiten und Gliederungsprinzipien ins Spiel, die der besonderen Gattungsintention gerecht werden können. Zunächst übernimmt der Autor einer utopischen Erzählung mit dieser Struktur das Signal, daß es sich um einen »nützlichen« T e x t handelt, der sich von bloß unterhaltender Literatur unterscheidet. 2 2 7 In der utopischen Erzählung besteht die Notwendigkeit, den Bezug der erzählten Handlung und der dargestellten Welt auf eine aktuelle Redesituation zu gewährleisten. M a n braucht dazu eine Textstruktur, die R a u m für die Diskussion solcher Bezüge läßt. D a im Reisebericht die Erzählung überproportional mit diskursiven Sprechakten durchsetzt ist, konnte man an ihn anknüpfen. D a in den geographischen Exkursen des Reiseberichts die Wirklichkeit in diskursiver F o r m und unabhängig v o m jeweiligen Standort des

Man vgl. ζ. B. die Analyse eines modernen spanischen Reiseberichts bei Weinrich, Tempus, S. 65ff.: Der Reisebericht Judtos, Moros y Christianos von Camilo Jose Cela ist »stellenweise (...) ein richtiger Reiseführer. Er gibt uns bei Gelegenheit die genaue Höhe eines Berges an, fragt nach der Etymologie von Ortsnamen (...). Das ist genaue und nützliche Information. Auf der anderen Seite hat der Autor Freude an den vielen Begegnungen, die er auf seiner Reise hat, und er erzählt mit Vergnügen seine kleinen Abenteuer. Die ständige Mischung von Information und Erzählung macht den Reiz der Reisebeschreibung aus« (S. 65f.). Das ist noch genau die selbe Struktur, wie sie der Frantzösische Robinson aufweist. Wenn Weinrich auf S. 65 solche Mischformen für modern im Gegensatz zur älteren Literatur hält, so wäre zu fragen, woher Weinrich seine Vorstellungen von der »älteren Ästhetik« (ebda.) hat. Texte dieser Art hat es immer gegeben, wie es immer das Bedürfnis gegeben hat, Informationen über ein fremdes Land kombiniert mit den Erlebnissen einer Reise mitzuteilen. Selbst so komplex strukturierte Exemplare der Gattung, wie Goethes Italienische Reise, halten sich im Prinzip an diese Gattungskonvention. Heines Harzreise parodiert zu Beginn mit der Beschreibung Göttingens zwar die üblichen geographischen Exkurse, aber schon bei der Beschreibung Goslars wird er von der Gattungskonvention der ernsthaften Informationsübermittlung über geographische Daten halb eingeholt. Die Grundstruktur mit ihrer assoziativen Zuordnung diskursiv behandelter heterogener Themen zum Verlauf einer Reise mit rasch wechselnden Standorten bleibt auch hier erhalten, ebenso wie in Heines Reise von München nach Genua. 226 vgl. Kap. II, S. 170-173. 227 Das Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Reisebericht war im 18. Jahrhundert vorhanden. Thomasius spricht bei der Histoire des Sevarambes zwar von einem »Gedicht«, er nennt es aber nicht Roman, sondern ausdrücklich »Reisebeschreibung« (vgl. Kap. II, S. 132). 225

299

Beobachters während der Erzählung beschrieben wird, entfällt bei einer Nachahmung dieser Struktur in der utopischen Erzählung die Mühe, die fiktiven Raumkonstruktionen bis ins Einzelne zu konkretisieren. Die Gattung des Reiseberichts verlangt diese vollständige Auflösung nicht, sondern zu ihr gehören solche wissenschaftlichen Zusammenfassungen von Beobachtungsdaten, mit denen utopische Inseln gewöhnlich beschrieben werden. Dabei können die Autoren an verschiedene Typen des Reiseberichts anknüpfen, die je nach der dominanten Darstellungsintention den Erlebnisbericht oder die zusammenfassende Faktenbeschreibung zum übergeordneten Gliederungsprinzip machen. Im Frantzösischett Robinson stehen beide Typen nebeneinander: Es gibt das zeitlich gegliederte Protokoll über den Reiseverlauf mit zugeordneten Exkursen. Dies ist der Typ, den Sinold verwendet. Und es gibt die zusammenfassende Beschreibung eines Landes, bei der der Zeitverlauf der Reise keine Rolle mehr spielt, wie man es bei der Beschreibung des zweijährigen Aufenthalts auf der unbewohnten Insel beobachten konnte. Dies ist der Typ, den Morus und der Verfasser des Königreichs Ophir verwenden. Auf welche Art von Reisebericht der zweite Typ zurückgeht, wird im Königreich Ophir an einigen Stellen angedeutet: So wird z.B. berichtet, daß einige Handwerksgesellen die Erlaubnis erhalten, ins Ausland zu reisen: »Derne es nun zu reisen erlaubet ist / der muß das Merckwürdigste in seiner Wissenschaft und Kunst beobachten / und nach erfolgter Rückkunfft bey dem Policey-Rath schriffdiche Nachricht davon einlegen. Wie denn denen so studieret / von dem Policey-Rathe / in der Wissenschafft / auff welche sich einer am meisten geleget / etwas sonderliches und gewisses / in dem zu besuchenden Lande anzumercken und zu beschreiben befohlen wird. Einer muß das gantze Land nebst seinen Gräntzen / Gegenden / Lagen / und darinn befindlichen Städten / Dörffern / Flüssen / Bergen / Wäldern u.a.m. beschreiben. Der andere die Festungen nach ihrem Lager und Befestigungen; (...) Der achte eine politische Beschreibung des gantzen Staats zu Friedens- als KriegsZeiten / derer Bediente / Gesetze / Ordnungen / Einkünffte. Der neundte die Beschaffenheit der Einwohner / desselben Landes und deren Gemüther; Der zehnde die Art Hauß zu halten / Kinder zu ziehen; Der eilfte den ReligionsZustand / Kirchen-Gebräuche; Andere anderes mehr / und nachdem es einem jedweden Policey-Rath beliebet (...) gründlich und außführlich beschreiben / und diese Beschreibung (...) bey der Rückkunfft übergeben / da denn solche alsbald dem Könige zugeschicket werden muß.« (S. 309ff.) Ebenso müssen die Gesandten des Königs im Ausland nicht nur regelmäßig von ihrer Tätigkeit berichten, »sondern auch eine politische Beschreibung des gantzen Staats und Hofes / absonderlich aber des Königes und aller Bedienten (...) in das Königliche Archiv liefern«. (S. 257f.) In dieser Art einer »statistischen« Länderbeschreibung, die in Gesandtenrelationen des 18. Jahrhunderts üblich war, ist das Königreich Ophir selbst

300

abgefaßt. Reiseberichte dieser Art verlangen ein hohes Maß an Abstraktion gegenüber den subjektiven Eindrücken und Erlebnissen, denn gefragt ist nach den allgemeinen Strukturen des fremden Landes und nicht nach erzählbaren Erfahrungen während des Aufenthalts. Die diskursive Darstellung eines fremden Landes in einer Gesandtenrelation oder in den Exkursen narrativ gegliederter Reiseberichte ist immer mit der Intention des Autors verbunden, objektiv gültige Informationen über die Realität anzukündigen. Wenn ein Autor in der utopischen Erzählung über eine Fiktion in gleicher Weise spricht, so bedient er sich dieses Signals für objektive Wirklichkeitsdarstellung, um für seine Fiktion den Eindruck authentischer Wirklichkeit zu verstärken. Die Verwendung der Reiseberichtstruktur kann damit als eine jener Strategien betrachtet werden, mit denen die Illusionierung des Lesers herbeigeführt werden soll. Allerdings hat die gleiche Darstellungsmethode gerade im Hinblick auf die Illusionierung des Lesers deutliche Grenzen. Da in den diskursiven Passagen vom Zeitverlauf und von der Perspektive einer subjektiven Anschauung abstrahiert wird, sind diese Beschreibungen unanschaulich. Sie erzeugen keine Bildvorstellungen von sinnlichen Eindrücken, sondern Erkenntnisse von kausalen Zusammenhängen, begrifflichen Zuordnungen, Größenverhältnissen usw., so daß die fiktive Wirklichkeit, wie dies bei Sinold zu beobachten war, über weite Strecken hin ein leeres Gerüst von abstrakten Strukturen bleibt. Eine solche Darstellungsweise wird dann unbefriedigend, wenn in der ästhetischen Diskussion die Grenzen zwischen diskursiven und poetischen Texten schärfer gezogen werden und aufgrund neuer Erkenntnisse über die Wirkungsweise der poetischen Überredung die Ansprüche an die anschauliche Darstellung wachsen. Den modernsten Ansprüchen des frühen 18.Jahrhunderts genügt deswegen diese Struktur nicht mehr. In den dreißiger Jahren wäre sie schon eindeutig rückschrittlich gewesen. Aufgrund der speziellen inhaltlichen Vorentscheidungen, die Sinold mit der Wahl seiner Konstruktionsmethode der utopischen Fiktion getroffen hat, ist die Verwendung der diskursiven Darstellungsmethoden nach dem Vorbild des konventionellen Reiseberichts oder der Gesandtenrelation allerdings kaum zu umgehen: Es ist bei der Analyse des Frantzösischen Robinson aufgefallen, daß der Autor bei der Ankunft der Seefahrer auf einer unbewohnten Insel die bisherige narrative Gliederung aufgibt und die zwei Jahre des Aufenthalts mit einer diskursiv gegliederten Beschreibung der Insel mit assoziativ an die Themenbehandlung angefügten Einzelerzählungen ausfüllt. Der Eindruck einer stillstehenden Zeit wird damit vom Autor des Frantzösischen Robinson 301

auf eine sehr einfache Weise hergestellt; denn der geographische Exkurs muß zum Zweck objektiver Informationsübermittlung von allen Aspekten zeitlich strukturierter Veränderungen in der Wirklichkeit abstrahieren. Da der Aspekt zeitlichen Wandels bei der Darstellung der Erfahrungswelt in den geographischen Exkursen ausgeklammert wird, hat die Erfahrungswelt eine Struktur, die die fiktive Wirklichkeit der utopischen Insel nach dem Willen des Autors per definitionem haben soll. Eine solche Darstellungsweise bietet sich für die Zwecke der utopischen Erzählung freilich nur so lange an, wie die Autoren die Vorstellung von der Vollkommenheit mit der Vorstellung der Zeitlosigkeit verbinden können. Diese Kombination ist vor allem dort sinnvoll und angebracht, wo der Gegenbegriff der Zeitlosigkeit, die stetige Veränderung der Welt, als etwas Negatives und Gefährliches empfunden wird. Wo allerdings ein Wertsystem propagiert werden soll, das auf Veränderung setzt und den Wandel der Erfahrungswelt als Weg zu einer positiveren Zukunft begreift, ist der Einsatz der Darstellungstechniken des Reiseberichts weniger überzeugend. Was das Wertsystem Sinolds angeht, so konnten in der Analyse bereits Annäherungen an das bürgerliche Leistungsdenken festgestellt werden, in dem die Veränderung der Wirklichkeit durch individuelle Arbeit eine große Rolle spielt, während er gleichzeitig durch die Konstruktion des utopischen Raumes diese modernen Ansätze widerlegt. Jetzt zeigt sich, daß er auch bei der illusionierenden Darstellung Grenzen setzt, die den Text entwicklungsgeschichtlich ins 17. Jahrhundert, in vorbürgerliche Normvorstellungen, verweisen. Das heißt für die Gattung insgesamt, daß ein entscheidender Fortschritt bei der Entwicklung illusionierender Darstellungstechniken im frühen 18. Jahrhundert nicht nur wegen der bloß ästhetischen Anforderungen nötig gewesen wäre, sondern daß auch eine überzeugende Propaganda für das bürgerliche Leistungsdenken eine Veränderung der Darstellungstechniken erfordern würde. VI. Sinolds Glückseeligste Insul macht einen widersprüchlichen Eindruck. Er hält sich mit seiner Textstruktur sehr genau an die Gattungstradition etwa auf der Stufe von Bacons Nova Atlantis. Andererseits hat sich gezeigt, daß der Autor über die Vermittlungsstufe des hallischen Pietismus Kenntnis vom modernen Normensystem einer bürgerlichen Leistungsgesellschaft hatte und dieses Normensystem auch propagieren wollte. Die enge Bindung an die Normen der Gattungstradition, das Fehlen jedes Versuchs einer Weiterentwicklung, haben es ihm aber nicht erlaubt, eindeutige und widerspruchslose Aussagen zu machen. Logisch-

302

rationales Denken, das der Text propagiert, steht im Widerspruch mit einer satirischen Norm, die rational nicht begründbar ist; dem möglichen Einwand der Aufklärungsphilosophie gegen rational nicht begründbare Wunsch- und Normvorstellungen wird nicht durch vermehrte Anstrengungen illusionierender Darstellung Rechnung getragen, weil die pietistische Literaturauffassung des Autors schon mit der vorliegenden Textstruktur streng genommen unvereinbar ist; die Aufforderung zur Leistung steht im Widerspruch zu einer Fiktion, in der die Vergeblichkeit der moralisch guten Absichten der Menschen nachgewiesen wird; das Interesse an moralischen Normen privaten Verhaltens kollidiert mit der unnötigen Darstellung einer ganzen Verfassung und ihrer Institutionen. Dies alles ist freilich nicht irgend einem »Unvermögen« des Autors anzulasten. Es dokumentiert vielmehr die Situation einer literarischen Gattung, deren tradierte Struktur neue Wirklichkeitsvorstellungen und Verhaltensnormen nicht mehr überzeugend transportiert und deswegen fallengelassen oder gewandelten Mitteilungsbedürfnissen angepaßt werden müßte. In dieser Problematik ist Sinolds Text symptomatisch für die Situation der meisten literarischen Gattungen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit wird experimentiert, um geeignete Medien für die Verbreitung der bürgerlichen Moral zu finden. Dabei hat man auch im Bereich der übrigen Gattungen zunächst einmal versucht, die tradierten Textstrukturen unverändert zu benutzen.228 Sinolds Text leistet für die Weiterentwicklung der Gattung im 18. Jahrhundert keinen positiven Beitrag. Aber gerade weil bei ihm die Probleme der überlieferten Gattung unter den Bedingungen des 18. Jahrhunderts ungelöst bleiben, hat sich an diesem Text beobachten lassen, wo die Ansätze für eine Weiterentwicklung liegen müßten: Die Schwierigkeiten Sinolds treten immer dort auf, wo die Propagierung des

228

Zum höfisch-historischen Roman im späten 17. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Hirsch, Bürgertum und Barock, S. 107-116 und Singer, S. 67f. und S. 71ff., S. 96ff. und S. 142f. Hirsch und Singer bringen dort Beispiele für Romane nach dem Schema des alten höfisch-historischen Romans, in denen bürgerliche Wertvorstellungen übermittelt werden. Zum Pikaroroman vgl. Hirsch, Bürgertum und Barock, S. 24ff. und Götz, S. 123. Besonders schwierig war die Situation beim Trauerspiel, weil diese Gattung durch die poetologische Diskussion stark normiert war. Zu Gottscheds Cato und Johann Elias Schlegels Canut, die von den Schwierigkeiten der Experimentierphase exemplarisch geprägt sind, vgl. Karl Eibl, »Kommentar«, in: Karl Eibl (Hrg.), Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, Frankfurt 1971, S. 110-112; und Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, Stuttgart 1972, S. 17 und S. 19f.

303

Leistungsprinzips und die Aufforderung zu Arbeit und tugendhaftem Handeln in Widerstreit geraten mit einer Textstruktur, die die Welt insgesamt und absolut negiert. Es ginge darum, Bildvorstellungen und Handlungsverläufe zu erfinden, die den Erfolg tugendhaften Handelns in der Welt glaubhaft zu machen vermögen, indem sie ein Ergebnis von Arbeit und Leistung zeigen; es ginge weiter darum, den Zusammenhang von privater Moral und öffentlicher Ordnung sinnenfällig zu machen; und es müßte eine Darstellungstechnik für die Normfigur gefunden werden, die eine emotionale Identifikation des Lesers ermöglicht. Die Entwicklung der Gattung zum Zukunftsroman im späten 18. Jahrhundert ist eine der möglichen Antworten auf die bei Sinold beobachteten Probleme. Das heißt gleichzeitig, daß der Ausgangspunkt zu dieser Entwicklung bereits bei den Schwierigkeiten des frühen 18. Jahrhunderts gesucht werden muß, Jahrzehnte vor dem auffälligsten Ergebnis dieser Entwicklung. Die Lösung Merciers ist jedoch nicht die einzig mögliche gewesen. Die Entwicklungen in der Satire und im Reisebericht im frühen 18. Jahrhundert im Sinn einer Anpassung der Textstrukturen an die bürgerliche Ideologie haben in Schnabels Insel Felsenburg, der zeitlich nächsten utopischen Erzählung im deutschsprachigen Raum, zu einer völlig eigenständigen Problemlösung geführt. Voraussetzungen und Ergebnisse der Veränderungen, die Schnabel an der tradierten Gattungsstruktur vorgenommen hat, sollen nun behandelt werden.

304

4. Kapitel: Von Sinolds Glückseeligster Insul zu Schnabels Insel Felsenburg. Literaturgeschichtliche Voraussetzungen der Gattungsentwicklung Die Probleme der utopischen Erzählung im frühen 18. Jahrhundert sind gleichzeitig Probleme der Satire und des Reiseberichts. Wegen des direkten Zusammenhangs dieser Textstrukturen mit der utopischen Erzählung konnten Problemlösungen und Veränderungen an einzelnen Strukturelementen ausgetauscht werden. Für die Frage nach den Gründen, warum Schnabel das Gattungsmuster zehn Jahre nach Sinold auf eine neue Weise bearbeiten konnte, ist daher ein Blick auf die Entwicklungen der Satire und des Reiseberichts hilfreich. Hier sind die Techniken entwickelt worden, mit deren Hilfe es Schnabel gelingen konnte, die Gattungsstruktur neuen Erfordernissen anzupassen. Ein Blick auf die Satire des 18. Jahrhunderts erhellt gleichzeitig den gattungsgeschichtlichen Kontext von alten und modernen Formen der Satire, in dem Sinolds Glückseeligste Insul ihren Platz hat.

I. Zur Entwicklung der Satire im frühen 18. Jahrhundert vor den Wochenschriften 1. Das Modell, von dem der Satiriker noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausgehen konnte, waren die Typen der christlichen Moralsatire des 16. und 17. Jahrhunderts.1 In diesen Satiren gibt es eine mit der Autorität einer metaphysischen Instanz ausgestattete Norm, von der aus die Wirklichkeit bewertet wird: das in der Bibel niedergelegte göttliche Gebot. Über die Gültigkeit dieser Norm kann der Autor das Einverständnis mit dem Publikum voraussetzen. Sie braucht daher nicht weiter begründet zu werden. Der Satiriker will davon überzeugen, daß die Welt in ihrer Gesamtheit der Norm nicht genügt und deswegen das Leben in der Welt zu permanenten Verletzungen des göttlichen Gebots zwingt. Die Grundthese, die dem Leser vermittelt werden soll, heißt: Wer in der Welt lebt, ist notwendig ein Narr und ein Sünder. Dem Leser sollen Illusionen über seine eigene Position gegenüber der göttlichen Ordnung genommen werden. Die 1

vgl. zum Folgenden Schönert, S. 35f. und Wölfel, S. 87.

305

dominante Redefigur ist deshalb die Unterscheidung zwischen einer äußerlich sichtbaren Oberfläche der Wirklichkeit und ihrem wahren Aussehen.2 Indikator einer solchen satirischen Intention ist eine typische Ausgestaltung der Textstruktur. Hierbei lassen sich zwei Typen unterscheiden, die in der literarischen Praxis oft kombiniert wurden, der Typus der an den moralischen Traktat angelehnten Moralsatire und der Typus des »Sünderlebens«. In der Moralsatire wird als Medium der Wirklichkeitsbewertung häufig eine satirische Person eingeführt, die gleichbleibende typische Merkmale aufweist. Es handelt sich um einen bloßen Beobachter der Welt, der außerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit steht.3 Jede Beteiligung an den Handlungen der Menschen würde ihn gemäß dem zugrundeliegenden Konzept selber zum Narren und zum Sünder machen. Die probate Veranschaulichung dieses Standorts ist die Rolle des Einsiedlers. Gleichzeitig hat dieser Beobachter trotz seiner Distanz ein fundiertes Wissen über die Hintergründe der Wirklichkeit. Er hat die volle Kenntnis des göttlichen Gesetzes und sieht hinter den glänzenden Schein der Oberfläche. Diese Position überlegenen Wissens wird ebenfalls durch wiederkehrende Bestimmungen der literarischen Figur veranschaulicht: Der Beobachter ist gelehrt und in der Regel alt genug, um Erfahrungen über die Welt gesammelt zu haben. Mit dieser Kombination von Distanz und Einsicht korrespondiert ein typisches Arrangement der räumlichen Situation: Als Beobachtungsstandort der satirischen Person dienen »ein Berg, ein Gebirgsgipfel, ein hoher Baum, ein Turm«, 4 so daß die satirische Person wörtlich »über den Dingen« steht. Die Satire ist wie ein moralphilosophischer Traktat systematisch gegliedert. Grundlage der Gliederung kann die Ordnung der Gesellschaft nach Ständen sein oder ein Katalog von Hauptlastern und korrespondierenden Tugenden. Nach diesem Katalog kann die Welt als eine additive Revue von »Narren« mit typischen Verhaltensweisen dargestellt werden. Die »Narrheiten« werden durch Personen mit dazugehörigen Gesten oder Kleidungsstücken verkörpert, die sich in einer allegorischen Landschaft befinden. Nach dem Prinzip der »moralischen Geographie«5 führt die satirische Person den Leser, der in der Moralsatire durch einen

2 3 4 5

vgl. Gaier, S. 428 und Wölfel, S. 88. vgl. Wölfel, S. 89. Wölfel, S. 91. vgl. zu diesem Begriff Kap. II, S. 104f. (der dritte Unterbegriff von »Utopia« bei Zedier!).

306

Schüler der satirischen Person vertreten werden kann, durch mehrere solcher allegorischer Landschaften. Ein Beispiel für dieses Verfahren ist der erste Teil der Gesichte Philanders von Sittewald von Moscherosch. Philander, der den unwissenden Leser vertritt, wird von der satirischen Person Expertus Robertus durch allegorische Gegenden geführt: »Darauff nähme mich der Alte bey der hand, ich aber folgete ihm; kamen also mit einander in eine schöne grüne Aue (...). Dieses mit den allerwohlriechendsten Blumen vnd Kräutern gemahltes Felde war mit zweyen Wässerlein gezieret, deren das ein süsses, das ander bitteres geschmacks, welche am Ende der Auen zusammenflössen, vnd durch etliche gesträuß vnd steine daher rauschen kamen, daß die, so dabey vorvber spatzieren gingen, sich des Schlaffs schwerlich enthalten mochten. Ich meynete änderst nicht, als ob ich in Cypro in der Venus Garten wäre.«6 Dieser allegorische Garten ist voll von »Venus-Narren« (S. 79), einzelnen Figuren, die jeweils eine Verhaltensweise Liebender verkörpern: »Im Garten gab es Gesellschafften allerhand: die Jungfrauen liefen den Männern nach, die Weiber den Junggesellen, die Männer den Jungfrauen, die Junggesellen den Weibern, die Herren den Mägden, die Frauen den Knechten, die Mägde den Herren, die Knechte den Frauen; hie Spielleute, dort Däntze, hie Fischen, dort Voglen, hie Hätzen, dort Jagen, hie Spielen, dort Baden, hie Küssen, dort Lecken (...). Auch sähe ich den Berg hinauf viel hauffen Weiber vnnd Männer hin vnd her spatzieren (...). Sie sahen meist traurig, elendig, nachsinnend, bleich, gelb, mager, dürr auß! (...) Einer seufftzete, der andre kratzete, der dritte verwunderte sich, der vierdte schämete sich, der fünffte lachete, der sechste weynete, vnd so fortan.« (S. 80f.) Diese globale Aufzählung wird über Seiten hinweg mit der Beschreibung unzähliger Figuren spezifiziert. Einzelne Unterabteilungen von Verhaltenstypen werden dabei in Häusern zusammengefaßt. Die Erfahrung der Wirklichkeit wird in diesem Darstellungsprinzip in kleinste Partikel einzelner Gesten und Verhaltensweisen zerlegt, jede Geste wird jeweils einer Figur zugeordnet, und die Figuren werden nach systematischen Gesichtspunkten gruppiert und verschiedenen Unterbezirken der allegorischen Landschaft zugeordnet. Sie stehen dann in solchen Gruppen völlig isoliert nebeneinander und wiederholen für sich bestimmte Zwangshandlungen. Ein Abbild unmittelbarer Wirklichkeitserfahrung entsteht damit nicht. Wenn man versucht, die Beschreibungen der allegorischen Gegend in seinem Bewußtsein als zusammenhängende Bildvorstellung zu realisieren, entsteht ein grotesker Eindruck. Man stelle sich probeweise folgende Beschreibung als eine wirkliche Szene vor: Philander und Expertus betreten ein Zimmer, in dem sich gleichzeitig Folgendes abspielt: »Eine sasse da vnd weinte bitterlich, wie ich vernahm, auß eitelem Eyffer, den sie gegen eine junge Wittfrau kurtzlich bekommen hatte. Eine andere war tag vnd nacht in stetiger vnruhe, ohne schlaffen, ohne trincken, dieweil sie einen lieb hatte, dem sie es doch (...) nicht dorffte 6

Hanns Michael Moscherosch, Wunderliche und wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewald, Straßburg 1650, hrg. von Felix Bobertag, Stuttgart 1883 (repr. Darmstadt 1964), S. 74.

