Literatur in der neuen Klassengesellschaft (#Richtige Literatur im Falschen 4) Dokumentationsband zur Tagung in der Lohnhalle des LWL-Industriemuseum Zeche Zollern 7.6.2018 bis 9.6.2018, Dortmund-Bövinghausen 9783846765289, 9783770565283


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German Pages 307 [308] Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung
Literatur in der neuen Klassengesellschaft
Soziale Klassen und Literatur?
Klassen, Klassenpolitik und Klassenliteratur – gibt es das noch?
Teil 1 Von der alten zur neuen Klassengesellschaft
Phasen der alten Klassengesellschaft von Weimar bis Bonn
‚Geist und Tat‘, ‚Wissen und Verändern!‘ Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie in der Weimarer Republik bei Heinrich Mann und Alfred Döblin
Leben und Sterben für die Utopie. Peter Weiss und die „Ästhetik des Widerstands“
Falken-Spatzen-Ungeheuer. Zu den „Freibeuterschriften“ von Pier Paolo Pasolini
Neoliberale Rebellen. Überlegungen zu Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“ und Bret Easton Ellis’ „American Psycho“
Diskussion
Die neue Klassengesellschaft: Prekarisierung und Fraktalisierung in der Mitte
Die Bundesrepublik – eine demobilisierte Klassengesellschaft?
Der Aufstieg der postindustriellen Mittelklasse. Von der nivellierten zur gespaltenen Mitte
Diskussion
Teil 2 Spezielle Widersprüche in der ausdifferenzierten Gesellschaft
Pauperisierung
Prekarisierung, Pauperisierung und soziale Polarisierung
Diskussion
Die Gender-Frage
Die Verschränkung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen
Die Stimme verstellen
Diskussion
Migration und Pluralität
Die Erzählung von der Kluft: Arenen der Migrationsdebatte
Wir Migranten. Die Literatur der Migration
Diskussion
Aufstieg der Neuen Rechten
Was ist der „Rechtsruck“?
Europa, Tradition und die soziale Frage. Einblicke in die Kulturarbeit der Neuen Rechten
Über mein Romanprojekt: Das Singen der Sirenen
Diskussion
Anhang
Karnickelpass. Über Kinder und Geld, Zusammenhang und Verblendung
Das Singen der Sirenen (Auszug)
Autorinnen und Autoren
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Literatur in der neuen Klassengesellschaft (#Richtige Literatur im Falschen 4) Dokumentationsband zur Tagung in der Lohnhalle des LWL-Industriemuseum Zeche Zollern 7.6.2018 bis 9.6.2018, Dortmund-Bövinghausen
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Literatur in der neuen Klassengesellschaft

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Literatur und Ökonomie Herausgegeben von Iuditha Balint Wissenschaftlicher Beirat Stefan Berger, Fritz Breithaupt, Stefan Brüggerhoff, Ludger Claßen, Patrick Eiden-Offe, Jörn Etzold, Walter Fähnders, Heinrich Theodor Grütter, Jochen Hörisch, Dagmar Kift, Stefan Mühlhofer, Rolf Parr, Franziska Schößler, Erhard Schütz, Joseph Vogl, Burkhardt Wolf, Thomas Wegmann, Thomas Wortmann

BAND 2

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Enno Stahl, Klaus Kock, Hanneliese Palm, Ingar Solty (Hg.)

Literatur in der neuen Klassengesellschaft (#Richtige Literatur im Falschen 4)

Dokumentationsband zur Tagung in der Lohnhalle des LWL-Industriemuseum Zeche Zollern 7.6.2018 bis 9.6.2018, Dortmund-Bövinghausen

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Die Tagung wurde gefördert von der Kunststiftung NRW, dem Verein zur Förderung der Kooperation zwischen Wissenschaft und Arbeitswelt e.V. in NRW und der Fritz-Hüser-Gesellschaft e.V. Umschlagabbildung: Umschlagentwurf bzw. Nachweis zur Umschlaggestaltung folgt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2020 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2698-7066 ISBN 978-3-7705-6528-3 (hardback) ISBN 978-3-8467-6528-9 (e-book)

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Inhalt Zur Einführung 1.

Literatur in der neuen Klassengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ingar Solty / Enno Stahl

2.

Soziale Klassen und Literatur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Podiumsdiskussion Klaus Dörre, Cornelia Koppetsch, Monika Rinck, Raul Zelik (Moderation: Iuditha Balint)

3.

Klassen, Klassenpolitik und Klassenliteratur – gibt es das noch?. . . 33 Hans-Jürgen Urban

Teil 1 Von der alten zur neuen Klassengesellschaft Phasen der alten Klassengesellschaft von Weimar bis Bonn 4.

,Geist und Tat‘, ‚Wissen und Verändern!‘ Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie in der Weimarer Republik bei Heinrich Mann und Alfred Döblin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Norbert Niemann

5.

Leben und Sterben für die Utopie. Peter Weiss und die „Ästhetik des Widerstands“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Enno Stahl

6. Falken-Spatzen-Ungeheuer. Zu den „freibeuterschriften“ von Pier Paolo Pasolini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Stefan Schmitzer 7.

Neoliberale Rebellen. Überlegungen zu Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“ und Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 David Salomon

8.

Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

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Inhalt

Die neue Klassengesellschaft: Prekarisierung und Fraktalisierung in der Mitte 9. Die Bundesrepublik – eine demobilisierte Klassengesellschaft? . . 97 Klaus Dörre 10. Der Aufstieg der postindustriellen Mittelklasse. Von der nivellierten zur gespaltenen Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Cornelia Koppetsch 11.

Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Teil 2 Spezielle Widersprüche in der ausdifferenzierten Gesellschaft Pauperisierung 12. Prekarisierung, Pauperisierung und soziale Polarisierung. . . . . . . . 135 Christoph Butterwegge 13. Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Die Gender-Frage 14. Die Verschränkung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Stefanie Hürtgen 15. Die Stimme verstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Anke Stelling 16. Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Migration und Pluralität 17. Die Erzählung von der Kluft: Arenen der Migrationsdebatte . . . . . 193 Hannes Schammann

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Inhalt

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18. Wir Migranten. Die Literatur der Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Ingar Solty 19. Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Aufstieg der Neuen Rechten 20. Was ist der „Rechtsruck“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Richard Gebhardt 21. Europa, Tradition und die soziale Frage. Einblicke in die Kulturarbeit der Neuen Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Thomas Wagner 22. Über mein Romanprojekt: Das Singen der Sirenen . . . . . . . . . . . . . . . 264 Michael Wildenhain 23. Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Anhang 24. Karnickelpass. Über Kinder und Geld, Zusammenhang und Verblendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Joachim Helfer 25. Das Singen der Sirenen (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Michael Wildenhain

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

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Zur Einführung

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Literatur in der neuen Klassengesellschaft Ingar Solty / Enno Stahl Mit dem Ende der Systemkonkurrenz 1989/91 hat sich ein gesellschaftlicher Wandel beschleunigt, der mit der neoliberalen Tendenzwende in den 1970er Jahren begann: Der Kapitalismus wurde globalisiert und das Kapital spielt die national organisierten Lohnabhängigen und die Staaten gegeneinander aus, um Lohnzurückhaltungen und staatliche Subventionen zu erzwingen, während die Staaten sich und ihre Bevölkerungen ganz den selbstgeschaffenen Weltmarktzwängen unterwerfen. Angesichts der Veränderungen, die sich daraus für die soziale Zusammensetzung der Gesellschaften ergeben haben, ist es über die Linke hinaus fast schon wieder selbstverständlich geworden, von einer (neuen) Klassengesellschaft zu sprechen. Fest steht: Mit der Durchsetzung der Globalisierung als Projekt zur Wiederherstellung von Kapitalmacht und der damit verbundenen Transnationalisierung der Wertschöpfungsketten haben sich die Lebensweisen sehr vieler Menschen grundlegend verändert, internationalisiert. Zugleich hat sich im globalisierten Kapitalismus eine fundamentale Transformation von Staatlichkeit vollzogen: Die Verwandlung des keynesianischen Wohlfahrts- in den neoliberalen Wettbewerbsstaat hat etwa strukturelle Massenarbeitslosigkeit und unfreiwillige Teilzeitarbeit, ein sanktionenbasiertes System des Workfare und eine Verfestigung von Armut geschaffen. Mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes geht ein Prozess der Prekarisierung einher, der nicht nur die „Abgehängten“ betrifft, sondern, wie Klaus Dörre gezeigt hat, quasi ein „System kommunizierender Röhren“1 zwischen der „Zone der Integration“ (typisch Beschäftigte) und der „Zone der Prekarität“ (atypisch Beschäftigte) hervorgebracht hat. Jene sehen in diesen ihre drohende Zukunft. Die Krisenbewusstseinsforschung der letzten Jahre hat belegt, dass die soziale Angst in Deutschland bis weit in die Lohnabhängigen-Mitte der Gesellschaft gekrochen ist. Sie bildet das Ferment für rechtspopulistische Stimmungen, die in den Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ sowie auch der „Freiheitlichen Partei Österreichs“ und der „Schweizer Volkspartei“ mündeten. Dieser rechte Populismus wird durch das Festhalten an der Austeritätspolitik („Schwarze Null“) nachhaltig befördert. Unter diesen Bedingungen gibt 1  Klaus Dörre: Prekäre Arbeit. Unsichere Beschäftigungsverhältnisse und ihre sozialen Folgen. In: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, Nr.3/2006, S. 181-193, hier S. 188.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_002

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Ingar Solty / Enno Stahl

ihm die Zuwanderung Nahrung: Sowohl aus der Peripherie des Kriseneuropas, wo über Jahre hinweg jeder zweite junge Mensch arbeitslos gewesen ist, als auch aus den Gebieten der Stellvertreterkriege im arabischen Raum fliehen Millionen vor Armut, Gewalt und Verfolgung. Welchen Niederschlag findet dieses Szenario in der deutschen Literatur? Dies vorwegnehmend, muss man leider sagen: keinen großen. In der Weimarer Republik gab es noch eine ganze Reihe kritischer Autorinnen und Autoren – ob von kommunistischer Seite wie Bertolt Brecht, Friedrich Wolf, Lion Feuchtwanger, der Malik-Kreis und die Mitglieder des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller oder von eher linksbürgerlicher bis linkssozialistischer Kontur wie die (nach Benjamin) „linken Melancholiker“ Erich Kästner, Walter Mehring und Kurt Tucholsky oder auch Vertreter der Neuen Sachlichkeit wie Irmgard Keun oder Erik Reger. Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sah es als eine selbstverständliche Aufgabe, die Zeitumstände zwar nicht abzubilden, aber jedenfalls in sich aufzunehmen, sie aufmerksam bis polemisch zu kommentieren und – nicht zuletzt – nach Besserungen zu fahnden. Das gilt auch für einige Vertreter des großen Romans dieser Zeit, z.B. Heinrich Mann und Alfred Döblin. Schon 1894/95 hatte Mann die Devise unmissverständlich ausgegeben: Die geistigen Strömungen von denen die Litteratur sich nährt und erneuert, stehen in engem Zusammenhang mit den politischen und sozialen Vorgängen und Tendenzen des Augenblicks. Die Litteratur muß die Zeit, deren letzten Sinn sie auszusprechen hat, fühlen dort wo unter den heutigen Umständen der Puls der Zeit am lautesten schlägt.2

Mann, der nicht unbedingt Parteigänger der radikalen Linken war, aber in Teilen mit ihr sympathisierte, hatte im Schicksalsjahr 1919 unter dem Titel „Geist und Macht“ eine Sammlung seiner Essays herausgegeben, die ihn als eine Figur der Kaiserzeit auswiesen, die gleichwohl klar auf die Demokratie, auf die Republik auch schon vor dem Ersten Weltkrieg hindachten und -arbeiteten. Bereits 1910 hatte er von den Literaten verlangt, „daß sie Agitatoren werden, sich dem Volk verbünden gegen die Macht“. Für ihn allerdings war dies immer ein Kampf des Geistes, den entscheidenden Schritt zum Materialismus machte er nicht, so schrieb er noch am 1. Dezember 1918, während der Revolution in Berlin: „das 2  Erschienen in: Das zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt (hrsg von Heinrich Mann), 5. Jg., 2. Halbband, H. 11 (August 1895), S. 513-517, hier zitiert nach: Heinrich Mann: Essays und Publizistik, Kritische Gesamtausgabe (hrsg. von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel), Bd. 1: Mai 1889 bis August 1904 (hrsg. von Peter Stein), Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 212-216, hier 213. Vgl. dazu: Manfred Hahn: Heinrich Manns Beiträge in der Zeitschrift „Das zwanzigste Jahrhundert“. In: Weimarer Beiträge 13 (1967), S. 996-1019.

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Literatur in der neuen Klassengesellschaft

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Schicksal der Menschen wird mehr von ihrer Art, zu fühlen und zu denken, bestimmt als durch Wirtschaftsregeln“.3 Anders Alfred Döblin, der die revolutionären Ereignisse 1918/19 in seiner „November“-Trilogie ja schon unmittelbar literarisch verarbeitet hatte – er sah es als unbestreitbar an, dass materielle Umstände das Denken mitbestimmen: „Der geschichtliche materielle Prozeß formt und beeinflusst den Menschen und die Menschengruppen“4, doch auch er sieht das Verhältnis von Bewusstsein und Sein als dialektisches, der Mensch als „ein produzierendes Zentrum“5 wirke auf die gesellschaftliche Situation zurück. Keinen Zweifel hegte Döblin am „Schädlingscharakter“ des Kapitalismus. Doch sah er die großen Arbeiterparteien sehr skeptisch, aufgrund ihrer verkrusteten Strukturen und ihrer Strategiehörigkeit sei bei ihnen der Klassenkampf kein Mittel mehr zur Herbeiführung des Sozialismus, stattdessen habe er „sich in der Tagespraxis verselbständigt“.6 Auch bei ihm spielt die Geistigkeit noch eine tragende Rolle, sein politisches Programm ist von libertär-anarchistischen Einsprengseln geprägt und verweist eher auf einen utopischen Sozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es in Sonderheit Peter Weiss, der die Rolle als linker Intellektueller ausfüllte, ohne dabei allein zu bleiben. Denn schließlich gab es in der DDR eine Schreibtradition, die in vielen Schattierungen von Hacks bis Huchel – emphatisch befürwortend, kritisch-solidarisch begleitend oder mehr oder weniger offen ablehnend – sich zu den Erfahrungen des Sozialismusaufbaus verhielt. Peter Weiss, in Schweden lebend und in beiden deutschen Staaten publizierend, ist mit seiner „Ästhetik des Widerstands“ geradezu die Ikone einer „kämpfenden Ästhetik“, die – als Begründung und Hoffnungsschimmer gleichermaßen – uns insbesondere in der heutigen Situation sehr zupass kommen sollte. Nicht nur ist Weiss‘ dreibändiges Romanwerk eine von links erzählte Geschichte der nazistischen Herrschaft und der historischen Spaltung der Arbeiterbewegung, somit ein Beitrag zur literarischen Berichterstattung über die Klassengesellschaft im 20. Jahrhundert, sondern das Buch wurde in der Zeit seines Erscheinens selbst zum Politikum und Anreger. Während die offizielle Literaturkritik sich nur zögerlich darauf einließ, wurde Weiss‘ Roman in den 1980er Jahren umso mehr von kritisch denkenden Menschen ins 3  Heinrich Mann: Sinn und Idee der Revolution (Ansprache im Politischen Rat geistiger Arbeiter, München, Dezember 1918, in: ders.: Macht und Mensch. Essays, Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 158-161, hier 159. 4  Alfred Döblin, Wissen und Verändern. Offene Briefe an einen jungen Menschen, in: ders.: Der deutsche Maskenball, München: dtv 1987, S. 125-266, hier 154. 5  Ebd., S. 153. 6  Ebd., S. 145.

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Ingar Solty / Enno Stahl

Zentrum von Diskussions- und Lektürekreisen gerückt, die es für ihre eigene historisch-ästhetische Selbstvergewisserung nutzten. Pier Paolo Pasolini hat nicht nur in seinen Filmen, sondern beinahe mehr noch in seinen Romanen unermüdlich gegen die hegemonialen Mächte gekämpft und ihnen, etwa in „Ragazzi di Vita“ (1955) und „Una Vita violenta“ (1959), das ebenso kraftvolle wie tragische Leben der subproletarischen Schicht entgegengesetzt. Sein bedeutendster Angriff auf die ökonomisch-politische Hegemonie jedoch dürfte sein postum veröffentlichter, fragmentarischer Enthüllungsroman „Petrolio“ (1992) sein, in dem Pasolini den Verflechtungen zwischen Politik, Erdölindustrie und Mafia nachgeht. Dieser Roman war durchaus problematisch für die darin dekuvrierten Mächte, inzwischen gibt es Hinweise (die allerdings nicht abschließend bestätigt werden konnten), dass dieses in Planung befindliche Buch mit Pasolinis noch ungeklärter Ermordung zu tun gehabt haben könnte. Der Autor hatte seine Arbeit daran begonnen, nachdem der Journalist Mauro de Mauro 1970 von der Mafia ermordet worden war. Mauro hatte unter anderem über den Tod des Erdölmanagers Enrico Mattei recherchiert, 1962 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, der sich im Nachhinein als Attentat herausstellte. Just jenes Kapitel des Romans, das sich mit dem Tod Matteis befasst, wurde aus dem Atelier Pasolinis gestohlen und galt als verschollen oder auch nie geschrieben. 2010 brüstete sich der Berlusconi-Vertraute Marcello dell’Utri, mittlerweile wegen seiner Mafiakontakte zu sieben Jahren Haft verurteilt, damit, das verschwundene Kapitel gelesen zu haben. Auch in seinen theoretischen Schriften hat Pasolini sich vehement für seine Überzeugungen und gegen die herrschenden Cliquen eingesetzt. Seine später als „Freibeuterschriften“ im Buch erschienenen Kolumnen erschienen, überaus prominent platziert, auf der Frontseite des „Corriere della Sera“ und lösten zahlreiche Debatten in Italien aus. Unter anderem beklagte Pasolini hellsichtig, bereits Ende der 1960er Jahre, die Vorzeichen einer neoliberalen Wende, die zu diesem Zeitpunkt nur wenige kommen sahen. Seiner Diagnose nach habe die italienische Gesellschaft (und alle anderen west- und mitteleuropäischen Gesellschaften können hierbei zwanglos mitgedacht werden) eine fundamentale Transformation erfahren, eine kulturelle, ja anthropologische „Mutation“ als Ergebnis einer „hedonistischen Ideologie des Konsums und der daraus folgenden modernistischen Toleranz amerikanischer Machart“,7 die er als 7  Pier Paolo Pasolini: Studie über die anthropologische Revolution in Italien, In: ders.: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. 4. Aufl. Berlin: Wagenbach 2016, S. 47-52, hier 48.

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Literatur in der neuen Klassengesellschaft

einen neuen Totalitarismus sieht. Denn er habe die ursprüngliche italienische Kultur restlos ausgemerzt, was nicht einmal dem Faschismus gelungen sei: „Die verschiedenen Sonderkulturen (die der Bauern, der Subproletarier, der Arbeiter) richteten sich vielmehr weiter unbeirrbar nach ihren überlieferten Modellen. Die Repression ging nur so weit, wie es zur Sicherung des verbalen Konsenses erforderlich war. Heute dagegen ist der vom Zentrum geforderte Konsens zu den herrschenden Modellen bedingungslos und total. Die alten kulturellen Modelle werden verleugnet.“8 Passend zu diesem sozio-kulturellen Wandel und parallel zum Zusammenbruch des Staatssozialismus, der eine allgemeine Krise auch der sozialdemokratischen und trotzkistischen Linken im Westen hervorrief, kam es 1989/1990 nicht nur in Deutschland, wo u.a. Uwe Wittstock, Martin Hielscher und Frank Schirrmacher sich zu Anwälten einer neuen plätschernd-entpolitisierten Erzählweise machten, zur Ausprägung neoliberaler Literaturformen. Ein Anknüpfungspunkt für deutsche Popliteraten etwa wurde Bret Easton Ellis mit seinem „American Psycho“ (1991) – die Hauptfigur ist ein blasierter, manisch auf Styles und Trends versessener junger Reichenspross, der über elterliche Vermittlung einer hochbezahlten Scheinaktivität in einer Wallstreet-Firma nachgeht und in seiner Freizeit bestialische Morde an Frauen begeht. Die Hauptfigur laviert also zwischen ausgesprochener intellektueller Schlichtheit, ja Spießigkeit (in seiner Verehrung der objektiv indiskutablen Band Genesis, wohlgemerkt in ihrer Spätphase) und bodenlosen Abgründen. Ellis zeichnet somit ein in der Tat psychotisches Bild des amerikanischen Upper-Class-Charakters, der als unproduktive, ultradekadente und dazu mordlüsterne Drohne erscheint. Insofern wirkt „American Psycho“ tatsächlich radikal gesellschaftskritischer als seine wesentlich harmloseren deutschen Wiedergänger von Christian Kracht „Faserland“ (1995) über Leif Randt „Schimmernder Dunst über Coby County“ (2011) bis hin zu Karl Wolfgang Flenders „Greenwash Inc.“ (2016). Doch ist das so? Trotz der Zerrissenheit und Brüchigkeit der amerikanischen Elite, die Bret Easton Ellis schonungslos offenbart, lässt dieser literarische Ansatz doch alles so, wie es ist – keine Aussicht auf Besserung, kein Trost, keine Utopie. Das müsste er indes nicht zwingend bieten. Aber der Mindestanspruch an kritische Literatur wird auch nicht wirklich eingelöst, nämlich das gesellschaftliche System, das solche Charaktere wie den Protagonisten Patrick Bateman und seine Klasse hervorbringt, zu erhellen, d.h. die sozialen Abhängigkeiten und Konsequenzen aufzuzeigen, ansehbar zu machen, wie Bernd Stegemann es in seinem „Lob des Realismus“ beschreibt: „Der Sozialismus begreift den Einzelnen als durch tausend Fäden mit seiner Umwelt verbunden. Diese Fäden anschauen zu 8  Pier Paolo Pasolini: Alte und neue Kulturpolitik. In: ebd., S. 40-43, hier 40.

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Ingar Solty / Enno Stahl

können, um nicht als Marionette darin zappeln zu müssen, ist die Aufgabe des Realismus.“9 Ähnliches gilt für Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“ (frz., 1994). Während er in seinen darauffolgenden Büchern stets sehr zielsicher gesellschaftliche Erregungspotenziale anzapfte, um sie für verkaufsfördernde Spektakel nutzbar zu machen, scheint sein Romanerstling noch eine recht schonungslose Analyse der hedonistisch-dekadenten, westlichen Konsumgesellschaft vorzunehmen. Doch sein inzwischen längst manifester Konservatismus äußert sich auch bereits in diesem Buch, es geht Houellebecq nicht um eine emanzipatorische Kritik oder die Vermittlung theoretischer Angriffspunkte für Attacken auf die Hegemonie, sondern einzig um eine fatalistisch-nörgelnde Kulturkritik reaktionären Schlags. Insofern fällt er noch hinter die neoliberale Konsenshaltung, das sich Einverstanden-Erklären mit dem postmodernen Status Quo zurück und hebt die Widersprüche des Neoliberalismus nach rechts auf. Nicht von ungefähr wird ihm Frauenfeindlichkeit vorgeworfen, anders als bei Eugen Gomringer ist der Tatbestand der „Objektifizierung“ bei Michel Houellebecq unbestreitbar – ein weiteres Symptom dafür, wie sehr dieser Autor die herrschende Klassengesellschaft nicht nur nicht negiert, sondern sie sogar noch bestätigt. Gerade im Neoliberalismus haben sich ja die Geschlechterverhältnisse stark gewandelt: Das fordistische, männliche Brotverdienermodell ist weitgehend überwunden. Zugleich ist eine starke Spaltung innerhalb der weiblichen Lohnabhängigen festzustellen. Während ein kleiner Teil durch Quotenregelungen die „gläserne Decke“ zu den bürgerlichen Funktionseliten und der transnationalen Managerklasse durchbricht, findet die Feminisierung des Arbeitsmarktes – im Dienstleistungssektor und hier besonders in der wachsenden Care-Ökonomie – unter starken Prekaritätsbedingungen statt und bilden Frauen im ausufernden Niedriglohnsektor die größte Gruppe. Man kann nicht sagen, dass sich dies in der deutschen Literatur bislang niederschlüge – mit Ausnahme von Heike Geißlers Buch „Saisonarbeit“ (2014), in dem sie über ihre eigene Tätigkeit bei Amazon berichtet. Und trotz einer ausufernden „Gender-Forschung“ sind literarische Arbeiten, die sich dieser Thematik auf einem geeigneten ästhetischen Niveau widmen, erstaunlicherweise dünn gesät. Anna Katharina Hahns „Kürzere Tage“ ist – in seiner klugen Entgegensetzung zweier FrauenBiografien – ein Buch über die Notwendigkeit der Überwindung des männlichen Brotverdienermodells einerseits und der Grenzen der Selbstverwirklichung durch Arbeit in der neoliberalen Ökonomie andererseits. Indes spielt der Haupttätigkeitsbereich von Frauen in dieser Ökonomie hier keine 9  Bernd Stegemann: Lob des Realismus. Berlin: Theater der Zeit 2015, S. 17.

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Literatur in der neuen Klassengesellschaft

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Rolle. In der Anlage vergleichbar ist Lisa Kränzlers „Nachhinein“, hier wird der Klassenunterschied im Aufwachsen zweier Freundinnen sehr deutlich herausgestellt, doch der Bezug zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wäre auch hier stärker zu prononcieren. Anke Stelling dekuvriert in ihrem Roman „Bodentiefe Fenster“ (2015) wiederum die sozialen Widersprüche und Optimierungslügen des BionadeBiedermeiers, gerade Mütterrollen werden hier einer schonungslosen Ideologiekritik zwischen eigenem Anspruch und Wirklichkeit ausgesetzt. Beim Thema der erwerbslosen und abgehängten Teile der Arbeiterklasse hinkt die deutschsprachige Literatur ebenfalls hinterher. Typen und Charaktere aus diesem Kontext sind Mangelware oder werden im Stil eines – mal wohlwollenden, mal der Klassendistinktion dienenden – Elendsvoyeurismus und Paternalismus geschildert. Für gewöhnlich verweisen deutsche Rezensenten in diesem Kontext gerne auf Clemens Meyers literarisch geschönten, autobiografisch unterfütterten Coming-of-Age-Roman „Als wir träumten“ (2006). Seine alles verklärende Männerromantik läuft indes jeder möglichen gesellschaftskritischen Note der Erzählung, sollte sie beabsichtigt sein, zuwider. Eher würde man noch glauben, bei Thomas Melle „3000 Euro“ (2014) fündig zu werden, aber die Figuren des Romans, ein aus dem Rahmen gefallener Ex-Jurastudent und eine Supermarktkassiererin, die auf das Honorar für einen Pornodreh wartet, entkommen an keiner Stelle ihrer rein individuellen Prägung, wodurch sie eben kein klassentypisches Format annehmen und sich demnach nicht als kollektive Charaktere nach Maßgabe ihrer sozialen Kennung und Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen erweisen. Eine kritische Literatur der Klassengesellschaft im Wandel müsste die Welt der Arbeit in den Blick nehmen. Diese findet indes recht selten Eingang in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, trotz des frappierenden Charakters der Veränderungen gerade auf diesem Gebiet. Ein entscheidendes Kriterium der neoliberalen Umstrukturierung ist ein Raubbau an der Arbeit. Unter dem Druck stetiger Ökonomisierung grassieren psychische Belastungsstörungen. Ihnen entspricht als literarisches Szenario die „Tragödie des Leistungsträgers“, einer an sich erfolgreichen Arbeitskraftunternehmer-Figur, die aber, was sich ja auch effektvoll erzählen lässt, ins ökonomische Räderwerk der Ausschlussgesellschaft gerät, wie etwa in Annette Pehnts „Mobbing“ (2007), Stephan Thomes „Grenzgang“ (2009), Christoph Heins „Weiskerns Nachlass“ (2011), Anna Katharina Hahns „Am Schwarzen Berg“ (2012) und Kristine Bilkaus „Die Glücklichen“ (2015). In Letzterem findet sich ein Paar in der Abstiegsspirale wieder. Sie, Cellistin in einem Musicaltheater, kann wegen eines psychisch bedingten Zitterns der Hand nicht mehr spielen, gleichzeitig verliert ihr Mann seine Stelle als Journalist. Psychologisch dicht und nüchtern ist die Darstellung

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dieses Romans, der aber schon wegen seiner sprachlichen und formalen Konventionalität im Rahmen des Systems bleibt, das er beschreibt. Auch wird hier eine Konzentration auf die Mikrostruktur, die eigene Familie, zur positiv verstandenen Fluchtlinie. Ebenso wie die Protagonisten in Thomes „Grenzgang“ schrauben Bilkaus Figuren ihre Erwartungen an ein gutes Leben zurück, sprich: finden sich funktional mit dem ungewohnten Minimalismus ab, der ihnen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse aufgezwungen wird. Ähnlich wird in Terézia Moras „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009) ein verschärfter Rückzug ins Private als pseudowiderständige Antwort auf den „stummen Zwang der ökonomischen (Globalisierungs-)Verhältnisse“ (Karl Marx)10 als Ausweg nahegelegt. Alle diese Romanfiguren fügen sich damit hervorragend ein in die verschiedenen individuellen Bewältigungsstrategien, die sich aus der Ökonomisierungssubjektivität ergeben. Während der Neoliberalismus die öffentlichen Gemeingüter privatisiert, privatisieren die Mittelklassen die Utopie als individuelle Nische. So hat sich etwa in den urbanen, gutausgebildeten und einkommensstärkeren Mittelklassen eine auf Entschleunigung abzielende und dem Zen-Buddhismus entspringende Achtsamkeitskultur (D.I.Y., Yoga, etc.) herausgebildet, deren Wirksamkeit etwa anhand des Booms von Zeitschriften wie „LandLust“, „Flow“ oder „Happiness“ abgelesen werden kann und von einer unkritischen Theorie als Suche nach „Entschleunigung“11 und „Resonanz“ (Hartmut Rosa)12letztlich verdoppelt wird. Die privilegierten und individuell-entpolitisierten Ansätze zur Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit tragen jedoch zugleich zur starken Ausdifferenzierung der neuen Klassengesellschaft bei. Dies wird im Zusammenhang mit der Krise der öffentlichen Infrastruktur deutlich. Vor dem Hintergrund der vehement gewachsenen sozialen Ungleichheit findet eine strukturelle und sozialräumliche Entsolidarisierung statt, bei der sich die oberen Schichten zunehmend in einem „gated capitalism“ mit privat(isiert) er Infrastruktur gesellschaftlich abschotten. Damit drohen jedoch zugleich gerade die oberen Zehntausend aus dem Blickfeld der Allgemeinheit und der Literatur zu entschwinden, wenn wir einmal absehen von Rainald Goetz‘ Bertelsmann-Roman „Johann Holtrop“ (2014). 10  Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. In: Marx-Engels-Werke, Band 23. Ostberlin: Dietz Verlag 1968, S. 765. 11  Hartmut Rosa: Kapitalismus als Dynamisierungsspirale – Soziologie als Gesellschaftskritik. In: Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 21-86. 12  Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2018.

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Literatur in der neuen Klassengesellschaft

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Zu den Wandlungen in der realen Klassengesellschaft, die auf ihr Erscheinen im Fiktiven zu prüfen sind, gehört zugleich die Frage der Migration. Wie findet sie in der Literatur statt? Der Blick von außen existiert freilich. Der Willkommenskultur entspricht eine Willkommensliteratur und das Feuilleton hat ihr viel Aufmerksamkeit gewidmet, insbesondere Jenny Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“ (2015). Aber auch Elena Messners „In die Transitzone“ (2016) fällt hier auf. Die Migrationsliteratur selber verdient jedoch besondere Aufmerksamkeit, sie untergräbt die Vorstellung von ethnisch homogenen, statischen Gesellschaften, die immer Migrationsgesellschaften sind. Für die Vielfältigkeit der sozialen Struktur heute stehen etwa das junge Werk der in Aserbaidschan geborenen Olga Grjasnowa („Gott ist nicht schüchtern“, 2017), der in Ulm als Einwandererkind geborene Imran Ayata „Mein Name ist Revolution“ (2011), der deutsch-irakische Schriftsteller Abbas Khider, der zuletzt in „Ohrfeige“ (2016) das Angstleben in deutschen Asylbewerberunterkünften ästhetisch sichtbar und nachfühlbar macht, oder auch das Berliner „Box-Freiraum“-Projekt, das den geflüchteten Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten eine Stimme gibt. Die rechte Reaktion auf diesen gesellschaftlichen Wandel existiert auch in der Literatur: von den Rechten selber, die sich ästhetisch wie politisch ins unmittelbare AfD-Fahrwasser begeben haben, etwa der literarisch völlig überschätzte Uwe Tellkamp oder Botho Strauß. Die kritische Reflektion über den Wiederaufstieg der Rechten steht in der deutschsprachigen Belletristik jedoch noch am Anfang, ein Beispiel wäre Michael Wildenhains „Das Singen der Sirenen“ (2017). Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat durchaus noch viel zu tun, wenn sie sich den maßgeblichen Verwerfungen der Zeit widmen will. Aber vielleicht will sie das auch gar nicht, sondern weiter in Bürgeridyllen schwelgen, weit biedermeierlicher, als sie selber glaubt.

Anmerkung zur Textgestalt

Das vorliegende Buch versucht das Symposium „Literatur in der neuen Klassengesellschaft (#Richtige Literatur im Falschen 4)“ möglichst authentisch zu dokumentieren, d.h. anders als bei üblichen Tagungsbänden, aber genauso wie im Vorgängerband „Richtige Literatur im Falschen. Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik“ (herausgegeben von Ingar Solty und Enno Stahl), der 2016 im Verbrecher Verlag erschien, werden hier nicht nur die Tagungsbeiträge wiedergegeben, sondern auch die anschließenden Diskussionen nahezu ungekürzt, Wortmeldungen aus dem Publikum inklusive. Diese Parts sind im

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Sinne der Lesbarkeit behutsam redigiert worden, ohne aber den Duktus des Mündlichen preiszugeben. Sie sind in kleinerer Typographie gesetzt. Bei den Beiträgen der Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer handelt es sich einerseits um schriftliche Ausarbeitungen, teilweise aber auch um reine Transkriptionen der Vorträge, die im Nachhinein für die Buchfassung angepasst wurden. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen gibt es andererseits auch eher literarische Essays belletristischer Autorinnen und Autoren, die in ihrer Befolgung der Formalia freiere Regeln anlegen. Diese Doppelstruktur zwischen Literatur und Theorie prägte schon die Tagung selbst, sie sollte demgemäß auch im vorliegenden Band erhalten bleiben.

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Soziale Klassen und Literatur? Podiumsdiskussion: Klaus Dörre, Cornelia Koppetsch, Monika Rinck, Raul Zelik Moderation: Iuditha Balint Iuditha Balint: Bevor wir in eine tiefere Diskussion über soziale Klassen und Literatur einsteigen, möchte ich gerne an alle Diskutantinnen und Diskutanten hier die Frage stellen: Was ist eigentlich Klasse? Was für Verbindungen, Unterschiede sehen Sie zwischen Klasse, Milieus, Prekariat, Stand oder Schichten? Cornelia Koppetsch: Ich werde dann mal den Anfang machen. Ich bin hier, um ein bisschen die kulturelle Schiene hochzuhalten. Ich habe gesehen, es gibt auch schon einige aus der Linken, also Rosa-Luxemburg-Stiftung und Gewerkschaften, und ich schließe mich stärker dem kultursoziologischen Klassenbegriff an, bei dem es bei Klasse um soziale Lagen geht, aber auch um so genannte ständische Differenzierungen. Das heißt, Unterschiede in Lebensstilen, in Ethos, in Bildungshintergründen und in sozialen Laufbahnen. Und ich möchte nur kurz vorweg sagen, dass der Klassenbegriff in der Soziologie lange Zeit in Vergessenheit geraten ist, weil man dachte, speziell in den 80er, 90er Jahren, wir hätten keine Klassengesellschaft mehr. Die Klassen hätten sich nivelliert. Die Slogans hießen „Individualisierung“, „Multioptionsgesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“. Das waren alles Labels dafür, dass man eben meinte, sein Milieu selber wählen zu können, weg von der Klasse als Schicksal, hin zum Wahlmilieu. Es hat dann gedauert bis zur Jahrtausendwende, als die ersten Kapitalismuskritiken wieder aufkamen und sagten: „Okay, wir haben ein Comeback der großen, sozialen Ungleichheiten“, und schließlich haben wir jetzt eine Situation, in der ich meine, eine neue Klassendiskussion führen zu müssen, nämlich eine Klassendiskussion über die Mittelschicht und die Spaltung in der Mittelschicht. Diese Diskussion werde ich morgen noch einmal ausführlicher anreißen, aber es geht eben aus meiner Sicht darum, dass wir einen ganz starken Aufstieg einer kosmopolitischen liberalen Mittelschicht haben, die sich ständisch verfestigt. Und das gehört zum Klassenbegriff dazu. Klasse bedeutet nicht einfach nur Schicht, sondern Klasse ist immer dort, wo es einmal ein Klassenbewusstsein gibt oder ein Klassenethos, einen gemeinsamen Lebensstil, aber auch eine Reproduktion in die Zukunft, das heißt, eine Weitergabe an die nächste Generation. Und wir haben eine kosmopolitische Mittelschicht, die sich ständisch abschließt und das in die nächste Generation weiterreicht. Das hat nichts mit Arm und Reich zu tun und

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_003

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den oberen drei Prozent und der Pauperisierung, sondern es geht mitten durch die Mittelschicht hindurch. Dazu erst mal nur dieses Statement. Klaus Dörre: Ich würde einen etwas anderen Klassenbegriff favorisieren, und da ich jetzt nicht ein Zwei-Stunden-Referat halten kann, beschränke ich mich auf ein einzelnes Kriterium. Ich würde behaupten, dass Klassentheorien sich im Unterschied zu Schichttheorien dadurch auszeichnen, dass sie einen Kausalmechanismus behaupten, der den Reichtum der Reichen mit der Armut der Armen verbindet. Das ist die Besonderheit von Klassentheorien, und zwar egal, ob man auf Marx, Weber, Bourdieu usw. guckt. Die kausalen Mechanismen sind verschiedene. Aber ohne die Benennung eines solchen kausalen Mechanismus würde ich nicht von Klassentheorien sprechen. Der Kausalmechanismus bei Marx ist Ausbeutung. Der Kausalmechanismus bei Weber ist Schließung und der Kausalmechanismus bei Bourdieu ist habitualisierte Distinktion. Das muss man nicht gegeneinander denken. Aber ich glaube, dass die Benennung solcher Kausalmechanismen ein entscheidender Punkt ist, um die Verbindung zwischen Oben und Unten herzustellen und damit Ungleichheiten nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären. Das jedenfalls ist der Anspruch. Ich halte das deshalb für wichtig, weil es eigentlich in der Bundesrepublik wie auch in anderen Ländern nie daran gefehlt hat, Ungleichheit ziemlich präzise zu beschreiben. Selbst Ulrich Beck hat ja immer behauptet, dass es kein Verschwinden sozialer Ungleichheiten gibt. Er hat sogar das Verschärfen sozialer Ungleichheiten für möglich gehalten und auch zum Teil empirisch analysiert. Was er behauptet hat, ist, dass Klassen ihre lebensweltliche Erfahrbarkeit und Verbindlichkeit verloren haben mit der Folge, dass etwas eintritt, was der alte Marx im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ – manche werden sich erinnern, ich kenne ja einige hier im Publikum, die in diesem Sinne „bibelkundig“ sind –, an einem Beispiel der französischen Parzellbauern beschrieben hat. Also die französischen Parzellbauern, eine Klasse nur auf dem Papier. Klasse insofern oder insoweit, wie ein Sack Kartoffeln ein Kartoffelsack ist, aber nicht in der Lage, aufgrund der fehlenden Kommunikationsverhältnisse usw. sich als politisch bewusst handelnde Klasse zu konstituieren, eigene Repräsentationen, Organisationen zu entwickeln, mit der Folge, dass sie die Vertretung ihrer Interessen delegieren und in diesem Fall eben an Louis Bonaparte III., der mit einer Mischung aus sozialer Demagogie und Ordnungsrufen, der Wiederherstellung von Ordnung, Wahlen gewinnt, um dann schließlich die Demokratie abzuschaffen und die Monarchie wieder zu errichten, allerdings auf der Basis des Respekts vor einigen Errungenschaften der französischen Revolution. Ich denke, dass die Misere bei diesen Kausalmechanismen zu suchen ist. Es gibt in der Wissenschaft derzeit keine genaue

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Analyse, ich glaube nicht, dass wir gegenwärtig eine Klassentheorie haben, die in der Lage wäre, die komplexen Klassenverhältnisse in solchen Gesellschaften wie der Bundesrepublik tatsächlich adäquat abzubilden. Und wir haben vor allen Dingen einen Verlust solcher Kausalmechanismen im Alltagsbewusstsein von Lohnabhängigen. Also ich habe angefangen wissenschaftlich zu arbeiten mit einer Dissertation, die heißt „Vom Klassenindividuum zum Aktivbürger“. Ich habe darin die Bildungsarbeit der IG Metall kritisiert und insbesondere ihre Zentrierung auf etwas, was ich den einfachen Interessengegensatz genannt habe. Das war so ein Kausalmechanismus, der in der politischen Bildung vermittelt wurde. Heute muss ich sagen: Hätten wir den Kausalmechanismus doch noch! Vielleicht nicht als einfachen Interessengegensatz, aber sozusagen als eine Verankerung von Vorstellung wie Oben mit Unten verbunden ist, wie Lohnarbeit mit Kapital verbunden ist, was die Folgen sind, um sozusagen zurechnen zu können, woran die Verursachung von Prekarität usw. liegt. Das fehlt, und das ist in meinen Augen nicht nur, aber auch ein Versäumnis der politischen Linken. Ich glaube, dass Didier Eribon mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“1 da tatsächlich einen wunden Punkt getroffen hat. Ich glaube, dass der Aufstieg der äußersten Rechten überall in Europa eben auch damit zu tun hat, dass die politische Linke es aufgegeben hat, Deutungsmuster im Alltagsbewusstsein von Lohnabhängigen zu verankern, sie zu besetzen und sie zu aktivieren, die sie in die Lage versetzen würden, Klassenerfahrungen und solidarisches Handeln zu übersetzen. Das ist das Dilemma, was ich „demobilisierte Klassengesellschaft“ nenne. Monika Rinck: Meine Frage wäre vermutlich auch die Folgende: Gibt es Klasse ohne Klassenbewusstsein? Insofern als beispielsweise die – in Anführungszeichen – „Arbeiterklasse“ ausgelagert ist in die unterschiedlichsten Niedriglohnländer und sich deshalb keine gemeinsame Handlungsfähigkeit, nicht einmal ein gemeinsames Wir ergibt und die Streikbrecher einfach auf dem anderen Kontinent leben. Und dann wäre eben auch die Frage, was denn sozusagen der geringste Nenner der Identifikation oder des Bewusstseins sein könnte, wenn es eben nicht mehr der Stolz sein kann, der darauf beruht, irgendwie Schöpfer eines Werts zu sein, sondern vielleicht die Wut der Ausgemusterten oder eine bestimmte Form des Ressentiments, und daher habe ich auch den Eindruck, dass man es mit einer stärkeren Fragmentarisierung zu tun hat, bei gleichzeitiger, ständiger Anrufung eines bestimmten Individuums als Adressat der Werbung und der Selbstoptimierung. 1  Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp 2016.

