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German Pages 238 [240] Year 1996
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution
Herausgegeben von Monika Neugebauer-Wölk und Richard Saage
Max Niemeyer Verlag Tübingen
Wissenschaftlicher Beirat: Karol Bai, Manfred Beetz, U d o Bermbach, Jörn Garber, Notker Hammerstein, Hans-Hermann Hartwich, Klaus Luig, François Moureau, Monika NeugebauerWölk, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Richard Saage, Gerhard Sauder, Jochen Schlobach, Pia Schmid, U d o Sträter, Heinz Thoma Redaktion: Sigrid Buthmann
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert : vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution / hrsg. von Monika Neugebauer-Wölk und Richard Saage. - Tübingen : Niemeyer 1996 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung ; 4) NE: Neugebauer-Wölk, Monika [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-81004-1
ISSN 0948-6070
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
MONIKA NEUGEBAUER-WÖLK: Z u r E i n f ü h r u n g
DIRK OTTO: Piaton und die politische Utopie. Zum Ursprung und Modellcharakter utopischen Denkens
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I. Die Konzeptualisierung des Utopischen im Spannungsfeld von Politik und Anthropologie PETER NITSCHKE: Der doppelte Sieg der Nützlichkeit: Zur Interdependenz von Staatsräson und Utopie in der politischen Theorie der Aufklärung . . . 27 RICHARD SAAGE: Zur Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken in Johann Gottlieb Fichtes Der geschlossene Handelsstaat.
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HEINZ THOMA: Utopie und Erzählen: Rousseaus Nouvelle Héloïse
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KARL-HEINZ KOHL: Der Gute Wilde der Intellektuellen. Zur Entstehungsund Wirkungsgeschichte einer ethnologischen Utopie
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JÖRN GARBER: Utopiekritik und Utopieadaption im Einflußfeld der „anthropologischen Wende" der europäischen Spätaufklärung
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II. Utopie und Praxis in der Gesellschaftsbewegung der Aufklärung RUDOLF SCHLÖGL: Alchemie und Avantgarde. Das Praktischwerden der
Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern
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HERMANN SCHÜTTLER: Zum Verhältnis von Ideologie, Organisation und Auswanderungsplänen im System der Strikten Observanz
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MONIKA NEUGEBAUER-WÖLK: Die utopische Struktur gesellschaftlicher Zielprojektionen im Illuminatenbund
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HELMUT REINALTER: Die Gesellschaftsutopie des Wiener Jakobiners Franz Hebenstreit und der Jesuitenstaat in Paraguay
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Sachregister Personenregister
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MONIKA NEUGEBAUER-WÖLK (Halle)
Zur Einführung
Der vorliegende Band präsentiert die Beiträge, die während des Symposions zum Thema Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert zwischen dem 30. März und dem 1. April 1995 im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle gehalten wurden. Die Idee zu dieser Tagung verdankt sich ebenfalls dieser neuen Einrichtung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Das „Aufklärungszentrum" vereint in seinem Direktorium Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen, die ihr gemeinsames Interesse an der Aufklärungsforschung, aber auch ihre unterschiedlichen Fragestellungen, Sichtweisen und Methoden in die Gestaltung des Forschungsprogramms dieser Institution einbringen. Das Thema der Utopie im 18. Jahrhundert ist vertreten durch Richard Saage, den Politologen und Kenner der politischen Ideengeschichte im Kreis der Direktoren; der Gedanke, diesen Interessenschwerpunkt mit Manifestationen utopischen Denkens in der Gesellschaftsbewegung der Aufklärung zu verbinden, entstand in Diskussionen mit der Verfasserin dieser Einführung, die sich als Historikerin mit den Sozietäten des 18. Jahrhunderts, besonders deren freimaurerischen und geheimbündlerischen Varianten, befaßt. Der Titel der Tagung wie des Bandes könnte mißverständlich sein: Die Politisierung des Utopischen - natürlich ist das Utopische immer politisch, es gehört sozusagen zu seiner Definition. Menschen, die Utopisches imaginieren, transzendieren die bestehende Gesellschaft, ohne aber ihren Neuentwuf in die Transzendenz zu verweisen. Es geht nicht um die religiöse Dimension der Erlösung im jenseitigen Sinne, sondern um die Gestaltung des gemeinschaftlichen menschlichen Lebens im Diesseits, auch wenn es sich um ein letztgültiges Bild davon handelt. Insofern ist der Bezugsrahmen von Utopieforschung grundsätzlich ein politikhistorischer, und in der Konsequenz dieser Überlegung haben wir den beiden Hauptteilen dieses Bandes einen Beitrag von Dirk Otto vorangestellt, der „die politische Utopie" aus dem Werk Piatons vom Ursprung utopischen Denkens herleitet.1 Was aber meint dann die Politisierung des Utopischen? Sinnvoll scheint uns eine solche Formulierung nach der Hochblüte der Renaissanceutopie für das Zeitalter der Aufklärung; diese Epoche fügt dem politischen Grundcharakter des utopischen Denkens eine neue Dimension hinzu, verstärkt ihn gleichsam. Diese neue 1
Der Beitrag Ottos gehört zu denjenigen Aufsätzen dieses Bandes, die nicht bereits während der Tagung als Referate gehalten, sondern wegen ihrer Nähe zum Thema später ergänzend hineingenommen wurden. Die Herausgeber danken außer Dirk Otto noch Peter Nitschke und Jörn Garber für die freundliche Bereitschaft, ihre Manuskripte hier einzubringen.
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Monika Neugebauer-Wölk
Dimension ist die Frage danach, wie es zu einer Realisierung dessen kommen kann, was zunächst nur Fiktion ist. Ist die Idealgesellschaft machbar? Die Aufklärung drängt zur Verwirklichung der Utopie. Damit erhält der Politikbegriff eine neue Perspektive, tritt zusätzlich zum Kontext politischer Theorie in den Bereich gesellschaftlicher Praxis. Auch auf diesem Wege bereitet das 18. Jahrhundert das 19. Jahrhundert vor. Helmut Reinalter weist in seinem Beitrag darauf hin, daß in bezug auf die utopischen Gesellschaftsentwürfe des österreichischen Jakobiners Hebenstreit zum erstenmal in diesem Raum das Wort „Kommunismus" gebraucht wurde. Wie spiegelt der Duktus des Bandes diese Grundidee? In den Beiträgen von Peter Nitschke und Richard Saage wird das utopische Denken zunächst in Vergleich gesetzt zu zwei politisch-historischen Grundbegriffen, die der Realsphäre per se weit näher stehen: mit der Idee der Staatsräson und dem Kontraktualismus. In beiden Fällen wird die These der Konvergenz entwickelt. Die Idee der Staatsräson hat nach Nitschke eine angewandte Utopiekomponente - während die Utopie die Zieloption verheiße, suche die Staatsräson die Zweck-Mittel-Relationen zu bewältigen. Da die Aufklärungsutopie voluntaristische Strategien entwickle und eine potentielle Wirklichkeit zukünftiger Entwicklung liefere, werde schließlich der Aufruf zur Revolution zwangsläufig. Auch die Vertragstheorien stehen zunächst und primär in einem Gegensatz zum Utopischen, aber seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - so konstatiert Saage und demonstriert es am Beispiel Fichtes relativiere das utopische Denken allmählich seinen rigiden Antiindividualismus und übernehme kontraktualistische Verfassungsprinzipien. Auch hier gibt es den Hinweis auf die Tendenz zur Realisierung: Das utopische Denken komme jetzt ohne eine geschichtsphilosophische Transformationsstrategie nicht mehr aus. Das traditionelle Verständnis vom Utopischen ist das des geschlossenen Utopieromans. Dirk Otto führt alle Elemente dieser Konzeption eingangs der Beitragsfolge noch einmal nachdrücklich vor Augen. Aber auch dieser Autor konzediert, daß die Aufgabe wohl als unlösbar angesehen werden muß, eine bindende, allgemein akzeptierte Definition zu finden. So versucht dieser Band auch, neue und weitere Verständnisräume zu erschließen. Heinz Thoma weist in seiner Abhandlung über Rousseaus Romanproduktion darauf hin, daß es nicht nur in sich geschlossene utopische Texte gibt, bei denen die Gattung von vornherein klar erkennbar ist, sondern daß es auch utopische Funktionen in insgesamt anders organisierten Texten gebe. Das Utopische setzt also nicht zwingend eine bestimmte literarische Form voraus, sondern kann ein Denkansatz sein. Rousseaus Nouvelle Héloïse wird hier vorgeführt als eine spezifische Form normativen Erzählens mit utopischer Grundtendenz. Auf Elemente von Utopie außerhalb des klassischen Utopieromans, wie z.B. Goldenes Zeitalter, Bukolik, Arkadien etc., verweist auch Jörn Garber, wenn er die Transformationen des Utopischen in der „anthropologischen Wende" der europäischen Spätaufklärung untersucht. Garber kann nicht nur zeigen, wie sich das Uto-
Zur Einführung
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pische im 18. Jahrhundert von der traditionellen Institutionenutopie zur Naturutopie entwickelt, er macht darüber hinaus am Beispiel der Gattung .Menschheitsgeschichte' und der gedanklichen Verarbeitungsformen exotischer Kulturen deutlich, wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insgesamt ein Abbau der Gattung Utopie zugunsten anthropologiebezogener, aber auch empiriebasierter Zivilisationsmodelle statthat. Eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielen die Reiseberichte und die mit ihnen entstehende Ethnologie, wie der Beitrag von KarlHeinz Kohl nachdrücklich demonstriert. Das Utopische wird offen für Realitätserfahrung. Im 18. Jahrhundert sind also utopische Denkstrukturen in vielfältiger Form verfügbar und können in Handlungskonzepte eingehen. Geschichtswissenschaftliche Utopieforschung kann mithin den Rahmen des Nur-Fiktiven verlasssen und nach Realphänomenen fragen. Herkömmlich ist dieser Ansatz kaum. Auch Historiker näherten sich der Thematik im allgemeinen mit eben dem Blick und dem Instrumentarium, das in den literatur- und theoriegeschichtlichen Nachbardisziplinen eingeführt war: Man betrieb Utopieforschung nicht mit spezifisch historischen Methoden und Fragestellungen, sondern als literarisch orientierte Textanalyse und verstand das Utopische seinem Wesen nach als Literatur. Diese Abhängigkeit der Perspektive bedingt bis heute, daß man von einer geschichtswissenschaftlichen Utopieforschung nicht in einem vergleichbar systematischen Sinne sprechen kann, wie dies bei der literaturgeschichtlichen Utopieforschung der Fall ist. Indem die Initiatoren der Tagung Kenner der Sozietätengeschichte der Aufklärung für den zweiten Teil der Veranstaltung einluden, wollten sie einen Beitrag dazu leisten, daß ergänzend zur Literaturgeschichte des Utopischen eine Gesellschaftsgeschichte der Utopie im Kontext der Aufklärungsforschung entwickelt werden kann. Auf welcher Basis entsteht diese Soziabilität, die die Vorstellung von der Herstellbarkeit einer optimalen menschlichen Gesellschaft zu einer ihrer Zielpositionen erhebt? Peter Nitschke weist in seinem Beitrag darauf hin, daß das staatlich-politische Denken und die Utopie über die anthropozentrische Dimension der Aufklärung, die Idee des Menschen als eines von Gott unabhängigen Vernunftwesens, miteinander verbunden sind; Rudolf Schlögl zeigt, wie sich diese Grundhaltung aus der Hermetik der Rosenkreuzer in die umfassende freimaurerische Bewegung des 18. Jahrhunderts hineinentwickelt. Die Hypothek der negativen christlichen Anthropologie für die politische Utopie der Neuzeit, die Erbsündelehre, sei durch die Vorstellung von der gnostisch begründeten Selbsterlösungskraft des Menschen überwunden worden. Schon die Rosenkreuzer des frühen 17. Jahrhunderts imaginierten auf dieser Grundlage eine Bruderschaft, die eine höhere Qualität menschlichen Daseins durch eigene Leistungskraft begründen sollte. Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer des späten 18. Jahrhunderts habe trotz seines antiaufklärerischen Affekts und seines politischen Konservatismus diese Intention
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aufgenommen und weitergetragen, nämlich die utopische Gewißheit von der Gestaltbarkeit der Welt aus dem Individuum heraus, ein Individuum allerdings, das in eine geheime Gesellschaft eingebunden ist, in der ihm die Arkana dieses utopischen Prozesses schrittweise enthüllt werden. Insofern hätten auch die Gold- und Rosenkreuzer an der utopischen Kraft und dem hypertrophen Selbstvertrauen des bürgerlichen Zeitalters partizipiert. Der Geheimbund konstituierte ein demiurgisches Subjekt, das sich die Erde untenan macht und aus eigener Kraft den Weg zum Heil beschreitet. So entsteht Gesellschaftlichkeit des Utopischen. Die Vorstellung von der Machbarkeit der besten aller Welten konnte sich zu Plänen von Republikgründung verdichten und dabei einen noch deudicheren Praxisbezug erreichen. In diesem Sinne stellt Hermann Schüttler die These zur Diskussion, ob eine konkrete politische Utopie die Lösung der Rätsel um die Strikte Observanz sei, des erfolgreichsten Freimaurersystems im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Koloniegründungspläne dieses Ordens zielten auf das nordamerikanische Labrador, ein U-Topos aus der Sicht der Europäer. Gerade an diesem Beispiel wird auch deutlich, welche Quellenprobleme die historische Utopieforschung begleiten, sofern sie sich auf die geheimen Gesellschaften einläßt: Diese Pläne sollten geheim bleiben, nur die vornehmsten Mitglieder hatten nähere Kenntnisse, und sie blieben in ihren Einzelheiten geheim oft bis heute. Schüttlers Beitrag ist ein Beispiel dafür, welche mühsame Spurensuche erforderlich ist, um auch nur Rahmeninformationen zu bekommen, ein Problem, das die literaturwissenschaftliche Utopieforschung per se nicht kennt. Auch im Orden der Illuminaten gab es Koloniepläne. Aber hier liegt nicht der Schwerpunkt der Bedeutung des Utopischen für diese berühmteste Geheimgesellschaft der Spätaufklärung. Die Illluminaten konstituierten vielmehr eine Elite, die als konkreter Träger der Realisierung des Utopischen agieren sollte - nicht im Nirgendwo, überhaupt nicht im fremden Raum - , sondern auf die Zukunft gerichtet. Der Stand der „Philosophenkönige", in Piatons Politela als Lösung des Herrschaftsproblems beschworen, wird hier herangezogen in einem esoterisch gestuften und gestalteten Bildungsgang. Das Gradsystem der Illuminaten spielt die Utopiemodelle seit Beginn der Neuzeit durch und erhebt schließlich die anarchistische Aufklärungsutopie (die staatlich nicht strukturierte freie Hausvätergesellschaft) zu ihrem Mysterium. So entsteht erstmals eine Hierarchie der Utopiemodelle, die zeitgenössisch zur Verfügung stehen, wobei das Geheimnis der Dluminaten sich letztlich weniger auf den Inhalt der utopischen Erzählung bezieht als auf die Tatsache, daß der Orden an der Realisierung arbeitet und seine Mitglieder zu Trägem dieses Prozesses bzw. zu den in die Zukunftsentwicklung Eingeweihten ausgebildet werden. Das Beispiel der Illuminaten zeigt, daß die Untersuchung masonischer bis geheimer Aufklärungsgesellschaften nicht nur neue Perspektiven eröffnet für die Gegenstände der Utopieforschung, sondern auch für ihre Quellen. Hier können und
Zur Einßhrung
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müssen Texte einbezogen werden, die nicht zur Literatur gehören, jedenfalls dann nicht, wenn man unter Literatur geistige Produkte versteht, die sich an ein allgemeines Publikum unbekannter Zusammensetzung, an die Öffentlichkeit, wenden. In den Bewegungen der Bünde und Orden haben wir es überwiegend mit Schriftstükken arkanen Charakters zu tun, d.h. die Texte richten sich nicht an den unbekannten Leser, sondern sie entstehen für die Rezeption durch eine bekannte und genau definierte Gruppe. Das gilt für die Gradtexte der Illuminaten wie für den Operationsplan der Strikten Observanz oder die Manifeste der Rosenkreuzer. Diese Form utopiebezogener Schriftlichkeit gehört zur Selbstverständigung im Rahmen von gesellschaftlichen Subkulturen der Aufklärung, hier gehen utopische Vorstellungen und Denkmodelle ein in die Enthüllung und Vermittlung geheimen Wissens, das dieses Zeitalter so sehr liebte. Das gilt, obwohl viele Arkantexte schließlich doch gegen den Willen ihrer Verfasser - veröffentlicht wurden; sie müssen aus ihrer ursprünglichen Absicht und Funktion heraus verstanden und interpretiert werden. Dieser Geheimhaltungsbezug ist bei jakobinisch orientierten Autoren noch vorhanden, aber nicht mehr systematisch begründet. Helmut Reinalter weist am Beispiel des Franz Hebenstreit und seines Lehrgedichtes Homo hominibus darauf hin, daß die prorevolutionäre Bewegung im Österreich der neunziger Jahre bereits unter Verfolgungsdruck steht und so ihre Texte nur anonym publiziert oder eben als Handschrift in ihren eigenen Gruppen zirkulieren läßt, obwohl die Beteiligten nichts lieber getan hätten, als sie ungehindert einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Das uralte Problem der Utopiekonstruktion, wer denn den Erzieher erzieht (Thoma), der das Menschengeschlecht zur endgültigen Befreiung führen soll, war in den masonischen Bünden noch durch die esoterische Konstruktion einer Elite beantwortet. In den Jákobinerzirkeln wird es radikal neu gelöst: Parallel zur Veränderung der Strukturen werden sich die Charaktereigenschaften der Menschen wandeln. Es bedarf „nur" der politischen Vorentscheidung zur Änderung der Lebensbedingungen, um den neuen Menschen zu erzeugen. Das hindert Hebenstreit nicht, auf bekannte ältere Modelle konkreter Utopie, den Jesuitenstaat in Paraguay, zurückzugreifen. Es handelt sich nicht um objektive historische Rezeption, sondern um den Versuch, an einem Beispiel zu belegen, daß die eigenen Vorstellungen realisierbar sind, nicht dem Chimärischen verhaftet bleiben müssen. In der Revolutionsbewegung des späten 18. Jahrhunderts kulminiert der epochale Prozeß des Praktischwerdens utopischen Denkens. Die Herausgeber haben mehreren Personen und Institutionen zu danken, daß sie dieses Projekt ermöglicht haben. Die Tagung selbst konnte nur veranstaltet werden, weil die Volkswagen-Stiftung großzügig die Reise- und Aufenthaltskosten der Teilnehmer übernahm. Bei der Publikation der Ergebnisse hat Frau Dr. Sigrid Buthmann in ungewöhnlich kompetenter und fachkundiger Weise Hand angelegt; wir sind ihr für die Überarbeitung und Fertigstellung des Manuskripts zu großem
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Monika Neugebauer-Wölk
Dank verpflichtet. Für die kompetente Vorbereitung des Sachregisters danken die Herausgeber Herrn Privatdozenten Dr. Walter Reese-Schäfer. Daß wir schließlich den Band im Max Niemeyer Verlag Tübingen publizieren können, freut uns sehr. Wir wären mehr als zufrieden, wenn im Ergebnis dieser vielfachen Anstrengungen der Band eine Aufnahme beim Publikum fände, die der Diskussion über die Bedeutung des Utopischen in der Vormoderne neues Interesse abgewinnt.
DIRK OTTO (Freiburg)
Platon und die politische Utopie Zum Ursprung und Modellcharakter utopischen Denkens 1. Der Begriff der politischen Utopie Um die Rolle Piatons für die Tradition politischer Utopien bestimmen zu können, soll zunächst geklärt werden, was unter „Utopie" zu verstehen ist. Dies ist um so mehr erforderlich, als es sich um einen sehr umstrittenen, zudem auch vagen, konturlosen Begriff handelt: Im Alltagsgebrauch immer mehr überdehnt, ist die Utopie in der wissenschaftlichen Diskussion wie vielleicht kein anderer Gegenstand zu einem interdisziplinären Untersuchungsfeld geworden, das heute Philosophie, Politologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft sowie mehrere Philologien beschäftigt und somit aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert wird. Beim Blick in die Lexika wird die Anwendungsbreite des Utopiebegriffs deutlich. Die Definitionen reichen von „Schwärmerei" und „Hirngespinst"1 bis zur „Schilderung eines erdachten (erhofften oder befürchteten) Gesellschaftszustandes".2 Im Alltagsgebrauch wird der Begriff „Utopie" zumeist pejorativ verwendet: „Utopisch" meint „abwegig, unrealisierbar, weltfremd"; ein Utopist ist ein „weltfremder Schwärmer*'.3 Der Utopiebegriff verliert hier jegliche Konturen, da er auf vielerlei mißliebige oder phantastische Ideen Anwendung findet. Im politischen Gebrauch drücken Utopien einerseits Wünsche und Hoffnungen auf Veränderung aus, andererseits werden utopische Ideen aus liberaler und konservativer Sicht als abwegig oder politisch gefährlich abgewertet." In der wissenschaftlichen Diskussion sind besonders Karl Mannheim und Ernst Bloch zu erwähnen, die sich darum bemüht haben, den konturlos gewordenen Utopiebegriff wieder sinnvoll anzuwenden. Mannheim begrenzt Utopien auf „alle jene seinstranszendentalen Vorstellungen [...] die irgendwann transformierend auf 1 2 3
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Duden. Bd. 1. Mannheim "1973, S. 718. Der neue Brockhaus. Lexikon in fünf Bänden. Bd. 5. Wiesbaden 6 1980, S. 386. Hierzu und zum folgenden: Heubrock, Dietmar, Utopie, in: Sandkühler, Hans J. (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 4. Hamburg 1990, S. 678-685, insb. S. 678-681; Hommes, Ulrich, Utopie, in: Krings, Hermann u.a. (Hg.), Handbuch der philosophischen Grundbegriffe. München 1973, S. 1571-1577, insb. S. 1573f.; Neusüss, Arnhelm, Politische Utopien, in: Mickel, Wolfgang W. v. (Hg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft. München 1986, S. 415-420, insb. S. 417f. Nach Engels' Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft wurden auch aus marxistischer Sicht Utopien abwertend, als unwissenschaftliche Vorform, „unreife Theorien" und „reine Phantasterei" angesehen (Engels, Friedrich, Von der Utopie zur Wissenschaft, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke. Bd. 19. Berlin 1973, S. 194). Doch erfährt der Begriff gegenwärtig seitens der modernen Linken eine Aufwertung.
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Dirk Otto
das historisch-gesellschaftliche Sein wirkten"; zugleich seien Utopien alle „Wunschträume" bzw. jedes „Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ,Sein' nicht in Deckung befindet".5 Diese Definition ist zugleich zu weit und zu eng: Einerseits umfaßt sie sämtliche Hoffnungen, Ideale und Phantasien, andererseits begrenzt sie den Begriff auf solche Ideen, die konkrete Auswirkungen auf die Realität haben. Bloch unterscheidet zwischen der „Hoffnungs-Ahnung" des „Phantasiestaats" der „abstrakten" Utopie und der „konkreten" (vor allem der marxistischen) Utopie, die durch aktive „Weltverbesserung" das bloß abstrakte Utopisieren zu überwinden vermag.6 Während auch hier - wie bei Mannheim - das Hoffnungsdenken, der Bereich der Phantasien und Tagträume, zu konturlos bleibt, erscheint das Primat der revolutionären Realisierbarkeit der „konkreten" Utopie als zu eng. Für die Untersuchung literarischer Texte erweisen sich die Ansätze Mannheims und Blochs als ungeeignet, da zentrale Texte wie z.B. Morus' Utopia mangels konkreter Realitätswirksamkeit herausfallen würden, während andererseits zahllose Phänomene einbezogen würden, die den Rahmen jeder literarischen Gattung sprengen müßten.7 Wir beschränken uns daher in der modernen Utopieforschung auf den Begriff der „literarischen Utopie".8 Zur heuristischen Bestimmung der Utopie als Genrebezeichnung geht man am besten vom klassischen, 1516 veröffentlichten Werk von Thomas Morus aus. „Utopia" ist ein von Monis geschaffenes Kunstwort aus den griechischen Elementen „ou" und „topos", das „Nicht-Ort" oder „Nirgendwo" bedeutet. Doch bereits der Titel - „De optimo reip. statu, deque nova insula Utopia f...]"9 - verdeutlicht, daß es Morus keineswegs um ein bloßes „Nirgendwo", sondern um ein inhaltlich gefülltes, vollkommenes, ideales Staatswesen geht.10 Damit ist der inhaltliche Kern dieses idealtypischen, die folgende Utopietradition prägenden Werks erfaßt. Am Ausgangspunkt jeder Definition der literarischen Utopie steht daher das Bild eines
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Mannheim, Karl, Ideologie und Utopie. Frankfurt/M. "1965, S. 169, 179. Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1985 ['Berlin 1954], S. 166,675, 680. Zur Kritik vgl. Gnüg, Hiltrud, Der utopische Roman. München 1983, S. 12; Neusiiss, (wie Anm. 3), S. 418; Saage, Richard, Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 2f. Jenkis, Helmut, Sozialutopien - barbarische Glücksverheißungen? Zur Geistesgeschichte der Idee von der vollkommenen Gesellschaft. Berlin 1992, S. 5; Schepelmann, Wolfgang, Die englische Utopie im Ubergang: von Bulwer-Lytton bis G. H. Wells. Strukturanalysen an ausgewählten Beispielen der ersten evolutionistischen Periode. Diss. Wien 1975, S. 8-11; Seeber, Hans U., Wandlungen der Form in der literarischen Utopie. Studien zur Entfaltung des utopischen Romans in England. Göppingen 1970 (Diss. Tübingen), S. 3ff. Morus, Thomas, Utopia, in: Der utopische Staat, übers, und hg. v. Klaus J. Heinisch. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 7-110, zit. S. 11 (Titelblatt der Basier Ausgabe von 1517). Vgl. Erzgräber, Willi, Utopie und Anti-Utopie. München 2 1985, S. 13f., 35; Kamiah, Wilhelm, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit. Mannheim 1969, S. 16f.; Schepelmann, (wie Anm. 8), S. 8f.
Platon und die politische
Utopie
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idealen, perfekten, harmonischen Gemeinwesens, die Fiktion einer glücklicheren, besseren Welt. Es gilt jedoch, sinnvolle Abgrenzungen, etwa zu Märchen, Idylle oder Reiseroman, zu finden und einen ungefähren Rahmen an Texten festzulegen, die noch als Utopien betrachtet werden können. Die Reichweite an Möglichkeiten zeigt sich daran, daß manche Forscher allein Piatons Politela und Morus' Utopia als Utopien akzeptieren,11 andere wiederum eine unübersehbar reichhaltige Palette an Texten als „utopisch" bezeichnen, vom Verfassungs- und Architektenentwurf über Fürstenspiegel und Robinsonade bis zur arkadischen Schilderung.12 Angesichts dieser Fülle von Ansätzen und Texten wird deuüich, daß die Aufgabe, eine bindende, allgemein akzeptierte Definition zu finden, selbst auf dem Gebiet der literarischen Utopie als unlösbar angesehen werden muß. Methodisch bleibt also nur die Option, innerhalb einer eingegrenzten Aufgabenstellung einen praktikablen Ansatz zu wählen, der es ermöglicht, konkrete, als zentral erachtete Texte in das Genre einzubeziehen, gleichzeitig aber die Abgrenzbarkeit gegenüber entfernteren Literaturformen zu gewährleisten.13 Für die Untersuchung von Piatons Politela etwa ist ein begrifflicher Rahmen erforderlich, der zumindest die Möglichkeit offenläßt, die Politeia als Utopie anzusehen; sie sollte nicht gleich von vornherein definitorisch ausgeschlossen werden (z.B. durch die Beschränkung des Gattungsphänomens Utopie auf die Neuzeit oder auf die Form einer Reise- oder Romanerzählung). Die folgende Definition beansprucht, wesentliche Aspekte der Klassiker der literarischen Utopietradition zu erfassen. Die Vielfalt von Ansätzen innerhalb dieser Tradition läßt aber immer wieder Grenzfälle und Ausnahmen erkennen, so daß auch diese Definition nur heuristisch und nicht dogmatisch zu verstehen ist. Die literarische Utopie wird nun definiert als: fiktionaler, ohne Anspruch auf Verwirklichung rational konstruierter Entwurf eines idealen, harmonischen Gemeinwesens, das als kritisches Gegenbild zur Gegenwart konzipiert und in ferne Zeiten oder Räume verlegt ist. Im folgenden werden die einzelnen Bestandteile dieser Definition erläutert, wobei beispielhaft auf Morus verwiesen wird.,.Fiktional" bedeutet, daß im Gegensatz zu einem politischen Programm oder einer rein sachlich-theoretischen Erörterung in Utopien künstlerische, ästhetische Erzählstrategien verfolgt werden.14 Fiktionale 11 12
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Bliesener, Erich, Zum Begriff der Utopie. Frankfurt/M. 1950, S. 152. Winter, Michael, Compendium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien. Teil 1: Von der Antike bis zur Frühaufklärung. Stuttgart 1978, S. 202-206. Vgl. Jenkis, (wie Anm. 8), S. 2ff., 64f.; Kamiah, (wie Anm. 10), S. 16ff.; Soeffner, HansGeorg, Der geplante Mythos. Untersuchungen zu Struktur und Wirkungsbedingungen des Utopischen. Hamburg 1974, S. 4f., 19f. Brauchbare Definitionen finden sich z.B. bei Funke, Hans-Günter, Die Utopie der französischen Aufklärung: Formen, Themen und Funktionen einer literarischen Gattung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 12 (1988), S. 40-61, hier S. 43; Kamiah, (wie Anm. 11), S. 17. Gniig, (wie Anm. 7), S. 10,18; Schepelmann, (wie Anm. 8), S. 11.
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Dirk Otto
Elemente sind z.B. die Schilderung einer Handlung (zumindest einer Rahmenhandlung) mit der Beschreibung von Charakteren, durch die eine lebendige, plastische Gestaltung erreicht wird. Verstärkt wird diese Wirkung durch oft in Utopien verwendete Stilmittel wie politische Anspielungen, ironische und satirische Elemente. Wahrheitsbeteuerungen sollen zur Glaubwürdigkeit des Erzählten beitragen, sich durch ihre Übertreibung und Fiktionssignale aber gleichzeitig als ästhetisches Spiel entlarven.15 Solche versteckten Hinweise auf die wahre Absicht des Autors wie auch die Übertreibungen, die phantastischen Einschübe und Motive machen die Ambivalenz, den intellektuellen Reiz und die Einprägsamkeit von Utopien aus und tragen zu ihrer großen, suggestiven Breitenwirkung bei. Hingegen bedeutet Fiktionalität nicht etwa, daß sich die literarische Utopie an einer bestimmten Form festmachen ließe. Die Varianten erstrecken sich von der Komödie über Dialog und Roman bis zum Tagebuch. Zudem besteht ein typisches Merkmal utopischer Texte darin, daß sie nicht in einer einheitlichen Form durchgestaltet sind, sondern Brüche aufweisen und mehrere Darstellungstechniken kombinieren. Schon bei Morus finden sich die Elemente Dialog, ernsthafter philosophischer Diskurs, imaginative Erzählung und Satire, eingebunden in eine Rahmenhandlung sowie einen fiktiven Briefwechsel.16 „Ohne Anspruch auf Verwirklichung" ist ein Merkmal, das an dieses spielerische, schon bei Morus stark ausgeprägte ästhetische Element anknüpft. Morus z.B. schildert die Utopia zwar als ewigen, sehr glücklichen Idealstaat, relativiert dieses Bild aber am Ende durch die Skepsis des Zuhörers Morus gegenüber dem Erzähler Hythlodeus.17 Diese oft anzutreffende Skepsis und Ambivalenz spricht dagegen, daß Utopien mit dem Anspruch auf Verwirklichung konzipiert wurden; hinzu kommt die phantastische, übertreibende Darstellungsweise, die von der Realität fortführt. Zwar bleiben die geschilderten überschwenglichen Idealvorstellungen nicht prinzipiell für Menschen unerreichbar, sondern zumeist im Bereich des hypothetisch Möglichen, doch zeigt gerade die Idealität, daß diese Entwürfe nicht auf die konkrete Totalverwirklichung zielen, sondern auf Möglichkeitsvorstellungen und regulative Prinzipien jenseits greifbarer Reformen.18 Je konkret reformbezoge15 16
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Gnüg, (wie Anm. 7), S. 27f.; Seeber, (wie Anm. 8), S. 50-53. Erzgräber, (wie Anm. 10), S. 26; Voßkamp, Wilhelm, Thomas Morus' ,Utopia': Zur Konstituierung eines gattungsgeschichtlichen Prototyps, in: ders. (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Frankfurt/M. 1985, S. 183-196, hier S. 188. Am Ende der Erzählung äußert sich der Zuhörer Morus folgendermaßen: „Mir kam nun [...] manches in den Sinn, was mir an den Sitten und Gesetzen dieses Volkes überaus unsinnig erschienen war" (Morus, wie Anm. 9, S. 109); „Inzwischen kann ich zwar nicht allem zustimmen, was er gesagt hat, [...] jedoch gestehe ich gern, daß es im Staate der Utopier sehr vieles gibt, was ich an unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann" (Morus, ebd., S. 110). Hommes, (wie Anm. 3), S. 1572; Seibt, Ferdinand, Utopie als Funktion abendländischen Denkens, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Bd. 1. Frankfurt/M. 1985, S. 254279, hier S. 272.
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ner eine Utopie ausgerichtet ist, desto unfreier wird sie in ihrem Gestaltungsraum; die zeitlose Überzeugungskraft und damit der typische utopische Gehalt schwinden. Hier liegt ein wichtiges Kriterium für die Abgrenzung der Gattung Utopie von politischen Programmen und rein philosophischen Diskursen. Der Definitionsbestandteil „rational" zielt auf den Vernunftanspruch der Utopien, nämlich die Planung einer durchdachten, intellektuell ansprechenden Alternative zur Gegenwart. Im Unterschied zu zauberhaft-phantastischen Märchen sowie Berichten von der vorzivilisatorischen Idylle oder dem Goldenen Zeitalter stellt die Utopie den rational planenden Menschen ins Zentrum und geht von daher problemlos in das Denken der Aufklärung ein.19 Das Merkmal „Entwurf eines idealen, harmonischen Gemeinwesens" verweist darauf, daß hinter Utopien die Idee einer perfekten, glücklichen Gesellschaft steht, welche den Kerngedanken des Utopischen ausmacht. Dabei geht es um den gesamten Entwurf einer komplexen Gesellschaft, im Gegensatz zur Spezialgattung der primär technisch ausgerichteten Science-fiction.20 Ein Sonderproblem stellt in diesem Zusammenhang die Gruppe der seit Samjatin in besonderer Reinform ausgeprägten Antiutopien dar, weil diese ein satirisches Negativideal, nämlich das warnende Schreckensbild einer degenerierten Gesellschaft darstellen. Auf Antiutopien findet das Definitionsmerkmal der idealen Gesellschaft ebenfalls - allerdings mit negativem Vorzeichen - Anwendung, da diese Entwürfe ansonsten alle Merkmale von klassischen Utopien aufweisen. Sie müssen somit der Gattung der literarischen Utopie ebenfalls zugerechnet werden.21 „Kritisches Gegenbild zur Gegenwart" bedeutet, daß Utopien aus einer distanzierten, kritischen Motivation heraus den Zuständen der Gegenwart einen Spiegel vorhalten. Charakteristischerweise bewegt sich die fiktionale Darstellung selten nur auf der Ebene der weitgehend positiven utopischen Gesellschaft, sondern in der Regel wird auf einer zweiten Ebene dem Idealbild kritisch-distanziert die Schilderung der Gegenwart gegenübergestellt (z.B. bei Morus die gesellschaftlichen Zustände in England vor dem eigentlichen Bericht vom idealen utopischen Staat). Dabei werden Techniken der Satire verwendet,22 die zumeist massiv den kritisierten Gegenwartszustand treffen, oft aber auch in die utopische Darstellung selbst
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Saage, (wie Anm. 7), S. 3; vgl. auch Herzog, Reinhard, Überlegungen zur griechischen Utopie: Gattungsgeschichte vor dem Prototyp einer Gattung?, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Bd. 2. Frankfurt/M. 1985, S. 1-20, insb. S. 5; Soeffner, (wie Anm. 13), S. 41f. Augspurger, Hans-Jürgen, Die Anfänge der Utopie in Frankreich und ihre Grundlagen in der Antike. Bamberg 1975 (Diss. Freiburg i.Br. 1973), S. 20f.; Jenkis, (wie Anm. 8), S. 61, 185; Saage, (wie Anm. 7), S. 4. Vgl. Schepelmann, (wie Anm. 8), S. 11; Seeber, (wie Anm. 8), S. 1 Iff. Genauer Seeber, ebd., S. 10-14.