307

offenbahren. Eine andere thate nichts als Brieffe schreiben, welche ihr doch nimmer recht gefielen, sondern eben so viel ausstrieche, als einschriebe. Eine andere stunde vor dem Spiegel vnd sähe, wie sie lachen, vnd im lachen mit zierlichen Geberden ihren liebsten einnehmen möchte. Eine andere deßgleichen, wie sie ihre Augen könnte regieren, bald hien vnd her kehren, funcklend vnd brennend machen, als ob Feuer im Ofen wäre, ihren Liebsten damit anzuzünden, oder gar zu verbrennen. Eine andere sasse vnd asse Kohlen, Kreiden, Pflaster, Spannisch-wachs u.d.g. damit sie die Lebhafte färbe vertreiben vnd hingegen ein bleiches Angesicht bekommen möchte (...). (S. 83). Ein weiterer Teil der Gesichte, der Abschnitt »Soldatenleben«, stellt die Wirklichkeit realistischer dar. Erzählt wird hier der Weg des Helden durch die Erfahrungswelt als Exempel für die grundlegende These, daß die Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit ihn notwendig zum Sünder macht. Dieser Teil folgt dem Satiretypus der Sünderbiographie. Dieser Typus entstand aus einer moralsatirischen Umformung des pikaresken Romans. Er wurde von Ägidius Albertinus in der deutschen Bearbeitung des Guzman de Alfarache7 entwickelt: Der Weg des Helden Gusman führt durch die Stationen einzelner Sünden zur Bekehrung. Diese Bekehrung ist gekoppelt mit der räumlichen Trennung von der Gesellschaft. Die strukturellen Indikatoren des moralsatirischen Konzepts sind auch in diesem Typus vorhanden: Welt und satirische Normfiguren sind strikt getrennt. Der Bekehrte kann sich nur dadurch ohne Sünde behaupten, daß er sich von der Gesellschaft zurückzieht. Der Typus der Sünderbiographie enthüllt noch deutlicher als die konventionelle Moralsatire, daß die Normen der christlichen Morallehre innerhalb der Gesellschaft nicht eingehalten werden können. Dies tangiert jedoch die Gültigkeit dieser Normen keineswegs, der Vorwurf trifft die Welt, nicht die Normen. Die Härte der Konfrontation zwischen Welt und göttlicher Ordnung im Typus der Sünderbiographie soll vielmehr unmißverständlich zeigen, daß kein einziger Leser sich einbilden darf, ohne Sünde zu sein. In aller Schärfe wird diese Konfrontation bei Moscherosch durchgeführt. Der Held Philander ist bereits ein Wissender, als er aus seinen allegorischen Gegenden in die Realität des Dreißigjährigen Krieges gerät, wo ihm Entscheidungen abverlangt werden: Er wird von plündernden Soldaten gefangengenommen und muß zusehen, wie er in dieser Gesellschaft überlebt. Obwohl er sich in ein »Maußloch« (S. 112) wünscht, in das er sich verkriechen könnte, bleibt nun auch in der Fiktion nicht der sonst übliche Ausweg in eine Einsiedelei oder auf eine einsame Insel, sondern der um die göttlichen Gebote 7

vgl. Rötzer, Roman des Barock, S. 42f.

308

wissende Philander muß in einer Gesellschaft bleiben, in der die Losung gilt: »der ist des Teuffels, der nicht mit saufft, hurt vnd bubt wie wir alle« (S. 331). Philander zieht das Sünderleben dem Tod vor und wird zum Komplizen der Verbrecher, die von den Soldaten an der Bevölkerung begangen werden. Er schwankt zwischen Anpassung an das Normensystem seiner Umgebung8 und Anwandlungen von schlechtem Gewissen,9 bis er endlich Gelegenheit hat, zu fliehen. Mit dieser Geschichte wird in extremer Form verdeutlicht, was im Konzept der Satiriker des 17. Jahrhunderts grundsätzlich für jede Anpassung des Verhaltens an die Wirklichkeit gilt und in Grimmelshausens Simplicissimus ebenso dargestellt wird: Die Welt ist voll Narrheit, Sünde und Unbeständigkeit. Wer in ihr handelt, wird unweigerlich selbst ein Narr und ein Sünder. Der Ausweg, den bei Albertinus und Grimmelshausen die Helden durch ihren Rückzug von der menschlichen Gesellschaft wählen, ist für den Leser nicht als Vorschlag zur Nachahmung gedacht. Die Leser sollen nur wissen, daß sie vor der Norm der göttlichen Ordnung überhaupt nichts richtig machen, und eingestehen, daß sie Sünder sind. Solche Texte sind Bußpredigten und ein Medium religiöser Unterweisung. Sie nehmen in ihrem Verdammungsurteil über die Welt dem Leser zunächst jede Hoffnung auf sein ewiges Heil, um ihn für religiöse Bußübungen als einzigem Ausweg bereit zu machen. Daß der Fromme in der Gesellschaft handeln könnte, ohne selbst seine Frömmigkeit und moralische Integrität preisgeben zu müssen, daß er gar dazu beitragen könnte, die Gesellschaft durch sein Exempel im positiven Sinn zu verändern, gehört nicht zum Konzept der Satiren dieses Typs. Die erzählten Handlungsverläufe enden mit dem Rückzug des Frommen oder Bekehrten aus der Wirklichkeit, so wie der Standort der satirischen Person außerhalb der Wirklichkeit liegt. Dieses Konzept und diese Struktur gilt nicht nur für diese beiden Typen, sondern auch für die utopische Erzählung auf dem Stand, den sie noch in Sinolds Glückseelig-

8

9

vgl. S. 3 0 6 : »Philander wird gut werden«, sagt einer der Soldaten, »wann er noch ein Zeit bey uns bleibet.« vgl. S. 3 3 0 : Mitten in einem Trinkgelage »gieng es mir wie dem Saulus, daß mich deuchte, ich hörete wahrhafftig eine Stimme, die zu mir sprach: Philander, Philander, es wird dir schwer werden, also wider Gott und Gewissen zu streitten. Also daß ich mitten im Dantz still stund vnd, gleichsam ich geschlagen wäre, nicht fort konte. Sasse derowegen ein wenig zur Ruhe beyseits vnd bedachte bey mir, was für eine Stimme das wäre, die ich hörete? Je mehr ich aber den Worten nachsonne, je mehr ward ich nun durch den Geist Gottes gerühret, daß ich einen Abschew vnd Eckel gewan ab allen diesen grossen Vntugenden, so ich verüben sähe vnd mir eyffrig vorname, so bald ich mit Fug konte davon kommen, keine Gelegenheit zu versäumen.«

309

ster Insul zeigt. Die Ähnlichkeiten sind unverkennbar und zeigen, daß diese Traditionen weit ins 18. Jahrhundert hinein wirken. 2. Der Satirentypus der Sünderbiographie wurde am Ende des 17. Jahrhunderts durch den pietistischen Bekehrungsbericht im Sinne einer gewandelten satirischen Intention weiterentwickelt. Prototyp aller pietistischen Bekehrungsberichte ist der Bericht August Hermann Frankkes, der von ihm 1692 niedergeschrieben worden ist.10 Dieser Bericht ist das grundlegende Dokument der pietistischen Bekehrungstheologie und stellt gleichzeitig eine neue Textstruktur bereit, die für die Weiterentwicklung der satirischen Gattungen, einschließlich der utopischen Erzählung, folgenreich werden sollte. Gegenstand des Textes ist ein Bewußtseinsvorgang in der Biographie Franckes, der von ihm als »Wiedergeburt« im religiösen Sinn und als das zentrale Ereignis seines Lebens erfahren wird. Dieses Erlebnis teilt seine Biographie in zwei Hälften, in eine negativ bewertete Phase vor der »Wiedergeburt« und eine positiv bewertete nach ihr. Daraus ergibt sich ein dreigliedriger Aufbau der Erzählung: Beschreibung des unbekehrten Lebens, Beschreibung der Krise und der Wende, Beschreibung des Lebens als »Wiedergeborener«. Nach der Beschreibung von Kindheit und Jugend wird die erste Phase des Lebens in einem Urteil über die Studienjahre an der Universität Leipzig zusammengefaßt: »Was mein Christenthum betrifft, ist dasselbe (...) gar schlecht und laulicht gewesen. Meine intention war ein vornehmer und gelehrter Mann zu werden, reich zu werden und in guten Tagen zu leben, wäre mir auch nicht unangenehm gewesen (...). Auch im äußerlichen stellete ich mich der Welt gleich, in überflüssiger Kleidung und andern Eitelkeiten« (S. 19). Er studiert zwar die Bibel und die Kirchenväter, aber er faßt alles »nur in die Vernunft und ins Gedächtnis« (S. 21), weil »das Wort Gottes nicht bey mir ins Leben verwandelt war« (ebda.).

Diese Zusammenfassung ist im Vergleich zu den Bekenntnissen in der pikaresken Sünderbiographie und vom Standpunkt der protestantischen Orthodoxie aus gesehen die Beschreibung eines rechtschaffenen, wenn nicht gar frommen Studentenlebens. Vom Standpunkt der Pietisten aus gesehen, der die »Wiedergeburt« bereits hinter sich hat, ist dies jedoch das Leben eines Sünders, da die Sünde für den Pietisten bereits mit der

10

August Hermann Francke, »Anfang und Fortgang der Bekehrung, Α. H. Franckes von ihm selbst beschrieben«, in: Pietismus und Rationalismus, S. 17-29.

310

geringsten Abweichung von der biblischen Norm beginnt. Dazu gehört das Streben nach einem hervorgehobenen sozialen Status und nach Reichtum, die Anpassung an biblisch verbotene Konventionen im Lebensstil und die Beschäftigung mit der Bibel aus bloß wissenschaftlichen Interessen. Der absolute Anspruch der göttlichen Gebote als satirischer Norm ist hier gegenüber der tradierten Moralsatire eher noch verschärft worden. Im Anschluß an die zusammenfassende Beschreibung der unbekehrten Phase des Lebens beginnt die minutiöse Beschreibung der seelischen Krise. Francke berichtet zunächst von diffusen Gefühlen des Unbehagens über sein bisheriges Leben, bis bei der Vorbereitung einer Predigt die Unzufriedenheit spezifische Formen annimmt. Die thematische Frage dieser Predigt soll nämlich auf die Unterscheidung des »wahren lebendigen Glaubens« und des »bloßen menschlichen und eingebildeten wahnGlaubens« (S. 23) zielen. Diese Frage wendet er auf sich selber an und bemerkt erstmals, »daß ich selbst einen solchen Glauben, wie ich ihn erfordern würde in der predigt, bey mir nicht fände« (ebda.). Alle Versuche, mit Vernunftgründen den Glauben zu stützen, schlagen fehl. »Solches nahm immer mehr die überhand, biß ich entlich von dem allen, was ich mein Lebenlang insonderheit aber in dem über acht Jahr getriebenen studio tbeologico von Gott und seinem geoffenbarten wesen und willen gelernet, nicht das geringste mehr übrig war, das ich von hertzen geglaubet hätte.« (S. 24).

In dieser krisenhaften Situation wird aus dem diffusen Unbehagen eine überdeutliche Sicht der negativen Seiten des bisherigen Lebens. Das Subjekt erlangt gegenüber der eigenen Biographie eine distanzierte Position, die der Position der tradierten satirischen Person gegenüber der Erfahrungswelt entspricht und im Anschluß an eine traditionelle satirische Bildvorstellung metaphorisch umschrieben wird: »Denn bey solcher würcklichen Verleugnung Gottes, welche in meinem Hertzen war, kam mir dennoch mein gantzes bißheriges Leben vor Augen als einem, der auff einem hohen Turm die gantze Stadt übersiehet. Erstlich konte ich gleichsam die Sünden zehlen, aber bald öffnete sich auch die Hauptquelle, nemlich der Unglaube oder bloße Wahn-Glaube, damit ich mich selbst so lange betrogen. Und da ward mir mein gantzes Leben und alles, was ich gethan, geredt und gedacht hatte als Sünde und ein großer Greuel für Gott fürgestellet.« (ebda.).

Es werden nun die Angstzustände, Depressionen und Weinkrämpfe der nächsten Tage beschrieben. Während der ganzen Phase des »Unglaubens« betet Francke weiter, Gott möge ihm die Gewißheit des Glaubens

311

schenken, bis sich ganz plötzlich die Krise löst. Dies wird von Francke als Bekehrungserlebnis empfunden und beschrieben: »Denn wie man eine hand umwendet, so war alle mein Zweiffei hinweg, ich war versichert in meinem Hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu (...), alle Traurigkeit und unruhe meines hertzens ward auff einmal weggenommen, hingegen ward ich als mit einem Strom der Freuden plötzlich überschüttet (...)· Ich stund gar anders gesinnet wieder auf, als ich mich niedergelegt hatte« (S. 26). Damit ist die Erzählung in der zweiten Phase des Lebens angelangt. Der Erzähler schildert nun den Zustand als »Wiedergeborener«. Dies geschieht vorwiegend im Kontrast mit dem Zustand des früheren Lebens. Die Gegensätze zwischen beiden Lebensabschnitten werden mit metaphorischen Gegensatzpaaren, wie Schlaf und Erwachen, 11 Tod und Leben, 12 Jauche und reines Wasser 13 dargestellt. Der distanzierte Standort gegenüber dem früheren Leben, den der Erzähler während der Krise gewonnen hat, bleibt erhalten. Da sich das Subjekt mit der »Wiedergeburt« auch von seinem angepaßten Verhalten gegenüber der umgebenden Wirklichkeit befreit hat, steht es jetzt, wie der traditionelle Satiriker, in einem antithetischen Verhältnis zu ihr. Das eigene Leben wird deswegen auch im Kontrast zur Erfahrungswelt beschrieben. Bei der Beschreibung des bekehrten Lebens bringt nun Francke gegenüber den pikaresken Sünderbiographien eine kleine, aber sehr wesentliche Veränderung: »Denn von der zeit her hat es mit meinem Christenthum einen Bestand gehabt, und von da an ist mirs leicht worden zu verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottseelig zu leben in d i e s e r w e i t , von da an habe ich mich beständig zu Gott gehalten, Beförderung, Ehre und ansehn für der weit, Reichthum und gute Tage und äußerliche weltliche Ergetzlichkeit für nichts geachtet, und da ich vorhin einen götzen aus der Gelehrsamkeit gemachet, sähe ich nun, daß Glaube wie ein Senff-korn mehr gelte als hundert Säcke voll Gelehrsamkeit, und daß alle (...) Wissenschaft als Dreck zu achten sey gegen die überschwengliche Erkenntniß Jesu Christi unsers Herrn. Von da an habe ich auch erst recht erkant, was Welt sey, und worinnen sie von den Kindern Gottes unterschieden sey.« (S. 28, Hervorhebg. von mir).

11

12

13

vgl. S. 27 »Denn es war mir, als hätte ich in meinem gantzen Leben gleichsam in einem tieffen Schlaff gelegen, und als wenn ich alles nur im Traum gethan hätte, und wäre nun erstlich davon auffgewachet.« vgl. ebda.: »Denn mir war zu muth, als wenn ich todt gewesen wäre, und siehe, ich war lebendig worden.« vgl. ebda.: »Denn die Ströme des lebendigen wassers waren mir nun allzu lieblich worden, daß ich leicht vergessen konte der stinckenden mistpfützen dieser weit.«

312

In dieser Passage behauptet Francke von sich, daß er seit seiner »Wiedergeburt« als »wahrer Christ« nach den Normen der göttlichen Gebote gelebt hat, daß er deswegen mit der übrigen unbekehrten Gesellschaft in Kontrast und Konflikt gestanden hat, daß er aber trotz dieses Konflikts »in dieser weit« bleibt. Nach seiner Darstellung kann die »Welt« ihn nicht mehr zu Anpassungen der biblischen Normen an die Realität zwingen und damit seinen Zustand der Vollkommenheit gefährden. Der Fromme setzt sich gegenüber der Gesellschaft durch, er muß nicht mehr aus ihr fliehen. Francke behauptet zum Schluß des Berichts von sich, daß ihm Gott nach seiner »Wiedergeburt« Beistand geleistet habe, den Kampf mit der »Welt« zu bestehen: »Denn die weit fienge auch bald an mich zu hassen und anzufeinden (...). Aber ich muß auch hierinnen die große treue und weißheit Gottes rühmen, welche nicht zulasset, daß ein schwaches Kind durch allzu starcke speise (...) verderbet werde (...). Also hat es mir auch nie an prüffungen gefehlet, aber Gott hat dabey meiner Schwachheit alle zeit geschonet und mir erst ein gar geringes, und dann nach und nach immer größeres maaß des Leidens zugetheilet, da mir aber allezeit nach der von ihm ertheilten Göttlichen Krafft das letztere und größere viel leichter worden zu tragen, als das erstere und geringere« (ebda. f.).

Der historische Francke mußte auch nach seiner »Wiedergeburt« Kompromisse zwischen den biblischen Normen und den Erfordernissen des Überlebens in einer unbekehrten Gesellschaft schließen, um seine Anstalten wirtschaftlich am Leben zu erhalten. 14 Streng genommen stand er damit vor der gleichen Konfliktsituation, die in der pikaresken Sünderbiographie thematisiert wird, vor der Unmöglichkeit, in der Welt die Gebote Gottes zu halten. Weil aber Francke diesen Konflikt bei sich selber nicht zu erkennen vermag oder sich bewußt zu einer literarischen Figur stilisiert, die diese Erfahrung nicht machen muß, übermittelt er mit seinem Text eine Vorstellung von der Wirklichkeit, die vom Konzept der tradierten Satire erheblich abweicht. Es geht Francke bei seinem Bericht gar nicht um den Ausdruck persönlichen Erlebens, sondern um Überredung. Nach seinen eigenen Angaben wurde der Text »zu dem Zweck verfaßt, einen jungen Menschen durch ein Exempel vor dem Atheismo zu retten«. 15 Der Text hat also bestimmte theologische Thesen zu

14 15

vgl. Kap. III, S. 254ff. Zitat aus einem Brief an Spener, nach dem Vorwort zu Franckes Bekehrungsbericht in: Pietismus und Rationalismus, S. 17.

313

demonstrieren und beim Leser Denkprozesse in Gang zu bringen.16 Veränderungen der tradierten Textstruktur sind deshalb nicht zufällig. Das Ende des pikaresken Sünderlebens in der Einsamkeit des Waldes oder einer Insel bestätigt am erzählten Einzelfall die allgemeine These, daß in der Welt leben und ohne Sünde leben unvereinbare Dinge sind. Genau diesen Punkt verändert die Struktur des Bekehrungsberichts: Der Held bleibt auch als »Wiedergeborener« in der Welt und bleibt gleichzeitig fromm und tugendhaft. Der »Wiedergeborene« liefert mit seiner Erzählung den anschaulichen Beweis dafür, daß man mitten in der »unbekehrten Welt« ein »Leben aus dem Glauben« führen und dabei glücklich und erfolgreich bleiben kann.17 In der Darstellung des Bekehrungsberichts bekommt also der Begriff »Welt« gegenüber der tradierten Satire einen neuen Inhalt. Wenn der Erzähler von »Welt« spricht, meint er nicht mehr »totus mundus«, sondern »Gesellschaft der Unbekehrten«. Die Kritik richtet sich nur mehr gegen einen Teil der Erfahrungswelt, während der »Wiedergeborene« sich selbst als Teil jener »unsichtbaren Kirche« aller »Wiedergeborenen« begreift, die von der Kritik ausgenommen wird. Von dieser Gemeinde, die durch jede Bekehrung vergrößert wird, geht nach dem Glauben der Pietisten die Verwandlung der Welt zum Reich Gottes auf Erden aus. Die Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen verläuft nicht mehr zwischen der Welt und dem Jenseits, sondern mitten durch die Wirklichkeit selber. Wenn ein Pietist die Geschichte seiner Bekehrung veröffentlicht, so übt er in ihr nicht bloß Kritik an seinem früheren unbekehrten Leben und an der noch unbekehrten Gesellschaft, sondern er verkündet allen Mitchristen, daß die Grenze zwischen dem Bösen und dem Guten wieder um ein Stück zugunsten des Guten verschoben worden und die erhoffte Vollendung der Welt wieder ein Stück näher gerückt ist. Die Wirklichkeit ist nach diesem Konzept also veränderbar. Sie trägt den Keim ihrer positiven Verwandlung bereits in sich, und das 16

17

Zu dieser Funktion des Bekehrungsberichts vgl. Werner Mahrholz, Deutsche Selbstzeugnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919, S. 150f. und Ralf-Rainer Wuthenow, Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974, S. 34. Francke hat alle seine Erfolge beim Aufbau des Waisenhauses in Halle bis hin zur Vertreibung Wolffs auf seine Bekehrung zurückgeführt, denn nach der pietistischen Bekehrungstheologie hat der »Wiedergeborene« in seinem täglichen Leben und in seiner Berufsarbeit »Werke des Glaubens« zu vollbringen, »deren Erfolg und Wirksamkeit im Sinne der Perfektionierung der Welt und des Nebenmenschen zugleich ein Zeichen seines Gnadenstandes sind« (Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 15).

314

wird durch die Textstruktur veranschaulicht. Denn die Normfigur ist nicht mehr isoliert oder gar Teil einer ganz anderen Welt, sondern Mitbürger. Es geht hier nicht mehr darum, die Leser von der unausweichlichen Sündhaftigkeit ihres Handelns in der Welt zu überzeugen. Vielmehr hat der Text den Zweck, diejenigen Leser zur Nachahmung des dargestellten Prozesses aufzufordern, die noch unbekehrt sind oder sich im »Bußkampf« befinden. Da es nach pietistischer Lehre bei der Vollendung der Welt auf die Entscheidung jedes einzelnen ankommt, ist die Form des autobiographischen Erlebnisberichts mit dem Anspruch der Authentizität konsequent. 18 Die Kritik an der Gesellschaft konfrontiert nicht mehr göttliche Ordnung und verderbte Welt, sondern zeigt den Konflikt zwischen dem bekehrten Individuum und seiner Umwelt. Franckes Bekehrungsbericht zeigt, daß satirische Weltbetrachtung vom Konzept der Pietisten aus eine neue satirische Intention impliziert und die Struktur der Satire verändert: Der Text soll nicht mehr bloß entlarven, er soll Veränderungen initiieren. Franckes Bekehrungsbericht hat in direkter Weise den tatsächlichen Ablauf von Bekehrungsprozessen beeinflußt und dadurch auf die Gestalt der mündlichen und schriftlichen Bekehrungsberichte eingewirkt, die man sich innerhalb der pietistischen Gemeinden des frühen 18. Jahrhunderts zur gegenseitigen Erbauung erzählt hat. 19 Neben dieser Tradition des Bekehrungsberichts als Gebrauchsform im pietistischen Gemeindeleben hat der Bekehrungsbericht als literarische Struktur, abgelöst von seinen speziellen religiösen Inhalten, im 18. Jahrhundert weitergewirkt. Die pietistische Überzeugung von einer positiv veränderbaren Welt, von der Möglichkeit des Menschen, sich nach einer moralischen Norm zu verhalten, und von der Bedeutung des individuellen Verhaltens für den

18

19

vgl. dazu Hans R. G. Günther, »Psychologie des deutschen Pietismus«, DVJS, 4,1926, S. 144—176, S. 151: »Im Pietismus ist der Erlösungsvorgang aus dem großen kosmischen Schauplatz in den inneren Erlebnisschauplatz der einsamen menschlichen Seele endgültig verlegt. Das bedeutet aber, daß an die Stelle des Kosmos der Mensch zum Gegenstand des Erlebens und Denkens geworden ist (...). Die pietistische Autobiographie ist der literarische Ausdruck für das Durcherlebthaben eines solchen individuellen Erlösungsprozesses.« vgl. dazu die Schilderung, die Salomo Semler von dem »Bußkampf« seines pietistischen Bruders in seiner Lebensbeschreibung gibt. (Pietismus und Rationalismus, S. 238f.). Hier erwartet ein depressiv Veranlagter das Glücksgefühl und die Gewißheit eines vollkommenen Lebens, das Francke in seinem Bekehrungsbericht als Zeichen der »Wiedergeburt« beschreibt, und hofft es durch die Nachahmung des Franckeschen »Bußkampfes« zu erzwingen. Da es sich nicht einstellt, hält er sich für verdammt.