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Raul Zelik: Ich würde in die soziologische Debatte gar nicht so profund einsteigen können, dass ich dazu noch etwas beitragen könnte. Aber ich würde doch betonen, dass es wichtig ist, den Klassenbegriff nicht damit zu verknüpfen, ob eine Klasse sich auch als solche begreift. Ich glaube, dass es eine Klassenlage auch dann gibt, wenn es eben kein Klassenbewusstsein gibt. Diese Feststellung finde ich wichtig, auch deswegen, weil die Beschreibung von Klassenverhältnissen ein wesentlicher Beitrag von uns als Autoren oder Intellektuelle oder als politische Aktivisten dazu ist, dass es überhaupt auch wieder ein subjektives Bewusstsein dieser Verhältnisse geben kann. Damit es ein subjektives Bewusstsein der unteren Vielen geben kann, braucht es eine Beschreibung dieser materiellen Produktionsprozesse von Gesellschaft. Es ist ein ganz wichtiger Ansatz sowohl für politisches Denken, politisches Handeln, aber auch für das Schreiben zu fragen, wo sind die unteren Klassen, wer sind die unteren Klassen und welche Arbeitsverhältnisse, Lebensverhältnisse sind damit verknüpft? Wenn man sich dann ein bisschen rausbegibt aus dieser – das ist ja erst mal nur so eine Haltung, in eine konkrete Begegnung mit der Wirklichkeit, stellt man fest, dass diese ja unglaublich fragmentiert ist und unglaublich unübersichtlich. In Barcelona zum Beispiel habe ich die Erfahrung gemacht, dass es viele Leute gibt, die eigentlich von ihren Löhnen längst nicht mehr leben können. Das ist auch für sie gar keine wichtige Einkommensquelle mehr, sondern die entscheidende Einkommensquelle ist – ich will jetzt nicht sagen, dass ich das statistisch belegen könnte, wie viele es sind, aber es gibt solche Fälle, die man immer wieder hört –, dass sie zwei Monate im Jahr ihre Wohnung vermieten und zu ihren Eltern gehen, weil sie etwa eine Eigentumswohnung geerbt haben. Man sieht, wie bizarr ausdifferenziert plötzlich Lebenswirklichkeiten der unteren Klassen sind, und das betrifft natürlich auch ganz stark die Lebenswirklichkeit in Berlin. Wenn wir davon reden, Prekariat und Prekarisierung waren ja auch so Schlagwörter der letzten 20 Jahre. Prekariat ist so ein Schwammbegriff, wo ganz viele unterschiedliche Sachen drunter gefasst werden, die eigentlich nicht zusammengehören. Wir alle wissen, dass es in unserem akademischen Umfeld viele Leute gibt, die deutlich weniger verdienen als ein normaler Angestellter in einem Unternehmen. Viel weniger. Oft unter 1.000 Euro, die aber trotzdem eine ganz andere Zukunftsperspektive haben, weil man eben durch diesen Bildungsund Kulturhintergrund auch ganz andere Netzwerke und Aufstiegsmöglichkeiten hat. Daran sieht man, dass, wenn es konkret wird, so eine Beschreibung der unteren Klassen wiederum sehr schwer ist, weil eben die Mechanismen so widersprüchlich ausdifferenziert sind. Cornelia Koppetsch: Ich möchte mal versuchen, diese Beiträge ein bisschen zu verknüpfen, weil das ja der Sinn einer Diskussion ist, und auch noch mal auf - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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die Frage einzugehen, was ist das Neue an dieser Klassengesellschaft? Es gibt einige Bücher auch auf dem Büchertisch, die sich mit Globalisierung befassen, und die Idee wäre, wie kriegt man es zusammen, einerseits von einer Klassengesellschaft im nationalen Rahmen zu sprechen und gleichzeitig zu sagen, dass sich Ungleichheiten globalisieren? Ich glaube, dass es eine interessante Frage sein könnte, diese Verknüpfung herzustellen, und ich denke, dass die Verknüpfung darin besteht, dass sich einige Klassen transnationalisieren, und zwar vorzugsweise am oberen und unteren Ende der Klassenhierarchie. Wir haben also einerseits transnationalisierte Unterschichten, und mit Transnationalisierung ist nicht gemeint, dass man sehr viel herumreist, sondern dass sich ihre Lagen transnationalisieren, das heißt, wenn ich Lohnarbeiter in einem Unternehmen bin, bei dem der Arbeitgeber drohen kann, den Produktionsstandort in ein so genanntes Billiglohnland zu verlagern oder eben die Löhne abzusenken, habe ich es mit einer Transnationalisierung dieser sozialen Klasse zu tun, weil sich eben durch die internationale Lohnkonkurrenz die Löhne am unteren Ende angleichen. Der Lohnarbeiter ist also nicht mehr wirklich unter dem Dach dieser heimischen Klassengesellschaft angesiedelt, sondern er muss sich auf einen Unterbietungswettbewerb mit Billiglohnländern einlassen. Das Gleiche gilt natürlich auch für Haushaltshilfen, die in Konkurrenz stehen zu migrantischen Au-pair, etwa aus Polen. Die andere, die obere Klasse, transnationalisiert sich auch, und ich möchte eine viergeteilte Klassengesellschaft behaupten: Wir haben einmal die ökonomische Elite. Wir haben zweitens die obere Mittelschicht, das ist die akademische Mittelklasse. Wir haben drittens die traditionelle Mittelschicht, das ist die nichtakademische Mittelklasse meistens – ich sage meistens, weil es natürlich noch viel, viel mehr Differenzierungen gibt. Und wir haben eine neue Unterschicht, eine migrantisch-deutsche – also hier in Deutschland – eine migrantisch-deutsche Unterschicht. Und das ist eine transnationale Klasse. Die anderen Klassen sind auch transnationalisiert, das globale Kapital ist dadurch transnational geworden, dass es seine Steueroasen aufsucht, dass es zumeist auch Wohnsitze in anderen Ländern hat, zum Beispiel an der Côte d’Azur und dass es sehr viele Möglichkeiten gibt, transnationale Adressen, wie zum Beispiel Briefkastenfirmen etc. zu besitzen. Das heißt, ein Mensch aus der Geldelite hat sehr, sehr viele Identitäten in verschiedenen Ländern. Und schließlich ist auch die akademische Mittelklasse transnationalisiert, insofern als sie einen kosmopolitischen Habitus ausgebildet hat, der es ihr ermöglicht, einen epistemischen Raum jenseits des Nationalstaates zu bewohnen. Ich kann praktisch sofort Kontakt aufnehmen. Wenn ich zum Beispiel im Finanzsektor arbeite, habe ich sehr viel mit London zu tun, mit Finance in London oder ich kann, wenn ich Soziologin bin, sofort mit USA-Soziologinnen und -Soziologen korrespondieren, das heißt, ich bin gar nicht gezwungen, mich nur auf die - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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Leute im eigenen Land zu konzentrieren. Warum ich das alles erzähle, ist, dass wir, glaube ich, in dieser neuen Klassengesellschaft eine starke Verschränkung haben von transnationalen Lagen und nationaler Binnendifferenzierung. Wir brauchen eine Doppelbelichtung der Klassengesellschaft: einmal aus der Perspektive globaler Ungleichheiten, wozu zum Beispiel auch die postkoloniale Dividende zählt, also dass wir davon profitieren, dass wir so billige TShirts bei H & M kaufen können, weil das eine postkoloniale Dividende an die Textilindustrie ist. Und auf der anderen Seite haben wir eben eine nationale Perspektive. Aus meiner Sicht ist es günstig, diese beiden Perspektiven zu verschränken, um zu einem Eindruck der neuen Klassengesellschaft zu kommen. Klaus Dörre: Ich gehe noch mal zurück zu der Ausgangsfrage, „Kann es eigentlich Klassen ohne Klassenbewusstsein geben?“ Ich bin jetzt gerade am Suchen, ob ich den Didier Eribon finde, zitiere mal aus seinem Buch, weil das, glaube ich, eine sehr gute Antwort ist: „Wenn man Klassen und Klassenverhältnisse einfach aus den Kategorien des Denkens und Begreifens und damit aus dem politischen Diskurs entfernt, verhindert man aber noch lange nicht, dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben.“2 Das heißt, die Antwort ist: Ja, Klassenverhältnisse wirken auch dann, wenn es kein politisch mobilisiertes Klassenbewusstsein gibt und sie wirken dann im Modus der – würde ich jetzt radikalisieren – Konkurrenz und der kollektiven Abwertung. Das ist exakt das, was in unserer Gesellschaft passiert, etwas, das wir tatsächlich erleben: etwa aus der Perspektive von Stammbeschäftigten in einem großen Industriebetrieb, die, repräsentativ befragt, auf die Frage, „Ist eine Gesellschaft, die auf Dauer jeden und jede mitnimmt, überlebensfähig, auf Dauer überlebensfähig?“ bei einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 99 Prozent zu 51 Prozent mit „Nein“ antworten. Und das ist ein Indikator für Sozialdarwinismus. Und auf die Frage, ob man mehr Druck auf Langzeitarbeitslose ausüben muss, antworten 54 Prozent mit „Ja“. Die Zustimmungswerte sind höher als bei den Angestellten und bei den Führungskräften. Und das, obwohl diese Arbeiter mehrheitlich Hartz IV ablehnen. Und da steckt etwas drin – um es jetzt kurz zu sagen –, was ich als exklusive Solidarität bezeichnen muss, man ist solidarisch, aber nur unter Seinesgleichen, das heißt, in den Grenzen der Stammbelegschaft und der Stammbelegschaft des eigenen Betriebes. Das ist eine Tendenz, die sich spontan durchsetzt, wenn der nicht entgegengewirkt wird. Der kann man auch entgegenwirken. Dies jetzt nur als Anekdote: Als wir die Daten seinerzeit im Betrieb präsentiert haben, sagten die sehr guten Betriebsräte: 2  Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, a.a.O., S. 122.

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„Die Kollegen haben die Frage nicht verstanden“. Dann haben wir daraufhin eine qualitative Befragung gemacht, nur gewerkschaftliche Vertrauensleute befragt, und gleich der erste kam dann ins Interview und hat gesagt: Ja, er hat auch nichts gegen die Hartzis, kennt auch selber welche, aber … Das ist sozusagen das Pegida-Aber oder das AfD-Aber: „Aber seien wir doch mal ehrlich, die Hälfte von denen will nicht arbeiten.“ Das heißt, sie werden an einem Leistungsethos gemessen und im Grunde wird eine gesellschaftliche Ideologie, die mit den Gesetzen für die moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt verbunden war, nämlich die Unterstellung, dass diejenigen ganz unten es sich in der Hängematte des Wohlfahrtstaates bequem machen und dass man ihnen Beine machen muss, weil sie sonst die Leistungsträger belasten – diese Ideologie wird sozusagen umgeformt im Alltagsbewusstsein, es wird ein Kausalmechanismus hergestellt. Und das ist einer der kollektiven Abwertung. Ich könnte jetzt viele andere Beispiele nennen. Ich will nur noch eine Bemerkung zu Cornelia Koppetsch machen. Natürlich ist die ethnische Unterschichtung der neu entstehenden Unterklasse, die sich dadurch auszeichnet, dass sie aus der Perspektive des Kapitals ökonomisch gar nicht mehr gebraucht wird, und die circa zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung ausmacht in allen entwickelten kapitalistischen Staaten, ein Phänomen. Ich würde trotzdem eine Gegenthese wagen und würde sagen, die neuen Klassenverhältnisse werden international, mitunter auch global, produziert. Die Formierung von Klassen ist aber nach wie vor überwiegend eine nationale Sache, vor allen Dingen deshalb – nicht, dass ich das gut finde, sondern ich beschreibe es zunächst mal, ich hätte es gerne anders – weil sozusagen reiche Zivilgesellschaften mit Formen von organisierter Interessenvertretung nach wie vor im Wesentlichen nur innerhalb der Grenzen des Nationalstaates bestehen. Und man kann jetzt mal den aktuellen Amazon-Konflikt anschauen, wie schwierig es ist, über nationale Grenzen hinaus Solidarität zu entwickeln. Der Streik bei Amazon, den Ver.di da führt, dauert jetzt seit fünf Jahren an. Es geht um den Tarifvertrag. Der Streik kann ökonomisch keine Wirkung entfalten, weil, immer wenn die Streikandrohung kommt – Dortmund ist ja betroffen mit 1000 Beschäftigten, glaube ich, bei Amazon –, gibt’s die Verlagerung der Aufträge nach Polen, wo es jetzt auch den ersten Arbeitskampf oder die ersten Arbeitskämpfe gegeben hat. In dieser Konstellation, Solidarität wenigstens mal an der Wertschöpfungskette herzustellen, ist dringend nötig, aber ungeheuer schwierig. Ich glaube, dass da sehr dicke Bretter gebohrt werden müssen. Also man würde so etwas brauchen wie einen europäischen Streikfonds, in den alle Gewerkschaften einzahlen – die reichen zumindest –, um solche Arbeitskämpfe internationalisieren zu können. Bislang gibt es das aber alles nicht. Deshalb finden die entscheidenden Kämpfe nach wie vor im nationalen Rahmen statt und

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ich würde hinzufügen, auch die Konkurrenzen spielen sich im Wesentlichen im nationalen Rahmen ab. Dass diejenigen, die im Dienstleistungssektor arbeiten, jetzt internationalen Konkurrenzverhältnissen ausgesetzt sind, das gilt für einige Segmente, aber das gilt für große Teile nicht. Iuditha Balint: Monika Rinck, möchten Sie noch was dazu sagen? Monika Rinck: Ich hätte jetzt wahrscheinlich angefangen, über Literatur zu sprechen. Iuditha Balint: Schön. Dann kann ich Ihnen nämlich jetzt tatsächlich eine Frage stellen, die sich aus dem bisher Gesagten ergibt. Und zwar wurde hier viel von Klasse und Klassenbewusstsein gesprochen, von einem national oder international sich herausbildenden Bewusstsein, aber auch über exklusive Solidarisierung. Und ich stelle mir jetzt die Frage: Klasse ist ja nicht nur ein ökonomischer Begriff, sondern – und das ist bei Ihnen allen angeklungen – ein Kampfbegriff, ein Begriff, ein Konzept, das in der Beschreibung von sozialen Ungleichheiten auf Antagonismen setzt, wie bei Marx „Proletariat und Bürgertum“, „Produktion und Besitz von Kapital“, und ich frage mich – ich frage Sie, Monika Rinck und Raul Zelik –, kann ein solcher Kampfbegriff heute literarisch produktiv gemacht werden? Gibt es überhaupt einen Klassenstandpunkt, von dem aus man literarisch schreiben kann und bei dem es sich lohnt, ihn literarisch zu reflektieren? Monika Rinck: Ist schwer zu sagen. Wir sprechen ja von der Buchbranche, also von einer kleinen, kuscheligen Branche, deren Umsatz ungefähr bei dem von Aldi-Nord liegt. Wir sprechen über Auflagen von 500 bis 1000 Stück. Wir sprechen über depressive Buchhändler, über missgünstige Kollegen, über Bücher, die niemand wahrnimmt, die nirgendwo erscheinen, die nicht übersetzt werden, die wie Steine im Regal liegen, die hin und wieder vielleicht doch mal so aufscheinen und dann gleich wieder verschwinden. Wir sprechen über die unglaubliche Tristesse des Non-Book-Sortiments und über die schlechtest verkauften Übersetzungen, über Verleger, die nach einer Verlagsvertreterkonferenz einfach alles hinwerfen. Oder über den Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der die neuesten Zahlen eigentlich am liebsten geheim halten würde. Und über etwas, was wirklich einerseits verschwindend gering ist und andererseits wie kaum eine andere Kulturtechnik – und das hat Norbert Niemann in seinem Buch „Erschütterungen“3 sehr, sehr gut gezeigt – eben 3  Norbert Niemann: Erschütterungen. Literatur und Globalisierung unter dem Diktat von Markt und Macht. Stuttgart: Kröner 2017. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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diesen Marktgesetzen unterworfen ist. Gleichzeitig – und auch das finden Sie in dem Buch von Norbert Niemann beschrieben – gibt es immer wieder sehr beeindruckende sprachästhetische Formen der Beschreibung der Gegenwart. Sie finden in dem Buch „Erschütterungen“ kurze Beschreibungen und Analysen von Romanen, die eben dies leisten. Und das sind interessanterweise auch häufig Übersetzungen. Das heißt, dass man auf diese Art der Generalisierung und unübersichtlichen Universalisierung der Situation eigentlich mit Übersetzung antworten muss. Das heißt, Übersetzungsförderung wäre eines, Übersetzer besser zu bezahlen natürlich auch ein anderes. Und eben Formen der literarisch-ästhetischen gleitenden Identifikation, die nicht auf Ausschlussmechanismen aufgebaut ist, zu ermöglichen. Und andererseits gibt es da wiederum sehr vieles, von dem einfach sehr viele Leute nichts wissen. Wenn beispielsweise Didier Eribon am letzten Samstag in Berlin zur Frage der Emanzipation über seine gerade in einem Altersheim gestorbene Mutter spricht und darüber, dass es niemanden gibt, der den Alten, den Kranken eine Stimme gibt, dann denke ich natürlich an Martina Hefters jüngsten Lyrikband „Es könnte auch schön werden“4, der allen Insassen von Pflegeheimen gewidmet ist und der sich eben genau mit diesen Formen des Elends, andererseits auch des Aufbegehrens gegen dieses Elend der Überforderung der Pflegekräfte etc. auseinandersetzt und ein genuin ästhetischer Text ist. Ein Text, der sozusagen auch das Protokoll einer möglichen Performance ist, die aber nicht stattfindet, wo aber die Person, die Ich sagt, die manchmal identisch ist mit Martina Hefter und manchmal eben nicht, sich ganz mit hineingibt in den Textverlauf. Insofern ist es ein sehr engagierter und gleichzeitig ein höchst experimenteller Text, von dem aber wahrscheinlich niemand weiß und kaum jemand erfährt. Ähnlich ist es mit dem jüngsten Buch „Panikraum“5 von Hendrik Jackson, der sich eben auch den verschiedenen Formen von Panik innerhalb prekärer Verhältnisse widmet etc. Es gibt wiederum sehr viel und es ist auch nicht so, dass alle Leute quasi – in Anführungszeichen – klassenanalog über ihre Zahnarzttochter-Kindheit schreiben, sondern die Leute schreiben über sehr viel. Aber das Ganze ist in gewisser Weise auch ein Versagen des Feuilletons, was sich vor allem um die Buchpreise jeweils im Frühjahr und jeweils im Herbst kümmert. Und dann haben wir irgendwie 20 Besprechungen über ein bestimmtes Buch, das niemanden interessiert. Aber man kann die Besprechungen miteinander vergleichen. Yeah. Und diese Art der Eindampfung des Gesprächs über Literatur ist eigentlich eine Form der marktkonformen Zensur, die eben diese Sachen, deren Fehlen vom selben Feuilleton immer

4  Martina Hefter: Es könnte auch schön werden. Berlin: kookbooks 2018. 5  Hendrik Jackson: Panikraum. Berlin: kookbooks 2018. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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wieder beklagt werden, einfach nicht sieht, einfach ausblendet. Es gibt diese Dinge nämlich. Man müsste nur genauer hinschauen. Raul Zelik: Zur Frage, ob man mit einem Klassenstandpunkt schreiben sollte, so habe ich Sie zumindest verstanden. Also ich würde das nicht so hoch hängen, sicherlich gibt es in dieser unglaublichen Flut von Publikationen auch einiges, was anders ist –, aber man kann schon nicht leugnen – das war ja, glaube ich, auch Ausgangspunkt für Enno, als er damals diesen Aufsatz geschrieben hat6 –, dass es in der Literatur eine starke Abkehr von der sozialen Wirklichkeit gegeben hat, schon vor einigen Jahrzehnten, vor 20, 30 Jahren mindestens. Das ist ja schon auffällig, wie viele Bücher man liest, in denen es eigentlich nicht darum geht, dass Leute normale soziale Probleme haben, die ja jeder hat, sondern wie stark das ausgeblendet ist. Und ich glaube, dass das für einen Schreibenden natürlich schon ein guter und wichtiger Ausgangspunkt ist, zu sagen, man redet über gesellschaftliche Wirklichkeit. Das war ja, glaube ich, auch der Grundkonsens, warum wir uns als Gruppe oder als Netzwerk gefunden haben, dass wir gesagt haben: „Ja, diese Frage oder diese Sorge teilen wir.“ Dass wir den Eindruck haben, das findet viel zu wenig statt. Aber es ist natürlich auch so, dass es heute eben wenig feststehend gelebte Milieus gibt. Ich meine, früher war klar, Max von der Grün konnte Arbeiterliteratur und Kinder- und Jugendliteratur im Klassenmilieu schreiben, weil es ein Klassenmilieu gab. Heute, wenn ich also anfange mir zu überlegen, ich möchte soziale Wirklichkeit beschreiben, zum Beispiel Foodora ist jetzt gerade ein Projekt, die Transportboten, wenn man zum Beispiel die Perspektive von diesen Lebensmittel-, Restaurantboten mit ihren großen Boxen einbauen will, merkt man ganz schnell, dass man zwar über die Arbeitsperspektive einiges rausbekommen kann, aber dass es ja eigentlich dieses soziale Milieu nicht gibt, in dem die darin Arbeitenden verhaftet sind. Und dass man dann sofort wieder von einer unglaublich ausdifferenzierten, vielfältigen, urbanen Identität spricht, in der jede Geschichte anders ausfällt. Und das Interessante wäre ja eigentlich zu gucken, ob es nicht Dinge gibt, die die Leute verbinden. Wenn man dann anfängt mit dem Schreiben, stellt man fest, dass das wirklich ganz schön schwer ist, da Dinge zu sagen, die nicht wie Klischees klingen, aber es würde vielleicht auch erst mal reichen, die Neugier wieder mitzubringen und die Neugier einzufordern. Dass man sich einfach wieder die Mühe macht, Arbeitssituationen oder Situationen sozialer Wirklichkeit, sozialer Not, 6  Enno Stahl: Literatur in Zeiten der Umverteilung. Berlin: Sukultur 2005 sowie: ders.: Der sozial-realistische Roman. Berlin: Sukultur 2006; Vgl. dazu auch: ders.: Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft. Berlin: Verbrecher Verlag 2013, insbesondere S. 17-119.

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sozialer Knappheit oder wie man es auch immer beschreiben mag, einfließen zu lassen in die Geschichte und ihnen den realen prominenten Platz zu geben, den diese Fragen in unser aller Leben haben. Ist ja komisch, dass die überall in unserem Leben eine Rolle spielen, nur nicht in unserer Literatur. Und da finde ich, wäre ein Umsteuern sicherlich angesagt. Aber ob das dann deswegen schon ein Klassenstandpunkt wäre, wage ich zu bezweifeln. Klaus Dörre: Also daran anknüpfend und auch an Eribon: Vorgestern hatten wir ihn in Jena, und ich habe neben ihm gesessen und mir gedacht: „Hoffentlich geht das gut!“ Als er diesen Vortrag gehalten hat über seine Mutter und das mit einem Buch von Simone de Beauvoir über das Altern in Beziehung gesetzt hat. Es ging gut. Also er wurde gefeiert. Und das hat bei mir die Frage aufgeworfen: Müssen wir Soziologen eigentlich Schriftsteller werden? Weil es oft so ist, dass das, was wir über Klassen, Klassenverhältnisse zu sagen haben, so steril wirkt, dass es gar nicht aufrüttelt. Und das ist ja genau das, was Eribon brillant leistet. Dieses Buch, also „Die Rückkehr nach Reims“, ich habe es in Italien am Strand gelesen – normalerweise lese ich da nur Romane – ich habe angefangen zu lesen und dann nicht mehr aufgehört. Die Methode ist ja, literarische und wissenschaftliche Texte zueinander in Beziehung zu setzen und das zu verbinden mit radikaler Selbstanalyse. Und das zum Sprechen zu bringen, löst – jedenfalls bei mir und vielen anderen – den Effekt aus, dass man sich sofort wiedererkennt mit der eigenen Biografie, also aus dem Arbeiterelternhaus aufgestiegen, Distanzierungsprozesse usw. Und das ist sehr Vielen so gegangen, das hat den Erfolg dieses Buches ausgemacht. Also sehr nah dran an etwas Verbindendem, nämlich an der Generationserfahrung, mit Problemen, die auch jeder kennt. Wer von uns hat nicht möglicherweise mit seinen Eltern – so sie noch leben – zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise eine Debatte führen müssen, die dann oft zur Folge hatte, dass der Telefonhörer aufgelegt wurde oder Schlimmeres passiert ist. Also da steckt ungeheuer viel drin und jeder erkennt das Verbindende. Und ich fürchte nur, das kann der Eribon, und alle Versuche, das zu kopieren – man fühlt sich ja gleich genötigt, auch so schreiben zu wollen –, aber alle diese Versuche klappen nicht. Aber ich glaube, Literatur und Sozialwissenschaft so zusammenzubringen, das wäre lohnend – und da seid ihr natürlich viel kompetenter als ich –, dass wir ein bisschen was aus der Literatur lernen und das nutzen können in der Weise, dass wir die Klassengeschichten, Klasse als Schicksal, dass wir das auch sozialwissenschaftlich so darstellen können, dass wir Leute mitnehmen. Da würde man hier in Dortmund eine Unmenge von Gemeinsamkeiten finden. Also gehe mal ins Stadion, frage mal die Ordner, wenn du Ältere hast, dann haben die das Ende der Kohle mitgemacht, dann haben die das Ende von Stahl mitgemacht, dann

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haben sie in der Logistik gearbeitet, aber nun reicht der Lohn nicht mehr, dass sie sich eine Dauerkarte leisten können. Deshalb sozusagen Ordner im Stadion. Das war jedenfalls damals so, als ich hier noch gelebt habe. Vielleicht ist das inzwischen ganz anders geworden. Nicht mal mehr die Ordner kommen aus der Arbeiterklasse, das kann schon sein. Ich glaube, dass sowohl Literaten als auch Sozialwissenschaftler nach dem Verbindenden lange nicht gesucht haben, sondern wir haben sozusagen die Distinktion betont, die Prekarität im Unterschied zu denen, die noch in halbwegs sicherer Beschäftigung sind. Das war wahrscheinlich auch sinnvoll für eine bestimmte Zeit, aber das funktioniert jetzt so nicht mehr. Jedenfalls, wenn man nach Potenzialen für solidarisches Handeln fragt. Iuditha Balint: Ich hatte tatsächlich mit meinen literaturwissenschaftlichen Kollegen und Kolleginnen sehr lange über Eribons „Rückkehr nach Reims“ diskutiert, und über eins waren wir uns einig: Die Sogkraft dieser Studie resultiert nicht zuletzt aus diesem mehr oder weniger ungesunden oder vielleicht auch gesunden Voyeurismus, den der Leser/die Leserin dabei empfindet. Es ist eigentlich eine sozialwissenschaftliche Autobiografie, und Biografien sind ja dafür bekannt, dass sie die Leserschaft aufgrund ihres voyeuristischen Potenzials fesseln können. Cornelia Koppetsch: Jetzt haben Sie das Stichwort schon vorweggenommen. Es gibt also jenseits des Klischees noch andere Möglichkeiten, Literatur und Sozialwissenschaften zu verbinden, und zwar im Bereich der qualitativen Methoden. Und da gibt es sehr viele Konvergenzen, also wir machen ja nicht nur statistische Erhebungen, die dann tatsächlich zu sehr klischeehaften Klassenskizzen und -portraits führen, sondern auch qualitative Milieuforschung mit biografischen oder auch feldethnografischen Methoden, die einen ein bisschen näher an die Wirklichkeit heranführen, die auch Literatur aufarbeitet, weil es um Geschichten geht. Also die Geschichte steht im Zentrum und die Geschichte wird mit bestimmten Methoden befremdet. Wenn wir in der Ethnografie sind, natürlich das Befremden der eigenen Kultur, und da sind wir dann sehr nah an das rangekommen, was Literatur auch möchte, nämlich eine andere Perspektive einzuführen, die das, was uns selbstverständlich erscheint, plötzlich nachdenkenswert erscheinen lässt. Und das Andere ist das Biografische, wo es darum geht, die Strukturgesetzlichkeit einer Biografie zu erfassen und in Bezug zu setzen zu den gesellschaftlichen Kopplungsstellen. Die Strukturgesetzlichkeit der Biografie hat gesellschaftliche Verankerungen, und in dieser Fallgeschichte können wir die Gesellschaftsstruktur erfassen, aber auch die Reproduktionsweise des Sozialen. Und das wäre dann wieder die

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Kontroverse zu Klaus Dörre über die Frage der Produktion, also die Position eines Menschen im Produktionsprozess bzw. ökonomische Ungleichheiten, weil hier noch mal an das anzuknüpfen wäre, was Raul Zelik in die Debatte geworfen hat: Gibt es vorpolitische Klassen? Also was ist eine Klasse? Und welche Schichten hat sie? Und da würde ich sagen, ja, ich gebe Klaus Dörre Recht, es geht um diesen Kausalitätsmechanismus. Aber diese Kausalität bezieht sich nicht nur auf das ökonomische, sondern genauso – ich glaube, das hat Klaus auch so gesagt –, auf das soziale und kulturelle Kapital. Und dieses kulturelle Kapital hat immer eine Doppelbödigkeit, das kulturelle Kapital ist praktisch ein Teil des Habitus, der kollektiven Persönlichkeitsstruktur einer Klasse, das heißt, wir können als Mitglied einer Mittelschicht nach China oder in die Türkei oder wohin auch immer, und wir erkennen andere Mitglieder der Mittelschicht am Habitus, an der Art, wie die sich benehmen, wie die gucken, wie sie ihren Arm ausstrecken, wie sie ans Buffet gehen usw. Das sind alles bestimmte habituelle Dinge, woran wir erkennen, mit welcher sozialen Klasse wir es zu tun haben. Und das Andere, was für den Klassenbegriff relevant ist, sind die Lebensstile. Aus meiner Sicht ist es ein dreistelliger Begriff: Wir haben die Klassenlage. Und die Klassenlage bezieht sich auf das Volumen meines Kapitals oder auf die Zusammensetzung. Und da steht in der Mittelschicht das kulturelle Kapital an ganz entscheidender Stelle. Das zweite ist der Klassenhabitus oder die kollektive Persönlichkeitsstruktur und der Lebensstil. Und das dritte Element ist tatsächlich die Frage der Klasse für sich, also das Klassenbewusstsein. Und die Frage, bin ich mir als Mitglied dieser Klasse überhaupt bewusst? Habe ich ein Klassenbewusstsein? Wenn ich zum Beispiel ein Mitglied der akademischen Mittelklasse bin, ist mir klar, dass ich Teil einer Klasse bin, und zwar einer herrschenden Klasse? Und das ist, glaube ich, der Punkt, wo ich mir mit Klaus nicht einig bin, weil ich auch dann von Klassen sprechen würde, wenn die Person sich nicht darüber im Klaren ist, dass sie Teil einer Klasse ist. Iuditha Balint: Das heißt, Sie würden das Prekariat als Klasse sehen? Als eine nicht-identische Klasse? Cornelia Koppetsch: Das Prekariat kann man natürlich als Klasse betrachten, ohne dass es nötig ist, dass das Prekariat sich selber kollektiv als eine solche betrachtet. Also ohne kollektive Selbstidentifizierung. Das ist aus meiner Sicht nicht nötig für den Klassenbegriff, so wie ich ihn verstehe, sondern nur die ersten beiden. Es muss eine gemeinsame soziale Lage geben, die allerdings nicht nur ökonomisch ist, sondern auch kulturell und sozial. Da geht es etwa um die Frage, wie viel soziales Kapital, wie viele Netzwerke kann ich

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mobilisieren, und zwar wie viele exklusive Netzwerke? Die Netzwerke an sich sind gar nicht so aussagekräftig, sondern wie exklusiv sind meine Netzwerke? Das ist die soziale Lage und das andere Element ist der gemeinsame Habitus, die Frage der kollektiven Persönlichkeitsstruktur bzw. des Lebensstils. Das allein reicht. Und wenn wir jetzt noch eins draufsetzen wollen, können wir sagen, es gibt so etwas wie eine Bewusstwerdung der Klasse im Arbeiterkampf beispielsweise oder das Erkennen, dass ich, wenn ich Literatur lese – das ist ja der Erkenntnisprozess, den man, glaube ich, mit der Literatur in Gang setzen möchte –, dass ich als Teil einer herrschenden Klasse angesehen werden muss oder mich selbst als Teil einer herrschenden Klasse erleben kann. Wenn ich Literatur lese. Klaus Dörre: Also dass man Mitglied einer Klasse ist, auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist – nach Weber sogar mehrerer Klassen, das wäre jetzt Konsens zwischen uns, das wäre kein Streit. Es wäre auch kein Streit in dem Punkt, dass das Habitualisierte, der habitualisierte Kausalmechanismus, also der Distinktions- und Abwertungsmechanismus, dass der verschiedene Dimensionen hat, sich nicht im Ökonomischen erschöpft, dass das Bildungskapital eine wichtige Rolle spielt usw. Das ist, glaube ich, nicht der Punkt. Ich würde behaupten, radikaler als Bourdieu, dass beim Mechanismus der Distinktion die Klasse ins Klassenunbewusste verlagert wird, dass man in der Konkurrenz der Lebensstile klar symbolische Herrschaft, also Klassenunterschiede reproduziert. Ich würde behaupten, dass sich auch dieser Mechanismus der Distinktion politisieren lässt, wirklich im Sinne von Abwertungsstrategien. Was sind diejenigen, die heute Unterklasse sind, Anderes als ein abgewertetes Außen, das mit allen möglichen negativen Konnotationen belegt wird, um eine bestimmte Politik zu legitimieren. Nehmen wir doch mal Frankreich. Da ist es sehr plastisch. 2005 hatten wir in Frankreich den ersten Ausnahmezustand. Der Auslöser war, dass drei migrantische Jugendliche, die von der Polizei verfolgt wurden, sich in so eine Umschaltstation flüchteten und da ums Leben gekommen sind. Danach hatten wir über mehrere Wochen in allen französischen Städten Riots. Damals begann die Karriere eines gewissen Sarkozy, Innenminister. Der flog in jede dieser Städte mit einem Helikopter und hielt einen Vortrag, der hatte zwei Teile: Der erste Teil, da hat er gesprochen wie ein Kommunist. Über den sozialen Bruch, die geringen Chancen in den Vorstädten usw. Und der zweite Teil war der eines autoritären Ausnahmezustandspolitikers. Da hat er nämlich gesagt, „wer Gewalt übt, ausübt, der gehört nicht zu uns“. Er hat davon gesprochen, dass dieses Ungeziefer mit dem Kärcher, dem Dampfstrahler aus der Banlieue getrieben werden muss. Das heißt, er hat diejenigen, die revoltiert haben, zu Aliens erklärt, zu Nichtmenschen. Und

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jetzt gucken wir uns mal an, was beim zweiten Ausnahmezustand passiert ist. Also der islamistische Terrorismus. Nicht wenige der Attentäter kommen aus dieser Jugendgeneration von 2005. Aufgewachsen in den französischen Vorstädten. Einer davon, Coulibaly, der in dem Hyper-Marché geschossen hat, ist dem Sarkozy damals sogar vorgestellt worden, war in einer Integrationsmaßnahme, hat es nur zum Leiharbeiter gebracht, ist dann in die Fänge der islamistischen Terroristen geraten und hat sich radikalisiert. Aber das, was man da sieht, ist, dass eine autoritäre Politik des Ausnahmezustands zu Reaktionen führt, dass diejenigen, die davon betroffen sind, sich selbst in eine Situation hinein definieren, die sie auch als Ausnahmezustand definieren, die dann eben Gewaltanwendung rechtfertigt. Wir werden zu Nichtmenschen erklärt. Und wenn wir zu Nichtmenschen erklärt werden, dann verhalten wir uns eben so. Und das ist unsere Antwort darauf. Ich will das nicht legitimieren. Aber das ist eine Art der Klassenbildung – ich würde von Wettbewerbsklassen sprechen –, die auf kollektiver Abwertung beruht. Und die erzeugt solche Probleme. Also es ist eine Radikalisierung von Bourdieu, wenn man so will. Und ein Satz noch: Wenn man das auf die US-amerikanischen Verhältnisse überträgt, da ist die Unterklasse vorwiegend schwarz, und man kann sich mal anschauen, wie gering das Risiko eines dreißigjährigen Schwarzen in den USA ist, nicht ins Gefängnis zu gelangen. Und nicht eines unnatürlichen Todes zu sterben. Und wenn man die Zahlen sieht, da wird einem angst und bange. Weil da das Problem der Unterklasse durch Wegsperren gelöst wird. Das meine ich mit kollektiver Abwertung, die dann solche Maßnahmen legitimiert. Und dazu braucht man keine Rechtspopulisten. Das ist zunächst einmal offizielle staatliche Politik, die solche Probleme produziert. Monika Rinck: Ich wollte noch mal kurz anschließen, haben Sie gerade gesagt, dass wer Literatur liest, zu einer herrschenden Klasse gehört? Cornelia Koppetsch: Das habe ich nicht gesagt. Aber ich habe gesagt, dass es möglich ist, über Literatur einen Zugang zu gesellschaftlichen Klassenstrukturen zu bekommen, den man möglicherweise nicht bekommt, wenn man nur in ihnen lebt. Das heißt, ein Prozess der Selbsterkenntnis oder auch vielleicht der ideologischen Selbstdezentrierung, möchte ich jetzt vielleicht etwas fachchinesisch hinzufügen, indem man möglicherweise eine Außenperspektive gewinnt. Vielleicht mal am Beispiel des Romans „Herr Lehmann“ von Sven Regener. „Herr Lehmann“ ist ein Antiheld, der aus der Perspektive eines, ja, wenn man so will, nicht besonders erfolgreichen Großstädters in Berlin die akademische Mittelklasse beobachtet und sich im Sinne einer Anti-Distinktion verhält. Also eine Anti-Distinktion zu den brunchenden

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Kosmopoliten, der sich gentrifizierenden akademischen Mittelklasse, Leuten, die die ganze Zeit erzählen, wie erfolgreich sie sind und wie toll sie sind usw., und genau das Gegenteil tun. Und aus dieser Spannung lebt dieser Roman. Und ich finde, in diesem Spannungsbogen existiert sehr viel ideologische Selbstdezentrierung der akademischen Mittelklasse. Man bekommt einen Spiegel vorgehalten, der es erlaubt, eine befremdete Perspektive auf die eigene Hegemonie und die eigenen Prinzipien zu erlangen, sich selber in der Position eines deutungsmächtigen Mitgliedes und damit eben Teil der herrschenden Klasse zu erkennen. Deutungsmacht ist meines Erachtens auch eine Form der kulturellen Vorherrschaft, dazu braucht man nicht Banker sein, und diese Art von kultureller Deutungsmacht, das ist meines Erachtens auch genau der Punkt, an dem der Rechtspopulismus ansetzt, indem er eben sagt, wir wollen mit euch Linksversifften nichts zu tun haben, ihr seid das Establishment. Damit will ich nicht sagen, dass der Rechtspopulismus damit zu erklären ist, aber ich wollte sagen, dass diese Deutungsmacht von den Leuten, die sie haben, häufiger unterschätzt wird. Monika Rinck: Aber funktionieren das ästhetische und auch das politische Potenzial eines „Sprachkunstwerkes“ nicht auch in die andere Richtung? Also wenn ich beispielsweise an die beiden Romane von Hakan Günday denke, die Sabine Adatepe übersetzt hat, „Flucht“7 und „Extrem“, wo man sich sozusagen in die Belange des Menschenhandels mit hineinbegibt, literarisch. Dann begebe ich mich ja wirklich in eine wiederum andere „Klasse“ hinein. Und das wäre eben die Frage der multiplen Identifikation und zugleich die Frage der Solidarität. Ich denke auch an das Buch von Luise Meier, was kürzlich erschienen ist, unter dem Titel „MRX-Maschine“,8 wo es darum geht, dass natürlich viele Klassen keine freiwilligen Zusammenschlüsse sind, sondern sozusagen der Pool der Ausgebeuteten, die zusammenkommen. Wo sie die Frage stellt nach einer anderen Form der Solidarität – und mehr als Solidarität: wo sie sogar auch ein Gefühl der Verwandtschaft mit hineinbringt. Eine Mutanten-Verwandtschaft nennt sie das. Ein sehr interessantes Buch voller sehr gewagter, aber auch eben sehr interessanter Thesen, das sehr ansprechend geschrieben ist. Und da kommt doch immer wieder die Frage auf: Wer hat überhaupt das Recht, für wen zu sprechen, im fiktionalen Zusammenhang? Also darf beispielsweise eine weiße Autorin über Sklaverei schreiben? Debatten, die vielleicht in den USA stärker identifikatorisch geführt werden als hier, aber von denen es eben auch hier immer wieder Ansätze gibt. Und eigentlich 7  Hakan Günday: Flucht. München: btb 2016; Hakan Günday: Extrem. München: btb 2014. 8  Luise Meier: MRX-Maschine. Berlin: Matthes & Seitz 2018.