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einfließen, was Vielschichtigkeit, Ambivalenz und Offenheit gegenüber Interpretationen zur Folge hat.23 .ferne Zeiten und Räume" schließlich weisen auf die Idealität und die Funktion als Gegenbild zur Gegenwart, oftmals auch auf die Unerreichbarkeit hin und sind in fast allen Utopien anzutreffen. Die drei Renaissanceutopisten Morus, Campanella und Bacon arbeiten noch mit fernen, unentdeckten Inseln ohne die Einbeziehung einer zeitlichen Ebene, doch verlagert sich die notwendige utopische Distanz wegen der zunehmenden geographischen Erkundung und Transparenz der Welt seit Mercier (Das Jahr 2440 von 1770/71) stärker auf die Zeit; die Zeitutopien werden gegenüber den Raumutopien dominant.24 Meist wird die Distanz durch eine Raum- oder Zeitreise überbrückt, die jeweils plausibel beschrieben und sogar aufwendig wissenschaftlich untermauert wird.25 Charakteristisch sind dabei Wahrheitsbeteuerungen, die als Lügen- bzw. Fiktionssignale bewußt ironisch verwendet werden und damit eigentlich auf die Ferne des bloß fiktionalen utopischen Orts hinweisen. Genau diese Wirkung der Ferne wird auch dadurch unterstützt, daß im Verhältnis zwischen den beiden Darstellungsebenen in Utopien, nämlich der idealen Gesellschaft und der kritisierten zeitgenössischen Gegenwart, stets Brüche oder Sprünge zu verzeichnen sind. Diese Brüche bestehen einerseits im Ausnahmecharakter der Reise durch Raum oder Zeit, andererseits in der nur schemenhaften Erläuterung der historischen Entwicklung vom bestehenden zum utopischen Gemeinwesen; dieses wird dadurch um so mehr in die Idealität entrückt.26
2. Piatons Politeia als Utopie Nach der Erörterung der politischen Utopie in literarischer Form am Beispiel von Morus stellt sich die Frage, ob dieser Begriff auf die Politeia Piatons angewendet werden kann. Dieser Punkt ist - zumindest in der Piatonforschung - höchst umstritten.27 Anlaß für Diskussionen bieten vor allem die konkreten Staatsstrukturen und Herrschaftsmechanismen der Politeia wie die hierarchische Gliederung in drei Klassen, die Abschaffung des Privateigentums und der Familie in den beiden obe23
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Schmitz, Heinz-Gerd, Wie kann man sagen, was nicht ist - zur Logik des Utopischen. Würzburg 1989, S. 26; vgl. auch Herzog, (wie Anm. 19), S. 2f. Koselleck, Reinhart, Die Verzeitlichung der Utopie, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Bd. 3. Frankfurt/M. 1985, S. 1-14, hier S. 1-5; Soeffner, (wie Anm. 13), S. 67f. Augspurger, (wie Anm. 20), S. 46; Pfetsch, Frank R., Politische Utopie, oder: Die Aktualität des Möglichkeitsdenkens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 53 (1990), S. 3-13, hier S. 5. Vgl. Dahrendorf, Ralf, Pfade aus Utopia. Zur Theorie und Methode der Soziologie. München 4 1986, S. 243; Freyer, Hans, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Piaton bis zur Gegenwart. Leipzig 1936, S. 33; Pfetsch, (wie Anm. 25), S. 4. Vgl. im einzelnen Otto, Dirk, Das utopische Staatsmodell von Piatons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four. Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Piaton. Berlin 1994 (Diss. Freiburg i.Br. 1993), S. 19f.
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ren Klassen, Zensur, Eugenik, staatliche „Lügen", ein straff organisiertes, staatliches Erziehungssystem und das generelle Primat der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum. So wird die Politeia oftmals als wörtlich gemeinter, zur programmatischen Verwirklichung bestimmter staatsphilosophischer Entwurf interpretiert; von anderen wird die Ansicht vertreten, es handle sich um eine reine Satire; drittens heben viele Forscher den ethischen Anspruch der Ideenlehre und den sittlichen Zweck des Staates hervor und relativieren die konkreten Einzelmechanismen als historisch bedingte Besonderheiten. Doch allein die Interpretation als Utopie bietet die Chance, die Staatsmechanismen der Politeia jenseits der Ebene der wörtlichen, programmatischen Auffassung überzeugend zu deuten. Von den Platonforschern bezeichnet nur eine Minderheit die Politeia als Utopie; dieser Begriff wird aber meist nur pauschal, ohne nähere Analyse verwendet. Die Utopieforschung dagegen betrachtet zwar Piaton oftmals als den Begründer der politischen Utopie, läßt aber eine genauere Beschäftigung mit den Inhalten und Interpretationsproblemen seiner Staatsphilosophie vermissen.28 Eine solche Untersuchung ist jedoch unumgänglich, denn es wird sich zeigen, daß Piatons Staatsentwurf der Politeia einen Grenzfall darstellt, der nicht ohne genauere Analyse mit dem Prädikat „Utopie" versehen werden kann. Zunächst muß geklärt werden, ob das Gattungsphänomen Utopie überhaupt auf die Antike bezogen werden kann, obwohl das Kunstwort „Utopie" (seit dem 18. Jahrhundert auch als Gattungsbegriff verwendet)29 erst von Morus geschaffen wurde. Wir haben bewußt in der oben erläuterten Definition auf eine epochale Eingrenzung verzichtet, da verschiedene aus der Antike stammende Texte die gleichen inhaltlich-thematischen Merkmale aufweisen wie neuzeitliche Utopien. Auch in der Forschung wird zumeist das Phänomen einer Literaturgattung Utopie weit vor der Entstehung der Utopia von Morus angesetzt30 und häufig auf Piatons Werke Politeia und Kritias angewandt.31 Zwar werden z.T. Unterschiede zwischen
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Dazu genauer Kytzler, Bernhard, Platonische ,Unorte', in: Funke, Hermann (Hg.), Piatons Lehre vom Staat in der Moderne. Würzburg 1987, S. 17-31, insb. S. 20f. Dazu Augspurger, (wie Anm. 20), S. 10 mit Anm. 2f. Vgl. nur Biesterfeld, Wolfgang, Die literarische Utopie. Stuttgart 2 1982, S. 30-37 (mit umfangreichen Literaturhinweisen); Finley, Moses I., Utopianism ancient and modern, in: ders., The use and abuse of history. London 1975, S. 178-192, insb. S. 185-190; Herzog, (wie Anm. 19), S. 2ff.; Heubrock, (wie Anm. 3), S. 679; Mumford, Lewis, Rückschritt nach Utopia und Die Herausforderung der griechischen Dialektik, in: Villgradter, Rudolf/Krey, Friedrich (Hg.), Der utopische Roman. Darmstadt 1973, S. 30-44, insb. S. 31; Winter, (wie Anm. 12), S. 1, 207. Kritisch: Kumar, Krishan, Utopia and Anti-Utopia in modern times. Oxford 1987, S. 23f„ 32 (Utopien erst seit Morus) Vgl. z.B. Bichler, Reinhold, Zur historischen Beurteilung der griechischen Staatsutopie, in: Grazer Beiträge 11 (1984), S. 179-206, insb. S. 185; Finley, (wie Anm. 30), S. 187f.; Flashar, Hellmut, Formen utopischen Denkens bei den Griechen. Innsbruck 1974, S. 13; Freyer, (wie Anm. 26), S. 39, 76; ; Gnüg, (wie Anm. 8), S. 19-26; Kytzler, (wie Anm. 28), S. 18f., 29; Müller, Reimar, Sozialutopisches Denken in der griechischen Antike. Berlin 1983, S. 15f.; Saage, Richard, Utopia als Leviathan. Piatons .Politeia' in ihrem Verhältnis zu den frühneu-
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antiken und neuzeitlichen Utopien angeführt, so die generelle Voraussetzung einer statischen Ständehierarchie, der Sklaverei, oder die Verwendung eines pejorativen Arbeitsbegriffs,32 doch lassen diese - soweit sie überhaupt zutreffen - die Anwendbarkeit des Utopiebegriffs auf die Antike unberührt. Zudem können in mehreren griechischen Utopien Termini ausgemacht werden, die geradezu als Umschreibung des Begriffs Utopie zu verstehen sind (z.B. „nirgends auf der Erde")·33 Sie zeigen, daß das Phänomen utopischen Denkens und Konstruierens von Idealstaaten sehr wohl bereits in der Antike verbreitet war. Im einzelnen lassen sich außer bei Piaton noch etliche andere Utopien in der Antike finden. Motivische Vorgänger sind die Ikarussage, die Phäakenerzählung der Odyssee oder Hesiods Goldenes Zeitalter, auf staatsphilosophischer Ebene die Entwürfe von Phaleas von Chalkedon und Hippodamos von Milet Diese können jedoch nach unserer Definition nicht im vollen Sinn als Utopien bezeichnet werden, da entweder kein komplexes Gemeinwesen beschrieben wird oder dies nicht in rationaler Weise, sondern in Form eines vorzivilisatorischen Mythos erfolgt, oder weil schließlich die fiktionale Einkleidung und künstlerische Ausgestaltung fehlen, z.T. sogar programmatische Schriften vorliegen.34 Erstmals bei Aristophanes (zeitlich also bereits v o r Piaton) finden sich echte, einigermaßen komplexe utopische Entwürfe, da hier künstlerisch Bilder von Idealstaaten kritisch dem zeitgenössischen Athen gegenübergestellt werden. Während in den Vögeln der Staat nur schwach durchkonstruiert ist, so kann man zumindest die Ekklesiazusen mit ihrem Entwurf einer Frauen- und Kindergemeinschaft sowie dem Konzept der Eigentums- und Gerichtslosigkeit als vollgültige Utopie bezeichnen.35 Aufgrund des Scheiterns des „Weiberstaats", der sich selbst ad absurdum führt und als unrealisierbar darstellt, enthält bereits die erste echte Utopie die Elemente Ironie und Satire und richtet sich nicht nur gegen zeitgenössische Mißstände, sondern wirkt auch antiutopisch, also utopiekritisch und satirisch gegen den eigenen Entwurf.36 N a c h Piaton folgen in der Antike noch zahlreiche, von ihm stark beeinflußte hellenistische Staatsentwürfe, vor allem Zenons Politela, Theopomps Meropis,
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zeitlichen Utopien, in: Politische Vierletjahresschrifi 29 (1988), S. 185-209, insb. S. 185, 206f.; Seeber, (wie Anm. 8), S. 4Iff. Finley, (wie Anm. 30), S. 185-189; Kytzler, (wie Anm. 28), S. 21f.; Saage, (wie Anm. 31), S. 195ff.; vgl. auch Kumar, (wie Anm. 30), S. 32. So in Aristophanes' Vögeln, Vers 9 (Aristophanes, Vögel, in: ders., Sämtliche Komödien. Bd. 2, übers, v. Ludwig Seeger. Zürich 1970), und Piatons Politeia (Piaton, Der Staat (Politela), übers, und hg. v. Karl Vretska. Stuttgart 1982; im folgenden zit.: Rep.), Rep. 592a. Bichler, (wie Anm. 31), S. 179-185; Finley, (wie Anm. 30), S. 180ff., 187; Gadamer, HansGeorg, Piatons Denken in Utopien, in: Gymnasium 90 (1983), S. 434-55, hier S. 442f.; Herzog, (wie Anm. 19), S. 5. Z.B. Flashar, (wie Anm. 31), S. 8f.; Herzog, (wie Anm. 19), S. Iff. Finley, (wie Anm. 30), S. 187; Herzog, (wie Anm. 19), S. 2; Kytzler, (wie Anm. 28), S. 19.
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Euhemeros' Heilige Inschrift und Jambulos' Sonneninsel. Ihre Einordnung in das Genre Utopie ist weitgehend unstrittig.37 Bezogen auf Piaton selbst ist im Rahmen der Utopiediskussion neben der Politela (und den Nomoi)38 der Kritias (mitsamt dem Beginn des Timaios) zu erwähnen. Die Nachwirkung dieser Werke auf die Utopietradition läßt Aristophanes, den Vorgänger Piatons, weitgehend verblassen. Die Bedeutung des Kritias liegt darin, daß er praktisch unbestritten eine platonische Utopie darstellt, weil er weitaus deutlicher als die Politela nach utopischen Prinzipien gestaltet ist.39 Die Erzählung von Atlantis und Urathen wird von einem fiktionalen Rahmen umgeben; dieser ist in Dialogform gehalten und soll bildhaft den wissenschaftlichen Anspruch sowie die historische Verbürgtheit des Geschilderten durch eine detaillierte Nachweiskette über Solon bis zu ägyptischen Priestern „untermauern" (Piaton, Tim. 20d-25d; Criti. 108d-e).40 Atlantis wie Urathen stellen rationale Idealentwürfe menschlichen Zusammenlebens dar, die in die unerreichbare, mythische Vergangenheit vor 9000 Jahren verlegt werden (Tim. 23e; Criti. 108e) und paradigmatische Bedeutung erhalten. Der prunkvolle Machtstaat Atlantis, der allerdings erst am Ende der Erzählung moralisch verfällt, bildet den satirisch überzeichneten, abschreckenden Kontrast zum positiven, bescheidenen Urathen; damit enthält der Kritias neben einem positiven utopischen Bild auf derselben fiktionalen Ebene gleichzeitig ein negatives und läßt sich insoweit auch als Antiutopie begreifen.41 Zwar ist der Kritias als Utopie unbestritten, er steht jedoch an inhaltlicher Ausgestaltung (im Gegensatz zur formalen) weit hinter der - früher entstandenen Politela zurück; gerade die Funktionsprinzipien der staatlichen Ordnung und andere prägende Themen vieler späterer Utopien werden allein in der Politela entwickelt und legen es nahe, hier den Ursprung und das Grundmodell des utopischen Denkens anzusiedeln, wenn auch nicht notwendig der literarischen Gattung Utopie. Überprüfen wir den Text anhand unserer Definition. Danach müßte die Politela erstens einen „fiktionalen" Entwurf bilden, in dem künstlerische, ästhetische Erzählstrategien verfolgt werden. Dieses Kriterium läßt sich bejahen: Zwar läßt sich 37
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Augspurger, (wie Anm. 20), S. 63-87; Bichler, (wie Anm. 31), S. 187-204; Müller, (wie Anm. 31), S. 22-25. Trotz der im Vergleich mit der Politeia stärkeren Nähe zur Realität können auch die Nomoi mit ihren Inhalten und dem fiktionalen Rahmen als Utopie angesehen werden; vgl. dazu Freyer, (wie Anm. 26), S. 62; Gadamer, (wie Anm. 34), S. 441,443, 455; Schöpsdau, Klaus, Der Staatsentwurf der Nomoi zwischen Ideal und Wirklichkeit. Zu Plato leg. 739al-e7 und 745e7-746d2, in: Rheinisches Museum 134 (1991), S. 136-152, insb. S. 144f. Vgl. Augspurger, (wie Anm. 20), S. 49f.; Bichler, (wie Anm. 31), S. 185; Brentjes, Burchard, Atlantis. Geschichte einer Utopie. Köln 1993, S. 30, 37^11; Seeber, (wie Anm. 8), S. 41ff.; vgl. z.B. auch Ferguson, John, Utopias of the classical world. Ithaca 1975, S. 74; Freyer, (wie Anm. 26), S. 76; Müller, (wie Anm. 31), S. 20. Platon, Sämtliche Werke, übers, v. Friedrich Schleiermacher u. Hieronymus Müller. 6 Bde. Hamburg 1957-1959; im folgenden zit.: Briefe: Ep.; Krinas: Criti.; Nomoi: Leg.; Timaios: Tim. Vgl. Augspurger, (wie Anm. 20), S. 49f.; Seeber, (wie Anm. 8), S. 42. Ferguson, (wie Anm. 39), S. 74; Freyer, (wie Anm. 26), S. 76; Müller, (wie Anm. 31), S. 20.
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die Politeia überwiegend als philosophischer Diskurs mit einer durchgehenden rationalen Argumentation lesen, doch ist sie zugleich als Dialog verfaßt, der von einer Rahmenhandlung umgeben ist; auch finden sich Schilderungen mehrerer handelnder Personen. Den Rahmen des Dialogs bildet Buch I der Politeia, wo Sokrates mit Glaukon dem Fest der Göttin Bendis in Piräus beiwohnt (Rep. 327a) und dann widerstrebend zum Haus des Kephalos geführt wird, in dem ein philosophisches Gespräch stattfinden soll. Die Charaktere der zahlreichen Gesprächsteilnehmer (Rep. 328b) werden teilweise recht genau geschildert, so z.B. der greise Traditionalist Kephalos (Rep. 328b-331d) oder der aggressive, selbstbewußte und rhetorisch gewandte Sophist Thrasymachos (Rep. 336b-337a, 343b-344c). Mit dem stürmischen Auftreten des Thrasymachos und der Schilderung seiner Wirkung auf die Zuhörer wird in Buch I ein dramatischer Höhepunkt geschaffen (Rep. 336b-337a), der den Rahmen eines bloßen philosophischen Diskurses sprengt, ganz zu schweigen von den ironischen Seitenhieben in der Gesprächsführung dieser Passage. Eine weitere dramatische Handlungsszene liegt vor der Erörterung der drei Reformwogen zu Beginn von Buch V (Rep. 449a—451c). Zudem zeichnet Piaton innerhalb der Dialoge Szenen mit höchster Lebendigkeit, so - neben den Mythen - z.B. die Staatsgründung in Buch II (Rep. 369b-373e), das Gleichnis vom Schiffsherm und die Darstellung der verderbten Philosophen (Rep. 488a-496a), ferner die Beschreibung des mehrstufigen Verfalls des Idealstaats in Buch VIII-IX. Damit gelingt es Piaton, sein Werk didaktisch eingängig und oftmals spannend zu gestalten. Wie es bei Morus und in anderen Utopien typisch ist, wird schon bei Piaton die Einheit der Form durchbrochen. Abgesehen vom stilistisch und dramatisch hervorzuhebenden Buch I der Politeia sind die platonischen Mythen zu erwähnen, die sich vom üblichen Dialogverlauf deutlich absetzen. Auch oft in Utopien verwendete Stilmittel wie aktuelle politische Anspielungen, humorvolle, satirische und ironische Passagen finden sich ständig in der Politeia;42 sie deuten auf ästhetischspielerische Momente hin, die die Interpretation der Politeia erheblich erschweren. Außer dem Kriterium der Fiktionalität erfüllt die Politeia auch dasjenige der „Rationalität". Zwar tauchen immer wieder Mythen auf, die sich der rationalen Begründung entziehen und im Bereich der erleuchtenden Ideenschau liegen, doch dominieren sie den vorherrschenden rationalen philosophischen Diskurs nicht.43 So wird das Wesen der Gerechtigkeit - das zentrale Thema der Politeia - von der Ordnung der Seelenteile auf die Ebene des Staats projiziert: Gerechtigkeit bedeu42
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Z.B. bei der Schilderung des Schweine- und des üppigen Staats in Buch II, Rep. 372c-e; zu weiteren Einzelheiten vgl. Otto, (wie Anm. 27), S. 42-45. Genauer zu den verschiedenen Arten von Mythen und ihrer Funktion im Verhältnis zum Dialog: Edelstein, Ludwig, The function of the myth in Plato's philosophy, in: Journal of the History of Ideas 10 (1949), S. 463-481; Friedländer, Paul, Platon. Bd. I: Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit. Berlin 3 1964, S. 182-222; Görgemanns, Herwig, Piaton. Heidelberg 1994, S. 68-73.
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tet, daß jeder seine ihm eigene Aufgabe erfüllt (Rep. 433b) - jeder Seelenteil im Menschen wie auch jeder der drei Stände im Staatsorganismus. Begründet wird dieses Kemmodell der Politela rational, nämlich mit den Vorzügen der Arbeitsteilung (Rep. 370b-c). Nur bei dem Versuch, die unterschiedlichen Begabungen der Menschen zu erklären, muß Piaton von der Ebene der Ratio oder des Logos auf die des Mythos der drei Seelenmetalle ausweichen (Rep. 414C-415C). 4 4 Ferner handelt es sich bei der Politela um den „Entwurf eines idealen, harmonischen Gemeinwesens": Der Bürger findet sein vollkommenes Glück, seine Eudaimonia, in der völligen Eingliederung in die Gesellschaft (Rep. 420b-d), den Gesamtorganismus.45 Erreicht wird die perfekte Harmonie und Gerechtigkeit der staadichen Stände sowie der individuellen Seele durch ein ideales Erziehungsprogramm, das radikale gesellschaftliche Reformen voraussetzt wie die Eigentumslosigkeit (Rep. 416d-417a, 464a-e) oder die Auflösung der traditionellen Familie (Rep. 457c-d, 464a-b). Hinzu kommen rigide Kontrollmaßnahmen, die Zensur und ein Eugenikprogramm, die aber sämtlich dazu dienen, die menschlichen Tugenden zu fördern und die Eudaimonia und gesellschaftliche Harmonie herzustellen. Deutlich bietet die Politela ein „kritisches Gegenbild zur Gegenwart": In der Zeit politischer Wirren nach dem Peloponnesischen Krieg waren weder die athenischen Aristokraten noch die Demokraten imstande, den moralischen wie politischen Abstieg Athens zu verhindern. Der aus einer Aristokratenfamilie stammende Piaton wurde von der Unrechtsherrschaft der „Dreißig Tyrannen" ebenso enttäuscht wie vom demokratischen Regime (Ep. VII, 324d-325c). Piatons Kritik an der attischen Demokratie richtet sich gegen ein übertriebenes Freiheits- und Gleichheitsstreben, mangelnde Fachkompetenz und die Beeinflußbarkeit der Masse durch Demagogen (Rep. 555b-565c). Eine Ursache für den kritisierten extremen Individualismus und ethischen Relativismus sah er in der Lehre der Sophisten (vgl. Rep. 492a-b,496a). Piaton stellte zusammenfassend fest, daß sämtliche Staaten schlecht verwaltet würden (Ep. VII, 325c-326b). Er setzte den Mißständen seine Idee der Philosophenherrschaft entgegen, eine philosophische Neubegründung ethischer Werte in der Politik (Ep. VII, 326a-b; Rep. 473d). Wie Morus' Utopia bewegt sich auch Piatons Politela nicht nur auf der Ebene der positiven idealen Gesellschaft, sondern kontrastiert diese mit einer satirischkritischen Schilderung der Gegenwart, den vier Verfallsformen des Staates in Buch
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Zum Metallmythos vgl. Carter, Byrum E., The function of the myth of the earthbom in the .Republic', in: Classical Journal 48 (1952/53), S. 297-302; Flashar, Hellmut, Der platonische Staat als Utopie, in: Gigon, Olof/Fischer, Michael W. (Hg.), Antike Rechts- und Sozialphilosophie. Frankfurt/M. 1988, S. 23-36, insb. S. 30; Hahm, David E„ Plato's .noble lie' and political brotherhood, in: Classica et mediaevalia 30 (1969), S. 211-227, insb. S. 211, 214f„ 222f. Zur Illustration verwendet Piaton das Bild vom Bienenstaat, Rep. 564c.
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VIII-IX.46 Doch selbst die Schilderung der utopischen Idealgesellschaft bleibt nicht gänzlich frei von satirischen und gar utopiekritischen Zügen.47 Einige Interpreten fassen daher sogar die gesamte Politela als Satire auf.48 Hier zeigt sich die für Utopien typische Ambivalenz und Offenheit für Interpretation recht deutlich. Auch das Kennzeichen der „fernen Räume und Zeiten" läßt sich in der Politela nachweisen, und zwar in der Form der Zeitutopie. Ahnlich wie beim 77maios/Kritias, wo das Ideal in die ferne Vergangenheit verlegt wird, deutet in der Politela die Schöpfungsgeschichte des Metallmythos, an die die Gründung des Idealstaats anschließt, auf eine utopische V e r g a n g e n h e i t s Vorstellung hin. Später scheitert der Idealstaat auf rätselhafte Weise und mündet sprunghaft in die Verfallsformen Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis (Rep. 547a587e) und damit in die politische Gegenwart. Andere Passagen der Politela weisen wiederum auf eine fiktive Koloniegründung bzw. Idealstaatsgründung in einer besseren Z u k u n f t . Ausgehend vom Ende des Staatenverfalls könnte wieder ein qualitativer Bruch, ein Umschwung von der Tyrannis zum Idealstaat erfolgen, ein Gedanke, der durch den paradigmatischen, zukunftsorientierten Charakter der Politela (Rep. 592b) sowie durch Piatons Nomoi gestützt wird.49 Insofern zeigt sich beim Thema der zeitlichen Distanz sogar eine doppelte utopische Zielrichtung. Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten, daß die Politela alle bisher untersuchten Kriterien unserer Utopiedefinition erfüllt. Die typischen formalen und stilistischen Besonderheiten des Utopiegenres sind ebenso anzutreffen wie zentrale Inhalte von Utopien: die Schilderung des komplexen Gemeinwesens der Politela reicht von der neuen Sozialordnung und Erziehung über die Abschaffung des Privateigentums und der Familie, Gleichheit der Geschlechter und Eugenik bis hin zur fiktional-konkreten Darstellung der Lebensweise der Bürger. Problematisch bei der Interpretation der Politeia ist jedoch das Definitionsmerkmal „ohne Anspruch auf Verwirklichung". Hier stellt sich die Frage nach der
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Ein gutes Beispiel bietet die Darstellung der Demokratie: Diese ist ein „Warenhaus der Verfassungen" (Rep. 557d); an einer anderen Stelle heißt es: „die Pferde und Esel gewöhnen sich, gar frei und stolz einherzuschreiten, und stoßen auf der Straße jeden Begegnenden, der ihnen nicht ausweicht. Kurz, alles ist voll der Freiheit" (Rep. 563c). Die mystische Hochzeitszahl (Rep. 564a-547a) stellt ein Beispiel hierfür dar. Sie dient der höchst wichtigen Aufgabe, das Eugenikprogramm des Idealstaats zu gewährleisten. Doch wird sie derart kompliziert und verwirrend beschrieben und dazu noch durch die Anrufung der Musen nach Art Homers (Rep. 545d) - den Piaton ablehnt - ironisch eingekleidet, daß das Scheitern der Eugenik und der Beginn des Staatsverfalls schon satirisch angedeutet wird. Vgl. dazu Flashar, (wie Anm. 44), S. 34; Gadamer, (wie Anm. 34), S. 452ff. Randall, John D., Plato's treatment of the theme of the good life and his criticism of the Spartan ideal, in: Journal of the History of Ideas 28 (1967), S. 307-324, insb. S. 322ff.; Rankin, Heibert D., A modest proposal about the Republic, in: Apeiron 2,2 (1968), S. 20ff., insb. S. 20. Platon, Leg.709e-710e; dort wird ein junger, lemfähiger Tyrann als gute Grundlage für einen Staatsaufbau bezeichnet. Zum Gedanken der Koloniegründung vgl. auch Leg. 702c; Rep. 540e-541a.
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Abgrenzung der Utopien von rein philosophischen Diskursen. Utopien wie staatsphilosophische Diskurse können beide in sehr unterschiedlichen literarischen Formen auftreten, beide erreichen argumentativ nie völlige Stringenz und Rationalität, und beide können aufgrund ihrer Inhalte systematisch dem Gebiet der Staatsphilosophie zugerechnet werden.50 Als zwei verschiedenen Äußerungsformen der Staatsphilosophie lassen sich aber dem Diskurs und der Utopie Merkmale zuordnen, durch die sie sich im Grundsatz voneinander abgrenzen lassen. Rein staatsphilosophische Diskurse sind abstrakte, theoretische Abhandlungen, die systematisch argumentieren, inhaltlich überzeugen wollen und auf das praktisch Mögliche in der politischen Wirklichkeit zielen. Utopien dagegen sind schon thematisch stärker eingeengt, da sie ein ideales, harmonisches Gemeinwesen und zudem kontrastierend eine zweite, kritisierte Form der Gesellschaft darstellen. Sie beschreiben den Idealstaat weit konkreter und zumeist detaillierter als abstrakte Diskurse und arbeiten mit einer raum-zeitlichen Trennung. Formal weisen sie stets den Doppelcharakter der anschaulichen, fiktionalen und der diskursiven Darstellung auf und sind daher stark künstlerisch überformt; sie arbeiten eher mit Appellen an Gefühle als mit systematischen, exakten Begründungen. Utopien enthalten oft satirische Elemente und zielen mit ihrer Ambivalenz auf bloßes Möglichkeitsdenken, nicht direkt auf Realisierung bzw. die politische Wirklichkeit.51 Piatons Politela hat mit ihrer Dialogform, die mit fiktionalen Elementen einen eher rationalen, philosophischen Diskurs umhüllt, stark die Darstellungsweise bei Morus und Campanella geprägt, bei denen ebenfalls vor allem konstruktiv-systematisch argumentiert wird.52 In diesen frühen Utopien findet sich die später dominierende Romanform mit ausführlichen Handlungselementen noch nicht. Doch trotz der in der Politela vorherrschenden systematischen Argumentationsform lassen sich - wie oben ausgeführt - Brüche und satirische Elemente nachweisen, ferner die für Utopien typischen Inhalte und die künstlerisch-fiktionale Einkleidung, so daß die Politela bestenfalls als Grenzfall zwischen rein abstrakt konstruiertem, philosophischem Diskurs und künstlerischer Utopie erscheinen kann, aber - gerade im Vergleich mit den Renaissanceutopien - stärker zur Utopie tendiert. Somit stellt die Politeia durchaus potentiell eine Utopie dar. Dafür sprechen die inhaltlichen und formalen Parallelen zu Aristophanes und dem Dialog Kritias: Piaton war in jedem Fall mit dem Gattungsphänomen Utopie (sogar dem der Antiutopie) vollauf vertraut. Wenn der Kritias die Politeia voraussetzt und zugleich die Gattungsmerkmale der Utopie verschärft, so deutet dies darauf hin, daß die Politeia bereits im Horizont der Gattung Utopie konzipiert wurde. Um die Politeia mit ihren „utopischen" Hinweisen im Gegensatz zur Utopie Kritias als wörtliches
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Genauer Otto, (wie Anm. 27), S. 14f„ Anm. 4. Vgl. zur Abgrenzung Gnüg, (wie Anm. 7), S. 10f.; Seeber, (wie Anm. 8), S. 22f. Erzgräber, (wie Anm. 10), S. 26,69; Seeber, (wie Anm. 8), S. 3 9 , 4 7 , 5 7 - 6 0 .
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Programm zu interpretieren, bedarf es schon gewichtiger, überzeugender Argumente. Dennoch bietet die Politela gleichzeitig ein Beispiel für einen sorgfältig begründeten, komplexen staatsphilosophischen Entwurf, der als wörtlich gemeinter Diskurs gelesen und programmatisch aufgefaßt werden kann. Das bedeutet im Ergebnis, daß es wesenüich auf die Intention des Autors Piaton sowie die Aussagen und Inhalte des Textes zur Realisierung bzw. wörtlichen Lesart, aber auch auf das zeitgenössische Leserverständnis ankommt.53 Am Verhältnis von Autor und Text zur Verwirklichungsfrage entscheidet sich die Einordnung der Politeia in das Genre „Utopie" oder das Genre programmatisch orientierter „rein philosophischer Diskurs". Diese Frage wird im folgenden untersucht. Piatons politisches Engagement auf Sizilien bietet häufig den Anlaß zu der Behauptung, er habe dort seinen angeblich programmatisch konzipierten Entwurf der Politeia wörtlich in die politische Praxis umsetzen wollen.54 Dazu stellt sich gleich das methodische Problem, inwieweit überhaupt aus dem praktischen Handeln eines Philosophen Rückschlüsse auf das theoretische Werk und dessen Konzeption zulässig sind.55 Zudem zeigen genauere Untersuchungen, daß die ungünstigen Voraussetzungen am Tyrannenhof von Syrakus nicht im geringsten zu den Prämissen der Politeia paßten. 56 Weder Piaton noch sein Schüler Dion versuchten, auf Sizilien die Politeia programmatisch umzusetzen, sondern sie zielten auf eine Mischverfassung.57 Es ging um eine der politischen Lage angemessene Verbesserung des Systems, nämlich die Abschaffung der Tyrannis und die Einführung von Gesetzen und Gewaltenteilung. Piaton erweist sich somit durchaus als politischer Realist. Auch die zentralen Staatsinstitute der Politeia lassen Rückschlüsse auf Piatons wahre Absichten zu. Als besonders deutliches Beispiel für die Radikalität der Neuorientierung Piatons in der Erziehung dient seine Kritik an der Dichtung, der Musik und den bildenden Künsten. Alle Kunstformen werden allein unter dem Gesichtspunkt ihres pädagogischen Nutzens im Staat betrachtet, instrumentalisiert und in ihrer Freiheit rigoros beschnitten; ihnen verbleibt nur ein gewisser Stellenwert innerhalb des platonischen Erziehungskonzeptes.58 Insbesondere greift Piaton 53
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Rein textimmanente Anhaltspunkte allein vermögen es nicht, den Bedeutungsgehalt der Politeia befriedigend aufzuschlüsseln; zur Methodik und der Problematik einer rein wörtlichen Interpretation vgl. Otto, (wie Anm. 27), S. 176-182 (mit Literaturhinweisen). Z.B. Dahrendorf, (wie Anm. 26), S. 249; Kelsen, Hans, Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Piatons. Wien 1985, S. 115ff., 129-132; Popper, Karl R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Piatons. Tübingen 1980, S. 189f. Verneinend Maurer, Reinhart, Piatons .Staat' und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik. Berlin 1970, S. 300. Vgl. Fritz, Kurt v., Platon in Sizilien und das Problem der Philosophenherrschaft. Berlin 1968, S. 115f.; Levinson, Ronald B„ In defense of Plato. Cambridge/Mass. 1953, S. 374, 382ff„ 391f. Vgl. Ep. VII, 355a-357a; zu Dion siehe ν. Fritz, (wie Anm. 56), S. 73-79,83. Vgl. Otto, (wie Anm. 27), S. 78-84 (mit Literaturhinweisen zur Dichterkritik).
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die Dichtung, an erster Stelle Homer, an und erweckt an manchen plastisch formulierten Textstellen den Eindruck, als wolle er sie vollständig aus dem Staat ausweisen (Rep. 606a-c, 607c). Daran war jedoch in der Kunstmetropole Athen und selbst im restriktiveren Sparta nicht im entferntesten zu denken. Piaton kritisiert allerdings zu Recht, daß die traditionelle Dichtung unhinterfragt auswendig gelernt und ohne sittliche Reflexion (z.B. vor Gericht) als Argumentationshilfe verwendet wurde. Diese Dichtung ließ sich von radikalen Sophisten zur Lenkung der Masse mißbrauchen (Rep. 493d); sie hatte als substanzlose Tradition mangels inhaltlicher Fundierung der sophistischen Bedrohung nichts entgegenzusetzen.59 Piaton ging es nicht eigentlich darum, eine strenge Kunstzensur zu propagieren, sondern gravierende Defizite im Umgang mit traditioneller Dichtung und Musik plakativ hervorzuheben und mit dem Konzept einer wahren philosophischen Bildung zu konfrontieren.60 Gerade dieser Kontrast konnte den Leser wachrütteln, Problembewußtsein wecken und den Weg zu einem vorsichtigeren Umgang mit Dichtung eröffnen. Darin, nicht aber in staatlichen Zensurmaßnahmen, kann bereits ein wesentlicher Schritt zur philosophischen Neuorientierung im Sinne Piatons gesehen werden. Als zweites Beispiel dient die Philosophenherrschaft. Den Höhepunkt des platonischen Erziehungskonzepts und seiner radikalen Forderungen nach Neuerungen in der Politeia bildet der Philosophen-Königs-Satz, nach dem nur durch das Zusammenfallen von politischer Macht und Philosophie eine Verbesserung in den Staaten erreicht werden kann (Rep. 473d). Der Stand der Philosophenkönige besteht aus charakterlich und intellektuell ausgezeichneten Persönlichkeiten (z.B. Rep. 413c-414a, 485a-487a), die einen langen Bildungsweg durchschreiten und schließlich unter Verzicht auf privates Glück der Philosophie entsagen und sich der praktischen Staatsleitung widmen müssen (Rep. 536d-540b). Doch schon der schlechte Ruf der Philosophen im damaligen Athen (den Piaton selbst in der Politeia plastisch schildert, Rep. 487c-d) läßt diese Forderung als weltfremd erscheinen. Auch muß Piaton einräumen, daß das Philosophenkönigtum die größte und schwerste der drei radikalen Reformwogen darstellt (Rep. 472a). Erste Schwierigkeiten bereitet die extrem lange und anspruchsvolle Ausbildung (bis zum 50. Lebensjahr); vor allem aber werden die von den Philosophen geforderten Eigenschaften (Rep. 485a-486d) so stark übersteigert, daß sie kaum als programmatische Anforderungen für die Wirklichkeit gelesen werden können. Der Gedanke einer Herrschaft ohne Gesetze (Rep. 427a-b) zeigt deutlich die bloße Idealität des Ansatzes: Der ausschließlich von den Ideen geleitete, nur an sie gebundene Philosoph wird keinerlei Kontrollen unterworfen. Derart unbeschränkte 59
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Gadamer, Hans-Georg, Piaton und die Dichter, in: ders., Piatons dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie. Hamburg 1968, S. 179-204, hier S. 197; Maurer, (wie Anm. 55), S. 279f. Flashar, (wie Anm. 44), S. 31f.; Gadamer, (wie Anm. 59), S. 188-191.