315

Zustand der ganzen Welt gilt mit veränderten Inhalten auch für das Konzept des bürgerlichen Wirklichkeitsverständnisses in der Frühaufklärung. Aus diesem Grund taugt die Struktur des Bekehrungsberichts auch für die Formulierung moralischer Appelle mit aufklärerischen Intentionen. »Fromm« braucht nur ersetzt zu werden durch »tugendhaft«, die biblische Norm durch die Vernunft. Die Struktur des Bekehrungsberichts kommt damit Mitteilungsbedürfnisen entgegen, die weder in der Moralsatire, noch in der utopischen Erzählung in tradierter Form, noch in der pikaresken Sünderbiographie in gleicher Weise hätten formuliert werden können. In allen diesen Gattungen sind Norm und Wirklichkeit schon durch die Anlage der Textstruktur völlig voneinander getrennt: hier Tugendkatalog, dort Lasterkatalog, hier utopische Insel, dort Erfahrungswelt, hier die hohe Warte des Beobachterstandorts, dort unsinniges Narrentreiben auf der allegorischen Wiese, hier Buße in der Einsamkeit, dort Sünderleben in der Welt. Diese systematischen Gegenüberstellungen durch unüberbrückbare räumliche Gegensätze werden im Bekehrungsbericht zur Abfolge von zwei Abschnitten im Leben einer identischen Person innerhalb der Welt. Dies erleichtert die Integration satirischer Gegenüberstellungen in eine narrative Textstruktur. 20 Da die beiden Phasen des Lebens miteinander kausal verknüpft sind, kann beschrieben werden, wie der bisherige Zustand des Lebens den neuen Zustand entstehen läßt. Gegenüber der tradierten Struktur des Picaroromans, in der die zeitliche Abfolge von zwei Lebensphasen ebenfalls eine Rolle spielt, bleiben diese zwei Phasen im Bekehrungsbericht innerhalb derselben Wirklichkeit. Wo der Glaube an die Möglichkeit einer Veränderung der Welt beim Leser verfestigt werden soll, ist es günstiger, solche Prozesse vorzuführen, als nur starre Fronten gegenüberzustellen. Wie unbefriedigend jenes tradierte Verfahren für die Mitteilungszwecke des frühen 18. Jahrhunderts sein kann, hat die Analyse der Glückseeligsten Insul zur Genüge gezeigt. Die Struktur des

20

vgl. zum generellen Problem Karl Heinz Stierle, »Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte«, in: Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel, Geschichte Ereignis und Erzählung, München 1973 (= Poetik und Hermeneutik V), S. 347-375, S. 352f.: »Die Weise des Erzählens richtet sich nach dem Sowohl-als-auch, dessen Oppositionen im Nacheinander die Distanz bestimmen, die die Geschichte durchläuft. Das narrative Schema gibt die Möglichkeit, paradigmatische Oppositionen syntagmatisch zu entfalten (...). Dabei spielt eine Klasse von Oppositionen eine besondere Rolle, deren Richtungssinn determiniert ist. Oppositionen wie Leben - Tod, jung - alt, unerfahren — erfahren, sind Oppositionen, deren Konsekutiwerhältnis festgelegt ist (...)«.

316

Bekehrungsberichts zeigt hier einen Ausweg aus dem Dilemma der tradierten satirischen Textstrukturen. Wo es auf die persönliche Entscheidung und individuelle Erfahrung eines jeden Einzelnen ankommt, muß die Textstruktur überdies affektive Identifikationsmöglichkeiten mit dem dargestellten Geschehen ermöglichen. Für diese Aufgabe erweist sich die autobiographische Erzählsituation des Bekehrungsberichts als hilfreich. Sie macht es möglich, Bewußtseinsprozesse zu beschreiben, ohne den Schein authentischer Berichterstattung zu zerstören. Da der Erzähler auch von der negativen Phase seines Lebens spricht, kann auf diese Weise die negativ bewertete Welt aus einer »Innensicht« beschrieben werden. Dadurch können die emotionalen Antriebe des kritisierten Verhaltens authentisch enthüllt werden. Die satirische Bewertung des dargestellten Lebens ist jedoch immer sichergestellt, weil der autobiographische Erzähler aus einer verdoppelten Perspektive heraus spricht. Er versetzt sich in der Erinnerung in das Stadium seines Bewußtseins vor der Bekehrung und beschreibt von diesem Standort aus seine Handlungen und Gefühle. Gleichzeitig ist die Perspektive des Erzählers zum Zeitpunkt des Erzählens immer präsent. Aus dieser Perspektive des Bekehrten werden die wertenden Attribute und Kommentare zum Geschehen angefügt. Z u m Zeitpunkt des »Bußkampfes« kommt es zur Identität der Perspektiven: Das Urteil der erzählten Figur gleicht sich dem Urteil des Erzählers an. Durch diese Teilung der Perspektive findet auch ein unbekehrter Leser oder ein Leser, der in einer ähnlichen Krise steckt, Ansätze für eine Identifikation mit den Gefühlen des Helden und damit die Möglichkeit, die erzählte Bewußtseinsveränderung des Helden mitzuvollziehen. Das Identifikationsangebot wird durch die detaillierte Schilderung aller einzelnen Gefühle während der Krise erheblich verstärkt. Der Bekehrungsbericht wurde in der Literatur des frühen 18. Jahrhunderts auf zweierlei Weise genutzt: In ihrer ursprünglichen Gestalt als erbaulicher Bericht stellen Bekehrungsberichte Strukturelemente einzelner Romane dar, die innerhalb eines größeren Erzählzusammenhangs von einzelnen Figuren erzählt werden. 21 Einen Schritt weiter geht die Verwendung der Bekehrungsberichtstruktur für die Ordnung der Makrostruktur einer ganzen Erzählung im Abenteuerroman des frühen

21

vgl. dazu Singer, S. 147ff. (Bekehrungsbericht als Element des »galanten Romans«!) und Reiche, S. 54 (Sophie La Roche, Fräulein von Sternheim), S. 57 (Friedrich Nicolai, Sebaldus Nothanker), S. 137f. (Jung-Stillings Lebensgeschichte).

317

18. Jahrhunderts. 22 Die Ablösung der abenteuerlichen Episodenreihung durch die zweiteilige Struktur des Bekehrungsberichts macht aus der prinzipiell endlosen und frei kombinierbaren Reihe von Einzelereignissen einen unumkehrbaren Handlungsverlauf, der in Ansätzen bereits eine »innere Handlung«, eine Bewußtseinsentwicklung des Helden wiedergibt. Dadurch kann aus der Addition bloß unterhaltsamer Episoden eine Exempelerzählung mit moralischer Sinngebung gemacht werden. Dies entläßt den Abenteuerroman aus dem Vorwurf bloßer Unterhaltsamkeit und gleicht ihn den Anforderungen der zeitgenössischen Poetiken an. Ebenso gehören die für den Bekehrungsbericht typische Individualisierung der Perspektive und der Perspektivenwechsel zum Instrumentarium des Abenteuerromans im 18. Jahrhundert, auch wenn das Schema des Bekehrungsberichts bereits ohne den spezifisch religiösen Inhalt verwendet wird. 23 Wo in diesen Romanen die Wirklichkeit aus einer überindividuellen Sicht gezeigt werden soll, werden die autobiographischen Perspektiven vervielfältigt: Man schiebt in die Haupterzählung immer neue autobiographische Berichte von Figuren der Haupterzählung ein.24 Dieses Verfahren bringt wegen der vermehrten Identifikationsangebote einen Fortschritt der illusionierenden Darstellung. Es dokumentiert gleichzeitig eine veränderte Einschätzung der subjektiven Erfahrung und des Werts individueller Leistung. Eine der Entwicklungslinien, die zur Veränderung der utopischen Erzählung in der Insel Felsenburg führen, verläuft über diese Kombination von Bekehrungsbericht und Abenteuerroman. 3. Neben dem Typus der Sünderbiographie, der durch den Bekehrungsbericht abgelöst worden ist, hat man im frühen 18. Jahrhundert auch noch die Form der Moralsatire weitergeführt. Welche Entwicklungen es bei diesem Typus gegeben hat, soll exemplarisch an zwei Satiren Sinolds gezeigt werden. 22

23 24

vgl. zum Folgenden Weber, Selbstreflexion, S. 128. Weber bringt eine Analyse des Romans Des seltsame» Avanturiers sonderbare Begebenheiten von 1724, auf die ich mich hier stütze. Nach Weber wird in diesem Text zum erstenmal der Abenteuerroman mit der Bekehrungsberichtstruktur kombiniert. Er stellt damit in den zwanziger Jahren noch eine Ausnahmeerscheinung dar, zeigt aber bereits exemplarisch die Möglichkeiten, die mit dieser Kombination verbunden sind. Vor diesem Text ist allerdings schon der Robinson Crusoe in deutscher Übersetzung erschienen, in den ebenfalls eine Bekehrungsberichtstruktur eingebaut ist. vgl. Götz, S. 65ff. vgl. Götz, S. 120f.

318

a) Das unchristliche Christenthum / In einem offenherzigen Send-Schreiben / welches der bekehrte Chineser Pavang, aus Europa / an seinen in China zurückgelassenen vertrauten Freund / Maovenlung, abgehen lassen / deutlich vorgestellet / und mit sonderbaren zu dem heutigen Christenthum gehörigen Merckwürdigkeiten erläutert. Aus der Chinesischen Sprache in die Englische / und aus dieser in die Teutsche übersetzet / durch Ludwig Ernst von Faramond Franckfurt und Leipzig 1717. Daran angebunden ist ein zweiter Band mit dem Titel: Fernere Abbildung des Unchrisdichen Christenthums / oder Antwort-Schreiben / Welches der bekehrte Chineser Maovettlung aus der Kayserl. Residentz-Stadt Peking an seinen in Engelland befindlichen vertrauten Freund Pavang abgehen lassen. Aus der Chinesischen Sprache in die Englische und aus dieser in die Deutsche übersetzet durch Ludwig Ernst von Faramond Franckfurt und Leipzig 1712. Wie aus dem Titel hervorgeht, ist das Werk ein Reisebericht in Briefform. Der Chinese Pavang, der diesen Brief an seinen Freund Maovenlung in Peking schreibt, beginnt mit der Vorstellung seiner eigenen Person. Er ist in China von katholischen Missionaren zum Christentum bekehrt worden und gelangt aus eigenem Antrieb zu einer so konsequenten Auffassung der christlichen Lehre, daß er in Konflikt mit den katholischen Missionaren gerät. Er nimmt Anstoß an der Erlaubnis für die Neugetauften, weiterhin an heidnischen Riten teilzunehmen, 25 und verlangt von den Missionaren, daß sie ihm die Bibel zu lesen geben. Da ihm dies mit dem Hinweis verweigert wird, daß die Bibel nur von Priestern gelesen werden dürfe, macht er sich auf, um in Europa, dem Ursprungsland des Christentums, bessere Christen zu suchen. Er freundet sich mit dem englischen Schiffskapitän William Friend an, der sich bereit erklärt, Pavang mit nach Europa zu nehmen. William Friend erzählt auf dem Schiff seine Lebensgeschichte, die Pavang nun wörtlich in seinem Brief zitiert: Friend hat als Sohn eines Pfarrers in England Theologie studiert und eines Tages bei einem Trinkgelage einen Kommilitonen erstochen. Nach seiner Flucht ist er Seefahrer in holländischen Diensten und führt in den Kolonien ein wüstes Leben. Nach seiner Begnadigung durch die Königin steht er im Dienst der englischen Flotte. Er meldet sich für eine Reise nach China, weil er »von unterschiedlichen See-fahrenden gehöret hatte / daß dasselbe eines derer bequemsten Länder seye / sich mit allerhand fleischlichen Ergetzungen zu vergnügen« (S. 29). Auf der Reise nach China erkrankt er und bekehrt sich schließlich. Er will nach England zurückfahren, um auf dem Land ein christliches Leben zu führen. 25

Zur Bedeutung dieser Frage in der aktuellen kirchlichen Diskussion vgl. Kap. III, Anm. 59.

319

Nach diesem Zitat der Erzählung Friends berichtet Pavang von der Reise durch Europa. Er schildert einzelne Erlebnisse, gibt zusammenfassende Übersichten über die europäischen Verhältnisse und reflektiert seine Beobachtungen. Friend und Pavang landen mit ihrem Schiff in Livorno. Pavang reist dann allein weiter nach Rom in der Erwartung, eine christliche Stadt vorzufinden. Er muß aber bald feststellen, daß hier der Karneval zugelassen ist und der Papst auch Opernhäuser und Schauspielbühnen unterhält, was sich alles nicht mit Pavangs Begriff vom Christentum vereinbaren läßt. Er reist schließlich von Italien ab und kommt in eine lutherische Residenzstadt in Deutschland. Am Tag seiner Ankunft wird gerade aus Anlaß einer gewonnenen Schlacht ein höfisches Fest gefeiert. Dann berichtet Pavang noch in allgemeiner Form von der Regierungsweise und den kirchlichen Verhältnissen in Deutschland. Am Schluß des Briefes werden die Ergebnisse von Pavangs Beobachtungen, gegliedert nach einzelnen Berufsständen, zusammengefaßt. Von dieser allgemeinen Kritik werden einige Fromme ausgenommen, deren Existenz Pavang vermutet, die aber auf seiner Reise nie in Erscheinung getreten sind. Ihre Bedeutung wird von Pavang gering eingeschätzt. Er meint, »daß (...) die geringste Zahl / nemlich die Frommen/ wenig bessern können / indem sie kaum so viel Freyheit haben / über das unchristliche Christenthum in einem verborgenen Winckel zu seuffzen« (S. 90). Der Brief schließt mit dem Bericht von der Weiterreise nach England zu William Friend, der »ein kleines aber sehr angenehmes Land-Haus gekauffet / um daselbst von dem Getümmel dieser Welt weit entfernet / sein Leben mit geistlichen Übungen in der vergnügten Einsamkeit zuzubringen« (S. 207). Während Pavang bisher vergeblich nach den »wahren Christen« gesucht hat, kommt er hier zur Ruhe: »Ich kan hiernechst nicht läugnen / daß mein Gemüthe noch nirgends in Europa so ruhig gewesen / als an diesem einsamen Ort / und in der Gesellschaft eines so gottseeligen Mannes / welcher seine Vergnügung in Gott höher hält / als die gantze Welt / samt aller ihrer betrüglichen Herrlichkeit.« (ebda.)

Der zweite Band enthält das Antwortschreiben des Chinesen Maovenlung. Er wiederholt die Informationen Pavangs und gibt seinen Kommentar dazu. Am Schluß zitiert er achtzig moralische Lehrsätze des Konfuzius, die er christlich interpretiert und auf die europäische Situation überträgt. In Sinolds Unchristlichem Christenthum lassen sich zwei Hauptbestandteile isolieren und bekannten Elementen der tradierten satirischen Gattungen zuordnen. Der erste Bestandteil des Textes besteht in der 320

Reisebeschreibung eines Fremden durch einige Gegenden Europas, verbunden mit einer kritischen Kommentierung der Beobachtungen im Namen einer satirischen Norm. Damit wird in abgewandelter Form die Reise des traditionellen Satirikers durch einzelne allegorische Gegenden wiederholt. Der Handlungsaufbau ist auch der utopischen Erzählung vergleichbar. Während die Reise dort durch das Land führt, das die Normen verkörpert, reist hier eine isolierte Normfigur, die nahtlos in das »Land der Zufriedenheit« passen würde, durch die kritisierte Wirklichkeit. Das Ganze sieht wie ein Ergänzungsband zur Glückseeligsten Insul aus, in dem die Kritik an der Erfahrungswelt konkretisiert wird. Auch die Art der Darstellung durch das Medium einer distanzierten Person verweist auf die Tradition der Moralsatire. Die Funktion des wissenden Weltbetrachters außerhalb der Gesellschaft übernimmt hier der Chinese Pavang. Er verhält sich genauso passiv wie die tradierte satirische Person. Irgendeine Handlung außer der Reise und der notwendigen Kontaktaufnahme in Gesprächen mit den Bewohnern Europas gibt es nicht. Wie in der Moralsatire wird der Stoff von ihm systematisiert, indem er am Schluß des Briefes seine Kritik an Europa nach Ständen gliedert. Diese moralsatirische Textstruktur wird mit der Autobiographie William Friends kombiniert. Ihr Inhalt entstammt der Tradition pikaresker Erzählungen und wird auf die Daten reduziert, die für die Funktion der Erzählung innerhalb der Moralsatire wesentlich sind. William Friends Lebensgeschichte als Abstieg vom Theologiestudenten zum Verbrecher demonstriert an einem Einzelfall das Urteil Pavangs über die europäische Christenheit und bestätigt mit ihrem Ende das Normensystem, das Pavang vertritt. Diese Kombination von Moralsatire und Sünderbiographie ist nicht neu. Es handelt sich im Prinzip um das gleiche Verfahren, mit dem hundert Jahre früher Ägidius Albertinus die verkürzte Version des Guzman de Alfarache zum Exempel in einer Moralsatire gemacht hat. Die veränderte Situation, in der Sinold seinen Text schreibt, wird nicht in grundlegenden Veränderungen der Satirenstruktur sichtbar, sie ist jedoch an Modifizierungen der einzelnen Strukturelemente abzulesen. Auffällig sind die Veränderungen bei der Bestimmung der satirischen Person. In der traditionellen Moralsatire besitzt sie zugleich das Wissen um die Normen und eine gründliche Kenntnis der Wirklichkeit. Der Chinese Pavang kennt ebenfalls die Normen sehr genau, aber er ist in Europa ein Fremder, der in der Rolle des ingenu mit positiven Erwartungen an Europa herangeht und erst in einem allmählichen Erfahrungsprozeß den wahren Unwert der christlichen Gesellschaft in 321

Europa begreifen lernt. Es geht nur mehr darum, den Leser mit der Perspektive Pavangs vertraut zu machen, damit ihm die eigene Umwelt so fremd wird, wie sie dem Chinesen erscheint. Pavang leitet überdies aus dem Anspruch der christlichen Missionare eine positive Erwartung von Europa ab, er mißt Europa am Anspruch der europäischen Gesellschaft, die sich christlich nennt, und stellt laufend Diskrepanzen fest. 26 Was in der traditionellen Moralsatire durch die »nennende« Feststellung des Satirikers aufgezeigt wird, geschieht hier durch die Darstellung eines Prozesses immer neuer enttäuschender Entdeckungen. Damit wird die Entlarvung der Wirklichkeit in einem für den Leser nachvollziehbaren Lernprozeß dargestellt. Mit der Wahl eines Chinesen als satirischer Person knüpft der Autor an eine europäische Neuentwicklung der Moralsatire an, die in der aktuellen moralphilosophischen Diskussion zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt. Es geht in dieser Diskussion um die Frage, ob der Mensch von sich aus und auf den Grundlagen einer natürlichen Moral fähig sei, sich tugendhaft zu verhalten. Die verschiedenen Antworten auf diese Frage markieren auch Einschnitte in der Entwicklung der satirischen Gattung. Auch Sinolds Figur des Chinesen Pavang stellt mit ihren einzelnen Merkmalen eine präzise Position in dieser Diskussion dar. Die Satiren des 17. Jahrhunderts verneinen diese Frage auf Grund ihres Konzepts von einer erbsündigen Welt und ihres Festhaltens an einer theologisch begründeten Verhaltensnorm. Der Bekehrungsbericht Franckes hält ebenfalls noch an einer theologisch begründeten Norm fest, vertritt aber bereits die These, daß jeder Mensch, der sich anstrengt, von Gott den Beistand bekommt, nach dieser Norm zu leben. In der europäischen Frühaufklärung schließlich kommt es zu einer polemischen Wendung gegen die Ausschließlichkeit der Herleitung moralischer Normen aus der übernatürlichen Offenbarung und gegen die These von der Verderbtheit der menschlichen Natur. Dagegen wird die Auffassung gesetzt, daß die natürliche Vernunft hinreichend ist, um sittlich gutes Handeln zu begründen. 27 Innerhalb 26

27

vgl. ζ. B. S. 53: Pavang kommt nach Rom: »Ich wüste wohl / was zur Zeit derer Heydnischen Kayser daselbst / vor Schand-Thaten vorgegangen waren (...). Ich wüste aber auch / daß die Heyden / mit allen ihren Götzen und anderen Greueln/ vorlängst daselbst ausgerottet waren / und dannenhero verhoffete ich / nunmehro eine solche Lebens-Art in Rom zufinden / wie sie GOtt von seiner Kirche auf Erden erfordert.« Als er in Rom ankommt, muß er feststellen, daß es in der Hauptstadt der Christenheit genauso unchristlich zugeht, wie zur Zeit der römischen Kaiser. Von dieser Bewegung zu unterscheiden ist die Begründung der politischen Moral durch die Prudentia civilis, die sich auch schon im 16. und 17. Jahrhundert auf die natürliche Vernunft stützt, aber gleichzeitig die moralischen Normen des privaten und öffentlichen Bereichs trennt.

322

dieser Polemik wird häufig die hohe Moral der Chinesen zitiert, die auf bloßen Vernunftgründen aufbaut. Die Chinesische Moralphilosophie dient als demonstratives Exempel innerhalb der Beweisführung für eine reine Vernunftmoral. In dieser Funktion führt Pierre Bayle in seinen Pensees sur la Comete die natürliche Moral der Chinesen an, um eine religionslose Moral zu begründen. 28 1697 erscheint von Leibniz die Schrift Novissima Sinica, die zur Mission der Chinesen aufruft und sich von der Kombination Chinesischer Vernunftsmoral und Christentum Anstöße zu einer Reform der europäischen Gesellschaft verspricht.29 Auch Christian Wolff vertritt die These, »daß Atheismus und Unmoral nicht identisch seien, daß, wenn ein Atheist unmoralisch sei, dies nicht aus seinem Atheismus herrühre, sondern aus seiner mangelnden Erkenntnis des Guten und Bösen«.30 Dies ist auch die Grundthese seiner bekannten Rede De Sinarum philosophia practica, die er 1721 in Halle hielt und in der die Moralphilosophie der Chinesen als beweiskräftiges Exempel vorgeführt wird. 31 In dieser Rede wird der Hinweis auf die Chinesen als ein Element aus der Argumentationsreihe für eine vernünftige Moral isoliert und breiter ausgeführt. Die Konfrontation der eigenen Gesellschaft mit der Moral der Chinesen wird damit zu einem Topos der Kritik an Europa und seinen Verhaltensnormen. Dieser Hinweis auf die Moral eines nichteuropäischen und vor allem nichtchristlichen Volkes als Ausgangspunkt der Kritik an der eigenen Wirklichkeit und den eigenen Verhaltensnormen entstammt dem Reisebericht des 16. und 17. Jahrhunderts. 32 Solche Reiseberichte übernehmen damit durchaus satirische Funktionen, und sie gleichen in ihrer Struktur der utopischen Erzählung. Während im 17. Jahrhundert das Interesse vor allem den entwickelten Zivilisationen der orientalischen Völker gilt, verlagerte sich im 18. Jahrhundert das Interesse der Gesellschaftskritiker auf die »Naturvölker« der Südsee, bei denen man im Gefolge des Rousseauismus den verlorenen unschuldigen Naturzustand der Menschheit zu finden glaubte. 33 So nahe solche Reiseberichte in der Schilderung einer tugendhaften

28

29 30 31

32

33

vgl. Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 5 1965, S. 330. Zum Chinabild Europas im 17. Jahrhundert vgl. auch S. 47ff. vgl. Erich Beyreuther, S. 84ff. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 401f. vgl. ebda. Diese Rede fand entschiedenen Widerspruch bei den hallischen Pietisten, die aus der Rede ein Bekenntnis zum Atheismus herauslesen wollten. Die daran anschließenden Auseinandersetzungen führten schließlich zur Ausweisung Wolffs aus Preußen. Wolff gebraucht auch in seinen deutschen Schriften das Beispiel der Chinesen. Seine Moralsätze, die sich aus einem System von Syllogismen ergeben, bekommen damit eine zusätzliche Absicherung durch die Erfahrung. vgl. Dieter Lohmeier, Nachwort zu: Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, Schleswig 1656, hrg. von Dieter Lohmeier, Tübingen 1971, S. 1 - 9 8 , S. 55. vgl. Wilhelm E. Mühlmann, »Entstehung und Wachstum des ethnographischen Horizonts«, in: Rassen, Ethnien, Kulturen, Moderne Ethnologie, Neuwied-Berlin 1964, S. 15—46, S. 21. Ein sehr frühes und vereinzeltes Beispiel für diese erst im 18. Jahrhundert breiter wirksame Betrachtung ist Montaignes Essay über die Kannibalen (1,30). Bougainvilles Bericht über Tahiti von 1772 ist ein typischer Reisebericht in dieser Funktion. Die Reiseberichte Georg Forsters über die Südsee versuchten dagegen, das

323

Gesellschaft der utopischen Erzählung auch kommen: Ihre Verfasser vermitteln mit diesen Texten eine völlig andere Botschaft als in der utopischen Erzählung. Denn diese Beschreibungen treten ohne ironische Relativierungen mit dem Anspruch auf, Darstellungen der Realität zu sein. Die vollkommene und tugendhafte Gesellschaft befindet sich zwar nicht in Europa, aber doch innerhalb der Welt, und das heißt, daß nach dem Konzept der Verfasser der Mensch an sich fähig wäre, tugendhaft und glücklich zu leben, daß es sich also lohnen könnte, Veränderungen der eigenen Gesellschaft zu versuchen. Wie im pietistischen Bekehrungsbericht wird hier die Grenze zwischen Gut und Böse durch die Erfahrungswelt selber gezogen, die Normfigur ist Teil der Wirklichkeit. Als Komplementärtyp entsteht die Form eines fiktiven Reiseberichts durch Europa selbst, verfaßt von dem Angehörigen einer außereuropäischen Gesellschaft. 3 4 Der Fremde beobachtet ohne Kenntnis der europäischen Gewohnheiten und Verhaltensnormen von seinem eigenen Vorstellungs- und Normensystem aus die Verhältnisse in Europa, bewertet sie und berichtet seine Beobachtungen und Wertungen in Briefen an Freunde in der Heimat. Gegenstand der satirischen Betrachtung ist damit nicht mehr bloß die europäische Wirklichkeit, sondern auch das europäische Normensystem, das in der christlichen Moralsatire bestätigt wurde. Dieser Typus ist in der französischen Literatur von Jean Paul Marana erfunden worden. 35 Seine 1 6 8 4 erschienene Satire ahmt die Form der Gesandtenrelation nach: Ein türkischer Spion berichtet der Regierung seines Landes über die Zustände an den Höfen Europas. Im 18. Jahrhundert ist dieser neue Satirentyp weit verbreitet. 36

34

35

36

von Bougainville und den Rousseauisten entworfene Bild der Südsee zu revidieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang Georg Forsters Polemik gegen dieses Bild, weil er es mit utopischen Vorstellungen identifiziert: »Der Naturmensch der Neueren ist ein widersinniges Unding, welches in keine mögliche Welt paßt, außer etwa in die, wo Löwen Gras fressen, Tiger Lämmer hüten und Adler die jungen Täubchen füttern: das ist eine Welt des Widerspruchs, in der alles aufhört zu sein, was es ist.« (zitiert bei Mühlmann, S. 22). Die Wortwahl Försters knüpft an die Kritik der utopischen Erzählung durch die Frühaufklärer an (vgl. Kap. II, S. 140ff.). Bougainvilles Beschreibungen sind für Forster »leere Einbildungen« im Sinne Wolffs. Die Bildvorstellungen, mit denen Forster dieses Konzept kennzeichnet, stammen aus dem Bereich chiliastischer Prophetien (vgl. Jesaia, ll,6ff.). vgl. zum Folgenden: Paul Hazard, Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949, S. 33ff.; Hans Gloyer, »The Citizen of the World« und seine Vorbilder, Diss. Hamburg (masch.) 1924; Hamilton Jewett Smith, Oliver Goldsmith's >The Citizens of the WorldInsel Felsenburg< und ihre formengeschichtliche Einordnung«, GRM, NF., 11, 1961, S. 51-61, S. 60.