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müsste man dies gerade verteidigen als Form der nicht-identitären Solidarität, also die Stimme von jemandem zu ergreifen, der sehr weit von dem eigenen Lebensbild weg ist, wobei dann auch immer wieder der Vorwurf kommt, hier werde eine Stimme verdrängt. Das sind innerliterarische Fragen, die mit der Recherche, mit dem Material und der Sprachbearbeitung zu tun haben und die sehr selten besprochen werden, weil man sich häufig damit begnügt zu fragen: „Ist es autobiografisch oder nicht?“ Also diese Art der Fokussierung auf die Belange des Autors und weg von der literarischen Form, die eigentlich das Interessante ist, ist da schon zu beklagen. Iuditha Balint: Raul Zelik, es geht also auch ein wenig um die Frage der Legitimation, wer darf worüber schreiben? Und nicht nur das, sondern was schreiben wir, was schreiben Sie und wo wird das rezipiert? Ich selbst bin eine große Anhängerin neoliberalismus-kritischer und herrschaftskritischer Literatur, gehe aber dann ins Theater und schaue mir Jelinek und all die anderen wunderbaren Stücke von Autoren und Autorinnen an und sitze da und denke mir, für wen schreiben sie eigentlich und wen adressieren sie, wer nimmt das wahr? Anders verhält es sich vielleicht ein wenig mit dem freien Theater, das neue Räume, städtische Räume für sich erobert oder entdeckt und auch ein anderes Publikum erreicht. Ich frage mich tatsächlich, wen erreichen die „Kontrakte des Kaufmanns“ von Jelinek? Wen erreicht, jetzt bin ich böse, Ihr Unterschichtenroman? Also mich hat er erreicht. Wo sind die anderen? Also das heißt, auf welche Art und Weise kann man (noch) und in welchen medialen Kontexten öffentlichkeitswirksam schreiben? Raul Zelik: Ich habe, glaube ich, schon beim vorletzten Treffen behauptet, ohne dass ich es wirklich belegen könnte mit Studien, aber so als eine Wahrnehmung, dass wir im Literaturbetrieb tatsächlich so ein bisschen die Abgehängten sind. Also die Abgehängten von den realen, kulturellen Massenprozessen. Man braucht sich ja nur umzugucken, was die Generationen von unseren Kindern oder unseren jüngeren Freunden für Medien konsumieren, was wir vielleicht auch selber gerne konsumieren, wenn wir nicht arbeiten. Dann gucken wir nämlich eher oft trashige Filme – ich zumindest – oder spielen, was weiß ich, Videospiele. Es gibt ja eigentlich einen großen Sektor von Spielen, die gar nicht nur dumm sind, wo intelligente Geschichten miterzählt werden. Es ist eigentlich auch interessant, dass wir darüber so wenig reflektieren, obwohl es natürlich gerade das ist, wo kulturelles Massenbewusstsein hergestellt wird. Aber gut, es ist jetzt auch nicht unsere Aufgabe als Autoren, etwas zu produzieren, das uns ästhetisch vielleicht nicht so interessiert. Wir sind ja nicht die Agitationsmaschinen einer proletarischen Partei, zumal es diese

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proletarische Partei auch nicht so richtig gibt. Also wir dürfen auch weiterhin Literatur machen, weil wir es einfach interessant finden, ohne damit die Vielen zu erreichen. Ich habe mir aber genauso eine ähnliche Frage gestellt, weil ich gerade einen ganz interessanten Literaturessay von César Rendueles übersetzt habe, einem Freund von mir aus Spanien, der ein Buch geschrieben hat am Ende dieser spanischen Krise, das nennt er „Kanaillen-Kapitalismus“9. Das ist richtig ein Hassbuch gegen den Neoliberalismus und den Kapitalismus und er macht daraus sozusagen eine Geschichte des Kapitalismus – oder besser: eine Literaturgeschichte des Kapitalismus, wo er anhand von 100 oder 150 Romanfragmenten Sozialgeschichte nacherzählt und skandalisiert. Ein sehr lustiges Buch, ein sehr interessantes, wütendes, aber auch sehr lustiges Buch. Was mir gerade einfiel, weil ich gedacht habe, eigentlich stimmt es gar nicht, dass die Unterklassen kein Klassenbewusstsein hätten. Das Problem ist gerade, dass sie ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein haben, aber sich mit der oberen Klasse identifizieren. Das ist vielleicht das Schlimmste am Neoliberalismus gewesen, dass es ihm gelungen ist, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre ein Verständnis zu etablieren, dass wir uns in erster Linie mit den Herrschenden identifizieren wollen. Letztes Beispiel war gerade diese Prinzenhochzeit.10 Wie viele Leute – auch aus unserem Bekanntenkreis – haben das geguckt. Also diese Identifikation mit den Oberen. Und in dem Zusammenhang eben zurück zu dem Buch von César Rendueles, der referiert da nämlich relativ lang über ein Buch, was ich dann auch gelesen habe, ein unscheinbares Buch von Sue Townsend, ich weiß gar nicht, ob das jemandem hier ein Begriff ist, ein Jugendbuch eigentlich, „Die Tagebücher des Adrian Mole“11 heißt das, glaube ich. Eine Geschichte von einem 13-Jährigen, der in wirklich erbärmlichen Verhältnissen lebt. Im Hintergrund tauchen die Streiks der Thatcher-Jahre auf, Thatcher taucht auch auf. Aber das Verrückte an diesem Jugendlichen, der wirklich kaum über die Runden kommt, ist – sein Vater ist arbeitslos, sie sind völlig verarmt –, dass er sich eigentlich in erster Linie mit den Oberen, mit den Eliten, mit den Fernsehintellektuellen identifiziert, auch von sich überzeugt ist, dass er ebenfalls so ein Intellektueller ist, also wieder ein ganz starkes Klassenbewusstsein hat, nur nicht von seiner eigenen Klasse, sondern von der anderen. Und das ist natürlich das, warum man den Roman auch ganz gern liest, weil das nämlich erstens komisch ist, aber andererseits, weil dadurch natürlich auch das Elend gebrochen wird. Gerade wenn man in bedrückenden Verhältnissen 9  César Rendueles, Kanaillen-Kapitalismus, Berlin: edition suhrkamp 2018, 10  Heirat des englischen Prinzen William und Kate Middletons. 11  Sue Townsend: Die Tagebücher des Adrian Mole. Die schweren Jahre nach 39. Berlin: Edition Tiamat 2011.

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lebt, liest man ja nicht gerne darüber, dass die Verhältnisse bedrückend sind, sondern man sieht diese Verhältnisse lieber ironisiert, auch die Herrschaftsverhältnisse. Insofern müsste man, wenn man diesen aufklärerischen Anspruch hat – ich habe ja schon gesagt, muss man gar nicht haben, aber wenn man den haben sollte/wollte –, dann natürlich vielleicht auch über Formen nachdenken, die das eben anders aufarbeiten, die das ironisieren, die vielleicht auch das Medium der Literatur verlassen. Oder wenn sie es nicht verlassen, dann zumindest eben viel stärker mit eben diesen Mitteln der Ironisierung, des Schelmenromans, spielen. Ganz wunderbar gelungen finde ich im Übrigen in dem Zusammenhang Ingo Schulzes „Peter Holtz“,12 der ja eine ganz zentrale gesellschaftliche Frage, nämlich die Eigentumsfrage, in dem Roman verpackt hat, der wirklich wie ein Thesenroman daherkommt, der aber trotzdem funktioniert. Also ich denke, wenn man das wollte, müsste man vielleicht ein bisschen andere Wege einschlagen oder eben die Perspektive erweitern, weil es ja auch ein Leben außerhalb der Literatur gibt. Iuditha Balint: Cornelia Koppetsch und Klaus Dörre, Sie sprachen schon davon, dass die Literatur für die Wissenschaft zumindest auf der stilistischen Ebene und auf der Ebene der Struktur ein dankbares Medium wäre. Wie ist es eigentlich mit der Wissenschaft? Ist die Wissenschaft ein dankbares Medium für die Literatur? Sie, Frau Rinck, schreiben sehr reflektiert, basierend auf sehr vielen, zum Beispiel auch gendertheoretischen, herrschaftskritischen Theorien. Welche Rolle spielt im eigentlichen Sinne Wissenschaft für Ihre Literatur und sieht man sich da dem Vorwurf ausgesetzt, sich von der gesellschaftlichen Realität zu entfernen, die man beklagt und die man möglicherweise verändern will? Monika Rinck: Bei den essayistischen Schreibweisen, die ich für mich gefunden habe oder die mich gefunden haben, geht es mir eben gerade um eine Verquickung von Abstraktion und Konkretion, um eine Verquickung von Theorie und Dialog, so dass es eben sowohl Zitate gibt als auch Protagonisten. Und das war für mich in gewisser Weise auch eine Befreiung aus den Konventionen des rein akademischen Schreibens, so dass ich jetzt quasi in die Lage versetzt bin, all das zu zitieren, was ich als anregend, emanzipativ, befreiend, interessant empfinde, und die Vielstimmigkeit des Textes diesem genuin zugehört. Und dann hakt es vielleicht manchmal an den Übergängen, aber was mir vorschwebt, wäre eine Durchwirkung dieser verschiedenen Ansätze, weil 12  Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Frankfurt/M.: Fischer 2017.

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ich eigentlich nicht sehr stark trenne zwischen dem Gedanklichen und dem Ästhetischen, sozusagen im Sinne der ästhetischen Theorie. Und inwiefern das die gesellschaftlichen Verhältnisse abbildet, das würde ich einerseits der Gesellschaft überlassen, andererseits aber auch darauf beharren, dass zur Freiheit des Schriftstellers eben auch die stilistische Freiheit gehört und es dann eher darum ginge, gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, in denen mehr Leute einen größeren Zugang zu diesen Formen des Redens, Sprechens, Schreibens und Denkens haben. Iuditha Balint: Raul Zelik, wie schreibt der Wissenschaftler als Schriftsteller über Klassen? Raul Zelik: Der Schriftsteller als Wissenschaftler oder der Wissenschaftler als Schriftsteller? Also ich empfinde dieses Sichbewegen zwischen den Formen und das Niederreißen der Formgrenzen erst mal als etwas sehr Interessantes. Und das ist ja, glaube ich, auch das, was Klaus vorhin an dem Eribon-Text so geschätzt hat und was viele auch so geschätzt haben, dass das eben ein Reflexionstext war, der aber ganz persönlich daherkam und deswegen auch so berührend war. Und das ist ja eh wahrzunehmen, dass das manchmal ganz gut funktioniert, theoretische Beobachtungen zu machen, die dann aber auch mal sehr poetisch oder experimentell daherkommen können – und umgekehrt genauso. Manchmal ist es den Formen tatsächlich nicht zuträglich. Also wenn man zum Beispiel Reflexion oder wirkliche Wissenspassagen einbaut in Literatur, finde ich es oft nicht so gelungen, nichtsdestotrotz kann es sehr berechtigt sein: Selbst wenn dadurch der Roman an formaler Qualität verliert, ist es ja vielleicht trotzdem interessant, was zu sagen wichtig ist, auch zu sagen. Iuditha Balint: Ich bedanke mich für die Diskussion. Vielleicht können wir in den nächsten Tagen weiter über die Rolle des Intellektuellen/der Intellektuellen in zeitgenössischen, gesellschaftlichen Diskussionen über Klasse, Rasse, aber auch Gender usw., diskutieren. Da wir ja schon so oft Didier Eribon erwähnt haben, nicht erwähnt haben wir Marx und Engels, aber auch nicht Stéphane Hessel, vielleicht kommt das noch.

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Klassen, Klassenpolitik und Klassenliteratur – gibt es das noch? Hans-Jürgen Urban Ich darf mich zunächst für die Einladung und für die Thematik der Tagung bedanken, zu der ich gerne einige Gedanken beitrage. Mein Beitrag ist kein genuin literaturwissenschaftlicher, da ich nicht der Profession der LiteraturExpert*innen angehöre und nicht über eine entsprechende Fachexpertise verfüge. Meine Ausführungen wandern durch die Soziologie und die Gewerkschaftspolitik, und sie streifen nur am Rande die Literatur. Da der Vortrag jedoch im Kontext einer Literaturtagung und entsprechender Debatten angesiedelt ist, wage ich den einen oder anderen literarischen Ausflug. Diese sind jedoch, ich gebe es zu, von eigenen Leseerlebnissen und von Werken geprägt, die meine politische Biographie begleitet haben. Dabei möchte ich auf eine einfache These hinaus, in der zugleich eine Hoffnung steckt. Sie besagt, dass es „linker Literatur“, insbesondere der Klassenliteratur, geht wie den Klassen selbst. Sie sind nicht verschwunden, aber sie haben sich grundlegend gewandelt, sind fast unkenntlich, weil sie pluraler, subtiler und fragiler geworden sind. Und dennoch kann auch unter diesen Bedingungen eine sozial reflexive Literatur eine wichtige Funktion bei dem übernehmen, was über linke Diskursdifferenzen hinweg gemeinsames Ziel einer sozialen, politischen und literarischen Linken sein könnte: ein solidarisches politisches Handeln zu reaktivieren, um die gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn nicht zum Tanzen zu bringen, so doch zum Besseren zu bewegen. Ich werde in folgenden Schritten vorgehen: Zunächst will ich einige kurze Anmerkungen zu dem Literaturverständnis machen, das meinen Ausführungen zugrunde liegt. Dem folgen einige Gedanken zu der Frage, was heute unter der Kategorie der Klasse zu fassen ist und was unter diesen Bedingungen Klassenpolitik, vor allem der Gewerkschaften, heißen könnte oder gar sollte. Sie münden in Überlegungen, welche Rolle eine linke Kontexte stützende literarisch-kulturelle Produktion spielen könnte. Ich ende mit einem kurzen Ausblick.

*  Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung des frei gehaltenen und transkribierten Vortrags. Der Text wurde um Literaturangaben ergänzt, der Vortragscharakter wurde beibehalten.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_004

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Hans-Jürgen Urban

Was ist (Klassen-)Literatur?

Wer kein Literatur-Experte ist, weder als Produzent noch als wirklich systematischer Konsument, und wer dennoch eine einigermaßen gehaltvolle Annäherung an die Literatur wagt, sollte sich Rat holen. Sinnvoll wäre die Befragung ausgewiesener Literaturkenner, am besten, so entspricht es meiner Grundorientierung, aus der materialistisch-marxistischen Denktradition. Infrage kämen Koryphäen wie Franz Mehring, Walter Benjamin, Georg Lukács oder Antonio Gramsci. Geht es konkreter um „(Arbeiter-)Klassenliteratur“, böte sich der Weg über die Literatur der Arbeitswelt, die „Gruppe 61“ oder den „Bitterfelder Weg“ an. Nicht zu vergessen die Industriereportagen von Günther Wallraff oder die Stücke von Max von der Grün. Eine Vielzahl kaum abschließend zu beantwortender Fragen drängen sich dabei auf. Was ist Arbeiter*innen-Literatur? Literatur, die von oder für Arbeiter*innen geschrieben wurde oder wird? Oder in der sie als Arbeiter*innen vorkommen? Oder ist es Literatur, die Arbeiter*innen lesen bzw. lesen sollen? Offensichtlich können die Klasse bzw. die Klassenindividuen Produzenten, Objekte oder Konsumenten dieser Literatur sein. Und zugleich gibt es Literatur der herrschenden und der beherrschten Klasse usw. Das alles sind Fragen, an denen man sich schnell die analytischen Zähne ausbeißen kann. Das möchte ich vermeiden. Deshalb suche ich Zuflucht bei einem, der es besser weiß. Bei Terry Eagleton, dem ausgewiesenen, ja brillanten marxistischen Literaturtheoretiker. Er hilft mir aus der Patsche, wenn er mir zuruft: „Suche nicht weiter nach der Definition von Literatur. Es gibt sie nicht.“ Literatur ist demnach das, was als Literatur definiert wird. Literatur ist das, was in gesellschaftlichen Diskursen, Auseinandersetzungen und mitunter auch in Kämpfen als literarisches Konstrukt akzeptiert wird. Eagleton fasst die Quintessenz seines Ansatzes wie folgt zusammen: „Es bedeutet, dass wir ein für allemal die Illusion fallen lassen können, dass die Kategorie ‚Literatur‘ ‚objektiv‘ im Sinne von ewig und unveränderbar ist. Alles kann Literatur sein und alles, was als unwandelbar und unbestreitbar als Literatur angesehen wird – Shakespeare, zum Beispiel – kann eines Tages keine Literatur mehr sein.“1 Ein solches Verständnis ist folgenreich, denn „es bedeutet, dass der sogenannte ‚literarische Kanon‘, die nicht infrage gestellte ‚große Tradition‘ der ‚Nationalliteratur‘, als Konstrukt erkannt werden muss, das von bestimmten Leuten aus bestimmten Gründen in einer bestimmten Zeit gebildet wurde.“2 1  Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2012, S. 11. 2  Ebd., S. 12.

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Klassen, Klassenpolitik und Klassenliteratur

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Also: Der Kanon von angeblicher Nationalkultur ist nichts anderes als eine Verständigung derjenigen, die Verständigungsmacht haben, dies zu definieren. Und das heißt: Wir haben also bisher nicht nur entdeckt, dass Literatur nicht in dem Sinn existiert, wie das Insekten tun, und dass die Werturteile, die sie konstituieren, historisch veränderlich sind, sondern auch, dass diese Werturteile selbst eine enge Verbindung zu den gesellschaftlichen Ideologien haben. Sie verweisen uns letzten Endes nicht auf einen privaten Geschmack, sondern auf die Grundannahmen, mit denen bestimmte soziale Gruppen Macht über andere ausüben und erhalten.3

Ermutigt durch den theoretisch gut begründeten Pragmatismus eines Kenners möchte auch ich pragmatisch verfahren. Auch wenn Eagleton selbstredend an gesellschaftliche Übereinkünfte denkt, will ich das Ganze privatisieren und mir meine eigene Definition zurechtlegen. Sie läuft in etwa auf Folgendes hinaus: Klassenliteratur ist Produkt gesellschaftskultureller Produktion, das sind Werke, die Lebenslagen und -Situationen der Klassenindividuen thematisieren. Sie trägt willentlich oder unwillentlich zur Stabilisierung oder De-Stabilisierung von gesellschaftlichen Deutungsmustern und letztlich mitunter auch zu Klassenverhältnissen bei. Und/oder sie dient der Formierung von Klassenbewegungen, oder besser: von Bewegungen der Aufhebung von Klassenherrschaft und -privilegien. Macht ausüben oder erhalten oder eben auch diese Machtverhältnisse verändern, auch das ist eine der Funktionen des sozialen Konstruktes, das ich meine, wenn ich an der einen oder anderen Stelle über Literatur rede. Es soll im Folgenden also um literarische Erzeugnisse gehen, die bei der Formierung von progressiven Akteuren helfen könnten, die sich in der ökonomisch, sozial, politisch kulturell zerklüfteten Landschaft des Gegenwartskapitalismus zusammenfinden, um das anzugehen, was wir – gewiss grob – die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse nennen können. 2.

Was sind (soziale) Klassen?4

Doch eins nach dem anderen. Zunächst lohnt der Blick auf die Frage, was die marxistische Linke unter Klassen verstand und ob es das noch gibt, die Klasse. 3  Ebd., S. 16. 4  Zu den beiden folgenden Abschnitten: vgl. Hans-Jürgen Urban: Sind Gewerkschaften heute noch Klassenorganisationen, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 116 (Dezember 2018), S. 81-95.

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Nachdem es in Deutschland lange Zeit um Begriffe wie Klassen und Klassenpolitik still war, verzeichnen wir seit einigen Jahren ein zunehmendes Interesse an Klassenfragen. Die „Klassen“ sind in die medialen und mitunter auch die wissenschaftlichen Diskurse zurückgekehrt, oftmals jedoch ohne Kenntnis und ohne Bezüge auf die Diskussions- und Kenntnisstände, die in früheren Jahren bereits erarbeitet worden waren. Das wiedererwachte Interesse an der Klassenkategorie hat sicherlich etwas mit der Wahrnehmung der enormen sozialen Ungleichheit zu tun, die sich sowohl in Deutschland als auch international herausgebildet hat. Aber es erwächst wohl auch aus dem Wunsch, die Defensive linker politischer und gesellschaftlicher Kräfte zu überwinden. Auffällig ist zunächst, dass die Wiederbelebung der Klassendebatte nicht durch neu erwachte Interessen an der Arbeiter*innenklasse begann, sondern der Blick sich stärker auf die Veränderungen in der herrschenden Klasse richtete. Die Rückkehr des Klassenbegriffs in den sozialwissenschaftlichen Diskursen wurde etwa durch Nicht-Marxisten wie Ralf Dahrendorf (2000)5 oder Paul Windolf (2005)6 und andere nicht-marxistische Soziologen vorangetrieben. Sie haben vor allem eine neue globale Klasse als eine kosmopolitische Elite diagnostiziert. Windolf etwa spricht von einer „Dienstklasse des Finanzmarktkapitalismus“, die transnational agiert und als neue Funktionselite des heutigen Kapitalismus zu begreifen ist. Was dort analysiert wird, ließe sich als „Klassenpolitik von oben“ bezeichnen. Die, die sie betreiben, sind sich des Klassencharakters ihres Tuns durchaus bewusst. Man denke nur an das berühmte Zitat des Finanzspekulanten und Milliardärs Warren Buffett, der sagte: „There’s class warfare, all right, […] but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.“7 Das provoziert natürlich die Frage: Wird diese Klassenpolitik von oben durch eine Klassenpolitik von unten beantwortet? Die Antwort wird wohl sehr verhalten ausfallen müssen. Jedenfalls existieren in den Metropolen des Nordens revolutionäre Bewegungen oder Kämpfe, die sich als antagonistische Klassenkämpfe verstehen, kaum. Auch vorsichtige Hoffnungen, die viele von uns in den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in den lateinamerikanischen Ländern gesetzt haben mögen, sind inzwischen tiefer Ernüchterung und 5  Ralf Dahrendorf: Die globale Klasse und die neue Ungleichheit. In: Merkur, Jg. 54, H. 619 (2000), S. 1057-1068. 6  Paul Windolf (Hg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktions­ regimen. Sonderband 45 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. 7  „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“. Warren Buffet im Interview mit Ben Stein. In: New York Times (26. November 2006).

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einem frustrierten Realismus gewichen. Jedenfalls ist die Linke von einer organisierten und offensiven Klassenpolitik, die auf eine Überwindung der kapitalistischen Grundstrukturen zielt, weit entfernt. Gehen wir aber noch einmal einen Schritt zurück und fragen: Was sind eigentlich Klassen? Aus Sicht einer marxistisch orientierten Klassentheorie sind es soziale Großgruppen, die sich aus Individuen zusammensetzen, deren Lebenslagen durch gemeinsame sozio-ökonomische Strukturelemente geprägt sind. Diese Gemeinsamkeiten sind zunächst objektiver Natur, und sie bestimmen ihre Positionierung im kapitalistischen (Re-)Produktionsprozess. Diese Lebenslagen generieren gemeinsame Interessen, die sich als Klasseninteressen bezeichnen lassen. Ob daraus auch subjektive Gemeinsamkeiten im Denken und Handelns der Individuen werden, ob mit der sozialen Klassenlage ein äquivalentes „Klassenbewusstsein“ und eine entsprechende soziale Praxis korrespondieren, ist damit nicht gesagt und eine gesondert zu behandelnde Frage. Doch bleiben wir zunächst bei den objektiven Faktoren. Auch die Klassenlage der Arbeiter*innen ist durch gemeinsame Strukturelemente geprägt. Zu ihnen gehören: erstens und vor allem die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, also die Tatsache, dass die Produktionsmittel in den Händen weniger Kapitalist*innen monopolisiert sind und die abhängig Beschäftigten lediglich Eigentümer ihrer Arbeitskraft sind; und dass sie diese Arbeitskraft als Ware an die Kapitalisten verkaufen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das zweite Strukturelement sind bestimmte Ausbeutungs- und ungleiche Verteilungsverhältnisse. Bei der Verwertung der Arbeitskraft im Produktionsprozess entsteht ein Mehrwert, den die Kapitalist*innen sich aneignen. Denn der Besitz der Produktionsmittel und der Kauf der Ware Arbeitskraft ist in kapitalistischen Gesellschaften mit dem Recht verbunden, sich das anzueignen, was die Anwendung der Arbeitskraft im Arbeits- und Produktionsprozess erzeugt. Daraus folgen – als drittes Strukturelement – bestimmte Macht- und Herrschaftsverhältnisse: Die, die nur die Arbeitskraft besitzen, sind als Individuen den Besitzer*innen der Produktionsmittel unterlegen, da sie in ihrer materiellen Reproduktion von der erfolgreichen Vermarktung ihrer Ware abhängig sind. Schließlich entstehen viertens aus dieser Verkaufsabhängigkeit Reproduktionsrisiken der abhängigen Arbeit, die immer dann besonders virulent werden, wenn es den Lohnabhängigen nicht (oder nicht ausreichend) gelingt, ihre Arbeitskraft zu einem, die Reproduktion der jeweiligen Lebensgemeinschaft sichernden Preis zu verkaufen. Diese soziale Lage schafft Gemeinsamkeiten für viele Menschen in kapitalistischen Gesellschaften und bildet die Grundlage für das, was man in der marxistischen Tradition als Arbeiter*innenklasse oder Proletariat

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bezeichnet hat. Ihre objektiven Interessen stehen in einem antagonistischen Verhältnis zu den Interessen der Kapitalbesitzer*innen. Beide, Arbeit und Kapital, bilden die Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft. Und ich denke, es ist evident, dass diese Strukturen auch die heutige deutsche Gesellschaft prägen. So gesehen ist die deutsche Gesellschaft nach wie vor oder immer noch eine kapitalistische Klassengesellschaft – eine Einsicht, die auch in den Gewerkschaften nicht umfassend präsent ist. Es schließt sich aber sogleich die Frage an: Handeln die Angehörigen der Arbeiter*innenklasse denn auch gemeinsam, gleichsam im eigenen Klasseninteresse? Gibt es so etwas wie Klassenhandeln? Tun sie den Schritt von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“, wie es in der Tradition der marxistischen Theorie oft genannt wurde.8 Hier bedarf es eines genaueren Blicks. Anknüpfend an das oben angeführte Marx-Zitat, dass Gewerkschaften „gute Dienste“ tun „als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals“, setze ich hier einen Akzent, der in der Debatte unter Marxist*innen zuweilen untergeht: Klassenhandeln beginnt nicht erst mit revolutionärem Handeln und sollte nicht gleichgesetzt werden mit dem Bestreben, den Kapitalismus grundsätzlich in Frage zu stellen. Die falsche Gleichung „keine revolutionären Aktionen – kein Klassenhandeln“ hat historisch oft zu Irritationen und falschen Schlussfolgerungen geführt und nicht selten einen frustrierten Abschied von jeglicher Klassenpolitik nach sich gezogen. Doch Klassenhandeln ist vielfältiger. Es muss nicht revolutionär, sondern kann auch reformistisch und auf einzelne Reformschritte gerichtet sein. Es kann sozialpartnerschaftlich-affirmativ oder gar wettbewerbs- und gegenüber anderen Klassen konkurrenzorientiert ausfallen. Es kann auf organisierte Gegenmacht aufbauen, um die eigene Verhandlungsstärke auszubauen oder den schnellen Kompromiss suchen. Aber natürlich kann Klassenhandeln auch kollektives Handeln sein, das Gegenmacht der Lohnabhängigen innerhalb des kapitalistischen Systems herstellen will, um sie in revolutionärtransformatorisches Handeln zu überführen. Kurzum, Klassenindividuen handeln nicht nur, wenn sie antikapitalistisch agieren, sie können sich auch in systemimmanenten Praxen verlieren. Damit ist die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen objektive Klassenlagen in kollektives und schließlich sogar systemtransformierendes Handeln münden (können). Marx und Engels selbst haben unterstrichen, dass sich das „Proletariat“ „einstweilen“ etwas ganz anders vorstellen könne

8  Karl Marx: Das Elend der Philosophie (1847). In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 4. Berlin: Dietz 1971, S. 63-182, hier 180f.

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als das, was sein eigentliches Klasseninteresse ausmache.9 Frank Deppe hat diesen Gedanken in seinem Essay „Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse“ (1981)10 aufgegriffen und gezeigt, dass die „Konstitution der Klasseneinheit“ ein komplizierter und widersprüchlicher Prozess ist.11 Deppe verweist auf eine wichtige Passage von Marx und Engels „Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben; im Übrigen stehen sie einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber.“12 Deppe diskutiert diese Thematik in Bezug auf die moderne Arbeiter*innenklasse im entwickelten Kapitalismus und kommt zu dem Schluss: „Der politische ‚Normalzustand‘ der Arbeiterklasse ist nicht der der Einheit, sondern der der Spaltung“.13 Klassenhandeln der Klasse „für sich“ kann insofern „nicht einfach als eine politische Übersetzung bzw. als bloß mechanischer Reflex dieses objektiven, sozialökonomischen Klassenbildungsund Homogenisierungsprozesses begriffen werden“.14 Oder um auf die gegenwärtige Debatte Bezug zu nehmen: „Klassenlagen geben keine politischen Orientierungen vor.“15 Ein „einheitliches“ kollektives Klassenhandeln der Lohnabhängigen ist immer nur Resultat von umfassenden Diskussionsprozessen, von Erfahrungen, von der Vermittlung dieser Erfahrungen, von durchgestandenen Konflikten und Kämpfen und von der intensiven Verarbeitung dieser Kämpfe. Diese Einsicht kann auch Marxist*innen davor bewahren, ihre Vorstellungen von der Arbeiter*innenklasse als eine Art mythologisches revolutionäres Subjekt ideologisch zu verklären. Sie mahnt zugleich zur historisch-konkreten Analyse der Klassenverhältnisse. Es kann sogar das Gegenteil eintreten: Je erfolgreicher die Arbeiter*innenbewegung den „Gewalttaten des Kapitals“ trotzt, ihre Interessen vertritt, ihre Lage verbessert, desto mehr kann das systemtransformierende Element im Klassenhandeln in den Hintergrund treten. Sobald diese Kämpfe den Lohnabhängigen ein gewisses Maß an sozialer und Arbeitsplatzsicherheit sowie einigermaßen auskömmliche Löhne 9  Karl Marx/ Friedrich Engels: Die heilige Familie (1845). In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 2. Berlin: Dietz 1970, S. 3-223, hier 38. 10   Frank Deppe: Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse. Überlegungen zu einer politischen Geschichte der Arbeiterbewegung. Marburg: Verlag Arbeiterbewegung u. Gesellschaftswiss. 1981. 11  Ebd., S. 19. 12  Karl Marx/ Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie (1845/46). In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 3. Berlin: Dietz 1990, S. 9-532, hier 54. 13  Frank Deppe: Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse, S. 29. 14  Ebd., S. 37. 15  Klaus Dörre: Hoch oben, tief unten. Ungleichheit, Abstiegssorgen, Kollektividentität: Über die Bundesrepublik als Klassengesellschaft. In: Neues Deutschland (18. 9. 2017).

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sicherte, traten die revolutionäre Kraft und das revolutionäre Wollen der Bewegung in den Hintergrund. Klassenpolitische Erfolge befördern offenbar eher Systemintegration als revolutionäre Ambitionen. Zugleich ist hier der Ort, darüber nachzudenken, über welchen Weg Kulturprodukte, wie etwa die Literatur, wirken. Zu fragen wäre, ob und wenn ja, welchen Beitrag sie zur Herausbildung von Handlungsorientierungen leisten. Die traditionelle Auffassung war: Klassenliteratur hat der Festigung von Klassenbewusstsein und -handeln zu dienen. Das war immer umstritten, aber heute ist die Sache noch komplizierter. Denn es existiert nicht einmal eine gemeinsame Auffassung davon, was das ist: Klassenbewusstsein oder Klassenhandeln, und ob beides überhaupt noch möglich ist. 3. Klassenpolitik heute – was ist das? Also: Was bedeutet dies alles nun für eine „Klassenpolitik im 21. Jahrhundert“? Und was heißt das für die Gewerkschaften? Die Gewerkschaften sind die elementaren, die ersten Klassenorganisationen des Proletariats. Sie geraten schnell in Existenznöte, wenn sie ihre primäre Aufgabe vernachlässigen, den „Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals“ zu organisieren. Denn die Gewerkschaften existieren als Selbsthilfe-, als Nothilfeorganisationen derjenigen, die alleine nicht zurechtkommen, die ihre ökonomischen Interessen nur zusammen erfolgreich vertreten können. Wenn sie diese Interessenvertretung aufgeben, verlieren sie ihre Gewerkschaftseigenschaft und die Gefahr wächst, dass sie als handlungsfähige Akteure verschwinden. Auch das ist keine graue Theorie, gerade in den kapitalistischen Zentren. Das Bild von einem Kapitalismus ohne Gewerkschaften ist leider empirisch stichhaltiger, als wir uns das vor 20, 30 Jahren vorstellen konnten. Das bedeutet auch: Wenn Gewerkschaften ihre Kernaufgabe erledigen, wenn sie die sozialen und ökonomischen Interessen der Lohnabhängigen verteidigen, dann mag das durchaus systemkonform sein. Aber dann sind sie doch Klassenorganisationen, weil sie auf der Basis kollektiver Interessen handeln und den Widerstand gegen die Zumutungen des kapitalistischen Systems organisieren. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die sich im Konkreten mit der Transformation der kapitalistischen Produktionsweise immer wieder verändert. Zu Recht diskutieren die Gewerkschaften heute deshalb viel darüber, was sich gegenüber der Politik der vergangenen Jahrzehnte verändern muss. Was muss sich denn verändern? Was sollten Elemente einer neuen Klassenpolitik sein, die dem globalisierten Gegenwartskapitalismus Rechnung tragen? Dazu vier aus meiner Sicht wichtige Punkte.

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Erstens: Wir müssen radikaler und konfliktorientierter werden. Im besten Wortsinne. Das ergibt sich als logische Schlussfolgerung aus dem enormen Druck des Klassenkampfes von oben. Wir erleben im globalen Finanzmarktkapitalismus eine perverse Radikalisierung der Verteilungsfrage, in Deutschland, in Europa, weltweit. Eine Handvoll von Familien besitzt mehr Vermögen als die Hälfte der Menschheit.16 Die Missstände sind so überwältigend, dass sie unsere Vorstellungskraft übersteigen. Das ist Klassenkampf von oben, und deshalb muss eine gewerkschaftliche Klassenpolitik darauf mit einer Radikalisierung ihrer Verteilungspolitik von unten antworten. Da ist noch viel Luft nach oben. Zweitens: Gewerkschaftliche Klassenpolitik darf sich keinesfalls auf die traditionellen Zentren der Arbeiter*innenklasse, also die Beschäftigten in der Automobil-, Stahlindustrie, auf die Montanindustrie usw. beschränken. Für die IG Metall sind das nach wie vor die Bastionen ihrer Organisationsmacht; für gewerkschaftliche Politik sind sie von existenzieller Bedeutung und der in Mode gekommene Abschied von den Lohnabhängigen in der industriellen Wertschöpfung ist ein fataler Irrtum! Die Herausforderung besteht vielmehr darin, dass gewerkschaftliche Interessenspolitik und Organisationsmacht aller Gewerkschaften stärker in die Sektoren der neuen Erwerbsarbeit vordringen muss, in denen es deutlich weniger gewerkschaftliche Konflikterfahrung gibt. Das sind etwa die Bereiche der Wissensarbeit, der Hightech-Dienstleister, der Logistik, des Finanzwesens, überhaupt der industrienahen und unternehmensbezogenen Dienstleistungen. Dazu gehören natürlich auch die expandierenden Bereiche der Sorgearbeit, also der personenbezogenen und sozialen Dienstleistungen. Darunter fallen auch Wirtschaftsbereiche und Branchen, die traditionell nicht mit kapitalistischer Ausbeutung assoziiert werden. Doch heute sind sie einem rasanten Ökonomisierungsdruck ausgesetzt, und der gesellschaftliche Nutzen der Sorgearbeit und ihre Bezahlung und Anerkennung stehen in einem so eklatanten Widerspruch, dass keine werttheoretische Analyse erforderlich ist, um den Ausbeutungscharakter dieser Verhältnisse feststellen zu können. Man schaue sich nur die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in Krankenhäusern und in der Altenbetreuung oder der Erzieher*innen in Kitas an. Ein drittes Element einer zeitgemäßen Klassenpolitik ist eine kluge Verbindung von Klassenfragen und den sogenannten Anerkennungs- oder Identitätsthemen. Kein Zweifel, die derzeitige Defensive der Linken ist auch durch die Vernachlässigung sozial-ökonomischer Klassenfragen zugunsten einer 16  Anthony B. Atkinson: Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. Stuttgart: Klett-Cotta 2016.

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postmateriellen Kultur- und Anerkennungspolitik bedingt. Einflussreich für dieses Denken war eine, von Intellektuellen wie Jürgen Habermas formulierte, Vorstellung, der Sozialstaat habe die kapitalistischen Widersprüche suspen­ diert und den Kapitalismus damit sozial befriedet. Einige zogen daraus den Schluss, man könne, ja müsse sich nun von den sozialen Klassenkonflikten ab- und (alltags-)kulturellen Kommunikationskonflikten, Identitätskonflikten usw. zuwenden. Das war eine falsche Analyse, der falsche Strategieüberle­ gungen folgten. Falsch war vor allem die dahinter stehende Vorstellung, als gebe es so etwas wie einen gesicherten historischen Besitzstand an „Sozialeigentum“ (Robert Castel) und einer Zivilisierung des Kapitalismus. Das gibt es nicht, und es wird ihn unter kapitalistischen Bedingungen auch nie geben. Denn spätestens in der nächsten Krise werden solche Errungenschaften wieder in Frage gestellt, müssen verteidigt oder neu erkämpft werden. Gleichwohl ist die Debatte über die Bedeutung von Kultur- und Anerkennungsfragen richtig und notwendig, und die Linke sollte nicht hinter erreichte Stände zurückfallen. Sie weist auf Dimensionen menschlicher Emanzipation hin, die mit einer politökonomisch orientierten, klassentheoretischen Analyse alleine nicht erfasst werden können. Zeitgemäße Klassenpolitik darf daher nicht nur die Arbeits- und sozialen Lebensverhältnisse, sondern muss die gesamte Lebensweise der Menschen in den Blick nehmen, die Seite der Produktion und die der Reproduktion, die der materiellen Bedürfnisse und die der Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung selbst gewählter Identitäten und Lebensformen. Die Überwindung von Geschlechterhierarchien und rassistischer Diskriminierung, der Anspruch, sexuelle Orientierungen ohne Diskriminierung ausleben zu können, sind essentials, die zu einer emanzipierten Lebensweise gehören und die eine emanzipatorische Politik nicht vernachlässigen darf. Dabei kommt es mir nicht zuletzt auf die spezifische Verschränkung von Klassenlagen und Anerkennungsfragen in den kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften an. Nicht „farbig zu sein“ ist zumeist die eigentliche Ursache der Diskriminierung; nicht eine schwule, lesbische, bi- oder transsexuelle Identität an sich wird zum Problem. Die Diskriminierung entfaltet sich vor allem in Verbindung mit der Klassenlage. Mit anderen Worten: Es kann in der kapitalistischen Mediengesellschaft durchaus zum politischen Marketingerfolg beitragen, sich als schwuler Politiker und damit als Repräsentant einer modernen, liberalen Gesellschaft präsentieren zu können. In den Niederungen des Prekariats sieht das ganz anders aus. Und es kann sich in der kapitalistischen Kulturindustrie in barer Münze auszahlen, etwa als „Rapper“ als kulturell-authentischer Repräsentant der People of Colour zu gelten, ohne spürbare Diskriminierungen zu erfahren. Anders sieht es in den Gettos der

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Mega-Cities und für ihre Bewohner*innen aus. Der Blick in die Gefängnisse (nicht nur) der USA mit ihrem übergroßen Anteil an farbigen Häftlingen spricht eine deutliche Sprache. Wie auch immer. Evident ist: Die kultur- und anerkennungstheoretischen Zugänge zu Macht- und Herrschaftsfragen stellen eine Bereicherung des kapitalismuskritischen Diskurses dar und sollten elementarer Bestandteile linker Klassenpolitik sein. Auf eine einfache Formel gebracht: Klassenanalyse und Klassenpolitik bleiben notwendig, sind aber nicht hinreichend. Es muss gelingen, Klassenfragen mit Anerkennungs- und Identitätsfragen zu verbinden, ohne sie einfach hinzuzuaddieren. Es geht um die Emanzipation des „ganzen Menschen“. Linke Politik, die hinter die Kämpfe für Geschlechtergerechtigkeit, gegen sexuelle Diskriminierung und Rassismus zurückfiele, fiele auch hinter die Mindeststandards einer zeitgemäßen Klassenpolitik zurück. Der vierte und letzte Punkt lautet: Klassenpolitik ist heute stärker denn je auf politische Bündnisse und strategische Allianzen mit anderen progressiven Akteuren und Bewegungen angewiesen. Wenn zeitgemäße Klassenpolitik in ihrer ganzen Komplexität erfasst und praktiziert wird, wenn es also neben den Lohnkämpfen, neben den materiellen Kämpfen um Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit usw. auch um Forderungen nach einer nachhaltigen und diskriminierungsfreien Lebensweise geht, dann wird eine Gewerkschaftsbewegung alleine das nicht leisten können. Dann wird es Bündnisse mit feministischen, antirassistischen und anderen Organisationen und sozialen Bewegungen geben müssen. Denn auf die Kompetenzen, Erfahrungen und Energien dieser Bewegungen kann eine umfassende Klassenpolitik nicht verzichten. 4.

Klassenpolitische Bewährungsproben

Was folgt aus dem Gesagten für eine linke Klassenpolitik? Mit welchen Kon­ flikten hat sie sich auseinanderzusetzen? Aus meiner Sicht sind vier Themen von besonderer Bedeutung. Sie benennen Bewährungsproben progressiver Klassenpolitik. Diesen Begriff haben Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem einflussreichen Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ (2003)17 geprägt und in die kapitalismustheoretische Debatte eingebracht. Ihre These lautet: Individuen, aber auch gesellschaftliche Bewegungen und Organisationen müssen aufgrund des Strukturwandels kapitalistischer Gesellschaften ihre Durchsetzungsfähigkeit immer neu erarbeiten und erkämpfen; sie sehen 17  Luc Boltanski/Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2003.