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Machtbefugnisse dürften aber lediglich absolut idealen Herrschern überantwortet werden, die nur aus einem perfekten Bildungssystem hervorgehen können. Schon geringste Mängel der Herrscherpersönlichkeit oder der Erziehung führen unweigerlich zur Katastrophe: Eine gesetzlose Herrschaft erweist sich in der politischen Praxis als fatale Einladung zu hemmungslosem Machtmißbrauch. Im Grunde will Piaton durch diese Idee nur eine flexible, unbürokratische Heirschaftskunst den ständigen Streitigkeiten um die Gesetzgebung in der athenischen Demokratie (vgl. Rep. 426e) pointiert gegenüberstellen. Dabei geht es ihm keineswegs um jeglichen Verzicht auf verfassungsmäßige Sicherungen gegen menschliche Unzulänglichkeiten im realen Staat. Der Gefahr der Entartung zur Tyrannis beugen z.B. die etwas realitätsbezogeneren Nomoi durch derartige institutionelle Sicherungen vor (Leg. 874e-875d). Insbesondere wird der Gedanke der Philosophenherrschaft dadurch problematisch, daß zum Gelingen des Gesamtkonzepts der Politela unbedingt wahrhaft perfekte Herrscher vorausgesetzt werden messen. Piatons anthropologische Ansichten widersprechen jedoch dieser Prämisse recht klar.61 Gerade die beim Philosophen gelobten außerordentlichen Fähigkeiten können auch genau ins Verderben führen und ihn korrumpieren (Rep. 491b-e). Daher sind umfangreiche Schutzmaßnahmen wie das Geld- und Eigentumsverbot oder die Familienauflösung nötig, die das grundsätzliche Mißtrauen Piatons gegenüber der menschlichen Natur verdeutlichen. Die Hochzeitszahl steht symbolisch für die Fehlbarkeit selbst der Weisen, für die Grenzen menschlicher Kraft und Planungsfahigkeit: Die Tatsache, daß ausgerechnet durch Berechnungsfehler der Herrscher der Idealstaat zerbricht (Rep. 546a-547a), daß gerade bei den Philosophen der Auflösungskeim angesiedelt wird, zeigt die Absurdität des Anspruchs auf menschliche Perfektion.62 Damit wird die gesamte Idealkonstruktion grundsätzlich in Frage gestellt und als utopisch erwiesen. Die - offenbar bewußt angelegte - Realitätsferne der Politela ergibt sich zudem daraus, daß sich Idealstaat und Philosophenkönig paradoxerweise gegenseitig bedingen (Rep. 497a). Ohne den perfekten Herrscher kann die Idealpolis keinen Bestand haben, aber ohne eine solche läßt sich die ideale, lebenslange Erziehung, die allein den wahren Philosophen heranbildet, nicht durchführen. Damit stellt sich die Frage nach dem Beginn des Idealstaats. Dieser kann nicht graduell erreicht werden, sondern die Polis muß sich radikal aus den gegenwärtigen politischen Verstrickungen lösen; das Utopische dieses Unterfangens wird durch die Forderung symbolisiert, daß alle über zehn Jahre alten Bürger aus dem Staat ausgewiesen und die verbleibenden Kinder von konventionellen Einflüssen völlig isoliert erzogen werden 61
Besonders deutlich hierzu die Nomoi: demnach wird die menschliche Natur als durch uneingeschränkte Gewalt notwendig korrumpiert bezeichnet, so daß kein Mensch fehlerfrei herrschen kann (Leg. 713c, 874e-875d).
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Flashar, (wie Anm. 44), S. 34; Gadamer, (wie Anm. 34), S. 452ff.
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(Rep. 540e-541a). Woher die Erzieher dieser Kinder - perfekte Philosophen - vor der Existenz des Idealstaats kommen sollen, bleibt ein ungelöstes Problem. Somit konnte gezeigt werden, daß Piaton mit dem Ideal des Philosophenkönigs eine wahrhaft utopische Forderung in das Zentrum der radikalen Reformen der Politeia stellt, die weitab von der politischen Wirklichkeit seiner Zeit liegt und bereits nach dem Maßstab der eigenen realistischen anthropologischen Ansichten jeder buchstabengetreuen Realisierung entrückt ist. Als praktikable Ziele bleiben die Forderungen nach einer sorgfältigeren Auswahl und Erziehung politischer Führer. Ein gewisser Abbau von Egoismus, Korruption und Machtimperialismus in der Herrschaftspraxis wäre bereits ein enormer Erfolg des platonischen Appells. Ahnlich wie die Dichterkritik und Philosophenherrschaft sind auch weitere wesentliche Staatsinstitute der Politela zu deuten: Die Forderung nach Abschaffung des gesamten Rechtssystems (Rep. 425a-d, 426e—427a) weist auf Schwächen des athenischen Rechtswesens hin, vor allem auf einen übertriebenen Gesetzespositivismus. Die Abschaffung von Familie und Eigentum ist ebenfalls nicht wörtlich zu nehmen, sondern veranschaulicht den Willen Piatons, die Übel des Nepotismus und Materialismus zu brandmarken, auf einen Wandel der Lebenseinstellung zu mehr Loyalität gegenüber Staat und Gesellschaft hinzuwirken und soziale Konflikte im Staat zu verhindern.63 Die Untersuchung wesentlicher Staatsinstitute der Politela hat bereits ergeben, daß diese von Piaton als Utopie konzipiert wurde. Bestätigt wird dieses Ergebnis noch durch Aussagen, die direkt die Frage der Realisierbarkeit betreffen. Zwar betont Piaton mehrfach, bei den radikalen Vorschlägen handle es sich um keinen bloßen Wunschtraum (Rep. 450d, 456c, 499c, 540d), sondern alles sei prinzipiell durchführbar (Rep. 457c). Schließlich könne sich doch ein fähiger potentieller Philosophenkönig finden (Rep. 502a-b, 540d) - allerdings nur mit götdicher Hilfe (Rep. 492e-493a, 499b-c). Diese Stellen werden ständig satirisch unterwandert: So kommen die Aussagen nur auf heftiges Drängen Glaukons zustande (Rep. 457d-e, 471c-472b), während Sokrates stark zögert (Rep. 458a-b). Glaukon muß sich mit einer bloßen Annäherung begnügen (Rep. 473a-b), und das Ausweichen auf göttliche Hilfe zeigt das Fehlen jeder praktikablen Lösung.64 Gänzlich klar wird dies durch die utopische Zentralstelle (Rep. 592a-b), in der der lediglich geistig begründete Staat „nirgends auf Erden", sondern „im Himmel" angesiedelt wird, als Richtschnur und .Paradigma"65 für denjenigen, der sich daran orientieren will. Hier wird der utopische Charakter der Politela nahezu wörtlich zum Ausdruck gebracht. Das Staatsmodell richtet sich primär als Orientierungshilfe
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Genauer Otto, (wie Anm. 27), S. 222-239. Maurer, (wie Anm. 55), S. 298. Dazu Wolf, Erik, Griechisches Rechtsdenken. Bd. 4,1: Piaton, Frühdialoge und Politeia. Frankfurt/M. 1968, S. 302.
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an den einzelnen und die Ordnung seiner Seele (Rep. 591e).66 Auch die Darstellung der eugenischen Hochzeitszahl (Rep. 546a-547a), bei deren hochkomplizierter Berechnung die Philosophen irgendwann irren und den Verfall des Staats auslösen, verdeutlicht, daß der utopische Staat der Politela nicht real existieren kann. Die eugenische Berechnungstechnik zeigt sich als vom Menschen prinzipiell nicht beherrschbar. Folglich kann sich kein Stand eugenisch absolut perfekter Philosophen etablieren, von dem wiederum die gesamte Konstruktionsanlage der Politela abhängt. Die Hochzeitszahl, die Authentizitätsversicherungen und der Versuch einer Staatsgründung mit kleinen Kindern erweisen sich insgesamt als typisch utopische Fiktionssignale, die auf die tiefe Spannung zwischen Utopie und Realität deuten. Im Ergebnis hat die Untersuchung der Intention Piatons ergeben, daß die Politela - auf den ersten Blick ein Grenzfall - nicht als programmatischer rein philosophischer Diskurs, sondern als politische Utopie, d.h. ohne Anspruch auf Verwirklichung, konzipiert wurde. Nicht nur nach Form und Gehalt, sondern auch der Intention nach muß also die Politela als literarische Utopie verstanden werden.
3. Die Wirkung Piatons auf die utopische Tradition Antike Utopien können insgesamt als erste Beispiele für eine zeitübergreifende Erscheinungsform menschlichen Denkens, nämlich des utopischen, angesehen werden. Sie bilden keineswegs bloße Vorläufer der Renaissanceutopien (insbesondere von Morus), sondern eine bereits in der Antike voll entwickelte Gattung mit Ausstrahlung auf die Moderne.67 Auch wenn streng genommen Piaton nicht die e r s t e Utopie verfaßt hat, so sind doch die Politela und der Kritias von solchem Formenreichtum, solch inhaldicher Komplexität und enormer Rezeptionswirkung, daß demgegenüber die Utopien des Aristophanes hier vernachlässigt werden können. Rezeptionsgeschichtlich können mit Recht Ursprung und Grundmodell der politischen Utopie bei Piaton angesiedelt werden. Schon die hellenistischen Utopisten Zenon, Theopomp, Euhemeros und Jambulos stehen völlig im Schatten Piatons und lehnen sich eng an sein Werk an.68 Der Einfluß von Piatons Politeia, auf die sich Morus oft ausdrücklich bezieht,69 und des Kritias, der mit seinem Inselmotiv sowie der Atlantiserzählung nicht nur Campanella und Bacon, sondern die gesamte Utopietradition der Neuzeit prägt, 66
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Vgl. Annas, Julia, An introduction to Plato's Republic. Oxford 1981, S. 187; Flashar, (wie Anm. 44), S. 31; Gadamer, (wie Anm. 59), S. 188; Rohrmoser, Günter, Nietzsche und das Ende der Emanzipation. Freiburg i.Br. 1971, S. 150. Siehe z.B. Biesterfeld, (wie Anm. 30), S. 30-34, 41; Herzog, (wie Anm. 19), S. 3; Heubrock, (wie Anm. 3), S. 679f.; vgl. besonders Augspurger, (wie Anm. 20), S. 10 mit Anm. 3. Anders dagegen Kumar, (wie Anm. 30), S. 23f., 32. Bichler, (wie Anm. 31), S. 187-204. Morus, (wie Anm. 9), S. 18,36,43f. u.ö.; vgl. auch Saage, (wie Anm. 7), S. 15f.
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kann kaum überschätzt werden. 70 Die drei Humanisten der Renaissance nehmen in ihren Entwürfen bewußt die Tradition der Antike auf und adaptieren sie an die Bedürfnisse ihrer Zeit.71 Diese Kontinuität betrifft zum einen den Bereich der Form, 72 insofern Morus den antiken Dialog aufgreift - übrigens ebenso Campanella - und mit staatsphilosophischen Diskursen wie auch mit ironisch-satirischen Einschüben verbindet, also Fiktion und rationalen Diskurs in einem Text vereinigt; diese Formenkombination läßt sich bereits der Politela wie auch dem Kritias entnehmen. Stärker noch prägen aber zum anderen die Inhalte der Politela nahezu alle Utopien bis in die Gegenwart, teilweise indirekt über die Renaissanceutopisten.73 Die sehr weit gehende Übereinstimmung zeigt sich an folgenden gemeinsamen Inhalten: Zentral ist die Zeichnung eines komplexen Gemeinwesens, und zwar nicht nur staatsphilosophisch-abstrakt, sondern auch fiktional-konkret bis zur detaillierten Schilderung der Lebensweise (Kleidung, Nahrung) der Utopier. Typischerweise werden die Notwendigkeit einer sorgsamen, vemunftorientierten Erziehung, einer neuen Wertordnung und einer erlesenen politischen wie geistigen Führung thematisiert, außerdem die Gebiete neue Sozialordnung, Schaffung eines „neuen Menschen", Gleichheit der Geschlechter und Abschaffung des Privateigentums. Zudem finden sich die Bereiche Wirtschaftsorganisation und wirtschaftliche Autarkie, Arbeitsverteilung, Rechtswesen, Beziehungen zur Außenwelt, Kriegswesen und Religion, ferner die Frage des Übergangs von der konventionellen zur utopischen Gesellschaft. Vorwiegend an einer radikal neuen und im weitesten Sinne kommunistischen Staatskonzeption orientiert, zielen die meisten Entwürfe auf eine kollektive Glücksvorstellung und perfekte Harmonie.74 Daneben können natürlich im Detail Diskontinuitäten zwischen „modernen" und „antiken" Utopien herausgearbeitet werden, denen gegenüber allerdings die Gemeinsamkeiten deutlich überwie-
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Vgl. Flashar, (wie Anm. 31), S. 5f.; Freyer, (wie Anm. 26), S. 39f.; Kamiah, (wie Anm. 10), S. 18f.; Saage, (wie Anm. 7), S. 7 , 1 5 f f . Flashar, (wie Anm. 31), S. 5f.; Saage, (wie Anm. 31). Freyer, (wie Anm. 26), S. 39f.; Kamiah, (wie Anm. 10), S. 18. Freyer, (wie Anm. 26), S. 39f.; Saage, (wie Anm. 31), S. 205ff. Nahezu alle diese formalen wie inhaltlichen Merkmale finden sich sogar noch in der postmodemen Utopie Ecotopia von Ernest Callenbach. Die Diskontinuitäten werden im wesentlichen aus - teilweise nur vermeintlichen - Unterschieden zwischen antiker und neuzeitlicher Gesellschaft hergeleitet: Statische Ständegesellschaft der Antike, Sklaverei - dynamische, egalitäre Gesellschaft seit der Renaissance; pejorativer Arbeitsbegriff - positiv besetztes, ausgeprägtes Arbeitsethos; Stagnation und Statik enorme Fortschritte von Wirtschaft, Wissenschaften und Technik; Verwaltung des Mangels Überfluß durch technischen Fortschritt; Mensch als Teil der kosmischen Ordnung - Individualismus und neues Selbstbewußtsein des Menschen; abgeschlossenes Polis-Denken - Planung komplexer Staatsgebilde, Kosmopolitismus durch Weltreisen. Vgl. Finley, (wie Anm. 30), S. 185-191; Kumar, (wie Anm. 30), S. 22-32; Saage, (wie Anm. 31), S. 195ff„ 206f. Einige dieser Unterscheidungen sind sicherlich berechtigt, so z.B. Hinweise auf das positive Arbeitsethos und den enormen naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt der Neuzeit. In diesen beiden Punkten ergeben sich auch Differenzen zwischen der Politela und den Renais-
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Der enorme Einfluß Piatons auf die Renaissanceutopisten und die gesamte utopische Tradition führt zudem zu einer erheblichen indirekten Ausstrahlungskraft der platonischen Utopien: So läßt sich z.B. eine ganz erstaunliche, detaillierte Strukturgleichheit zwischen Orwells Nineteen Eighty-Four und Piatons Politeia aufzeigen, obwohl Orwell Platon überhaupt nicht direkt rezipiert hat.76 Dafür kannte Orwell aber die Utopien von Morus, Swift, Samuel Butler, Morris, Wells77 und die Antiutopien von Samjatin und Huxley und wurde somit indirekt beeinflußt.
sanceutopien. Doch andererseits wird meist übersehen, daß die Antike keineswegs so statisch und abgeschlossen war, wie dies gern behauptet wird. Piaton lebte zu einer Zeit, die von der „Griechischen Aufklärung" der Sophistik geprägt wurde: Individualismus, Demokratie, Gleichheit und die Neuverteilung des Eigentums mögen nur als Stichworte dienen, die das Ausmaß der gesellschaftlichen Umbrüche im Athen und Griechenland des 6. bis 4. Jahrhunderts andeuten. Die großen Weltreisen und Koloniegründungen dieser Epoche führten zu einem hohen Maß an Kosmopolitismus und gesellschaftlicher Dynamik, unterstützt von beachtlichen Fortschritten in Wissenschaften und Technik. Diese Umbrüche sind gerade der Auslöser für die Utopien von Aristophanes und Piaton und spiegeln sich dort vielfach wider: Fordert doch die Politeia absolute Chancengleichheit in der Erziehung, Durchlässigkeit der Stände, Abschaffung von Privilegien, eine großangelegte Bildungsreform, Kommunismus und die Gleichberechtigung der Frau. Vgl. dazu z.B. Herzog, (wie Anm. 19), mit ausführlichen Literaturhinweisen. Zudem erscheinen viele neuzeitliche Utopien als nicht besonders „modern": So sind die Gesellschaftsstrukturen bei Morus, Campanella und Bacon nicht minder patriarchalisch und hierarchisch organisiert als bei Piaton; das Individuum hat sich auch hier dem Kollektiv stets unterzuordnen; eine strenge gesellschaftliche Statik, die Überschaubarkeit der Verhältnisse und die Abgeschlossenheit gegenüber äußeren Einflüssen erinnern mehr an Piaton als an die Aufbruchstimmung der Neuzeit. Im übrigen sind die „modernen" Utopien viel zu inhomogen, um sie als Einheit der Antike entgegenzusetzen: So stehen Andreae oder Morris wohl kaum für bürgerlichen Opümismus und Fortschrittsgläubigkeit, wie sie sich z.B. bei Bacon und Bellamy zeigen. Außerdem ließe sich ebenso gut eine Trennlinie zwischen den Renaissanceutopien und den Warnutopien des 20. Jahrhunderts ziehen wie zwischen Moderne und Antike. Morus steht Piaton formell wie inhaltlich deutlich näher als z.B. Huxley, Orwell oder Callenbach. Insgesamt mag man also innerhalb der Utopiegeschichte Unterschiede zwischen den Epochen Antike und Moderne konstatieren, wie auch solche zwischen Renaissance, Aufklärung, Industrieller Revolution und Postmoderne. Doch bewegen sich solche Differenzierungen auf einer Ebene, die weit unterhalb der umfassenden formellen wie inhaltlichen Kontinuitäten aller literarischen Utopien liegt. Siehe auch Otto, Dirk, Utopieforschung bei Jann Holl, in: Kohlmann, Ulrich (Hg.), Gelebte Lehre. Erinnerungen an Jann Holl. Freiburg i.Br. 1996, S. 182-199, insb. S. 188-191, 193. 76
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Otto, (wie Anm. 27), S. 36-106, 261-265; vgl. auch Saage, Richard, George Orwells ,1984' und die Dialektik der Sozialutopie, in: Greven, Michael Th./Kühler, Peter/Schmitz, Manfred (Hg.), Politikwissenschaft als Kritische Theorie. Festschrift Kurt Lenk. Baden-Baden 1994, S. 231-246, insb. S.240f. Wells knüpft mit seinem Stand der Samurai in A Modern Utopia ausdrücklich an den Wächterstand in Piatons Politeia an; vgl. Erzgräber, (wie Anm. 10), S. 119.
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4. Zum Modellcharakter utopischen Denkens Am Ende der Untersuchung soll der Modellcharakter des auf Piaton zurückgehenden utopischen Denkens staatsphilosophisch bewertet werden. Zwei grundsätzliche Modelle gilt es dabei zu unterscheiden: das Harmoniemodell und das Konfliktmodell.78 Das Harmoniemodell bezeichnet einen Ansatz der Vermitdung von Individuum und Gesellschaft, bei dem das Individuum durch Konsens und Identifikation völlig in der Gesellschaft aufgeht, so daß der Gegensatz und mit ihm der Interessenwiderstreit aufgelöst wird. So findet in der Politeia der Bürger sein vollkommenes Glück, seine Eudaimonia, in der völligen Eingliederung in die Gesellschaft. Diese wird durch das Ausschließen jeglicher Konfliktpotentiale erreicht: mittels eines idealen Erziehungsmodells und einer unitarischen, funktionalen Staatsstruktur, die durch radikale gesellschaftliche Reformen wie die Eigentumslosigkeit oder die Auflösung familiärer Bindungen zustandekommt. Das Harmoniemodell entspricht durch Versöhnung der Gegensätze einem uralten Menschheitstraum der Utopietradition - von der kosmischen, paradiesischen Harmonie - in idealer Weise. Wenn auch die utopische Tradition vielfältige Lösungsansätze im Bereich der Staatsorganisation sucht, so zeichnet sich doch die ganz überwiegende Mehrzahl der Harmoniekonzepte aus durch effiziente Staatsorganisation, Machtkonzentration an der Führungsspitze, die umfassende Regelung aller Lebensbereiche, besondere Erziehungskonzepte und das Aufgehen des Individuums im Staat. Der Staat stellt sich nicht als Vereinigung von Individuen, sondern als lebendige Ganzheit, als Organismus dar, bei dem das Haupt, die Herrschaftsklasse, mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet ist. Rationalität liegt diesen Konzeptionen durchaus zugrunde; allerdings läßt sich auch eine Vorliebe für eine metaphysisch-idealistische Denkungsart (und damit die Gefahr irrationaler Einschläge) ausmachen. Probleme bei diesem ersten idealtypischen Modell ergeben sich aus Schwierigkeiten der Verwirklichung, der Gefahr des Mißbrauchs politischer Macht durch die Herrscher und generell einer gewissen Tendenz zum Totalitarismus wegen der umfassenden Regelungsmechanismen in einer geschlossenen, statischen Gesellschaft Konträr zum Harmoniemodell und dessen anthropologischer Konzeption steht das zweite idealtypische Modell, das Konfliktmodell; hier wird dem Individuum eine tragende Rolle zugestanden. Anstelle totaler Harmonie werden gesellschaftliche Gegensätze akzeptiert und institutionalisiert, an die Stelle der statischen tritt die offene Gesellschaft.79 Findet der Bürger im harmonischen Staat seine Freiheit und Eudaimonia in der Identifikation mit der Gesellschaft, so liegen beide in der Konfliktgesellschaft im Pluralismus, dem Minderheitenschutz und individuellen
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Dazu Otto, (wie Anm. 27), S. 28-31. Vgl. Dahrendorf, (wie Anm. 26), S. 244; Popper, (wie Anm. 54), S. 233-236.
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Freiheitsrechten. Der Uniformität und Effizienz des Harmoniestaats stehen die Gewaltenteilung und Gewaltenhemmung des Konfliktstaats gegenüber, einer metaphysischen Denkungsart dort eine empirisch-pragmatische und skeptische hier. Auch beim Konfliktmodell geht es um einen rationalen Ansatz, nur wird der Weg zum Glück in kleinen Schritten, nicht in einem großen Lösungsentwurf unternommen. Die Politela und die meisten anderen Utopien gehen von einer kollektiven Glücksvorstellung aus, von einer gesamtgesellschaftlichen, perfekten und notwendig statischen Einheit und Harmonie als anzustrebendem Ziel. Damit bilden sie zentrale Beispiele für das Harmoniemodell der Organisation und Legitimation von Herrschaft. Neben antiindividualistischen Tendenzen fließt in der Regel die Vorstellung von der Schaffung eines neuen Menschen in Utopien ein, so daß sich in Verbindung mit der Konfliktlosigkeit und gesamtgesellschaftlichen Harmonie die Frage stellt, ob Utopien - mit Popper - generell als totalitär bezeichnet werden 80
müssen. Tatsächlich deutet der in den meisten Utopien vorhandene umfassende Herrschaftsanspruch, verknüpft mit einer legitimierenden, neuen Staatsideologie, auf die Richtigkeit dieser These hin. Allerdings besteht eine Schwierigkeit darin, daß dabei die oft immanente utopische Ambivalenz mißachtet wird, nämlich der Widerstand vieler utopischer Konzepte gegen eine wörtliche oder gar programmatische Auslegung. Zudem gibt es durchaus individualistisch und freiheitlich ausgerichtete Utopien, in denen der Staat nur eine untergeordnete Rolle spielt (z.B. William Morris' News from Nowhere). Im Ergebnis besteht also zwischen Utopie und Totalitarismus kein notwendiger Zusammenhang, sondern es müssen die Intention des Autors und die Konzeption der Utopie jeweils im einzelnen beachtet werden. Dennoch läßt sich festhalten, daß die Staatskonzeptionen innerhalb vieler utopischer Entwürfe typischerweise antiindividualistische, allumfassende Herrschafts- und Gesellschaftssysteme bilden, so daß zumindest im Regelfall - bezogen auf die innere Struktur der weitaus meisten Utopien - von einem „totalitären Potential der Utopie" gesprochen werden kann.81 Dieses totalitäre Potential haftet auch Piatons Politeia an. Zwar beabsichtigte Piaton keineswegs eine programmatische Verwirklichung des Systems der Politeia, doch läßt sich die Gefahr des Mißverstehens seiner Intention nicht ausräumen. Das Resultat eines Versuchs, die Politeia programmatisch umzusetzen, dürfte - in Ermangelung perfekter Herrscher und bei Verzicht auf jegliche Kontrollmechanismen - in der Konsequenz zu einem totalitären Staat Orwellscher Prägung führen. 80 81
Popper, (wie Anm. 54), S. 213,228ff. Seeber, Hans U., Totalitarismus-Kritik in der modernen englischen Utopie, in: Goetsch, Paul/ Müllenbrock, Heinz-Joachim (Hg.), Englische Literatur und Politik im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 1981, S. 121-131, zit. S. 125; vgl. auch Dahrendorf, (wie Anm. 26), S. 242-246; Pfetsch, (wie Anm. 25), S. 5.
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Diese Konsequenz wird bei den meisten Utopien festzustellen sein, und zwar allein schon deshalb, weil die anthropologischen Voraussetzungen für das Funktionieren einer perfekten, harmonischen Gesellschaft fehlen.82 Der Wert von Utopien dürfte also kaum in großangelegten Projekten ihrer politischen und gesellschaftlichen Umsetzung liegen. Doch bei genauerem Hinsehen hätte der Leser dieses Ergebnis bereits aus den utopiekritischen und spielerisch-satirischen Elementen der Utopien selbst entnehmen können. Deren Autoren arbeiten nicht mit Absolutheitsanspriichen, sondern augenzwinkemd mit Übertreibungen. Utopien zielen als Denkmodelle auf neue Möglichkeiten, kritische Distanz zum Bestehenden und regulative Prinzipien, als Gegensatz zu einer defizienten Wirklichkeit. Das innovative, zeitkritische Moment vieler Utopien transportiert Ideen, die über die eigene Zeit weit hinausreichen und wichtiges Innovationspotential vermitteln können.83 Hier liegt der eigentliche Wert utopischen Denkens.
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Jenkis, (wie Anm. 8), S. 3 9 0 , 5 1 0 . Bei Piaton sind dies z.B. die Idee einer staatlichen Bildungsorganisation und durchaus ernst zu nehmende Reflexionen zur Gleichberechtigung der Frau; vgl. Otto, (wie Anm. 27), S. 212, 231.
I. Die Konzeptualisierung des Utopischen im Spannungsfeld von Politik und Anthropologie
PETER NrrscHKE (Münster)
Der doppelte Sieg der Nützlichkeit: Zur Interdependenz von Staatsräson und Utopie in der politischen Theorie der Aufklärung Prolog Staatsräson und Utopie werden gemeinhin in der politischen Theorie als zwei Diskursprinzipien behandelt, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Was allerdings ein fundamentales Mißverständnis darstellt, denn mit Machiavellis Principe und Thomas Morus' Utopia liegen hierfür nicht nur fast zeitgleich die Basistexte für elementare Diskursentwicklungen zum politischen Denken der Moderne vor, sondern dies gilt auch in korrelativer Hinsicht.1 Insofern ist es nicht nur einfach interessant, sondern substantiell, die Interdependenzmuster von Staatsräson und Utopie einmal strukturtheoretisch zu beleuchten. Die Aufklärungsepoche stellt hierfür in mehr als nur einer Hinsicht die entscheidende Schnittmenge zwischen beiden Diskursprinzipien dar, weil in den Diskussionen dieser Periode bestimmte Elemente der jeweiligen Debatten zu substantiellen Aussagen über die Legitimation von Staatlichkeit hochgradig verdichtet worden sind - und, so die These, bis auf den heutigen Tag weitgehend rekapituliert werden.
I. Kriterien Nach einer einschlägigen Formel von Friedrich Meinecke zielt der Begriff der Staatsräson der Intention nach auf die Sicherheit und Selbstbehauptung des Staates „um jeden Preis, mit allen Mitteln".2 Telos dieser begrifflichen Konstruktion ist die Behauptung wie Bestätigung einer Selbstreferenzialität hinsichtlich der Handlungsziele und -leistungen für das System .Staat'. Mitunter - oder vielleicht sogar sehr oft - kann es sich hierbei um ein geradezu ideologisches Kriterium von Wirklichkeitsbehauptung handeln: d.h., das System .Staat' muß im Rahmen seiner Staatsräson keineswegs immer wirklichkeitsadäquat operieren. Es genügt (scheinbar) der Blick auf sich selbst und die Befolgung seiner selbstproduzierten Images. Das läßt sich bei Machiavelli sehr schön verdeutlichen. Auch wenn der Florentiner Analytiker, den man gemeinhin als den Begründer der modernen politischen 1
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Vgl. daher Nitschke, Peter, Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis zu Friedrich II. von Preußen. Stuttgart/Weimar 1995. Meinecke, Friedrich, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München 4 1976, S. 251. Vgl. für neuere Literatur Nitschke, (wie Anm. 1), S. 35ff. sowie Baldini, Enzo (Hg.), Crisi dell'Aristotelismo politico e Ragion di Stato (im Druck).
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Theorie ansieht, keineswegs den Ausdruck „Staatsräson" verwendet hat, so gilt er doch (zu Recht) als Vordenker einer intentionalen Sachaussage dieser Thematik.3 Was bei Machiavelli signifikanterweise fehlt, ist eine Letztbegründungsperspektive des Politischen. Jegliche normative Zuordnung bleibt hier in einem Strom von Zeit und Raum begrenzt, der, weil insgesamt fließend, sich in dieser seiner Begrenzung jeweils nur situativ erfährt bzw. erfahren läßt. Das ist für die empirische Wendung des Politischen, nicht zuletzt für eine pragmatische Handlungsgestaltung, ein enorm wichtiger hermeneutischer Schritt.4 Durch die Abgrenzung von einer meist theologischen Letztbegründung positiver Verfahrensschritte wird die Materialität aller Entscheidungen für den jeweiligen Augenblick absolut, weil existentiell. Für normative Interpreten des Politischen, die noch dazu von einem religiös-ontologischen Status des Denkens aus operieren, ist dies natürlich eine zutiefst inakzeptable Position, weil sie tatsächlich die Umwertung aller Werte nicht nur impliziert, sondern sogar als jeweils historisch-situativ notwendig postuliert. Zwar gibt es bekanntlich auch bei Machiavelli das Kriterium Tugend, doch hat man zu Recht hervorgehoben, daß für den Florentiner die Frage der Virtù nicht mit moralischer Tugend gleichzusetzen ist.5 Die Idee der Staatsräson leitet sich insofern also von dem machiavellistischen Gesichtspunkt ab, daß es nicht die persönlich gute Moral und materielle Lage der einzelnen Individuen sei, welche einen Staat bedingen, sondern die der gesamten Gemeinschaft aller Individuen. Hier ist natürlich das klassische Theorem platonisch-aristotelischer Politiklehre mit enthalten, wobei speziell dem aristotelischen Topos, demzufolge das Ganze mehr als nur die Summe seiner Teile sei, ein strategischer Stellenwert zukommt. In dieser Hinsicht ist Virtù „a disposition to do whatever is necessary for the good of the fatherland".6 Um 1600 nennt man dies dann „ratio status", wobei sich der Terminus im wesentlichen auf die territoriale, dynastische Form von Staatlichkeit bezieht.7 Allerdings gibt es auch Belege dafür, daß unter diesem terminus technicus (zunächst) auch soziale Entitäten (wie die Stände) jenseits der landesherrschaftlichen Staatlichkeit firmierten.8 3
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Vgl. hier auch in kurzer Zusammenfassung Nitschke, Peter, Staatsräson, in: Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf (Hg.), Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien. München 1995, S. 602ff. Vgl. für den Kontext neuerdings Viroli, Maurizio, From Politics to Reason of State. The Acquisition and Transformation of the Language of Politics 1250-1600. Cambridge 1992; Mittermaier, Karl, Die Politik der Renaissance in Italien. Darmstadt 1995. Vgl. Parel, Anthony J., The Machiavellian Cosmos. New Haven 1992. Ebd., S. 99. Vgl. hierzu auch Stolleis, Michael, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt/M. 1990. Diesen Standpunkt vertritt speziell für den deutschen Raum Dreitzel, Horst, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. Bd. 2. Köln/Weimar/Wien 1991, S. 624ff. Ein theoretisches Exempel hierfür liefert z.B. die Lehre von Dietrich Reinkingk, vgl. Nitschke, (wie Anm. 1), S. 196ff.
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Maßgeblich hierbei ist, dies indiziert schon die nominale Statusanzeige, der Anspruch auf Ratio. Die Vernunft (des Staates) operationalisiert und koordiniert, soweit sie dazu in der Lage ist, die Befriedigung der menschlichen Leidenschaften; diese selbst wiederum begründen im eigentlichen Sinn durch das Ausmaß einer vernünftigen Selbstkompensation ihrer Leidenschaften den Aspekt des bonum commune. Staatsräson und individuelle Selbsträson bedingen sich also im Konzept der Tugend bei Machiavelli (beinahe) wechselseitig, weswegen sein Plädoyer für einen städtischen Republikanismus (wie in den Discorsi) auch folgerichtig ist. Problematisch hieran jedoch ist, daß dabei die Unterscheidung zwischen einer guten und einer schlechten Regierungsform nicht länger vom ethischen Standpunkt abhängt, sondern ausschließlich an der Frage einer Befriedigung sozialer Gruppen erörtert und gemessen wird. Es ergibt sich hierbei die Möglichkeit einer Apriori-Perspektive zugunsten der Staatlichkeit, der die sozialen Gruppen gerade in ihrem Verpflichtungszusammenhang für die Befolgung von Staatsräson dann nur noch subordiniert nachzukommen haben.9 Die hier dargelegte Ausrichtung auf eine materielle Befriedigung der Rezipienten von prämoderner Staatlichkeit wollen auch die Utopien dieser Epoche systematisch aufzeigen; dies allerdings nicht als Selbstzweck, sondern als Grundstein für eine Entwicklung zu wahrer Freiheit und Gerechtigkeit von Gemeinschaft.10 Im Gegensatz zur Staatsräson zeichnet sich die Utopie bekanntlich durch ihre strukturelle Negation der jeweils bestehenden Wirklichkeit aus. Sie ist damit Spiegel von Etwas für Etwas, was so (noch) nicht ist. Nach den Kriterien der klassischen Utopien aus der Prämodeme (Morus, Bacon, Campanella, Andreae) ist sie analogia entis - eben Raumutopie.11 In diesem Kostüm ist sie deudich zu unterscheiden von der Zeitutopie der Aufklärung und den damit verbundenen Ideologieeffekten. Denn die prämodeme Utopie kennt notwendigerweise kein intentionales Ende wie die zeidiche Verheißung des Utopischen, da sie (zunächst) nur kognitives Material zur Optimierung von Welt bereitstellen will. Allein schon vom Kriterium des Analogon, des Aliud her, kann es hier nicht zu einer reinen Synthese in der Umsetzung kommen, denn das Aliud-Moment beinhaltet keineswegs den Anspruch auf ein Upside-Down der be-
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Auch dies im übrigen basierend auf dem Aristotelischen Paradigma, demzufolge der Staat „der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch [ist], weil das Ganze früher sein muß als der Teil". Aristoteles, Philosophische Schriften. Bd. 4: Politik, übers, v. Eugen Rolfes. Darmstadt 1995,1253 a 19-21. Vgl. hierzu Nitschke, (wie Anm. 1), S. 82ff. Mehr zum ökonomischen Verteilungsaspekt: Saage, Richard, Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991. Vgl. auch ders.. Zum Stand der sozialwissenschaftlichen Utopieforschung in der Bundesrepublik (I/II), in: Neue Politische Literatur XXXVIII (1993), Heft 2, S. 221ff„ u. XXXIX (1994), Heft 1, S. 55ff. Grundsätzlich hierzu immer noch: Manuel, Frank E. u. Fritzie P., Utopian Thought in the Western World. Cambridge/Mass. 1979; Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Frankfurt/M. 1985.
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stehenden Verhältnisse. Das Utopische als ein Dialektisches enthält so in den prämodernen Utopien bereits immer schon (und noch) die Kritik an sich selbst. Insofern läßt sich folgende Definition aufstellen: Die Utopie der Prämoderne ist als logisch-ideale Konzeption eines besten Gemeinwesens aufzufassen, eines Gemeinwesens, in dem alle Individuen auf gleicher Grundlage in harmonischer Weise am Gesamtsystem partizipieren.12 Diese Partizipation drückt sich in einer Ordnung der Dinge aus, die auf einem ontologisch-christlichen Verständnis von Seinshaftigkeit beruht, eine metaphysische Grundierung von Welt, die selbst für das Utopiemodell von Morus gilt. Der Maßstab für die Einsicht in diese ontologische Ordnung ist das Vernunft-Prinzip bzw. der Glaube an Gott. Indem mit Hilfe des Vernunft-Prinzips sowohl die bestehende Wirklichkeit kritisch negiert als auch ein Verständnis jener alternierenden denkbaren Wirklichkeit positiv postuliert wird, gestaltet die Utopie in dialektischer Weise ein Sinnverständnis von der Gesamtheit menschlichen Seins, was sich in erster Linie in seiner politischen Qualität manifestiert. Die Utopien der Aufklärungsepoche haben mit dieser Art von Dialektik, ihrer ontologisch-christlichen Grundierung, mehr und mehr gebrochen. Sie sind im Rahmen. ihrer zeitlichen Verheißungsstrategie auf den primär voluntaristischen Aspekt eingegangen - was für die Entwicklung in der Moderne nicht ohne fatale Folgen bleiben sollte. Bei den Utopien der Aufklärung kommt insofern auch eine andere Qualität ins Spiel, als sie durch das jetzt mehr und mehr säkularisierte Naturrecht mitbestimmt werden.13 Allerdings unterscheiden sich diese Überlegungen in der Verwendung naturrechtlicher Positionen deutlich von der klassischen Vertragslehre.14 Sie beziehen sich nicht per se auf die Vertragskomponente, obwohl sie im voluntaristischen Element durchaus ein gleiches Kalkül favorisieren. Aufgrund ihres Umschlags von der Raum- in die Zeitutopie liefert die Utopie am Ausgang des 18. Jahrhunderts mittels ihres heuristischen Potentials von Wirklichkeitskritik die potentielle Wirklichkeit der zukünftigen Entwicklung. Was hieraus als logische Konsequenz zwangsläufig folgt, ist der Aufruf zur Revolution: Die Utopie der Aufklärung kritisiert nicht mehr nur, sie fordert die programmatische Umgestaltung des von ihr angefochtenen Systems ein. Raumutopie und Zeitutopie gehen hier ineinander über.
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Vgl. Nitschke, (wie Anm. 1), S. 81. Grundsätzlich für diesen Kontext: Strauss, Leo, Naturrecht und Geschichte. Frankfurt/M. 2 1989; Tuck, Richard, Natural Right Theories. Their Origin and Development. Cambridge 1979. Vgl. hierzu neuerdings Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994. - Vgl. dagegen für bestimmte Sinnzusammenhänge Saage, Richard, Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1989 sowie ders., Politische Utopien der Neuzeit, (wie Anm. 10), S. 80ff.