418

eine entscheidende Aufgabe bei der Herstellung einer satirischen Textstruktur. Mit den Themen, die in den Lebensläufen und bei der Darstellung der utopischen Insel genannt werden, ergibt sich ein Netz von thematischen Verknüpfungen zwischen einzelnen Szenen aus der utopischen Welt und denen der europäischen Welt. Wie diese Verknüpfungstechnik funktioniert, soll nun an ausgewählten Themenbereichen dargestellt werden. — Zum Thema »Umgang mit Geld und Besitz« gibt es in der utopischen Welt einige Szenen mit eindeutiger Verweisungsfunktion. Eberhard erzählt von den Einwohnern von »Stephans-Raum«, daß ein Bach durch ihr Gebiet fließt, der Gold führt, »wie uns denn die Einwohner fast mit einem gantzen Hute voll dergleichen, deren die größten in der Form eines Weitzen-Korns waren, beschenckten, weil sie es als eine artige und gefällige Materie zwar einzusammlen pflegten doch lange nicht so viel Wercks draus machten, als wir Neuangekommenen« (I, S. 93). Die Bewohner der Insel sind sehr reich. Als Albert und Concordia Robert Hülter ihre Schätze zeigen, meint dieser, sie würden in Europa in ihrem Reichtum nur von »großen Potentaten« (I, S. 164) übertroffen. Doch Albert antwortet, »daß ich und meine Hauß-Frau diese Sachen sehr gering (...) schätzten« (ebda.). Auch Virgilia van Cattmers sagt zu Amias Hülter, sie sei eine reiche Frau, in der Überzeugung, daß dies auch ein Argument für ihren Wert als heiratsfähige Person sei,37 und bekommt zur Antwort, man brauche ihr Geld nicht, sie hätten auf Felsenburg mehr, aber es bedeute ihnen nichts (I, S. 208). Alles Geld ist auf der Insel aus dem Verkehr gezogen. Albert verwahrt es in seinem Keller, »um alle Gelegenheit zum Hoffart, Geitz, Wucher und andern daraus folgenden Lastern« (I, S. 230) zu vermeiden. Nichtsdestoweniger wissen die Felsenburger außerhalb ihrer Insel, wenn sie wie Leonhard 37

Zu den zeitgenössischen Auffassungen und Verhaltensweisen vgl. Martens, Botschaft der Tugend, S. 313-315. Die Moralischen Wochenschriften sehen bei Heiraten eine gute Mitgift als eine positive und notwendige Voraussetzung an. Daß sie Tugend und Verstand des Partners theoretisch über die Mitgift stellen, entspricht nicht der tatsächlichen Praxis, »Ehen unter vorwiegend ökonomischen Gesichtspunkten einzugehen« (S. 315). Auch für diese Praxis gab es im 18. Jahrhundert theoretische Rechtfertigungen: Nach der calvinistischen Tradition wird davon ausgegangen, daß man den Willen Gottes dann am besten verwirklichen könne, wenn man bei der Partnerwahl jede sinnliche Regung ausschalte. In diesem Kontext ist es geradezu ein gottgefälliges Werk, eine Geldheirat einzugehen, weil man damit nicht seiner Sinnlichkeit nachgegeben hat. Vgl. dazu Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Tübingen, 3. Aufl. 1966, S. 12, S. 136f. und S. 152f.

419

Wolffgang nach Europa geschickt werden, sehr wohl mit Geld umzugehen und ihren Reichtum einzusetzen. Das negative Verhältnis auf der Insel zu Besitz in Form von Geld berührt freilich nicht das positive Verhältnis ihrer Bewohner zum Besitz an sich: Albert Julius arbeitet beständig und regelmäßig38 und erarbeitet sich damit sehr viel mehr an Besitz, als die beiden für ihren und ihrer Kinder Lebensunterhalt brauchen. An diesem Überschuß seiner Produktion hat Albert großes Interesse, denn er wird von ihm auf das sorgfältigste registriert.39 Obwohl der Vorrat an erarbeitetem Besitz im Lauf der Jahre immer weiter den Bedarf der Bewohner übersteigt, hören sie dennoch nicht auf, zu arbeiten und zu produzieren: »Unser Vorrath an Wein, Geträyde, eingesaltzenen Fleische, Früchten und andern Lebens-Mitteln war dermassen gewachsen, daß wir fast keine Gefässe, auch keinen Platz in des Don Cyrillo unterirdischen Gewölben, selbige zu verwahren, weiter finden konten, dem ohngeacht säeten und pflantzten wir doch Jahr aus, Jahr ein (...)« (I, S. 165).

Wenn man das Prinzip der Arbeit um auskömmlicher Nahrung willen als Norm an dieses Verhalten anlegte, das bei Sinold noch eine wichtige Rolle spielt,40 so wäre das Verhalten der Felsenburger bereits sündhaft. Sie arbeiten unnötig, um Besitz anzuhäufen, anstatt die verbleibende Zeit mit frommen Übungen zu verbringen. Doch der durch Arbeit angehäufte Besitz bleibt nicht Selbstzweck, er wird für die Felsenburger vielmehr zum Anlaß, ihn nutzbringend für die übrige Gesellschaft einzusetzen: Sie beschließen, ihre Insel zur Heimstatt für neue Siedler zu machen: »Amias erseuffzete hierüber öffters, und sagte eines Abends (...): Ach wie viel tausend (...) sind doch unter den Christen anzutreffen, die mit ihrer sauern Hand-Arbeit kaum so viel vor sich bringen, daß sie sich nach Vergnügen ersättigen können. Die wenigsten Reichen wollen den Armen von ihrem Überflusse etwas ansehnliches mittheilen, weil sich sie befürchten, dadurch selbst in Armuth zu gerathen, und wir Einwohner dieses Paradieses wolten gern unsern Nächsten alles, was wir haben, mit geniessen lassen, so muß es uns aber nur an Leuten fehlen, die etwas von uns verlangen. Allein, mein werthester Julius, fuhr er fort, stehet es uns zu verantworten, daß wir allhier 38

39

40

vgl. I, S. 132 und S. 137: »Wiewohl nun bey uns nicht der geringste Mangel (...) vorhanden war, so konte doch ich nicht müßig sitzen.« Auch Concordia »saß (...) in dem Hause niemahls müßig, sondern nehete vor sich, die kleine Tochter und mich allerhand nöthige Kleidungsstücke« (ebda.). vgl. ζ. Β. I, S. 140: »so habe doch nachhero ausgerechnet, daß wir von dieser unserer ersten Außsaat ohngefähr erhalten hatten, 35. Scheffel Reiß, 10. biß 11. Scheffel Korn, 3. Scheffel Weitzen, 12. biß 14. Scheffel Gersten und 4. Scheffel Erbsen.« vgl. Kap. III, S. 266ff.

420

auf der faulen Banck liegen, und uns eine kleine Mühe und Gefahr abschrekken lassen, zum wenigsten so viel Menschen beyderley Geschlechts hieher zu verschaffen, als zur Beheyrathung eurer Kinder von nöthen seyn (...). Lasset uns den behertzten Entschluß fassen, ein Schiff zu bauen, und unter starcken Vertrauen zu Göttlichem Beystande an das nächstgelegenste Land oder Insul anfahren, wo sich Christen aufhalten, um vor eure Kinder Männer und Weiber daselbst auszusuchen« (I, S. 165f.). Mit diesem Entschluß wird gezeigt, daß die Anhäufung von Besitz durch produktive Arbeit nicht von vornherein etwas Negatives sein muß, sondern daß es darauf ankommt, wie man sein Arbeitsprodukt nutzbringend anwendet. Mit solchen Szenen gelingt es Schnabel weit besser als Sinold, die positiven Aspekte des modernen Arbeitsbegriffs in das Bild seiner utopischen Insel überzuführen. Die Ausschaltung des Geldes beim Thema des Besitzerwerbs durch Arbeit, mit der sich Schnabel an ein tradiertes Motiv der Gattung gehalten hat, hat die positive Darstellung des Erwerbsstrebens und ihre Kombination mit traditionell christlichen Verhaltensweisen erheblich erleichtert. Der Besitz als Folge von Arbeit kann so als etwas Nutzbringendes dargestellt werden, wobei alle Assoziationen zum ungerechten Mammon, den man geizig in Kisten anhäuft, ausgeschaltet bleiben.41 Zu all diesen Szenen über die gleichgültige Einschätzung des Geldes und die nutzbringende Anwendung des produzierten Besitzes kontrastieren Szenen, in denen gezeigt wird, wie in Europa die Überschätzung des Geldes und der schlechte Gebrauch von Besitz zu Unglück führt: So kommt Eberhard Julius in eine verzweifelte Lage, weil sein Vater durch riskante geschäftliche Abenteuer seines Partners bankrott gemacht hat 41

Bei den zeitgenössischen Begründungen des bürgerlichen Arbeitsbegriffs mußte vor allem gezeigt werden, daß Gewinn durch produktive Arbeit mit der christlichen Moral zu vereinbaren ist. Diese Begründung war im Kontext der Lutherischen Arbeitslehre schwer zu formulieren. Die Hauptschwierigkeit war, Gewinnstreben, das über den Bedarf auskömmlicher Nahrung hinausging, von habgierigem Gelderwerb begrifflich zu trennen. In Hallers Alpen ζ. B. geht mit der Ablehnung des Gelderwerbs auch gleich der moderne Arbeitsbegriff verloren: Die Schweizer sind hier deswegen tugendhaft, weil sie »infolge der Rauheit des Klimas (...) selbst bei härtester Arbeit nichts als ihren niedrigsten täglichen Bedarf decken« (Η. M. Wolff, S. 89) können. Schnabel entspricht mit seiner Bildvorstellung sehr viel mehr dem bürgerlichen Tugendbegriff: Die Felsenburger bleiben trotz ihres erarbeiteten Besitzes tugendhaft. Dieser Besitz ist freilich kein Geld, sondern ein Produkt, das dem Nutzen der Gesellschaft dient. Auch der Handel innerhalb der Insel geschieht auf der Basis der Naturalwirtschaft. Vgl. dazu I, S. 184: Die Bewohner von »Christians-Raum« haben die Aufsicht über die Schleusensysteme des Flusses und des Kanals: »Vor die gute Aufsicht, und Besorgung wegen der Brücken und Schleusen, musten ihnen alle andern Einwohner der Insul sonderlich verbunden seyn, auch davor einen gewissen Zoll an Weine, Saltz und andern Dingen, die sie selbst nicht in der Nähe haben konten, entrichten.«

421

(vgl. I, S. 26). David Rawkin wird beinahe ein Opfer der Geldgier eines räuberischen Wirtes (vgl. I, S. 192); Virgilia van Cattmers wird von der Pflegemutter um ihr Vermögen gebracht (vgl. I, S. 215). In allen diesen Fällen werden Menschen gezeigt, die auf unrechtmäßige oder riskante Weise zu Besitz kommen wollen, nicht durch beständige Arbeit. Ein weiterer Punkt ist der leichtsinnige Umgang mit dem Besitz. Beispielhaft dafür ist das Verhalten Leonhard Wolffgangs, der plötzlich mehr Geld für sein Studium erhält, es aber für die Finanzierung eines lockeren Lebenswandels verwendet, bei dem er schließlich in ein Duell verwickelt wird und fliehen muß (vgl. I, S. 29). Geld und Besitz sind hier, anders als auf der Insel, Anlaß zur Sünde und Ursache von Leid. - In gleicher Weise korrelieren in der Frage der bürgerlichen und religiösen Toleranz positive und negative Szenen. Auf der Insel ist die ständische Gesellschaftsordnung abgeschafft. Adelige und Bürger heiraten miteinander, ohne daß darüber ein Wort verloren wird. 4 2 In Europa dagegen ist es van Leuven aus Standesrücksichten nicht möglich, die bürgerliche Concordia zu heiraten (vgl. I, S. I i i . ) . Die Religion auf der Insel ist zwar protestantisch ausgerichtet, doch sind die Konfessionsunterschiede innerhalb des Protestantismus eingeebnet (vgl. I, S. 100). Auch die Katholiken, soweit sie nicht wie Lemelie nur abergläubisch und lasterhaft sind, sondern Zeichen von »wahrem Christenthum« zeigen, werden als Mitchristen geachtet. So wird der Spanier Don Cyrillo als Christ begraben (vgl. I, S. 105f.), und auch ein katholischer Spanier von einem menschenleeren Schiff wird an der Seite des Friedhofs begraben, »seiner mit wenig Worten und Gebärden bezeigten christlichen Andacht wegen« (I, S. 230). 4 3 In der europäischen Welt hingegen gilt konfessionelle Toleranz nicht. Simon Schimmer dient im kaiserlichen Heer, kann sich aber dort nicht halten: »(...) und da zumahlen ein Lutheraner bin, so wurde ich zum öfftern hinter dem Rücken vor einen verfluchten Ketzer gescholten« (I, S. 195). Der Magister Schmeltzer erzählt von den konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Jesuiten in seiner Schulstadt weitläufige 42

43

Balet, S. 113 sieht auf der Insel nur Bürger. Das stimmt nicht. Wichtig ist nur die Aufhebung der ständischen Gesellschaftsordnung und der für sie kennzeichnenden Verhaltensnormen. Der Text richtet sich also, wie Sinolds Texte, auch gegen veraltete Normen im Bürgertum selber. Freilich zeigen sich auch hier die Grenzen der felsenburgischen Toleranz: Der Spanier sagt vor seinem Tod: »JESUS, Maria, Josef!« Worauf Robert Hülter sagt: »Weil er JESUM zum Helffer angerufft«, könne es um seine Seele nicht schlecht stehen. Er hört also weg, wenn der Spanier auch noch die Heiligen anruft; nur in der Anrufung Jesu erkennen die Felsenburger den Mitchristen.

422

Greuelgeschichten (vgl. II, S. 13ff.): Er wird von den Jesuiten entführt und soll zum Übertritt zum Katholizismus gezwungen werden. — Ein zentrales Thema ist die Gegenüberstellung von Mäßigkeit im Trinken und übermäßigem Alkoholgenuß, wobei eine Abkehr von den Normen des Pietismus auffällig ist: »Albertus, der sich wegen so viel erlebten Vergnügens gantz zu verjüngern schiene, war diesen Abend absonderlich wohl aufgeräumt, und ließ sich aus dem Freuden-Becher unsern mitgebrachten Canari-Sect hertzlich wohl schmecken, doch so bald er dessen Kräffte nur in etwas zu spüren begunte, brach er so wohl als wir ab (...)« (I, S. 67f.).

Auch bei den anderen Adiaphora ist Schnabel nicht so rigoros wie Sinold. Bei den abendlichen Zusammenkünften machen es sich die Zuhörer »mit etlichen Schaalen Coffee, nebst einer Pfeiffe Toback« (I, S. 129) gemütlich. Dennoch bleibt die zitierte Szene ein kritisches Gegenbild, denn Albert trinkt zwar ein alkoholisches Getränk, aber mit Mäßigung. Er ist sich seiner Tugendhaftigkeit so sicher, daß er sich dieses Vergnügen ohne Gefährdung leisten kann, und er verkörpert damit den Menschentyp nach der Idealvorstellung der Moralischen Wochenschriften, dem die Tugend leicht fällt und angenehm ist. 44 Daß damit eine satirische Norm formuliert wird, zeigt ein Vergleich mit den Szenen, in denen der Alkoholgenuß in Europa beschrieben wird. Trunkenheit ist dort der erste Weg ins Verderben oder das Merkmal »lasterhafter« Personen. In der ersten Funktion wird die Trunkenheit in der Erzählung Leonhard Wolffgangs eingeführt. Er erzählt von den Folgen der Aufbesserung seines Stipendiums: »Nunmehro meinete ich keine Noth zu ley den, führete mich demnach auch einmal als ein rechtschaffener Pursch auf (...) und lernete recht pursicos leben, das ist fressen, sauffen, speyen, schreyen, wetzen und dergleichen« (I, S. 29).

Die Folge ist, daß er wie William Friend bei Sinold in ein Duell verwickelt wird, einen Studenten ersticht und fliehen muß. Albert Julius selbst zecht in einem Gasthaus so lange, »biß ich mich dermassen aus dem Zirckel gesoffen hatte, daß mein elender Cörper der Länge nach zu Boden fiel« (I, S. 73). Vorher hat er unter Alkoholeinfluß sein ganzes Geld vorgezeigt und muß am nächsten Morgen feststellen, daß er im Rausch ausgeraubt worden ist. Lemelie als Verkörperung aller negativen Verhaltensweisen der Erfahrungswelt ist oft betrunken. Albert und van 44

vgl. dazu Kap. IV, S. 344ff.

423

Leuven finden ihn, »der sich dermassen voll Wein gesoffen, daß er alles was er im Magen gehabt, wieder von sich speyen müssen, im tieffsten Schlafe liegen« (I, S. 87). Auch die Entführer von Judith von Manders sind auf dem Schiff volltrunken (vgl. I, S. 175f.) Ohne daß dies irgendwo auch noch argumentativ begründet wird, wird Trunkenheit dadurch mit Kritik belegt, daß sie in der Erzählung entweder Auslöser von Unglück oder Merkmal der »Lasterhaften« ist. - Im Mittelpunkt der Darstellungen des Romans stehen Fragen des familiären Zusammenlebens. Dazu gehört die sehr sorgfältige Darstellung einer vorbildlichen Beziehung zwischen den Eheleuten am Beispiel der Liebe von Albert und Concordia. Schon beim Schwur Alberts, Concordia nie mit Anträgen zu belästigen, werden die Prinzipien der späteren Liebesbeziehung deutlich gemacht: Die Liebe zu Concordia ist keine »geile Brunst« (I, S. 126), sondern Albert liebt sie um ihrer Tugenden willen. Im Heiratsantrag Concordias begründet sie ihre Liebe zu Albert genauso wie dieser in seinem Schwur: »Euer Verlangen ist dem Triebe der Natur, der Vernunfft, auch Göttl. und Menschl. Gesetzen gemäß (...). Ohngeacht ich aber solchergestalt wieder frey und mein eigen bin, so würde mich doch schwerlich zu einer anderweitigen Ehe entschlossen haben, wenn nicht eure reine und hertzliche Liebe mein Hertz aufs neue empfindlich gemacht, und in Erwegung eurer bißherigen tugendhafften Aufführung dahin gereitzet hätte, mich selbst zu einer künfftigen Gemahlin anzutragen« (I, S. 145).

Concordia verwahrt sich in dem selben Brief gegen das negative Gegenkonzept: »Eure Frömmigkeit, Tugend und Auffrichtigkeit dienen mir zu Bürgen, daß ihr mir dergleichen selbst eigenen Antrag meiner Person vor keine leichtfertige Geilheit und ärgerliche Brunst auslegen werdet« (I, S. 146).

Das Gebet des Tobias, das Albert bei seiner Hochzeit zitiert, unterstreicht ebenfalls das normative Konzept der »keuschen Liebe«, das in diesen Szenen dargestellt werden soll. 45 Die Szenen bei der Hochzeit von Albert und Concordia treiben die Darstellung dieses Konzepts in einer für heutige Leser befremdlichen Weise auf die Spitze: 46 Nach einem Jahr vgl. Tobias, 8, 9f.: »Vnd nu HERR / Du weist / das ich nicht böser Lust halben / diese meine Schwester zum Weibe genommen / sondern das ich müge Kinder zeugen / dadurch dein heiliger Name ewiglich gepreiset vnd gelobet werde. Vnd Sara sprach / HERR erbarm dich vnser / Das wir beide gesund mögen vnser Alter erlangen.« * Eine typische Reaktion ist der hämische Kommentar bei Balet, S. 112f. Auch Kluckhohns Darstellung S. 157 ist nicht gerade verständnisvoll. 45

424

des Wartens steht Albert mit seiner Frau am Abend nach der Trauung vor dem Ehebett, und hier sagt Concordia zu ihm: »Mein allerliebster Ehe-Schatz, ich habe heute mit Vergnügen wahrgenommen, daß ihr in vielen Stücken des jungen Tobiä Sitten nachgefolget seid, derowegen halte vor löblich, züchtig und andächtig, daß wir diesen jungen Ehe-Leuten noch in dem Stücke nachahmen, und die 3. ersten Nachte mit Beten zubringen, ehe wir uns ehelich zusammen halten«. (I, S. 148) Worauf Albert antwortet: »Ihr redet, mein Engel (...) als eine vollkommen tugendhaffte gottesfürchtige und keusche Frau, und ich bin eurer Meinung vollkommen, derowegen geschehe, was euch und mir gefällig ist. Solchergestalt sassen wir alle drey Nachte beysammen, und vertrieben dieselben mit andächtigen Beten, Singen und Bibel-Lesen, schlieffen auch nur des Morgens einige Stunden, in der vierdten Nacht aber opfferte ich meiner rechtmäßigen EheLiebste die erste Krafft meiner Jugend, und fand in ihren Liebes-vollen Umarmungen ein solches entzückendes Vergnügen, dessen unvergleichliche Vollkommenheit ich mir vor der Zeit nimmermehr vorstellen können« (ebda. f.).

Der Schluß dieser Hochzeitsszene zeigt, daß hier nicht Keuschheit im Sinn von Ausschaltung sexueller Leidenschaft dargestellt werden soll, vielmehr geht es in diesem Geschehensablauf um die Einbindung einer positiv bewerteten Leidenschaft in den Rahmen von Religion und Vernunft. Es wird hier mit aller Schärfe verdeutlicht, daß die entscheidende Triebkraft für die Bindung von Albert und Concordia nicht das sexuelle Verlangen, sondern die vernünftige Wertschätzung der beiderseitigen Tugendhaftigkeit ist, daß andererseits das sexuelle Verlangen zwar nicht Ausgangspunkt, aber doch legitimer Ausdruck der Liebesbeziehung ist und als vernünftige Leidenschaft bewertet wird. Dies wird dadurch verdeutlicht, daß beide angesichts ihres Ehebetts es über sich bringen, noch drei Tage auf den ersten Geschlechtsverkehr zu warten, am vierten Tag aber doch große Lust dabei empfinden. Nur in dieser Funktion als Verdeutlichung des Konzepts der vernünftigen und »keuschen« Liebe und als Gegenbild »unvernünftiger« Liebe läßt sich diese eigenartige Szene verstehen. Die Liebe auf der Insel Felsenburg läßt sich auch bei den anderen Personen von der Vernunft lenken. Larson und Rawkin verloben sich auf dem Schiff, lassen sich aber nach der Ankunft auf der Insel Felsenburg durch vernünftige Argumente davon überzeugen, daß sie die Töchter Alberts heiraten und ihre Bräute den Söhnen Alberts überlassen sollen (vgl. I, S. 202). Auch später werden die Kinder nach den vernünftigen Erwägungen des Vaters verheiratet. Dazu bedarf es keiner Darstellung von inneren Konflikten. Im Normensystem der Insel stellt sich die Liebe bei diesen nach vernünftigen Gesichtspunkten 425

geschlossenen Ehen von selbst ein. Von Larson, der seine Braut abgeben muß, wird eigens gesagt, er habe seine Frau »sehr hefftig« (I, S. 200) geliebt. Was diese Darstellung für den zeitgenössischen Leser bedeutet haben könnte, zeigt ein Blick auf den Kontext der zeitgenössischen Auffassungen über Ehe und Sexualität. Die Einheit von Frömmigkeit, Vernunft und Sinnlichkeit, wie sie bei Schnabel dargestellt wird, ist in der Zeit nicht unbestritten.47 Gerade im Pietismus wirkten Theorien der protestantisch-mystischen Tradition nach, in denen sexuelle Lust prinzipiell als Folge der Erbsünde und deswegen auch in der Ehe als Sünde aufgefaßt wurde. Idealvorstellungen waren dementsprechend entweder die Rückkehr zur paradiesischen Asexualität des androgynen ersten Menschen oder die Ausschaltung von sinnlicher Lust beim sexuellen Verkehr zum Zweck der Kinderzeugung.48 Eine konkurrierende Position stellt die tradierte Eheauffassung Luthers dar, an die sich auch Spener anschließt:49 Nach Luther ist die Sexualität nicht eine Folge des Sündenfalls. Schon im Paradies haben Adam und Eva ein Sexualleben geführt, doch nach dem Sündenfall wird nach Luther aus dem purus amor die laesa libido, die Sexualität des erbsündigen Menschen, die seither mit sündhaften Begierden verbunden ist. Geschlechtsverkehr in der Ehe ist wegen des opus generandi zwar an sich nicht sündhaft, aber es ist mit ihm notwendig Sünde verbunden, »da Begierden und Gelüste noch in der Ehe fortbestehen«.50 Im Lichte dieser Auffassung ist die »keusche« Liebe Alberts und Concordias mit ihrer Negation von libido bei gleichzeitiger Betonung sinnlicher Lust die Darstellung eines paradiesischen Sexuallebens. Albert und Concordia in ihrem »Paradiese« (I, S. 92) erneuern in ihrer Ehe den Status naturalis, und damit wäre diese Darstellung utopisch im Sinne der zeitgenössischen Utopieauffassung. Dies würde jedoch nur innerhalb der lutherischen Auffassung von der Erbsündigkeit der ganzen Welt gelten, nicht im Kontext des neuen Tugendbegriffs der Moralischen Wochenschriften. Schon Thomasius verzichtet auf den Dualismus von Sexualität und Seelenbeziehung in seinem Konzept der »vernünftigen Liebe«. In diesem Konzept beruht die gegenseitige Bindung zwar auf einer seelischen Beziehung, doch ist der sexuelle Verkehr kein Gegensatz, sondern ein Zeichen dieser Bindung.51 Dieser Standpunkt wird im Wesentlichen auch von den Moralischen Wochenschriften vertreten. Die Sexualität bekommt hier, wie alle Leidenschaften, ihren positiven Platz, weil man sicher vgl. zum Folgenden Kluckhohn, S. 124—135 und Gottfried Beyreuther, Sexualtheorien im Pietismus, München 1963, S. 17-29 und S. 33ff. 4 8 Über die Herrnhuter Ehepraktiken zur Überwindung von sexueller Lust beim Beischlaf vgl. Gottfried Beyreuther S. 49ff. 4 ' vgl. zum Folgenden Gottfried Beyreuther, S. 13 und S. 67f. und Olavi Lätheenmäki, Sexus und Ehe bei Luther, Turku 1955, S. 43—52. 5 0 Lähteenmäki, S. 49f. 51 vgl. das Thomasiuszitat bei Kluckhohn, S. 144: »bey einer unveraünfftigen Liebe liebt man sich, weil man die Leiber miteinander vermischet. Bey einer vernünfftigen Liebe aber kann man wohl zuweilen die Vermischung des Leibes verlangen, weil man einander liebet.« 47

426

ist, daß der Tugendhafte durch seinen vernünftigen Willen in der Lage ist, »seine Liebe zu verwalten und zu reglementieren. Er verfügt über sich und seine Gefühle«. 52 Nicht um eine Ausschaltung der Sexualität geht es hier also, sondern um ihren vernunftgesteuerten Gebrauch. 53 Innerhalb dieses Konzepts wäre die Liebe zwischen Albert und Concordia die Darstellung einer prinzipiell realisierbaren Norm. Der für uns eigenartige Verlauf der Hochzeitsszenen in der Insel Felsenburg hat also in seiner differenzierten Verweisungsfunktion auf zeitgenössische Konzepte durchaus seine Berechtigung.