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sich immer wieder mit alten und neuen Konflikten konfrontiert. Bestehen sie diese nicht, verlieren sie früher oder später ihre soziale Funktion und Gegenmachtfähigkeit. Die erste Bewährungsprobe ist, neue Solidarität im Rahmen des kapitalis­ tischen Formwandels und des sozialen Strukturwandels zu organisieren. Für Gewerkschaften etwa ist es heute sehr viel schwieriger, die extrem unterschiedlichen Lohnabhängigen-Gruppen zusammenzubringen, welche die Vielfalt der Arbeiter*innenklasse ausmachen. Denn in dem Maße, in dem sich die objektiven Arbeits- und Lebenssituationen der Beschäftigten auseinander entwickeln, sind auch die Präferenzen für das, was man für dringlich hält, weit verstreut. Das heißt für die Gewerkschaften konkret: Wer einen Konflikt beginnt, der nur mit Hilfe eines Streiks erfolgreich beendet werden kann, tut gut daran, Interessen zu bündeln und mit Forderungen in den Konflikt zu gehen, von denen alle etwas haben. Die Erfahrung zeigt, dass gerade die Arbeitszeitpolitik ein wichtiger Hebel ist, um unterschiedliche Interessen zusammenzuführen und Zeitmodelle zu erkämpfen, die kürzere Arbeitszeiten und mehr Zeitsouveränität verbinden. Die zweite Bewährungsprobe, der sich nicht nur die Gewerkschaften stellen müssen, ist die Verteilungsdimension im globalen Maßstab. Die Gewerkschaften haben in Sachen transnationaler Solidarität weltweit bisher keine qualitativen Fortschritte vorzuweisen. Es gibt immer wieder vereinzelte Akti­ vitäten, es gibt Solidaritätskämpfe entlang von Wertschöpfungsketten in großen Konzernen, es gibt Solidaritätsaktionen von Menschen zwischen verschiedenen Erdteilen – das darf alles nicht gering geschätzt werden. Aber es gibt keine auch nur annähernd belastbare Struktur gewerkschaftlicher Gegenmacht, die der transnationalen Struktur des Kapitals wenigstens ansatzweise entspräche. Die Debatte darüber wurde unter anderem durch das Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen mit dem einprägsamen Begriff der „imperialen Lebensweise“ neu entfacht.18 Die Autoren vertreten die These: Die Lebensweise der Menschen in den Metropolen greift nicht nur auf die eigenen Ressourcen zu, sondern auch auf die anderer Weltregionen. Schon deshalb kann sie nicht nachhaltig sein. Der Begriff der „imperialen Lebensweise“ ist aus meiner Sicht kapitalismustheoretisch und analytisch durchaus problematisch, u.a. weil er den engen Zusammenhang zwischen Klassenlagen und Lebensweise

18  Ulrich Brandt / Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom 2017.

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vernachlässigt.19 Diskurspolitisch kann er aber sehr hilfreich sein: Er weist uns darauf hin, dass Fragen einer antikapitalistischen Klassenpolitik im 21. Jahrhundert nicht mehr alleine in den nationalstaatlichen Arenen verhandelt werden können. Hier haben wir es mit einem komplexen Problem zu tun. Es ist bisher nur in den nationalstaatlichen Arenen gelungen, Zivilisierungsfortschritte gegenüber dem Kapitalismus zu realisieren. Dennoch rücken manche Linke die Verteidigung des Sozialstaats in die Nähe des Nationalismus. Ich halte das für völlig desorientierend. Der von ihnen leichtfertig verachtete nationale Wohlfahrtsstaat war immerhin der jahrzehntelang durchgehaltene und keineswegs erfolglose Versuch, Einflussnahme auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu erkämpfen und ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit für die Lohnabhängigen durchzusetzen. Heute ist dieser Wohlfahrtsstaat nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus nur noch in Rumpfbestandteilen vorhanden. Von einem funktionalen Äquivalent auf transnationaler Ebene ist aber weit und breit nichts zu sehen. Linker Fortschritt war damit nicht verbunden. M.E. ist es deshalb völlig falsch, die Kämpfe um die Verteidigung der wohlfahrtsstaatlichen Strukturen in den Metropolen zu denunzieren. Das eine bedingt das andere. Dringend notwendige, progressive Lösungen auf europäischer oder internationaler Ebene setzen doch gerade voraus, dass sich in den Nationalstaaten die Kräfteverhältnisse nach links verschieben lassen. Es ist daher richtig, „dass Weichenstellungen zugunsten einer demokratischen Transformation heute letztendlich nur international und global erfolgen können, jedoch in der nationalen Arena beginnen müssen“.20 Darauf hinzuwirken ist auch Aufgabe der Gewerkschaften. Die dritte Bewährungsprobe ist ebenfalls von historischer Dimension. Sie entspringt aus dem Konflikt zwischen dem kapitalistischen Wachstumsim­ perativ und seinen destruktiven Folgen, zwischen Wachstum und Ökologie. Spätestens mit den weltweiten Verwerfungen der Krise von 2007/2009 hat sich eine „Doppelkrise“ herausgebildet.21 Zum einen ist das herkömmliche 19  Vgl. dazu Dieter Boris: Imperiale Lebensweise? Ein Kommentar (zum Buch von Uli Brand und Markus Wissen). In: Sozialismus (2017), H. 7/8; Klaus Dörre: Imperiale Lebensweise – eine hoffentlich konstruktive Kritik. In: Sozialismus (2018), H. 6 und 7/8; Thomas Sablowski: Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage ausblenden muss. In: Luxemburg (2018), H. 1, Online-Ausgabe. 20  Klaus Dörre: Neo-Sozialismus oder: Acht Thesen zu einer überfälligen Diskussion. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (2018), H. 6, S. 105-115, hier 112. 21  Klaus Dörre / Karina Becker: Nach dem raschen Wachstum: Doppelkrise und große Transformation. In: Lothar Schröder / Hans-Jürgen Urban: Ökologie der Arbeit – Impulse für einen nachhaltigen Umbau. Jahrbuch Gute Arbeit. Frankfurt/Main: Bund Verlag 2018, S. 35-58.

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kapitalistische Wirtschaftswachstum mit einer immer größeren sozialen Ungleichheit verbunden sowohl zwischen den Lohnabhängigen und den Kapitalbesitzer*innen als auch zwischen den Gruppen der Lohnabhängigen selbst. Zum anderen stößt es auch an die Schranken der Natur und droht die Regenerationsfähigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen zu überfordern. „Sofern Wirtschaftswachstum überhaupt noch generiert werden kann, zehren die ökologischen und sozialen Destruktionskräfte den äußerst ungleich verteilten Wohlfahrtsgewinn nicht nur auf, sondern – und das ist historisch neu – sie kumulieren sich bis zu einem Schwellenwert, an dem eine irreversible Destabilisierung der Ökosystem einsetzt“.22 Das heißt: Eine Politik des „Weiter so“ geht nicht mehr. Mit dieser Erkenntnis tun sich die Gewerkschaften schwer. Traditionell sind sie Wachstumsfans.23 Das hat nachvollziehbare Gründe. „Die Steigerung der ökonomischen Wertschöpfung ging lange mit einem Abbau von Arbeitslosigkeit einher und stärkte die eigene Verhandlungsmacht. Zugleich konnte das Mehrprodukt relativ erfolgreich durch Lohn- und Arbeitszeitpolitik zugunsten der lebendigen Arbeit umverteilt werden.“24 So war und ist die Annäherung der Gewerkschaften an die Ökologiethematik diskontinuierlich und wurde zumeist von außen an sie herangetragen.25 Trotzdem haben die Gewerkschaften die konzeptionelle Arbeit an einem neuen Wachstumsmodell begonnen, öffnen sie sich – mit Rückschlägen und Inkonsequenzen – allmählich der Notwendigkeit einer „radikalen Wachstumskritik“.26 Notwendig ist ein Begriff, der Wachstum klassenpolitisch neu definiert. Ich gehöre nicht zur Degrowth- oder Nie-wieder-Wachstum-Fraktion. Ich halte die Erwartung, man könne oder sollte von wirtschaftlichem Wachstum gänzlich Abschied nehmen, für nicht zielführend, ja mitunter für naiv oder anmaßend. Das Ergebnis wäre eine stagnative Gesellschaft, in der die „Konflikte um Ressourcen, Marktanteile, Profite und Konsumchancen umso härter geführt würden“27 – wahrscheinlich zumeist zu Lasten der Lohnabhängigen. Notwendig ist vielmehr ein neues Verständnis eines qualitativen, eines selektiven Wachstums. Doch auch ein solches Wachstumskonzept wird schnell in Konflikt zum kapitalistischen 22  Ebd., S. 38. 23   Hans-Jürgen Urban: Der tote Hund als Berater. Marx-Consulting und die Gewerkschaften. In: Luxemburg (2017), H. 2/3, S. 94-99, hier 97. 24  Ebd. 25  Klaus Pickshaus / Maximilian Waclawczyk: Arbeit und Ökologie in der Transformationsperspektive. In: In: Lothar Schröder / Hans-Jürgen Urban (Hg.): Transformation der Arbeit – ein Blick zurück nach vor. Jahrbuch Gute Arbeit. Frankfurt/Main (i.E.) 2019, S. 91-103. 26   Hans-Jürgen Urban: Der tote Hund als Berater. Marx-Consulting und die Gewerkschaften, a.a.O., S. 98. 27  Klaus Dörre / Karina Becker: Nach dem raschen Wachstum: Doppelkrise und große Transformation, a.a.O., S. 44. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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Akkumulationsimperativ geraten und schwierig zu bestehende Konflikte hervorbringen. Wie könnte ein solches Modell, das den kapitalistischen Wachstumszwang attackiert und in Frage stellt, aussehen? Das ist noch längst nicht hinreichend erkundet. Eine „Ökologie der Arbeit“ ist bisher ein offenes Feld gewerkschaftlicher Politik.28 Ich denke: In einem solchen Modell würde die Wirtschaft langsamer, nachhaltiger, qualitativer und vor allem: demokratischer wachsen (müssen).29 Doch die Realisierung einer solchen Transformation kollidiert früher oder später mit Rendite- und Machtinteressen der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Und die Kollision mit den Arbeitsplatzinteressen der Beschäftigten folgt auf dem Fuß. Vieles spricht dafür, dass hier die Stunde der Demokratie schlagen muss. Demokratie als einzig bewährte Methode, die Interessen einer Mehrheit gegenüber denen einer Minderheit zur Geltung zu bringen; und als Verfahren der Verständigung unter sozialen Gruppen, die mit jeweils legitimen Interessen zu gemeinsamen Lösungen gelangen wollen. Somit wird (Wirtschafts-)Demokratie zum archimedischen Punkt von Transformationskonzepten, die eine naturverträgliche Produktions- und Konsumtionsweise mit sozialen und Beschäftigungsinteressen sowie der Überwindung Shareholder-Value-Orientierung in den Unternehmen verbinden. Bei der vierten Bewährungsprobe für die Linke im Allgemeinen, die Gewerkschaften im Besonderen geht es weniger ums Wollen als vielmehr ums Können. Die Anforderungen an eine wirtschaftsdemokratische Transformation des Gegenwartskapitalismus sind so hoch, dass sie ohne einen Ausbau von Kampfkraft und Organisationsmacht nicht zu meistern sind. Hier kann es aufschlussreich sein, sich die Reaktionen der europäischen Gewerkschaften auf die Finanzkrise 2007 bis 2009 anzuschauen. Wenn wir als Gewerkschafter*innen aus Deutschland in diesen Jahren in Europa unterwegs waren, hatten wir oftmals schlechte Karten. Mitunter wurden wir als Repräsentant*innen einer Gewerkschaftsbewegung wahrgenommen, die nicht in die Gänge kommt. Ringsum wurde gestreikt und gekämpft, nur die deutschen Gewerkschaften schliefen vermeintlich den Schlaf der Gerechten. Und ich will nicht verhehlen, dass auch mir bei dem einen oder anderen Generalstreik, den ich aus der Nähe erlebt habe, das Herz aufging. Aber wenn man genauer hinschaut, ist Ernüchterung angebracht. Denn in etlichen Ländern, in denen die Gewerkschaften besonders militante Widerstandsformen auf der Straße praktizieren, taten sie das aus einer Situation der 28   Hans-Jürgen Urban: Ökologie der Arbeit. Ein offenes Feld gewerkschaftlicher Politik? In: Lothar Schröder / Hans-Jürgen Urban (Hg.): Ökologie der Arbeit – Impulse für einen nachhaltigen Umbau. Jahrbuch Gute Arbeit. Frankfurt/Main: Bund-Verlag 2018, S. 329-349. 29  Ebd., S. 344f. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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Defensive heraus und mit auffallend kleinteiligen Forderungen. Die Streiks jener Jahre in Spanien, Italien und Portugal waren vielfach Versuche der Gewerkschaften, überhaupt wieder mit den Regierungen und den Kapitalverbänden ins Gespräch zu kommen, den durch Staat und Kapital aufgekündigten Korporatismus zu reaktivieren. Da viele ihre Verankerung in den Betrieben fast völlig eingebüßt haben, mussten sie auf die Straße gehen und demonstrieren, weil sie in den Werkhallen und Büros kaum noch präsent sind. Organisationsgrade von weniger als fünf Prozent zeugen davon. Und das ist ein Problem: Eine Gewerkschaft, die nicht mehr präsent ist, wo der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entsteht, kann eine soziale Bewegung werden, wird aber auf Dauer den Charakter als Gewerkschaft verlieren. Sie wird die Fähigkeit verlieren, über die kollektive Verweigerung von Arbeitskraft in Streiks den gewerkschaftsspezifischen Kampf zu führen. Die deutschen Gewerkschaften setzten in der Krise eher auf sozialpartnerschaftlich-korporatistische Aushandlungen mit Kapital und Staat, um den drohenden Beschäftigungseinbruch infolge der Finanzmarktkrise zu verhindern. Nicht ohne Erfolg. Vor allem die IG Metall hat als Reaktion auf die Krise Beschäftigung sichern und sogar Mitglieder gewinnen können. Sie ist damit eine der ganz wenigen Gewerkschaften in Europa, die seit Jahren Mitgliederzuwächse verzeichnen kann. Dabei spielen bei uns wie auch bei Ver. di und anderen Gewerkschaften Organizing-Strategien eine wachsende Rolle. Dieser Kampf um die Verankerung in den Betrieben wird immer schwieriger. Eine Organisation wie die IG Metall braucht jedes Jahr 110.000 Neuaufnahmen, um ihren Mitgliederstand überhaupt nur zu halten. Dennoch: Organizing und Sicherung von Beschäftigung waren und sind auch in Zukunft unverzichtbar. Aber aus einer klassenpolitischen Sicht ist auch klar: Sie dürfen nicht zu Lasten des politischen Mandats der Gewerkschaften gehen. Rekrutierungserfolge, die mit einer Entpolitisierung erkauft würden, wären zu teuer bezahlt. Organisationsstärke durch Mitgliederzuwächse ist kein Selbstzweck, sondern notwendiges Mittel, um betriebliche, gesellschaftliche und politische Interessenkämpfe erfolgreich führen zu können. Beides, Organisationsmacht und offensive interessenpolitische Kämpfe gehören zusammen, beide bedingen einander. 5.

Der potenzielle Beitrag kultureller Produktion

Also, Bewährungsproben noch und nöcher! Doch was kann, was sollte das mit unserer Frage nach einer zeitgemäßen und emanzipatorischen, einer neuen Klassen-Literatur zu tun haben? Ich privatisiere erneut und berichte

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über meine individuellen Leseerlebnisse. Ich denke weit zurück in die Zeit, als ich an die Universität kam und euphorisch gleich vier Studiengänge zugleich begann. Einer davon war das Studium der Neueren deutschen Literatur. Zwei Semester lang hatte ich mich an Georg Büchner festgebissen. Es war nicht einmal der „Hessische Landbote“, es waren die Briefe, es war „Dantons Tod“ und Erzählungen wie „Lenz“. In letzterem hatte Büchner wie in seinen Briefen dem literarischen Idealismus abgeschworen und einem vehementen Plädoyer für einen aggressiven Sozialrealismus das Wort geredet. Die idealistische Periode fing damals an. Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglicher als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. […] Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. […] Der Dichter und Bildner ist mir der liebste, der mir die Natur am wirklichsten gibt, so dass ich über seinem Gebilde fühle: alles andere stört mich.30

Ja, der Idealismus galt ihm als schmähliche Verachtung der menschlichen und zugleich der gesellschaftlichen Natur. Und diese galt es umzuwerfen. „Meine Meinung ist die“, so schrieb er (vermutlich) im April 1835 an die Familie „Wenn in dieser Welt etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen. Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug, um dem ewigen Maulaffen Volk seine zu eng geschnürte Wickelschnur vergessen zu machen […]“.31 Und in dem etwas später geschriebenen Brief an seinen Freund Gutzkow hieß es: „Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzig revolutionäre Element in der Welt […]“.32 Das waren Literaturstücke, die mich, die uns begeisterten. Ähnlich beeindruckend war die Lektüre von Émile Zola „Germinal“. Weniger die Schilderungen des Elends, eher eine Passage, in der die Obszönität des noch jungen Kapitalismus ihren literarischen Ausdruck fand. Nicht die Auktion um ein Gut, für das der Preis immer höher steigt, weil jeder das Gut haben will, sondern die Auktion um einen Arbeitsplatz, für den der angebotene Lohn

30  Georg Büchner: Werke und Briefe. Dramen, Prosa, Briefe, Dokumente. München: dtv 1977, S. 71-73. 31  Ebd., S. 157. 32  Ebd., S. 179.

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immer weiter fällt, war Gegenstand der Schilderung. Auch hier ein etwas längeres Zitat: Alle Mitbewerber gingen mit den Löhnen herab, unruhig wegen der Krisengerüchte und eine Betriebseinstellung fürchtend. Angesichts des eifrigen Bewerbes beeilte sich der Ingenieur Negrel nicht sonderlich, ließ die Angebote bis zu tiefsten Preisen hinabsinken, während Dansaert, um die Dinge zu beschleunigen, sich in lügnerischen Anpreisungen erging. Maheu hatte um seine fünfzig Meter einen heißen Kampf mit einem hartnäckigen Mitbewerber zu bestehen; sie führten diesen Kampf mit einem abwechselnden Nachlaß von einem Centime für die Karre, und Maheu blieb nur Sieger, weil er mit dem Lohne dermaßen hinunterging, daß der hinter ihm stehende Aufseher Richomme böse wurde und ihn mit dem Ellbogen stieß, indem er ihm wütend zuraunte, er könne bei diesem Preis unmöglich sein Auskommen finden.33

Von Literaturpassagen wie diesen gingen für uns junge Gewerkschafter*innen wichtige Impulse aus. Diese Literatur faszinierte und politisierte uns. Wir lasen weiter. Irgendwann natürlich auch Willi Bredels „Maschinenfabrik N.&K.“.34 Ein Roman aus dem proletarischen Alltag. Er erschien 1930 im Internationalen Arbeiterverlag Berlin, dem Verlag der KPD, in der Reihe der Der Rote-1-MarkRoman. Bredel schrieb ihn während der zweijährigen Festungshaft, zu der er 1930 verurteilt worden war. Ort der Romanhandlung ist die Hamburger Maschinenfabrik Nagel & Kaemp, die im Roman den Namen Negel & Kopp trägt. Ende der 1920er Jahre hatte Bredel in der Fabrik als Dreher gearbeitet und die proletarischen Klassenerfahrungen gemacht, die er mitunter etwas wuchtig und parteipolitisch sehr dezidiert verarbeitete. Auch der sich rasant entwickelnde Fordismus fand literarischen Niederschlag. Einer der authentischsten Zeitzeugen war zweifelsohne Upton Sinclair. Seine Erzählung „Am Fließband“ analysiert in trockener, beschreibender und doch so eindringlicher Sprache die Ökonomisierung der Arbeit durch die Verfeinerung der Arbeitsteilung: Die Teile für einen Schwungradmagneten, ein kleines Teil, aber eine sehr arbeitsintensive Montage, wurden auf einen gleitenden Tisch gelegt, der gerade hoch genug für die Arbeiter war. Sie saßen auf Stühlen, und jeder machte einen Handgriff an einer Reihe Magneten, die langsam an ihm vorbeikrochen. Nach der alten Methode, bei der ein Mann einen Magneten baute, konnte er in 20 Minuten einen anfertigen. Jetzt, da die Arbeit in 29 Teile zerlegt war und von 29 Leuten

33  Émile Zola: Germinal. Roman. Stuttgart: Reclam 1974. 34  Willi Bredel: Maschinenfabrik N. & K. Ein Roman aus dem proletarischen Alltag. Berlin: Aufbau, 3. Aufl. 1982.

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ausgeführt wurde, benötigte man nur 13 Minuten und 10 Sekunden. Das war eine Revolution.35

Und dann natürlich eines der letzten literarischen Dokumente einer proletarischen Literatur, Günter Wallraffs „Ganz unten“.36 Die Erzählung erschien 1985 und war international erfolgreich. Im Kern geht es um die Schilderung von Menschenrechtsverletzungen und Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland in den frühen 1980er Jahren. Es handelt von der Undercover-Aktion des Günter Wallraff, der in die Rolle des Türken Levent (Ali) Sigirlioğlu schlüpft und verschiedene Arbeiten annimmt. Geschildert werden die Erfahrungen der Ausbeutung, Ausgrenzung, Missachtung und des Hasses, den Ali zu ertragen hatte. Dieses Buch, das vor allem in der Jugendbildungsarbeit der IG Metall omnipräsent war, ist in einem gewissen Sinn ein Übergangsdokument. Es schildert auf der einen Seite im Stile klassischer Arbeiterklassenliteratur die Diskriminierung des Türken Ali in der kapitalistischen Arbeitswelt der BRD. Dabei gingen die Diskriminierungen nicht nur von Seiten des Kapitals, sondern mitunter auch von den Kolleg*innen aus. Zugleich verbindet seine Geschichte den Klassenstatus mit der ethnischen Herkunft und der Nationalität; und der kulturellen Fremdheit in der Welt, in der er sich bewegen und in der er überleben muss. Die Erzählung verbindet Klassen- und Rassendiskriminierung und schlägt die Brücke zu heutigen linken Diskursen über das Verhältnis von Klassen- und Anerkennungsfragen. Doch nicht nur durch die Literatur, politisch engagierte Kulturprodukte waren auch in anderen Formen in der gewerkschaftlichen Arbeit präsent. So etwa durch Franz Josef Degenhardt. Er war bekanntlich Romancier und Liedermacher zugleich.37 Seine Romane, die jüngst neu ediert wurden, waren zum einen brillante Schilderungen politisierter proletarischer Milieus, der Kämpfe, aber auch des Alltagslebens in diesen Milieus. Aber einflussreicher waren wohl seine Lieder. Sie gingen zumeist über das proletarische Milieu hinaus. Sie waren in den sozialen Bewegungsmilieus angesiedelt, sie schilderten gesellschaftliche Bündnisse und Erfahrungen des Widerstandes aller Art. Sie nahmen die Politisierungspotenziale in der modernen zerklüfteten Klassengesellschaft vorweg. Sie verbanden Themen der Arbeiter*innenklasse mit Schilderungen aus 35  Sinclair, Upton: Am Fließband (1948) https://nemesis.marxists.org/pdf/Upton%20Sinclair %20-%20Am%20Fliessband.pdf (zuletzt eingesehen am 12.03.2019), S. 4. 36  Günter Wallraf: Ganz unten (Sonderausgabe für die Gewerkschaften). Köln: Kiepenheuer / Witsch 1985. 37  Einen ausführlichen Überblick bietet die entsprechende Homepage: http://www.franzjosef-degenhardt.de/fjd.php?resh=1280&resv=720&index=j (zuletzt eingesehen am 22.12.2018).

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der Perspektive all derjenigen, die sich zu widerständigen emanzipatorischen Initiativen zusammenfanden. In seinen Liedern agierten viele von denjenigen, die wir heute im linken Mosaik dabeihaben wollen. Für ihn war die Frage, ob die „identitätsfremde Erzählperspektive“ in progressiven Kulturproduktionen zulässig ist, beantwortet: mit ja! Was wäre seine Literatur, was wären seine Lieder ohne die Narrative, die aus fremden Perspektiven erzählt werden und die Wirklichkeit „fremd“ rekonstruieren oder sie persiflieren und ironisieren. Und schließlich das Medium Film. Ich habe den Eindruck, dass Belletristik einiges an gesellschaftlicher Funktion an optische Medien wie den Film abgegeben hat. Das hat wohl vor allem mit dem Internet und der Online-Welt zu tun, die ganz neue, niederschwellige Möglichkeiten der eigenen Kulturproduktion geschaffen hat. Aber auch professionell produzierte Filme wie Pride wirken heute politisierend in kritische Milieus. Diese wunderbare Komödie, in der eine Gruppe lesbischer und schwuler Menschen die streikenden englischen Bergarbeiter in den 80er Jahren unterstützt, schildert die kulturellen Identitätskonflikte des proletarischen Milieus auf eine großartige Art und Weise. Die offizielle Filmbeschreibung lautet wie folgt: Auf diese Art der Unterstützung hätten die streikenden Minenarbeiter in Großbritannien 1984 eigentlich lieber verzichtet, doch seine Verbündeten kann man sich nicht immer aussuchen. Da die Schwulen- und Lesbenszene ebenso unter der reaktionären Politik Margaret Thatchers und der polizeilichen Willkür zu leiden hat, beschließt eine Londoner Aktivistengruppe, sich mit den Arbeitern zu solidarisieren und Spenden zu sammeln. Als sie das Geld schließlich persönlich in einem verschlafenen walisischen Dorf überbringen, prallen zwei Welten aufeinander: Bronsky Beat trifft Gaelic Folk! Nicht in jedem Waliser findet die illustre Truppe einen dankbaren Verbündeten. Doch die Gegensätze sind nicht so unüberbrückbar, wie es zunächst scheint – und schon bald stellt sich echtes Disco-Feeling bei den hüftsteifen Walisern ein. Es ist der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft mit bis heute historischen Folgen.

Und schließlich natürlich Ken Loach, mit allen seinen Filmen. Ken Loach ist für mich, pathetisch formuliert, einer der letzten „linken Helden“. Ein Meister proletarischer, aber eben nicht nur proletarischer, eher mosaiklinker Widerständigkeit. Hervorheben möchte ich eine seiner letzten Produktionen Ich, Daniel Blake. Die Filmbeschreibung lautet: Daniel Blake ist ein geradliniger Durchschnittsengländer, der seine Steuern zahlt und das Leben so nimmt, wie es kommt. Doch eines Tages macht ihm seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung, und er ist auf staatliche Hilfe angewiesen. Auf dem Amt kreuzt sich sein Weg mit der alleinerziehenden Mutter Katie und ihren beiden Kindern. Sie raufen sich zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen und erfahren neben den ständigen Seitenhieben der Behörden auch

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viel Solidarität – von ehemaligen Kollegen, von ehrenamtlichen Helfern der Tafel, sogar von Daniels schrägem Nachbar. Doch die bürokratischen Klippen des sogenannten Sozialstaates sind tückisch. Da wird Ohnmacht zur Wut – und so leicht geben Daniel und Katie ihre Träume und Hoffnungen nicht auf.

Ein wunderbares Dokument gegenwärtigen Klassenkampfes. Eine filmische Erzählung über Diskriminierung im New Labour Workfare-State, in dem vom einst so gelobten britischen Welfare-State von Old Labour nicht mehr viel übergeblieben ist. 6. Ausblick Ich möchte meine privatistisch-biographischen Erzählungen hier beenden. Sie waren assoziativ und sporadisch, und ich hoffe darauf, dass Ihr es mir heute einmal so durchgehen lasst. Aus meiner Sicht wären sie gelungen, wenn sie einen Eindruck von dem vermitteln konnten, worum es mir geht: Aufzuzeigen, dass es möglich ist, die Traditionslinie der klassischen Arbeiterklassenliteratur zu aktualisieren und fortzusetzen. Dass es auch heute möglich ist, kulturelle Impulse und Unterstützungen zur Formierung gesellschaftlicher Akteure zu senden. Klassenübergreifende und klassenverbindende Akteure, welche die Macht- und Herrschaftsverhältnisse des Gegenwartskapitalismus infrage zu stellen in der Lage und willens sind. In diesem Sinne möchte ich mit einem Hinweis auf die US-amerikanische Feministin Nancy Fraser schließen. Sie hat sich mit der Entwicklung in den USA und der Trump-Katastrophe auseinandergesetzt. Sie hat der amerikanischen Linken die Frage vorgelegt, warum das Bündnis aus Hillary Clinton und den modernen Kräften der Wallstreet, das sie mit dem provokanten Begriff des progressiven Neoliberalismus belegt, nicht in der Lage war, die rechtspopulistische Katastrophe zu verhindern. Warum die tiefe Kluft zwischen den weißen Arbeitern und den sozialen Bewegungen der Frauen, der Emigranten, der People of Colour, der sexuellen Minderheiten nicht überbrückt werden konnte. Doch das wäre unverzichtbar und so schreibt sie: Ein progressiver populistischer Block müsste versuchen […], die gemeinsamen Wurzeln von Klassen- und Statusdiskriminierung im finanzialisierten Kapitalismus herauszustellen. Denn erst wenn man dieses System als eine einzige, integrierte gesellschaftliche Totalität begreift, kann es gelingen, das Leiden und die Benachteiligungen von Frauen, Immigrant*innen, People of Color sowie Angehörigen der LGBTQ-Communities mit den Erfahrungen derjenigen Teile der weißen Arbeiterklasse, die sich noch nicht endgültig dem Lager des

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Hans-Jürgen Urban rechten Populismus zugeordnet haben, in Verbindung zu setzen und diese verschiedenen Gruppen in einen Austausch zu bringen.38

Als Medien des Austauschs können Literatur, Lieder und Filme wirken. Zumindest jene, die die Tradition der Klassenliteratur fortführen. Sie können die heute zerklüfteten Erfahrungswelten zusammenführen und gemeinsame Deutungsmuster stiften. Als Voraussetzung einer dann hoffentlich folgenden gemeinsamen politischen Praxis.

38  Nancy Fraser: From progressive Neoliberalism to Trump – and beyond. In: American Affairs (Nov. 2017). Online unter: https://americanaffairsjournal.org/2017/11/progressiveneoliberalism-trump-beyond/; (zuletzt eingesehen am 01.06.2018).

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Teil 1 Von der alten zur neuen Klassengesellschaft

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Phasen der alten Klassengesellschaft von Weimar bis Bonn

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‚Geist und Tat‘, ‚Wissen und Verändern!‘ Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie in der Weimarer Republik bei Heinrich Mann und Alfred Döblin Norbert Niemann Mein Geschichtsbild von Deutschland zwischen 1918 und 1933, dem Ende des Kaiserreichs und dem Anfang der NS-Diktatur, ist immer geprägt gewesen von der Vorstellung heftiger, öffentlich geführter Kontroversen und ideologischer Kämpfe. Vor meinem geistigen Auge sah ich jede Menge bedeutende Denker und Dichter in diese Kontroversen und Kämpfe involviert. Was mich beschäftigte, waren ihre Positionen und Thesen zum gesellschaftlichen Stand der Dinge, die kritischen Analysen, ihr Kampf mit Worten und nicht zuletzt die Frage, warum dieser Kampf gegen eine politische Dynamik, die dazu führte, dass Hitler und die Nazis die Macht an sich rissen, gescheitert ist. Eine erste Überraschung, als ich begann, in die politischen Schriften dieser Zeit einzutauchen, begegnete mir in Form einer Besprechung von Heinrich Manns „Diktatur der Vernunft“ im „Vorwärts. Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie“ von 1924. Die erste Hälfte des Textes beschäftigt sich ausschließlich mit dem damaligen Zustand der kritischen Intelligenz. Rezensent war Joseph Roth, der Autor von „Radetzkymarsch“, dem grandiosen Roman über den Untergang der K.u.K.-Monarchie. Roth schreibt: „Niemals haben die deutschen Dichter so laut gesprochen, wie sie jetzt schweigen […], man hört es und es verurteilt selbst diejenigen, von denen es ausgeht.“ Und schließlich: „Diese Vorrede war notwendig, um eine Erscheinung zu erklären, die in allen anderen europäischen Ländern eine Selbstverständlichkeit wäre und bei uns eine Tat ist. Heinrich Mann, seit Jahren der einzige Rufer von Geist im brüllenden Streit der reaktionären Barbaren (des Großkapitals, des Nationalismus, des völkischen Gedankens), schreibt ein Buch.“ Das alles klingt in meinen Ohren doch ziemlich aktuell. Auch in der gegenwärtigen Öffentlichkeit findet man eher die Verlautbarungen von reaktionären Schreiern unter den Schriftstellerkollegen, während man Stimmen, die den gesellschaftspolitischen Erschütterungen mit der reflektierenden Kraft des Geistes, der Sprache begegnen, mit der Lupe suchen muss. Sie existieren natürlich in irgendwelchen Nischen, diese Stimmen, so wie sie in den seinerzeit sicher noch etwas weniger nischigen Nischen existiert haben – und sollte man sie später einmal

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_005

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sammeln und bündeln, werden sie vermutlich ein ähnliches konzises Bild von Opposition und Widerständigkeit in Zeiten des beginnenden Kollaps der ökonomischen und digitalen Globalisierung ergeben, wie wenn man von jetzt aus auf die Weimarer Republik zurückblickt. Als ich mich tiefer in die alten Texte wühlte, stieß ich jedenfalls ständig auf Stellen, an denen von einer Dominanz des Schweigens im allgemeinen Geschrei die Rede ist. Offenbar gab es damals wie heute eine enorme Ohnmacht der kritischen Intelligenz gegenüber einer durch und durch emotionalisierten, politischen Öffentlichkeit. Nicht gerade beruhigend, dieser Befund, und schon eine erste Antwort auf die Frage, warum der Kampf scheitern musste. Die herausragende Rolle Heinrich Manns im Elend des damaligen Populismus bestätigen viele vor allem jüngere Kollegen jener Zeit. Für mich ist er neben Alfred Döblin bis heute ein zentraler Bezugspunkt in der Literaturgeschichte geblieben. Nahe fühle ich mich beiden, weil ich mir einbilde, dass mein Verhältnis als Schriftsteller zur Politik dem ihren verwandt ist: nämlich klar und kompromisslos auf der Seite der Benachteiligten, der Ausgebeuteten, der von verzerrten Wirklichkeitsdarstellungen und falschen Versprechungen Hereingelegten zu stehen, und gleichzeitig ebenso klar und kompromisslos die Bewegungsfreiheit der Sprache, die Autonomie des Denkens zu verteidigen, ja, sie als Voraussetzung für tatsächliche demokratische Verhältnisse zu begreifen. Doch obwohl die Beobachtungen und Standpunkte der beiden für den zeitgenössischen politischen Diskurs hochaktuell und in vielem überzeugend geblieben sind, scheint ausgerechnet ihr Nachdenken über Ursachen und Zusammenhänge des allmählichen Abrutschens einer Gesellschaft in die totalitäre Barbarei aus dem historischen Bewusstsein weitgehend verschwunden. Was die Nazis begannen, beweist gegenwärtig, nach einem Lichtblick in den Sechzigern und Siebzigern, als man die Literatur der von den Nazis verbrannten Dichter aufarbeitete, seine Kontinuität. Von Döblin ist heute gerade noch „Berlin Alexanderplatz“ in der Filmversion von Rainer Werner Fassbinder bekannt, während Heinrich Manns „Der Untertan“ mit seiner minutiösen Darstellung des Wilhelminismus – einer nun wirklich historisch gewordenen Lebenswirklichkeit – allenfalls als verstaubte Schullektüre eine Randexistenz in einem nahezu literaturfrei gewordenen Deutschunterricht fristet. Während also das Bewusstsein für Literatur als Erkenntnismedium und Wahrnehmungskorrektiv insgesamt auch ohne Autodafés in Auflösung begriffen ist, geht das Schweigen der Schriftsteller im allgemeinen Geschrei weiter. Was für gegenwartsnahe Diskussionsgrundlagen hingegen würden Alfred Döblins „Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen“ von 1931, Heinrich Manns Essay „Die Tragödie von 1923“ bieten!

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Heinrich Mann schreibt die sechs unter diesem Titel zusammengefassten Aufsätze zur Zeit der Besetzung des Ruhrgebiets und der Inflation. Es ist gerade vier Jahre her, dass sich Deutschland eine demokratische Verfassung gegeben hat. Schon ist sie wieder bedroht. Der erste dieser sechs Aufsätze trägt den Titel: „Das Sterben der geistigen Schicht“. Mann vermisst intellektuelle Gegenwehr. Vor kurzem noch hatte er im revolutionären München einen „Rat geistiger Arbeiter“ mit gegründet, bald darauf schon die Rede auf den ermordeten Kurt Eisner halten müssen. 1923 ist – kein Wunder in der Not der Krise – vom Aufbruch nur wenig übrig. Außer bei Reaktionären und Nationalisten. Der eigentliche Feind aber, da ist Heinrich Mann sich mit seinem österreichischen Kollegen Karl Kraus einig, das zieht sich leitmotivisch durch alle Aufsätze, ist die unkontrollierte Macht des Kapitals. Seine Gegenposition ist gleichfalls stets klar: „Das große Mittel ist: Ordnung des Wirtschaftlichen vom Geistig-Sittlichen aus. Nicht, wie jetzt: Wirtschaft zuerst; und blüht sie erst wieder richtig, liefert sie, durch Verwertung der Abfälle, nebenbei wohl auch noch seelisch-geistige Erneuerung, das können wir erwarten. – Ihr könnt lange warten!“ Im Gegenteil besteht für Heinrich Mann eine unmittelbare kausale Verknüpfung zwischen einer Ökonomie als Selbstzweck und der geistigen Abstumpfung und sittlichen Verrohung einer ganzen Gesellschaft. Die Politik einer demokratischen Republik hingegen beziehe „ihr ganzes Daseinsrecht“ aus der Abwehr einer jeglichen Form von Diktatur. Diese Formen zu erkennen gehört für ihn zu den Aufgaben kritischer Intelligenz. Wirtschaft aber, sagt die kritische Intelligenz Heinrich Mann, sei zu einer „Diktatur ohne Putsch“ geworden. Die nämliche Einheit von demokratischer Politik und kritischer Intelligenz beschwor übrigens auch Willy Brandt in seiner Rede von 1976 zum NordSüd-Konflikt und zur beginnenden ökonomischen Globalisierung: „Der Geist wird nicht die Macht übernehmen, vermute ich, aber die Macht wird sich ohne den Geist gegenstandslos machen“. Heinrich Mann brachte das bereits in seinem berühmten „Zola“-Essay von 1915 (wieder abgedruckt in dem Band „Geist und Tat“ von 1931) auf dem Punkt, der zum Zerwürfnis mit dem kleinen Bruder Thomas führte (die Invektiven gegen den vaterlandsverräterischen „Zivilisationsliteraten“ in Thomas Manns über weite Strecken schier unerträglichen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918 sind auf Heinrich gemünzt). Dort skizziert dieser zum ersten Mal seine Auffassung von der Verantwortung eines Schriftstellers, zu der neben der Durchdringung zeitgenössischer Lebenswirklichkeit durchaus auch die gesellschaftskritische Stellungnahme gehört: „Literatur und Politik hatten denselben Gegenstand, dasselbe Ziel und mussten einander durchdringen, um nicht beide zu entarten. Geist ist Tat, die für die Menschen geschieht; – und so sei der Politiker Geist,

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und der Geistige handle!“ Was Bruder Thomas wurmte, weil er es ganz auf sich bezog, war Heinrichs Urteil über Schriftsteller, die sich dieser Verantwortung nicht stellten: „Wie, wenn man ihnen sagte, dass sie das Ungeheure, das jetzt Wirklichkeit ist, dass sie das Äußerste von Lüge und Schändlichkeit eigenhändig mit herbeigeführt haben“. In „Die Tragödie von 1923“ untersucht Heinrich Mann den Wandel des Begriffs Nation vor dem Hintergrund der Entwicklung des Bürgertums seit der Französischen Revolution. Deren revolutionären Ideale behinderten den Erwerb, schreibt er, also gab der Bürger sie bald auf. Anfangs, als Patriarch, verwechselt er seine Geschäftsinteressen noch mit denen Gottes, und Nation bedeutet ihm nicht mehr als „ein sonntägliches Gefühl von Vaterland“. Doch bald tritt ein neuer Typus von Bürger auf, in dem „nur noch die durchfiltrierten Instinkte der Klasse in Person der Gierigsten“ wirksam sind. Vaterland, Nation sind für diesen Typus gleichbedeutend mit Profit machen – „denn wie dient man dem Vaterland? Mit Geldverdienen.“ Dieser Typus nun steckt nicht nur den Mehrgewinn, sondern „das Vaterland selbst in den Sack“. Mann erweist sich als eine Art Prä-Foucaultianer, wenn er die Strukturen vom Machtgewinn und Machterhalt dieses neuen, herrschenden Typus beschreibt, den er pauschal „kriegsindustrieller Bürger“ nennt: Denn diese Strukturen basieren nach seiner Auffassung auf einer Transformation des Begriffs Nation zur ideologischen Waffe, die er benützt, um „das Volk so gründlich hineinzulegen, dass es sich selbst auf keine Weise mehr helfen kann.“ Die Geldinteressen der Reichsten werden „das einzig Bestimmende“, und über die öffentliche Meinung, wo Pressefreiheit „auch ohne ausdrückliches Verbot“ an der Totalität der Geldideologie erstickt, greift eine „Art Betäubung des ganzen Landes“ um sich. Heinrich Mann schreibt: „Sie haben das Raffen zum Maß der Dinge erhoben, ja, auch Menschen haben für sie nur dies Maß. Ihnen entgehen sämtliche menschlichen und politischen Wahrheiten oder gar Keime zu Wahrheiten. Gegen sie waren Monarch und Generalstab humanistische Genies.“ Stark auch sein Kommentar zu einer gemeinsamen Besichtigung französischer und deutscher Großindustrieller von Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, wo sich erweist: „Die Feindschaft war in Wahrheit Arbeitsgemeinschaft“, die sie nun fortsetzten, indem sie „ihr nächstes Kompaniegeschäft, den Wiederaufbau“ berieten. „Wirtschaft“, solchermaßen entfesselt, sprich: menschlich verroht, setzt Heinrich Mann – wie dann auch Alfred Döblin – mit Recht in Anführungszeichen. Als politische Gegenmaßnahme appelliert er an eine Art Umkehrung der Machtverhältnisse: Die Gesellschaft muss wieder der Ökonomie übergeordnet werden, die Ökonomie darf nicht wie damals – nicht wie heute – der Gesellschaft übergeordnet sein, wie das Karl Polanyi 1944 in „The Great

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Transformation“ sinngemäß formulierte). Auf welchem Weg das geschehen soll, ist für Mann nicht zuletzt eine Frage der Umsetzung der Verfassung von 1919, in der die Vergesellschaftung privater Unternehmen und die Aufsicht des Staates über die Bodenschätze als politische Ziele ausdrücklich festgeschrieben waren. 1923, im offenen Brief an Reichskanzler Gustav Stresemann, fordert er angesichts des sozialen Elends durch die Inflation von der Regierung den Einsatz von Staatsgewalt für eine „Diktatur der Vernunft“ über Willkür und Eigennutz der Großindustriellen – statt wie bisher „dem Staat den Henker zu mästen.“ Dem Nationalismus aber begegnet er mit Internationalismus, ohne den es „heute kaum noch vorgeschrittene Geistigkeit“ gebe. Heinrich Mann träumt von einem Vereinigten Europa, von einer europäischen Identität, die er als gegenseitige Durchdringung von Geist und Tat definiert. „Die Handlungen unserer Länder sollen Ideen haben.“ Hier liegt für ihn die Schnittstelle von Politik und kultureller Intelligenz. Dass ihm für seine soziale Utopie weder die Abschaffung des Privatbesitzes noch eine Diktatur des Proletariats vorschwebt, teilt Heinrich Mann mit Alfred Döblin, dessen Beschreibung und Analyse des gesellschaftspolitischen Stands der Dinge in seinem „Offenen Briefen an einen jungen Studenten“ von 1931 überhaupt sehr viel Deckungsgleichheit mit der in „Die Tragödie von 1923“ aufweist (weshalb ich weglasse, was nur Wiederholung wäre). Manns utopische Vision, die er als eine Verschränkung von „Ständevertretung mit Parlamentarismus“ umschreibt, eine Gesellschaft mit „sozialisierten Großbetrieben“ und „ungezählten neuen kleinen Besitzern“, als „Kapitalismus unter Staatskontrolle“ eben, erinnert eher ans Godesberger Programm der SPD unter Willy Brandt. Bei Döblin scheint der Begriff Sozialismus dann auf den ersten Blick nahezu abstrakt – „vergeistigt“, um ein Lieblingswort beider Autoren zu verwenden, wenn sie die zentrale Aufgabe des Intellektuellen definieren, nämlich an einer Vergeistigung mitzuwirken, die in einen heutigen Sprachgebrauch vielleicht zu übersetzen wäre in: die Schaffung von Voraussetzungen für eine Emanzipation aus der Fremdbestimmung und der Selbstunterwerfung. Genau das wurde Döblin in den heftigen Debatten, die das Buch nach Erscheinen auslöste, nicht zuletzt angesichts der politischen Realitäten auch vorgeworfen. Siegfried Kracauer etwa schrieb in der „Frankfurter Zeitung“, Döblin liefere mit „Wissen und Verändern!“ eine Ideologie, „die dazu befähigt, im Namen des Sozialismus sich nicht um den Sozialismus zu kümmern“. Trotz harscher Kritik sprach er dem Buch allerdings gleichzeitig das Verdienst zu, den Anfang zu machen für ein Gespräch über die Frage, was „unsere Intelligenz“ denn tun soll in einer Lage wie sie 1931, unter den Folgen der Großen Wirtschaftskrise und des Erstarkens der Nationalsozialisten herrschte, „und das an Döblin anzuknüpfen haben wird“. Dies ist nicht wenig eingedenk des traditionellen Schweigens der

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Dichter, das sich auch heute wieder durchgesetzt hat. Dieses Gespräch wurde dann allerdings bekanntlich durch Hitler vorzeitig beendet. Die meiste Kritik der aufgewühlten Zeitgenossen aber verkennt grundsätzlich den formalen Charakter des Buchs. Döblin schreibt nicht wie Heinrich Mann Essays zur Lage der gesellschaftlichen und politischen Situation. Seine „Offenen Briefe“ sind eine Antwort auf einen jungen Studenten, der ihn in ideologisch bedrohlicher Zeit um „geistige Hilfe“ bittet – und zwar mit einem Zitat von Döblin selbst, worin er genau dies zu den Verpflichtungen des Schriftstellers rechnet. Was Döblin sich also zur Aufgabe gesetzt hat, ist nicht in erster Linie Analyse und Kritik – die dient gewissermaßen vor allem zur Veranschaulichung. Vielmehr versucht er möglichst klar und nachvollziehbar einen Zugang zu schaffen zu einem Verständnis dessen, was vor allen Ideologien und politischen Programmen Grundlage für die ethische Haltung jedes einzelnen Menschen bildet. Sein Ziel besteht darin, Menschen wie jenen studentischen Briefschreiber eine Art Handhabe zu liefern für ein eigenes Urteil und eine eigene Haltung. Döblin möchte „Sozialismus wieder als Utopie herstellen“, ihn aus der Umklammerung von „Totaltheorien“ ablösen und seinen nach Orientierung suchenden jungen Adressaten gegen die Fehlleitung durch ideologische Dogmen wappnen. In „Wissen und Verändern!“ wird Sozialismus dezidiert nicht-materialistisch abgeleitet, aus einer „Position jenseits der bloßen Gerechtigkeit“: als „die urkommunistische [Position] der menschlichen, individuellen Freiheit, der spontanen Solidarität und Verbindung der Menschen, des Widerwillens gegen Neid, Hass, Unrecht, Vergewaltigung! Das sind elementare Triebe im Menschen, keine ‚idealistischen‘ Schwärmereien“. Döblin nennt sie „die größten Ideen der Welt“. Von seinen antidogmatischen Prämissen aus kritisiert er ausgiebig den Historischen Materialismus als zu einseitig ökonomisch und zu ausschließlich deterministisch. Sein Verhältnis zu Marx ist ambivalent, dessen Bedeutung im geschichtlichen Prozess der menschlichen Befreiung, den Döblin von Luther ausgehend skizziert, sieht er in der „konsequenten Vertiefung und Ausbreitung der alten Ideen auf das Wirtschaftsgebiet“, doch habe er „versagt in allem, was über die Entlarvung […] hinausgeht.“ Die Sowjetunion ist ihm ein „robustes Züchtungsexperiment mit einem Ameisenideal“, dem er sein offenes, prozesshaftes Menschenbild als Ausgangspunkt für einen „Sozialismus des Westens“ gegenüberstellt, wo die „elementare Produktivkraft – Mensch“ „aufrecht und sehr charakteristisch […] mitten in dem materiellen Prozess steht.“ Mit anderen Worten: Wir sind nicht nur Rädchen im dialektischen Getriebe der Geschichte, sondern wir können wissen und dann auch verändern, denn die Getriebe des ‚Schicksals‘ sind menschengemacht. Darauf legt Döblin seinen durchaus erzieherischen Hauptakzent.