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II. Korrelationsmomente Im Prinzip kann man die Momente einer Interdependenz von Staatsräson und Utopie bereits in den Theoremen von Morus und Machiavelli erkennen. Als mediale Träger fungieren für beide Phänomene des Politischen hier zwei Ideen: a) die Idee der Vernunft b) die Idee des Menschen als eines prinzipiell eigenständigen Wesens. Beide Ideen liefern in ihrer Zusammensetzung die Idee des Menschen als eines (von Gott) substantiell unabhängigen Vemunftwesens. In diesem circulus rationis avanciert hinsichtlich der praktischen Orientierung jenseits des eigenen Selbst die Sphäre des Staates zur eigentlichen (und entscheidenden) Handlungsebene. Insofern sind sowohl Morus als auch Machiavelli signifikante Exponenten der humanistischen Handlungsorientiertheit zugunsten der staatlichen Ebene; allerdings bei völlig unterschiedlicher Perspektive und Deutung des bonum (commune): Bei Machiavelli dient die Idee des Guten sozusagen der Stabilität des Herrschers, während es Morus nicht um diesen (an sich formal-physischen) Aspekt, sondern um die ideal-inhaltliche Quintessenz einer geregelten Harmonie der vielen Individuen in der Einheit geht. Die philosophische Handlungsbezogenheit als ars vivendi (vor allem auch im Sinne von ü b e r 1 e b e n) ist hierbei beiden gemeinsam - allerdings bei Machiavelli in einer pessimistischen Anthropologie, bei Morus hingegen in einer (vom Prinzip her) etwas optimistischeren Variante. Beide Hermeneutiken orientieren sich intentional am klassischen Polis-Respublica-Modell der griechisch-römischen Antike. Hierbei haben sich die Anhänger der Staatsräson mehr dem legalozentrischen Diskurs aus der aristotelischen Politik verschrieben, während die Utopisten hermeneutisch an dem konsoziativen (radikaleren) Ansatz Piatons orientiert sind. Allerdings - und das ist bezeichnend: Auch die Mehrzahl der utopischen Autoren der Prämoderne sind Juristen von Haus aus oder haben dieses Fach zumindest einmal studiert.15 Fast folgerichtig orientieren sich vor dem Hintergrund dieser Perspektive von Handlungsbezogenheit beide Denkprinzipien konzeptionell an dem, was Staat ist bzw. sein soll. Denn nur der Staat vermittelt den Gesamtkontext von Handlungen, um den es (auch gerade) beim physischen Überleben des einzelnen Individuums geht. Beiden Denkprinzipien ist hierbei eigen, daß sie die sich abzeichnende Dichotomie von Staat und Gesellschaft zu synthetisieren versuchen. Dort, wo die Staatsräson im operationeilen Raum von Gesellschaft eingreift, versucht die Utopie mittels des Harmonie-Prinzips zumindest theoretisch die ideelle Gemeinsamkeit von Herrschaft und Gesellschaft zu retten. Insofern könnte man die Staatsräson auch als angewandte Utopiekomponente sehen: Während die Utopie die Zieloption verheißt, sucht die Staatsräson die Zweck-Mittel-Relationen zu bewältigen. 15
Vgl. Eliav-Feldon, Miriam, Realistic Utopias. The Ideal Imaginary Societies of the Renaissance 1516-1630. Oxford 1982, S. 110.
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III. Fallbeispiel: Rousseau Anhand der politischen Theorie Jean-Jacques Rousseaus läßt sich in einem kurzen Exkurs paradigmatisch demonstrieren, wie sehr die oben genannten Korrelationselemente in der Aufklärungsphilosophie eine interdependente Position eingehen.16 Bekanntlich bekommt die Utopiediskussion der Aufklärung eine anthropozentrische Dimension, die ihr in dem prämodernen Kontext so noch nicht eigen gewesen ist.17 Diesen Anthropozentrismus, der nebenbei bemerkt auch einen geradezu klassischen Androzentrismus der Aufklärung beinhaltet, referiert Rousseau in seiner Theorie von Staat, Individuum und Gesellschaft beinahe mustergültig. Hier entspringt das Wesen des Politischen aus dem Gegensatz der individuellen Interessen, die es notwendig machen, daß man sich auf einem öffentlichen Forum darüber einigt. Das hierbei zu erzielende g e m e i n s a m e Interesse gestaltet sich für Rousseau bezeichnenderweise (bereits) vor dem Hintergrund der nationalen Frage, denn die „Herrschaft kennt nur den Körper der Nation".18 Damit liefert der Aufklärungsdenker zweifellos auch Implikationen für eine Räson des Nationalstaates, was für die Fortentwicklung von Staatsräson als nationale, systemische Selbstreferentialität von nicht zu unterschätzender Relevanz ist.19 Dem Plädoyer für den Gesellschaftsvertrag ist damit ein geradezu postulatives Moment für Nationalstaatlichkeit eigen. Hierbei ist das existentialistische Motiv, wie schon bei Machiavelli und Hobbes, das eigentlich konstitutive Element, denn der Gesellschaftsvertrag „hat den Zweck, die Vertragspartner am Leben zu erhalten".20 Wie bei Piaton, Aristoteles und der Mehrzahl mittelalterlicher und prämoderner Autoren insgesamt erscheint auch in dieser naturrechtlichen Vertragstheorie das Bild der Masse Mensch von der Einschätzung geprägt, daß es dieser Masse offenkundig nicht möglich sei, ein Begreifen von komplexen politischen Zusammenhängen direkt zu erfassen oder (auch nur) zu entwickeln.21 Insofern bedarf es immer auch der sozialdisziplinierenden Funktion von Staatlichkeit, damit überhaupt die Gesellschaftlichkeit der Individuen nicht nur erreicht, sondern auch stabilisiert wer-
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Wofür im übrigen Leibniz mit seiner Philosophie die logische systemische Kongruenz hergestellt hat; vgl. Nitschke, (wie Anm. 1), S. 214ff. Vgl. Trousson, Raymond, Utopie, Geschichte, Fortschritt: ,Das Jahr 2440', in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung, (wie Anm. 11), Bd. 3, S. 19. Rousseau, Jean-Jacques, Vom Gesellschaftsvertrag, in: ders., Politische Schriften. Bd.l. Paderborn 1977, S. 92. Grundsätzlich zur Einordnung vgl. u.a.: Shklar, Judith N., Men and Citizens - A Study of Rousseau's Social Theory. Cambridge 1969; Nonnenmacher, Günther, Die Ordnung der Gesellschaft. Mangel und Herrschaft in der politischen Philosophie der Neuzeit: Hobbes, Locke, Adam Smith, Rousseau. Weinheim 1989; Weiß, Ulrich, Rousseau zwischen Modernität und Klassizität. Überlegungen zur Konsumtion des Politischen im .Contrat social', in: Der Staat 31 (1992), S. 1-17. Vgl. hier auch Nitschke, (wie Anm. 3), S. 603f. Rousseau, (wie Anm. 18), S. 94. Vgl. z.B. ebd., S. 102f.
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den kann. Dieser Prozeß der Vergesellschaftung, der die Polizierung aller Vertragsteilnehmer beinhaltet, ist auf dem Gesetzeswege deshalb so schwierig, weil die „Einfachheit der Natur mit den Bedürfnissen der Gesellschaft" so selten in harmonischen Einklang zu bringen ist.23 Auch bei Rousseau garantiert daher (wie bei den prämodernen Utopisten) „die Stärke des Staates [...] die Freiheit seiner Glieder".24 Die Vorstellung von herrschafdicher Ordnung ist somit auch hier, obwohl nicht permanent begrifflich als solche rubriziert, signifikant für den Vertragszusammenhang selbst. Auch wenn es Rousseau so nicht thematisiert hat, beinhaltet demnach seine Konzeption von Vergesellschaftung elementare Unterwerfungsmomente für die beteiligten Individuen zugunsten des etatisüschen Gesamt und der (dann) zu formierenden spezifischen Gemeinschaftsräson. Im Sinne der intermediären Gewalten des Ancien Régime fungiert bei Rousseau die Regierung als eine Art Zwischenkörperschaft, die genau in der Mitte zwischen dem Souverän (Volk) und den Staatsbürgern/Untertanen (auch Volk) steht. Staat ist demnach bei Rousseau ein hermetisches, ständig rotierendes Kreisgebilde, dessen relativ konstante Mittelachse von der Regierung gebildet wird, die als Herrschaft auf die Umgebung ausstrahlt und von dort ihre Legitimationsimpulse empfängt. „Das Prinzip des politischen Lebens liegt in der souveränen Autorität. Die gesetzgebende Gewalt ist das Herz des Staates, die Exekutivgewalt ist sein Gehirn, das alle Teile bewegt."25 Somit gilt, um in der organologischen Sprache zu bleiben, der Souverän (Volk) als das Herz, die Regierung (Herrschaft) hingegen als das Gehirn. Das wäre nicht weiter problematisch, wenn nicht zugleich das Volk auch den Status der Untertanenschaft hätte. Es bewegt sich also in einem (durchaus fatalen) diallelischen System, bei dem einzig die Mittelachse, nämlich die Regierung als Herrschaft einen Stabilitätspol aufweist. Dieser zentristische Gesichtspunkt kann der Regierung buchstäblich auch zu Kopf steigen, nämlich immer dann, wenn sie sich nicht mehr auf die sie umgebenden Kreisfaktoren orientiert, sondern sich mit einer solipsistischen Nabelschau begnügt. Insofern liefert Rousseau mit seiner organologischen Analogie eine schöne politologische Metapher, weil sie explizit darauf verweist, daß sich das Gehim tatsächlich mitunter verselbständigen kann (und will)!26 Die utopische Komponente hierbei ist offenkundig. Das gesamte System funktioniert eigentlich nur, wenn sich alle beteiligten Akteure von ihrem jeweiligen Status her in der richtigen Relation zum Gesamt einbringen, d.h. hierbei von ihren jeweiligen Positionen abstrahieren zugunsten des gemeinsamen Zielmoments - und 22
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Vgl. hierzu kontextuell Nitschke, Peter, Die Polizierung aller Lebensbereiche: Sozialdisziplinierung und ihre polizeilichen Implikationen in der Prämoderne, in: ders. (Hg.), Die deutsche Polizei und ihre Geschichte. Beiträge zu einem distanzierten Verhältnis. Hilden 1996. Rousseau, (wie Anm. 18), S. 112. Ebd., S. 115. Ebd., S. 152. So z.B. im Traum.
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das wiederum heißt z i v i l e Staatlichkeit. Dieser Anspruch mündet zweifellos bei Rousseau in eine aporetische Situation, denn wie soll die Zivilität von Staatlichkeit permanent aufrechterhalten werden, wenn zugleich der zentralen Vermittlungsinstanz, nämlich der Regierung, nicht nur kompensatorische, sondern weitreichende voluntaristische Aktionsgewalt zugestanden wird? - Im Prinzip kann ein solchermaßen konstruierter bürgerlicher Staat nur so lange bestehen, „wie die Menschen über ihr Eigenbedürfnis hinaus arbeiten".27 Diese Leistung ist aber nicht immer gegeben. Insofern wird in diesem Zusammenhang deutlich, wie sehr Rousseau von einem zyklischen Geschichtsablauf ausgeht: Revolution ist hier gleichsam Katharsis, um die jeweils degenerierte Ordnung zu rekonstituieren. Wie Phönix, der aus der Asche steigt, folgt auf das Erlöschen eines Staatssystems ein neues. Unverkennbar dominiert hier eine ontologische Struktur in der zyklischen Bestimmung, die quasi von der anthropologischen Konstante Mensch determininiert wird.28 Hierin manifestiert sich zugleich explizit das utopische Potential, da Rousseau (wie die prämodernen Utopisten) sowohl die Finanzwirtschaft am liebsten abgeschafft sehen als auch überhaupt so wenig Gesetze wie möglich in seinem Staats- und Gesellschaftsmodell aufnehmen möchte.29
IV. Interdependenz Das hier skizzierte Wechselspiel von Implikationen der Staatsräson mit denen der Utopie und ihrer hermeneutischen Intentionen läßt sich jenseits der theoretischen Position Rousseaus auch auf der anderen, der rein machtpolitischen Seite festmachen. Friedrich II. von Preußen wäre hierfür der geradezu paradigmatische Typus eines Regenten, bei dem in der faktischen Anwendung - und nicht einfach nur bezüglich der theoretischen Konstruktion - beide Intentionsmomente vorkommen.30 Die permanente Planungsbereitschaft, ja Euphorie, die der preußische Monarch an den Tag legte, beinhaltet so manch utopische Zielperspektive - ohne daß er je versucht hätte, dies alles einzulösen. Es ist dies gemessen an dem, was die totale Verfügung bzw. das totale Verfügen-Wollen über sämtliche Optionen hinsichtlich der Gestaltung der Realität angeht, ein Vorgang und eine Neigung, die auf einen omnipotenten Funktionalismus hinauslaufen. Dieser omnipotente Funktionalismus hat sowohl seine etatistischen wie auch seine ökonomistischen Seiten, betrifft sowohl die Frage der Raison d'Etat wie auch
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Rousseau, (wie Anm. 18), S. 141. Vgl. ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 157 u. 167. Vgl. hierzu ausführlich Nitschke, (wie Anm. 1), S. 242ff.
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die der civic virtue einer sich formierenden Bürgergesellschaft mit ihren Marktmechanismen.31 Der utopische Diskurs, der sich an der Frage der Gerechtigkeit orientiert, geht hierbei elementare Korrelationen zur faktischen Machtbehauptung der Staatsräson ein. Sowohl die anarchistische Variante der Utopie wie auch ihre etatistische, sehr auf Sozialdisziplinierung setzende Form bemühen beide das Kriterium der Notwendigkeit in einem spezifisch utilitaristischen Sinne, der in dieser Amalgamierung eine neue Dimension bekommt. Staatsräson wie' Utopie können dann fast dekkungsgleiche Kalküle der politischen Ordnung werden. Allerdings bestehen hierbei immer noch signifikante Unterschiede hinsichtlich der Antriebsmotivation und des Telos selbst. Während bei der Staatsräson die Strukturelemente aus dem wechselseitigen Sinnbezug von Voluntas, Nécessitas und Utilitas bestehen, manifestieren sie sich - wie das Schaubild auf der folgenden Seite zeigt - bei der utopischen Intention von Welt aus der Interdependenz von Ratio (statt Voluntarität), Notwendigkeit und Nützlichkeit.32 Die beiden Eckpunkte im oberen Teil des Dreiecks sind bei den genannten Strukturvarianten mit jeweils dem gleichen materiellen Bezug ausgestattet: Im voluntaristischen Aspekt von Staatsräson ist dies eine personale Größe, ebenso im utopischen Kriterium von der Vernünftigkeit einer logisch zu begründenden Einsicht in die Dinge. Auch sie bleibt immer gekoppelt an eine Person, die dies eidetisch zu formulieren sucht. Demgegenüber verweist die Frage der Necessitas in beiden Phänomenen auf die strukturelle Dimension der Dinge, an denen sich (jeweils) Voluntas und Ratio zu messen haben. Der dritte Eckpunkt, der das Ziel darstellt, kommt deshalb auch nur dann sinngerecht zustande, wenn Voluntarität wie Rationalität in ihrer Verbindung mit der jeweiligen sozialpolitischen Rahmenstruktur einigermaßen adäquat komplementiert worden sind. Die somit erreichte Utilität für alle Individuen kann jedoch bei der Staatsräson auch nur eine behauptete Form von Logik des Staatlichen sein. Sie begründet sich letztendlich durch den Anspruch auf Faktizität, mitunter auch einer post festum erreichten Definition. Gerade das macht ihren ideologischen Gehalt aus.
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Insofern hat Otto Hintze zu Recht bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der Forschung auf die „innere Verwandtschaft" zwischen Kapitalismus und Staatsräson hingewiesen; siehe Hintze, Otto, Wesen und Wandlung des modernen Staats [1931], in: ders., Staat und Verfassung, hg. v. Gerhard Oestreich. 3., durchges. u. erw. Aufl. Göttingen 1970, S. 482. - Zum Kontext aus der bürgerlich-ökonomistischen Intention sehr instruküv: Pocock, John G. Α., Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Frankfurt a.M./ New York 1993. Vgl. hierzu auch Nitschke, (wie Anm. 1), S. 268.
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Strukturelemente von Staatsräson:
Strukturelemente von Utopie:
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Bei der Utopie verhält sich diese Zielebene etwas anders. Auch sie will zwar auf Nützlichkeit hinaus, jedoch ist dies eine Nützlichkeit, die sich als Endpunkt der platonischen Idee des Guten bzw. der Frage nach der Gerechtigkeit ergibt. Nicht umsonst ist in der eudämonistischen Intention von Wohlfahrtsstaatlichkeit des Ancien Régime, bezeichnenderweise speziell in der kameralistischen Sprache der deutschen Etatisten, immer vom „Endzweck" des Staates die Rede. Hier manifestiert sich geradezu synthetisch die Interdependenz von Staatsvernunft und der Vernunft einer utopischen Forderung vom bestmöglichen End-Zustand einer (bürgerlichen) Gesellschaft. Da sich diese utopische Utilität im besten Sinne am klassischen Konzept von bonum commune orientiert, erscheint sie als das Kernmovens der politischen Strategien der Aufklärungsprotagonisten schlechthin. Das Fatale hierbei jedoch ist, daß die Aufklärer bei ihren politischen Ambitionen die Macht w o l l e n - und dies (mitunter) um jeden Preis.33 Dieser Sachverhalt zeigt sich sehr deutlich an der Dialektik der Aufklärung selbst. Das Vernunft-Prinzip konvertiert nunmehr zu einer funktionalistischen Größe, die zwar immer noch ein Gutes behauptet, aber dies oft nur in technizistischer Hinsicht legitimiert. Indem die Aufklärer die neue Gesellschaft und den neuen Menschen propagieren und modellieren, unterliegen sie zugleich der Dialektik ihres eigenen Machtanspruchs: Sie wollen um der Macht der Vernunft willen selbst auch König sein. Auch wenn sie sich dabei als rationalisierte Gegenmacht zur Herrschaftsordnung des Ancien Régime etablieren, reflektieren sie doch in Machtkategorien, in denen vielfach offen oder latent Reflexe des Absolutismus selbst auftauchen. Der ratio status kann somit gleichermaßen in der individuellen Vernunft wie der des politischen Systems behauptet werden - was mitunter personell deckungsgleich sein kann, wie das Beispiel Friedrichs II. zeigt. Utopie und Staatsräson gehen in solchen Momenten über das gemeinsame Korrelat der Vernunft mehr als nur eine kontingente Symbiose ein. Im Kriterium der kollektiven Sozialdisziplinierung wird dies offenkundig: Der Zwangszustand menschlicher Existenz, der eben um der Ordnung in der Gemeinschaft willen von den Aufklärern keineswegs rigoros abgelehnt wird, erfährt hier seine spezifische, weil rationalistische Zuspitzung. Wird diese rationalistische Zuspitzung nunmehr noch mit einem voluntaristisch-prophetischen Impetus, wie dem einer zeitlichen Bestimmbarkeit des utopischen Programms zusammengelegt, dann ist es zu einem totalitären Akt von staatlicher wie individueller Handlung nicht mehr weit. Insofern erscheint die Hegeische Totalisierung des Staates wie auch die anarchistische Reduzierung auf ein solipsistisches Individuum gleichermaßen als logische Weiterentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. 33
Anschaulich hierzu neuerdings Wilson, W. Daniel, Enlightenment's Alliance with Power: The Dialectic of Collusion and Opposition in the Literary Elite, in: ders./Holub, Robert C. (Hg.), Impure Reason. Dialectic of Enlightenment in Germany. Detroit 1993, S. 364ff.
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V. Ausblick auf die Welt von Gestern und Sonstwo Offenkundig haben im Prozeß der politischen Diskurse zwischen Renaissance und Aufklärung die Kausalitätskriterien Machiavellis das politische Denken mehr und mehr okkupiert. In dem Maße, in welchem Gott nicht (mehr) für den Sinn oder Unsinn dieser Welt verantwortlich erscheint, beginnt der Mensch sich sinnfällig in seiner Eigenverantwortlichkeit zu begreifen. Staatsräson ist hierbei die eine Seite dieser Verantwortlichkeit: nämlich die Anerkennung einer Eigendynamik in Fragen der Gemeinschaft, die jeweils sachintentional zu lösen ist. Utopisches Bewußtsein kann sich im Kontext dieser Bewußtseinsentwicklung nicht mehr (nur) auf ein gemeines Bestes hin orientieren, sondern muß auch die Gestaltungsmöglichkeiten der individuellen Existenz selbst berücksichtigen. Insofern gehört diese Bedeutungstransformation des utopischen Potentials in der Epoche der Aufklärung auch in den Kontext der Dichotomie von Privatheit und Öffentlichkeit, die sich am Prinzip der Staatsräson spaltet. Auch die Staatsräson als herrschaftsadäquate Gestaltung von Politik tut nichts anderes, als die Dichotomie der gesellschaftlichen Gruppen zugunsten der staatlichen Priorität voranzutreiben. Je mehr Staatlichkeit sich als eigene Seinssphäre konstituieren läßt, desto deutlicher fällt auch die Differenz zu d e r Gesellschaft auf. Das ist keineswegs ein Entmündigungsprozeß, sondern ein interdependentes Phänomen. In dem Maße, wie die Konsistenz des Staates als Staat voranschreitet, vollzieht sich ebenso die Subsistenz (und damit prinzipielle Konkurrenz) der Gesellschaft. Die ganze Transformation im Kontext der beiden politischen Maximen hat allerdings auch ihre naturrechtliche Seite - und die soll abschließend nicht verschwiegen werden. Die traditionell metaphysisch-christlich thematisierte Einsicht in die deviarne Natur des Menschen - und damit auch in sein Vernunftprinzip schwindet im Kontext der Aufklärungsdebatten (vor allem in der zweiten Hälfte) des 18. Jahrhunderts zugunsten der säkularisierten Naturrechtsvariante. Offenkundig erfahrt der Naturbegriff (maßgeblich) in seinem legalozentrischen Kontext „eine Art Emanzipation, weil er angesichts des Glaubensstreits, also der zweifelhaft gewordenen Glaubenswahrheit, Objektives, Wahres in sich zu bergen scheint".34 Dieses Wahre, bzw. der Anspruch darauf, bekommt nunmehr allerdings eine ausgesprochen existentialistische Note - und an diesem Existentialismus partizipiert die Staatsräson. So, wie es in der Naturgesellschaft um die nackte Selbsterhaltung des menschlichen Individuums geht, so focussiert sich seit den Debatten des 17. Jahrhunderts unter der Chiffre .Staatsräson' alles auf die Selbsterhaltung des Staates. Mit anderen Worten: Die Selbsterhaltung des Staates ist die großgeschriebene 34
Schmale, Wolfgang, Das Naturrecht in Frankreich zwischen Prärevolution und Terreur, in: Dann, Otto/Klippel, Diethelm (Hg.), Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution. Hamburg 1995, S. 12.
Der doppelte Sieg der Nützlichkeit
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Selbsterhaltungsmaxime des Menschen! - Allerdings wird diese Analogie an einem bezeichnenden Punkt durchbrochen, weil nämlich der Staat mehr ist als nur die Summe der einzelnen menschlichen Individuen. Die Rekapitulation bzw. bewußte Tradierung des aristotelischen Paradigmas im nunmehr säkularisierten naturrechtlichen Kontext beinhaltet dann auch die Hypertrophierung der etatistischen Maxime. Es gibt nunmehr keine korrelierende und potentiell limitierende Gegeninstanz ,wie die Religion. Im Gegenteil: Religion und Moral werden sukzessive subordiniert zugunsten der Raison d'Etat. Diese Raison bekommt eine eigene Form der Rechtlichkeit - und insofern ist es kein Wunder, daß der Aspekt des materiellen Rechts den der justice zunehmend verdrängt.35 Insofern kann man durchaus sagen, daß der Gedanke der Staatsräson wie der der Utopie (auch) Ergebnis des naturrechtlichen Denkens ist, denn wenn es eine Natur des Menschen gibt, auf die man sich logischerweise berufen kann, dann existiert auch eine Natur des Staates bzw. eines bestmöglichen Ordnungssystems für sich. Die Aufklärung liefert in dieser Debatte nur die Endpunkte der systemischen Interpretation, die eigentlich innovativen Fixpunkte sind bereits wesentlich früher zustande gekommen. Bezeichnend aber ist, daß die Aufklärung in ihrem logischen Endpunkt, dem der Revolution gegen das bestehende System, dem Sinn ihrer mit Macht behaupteten Funktionalität eine erschreckende Zuspitzung widerfahren läßt.36 Die ursprünglich utopischen Antriebsmomente von Freiheit und Gleichberechtigung erfahren in der Französischen Revolution eine durch und durch existentialistische Gleichsetzung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod^}1 In diesem Topos zeigt sich das ganze Ausmaß der extremen Zuspitzung durch die Revolutionäre anschaulich: Wenn das eine nicht geht, der Sieg der drei Prinzipien, dann eben das andere, die existentielle Selbstberaubung. Das gilt auch (und historisch vor allem) für die Feinde. Wer gegen den Anspruch der Revolution ist, mag nicht nur, sondern muß eliminiert werden. Hier bekommt das Freund-FeindDenken seine existentialistische, um nicht zu sagen extremistische, Konnotation: entweder - oder. Ein tertium comparationis wie bei den klassischen Utopien der Prämodeme wird nun nicht mehr geduldet. Die absolutistische Raison d'Etat feiert hier nicht nur ihre kryptologische Fortsetzung, sondern mehr noch ihre totalistische Ausweitung und Verschärfung.
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Vgl. ebd, S. 13. Vgl. dazu am Beispiel Robespierres ausnahmsweise konstruktiv (in einer ansonsten tendenziösen und recht willkürlichen Interpretation) Winter, Michael, Ende eines Traums. Blick zurück auf das utopische Zeitalter Europas. Stuttgart/Weimar 1993, S. 99ff. So die ursprüngliche Formel der Revolution, in Stein gemeißelt am Rathaus von Troyes. Vgl. Schauer, Rainer, Trunken von Wein und Kultur. Im stillen Süden der französischen Region Champagne-Ardenne, in: Die Zeit (22. September 1995), Nr. 39, S. 83 (Hervorh. durch Schauer).
RICHARD SAAGE (Halle)
Zur Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken in Johann Gottlieb Fichtes Der geschlossene Handelsstaat1 I.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreicht eine Entwicklung im politischen Selbstverständnis der Aufklärung ihren Höhepunkt, der bisher in der Forschung zu wenig beachtet worden ist: D i e starre Antithetik zwischen dem klassischen utopischen und d e m vertragstheoretischen Paradigma beginnt, einer Konvergenz beider Konstruktionsmuster zu weichen. Meine Ausgangshypothese ist, daß das utopische Denken allmählich seinen rigiden Antiindividualismus relativiert; es betont nicht nur in einem vorher unbekannten Maße die Sphäre der Privatheit, v o n der der Kontraktualismus seinen Ausgang nahm, sondern übernimmt auch
kontraktualistische
Verfassungsprinzipien. 2 Zugleich findet insofern eine Subjektivierung der Utopie
1
In der Forschung ist bisher Fichtes Geschlossener Handelsstaat nicht unter dem Aspekt der Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken interpretiert worden. Gleichwohl gibt es punktuelle Überschneidungen mit den folgenden Studien, die meinen Überlegungen als Informationsquelle und Korrektiv zugleich dienten. Es handelt sich u.a. um folgende Arbeiten: Brunner, Heinrich, Die Wirtschaftsphilosophie Fichtes. Nürnberg 1935; Freyer, Hans, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Piaton bis zur Gegenwart. Leipzig 1936, S. 137-146; Klenner, Hermann, Das Recht auf Arbeit bei Johann Gottlieb Fichte, in: Festschrift für Erwin Jacobi. Berlin 1957, S. 149-163; Krause, Werner, Fichtes ökonomische Anschauungen im .Geschlossenen Handelsstaat', in: Buhr, Manfred (Hg.), Wissen und Gewissen. Beiträge zum 200. Geburtstag Johann Gottlieb Fichtes 1762-1814. Berlin 1962, S. 224-240; Talmon, J. [Yaakov] L[eib]., Politischer Messianismus. Die romantische Phase. Köln/Opladen 1963, S. 161-164; Buhr, Manfred, Revolution und Philosophie. Die ursprüngliche Philosophie Johann Gottlieb Fichtes und die Französische Revolution. Berlin 1965; Schottky, Richard, Johann Gottlieb Fichte: Die Vernunftnotwendigkeit des Rechtsstaates, in: ders. (Hg.), Texte der Staatstheorie. Kommentar. München 1967, S. 88-109; Willms, Bernard, Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie, Köln/Opladen 1967; Hahn, Karl, Staat, Erziehung und Wissenschaft bei J. G. Fichte. München 1969; Batscha, Zwi, Gesellschaft und Staat in der politischen Philosophie Fichtes. Frankfurt/M. 1970; ders., Die Arbeit in der Sozialphilosophie Johann Gottlieb Fichtes, in: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. XII (1972), S. 1-54; Saage, Richard, Zur neueren Rezeption der politischen Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, in: Fichte, Johann Gottlieb, Ausgewählte Politische Schriften, hg. v. Zwi Batscha und Richard Saage, Frankfurt/M. 1977, S. 3 5 7 ^ 1 6 ; Schmidt, Hajo, Politische Theorie und Realgeschichte. Zu Johann Gottlieb Fichtes praktischer Philosophie 1793-1800. Frankfurt a.M./Bern 1983, S. 207-239; Renaut, Alain, Le Système du droit. Philosophie et droit dans la pensée de Fichte. Paris 1986; Fetscher, Iring, Johann Gottlieb Fichte, in: ders./ Münkler, Heifried (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd 4: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus. München/Zürich 1986, S. 192-195; Harada, Tetsushi, Politische Ökonomie des Idealismus und der Romantik. Korporatismus von Fichte, Müller und Hegel. Berlin 1989, S. 8-65.
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Vgl. Vairasse, Denis, Histoire des Sévarambes [...]. Amsterdam 1702.
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statt, als die Entdecker des idealen Gemeinwesens zu dessen Begründern werden3 und das träumende Subjekt explizit zum Demiurgen des utopischen Konstrukts anvanciert.4 Umgekehrt beginnt der Kontraktualismus in Gestalt der Rousseauschen volonté générale und des aus ihm hervorgehenden „neuen Menschen" den kollektiven Staatszweck,5 aber auch - wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte die sozio-ökonomischen Ganzheitsmuster des utopischen Denkens zu übernehmen. Tatsächlich gibt es in der klassischen deutschen Philosopie keine Schrift, in der sich die Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken so konkret nachweisen läßt wie in Johann Gottlieb Fichtes Der geschlossene Handelsstadt? der 1800 erschienen ist: Er wird im folgenden als ein Lehrstück behandelt, das für einen ganzen Trend steht. Mein Versuch, jene Konvergenz darzustellen, kann freilich nur gelingen, wenn Klarheit über den kontraktualistischen und den utopischen Denkansatz besteht. Daher werde ich im folgenden - idealtypisch vereinfacht - ein heuristisches Koordinatensystem entwerfen, dessen Extreme die Pole bilden, zwischen denen Fichtes Position im Geschlossenen Handelsstaat oszilliert. Mir kommt dabei der Umstand zur Hilfe, daß Fichte sein politisches Philosophieren als radikaler Vertragstheoretiker begann: Der äußerste Rand innerhalb des kontraktualistischen Spektrums des vorgeschlagenen Rasters wird daher durch die vertragstheoretischen Schlußfolgerungen bezeichnet, die er in seiner Friihschrift von 1793 Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution zog.1 Dagegen soll das andere Extrem des Skalenbereichs durch Topoi charakterisiert werden, wie sie in den klassischen Utopien bei Morus8 und Campanella9 zu finden sind.10 Zugleich
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Vgl. Schnabel, Johann Gottlieb, Insel Felsenburg, hg. v. Volker Meid und Ingeborg SpringerStrand. Stuttgart 1979 sowie Rétif de la Bretonne, Nicolas Edme, La découverte australe par un homme volant, hg. v. Paul Vernière. Paris/Genf 1979. Mercier, Louis-Sébastien, Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume. Deutsch von Christian Felix Weiße, hg. v. Herbert Jaumann. Frankfurt/M. 1982 sowie Koselleck, Reinhart, Die Verzeitlichung der Utopie, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Bd. 3. Frankfurt/M. 1985, S. 1-14. Vgl. grundlegend Rousseau, Jean-Jacques, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: ders., Sozialphilosophische und Politische Schriften. In Erstübertragungen von Eckhart Koch u.a. München 1981. Fichte, Johann Gottlieb, Der Geschloßne Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik, in: ders., Ausgewählte politische Schriften, (wie Anm. 1), S. 59-167. Aus dieser Edition wird im folgenden zitiert; die Belegstellen finden sich im Text. Fichte, Johann Gottlieb, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution, in: ders., Schriften zur Revolution, hg. v. Bernard Willms. Köln/Opladen 1967, S. 34-213. Eine prägnante Zusammenfassung des subjektiven Naturrechts findet sich auch bei Euchner, Walter, Naturrecht und Politik bei John Locke. Frankfurt/M. 2 1979, S. 1442. Morus, Thomas, Utopia, in: Der utopische Staat, übers, u. hg. v. Klaus J. Heinisch. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 7-110. Campanella, Tommaso, Sonnenstaat, in: Der utopische Staat, (wie Anm. 8), S. 111-169.
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schlage ich drei analytisch zu trennende Ebenen vor, auf denen sich die signifikanten Unterschiede des utopischen und des kontraktualistischen Denkens abbilden lassen: die Legitimationsebene, die Strukturebene und die Transfoimationsebene. 1. Die Legitimationsebene bezeichnet innerhalb des kontraktualistischen und des utopischen Musters einerseits den politischen Gegner, dem die Existenzberechtigung abgesprochen wird, weil er bestimmten normativen Kriterien nicht genügt. Andererseits sind aber auf ihr auch jene legitimatorischen Argumentationsfiguren erkennbar, die das alternative Gesellschaftsmodell rechtfertigen, das den kritisierten Zuständen gegenübergestellt wird. Der Kontraktualismus des jungen Fichte läßt keinen Zweifel daran, daß neben dem absoluten Staat die entscheidenden gesellschaftlichen Träger des Feudalsystems auf der Anklagebank stehen, nämlich katholische Kirche und Adel.11 Deren Versuchen, ihre auf Privilegien gegründete Herrschaft auf eine besondere Stellung innerhalb der Hierarchie der kosmischen Seinspyramide zurückzuführen, stellt er einen radikalen Individualismus gegenüber.12 Dem Anspruch nach fiktiv, ist er gleichwohl auf reale Tendenzen der entstehenden Bürgerlichen Gesellschaft bezogen. Ausfluß des Willens autonomer einzelner, verliert der Staat seine natürliche Qualität: Er ist nichts weiter als das Kunstprodukt ursprünglich Gleicher und Freier, die das politische Gemeinwesen im Medium eines Sozialvertrages aller mit allen überhaupt erst konstituieren.13 Auch nach dem Vertragsschluß bleiben die Individuen Herr des Verfahrens in den sie betreffenden Angelegenheiten. Ihnen stehen nicht nur wesentliche individuelle Grundrechte zur Disposition,14 die sie schon im Naturzustand besaßen. Es liegt auch in der Logik der Ausgangsprämissen, daß der aus dem ursprünglichen Vertrag hervorgegangene Staat offen und gemäß dem Willen der gleichen und freien Vertragspartner jederzeit reformierbar ist. Darüber hinaus erfährt er eine Abwertung, die bis zu seiner Negation reicht: Vollständig instrumentalisiert durch den Willen deijenigen, die ihn konstituierten, können sie jederzeit aus dem staatlichen Verband austreten und neue freiwillige Assoziationen bilden.15 Demgegenüber ist der Gegner der klassischen Utopien der Renaissance und der Reformation nicht nur das Feudalsystem und der frühabsolutistische Staat, sondern - wie Morus in seiner Kritik der Einhegungsbewegung eindrucksvoll zeigt - auch die auf der Verfügung über Privateigentum beruhende bürgerliche Gesellschaft. In deren Individualisierungstendenzen sahen die großen Utopisten eine bedeutende Ursache der gesellschaftlichen Krise ihrer Zeit. Diese Ausgangslage hat zwei wich-
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Die Strukturmerkmale dieser klassischen Utopiemuster habe ich entwickelt in: Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 13-76. Fichte, Beitrag, (wie Anm.7), S. 142ff. Ebd., S. 65ff., 6 8 , 8 6 , 1 0 3 , 1 1 3 , 2 0 2 f . Ebd., S. 64ff. Ebd., S. 3 6 , 4 5 , 67f„ 68, lOlf. Ebd., S. 80f„ 85, 103.