Gegenüber der Darstellung »keuscher Liebe« auf der utopischen Insel sind die Geschichten aus der Erfahrungswelt voll von Schilderungen »unvernünftiger« Liebschaften und maßloser Sexualität, die gemäß der beabsichtigten Exempelstruktur Unglück als Sündenstrafe nach sich ziehen. So läßt sich Leonhard Wolffgang in ein ehebrecherisches Verhältnis verwickeln, das für ihn unangenehme Konsequenzen hat: Er muß sich mit dem Ehemann duellieren, wird von dessen Dienern verfolgt und kommt wegen des Geldes, das ihm die Dame geschenkt hat, in den Verdacht des Diebstahls (I, S. 3Iff.). Er wird dadurch belehrt, »was vor Gefährlichkeiten und üble Suiten daraus entstehen können, wenn man sich durch eine geile Liebes-Brunst auf verbotene Wege treiben lässet« (I, S.40). Eine Expedition Leonhard Wolffgangs von der Insel Bonatry aus, um Frauen für seine Kameraden zu holen, endet ebenfalls unglücklich. Dieses Unternehmen wird im deutlichen Kontrast zu den ähnlichen Unternehmungen der Felsenburger erzählt: Wolffgang geht auf die Reise, weil er gehört hat, daß sich »daselbst ungemein schönes, so wohl Spanisches als Frantzösisches Frauenzimmer befinden solte« (I, S. 49), während die Felsenburger den Auftrag haben, »3. anständige Frauenspersonen« (I, S. 203) zu finden. Diese Expedition hat Erfolg, und die drei Frauen finden auch den Gefallen der Söhne Alberts. «Geile Brunst« ist auch in den übrigen Erzählungen ein Kennzeichen negativ bewerteter Figuren und wie Trunkenheit Ursache von Unglück. Die Pflegemutter Alberts hat ein Verhältnis mit dem Hauslehrer ihrer Söhne (I, S. 70), Concordia wird aus »übermäßiger Liebe« (I, S. 85) zum Ungehorsam gegen ihre Eltern verführt; die Entführer der Judith von 52

53

Martens, Botschaft der Tugend, S. 245, vgl. auch S. 243f. Kluckhohn untersucht die Wochenschriften nicht und kommt deshalb zu dem Ergebnis, das Konzept des Thomasius sei im 18. Jahrhundert vereinzelt geblieben (vgl. S. 144). Über den Glauben an die Steuerbarkeit der Leidenschaften im Patrioten vgl. Kap. IV, S. 344ff. In extremer Weise wird dieses Konzept in Gellerts Schwedischer Gräfin in einer Erzählhandlung dargestellt. Kluckhohn, S. 158, steht diesem Text völlig verständnislos gegenüber, weil er ihn mit einem modernen Begriff der Liebe mißt und deshalb nach Schilderungen innerer Konflikte sucht.

427

Manders sind mit Dirnen umgeben (I, S. 175f.); Judith und ihre Gefährtinnen sollen vergewaltigt werden (I, S. 180); Virgilia van Cattmers wird von einem Schürzenjäger hartnäckig verfolgt (I, S. 206); Virgilias Pflegemutter sowie deren Töchter sind »einer geilen und leichtfertigen LebensArt gewohnet« (I, S.212), sie enden schließlich im Zuchthaus und vor dem Henker. Die Verfolgungen der weiblichen Bewohner in Europa bestehen zum großen Teil aus sexuellen Nachstellungen. ' Im Überblick läßt sich sagen, daß gerade bei dem Thema der Liebe und der Sexualität, das als das Romanthema schlechthin mit der Insel Felsenburg erstmals in die utopische Erzählung Eingang gefunden hat, bis in den Aufbau einzelner Szenen hinein sich die wirklichkeitskritische Intention der Darstellung verfolgen läßt, und es hat sich gezeigt, daß der Text durchaus nach einem inhaltlich festgelegten Konzept konstruiert worden ist. Es geht immer um die Gegenüberstellung von sexueller Leidenschaft, die nicht durch Vernunft gelenkt wird und monogame Bindungen zerstört, und von sexueller Leidenschaft, die sich mit der Vernunft im Einklang befindet und auf dem Prinzip der Bindung an die Einehe aufbaut. Daß eine solche Gegenüberstellung für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts sozialkritische Bedeutung hatte, die über den privaten Bereich hinausgeht, wurde bereits bei Sinold deutlich.54 Auch für Schnabel ist eine solche Verbindung nicht nur anzunehmen, sie wird durch die Figur des französischen Adeligen Lemelie als Gegenpol zu vernunftgesteuerter und monogamer Sexualität auch explizit hergestellt. In dem selben Sinn sind auch die Gegenüberstellungen in der Darstellung der Beziehungen der Familienmitglieder untereinander zu verstehen, die breiten Raum einnehmen. Der Text reduziert ja den Aufbau der utopischen Insel zunächst auf die Entstehung einer intakten Familie, auf der dann größere soziale Strukturen aufbauen. Der Gedanke des Familienverbandes wird auch bei diesen größeren Einheiten im Gesamttext durchgehalten. Neben der analysierten Darstellung der Liebesbindungen in der Ehe geht es vor allem um das richtige Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Über das Verhalten seiner Kinder sagt Albert, sie seien seine »Unterthanen«, die »so viel Liebe als Furcht, und so viel Furcht als Liebe hegen« (I, S. 25). Furcht und Liebe der Kinder bedeutet ungezwungenen Gehorsam gegenüber den Eltern. Die traditionelle utopische Vorstellung einer Harmonie zwischen Regierung und Regierten wird hier übertragen auf 54

vgl. Kap. III, S. 234ff.

428

das Bild einer harmonischen Familie, in der die Kinder aus Liebe und freiwillig das tun, wozu sie nach dem Gesetz und Gebot Gottes ohnehin verpflichtet sind: »(...) jedoch waren meine Concordia und ich ohnstreitig die allervergnügtesten zu nennen, denn alle die Unserigen erzeigten uns aus w i l l i g e n ungez w u n g e n e n H e r t z e n den allergenausten Gehorsam, der mit einer zärtlichen Ehrerbietung verknüpfft war, wolten auch durchaus nicht geschehen lassen, daß wir uns mit beschwerlicher Arbeit bemühen solten, sondern suchten alle Gelegenheit, uns derselben zu überheben, v o n s e l b s t , s o , daß eine v o l l k o m m e n e Liebe und E i n t r a c h t unter uns allen a n z u t r e f f e n war« (I, S. 225, Hervorhebg. von mir).55 Der Gehorsam gegenüber dem Vater und dem Landesherrn, zu dem nach der theologischen Auffassung der Zeit Kinder und Untertanen auch dann verpflichtet sind, wenn er seine Pflichten nicht erfüllt, findet in der Darstellung der utopischen Familie seine Ergänzung in der vorbildlichen Sorge des Vaters um seine Kinder. Albert verhält sich gegenüber seinen Kindern immer so, daß sie keinen Anlaß zu Unzufriedenheit und Ungehorsam haben. Auch dies gehört zur tradierten Vorstellung utopischer Harmonie. Mit deutlichen Analogien zu biblischen Wendungen von der Vaterschaft Gottes und der Gotteskindschaft der Gläubigen wird die vorbildliche Vaterschaft Alberts vor allem gegenüber dem von seinem Vater verlassenen Eberhard in Szene gesetzt. Schon Leonhard Wolffgang als Vertreter der Insel in Europa sagt zu Eberhard bei der ersten Begegnung: »Seyd mir vielmals willkommen, allerwerthester Freund, und nehmet nicht ungütig, wenn ich euch hinführo, Mein Sohn, nenne, weiln die Zeit lehren soll, daß ich als ein Vater handeln und euch an einen solchen Ort führen werde, wo ihr den Grund-Stein zu eurer zeitlichen Glückseeligkeit finden könnet, welche, wie ich glaube, durch das Unglück eures Vaters auf schwachen Fuß gesetzt worden« (I, S. 24). In der Begrüßungsszene auf der Insel tritt Albert als liebender Vater auf: »Hierauff stellete er mich als ein Kind zwischen seinen Schooß, und ließ alle Gegenwärtigen, so wol klein als groß herzu ruffen, welche mit Freuden kamen und den Bewillkommnungs-Kuß auf meinen Mund und Hand drückten« (I, S.64). Das Aussehen Alberts ist den religiösen Anklängen entsprechend dem traditionellen Bild Gott-Vaters in der christlichen Ikonographie angenähert: 55

Die Hinweise auf die Vorstellung des Status naturalis (vgl. Kap. II, S. 118ff.) sind unübersehbar.

429

»Ich erstaunete über sein Ehrwürdiges Ansehen, und venerab\en weissen Bart, der ihm fast biß auf den Gürtel herab reichte (...)« (ebda.). 56

Wie Gott nach der Vorstellung der »Gelassenheit« für die Menschen sorgt, die ihn lieben und fürchten, so ist Albert Julius ein sorgender Vater für seine Kinder, ein Ebenbild Gottes. Dem Bild der vorbildlichen Eltern-Kind-Beziehungen gegenüber steht in auffälligen Wiederholungen das Bild der zerstörten Familie in der Erfahrungswelt. Das von den Eltern verlassene Kind ist eines der zentralen Motive in allen Lebensläufen. Mit der Geschichte des Eberhard Julius wird bereits am Anfang der Erzählung das Thema des elternlosen Kindes angeschlagen: Er verliert seine Mutter sehr früh (vgl. I, S. 14f.), und sein Vater läßt die ganze Familie im Stich (vgl. I, S. 16f.). Ebenso verliert Albert Julius als Kind seine Eltern (vgl. I, S. 69) und bekommt eine böse Pflegemutter (vgl. I, S. 70). Die Eltern von David Rawkin werden eingesperrt und sterben früh (vgl. I, S. 187ff.), und auch sein Pflegevater wird bald ermordet (vgl. I, S. 189). Virgilia van Cattmers verliert als Kind den Vater und bald darauf auch die Mutter (vgl. I, S. 212). Auch sie hat in einer Pflegestelle viel zu erdulden. Auf der anderen Seite gibt es als Gegenbild zur utopischen Norm Erzählungen kindlichen Ungehorsams, der regelmäßig zu Unglück führt. Lemelie beseitigt seine Eltern durch einen Giftmord, als sie das inzestuöse Verhältnis mit seiner Schwester aufdecken (vgl. I, S. 121), Leonhard Wolffgang verursacht, daß der Vater vor Gram über die Taten des Sohnes stirbt (vgl. I, S. 29). William von Manders hilft bei der Entführung seiner Schwester Judith und kommt dabei um (vgl. I, S. 175). 5 7 Selbst Concordia begeht in Europa die Sünde des Ungehorsams gegen die Eltern, da sie gegen den elterlichen Willen van Leuven heimlich heiratet und von zu Hause flieht (vgl. I, S. 76ff.). Obwohl das Verhalten ihrer Eltern nach den Normen des Textes ungerecht und unbegründet ist, bleibt das Verhalten Concordias eine Sünde, denn auch ungerechten 56

57

Zu den biblischen Anklängen vgl. Rom., 8,14ff.: »Denn welche der geist Gottes treibet / die sind Gottes Kinder. Denn jr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen / das jr euch aber mal fürchten müstet / sondern jr habt einen kindlichen Geist empfangen / Durch welchen wir ruffen / Abba lieber vater.« Und Gal., 3,4ff.: »DA ABER DIE ZEIT ERFÜLLET WARD / SANDTE GOTT SEINEN SON / GEBORN VON EINEM WEIBE / VND VNTER DAS GESETZ GETHAN / AUFF DAS ER DIE / SO VNTER DEM GESETZ WAREN / ERLÖSET / Das wir die Kindschafft empfiengen.« In beiden Stellen wird die Gotteskindschaft als Gegenbegriff zur Knechtschaft der unter dem Gesetz Stehenden eingeführt. Der Begriff gehört damit in den gleichen Vorstellungsbereich, zu dem auch die Gegenüberstellung von Status legalis und Status naturalis gehört. Die Felsenburger haben kein Gesetz nötig, weil sie im Status naturalis leben. vgl. S. 182, wo sein Tod ausdrücklich als Strafgericht Gottes interpretiert wird.

430

Eltern ist Gehorsam zu erweisen. Sie spricht dies nach der Ankunft auf der Insel unmißverständlich aus: »Carl Frantz, gehet mir aus den Augen, damit ich ruhig sterben kan, die übermäßige Liebe zu euch hat mich angetrieben das 4te Gebot zu übertreten, und meine Eltern biß in den Tod zu betrüben, es ist eine gerechte Strafe des Himmels, daß ich hier auf dieser elenden Stelle, mit meinem Leben davor büssen muß, GOTT sey meiner und eurer Seele gnädig« (I, S. 85). Die folgenden Ereignisse bestätigen diese Einschätzung Concordias. Ihre Ehe mit van Leuven ist auf Ungehorsam und Sünde, dazu noch auf »übermäßige Liebe« gegründet, und nicht auf vernünftige Erwägungen, und endet mit der Ermordnung van Leuvens. Die Bestrafung der Sünder wird in diesem Text mit ebenso unerbittlicher Konsequenz durchgehalten wie die Belohnung der Gerechten, und dies betrifft auch die im Textganzen positiv bewerteten Personen, wenn sie gesündigt haben. Die Ehe Concordias mit van Leuven ist auf der Sünde des Ungehorsams gegründet und deswegen nicht würdig, Anteil an der utopischen Existenz Concordias zu haben. Erst in der gottgewollten und vernünftigen Bindung an Albert wird ihr Leben in einem neuen Zustand ermöglicht. 2. Im Überblick über die Verknüpfung von Einzelszenen mit positiver und negativer Bewertung erweist sich, daß der Vorwurf, Schnabels Insel Felsenburg verführe den Leser zu eskapistischen Reaktionen, nicht aufrechterhalten werden kann. Die Wirklichkeit der utopischen Insel ist durchgehend als Gegenbild zur kritisierten Erfahrungswelt dargestellt. Das Prinzip der Negation des Negativen, aus dem sich in der Gattungstradition die Darstellung der utopischen Welt überhaupt erst konstituiert, ist auch in diesem Text voll gewahrt. Es wird besonders an den Stellen sichtbar, in denen der Aufbau der utopischen Wirklichkeit als Kampf mit den Mächten der Erfahrungswelt dargestellt wird. Aus dem Nebeneinander von positiven und negativen Elementen in der negativen Beschreibung wird hier allerdings ein Nacheinander: Das Negative wird von der utopischen Norm überwunden, die Wirklichkeit verändert sich durch die Arbeit der Tugendhaften. a) Allerdings ist die Gegenüberstellung von utopischer Welt und Erfahrungswelt von anderer Qualität als bei Sinold. Schnabel mißt in seiner Darstellung scheinbar nicht den ganzen Bereich der Wirklichkeit aus. Die Vielzahl von Einzelheiten, die Sinold in seinem Text benennt, wird bei Schnabel reduziert auf einige Verhaltensnormen des privaten Zusammenlebens. Angesichts der Rolle, die die Darstellung vorbildli431

eher privater Verhaltensweisen im frühen 18. Jahrhundert für die Kritik an der ständestaatlichen Ordnung der Gesellschaft hatte, ist diese Reduzierung allerdings konsequent. Wo in der Regelung privater Beziehungen die Grundlage des Zustandes der Gesellschaft gesehen wird und wo die vorbildlichen Normen privaten Verhaltens im Sinne der leistungsorientierten Gesellschaft — wie produktive Arbeit, Wirtschaftlichkeit, »Gelassenheit«, monogame Sexualmoral, Bindung der Leidenschaften an die Vernunft, - zum Angelpunkt der Kritik an der öffentlichen Ordnung werden, kann in einer literarischen Gattung, die traditionell die öffentliche Ordnung zu ihrem Thema hat, die Darstellung privater Verhaltensweisen in den Mittelpunkt rücken. Die vorbildliche Familie als Norm für die Beurteilung der gesamten öffentlichen Ordnung steht hier im Mittelpunkt des Interesses. Schnabel folgt mit dieser Veränderung der tradierten Gattungsstruktur den Bedürfnissen des 18. Jahrhunderts und der Entwicklung der Satire, wie sie am Patrioten dargestellt worden ist.58 Wie im Patrioten wird auch in der Insel Felsenburg der Zusammenhang von privatem Verhalten und öffentlicher Ordnung durch den Verlauf der Erzählung explizit hergestellt. Denn es bleibt nicht bei der Darstellung des Familienlebens, sondern von der Zurückweisung der Besitz- und Herrschaftsansprüche Lemelies am Strand der Insel an ist der Bezug zur gesamten Gesellschaftsordnung spürbar. Überdies erwächst im Lauf der Zeit aus der im ersten Band dargestellten Kernfamilie ein größeres Gemeinwesen - allerdings immer in der überschaubaren Größe eines deutschen Duodezfürstentums - , dem schließlich durch Albert vor seinem Tod59 eine Verfassungsordnung gegeben wird. Diese Verfassungsordnung weicht mit ihren konstitutionellen Elementen vom Idealtyp der absolutistischen Monarchie entscheidend ab, kennt aber noch eine Art Ehrenvorrang für die Urfamilie der Insel, die Söhne Alberts und deren Nachkommen.60 58 59

60

vgl. Kap. IV, S. 349ff. und Kap. III, S. 243f. Der Tod des »Altvaters« wird in III, S. 233ff., in erbaulicher Funktion als Exempel eines christlichen Sterbens dargestellt. vgl. III, S. 2 4 4 : Jeweils der älteste aus den Familien seiner Söhne soll das Regiment führen: »Jedoch ist meine Meynung im geringsten nicht, daß ein solches Ober-Haupt als ein souverainti Fürste regieren und befehlen solle, sondern seine Macht und Gewalt muß durch das Ansehen und Stimmen noch mehrerer Personen eingeschränckt seyn.« Dazu sollen aus den einzelnen Städten »neun Senatores« gewählt werden, sowie aus jeder Stadt »noch 3. Beysitzer, nehmlich 1. Felsenburger und 2. Europäer, und zwar nicht nach dem Alter, sondern nach ihrem Verstände und Wissenschaft ausgesucht«. Diese Abgeordneten werden gleich nach der Beerdigung Alberts gewählt und kommen jeden Donnerstag zusammen, »um das gemeine Beste zu berathschlagen« (III, S. 251).

432

b) Auch das Verhältnis von thematischer Aussage und Textgliederung hat sich gegenüber Sinold entscheidend gewandelt. Während bei Sinold noch die Traktatstruktur mit ihrer sachlichen Gliederung durch die Erzählung hindurch sichtbar blieb, ist in der Insel Felsenburg eine solche Korrelation zwischen den einzelnen Themenbereichen und der Textgliederung nicht festzustellen. Zwar ergibt sich aus der Rundreise Eberhards die Grobgliederung des Textes nach der Abfolge einzelner Teilräume der Insel, aber diesen Räumen sind nicht irgendwelche Sachgebiete zugeordnet, sondern die Themen werden angesprochen, wo sie gerade in einem der Lebensläufe oder in einer Beobachtung der Inselwelt ihren Platz haben. Das bedeutet, daß die Zuordnung von Sachgebieten in der Erfahrungswelt und im Gegenbild bei weitem nicht so eindeutig und narrensicher funktioniert wie bei Sinold mit seiner Form der negativen Beschreibung. Die einzelnen Textstellen, die thematisch aufeinander bezogen sind, sind ähnlich verstreut angeordnet wie im Patrioten.61 c) Da mit dieser Technik die thematischen Korrelationen weit auseinander liegen, sind die einzelnen Erzählungen so ineinander verschachtelt, daß der Rückbezug der utopischen Welt auf die Wirklichkeit immer möglich bleibt. Mit der Beschreibung der Insel durch Eberhard im ersten Teil des ersten Bandes kontrastieren in diesem Teil die Erzählungen Alberts, der hier die kritisierte Erfahrungswelt zur Sprache bringt. Von der Mitte des Bandes an, wo in der Erzählung Alberts auf der Insel die negativen Elemente allmählich ausgeschaltet werden und sowohl Eberhards Rahmenerzählung als auch Alberts Erzählung sich im Bereich der utopischen Welt befinden, setzen die Erzählungen von Judith von Manders, Virgilia van Cattmers und David Rawkin wieder kritische Akzente, so daß der Bezug der utopischen Fiktion zur Erfahrungswelt auch in der zweiten Hälfte des Buches nicht in Vergessenheit geraten kann. Mit diesem Kompositionsprinzip sind die utopischen und satirischen Erzählzüge im Text so verteilt, daß der Leser in keiner Phase des Textes in eine Traumwelt entführt werden kann. d) Das Auffinden der Bezugspunkte zwischen der utopischen Insel und der Erfahrungswelt und die positive oder negative Bewertung beider Fiktionen ist freilich weitgehend dem Leser selbst überlassen. Der Erzähler gibt keine Hilfestellungen durch eingelagerte Kommentare. Ebenso fehlen in der Insel Felsenburg auch die tradierten satirischen Techniken, wie das Aufdecken von Widersprüchen zwischen moralischem An61

vgl. Kap. IV, S. 3 6 5 - 3 6 9 .

433

spruch und Handeln. Diese Technik, die sich in der Tradition mit der Verwendung der «gena-Perspektive verbunden hatte, ist in der Insel Felsenburg im Gegensatz zu früheren utopischen Erzählungen nicht mehr möglich, weil in diesem Text die Bewohner der utopischen Insel alle aus der Erfahrungswelt kommen und über sie nicht erstaunt sein können. Die Figuren treten bei ihren Erzählungen auch nicht als kommentierende satirische Personen auf, sondern sie erzählen nur ihre Erlebnisse. Alles, was in diesen Erzählungen noch an satirischen Bewertungstechniken verwendet wird, sind die Kennzeichnungen des Negativen nach dem Verfahren der »nennenden« Satire durch verbale Invektiven, von denen in den einzelnen Erzählungen ein exzessiver Gebrauch gemacht wird.62 Außer diesem Verfahren bleibt in der Insel Felsenburg nur mehr die bloße Gegenüberstellung von Norm und Erfahrungswelt. Das bedeutet, daß für eine Überredung des Lesers zu den Wertmaßstäben des Textes das Mittel der anziehenden Darstellung des positiv bewerteten Lebens eine zentrale Bedeutung gewinnt. Die utopische Welt muß so dargestellt werden, daß sie beim Leser eine lebendige Anschauung wird und so von selbst, ohne Hilfe diskursiver Passagen, gegenüber der Erfahrungswelt als etwas Positives erscheint. Insofern gewinnen die gattungsspezifischen Probleme wahrscheinlicher Darstellung der Inselwelt in diesem Text eine besondere Bedeutung.