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Auf der anderen Seite beschränkt er sich bei der Charakterisierung des Nationalsozialismus auf kaum mehr als ein paar unzureichende Schlagworte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Buch im Jahr 1931, als die NSDAP bereits mit 107 Abgeordneten im Reichstag saß und es für Döblins Wiederherstellung einer Utopie des Sozialismus als einigende, allmählich und prozesshaft wachsende Kraft zum Widerstand viel zu spät war, gerade von links heftig attackiert wurde und sich Döblin gründlich missverstanden fühlte. Sein Anliegen, eine Art geistiges Fundament zu legen, von dem aus für jedes Individuum die hinter populistischem Lärm versteckten Machtstrukturen wieder sichtbar würden, um sich dann erst auch politisch gründlich neu positionieren zu können, löst „Wissen und Verändern!“ jedoch ein wie kaum ein anderer Text in der deutschen Literaturgeschichte. Sich damit und mit Heinrich Manns Essayistik der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Gegenwart auseinanderzusetzen, wäre beim derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Dinge ein gar nicht zu überschätzender Gewinn – würden deren Argumente öffentlich diskutiert, ihre Bücher dann auch gelesen. Wenn es denn nicht auch jetzt womöglich schon wieder zu spät dafür ist …

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Leben und Sterben für die Utopie. Peter Weiss und die „Ästhetik des Widerstands“ Enno Stahl Vielleicht ist es aussichtslos, im schmalen Seitenmaß eines kurzen Beitrags Peter Weiss‘ Monumentalroman „Die Ästhetik des Widerstands“ behandeln zu wollen. Ich wage es dennoch, da es mir hier um ein sehr spezielles Wahrnehmungsdispositiv zu tun ist, nämlich um die historisch-politische Dimension der Gesellschaftsanalyse des Romans – auch dies kann selbstredend nur sehr kursorisch behandelt werden. Wobei man sagen muss, dass Peter Weiss oder sein erzählerisches Ich im Roman sich nicht allzu sehr mit der Bourgeoisie oder dem Faschismus aufhalten, um etwa ein gesamtgesellschaftliches Panorama zu errichten, also die Klassenstruktur in Gänze abzubilden, sondern im Fokus des Interesses stehen einzig und allein die Strukturen und Kämpfe der Arbeiterbewegung vornehmlich in der Zeit zwischen 1937 und 1945. In Sonderheit wirft Weiss in diesem Roman die Frage auf (dafür steht schon der leicht doppeldeutige Titel: entweder das Ästhetische des Widerstands oder aber der Widerstand mit den Mitteln der Ästhetik) –, wie politischer Kampf und ästhetische Betrachtungen miteinander verbunden, in ein produktives Verhältnis gebracht werden können. Bereits der Beginn des Romans demonstriert das paradigmatisch, er inszeniert eine sprachlich aufs Äußerte verdichtete Beschreibung und Deutung des Pergamon-Altars, hin aufs Weltgeschehen gewendet, sperrig und absatzlos wie der gesamte Roman. Betrachtet und diskutiert wird das antike Relikt von einigen bildungshungrigen Arbeitersöhnen, unter denen sich reale Personen befinden wie die von den Nationalsozialisten als Mitglieder der SchulzeBoysen/Harnack-Gruppe ermordeten Hans Coppi und Horst Heilmann. Das ist kein Zufall, der Roman wird von zahlreichen Personen bevölkert, die es wirklich gegeben hat, dem Berliner Sozialarzt Max Hodann etwa oder Bertolt Brecht, die Weiss auch persönlich kennengelernt hatte. Bei der Arbeit am Buch hatte der Autor intensiv über kommunistische Widerstandskämpfer geforscht, hatte Überlebende oder Angehörige interviewt, um den Realismus der Darstellung zu erhöhen, wie er in seinen Notizbüchern verrät: „Die Gespräche geführt nach dem Gesichtspunkt, dem Roman breiteste Realität zu geben“.1 Das meint aber nicht, dass Weiss versucht hätte, diese Personen getreu ihrem 1  Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980. 1. Band. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 63.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_006

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realen Vorbild zu rekonstruieren, vielmehr hielt er fest: „Ich benutze die authentischen Namen im Roman als Chiffren. [kursiv im Original]“2 In dem Sinne sind Coppi, Heilmann, Hodann hier vorrangig literarische Figuren, die den Bedeutungsabsichten des Romanrealismus unterworfen werden. Weiss hat sein zugrundeliegendes Motiv in den Notizbüchern klar umrissen: „Hier ist die Rede von einer Ästhetik“ heißt es da, „die nicht nur künstlerische Kategorien umfassen will, sondern versucht, die geistigen Erkenntnisprozesse mit sozialen u pol. Einsichten zu verbinden – Kämpfende Ästhetik“3, dies also die programmatisch gefasste Devise, der auch und gerade die „Ästhetik des Widerstands“ verpflichtet ist. Der Roman will demgemäß einen eigenständigen Beitrag zum Klassenkampf leisten – was er, wie die Rezeption zeigte, bis zu einem gewissen Grad auch einlöste. Daher sind bei der Analyse zwei Dimensionen, zwei Phasen zu bedenken, einmal das, was der Roman thematisiert, mithin die Zeitspanne von etwa 1937 bis 1945. Zum anderen das, was der Roman praktiziert und in der Folge seiner Publikation 1975-1981 anstößt. Der eigentliche Inhalt in der „Ästhetik des Widerstands“ ist die Darstellung des kommunistischen Widerstands, der – anders als in der DDR – in Westdeutschland bis dahin nur wenig wahrgenommen worden war. Bis heute steht dieser Teil des antifaschistischen Kampfes deutlich im Schatten des Gedenkens an den Widerstand der Weißen Rose oder den der Offiziere. Aber die „Ästhetik des Widerstands“ ist nicht nur das: Sie erzählt ganz allgemein, wie die Arbeiterbewegung in diesen schicksalshaften Jahren zwischen Stalinismus und Faschismus aufgerieben wurde. Sie liefert zudem Material zu einer Geschichte des spanischen Bürgerkriegs, aus Sicht deutscher Brigadisten, auch wirft das Buch immer wieder Schlaglichter auf die Geschichte Schwedens, auf die Situation der Linken dort, den schweren Stand der kommunistischen Emigranten aus Deutschland zumal. Weiss‘ Text ist in seinem Duktus ein fast kassandrahafter Monolog, jedoch in umgekehrter Prophetie – als deutende Rückschau, die zu bewerten versucht, was aus bestimmten Ereignissen und Entscheidungen resultierte, wo welche Fehler gemacht wurden. Basis dafür sind umfangreiche historisch-kritische Reflexionen, die sich in Weiss‘ Tagebuchnotizen häufig niederschlagen: Woher kam die katastrophale Fehlbeurteilung der polit. Situation Anfang der 30er Jahre? 1932 über 6 Mill. Arbeitslose in Deutschl. Das Land Jahrzehnte 2  Ebd., S. 117. 3  Ebd., S. 420.

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Enno Stahl zurückgeworfen in seiner Entwicklung. Ungeheure Schwächung der Kampfkraft des Industrieproletariats. Auch die Gegensätze zw. der Sozialdemokr. u der Komm. Partei hatten die Arbeiterbewegung geschwächt. Die Politik der Kommunisten u der Sozialdemokraten in gleicher Weise vernichtend. Sie waren einfach „farbenblind“. Die Bezeichnung der Sozialdemokraten als „Hauptfeind“ von Seiten der Kommunisten. Konnten nicht unterscheiden zw. Brüning u Hitler. Nur Trotzki sah die Situation richtig. In seiner Schrift „Was tun?“ schrieb er warnend, daß der Faschismus die gewerkschaftliche Arbeit eines Dreiviertel-Jahrhunderts ausrotten würde. Einen Ausweg aus dem Dilemma aber konnte er auch nicht zeigen. Doch hatte recht wenn er sagte: „Auf die Straße gehen mit der Parole: Nieder mit der Regierung Brünig/Braun, wenn die Kräfteverhältnisse nur zulassen, daß dann die Regierung Hugenberg/Hitler ans Ruder kommt, das ist Abenteurertum! (Notizbücher, S. 61)

Die unselige Sozialfaschisten-Kampagne der KPD, der Kommunistenhass der Mehrheitssozialisten – sie kommen in der „Ästhetik des Widerstands“ selbst zur Sprache, am Beispiel des (nicht nur fiktiven) Vaters des (nicht nur fiktiven) Erzählers (der auf den Tag genau ein Jahr später als Weiss wie dieser in Bremen geboren wurde …) markiert der Autor den überparteilichen Versuch, die linke Arbeiterschaft vereint zu halten: Menschen wie meine Eltern, wie Coppis Eltern, waren früher überall in der arbeitenden Bevölkerung zu finden, sie waren, ihrer Haltung nach, Internationalisten, sie standen, ob Sozialdemokraten oder Kommunisten, außerhalb der Parteifehden und traten, während über ihre Köpfe hinweg die entscheidende Politik geführt wurde […], ideologisch immer das Gemeinsame anstatt das Trennende suchend, für ihre Überzeugung ein.4

Das Spaltende dagegen überwog bekanntlich, und nicht nur in Deutschland, auch in Schweden, dem Land seines Exils, diagnostizierte Weiss eine unproduktive Frontstellung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die, sich in Tagesstrategien verzettelnd, den Volksfrontgedanken längst aufgegeben hatten, die Arbeiterbewegung sah er dadurch erheblich geschwächt: Während die Sozialdemokratie die Entpolitisierung ihrer Mitglieder förderte, hielt die Kommunistische Partei die ihren durch überalterte Glaubenssätze zurück. Wir hatten die Diktatur des Proletariats durch eine Bündnispolitik ersetzt. Sowohl die Arbeit im deutschen Untergrund, als auch in Spanien, hatte uns gezeigt, daß der Charakter der Kampffront nicht nach bestimmter Klassenzugehörigkeit, sondern nur nach bezeugter Stellungnahme ermessen werden konnte. 4  Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, zitiert nach der einbändigen TaschenbuchAusgabe (die auf der einbändigen Ausgabe von 1983 basiert). Erster Band. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 33/34.

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Wenn wir von Klassenbewußtsein sprachen, so meinten wir damit unsern Anschluß an die am meisten Unterdrückten und unsre gemeinsame Auflehnung gegen die Mechanismen der Ausbeutung.5

Dem – wie die Geschichte gezeigt hat – weitaus mächtigeren Feind als dem Faschismus, dem Kapitalismus, war so nicht beizukommen – er ist, wir kennen dieses Phänomen aktuell nur zu gut, jederzeit in der Lage, durch eine weltweite Konjunkturkrise, eine entzweite Arbeiterschaft zu entmachten: Die Arbeitslosigkeit würde sie schnell zermürben, gefügig machen zur Unterwerfung. Zugrunde gerichtet wurden die kleineren und mittleren Händler und Sparer, Firma kämpfte gegen Firma, Monopol gegen Monopol, Konzern gegen Konzern, Trust gegen Trust, bis nur die Stärksten, die Konkursmassen billig aufkaufend, übrigblieben. Und die Leiter der Arbeiterparteien, verblendet in ihrer Uneinigkeit, gaben dem Imperialismus noch einmal eine Frist, daß er sich erholen und rüsten könne zur höchsten Möglichkeit der Ausplünderung, dem Krieg.6

Die seitenlang sich hinziehende, sehr bedrückende Hinrichtungsszene der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe ist im Roman so etwas wie das Menetekel der Niederlage der Arbeiterbewegung, denn – obwohl die Ermordung der Widerstandskämpfer ja schon 1942 erfolgte, der Krieg sich noch drei schreckliche Jahre lang hinzog, strebt die Erzählung hernach zügig ihrem Ende entgegen. Schon bald wird der Nationalsozialismus besiegt sein und anstatt seiner kommt es zur neuen Konfrontation: „Das Gelächter, die Friedensgesänge waren noch nicht verklungen, als Kapitalismus und Sozialismus einander gegenübertraten.“7 Der Kalte Krieg werde beginnen, so fabuliert der Erzähler in eine Zukunft hinein, die längst Peter Weiss‘ und des Lesers Vergangenheit ist, es würde nur das Gefühl des stockenden Atems, der Machtlosigkeit übrigbleiben. […] Nicht von unten, vom Willen der geprüften Menschen her, sondern von oben, von den Zentralen der mächtigen Sieger, würde die Entwicklung bestimmt werden. Wir würden sehen, wie der Sozialismus erbaut wurde dort, wo es keine Bereitschaft dafür gab, wo finstere politische Rückständigkeit herrschte, während in den Ländern, in denen die kommunistischen Parteien erstarkt und die Bevölkerung auf seiten der antifaschistischen Kräfte stand, der Boden für den Einzug der Streber und Spekulanten bereitet wurde.8 5  Ebd., Zweiter Band, S. 304. 6  Ebd., S. 298. 7  Ebd., Dritter Band. S. 262. 8  Ebd., S. 263.

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Mit dieser neuen Weltordnung, präsupponiert Weiss‘ Protagonist, seien die revolutionären Bewegungen entscheidend geschwächt worden, sie wurden im Krieg gegen den Nationalsozialismus gleich mit erledigt: [Mit den Faschisten wurde Nachsicht geübt. Sie wurden als Verbündete gebraucht. Ihr Ziel war das gleiche gewesen, das der Westen jetzt verfolgte. Gemeinsam würden sie antreten können zum Kampf gegen den Kommunismus.] Das Hinterland war gesäubert worden von denen, die gegen den Faschismus gekämpft hatten. Sie, die den neuen Herren, den Weg geebnet hatten, waren verhöhnt, abgeschlachtet worden.9

Dennoch ist für Weiss die Arbeiterbewegung damit noch lange nicht am Ende: „Und wenn es auch nicht so werden würde, wie wir es erhofft hatten, so änderte dies doch an den Hoffnungen nichts. Die Hoffnungen würden bleiben. Die Utopie würde notwendig sein. […] Der Drang zum Widerspruch, zur Gegenwehr würde nicht erlahmen.“10 Diese Vorstellung fasst der Autor zum Abschluss des Romans in eine große geschichtsphilosophische Metapher, mit der er zugleich wieder an den Anfang des Buches zurückkehrt, zum Fries des Pergamon-Altars. Den dort dargestellten Kampf der „Söhne und Töchter der Erde“, der griechischen Götter, die ja Kinder der Erdmutter Gaia waren, deutet er nun um zum Widerstand der unterdrückten Massen „gegen die Gewalten, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten.“11 Und der Erzähler imaginiert in diesem Weltenkampf die Gesichter seiner Eltern und seiner Jugendfreunde Coppi und Heilmann, mit denen das Buch begonnen hatte. Der Kampf ist also nicht vorbei, er wird nie vorbei sein, das ist die Botschaft der „Ästhetik des Widerstands“ und schon deshalb kann man sagen, dass die darin erstrebte „kämpfende Ästhetik“, die Erkenntnisprozesse, wie oben zitiert, mit sozialen und politischen Einsichten zu verbinden sucht, aufgeht. Das erwies erst recht die rezeptive Praxis. Während das Buch (nach Erscheinen des ersten Bands) von Seiten der bürgerlichen Presse starke Ablehnung erfuhr und vielfach als „Gesinnungsästhetik“ abgetan wurde12, debattierte die Linke das Werk – trotz und wohl auch wegen seiner dem Staatssozialismus gegenüber nicht unkritischen Haltung – sehr lebhaft. 9  Ebd., S. 264. 10  Ebd., S. 265. 11  Ebd., S. 267. 12  Vgl. dazu Volker Lilienthal: Literaturkritik als ästhetische Justiz. Zur Kritik der massenmedialen Rezeption der ‚Ästhetik des Widerstands‘ von Peter Weiss. In: die horen 29 (1984), H. 4, S. 123-129.

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Eine Art Katalysatorfunktion soll dabei die von Wolfgang Fritz Haug mitinitiierte Berliner „Volksuni“ gehabt haben, wo die „Ästhetik des Widerstands“ in zahlreichen Lektürekreisen und Diskussionsrunden der 1980er Jahre behandelt wurde. Aber nicht nur dort, überall in Deutschland interessierten sich kritische Geister dafür, insbesondere im Kontext der aufkommenden „Vergangenheitsbewältigung“. Das Buch diente ihnen zur intellektuellen und politischen Selbstvergewisserung und -verortung. In exemplarischer Weise beschrieb etwa unser Tagungsteilnehmer Erasmus Schöfer in seiner 1968er-Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“,13 genauer im vierten Band „Winterdämmerung“ von 2008, einen solchen Kreis. Ein anderes Beispiel berichtete Carl-Henrik Hermansson,14 langjähriger Vorsitzender der Kommunistischen Partei Schwedens und Reichstagsabgeordneter, er war 1982 von der Grafischen Industriegewerkschaft gebeten worden, einen Studienkreis zur „Ästhetik des Widerstands“ einzurichten, der bis 1985 arbeitete. Ihm gehörten höhere Gewerkschaftsfunktionäre aus einem recht breit gefächerten politischen Spektrum an. Hermansson hat die Ergebnisse dieses Arbeitskreises systematisch erfasst und damit auch die Potenziale herausgestellt, die dieser Text für die unmittelbare politische Arbeit freizusetzen vermochte. Hermansson sah in ihm, trotz all der tragischen Ereignisse, von denen Weiss berichtet, „eines der hoffnungsvollsten Bücher“,15 die er kenne. Ihn und die übrigen Mitglieder des Studienkreises habe von Beginn an dem Roman gefesselt, dass er deutlich mache, „wie wichtig es für die unterdrückte Klasse ist, sich Wissen zu verschaffen, um die Privilegien der Herrschenden aufzuheben.“16 Einer der Teilnehmer, der Betriebsratsvorsitzende des „Svenska Dagbladet“, der aktuell drittgrößten schwedischen Tageszeitung, zog folgendes Resümee: „Die Arbeit gab tiefe und qualitative Erneuerung in der Auffassung unserer gewerkschaftspolitischen Arbeit, und ich glaube, es wird ein Teil von einem ersehnten, notwendigen Widerstand gegen all das, was der Gewerkschaft ständig von innen droht: Bürokratie, Gleichgültigkeit, Autoritätsglaube, Korporatismus, Feigheit und mangelnder Aufruhrgeist.“17

13  Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos. 5 bändige Gesamtausgabe. Weilerswist-Metternich: Dittrich 2018. 14  Vgl. Carl-Henrik Germansson: Bericht von einer gewerkschaftlichen Lerngruppe zur Ästhetik des Widerstands. In: Das Argument H. 162 (1987), S. 250-254. 15  Ebd., S. 252/253. 16  Ebd., S. 253. 17  Zit. nach ebd., S. 254.

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Was kann ein Autor sich mehr wünschen, als dass seine Literatur nicht nur für ihre ästhetische Gelungenheit geschätzt wird, sondern darüber hinaus einer politischen Praxis unmittelbare Bezugspunkte stiftet? Doch das ist Schnee von gestern. Die Frage muss jetzt sein, was kann man heute daraus lernen? Birgt die „Ästhetik des Widerstands“ weiterhin eine Spreng­kraft, die nutzbar zu machen wäre? Und wie können wir daran anknüpfen, um eine Literatur zu schaffen, die in ähnlicher Weise Stoff für kritische Auseinandersetzungen böte, die noch dazu geeignet wären, in poli­ tische Praxis überführt zu werden? Unter den aktuellen Bedingungen scheint das eher schwierig, wie wir alle wissen, denn das genau ist ein Thema, fast schon ein „running gag“, der bisherigen Symposien des Netzwerks „Richtige Literatur im Falschen“ gewesen: Der viel beschworene „Resonanzraum“ fehlt. Literatur kann sich heute überhaupt nicht mehr so eng an die Arbeiterklasse anschließen wie früher einmal. Das ist – wenn man es auf das ganze Bild hin erweitert – womöglich schon 1975 viel weniger der Fall gewesen, als solche positiven Beispiele wie die geschilderten glauben machen, wenngleich es damals sicher mehr und aktivere linke Kreise gab, die sich dieser Sache annahmen. Die eindeutige Klassenlage, die Weiss überhaupt ermöglichte, so konsistent von der Bewegung der Ausgebeuteten zu handeln, stellt sich inzwischen sehr viel komplexer, verworrener dar, die Konfliktlinien haben sich verlagert, sie finden sich nicht einfach nur zwischen Arbeitnehmern und Kapital, sondern auch beschäftigungsintern zwischen Billigjobbern und Inhabern lukrativer Normalarbeitsverhältnisse, free lancern und Stammpersonal. Die soziale Unsicherheit, die Prekarität durch unklare, befristete oder deregulierte Beschäftigungsverhältnisse, zieht sich quer durch alle Schichten. Zugleich unterscheidet sich die Lage der türkischen Putzfrau im Niedriglohnsektor beträchtlich von der des Uniwissenschaftlers mit tarifentsprechend entlohntem Zeitvertrag. Zwischen beiden klaffen Welten, daher ist es schwer, hier eine einheitliche Interessensfront zu entwickeln. Also, an wen soll die Literatur sich wenden? Wer würde heute Peter Weiss lesen, um daraus Motivation für das eigene politische Handeln zu schöpfen? Ich weiß es nicht, aber Weiss selbst hat eine Antwort gegeben: „Es ist das Prinzip der Kunst, etwas zu tun, obgleich die Umstände dagegen sind.“ Es muss darum gehen, das ist eindeutig eine Lehre der „Ästhetik des Widerstands“, in der Literatur wie in der Politik Koalitionen zu schmieden, wo jetzt noch vielfältig facettierte Widersprüche dominieren, und darum, Linien der Hauptwidersprüche aufzuzeigen und daran entlang Bewegungen zu sammeln. Hier könnte Literatur ansetzen, hier könnte sie sich einsetzen. Zum Beispiel gerade dafür, dass solche Bewegungen nicht zu einsträngig werden.

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Falken-Spatzen-Ungeheuer. Zu den „Freibeuterschriften“ von Pier Paolo Pasolini

Oder: „Was sagten die Haare dieser beiden?“ Über die mögliche Nützlichkeit einer möglicherweise falschen Auffassung von „lebendigen Alltagskulturen“ zwischen 1970 und 2020, bzw.: Ohne Realität kein Realismus. Stefan Schmitzer *** Es gibt ja diese Beobachtung von Pier Paolo Pasolini, die sich durch die „Freibeuterschriften“ und den „Petrolio“ zieht; direkt ans Publikum gerichtete Texte aus den späten Sechzigern / frühen Siebzigern: Die Beobachtung nämlich, dass sich jetzt gerade, d.h. um 1970, eine viel einschneidendere gesellschaftliche Umwälzung ereigne als die des Faschismus, ja selbst der Industrialisierung selber. Einschneidender, weil sie die – für Pasolini „natürlich gewachsenen“ – Alltagskulturen der Subproletarier, Kleinbauern und Proleten zum völligen Verschwinden brachte, und mit ihnen auch die schiere Möglichkeit zu artikulierten Klassenstandpunkten, zur Artikulation realer gesellschaftlicher Konflikte im Partikularen, im Begehren, in Begriffen von was-Glück-wäre; dass an ihrer Stelle einzig eine medial zentral gesteuerte Variante bürgerlichen Bewusstseins übrigbleibe, die sich selber verkennen muss. Zur Illustration der Drastik führt er mehrmals an: „Der Unterschied zwischen Faschisten und Antifaschisten ist sekundär geworden.“ Vorstufen dessen, was wir heute Popkultur oder selbst Gegenkultur nennen – sagen wir: globalisierte „Langhaarige“ – erscheinen als Vorboten Thatchers und Reagans, als Wegbereiter der völligen Durchsetzung liberaler Marktideologie gerade durch die identitäre Konsumierbarmachung individuell „antikapitalistischer“ „Haltung“. Greifbar wird uns, was das meint, z.B. angesichts der ersten Hippies im iranischen Isfahan 1973: Was sagten die Haare dieser beiden uns? Sie sagten: ‚Wir gehören nicht zu den Hungerleidern, diesen unterentwickelten Habenichtsen, diesen zurückgebliebenen Barbaren! Wir sind Bankangestellte, Studenten, Söhne der Neureichen, die bei den Erdölkonzernen arbeiten; wir kennen Europa, wir haben Bücher gelesen. Wir sind Bürger; unsere langen Haare beweisen, dass wir Privilegierte, dass wir auf der Höhe der Zeit sind.‘ Die langen Haare deuteten also rechte Inhalte an. © Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_007

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Pasolini beklagt also in seinen letzten Jahren einen Zustand, in dem „Rechte und Linke […] körperlich eins geworden [sind].“ (Was entspricht dieser Diagnose bei Pasolini ästhetisch? – Wir können vielleicht noch die 120 Tage von Sodom – vorderhand ein Faschismusfilm – als Versuch werten, die Ausbreitung dieses „körperlich-eins-Werdens“ durch die Klassen hin abzubilden; aber von dieser [auch schon, zugegeben, etwas herbeigezwungenen] Ausnahme abgesehen, zielen die ästhetischen Rezepte des Autors, der die repressivtolerante Konsumgesellschaft als „das Neue“ aufkommen sieht, mehr dahin, sich mit dem behauptet „Natürlichen“, dem Alten zu beschäftigen. Das heißt: Er betont das gesellschaftlich Vermittelte seiner Figuren; verknüpft milieugetreue Figurenschilderung mit stets explizit fragmentarischer Form; verweigert Psychologie zugunsten der sozialen Typologie; kurz: Inszeniert gerade die Unterschiede, die er schwinden sieht. Künstlerischer Realismus ist hier die Rekonstruktion fragmentierter oder gar in Löschung befindlicher Vergangenheiten, entgegen einem gesellschaftlich real dominanten „Narrativ“.) *** Tatsächlich hatten wir ja jetzt ein paar Jahrzehnte, während derer man in Enklaven (mit den Worten von Helmut Schranz) „Reichtum mit Sozialismus verwechseln“ durfte, aber international der Kapitalismus sich und die Produktivkräfte im Sinne jener unwahren, aber wirklichen Integration aller Lebensbereiche, der Gleichsetzung der Bourgeoisie mit der Menschheit insgesamt entwickeln konnte (auch, aber nicht nur mangels Systemkonkurrenz). Darüber, auf welche Arten von Vereinzelung und Desolidarisierung dieser Prozess hinausgelaufen ist – über die „Selbstverantwortlichkeit“ der vollends bürgerlich ideologisierten Subproletarier, die es erlaubt, dass Dienste wie Uber, Airbnb, Foodora jede Sorte Arbeitnehmerrechte zu unterlaufen – haben wir schon bei vergangenen Kongressen zur „Richtigen Literatur im Falschen“ mehrere Vorträge gehört. *** Meine These ist nun: Just, da die „globalisierte“ Wirklichkeit, die Alltagskultur der Liberalen, zu denen wir notwendig alle zählen, weit genug gediehen und vorbewusst genug als Ideologie mit Generationen von Menschenkörpern verwachsen ist, dass die Sprache jener globalen Kultur in Pasolinis Sinn zu „leben“ beginnt und mit ihr vielleicht was anzufangen wär’ …

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Falken-Spatzen-Ungeheuer

… just, da der Globalisierungsscheiß lang genug existiert, dass es innerhalb der vermaledeiten Grammatik der liberalen Wirklichkeit, und in der Wirklichkeit der liberalen Grammatik, zu emanzipatorischen Potenzialen kommen kann; zu genuin solidarischen Perspektiven ganz auf der Höhe der Produktionsmittel … … just, da das Ende der Geschichte von ihren Feinden wirklich geglaubt wurde, sodass sich also Geschichte wieder zaghaft hätte regen können … … just da müssen wir, wohin wir schauen, eine Rückbesinnung auf jene multiplen und widersprüchlichen Vergangenheiten beobachten, von denen Pasolini im Moment ihres Untergangs geredet hat; eine Wiederkehr jener verlorenen Kulturen, Plural … … aber auf Betreiben und in der Rhetorik der rechtsradikalen Rackets mit und ohne Zugang zu den Parlamenten. Und zwar findet sich bei ihnen ein Beharren auf die eigene, wesentliche Differenz zum „liberalen Mainstream“, auf (wie bei Pasolini „natürlich“ gedachte) autarke, nicht nivellierbare Reproduktion von „Anderem“ gegenüber der in Plastik erstarrten bürgerlichen Massenkultur, bloß jetzt eben: autoritär gewendet – als nur noch explizit rechtsradikaler Identitätskram ohne materielles Korrelat: Volk – Natur – Sexus – Religion – Heimat. Wo diese „Rückeroberung“ der Differenz sich scheinhafter, ohne guten Glauben vorgetragener Argumente bedient, die sich gegen irgendein Parti­ kulares wenden, das vermeintlich von der blöden liberalen Globalisierung herstammt – vom Gender über faule Künstler bis Islam – können sich die Reconquistadores des Beifalls beim breiten Mittelstands- und „Unterschichts“Publikum der Metropolen sicher sein: In Jahrzehnten der unwahren, aber trotzdem wirklichen Un-Unterscheidbarkeit der Konkurrenten – im Bann der unausgesetzten Drohung, aussortiert zu werden – hat dieses Publikum gut gelernt, im Abweichler, im Nonkonformisten der Sexualität, des Habitus, selbst des Vokabulars wieder seinen Feind zu erkennen: Den Privilegierten, den Parasiten. *** Die Frage an die ästhetische Sphäre, an uns – nüchtern betrachtet Zulieferer jener zentralisiert-globalen bürgerlichen Massenkultur – ist nun die gleiche, mit der in den frühen Siebzigern Pasolini umging, nur die Vorzeichen sind umgekehrt: Wie geht man mit dem (erfolgversprechenden) Angriff unserer Gegner auf eine Alltagskultur, eine „lebendige Sprache“ um, aus der heraus Emanzipatorisches

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zu formulieren wäre? Wie damit, dass diejenige soziale Welt, die man mit den erlernten und einem Publikum geläufigen Mitteln realistisch schildern kann, sich auflöst; dass an ihre Stelle ein un-plausibler, karikaturhafter, auch in unserem Sinn un-realistischer, ein über jedes für möglich gehaltene Maß hinaus grausamer Idiotenzirkus voll vorsätzlicher Ignoranten und stolzer Sadisten tritt, … dass Menschen massenhaft, um Entgrenzung und Identifikation spüren zu können, gegen ihre Interessen handeln, also: gegen ihre Interessen im Sinne jenes „bürgerlichen“ Individuums, das sie ohnehin nie ganz sein durften … Wie gehen wir literarisch um mit einer farcehaften Wiederkehr der „stolzen, voneinander getrennten“ Milieus von Pasolinis Arbeitern, Kleinbauern und Subproleten, jetzt ethnisch-regional-kulturell-antiaufgeklärt, als Familienvater, Nigerianer, Kopftuchfrau, Fußballfan, Bayer? … Selbst als Spitzenpersonal der politischen Verwaltungen bieten sich ja statt bürgerlich-kalter Planungsfachleute zusehends, im Sinn jener Farce der „Identitäten“ und der wahnhaften Volkstumsfetische, bloß-typologische Kasperlefiguren an: Leute wie Jens Spahn, Beate Hartinger-Klein, Nigel Farage, Donald Trump, bis hinunter ins dritte Glied Leute, die erkennbar dumm sind und schon aus Unfähigkeit Schaden anrichten, aber als perfekte Verkörperungen irgendwelcher Partikularinteressen – oder narzisstischer Rachegefühle – umso klarer erkennbar. Was machen wir damit? – Selbst wenn wir glauben würden, literarischer Realismus müsse das Elend vom ungarischen Flüchtlingslager bis ins Weiße Haus getreu abbilden – das ginge nicht mehr. Im Sinne der faktisch dominanten identitären Diskurse ist es nicht mehr möglich, den Zusammenhang zwischen einem Moment und dem nächsten, einer Ebene des Gesellschaftsganzen mit der anderen, zu fassen zu bekommen. Machen wir es wie Pasolini damals? Also: Auf der Totalität und „Lebendigkeit“ jener angegriffenen „liberalen“ Lebenswelt gerade so beharren, wie der Autor des „Petrolio“ auf der Fragmenthaftigkeit des Italiens und der Italiener der Fünfziger beharrte? Sollen wir, oder sollen wir nicht, am alten, falschen Universalitätsanspruch der bürgerlichen Welt festhalten, und ihn genau insoweit wahr machen, wie er gegen das Identitäts-, das Romantik-, das Autoritätsgeschwätz der neuen Faschisten gestellt werden kann? Was hieße das ästhetisch? Von welchen Menschen spräche man so? Zu wem?

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Neoliberale Rebellen. Überlegungen zu Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“ und Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ David Salomon Um das Jahr 2000 veranstalteten Kommilitonen in Marburg einen privat organisierten Workshop unter dem Titel „Das Unbehagen in der Postmoderne“. Zu den literarischen Werken, die wir dort diskutierten, gehörten Michel Houellebecqs Debütroman „Ausweitung der Kampfzone“ und „American Psycho“ von Bret Easton Ellis. Wir interpretierten beide Romane seinerzeit als Beschreibungen einer spezifisch neoliberalen Form von Entfremdung, als Schilderungen einer – zumindest den Protagonisten der Romane – als alternativlos sich darstellenden sozialen Realität. Sowohl die exzessive Benennung der Designerlabels beinahe jedes erwähnten Kleidungs- oder Möbelstücks bei Ellis als auch die bei Houellebecq ausgeführte These der Parallelität sexuellen und wirtschaftlichen Erfolgs schienen uns Illustrationen und Beschreibungen jenes Vorgangs, den Jürgen Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ analysiert, des Eindringens kapitalistischer Verwertung in und tendenziell ihre Herrschaft über alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Ellis und Houellebecq galten für uns paradigmatisch als Literatur des Neoliberalismus – nicht als neoliberale Literatur, sondern als eine Literatur, die den Neoliberalismus im Sinn einer Kulturkritik dar- und bloßstellt. Diese Interpretation, die sich weitgehend mit den üblichen Deutungen der beiden Romane deckt, scheint mir im Kern auch heute noch richtig. Dennoch möchte ich in den nachfolgenden Überlegungen beide Romane weniger als Ausdruck, literarische Analyse oder Kritik eines bestimmten Zeitgeists deuten, sondern stärker als Rekonstruktion einer klassenspezifischen Problematik. Patrick Bateman, der Yuppie und Serienkiller bei Ellis, ebenso wie der namenlose Ingenieur und Informatiker bei Houellebecq interessieren mich im Folgenden nicht als Inkarnationen des neoliberalen Subjekts oder des unglücklichen Subjekts im Neoliberalismus, sondern als Verkörperungen spezifischer sozialer Lagen im neoliberalen Kapitalismus der späten achtziger und frühen neunziger Jahre. Konkreter: Sie stehen geradezu exemplarisch für spezifische, eng mit dem postfordistisch-neoliberalen Kapitalismus verbundene Klassenfraktionen der oberen Mittel- und unteren Oberschichten, für Klassenfraktionen, zudem, deren Tätigkeit – zumindest bei Ellis – unmittelbar und ausschließlich im Kontext der Kapitalverwertung „Sinn“ ergibt, so dass

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ein – wie auch immer gearteter antikapitalistischer Impuls, die eigene ökonomische Existenz radikal infrage stellen würde. Ellis’ voluminöser Roman1 spielt im New York der späten achtziger Jahre und stellt eine schillernde Yuppiewelt aus, in der die Verfügung über Geld nicht nur zum guten Ton gehört, sondern selbstverständlich ist. Auch der Protagonist Patrick Bateman schwimmt auf der Welle des Erfolgs. Aus „gutem Hause“ stammend ist es seine eigene Wahl, in Anstellung bei „Pierce & Pierce“ zu arbeiten (S. 330). Seine materielle Situation fasst er selbst im Satz zusammen: „Ich bin reich – Millionen sind es nicht.“ (S. 540) Die Inhalte der Arbeit an der Wallstreet werden im Roman nicht vertieft. Auch für Bateman scheinen sie Mittel, nicht Zweck seines Handelns. Gezeigt wird ein sorgloses Leben in einer „Spaßgesellschaft“, die im Wesentlichen aus Besuchen in teuren Restaurants, Mode, Fitness und Gütern der Kulturindustrie (Filme, Musik, Pornos) besteht. Allein: Auch „Spaß“ ist nicht Zweck des Handelns. Jedes einzelne Element des Vergnügens, der Zerstreuung, des Konsums erweist sich selbst wiederum als bloßes Mittel zur Anpassung an die Normen der Umgebung und zur Selbstbehauptung in einem Statuskampf, der sich nicht zuletzt in den infantil-spätpubertären, vulgären und anzüglichen, oft rassistischen, immer sexistischen Konversationen bei Restaurantbesuchen und auf Parties ereignet, und die ihrerseits ebenfalls nicht geeignet sind, dem Lebensvollzug eine Mitte, ein Ziel, einen Standort zu geben. Die Figuren des Romans bewegen sich permanent im Leerlauf, im Nichts, in der völligen Sinnentleerung. Sie sind unfähig selbst dazu, sich als heteronom Bestimmte, als Unfreie zu erfahren oder zu empfinden. Wie sehr sie Masken sind – der Marxsche Begriff der Charaktermaske kommt deshalb kaum in Frage, weil hier überhaupt kein Charakter mehr übrig bleibt – wird in der Erzählung immer wieder dadurch gezeigt, dass sich Figuren verwechseln oder Begegnungen geschildert werden, in denen es heißt „eine Person, die aussieht wie XY, die XY ähnelt, die XY sein könnte“. Wenn Bateman nach dem Mord an Paul Owen, der ihn durchgehend für einen anderen namens Marcus Halberstam hält, dessen Anrufbeantworter neu bespricht, um die Spuren des Toten zu verwischen, so kann er dies nicht zuletzt deshalb tun, weil beide eine sehr ähnliche Stimme haben (S. 305). Die Figuren des Romans erscheinen als maximal austauschbar. Das einzige, was Bateman von den übrigen „Personen“ seiner Umgebung zu unterscheiden scheint, ist seine Mordlust, die im Roman in nur schwer erträglichen, obszönen Gewaltdarstellungen ausgemalt wird. Dass hierbei nicht restlos 1  Bret Easton Ellis: American Psycho. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Clara Drechsler und Harald Hellmann. 11. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017, in der Folge mit Seitenzahl in Klammern hinter dem Zitat belegt.

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geklärt bleibt, ob es sich um reale Taten oder die Gewaltphantasien eines angebenden Ich-Erzählers handelt, gehört zum Verwirrspiel, das Bateman auch mit seiner Umgebung treibt, wenn er in alltägliche Konversationen immer wieder kleinere und größere Geständnisse einbaut: Angeberei oder Spiel mit dem Feuer? Der Roman lässt dies letztlich offen. Doch gleich, ob bloße Gewaltphantasie oder realer Serienmord – letztlich vermag auch das (scheinbare) Doppelleben Bateman nicht auszufüllen. In der Sinnlosigkeit des Tötens und Quälens reproduziert er bloß die Leere seines übrigen Tuns. Wie die Markennamen sind auch die Tötungs- und Foltertechniken, die Bateman als Ich-Erzähler minutiös protokolliert, bloße Surrogate für einen fehlenden Sinn, letztlich für scheiternde Subjektivität, die ihr eigenes Scheitern vor sich selbst im Kannibalismus zu verschleiern sucht, und am Ende doch in Lethargie und Depression führen muss. Weit entfernt davon ein gelingender Individualismus oder Hedonismus zu sein, erscheint der Neoliberalismus hier als radikale Zerstörung gerade auch des Individuums. Man könnte hier an de Sade denken oder auch an die Deutung de Sades, die Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ formulieren. Bateman und die seinen sind weder fähig zur Selbstbeherrschung, noch dazu, als Klasse souverän über andere Klassen zu herrschen. Andere Klassen begegnen ihnen bestenfalls in Gestalt von Bettlern, die zu demütigen ihnen Vergnügen bereitet oder in Form von besonders erfolgreichen Repräsentanten ihres eigenen Schlags. Nicht zufällig – wenn auch freilich noch nicht im Wissen um die Bedeutung die gerade diesem Aspekt zukommt, wenn man den Roman heute liest – ist eines der Leitmotive, die den Roman durchziehen,2 die Ikone Donald Trump: für Bateman der Inbegriff des Erstrebenswerten. Die Welt, die Houellebecq in „Ausweitung der Kampfzone“3 enthüllt, ist – zumindest auf den ersten Blick – eine gänzlich andere. Der namenlose IchErzähler und seine Kollegen sind weder so schön noch so reich wie die Yuppies in New York. Als Informatiker verdingen sie sich mit Lehrgängen (ebensogut ließe sich um des Kalauers wegen von Leergängen sprechen) zur Einführung in Computerprogramme für wechselnde Kunden (etwa das Landwirtschaftsministerium), die sie aus Paris in die französische Provinz führen. Die Illusion zur herrschenden Klasse zu gehören, ist den Figuren Houllebecqs versperrt. 2  Es gibt mehrere solcher Leitmotive. Wie sehr die Rezeption kulturindustrieller Güter vom Inhalt des Dargebotenen abstrahiert, wird etwa im Roman dadurch verdeutlicht, dass das Musical „Les Miserables“ permanente Erwähnung findet und gegen Ende des Romans durch die Broadwayinszenierung der „Dreigroschenoper“ ersetzt wird. 3  Michel Houllebecq: Ausweitung der Kampfzone. Roman. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001 (5. Auflage), in der Folge mit Seitenzahl in Klammern hinter dem Zitat belegt.