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tige Konsequenzen. Einerseits erhöht sie den Fiktionsgrad des utopischen Konstrukts im Vergleich zum kontraktualistischen Entwurf erheblich: Indem sie die Distanz zum Ancien Régime und der entstehenden Bürgerlichen Gesellschaft gleichermaßen erzwingt, muß der Neuanfang in einen fiktiven Raum verlegt werden, der sich gegenüber der Außenwelt vollkommen abschottet: Nicht zufällig wird die Insel zum Symbol des utopischen Konstrukts. Mit der individualisierenden Moderne konfrontiert, denkt der klassische Utopiediskurs darüber hinaus seine „besten" Staaten gerade nicht vom Willen der einzelnen her. Infolgedessen sind deren Interessen auch nicht - wie bei den Kontraktualisten - den staatlichen Institutionen vorgeordnet, sondern vielmehr deren Produkt. Da das „Ganze" als Konkretion einer kollektiven Vernunft stets Priorität gegenüber den einzelnen hat, die sich absolut in den Institutionen des idealen Staates repräsentiert wissen, entfällt eine unantastbare Sphäre der Privatheit, die durch natürliche Grund- und Menschenrechte in der liberalen Version des kontraktualistischen Ansatzes geschützt wird. Zugleich werden die utopischen Leviathane als geschlossene Systeme vorgestellt, die in ihrer Perfektion und Vollkommenheit im Prinzip nicht veränderbar sind. Auf Statik und gesellschaftliche Harmonie hin angelegt, ist die Integration der einzelnen in das gesellschaftliche Gefüge total. Die Verheißung einer menschenwürdigen Existenz in materieller und kultureller Hinsicht vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß sich nicht der Staat, sondern das freie Individuum überflüssig macht. Weitgehend seiner Autonomie beraubt, wird es zum Objekt effizienter Sozialtechniken und Planungsinstrumentarien. 2. Auf der Strukturebene ist zu zeigen, wie das Verhältnis von Eigentum und Staat, die Rolle der menschlichen Arbeit, die Struktur der zu befriedigenden Bedürfnisse und der Stellenwert von Wissenschaft und Technik im kontraktualistischen und im utopischen Muster geregelt sein müssen, um die materielle Reproduktion dieser Modelle im Sinne ihrer jeweiligen legitimatorischen Vorgaben zu garantieren. Im Vertragsdenken des jungen Fichte ist das Privateigentum eine dem Staat naturrechtlich vorgegebene Größe. Durch individuelle Arbeit formiert, konstituieren die einzelnen bereits im Naturzustand ihr Privateigentum. Dieses schuldet dem Staat und dem von ihm repräsentierten Gemeinwohl nichts.16 Im Gegenteil: es zu schützen, ist der eigentliche Staatszweck. Im übrigen hat der Staat sich jeglicher Intervention in die Eigentumsverhältnisse und in den wirtschaftlichen Prozeß zu enthalten. Dem entspricht, daß im kontraktualistischen Denken die Triade Arbeit, Bedürfnisse und Wissenschaft/Technik in ihrer Dynamik nur eine Grenze kennt: Sie darf die Regeln des „ursprünglichen Vertrages" nicht verletzen, nach denen die autonomen Individuen koexistieren wollen. Demgegenüber wird im klassischen utopischen Denken das Privateigentum als die Quelle des Egoismus, der gesellschaftlichen Konflikte und des moralischen Verfalls radikal abgewertet. Auf der
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Ebd., S. 89-99.
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Grundlage des kommunistischen Gemeineigentums funktioniert die vom Staat geplante und regulierte Herstellung und Verteilung der Güter im Prinzip krisenfrei. Eine von der Gesellschaft funktional getrennte Sphäre des Staates entfällt: Beide Bereiche sind vollkommen kongruent, weil es keine wirtschaftliche Aktivität mehr gibt, die nicht der staatlichen Planung und Kontrolle unterliegt. Dies vorausgesetzt, versteht es sich von selbst, daß Arbeit, Bedürfnisse sowie Wissenschaft und Technik zu unmittelbar vom Staat modellierten und kontrollierten Größen erhoben werden. 3. Auf der Transformationsebene ist zu diskutieren, wie sich die Autoren kontraktualistischer und utopischer Altemativ-Modelle das Verhältnis ihrer Konstrukte zur sozio-politischen Wirklichkeit der jeweiligen Ursprungsgesellschaften vorstellen. Es geht also um das Problem ihres praktischen Geltungsanspruchs. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts - nachweisbar an der Pamphletistik der Großen Englischen Revolution von 1642-164917 - hat der Kontraktualismus seine welthistorische Bedeutung dem Umstand zu verdanken, daß er die f a k t i s c h e Opposition der frühbürgerlichen Freiheitsbewegung gegen die Privilegiengesellschaft und den absolutistischen Staat legitimierte. Der Geltungsanspruch des Kontraktualismus war also mit politischer Praxis unmittelbar kurzgeschlossen: Ohne seine normative Bedeutung als eines praxisauslösenden Faktors herunterspielen zu wollen, rechtfertigte er das, was sich als Oppositionspotential aufgrund eines komplexen sozio-politischen Ursachenzusammenhanges ohnehin endud. Demgegenüber hatte im klassischen utopischen Denken das Konstrukt des idealen Gemeinwesens den Status eines Ideals bzw. eines regulativen Prinzips. Im Lichte der Errungenschaften des fiktiven Modells sollten die Defizite der Ursprungsgesellschaft aufgezeigt werden, um bestenfalls begrenzte Reformen, nicht aber revolutionäre Umwälzungen zu ermöglichen. Diese Ausgangslage änderte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts für beide Ansätze grundlegend. Zwar geht es auch dem jungen Fichte wie den Vertretern des älteren Kontraktualismus um den Nachweis, daß die tiefen Eingriffe in das Gefüge des Ancien Régime ohne Einschränkung legitim und notwendig sind, weil nur so die einzelnen in ihre natürlichen Rechte eingesetzt und bestätigt werden können. Doch er begnügt sich nicht mehr mit der Rechtfertigung der faktischen Aufstandsbewegung im revolutionären Frankreich: Sie wird nur als der Beginn einer Entwicklung interpretiert, deren Ziele erst in der Zukunft auf einer höheren Stufe der Entwicklung des Menschengeschlechts zu erreichen sind.18 Aber auch das utopische Denken kommt ohne eine geschichtsphilosophisch begründete Transformationsstrategie nicht mehr aus, seit es gleichfalls spätestens mit Morellys Gesetz-
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Vgl. Saage, Richard, Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der Niederländischen und der Englischen Revolution. Frankfurt/M. 1981, S. 115ff. Fichte, Beitrag, (wie Anm. 7), S. 81f.
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buch der Natur19 und Merciers Das Jahr 244Ó10 dazu übergegangen ist, das ideale utopische Konstrukt vom Raum in die Zukunft zu verlagern. Die Frage besteht also darin, ob sich die Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie, wie sie sich in der gemeinsamen geschichtsphilosophischen Wende niederschlägt, auch in Fichtes Geschlossenem Handelsstaat nachweisen läßt.
II. Zu welchen Resultaten kommt eine Analyse des Geschlossenen Handelsstaates auf der L e g i t i m a t i o n s e b e n e des Fichteschen Konstrukts? Zunächst fällt auf, daß er seine Delegitimationsstrategie gegenüber dem politischen Gegner deutlich von ihrem kontraktualistischen Ausgangspunkt löst und sie dezidiert dadurch im utopischen Spektrum verankert, daß für ihn vorrangig nicht mehr das Feudalsystem und der absolutistische Staat, sondern die marktorientierte Verwertung des Privateigentums die entscheidende Ursache des gesellschaftlichen Elends ist. Tatsächlich bewirkt ihm zufolge der Marktmechanismus einen „endlose[n] Krieg aller [...] gegen alle", einen „Krieg zwischen Käufern und Verkäufern" (S. 121). Im Innern der Staaten führt in Fichtes Zeitdiagnose die Marktproduktion zu Absatzkrisen. Der Zwang, die Waren unter Wert zu verkaufen, bleibt seinerseits nicht ohne Folgen für das Einkommen der Arbeiter: Sie verarmen, „und fleißige Familien verkommen im Mangel und Elende, oder wandern aus von einem ungerechten Volke" (S. 121). Diejenigen Arbeiter aber, die im Lande bleiben, rufen „die Gefahren eines Aufruhrs von Volkshaufen" hervor, „denen die äußerste Not nichts übrig läßt, das sie noch zu schonen hätten" (S. 133). Die Möglichkeit des offenen Klassenkampfes - ein Terminus, den Fichte freilich nicht verwendet - wird dadurch verschärft, daß die Bevölkerung die „Verteuerung der Dinge" der Regierung anlastet. Aus dem Haß gegen sie entsteht ein Konflikt, der zuletzt von beiden Seiten „durch offene Gewalt geführt" wird (S. 134). Diese innenpolitische Krise verschärft sich durch die außenpolitischen Folgen der internationalen Handelskonkurrenz. Der Merkantilismus, der eine Erhöhung des Exportes bei gleichzeitiger Erschwerung der Einfuhr fremder Waren zum Prinzip erhoben hat, fügt der „feindseligen Tendenz, welche ohnedies alle Staaten wegen ihrer Territorialgrenzen haben", eine neue hinzu: In dem Maße, wie eine Nation ein Übergewicht im Handel erringt, unterliegen die dadurch benachteiligten Staaten dem Zwang, das Gleichgewicht wieder herzustellen: Es kommt, wie Fichte schreibt, zu einem „allgemein geheimen Handelskrieg" (S. 129), dessen letzte Eskalationsstufe der bewaffnete Konflikt zwischen den Nationen ist (S. 130). Hellsichtig konstatierte Fichte dar19
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Morelly, Gesetzbuch der Natur [...]. In der Übersetzung von Ernst Moritz Arndt, hg. v. Werner Krauss. Berlin 1964, S. 155. Mercier, (wie Anm. 4), S. 21, 32.
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über hinaus die imperialistische Dynamik der europäischen Volkswirtschaften. Die reichen Nationen geben,ihren periodisch gewonnenen Geldüberschuß" in das Ausland zum Zweck der Gewinnmaximierung ab. Doch indem sie für diesen Überschuß das Entbehrliche eintauschen, den armen Ländern aber kaum das Existenzminimum garantieren können, steigern sie unaufhörlich ihren Wohlstand „auf Kosten des Ausländers, der immer elender wird" (S. 124). Auf den ersten Blick scheint es, als ob Fichte auf der legitimatorischen Ebene seines Vemunftstaates, die er seinem Krisenszenario der zeitgenössischen Gesellschaft gegenüberstellt, diese utopische Wende nicht vollzieht. Der einzelne als Wirtschaftssubjekt wird nämlich keineswegs abstrakt negiert. Ausdrücklich betont Fichte, daß das Individuum seine ökonomische Kompetenz „der Natur und sich selbst, nicht dem Staate [verdankt]. [...] Nackend an jedes Ufer geworfen, kann er sagen: ich trage alles das Meinige an mir selbst. Was kann ihm nun der Staat noch geben?" (S. 111). Aber diese individualistische Prämisse, die ihn nach wie vor mit dem kontraktualistischen Denken verbindet, wird dadurch von utopischen Perspektiven überlagert, daß sich der Zweck des Fichteschen Vemunftstaates den Zielen der utopischen Leviathane annähert: „In diesem Staate sind alle Diener des Ganzen und erhalten dafür ihren gerechten Anteil an den Gütern des Ganzen", heißt es. „Keiner kann sich sonderlich bereichem, aber es kann auch keiner verarmen. Allen einzelnen ist die Fortdauer ihres Zustandes und dadurch dem Ganzen seine ruhige und gleichmäßige Fortdauer garantiert" (S. 88). Indem der Vernunftstaat sie durch die Garantie ihrer Arbeit, des Absatzes ihrer Waren und der Zuteilung der ihnen zustehenden Güter an sich bindet, begibt er sich gleichsam unter einen utopischen „Sachzwang", dessen idealtypische Strukturmerkmale deutlich hervortreten. Ich möchte die folgenden normativen Vorgaben nennen, durch die sich Fichtes Geschlossener Handelsstaat legitimiert: 1. Der Kontraktualismus wird zwar nicht grundsätzlich aufgegeben, weil die Basis des Fichteschen Konstrukts nach wie vor frei geschlossene Verträge zwischen Individuen und Kollektiven sind. Den Rationalismus der ursprünglich Gleichen und Freien teilend, deduziert er aus ihnen einen konsequent durchdachten Vernunftstaat. Aber wir sahen auch, daß sich die utopischen Entwürfe der klassischen Tradition durch ihre innere Geschlossenheit auszeichnen: Sie stellen ein interdependentes Ganzes dar, dessen Totalität alle Lebensbereiche umfaßt. Eben auf dieses Ziel ist Fichtes Vernunftstaat festgelegt. Er allein sei es, „der eine unbestimmte Menge Menschen zu einem geschlossenen Ganzen, zu einer Allheit vereinigt; er allein ist's, der bei allen, die er in seinen Bund aufnimmt, herumfragen", d.h. Eingriffe in die Privatsphäre vornehmen kann (S. 72). 2. Der inneren Geschlossenheit mit ihrer antiindividualistischen Tendenz entspricht die Abschottung des utopischen Konstrukts nach außen. Die Symbolik der „utopischen Insel" enthüllt, wie das heuristische Koordinatensystem gezeigt hat, ihren Sinn erst dann, wenn man sich die Notwendigkeit eines radikalen Neuanfangs
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vor Augen führt: Nur dadurch, daß die Abgrenzung von der kritisierten Umwelt gelingt, eröffnet sich die Chance, die Verhältnisse gemäß der Vernunft von Grund auf neu zu gestalten. Auch Fichtes Vernunftstaat ist Ausfluß dieser utopischen Logik: erst die Abschließung von der Außenwelt garantiert dessen Identität. 3. Dem klassischen Utopiediskurs, so geht aus unserem heuristischen Raster hervor, liegt die Prämisse zugrunde, daß das Zusammenleben der Menschen von der Zeugung bis zur Bahre planbar ist. Auch Fichte will in seinem Vernunftstaat nichts der Natur überlassen. Seine Überzeugung ist, daß „alles Gute, dessen der Mensch teilhaftig werden soll, [...] durch seine eigne Kunst, zufolge der Wissenschaft, hervorgebracht werden [muß]: dies ist seine Bestimmung". Aus diesem Primat der Planung folgt das Verdikt, „irgendetwas zu Berechnendes dem blinden Zufalle zu überlassen, in Hoffnung, daß er es wohl machen werde" (S. 69f.). 4. Eng verknüpft mit dem Planungspostulat ist im utopischen Denken, wie wir sahen, das Prinzip der Statik und der Harmonie der gesellschaftlichen Verhältnisse. Als Schlüsselbegriff fungiert in Fichtes Konstrukt nicht zufällig die Kategorie des „Gleichgewichts": Sie soll die Relation zwischen den Arbeitskräften in den einzelnen Berufszweigen und der Menge der zu produzierenden Güter, zwischen Angebot und Nachfrage der Waren, zwischen den Interessen der einzelnen Berufszweige etc. gleichsam auf „ewige" Dauer stellen.
III. Wie muß nun aber auf der S t r u k t u r e b e n e das wirtschaftliche System des Fichteschen Vernunftstaates beschaffen sein, um den Postulaten der inneren Geschlossenheit, der Planbarkeit und der statischen Harmonie der gesellschaftlichen Beziehungen sowie der Abschottung nach außen genügen zu können? Und in welchem Verhältnis steht es zu den Topoi des utopischen Spektrums unserer heuristischen Skala? Fichte unterscheidet sich in seinem Vernunftstaat von den Vertretern der klassischen Sozialutopien dadurch, daß er die Formen der Eigentumsverhältnisse nicht einfach voraussetzt; vielmehr leitet er sie aus naturrechtlichen Prämissen ab. Deutet diese methodologische Option auf die Affinität seines Konstruktes mit dem kontraktualistischen Denken hin, so gelangt er freilich zu Resultaten, die zwar nicht identisch mit denen des utopischen Ansatzes sind, doch sie kommen dessen Intentionen sehr nahe. Im Gegensatz zur radikal liberalen Option in seinem Beitrag von 1793, die die etatistische Zwangsgewalt auf einen bloßen Garanten des naturrechtlich legitimierten Privateigentums reduziert, geht er jetzt von dem Prinzip aus, daß es die Bestimmung des Staates sei,, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum erst einzusetzen und sodann erst, ihn dabei zu schützen" (S. 71). Zugleich identifiziert Fichte nicht mehr wie noch in seiner Frühschrift von 1793 das Privatei-
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gentum mit der Verfügung über Sachen, die andere von ihrem Gebrauch ausschließt. Vielmehr setzt er es gleich mit dem ,,ausschließende[n] Recht auf Handlungen [...]. Ein Eigentum auf den Gegenstand der freien Handlung fließt erst und ist abgeleitet aus dem ausschließenden Rechte auf die freie Handlung" (S. 73). In dem Maße aber, wie „die freie Tätigkeit [...] der Sitz des Streits der Kräfte [ist]" (S. 73), wird sie und nicht das private Sacheigentum zum Gegenstand des Gesellschafts Vertrages. Dessen Derivat, der Staat, kann aber seinerseits die konfligierenden ,freien Handlungen" nur dadurch schlichten, daß er ,jedem allmählich zu dem Seinigen" verhilft (S. 74). Diese Aufgabe ist aber nur dann zu erfüllen, wenn er die ökonomische Aktivität der Vertragsschließenden und damit das ganze Wirtschaftssystem lückenlos normiert: Es handelt sich um eine Konsequenz, die Fichtes Vernunftstaat erneut mit den utopischen Leviathanen der klassischen Tradition konvergieren läßt. Tatsächlich war das Motiv des Wirtschaftens in den kontraktualistischen Gemeinwesen die Produktion für den Markt: Auf ihm sollten die hergestellten Güter zum Zweck der Gewinnmaximierung angeboten werden. Dagegen teilt Fichte die utopische Kritik, daß die Freiheit der Marktteilnehmer nichts anderes bedeute als die Freiheit, „sich gegenseitig zugrunde zu richten" (S. 122). Zwar hält Fichte, wie gezeigt wurde, am Privateigentum fest: Dessen Verwertung erfolgt im Bereich der Güterherstellung durch die ,.Produzenten" (Ackerbauern) und durch die sogenannten „Künstler" (Handwerker und andere Berufe, die die Rohstoffe gewerblich verarbeiten) sowie in der Sphäre der Güterverteilung durch den Berufsstand der Händler. Doch bei näherem Hinsehen wird deutlich, daß die auf Privateigentum gegründeten Berufsstände und ihre Untergliederungen nichts anderes sind als Agenturen einer zentralisierten staatlichen Planwirtschaft. Deren Funktionäre ähneln in einer entscheidenden Hinsicht den politischen Eliten der klassischen Utopiekonstrukte: Sie sind von körperlicher Arbeit entlastet und werden über die Abgaben der,Produzenten", „Künstlet' und „Händler" bezahlt (S. 92f.). Der Staat, so können seine Funktionen zusammengefaßt werden, setzt die einzelnen nicht nur in ihr Privateigentum ein; er schreibt ihnen auch bis ins Detail vor, wie es zu verwerten ist. So bestimmt er nicht nur die Zahl der Arbeiter in den einzelnen Berufsständen gemäß dem berechneten Gesamtbedarf der Gesellschaft. Darüber hinaus garantiert er , jedem Bürger seinfen] verhältnismäßige^] Anteil an allen Produkten und Fabrikaten des Landes" im Verhältnis zu der ihm zugemuteten Arbeit (S. 106). Er setzt femer die Preise fest: Als Maßeinheit gilt die zur Herstellung einer bestimmten Menge Roggen notwendige Arbeitszeit (S. 85f.). Aber er garantiert auch die „ewige" Stabilität des Geldes, indem er dessen Wert von Gold und Silber und damit von der öffentlichen Meinung löst. An sich aus wertlosem Material gefertigt, soll es nun als funktionales Medium des Tausches fungieren (S. 99). Schließlich bestimmt er, was und in welchen Mengen produziert wird; er ergreift alle notwendigen Maßnahmen, um den „unmittelbare[n] Handel der Bürger
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mit dem Auslande" unmöglich zu machen (S. 106). Und er streicht - wie in den utopischen Leviathanen der klassischen Tradition - das Grundrecht auf Bewegungs- und Reisefreiheit für die Bürger, sofem sie keine Wissenschaftler und Gelehrte sind, ersatzlos: „der müßigen Neugier und Zerstreuungssucht soll es nicht länger erlaubt werden, ihre Langeweile durch alle Länder herumzutragen" (S. 162). Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß Fichte auf ökonomische Mechanismen zurückgreift, die wir von der klassischen Utopietradition her kennen. Der Markt als Motor der Ökonomie wird ersetzt durch einen umfassenden Wirtschaftsplan, den der Staat entwickelt und in der gesamten Produktions-, Zirkulations- und Distributionssphäre durchsetzt, und zwar orientiert an dem Ziel der wirtschaftlichen Autarkie sowie des errechneten Gesamtbedarfs der Gesellschaft an notwendigen Gütern. Dies vorausgesetzt, wird das kontraktualistisch begründete Privateigentum in Fichtes Vernunftstaat in dem Maße in den Dienst der utopischen Intention gestellt, wie es als funktionales Mittel des Staatszweckes, nämlich die materielle Existenz aller zu garantieren, wirkt. Diese Tendenz widerspiegelt sich auch in jener Triade, die die Effizienz der Ökonomie des Geschlossenen Handéisstaates zusätzlich garantieren soll, nämlich die Bestimmung der zu befriedigenden Bedürfnisse, der Stellenwert der menschlichen Arbeit sowie die Rolle von Wissenschaft und Technik. Wie unser heuristisches Raster gezeigt hat, sind im kontraktualistischen Denken die menschlichen Bedürfnisse eine dynamische Größe. Da sie innerhalb eines weit gesteckten Rahmens expandieren können, wird der Differenz zwischen der Dekkung eines „natürlichen" und eines „künstlichen" Mangels der Boden entzogen. Demgegenüber unterscheidet Fichte wie die klassische utopische Tradition scharf „zwischen Bedürfnissen, die wirklich zum Wohlsein etwas beitragen können, und solchen, die bloß und lediglich auf die Meinung berechnet sind" (S. 139). Die ersteren werden als eine konstante Größe verstanden. Sie durch die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Kleidung und Wohnung zu befriedigen, ist die zentrale Aufgabe des utopischen Staates. Dagegen fallen die letzteren unter ein striktes Luxusverbot: im Prinzip unbegrenzt und daher auch unberechenbar, ist der Geltungskonsum Ausdruck des Egoismus und des moralischen Verfalls, die der utopische Staat gerade beenden soll. Wie es scheint, bewegt sich Fichtes Bestimmung der menschlichen Bedürfnisse im Geschlossenen Handelsstaat zwischen diesen beiden Extremen. Zwar werden in seinem Konstrukt die Bedürfnisse des Luxus" (S. 79) nicht prinzipiell geächtet. Doch Fichte nähert sich in dieser Frage insofern dem utopischen Spektrum unserer heuristischen Skala an, als bei ihm die Befriedigung der sogenannten natürlichen Bedürfnisse absolute Priorität hat: Es sollen erst alle satt werden und fest wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm gekleidet sein, eher einer sich prächtig kleidet. Ein Staat, in welchem der Ackerbau noch zurück ist, und mehrerer Hände zu seiner Vervollkommnung bedürfte, in welchem es noch an gewöhnlichen mechanischen Handwerkern fehlt, kann keinen Luxus haben. (S. 79)
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Der Luxuskonsum ist also erst dann legitim, wenn der wirtschaftliche Entwicklungsstand eines Landes eine solche Höhe erreicht hat, daß für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung gesorgt ist. Festzustellen, ob dies der Fall ist oder nicht, obliegt aber nicht dem einzelnen, sondern dem Staat. Wie in den utopischen Leviathanen geht Fichte von einer a priori festgelegten Nachfrage an Gütern aus, deren entscheidendes Kriterium die Sicherung des Existenzminimums ist. Was die Bestimmung der menschlichen Arbeit betrifft, so hat sie gemäß unserem heuristischen Raster im kontraktualistischen Spektrum ein individualisiertes Gepräge, im utopischen Bereich hingegen ein kollektives Profil. Für Fichtes Vernunftstaat ist nun entscheidend, daß die Arbeit, obwohl auch bei ihm auf Privateigentum bezogen, ihren individualisierten Charakter, den sie in seinem Beitrag von 1793 noch hatte, 21 weitgehend einbüßt: Da die Berufsstände Agenturen des Vernunftstaates sind, steht die in ihrem Rahmen veirichtete Arbeit zu seiner Disposition. Insofern ist die utopische Wendung des Arbeitsbegriffs bei Fichte unübersehbar. Einerseits kommt es unter staatlicher Aufsicht - wie in der klassischen Utopietradition - zu einer vollständigen Mobilisierung der Arbeitsressourcen. Zwar soll im Prinzip die Freiheit der Berufswahl gelten. Doch behält sich der Staat das Recht vor, den einzelnen dann autoritär ihre Tätigkeit vorzuschreiben, wenn der wirtschaftliche Gesamtplan dies verlangt (S. 95,97f.). Andererseits übernimmt er das utopische Humanisierungsgebot: Der einzelne soll zwar arbeiten, aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt, und nach der notdürftigsten Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und mit Freudigkeit arbeiten, und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist. [...] Dies ist sein Recht, dämm weil er nun einmal ein Mensch ist. (S. 91)
Die Skala unseres heuristischen Koordinatensystems ging schließlich von der Beobachtung aus, daß sich sowohl der kontraktualistische als auch der utopische Ansatz von Anfang an für die moderne Naturwissenschaft und ihre Anwendung als Technik geöffnet haben, allerdings in unterschiedlicher Weise. Für die Vertragstheoretiker war die wissenschaftliche und technische Innovation primär eine Angelegenheit der die „Gesellschaft" konstituierenden Individuen; der Staat hingegen hatte lediglich für eine günstige Infrastruktur zu sorgen. Im utopischen Denken hingegen trat der Staat von Anfang an als Träger der wissenschaftlich-technischen Innovation auf; er organisierte den gesamten Wissenschaftsprozeß, wie das Haus Salomon in Bacons Neu-Atlantis eindrucksvoll dokumentiert. 22 Fichtes Vernunftstaat verbindet zwar mit beiden Positionen der ungebrochene Wissenschaftsund Technikoptimismus: Nach Schließung seines Handelsstaates sollen z.B. die Produkte, die jetzt nicht mehr aus dem Ausland eingeführt werden können wie 21
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Vgl. Fichtes Rezeption der Lockeschen Formationstheorie in: ders., Beitrag, (wie Anm. 7), S. 91ff. Bacon, Francis, Neu-Atlantis, in: Der utopische Staat, (wie Anm. 8), S. 205,21 lf.
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etwa Baumwolle, durch künstliche Ersatzstoffe auf wissenschaftlich-technischer Grundlage ersetzt werden. Dennoch nimmt Fichte auch in diesem wichtigen Politikfeld eine mittlere Position ein. Einerseits verbindet ihn mit den Vertragstheoretikern, daß der technische Fortschritt von denen unmittelbar exekutiert wird, die über Privateigentum verfügen: die Berufsstände der „Produzenten" und der rohstoffverarbeitenden „Künstler". Andererseits ist aber der eigentliche Modemisierer - wie in den klassischen Utopien - der omnipotente Staat. So ermöglicht er nicht nur den Wissenschaftlern und Gelehrten Studienaufenthalte im Ausland, um sie mit dem letzten Stand des wissenschaftlich-technischen Fortschritts vertraut zu machen. Er kauft auch mit den verbleibenden Gold- und Silberreserven die „Maschinen des Auslandes" und ,,mach[t] sie im Lande nach". Darüber hinaus wirbt er mit diesem Zahlungsmittel „große Köpfe in praktischen Wissenschaften" aus dem Ausland an: „erfindende Chemiker, Physiker, Mechaniker, Künstler und Fabrikanten". Die Regierung macht mit ihnen „einen Vertrag auf Jahre, innerhalb welcher sie ihre Wissenschaft und Kunst in das Land bringen und die Inländer unterrichten" (S. 156f.).
IV. Ist nun auf der T r a n s f o r m a t i o n s e b e n e , so muß abschließend gefragt werden, mit der in Fichtes Vernunftstaat nachgewiesenen Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie die geschichtsphilosophische Wende des Geltungsanspruches nachvollzogen worden? Und wenn dies der Fall ist: Wie läßt sich Fichtes Transformationsstrategie in ihrem Verhältnis zum Geltungsanspruch der Zeitutopien seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakterisieren? Fichte verdeutlicht bereits in der Einleitung zu seiner Schrift, daß er einen klaren Begriff vom Geltungsanspruch der klassischen Utopietradition v o r ihrer geschichtsphilosophischen Umorientierung hat. Ausdrücklich nimmt er die „platonischen Republiken und utopischen Verfassungen" (S. 61) gegen den Vorwurf in Schutz, sie könnten nicht unmittelbar verwirklicht werden. Eine solche Kritik ziele ins Leere, weil deren Urheber bewußt mit ihren Konstrukten „in einer idealen Welt geblieben sind". Sich zu dieser Prämisse ausdrücklich bekennend, paßten „ihre Vorstellungen aufgestelltermaßen nur auf den von ihnen vorausgesetzten und erdichteten Zustand der Dinge, an welchen die allgemeine Regel wie an einem Exempel der Rechenkunst dargestellt wird" (S. 81). Der normative Status, von dem hier die Rede ist, ist der eines Ideals bzw. eines regulativen Prinzips. Von ihm scheint Fichte auszugehen, wenn er in der Widmung seiner Schrift an von Struensee betont, „daß auch dieser Entwurf eine bloße Übung der Schule ohne Erfolg in der wirklichen Welt bleiben möge; ein Glied aus der Kette" des „allmählich auszuführenden Systems" des Verfassers. Mit der Veröffentlichung seines „philosophi-
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sehen Entwurfes" wolle er lediglich Anstöße geben, „über diese Gegenstände tiefer nachzudenken, und vielleicht auf eine oder die andere in der Sphäre, aus der man nun einmal nicht herausgehen wollen wird, nützliche und anwendbare Erfindung" vorzuschlagen. Ausdrücklich schränkt er seine Schrift „auf diese Zwecke" ein (S. 64f.). Bei näherem Hinsehen jedoch wird deutlich, daß Fichtes Konstrukt eines Vernunftstaates weit über diesen eingeschränkten Geltungsanspruch hinausgreift. So bezeichnet er den philosophischen Entwurf des Geschlossenen Handelsstaates als „Probe einer künftig zu liefernden Politik" (S. 59). Er betont, daß die „Regierungswissenschaft" „in der Mitte zwischen dem gegebenen Staat und dem Vernunftstaat" liegt: Sie hat die „stete Linie zu beschreiben, durch welche der erstere sich in den letzteren verwandelt" (S. 69). Wenn es dergestalt die Bestimmung der Wissenschaft ist, „den Vernunftstaat allmählich herbeizuführen" (S. 70), dann müssen wir Fichte so interpretieren, daß die Menschen die Zukunft, die sie für erstrebenswert halten, selbst zu gestalten haben: Von der Natur können sie nicht mehr erwarten „als die Möglichkeit, Kunst anzuwenden" (S. 70). Dies sei auch der Grund, warum selbst der „spekulative Politiker", der im Gegensatz zum „ausübenden Politiker" sich nicht von konkreten Problemlösungen, sondern von allgemeinen Begriffen leiten lasse, niemals „die absolute Unausführbarkeit seiner Vorschläge [...] zugeben oder voraussetzen" könne (S. 62). Wenn aber das Problem, wie die zukünftige Gesellschaft, die wir haben wollen, auf der politischen Tagesordnung steht, kann die Frage von ihr nicht gestrichen werden, durch welche Maßnahmen sie herbeigeführt werden soll. Tatsächlich korreliert Fichtes Konzeption eines „geschlossenen Handelsstaates" - im Gegensatz zur klassischen Utopietradition - explizit mit einer Transformationsstrategie. Wenn man so will, rückt er sie sogar ins Zentrum seines Konstrukts. „Die Insel", schreibt ein Interpret, „die die Utopie trägt, wird nicht erdichtet, nicht entdeckt, sondern durch die politische Tat gebildet".23 Sie hat in Fichtes Vernunftstaat der Zukunft zwei Aufgaben zu erfüllen: Einerseits betont er immer wieder, daß die „genaue Berechnung der verschiedenen Stände der Nation gegeneinander" nur „durch die völlige Schließung des Handels gegen das Ausland" möglich sei (S. 131). Diese systematische Abschottung wird, wie schon gezeigt wurde, nur an einer Stelle durchbrochen: Der Vernunftstaat öffnet sich der internationalen „scientific community", da, wie Fichte schreibt, „die Bereicherung der Wissenschaft durch die vereinigte Kraft des Menschengeschlechts sogar die abgesonderten irdischen Zwecke" seines Geschlossenen Handelsstaates „befördert" (S. 167). Von dieser Konzession, die der Sorge um die Innovationsfähigkeit seines fiktiven Modells geschuldet zu sein scheint, einmal abgesehen, gilt jedoch der eheme Imperativ, daß erst dann, wenn die vollständige wirtschaftliche Autarkie erreicht ist, die
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Freyer, Die politische Insel, (wie Anm. 1), S. 143.
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anvisierten Sollwerte seines Konstrukts verwirklicht werden können, nämlich die Geschlossenheit und Planbarkeit der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse zur Sicherung der materiellen Existenz aller sowie die Garantie der statischen Konfliktfreiheit des gesellschaftlichen Ganzen. Fichte läßt es jedoch nicht bei dieser allgemeinen Forderung bewenden. Er führt auch aus, w i e diese Schließung seines Vernunftstaates nach außen erfolgen soll. Zunächst ist es notwendig, daß a l l e Maßnahmen, die von der Umstellung der auf Gold und Silber beruhenden internationalen Währung auf das durch die tatsächlich geleistete Arbeit der Gesellschaftsmitglieder gedeckte Landesgeld über die „Regulierung des öffentlichen Verkehrs" und die „Festsetzung der Preise" bis hin zur Abnahmegarantie aller produzierten Waren reichen, in „allen ihren Teilen" (S. 147), d.h. als integriertes Ganzes, durchgesetzt werden müssen. Außerdem haben die Währungsumstellung sowie die staatliche Kontrolle des gesamten Aktiv- und Passivhandels mit dem Ausland „mit einem Schlag" (S. 144, 152) zu erfolgen, und zwar ohne die Mitbestimmung und vorherige Information der Bevölkerung. Blieben diese Forderungen unerfüllt, so entstünde „eine Unsicherheit des Eigentums und eine ungeheure Unordnung [...], durch welche das Volk gar bald zur Verzweiflung und zur Empörung gegen die durchaus unrechtliche Regierung gebracht werden würde" (S. 147). Andererseits besteht der zweite Eckpfeiler der Fichteschen Transformationsstrategie darin, daß sich der Vernunftstaat erst dann nach außen abschließen kann, wenn er durch Expansion oder aber durch Verkleinerung seines Territoriums innerhalb sogenannter „natürlicher Grenzen" seine „produktive Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit" zu erreichen vermag (S. 140). Dieses Ziel hofft der Vernunftstaat nicht nur durch „überlegene" Aufrüstung erreichen zu können. Er setzt auch seine verbleibenden Gold- und Silberreserven ein, um zu diesem Zweck so viel „von den Hilfsmitteln und Kräften des Auslandes [...] zu kaufen und zu dingen, daß [...] kein Widerstand geleistet" werden kann (S. 158). Auf diese Weise werde das Ziel der „natürlichen Grenzen" durch eine „Operation" erreicht, die „mehr ein[em] Okkupationszug [...] als ein[em] Krieg" ähnle (S. 159). Zugleich ist Fichte davon überzeugt, daß durch die Existenz von geschlossenen, in ihren sogenannten „natürlichen Grenzen" befindlichen Staaten das System der internationalen Beziehungen insofern umgewälzt werde, als nunmehr jeder angeblich „vernünftige" Kriegsgrund entfalle. Außenpolitisch saturiert, verlieren nun stehende Heere zur Führung eines Eroberungskrieges ihre Existenzberechtigung. Die verbleibenden Truppen dienen lediglich der Erhaltung der inneren Ruhe und Ordnung (S. 163). Vollends deutlich wird aber die Politisierung des Fichteschen Ansatzes dadurch, daß er seine Transformationsstrategie nicht als eine bloße sozialtechnische Handlungsanweisung mißverstanden sehen will. Die zukunftsbezogene Wende des fortgeschrittenen utopischen und kontraktualistischen Denkens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nachvollziehend, geht es ihm vielmehr darum, die Validität seines praxisbezogenen Geltungsanspruchs geschichtsphilosophisch zu untermauern. Die
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Akteure, die den in die Zukunft projizierten Vernunftstaat errichten, sollen die Gewißheit haben, daß sie sich in Übereinstimmung mit den realen Tendenzen der historischen Entwicklung befinden. Zu diesem Zweck konstruiert Fichte ein historisches Szenario, das nur ein einziges Ziel hat: Es soll den Nachweis erbringen, daß in einer Epoche, in der sich Nationalstaaten herausbilden, deren Partizipation am freien Welthandel ein Anachronismus ist, weil es zu einer unerträglichen Spannung zwischen der freien weltoffenen Wirtschaft und den geschlossenen und homogenisierten politischen und rechtlichen Systemen dieser Länder komme. Mit der Bestimmung des historischen Endziels, diese Diskrepanz zu beheben, unterstellt Fichte eine Entwicklungsteleologie, auf deren Folie , jene Systeme, welche Freiheit des Handels fordern" und , jene Ansprüche, in der ganzen bekannten Welt kaufen und Markt halten zu wollen", als Ausfluß „der Denkart unserer Voreltern" erscheinen, „für welche sie paßten" und die wir „uns angewöhnt" haben (S. 118). Umgekehrt bedeutet diese geschichtsphilosophische Option aber auch, daß diejenigen historisch im Recht sind, die die Errichtung des Vemunftstaates mit allen geschilderten Konsequenzen zum politischen Programm erheben.