IV. Probleme der wahrscheinlichen Darstellung utopischer Wirklichkeit 1. Status und Wirklichkeitsbezug der utopischen Fiktion Abgesehen von der Aufgabe der anschaulichen und anziehenden Darstellung theoretischer Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben besteht offenbar auch für die Insel Felsenburg das weitergehende und gattungstypische Problem der wahrscheinlichen Darstellung eines Zustandes, der in der alltäglichen Lebenspraxis konkret nicht vorstellbar ist. Schon die Auseinandersetzung mit den Versuchen Voßkamps und Hohendahls, den Bezug der utopischen Fiktion Schnabels zur zeitgenös62

Eine wahre Flut von Schimpfwörtern hat ζ. B. Judith von Manders für ihre Verfolger bereit. Vgl. I, S. 180, wo auf einer Seite folgende Invektiven gebraucht werden: »Schändliches Ansinnen«, »verwegener Jungfrauen-Raub«, »geile Brunst«, »verhurte Schandbuben«, »drey Schelme«, »vermaledeite Lüste«, »dergleichen Boßheit«, »schändliche Comödie«, »verfluchte Huren-Hängste«, »schelmische Mitbrüder«, »das schändliche Aas des Quartiermeisters«.

434

sischen Wirklichkeitserfahrung zu bestimmen,63 hat ergeben, daß diese fiktive Welt von »hypothetischen Voraussetzungen« im Sinne Ruyers aus konstruiert ist, die sich von den Bedingungen der Erfahrungswelt des zeitgenössischen Lesers grundsätzlich unterscheiden, und zwar in Bereichen, die sich dem Zugriff menschlichen Handelns entziehen. Einige der schon besprochenen Elemente des Insellebens verweisen deutlich genug auf diesen besonderen Status der Fiktion: So kann z.B. die Darstellung der sexuellen Beziehungen auf der Insel als Abbild des purus amor verstanden werden, der nach lutherischer Vorstellung die paradiesische Sexualität bestimmt hat. Ebenso erinnert das quasi gesetzlose Gelingen des Zusammenlebens zwischen Eltern, die freiwillig ihre Pflichten erfüllen, und Kindern, die deswegen freiwillig gehorchen können, an jene harmonia zwischen Regierenden und Regierten, an jene öffentliche Ordnung expers coactionis, die nach Pasch einen Staat unter den hypothetischen Bedingungen des Status naturalis auszeichnen würde. 64 . Diese Elemente zeigen, daß die utopische Insel auch bei Schnabel eine Darstellung öffentlicher Ordnung secundum Statum naturalem, sein soll und daß sie damit auch in ihrem Verhältnis zur Erfahrungswirklichkeit und zum praktischen Handeln die Tradition der utopischen Erzählung weiterführt — nicht zufällig wird die Insel von den Ankommenden wiederholt als »Paradies« bezeichnet und bei der Beschreibung mit Attributen versehen, die die Vorstellung des Paradieses wachrufen sollen.65 Zwar wird bei Schnabel vorgeführt, wie eine utopische Welt allmählich aufgebaut wird und wie dies nicht durch Wesen einer anderen Welt, sondern durch Menschen aus der Erfahrungswelt geschieht, aber die einzelnen Handlungsverläufe, mit denen dieser Prozeß vorgeführt wird, verraten gleichzeitig, daß der Autor sich den Aufbau einer solchen Ordnung unter den Bedingungen der Erfahrungswelt nicht vorstellen kann und sie deswegen unter traditionell utopischen Bedingungen ablaufen läßt. Der neue Zustand auf der Insel beginnt zwar mit einer gesetzlichen Regelung, die so auch in der Erfahrungswelt vorstellbar wäre, nach der künftig Mehrheitsentscheidungen und Gemeineigentum gelten sollen (vgl. I, S. 88), aber die Tatsache, daß Lemelie erst durch die Fäuste van Leuvens dazu gebracht werden kann, sich zum Schein diesen Regeln zu unterwerfen, weist darauf hin, daß eben doch nicht die

63 64 65

vgl. Kap. I, S. 90ff. vgl. Kap. II, S. 118f. vgl. Nicolai-Haas, S. 286ff.

435

Mehrheit der Stimmen entscheidet, sondern - wie in Europa - die physische Gewalt des Stärkeren. Das Grundproblem der neuen Ordnung ist ihre Durchsetzbarkeit gegenüber Personen, die sich an ihre Regeln nicht freiwillig binden wollen. Denn mit der Durchsetzung der neuen Ordnung gegenüber Lemelie durch Gewaltanwendung setzt sie sich selber wieder außer Kraft. Dies zeigt die nächste entscheidende Szene beim Aufbau der Inselwelt überdeutlich, nämlich der T o d Lemelies und seine Begleitumstände (vgl. I, S. 119ff.): Lemelie muß ausgeschaltet werden, aber gleichzeitig darf Albert, der Stammvater der utopischen Welt, nicht mit dem Makel einer offenen Gewalttat befleckt werden. Der Handlungsverlauf ist an dieser Stelle mit verräterischer Sorgfalt arrangiert: Lemelie läuft im Dunkeln in Alberts Messer, das dieser wie unabsichtlich vor sich hin hält, und auch daran stirbt Lemelie noch nicht, denn er sticht sich zum Schluß »das Hertze selbst vollends ab« (vgl. I, S. 123). Das bedeutet doch: Wenn die »Frommen« ihren Normen gemäß leben wollen, sind sie gegenüber den »Lasterhaften« machtlos; wenn sie aber eine ihnen entsprechende Ordnung durchsetzen wollen, ist dies nur möglich, wenn sie selber gewalttätig werden und die »Lasterhaften« physisch vernichten. Diese Schwierigkeit wird vor allem dann sichtbar, wenn Schiffe an der Insel vorbeifahren. Concordia fürchtet sich zurecht vor ihnen, »weil wir nicht wissen, ob es gute oder böse Menschen sind« (I, S. 159). Wenn allerdings ein Schiff am Strand der Insel zerschellt, entkommen dem Unglück nur solche Personen, die sich den Normen der Felsenburger freiwillig unterordnen und als Ehepartner geeignet sind. 6 6 Auch innerhalb der Insel wird nach dem Tod Lemelies von Schwierigkeiten mit abweichenden Verhaltensweisen nichts mehr berichtet, 67 nicht ohne Grund, wenn man bedenkt, in welche Schwierigkeiten der Autor bei der Lösung solcher Probleme im Falle Lemelies geraten ist. 66

67

vgl. I, S. 184: Die Hure Clara stirbt, während die Tugendhaften ohne wahrscheinliche Begründung am Leben bleiben. vgl. dazu III, S. 245, wo der »Altvater« in seinem Testament sagt: »Weiln auch zu befürchten, daß in künfftigen Zeiten etwa der Satan, auf Gottes Zulassung, wie im Paradiese, also auch auf dieser Insul die Menschen zu groben Sünden, Schanden und Lastern zu reitzen und zu verführen trachten werde (...) wird auch nöthig seyn, daß die Aeltesten mit Zuziehung der Herrn Geistlichen nach und nach (...) heilsame Gericht und Ordnungen stifften, wornach sich ein jeder richten könne und solle.« Das bedeutet für den beschriebenen Zustand der Insel, daß er zur Zeit des erzählten Geschehens noch dem des Paradieses gleicht; Gesetze sind in diesem Zustand noch nicht nötig. Es ist ähnlich wie mit den Gesetzen im »Land der Zufriedenheit« und in »Ophir«: Man hat sie, aber das System funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß man sie nicht braucht.

436

Das System dieser Insel ist so beschaffen, daß es für dieses in der Erfahrungswelt auftretende Problem keine Lösungsmöglichkeit enthält. Die dauerhafte Gemeinschaft der »Frommen«, wie sie in diesem Text dargestellt wird, ist nur möglich, wenn sie völlig unbehelligt von Andersdenkenden leben können und wenn ein selbstverständlicher Konsens aller Bewohner vor allen gesetzlichen Regelungen und Eiden der Neuankömmlinge gewährleistet ist. Denn die Bereitschaft, Eide nicht zu brechen und sich freiwillig an die gemeinsamen Regeln zu halten, muß schon vorausgesetzt werden.68 Das völlige Fehlen von »lasterhaften« Menschen, die Isolierung der »Frommen«, ist damit eine der hypothetischen Voraussetzungen, die dem Gedankenexperiment der Insel Felsenburg zugrundeliegen. Die letzte Grundlage dieses Zustandes besteht also nicht in institutionellen Regelungen; es kann aber auch nicht gesagt werden, dieser Zustand beruhe »lediglich auf dem Verhalten der uns geschilderten Menschen,69 sondern er beruht auf einer hypothetischen Veränderung der Verhältnisse der Erfahrungswelt in einem Bereich, der außerhalb der Möglichkeiten menschlichen Handelns liegt. Dieser Tatbestand wird im Text teilweise durch eine theologisch begründete zweite hypothetische Annahme wahrscheinlich gemacht: Es gehört zu den expliziten und zu Beginn der neuen Welt noch gefährdeten Verhaltensregeln der Felsenburger, in »Gott-Gelassenheit« zu leben und deswegen für ihre Vorhaben den Segen Gottes zu erbitten. Diese Norm bestimmt auch das gemeinschaftliche religiöse Leben. An keiner Stelle wird versäumt, vor wichtigen Entscheidungen und Vorhaben sich der Hilfe Gottes zu versichern (vgl. ζ. Β. I, S. 125, S. 132, S. 136 usw.). Die Personen erinnern auch einander mehrmals an diese Regel (vgl. ζ. Β. I, S. 145 und S. 159f.). Die Geschehnisse sind nun so konstruiert, daß dieses Gottvertrauen durch den Gang der Ereignisse immer bestätigt wird und daß gleichzeitig das Gebet der Felsenburger als wahrscheinliche Ursache der Hilfe Gottes aufgefaßt werden kann. Gott schickt die Menschen auf die Insel, die den Normen entsprechen und als Ehepartner geeignet sind. Auch wenn die Bewohner im Lauf der Jahre selber aktiv werden, beruht ihr ganzes Gemeinwesen auf der Grundlage der göttlichen Fürsorge, denn auch die selbständigen Unternehmungen stehen sichtbar unter dem Schutz Gottes. Sie gehen überraschend leicht von der Hand und kontrastieren zu den Schiffahrten anderer, in denen es von Seestürmen, Meutereien, Schiffbrüchen, Krankheiten und Piratenüber6S 69

vgl. dazu die Probleme bei Sinold, Kap. III, S. 262ff. Briiggemann, S. 11.

437

fällen wimmelt. Auf dieses Prinzip, auf dem das Gemeinwesen der Felsenburger beruht, verweist der Erzähler Eberhard, wenn er nach der ersten Nachricht von Leonhard Wolffgang den Psalm 127 und in den Sprüchen Salomonis 10, 22 liest.70 Es besagt, daß das Leben auf der utopischen Insel auf der Verwirklichung der These beruht, daß derjenige, der Gott fürchtet, auch von ihm die Hilfe bekommt, die er erwartet. Der Gott der Insel Felsenburg tut immer, was die vernünftigen, tugendhaften und frommen Bewohner von ihm erbitten. Durch diese beiden hypothetischen Voraussetzungen, die Isolierung von den »Lasterhaften« und die Automatik der Hilfe Gottes bei entsprechender Frömmigkeit, entsteht erst die experimentelle Situation, in der die Entfaltung der Gemeinschaft der Felsenburger in Gedanken durchgespielt werden kann. Damit ist die utopische Insel auch bei Schnabel eine Fiktion, die nach den zeitgenössischen Wirklichkeitsvorstellungen und im Sinne der Poetik der Frühaufklärung als figmentum utopicum, als »leere Brut der Einbildung«, bezeichnet werden müßte71, denn die auf die Lebenspraxis bezogene Gelassenheitsforderung der Frühaufklärer und der Wochenschriften geht zwar auch von einer guten und gerechten Weltordnung aus, rechnet aber mit dem Vorhandensein des moralisch Bösen, das auf der utopischen Insel bei Schnabel ausgeschaltet wird. Diese traditionell utopische Struktur der Inselfiktion muß mitbedacht werden, wenn die Darstellungsleistung Schnabels beurteilt werden soll. 2. Techniken der Veranschaulichung der utopischen Welt a) Wie in der Gattungstradition stellt sich bei Schnabel das Problem der Integration zweier fiktiver Räume von unterschiedlichem Bezug zur Wirklichkeitserfahrung in einem Erzählverlauf, ohne es zu einem Illusionsbruch kommen zu lassen. - Auch Schnabel bedient sich zur Lösung dieser Aufgabe der traditionellen Bildvorstellung einer Insel im Meer und des tradierten Erzählverlaufs einer Schiffsreise. Bei Schnabel ist im Gegensatz zu Sinold diese Schiffsreise mit zwei neuen Elementen angereichert, mit denen die Phantasie des Lesers beim Übergang von einem fiktiven Raum zum andern beschäftigt und gleichzeitig abgelenkt wird: die Schilderung 70

71

Im Psalm 127 heißt es unter anderem: »Wo der HERR nicht das Haus bawet / so erbeiten vmb sonst / die dran bawen. Wo der HERR nicht die Stadt behütet / so wachet der Wechter vmb sonst. Es ist vmb sonst / das jr früe auffstehet / vnd hernach lang sitzet / vnd esset ewer Brot mit sorgen / Denn seinen Freunden gibt ers schlaffend.« Prov. 10, 2 2 : »Der segen des HERRN macht reich / On mühe.« vgl. Kap. II, S. 109ff.

438

eines Seesturms und die Lebensgeschichte Leonhard Wolffgangs, die während der Reise erzählt wird. Beide Elemente haben Verweisungsfunktionen. Der Sturm wird dargestellt, um zu zeigen, daß das Schiff voll frommer Leute unter dem Schutz Gottes steht, wie alles auf der Insel, die angesteuert wird (vgl. I, S. 44). Auch die Erzählung Wolffgangs hat Verweisungscharakter. Mit ihr läuft parallel zur Reise Eberhards ein zweiter Weg nach Felsenburg, der gleichzeitig ein innerer Weg der Bekehrung ist. Leonhard Wolffgang erzählt, wie er sich, ausgesetzt am felsigen Strand der Insel, von einem äußerlichen Namenschristen zu einem »wahren Christen« bekehrt, kurz darauf von den Felsenburgern gerettet wird und durch einen dunklen Gang in das Innere der Insel geführt wird (vgl. I, S. 56). Damit wird die Reise Eberhards nach Felsenburg mit Bedeutung aufgeladen: Sie ist zugleich ein Weg von der Welt der Gottlosigkeit und des äußeren Christentums zu einer Stätte des »wahren« Christentums der Wiedergeborenen und Tugendhaften. Der Weg zwischen Europa und der utopischen Insel wird für den Leser auch dadurch nachvollziehbar gemacht, daß es nicht bei der Überwindung der Raumgrenze durch Eberhard Julius bleibt, sondern daß alle Personen, die ihr Leben erzählen, auch ihre Reise von Europa zur Insel erzählen. Weil die Erzählung Alberts, in deren Rahmen inhaltlich diese Lebensgeschichten stehen, die Umwandlung der Insel in einen utopischen Raum in Einzelschritten darstellt, ist in diesen Lebensgeschichten der Sprung von einer Realität in die andere bei der Ankunft auf Felsenburg bei weitem nicht so groß wie bei Eberhard Julius. Bei der Ankunft von Albert ist die Insel in ihrem Realitätsgehalt außer ihrer paradiesischen Natur von der Erfahrungswelt nicht unterschieden. Durch Lemelie ist diese Welt auch noch Stätte von Mord, Verstellung und Laster. Bei der Ankunft von Robert und Amias Hülter hat sich schon Wesentliches verändert: Lemelie ist tot, die Bedingungen der Erfahrungswelt gelten nicht mehr uneingeschränkt, doch der utopische Zustand ist noch längst nicht erreicht. Die Spanne zwischen Erfahrungswelt und Inselwelt wird nun bei jeder Ankunft eines neuen Bewohners größer, aber sie bleibt deswegen unmerklich, weil sich die utopische Welt vor jeder Ankunft eines neuen Bewohners in einer »Wachstumskrise« befindet, die gerade durch seine Ankunft gelöst wird. Durch diese Stufung des Übergangs von einem Raum zum andern wird die Raumüberschreitung Eberhards, die strukturell der tradierten Schiffsreise gleicht, für den Leser akzeptabler und wahrscheinlicher. — Die fiktiven Personen, die die Raumgrenze überschreiten, haben mit der eben beschriebenen Rolle in einem höheren Maß als bei Morus und

439

Sinold die Funktion der Integration der Räume übernommen. Im Anschluß an die Gattungstradition sind sie alle schon im Kontext der Erfahrungswelt Fremde, wegen ihrer Tugend und Frömmigkeit Verfolgte, die erst auf der Insel ihre gemäße Umgebung finden. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von Hythlodäus oder Nettuno. Aber sie gewinnen ihrer traditionellen Rolle gegenüber neue Integrationsfunktionen hinzu, denn sie sind nicht bloß Beobachter, sondern Schöpfer und Mitgestalter der neuen Welt. Der Raum, den sie betreten, wird erst durch ihre Mitarbeit ein utopischer Raum. Auch Eberhard Julius, der im ersten Band als beobachtender Reisender in traditioneller Manier auftritt, heiratet eine Felsenburgerin und wird im Verlauf des Gesamttextes zu einer wichtigen Figur beim weiteren Ausbau der Inselwelt. 72 Distanzierte und passive Beobachtung der Wirklichkeit gibt es in diesem Text nicht: Der Beobachtende ist immer zugleich von der Wirklichkeit unmittelbar betroffen, er wird in ihr benötigt und arbeitet an ihrer Veränderung. Die Wirklichkeit der utopischen Welt ist damit dem Vorstellungsvermögen des Lesers zugänglicher, weil sie nicht das Werk von schemenhaften außereuropäischen Wesen ist, sondern von europäischen Mitbürgern, die als Individuen anschaulich gemacht werden. b) Die zweite, bei Sinold weitgehend ungelöste Aufgabe, die sich beim Problem der illusionierenden Darstellung ergibt, ist die Umsetzung der theoretischen Vorstellungen von einem utopischen Zustand in konkrete Bildvorstellungen und Handlungsabläufe. Aus der Analyse des Textaufbaus und der satirischen Textstruktur der Insel Felsenburg ist für diese Frage bereits festzuhalten, daß thematische Gesichtspunkte bei der Textgliederung keine Rolle mehr spielen. Die Traktatstruktur ist also weitgehend zugunsten einer narrativen Struktur aufgelöst worden. Es bleibt noch die Frage, wie weit es in den einzelnen Raumbeschreibungen gelingt, evidentia, eine anschauliche und lebendige Vorstellung hervorzurufen. — Unter dieser Fragestellung soll zunächst ein Stück der EberhardErzählung untersucht werden (I, S. 63-65). Nach der Ankunft auf der Insel wird Eberhard durch einen dunklen Gang in das Innere der Insel geleitet, »biß wir endlich ingesammt als aus einem tieffen Keller, an das helle Tages-Licht herauff kamen. Nunmehro waren wir einiger-

72

vgl. III, S. 244f., wo Eberhard wegen seines »besonderen Verstandes und Geschicklichkeit« mit in das Parlament der Insel aufgenommen wird.

440

massen überzeugt, daß uns der Capitaitt Wolffgang keine Unwahrheiten vorgeschwatzt hatte, denn man sähe allhier (...) das schönste Lust-Revier der Welt, so, daß unsere Augen eine gute Zeit recht starr offen stehen, der Mund aber, vor Verwunderung des Gemüths, geschlossen bleiben muste (...)· Es ist unmöglich dem Geneigten Leser auf einmal alles ausführlich zu beschreiben, was vor Annehmlichkeiten uns um und um in die Augen fielen, derowegen habe einen kleinen Grund-Riß der Insul beyfügen wollen(...)· Jedoch ich wende mich ohne weitläufftige Entschuldigungen zu meiner GeschichtsErzählung, und gebe dem Geneigten Leser zu vernehmen: daß wir fast eine Meilwegs lang zwischen einer Allee, von den ansehnlichsten und fruchtbarsten Bäumen, die recht nach der Schnur gesetzt waren, fortgiengen, welche sich unten an dem ziemlich hoch erhabenen Hügel endigte, worauf des Alberti Schloß stund. Doch etwa 30. Schritte lang vor dem Ausgang der Allee waren die Bäume mit Fleiß dermassen zusammen gezogen, daß sie oben ein rechtes Europäisches Kirchen-Gewölbe formintn, und an statt der schönsten Sommer-Laube dieneten. Unter dieses ungemein propre und natürlich kostbare Verdeck hatte sich der alte Greiß, Albert Julius, von seiner ordentlichen Behausung herab, uns entgegen bringen lassen, denn er konte damals wegen eines geschwollenen Fusses nicht gut fortkommen. Ich erstaunete über sein Ehrwürdiges Ansehen (...)«. Es folgt die Begrüßung von Eberhard und der anderen neuen Bürger der Insel, die »mit nicht weniger Freude und Aufrichtigkeit empfangen« wurden, »so daß die ersten Höfflichkeits-Bezeugungen biß auf den hohen Mittag daureten, worauf wir Einkömmlinge mit dem Alberto Julio, und denen 5. Alten, in dem auf dem Hügel liegenden Hause, die Mittags-Mahlzeit einnahmen. Wir wurden zwar nicht Fürstlich, doch in der That auch nicht schlecht tractitet, weiln nebst den 4. recht schmackhafften Gerichten, die in Fleisch, Fischen, gebratenen Vögeln, und einem raren Zugemüse bestunden, die delicatesten Weine, so auf dieser Insul gewachsen waren, aufgetragen wurden (...). Es war bey diesen Leuten nicht Mode lange zu Tische zu sitzen, derowegen stunden wir nach ordentlicher Ersättigung auf, der Altvater betete nach seiner Gewohnheit, so wol nach als vor Tische selbst, ich küssete ihm als ein Kind die Hand, er mich aber auf den Mund, nach diesen spatziereten wir um das von festen Steinen erbauete Hauß, auf dem Hügel herum, allwo wir bey nahe das gantze innere Theil der Insul übersehen konten, und des Merckwürdigsten auf derselben belehret wurden. Von dar ließ sich Albert Julius auf einem Trag-Sessel in seinen angelegten grossen Garten tragen, wohin wir insgesammt nachfolgeten, und uns über dessen annehmliche, nützliche und künstliche Anlegung nicht wenig verwunderten. Denn diesen Garten, der ohnefehr eine Viertheils Teutsche Meile lang und eben so breit war, hatte er durch einen Creutz-Weg in 4. gleiche Theile abgetheilet, in dem ersten quartier nach Osten zu, waren die auserlesensten Fruchtbaren Bäume, von mehr als hundert Sorten, das 2te quartier gegen Süden, hegte vielerley schöne Weinstöcke, welche theils rothe, grüne, blaue, weisse und anders gefärbte extra-ordinair grosse Trauben und Beeren trugen. Das 3te quartier, nach Norden zu, zeigte unzehliche Sorten von BlumenGewächsen, und in dem 4ten quartiere, dessen Ecke auf Westen stieß, waren die allernützlichsten und delicatesten Küchen-Kräuter und Wurtzeln zu finden.«

441

Im Vergleich zu den Raumdarstellungen bei Sinold fällt hier auf, daß die Darstellung an die Perspektive des Erzählers und seiner Gefährten gebunden wird. Es wird nur so viel berichtet, wie der Erzähler zum jeweiligen Zeitpunkt sehen kann. Darüber hinaus bleibt die Wirkung des Wahrgenommenen auf das Erleben des Erzählers im Blickfeld der Darstellungen. Die Wirklichkeit wird dem Leser durch die Emotionen des wahrnehmenden Subjekts gefiltert präsentiert. Diese Darstellungsperspektive wird in der ganzen Eberhard-Erzählung durchgehalten: Zu diskursiven Beschreibungen nach der Art geographischer Exkurse kommt es an keiner Stelle des Textes. Durch die Reduzierung der Darstellungsperspektive auf die jeweiligen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Erzählers muß sein Standort laufend in Bewegung gehalten werden, damit er möglichst viel von der Landschaft erfaßt. Der Raum wird vom Erzähler erwandert, und er erschließt sich im Zeitablauf einer abgestufen Wahrnehmung, so daß jegliche Statik einer diskursiven Beschreibung vermieden wird. Dabei fällt auf, daß an all den Stellen, an denen sich dem Erzähler Gelegenheit zu einer ausgedehnten Beschreibung eines ganzen Panoramas bieten würde, der Text sehr allgemein wird und sich sofort wieder den nächstgelegenen Details zuwendet. Überdies ist die Raumdarstellung mit erzählbarer Handlung durchsetzt: mit der Begrüßung durch den Altvater und dem Mittagessen. Auffällig ist die weitgehende Konkretisierung dieses Raumes durch eine Fülle von Einzelheiten, die genaue Beschreibung der Mittagsmahlzeit, die detaillierte Schilderung des Gartens mit Farbeindrücken und ein ebenso kleines, wie für die Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Raumvorstellung klug angebrachtes Detail wie der geschwollene Fuß Alberts. Die an den anderen Tagen folgenden Beschreibungen der einzelnen Teilräume der Insel fallen zwar insgesamt stereotyper aus, sie halten sich aber grundsätzlich an die Technik der hier vorgestellten Szene. Im Vergleich zu Sinold zeigt sich, daß die Raumdarstellungen der Eberhard-Erzählung durch ihre Bindung an eine subjektive Perspektive und den Zeitablauf individueller Wahrnehmung, durch die Konkretisierung mit Einzelheiten und die Kombination mit erzählbarer Handlung weitgehend die Forderung nach einer Darstellung des thematischen Konzepts in konkreten Bildern einlösen. Schnabels Raumdarstellungen genügen auch den Ansprüchen, die die zeitgenössische Poetik an die spezifisch poetische »Schilderey« gestellt hat. 73 73

vgl. Kap. II, S. 1 7 3 - 1 7 9 .