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Sie changieren – nicht schlecht bezahlt, doch weit davon, zu Reichtum kommen zu können – eher im Mittelfeld der Mittelklassen. Und doch verweist Houllebecqs Roman auf ein ganz ähnliches Problem wie der Roman Ellis‘. Auch hier versucht ein Protagonist seine Tage mit Leere zu füllen. Auch hier scheitert ein Subjekt gerade dadurch, dass es eigentlich nichts tut, was den Wertmaßstäben seines beruflichen und alltäglichen Lebens wirklich zuwiderläuft. Wenn Houellebecq seinen Erzähler sagen lässt: „Die folgenden Seiten bilden einen Roman. Ich verstehe darunter eine Abfolge von kleinen Geschichten, deren Held ich bin“ (S. 16), so ist dies nicht einfach ein (neuerlicher) Bruch mit klassischen Poetiken des Romans, die in ihm ein Kunstwerk sehen, dass bestrebt sei, die Totalität des Sozialen im Besonderen des einzelnen Lebens fassbar zu machen, sondern entspricht genau dem Lebensgefühl eines Protagonisten, der unfähig ist, seinen Lebensvollzügen so etwas wie „Identität“ oder Autonomie zugrunde zu legen. Die Welt des Ich-Erzählers ist ähnlich eintönig wie das Leben Batemans. Eine ähnliche Funktion wie die zum Teil seitenlangen Rezensionen von Musikern und ihren Alben bei Ellis spielen im Kosmos Houellebecqs jene philosophischen Tiergeschichten, die der IchErzähler schreibt und in denen er die Sinnlosigkeit der menschlichen Verhältnisse auf einen Begriff zu bringen sucht. Beides sind intellektuelle Ausflüge, so etwas wie Versuche zur Eroberung von Reflexionsräumen, Reflexionsräume freilich, denen weder Resonanzräume noch Praxisformen entsprechen. Auch daran scheitert Subjektivität. Ein Scheitern, das sich bei Houellebecq – ähnlich wie bei Ellis – in verschiedenen Stadien vollzieht. Scheint der Protagonist zunächst zwar unglücklich und zynisch, aber doch insofern souverän, als er das Ungemach der Welt erkannt und seinen Platz darin gefunden hat, so wird der schrittweise Verfall der letzten Reste von Selbstbestimmung im Roman dadurch markiert, dass er in die Fänge der Medizin gerät: Zunächst landet er aufgrund einer Herzbeutelentzündung im Krankenhaus zu Rouen, später gibt er jeden Widerstand auf und lässt sich nach Kastrationsphantasien bereitwillig in ein Sanatorium einweisen, in dem ihn eine ihm sympathische Ärztin zwingen will, sein Problem nicht in den Kategorien der Gesellschaftskritik, sondern ganz individuell, persönlich, klein zu beschreiben. Wusste der Protagonist einst über Psychoanalytiker zu sagen: „Unter dem Deckmantel der Ich-Stärkung betreiben die Analytiker eine skandalöse Zerstörung des menschlichen Wesens.“ (S. 111) So besteht gegen Ende des Romans sein einziger Widerstand im Versuch, mit der Ärztin anzubandeln, die daraufhin seinen Fall an einen Kollegen delegiert. Höhepunkt des Romans freilich ist jene Szene, in der der Icherzähler (mehr aus Studieninteresse denn aus wirklicher Solidarität) versucht, seinem in Liebesdingen unbeholfenen Kollegen Tisserand durch das Verbringen in eine Diskothek zu einem Abenteuer zu verhelfen. Der Plan scheitert kläglich.

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Auch das Mädchen, das sich zunächst auf ein Gespräch mit ihm einlässt, zieht schließlich mit einem anderen von dannen. In dieser Konstellation nähert sich der Houellebecqsche Ich-Erzähler Bateman an, wenn er versucht, den enttäuschten Tisserand dazu zu bringen, die Frau und ihren Liebhaber – durchaus auch rassistisch grundiert – zu ermorden. Es kommt, wie es kommen muss: Tisserand kneift im letzten Moment und stirbt noch in derselben Nacht bei einem Autounfall. So bleibt der Mordplan konsequenzbefreite Episode. Zusammengefasst lässt sich sagen: Houellebecq und Ellis schildern beide die Tragödie scheiternder Subjektivität in einer spezifischen Klassenlage: Auffallend ist, dass sie dieses Scheitern nicht bei den „Abgehängten“ oder den manifesten Verlierern des Neoliberalismus nachzeichnen, sondern gerade dort, wo die Anpassung an neoliberale Normen mit kleineren oder größeren Erfolgen verbunden sind. Es ist – gerade angesichts der Mordlust Batemans, die nicht selten auch mit der Verwertung seiner Opfer einhergeht, – nicht zu weit hergeholt eine Verbindung von scheiternder bürgerlicher Subjektivierung und Faschismus zu vermuten. Auch Houellebecqs Protagonist ist von solchen Impulsen nicht frei.4 In beiden Fällen handelt es sich um ein letztlich solidaritätsentfremdetes Milieu, das die Erfahrung eigener Wirkungslosigkeit in einem Oszillieren zwischen Autoaggression und Sadismus zu kompensieren sucht.

4  Die untergründige Verbindung zwischen den Identitätssehnsüchten der Protagonisten in „Ausweitung der Kampfzone“ und dem vieldiskutierten Houllebecq-Roman „Unterwerfung“ wäre fraglos ein lohnenswertes Unterfangen.

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Diskussion Ingar Solty: Da sich niemand anderes gemeldet hat, möchte ich, um die Diskussion in Gang zu bringen, mit einem Kommentar einsteigen. Wenn man diesen Parforceritt durch die Klassengesellschaften der verschiedenen Perioden anhand von literarischen Texten macht, dann kann es passieren, dass man relativ schnell ins Fahrwasser einer linken Melancholie gerät, nicht zuletzt auch durch Pasolini. Nehmen wir einmal Rezeptionsweisen von einer heute weitverbreiteten Perspektive aus betrachtet: Man liest also die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Dort erfährt man, dass der größte Widerstand gegen den deutschen Faschismus von der kommunistischen ArbeiterInnenbewegung getragen wurde. Man hört von einer kämpfenden Klasse, auf die Döblin und Heinrich Mann sich dann von einem linksbürgerlichen Standpunkt aus bezogen und beziehen konnten. Nehmen wir Döblin: Er schreibt die völlig zu Unrecht vergessene „Novembertrilogie“, ein unglaublich gewagtes Werk, in dem er minutiös auf der Grundlage einer phänomenalen Materialsammlung die „Novemberrevolution“ und den Generalstreik und die „Januarkämpfe“ 1919, die mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht enden, ästhetisch verhandelt, einen Dokumentarroman, der die Kühnheit besitzt, nicht nur Randfiguren, sondern zentralen Figuren der Geschichte wie Luxemburg und Liebknecht Dialoge in den Mund zu legen. Wenn das heute jemand wagen würde, würde das nicht nur vom Sujet, sondern auch von der Vorgehensweise vom Feuilleton ja zweifellos zerrissen. Das Einzige, was Belletristen heute dürfen und auch gerne tun, ist dann sowas wie Juli Zeh, die sich und das neoliberale Feuilleton mit seiner elitären Populismuskritik an der Linken schadlos hält, indem sie in ihrem aktuellen Roman „Leere Herzen“1 ernsthaft eine Sahra Wagenknecht zur Innenministerin einer Regierung macht, die von einer AfD-ähnlichen Partei geführt wird. Aber das ist sozusagen die Art und Weise, wie mit realen Figuren der Zeitgeschichte literarisch umgegangen wird oder werden kann. Mein Eindruck ist, dass die linke Melancholie, die sich bei der Lektüre von Mann, Döblin, Weiss und Pasolini einstellt und auch in den Referaten eingestellt hat, das Ergebnis einer, wie ich finde, sehr problematischen Analyse der Verwandlung der kapitalistischen Klassengesellschaft ist. Gerade bei Pasolini fällt das auf, der in meinen Augen historisch-kritisch und nicht affirmierend gelesen werden muss, weil er Ausdruck einer Linksempfindung in einer sehr spezifischen Epoche des Kapitalismus, des fordistischen Kapitalismus ist. Pasolini beschreibt ja im Grunde die Integration der arbeitenden Klassen in eine fordistische Konsumgesellschaft, die alles, was vor dem Zweiten Weltkrieg noch unabhängige kollektive Strukturen der Arbeiterselbstorganisation waren, in denen Klassenbewusstsein entstand, über bürokratische Sozialstaatsapparate einbindet und damit die Lohnabhängigen individualisiert und ihre Sozialbedürfnisse anonymisiert. Wir haben aber gestern bei Hans-Jürgen Urban im Vortrag auch gehört: Ja, es gab diese Kritik am Wohlfahrtsstaat. Aber sozusagen im Zuge des Abbaus des Wohlfahrtsstaats sehen wir auch, welche zivilisatorische Errungenschaft er gewesen ist. Und ich glaube, dass Pasolini ebenso wie sehr viele der alten Theorien, die wir heute rezipieren – der (Post-)Strukturalismus, die Frankfurter Schule, Stuart Hall, der Althusser-Marxismus – eigentlich Niederlagentheorien sind. In ihrem Grundgefühl melancholische bis 1  Juli Zeh: Leere Herzen. München: Luchterhand Literaturverlag 2017.

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pessimistische Theorien, die zwar auf Befreiung angelegt waren, in denen sich aber eine große Aneinanderreihung von realen oder subjektiven Niederlagen reflektierte und theoretisch niederschlug: Angefangen bei der Niederlage, dem Scheitern der Revolution im Westen und Sieg des italienischen Faschismus 1922/23, Scheitern der neuerlichen Revolutionshoffnung in der Weltwirtschaftskrise und dann 1933 des antifaschistischen Widerstands, die Niederlage nach 1945 angesichts der Restauration des Kapitalismus unter der US-Hegemonie und der Remilitarisierung im Kalten Krieg, schließlich die Epiphanie vom Pariser Mai 1968 – wow, es gibt die Arbeiterbewegung ja noch! –, die dann aber auch von sehr vielen Linksradikalen leider als subjektive Niederlage abgespeichert wurde, weil sie 1968 fälschlicherweise als weltrevolutionäre Situation wahrgenommen hatten und nicht sehen konnten, dass die Linke nach 1968 besser dastand als vorher, nicht sehen konnten, dass 1968ff. nicht ein neues 1933 war, wo sie ihren Antifaschismus beweisen konnten etc. Ich möchte also behaupten, dass Pasolini, Foucault, Frankfurter Schule, auch Stuart Hall Niederlagen-Theoretiker sind, die sich aufgrund dieser Niederlagendiagnose dann der Kultur zuwandten, weil sie die Arbeiterklasse als altes revolutionäres Subjekt für vollständig integriert hielten und ihre eigenen revolutionären Hoffnungen dann an Randgruppen knüpften, Randgruppenstrategien entwickelten. Also: Pasolini fokussiert sich auf Homosexuelle, Kleinkriminelle und das Lumpenproletariat, Herbert Marcuse sieht plötzlich – ich sag’s mal überspitzt – in den Kiffern und den freie Liebe Treibenden das revolutionäre Subjekt und Foucault in den psychisch Kranken und Gefängnisinsassen. Um die Klasse wurde sich hingegen nicht mehr geschert, weil die – als Integrierte – bestenfalls egal war und – als potenziell rechts – schlimmstenfalls der Gegner. Enno hat es aber ja im Zusammenhang mit Peter Weiss‘ damals zeituntypischen Schlussfolgerungen kenntlich gemacht: Die Klassenkämpfe gehen immer weiter. Mit Nicos Poulantzas2 könnte man auch sagen: Die Klasse kämpft, auch wenn man das nicht sieht. Und dennoch: Wir haben es jetzt mit einer Klasse zu tun, die einem Klassenkampf von oben ausgesetzt ist, aber sie ist – wie Klaus Dörre gestern gesagt hat – von unten tendenziell „demobilisiert“. Der Widerstand von unten, die Erneuerung der Arbeiterbewegung ist punktuell. Dann stellt sich mir aber die Frage: In welcher Literatur finden wir womöglich Beispiele, die uns nicht melancholisch zurücklassen nach dem Motto „Hach, all das gab es einmal und wo ist es hin?“, sondern eine Literatur, die einen gesellschaftlichen Zustand schreibt, der unserem heute näher ist, ähnlicher ist als die 1920er und 1930er Jahre, näher als die Welt, die Mann und Döblin beschreiben. Mir scheint, wir finden für kritisch-realistische Darstellungsweisen einer Situation der Desorganisation, des Klassenkampfes von oben und des mühseligen Aufbaus von Widerstand und von – neuen – Klassenorganisationen vielleicht heute weniger in der Literatur von Brecht, Feuchtwanger oder auch Peter Weiss, sondern in einer Literatur, die noch viel älter ist. Womöglich müssen wir literarisch zurückgehen zur Zeit der Auflösung der alten feudalen Klassengesellschaft, der Entstehung einer neuen kapitalistischen und den zarten Anfängen der Klassenformierung und der sozialistischen Gesellschaft von unten, zurück also zu Dickens, Balzac, Emile Zola, Georg Weerth, Herwegh, Gustav Freytag, Upton Sinclair, Theodore Dreiser, Jack London. So wie wir meines Erachtens auch von der Theorie und Praxis der Vorkriegssozialdemokratie für die heutige politische Situation mehr lernen können als von der Politik und Kunst der sozialistischen Bewegung der Zwischenkriegszeit. Einfach, weil in der Phase zwischen 2  Nicos Poulantzas (1936-1979), griechisch-französischer Politikwissenschaftler.

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1830 und 1880 eine ähnliche Ausgangslage bestand: Es gibt Klassen und Klassenlagen, aber die Klasse erlebt mehr Defensivkämpfe, Aufkündigung von alten Rechten etwa im Zunftwesen, und muss sich hiervon befreien, organisieren und muss für sich einen ästhetischen Ausdruck finden, um sich kulturell zu behaupten und zu emanzipieren. Enno Stahl: Wir sind da ja ein bisschen über Kreuz. Das wurde uns ja auch klar bei dem Artikel,3 den wir zusammen im Vorfeld dieser Konferenz geschrieben haben, als wir merkten, dass unsere Einschätzung zu Pasolini auseinandergeht. Aber selbst wenn ich dabei mitgehe, dass es vielleicht um Niederlagentheorien und Niederlagenliteratur ginge, fände ich daran auch nichts so Schlimmes, weil es ja immerhin eine historische Abfolge ist, die sich da zeigt; und auch wenn es linke Melancholie auslöst, ist es doch immerhin so, dass die Utopie am Leben bleibt, und das ist genau das, was ich bei Peter Weiss zitiert habe und was in meinen Augen auch das Wichtige ist, dass die Idee am Leben bleibt und weiter arbeitet. Damit komme ich auch direkt zu Norbert. Er hat durchaus zu Recht von einer Auflösung der Literatur gesprochen. Schlicht und ergreifend deswegen, weil sie im Deutschunterricht bedauerlicherweise so wenig vorkommt, klar. Aber gleichzeitig fragte ich mich dann angesichts deines Roth-Zitats, ob die Situation damals wirklich so viel anders war als heute. Denn er sagte ja auch, die Literaten schweigen, und es ist lauter als alles, was man sonst hört. Ganz ketzerisch gefragt: Wird nicht später mal jemand sich auf Norbert Niemann oder Andere unter uns beziehen und sagen „in einer Zeit des Schweigens hat er aber doch dieses und jenes geschrieben“, so wie du eben gerade über Heinrich Mann und Alfred Döblin gesprochen hast? Sind es nicht gerade diese Stimmen der Einzelnen, die dann die Geschichte überdauern? Die vielleicht nur wieder von Einzelnen gehört werden, die aber dennoch die Utopie weiter am Leben halten? Und ist es nicht eigentlich das, worum es geht? Erasmus Schöfer: Ingar, ich möchte dir auch widersprechen, wenn du von dieser Melancholie sprichst. Das ist ein negativ besetzter Terminus, der in meinen Augen in die Irre führt. Man könnte ja auch von Resignation sprechen. Das ist womöglich einigermaßen synonym zu dem, was du meinst. Für mich ist die Erfahrung aber eigentlich eine andere, nämlich das, was Enno jetzt gerade auch hervorgehoben hat: die Permanenz des Widerstands, erlahmt er oder erlahmt er nicht? Mir ist das immer wieder passiert, wenn ich aus meiner Roman-Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ gelesen habe, dann wurde ich gefragt: „Ist das denn jetzt eine Bilanz des Scheiterns und der Resignation?“ Darauf habe ich dann stets erwidert: „Nein, 1968 ist nicht gescheitert. Wenn wir genau hinschauen, was alles sich geändert hat in dieser bürgerlichen Gesellschaft, dann können wir feststellen, dass die Wirkungen stark gewesen sind, auch wenn nicht unbedingt in diesem grundsätzlichen Sinne, wie es vielleicht geplant war. Aber an vielen einzelnen Stellen sind sehr viele Veränderungen geschehen seit den 1970er Jahren.“ Und so ist es für mich eigentlich ein Zeichen des immer wieder vorhandenen und aufflammenden Widerstands, so wie Peter Weiss das am Schluss seiner „Ästhetik des Widerstands“ auch zum Ausdruck gebracht hat. Es ist destruktiv, 3  Ingar Solty/Enno Stahl: Am Puls der Zeit. Literatur kann ein kritisches Werkzeug sein und uns die Wirklichkeit näherbringen – wenn sie denn will. Ein Überblick über das Verhältnis der Gegenwartsliteratur zur Klassengesellschaft. In: junge welt (6.6. 2018). Die Einleitung: „Literatur in der neuen Klassengesellschaft“ ist eine erweiterte Fassung dieses Artikels.

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wenn wir beharren bei dieser Melancholie, die ja untätig ist, die einfach nur so vor sich hindämmert und nichts weiter bringt. Deshalb geht es darum, die Permanenz des Widerstands zu zeigen und dann zu suchen, wie die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart zusammen sichtbar machen können, was sie denken und was sie analysieren in der Gesellschaft. Das ist mein Anliegen. Ich habe es auf den vorangegangenen Versammlungen ja auch schon gesagt, dass es dahin führen muss, dass die Autoren, die eine Zukunftsperspektive vor Augen haben, eben nicht in ihrer Vereinzelung verharren sollten, sondern dass sie als Teil von etwas Gemeinsamem sichtbar werden müssten in der Gesellschaft, um dann auch eine Wirkung erzielen zu können. Vielleicht ist ja das, dass wir hier jetzt schon ein paar Mal zusammengekommen sind, eine Form des Sichtbarmachens gemeinsamer Anliegen, obschon das noch zu wenig ist. Es ist zu wenig, und es sind längst nicht alle hier, die in dieser Weise, so wie wir denken, auch denken und tätig sind. An die müssten wir ja auch herankommen. Wer ist denn alles heute nicht hier von denen, die denken, dass es weitergehen muss und die eine Vorstellung davon haben, wie die Gesellschaft sein müsste? Darüber sollten wir weiter nachdenken. Joachim Helfer: Danke für das Plädoyer gegen die Melancholie. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man Kolleginnen und Kollegen bittet, sich zu beteiligen mit kurzen, schnell zu schreibenden Texten zur politischen Lage, dass die Bereitschaft, das zu machen, gering ist und abnimmt. Und ich habe mich dann gefragt, warum ist das so? Man schreibt 80 bis 100 Schriftstellerinnen und Schriftsteller an und bittet sie um einen kleinen Text zur Geschichte der Sozialdemokratie oder einen kleinen Text – noch viel spannender, wenn ich mir etwas wünschen dürfte – zur Frage: „Was soll denn in den nächsten vier Jahren konkret passieren in diesem Land?“ Das Ergebnis ist jedoch, dass ganz viele gar nicht antworten, während einige andere wiederum sogar wütend absagen. Ich habe versucht, mir das zu erklären, und ich bin zum Ergebnis gekommen, dass dies auch mit der bislang vielleicht nicht hinreichend reflektierten Klassenzugehörigkeit der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu tun. Wir haben gestern etwas darüber gehört, dass es da so eine akademische, obere Mittelschicht mit viel kulturellem Kapital usw. gibt. Ich behaupte mal, wir hier gehören mehr oder minder alle dazu. Das ist okay, das ist nicht schlimm, wir können auch nicht anders. Aber wir sollten es mitbedenken. Es ist in meinen Augen weniger eine melancholische Haltung unter Schriftstellerinnen und Schriftstellern, sondern eine desinteressierte Haltung. Sie aber lässt sich unter anderem dadurch ganz gut erklären, dass wir nicht unbedingt zu den Allerentrechtetsten in den herrschenden Verhältnissen gehören. Zweitens: Ich bedauere vielleicht oder auch nicht, dass in der Schule weniger Literatur gelesen wird. Das kann man auch gut und schlecht machen. Was ich ganz sicher bedauere, ist, dass an deutschen Schulen nach wie vor Ökonomie-Unterricht nicht stattfindet und dass die Kenntnisse basaler ökonomischer Zusammenhänge in der Bundesrepublik Deutschland nachweislich – es gibt viele Untersuchungen dazu – schlechter sind als in fast allen anderen Ländern in der westlichen Welt. Literaten haben dann häufig den Impuls zu sagen „Naja, also irgendwie mit dem Kapitalismus, mit dem Spätkapitalismus, mit dem postindustriellen Kapitalismus, das läuft alles nicht so gut, irgendwie müsste man da was am System ändern“. Nur haben sie halt von den simpelsten ökonomischen Zusammenhängen häufig wirklich gar keine Ahnung, und das ist ein großes Problem im Nachdenken über die Frage, wie können Literaten gesellschaftliche Verhältnisse durch das, was sie tun oder lassen, beeinflussen? Ökonomie ist die Lehre von der Knappheit. Die Knappheit wird uns immer begleiten in

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jeder Gesellschaftsform – auch die Knappheit an Zeit, an Aufmerksamkeit usw. Deshalb kann aber ein literarischer Standpunkt auch nicht einer außerhalb der Ökonomie sein, sondern immer nur einer innerhalb der Ökonomie, und dann müssen wir uns erst mal über ökonomische Grundlagen schlau machen. Ingar Solty: Ein Satz zur Richtigstellung: Mir geht es nicht darum zu sagen, dass es keinen Widerstand gibt. Wenn man über Deutschland hinausguckt, dann sieht man ja enorm viel an Widerstand und Klassenauseinandersetzungen. Aber auch in Deutschland beobachten wir ja eine deutliche Zunahme, gerade im Gesundheitssektor: die Kita-Streiks, den Charité-Streik, die Streiks und das Organizing bei Amazon und auch die interessante IG-Metall-Tarifrunde für eine 28-Stunden-Woche, also Arbeitszeitverkürzungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in einer der männerdominiertesten Branchen. Mein Punkt war, dass diese ganzen Versuche der Reorganisierung von Klasse uns heute, in einer Situation der linken, klassenpolitischen Defensive, eher in das 19. Jahrhundert zurückweisen, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt dort mehr Anreize für unsere politischen und ästhetischen Interessen finden als in den 1920er und 1930er Jahren. Stefan Schmitzer: Ad hoc zur Knappheit: Auch Texte, die sich außerhalb der Knappheit etwas vorstellen, werden geschrieben in einer Wirklichkeit, und da können wir zu beitragen. Ich finde, das war von dir, Joachim, zu scharf formuliert. Wir dürfen beispielsweise auch nicht vergessen, dass Science-Fiction nützlich ist. David Salomon: Bevor ich auf das zu sprechen komme, weswegen ich mich eigentlich gemeldet habe, auch von mir noch eine kleine Anmerkung zur Frage von Ökonomie an Schulen. Dadurch, dass ich mich ja mit politischer Bildung beschäftige, bin ich mit dieser Frage ständig konfrontiert. Das ist eine Frage, um die im Moment ein Kampf stattfindet, und zwar nicht nur darum, ob Ökonomie an Schulen unterrichtet werden soll, sondern darum, welche und wie. Dort, wo gesagt wird, es soll ein eigenes Fach sein, ist damit in der Regel eineindeutig neoklassisch geprägter Wirtschaftsunterricht gemeint. Die Gegenposition, die hier in Nordrhein-Westfalen von Hedtke4 und anderen vertreten wird, ist: Es braucht natürlich ökonomischen Unterricht, aber als Bestandteil eines integrierten sozialwissenschaftlichen Fachs, wo ein sozioökonomischer oder ein politökonomischer Zugriff auf diese Fragen gewählt wird. Ich halte das zweite für richtig. Das ist ein Beispiel für einen aktuellen Kulturkampf um die Ausrichtung des Bildungssystems. – Jetzt aber zu deiner These zum 19. Jahrhundert und zur linken Melancholie, Ingar: Ich weiß gar nicht, ob ich dir da widerspreche oder nicht. Das Interessante an dem Walter-Benjamin-Text, auf den du dich ja implizit bezogen hast und mit dem Benjamin sich gegen Kurt Tucholsky, Erich Kästner und Walter Mehring gewandt hat, ist ja, dass Benjamin – in meinen Augen ungerechterweise – diesen drei Autoren linke Melancholie vorwirft, aber ihnen nicht einfach nur Resignation oder Traurigkeit vorwirft, sondern vielmehr gegen sie den Vorwurf erhebt, sie stünden nicht links von dieser oder jener Position, sondern links vom Möglichen überhaupt. Benjamin wirft ihnen also vor, eine Position einzunehmen, die Wolfgang Abendroth als „ultralinks“ bezeichnet hätte, und die sich in einem Maximalismus einrichtet, der dann auch notwendigerweise immer melancholisch sein muss, weil er immer scheitern 4  Reinhold Hedtke (*1953), deutscher Soziologe und Autor.

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muss. Und genau dieses Scheitern ist im Grunde die Selbstbestätigung in der eigenen Radikalität. Wenn wir linke Melancholie so verstehen, dann ist es, glaube ich, wirklich eine Falle. Das Aufarbeiten und Abarbeiten auch an den Niederlagen ist dagegen, wenn diese Arbeit denn soziologisch hinreichend konkret stattfindet, eben auch eher ein Rezept gegen linke Melancholie und das würde unter Umständen auch bedeuten, dass man Veränderungen und Transformationen nicht auf die großen Momente des absoluten Bruchs und als Tagesaufgabe der Revolution oder so was interpretieren würde, sondern es ginge tatsächlich um eine sozialdemokratischen Perspektive – und zwar im alten Bebel‘schen Sinn – in der oder für die Gegenwart. Und damit meine ich selbstverständlich nicht die Frage „Wie erneuert sich die SPD?“, sondern es geht um einen grundsätzlicheren Sinn. Stimme aus dem Publikum (Stefan Kroll/ Redaktion Schattenblick, Berlin): Es gibt ja im postkolonialen Diskurs die Frage „Can the subaltern speak?“ Mit anderen Worten: Was ist und wer sind die Menschen, die im Grunde genommen keine Stimme haben, die nicht gehört werden? Ich habe immer vermutet, dass eine linke Literatur den Anspruch hat, eben diesen Menschen eine Stimme zu geben. Nehmen wir die Frage der Migration, die ja hier auf der Tagung noch diskutiert werden wird, also die Frage der Flüchtenden als politisches Subjekt: In meinen Augen ist sie äußerst relevant im Hinblick auf die neue Klassengesellschaft, weil diese Menschen außerhalb jeder Ordnung stehen und um ihre Existenz kämpfen und dabei auf eine Ablehnung und Diffamierung mit äußerst herben Zügen stoßen. Ich erinnere an die Geschichte in Ellwangen. Da solidarisieren sich Menschen, ohne aggressiv zu werden, mit einem abzuschiebenden Flüchtling und werden in deutschen Medien im Grunde als Terroristen vorgeführt. Mit anderen Worten: Terroristen sollen also nun gerade diejenigen Menschen sein, denen man zugestehen müsste, dass sie eigentlich eine menschliche Tugend vollziehen, indem sie sich solidarisch zeigen. Das sind für mich sehr relevante Fragen in Bezug auf ein neues Klassensubjekt, weil das Klassensubjekt in einer Gesellschaft, deren Lebensverhältnisse durch und durch über den Weltmarkt vermittelt sind, eigentlich nur international oder transnational sein kann. Selbstverständlich knüpft sich daran die Frage, wie man denn in der deutschsprachigen Literatur alldem gerecht werden sollte, weil es natürlich schwierig ist, Flüchtlinge aus dem Irak oder aus Syrien jetzt literarisch zu repräsentieren, ohne Gefahr zu laufen, anmaßend zu sein. Norbert Niemann: Ich möchte mich auch zu der von Ingar aufgeworfenen Frage äußern: Ich glaube in diesem Zusammenhang auch nicht an Dickens. Die Idee meines Literatur- und Globalisierungsbuches war es, diesen Diskurs „Can the Subaltern Speak?“ aus der Literatur selber zu generieren. Denn in der Literatur, auf die ich mich beziehe, werden diese Versuche literarisch ja ganz ernsthaft unternommen. Nehmen wir zum Beispiel den berühmten, großartigen Text von Marie NDiaye, einer französischen Autorin mit kanadischen Wurzeln, die das Leben einer Analphabetin beschreibt, die von Ghana aus nach Europa zu kommen versucht und dann an den Grenzzäunen stirbt. Sie macht aus diesem Stoff tatsächlich Literatur und stellt tatsächliche Lebenswirklichkeitserfahrungen dar. Was du vielleicht mit Dickens und Zola gemeint hast, ist eigentlich genau das. Dafür muss man jedoch nicht auf die Konzepte von Dickens und Zola zurückgreifen, sondern genau wie diese Autoren den tatsächlichen gegenwärtigen Wirklichkeiten, die eben nicht von der Ökonomie des Literaturbetriebs vorgegeben werden, eine Stimme leihen. Das ist ja im Prinzip, was Zola oder Balzac versucht haben; das ist, warum das damals auch so eine progressive Literatur

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war. – Zu Joachim und der Frage der Schriftsteller und der Resignation wollte ich noch sagen: Die reagieren ja alle auch nicht; und das verweist natürlich auch auf einen Zusammenhang, den man nicht vergessen darf. Dass wir jetzt seit 20 oder 25 Jahren einen Literaturbetrieb haben, der vollkommen ökonomistisch denkt. Das heißt: Die Leute, die du mit deiner Fragestellung anfragst, weil sie bekannte Namen im Literaturbetrieb sind, für die sind doch genau diese Fragen, mit denen du sie konfrontierst, überhaupt keine Fragen, weil sie in ihrem Literaturbegriff erst gar nicht vorkommen, weil das, was heute als Literatur vermarktet wird, mit diesen Fragen, die wir hier verhandeln, gar nichts mehr zu tun haben will, beziehungsweise diese Fragestellungen außerhalb ihrer Vorstellungswelt existieren. Annett Gröschner: Ich finde die Fragestellung, mit der wir uns befassen, etwas schwierig, weil Literatur natürlich anderen Gesetzen folgt. Das wissen wir ja selber: wir brauchen lange, um einen Roman zu schreiben, und die Gegenwart ist immer viel schneller als wir. Von dieser Problematik muss man erst einmal ausgehen. Literatur mit einem Klassenbewusstsein möchte ich auch nicht mehr schreiben, weil ich bin damit aufgewachsen und das hat sich als ein Scheitern erwiesen, also es ist eine gescheiterte Geschichte. Wir müssen also völlig anders daran gehen. Was Stefan Kroll gesagt hat mit den Migranten, mit den Geflüchteten, die herkommen: Das sind natürlich Geschichten, wie wir sie gestern auch schon diskutiert haben. Wir müssten dann hier aber auch ein Podium machen, wo sie hier sitzen. Das ist hier nicht der Fall, weshalb wir von hier aus auch nicht über sie reden können. Stattdessen müsste man also eine Konferenz machen, wo sie eben einfach mit dabei sind. Und auch da sind wir natürlich viel langsamer als die Gegenwart. Wir haben zum Beispiel ein Projekt namens „Weiterschreiben“, wo wir Tandems bilden mit geflüchteten Autoren und Autorinnen und jeder von uns hat jemanden, den er oder sie betreut und die ihre eigene Literatur schreiben. Und wir sind sozusagen diejenigen, die ihnen helfen, hier in diesen Literaturbetrieb reinzukommen. Ich finde, das ist von unserer Seite her ein besseres Modell, als jetzt ihre Geschichten aufzuschreiben, denn es sind ihre Geschichten. Von daher sind wir natürlich auch in dem Sinne Privilegierte, weil wir schon länger Teil dieser Gesellschaft sind, auch wenn wir es natürlich in unterschiedlichen Arten und Weisen sind. Noch ein Gedanke zur Literatur der 1920er Jahre: Für mich ist immer so ein Beispiel, an dem ich mich auch viele Jahre abgearbeitet habe und immer noch abarbeite, Franz Jung. Also ein Schriftsteller, der immer sich als eingreifenden Schriftsteller gesehen hat, der überall dabei war, der ein Schiff entführt und zu Lenin gebracht hat, der das dann aber gar nicht wollte, also der quasi immer auch diese ganzen Kämpfe mitgekämpft und gleichzeitig geschrieben hat, und der sich am Ende auch selber als Gescheiterten beschrieb. Aber das ist so ein Scheitern, von dem wir auch lernen können. Franz Jungs Buch „Die Technik des Glücks“, wo diese Verbindung zwischen Literatur und Produktion auch stattfindet, ist etwas, was man heute noch lesen kann. Allerdings passiert das natürlich nur noch in Nischen. Stefan Schmitzer: Zur Frage der Hineinnahme, also der Frage: Schreiben wir aus der Perspektive von irgendwie Abgedrängten oder von beispielsweise Geflüchteten oder im Gegenteil dazu, wie nimmt man sich hinein, dass es eine eigene Stimme, dass es eine eigene Sprache gibt. Als etwas wirklich Perfides ist mir im letzten Jahr mehrmals aufgefallen, dass diejenigen Male, wo es tatsächlich plötzlich funktioniert hat, dass Geflüchtete oder rassistisch ausgegrenzte Leute, die künstlerisch oder kreativ was zu bieten gehabt hätten, auf Podien und in Kontexten gelandet sind, die eben genau nicht

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von fortschrittlicher Seite gekommen sind, sondern von irgendwelchen Identitätsdiskursen, die von der katholischen Kirche angeboten wurden, also in Graz zum Beispiel das Kulturzentrum bei den Minoriten. Oder wenn es darum geht, gezielt in Diskursen auf identitäre Konstrukte, auf Neo-Reaktionäre zu reagieren, dann funktioniert es plötzlich, dass man sagt: „So, es gibt also diese Identität, die man irgendwie europäisch oder im schlimmsten Fall noch steirisch nennt, und dann gibt’s aber demgegenüber auch noch die anderen.“ Und unter diesen Vorzeichen können dann plötzlich alle möglichen Leute mitmachen, die in diesem bürgerlich organisierten Betrieb momentan ausgegrenzt sind. Das ist total perfide. Ich weiß jetzt auch keine Antwort. Aber für das Bemühen darum, dass es nicht nur weiße Angehörige der akademischen Mittelschicht sind, die sprechen, fehlt im Moment ein vernünftiger Ansatz, wie das organisiert werden kann – außerhalb dieser identitären Diskurse. Stimme aus dem Publikum (Hannelore Tölke): Ich gehöre nicht dem Kreis derjenigen an, die schreiben, sondern zum Kreis derjenigen – und das ist ja auch nicht das Schlechteste –, die das, was die Schreibenden machen, dann hinterher liest. Von daher stellen sich mir eigentlich andere Fragen als die Fragen, die sich den Schreibenden oder den Kreativen selber stellen. Wir haben ja gestern und auch heute des Öfteren gehört, dass sich die Welt globalisiert. Da stelle ich mir die Frage: Wie vernetzen sich denn Schreibende? Mich interessiert zum Beispiel: Wie gehen denn Schreibende in Europa zum Beispiel mit Schreibenden in Afrika oder in Asien um? Gibt es zum Beispiel Schriftsteller, die über die Situation in Nairobi schreiben, in Kibera, wo eine Million Menschen im Prinzip in einem Slum leben und sich selber überlassen bleiben und sich auch selber organisieren? Da gibt es keine Polizei, das machen die Bosse. Die stellen letztlich eine Macht dar. Oder wie ist denn die Situation von Textilarbeiterinnen in Bangladesch? Wie wird das thematisiert von Schreibenden in Europa, aber auch von Schreibenden zum Beispiel in Bangladesch selber? Das finde ich eine wichtige Frage, wie vernetzt man sich denn da? Und eine zweite Frage ist für mich: Ich fand dieses Buch von Houellebecq sehr interessant, weil ich in diesem Bereich auch sehr lange gearbeitet habe, und ich habe sehr viel von meinen eigenen Erfahrungen darin wiedergefunden. Natürlich nicht so extrem. Wenn man nun das Leben eines IT-Beraters beschreibt, dann gähnt man spätestens nach 30 Seiten und legt das Buch zur Seite, weil das eben so spannend nun auch nicht ist. Das muss man ergo schon ein bisschen dramatisieren. Genau das tut Houellebecq – für meine Begriffe allerdings tatsächlich eher von so einem bestimmten Standpunkt, was dann in seinen späteren Büchern ja noch viel deutlicher wird. Wie nähern sich aber denn Schreibende so einer im Grunde genommen schon langweiligen Lebenssituation von Menschen, die im Arbeitsprozess stehen? Und wie nehmen sie so die Konflikte auf? Stimme aus dem Publikum (Heinz Czernohous): Eine wichtige Frage ist ja auch, inwieweit die Autorin oder der Autor als Schreibender ein Intellektueller bleibt, der Verhältnisse nur von außen beschreibt. Damit verknüpft ist ja die Frage: Für wen eigentlich? Sieht sich der Schriftsteller nur als Aufklärer, nach dem Motto: „Ja, ich beschreibe die Verhältnisse, ich kläre Sie, mein verehrtes Publikum, auf“? Das macht ihn oder sie wiederum zum Teil einer fiktiven Avantgarde, die andere Leute belehrt. Wenn ich aber sage: „Ich will die Stimme der Unterdrückten sein, ich will den Unterdrückten eine Stimme geben!“, dann hat man es ja auch gleich mit dem Problem zu tun, dass der Leser oder die Leserin nicht den hundertsten Flüchtlingsreport oder Amazon-Report lesen will, wo eigentlich immer die gleiche Problematik nur beschrieben wird. Also:

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Für wen wird das eigentlich geschrieben? Wer soll denn was lernen? Wer will das aufgreifen? Wer soll denn wie handeln? In meinen Augen wird Aufklärung und eine Analyse einer bestimmten Situation genau dann und dort, wo Menschen Kämpfe führen, Menschen, die in diesen Kämpfen auf Dinge von anderen Menschen stoßen, die vor ihnen bereits ganz ähnliche oder gleiche Kämpfe geführt haben. Damit verknüpft ist dann wiederum die Frage: Wie kann jemand, ein Schriftsteller, der darüber berichtet, ein Moment in den literarischen Text einführen, das über die bloße Beschreibung hinausgeht? Wie kann er die Wirklichkeit nicht nur beschreiben, wie treffend auch immer ihm das gelingt, sondern wie kann der Schriftsteller aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten und Möglichkeiten sprachliche oder inhaltliche Momente in sein Werk hineinbringen, die den Leser auch inspirieren können? Wie kann zum Beispiel nicht nur der Effekt entstehen „Moment, ich habe jetzt gelesen, wie es den Flüchtlingen geht, wie es den Amazon-Leuten, wie es diesen oder jenen Unterdrückten geht“, sondern wie gelingt es vielmehr, ein Moment wachzurufen, das plötzlich Menschen noch darüber hinaus und in Gänze anspricht? Ein Beispiel, was mich sehr berührt hat, ist etwa die Art und Weise, wie Ulrike Meinhof ihre Situation unter der weißen Folter im Stammheim-Gefängnis beschreibt, die Bedingungen der Isolationshaft, was damals ja ganz wenigen Leuten bekannt war. Das ist zwar keine Literatur und keine Schriftstellerei im engeren Sinne. Es ist aber eine authentische Schilderung der Wirkung von weißer Folter in einer Weise, die man – auch wenn man es selber zum Glück nicht durchleben musste – gut nachvollziehen kann; und diese Schilderung kann dann dazu führen, dass man auf einmal erkennt, dass hier ein Mensch, der einen bestimmten Kampf führt, da unter der Folter vernichtet werden soll. Das sind so Momente des Aufmerkens, des „da habe ich etwas begriffen“. Erasmus Schöfer: Zur Frage „Können Menschen aus der nichteuropäischen Welt, wenn sie hier in Deutschland sind, über ihre eigenen Erfahrungen schreiben oder können wir darüber schreiben?“ Ich bin der Auffassung, dass wir natürlich nicht in ihre Gefühlswelt eindringen können. Das müssen sie selber darstellen lernen. Was wir aber darstellen können, ist, wo Einwohner dieses Landes mit diesen Menschen auf diese oder jene Weise zusammenarbeiten, etwa indem sie sich dafür einsetzen, dass sie nicht abgeschoben werden. So etwas darzustellen – und das lässt sich im Roman ja durchaus gut dramatisch darstellen –, das sind die Möglichkeiten, die wir haben. In den 1970er Jahren haben wir so etwas ja auch mit dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt versucht. Auf dem Schriftstellerkongress in Hamburg 1973 habe ich den Antrag eingebracht, dass die intellektuellen Schreiber den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt unterstützen, dass sie in den Werkstätten, die wir dann ja überall im Land ins Leben gerufen haben, zusammenarbeiten. Das war die Idee, dass gelernte, akademisch geschulte Autoren, die Zugang haben zum Literaturbetrieb, mit Menschen zusammenarbeiten, die wiederum die Erfahrung in der Arbeitswelt haben, und dass sie ihnen dabei helfen, sich so auszudrücken, dass diese Bücher auch lesbar sind, dass sie in der allgemeinen Publizistik veröffentlicht werden können. Dieses Vorhaben von damals ist uns ja insofern auch gut gelungen, dass zwischen 60 und 70 Bücher, die auf diese Weise entstanden sind, auch schließlich erscheinen konnten – und zwar unter dem Label des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt. Der Werkkreis hat sich dann allerdings nach der Kohl’schen Wende allmählich aufgelöst. Dazu beigetragen hat sicherlich, dass da dann auch die linken Autoren anfingen, sich eben mehr oder weniger der neuen, liberalen Entwicklung anzupassen, und dass sie dem sozialistischen Gedanken Lebewohl gesagt haben. Jedenfalls scheint mir das ein wichtiger Einwand zu sein, gegen die These, dass

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wir nicht über die Erfahrungen derer schreiben können, die aus Afrika oder Afghanistan hierherkommen. Ich finde, wir können sehr wohl ihre Erfahrungen in diese Gesellschaft transportieren, indem wir eben über Zusammenarbeit mit ihnen schreiben; und wenn ihr das so macht, dass ihr mit einem solchen Autor jeweils zusammenarbeitet, dann ist das ja sowas wie wir das auch im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt gemacht haben. Allerdings: Nachdem dieser Antrag auf dem Schriftstellerkongress mit großer Mehrheit angenommen wurde, hat sich dann auch gezeigt, dass die allerwenigsten der beruflichen Schriftsteller die Möglichkeit sahen, in den Werkstätten mitzuarbeiten, weil das war eine ständige Abgabe von eigener Lebenszeit zugunsten von Schülern. Und da haben sie dann lieber einen Dauerauftrag aufgegeben für 50 Mark Spende im Monat, als dass sie in die Werkstätten gekommen wären. Leider ist es nur eine Handvoll Schriftstellerinnen und Schriftsteller gewesen, die das praktiziert haben. Aber das hat freilich auch damit zu tun, dass die Herausforderung, überhaupt als Schriftsteller in dieser Gesellschaft noch einen Lebensunterhalt bestreiten zu können, eine Lebensaufgabe ist, dass es gerade heute schwer möglich ist, daneben noch eine andere Aufgabe wahrzunehmen, sich etwa gewerkschaftlich zu engagieren. Enno Stahl: In meinen Augen können wir die Identität der Leute nicht einfach so nachbilden. Wir können es vielleicht versuchen, sollten uns aber nicht einbilden, dass wir das tatsächlich erschöpfend darstellen könnten. Und Internationalisierung zwischen Schriftstellern ist eh relativ schwer, muss man sagen. Ich finde das bis heute total verblüffend, wie das in der Zeit der historischen Avantgarde funktionierte, in der bildenden Kunst und in der Literatur, dass sich da Leute zwischen Barcelona, Paris, Moskau und eben Deutschland ständig irgendwo trafen, kannten, in Kontakt waren, als die Möglichkeiten ja noch nicht so waren, dass man E-Mails schicken konnte oder telefonieren. Das scheint heute wesentlich schwieriger zu sein, erstaunlicherweise, obwohl die technischen Möglichkeiten und Voraussetzungen dafür alle da sind. Das muss man leider so sagen. Zu der aus dem Publikum aufgeworfenen Frage: Wie kann man sich der Arbeitswelt nähern und wie macht man das, dass es nicht langweilig ist? Ich knüpfe an etwas an, was Stefan gesagt hat. Stefan hat, wenn ich ihn richtig verstanden habe, gesagt, dass man den Zusammenhang von einem Moment auf den nächsten literarisch gar nicht mehr darstellen kann. Das ist also eine Frage nach dem Realismus. Mir scheint, dass das natürlich als Abbild überhaupt nicht möglich ist, dass es aber eine Form von deutendem – oder wie ich es genannt habe – analytischem Realismus gibt, der quasi im Plot die Wahrheit über diese Dinge erfasst. Das heißt: Wir bilden nicht ab, sondern gestalten die Geschichte so, dass sie die Wirklichkeit hinter dieser Realität tatsächlich ausdrückt, dass andere sie verstehen können. Und das ist genau dasselbe mit der Arbeitswelt. Wir können nicht das monotone Leben darstellen, die Empfindungen, die in den Augenblicken der monotonen Arbeit entstehen, aber wir können einen Plot bilden, in dem alles, was damit zu tun hat, nachfühlbar und analysierbar wird. Monika Rinck: Zwei Dinge: erstens zur Monotonie der Arbeitswelt. Ich erinnere mich an eine Äußerung von Wilhelm Genazino zu seiner Abschaffel-Trilogie,5 diesem 5  Drei Romane Wilhelm Genazinos, die das Angestelltenmilieu thematisierten: Wilhelm Genazino: Abschaffel. Reinbek: Rowohlt 1977; ders,: Die Vernichtung der Sorgen. Reinbek: Rowohlt 1978; ders.: : Falsche Jahre. Reinbek: Rowohlt 1979.