V. In der vorliegenden Untersuchung, so ist abschließend festzustellen, konnte gezeigt werden, daß Fichtes Entwurf eines Vemunftstaates den Kontraktualismus nicht grundsätzlich aufgegeben hat. Aber er füllte das vertragstheoretische Paradigma mit Inhalten, die ihre Herkunft aus der klassischen Utopietradition nicht leugnen können. In gewisser Weise beginnt Fichtes Kontraktualismus, die Schattenseiten der besitzindividualistischen Marktgesellschaft zu reflektieren und nach Korrektiven zu suchen, die er in der klassischen Utopietradition findet. Diese Adaption hat eine beträchtliche Politisierung des kontraktualistischen Denkens bei Fichte zur Folge: Die Konfliktlage der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts antizipierend, verlieren die natürlichen Rechte der ursprünglich Gleichen und Freien ihren individualistischen Charakter in dem Maße, wie sie zum Garanten des materiellen Existenzminimums der Massen werden, das seinerseits nur mit den Mitteln einer staatlichen Planwirtschaft erreichbar erscheint. Zugleich erhält diese Politisierung dadurch eine zusätzliche Stoßkraft, daß sowohl die kontraktualistischen als auch die utopischen Elemente in Fichtes Konstrukt den Status eines ahistorischen Ideals verlieren. Sie geraten in den Sog des geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenkens und werden in den teleologisch strukturierten Geschichtsprozeß eingebunden. Die Folgen für den Geltungsanspruch des Fichteschen Vemunftstaates sind unausweichlich: Dessen normative Zielvorgaben können erst in der Zukunft im Medium einer geschichtsphilosophisch begründeten Transformationsstrategie vollendet werden. Diese impliziert zugleich, daß die Fortschrittsperspektive zwar vorgegeben,
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ihre Ziele aber nur durch bewußtes Handeln der Menschen selbst verwirklicht werden können. Allerdings darf der Zwiespalt des Fichteschen Entwurfs nicht verschwiegen werden. So innovativ sein Versuch auch war, das kontraktualistische Denken durch die Rezeption utopischer Elemente für die soziale Frage zu öffnen, so wenig hat er sich - selbst in seiner eigenen Zeit - nur eingeschränkt als zukunftsfähig erweisen können. Das Festhalten an der „utopischen Insel", die jene Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie erst ermöglichen soll, mutet sogar wie eine Regression an. Bereits über zwanzig Jahre vor Fichtes Entwurf hatte Mercier im utopischen Diskurs die Weichen in Richtung auf eine aufgeklärte Weltgesellschaft gestellt. In der Tat scheint Fichte nicht - wie die führenden Utopisten seiner Epoche - die Bildung von Nationalstaaten unterlaufen, sondern sie vorantreiben zu wollen. Jedenfalls hebt er lobend hervor, daß mit dem zu gründenden „geschlossenen Handelsstaat" „sehr bald ein hoher Grad der Nationalehre und ein scharf bestimmender Nationalcharakter entstehen werde" (S. 164). Wenn er diese „durchaus neuen Nationen" zugleich mit dem historischen Recht ausstattet, ihre „natürlichen Grenzen" - wie immer sie definiert sein mögen - notfalls mit der Waffe in der Hand zu erzwingen, dann macht er seinen philosophischen Entwurf von einem Geflecht unkontrollierbarer machtpolitischer Kausalitäten abhängig, die quer stehen zu den Errungenschaften sowohl des kontraktualistischen als auch des utopischen Denkens.
HEINZ THOMA (Halle)
Utopie und Erzählen: Rousseaus Nouvelle Héloïse1
ι.
Die Prosafiktion der französischen Aufklärung, insbesondere jene der Spätaufklärung, hat in der Literaturgeschichtsschreibung aus gutem Grund keinen leichten Stand, stört sie doch einen Interpretationsmodus, welcher dem Roman exklusiv die Privatseite menschlichen Verhaltens, in den Worten Hegels die Darstellung der Poesie des Herzens gegen die Prosa der bürgerlichen Verhältnisse, zuschreibt. Man hat der Prosafiktion der Spätaufklärung zum Vorwurf gemacht, sie weiche von einer Generaltendenz zum Realismus ab und füge sich nicht in die Rolle der Vorläuferschaft zu den kanonisierten Texten eines Stendhal, Balzac oder Flaubert.2 Anstößig war, daß in ihren Texten die von Hegel so bezeichnete Antinomie noch nicht bzw. erst im Ansatz entfaltet war und die gesellschaftsmodellierende über die gesellschaftsabbildende Funktion dominierte. Was ex post fremd blieb, war eine metapolitische Funktion der Literatur, die ihr später - in der Epoche der Autonomie der Kunst - so nicht mehr zuerkannt wurde. Verkannt dabei wurde, daß gerade diese Funktion zu den Bedingungen ihrer ersten Autonomie, d.h. ihrer Lösung von der Funktion der Repräsentation und des Divertissement, gehörte, auf die sie am Hof und im Salon zunächst festgeschrieben war.3 Die Prosafiktion der Epoche nimmt die Funktion ,Aufklärung' auf ganz unterschiedliche Weise wahr. So kann sie sowohl staatliche wie gesellschaftliche Belange - getrennt oder zusammen - thematisieren, kann sie die wirtschaftliche Sphäre des Bürgers ebenso metapolitisch besetzen wie die davon derivierte Form der Intimsphäre, an deren relativer Verselbständigung sie gleichzeitig ihren besonderen Anteil hat.4 Diese di1
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Julie, ou la nouvelle Héloïse. Lettres de deux amans, habitans d'une petite ville au pied des Alpes. Recueillies et publiées par J[ean].[-]J[acques], Rousseau [Amsterdam 1761], in: ders., Œuvres complètes. Bd. 2, hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1964 (Bibliothèque de la Pléiade 153), S. 1-793. Vgl. paradigmatisch May, George, Le dilemme du roman au XVIIIe siècle. New Haven/Paris 1963. Im 18. Jahrhundert wird der Roman, wo er von der Kritik überhaupt akzeptiert wird, nicht selten an den vor allem für das Theater geltenden Kriterien der klassizistischen Ästhetik ,unité' und .vraisemblance' - gemessen. Vgl. hierzu Knoke, Ulrich, ,La Nouvelle Héloïse' im Spiegel einer zeitgenössischen Lesergruppe, in: Lendemains 5 (1977), S. 97-118. Zu beachten ist, daß die Trennung von Staat und Gesellschaft in der Aufklärung noch nicht vollzogen ist, so daß von einer eigenständigen Sphäre des Politischen im modernen Sinn noch nicht die Rede sein kann. Vgl. hierzu Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt/Neuwied 161986 ['1962], S. 155.
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versifizierte Funktion kann sie nicht zuletzt deswegen wahrnehmen, weil sie im Literatursystem bisher nur ansatzweise der Kodifizierung unterworfen war.5 So ist auch das Verhältnis von Fiktionalität und Didaktisierung noch offen, kann ein Text von der Fiktion in den Traktat und von diesem in die Fiktion übergehen, wofür etwa Rousseaus Emile als Beispiel stehen kann. So bleibt insgesamt die Prosafiktion der Aufklärung für die Interpretation ein sperriger Gegenstand. Zu ihren hermeneutischen Besonderheiten gehört nicht zuletzt - hierauf hat Jean Starobinski gerade am Beispiel Rousseaus zu Recht hingewiesen - , daß der lexikalische Abstand zwischen der damaligen und der heutigen Begrifflichkeit gering, der semantische Abstand jedoch z.T. sehr groß sein kann.6 Was Koselleck über die Janusköpfigkeit der „geschichtlichen Grundbegriffe" in der Mitte des 18. Jahrhunderts sagen konnte, daß diese rückwärtsgewandt soziale und politische Sachverhalte meinen, die erklärungsbedürftig sind, während sie als vorwärtsgewandte Bedeutungen scheinbar unmittelbare Verständlichkeit gewonnen haben, das gilt nicht nur für den Begriff des Politischen, der im Zusammenhang der Utopieproblematik von Belang ist, sondern, mutatis mutandis, auch für die Schlüsselbegriffe und Schlüsselkonstellationen der Fiktionalisierungen in der Spätaufklärung.7 So scheint uns die Privat- und Intimsphäre des Bürgers, die als solche sich herausbildet und in ihrer literarischen Darstellung die gesellschaftlichen sowie intimen Normvorstellungen des Dritten Standes zeigt, zunächst vertraut. Ihre politische Funktion bzw. Intention, die ihre Darstellung durch die im Ancien Regime nicht vollzogene Trennung von Staat und Gesellschaft gewinnen kann, ist jedoch erklärungsbedürftig.8 In diesem Spannungsfeld haben wir es bei der Prosafiktion der Spätaufklärung im wesentlichen mit zwei Grundtypen normativen, gesellschaftsmodellierenden Erzählens zu tun: Auf der Mikroebene geht es um die Konstruktion bzw. Modellierung von Individualität und individuellem Verhalten. Die hierfür ausgebildete Gattung ist der s
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Vgl. Geißler, Rolf, Romantheorie der Aufklärung. Berlin 1984. Zum noch offenen Literaturbegriff in der Aufklärung vgl. Cristin, Claude, Aux origines de l'histoire littéraire. Grenoble 1973. Starobinski, Jean, Préface de la deuxième édiüon, in: Launay, Michel, Jean-Jacques Rousseau. Ecrivain politique (1712-1762). Genève/Paris 2 1989 [ 1 1971], S. I-V, hier S. IV. Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bde. Stuttgart 1972. Bd. 1, Einleitung S. XIII-XXVII, hier S. XV; vgl. auch Anm. 4 u. 8. Zum politischen Charakter der .Privat'sphäre von Hof und Adel vgl. exemplarisch den Lever des Königs, der einen Intimvorgang als öffentlichen Vorgang inszeniert, oder das Duell, ein Politikum' gegen den Absolutismus, der es zunehmend unterbindet, und gegen den Tiers Etat, der von dieser Form der Konfliktregelung ausgeschlossen bleibt. Die direkte Verzahnung von Staat und Privatsphäre markiert die Lettre de cachet, die als Eingriff von oben erfolgen, aber auch zur Beseitigung einer mißliebigen Person aus der Privatsphäre heraus von der königlichen Verwaltung erbeten werden kann. Vgl. hierzu Farge, Arlette, La vie fragile. Violence, pouvoirs et solidarités à Paris au XVIIP siècle. Paris 1986.
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Conte moral, paradigmatisch realisiert im Werk Marmontels. In diesen Texten werden die Protagonisten in einer Reihe von Prüfungen und Bekehrungen von einem Fehlverhalten abgebracht und zu einem .richtigen' Verhalten erzogen. Behandelt wird jeweils nur ein begrenzter Verhaltenskonflikt, dessen Regulierung nicht notwendig das gesamte Wertesystem in Frage stellt. Dieser in der Epoche äußerst erfolgreiche Erzähltyp hat in der Regel keine explizite, sondern nur mittelbar eine gesamtgesellschafdiche Dimension. Die Verhaltensalternativen werden in der Regel im Namen der Natürlichkeit bzw. der Vernunft begründet, die sich gegen die Unvernunft der Regeln der herrschenden Gesellschaft richten.9 Gleichsam am entgegengesetzten Pol setzen jene Texte an, welche das Ganze der Gesellschaft direkt ins Auge fassen und die Fabel von diesem Punkt her konstruieren. Hierhin gehört etwa Marmontels Bélisaire (1767), ein Staatsroman, der ohne großen erzählerischen Aufwand die mittlere Stimme der Aufklärung - Forderung nach einem aufgeklärten Herrscher, religiöse Toleranz etc. - zur Geltung bringt. Hier ist zu denken an geschichtsphilosophische Fiktionalisierungen wie etwa Voltaires Candide ou l'optimisme oder Diderots Jacques le fataliste et son maître, die ihre jeweiligen pessimistisch-optimistischen bzw. optimistisch-skeptischen Sinnangebote mit hohem form-inhaltlichen Aufwand entfalten.10 Das Beispiel Diderots, der seinen Text mit eingelegten Contes moraux durchsetzt, zeigt, daß eine schematische Klassifizierung nicht genügen kann und man von einer wechselseitigen Durchdringung dieser beiden Typen auszugehen hat. Zwischen ihnen vermitteln Texte, die z.T., was die Normativität angeht, entlasteter erzählen und doch in ihren Fabeln Privatsphäre und Intimsphäre auf das Gesamte der Gesellschaft so beziehen, daß philosophisch-politische Setzungen und Schlußfolgerungen sich aufdrängen.11 Man denke etwa an Diderots Religieuse, die den Gegensatz von Natur und Institution vorführt, an Rétif de la Bretonnes Romane, die den Stadt-Land/Natur-Gegensatz artikulieren, an Laclos' Liaisons dangereuses, welche adliges Kalkül und bürgerliche Tugend in Opposition setzen, an Ber9
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In diesen Kontext kann auch die Problematik des edlen Wilden eintreten und, wie z.B. in Saint-Lamberts Les deux amis iroquois, die moralische Erzählung zur Utopie tendieren lassen. Selten gewinnt der Conte moral eine so hohe Komplexität wie bei Diderot, wo, z.B. in Les deux amis de Bourbonne oder in den Entretiens d'un père avec ses enfants, mit der Thematisierung des Verhältnisses von Ethik und Privateigentum ein einzelner Kasus unvermittelt gesamtgesellschaftliche Dimension gewinnt Die antithetisch entfaltete, erzählerische Widerlegung des Leibniz-Wolffschen Optimismus durch Voltaire läuft über eine Verweigerung der Utopie (Eldorado) im Namen einer bejahten sozialen Differenz und mündet in die Absage philosophischer Weltdeutung zugunsten der Entfaltung der materiellen Produktion in einem Garten Eden in unternehmerischer Absicht. Diderots Text entwickelt statt einer Utopie zunächst eine Geschichtsprophetie, die in der Vertragsszene - .Jacques mène son maître" - ihren Höhepunkt findet, baut jedoch die Überlegenheit des dem Fatalismus vertrauenden Dieners in der zweiten Hälfte deutlich ab. Vgl. hierzu ausführlich Thoma, Heinz, Philosophie - Anthropologie - Erzählen. Der Roman als Instrument der Selbstaufklärung der Aufklärung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 20 (1997), Heft 1. Literatur tritt gleichsam in die Funktion einer fehlenden Öffentlichkeit.
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nardin de Saint-Pierres Paul et Virginie, wo die natürliche Harmonie der Insel der Zivilisation Frankreichs kontrastiert wird, deren in die Insel hineinwirkende Regeln die spontane Liebe sozial ungleicher Protagonisten zerstört, schließlich an das Romanwerk Sades, das gewissermaßen den bürgerlichen Conte moral parodiert. Die Utopie - eine der erfolgreichsten Gattungen des 18. Jahrhunderts - gehört als , joman politique", so die geläufigste Gattungsbezeichnung in der Epoche, zunächst zu jenem Texttyp, der das Ganze der Gesellschaft normativ ins Auge faßt.12 Wo sie die Privatsphäre behandelt, reduziert sie diese im wesentlichen auf die elementaren Grunddaten der Produktion und Reproduktion. Eine hiervon abgelöste und ausdifferenzierte Intimsphäre im eigentlichen Sinn kennt die Utopie nicht. Folgt man der Definition eines der Spezialisten des Genres, nach der eine Utopie jeder Text sei, der von der historisch gegebenen Wirklichkeit der Gesellschaft seiner Zeit dieser in kritischer Absicht das Bild einer als vollkommen gedachten, in der Wirklichkeit nicht existierenden Gesellschaftskonstruktion entgegenstelle, so scheint die Nouvelle Héloïse, die hier näher betrachtet werden soll, sich weder umstandslos in diese Definition zu fügen noch unter eine der Untergattungen subsumiert werden zu können.13 Geht man jedoch von der Selbstverständlichkeit aus, daß es nicht nur utopische Texte, sondern auch utopische Funktionen in Texten gibt, so läßt sich, wie zu zeigen sein wird, die Nouvelle Héloïse als spezifische Form normativen Erzählens mit utopischer Grundtendenz beschreiben.14 Auch die Wahl des Briefromans, der im 18. Jahrhundert eines der bevorzugten Muster der Authentizitätsverbürgung des Erzählten darstellt,15 muß nicht als antiutopisches Signal verstanden werden, mahnt doch ein raffiniert inszenierter Discours préfaciel sowie eine z.T. subtile Kommentierung durch die Fußnoten des .Herausgebers' der Briefe an, nicht der Mimesis von Wirklichkeit zu erliegen und den Text als didaktisches Exempel zu verstehen.
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Vgl. Funke, Hans-Günter, Utopierezeption und Utopiekritik in literarischen Zeitschriften der französischen Spätaufklärung (1750-1789), in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 7 (1983), Heft 1/2, S. 89-112, hier S. 89. Idealstaatsentwurf, Reiseutopie, pseudohistorischer Reise- und Bildungsroman, Verfassungsund Reformplan, Zeitutopie, utopisches Drama sind nach Funke die Untergattungen der Utopie. Vgl. Funke, Hans-Günter, Die Utopie der französischen Aufklärung: Formen, Themen und Funktionen einer literarischen Gattung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 12 (1988), Heft 1/2, S. 40-61, hier S. 43. Diesem Sachverhalt trägt Funke selbst Rechnung, wenn er Diderots Supplément au voyage de Bougainville als Beispiel für eine Utopie anführt (ebd., S. 54f.), ist Tahiti doch ein realer Ort, wenngleich in utopischer Funktion. Neben der Authentizitätsverbürgung sind Briefromane auch das Gattungsmuster für die Darstellung der Empfindsamkeit, sind Briefe Behälter für die „Ergießung des Herzens", .Abdruck der Seele", „Seelenbesuch" (Geliert) usw. Dieser Aspekt der Nouvelle Héloïse muß hier außer Betracht bleiben. Vgl. Stackelberg, Jürgen v., Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), Heft 3, S. 293-306, hier S. 294; zum Briefroman insgesamt vgl. Picard, Hans Rudolf, Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1971.
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Eine Lesart des Romans als utopischer Text ließe sich auch auf die in der Forschung vorgebrachte These stützen, daß im 18. Jahrhundert eine Ablösung der Stadtutopie durch die Naturutopie stattfinde, sich die seit der Antike topische Alternative Natur oder Zivilisation in einen Stadt-Land-Gegensatz verschärfe, wobei die Naturutopie sich in dezentralen Lebensformen auf Kleinstterritorien mit der Familie als der Kernzone realisiere.16 Folgte man dieser These, die sich u.a. deswegen auf die Nouvelle Héloïse zu stützen vermag, weil hier dem negativen Gegenbild Paris das ideale ländliche Gemeinwesen der Insel Ciarens kontrastiert wird, so wäre dieser Roman kein Beweisstück für eine Politisierung des Utopischen, wie sie der Titel dieses Bandes als Entwicklungstendenz annimmt, sondern für dessen Entpolitisierung bzw. für die Verlagerung des Utopieentwurfs in die Privatsphäre.17 Diese Hypothese wird anhand der Einbettung des Romans in den Werkkontext zu überprüfen sein. Der Werkkontext der Rousseauschen Hauptschriften gibt Anlaß, die Nouvelle Héloïse nicht als Abirrung oder zeitweiligen Ausflug Rousseaus in ein zunehmend erfolgreiches Genre zu betrachten, sondern den Roman im Spannungsfeld von Vertragsdenken und Utopie anzusiedeln, welches das Rousseausche Denken grundsätzlich auszeichnet.18 So haben wir den Sachverhalt, daß, von den Haupttexten her gesehen, die Nouvelle Héloïse (1761) die Problematik der beiden Discours - zwei Preisfragen über den Zusammenhang von Zivilisations- und Menschheitsfortschritt sowie über den Ursprung der Ungleichheit - aufnimmt und fortschreibt.19 Zugleich ist der Roman in etwa zeitgleich mit dem Contrat social (1762) und dem Emile (1762) konzipiert bzw. publiziert In Frage steht also die spezifische Funktion und Leistung des narrativen Textes im Kontext der Gesellschaftsauffassungen Rousseaus.
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Garber, Jöm, Von der urbanistischen Großutopie zur naturalen Kleinutopie, in: Gaßner, Hubertus/Kopanski, Karlheinz/Stengel, Karin (Hg.), Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utopie in den 20er Jahren. Marburg 1992 (Schriftenreihe des documenta Archivs 1), S. 13-30. Im Verhältnis zum zweiten Discours und zum Contrat social. Zu den zwei Linien normativer Gesellschaftskonstitution vgl. grundsätzlich: Saage, Richard, Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1989. Discours qui a remporté le prix à l'Académie de Dijon. En l'année 1750. Sur cette Question proposée par la même Académie: Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs. Par un Citoyen de Genève [Genf 1750], in: Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres complètes. Bd. 3, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond u.a. Paris 1964 (Bibliothèque de la Pléiade 169), S. 1-30. - Discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les hommes. Par Jean Jacques Rousseau, citoyen de Genève [Amsterdam 1755], in: ders., Œuvres complètes. Bd. 3, S. 109-223.
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Rousseau hatte in seinen beiden Discours eine skeptische Geschichtsphilosophie entworfen, in der die Entwicklungen des kulturellen bzw. zivilisatorischen Fortschritts als gleichviele Verlusterfahrungen verzeichnet werden und die Perfektion der Individuen mit dem Verfall der menschlichen Gattung zusammenfällt.20 Nach Rousseau transformiert der Kultur- bzw. Zivilisationsfortschritt und die damit verbundene ungehemmte Entwicklung des Eigentums die legitime Selbstliebe (amour de soi-même) zur illegitimen Eigenliebe (amour-propre) und erstickt jene im Naturzustand noch vorhandene Anlage zum Mitgefühl (pitié, commisération), die zur Kohäsion von Gemeinschaft/Gesellschaft unabdingbar ist.21 Resultat ist zunächst ein geschichtsphilosophischer Pessimismus, aus dem sich allenfalls ein Ausweg über eine neue politische Verfassung abzuzeichnen scheint, die dann eine „institution légitime" hervorbringen soll. Nach den Andeutungen des zweiten Discours hätte man als nächsten gedanklichen Schritt Rousseaus eine große politische Schrift, den Contrat social also, erwarten müssen. Erstaunlich ist nun, daß Rousseau zunächst mit der Nouvelle Héloïse einen Erzähltext verfaßt, der trotz seiner zahlreichen Digressionen und traktatähnlichen Briefsequenzen in der Hauptsache der Handlung die Privatseite menschlichen Verhaltens auslotet. Betrachtet wird der Roman unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt seiner utopischen Implikationen.22 Er entwickelt sich von der Handlungsstruktur her in zwei großen Abteilungen. Im ersten Teil der Handlung verführt der Hauslehrer Saint-Preux mit allen Mitteln der Rhetorik seine durch ihren Mangel an Standesvorurteil resistenzschwache Schülerin Julie d'Etanges. Als die Mesalliance ruchbar wird, muß Saint-Preux das Haus verlassen. Dieser erste Teil läßt sich vom Handlungsmuster her als Verkehrung des empfindsamen Romans nach dem Vorbild Richardsons lesen. Der Verführer ist bürgerlich und nicht adlig. Vom sozialen Gefälle her gesehen werden die von Marivaux' Paysan parvenu bis zu Beaumarchais' Le mariage de Figaro gängigen Stereotypen der Vorurteilskritik, hier am Beispiel der Liebe, durchexerziert und 20
„Les anciens Politiques partaient sans cesse de mœurs et de vertu; les nôtres ne parlent que de commerce et d'argent." (erster Discours, wie Anm. 19, S. 19) - „Nous avons des Physiciens, des Géomètres, des Chymistes, des Astronomes, des Poëtes, des Musiciens, des Peintres; nous n'avons plus de citoyens;" (ebd., S. 26) - „[...] tous les progrès ultérieurs ont été en apparence autant de pas vers la perfection de l'individu, et en effet vers la décrépitude de l'espèce." (zweiter Discours, wie Anm. 19, S. 171).
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Vgl. hierzu Fetscher, Iring, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Frankfurt/M. 7 1993 ['1960]. Zu den grundlegenden Arbeiten vgl. Launay, (wie Anm. 6); Mornet, Daniel, JM Nouvelle Héloïse' de Jean-Jacques Rousseau. Etude et analyse. Paris 1929; Lecercle, Jean-Louis, Rousseau et l'art du roman. Genf 1979 [Nachdruck der Ausgabe Paris 1969]; Starobinski, Jean, Jean-Jacques Rousseau. La Transparence et l'obstacle. Paris 1971; zum Problem des Utopischen vgl. u.a. Trousson, Raymond, Rousseau et les mécanismes de l'utopie, in: Romanische Forschungen 83 (1971), S. 267-287.
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scheinbar bekämpft. Wo die Menschen von Natur aus gleich sein sollen und nicht Geburt, sondern Verdienst zählt, da darf auch die Liebe keinen Unterschied kennen, so die Oberflächenbotschaft des ersten Teils. Im Namen der Natur und der intersubjektiven, affektiven wie gedanklichen Harmonie scheint Rousseau hier ein neues, wenn man so will, bürgerliches Liebesideal zu feiern. Es basiert auf der Exklusivität zweier Seelen, die nur sich kennen, nur aufeinander bezogen sind und auf die die Gesellschaft keine Rechte beanspruchen und keinen Anspruch erheben kann.23 Damit wäre eine naturrechtliche Begründung ins Recht gesetzt, die in anderen Texten der Aufklärungsliteratur ausgereicht hätte, um auch den starrsinnigen, vorurteilsbeladenen Vater Julies zu überzeugen und ein happy end zu ermöglichen. Zwei Dinge sind indes festzuhalten. Der Romantyp - adliger, mit Kalkül operierender Verführer versus empfindsame bürgerliche Tugend - wird einer entscheidenden Variation unterzogen. Der bürgerliche Verführer legitimiert seine Leidenschaft und seine Liebe gegenüber dem adligen, aber schon überständisch fühlenden ,Opfer' im Namen der Natur und der Gleichheit.24 Wichtiger noch ist, daß die Liebe zwischen Saint-Preux und Julie nicht nur als symbolische Interaktion eines naturrechtlichen Anspruchs inszeniert ist, sondern zugleich und von vornherein auch als physisches Begehren markiert wird, das letztlich beide Protagonisten auszeichnet - Julie ist aktiver, als es die zeitgenössischen Konventionen zugestehen - , und daß sie beider Leidenschaft dahin treibt, sich a-gesellschaftlich zu verhalten. Der aufklärerische Stachel, der im Aufzeigen des Vorurteils des Vaters von Julie liegt, tritt zurück hinter das grundsätzlichere Problem idealen gesellschaftlichen Verhal25
tens. Die leidenschaftliche Liebe wurde bereits im zweiten Discours als schädliches Resultat des Zivilisationsprozesses begriffen.26 Dort hieß es noch allgemein: Le Physique est ce désir général qui porte un séxe à s'unir à l'autre; Le moral est ce qui détermine ce désir et le fixe sur un seul objet exclusivement, ou qui du moins lui donne pour cet objet préféré un plus grand dégré d'énergie. Or il est facile de voir que le moral de l'amour est un sentiment factice; né de l'usage de la société [...]27
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Vgl. z.B. 1. Teil, Brief XXIII, S. 83: „Que ne puis-je ici rassembler toute mon ame en toi seule, et devenir à mon tour l'univers pour toi!" - Zum Problem der historischen Formen der Liebe vgl. Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982. „[...] la voix de la nature est la plus forte." (1. Teil, Brief X, S. 53) - „Sans toi, Beauté fatale! je n'aurois jamais senti ce contraste insupportable de grandeur au fond de mon ame et de bassesse dans ma fortune:" (1. Teil, Brief XXVI, S. 89). Deswegen wird Saint-Preux vom Vater Julies nicht nur aus Standesvorurteil, sondern auch aus einer sozialen Verpflichtung Wolmar gegenüber abgewiesen, was die Vorurteilskritik abschwächt. „[...] passion terrible qui [...] dans ses fureurs semble propre à détruire le Genre-humain qu'elle est destinée à conserver." (zweiter Discours, wie Anm. 19, S. 157). Ebd., S. 157f.
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Im Roman wird diese Argumentation im zentralen Handlungsstrang so konkretisiert, daß der „usage de la société", d.h. die Verhinderung der Verbindung durch gesellschaftliche Regeln, die Leidenschaft noch steigert, wodurch diese Regeln selbst kritisiert, aber auch der Egoismus der Regelverletzung zugleich als gemeinschaftsschädlich verworfen werden kann. Der heimlich steuernde normative Gegenentwurf ist also der Naturzustand aus dem zweiten Discours, in dem die physische Liebe keine Objektprivilegierung und damit auch keinen Eigentumsvorbehalt kennt. Auf eine bestimmte Weise ist die Nouvelle Héloïse die narrative Reformulierung der Problematik des zweiten Discours bzw. der Versuch, den dort formulierten Idealzustand in der Gegenwart lebensweltlich zu fundieren.28 Aufgabe und Dilemma des Romans wird folgerichtig darin bestehen, aus der Aporie, daß der Naturzustand nicht mehr hergestellt werden kann, einen Ausweg zu zeigen, der dem Ideal des Naturzustands möglichst nahekommt, und damit zugleich den Verzicht auf die Liebe zu rechtfertigen. Hier liegt die tiefere Berechtigung, den Text als Form der Utopie zu begreifen. Auf der konkreten Ebene der Romanhandlung bedeutet dies, daß die beiden Protagonisten nicht nur von ihrem Begehren, sondern auch von der Exklusivität ihrer Liebe geheilt werden müssen. Hier beginnt nun der zweite, weit umfangreichere Teil der Geschichte: die Läuterung und Sublimierung des Triebs bzw. die Notwendigkeit der Unterordnung des in der Liebe sich am deutlichsten artikulierenden individuellen Begehrens unter die Gemeinschaft. Julie geht im Verzicht voran und folgt der ebenfalls als natürlich gesetzten Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Familie. Hier konkurrieren zwei Naturkonzeptionen, die sich widersprechen und nicht versöhnen lassen. Berief sich Julie nach dem Streit mit dem Vater, der ihr die Verbindung mit Saint-Preux verweigert, noch auf die Natur als Instanz gegen das Vorurteil - „[...] quels monstres d'enfer sont ces préjugés, qui dépravent les meilleurs cœurs, et font taire à chaque instant la nature?"29 - , wobei das Vorurteil den Vater die .natürliche' Liebe zur Tochter verletzen läßt, so heißt es nach dem Verzicht Julies: [...] j'élevai vers le ciel mes mains suppliantes, j'invoquai l'Etre dont il est le trône et qui soutient ou détruit quand il lui plait par nos propres forces la liberté qu'il nous donne. Je veux, lui dis-je, le bien que tu veux, et dont toi seul es la source. Je veux aimer l'époux que tu m'as donné. Je veux être fidele, parce que c'est le premier devoir qui lie la famille et toute la société. [...] Je veux tout ce qui se rapporte à l'ordre de la nature que tu as établi, et aux regles de la raison que je tiens de toi.30
Auch hier zeichnet der zweite Discours die Linie vor. Die dortige Idealsetzung der Familie und deren reziproker Pflichten galt nur, solange allein wechselseitige Zuneigung und Freiheit (l'attachement réciproque et la liberté) und nicht das Eigèn28
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„L'imagination, qui fait tant de ravages parmi nous, ne parle point à des coeurs Sauvages; chacun attend paisiblement l'impulsion de la Nature, s'y livre sans choix avec plus de plaisir que de fureur, et le besoin satisfait, tout le désir est éteint." (ebd., S. 158). 1. Teil, Brief LXIII, S. 177. 3. Teil, Brief XVIII, S. 356f.
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tum die Grundlage der Familienbeziehung waren. Im Roman zeigt das iterative , je veux", daß diese Idealsetzung nicht umstandslos in die Gegenwart übertragen werden kann, daß die Utopie von Ciarens einen Preis hat, der auf Kosten der Individualität geht. Wo im zweiten Discours die Religion in der Hauptsache dazu dient, im Rahmen der Erörterung des Gesellschaftsvertrags die Macht des Souveräns zu legitimieren,32 da muß sie im Roman auf der subjektiven Ebene den Verzicht auf die Entfaltung des gemeinschaftsschädlichen Egoismus garantieren und dieses Opfer mit Sinn versehen. Julie heiratet den Baron Wolmar, dem sie ihr Vater aus Verpflichtung versprochen hatte.33 Wolmar weiß um die frühere Verbindung seiner Frau mit Saint-Preux und will diesen gleichwohl als künftigen Lehrer der beiden mit Julie gezeugten Kinder in sein Haus holen. Zeigt bereits das Grundmuster der Handlung des Liebesromans Verwandtschaft mit dem Denkmuster der Utopie, indem sie die Individualität einer höheren Vernunft unterordnet,34 so um so mehr noch das von SaintPreux beschriebene System der Hauswirtschaft von Ciarens, wo der rational planende Adlige und Atheist Wolmar und die nun tugendbeseelte, zunehmend religiöse Julie über eine Mikrogesellschaft regieren, die zugleich als Vorbild für die „société civile" in ihrer Ganzheit dienen soll.35 In Ciarens herrscht das Gesetz der wirtschaftlichen Autarkie, der Handel ist auf ein Minimum und als solcher weitgehend auf Naturalientausch beschränkt. Man schätzt die einfache und funktionale Schönheit. Gegen den Luxus steht nicht die Askese, sondern ein ausgewogener Wohlstand.36 Ein System wechselseitiger Kontrolle, die Trennung der Geschlechter bei den Bediensteten sowie eine austarierte und wohldosierte Kombination von Arbeit, Gebet, Gesang und Vergnügen halten das Gemeinwesen intakt und sichern die Herrschaftsbeziehungen zu den Untergebenen. Wer sich nicht einfügt, wird ausgeschlossen. Indes trägt Ciarens die Widerspruchszeichen einer zwar realistisch intendierten und doch deutlich normativen Vision. Dies verrät etwa implizit der Sachverhalt, daß für die Dienerschaft die Zeitökonomie gilt.37 Dies wird jedoch besonders da deutlich, wo Saint-Preux das gemeinsam von Herrschaft und Dienern begangene
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„[...] l'habitude de vivre ensemble fit naître les plus doux sentimens qui soient connus des hommes, l'amour conjugal et l'amour Paternel." (zweiter Discours, wie Anm. 19, S. 168). Dort wird sie vor allem in ihrer stabilisierenden politischen Funktion im Rahmen der Kontrakt-Theorie gewürdigt (ebd., S. 186). Dies macht das Verhältnis der wechselseitigen Determinationen des Handelns komplexer. Vgl. Saage, (wie Anm. 18), S. 7. „C'est une grande erreur dans l'économie domestique ainsi que dans la civile de vouloir combatte un vice par un autre ou former entre eux une sorte d'équilibre, comme si ce qui sape les fondemens de l'ordre pouvoit jamais servir à l'établir!" (4. Teil, Brief X, S. 461). „Tout y est agréable et riant; tout y respire l'abondance et la propreté, rien n'y sent la richesse et le luxe." (ebd., S. 441). „L'attention qu'on a de ne pas faire courir en vain les ouvriers [...] les accoutume à sentir le prix du tems." (ebd., S. 468f.).
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Fest der Weinlese als Verwirklichung der Gleichheit und als Etablierung der natürlichen Ordnung beschreibt: Ces saturnales sont bien plus agréables et plus sages que celles des Romains. Le renversement qu'ils affectoient étoit trop vain pour instruire le maitre ni l'esclave: mais la douce égalité qui regne ici rétablit l'ordre de la nature, forme une instruction pour les uns, une consolation pour les autres et un lien d'amitié pour tous.38
Der Vergleich mit den Saturnalien legt offen, daß der hier evozierte Naturzustand der Gleichheit einen Ausnahmezustand darstellt. Rousseau unterstreicht dies in der angefügten Fußnote, wo vom „état de fête" die Rede ist, der es zeitweilig erlaube, die ständische Hierarchie zu überschreiten. Privilegiert, diesen Ausnahmezustand herbeizuführen, sind nach Rousseau die „états moyens" als der glücklichste und mit dem „meilleur sens" begabteste Stand. Clarens muß unabhängig von der sozialen Herkunft seiner Akteure als soziale Vision dieser „états moyens" verstanden werden.39 Indiziert also der Hinweis auf das Fest, daß selbst die machtgestützte Utopie von Clarens eines Ausnahmezustands bedarf, um die Zeichen der „société civile", die sie trägt, wenigstens zeitweilig zu löschen, so zeigen auch Charakter und Schicksal der Hauptpersonen die Gefährdung des utopischen Entwurfs. Alle drei Protagonisten sollen auf ein gemeinsames anthropologisches Mittel hin ausgemendelt werden, auf jene Einheit von Vernunft, Tugend und Gefühl, die geeignet sein kann, die Utopie in die (fiktive) Wirklichkeit hineinzuholen. Ziel ist die Nivellierung der Charaktere und damit auch die Auflösung von Intimität in Sozialität. Hierzu haben sich die Akteure der störenden sozial-affektiven Merkmale ihres Handelns zu entledigen bzw. innerhalb der hierarchischen Ordnung auch für sich jene „concorde entre les égaux" herzustellen, derer das ideale Gemeinwesen zu seinem herrschaftstechnischen Funktionieren bedarf.40 Julie scheint hierbei mit ihrer Unterordnung den Lernprozeß bereits abgeschlossen zu haben; Saint-Preux ist von seinem Egoismus zu heilen; Wolmar, der in seiner Biographie alle Stände durchlaufen hat und eine Art transsozialen Übervater darstellt,41 ist nur noch von seiner exklusiven Vernunftsteuerung abzubringen und für die Empfindsamkeit einer natürlichen Religiosität zu gewinnen.
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5. Teil, Brief VII, S. 608. Es ist den Fiktionalisierungen der Aufklärung durchaus geläufig, die bürgerlichen Werte an Adligen vorzuexerzieren. Vgl. etwa den adligen Kaufmann in Sedaines Le philosophe sans le savoir (1765). 4. Teil, Brief X, S. 460. Vgl. 4. Teil, Brief XII zur Darstellung seiner Lebensgeschichte gegenüber Julie und SaintPreux, die er mit „mes enfans" eröffnet (S. 490). Zu seinem Atheismus vgl. 5. Teil, Brief V, S. 587ff.