442

Um in die Raumbeschreibungen von Eberhard Julius noch mehr Zeitverlauf zu bringen, als durch die zeitliche Abfolge seiner Wahrnehmung ermöglicht wird, wird die Welt auch auf der Ebene der EberhardErzählung als etwas Veränderliches dargestellt: Zum Zeitpunkt der Ankunft Eberhards hat die Insel zwar schon einen gewissen Grad von Vollkommenheit erreicht, doch gibt es auf ihr noch genug zu tun, so daß diese Welt auch auf dieser Zeitebene noch eine Geschichte hat - dies ganz im Gegensatz zur Gattungstradition. Die Vollendung der utopischen Welt kann innerhalb der Eberhard-Erzählung mitverfolgt werden. Eine große Rolle spielt hier der Bau einer Kirche für die Felsenburger. Die Bewohner der Insel sind »wahre Christen«, die gemäß pietistischer Anschauungen bisher auch ohne Kirche fromm gewesen sind. Doch ist auch unter diesen Voraussetzungen der Bau einer Kirche als äußeres Zeichen des »wahren Glaubens« durchaus noch eine weitere Vollendung des utopischen Zustandes. Während in der Eberhard-Erzählung jeden T a g von den Fortschritten beim Kirchenbau berichtet wird, wird in der eingelagerten Albert-Erzählung jeden Abend vom Aufbau der Inselwelt berichtet. Kirchenbau und Erzählung vom Aufbau der Insel laufen parallel nebeneinander, wodurch die Funktion des Kirchenbaus als sinnenfälliges Zeichen des Aufbaus der utopischen Welt unterstrichen wird. In ähnlicher Funktion ist innerhalb der Eberhard-Erzählung die Ankunft des Pastors Schmeltzer zu sehen. Auch ohne ordinierten Priester können die Felsenburger fromm leben und handeln - es kommt nicht auf die äußere Kulthandung an —,74 doch wenn die Voraussetzung des »wahren Glaubens« erfüllt ist, so kann das Fehlen eines Priesters mit sakramentaler Gewalt, der das Abendmahl reichen, predigen und die Beichte abnehmen kann, als Mangel empfunden werden. So sagt Albert zu Leonhard Wolffgang, daß er sich zwar in einem »glückseeligen Zustande« (I, S. 237) befinde, »nur dieses eintzige beunruhige sein Gewissen, daß nemlich er und die Seinigen ohne Priester seyn, mithin des heiligen Abendmahls nebst anderer geistlicher Gaben beraubt leben müsten« (ebda.). Diese fehlende Krönung der »Glückseeligkeit« wird während der Eberhard-Erzählung hinzugefügt. Mit der ersten Beichtund Abendmahlsfeier auf der Insel schließt deshalb auch die EberhardErzählung im ersten Band. - Alle Einzelelemente des Raumes, die in der Eberhard-Erzählung beschrieben werden, erscheinen ein zweites Mal in der Albert-Erzählung, diesmal nicht als Bestandteile einer Raumbeschreibung, sondern 74

Zum Kontext dieser Auffassungen vgl. Kap. III, S. 246f.

443

als Ergebnisse eines geschichtlichen Prozesses. Die Elemente der utopischen Welt werden damit im zeitlichen Ablauf als Ergebnis von Konflikten und von menschlicher Arbeit dem Leser lebendig vor Augen gestellt, freilich unter den genannten hypothetischen Voraussetzungen, die der Nachvollziehbarkeit der Darstellung gattungstypische Grenzen setzen. Wie dies geschieht, ist bereits bei der Analyse der wichtigsten Szenen beim Aufbau der Inselwelt gezeigt worden. Alle Aspekte des normgebenden Raumes werden hier in exemplarischen Situationen und Handlungsabläufen dargestellt. Mehr noch als in der Eberhard-Erzählung ist es die dargestellte Wirklichkeit selber, die sich dauernd verändert und sich so einer expositorischen Beschreibung entzieht. Albert ist nicht Beobachter, sondern aktiver Gestalter der Wirklichkeit. So sieht man nicht bloß in diesem Text, daß die Welt der Insel gemäß der Gattungstradition von den Spuren der menschlichen Arbeit geprägt ist,75 sondern man kann durch die Albert-Erzählung mitverfolgen, wie dieses Ergebnis zustandegekommen ist. Im Überblick läßt sich feststellen, daß im Vergleich zu anderen Texten der Gattungstradition die Darstellung des thematischen Konzepts durch Handlungen und Bildvorstellungen und die Aufladung der Darstellung mit positiven Wertungen in der Insel Felsenburg überraschend weit gediehen ist. Auch die Verbindung von europäischer Wirklichkeit und utopischer Insel, die wegen des besonderen Status der Insel als figmentum utopicum besonders schwierig erscheint, stellt mit dem Einsatz der Biographien und dem jeweiligen Beitrag der Inselbewohner zum Aufbau der utopischen Wirklichkeit sowie mit der zeitlichen Staffelung mehrerer Entwicklungsphasen der utopischen Wirklichkeit einen beachtlichen Versuch dar, einen Zustand ästhetisch evident werden zu lassen, den man sich bei rationaler Überlegung als verwirklicht oder verwirklichbar nicht denken kann. Daß die Schnabelsche Lösung gattungstypischer Erzählprobleme in dieser Weise gelingen konnte, ist an den Kontext der geschichtlichen Situation, des Entwicklungsstandes der literarischen Mittel und der zeitgenössischen Wirklichkeitsvorstellungen gebunden, in dem zusammenfassend die Insel Felsenburg beurteilt werden soll. V. Die Insel Felsenburg im gattungsgeschichtlichen Kontext 1. In der Insel Felsenburg wird erstmals in der deutschen Gattungstradition dargestellt, daß europäische Mitbürger fähig sind, durch tugend75

vgl. Nicolai-Haas, S. 275ff.

444

haftes Verhalten und Arbeit eine neue Wirklichkeit aufzubauen. Dieser neue Zustand der Wirklichkeit, von dem aus man die Erfahrungswelt kritisiert, ist zugleich ein späterer Zustand. Die Textstruktur propagiert damit den Glauben an die Möglichkeiten des Menschen, eine positive Veränderung der Welt herbeizuführen. Mit der Auflösung der Textstruktur in einzelne Biographien wird diese Veränderung überdies zu einem Ergebnis individueller Leistung gemacht. a) Diese beiden Aspekte, der Glaube an die Möglichkeiten menschlicher Arbeit und die Individualisierung des Wirklichkeitsverständnisses, sind bereits im pietistischen Bekehrungsbericht in einer literarischen Struktur übermittelt worden, die sich Schnabel in seinem Text zunutze macht. Die Kontrastierung von positiven und negativen Elementen im zeitlichen Nacheinander einer Lebensgeschichte wird umfunktioniert für die Bedürfnisse der utopischen Erzählung. Wie in der Vorstellung des Pietismus die Veränderung der Welt von der Bekehrung jedes einzelnen abhängt, wie in der säkularisierten Form dieser Anschauung im Patrioten der Zustand des Gemeinwesens von der privaten Tugendhaftigkeit jedes Einzelnen abhängt, so ist auch die utopische Welt der Insel Felsenburg das Ergebnis von Leistungen einzelner Menschen, der Weg zu ihr ist ein Weg über individuelle Biographien. Das heißt nicht, daß die Autobiographien der Felsenburger alle Bekehrungsberichte im inhaltlichen Sinn sein müssen.76 Nur die grundlegende Struktur wurde übernommen, die Überwindung des Negativen durch das Positive im Verlauf einer Biographie und damit die Botschaft, die mit dieser Struktur verbunden ist: daß es dem Menschen möglich ist, schon in dieser Welt fromm und tugendhaft zu leben und einen Beitrag zur Vollkommenheit der Welt in der Zukunft zu leisten, wenn er als Individuum aus der Bindung an die überlieferten Normen der Ständegesellschaft heraustritt.77 b) Wir sehen nun auch, daß der Zusammenhang von Insel Felsenburg und Robinson Crusoe weit über das gemeinsame Motiv der einsamen Insel hinausgeht. Er ist vielmehr auf die Besonderheiten der Darstellungsweise und die Struktur der Erzählverläufe gegründet.78 In der 76

77 78

so Mayer, S. 69. Bekehrungsbericht im engeren Sinn ist nur die Biographie Leonhard Wolffgangs. vgl. Wuthenow, S. 21. Es geht also, wie man hier sieht, nicht um den Zusammenhang von »Utopie und Robinsonade«, sondern um den literaturgeschichtlichen Zusammenhang von Robinson Crusoe und Insel Felsenburg.

445

Reduzierung der Wirklichkeitsdarstellung auf eine subjektive Perspektive, im Verzicht auf geographische Exkurse zeigt der Text der Insel Felsenburg, daß Schnabel im Gegensatz zu der Mehrzahl der Robinsonadenautoren die wesentlichen Innovationen der Darstellungstechnik im Robinson Crusoe übernommen hat. Aber auch die Makrostruktur des Robinson Crusoe hat sich auf die Insel Felsenburg ausgewirkt. Wie im Robinson Crusoe wird auch hier die Geschichte einer Weltveränderung, einer Anpassung der Wirklichkeit an die Bedürfnisse des Menschen durch produktive Arbeit erzählt. Die Möglichkeit einer utopischen Erzählung, die im Robinson Crusoe angelegt ist,79 ist hier erkannt und konsequent ausgestaltet worden. An dieser Stelle zeigt sich, daß die innerhalb der Gattungsgeschichte überraschende Darstellung der utopischen Welt in anschaulichen Bildern und Geschehensverläufen in der Insel Felsenburg an das inhaltliche Konzept gebunden ist, das der Robinson Crusoe mitteilt: Denn nur dann kann eine utopische Wirklichkeit derart in Geschichte aufgelöst werden, wenn die Vorstellung einer veränderbaren Wirklichkeit sich in positiver Bewertung durchgesetzt hat. Nur wenn die tradierte Vorstellung eines geschichtslosen Zustandes ohne Zeitverlauf als normativer Gegenbegriff zur »Unbeständigkeit« der Welt ausgespielt hat, entfallen auch die Schwierigkeiten bei der bildhaften und narrativen Darstellung eines extrem geschichtslosen und uniformen Zustandes. Die Gemeinsamkeit von Darstellungsweise und Textstruktur von Robinson Crusoe und Insel Felsenburg verweist damit auf ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis: »Die Felsenburger streben nicht >zurück zur Natur< als dem Ursprünglichen, Gesunden, Wahren; (...). Ihr Ideal heißt eher Zivilisation und Fortschritt^«80 2. Dieses neue Konzept der Wirklichkeit, ausgerichtet an den Normen der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, hat also in der Insel Felsenburg, ermöglicht durch die Entwicklungen beim Bekehrungsbericht, bei der Moralischen Wochenschrift und im Robinson Crusoe, zu einer Verwandlung der tradierten Gattungsstruktur geführt, von der grundlegende Vorstellungen, die in der bisherigen Tradition der utopischen Erzählung formuliert worden sind, ebenfalls mitbetroffen sind. a) Der Wendepunkt, den die Insel Felsenburg in der Gattungsgeschichte darstellt, wird nicht nur an den Neuerungen der wahrscheinli-

79 80

vgl. Kap. IV, S. 3 9 2 - 3 9 6 . Nicolai-Haas, S. 275.

446

chen Darstellungsweise sichtbar, sondern er läßt sich vor allem auch am gewandelten Status der utopischen Wirklichkeit gegenüber der Erfahrungswelt ablesen. Wenn nämlich die utopische Wirklichkeit das Werk europäischer Mitbürger ist, die von Leonhard Wolffgang gerade eben aus dem Nachbardorf oder aus dem Predigerseminar hätten abgeworben werden können, und wenn sie das Ergebnis eines zeitlich gestuften Prozesses der Umwandlung der Erfahrungswelt in eine Normfigur ist, dann ist diese Welt nicht mehr bloß ein ganz anderer, außerhalb jeglicher Wirklichkeit liegender Zustand, sondern ein Teil der Wirklichkeit selbst, in dem durch Tugend und Arbeit schon verwirklicht worden ist, was für die Zukunft für die ganze Welt erhofft werden kann, vergleichbar dem Bekehrten im Bekehrungsbericht und dem tugendhaften Mitbürger im Patrioten, die ebenfalls als Normfiguren in der Welt bleiben. Die Gestaltung der utopischen Insel als Arbeitsprodukt würde demnach die Hoffnung abbilden, daß man mit Tugend, Frömmigkeit und produktiver Arbeit dem kritisierten Zustand der Wirklichkeit entkommen kann, nicht durch resignativen Rückzug aus ihr, sondern durch gelassene Annahme der jeweiligen Situation, verbunden mit rastloser Aktivität. Damit würde sich in diesem Text die spätere Projektion der utopischen Normfigur in die Zukunft ankündigen. Der Zusammenhang dieser Gattungsentwicklung im späten 18. Jahrhundert mit dem modernen Arbeitsbegriff der bürgerlichen Leistungsgesellschaft und der große Sprung aus der ursprünglichen Gattungstradition heraus, der mit dieser Veränderung verbunden ist, wird gerade im Hinblick auf die Entwicklung zwischen der Glückseeligsten Insul und der Insel Felsenburg überdeutlich. b) Es bleibt freilich die Frage, ob in der Insel Felsenburg, trotz aller Angleichungen an die Verhaltensnormen und das Wirklichkeitsverständnis der Leistungsgesellschaft, dieser Schritt schon ganz vollzogen wird. Denn der Text verrät auch den Widerstand der tradierten Gattungsstruktur gegen eine solche Umgestaltung, weil die Veränderung der Gattungsstruktur im Sinn des bürgerlichen Arbeitsbegriffs ihre Grenzen hat. So lange die satirischen Normfiguren einzelne Menschen sind, ist es sehr leicht, solche Normfiguren innerhalb der Wirklichkeit anzusiedeln, ohne daß die Vorstellung unwahrscheinlich wird, daß sie in ihrer Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit ausharren. Solche Schwierigkeiten treten aber dann auf, wenn gemäß der Gattungstradition das Ganze einer öffentlichen Ordnung imaginiert und als Norm innerhalb der Erfahrungswelt angesiedelt werden soll. Es ist schwer vorstellbar, wie 447

eine solche Ordnung ohne Störungen von der umgebenden Welt her in ihrem Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann, ohne dabei gleichzeitig an normativer Qualität zu verlieren. Auch die Insel in diesem Text ist deshalb, trotz der Herkunft ihrer Bewohner aus Europa, ein hermetisch von der Erfahrungswelt abgeschlossener Raum, der besonderen Bedingungen unterliegt, und er erscheint damit eben doch nicht als ein gegenwärtiger oder zukünftiger Teil der Erfahrungswelt, so wie etwa der einzelne Bekehrte als Teil der Erfahrungswelt erscheinen kann. Die Geschichte des Aufbaus der Inselwelt ist so erzählt, daß die Entfaltung des tugendhaften und arbeitenden Menschen nur unter hypothetischen Voraussetzungen als denkmöglich erscheint; das Gedankenexperiment mit den Möglichkeiten des tugendhaften und frommen Bürgers läuft unter Bedingungen ab, die er entweder selbst nicht herstellen kann, ohne seine Eigenschaften zu verlieren, oder die sich überhaupt durch menschliches Handeln nicht steuern lassen. Man kann deshalb auch nicht sagen, die utopische Fiktion der Insel Felsenburg sei die Vorwegnahme eines zukünftigen Zustandes,81 auch wenn die Vorstellung geschichtlicher Entwicklung ansatzweise formuliert wird. Die Textstruktur enthüllt, daß auch dieser Autor sich die Entfaltung der Tugendhaften in der Welt nicht vorstellen kann und daß deswegen auch hier noch die auf die Welt insgesamt gerichtete Negation ausgesprochen wird. c) Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg dokumentiert damit trotz beachtlicher Weiterentwicklungen des tradierten Musters im Sinne eines neuen Wirklichkeitsbegriffs die gleichen Schwierigkeiten der Gattung im frühen 18. Jahrundert, die auch bei Sinolds Glückseeligster Insul zu beobachten waren: Die Botschaft von den Möglichkeiten des produktiv arbeitenden Menschen und von der Veränderbarkeit der Welt wird trotz überzeugender Darstellungen dieses Konzepts in einzelnen Bildvorstellungen und Handlungsverläufen durch die Konstruktion des utopischen Raumes relativiert. Die überlieferte Gattungsstruktur entwickelt von sich aus Energien, die eine Verwendung dieser Gattung als Propagandainstrument für die Normen einer zukunftsorientierten Leistungsgesellschaft problematisch machen. So sehr der Begriff der Utopie im Allgemeinen mit dem Begriff der Zukunftserwartung assoziiert wird: die Gattung der utopischen Erzählung jedenfalls, das zeigt gerade die Insel Felsenburg als ein Grenzfall, führt aus immanenten Gattungsgesetzen heraus immer wieder zur Formulierung von Skepsis gegenüber dem Glauben an die Verwandlung der Welt zum Positiven. 81

vgl. Voßkamp, »Theorie und Praxis«, S. 151 und S. 152 und Brüggemann, S. 11.

448

In der Insel Felsenburg wird die in der Gattungsgeschichte angelegte Tendenz zur realistischen Darstellung der utopischen Welt und zur Illusionierung des Lesers in hohem Maße erfüllt. Voraussetzung dafür ist ein Entwicklungsstand der Literatur gewesen, der bei Sinold noch nicht gegeben war. Hinzu kam, daß Schnabel die illusionsierende Darstellung nur möglich gewesen ist, weil er einen Wirklichkeitsbegriff zugrundelegte, der die Grenzen der tradierten Gattung überschritten hatte und in ihr letztlich nicht darstellbar war: Die positive Wertung des geschichtlichen Wandels als Fortschritt anstatt als Unbeständigkeit steht im Gegensatz zu einer Idee des Stillstandes der Zeit in der vollkommenen Welt. Der Glaube an die Fähigkeiten des Menschen, die Welt seinen Bedürfnissen anzupassen, steht im Gegensatz zu einer Raumkonstruktion, in der die unmögliche Isolierung von andersartigen Verhaltensweisen die Grundlage dafür ist, daß sich die Gemeinschaft der Tugendhaften überhaupt erst konstituieren kann. In der Insel Felsenburg werden alternative Möglichkeiten der weiteren Gattungsentwicklung sichtbar: Sie kann die Tendenzen zum Zukunftsroman weiterentwickeln, sie kann aber auch, in ihrem ursprünglichen Sinn, Formulierungshilfe werden für poetische Kritik an dem allzu planen Glauben an eine bessere Zukunft. Beide Wege wären im 18. und 19. Jahrhundert zu verfolgen.

449

Literaturverzeichnis

1. Quellen Anonym: Der wohleingerichtete Staat Des bishero von vielen gesucheten / aber nicht gefundenen Königreichs Ophir / welcher die völlige Kirchen-Verfassung / Einrichtung der hohen und niedern Schulen / des Königs Qualitäten / Vermählungs-Art / Auferziehung der Königlichen Printzen und Printzeßinnen / die Königliche Hoffhalt- und Regierung / die dabey befindlichen Bedienten / Land und Stadt-Obrigkeiten / deren Erwähl- Verricht- und Besoldungen / ingleichen die so wohl insgemein / als Insonderheit des Staats-Policey, Justiz-Commercien-Cammer und Gesundheits-Wesen / betreffende Gesetze und Ordnungen / Nebst allen zu wissen nöthigen Nachrichten und Merckwürdigkeiten / vorgestellet. Leipzig 1699. Ahlefeldt, Heinrich von: Disputatio philosophica de fictis rebuspublicis, Quam Divina Favente Gratia Praeside Georgio Paschio, Artis rationis, Philos. Primae ac Moralis Professore Ordinario d. Decembr. Anno MDCCIV in Auditorio Majori publice defendet Henricus ab Ahlefeld, Eques Holsatus, Kilonii, Typis Bartholdi Reutheri, Acad. Typogr., Kiel 1704. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad Poema pertinentibus, Halle 1735. Bidermann, Jacob: Utopia Didaci Bemardini, seu Jacobi Bidermani, e Societate Jesu Sales Musici, Quibus ludicra mixtim 8c seria litterate ac festive denarrantur, Dillingen, 3. Aufl. 1691. Bodmer, Johann Jacob: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966. Breitinger, Johann Jacob: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, 2 Bde., Stuttgart 1966. Conring, Hermann: De civili Prudentia, Helmstedt 1662. Defoe, Daniel: Robinson Crusoe, Erster und zweiter Band, Aus dem Englischen übertragen von Franz Riederer, München 1966. Francke, August Hermann: Der grosse Aufsatz. Schrift über eine Reform des Erziehungsund Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Mit einer quellenkritischen Einführung herausgegeben von Otto Podczeck, Berlin (DDR) 1962. - »Anfang und Fortgang der Bekehrung Α. H. Franckes von ihm selbst beschrieben«, in: Pietismus und Rationalismus, hrsg. von Marianne Beyer-Fröhlich, Darmstadt, 2. Aufl. 1970, S. 1 7 - 2 9 ( = DLE, Deutsche Selbstzeugnisse, Bd. 7). Freyer, Hieronymus: »Vom Romanlesen«, in: Ernst Weber, Texte zur Romatheorie I ( 1 6 2 6 - 1 7 3 1 ) , München 1974, S. 5 3 9 - 5 4 7 . Friedrich Wilhelm I. (König von Preußen): »Politisches Testament«, in: Georg Küntze und Martin Hass (Hrsg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern nebst ergänzenden Aktenstücken, Bd. 1, Leipzig - Berlin 1911, S. 6 9 - 9 4 . Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer critischen Dichtkunst ( = Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. von Joachim Birke und Brigitte Birke, Bd. VI, 1 - 3 , Berlin - New York 1973). — Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, Darinn alle Philosophische Wissenschaften in

450

ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Zum Gebrauch Academischer Lectionen. Erster, Theoretischer Theil, Leipzig 1733. - Erste Gründe der gesamten Weltweisheit. Darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Zum Gebrauche academischer Lectionen. Anderer, Practischer Theil, Leipzig 1734. Heidegger, Gotthard: Mythoscopia romantica, oder Discours von den so benanten Romans. Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698, hrsg. von Walter Ernst Schäfer, Bad-Homburg - Berlin - Zürich 1969. Leguat, Francis: Der Frantzösische Robinson oder Franc. Laguet Eines geborenen Frantzosens / Wahrhafftige Beschreibung seiner Reisen und wunderliche Begebenheiten nach zweyen unbewohnten Ost-Indischen Insuln, nebst einer Erzehlung der merckwürdigsten Dinge, die sie auf der Insul Mauritii, zu Batavia, an dem Cap der guten Hoffnung, auf der Insul S. Helena und anderen Orten worauf Sie zukommen / angemercket haben. Mit Land-Carten und Figuren versehen, Franckfurth und Leipzig 1723, 2 Bde. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Rezension von Heideggers Mythoscopia Romantica, in: Monatlicher Auszug aus allerhand neu-herausgegebenen / nützlichen und artigen Büchern, December MDCC, hrg. von Johann Georg von Eccard, Hannover 1700, Bd. I, 6. St., S. 882-894. - »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: G. W Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, hrg. von Hans-Heinz Holz, Darmstadt 1965 (= G. W. Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. I), S. 32-47. - »Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie«, in: G. W. Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, hrg. von Hans-Heinz Holz, Darmstadt 1965 ( = G. W. Leibniz, Philosopische Schriften, Bd. I), S. 438-483. - Essais de Theodicee sur la Bonte de Dieu, la Liberte de l'homme et l'Origine du Mal. Suivi de la Monadologie, hrg. von Jaques Jalabert, Paris 1962. - Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freyheit des Menschen, und vom Ursprünge des Bösen. (Übersetzt und kommentiert von Johann Christoph Gottsched), Hannover und Leipzig, 4. Aufl. 1744. - Die Theodizee, Ubersetzung von Artur Buchenau. Einführender Essay von Morris Stockhammer, Hamburg, 2. Aufl. 1968 ( = Philosophische Bibliothek, Bd. 71). Luther, Martin: Biblia. Das ist die gantze Heilige Schrifft. Deudsch auffs new zugericht. Wittenberg 1545, hrg. von Hans Voltz, 3 Bde. München 1974. Major, Johann Daniel: See-Farth nach der Neuen Welt / ohne Schiff und Segel, Kiel, 1670 (2. Aufl. Hamburg 1683). Morhof, Daniel Georg: POLYHISTOR, Lübeck 1708. Morus, Thomas: DE OPTIMO REIPVBLICAE STATV DEQUE noua insula Vtopia libellus uere aureus nec minus salutaris quam festiuus, clarissimi disertissimique uiri THOMAE MORI inclytae ciuitatis Londoniensis ciuis & Vicecomitis, Edited by Edward Surtz, S. J. und J. H. Hexter, New Haven and London 1965 (= The Complete Works of St. Thomas More, V. 4). Moscherosch, Hanns Michael: Wunderliche und wahrhaffte Gesichte Philanders von Sittewald, Straßburg 1650, hrg. von Felix Bobertag, Stuttgart 1883. Pasch, Georg: De variis modis moralia tradendi liber. Accedit Introductio in rem literariam moralem veterum sapientiae antistitum. Ad extremum additi sunt indices I, Auctorum in hoc opere passim citatorum, II, Rerum maxime memorabilium, Kiel 1707. Der Patriot. Nach der Originalausgabe Hamburg, 1724-26 in drei Textbänden und einem Kommentar-Band kritisch herausgegeben von Wolfgang Martens, 3 Bde., Berlin 1969-1970. Reimmann, Jacob Friederich: Poesis Germanorum Canonica et Apogrypha. Bekandte und Unbekandte Poesie der Deutschen / Darinnen im I. Theile die bekandten und gemeinen

451

Canones von der Deutschen Elocution, Metro und Rythmo, imgleichen von dem gene're Jambico, Trochaico und Dactylico kürtzlich entworffen und mit curieusen Exempeln erleutert. In dem II. Theile die unbekandten und biß dato noch von niemand untersuchten Grund-Reguln von denen Carminibus Emblematicis, Symbolicis, Hieroglyphicis, Parabolicis, Mythicis und Paradigmaticis deutlich und leichte vorgetragen / und mit unterschiedenen Exemplis bewehret worden, Leipzig 1703. Rist, Johann: Dramatische Dichtungen: Das Friedewünschende Teutschland. Das Friedejauchtzende Teutschland, ( = Sämtliche Werke, hrg. von Eberhard Mannack, Bd. 2), Berlin - New York 1972. Schnabel, Johann Gottfried: Insel Felsenburg, hrg. von Wilhelm Voßkamp, Reinbeck 1969 ( = Rowolts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Deutsche Literatur, Bd. 31). - Wunderliche Fata einiger Seefahrer absonderlich Alberti Julii, 4 Bde., Nordhausen 1 7 3 1 - 4 3 (Neudruck, Hildesheim - New York 1973). Sinold von Schütz, Philipp Balthasar: Der getreue Hofmeister, sorgfältige Vormund und neue Mentor oder einiger Discurse über die Sitten der gegenwärtigen Zeit, welche unter dem Namen des Guardian von Herrn Adisson, Steele und andern Verfassern des Spectateur in Englischer Sprache vorgestellet worden, Franckfurt und Leipzig 1725. - Die glückseeligste Insul auf der gantzen Welt, oder Das Land der Zufriedenheit, Dessen Regierungs-Art / Beschaffenheit / Fruchtbarkeit / Sitten derer Einwohner, Religion, Kirchen-Verfassung und dergleichen, Samt der Gelegenheit, wie solches Land entdecket worden, ausführlich erzehlet wird, von Ludwig Ernst von Faramund, Franckfurt und Leipzig 1728. - Das unchristliche Christenthum / in einem offenherzigen Send-Schreiben / welches der bekehrte Chineser Pavang, aus Europa / an seinen in China zurückgelassenen vertrauten Freund / Maovenlung, abgehen lassen / deutlich vorgestellet / und mit sonderbaren zu dem heutigen Christenthum gehörigen Merck-Würdigkeiten erläutert. Aus der Chinesischen Sprache in die Englische / und aus dieser in die Teutsche übersetzet / durch Ludwig Ernst von Faramond, Franckfurt und Leipzig 1717. — Fernere Abbildung des Unchristlichen Christenthums / oder Antwort-Schreiben / welches der bekehrte Chineser Maovenlung aus der Kayserl. Residentz-Stadt Peking an seinen in Engelland befindlichen vertrauten Freund Pavang abgehen lassen. Aus der Chinesischen Sprache in die Englische und aus dieser in die Deutsche übersetzet durch Ludwig Ernst von Faramond, Franckfurt und Leipzig 1712. — Das Reich der Eitelkeit und Thorheit nach seinen äußerlichen und innerlichen Eigenschafften, vorgestellet von Ludwig Ernst von Faramond, Franckfurt und Leipzig 1732. Spener, Philipp Jacob: Pia Desideria, hrg. von Kurt Aland, Berlin, 2. Aufl. 1955 ( = Kleine Texte für theologische und philologische Vorlesungen und Übungen, 170). Thomasius, Christian: Freymüthige, Lustige und ernsthaffte jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedancken. Oder Monats-Gespräche, Halle 1690, November 1689, S. 9 5 6 - 1 0 0 5 (Rezension von Vairasse, Geschiche der Sevaramben). Wolff, Christian: Vernünftige Gedancken von G O T T , der Welt und der Seele des Menschen. Auch allen Dingen überhaupt. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Franckfurt und Leipzig 1720. - Der Vernünftigen Gedancken von G O T T , der Welt und der Seele des Menschen. Auch allen Dingen überhaupt. Anderer Theil. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Franckfurt, 4. Aufl. 1740. — Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit Dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Franckfurt und Leipzig, 2. Aufl. 1725. — Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen / Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit / den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Franckfurt und Leipzig, 3. Aufl. 1728.