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Büroroman, der in den späten 70er Jahren erschienen ist. Er schrieb einmal, dass er es nicht habe verstehen können, dass die Leute nach der Lektüre dieser Trilogie nicht schreiend aus den Büros herausgelaufen seien. Es sei ihm schleierhaft geblieben, dass sie die von ihm beschriebene Monotonie offenbar weiterhin ertragen konnten, selbst nachdem sie sein Buch gelesen hatten, dass sie nicht einfach aufstanden und umkippten und wie ein Turm auseinanderbrachen. Und da ist eben auch diese gewisse Ödnis Teil des ästhetischen Projektes, und es lässt sich mit großem Interesse lesen, weil diese Monotonie der Zeit ja in den Text direkt mit hineingeflossen ist. Zweiter Punkt zur Frage der internationalen Vernetzung: Es gibt unter Dichtern und Dichterinnen durchaus viele internationale Kontakte. Das hängt damit zusammen, dass es eben immer wieder diese großen internationalen Poetry-Festivals gibt. Das Problem ist allerdings gerade bei der Lyrik, dass man auf die Übersetzung angewiesen ist. Ich kann mich mit den meisten Dichtern und Dichterinnen entweder auf broken English oder broken French verständigen. Um ihre Werke zu lesen, bleibe ich jedoch auf Übersetzungen angewiesen, und es wird einfach immer weniger übersetzt – zumal im Bereich der Dichtung, weil sich Dichtung an sich schon nicht verkauft und übersetzte Dichtung eben noch viel weniger. Es ist frustrierend zu wissen, dass wahrscheinlich in den unterschiedlichsten Ländern unglaublich viel an Dichtung produziert, geschrieben wird, von der wir hier nie etwas erfahren werden, weil es einfach niemanden gibt, der das beispielsweise aus einer afrikanischen Sprache zumindest ins Englische übersetzt. Das ist eben auch der Unterschied zu Musik und bildender Kunst, installativer Kunst, Tanz, Tanztheater et cetera. Wenn ich eben auf die Sprache verwiesen bin, dann bin ich auf Übersetzung angewiesen, und das wird umso prekärer und bedeutsamer, je experimenteller die jeweilige Schreibweise ist. Ingar Solty: Wenn man mal guckt, über was für Klassen und gesellschaftliche Milieus eigentlich geschrieben wird, dann fällt einem auf, dass es in den letzten Jahren und Jahrzehnten natürlich häufig so gewesen ist, dass hier Schriftstellerinnen und Schriftsteller tatsächlich aus dem eigenen Milieu oder dem, in dem sie sich bewegen, schreiben. Wir können also eine starke Tendenz zu sehr semi-autobiografischem Schreiben beobachten. Denkbar ist, dass das auch mit der Dominanz und der Diffusion von poststrukturalistischen Theorieansätzen und Critical Whiteness in den Alltagsverstand zu tun hat, die sagen, dass man nur seine eigene Position vertreten dürfe, weil das Einzelne das Sakrale ist und man ansonsten cultural appropriation betreibe. Nun konnte man gerade jetzt im Kontext der Fluchtbewegungen einige Ausnahmen lesen, die da die andere Perspektive eingenommen haben, wie zum Beispiel Elena Messner mit „In der Transitzone“6 oder Olga Grjasnowa. Allein zwei Drittel der Handlungen bei Grjasnowa spielen sich ja in Syrien ab – beschrieben aus der Perspektive von zwei Figuren, einem syrischstämmigen Chirurgen aus Paris, der jetzt in Syrien festsitzt, und einer Schauspielerin aus Damaskus.7 Und bei aller Kritik, dass das womöglich anmaßend und auch dem Feuilletonbedürfnis nach einem „Flüchtlingskrisenroman“ nachkam, funktioniert die Erzählung, auch wenn man kritisieren muss, dass hier die Revolte vom Arabischen Frühling ahistorisch auf liberale Fragestellungen reduziert wird, was ein unangenehmes Gefühl hinterlässt.. Ein anderer Fluchtroman – Jenny

6  Elena Messner: In der Transitzone. Wien: Edition Atelier 2016. 7  Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern. München: Carl Hanser 2017.

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Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“8 – kommt sogar der von Erasmus beschriebenen Vorgehensweise sehr nahe, der zufolge man die „fremde“ Perspektive vermitteln kann, indem man gemeinsames Handeln darstellt. So lässt Erpenbeck ihre – in ihrer intrinsischen Motivation durchaus glaubwürdige – Hauptfigur eine persönliche Verbindung zu den Geflüchteten aufnehmen. Trotzdem ist die Tendenz zum semiautobiographischen Schreiben meines Erachtens durchschlagend. Das Problem damit ist, dass diese Haltung dazu führt, dass wir in der Literatur eine sehr starke Engführung auf urban-akademische „Mittelklassen“ und Kreative, die von öffentlicher Förderung abhängen, haben. Sehr viele Romane entsprechen dem, was ich mal die „Tragödie des Leistungsträgers“ genannt habe. Protagonisten dieser Gattung sind bürgerlichleistungsorientierte, mit hohem kulturellem und oft auch sozialem Kapital ausgestattete Personen, die aber kaum über ökonomisches Kapital verfügen und dann unter den Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus mit seinen schwindenden Freiräumen – Stichwort Mietenentwicklung, Stichwort Arbeitsmarktprekarisierung – einen Abstieg erleben. Literarisch lässt sich dies ja auch sehr leicht oder sehr gut beschreiben, wie überhaupt die Literatur ja – darauf hat ja Makarenko9 hingewiesen – vor allem Leiden und nicht Glück schildert. Wenn das aber so ist, wer schreibt dann über das, was Klaus Dörre gestern beschrieben hat, darüber, wie die Klassenverhältnisse heute natürlich weiterwirken. Annett, du hast gesagt, dass du keine Literatur mit Klassenbewusstsein haben willst. Aber die Klassen existieren auch, ohne dass sie ein Bewusstsein haben. Zumindest wirken Klassenverhältnisse auf gesellschaftliche Gruppen. Und wer schreibt über die? Nun können wir darauf hoffen, dass aus diesen Verhältnissen selber geschrieben wird. Édouard Louis‘ Bücher wären solche Ereignisse, weil er hier das Leben seines Vaters beschreibt und die Art und Weise, wie die Klassenverhältnisse es ruinierten. Ein solches Buch wird sehr schnell zu einer Sensation, wenn jemand aus Provinzklassenverhältnissen stammt und das Leben mit sehr geringqualifizierten Tätigkeitsbereichen und in relativer Armut beschreibt. Das wird dann zu Recht als authentisch abgefeiert. Aber Louis schreibt über seinen Vater, sein Vater selber und Menschen wie er schreiben über ihr millionenfaches Schicksal nicht. Weil eben nur solche Initiativen wie Erasmus‘ Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, der ja selber wiederum auf den Erfahrungen des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller aufbaute, diesen Menschen aus der Mehrheitsklasse in diesem Land die Möglichkeit geben, das Schreiben zu lernen und als Subalterne zu sprechen. Darüber hinaus aber fehlt m.E. – und deswegen sagte ich, dass wir für ästhetische Inspirationen ins 19. Jahrhundert zurückgehen müssen – ein Austausch mit politisch Aktiven, die sich heutzutage etwa um Transformative Organizing in sozial benachteiligten Stadtteilen bemühen, wie zum Beispiel die Linken in der „Roten Ecke“ in Kassel. Denn diese Verquickung von Schreiben und Handeln hat es historisch ja immer gegeben. Ich will ein Beispiel nennen: „Kämpfende Jugend“ von Walter Schönstedt10 aus dem Jahr 1932. Schönstedt hat seinen Roman als Zweiundzwanzigjähriger geschrieben und schildert darin eindrucksvoll ein Klassenmilieu, das heute in der Literatur nicht einmal existieren würde und in dem er selber aktiv war. Er gehörte zu einer Gruppe von Arbeiterkindern des Kommunistischen Jugendverbands Deutschland, 8  Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. München: Knaus 2015. 9  Anton Semjonowitsch Makarenko (1888-1939), russischer Pädagoge und Schriftsteller. 10  Walter Schönstedt: Kämpfende Jugend. Berlin: Internationaler Arbeiterverlag 1932 (= Der Rote Eine-Mark-Roman, Band 8).

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die damals in ihrer Nachbarschaft in der Nostitzstraße in Kreuzberg versucht haben, das Lumpenproletariat zu organisieren. Dabei schildert Schönstedt ein eindrucksvoll vielschichtiges Milieu, unter anderem auch die Geschlechterverhältnisse, den ganzen Maskulinismus, wie er jetzt bei Édouard Louis auftaucht, und Schönstedt beschreibt eigentlich die Gründe für das Scheitern dieser KJVD-Funktionäre. Also dieses Lumpenproletariat in einer Weise zu organisieren, dass sie nicht nur, wenn die Nazis versuchen, jetzt in die Nostitzstraße oder in Friedrichshain in den roten Osten einzubrechen, dafür sorgen, dass die Nazis da rausgeprügelt werden, sondern sie dauerhaft in Klassenorganisationen zu überführen. Diese Art von Klassenschreiben und dazu diese Einheit von Schreiben und Handeln, Schreiben in und aus der politischen Praxis, fehlt. Denn ohne das müssen wir immer darauf hoffen, dass es irgendeinem Édouard Louis irgendwie gelingt, sich aus seiner Klasse zum Schreiben hochzuarbeiten, und wenn das nicht passiert, wird halt überhaupt nicht darüber geschrieben, was in Marzahn oder in Hellersdorf oder in Mannheim-Nord oder irgendwie in den Ostbezirken von Rostock stattfindet. Und da würde ich auch dem widersprechen, was Raul gestern gesagt hat, als er meinte, es gebe diese Arbeitermilieus nicht mehr, deswegen könne man darüber nicht schreiben. Zum einen gilt: Es gibt sie in unserer Vorstellung nicht mehr, weil wir aus ihnen nichts mehr lesen. Außerdem: Raul hatte Foodora als Beispiel für die Auflösung von Klassenmilieus genannt, aber gerade hier existiert und entsteht ja ein ganz neues Arbeitermilieu und eine ganz neue Arbeiterkultur, wenn etwa die Fahrradfahrer keinen Dienst oder gerade keinen Auftrag haben und dann gemeinsam abhängen. Da ist etwas im Neuentstehen und der Blick müsste eben auch auf das Neuentstehen und Neuformieren von Klassen gerichtet werden. Wie dies aber zu einer ähnlichen Situation historisch passiert ist, könnte man eben sehr stark in der Literatur des 19. Jahrhunderts finden.

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Die neue Klassengesellschaft: Prekarisierung und Fraktalisierung in der Mitte

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Die Bundesrepublik – eine demobilisierte Klassengesellschaft? Klaus Dörre Zunächst möchte ich kurz erläutern, was unter dem Begriff der demobilisierten Klassengesellschaft zu verstehen ist. Obwohl die Bundesrepublik zu einer der ungleichsten Gesellschaften Europas und der OECD-Welt geworden ist,1 sind Gewerkschaften und politische Akteure, die an der Konfliktachse von Kapital und Arbeit agieren, so schwach wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Diese Konstellation kann als Tendenz zu einer demobilisierten Klassengesellschaft bezeichnet werden. Damit ist gemeint, dass die sozialen Kämpfe und Konflikte auf der Klassenachse, die es nach wie vor und gar in steigendem Maße gibt, im politischen Raum und auch innerhalb der politischen Linken kaum auf Resonanz stoßen. Sofern aber intellektuelle Bezugssysteme, Deutungsmuster und politische Optionen fehlen, die mobilisierte Klassen hervorbringen könnten, wirken Klassenverhältnisse im Modus habitualisierter Konkurrenz, infolge einer permanenten Scheidung der Gewinner von den Verlierern sowie mittels kollektiver Auf- und Abwertungen gesellschaftlicher Großgruppen. Exakt dies ist auch in Deutschland der Fall. Die Tendenz zu einer demobilisierten Klassengesellschaft ist, so meine These, zugleich eine der Triebkräfte der konformistischen Revolte von rechts, wie wir sie gegenwärtig erleben. Sie erklärt, weshalb – vor allem männliche – Teile der Arbeiterschaft in überdurchschnittlichem Ausmaß zur radikalen Rechten tendieren. Zur Begründung will ich auf eine empirische Untersuchung eingehen, die eine Replikation der Studie ist, die wir – als ich noch Institutsdirektor des FIAP (Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation) in Recklinghausen an der Ruhr-Universität Bochum war – zwischen 2002 und 2006 gemacht haben.2 Damals hat uns die Frage beschäftigt, ob es einen Zusammenhang zwischen der Prekarisierung der Arbeitswelt und der Entstehung und Verbreitung von *  Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung des frei gehaltenen und transkribierten Vortrags. Der Text wurde um Literaturangaben ergänzt, der Vortragscharakter wurde beibehalten 1  Hartmut Kaelble: Mehr Reichtum, mehr Armut: Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main; New York: Campus 2017, S. 176. 2  Ulrich Brinkmann/Klaus Dörre/Silke Röbenack/Klaus Kraemer/Frederic Speidel: Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2006.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_010

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rechtspopulistischen Orientierungen bei Lohnabhängigen gibt. Wir haben also gewissermaßen die Hypothese Robert Castels, dass hier ein Zusammenhang besteht, überprüft. Ich bin der Auffassung, dass diese starke Fokussierung auf Prekarität für eine bestimmte Zeit sinnvoll war. Der Prekarisierungs-Diskurs hat aber auch dazu geführt – unbeabsichtigt, zumindest von uns, die wir ihn betrieben haben –, dass nur noch ein bestimmter Ausschnitt der Arbeitswelt wirklich intensiv in den Blick genommen wird. Von den Menschen in der Arbeitswelt, die wirklich Gerechtigkeitsprobleme formulieren, werden im Grunde nur noch diejenigen wahrgenommen, die lange Zeit arbeitslos sind oder wirklich dauerhaft in prekären Verhältnissen leben. Das ist aber analytisch eine grobe Verkürzung, die nicht mehr erfassen kann, was gegenwärtig passiert. Vor allen Dingen, das wäre der entscheidende Punkt aus meiner Sicht, ignoriert sie das Gemeinsame und Verbindende in den von Lohnarbeit abhängigen Klassen. Ich sehe durchaus nicht nur Fraktalisierung und Fragmentierung. Es gibt gemeinsame Erfahrungen von Lohnabhängigen über einen längeren Zeitraum hinweg, die auch verbinden könnten, sofern es die Deutungsmuster gäbe, die dieses Verbindende auch auf den Punkt bringen und politisieren würden. Das will ich jetzt als Ausgangsposition nehmen für unsere Studie. Was hat sich eigentlich verändert, seit wir 2001 begonnen haben, über Prekarität und Rechtspopulismus zu forschen? Auf der Grundlage der neuen Studie3, die wir seit zwei Jahren machen und die methodisch ähnlich verfährt wie die Recklinghauser Untersuchung, die also versucht Lohnabhängige in drei Zonen der Arbeitsgesellschaft zu befragen, können wir Aussagen zu den Gesellschaftsbildern von Lohnabhängigen machen. Das Drei-Zonen-Modell von Robert Castel sei hier noch einmal kurz erläutert: Castels Hypothese in „Metamorphosen der sozialen Frage“4 ist, dass sich die kontinentaleuropäischen Arbeitsgesellschaften – er hatte damals Skandinavien noch rausgenommen, das kann man jetzt nicht mehr – in unterschiedlichen Variationen in drei Zonen spalten: Erstens oben in der sozialen Hierarchie die Zone der Integration mit noch relativ gesicherten Arbeits- und 3  Vgl.: Klaus Dörre/Sophie Bose/John Lütten/Jakob Köster: Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte. In: Berliner Journal für Soziologie 28, 2018, 55-90, als freier Download unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs11609018-0352-z.pdf sowie als Online-First-Artikel des BJS unter: https://link.springer.com/article/ 10.1007/s11609-018-0352-z (zuletzt eingesehen am 2.5.2019); siehe auch: Karina Becker/Klaus Dörre/Peter Reif-Spirek: Arbeiterbewegung von rechts? Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte. Frankfurt; New York: Campus 2018. 4  Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK 2000.

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Beschäftigungsverhältnissen, die sich allesamt dadurch auszeichnen, dass sie mit Sozialeigentum verbunden sind. Gemeint ist ein Kollektiv-Eigentum zur Existenzsicherung, repräsentiert durch arbeitsrechtliche Standards, tarifrechtliche Normen, Mitbestimmungs-, Partizipationsmöglichkeiten und so weiter. Zweitens eine Zone der Entkopplung unten in der Hierarchie, in der sich all diejenigen befinden, die keine Chance mehr haben, in reguläre Arbeitsverhältnisse hineinzugelangen. Dazwischen drittens eine Zone der Verwundbarkeit oder Prekarität, in der sich all diejenigen befinden, die dauerhaft auf Jobs angewiesen sind, welche nicht oberhalb der Schwelle eines kulturell definierten Minimums dauerhaft existenzsichernd sind. Personen, die auf solche unbes­ tändigen, schlecht entlohnten Arbeitsverhältnisse angewiesen sind, werden häufig auch bei der Selbstentfaltung in der Arbeit, der Anerkennung für die Arbeit, den Partizipationsmöglichkeiten und den Chancen auf eine eigenbestimmte Lebensplanung dauerhaft diskriminiert. Alle genannten Dimen­ sionen gehen in unsere Arbeitsdefinition von Prekarität ein. Es handelt sich also um ein mehrdimensionales Konzept sozialer Unsicherheit, das sich nicht in absoluter Armut, Verelendung und totaler sozialer Isolation erschöpft und stattdessen eine große Bandbreite an unsteten Verhältnissen abbildet. Genau das ist der zentrale Gedanke Robert Castels; das Prekaritätskonzept verwendet er anstelle des Armutsbegriffs. Wir hatten damals als einen zentralen Befund in unserer qualitativen Untersuchung mit insgesamt 130 Befragten, dass bei fast einem Drittel eine rechtspopulistische Axiomatik im Alltagsbewusstsein festzustellen war, die sich damals noch nicht parteipolitisch ausdrückte. Was ist jetzt neu und warum dieser Begriff demobilisierte Klassengesellschaft? Ich glaube, dass nicht alles, was sich in den Dimensionen soziale Ungleichheit, Ungleichheits-, Unsicherheitserfahrung seit der Jahrtausendschwelle neu entwickelt oder stärker ausgeprägt hat, mit dem Castelschen Zonenmodell thematisiert werden kann. Thematisieren lässt sich der Trend zu einer – wie wir das nennen – prekären Vollerwerbsgesellschaft. Damit ist gemeint, dass wir eine veränderte Situation am Arbeitsmarkt haben – im Osten ist das ganz deutlich. Die Massenarbeitslosigkeit, zumindest die offiziell registrierte, ist enorm zurückgegangen. In einer Stadt wie Jena waren zeitweilig bis zu 60 % der Beschäftigten kurzzeitig erwerbslos, und wir haben jetzt eine Arbeitslosenquote von unter 6 %. Das kann man sich kaum vorstellen, was für einen Wandel das darstellt. Das ist eine enorme Veränderung. Wir haben eine Rekordzahl an Erwerbstätigen in der Bundesrepublik, inzwischen ca. 46 Millionen. Gleichzeitig ist aber das Volumen an bezahlten Erwerbsarbeitsstunden nicht größer, sondern noch geringer als 1991. Und das bei stark polarisierten Arbeitszeiten, also sechzig, siebzig Wochenstunden

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bei den Hochqualifizierten und im Durchschnitt zwölf am unteren Ende der Hierarchie. Was drücken solchen Zahlen aus? Sie belegen, dass Erwerbslosigkeit zum Verschwinden gebracht worden ist durch die Ausdehnung prekärer, schlechtentlohnter, wenig anerkannter Arbeit. Das ist der Trend. Das passt noch rein ins Castelsche Modell. Was wir aber über das Zonenmodell nicht thematisiert haben, ist die enorme Polarisierung bei Vermögen, Einkommen, Arbeitsbedingungen, Mieten, Konsummöglichkeiten und so weiter. Beim Vermögen nur mal eine Zahl: Nach den neuen Zahlen von Thomas Piketty und anderen besitzen in Deutschland vierundvierzig Haushalte so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Vierundvierzig. Wir haben eine Polarisierung beim Einkommen dergestalt, dass wir bis 2013 in den unteren vier Dezilen der Lohnbezieher Reallohnverluste gehabt haben. Reallohnverluste, das heißt, die haben vom größer werdenden Kuchen immer weniger abgekriegt. Wir haben in allen Industriestaaten ein durchschnittliches Absinken der Lohnquoten seit den 1980er Jahren. Die Löhne ziehen ganz leicht an seit 2013, aber sie sind im Durchschnitt weit vom Niveau der 1980er Jahre entfernt. Die Lohnquote bezeichnet den Anteil der Einkommen von abhängig Erwerbstätigen am Bruttoinlandsprodukt. Das Absinken der Quote vollzieht sich in allen OECD-Ländern. Die Bundesrepublik macht da nur insofern eine Ausnahme, als die Löhne für Stammbeschäftige in der Exportwirtschaft einigermaßen stabil geblieben sind. Dafür ist Deutschland das einzige Land in der EU, in welchem die durchschnittlichen Reallöhne über einen längeren Zeitraum (2000-2009) gesunken sind. Das – wie auch die sinkenden Lohnquoten insgesamt – ist Resultat eines Klassenkampfs von Oben. Gleiches sagt übrigens nur mit anderen Worten auch der IWF. Der argumentiert, dass es drei Haupteinflussfaktoren für diese Entwicklung gibt: a) den technologischen Wandel, die Digitalisierung. Das macht lebendige Arbeit austauschbar; b) die Marktmacht der großen Konzerne, zu denen in erster Linie die Finanzindustrie plus die Technologiekonzerne gehören, und c) die Schwäche von Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen. Zusammen führt das dazu, dass erhebliche Teile der von Löhnen abhängigen Klassen immer weniger vom Wohlstandskuchen abbekommen. Diese Verteilungsungerechtigkeit bekommt man mit dem Castelschen Zonenmodell nicht eingefangen. Was man mit dem Zonenmodell ebenfalls nicht richtig erfassen kann, ist, was mit denen passiert, die noch in halbwegs sicherer Beschäftigung sind. In der Linken tendiert man dazu, einen Daimlerarbeiter mit unbefristetem Vertrag und gutem Einkommen als einen privilegierten Menschen zu betrachten. In erster Linie als privilegierten Mann. Die Wirkung von Prekarität besteht nun aber darin, dass jede und jeder Festangestellte seinen unbefristeten

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Vertrag wirklich selbst als Privileg empfindet. Deshalb sind Stammbeschäftigte bereit, dieses vermeintliche Privileg mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Diese disziplinierende Wirkung von Prekarität wird analytisch ausgeblendet, wenn man nur auf die sozialen Abstände zu Erwerbstätigen schaut, die sich der Überausbeutung ausgesetzt sehen. Und was heißt das in der Praxis, dieses vermeintliche Privileg, dass man einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen? Während der Krise sind von uns befragte Arbeiter, nur um die Kurzarbeit zu vermeiden, zum Teil vierhundert Kilometer hin und zurück gependelt, täglich. Die Frauen mussten den Rest übernehmen, obwohl sie zum Teil auch gearbeitet haben, weil die Familien eben den Kredit fürs Häuschen abbezahlen wollten und es sich nicht leisten konnten, auf Geld zu verzichten und auf Kurzarbeit zu gehen. Die Männer hatten in der Regel die besser bezahlten Jobs, deshalb sind sie gependelt. Die Frauen haben sich – in nur scheinbar klassischer Arbeitsteilung – um die Kinder gekümmert.5 Das ist ein extremes Beispiel dafür, was man auf sich nimmt, um die Festanstellung zu erhalten. Auch diese Festanstellung ist nur noch eine auf Bewährung. Es gibt perma­ nente Standortkonkurrenzen. Immer wieder kommt die Unternehmensseite und fordert etwas, zum Beispiel wenn man ein neues Produkt haben will: „Dafür wollen wir als Unternehmen aber auch was von euch haben, ihr müsst auf die Tariferhöhungen verzichten, die tariflichen Lohnerhöhungen, die bezahlte Pause“ oder ähnliches. Bei Unternehmen wie Amazon oder Zalando geht das subtiler. Da liefert der Handscanner permanent Leistungsdaten, die das Unternehmen etwa für Entscheidungen zur Weiterbeschäftigung verwerten kann. Die Unternehmen haben die Bewährungsproben auch bei den Festangestellten auf Dauer gestellt. Die Folge ist ein enormer Leistungs- und Rationalisierungsdruck in den Betrieben. In einem unserer Interviews sagte ein Arbeiter sehr bezeichnend: „Vor zwanzig Jahren haben wir eine bestimmte Summe an Teilen mit zwanzig Leuten hergestellt. Jetzt machen wir das mit dreizehn. Und es reicht immer noch nicht. Es kommt die nächste Rationalisierungswelle.“ Also das System scheint unersättlich. Diese Erfahrungen, die werden aus Beschreibungen der Arbeitswelt, die nur auf die Prekarität gucken, überhaupt nicht wahrgenommen. Also diese Formen von Arbeitsleid, von Druck in der Arbeitswelt, tauchen in der Öffentlichkeit gar nicht auf, sie haben keine Stimme, wenn man so will. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn das ist eine Klassenerfahrung, die man überhaupt nur über die

5  Häufig war das mit der Absicht beider Partner verbunden, in einer anderen Lebenssituation die Rollen zu tauschen.

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Thematisierung einer bestimmten Klassenfraktion von Lohnabhängigen in den Blick bekommt, und das ist keine Prekaritätserfahrung.6 Und jetzt komme ich, eher schlaglichtartig, zu unseren neuen Befunden. Ich schildere kurz, wie wir überhaupt zu der neuen Studie und zu der Idee gekommen sind, das jetzt zu replizieren, was wir da damals in Recklinghausen gemacht haben. Der Auslöser waren Zufallsbefunde im Rahmen einer Untersuchung, die wir in dem Buch „Streikrepublik Deutschland?“7 zusammengefasst haben. Wir hatten eigentlich nach Ansätzen gewerkschaftlicher Erneuerung gesucht und sind dann in Zwickau auf Folgendes gestoßen: Es gab eine neue und größere Bereitschaft gerade von jungen Arbeitern, in die Gewerkschaft einzutreten und sich an Arbeitskämpfen zu beteiligen. Es gab bei denen überraschenderweise nicht mal mehr eine Identifikation mit dem Betrieb und dem Unternehmen, wie wir das in der alten Studie festgestellt hatten, sondern die standen auf dem Standpunkt, „Ich will jetzt mehr Lohn und wenn das Unternehmen da nicht mitmacht, ist völlig egal. Selbst wenn es Pleite macht, ist das egal, dann gehen wir in das nächste seelenlose Arbeitshaus.“ Die jungen Arbeiter hatten nicht mehr die Angst vor Arbeitslosigkeit, wie sie in älteren Kohorten typisch war. Doch die gleichen jungen Arbeiter, die so etwas verkörpern wie ein Ende der Bescheidenheit im Osten – man stellt nicht mehr alle Ansprüche zurück, nur um den Arbeitsplatz zu retten –, haben teilweise auch die Busse organisiert, die sie zur Pegida-Demonstration bringen. Zwickau ist da keine Ausnahme. In Riesa machen Beschäftigte das durchaus in Abgrenzung zu den Unternehmern. Die jungen Unternehmer organisieren ihre Busse, mit denen sie nach Dresden fahren, die Arbeiter und Gewerkschafter, die hinfahren, organisieren andere. Man fährt nicht zusammen. Aber man fährt hin. Das hat uns alarmiert. Das war eine Schockerfahrung, weil die Debatte, die wir mehr als 10 Jahre vorher hatten, eigentlich mit dem Resultat geendet war, es gibt nennenswert rechtspopulistische Orientierungen bei Lohnabhängigen, aber es gibt sie nicht im aktiven Kern der Gewerkschaften. Nicht bei Betriebsräten, aktiven Funktionären, ehrenamtlichen Funktionären. Die sind immun. Das Hauptergebnis unserer neuen Untersuchung (qualitativ, n = 95) ist: Dieser Befund, dieses scheinbar gesicherte Wissen lässt so sich nicht aufrechterhalten. Wir finden rechtspopulistische, man muss eher sagen: völkischnationalistische, radikal-nationalistische Positionen im inneren Kern der 6   Vgl.: Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschek (Hg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg: VSA 2013. 7  Klaus Dörre/Thomas Goes/Stefan Schmalz/Marcel Thiel: Streikrepublik Deutschland? Die Erneuerung der Gewerkschaften in Ost und West. 2. Auflage. Frankfurt / New York: Campus 2017.

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Gewerkschaften, bei aktiven Funktionären und Betriebsräten. Das ist unser Befund. Und wie konnten wir das erforschen? Wir konnten es nur deshalb erforschen – auch, glaube ich, literarisch interessant –, weil es Gewerkschafter an der Basis gab, die wollten, dass wir dieses Problem öffentlich machen. Es gab Geschäftsstellen in der IG Metall, die wollten, dass dieses Problem in der Organisation nach außen öffentlich wird. Deshalb haben sie uns in ihren Organisationsbereich reingelassen. Wir sind so vorgegangen, dass wir Betriebsräte und Gewerkschafter befragt haben, die sich offen zu Pegida und der AfD bekennen. Im Westen nur zur AfD, nicht zu Pegida. Wir haben als Kontrast solche Arbeiter und Gewerkschafter befragt, die sich explizit und subjektiv als Anti-Pegidisten und Anti-AfDler verstehen, also eher Linke. Wir haben Jugendvertreterinnen und Jugendvertreter befragt, und wir haben hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre befragt, die Einblick in das Feld haben. Die wichtigsten Ergebnisse dieser qualitativen Untersuchung lauten sehr knapp zusammengefasst folgendermaßen: Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen Linken und Rechten, die für uns überraschend war. Diese Gemeinsamkeit besteht darin, dass die befragten Arbeiter und Arbeiterinnen ein Bewusstsein haben, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Es entspricht in Grundzügen einem Arbeiterbewusstsein, wie es Popitz/Bahrdt et al. Ende der 1950er Jahre in Westdeutschland ermittelt haben. Ihre Studie ist nach wie vor vorbildlich: „Das Gesellschaftsbild der Arbeiter“8 wurde seinerzeit in einem Betrieb in NRW erforscht, in, heute darf man es sagen, dem Hüttenwerk in Duisburg-Rheinhausen. Es gibt heute im Arbeiterbewusstsein eine klare Oben-Unten-Struktur, allerdings mit Modifikationen. Es handelt sich um eine Dichotomie mit Zusatz, und der Zusatz besteht darin, dass alle Befragten andere Beschäftigte kennen, denen es weitaus schlechter geht. Alle kennen die tschechischen oder polnischen Leiharbeiter und so weiter. Niemand von den befragten Arbeitern und Arbeiterinnen mit Festanstellung würde sich als arm bezeichnen. Niemand von denen würde sich als prekär bezeichnen. Selbst wenn die Löhne nur 1700 brutto sind, also knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn, verorten sich befragte Arbeiterinnen und Arbeiter eher in der sozialen Mitte. Mittlere Mitte möchte man sein. Das entspricht oft nicht der Realität, sondern ist eine Selbstüberhöhung. Man redet die Lage besser, als sie ist. Das ist die zweite Modifikation zu Popitz und Bahrdt. Bei Popitz und Bahrdt mündete die Dichotomie noch insofern in eine Gemeinsamkeit, als man sich keineswegs abgewertet fühlte als Arbeiterin oder Arbeiter. Die Dichotomie 8  Heinrich Popitz/Hans Paul Bahrdt/Ernst August Jüres/Hanno Kesting: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1957.

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war verbunden mit der Vorstellung, dass man nur gemeinsam aufsteigen kann. Das waren Rudimente von Klassenbewusstsein. Eine Vorstellung vom gemeinsamen Aufstieg ist heute überhaupt nicht mehr zu finden, zumindest im industriellen Bereich. Stattdessen ist das Arbeitersein zu etwas geworden, was man als kollektive Abwertung empfindet. Arbeiter oder Arbeiterin wirst du nur, wenn du nichts anderes machen kannst. Wer kann, studiert oder geht ins Büro. Das ist so die Standardantwort. Selbst bei relativ gut verdienenden Facharbeitern. Das ist ausgesprochen interessant. Mit dem Arbeiterstatus verbindet sich nicht mehr Berufsstolz und kollektiver Aufstiegswille. Auch eine 19-jährige Arbeiterin sagt: „Also ich habe jetzt einen festen Arbeitsplatz, einen unbefristeten Arbeitsvertrag, ich verdiene so 1700, sehr viel mehr kann nicht mehr kommen.“ Punkt. Wenn ich das in bildungsbürgerlichen Kreisen vortrage, kommt dann immer der Zwischenruf, die kann doch jetzt zur Schule gehen und sich weiterbilden und so weiter. Das kommt ihr aber nicht in den Sinn, weil in der Schule hat sie immer schon Schwierigkeiten gehabt und sie schätzt sehr realistisch ein, dass ihre Ressourcen nicht reichen würden, da jetzt bildungsmäßig was zu machen. Sie kann allenfalls noch hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionärin werden. Dann verdient sie gut. Das ist sehr richtig kalkuliert. Insgesamt empfinden die befragten Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Status jedoch als gesellschaftlich abgewertet. Das verbindet Rechte und Linke. An welchem Punkt kippt das dichotome Bewusstsein dann nach rechts? Es kippt, wenn dieses Oben-Unten-Bewusstsein nationalisiert wird, und zwar in folgender Weise: Ein befragter Betriebsrat sagt uns etwa: „Meine Frau verdient 1700 Euro, ich habe 1700 Euro, zwei Kinder, wir brauchen zwei Autos, um unsere Arbeitsplätz zu erreichen, wir haben unbefristete Arbeitsverträge.“ Und dann rechnet er vor, nach Abzug aller fixen Kosten bleiben der Familie 1000 Euro. Davon muss noch Essen, Kleidung gekauft werden. Es reicht nicht für Urlaub und reicht nicht mal fürs Wochenende ins Restaurant. Und dann macht er einen Vergleich und sagt: „Ich habe in der Zeitung gelesen, jeder Deutsche verdient so im Durchschnitt 3.300 brutto.“ Und dann kommt der entscheidende Satz: „Bin ich etwa kein Deutscher?“ Das Deutschsein war im Osten in der Wendezeit mit dem Anspruch verbunden, gleichwertig behandelt zu werden mit denen im Westen. Dieser Anspruch auf Gleichwertigkeit verbirgt sich hinter dem Pochen auf das Deutschsein. Und jetzt stellen die Befragten fest – gerade diejenigen, die sich offen zur AfD bekennen – 20 Jahre haben wir uns in der Warteschlange am Berg der Gerechtigkeit hintenangestellt. Wir verdienen immer noch nicht das gleiche wie im Westen. Das sagen auch Ingenieure, die sehr gut verdienen. Also es geht jetzt nicht nur um die Geringverdiener oder so was. 20 Jahre hinten angestellt und für die gleiche Arbeit, die

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ich geleistet habe, kriege ich immer noch nicht so viel wie die im Westen. Und dann kommt sehr viel mehr dazu. Es geht natürlich nie nur um Einkommen und Gehalt. Viele Befragte empfinden sich als doppelt entwertet. Die Tatsache, dass sie nicht gleichbehandelt werden, ist die erste Entwertung. Die zweite Entwertung ist, dass ihnen immer gesagt worden ist, „Für alle und alle reicht es nicht mehr.“ Erst die Schule weg, dann der Konsum weg, danach die Buslinie usw. Eine schrumpfende regionale Gesellschaft mit bröckelnder Infrastruktur, die fehlenden Verkehrsverbindungen und so weiter. Für nichts ist Geld da. Und jetzt kommen die Flüchtlinge. Und plötzlich ist Geld da. Und „die Flüchtlinge“ stellen Ansprüche, obwohl sie noch nie in die Sozialversicherungssysteme eingezahlt haben. Könnte man das Geld, was für die aufgewendet wird, nicht dafür verwenden, dass man die Rentenkassen aufbessert und so weiter? Das ist der typische Mechanismus im Alltagsbewusstsein, der da einsetzt. Es geht also nicht nur einfach um Geld, sondern es geht auch um Anerkennung. Es geht um die doppelte Abwertung: als Arbeiter abgewertet zu sein, als Ossi abgewertet zu sein. Wir haben ähnliche Ausprägungen von Ungerechtigkeitsbewusstsein auch im Westen. Es liegt subjektiv nahe, dass man Abwertungserfahrungen mit Selbstaufwertung mittels Abwertung anderer beantwortet. Das ist der nächste Punkt. Es gibt eine klare Abgrenzung gegen die Unterklasse, gegen eine neue gefährliche Klasse, die als Sicherheitsrisiko wahrgenommen wird. Die Angehörigen von Unterklassen, die an oder unter der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität leben, werden als Sicherheitsrisiko klassifiziert und wahrgenommen. Das machen die von uns befragten Arbeiter auch. Also in der großen Elbestadt erzählen sie uns: „In die P.-Straße kannst du nicht mehr gehen, da werden unsere Frauen belästigt.“ Und dann sagst du ihnen: „Es gibt doch nur wenige Migranten in der Stadt.“ Dann sagen die: „Genau, wir waren erfolgreich. Wir haben die abgewehrt. Und wir wollen das auch nicht haben wie in Offenbach, wo die Ausländer in der Mehrheit sind. Ihr glaubt immer, wir seien Trottel. Aber wir waren in Rio de Janeiro und an vielen anderen Orten in der Welt und haben gesehen, wie es da zugeht auf der Straße.“ Diese neue Unterklasse erscheint als ein migrantisch geprägtes Sicherheitsrisiko. Unterklasse wird geframed mit „muslimischer Herkunft“, „nicht integrierbarem Kulturkreis“ et cetera. Und das ist in der Wahrnehmung eine niedrigere oder doch zumindest nicht integrierbare „Kulturstufe“. Das ist ein Abwertungsmechanismus, der einsetzt. Und jetzt in Kurzfassung, was die überraschendsten Befunde waren. Der erste Punkt ist, dass sich die befragten Arbeiter mit Sympathie für die radikale Reche alle als die eigentlichen Demokraten verstehen. In der alten Studie hatten wir gefunden, dass es Zweifel an der Herrschaftsform der Demokratie gab. Jetzt aber verstehen die rechtsaffinen Arbeiter sich als die eigentlichen Demokraten. Sie wollen

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mehr direkte Demokratie, plädieren für ein Modell wie in der Schweiz. Aber sie verstehen unter Demokratie immer, dass sich „das Volk“, das nicht Demos ist, sondern Ethnos, das Volk der Kulturdeutschen oder doch zumindest der deutschen Staatsbürger, dann schon durchsetzen wird. Etwa mit der Forderung nach harten Strafen für Sexualstraftäter, Todesstrafen und solche Geschichten. Aber im Selbstverständnis sind die rechtsaffinen Befragten die eigentlichen Demokraten. Wenn man sie als undemokratisch und autoritär attackiert, zucken sie nur mit der Schulter. Das kontrastiert aber zweitens mit einem Befund, der im Vergleich zu der alten Studie ebenfalls neu ist und uns geradezu erschüttert hat: Wir haben nicht einen Befragten oder eine Befragte gefunden, die sich offen zu Pegida und der AfD bekennen und sich zugleich klar von Gewalt gegen andere, Schwächere abgrenzen. Etwa von den Ereignissen in Freital und den Attacken gegen Geflüchtete. Niemand war dazu bereit. Kein rechtsaffiner Befragter grenzt sich eindeutig ab. Stattdessen gibt es immer wieder relativierende Formulierungen bis hin zu: „Es ist eine Notstandsituation, die Umvolkung ist in vollem Gange und das ist eine Notwehrsituation, wo wir gar nicht anders können, als im Notfall Gewalt anzuwenden.“ Die Befragten sind Betriebsräte, in der Gewerkschaft organisiert. Der Ausgrenzungswille geht so weit, dass ein stellvertretender Betriebsratsvorsitzender uns gesagt hat, er wäre dafür, Buchenwald wieder aufzumachen, die Flüchtlinge rein und wir draußen. „Nicht verbrennen“, das hat er auch dazu gesagt, also humane Konzentrationslager. Aber bitteschön rein da und schnell wieder weg mit denen, die kein Asyl bekommen. Das war ein stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, der den wichtigsten Arbeitskampf der Geschäftsstelle angeführt hat. Ebenfalls neu und überraschend in dieser Schärfe ist für uns, dass es für diejenigen, die eine klare Bindung an die äußerste Rechte haben, Gesellschaft nicht gibt. Die Befragten kennen System und Volk. Aber nicht Gesellschaft. Und Volk wird verstanden als das Volk der Kulturdeutschen, also als Ethnos. Das System ist das Böse. Das kann alles Mögliche sein. Und zwischen System und Volk ist der Kausalmechanismus die Verschwörungstheorie. Man konstruiert immer irgendwelche dunklen Mächte, die dem deutschen Volk Böses wollen. Und es fehlt eine klare Zurechenbarkeit der Ungerechtigkeiten, die die Befragten ja real erleben. Es gibt kein Deutungsmuster, das Kapital und Lohnarbeit, Ausbeutung und Klassenherrschaft für Ungerechtigkeit und Ungleichheit verantwortlich macht. Es gibt keine Bildungsarbeit, die solche Deutungen stützen könnte. Arbeiterinnen und Arbeiter erleben Interessengegensätze zum Teil im Betrieb, in den Kämpfen, und da bricht auch was auf. Aber ansonsten ist ihr wichtigster Punkt, wichtiger noch als die Verteilungsungerechtigkeit, dass es in der Gesellschaft wieder humaner zugehen soll, dass man untereinander, miteinander anders umgeht, dass nicht alles auf

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Geld umgestellt wird, in die Warenform gepresst wird. Und viele sagen, obwohl sie im Grunde keine DDR-Sozialisation mehr besitzen: „Von unseren Eltern wissen wir, das war mal anders. Wir wollen die DDR nicht zurück, aber dass die Leute da anders miteinander umgegangen sind und nicht alles nur eine Geldgesellschaft und Ellenbogengesellschaft war, das wollen wir zurück haben, das wollen wir wieder haben.“ Und da schiebt sich der völkische Gedanke rein. Gesellschaft wird als nationale Gemeinschaft konstruiert, als ein idealer Zustand, der jedem und jeder einen festen Platz gibt. In dieser idealen Gemeinschaft sind Interessengegensätze unwichtig. Die Auferstehung dieses völkischen Nationalismus hat mich dazu bewogen, wieder für eine neue Klassenpolitik zu plädieren.9 Wir benötigen Deutungsmuster, die diese Vorstellung eines homogenen Volkes – die es ja auch beim Linkspopulismus gibt –, destruieren. Das ist auch der zentrale Punkt, bei dem ich mit Didier Eribon übereinstimme. Es benötigt Deutungsmuster, die die Komplexität von gesellschaftlichen Entwicklungen reduzieren, sie aber nicht im Sinne eines homogenen Volkes vereinfachen, sondern die eine Vorstellung vermitteln eines differenzierten Volkes im Umbruch, mit kulturellem Wandel und Interessengegensätzen, Machtdifferenzen und so weiter. Also die Stützung einer Sicht, die Gesellschaft nicht mit Gemeinschaft verwechselt. Und dazu braucht es Klassenkategorien, die auch im Alltagsdenken wieder verankert werden. Kurzum: Es muss darum gehen, die demobilisierte Klassengesellschaft wieder in eine mobilisierte zu verwandeln. Das ist die Schlussfolgerung, die ich ziehen würde.