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Zunächst hat Saint-Preux den Triebverzicht zu lernen.42 Statt um physische Entmannung, wie im literarischen Vorbild, geht es hier um die Sublimiening der leidenschaftlichen Liebe zur Freundschaft, penmanentes Thema des Romans und Idealqualität unter den zwischenmenschlichen Beziehungen.43 Auch bei der Domestizierung von Saint-Preux spielt zunächst das Konzept .Natur' wieder eine entscheidende Rolle. Gleich bei seiner Ankunft in Ciarens führt Julie Saint-Preux an ihren Lieblingsort, einen Garten nach englischem Vorbild, von ihrer Hand veredelt und doch dem Betrachter als Natur erscheinend. In diesem veredelten Garten soll Saint-Preux, wie zuvor Julie selbst, die Erinnerung an den „bosquet" vernichten, jenes wilde Stück Natur, das zum Treffpunkt und Zeichen ihrer Liebe bzw. ihrer ungezügelten Natur geworden war. Der Name dieses als „azile" bezeichneten Ortes, ,.Elisée",44 evoziert nach dem Mythos das Land der Seligen, am Westrand der Erde, wohin auserwählte Helden versetzt werden, ohne den Tod erleiden zu müssen. Der Garten ist so nicht nur durch seine Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit gleichsam ein Stück utopischen Gegenbilds, er wirft auch indirekt einen Schatten auf Clarens und scheint noch besser als dieses den Traum vom Naturzustand zu verkörpern. Er ist Gegenort zur Gesellschaft und durch seinen Namen - auch Chiffre für den erhofften Stillstand der Geschichte.45 Setzt man voraus, Saint-Preux würde die Botschaft des Gartens und die Regularien des idyllischen Gemeinwesens internalisieren, wäre er nicht nur, wie vorgesehen, der ideale Erzieher von Julies Kindern, sondern zugleich eines idealen künftigen Menschengeschlechts. Die Leidenschaft läßt sich indes nicht völlig stillstellen. In Abwesenheit Wolmars führt Saint-Preux Julie im Anschluß an einen nicht ungefährlichen Bootsausflug an den Ort seines ersten Liebesexils in der Nähe des Genfer Sees. An diesem „lieu solitaire" erinnert er sie an ihre gemeinsame Liebe. Julie weist ihn, wenn auch nicht mit der erforderlichen Gelassenheit, zurück.46 Er wünscht ihren Tod, da dieser leichter zu ertragen sei als ihre Gegenwart, und erwägt bei der Rückfahrt, sie mit sich in den See zu stürzen. Mit einem gewissen Verzögerungseffekt erfüllen sich diese Vorausdeutungen, und Julie, Idealgestalt und doch permanenter Anstoß 42
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Zur Funktion der Sexualunterdrückung bei Rousseau vgl. u.a. Knapp-Tepperberg, Eva-Maria, Rousseaus ,Emile ou de l'Education'. Sexualauffassung und Bild der Frau, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 2 (1978), Heft 2/3, S. 199-223. Vgl. die Freundschaft von Julies Vater und Wolmar, von Ciaire und Julie, von Saint-Preux und Lord Bomston, schließlich von Wolmar und Saint-Preux. 4. Teil, Brief XI, S. 475 u. 486. Vgl. zur Funktion des Gegenbilds: „Que d'agréables pensées j'espérois porter dans ce lieu solitaire où le doux aspect de la seule nature devoit chasser de mon souvenir tout cet ordre social et factice qui m'a rendu si malheureux!" (4. Teil, Brief XI, S. 486) - Zu den Paradoxa von Rousseaus Denken gehört, daß er wie kein anderer die Geschichte als dialektischen Prozeß betrachtet und doch zu einer konservativen Utopie drängt, welche die Geschichte gleichsam zur Ruhe bringen soll. „[...] allons-nous en, mon ami, me dit-elle, d'une voix émue; l'air de ce lieu n'est pas bon pour moi." (4. Teil, Brief XVII, S. 519f.).
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zur Leidenschaft, wird am Ende der Handlung erzählerisch entfernt. Bei der versuchten Rettung eines ihrer in eben jenen Genfer See gestürzten Kinder, der Ausgangspunkt der erneuten Versuchung war, nimmt sie derart Schaden, daß sie daran stirbt. Daß auch Julie selbst erst mit dem Tod die Ruhe vor der zerstörerischen Kraft der Liebe finden kann, signalisiert nicht nur ihr nasses Taschentuch nach SaintPreux' erneutem Liebesgeständnis, sondern wird auch in jenen Passagen offenbar gemacht, wo sie - Saint-Preux hat sich inzwischen wieder entfernt - ihr Glück beschwört und ihre Unzufriedenheit eingesteht,47 wo sie mystisch-religiösen Anflügen zwar nicht erliegt, aber von ihnen versucht wird. Die Tugend, von Saint-Preux als niemals abgegoltener „état de guerre" bezeichnet,48 verlangt auch von ihr ihren Preis. Rousseau notiert als Anmerkung: „Quoi Julie! aussi des contradictions! Ah! je crains bien, charmante dévote, que vous ne soyez pas, non plus, trop d'accord avec vous-même!"49 Erst der faktisch zufällige, in letzter Instanz aber symbolisch notwendige Tod Julies befreit Saint-Preux und Julie definitiv von der Leidenschaft, er erst öffnet den bisher nur vernünftigen Wolmar für ein religiöses Gefühl. Allgemeiner gesprochen, bedeutet auf der symbolischen Ebene erst die Elimination der Frau zugleich die Ausschaltung der Liebe als eines in letzter Instanz gemeinschaftszerstörenden Vorgangs und damit den Primat der (Männer)Freundschaft als eine störungsfreie Form der zwischenmenschlichen Beziehung. Ob dieser letzte Aspekt die eigentliche Intention des Textes bezeichnet, wozu nicht nur die Handlungsführung zu berechtigen scheint,50 oder ob man in einer allgemeineren Sicht darauf beharren sollte, daß mit dem Tod Julies, die ja am besten die Einheit von Vernunft, Tugend und Gefühl verkörperte, zugleich die Paradoxic des utopischen Modells einer Idealgesellschaft auf historisch konkretem Boden ein tragisches Ende nimmt bzw. nehmen soll, diese Fragen führen noch einmal zurück zur Ausgangsproblematik der Funktion des Romans im Kontext der Hauptschriften des uns interessierenden Zeitraums.
III. Die Ambivalenz Rousseaus gegenüber der Gattung Roman und deren möglichem sittenverderbenden Einfluß ist hinlänglich bekannt und dokumentiert. Ebenso topisch sind die Hinweise auf den lebensgeschichtlichen Auslöser des Romans, Rous47
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, Je ne vois par tout que sujets de contentement, et je ne suis pas contente." (6. Teil, Brief Vili, S. 694). 6. Teil, Brief VII, S. 682. 6. Teil, Brief VIII, S. 694. Insbesondere der oben zitierte distanzierte Kommentar zu Julies Selbstdeutung.
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seau s unerfüllt bleibende Liebesaffaire mit Mme d'Houdetot, die ihn seine Abneigung dem Genre gegenüber habe überwinden lassen.51 Unsere Analyse sollte zeigen, daß der Text auch im ersten Teil der Handlung weit über den lebensgeschichtlichen Anlaß hinausreicht und im Medium eines Liebesromans eine Verhaltenslehre entwickelt, die in Verbindung mit der Darstellung des Gemeinwesens von Ciarens zugleich die Grundproblematik der Rousseauschen Gesellschaftstheorie entfaltet. Von den beiden theoretischen Discours her gesehen, hätten wir es mit dem Versuch einer narrativen Reformuliemng bzw. dem Versuch der Auflösung ihrer philosophischen Begründungsparadoxien zu tun. Die auf der staatlich-gesellschaftlichen Ebene geführte Polemik gegen den Luxus aus dem ersten Discours52 wird übergeführt in die positive und zugleich utopische Vision gelebter Einfachheit im Haushalt Wolmar. Die im zweiten Discours eröffnete utopienahe gesellschaftlich-politische Vision eines Mikroverbundes sich wechselseitig kontrollierender, relativ eigentumsindifferenter Staatsbürger53 wird in den scheinbar herrschaftsfreien Raum der Mikrogesellschaft von Ciarens transformiert, an der getestet werden soll, ob unter Bedingungen, die denen der zeitgenössischen Gesellschaft nahekommen, diese Utopie tragfahig ist.54 Aus dieser Sicht handelte es sich, wie oben erörtert, zunächst um eine Form der familialen Naturutopie, also um eine Entpolitisierung des Utopischen mindest insofern, als die Protagonisten zwar gelegentlich über Politik als Regierungskunst räsonnieren, Ciarens als familiale Gemeinschaft sich jedoch selbst genügt. Relativierend ist anzufügen, daß, wie schon angedeutet, im Ancien Régime die enge Verzahnung des Staates und der Kirche mit der sozialen Sphäre jede Erörterung eines sozialen oder weltanschaulichen Problems - direkter als in der vollzogenen Moderne - zur politischen Erörterung tendieren läßt, so etwa bei der in den Ausgangskonflikt des Romans eingezogenen Vorurteilsproblematik. Unter diesem Vorbehalt bleibt gleichwohl der Sachverhalt bestehen, daß die Nouvelle Héloïse gegenüber dem zweiten Discours eine deutliche Verlagerung hin zur Privat- und Intimsphäre darstellt. Ihr Konflikt entsteht zwar aus der „société civile" in ihrer doppelten, feudalen und bürgerlichen, Bestimmtheit, gefaßt im Standesvorurteil und, vermittelter, in der „passion" des Roturiers Saint-Preux. Die Konfliktlösung wird jedoch in einem staatsfreien wirtschaftlichen Raum gesucht, der zugleich ein soziales und intimes Verhalten garantieren soll, das die bisherigen De-
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Vgl. hierzu Lecercle, Rousseau et l'art du roman, (wie Anm. 22). Erster Discours, (wie Anm. 19), S. 19f. „Si j'avois eu à choisir le lieu de ma naissance, j'aurois choisi une société d'une grandeur bornée par l'étendue des facultés humaines, c'est-à-dire par la possibilité d'être bien gouvernée, [...] un Etat où [...] cette douce habitude de se voir et de se connoître fît de l'amour de la Patrie l'amour des Citoyens plutôt que celui de la terre." (zweiter Discours, wie Anm. 19, S. 111 f.). Daß hierfür der Raum der Schweiz und nicht Frankreich genommen wird, gehört zum realistischen Kolorit des Textes, ändert aber nichts am grundsätzlich utopischen Charakter der Konstruktion.
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terminationen der „société civile" außer Kraft setzt. Damit ist die Utopie von Ciarens im Verhältnis zum zweiten Discours nur mittelbar politisch.55 Wechselt man die Perspektive und unterstellt eine von der Entstehung her genetisch-chronologische Abfolge von Nouvelle Héloïse, Contrat social und Emile, so wäre die Funktion des Romans nicht nur eine Wiederaufnahme der Problematik der beiden Discours, sondern auch zugleich die eines Seitenstücks bzw. Präludiums zur Staatstheorie und zum Erziehungsroman.56 Aus dieser Sicht eignet sich zumindest die Nouvelle Héloïse nur begrenzt zur Stützung der Hypothese einer Entpolitisierung des Utopischen. Sie bildet ein Durchgangsstadium, das die Rückkehr zum Politischen, wo nicht Utopischen vorbereitet. In dieser Optik kann die Nouvelle Héloïse auch als prekärer, mindest ambivalent endender Versuch gelesen werden, den Privatbürger so zum „homme naturel" zurückzubilden, daß er zugleich idealer Staatsbürger sein könnte. Daß Rousseau diese Utopie bricht und sie durch die Ausgangslage - den sozial konnotierten Liebeskonflikt - immer wieder einholen läßt, ist Zeichen seines realistischen Vermögens innerhalb seiner didaktischen Absichten. Es ist aus der Gesamtanlage seines Denkens nur folgerichtig, wenn er in den beiden nächsten Haupttexten wieder stärker ans Reißbrett zurückkehrt, um den im zweiten Discours nur skizzierten Gesellschaftsvertrag nun präziser zu fundieren57 und im Emile gleichsam im utopiegleichen klinischen Experiment erst den „homme naturel" zu erzeugen, aus dem dann ein verzieht-, ehe- und zugleich zum Gesellschaftsvertrag fähiger „citoyen" hervorgehen kann.58 Wer den Erzieher erzieht, muß auch dieser Text offen lassen.59 55
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Gleichwohl versteht sich das Modell Ciarens indirekt auch als Keimzelle richtiger Regierungskunst: „Quand il est question d'estimer la puissance publique, le bel-esprit visite les palais du prince, ses ports, ses troupes, ses arsenaux, ses villes; le vrai politique parcourt les terres et va dans la chaumiere du laboureur. Le premier voit ce qu'on a fait, et le second ce qu'on peut faire. Sur ce principe on s'atttache ici, et plus encore à Etange, à contribuer autant qu'on peut à rendre aux paysans leur condition douce, sans jamais leur aider à en sortir." (5. Teil, Brief II, S. 535). Diese chronologische Abfolge ist selbstverständlich nicht absolut zu setzen, da Rousseau nicht mechanisch ein Werk nach dem anderen abarbeitet. Gleichwohl bleibt, daß die Nouvelle Héloïse 1758, also vor den beiden anderen Haupttexten dieser Zeit, abgeschlossen ist. Vgl. Lecercle, Rousseau et l'art du roman, (wie Anm. 22). Der Gesellschaftsvertrag bindet das Gemeinwohl an das Recht des als kleiner Eigentümer gedachten Einzelnen, welcher sich freiwillig dieses Rechts entäußert und es an die Volonté générale abtritt. Auch der Gesellschaftsvertrag braucht, wie die Utopie von Ciarens, die Religion, nun in der Form einer Staatsreligion (religion civile) als Mittel der Kohäsion. Vgl. hierzu Fetscher, (wie Anm. 21), S. 188f. Im Emile privilegiert Rousseau nicht den ländlichen Raum, sondern das Handwerk. - Zum Zusammenhang von Contrat social und Emile vgl. Burgelin, Pierre, Introduction zu: Rousseau, Jean-Jacques, Emile ou de l'éducation [1762], in: ders., Œuvres complètes. Bd. 4, hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1969 (Bibliothèque de la Pléiade 208),
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Rousseau ist hellsichtig genug, die Grenzen der Erziehung zu markieren. Dies zeigt das den Emile fortsetzende Romanfragment Emile et Sophie, das beider Ehe am Leben in der Stadt und an der Untreue Sophies scheitern läßt. Vgl. hierzu das Vorwort von Pierre Burgelin in: Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres complètes, (wie Anm. 58), S. CLIII-CLXVII.
KARL-HEINZ KOHL (Mainz)
Der Gute Wilde der Intellektuellen Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer ethnologischen Utopie Vorbemerkung Berichte über außereuropäische Völker haben von Anbeginn an eine Quelle der Inspiration für die Konstruktion politischer Utopien dargestellt. Die Entdeckung und Erschließung des Erdteils, den man in Europa bald emphatisch als die Neue Welt bezeichnete, ging mit der Entwicklung jener neuen philosophischen Literaturgattung parallel einher, für die der Titel von Thomas Morus' 1516 veröffentlichter kleiner Schrift De optimo reipublicae status, deque nova insula Utopia namengebend werden sollte. Morus selbst beruft sich bei der Schilderung seines perfekten Staatswesens auf die Zeugnisse eines Reisenden, der als Gefährte des Amerigo Vespucci nach Amerika gelangt sein soll, Campanella bedient sich bei seiner Darstellung des Civitas Solis der Figur eines weitgereisten genuesischen Admirals, und Francis Bacons Nova Atlantis ist in die Form der romanhaften Beschreibung einer Reise gekleidet, die von Peru aus ihren Ausgang nimmt. Vorbereitet worden waren die großen Staatsutopien des 16. und 17. Jahrhunderts denn auch tatsächlich durch die Berichte über die Neue Welt und ihre Bewohner, die seit der Veröffentlichung der ersten Kolumbus- und Vespucci-Briefe in immer größerer Zahl nach Europa gelangen sollten. Dabei handelte es sich um Darstellungen, die zwar faktisch zahlreiche Topoi aus den antiken Welt- und Völkerbeschreibungen,1 aus der christlichen Überlieferung und aus der mittelalterlichen Mythologie aufnehmen,2 deren Glaubwürdigkeit aber den zeitgenössischen Leser durch die Augenzeugenschaft der Reisenden verbürgt schien. In Europa wurden sie nicht nur zu einer der Grundlagen der mehr oder weniger abstrakten staatsutopischen Entwürfe, deren imaginärer Charakter leicht zu durchschauen war, sondern führten überdies zur Formierung einer scheinbar entschieden konkreteren lebensweltlichen Utopie, der Vorstellung vom im harmonischen Einklang mit der Natur 1
2
Zu den anüken Fremdrepräsentationen vgl. Müller, Klaus E., Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theorienbildung. 2 Bde. Wiesbaden 1972 u. 1980; zu ihrer Wiederbelebung im Zeitalter der Entdeckungen vgl. Mason, Peter, Deconstructing America. Representations of the Other. New York/London 1990. So geht z.B. die Bezeichnung der Bewohner Amerikas als „Wilde", „Savages" und ,sauvages" auf die mittelalterliche Volksüberlieferung über die jenseits der großen Ansiedlungen in den Wäldern hausenden „Wilden Leute" zurück, die auch die ersten ikonographischen Darstellungen maßgeblich prägte. Vgl. hierzu Kohl, Karl-Heinz, Über einige der frühesten graphischen Darstellungen der Bewohner der Neuen Welt in der europäischen Kunst, in: ders., Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt a.M./New York 1987, S. 6 3 88.
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lebenden „Guten Wilden", der im zivilisationskritischen Diskurs der neuzeitlichen Philosophie zu einer zentralen Projektionsfigur des in der eigenen Gesellschaft Unterdrückten und Verdrängten werden sollte.3 Bald zu einem festen Bestandteil des europäischen Exotismus geworden, erlebte der Kult des „Guten Wilden" bekanntlich in der französischen Aufklärungsphilosophie einen ersten Höhepunkt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeitweise durch die evolutionistische Konstruktion des „Primitiven" ersetzt, erfuhr dieser Vorstellungskomplex in neuerer Zeit eine Wiederbelebung und hat bis heute nicht aufgehört, unser Bild der kleinen und geschlossenen Gesellschaften zu bestimmen, mit denen sich die Ethnologie traditionell beschäftigt. Nimmt man den „Guten Wilden" als Kürzel für die Idealisierung sogenannter primitiver Lebensformen, so erscheint er freilich im wesentlichen als eine Kopfgeburt, als eine Imagination von Intellektuellen, die nie oder bestenfalls ephemer Gelegenheit hatten, mit den Realitäten des „primitiven Lebens" konfrontiert zu werden. Am Beispiel der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieser ethnologischen Utopie soll im folgenden durch die Rekonstruktion einiger Traditionslinien gezeigt werden, daß die Art und Weise, in der fremde Kulturen bei uns wahrgenommen und beurteilt werden, oft weit mehr über die epochenspezifischen Probleme der Beobachter aussagt als über die Lebensformen der jeweils beschriebenen Kulturen selbst.
Von Kolumbus zu Montaigne Die Entstehung der Vorstellung vom „Guten Wilden" resultiert nicht zuletzt aus einem epistemologischen Problem. Bei der Entdeckung Amerikas waren die europäischen Reisenden, Eroberer und Missionare erstmals Menschen begegnet, die dem ersten Anschein nach all der Institutionen entbehrten, die den Vorstellungen der Zeit entsprechend die wahre menschliche Ordnung ausmachten. Wie ließen sich Völker, die der chrisdichen Offenbarung offensichtlich noch nicht teilhaftig geworden waren, die keine Könige oder Herrscher kannten, die auch keine Anzeichen einer ordendichen Gerichtsbarkeit aufwiesen und die überdies alles miteinander zu teilen schienen, in das überkommene Weltbild einordnen? Durch ihre Nacktheit, das Fehlen fester Behausungen und den Mangel an materiellen Kulturgütern verdichtete sich der Eindruck immer mehr, daß sie sich noch in einem vorkulturellen Zustand befanden, den man bald mit dem paradiesischen der biblischen Überlieferung, bald aber auch mit dem tierischen der Randbewohner der antiken Oikumene assoziierte. Schon bei Kolumbus, dem verschiedentlich die Urheberschaft an der ,.Legende vom Guten Wilden" zugeschrieben worden ist,4 finden sich beide Ten3 4
Vgl. hierzu neuerdings Fink-Eitel, Hinrich, Die Wilden und die Philosophie. Hamburg 1994. Vgl. Gonnard, René, La Légende du Bon Sauvage. Contribuüon à l'étude des origines du socialisme. Paris 1946.
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denzen. Vor allem in den Bordtagebüchern seiner ersten Reise hebt er die paradiesischen Züge der Lebensweise der Wilden hervor und preist die Sorglosigkeit, Friedfertigkeit und Tugendhaftigkeit, die Unschuld und die Zutraulichkeit der Bewohner der karibischen Inseln in den höchsten Tönen. In dem Maße freilich, in dem der Widerstand der Einheimischen gegen ihre kolonialistischen Eroberer zunahm und er sich in seinen ursprünglichen Erwartungen enttäuscht sah, beschreibt er in den Tagebüchern seiner späteren Reisen die ihm einst so sanftmütig erscheinenden Wilden als blutrünstige Kannibalen. Jene dichotomisierende Darstellungsweise, deren Entstehungsgeschichte sich anhand von Kolumbus' persönlichen Aufzeichnungen5 in ihrer chronologischen Abfolge exemplarisch rekonstruieren läßt - aufgrund flüchtiger erster Eindrücke entwickelte illusionäre Wunschvorstellungen zerbrechen an der Realität und verkehren sich schließlich in ihr Gegenteil - , ist ein Charakteristikum zahlreicher Reisebeschreibungen der frühen Neuzeit, von Vespuccis Briefen über die Erfindung der Neuen Welt angefangen bis hin zu Jean de Léry oder Thévenot. Unverbunden stehen sich in diesen Berichten zwei konträre Sichtweisen gegenüber: die Idealisierung der Bewohner der Neuen Welt zu Menschen, die noch - wie vor dem Sündenfall - ganz im paradiesischen Einklang mit der Natur leben, und ihre Verzeichnung zu dämonischen oder halbtierischen Lebewesen, die bar jeder menschlichen Kultur zu sein scheinen. Diese in sich widersprüchlichen und kaum je synthetisierten Darstellungen bildeten die Grundlagen der neuerlichen philosophischen Erörterungen über den menschlichen Naturzustand, zu denen die Entdeckung Amerikas in Europa einen nicht unwesentlichen Anstoß gab. Thomas Hobbes auf der einen Seite und Montaigne, Rousseau und Diderot auf der anderen Seite konnten sich in ihren extrem unterschiedlichen Ausdeutungen des ursprünglichen Zustands des Menschen im wesentlichen auf die gleichen ethnographischen Quellen berufen. Montaignes um 1580 entstandener Essai Des Cannibales gilt allgemein als die erste philosophische Grundlegung des Bildes vom „Guten Wilden". Vergleicht man Montaignes kleine Schrift mit späteren philosophischen Erörterungen, so überrascht der große Platz, den er der Empirie einräumt. Der Essai enthält eine Fülle ethnographischer Daten, die er aus seinen Vorlagen bezogen hat und die er, zu einem großen Teil ohne weiteren Kommentar, wiedergibt. So geht er zum Beispiel ausführlich auf die materielle Kultur der brasilianischen Tupinamba und ihre Techniken des Nahrungserwerbs ein, weiß bereits von ihrer besonderen sozialen Organisationsstruktur und ihrer nicht weniger komplizierten Verwandtschaftsterminologie. Gleichwohl folgt die Darlegung der zahlreichen ethnographischen Fakten, die 5
Vgl. für eine differenzierte Analyse die wichüge Pionierstudie von Moebus, Joachim, Über die Bestimmung des Wilden und die Entwicklung des Verwertungsstandpunktes bei Kolumbus, in: Das Argument 79 (1973), S. 273-307. Zu ähnlichen Schlüssen gelangen Todorov, Tzvetan, La conquête de l'Amérique. La question de l'Autre. Paris 1982; Mason, (wie Anm. 1), und Greenblatt, Stephen, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Berlin 1994.
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der kurze Text bietet, einer wohlüberlegten dualen Grundstruktur. Die Reinheit des Naturzustandes auf der einen und die Verfälschtheit des Kulturzustandes auf der anderen Seite bilden die Parameter, die die Darstellung des empirischen Materials dirigieren. Diese sekundäre Polarisierung überlagert gewissermaßen die ihrerseits bereits dichotome Struktur seiner Primärquellen und erzeugt in dem Maße neue Widersprüche, in dem der Autor sie im Sinne einer Kritik der eigenen Kultur zu instrumentalisieren versucht. Wie verträgt sich der Brauch der Menschenfresserei, wie die offensichtliche Aggressivität, wie die Kriegslust der Tupinamba mit der von ihm eindeutig favorisierten Vorstellung vom bedürfnislosen, sanftmütigen und unschuldigen Wilden? Jene Züge waren zu bekannt, als daß er einfach über sie hätte hinweggehen können. Montaigne verschweigt sie denn auch keineswegs, sondern geht auf sie sogar in aller Ausführlichkeit ein. Er kann dies nicht zuletzt deshalb, weil es ihm letztlich gelingt, die sich aus dem dualen Konstruktionsprinzip seines Essais und der dichotomen Struktur seiner Vorlagen ergebende doppelte Widersprüchlichkeit mit einem folgenschweren Kunstgriff zu lösen. Denn um an jenem idealisierten Bild der Wilden, welche „noch den natürlichen Gesetzen folgen, von den unseren kaum verderbt",6 festhalten zu können, erfindet Montaigne den Kulturrelativismus, verliert der Kannibalismus - das große Skandalon der Bewohner der Neuen Welt - doch seinen Schrecken, wenn man in Rücksicht zieht, daß die europäische Sitte eine weit größere Barbarei sei, „einen noch von Gefühlen belebten Körper mit Folter und Qualen zu zerreißen, ihn bei langsamem Feuer zu rösten, ihn von Hunden und Schweinen zerbeißen und zerfleischen zu lassen [...], als ihn zu braten und zu verspeisen, wenn er bereits verendet ist".7 Aus einer ähnlichen Perspektive betrachtet, erscheint ihm auch die Kriegführung der Tupinamba „so vollkommen edel und großzügig, und es eignet ihr so viel Rechtfertigung und Schönheit, wie dieser Seuche der Menschheit zugestanden werden kann: der Krieg hat unter ihnen keinen anderen Grund als einzig den Wetteifer der Tugend".8 Der Kulturrelativismus weist so schon bei Montaigne jene ethisch höchst fragwürdigen Züge auf, mit denen er uns erst im 20. Jahrhundert wieder gegenübertreten sollte. Auch erinnert es durchaus an die neueren Diskussionen über die Struktur des ethnozentrischen Vorurteils, wenn er seinen relativistischen Standpunkt damit begründet, daß wir schließlich über keinen anderen Prüfstein der Wahrheit verfügten als die Meinungen und Bräuche des Landes, in dem wir lebten, ja, daß wir immer nur die eigenen Sitten als vollkommen ansähen, was sie realiter natürlich nie wären. Modem sind Montaignes Ausführungen freilich auch in der Hinsicht, daß der mit einer Kritik an unseren eurozentrischen Voreingenommenheiten verbundene dezidierte Kulturrelativismus seines Essais letztlich dann doch nur instrumen6 7 8
Montaigne, Michel de, Essais, hg. v. Herbert Liithy. Zürich 1953, S. 232. Ebd., S. 237. Ebd., S. 238.
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teilen Zwecken dient. Als eine Art Immunisierungsstrategie feit er das von ihm entworfene Bild des „Guten Wilden" gleichsam a priori gegen mögliche Einwendungen.
Dekonstruktivistische Lektüren: Rousseaus „homme naturel" und Diderots Tahitianer Jean-Jacques Rousseau, der für den Rousseauismus des späten 18. Jahrhunderts ebensowenig die Verantwortung trägt wie Marx für den Marxismus des 20. Jahrhunderts, dessen Name aber mit der Idealisierung des sogenannten Primitiven bis heute aufs engste verknüpft geblieben ist, hat das Problem der inneren Widersprüchlichkeit des zu seiner Zeit vorliegenden ethnographischen Materials auf ganz andere Weise zu lösen versucht. Zwar argumentiert er streckenweise ähnlich wie Montaigne, wenn er etwa in der Einleitung zu seinem Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes von 1755 schreibt, daß die Philosophen auf den Naturzustand nur die Vorstellungen übertrugen, die sie in der eigenen Gesellschaft vorgefunden hatten, oder wenn er beklagt, daß wir trotz der riesigen Anzahl an Reise- und Weltbeschreibungen, die seit der Entdeckung der Neuen Welt hervorgebracht wurden, von allen Menschen eigentlich nur den Europäer genau kennten. Doch erschöpfen sich in der Eurozentrismuskritik zunächst die Parallelen. Für Rousseau stellt das von den Reisenden zusammengetragene Beobachtungsmaterial, dessen Bedeutung er durchaus zu schätzen weiß, eine riesige Geröllhalde dar, die es erst einmal abzutragen und neu zu ordnen gilt, um durch einen solchen Akt der De- und Rekomposition zum eigentlichen Wesen des Menschen vorzudringen. Indem er die Lebensweisen der Zivilisierten und der Wilden systematisch miteinander vergleicht, hinter den Unterschieden die Gemeinsamkeiten zum Vorschein zu bringen und diese wiederum auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückzuführen versucht, rekonstruiert er den „homme naturel", den autarken, selbstgenügsamen und in sich selbst ruhenden Urmenschen, der noch im Einklang mit den Gesetzen der Natur lebt und ein Stadium der Gattungsgeschichte repräsentiert, das a l l e menschlichen Gesellschaften, die zivilisierten Nationen Europas ebenso wie die wilden Völkerschaften Amerikas, Afrikas und Asiens, längst hinter sich gelassen haben. In der neueren Rousseau-Rezeption ist mit Nachdruck herausgestellt worden, daß es nicht der dumpfe und sich seines Glücks noch gar nicht bewußte ,.homme naturel" ist, dem die eigentliche Sympathie des Autors der Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen gilt.9 Das eigentliche Goldene Zeitalter der Menschheit verkörpert für Rousseau vielmehr ein späteres Stadium 9
Vgl. hierzu z.B. Lévi-Strauss, Claude, Jean-Jacques Rousseau, Begründer der Wissenschaften vom Menschen, in: ders., Strukturale Anthropologie. Bd. 2. Frankfurt/M. 1975, S. 45-56.
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der Gattungsgeschichte, jenes nämlich, das nach seinen eigenen Worten noch die richtige Balance hielt zwischen der „Lässigkeit des primitiven Zustandes und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe".10 Dieses juste milieu aber, in dem für immer zu verharren seiner Meinung nach für die Menschheit am besten gewesen wäre, diese - wie er emphatisch hinzufügt - „wahrhafte Jugend der Welt" sah er durch das Beispiel der Wilden repräsentiert, die „man fast alle in dieser Lage angetroffen hat".11 Es liegt gewissermaßen in der Logik des von Rousseau eingeschlagenen reduktionistischen Verfahrens, daß bei seinem Entwurf des „Goldenen Zeitalters der Menschheit" der Kannibalismus wie auch andere schreckenenregende und abstoßende Züge gar nicht mehr erwähnt zu werden brauchten, von denen ja auch noch zu seiner Zeit die Berichte über die Bewohner der außereuropäischen Welt voll waren. Hier ergibt sich dann doch wieder eine Parallele zu Montaigne. Wie dieser durch seine kulturrelativistische Argumentation, so wappnet Rousseau seine Darstellung gegen jede mögliche Kritik durch einen Verweis darauf, daß es ihm ja wie er im Vorwort zum Discours sur l'inégalité sein Vorgehen selbst charakterisiert - nur darum zu tun sei, „einen Zustand richtig zu erkennen, den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird, über den man aber dennoch rechte Begriffe nötig hat, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können".12 Rousseau bekennt sich so zumindest noch zum Konstruktcharakter seines idealisierenden Bildes vom Wilden, das der Rousseauismus dann freilich für ein Abbild der Wirklichkeit nehmen sollte. In seinem knapp zwanzig Jahre später als philosophische Reflexion auf die aufsehenerregende Entdeckung Tahitis durch den französischen Seefahrer Antoine de Bougainville entstandenen Supplément au voyage de Bougainville zieht Denis Diderot aus dem von Rousseau eingeschlagenen Verfahren schließlich die Konsequenzen und treibt die Sache gewissermaßen auf die Spitze. Die Berichte Bougainvilles und seiner Gefährten über die Liebessitten der Südseebewohner werden ihm zum Anlaß einer Konstruktion, die mit der ethnographischen Wirklichkeit kaum mehr etwas zu tun hat. Diderots Tahiti ist die Wunschphantasmagorie einer Gesellschaft, in der die freie Liebe in den Dienst einer rationalen Bevölkerungspolitik gestellt und zum sozial verordneten Zwang erhoben worden ist. Jeder, der nicht zur Bevölkerungsvermehrung beitragen will und sich dem Gebot der Promiskuität entzieht, wird auf Diderots Liebesinsel mit Strafen belegt. Auch die von Bougainville bezeugte Freizügigkeit der tahitischen Frauen gegenüber den französischen Seefahrern erweist sich so als ein wohlüberlegtes bevölkerungspolitisches 10
11 12
Rousseau, Jean-Jacques, Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Französisch/Deutsch, eingeh, übers, u. hg. v. Kurt Weigand. Hamburg 2 1971, S. 209. Ebd., S. 213. Ebd., S. 67.
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und eugenisches Kalkül: „Obwohl wir kräftiger und gesünder sind als ihr," - so äußert sich Diderots tahitischer Greis gegenüber seinem bigotten europäischen Gesprächspartner - „haben wir doch bemerkt, daß ihr uns an Intelligenz übertrefft, und so haben wir einige unserer schönsten Frauen und Töchter dazu bestimmt, den Samen einer Rasse zu empfangen, die besser ist als die unsere."13 Ist Rousseaus Entwurf des Goldenen Zeitalters der Gattungsgeschichte zumindest noch ein Resultat logischer Abstraktionen, so erweist sich Diderots Tahiti schließlich gänzlich als ein intellektuelles Gedankenexperiment,14 von dem er es sich sicherlich selbst nicht hätte träumen lassen, daß seine praktische Umsetzung in der Aktion Lebensborn der nationalsozialistischen Machthaber tatsächlich einmal erfolgen sollte.
Das Ende einer Legende? Die Frage bleibt allerdings, ob sich trotz des einen oder anderen aktuellen Bezugs eine kritische Auseinandersetzung mit jenen an den Schreibpulten aufgeklärter Gelehrter entstandenen, wirklichkeitsfernen Konstrukten überhaupt noch lohnt, die nicht auch zuletzt deshalb in den freien Raum hinein spekulieren konnten, weil sie um die Unzulänglichkeit der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen über außereuropäische Völker nur allzu gut wußten, wie es etwa Rousseau in seiner bekannten Forderung nach wissenschaftlichen Reisen, die diesen Namen auch wirklich verdienen, ausdrücklich betonte: „Die ganze Erde ist übersät von Völkern, von denen wir nur die Namen kennen - und wir wagen ein Urteil über das Menschengeschlecht zu fallen!"15 Mit dem Verschwinden der letzten weißen Flecken auf den Weltkarten ist auch das Korpus ethnographischer Daten enorm gewachsen. Die Ethnologie konnte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin etablieren und hat seither ihr methodisches Instrumentarium zur Erfassung fremdkultureller Lebensformen permanent verfeinern können. Dennoch ist ein Ende der „Legende vom Guten Wilden" noch lange nicht in Sicht. Ich meine damit nicht nur jene populärwissenschaftlichen Darstellungen etwa der amerikanischen Indianer als Öko-Heilige, in denen das alte Stereotyp vom naturverbundenen Leben der sogenannten Naturvölker gegenwärtig eine Wiederbelebung erfährt. Die Idealisierung der Ureinwohner des amerikanischen und australischen Kontinents zu esoterischen Wilden, die das kosmische Geheimwissen der Menschheit in ihren mythischen Überlieferungen bis zum heutigen Tag bewahrt hätten - ein beliebter 13
14
15
Diderot, Denis, Philosophische Schriften, hg. v. Th[eodor], Lücke. 2 Bde. Frankfurt/M. 1967. Bd. 2, S. 224f. Für eine eingehendere Erörterung der hier nur unter einem einzigen Aspekt analysierten Beiträge Montaignes, Rousseaus und Diderots zur Herausbildung der zeitgenössischen Vorstellungen über die „Wilden" vgl. Kohl, Karl-Heinz, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt/M. 2 1986. Rousseau, (wie Anm. 10), S. 213.
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Topos in der modischen New-Age-Literatur - ist ebenso wenig einer eingehenderen Auseinandersetzung wert. Weit interessanter sind dagegen die Fälle von Wissenschafdern, die sich professionell mit außereuropäischen Kulturen befassen, die innerhalb der scientific community zum Teil in hohem Ansehen stehen und die obgleich sie es eigentlich besser wissen müßten - letztlich doch nicht der Versuchung widerstehen konnten, ähnlich projektive Konstruktionen zu entwerfen wie ein Montaigne, ein Rousseau oder ein Diderot. Paradoxerweise schien diese Versuchung mit der zunehmenden Fülle an ethnographischen Daten zunächst noch gewachsen zu sein, war dieses Korpus seit dem 19. Jahrhundert doch so umfangreich geworden, daß sich praktisch für jede auch noch so kühne Behauptung das entsprechende empirische Belegmaterial vorweisen ließ. Die moderne ethnographische Forschung, wie sie in den Vereinigten Staaten von Franz Boas und in Großbritannien von Bronislaw Malinowski begründet worden ist, hat jedoch versucht, den ethnologischen Spekulationen, wie sie zu ihrer Zeit vor allem von den Vertretern des Evolutionismus und des Diffusionismus hervorgebracht worden waren, von vornherein einen Riegel vorzuschieben. Die mit dem Namen Malinowskis verbundene „Revolution in der Ethnologie" bestand weniger in seinem zu Recht als banal kritisierten Funktionalismus, als vielmehr in der Entwicklung einer holistischen Sichtweise einzelner Kulturen, die deutlich werden ließ, daß sich die wirkliche Bedeutung einzelner kultureller Züge dem Forscher erst dann erschließt, wenn er sie im Kontext ihres alltäglichen Gebrauchs studiert. Damit wies er nach, wie wenig Sinn es hat, einzelne Kulturelemente aus ihrem jeweils besonderen Zusammenhang zu lösen, um mit ihrer Hilfe nach dem altbewährten Zettelkastenprinzip spekulative Überlegungen über die Entwicklung der menschlichen Kultur als solcher oder auch über die Ausbreitung einzelner Kulturzüge anzustellen. Der Kontextualismus ist seither eine Art Schibboleth der modernen Ethnologie geworden. Er führte zeitweise zu einem extremen Empirizismus - der Beschränkung auf die Untersuchung geschlossener und überschaubarer Lokalkulturen - , dem das Fach wesentliche neue Einsichten verdankte, der sich bei der Weiterentwicklung ethnologischer Theorien aber langfristig als hinderlich erwies. Obgleich auch diese Phase der Wissenschaftsgeschichte inzwischen als abgeschlossen gelten kann, ist die holistische Sichtweise geblieben. Gerade die neueren idealisierenden Tendenzen aber scheinen allesamt durch einen Verstoß gegen das Gebot des Kontextualismus gekennzeichnet.