452

Zedier, Johann Heinrich: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, daraus folgende Artikel: - »Hof«, Bd. 13, 1 7 3 5 , Sp. 4 0 5 ^ 1 1 2 . - »Hofmann«, Bd. 13, 1 7 3 5 , Sp. 4 4 1 f . - »Ophirische Mahlzeiten und Speißarten«, Bd. 2 5 , 1 7 4 0 , Sp. 1 6 2 4 - 1 6 2 6 . - »Schlaraffenland, lat. Utopia«, Bd. 3 4 , 1 7 4 2 , Sp. 1828f. - »St. Thomas«, Bd. 4 3 , 1 7 4 5 , Sp. 1 5 0 8 - 1 5 1 1 . - »Welt«, Bd. 5 4 , 1 7 4 7 , Sp. 1 6 3 9 - 1 8 0 9 .

2. Forschungsliteratur Aland, Kurt: Kirchengeschichtliche Entwürfe, Alte Kirche, Reformation und Luthertum, Pietismus und Erweckungsbewegung, Gütersloh 1 9 6 0 . Arendt, Hannah: Vita activa oder V o m tätigen Leben, Stuttgart 1 9 6 0 . Arntzen, Helmut: Gegenzeitung, Deutsche Satire des 2 0 . Jahrhunderts, Heidelberg 1 9 6 4 . Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt, 2 . Aufl.* 1 9 6 7 . Balet, Leo: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, Hrg. und eingeleitet von Gert Mattenklott, Frankfurt 1 9 7 3 (erste Aufl. Leyden 1 9 3 8 ) . Barthold, Friedrich Wilhelm: »Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts; besonders die Frommen Grafenhöfe«, in: Historisches Taschenbuch, hrg. von Friedrich von Raumer, 3. Folge, Bd. 3, Leipzig 1 8 5 2 , S. 1 2 9 - 3 2 0 (Teil 1); 3. Folge, Bd. 4 , Leipzig 1 8 5 3 , S. 1 6 9 - 3 9 0 (Teil 2). Bauer, Hermann: Kunst und Utopie. Studien über das Kunst- und Staatsdenken der Renaissance, Berlin 1 9 6 5 . Behler, Ernst: »Einwelttheorie / Mehrweltentheorie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 , Darmstadt 1 9 7 2 , Sp. 4 2 3 - 4 2 5 . Bender, Wolfgang: Johann J a k o b Bodmer und Johann J a k o b Breitinger, Stuttgart 1 9 7 3 ( = Sammlung Metzler 113). Beyreuther, Erich: August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung, Hamburg 1 9 5 7 . Beyreuther, Gottfried: Sexualtheorien im Pietismus, München 1 9 6 3 . Biedermann, Karl: Deutschland im 18. Jahrhundert, 4 Bde., Leipzig, 2 . Aufl. 1 8 8 0 (Neudruck Aalen 1 9 6 9 ) . Biesterfeld, Wolfgang: »Ein früher Beitrag zu Begriff und Geschichte der Utopie. Heinrich von Ahlefeldts Disputatio Philosophica de Fictis Rebuspublicis«, Archiv für Begriffsgeschichte, 1 9 7 3 , S. 28—47. - Die literarische Utopie, Stuttgart 1 9 7 4 ( = Sammlung Metzler 127). Birke, Joachim: »Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs«, ZfdPh, 8 5 , 1 9 6 6 , S. 5 6 0 - 5 7 5 . Blassneck, Marce: Frankreich als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. Jahrhundert, Köln 1 9 3 4 . Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt/Main 1 9 7 3 ( = Suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 3). - »Arkadien und Utopien«, in: Heinz Maus (Hrg.), Gesellschaft, Recht und Politik: Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag, Neuwied-Berlin 1968 ( = Soziologische Texte, Bd. 35) S. 3 9 - 4 4 . - »Antizipierte Realität — Wie geschieht und was leistet utopisches Denken?« in: Rudolf Villgradter und Friedrich Krey, Der utopische Roman, Darmstadt 1 9 7 3 , S. 1 8 - 2 9 .

453

Böhme, Helmut: Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1968. Bohrer, Karl Heinz: Der Lauf des Freitag. Die lädierte Utopie und die Dichter. Eine Analyse, München 1973 ( = Reihe Hanser 123). Brüggemann, Fritz: »Der Kampf um die bürgerliche Welt- und Lebensanschauung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts«, DVJS, 3, 1925, S. 9 4 - 1 2 7 . - Utopie und Robinsonade, Untersuchungen zu Schnabels Insel Felsenburg ( 1 7 3 1 - 1 7 4 3 ) . Weimar 1914. - Vorboten der bürgerlichen Kultur. Johann Gottfried Schnabel und Albrecht von Haller, Leipzig 1931 ( = DLE Reihe Aufklärung, Bd. 4), Einführung S. 5 - 1 8 . Brümmer, Franz: »Sinold, Philipp Balthasar, gen. von Schütz«, ADB, Bd. 34, S. 400f. Brummack, Jürgen: »Zu Begriff und Theorie der Satire«, DVJS, 4 5 , 1971, Sonderheft Forschungsreferate, S. 2 7 5 - 3 7 7 . Brunner, Horst: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart 1967. Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen, 2. Aufl. 1932. - Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Darmstadt, 3. Aufl. 1961. Conze, Werner: »Adel, Aristokratie« in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart 1972, S. 1 - 4 8 . - »Arbeit«, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart 1972, S. 1 5 4 - 2 1 5 . Craig, Gordon Α.: Die preußisch-deutsche Armee 1 6 4 0 - 1 9 4 5 . Staat im Staate, Düsseldorf 1960. Cunz, F. Α., Geschichte des deutschen Kirchenliedes vom 16. Jahrhundert bis auf unsere Zeit, 2 Bde., Wiesbaden 1855 (Neudruck Wiesbaden 1969). Däubler, Alfred: Die Utopie als Denkform, Diss. Tübingen 1951 (masch.). Deneke, Otto: Robinson Crusoe in Deutschland. Die Frühdrucke 1 7 2 0 - 1 7 8 0 , Göttingen 1934. Deppermann, Klaus: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), Göttingen 1961. Dören, Alfred: »Wunschräume und Wunschzeiten«, in: Arnhelm Neusüss, Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied 1968, S. 1 2 3 - 1 7 7 . Ehrenzeller, Hans: Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul, Bern 1955. Elias, Norbert: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Bern — München, 2. Aufl. 1969 ( = Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I). - Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied - Berlin 1969. Elliott, Robert C.: »Satire und Magie«, Antaios, 4, 1963, S. 313—326. - »Saturnalien, Satire, Utopie«, in: Antaios, 9, 1968, S. 412—428. - The shape of Utopia: Studies in a literary genre, Chicago - London 1970. - »Die Gestalt Utopias«, in: Rudolf Villgradter, Friedrich Krey, Der utopische Roman, Darmstadt 1973, S. 1 0 4 - 1 2 5 . Falke, Rita: »Utopie - logische Konstruktion und chimere. Ein Begriffswandel«, in: Rudolf Villgradter, Friedrich Krey, Der utopische Roman, Darmstadt 1973, S. 1 - 8 . Förster, Richard: »Lucian in der Renaissance«, Archiv für Litteraturgeschichte, 1 4 , 1 8 8 6 , S. 3 3 7 - 3 6 3 . Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972.

454

Freyer, Hans: Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Plato bis zur Gegenwart, Leipzig 1936. Frye, Northrop: »Spielarten der utopischen Literatur«, in: Frank E. Manuel (Hrg.), Wunschtraum und Experiment. Vom Nutzen und Nachteil utopischen Denkens, Freiburg 1970 (übersetzt von Otto Kimminich), S. 5 2 - 7 9 . Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. Gaier, Ulrich: Satire. Studien zu Neidhardt, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart, Tübingen 1967. Gerber, Richard: Utopian Fantasy. Α Study of English Utopian Fiction since the End of the Nineteenth Century, London 1955. Gloyer, Hans: »The Citizen of the World« und seine Vorbilder, Diss. Hamburg 1924 (masch.). Götz, Max: Der frühe bürgerliche Roman in Deutschland ( 1 7 2 0 - 1 7 5 0 ) , Diss. München 1958 (masch.). Gove, Philipp Babcock: The imaginary Voyage in Prose Fiction. A History of its Criticism and a Guide for its Study, with an Annotated Check List of 215 Imaginary Voyages from 1700 to 1800, London, 2. Aufl. 1961. Groethuysen, Bernhard: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Halle 1 9 2 7 - 1 9 3 0 . Günther, Hans, R. G.: »Psychologie des deutschen Pietismus«, DVJS, 4, 1926, S. 1 4 4 - 1 7 6 . Guthke, Karl S.: Die Mythologie der entgötterten Welt. Ein literarisches Thema von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 1971. - Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, Stuttgart 1972 ( = Sammlung Metzler, 116). Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied - Berlin, 5. Aufl. 1971. Hahn, Peter: »Kunst als Ideologie und Utopie. Über die theoretischen Möglichkeiten eines gesellschaftsbezogenen Kunstbegriffs«, in: Horst Albert Glaser u. a. (Hrg.), Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, Grundlagen und Modellanalysen, Stuttgart 1971, S. 1 5 1 - 2 3 4 . Hazard, Paul: Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg, 5. Aufl. 1965. - Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949. Heinisch, Klaus J.: »Zum Verständnis der Werke«, in: Der utopische Staat: Morus, Utopia. Campanella, Sonnenstaat, Bacon, Neu-Atlantis, Reinbeck 1968 ( = Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, Bd. 3), S. 2 1 6 - 2 6 5 . Heisermann, A. R.: »Satire in the Utopia«, PMLA, 78, 1963, S. 1 6 3 - 1 7 4 . Heiss, Robert: Utopie und Revolution. Ein Beitrag zur Geschichte des fortschrittlichen Denkens, München 1973. Hempfer, Klaus W.: Tendenz und Ästhetik, Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts, München 1972. Herrmann, Hans Peter: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1 6 7 0 - 1 7 4 0 , Bad-Homburg - Berlin - Zürich 1970. Hinrichs, Carl: »Preußen als historisches Problem«, in: Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hrg. von Gerhard Oestreich, Berlin 1964, S. 1 5 - 3 9 . - »Friedrich Wilhelm I. König von Preußen«, in: C. H., Preußen als historisches Problem, S. 4 0 - 7 2 . - »Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelm I.«, in: C. H., Preußen als historisches Problem, S. 9 1 - 1 3 7 . - »Der Hallische Pietismus als politisch-soziale Reformbewegung des 18. Jahrhunderts«, in: C. H. Preußen als historisches Problem, S. 1 7 1 - 1 8 4 .

455

— »Staat und Gesellschaft im Barockzeitalter«, in: C. H., Preußen als historisches Problem, S. 2 0 5 - 2 2 6 . — »König Friedrich I. von Preußen. Die geistige und politische Bedeutung seiner Regierung«, in: C. H., Preußen als historisches Problem, S. 2 5 3 - 2 7 1 . — Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg - Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971. Hirsch, Arnold: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes, hrg. von Herbert Singer, Köln - Graz, 2. Aufl. 1957. — »Barockroman und Aufklärungsroman«, Etudes Germaniques, 9, 1954, S. 9 7 - 1 1 1 . Hirsch, Emanuel: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 4 Bde., Gütersloh, 3. Aufl. 1964. Hohendahl, Peter Uwe: »Zum Erzählproblem des utopischen Romans im 18. Jahrhundert«, in: Helmut Kreuzer und Käte Hamburger (Hrg.), Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaftliche Studien, Stuttgart 1969, S. 7 9 - 1 1 4 . Jäckel, Eberhard: Experimentum rationis, Christentum und Heidentum in der Utopia des Thomas Morus, Diss. Freiburg 1955 (masch.). Janik, Dieter: Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell, Bebenhausen 1973. Jauss, Hans Robert: Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung. Mit kunstgeschichtlichen Bemerkungen von M a x Imdahl, Konstanz 1972. Kautsky, Karl: »Thomas More«, in: E. Bernstein u. a., Die Vorläufer des Neueren Sozialismus, Bd. I, Teil 2: Von Thomas More bis zum Vorabend der französischen Revolution, Stuttgart 1895, S. 4 3 7 - ^ 6 8 . Kippenberg, August: Robinson in Deutschland bis zur Insel Felsenburg (1731—43). Ein Beitrag zur Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Hannover 1892. Kirchenheim, Arthur von: Schlaraffia politica. Geschichte der Dichtungen vom besten Staate, Leipzig 1892. Klamroth, Heinz: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Traumsatire im 17. und 18. Jahrhundert, Bonn 1912. Kleinwächter, Friedrich: Die Staatsromane. Ein Beitrag zur Lehre vom Communismus und Socialismus, Wien 1891 (Neudruck Amsterdam, 1967). Kluckhohn, Paul: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Tübingen, 3. Aufl. 1966. Knoche, Ulrich: Die römische Satire, Göttingen, 2. Aufl. 1957. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/Main, 2. Aufl. 1973 ( = Suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 36). — »Historia magistra vitae«, in: H. Braun und M. Riegel (Hrg.), Natur und Geschichte. Festschrift für Karl Löwith, Stuttgart - Berlin 1967, S. 1 9 6 - 2 2 0 . — »Geschichte, Historie« in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 5 9 3 - 7 1 7 . — »Fortschritt«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 351—423. Kott, Jan: »Kapitalismus auf einer öden Insel«, in: Victor Zmegac (Hrg.), Marxistische Literaturkritik, Bad Homburg 1970, S. 2 5 9 - 2 7 3 . Krauss, Werner: »Geist und Widergeist der Utopien«, in: Werner Krauss, Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze, Neuwied 1965, S. 3 3 1 - 3 6 6 . Krysmanski, Hans-Jürgen: Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20. Jahrhunderts, Köln/Opladen 1963. Lähteenmäki, Olavi: Sexus und Ehe bei Luther, Turku 1955.

456

Lämmert, Eberhard u. a.: Romantheorie, Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620-1880, Köln 1971. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960. Lautenthaler, Rudolf: »Begriff und Geschichte utopischen Denkens«, Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, 18/19, 1973, S. 15-59. Lazarowicz, Klaus: Verkehrte Welt, Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire, Tübingen 1963. Lehmann, Hartmut: »Der Pietismus im Alten Reich«, HZ, 214, 1972, S. 58-95. Linn, Marie Luise: »A. G. Baumgartens >Aesthetica< und die antike Rhetorik«, DVJS, 41, 1967, S. 424-443. Locher, G. W.: »Eigentum II. Theologiegeschichtlich«, RGG, Bd. II, 1958, Sp. 365-370. Lohmeier, Dieter: Nachwort zu: Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, Schleswig 1656, Hrg. von Dieter Lohmeier, Tübingen 1971, S. 1-98. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Luithlen, Gerda: Der Realismus des »Robinson Crusoe«, Bochum — Langendreer 1938. Mach, Ernst: Erkenntnis und Irrtum, Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig, 5. Aufl. 1926. Mack, Maynard: »The Muse of Satire«, Yale Review, 41, 1951/52, S. 80-92. Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, Heidelberg 1965. Mahrholz, Werner: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zu Pietismus, Berlin 1919. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main, 4. Aufl. 1965. - »Utopie«, in: Amhelm Neusüss, Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied 1968, S. 113-119. Manuel, Frank E. (Hrg.): Wunschtraum und Experiment. Vom Nutzen und Nachteil utopischen Denkens, Freiburg 1970 (übersetzt von Otto Kimminich). Marcuse, Herbert: »Kunst und Revolution«, in: Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt/Main 1973, S. 95-148. Martens, Wolfgang: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968. - »Die Flugschriften gegen den Patrioten (1724). Zur Reaktion auf die Publizistik der frühen Aufklärung«, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag, Bern - München 1972, S. 515-536. Mayer, Hans: »Grundpositionen: Außenwelt und Innenwelt«, in: Hans Mayer, Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen 1959, S. 9-34. - »Die alte und die neue epische Form. J. G. Schnabels Romane«, in: Hans Mayer, Von Lessing bis Thomas Mann, Pfullingen 1959, S. 35-78. Mirbt, Carl: »Pietismus«, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 15, Leipzig, 1904, S. 774-815. Möller, Helmut: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur, Berlin 1969. Mohl, Robert von: »Die Staatsromane. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Staatswissenschaften«, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 2, 1845, S. 24—74. - Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bde., Erlangen 1855-58. Morton, A. L.: Die Englische Utopia, Berlin (DDR) 1958 (übersetzt von Ruth Hodgetts). Mühlmann, Wilhelm E.: »Entstehung und Wachstum des ethnographischen Horizonts«, in: Wilhelm E. Mühlmann, Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne Ethnologie, NeuwiedBerlin 1964, S. 15-46. Naumann, Dietrich: Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1977.

457

Neusüss, Arnhelm (Hrg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied 1968. — »Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens«, in: Arnhelm Neusüss, Utopie, S. 13-114. — Utopisches Bewußtsein und freischwebende Intelligenz. Zur Wissenssoziologie Karl Mannheims, Meisenheim/Glan 1968. Newald, Richard: Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit, 1570-1750. Geschichte der deutschen Literatur Bd. V, München, 6. Aufl. 1967. Nicolai-Haas, Rosemarie: »Die Landschaft auf der Insel Felsenburg«, in: Alexander Ritter (Hrg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975, S. 262-292. Nipperdey, Thomas: »Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit«, Archiv für Kulturgeschichte, 44, 1962, S. 357-378. — »Die Utopie des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit«, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, Bd. I, Stuttgart 1966, S. 343-368. Nivelle Armand, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin 1960. Oestreich Gerhard, »Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches« in: Herbert Grundmann (Hrg.), Gebhardt - Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. II, Stuttgart 1970, S. 361-436. — »Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat«, in: Albrecht Schöne (Hrg.), Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, München 1976, S. 10-21. Paulson Ronald, The Fictions of Satire, Baltimore, Maryland 1967. Peil Dietmar, »Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im Patrioten«, Euphorion, 69, 1975, S. 229-266. Philipp Wolfgang, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957. Plischke, Hans, Der Stille Ozean, Entdeckung und Erschließung, München - Wien 1959. Poeschel, Johannes: »Das Märchen vom Schlaraffenlande«, Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur, 5, 1878, S. 389—427. Pollak, Wolfgang: »Linguistik und Literatur. Zu Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt«, Zeitschrift romanische Philologie, 84, 1968, S. 380-479. Preisendanz, Wolfgang: »Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon)«, in: Hans Robert Jauss (Hrg.), Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 72-95. — »Mimesis und Poiesis in der deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts«, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag, Bern — München 1972, S. 537—552. Prys, Joseph: Der Staatsroman des 16. und 17. Jahrhunderts und sein Erziehungsideal, Würzburg 1913. Randolph, Mary Claire: »The Structural Design of the Formal Verse Satire«, Philological Quarterly, 21, 1942, S. 368-384. Rehm, Walter: »Staatsroman«, Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 1. Aufl. 1928/29, Bd. III, S. 293-296. Rehm, Walter, Kohlschmidt, Werner: »Robinsonade«, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., 1971, Bd. III, S. 475-480. Reiche, Adalbert: Der Pietismus und die deutsche Romanliteratur des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Untersuchung des Verhältnisses von Religion und Kultur, Diss. Marburg 1941 (masch.). Reichert, Karl: »Utopie und Staatsroman. Ein Forschungsbericht«, DVJS, 39, 1965, S. 259-287. — »Utopie und Satire in J.M. von Loens Roman >Der redliche Mann am HofeThe citizen of the Worldc a Study, New Haven 1926. Spiegel, Marianne: Der Roman und sein Publikum im frühen 18. Jahrhundert. 1 7 0 0 - 1 7 6 7 , Bonn 1967.

459

Steffen, Hans: »J.G. Schnabels >Insel Felsenburg< und ihre formengeschichtliche Einordnung«, GRM, NF., 11, 1961, S. 51-61. Stierle, Karl Heinz: »Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte«, in: Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel, Geschichte - Ereignis und Erzählung, München 1973 (= Poetik und Hermeneutik V) S. 347-375. Stockum, Theodorus Cornelius van, Dam Jan van: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. II, Groningen, 3. Aufl. 1961. Surtz, Edward: »Introduction. Part II«, in: The Complete Works of St. Thomas More, V. 4, New Haven and London 1965, S. CXXV-CLXXXI. — »Humanismus und Kommunismus. Der geistesgeschichtliche Hintergrund«, in: Rudolf Villgradter, Friedrich Krey, Der utopische Roman. Darmstadt 1973, S. 87-103. Swoboda, Helmut: Utopia — Geschichte der Sehnsucht nach einer besseren Welt, Wien 1972. Tillich, Paul: »Kairos und Utopie«, in: Paul Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1963 (= Gesammelte Werke, Bd. VI) S. 149-156. — »Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker«, in: Paul Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1963 (= Gesammelte Werke Bd. VI) S. 157-210. Tronskaja, Maria: Die deutsche Prosasatire der Aufklärung, Berlin (DDR) 1969 (übersetzt von Brigitta Schröder). Ueding, Gert: »Schein und Vor-Schein in der Kunst. Zur Ästhetik Ernst Blochs«, in: Neue Deutsche Hefte, 121, 1969, S. 109-129. Ullrich, Hermann: Robinson und Robinsonaden, Bibliographie, Geschichte, Kritik. Ein Beitrag zur vergleichenden Litteraturgeschichte, im Besonderen zur Geschichte des Romans und zur Geschichte der Jugendlitteratur, Weimar 1898. Unsicker, Karin: Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein, Neumünster 1974. Verniere Paul, »Introduction«, in: Montesquieu, Lettres Persanes, Edition Paul Verniere, Paris 1960, S. I-XLV. Vickers, Brian: »Die satirische Struktur von Swifts >Gullivers Reisen< und Mores Utopia««, in: Rudolf Villgradter, Friedrich Krey, Der utopische Roman, Darmstadt 1973, S. 126-160. Voigt, Andreas: Die sozialen Utopien. Fünf Vortrage, Leipzig 1906. Voßkamp, Wilhelm: »Theorie und Praxis der literarischen Fiktion in Johann Gottfried Schnabels Roman »Die Insel Felsenburg