Eine tropische Idylle 1955, genau zweihundert Jahre nach der Publikation von Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, veröffendichte Claude Lévi-Strauss unter dem Titel Tristes Tropiques einen Reisebericht, in dem er - in
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bewußter Anlehnung an Rousseaus Konfessionen - seine Suche nach den ursprünglichen Lebensformen der Menschheit in den Savannen und Urwäldern Brasiliens beschreibt. In seinem Kernteil enthält dieses Buch eingehende Schilderungen von vier brasilianischen Stammesgruppen: der Caduveo, der Bororo, der Tupi Kawahib und der Nambikwara. Der britische Sozialanthropologe Edmund Leach hat in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Begründer des französischen Strukturalismus nachzuweisen versucht, daß Lévi-Strauss sich bei jeder dieser Gesellschaften nur einige Wochen hat aufhalten können und daß er auch ihre Sprachen nicht beherrschte - ein gravierender Verstoß gegen die Standardregeln der modernen stationären Feldforschung.16 Nun zeigt eine genaue Lektüre der Tristes Tropiques tatsächlich, daß ihr Autor den Mangel an empirischen Kenntnissen teils durch stark idyllisierende Schilderungen der von ihm besuchten Gesellschaften, teils aber auch durch ganz allgemein gehaltene Erörterungen wettzumachen sucht, die im übrigen gerade den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen, das eine einzigartige Mischung von Textschichten und Schreibstilen, von Reisebericht, ethnographischer Abhandlung, autobiographischen Reminiszenzen und philosophischen Reflexionen darstellt.17 Besonders deutlich tritt jene Tendenz in LéviStrauss' Schilderung der „verlorenen Welt" der Nambikwara hervor, einer Gesellschaft von Jägern und Sammlern, deren zentralen sozialen Fokus die während der Trockenzeit zu langen Wanderungen aufbrechenden Familienverbände bildeten. Eindrucksvoll beschreibt der Autor die gegenseitige Zuneigung der Ehepaare, wie er sie beim nächtlichen Kampieren vor den Lagerfeuern hatte beobachten können: In der dunklen Savanne leuchten die Lagerfeuer. Um den Herd herum, hinter dai zerbrechlichen Schutzschirmen aus Palmen und Zweigen, die hastig in den Boden gerammt wurden nach der Seite hin, wo Wind und Regen drohen, suchen die Eingeborenen Schutz vor der einbrechenden Kälte; ringsumher stehen die Kiepen, gefüllt mit den armseligen Dingen, die ihren irdischen Reichtum bilden; auf der nackten Erde liegend, von anderen, ebenso feindseligen wie furchtsamen Gruppen verfolgt, halten sich die Gatten eng umschlungen: sie sind sich gegenseitig Stütze, Trost und die einzige Hilfe im Kampf gegen die täglichen Schwierigkeiten und die grüblerische Melancholie, die von Zeit zu Zeit die Nambikwara-Seele ergreift. Der Besucher, der zum ersten Mal sein Lager im Busch neben den Indianern aufschlägt, empfindet Angst und Mitleid beim Anblick diesa· so gänzlich entblößten und, wie es scheint, von einer unerbittlichen Katastrophe zu Boden gedrückten Menschen, die sich nackt und zitternd umflackerndeFeuer drängen. [...] Doch dieses Elend ist von Flüstern und Lachen erfüllt. Die Paare umarmen sich, als überfiele sie Sehnsucht nach einer verlorenen Einheit; sie unterbrechen ihre Liebkosungen nicht, wenn der Fremde vorübergeht. Voi ihnen allen geht eine große Freundlichkeit aus, eine tiefe Sorglosigkeit, eine naive und bezaubernde animalische Zufriedenheit und, alle diese Gefühle zusammenfassend, so etwas wie der rührendste und wahrhaftigste Ausdruck menschlicher Zärtlichkeit.18
Lévi-Strauss schildert seine „Guten Wilden" nicht nur in einer ähnlich sentimentalen Weise wie Rousseau sein Goldenes Zeitalter der Menschheit, sondern nimmt 16 17
18
Vgl. Leach, Edmund, Lévi-Strauss zur Einführung. Hamburg 1991, S. 21. Vgl. Geertz, Clifford, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. München 1990, S. 3Iff. Lévi-Strauss, Claude, Traurige Tropen. Frankfurt/M. 1978, S. 287f.
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auf die entsprechende Passage des Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes sogar bewußt Bezug, wenn er seine Ausführungen über die Nambikwara mit der Bemerkung abschließt, daß er „auf der Suche nach dem, was Rousseau ,die kaum merklichen Fortschritte der Anfänge' nennt", jenen Idealzustand „bei einer im Sterben liegenden Gesellschaft" entdeckt hatte: „Ich hatte eine auf ihren einfachsten Ausdruck reduzierte Gesellschaft gesucht. Die der Nambikwara war so einfach, daß ich in ihr nur Menschen fand."19 In das Nambikwara-Kapitel der Tristes Tropiques eingeschoben findet sich ein Abschnitt mit dem Titel „Leçon d'écriture". Das große Interesse, das ein Nambikwara-Häuptling an der schreibenden Tätigkeit des Ethnologen entwickelte, läßt den Autor mutmaßen, daß er die mit der Verwendung der Schrift verbundene Machtfiille gewissermaßen intuitiv und als einziger seines Stammes begriffen hätte. LéviStrauss nimmt diese kleine Episode zum Anlaß eines langen Exkurses in die Geschichte der Schrift, der in ein scharfes Verdikt gegen diese seiner Auffassung nach für die Menschheit verhängnisvolle Erfindung mündet. Nicht zufällig sei das Aufkommen der Schrift - so schreibt er - von Anbeginn an mit der „Gründung von Städten und Reichen" begleitet gewesen, das heißt [der] Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System sowie ihre Hierarchisierung in Kasten und Klassen. Dies ist jedenfalls die typische Entwicklung, die man von Ägypten bis China in dem Augenblick beobachten kann, da die Schrift ihren Einzug hält: sie scheint die Ausbeutung der Menschen zu begünstigen, lange bevor sie ihren Geist erleuchtet.20
Und er fährt fort: Wenn meine Hypothese stimmt, müssen wir annehmen, daß die primäre Funktion der schriftlichen Kommunikation darin besteht, die Versklavung zu erleichtem. Die Verwendung der Schrift zu uneigennützigen Zwecken, d.h. im Dienst intellektueller und ästhetischer Befriedigung, ist ein sekundäres Ergebnis, wenn nicht gar nur ein Mittel, um das andere zu verstärken, zu rechtfertigen oder zu verschleiern.21
Neu sind die Vermutungen, die Lévi-Strauss hier anstellt, freilich nicht. Sie stehen vielmehr in einer langen Tradition abendländischer Schriftgelehrsamkeit. Für das 18. Jahrhundert wäre wiederum Rousseau zu nennen, der in seinem preisgekrönten Discours sur les sciences et les arts von 1750 schreibt, daß die Wissenschaften, Schriften und Künste Blumengirlanden über die Eisenketten [breiten], die [die Menschen] beschweren. Sie ersticken in ihnen das Gefühl jener ursprünglichen Freiheit, für die sie geboren zu sein scheinen, lassen sie ihre Knechtschaft lieben und machen aus ihnen, was man zivilisierte Völker nennt 22
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Ebd., S. 314. Ebd., S. 294. Ebd. Rousseau, (wie Anm. 10), S. 9.
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Ganz ähnlich hatten sich bereits im 16. Jahrhundert Erasmus von Rotterdam und Agrippa von Nettesheim, Giglio Giraldi und Ortensio Landi geäußert, die sich ihrerseits auf die antiken Zyniker berufen konnten. Dem „Lob der Torheit" der Gelehrten des Humanismus entspricht gewissermaßen das zeitgenössische,,Lob der Schriftlosigkeit" traditioneller Gesellschaften, das seit Lévi-Strauss zu einem beliebten Topos ethnologischer Abhandlungen geworden ist - er selbst war es denn auch, der in seinen späteren Schriften die Nichtexistenz schriftlicher Kommunikation zu einem Wesensmerkmal jener fälschlicherweise als .Primitive" angesehenen Völker erklärte, die man seiner Ansicht nach besser als „authentische Gesellschaften" bezeichnen sollte, im Gegensatz zu den „nicht-authentischen", entfremdeten Industriegesellschaften.23
Differierende Lebensstile Lévi-Strauss' sicherlich nicht zufällig in seine anrührende Schilderung der Welt der Nambikwara eingebetteten Ausführungen über die negativen Folgen der Erfindung der Schrift und sein Verweis auf die gerade durch den Mangel an diesem Kommunikationsmedium bedingte „Authentizität" jener Gesellschaften, die sich noch „auf konkrete Beziehungen zwischen den Individuen" gründeten,24 geben nicht zuletzt auch im Blick auf das Alter dieser Argumentation eine mögliche Antwort auf die Frage nach den Motiven, die der offensichtlich so ausgeprägten Sympathie von Intellektuellen für das Leben der Wilden zugrunde liegen. Ohne auf die Problematik dieses Begriffs näher einzugehen, der bekanntlich erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts in Frankreich im Umfeld der Dreyfus-Affare entstanden ist, ließen sich als Intellektuelle zunächst ganz summarisch diejenigen bezeichnen, die ihren Lebensunterhalt mit dem geschriebenen Wort verdienen. Der Aufstieg dieser eine geistige, künstlerische, akademische oder journalistische Tätigkeit ausübenden sozialen Gruppe, deren Angehörige mit kritischem Engagement die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verfolgten, war mit der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Entwicklung der Druckmedien aufs engste verbunden. In diesem sehr viel breiteren und im Blick auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs eigentlich anachronistischen Sinn könnten ihr auch schon einige Humanisten des 16. Jahrhunderts, vor allem aber die vorwiegend von den Produkten ihrer freien schriftstellerischen Arbeit lebenden französischen Aufklärungsphilosophen zugeordnet werden. Schriftsteller, Journalisten und selbstverständlich auch Geisteswissenschaftler wissen von den Entsagungen und Frustrationen, die mit der entfremdeten und
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Vgl. Lévi-Strauss, Claude, Strukturale Anthropologie. Frankfurt/M. 1967, S. 391ff. Ebd., S. 391.
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letztlich immer einsamen Tätigkeit am Schreibtisch verbunden sind, von den Mühen, die es bedeutet, einen Gedanken zu fassen, ihn logisch zu entwickeln und ihn niederzuschreiben, von dem langen Warten, bis er sich in Gestalt von Papier und Druckerschwärze endlich materialisiert, und von der kaum überprüfbaren Resonanz, die er bei seinen potentiellen Adressaten findet, um von den körperlichen Beschwerden ganz zu schweigen, die eine solche einseitige und inerte Tätigkeit mit sich bringt. Was liegt da also näher, als sich eine Lebenswelt zu imaginieren, die in allen ihren Zügen der des Intellektuellen entgegengesetzt ist, eine Welt, in der das Wort nur gesprochen zu werden braucht, um Gehör zu finden, einç Welt, in der der einzelne seinen Lebensunterhalt in unmittelbarem Kontakt mit der Natur gewinnt und die frei ist von künsdichen Bedürfnissen, von zivilisatorischen Restriktionen und von in Selbstzwänge umgesetzten Fremdzwängen. Montaignes aggressionslustiger brasilianischer Wilder, Rousseaus autarker und bedürfnisloser „homme naturel", Diderots promiskuitäre tahitische Venus, der arbeitsame Landmann der russischen Narodniki-Bewegung, Lévi-Strauss' sich gegenseitig zärtlich hingebende Nambikwara-Paare, ja sicherlich auch die Figur des Proletariers bei Marx und Engels und Norbert Elias' sich in Kampfspielen und ungehemmten Tafelfreuden ergehender mittelalterlicher Mensch - sie weisen alle Züge auf, die qua Negation auf die Lebenswelt des Intellektuellen bezogen zu sein scheinen. Mit zu jenen besonderen Lebensumständen zählt nicht zuletzt, daß das Denken nie zur Ruhe kommt. Definiert man die Tätigkeit des Intellektuellen als geistige Arbeit, dann findet in seinem Leben Freizeit und Muße keinen Platz. .Allein mit dem Gegenwärtigen befaßt und von ihm vollständig beherrscht; ohne jede Sorge um die Zukunft; unfähig zur Voraussicht und Reflexion [...], verbringen [sie] ihr Leben ohne zu denken [...]" - so äußerte sich 1745 der französische Forschungsreisende La Condamine in dem Bericht über seine Reise in das Innere des südamerikanischen Kontinents und wiederholt damit nur eine Charakterisierung, die vor ihm schon zahlreiche andere europäische Beobachter vorgenommen hatten.25 Ganz ähnlich hieß es etwa schon in der Histoire generale des Antilles seines Landsmanns Jean Baptiste Du Tertre von 1667: „Sie machen sich keine Sorgen, nicht einmal von einer Mahlzeit zur nächsten, und schon gar nicht um den nächsten Tag, da sie nur das jagen und fischen, was sie gerade zum Essen brauchen, ohne sich um die Zukunft zu kümmern [...]."26 Es blieb der modernen ethnologischen Forschung vorbehalten, dieses gängige Stereotyp alter Reisebeschreibungen auf eine empirische Grundlage zu stellen. In seinem 1968 veröffentlichen Aufsatz „The Original Affluent Society" bemüht der 25
26
La Condamine, Charles-Marie, Relation abregée d'un voyage fait dans l'intérieur de l'Amérique méridionale depuis la côte du Brésil et de la Guiane en descendant la rivière des Amazones. Paris 1745, S. 52. Du Tertre, Jean Baptiste, Histoire generale des Antilles habitées par les François. Bd. 2. Paris 1667, S. 357.
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amerikanische Kulturanthropologe Marshall Sahlins eine Reihe von statistischen Erhebungen unter australischen Aborigines und afrikanischen !Kung-San, um den Nachweis zu führen, wie gering der tägliche Arbeitsaufwand traditioneller Jägerund Sammlergesellschaften tatsächlich ist.27 Bei den Buschleuten der südafrikanischen Kalahari beträgt die für die Nahrungsgewinnung und -Zubereitung aufgewendete Zeit diesen Untersuchungen zufolge 3,09 Stunden für die Männer und lediglich 1,8 Stunden für die Frauen. Nimmt man die für die Herstellung von Jagdwaffen, Werkzeugen und anderen Gebrauchsgegenständen sowie für die Kinderbetreuung benötigte Zeit noch hinzu, dann kommen die !Kung-San auf einen Arbeitstag von rund sechs Stunden, und auch der der Aborigines ist nicht wesentlich länger.28 Sie arbeiten also faktisch nur zwei Drittel der Zeit, die ein moderner Industriearbeiter für seine tägliche Reproduktion aufbringt, wenn man seine häuslichen Nebentätigkeiten wie Einkaufen, Reparieren, Gartenarbeit oder Kochen mit hinzuzählt, von der entschieden längeren Arbeitswoche eines Universitätsprofessors, eines Journalisten oder eines freien Autors ganz zu schweigen. Nun sind allerdings an den von Sahlins zitierten Berechnungen einige Zweifel angebracht. Die statistischen Untersuchungen, auf die er sich beruft, haben sich allesamt nur über wenige Wochen erstreckt. Gleichwohl: der „primitive Mensch", der den größten Teil seiner Zeit mit Tanzen, Singen, Geschichtenerzählen, geselligen Unterhaltungen oder einfach Nichtstun verbringt - ist er möglicherweise ein Prototyp des postmodernen Freizeitmenschen? Ob es sich hierbei um einen neuen wissenschaftlichen Mythos handelt, sei dahingestellt. Von Interesse ist in unserem Zusammenhang nur, daß es unermüdliche Schreibtischarbeiter mit einem durchschnitdichen Arbeitstag von ca. zwölf Stunden waren, denen wir diese Vorstellung verdanken.
Wilde Meisterdenker Zu den in Selbstzwänge umgesetzten Fremdzwängen der geistigen Arbeit, die der Intellektuelle als Wissenschaftler betreibt, gehört nicht zuletzt, daß er sich jenen Formen der logischen Schlußfolgerung und rationalen Argumentation zu beugen hat, die sich im Verlauf der europäischen Wissenschaftsgeschichte als Kanon herausgebildet haben. 1978 veröffentlichte Hans Peter Duerr, ein in Heidelberg promovierter Philosoph, unter dem Titel Traumzeit - Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation ein Buch, das in der deutschsprachigen Ethnologie Furore machen sollte und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Im Grunde 27
Hier ergibt sich im übrigen ein Bezug zu einem klassischen Thema neuzeitlicher Utopien. Vgl. Saage, Richard, Technik, Arbeit und Bedürfnisse im utopischen Denken der Neuzeit, in: ders., Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien. Darmstadt 1995, S. 204-238.
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Vgl. Sahlins, Marshall, The Original Affluent Society, in: ders., Stone Age Economics. London 1974, S. 1 ^ 0 .
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genommen handelt es sich bei dieser, vordergründig als eine kulturanthropologische Studie ausgegebenen Abhandlung um eine Abrechnung mit der abendländischen Bewußtseinsphilosophie und den von ihr entwickelten Rationalitätsnonnen. Es geht in ihr um eine Auslotung der Grenzen unseres Erfahrungshorizonts, um all das, was sich nach Duerrs eigenen Worten jenseits des Zaunes befindet, den das rationale Denken um die Lebenswelt der modernen technisch-wissenschaftlichen Zivilisation errichtet hat. Für seine Jenseitsreise in fremde Erfahrungswelten sucht Duerr sich seine Seelenführer und Bündnispartner unterschiedslos unter mittelalterlichen Hexen, indianischen Medizinmännern, australischen Initiationsmeistern und sibirischen Schamanen. Damit kreiert er zugleich eine neue Version der Legende vom „Guten Wilden". Der yakutische Schamane, der seine mystischen Offenbarungen im Zustand der Trance erhält und sich dabei rittlings auf dem Rücken einer Bergziege mit rückwärts gerichteten Hufen sitzend wähnt, der Medizinmann der australischen Jigalong, dessen Beine sich in Flügel, dessen After sich in einen Schnabel und dessen Hoden sich in Augen verwandeln, wenn er seine Traumzeitreise antritt, der bereits aus Carlos Castañedas Schriften weidlich bekannte Yaqui-Curandero Don Juan, der seinen Schülern das wahre Fliegen beibringt und sie die Sprache der Tiere, der Bäume und der Steine verstehen lehrt, sie alle geraten zu Mystagogen, die ihren Adepten die Bewußtseinsformen zugänglich zu machen versprechen, auf deren Ausgrenzung und Stigmatisierung die technisch-rationale Weltauffassung des Westens beruht. Auf diese Weise stilisiert Duerr den Wilden zum Magister irrationalis, zum Lehrmeister eines alternativen Denkens, mit dessen Hilfe wir uns verschüttete Erfahrungswelten neu zu erschließen vermögen. Einen paradoxen Beleg für die These, daß sich Duerrs Figur des wilden Meisterdenkers auch als ein Protest gegen die verinnerlichten Normen des begründenden wissenschaftlichen Denkens lesen läßt, bietet die äußere Form des Buches.29 152 Seiten Text werden in einem eng gesetzten Anmerkungsteil von 182 Seiten kommentiert, das 60seitige Literaturverzeichnis listet ca. 2.700 Titel auf - jede einzelne Aussage wird so aufs skrupulöseste belegt, den formalen Standards wissenschaftlichen Arbeitens versucht der Autor mit aller gebührenden Sorgfalt Rechnung zu tragen. Duerrs Traumzeit-Buch hat den Zenit seiner Popularität allerdings schon lange überschritten. Zehn Jahre nach seiner Veröffentlichung ist es ihm gelungen, einen weiteren Publikumseifolg nachzureichen, seine als Tetralogie angelegte Auseinandersetzung mit Norbert Elias' Theorie des zivilisatorischen Prozesses. Von Interesse ist in unserem Zusammenhang an diesem Werk vor allem eines: die Neufassung und teilweise Revision nämlich, die die Figur des „Guten Wilden" in Duerrs Widerlegung des „Mythos vom Zivilisationsprozeß" erfährt. Noch in der Traumzeit und in seiner weniger beachteten Studie Sedna oder die Liebe zum Leben spielen 29
Vgl. Duerr, Hans Peter, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt/M. 1978.
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die orgastischen Riten der sogenannten Naturvölker und ihre von Restriktionen freie Sexualität eine zentrale Rolle, sei es - wie etwa in der Traumzeit - als eine andere mögliche Form der Bewußtseinserweiterung, oder sei es - wie in Sedna als ein Argument gegen den Lebenshaß und die Sexualfeindlichkeit der christlich geprägten westlichen Zivilisation.30 Dagegen entdeckt er in seinem neuesten Werk mit einem Mal den „Guten Wilden" im „schamhaften Wilden". Zum Beweis seiner These, daß Schamhaftigkeit, Triebhemmung und Triebverzicht keineswegs Resultate des von Elias beschriebenen zivilisatorischen Prozesses seien, sondern vielmehr anthropologische Konstanten darstellten, führt Duerr unzählige Belege aus der älteren und neueren ethnologischen Literatur an. Er illustriert sie anhand des Brauches der neuguineischen Bangu-Anim, ihren Penis unter ihren geflochtenen Lendengürtel zu klemmen, sobald Frauen in ihre Nähe kommen, ebenso wie am Beispiel der Balinesinnen, die beim gemeinsamen Nacktbad ihre Beine überkreuzen, um ihre Scham auch vor den Blicken ihrer Geschlechtsgenossinnen zu verbergen. Er zitiert das strenge Tabu einer Berührung von Angehörigen des anderen Geschlechts bei den nackt gehenden australischen Ureinwohnern ebenso wie die Strafen, mit denen in Ost-Flores ein junger Mann belegt wird, der es wagt, den Busen eines unverheirateten Mädchens zu berühren.31 Die Schamhaftigkeit der Wilden gerät so zum Gegenbild der Schamlosigkeit der eigenen Gesellschaft.
Zivilisationskritik oder Ethnologie? Was an Duerrs durchaus unterschiedlichen, ja tendenziell sogar konträren Versionen der Figur des „Guten Wilden" deudich wird, ist der arbiträre Charakter solcher idealisierenden Konstruktionen. Von den intellektuellen Kopfgeburten eines Montaigne, eines Rousseau oder eines Diderot unterscheiden sie sich lediglich darin, daß ihre Urheber heute auf ein schier unerschöpfliches Reservoir von ethnographischen Beobachtungen zurückgreifen können, um ihre Aussagen zu belegen. Damit verleihen sie ihnen einen Anstrich von Wissenschaftlichkeit, die allerdings einen Rückfall gegenüber den seit Malinowski etablierten Standards moderner ethnologischer Forschung darstellt. Einzelne Kulturzüge aus ihrem Zusammenhang zu lösen, um mit ihrer Hilfe bestimmte Erscheinungsformen der eigenen Gesellschaft in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, mag zwar legitim sein, sofern man Ethnologie primär als Zivilisationskritik versteht - ein Motiv, das sicher schon immer einen wichtigen Stimulus der Beschäftigung mit fremden Kulturen dargestellt hat und in 30 31
Vgl. Duerr, Hans Peter, Sedna oder die Liebe zum Leben. Frankfurt/M. 1984. Vgl. Duerr, Hans Peter, Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 1. Frankfurt/M. 1988 und ders., Intimität. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2. Frankfurt/M. 1990.
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seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte - , doch verfehlt ein solches dekontextualisierendes Verfahren zugleich eine zweite und nicht weniger wichtige Zielsetzung ethnologischer Forschung: zu einem besseren Verständnis auch der fremden Lebensformen selbst beizutragen. Dies aber scheint nur möglich, wenn man den Sinn eines bestimmten kulturellen Phänomens innerhalb seiner jeweils besonderen Lebenswelt und Alltagspraxis zu erfassen versucht. Die kontextualistische Sichtweise der modernen Ethnologie ist aus der Erfahrung der empirischen Feldforschung hervorgegangen. Sicherlich ist es kein Zufall, daß keine der hier diskutierten neueren idealisierenden Konstruktionen aus längerfristigen Feldforschungen hervorgegangen ist. Lévi-Strauss hat sich - wie eingangs bereits erwähnt - bei den von ihm besuchten brasilianischen Indianerstämmen jeweils nur einige Wochen aufgehalten. Marshall Sahlins bezieht sich mit seinem Entwurf des „primitiven Freizeitmenschen" auf die empirischen Erhebungen anderer, die selbst wiederum nur geringe Zeitspannen umfaßten. Auch Hans Peter Duerrs Feldaufenthalte beschränken sich auf jeweils ein paar Wochen, die er in einer nordamerikanischen Cheyenne-Reservation und im Osten der indonesischen Insel Flores verbracht hat. Nun zählt es aber zu den Erfahrungen eines jeden Ethnographen, daß sich mit der zunehmenden Länge eines Feldforschungsaufenthalts das zunächst entwickelte Modell der fremden Gesellschaft als ein Amalgam flüchtiger Ersteindrücke, Voreingenommenheiten und voreilig getroffener Urteile erweist, die im weiteren Verlauf einer ständigen Revision unterliegen. So reizvoll das Leben in einer kleinen und überschaubaren sozialen Gruppe zunächst auch erscheinen mag, so treten die negativen Seiten einer solchen „authentischen" face-to-face-Gesellschaft - die nicht vorhandene Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre, die starke gegenseitige soziale Kontrolle und vieles anderes mehr - doch erst nach einiger Zeit offen hervor. Lévi-Strauss' Aufenthalt bei den Nambikwara war zweifellos zu kurz, als daß er auch diese desillusionierende Erfahrung hätte machen können. Marshall Sahlins hat sicherlich zu Recht das lange Zeit gängige Vorurteil zurückgewiesen, demzufolge die Jäger- und Sammlergesellschaften ständig am Rande des Existenzminimums lebten und vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit nichts anderem als der Suche nach Nahrung beschäftigt waren. Ist es aber allein deshalb, weil sie hierzu offensichüich weit weniger Zeit benötigten als gemeinhin angenommen, schon berechtigt, sie als „ursprüngliche Überflußgesellschaften" zu bezeichnen? Nicht von ungefähr haben die !Kung-San der Kalahari heute ihr nomadisierendes „Freizeitleben" aufgegeben, um sich auf den Farmen der Weißen als Viehhirten zu verdingen, und auch die australischen Aborigines ziehen heute das ärmliche Leben in den Slums der Vorstädte der freieren Lebensweise ihrer Vorfahren vor. Und während sich schamanistische Sitzungen bei uns in therapeutischen Selbsterfahrungsgruppen steigender Popularität erfreuen, gehört der Schamane unter den indigenen Völkern Sibiriens, Nord- und Südamerikas heute einer aus-
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sterbenden Berufsgruppe an, bereitet es der spiritistischen Weltauffassung der Schamanen und ihren Geisterheilmethoden doch zunehmend größere Probleme, mit dem wissenschaftlichen Weltbild des Westens und den aus ihm hervorgegangenen Produkten der modernen Pharmaindustrie zu konkurrieren. Es wäre indes verfehlt, wollte man dem zeitgenössischen Bild vom „Guten Wilden" das fast genauso alte und nicht weniger verzerrende Bild vom erbärmlichen Leben der Primitiven entgegenhalten. Wogegen es sich zu wenden gilt, sind die wirklichkeitsfernen Vorstellungen, die beiden Konzeptionen gleichermaßen zugrunde liegen. Im einen wie im anderen Fall laufen sie letztlich auf eine Dehumanisierung der Menschen hinaus, die in solche Bilder gefaßt werden.
JÖRN GARBER (Halle)
Utopiekritik und Utopieadaption im Einflußfeld der „anthropologischen Wende" der europäischen Spätaufklärung I. Von der städtischen Großutopie zur naturalen Kleinutopie Die Definition von Utopie als in den Raum projizierte „topica universalis" trifft nur zu für die frühneuzeitlichen Formen der „respublica ficta", die als Funktionsganzes von materieller Reproduktionssphäre und wissenslogischer Totalität der europäischen Zivilisation erscheint.1 Diese symbolische Raumchiffre weicht ab der Mitte des 18. Jahrhunderts dem Bild einer harmonischen Natur, in welcher der empfindsame Mensch in familienförmigen, patriarchalischen Lebensgemeinschaften ein ideales Dasein führt.2 Der ältere Utopietypus ist bezogen auf Großstädte als Kultur- und Zivilisationszentren. Hier wirkt noch die antike Vorstellung fort, daß nur die Stadt (Polis) der Raum der Freien, aber auch der Raum des Wissens ist. Im Zuge der Kritik der Wissensbestände von Antike und Moderne ereignet sich ein radikaler Einschnitt innerhalb der Gattungsform Utopie. Die kosmische bzw. weltumspannende Bedeutung der Wissens-, Arbeits- und Lebensagentur „Utopia" schrumpft zur naturalen Kleinform. Der Mensch ist in dieser jüngeren Utopie nicht länger bezogen auf die Reproduktion von Wissen, sondern er lernt sich selbst in Form von Selbstempfindung kennen. Die metropolitane Architekturutopie des 16. und 17. Jahrhunderts wird ab ca. 1750 kritisiert als Ort fehlgeleiteter Zivilisation. Idealität des Zusammenlebens ist nur möglich im Kontext einer amoenen Landschaftsform. Die Nähe dieser jüngeren Utopietradition zum Jaus ruris", zur Bukolik, zu Arkadien und zu den Mythen vom goldenen Zeitalter bzw. zur Idylle ist unübersehbar. Zivilisationsgeschichte und Utopie treten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auseinander. Die Gründe für diesen Wechsel der utopischen Zielsetzungen sind bislang so gut wie unerforscht. Zumeist sind Langzeituntersuchungen zur literarischen Gattung Utopie vorgenommen worden, um nachweisen zu können, wie sich deren Inhalte im Verlauf ihrer Geschichte verändert haben. Warum die Stadt als Ort der Verwirklichung der „societas perfecta" ab 1750 keine Konjunktur mehr hat, dieser überraschende Befund wird erst deutbar, wenn man nach den umfassenden Wis1
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Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, S. 238ff. Vgl. Saage, Richard, Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 77ff.; Garber, Jörn, Von der urbanisüschen Großutopie zur naturalen Kleinutopie. Strukturmodelle utopischen Denkens in der frühen Neuzeit, in: Gaßner, Hubertus/Kopanski, Karlheinz/Stengel, Karin (Hg.), Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utopie in den 20er Jahren. Marburg 1992 (Schriftenreihe des documenta Archivs 1), S. 13-30.
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sensrevisionen seit diesem Zeitpunkt fragt. Mit der Neukonstituierung der Hierarchie der Wissensformen kann entweder ein Umbau der Utopie verbunden sein oder gar deren radikale Ablehnung als Denkbild einer besseren Welt. Beide Aspekte sollen im folgenden analysiert werden. Nicht zu leisten ist die Einpassung des neuen Typus „Naturutopie" in die konkurrierenden Gattungsformen des Natürlichen. Zur Bukolik, zum Mythos des goldenen Zeitalters, zu Arkadien, zum Jaus ruris" und zur Idylle liegen so überzeugende Forschungsergebnisse vor, daß hierzu keine explizite Gattungsrekonstruktion notwendig ist.3 Die folgende Deutung konzentriert sich deswegen auf das Verhältnis von Utopie und allgemeiner Reform des Wissens im Einflußfeld der sich um 1750 konstituierenden „zweiten Aufklärung".
II. Das antiutopische Bezugsfeld: die „anthropologische Wende" im Rahmen der „zweiten Aufklärung" Der heutige Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insofern keine Grundlage, als der biologische Begriff der „Organisation" gleichermaßen auf Gegenstandsbereiche der „Natur'' und der „Cultui" angewendet wurde. Der Mensch ist die Einheit seiner zwei Naturen, nämlich der physischen und der sittlichen. Man hat diese Konstruktion des „ganzen Menschen" gekennzeichnet als „anthropologischen Unitarismus". Die ältere Theorie der prinzipiellen Differenz von „res extensa" und „res cogitans", wie sie der Cartesianismus formuliert hatte, wird aufgegeben. Es kommt zu einer Rehabilitierung der Sinne und des „unteren Erkenntnisvermögens" des Menschen, dessen sinnliche Vorstellungen nicht länger als pejorative Erkenntnisform abgewertet wird. Vielmehr ist die Entfaltung des sinnlichen Menschen eine Voraussetzung dafür, daß dieser lernt, seine Erkenntniskräfte selbsttätig zu gebrauchen. In einer transnational (europäisch) geführten Debatte zwischen Anhängern des Intellektualismus und Verfechtern des Empirismus gewinnen zwischen 1750 und 1800 die antiintellektualistischen Stimmen die Oberhand.4 Deutschland gerät in den Sog einer Debatte, die zunächst in England, sodann in Frankreich und mit einer Zeitverschiebung von ca. zwanzig Jahren auch in Deutschland geführt wurde. Wir bezeichnen diese antiintellektualistische Phase der Aufklärung als „zweite Aufklärung" im Unterschied zur voraufgehenden „ersten Aufklärung", die im wesentlichen geprägt wurde durch die 3
4
Vgl. Garber, Klaus (Hg.), Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung CCCLV), Bibliographie, S. 483ff. Vgl. Kondylis, Panajotis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 287ff.; vgl. auch Pfotenhauer, Helmut, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. Iff. Zur „anthropologischen Wende" der „zweiten Aufklärung" vgl. Moravia, Sergio, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Frankfurt/M. 1989 [1. Aufl.: La Scienza dell'Uomo nel Settecento. Bari 1970]
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großen Systembildungen, durch die Orientierung an den Leitwissenschaften Mathematik, Physik bzw. durch mechanizistische Naturkonzepte. Die zweite Aufklärung kritisiert die ,3egriffsscholastik" der „ersten Aufklärung". Vernunft ohne Erfahrung provoziert Fehlurteile. Die Leidenschaften werden als Bestandteile des Menschen gedeutet und verteidigt. Rousseau formuliert im Einklang mit dem englischen Empirismus: „Nos passions sont les principaux instruments de notre conservation."5 Affekte werden nicht länger der niederen physischen Natur des Menschen zugerechnet, sie sind vielmehr zentrale Steuerungsformen des „ganzen Menschen". Der Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft weicht einer Aufklärung durch die Sinne. Die Entfaltung der Sinne wird zum Entwicklungsprogramm des Menschen. Leidenschaften und Aktivität sind die beiden Seiten eines dynamischen Lebenskonzepts, das der „Statik" der älteren Vernunft- und Systemaufklärung kritisch konfrontiert wird.6 Der Nachweis des Zusammenhangs von physischer und psychischer Entwicklung des Menschen wird von den Vertretern der Epigenesetheorie den Präfonmisten entgegengesetzt, der „Geist" des Menschen bildet sich in dem Maße, in dem die Sinne des Menschen affiziert werden. Der Hauptvertreter dieser psychisch-anthropologischen Methode, der Schweizer Philosoph Charles Bonnet (1720-1793), formulierte programmatisch: ,JLaßt uns Facta sammeln, sehn was für Folgen aus ihnen entspringen. Dies ist unsere ganze Philosophie".7 Die physiologische Erkenntnistheorie lehnt die Vorstellung von eingeborenen Ideen ab, die von der Erfahrung getrennt sind. Es gibt vielmehr eine prästabilierte Harmonie zwischen dem Erkenntnisvermögen und der empirischen Erkenntnispraxis des Menschen. Zunächst ist der Mensch abhängig von seinen äußeren, sinnlichen Eindrucksdaten, erst sukzessive kann sich ein Erkenntnisvermögen herausbilden, das sich von den unmittelbaren Sinnesdaten ablöst. Damit gewinnen die Umweltbedingungen, unter denen der Mensch lebt, nachhaltigen Einfluß auf dessen „Natur". Der Mensch wird in dem Maße Schöpfer seiner selbst, wie er seine Umwelt zu erkennen, zu benutzen und schließlich zu beherrschen lernt. Dieser Prozeß kann nicht durch einen generellen Akt einer Staats- und Gesellschaftsgründung vollzogen werden, wie dies die Institutionsutopisten der frühen Neuzeit postulierten, vielmehr lernt der Mensch in einem Langzeitprozeß, seine anthropologische Grundausstattung zu benutzen. Nur durch Eigenerfahrung lassen sich die Außenreize vom Menschen verarbeiten. Dieses Konzept geht aus von der Selbstorganisation des Menschen im Verlauf seiner Geschichte. Jedem Menschen wird eine spezifische Eigenstruktur zugesprochen, die sich nicht umstandslos in die „Kette des 5 6
7
Vgl. Kondylis, (wie Anm. 4), S. 411 (Emile-Zital ebd.). Vgl. Gessinger, Joachim, Auge