9  Klaus Dörre: Demokratische Klassenpolitik – eine Antwort auf den Rechtspopulismus. In: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/Bettina Lösch/Bettina (Hg.): Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa 2018, S. 120-141; Klaus Dörre: Aufstehen für einen neuen Sozialismus. Transformative, nicht konservierende Klassenpolitik ist das Gebot der Stunde. In: Sebastian Friedrich, Redaktion analyse & kritik (Hg.): Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Berlin: Bertz + Fischer 2018, S. 114-120.

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Der Aufstieg der postindustriellen Mittelklasse. Von der nivellierten zur gespaltenen Mitte Cornelia Koppetsch Wir machen jetzt einen kleinen Klassensprung. Wir gehen weg von der Unterschicht und auch von der im engeren Sinne beschäftigungsbezogenen Klassendeutung hin zur Mittelschicht. Ich möchte noch mal an die Frage anknüpfen, die im Panel „Von der alten zur neuen Klassengesellschaft“ (vgl. Kapitel 1) aufgeworfen wurde: Wie können wir Klassenanalyse betreiben oder über Klassen auch literarisch schreiben, wenn wir selbst ein Teil dieser Klassenordnung sind? Ich möchte einladen zur ideologischen und kulturellen Selbstdezentrierung, indem ich sichtbar mache, wie wir, das ist die postindustrielle Mittelklasse, die akademische Mittelschicht, die selbst ein Teil dieser Klassenordnung ist, wie wir dazu beitragen, dass diese Klassengesellschaft sich reproduziert. Welche Schließungsmechanismen spielen dabei eine Rolle und welche Narrative? Nach Klaus Dörre ist das Narrativ des Kapitalismus in der unteren Klasse entwertet worden, also der Kapitalismuskritik-Diskurs spielt bei bestimmten Vertretern der Arbeiterklasse keine Rolle mehr. Ich glaube, dass wir – also die Mitglieder der postindustriellen Mittelklasse – einen Beitrag dazu geleistet haben, dass das so ist. Anknüpfend an die zeitgenössische Literatur, möchte ich erst einmal fragen: Wer ist denn das eigentlich, die postindustrielle Mittelklasse oder die akademische Mittelklasse? Wenn man die Literatur durchschaut, dann sieht man, dass da reichhaltiges Anschauungsmaterial geboten wird. Sehr viele Romane beschäftigen sich ja genau mit diesem Milieu. Zum Beispiel bei Enno Stahl steht ein Juniorprofessor als Protagonist im Mittelpunkt. Bei den einschlägigen Bestsellerautoren, wie Stephan Thome, Dieter Wellershoff, Juli Zeh, Jonathan Franzen, Monika Maron – um nur die Berühmtesten zu nennen, die, glaube ich, auch hier jeder kennt –, da wimmelt es genau von diesen Protagonisten, die entweder selber Schriftsteller sind oder beim Film arbeiten, in der IT-Branche, wissenschaftliche Mitarbeiter sind oder Juristen oder eben auch Ingenieure. Das heißt, wir haben hier also die typischen Berufsfelder der postindustriellen Mittelklasse, und was in den Romanen zumeist beschrieben wird, das sind Menschen mit biografischen Brüchen, die sich, sehr kritisch reflektiert, mit ihrem eigenen Leben auseinandersetzen, *  Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung des frei gehaltenen und transkribierten Vortrags.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_011

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fast schon so eine Co-Verwissenschaftlichung ihres eigenen Lebens vornehmen. Sie haben oft das Lebensgefühl, in einer Castingshow zu sein, also permanent performen zu müssen im Privaten wie auch im Beruflichen. Sie befinden sich in den Mühlen der Aufmerksamkeitsökonomie, wo sie also nicht gute Literatur, sondern gut gebrandete Literatur produzieren müssen, um möglichst die Bestsellerlisten zu erobern, und gleichzeitig sind sie aber immer auf der Suche nach dem wahren Leben, also nach dem Authentischen, der wahren Liebe oder auch der Wahrheit. Und aus diesem existenziellen Dilemma heraus leben diese Stoffe. Sie leben daraus, dass es sich eigentlich um eine Veranstaltung von lauter Zynikern handelt, die aber gleichzeitig irgendwelche existenziellen Wahrheiten aufspüren wollen. Mit Ausnahme von Monika Maron, die ja in ihrem neuesten Roman eine sehr starke politische Analyse des Rechtspopulismus liefert, die aus der Ich-Perspektive heraus eine Dezentrierung der postindustriellen Mittelklasse vornimmt, die ich auch für sehr kreativ halte. Abgesehen davon, dass man sie verdächtigt, auf der rechten Seite Stellung zu nehmen, hat sie es geschafft, diese beiden Diskurse oder diese beiden Narrative sehr gut miteinander zu verknüpfen. Aber jetzt erst mal zu meinen zentralen Thesen. Also wir haben in dieser Literatur sehr viel Milieukolorit, aber selten eine Klassenanalyse. Es ist nicht klar, welche Rolle diese Menschen, mit denen wir als Protagonisten zu tun haben und die wir aber eigentlich selber sind und die auch die Autoren sind, in der Klassengesellschaft im Ganzen spielen. Dazu drei Thesen: Die postindustrielle Mittelschicht ist eine Schlüsselfigur der neuen polarisierenden Klassengesellschaft, die ein bestimmtes Prinzip der Polarisierung zum Ausgangspunkt einer neuen Spaltung macht, nämlich Bildung und Kultur. Es geht gar nicht so sehr um Einkommen dabei, weil wir oft Berufsfelder haben, in denen wir nicht viel verdienen, aber qua Lebensstil und qua kulturellem Kapital und qua akademischer Bildung trotzdem Teil dieser postindustriellen Mittelschicht sind. Das heißt, wir verorten uns dort, wir leben beispielsweise im Dortmunder Kreuzviertel oder sonstwo, in den gentrifizierten Lebensbereichen der großen Städte, also es ist auch ein sehr urbanes Phänomen. Wir leben unser wissenschaftliches Leben, wir haben kreative Hobbies oder kreative Berufe und verorten uns in diesem Milieu. Und das, was uns auszeichnet, sind Bildung und Kultur. Und das ist ein Medium der Polarisierung. Die zweite These ist: Wir haben dem Kapitalismus einen neuen Geist eingehaucht, der dazu geführt hat, dass diese Narrative der Kapitalismuskritik etwas doppelbödig geworden sind. Dieser Geist lebt von zwei Bestimmungsmomenten. Einmal ist auf der Ebene der Wertschöpfungsketten zu verzeichnen, dass tatsächlich die postindustrielle Mittelschicht ins Zentrum eines innovationsgetriebenen Kapitalismus getreten ist, weil Kultur und Bildung

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selbst zu Investitionsgebieten des Kapitalismus geworden sind. Man braucht nur mal Wallerstein1 anzuschauen, den Globalisierungsmarxisten, der gezeigt hat, dass der Vorsprung des Westens oder des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden darin besteht, für eine gewisse Zeit Quasi-Monopole aufrechtzuerhalten und unser Quasi-Monopol liegt im Innovationsvorsprung. Und wer macht die Innovation? Das sind die Ingenieure. Das sind die Kreativen, die in den Werbeagenturen sitzen und Nike-Schuhe ausbrüten. Der Nike-Schuh ist nicht deshalb so teuer, weil er besonders teures Material hat, sondern weil er ein Branding hat, an dem genau die Mitglieder dieser postindustriellen Mittelklasse, die sie hier sitzen, mitgearbeitet haben. Das heißt, wir arbeiten an einer zentralen Stelle einer langen Wertschöpfungskette, die quer durch die Welt verläuft, in der wir sozusagen die Köpfe darstellen. Das ist der neue Geist des Kapitalismus. Und der andere Aspekt des neuen Geistes des Kapitalismus besteht darin, dass wir einen Lebensstil ausgebildet haben, einen flexiblen wissensorientierten, kreativen kulturkosmopolitischen Lebensstil, der wie das Schlüssel-Schloss-Prinzip in die Kultur des neuen Kapitalismus eingreift und das hervorbringt, was jetzt gerade nötig ist, nämlich eine projektorientierte, teamorientierte Wertschöpfung, die nicht durch lange Bürokratien vertikal integrierter Unternehmen läuft, sondern die verschlankt ist, die flexibel produziert, die auf kurzen Kommunikationswegen in einer egalitären Struktur das bestmögliche Ergebnis erzielt. Dafür braucht es aber eine spezifische Form der Lebensführung, die genau wir in diesen urbanen Zentren der postindustriellen Mittelklasse herausgebildet haben. Das ist praktisch der neue Geist des Kapitalismus. Wenn der fordistische Geist der Arbeitnehmer die Arbeitnehmerkultur war, die Kultur der relativ homogenen Mittelklasse einer – heute würde man sagen: kleinbürgerlichen Schicht –, so ist heute der Geist des Kapitalismus kosmopolitisch geworden, weil das die Arbeitsformen sind, die an der Spitze der Unternehmen relevant sind. Und nicht nur an der Spitze, sondern auch im Mittelfeld. Die dritte These lautet: Die postindustrielle Mittelschicht hat, nachdem sie selber die Strickleiter nach oben erklommen hat, sie hinter sich hochgezogen. Das heißt, wir haben eine Klasse vor uns, die eigentlich in der Pionierphase von den Trägergruppen der neuen sozialen Bewegungen, also der 68er und später der 80er, der Friedens-, der Frauenbewegung gebildet wurde, aus diesen Milieus kommt der Geist der postindustriellen Klasse. Das sind die Milieus, die oft selber Bildungsaufsteiger waren, die aus Provinzen kamen und in diesen Provinzen von diesen Bewegungen erfasst worden sind, eine zweite Heimat in den Großstädten gefunden haben und so in den Universitäten, die damals noch 1  Immanuel Wallerstein (*1930), US-amerikanischer Soziologe und Sozialhistoriker.

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keine verschulten, modularisierten, BA- und MA-Kurse, sondern kulturelle Schmelztiegel waren, in denen sich die Milieus praktisch gemischt haben. Die Aufsteiger haben sich mit den bildungsbürgerlichen Milieus gemischt, und die Universitäten waren eine komplexe Drehscheibe, haben eine gesamte Kultur vermittelt und nicht nur einen Bildungsweg, eine Drehscheibe zum Milieuwechsel in die kosmopolitische Mittelklasse, die damals sozial bewegt und stark politisiert war. Wir haben also die Strickleiter benutzt. Wir sind in dieses Milieu gekommen, wir wohnen jetzt in Kreuzberg, in München-Schwabing oder im Kreuzviertel von Dortmund – jetzt mal als die Hotspots dieser Milieus – und was tun wir? Wir ziehen diese Strickleiter hoch und machen eine Art von klassenständischer Schließung gegenüber den Unteren. Auch wenn wir das vielleicht gar nicht so richtig wollen und eigentlich auch gar nicht realisieren. Und wie machen wir das? Wir machen das, indem wir versuchen, unseren Kindern die besten Bildungschancen mitzugeben. Wir machen das, indem wir unsere Kinder insularisieren. Wenn Sie sich erinnern: In unserer Kindheit war es so, wir gingen auf die Straße, wir wurden zum Spielen auf die Straße geschickt. Und da waren dann Lehrerkinder, da waren ganz einfache Arbeiter, da war alles auf dieser Straße. Und wenn es dann Abendessen gab, dann trat die Mutter ans Fenster und rief uns zurück ins Haus. Was ist heute? Heute geht die Mutter und fährt mit dem Zweitwagen das Kind zur Schule, holt es wieder ab, bringt das Kind hinterher ins Ballett oder zum Sportunterricht und das alles immer im Auto. Das heißt, das Kind kann bis zum Alter von 10 auf keinen Fall U-Bahn fahren, weil es dort entweder gekidnappt werden oder unter die Räder kommen könnte. Also schließt man das Kind von Anfang an sozial ab und es in das eigene Milieu ein. Das ist nur ein Indikator einer komplexen Folge sozialer Schließungen, die oft zum Beispiel damit anfangen, dass man versucht, seine Kinder auf solche Schulen zu schicken, die möglichst nicht so viele Migranten haben oder eben auf besondere humanistische Gymnasien, auf Privatschulen et cetera. Das wären die drei Thesen in Kurzform. Ich beginne jetzt nochmal bei der ersten These: ‚Was macht eigentlich die postindustrielle Mittelklasse zur Schlüsselfigur unserer neuen Klassengesellschaft?‘. Da lohnt sich ein kurzer Vergleich mit dem fordistischen Teil, also der Industriemoderne, die ich bis 1980, also 89 eigentlich genauer, datieren würde, also bis zum Fall der Mauer, wo auch eine Klassengesellschaft bestand, aber diese Klassengesellschaft war eine Klassengesellschaft im kollektiven Aufstieg. Der bekannte Soziologe Ulrich Beck hat das mal mit dem Fahrstuhl verglichen. Das Bild ist überall haften geblieben. Wir hatten eine Klassengesellschaft mit Oben, Unten und Mitte und diese Klassengesellschaft ist bei gleichbleibenden Abständen kollektiv eine Etage höher gefahren, sodass, was früher Arbeiterschaft war, im Zuge der Verbürgerlichung oder der Verkleinbürgerlichung

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aufstieg – man hat sich oft lustig darüber gemacht, über die Gartenzwerge, über das Gelsenkirchener Barock, das waren so spezielle Wohnzimmermöbel, die man hatte in bestimmten Milieus. Tatsache war, dass die Arbeiter diese bürgerlichen Lebensformen angenommen haben und selber mittels des Wirtschaftswunders, mittels des Bausparvertrages, mittels des Mercedes in die Mittelschicht aufgestiegen sind und ihren Kindern dann auch andere Bildungschancen bieten konnten. Und es gab – es existieren Zahlen dazu – in den 80er Jahren wirklich auch eine Phase, wo Universitäten sich geöffnet haben, einmal natürlich gegenüber Frauen, die die zentralen Gewinnerinnen der Bildungsexpansion waren in den 1980er, 1990er Jahren, Anfang von den 70ern, wo dann auch die Ruhruniversitäten entstanden auf der grünen Wiese. Aber auch die Arbeiter sind verstärkt auf die Universitäten gekommen. Und diese Mobilitätsfenster, die haben sich heute wieder geschlossen. Das ist der eine Punkt. Die Industriemoderne war eine Klassengesellschaft im Aufwind, und sie war praktisch kleinbürgerlich geprägt. Das konnte man auch an ihren Spitzen sehen. Wenn wir zum Beispiel auf der Seite der DDR schauen, nehmen wir jemanden wie Erich Honecker oder bei uns Helmut Kohl, da würde man sich heute wundern, wenn solche Kanzlerfiguren auf der Bühne der Politik erscheinen würden. Das sind Menschen, die heute nicht mehr in dieser Art auftauchen würden. Sie hatten einen kleinbürgerlichen Habitus. Dazu haben sie auch gestanden und es war eine Epoche, in der das das Juste Milieu war. Die wirkliche Kultur, von den Aldi-Brüdern angefangen bis hin zu den Politikereliten, war kleinbürgerlich geprägt. Genau diese Kultur ist heute abgelöst worden durch einen kosmopolitischen Mainstream, und dieser Mainstream hat eine komplett andere Fassade, die liberal ist, die kulturkosmopolitisch ist und die eine stärkere Weltoffenheit propagiert. Ob sie wirklich weltoffen ist, sei dahingestellt. Das war der Wechsel. Und was haben wir heute für eine Klassengesellschaft? Seit 1989 sind nicht nur die Ungleichheiten größer geworden, nicht nur ist der Abstand zwischen den Eliten und den prekären Schichten immens gewachsen – und die klassensoziologischen Studien von Branko Milanovic2 und Thomas Piketty3 singen ein Lied davon, wie groß dieser Abstand geworden ist. Klaus Dörre hat ebenfalls darauf hingewiesen, wie die Vermögensverteilung und die Einkommenssituation sich jeweils polarisiert hat. Aber es gibt eine Spaltungslinie, die in der Literatur, aber auch in der Soziologie bislang noch nicht hinreichend untersucht worden ist. Das ist die Spaltung der Mittelschicht selber, nämlich die 2  Branko Milanovic (*1953), US-amerikanischer Ökonom serbischen Ursprungs. 3  Thomas Piketty: Le Capital au XXIe siècle. Paris: Le Seuil 2013.

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Spaltung in einen kosmopolitischen Teil, der zunehmend sich verbürgerlicht im Sinne eines hochbürgerlichen Habitus, einer Bürgerlichkeit, wie sie früher das Bildungsbürgertum ausmachte, und einer unteren Mittelschicht, die mehr oder weniger versucht, ihren Status zu halten oder sich verzweifelt nach oben zu orientieren und den Mittelschichtstatus der kosmopolitischen Eliten anzunehmen, und einer defensiven Mittelschichtsfraktion, die um ihr soziales Überleben kämpft, und versucht, sich irgendwie noch in der Mitte zu halten, aber möglicherweise dann eben genau das Klientel ist, was dann von rechts mobilisiert werden kann, weil dieses Milieu aufsteigende Außenseiter an sich vorbeiziehen sieht als Bedrohungspotential. Das heißt, sie versuchen vor allen Dingen, die aufholenden Außenseiter davon abzuhalten, noch weiter aufzuschließen und das können unter Umständen die Migranten sein, die beispielsweise vielleicht für weniger Löhne mehr arbeiten und intelligenter sind. Das sei nur dahinter gestellt. Also, wir haben eine polarisierte Klassengesellschaft. Und diese Polarisierung geschieht nicht nur auf der Ebene des Einkommens, sondern auch auf der Ebene der Kultur und der Bildung. Eine Polarisierung deshalb, weil sich Personen mit erhöhten Bildungschancen in einer Art Wettlaufsystem befinden, einem Überbietungswettbewerb um Güter des gehobenen Bildungsstatus. Mittlerweile finden viele Menschen, nicht nur in der oberen Mittelschicht, dass es nicht mehr reicht, sich dem öffentlichen Bildungssystem anzuvertrauen, sondern dass es ein bisschen individueller zugehen soll. Unter dem Vorwand der individuellen Förderung des Kindes wird also die Notwendigkeit eines Privatschulbesuches angezeigt, weil man nicht mehr sicher ist, ob das öffentliche Schulwesen den Nachwuchs so fördert, wie man sich das tatsächlich vorstellt. Was als individuelle Bildungsentscheidung daherkommt, ist in Wirklichkeit eine besonders ausgeprägte Form der sozialen Schließung, weil der Effekt, den Privatschulen haben, ja nicht ist, dass sie besseren Unterricht machen, sondern dass sie bestimmte Leute draußen halten. Es ist ein sozialer Schließungseffekt und der soziale Schließungseffekt hat den Vorteil für diejenigen, die in dieser Schule sind, eine bestimmte Form des Sozialkapitals zu stiften. Des symbolischen Kapitals, natürlich auch des Prestiges, das die Schule vermittelt und einer exklusiven Kultur von Elternverflechtungen, die sich gegenseitig – so habe ich das selber auf diversen Partys erlebt –, dann die Aufträge zuschiebt als Juristen, Anwälte oder was auch immer. Man begegnet in der Elternschaft dieser Schulen Gleichgesinnte und kann mit denen praktisch gemeinsame Beutezüge machen. Kleine Clubs bilden sich da heraus. Und schließlich finden wir einen weiteren Hinweis auf ständische Polarisierungstendenzen in den allbeklagten Gentrifizierungsprozessen, die durch die Verteuerung der Mieten noch weiter vorangetrieben sind. Wir haben eine Klasse

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von Leuten, die können sich die Wohnungen überall leisten und die gehen in die Akademikerviertel, in die attraktiven Viertel, wo dann irgendwann mal die Investoren kommen als letzte Phase der Gentrifizierung und das alles totstellen, weil sie dann an Leute verkaufen, die eigentlich gar nicht mehr drin wohnen. Aber zunächst haben wir die Akademikerviertel, die attraktiv sind, und dagegen fallen die Problemviertel, die so genannten sozialen Brennpunkte, ab, wo man als Mittelschichtsangehöriger nicht mehr wohnen möchte und möglichst schnell wieder wegzieht, falls einen das Schicksal dahin verschlagen hat. Das war seinerzeit bei uns in Berlin-Neukölln der Fall. In Dortmund ist es die Nordstadt, wo ganz klar eine Segregation nach Klassen stattfindet. Wenn man Klassengesellschaften beobachten will, dann tut man das am besten, indem man durch die verschiedenen Stadtteile geht und da sieht man auch, wer mit wem wohnt. Das ist eine ganz klare Anzeige für eine ständische Schließung und für ein Beteiligungsmotiv. Wenn wir über Klassengesellschaft reden, dann müssen wir gucken, wie wir selber Klassen herstellen, wie wir also selber über Inflationierung von Bildungswettbewerben über Gentrifizierung, über die Sensualisierung unserer Kinder und über die Wahl der Schule an dieser Klassengesellschaft partizipieren. Ich komme noch mal zu der zweiten These, weil es mir sinnvoll scheint, auf die Frage der Komplizenschaft der postindustriellen Mittelklasse mit dem Kapital einzugehen. Denn ich glaube, das ist ein wesentlicher Grund, warum unsere Kapitalismuskritik so unglaubwürdig geworden ist und warum es eine neue Opposition gibt, also eine Fundamentalopposition, die sich nicht mehr an unsere feine Unterscheidung zwischen Linksliberalismus und Neoliberalismus hält, sondern eine Opposition gegen beide Liberalismen vornimmt, nämlich Linksliberalismus und Neoliberalismus in eins setzt und sagt, wir wollen alles das nicht mehr. Wir wollen kein Multikulti mehr, wir wollen keine Umweltprobleme mehr hier haben, wir wollen aber auch keine Globalisierung mehr, wir wollen kein Europa und wir wollen kein Gender mehr. Das heißt, dieser Diskurs der Rechtspopulisten richtet sich gegen beide Narrative und meines Erachtens ist wichtig, den eigenen Anteil bei dieser Geschichte zu verstehen, indem man sich die normative Komplizenschaft der linksliberalen Szene, also der Linken, mit der Kultur des neuen Kapitalismus bewusst macht und zeigt, warum die Verwandtschaft zwischen diesen beiden Liberalismustypen größer ist, als man das bisher glaubt. Wir sind ja gewohnt zu unterscheiden: Es gibt einen bösen Liberalismus, das ist der Neoliberalismus, der macht alles kaputt und macht alles zu Märkten. Und dann gibt es uns, die guten Liberalen. Wir sind tolerant und weltoffen. Wir sind kosmopolitisch, wir wollen, dass die Flüchtlinge kommen und wir wollen die Migranten integrieren.

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Und daran machen wir das dann fest. Was wir aber nicht sehen ist, wie stark wir in diesen Kapitalismus bereits verstrickt sind. Wie sehr wir, wenn wir zum Beispiel als Literaten oder Soziologen – da setze ich uns mal gleich – Aufmerksamkeit wollen, in die Aufmerksamkeitsökonomie dieser Kulturindustrie einsteigen müssen. Wir wissen, wenn wir gehört werden wollen, werden wir nicht gehört, weil wir eine gute Botschaft haben, sondern wir werden gehört, weil wir die Botschaft so verpacken, dass sie in den Bestsellerlisten dieser Kulturindustrien eine Chance hat. Und nur dann werden wir überhaupt gelesen. Das heißt, um überhaupt über die Schwelle zu kommen, müssen wir Komplizen eines kulturellen Kapitalismus werden, wo Kultur und Kapital nicht mehr weit auseinanderliegen. Wir sind praktisch selber ein Medium geworden, ein Investitionsgebiet, in das das Kapital investiert, um sich eine Wertschöpfungskette zu erarbeiten. Deswegen stehen wir auch nicht mehr außen, außerhalb des Systems. Wir stehen nicht mehr da und können das beobachten und sagen, den blöden Neoliberalismus, der aus allem Märkte macht, den wollen wir nicht, sondern wir sind selber Teil eines umfassenden Marktes geworden, in den wir uns verstrickt haben, weil das unsere eigene Existenzbedingung ist. Dazu noch zwei Bemerkungen, warum die strukturelle Angleichung stattgefunden hat oder woran man das sieht: Man kann das zum einen sehen an einem Terminus, der von Andreas Reckwitz kommt, nämlich „Hyperkultur“. Hyperkultur ist eine Form des Kulturrelativismus, der Kultur nicht mehr als Wahrheit denkt oder als einen normativen Bezugskontext, in den man sich einordnet, wie zum Beispiel die Kritische Theorie von Adorno, sondern man hat praktisch eine Relativität aller kulturellen Werte, weil man ja nicht mehr sagen kann, was wahr ist. Weil man ja nicht mehr sagen kann, was schön ist oder was wertvoll ist, ist alles erst mal gleich und alles verdient es, angeeignet zu werden und zur Ressource der eigenen biografischen Arbeit an der Identität zu werden. Fremde Kulturen sind dabei genauso als gleichwertig zu betrachten wie fremde, ferne Zeiten, Vulgär- oder Populärkultur ist genauso wichtig wie Hochkultur. Das alles wird praktisch nivelliert. Es gibt diese Unterscheidung nicht mehr zwischen Hochkultur und Trivialkultur oder sonst Populärkultur. Wir haben alles auf eine Ebene gestellt und sagen, wir können uns aus diesem Kanon pluralistisch bedienen und uns alles aneignen. Der kleine Problempunkt – und da kommen wir dann auch zum Thema postfaktisches Zeitalter – ist, wenn man sagt, alles ist relativ, sind auch Wahrheiten relativ. Wir können nicht mehr sagen, das ist jetzt die Wahrheit und das andere ist falsch. Dann sind wir recht schnell bei dem, was man auf eine bestimmte Weise postfaktisch nennen kann, denn wer entscheidet darüber, was sich durchsetzt in der Kultur oder in der Wahrheit? Wer ist die Instanz, die bestimmt, welche kulturellen Güter, welche Normen und welche Wahrheiten

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am Ende das Rennen machen? Es ist der Markt. Das heißt, was auf dem Aufmerksamkeitsmarkt rezipiert wird, geht am Ende als die Literatur der Epoche in die Geschichte ein. Also Jonathan Franzen, weil er eben eine Millionenauflage hat und in den Bahnhofsbuchhandlungen liegt. Der hat sich durchgesetzt. Er ist „marktfähiger“ Autor. Der zweite Grund, warum wir nicht einfach außerhalb dieses Kapitalismus stehen, sondern Teil dieser kapitalistischen Veranstaltung sind, die wir Neoliberalismus nennen, das ist die strukturelle Angleichung und Vermischung von privaten und beruflichen Netzwerken, Projekten und Mustern der Lebensführung. Der Essayist David Brooks hat das in seinem Bestseller „Bobos in Paradise“4 mal so gesagt: Das größte Prestige bekommen die Menschen, die einerseits extrem kreativ und innovativ sind und gleichzeitig das meiste Geld damit verdienen. Wir haben innerhalb unserer Lebensführung oftmals aufgegeben, zwischen beruflichen und privaten Netzwerken zu unterscheiden. Alles, was wir privat tun, kann irgendwann auch mal nützlich sein für berufliche Dinge und umgekehrt. Wir haben berufliche Beziehungen, die irgendwann mal in unser privates Netzwerk Eingang finden. Was aber eben bedeutet, dass ich, wenn ich beispielsweise besonders ehrgeizig bin, natürlich auch meine privaten Beziehungen in einen geschäftlichen Bereich hinein gebe und sie damit zum Teil dieser kapitalistischen Verhältnisse mache. Ich selber instrumentalisiere meine privaten Beziehungen als Sozialkapital, wie das ja heute heißt. Also sie werden Teil meiner Netzwerke, aus denen ich symbolischen, ökonomischen oder kulturellen Profit schlage, so dass wir eine Ökonomisierung, eine durchgängige Ökonomisierung aller Lebensbereiche haben. Der Soziologe Ulrich Bröckling bezeichnete das mal mit dem Stichwort „das unternehmerische Selbst“5, wir haben gelernt, unsere ganze Persönlichkeit als Ressource der Rationalisierung unseres Lebens und der kapitalistischen Wertschöpfung zu betrachten. So kann man also nicht mehr sagen, dass wir, die Linken, außerhalb dieses Kapitalismus stehen, und das mag ein Grund dafür sein, warum das Narrativ der Kapitalismuskritik unglaubwürdig geworden ist.

4  David Brooks: Bobos in Paradise: The New Upper Class and How They Got There. New York: Simon & Schuster 2000 (dtsch.: Die Bobos. Der Lebensstil der neuen Elite. Berlin: Ullstein 2001. 5  Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst – Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007.

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Diskussion Enno Stahl: Zum Einstieg in die Diskussion gleich einmal eine Frage an Cornelia Koppetsch: Ihre kulturalistisch geprägte Klassentheorie, die sich eher über Habitusverhalten und Codes herstellt, finde ich absolut schlüssig. Aus Sicht der Literatur würde ich diese kosmopolitische Formation, die Sie da festmachen und die es mit Sicherheit gibt, doch ein bisschen kritisieren. Und zwar, weil Sie die ökonomische Basis gar nicht mehr berücksichtigen, sondern eigentlich rein von der Ebene der Zeichen ausgehen. Hier könnte ich zum Beispiel Anke Stellings Roman „Bodentiefe Fenster“ anführen, mit dem Bionade-Biedermeier, das er behandelt. Da sehen wir eigentlich genau eine solche kosmopolitisch gebildete Schicht, die vollkommen funktioniert in diesen Codes, die aber ökonomisch extrem prekär ist. Und da gibt es meines Erachtens ein gewisses Problem in der soziologischen Zuspitzung dieser Klassenstruktur, wenn man den wirtschaftlichen Aspekt weglässt. Ich glaube, dass es da große Grauzonen gibt, tatsächlich auch so eine Fahrstuhl-Potenzialität zwischen den Schichten, weil viele dieser Leute, die Sie genannt haben, in dem kreativ-projektorientierten Bereich sehr unsicher sind. Cornelia Koppetsch: Das ist ein wichtiger, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich glaube auch, dass sich diese Klasse über den kulturellen Status schließt und über das Bildungssystem und dass auch die prekären Beschäftigten innerhalb dieses Milieus Teil dieser Klasse sind, auch wenn sie ökonomisch nicht in dem gleichen Maße an den verschiedenen Formen des, sagen wir mal, kapitalorientierten Lebensstils, was ja auch mit Konsumform einhergeht, partizipieren. Das heißt, diese Polarisierung findet statt auf der Ebene von Kultur. Die Rolle, die Kultur und Lebensstil in dieser Klasse spielen, bezieht sich auch auf das Lebensgefühl derjenigen, die an dem kapitalintensiven Teil des Lifestyles nicht partizipieren können, aber wohl in der Kultur bleiben. Also die das Lebensgefühl und den Lifestyle reproduzieren und auch gegen die Regeln normalerweise nicht verstoßen. Das ist meines Erachtens auch der große Unterschied. Wir haben es aus meiner Sicht beim Rechtspopulismus mit einem neuen Klassenkampf zu tun insofern, als die prekäre Mittelschicht in der Regel dabei bleibt, die Spielregeln zu bedienen. Sie steigen ja nicht aus, sondern sie bleiben brav im neoliberalen Spiel der Aufmerksamkeitsökonomie, indem sie versuchen, einen kleinen Teil des Kuchens abzukriegen. Oder in der Universität genauso. Die Privatdozenten. Wir wissen seit 100 Jahren, dass Privatdozenten prekär sind. Dass Mitarbeiter keine Stellen bekommen, dass es da einen Flaschenhals gibt, dass es nur einem ganz kleinen Prozentsatz überhaupt gelingt, eine Professur zu bekommen. Was schließen wir daraus? Nichts. Alle reden darüber. Es wird darüber gesprochen. Es wird darüber geschrieben. Gibt es eine einzige Bewegung, die versucht, das System zu verändern oder das System zu stürmen? Nein. Hat sich nicht durchgesetzt. Aber warum nicht? Weil die Leute nicht wirklich mitmachen. Es gibt keine Solidarisierung über die verschiedenen Gruppierungen innerhalb des wissenschaftlichen Mittelbaus hinweg. Das könnte man sehr gut machen. Man könnte sehr gut in den Streik gehen beispielsweise. Es wird nicht getan. Stefanie Hürtgen: Nur ein kurzer Einwurf: Es gibt schon gerade jetzt aktuell einige Initiativen in Frankfurt, Berlin und so weiter und trotzdem finde ich die Analyse, zu sagen, dass man selbst Teil dieser Verstrickungen ist, absolut richtig. Und ich würde

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_012

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das jetzt nur nicht umdrehen und sagen – also ich glaube, es ist eine Frage der Verallgemeinerung, des Verallgemeinerungsprozesses. Viele linke Akademiker, Literaten vermutlich auch, gucken auf die andere Klasse als Subjekt der Veränderung und diese Perspektive sollten wir jetzt nicht umdrehen, sondern Veränderung entsteht nur durch jeweilige Verallgemeinerung von beiden Seiten. Das wäre mein Aspekt. Denn aus den Verstrickungen können wir ja nicht einfach so per Beschluss heraus, weil wir brauchen ein Einkommen, wir brauchen eine Stelle und so weiter. Stimme aus dem Publikum (Iuditha Balint): Es gibt tatsächlich, was die problematische Lage des akademischen Mittelbaus betrifft, zwei Initiativen. Einmal die Initiative Mittelbau, die deutschlandweit agiert und dann natürlich die Initiative der jungen Akademie innerhalb der Berliner Akademie der Wissenschaften, die zwei recht ähnlichen Ansätzen folgen. Vielen Dank auch noch mal für die Vorträge. Und was jetzt die literarische Behandlung oder Reflexion der Spaltung der Mittelschicht betrifft, da gibt es unfassbar viele Werke, die seit 2000 erschienen sind. Da ist Ulrich Peltzers „Teil der Lösung“, da ist Rögglas „Wir schlafen nicht“, da ist Zelters „Schule der Arbeitslosen“, da ist Raul Zeliks „Berliner Verhältnisse“. Und das allein im deutschsprachigen Bereich. Und ich könnte, glaube ich, noch zwei Stunden so weiter machen mit der Aufzählung der Werke. Also insofern müsste man das, glaube ich, ein wenig differenzierter betrachten und schauen, wie die Spaltung der Mittelschicht in diesen Werken behandelt wird und mit welchen Ästhetiken sie arbeiten. Wie prominent diese Spaltung der Mittelschicht in diesen Werken ist. Geht es hauptsächlich darum oder kommt diese Spaltung als ein Unterthema in den Romanen vor? David Salomon: Meine Frage betrifft noch mal diesen Erklärungsversuch der Unglaubwürdigkeit der Kapitalismuskritik durch die eigene Verstricktheit. Da frage ich mich schon, ist denn dieses Phänomen wirklich so neu? Es gab ja in der Soziologie eine lange Debatte darüber, ob die Intelligenz so etwas ist wie eine eigene Klasse? Sind die Intellektuellen irgendwie freischwebend über den Klassen? Wie verhält sich das intellektuelle Milieu zu den Klassen? Das ist eine alte Diskussion. Ich glaube auch, dass sich in manchen Sektoren wirklich stark etwas verändert hat, gerade an der Universität, wo es ja tatsächlich einen Formwandel der ganzen Institution gab, also durch die Drittmittelgeschichten und so weiter. Aber gerade in den freischaffenden Feldern, im Journalismus und in der Literatur, gab es doch immer das Problem mit der Aufmerksamkeitsökonomie, das Sie beschreiben. Nur mit dem Unterschied, dass es eine Zeit gab, in der beispielsweise ein Blättchen wie die „Weltbühne“ Autoren ernähren konnte und sich getragen hat, in der es eine Öffentlichkeit und einen Resonanzraum gab, in dem so ein Projekt auf einem kapitalistischen Markt wirtschaftlich erfolgreich sein konnte. Das ist offensichtlich gegenwärtig nicht mehr der Fall. Aber das Problem mit der Aufmerksamkeitsökonomie überhaupt, die Zugehörigkeit zu einem Markt, das Sichbehauptenmüssen in einem kapitalistischen Öffentlichkeitsumfeld, scheint mir kein so neues Phänomen. Cornelia Koppetsch: Ja, es ist nicht neu, das ist richtig. Aber es hat sich radikalisiert und es hat sich vor allen Dingen dadurch radikalisiert, dass fast alle öffentlichen Kulturbetriebe sich kapitalisiert haben, das heißt, wir haben nicht mehr die Trennung – das gilt auch für andere – zwischen, so wie das früher war, Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum. Das Bildungsbürgertum besteht aus Staatsdienern, das gibt es zwar noch bei den Professoren, aber wir haben überwiegend im kulturschaffenden Bereich

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eine unglaubliche Privatisierungswelle, die eine Radikalisierung des Marktprinzips nach sich gezogen hat und hinzukommt, dass wir auch in den öffentlichen Behörden, also in fast allen Verwaltungseinheiten, die noch im engeren Sinne staatlich sind wie die Universitäten, eine McKinseysierung, also einen Einzug von Unternehmensberatern, Akkreditierungsbehörden und sonstigen Instanzen erleben, gut, die nicht alle marktförmige Kontrollen machen, aber die praktisch die Rhetorik des Marktes bis in die kleinsten Ritzen der Bologna-Reform hineingespült haben, so dass wir also – ob wir wollen oder nicht – gezwungen werden, eine bestimmte Sprechweise zu adaptieren, die unglaublich neoliberal ist und die auch mit dem Geist der Universität, wie wir das vielleicht noch in den 70er, 80er Jahren kannten, nicht mehr viel zu tun hat. Ingar Solty: Zur Frage des Bildes, dass die Fahrstuhlgesellschaft sozialer Aufwärtsmobilität übergegangen ist in das, was man mit Oliver Nachtwey die Rolltreppe-abwärtsGesellschaft nennen könnte, also eine, in der Menschen nicht real absteigen, aber enorme Anstrengungen unternehmen müssen, um nicht abzusteigen.1 Also eine Gesellschaft, in der das Leben von großen Teilen der Bevölkerung von der Angst gekennzeichnet ist, die Klaus Dörre beschrieben hat, der Angst, dass es – denken wir an das Kurzarbeiterbeispiel – ganz schnell nach ganz unten gehen kann, wenn man bestimmte Immobilienkredite nicht mehr bedienen kann und so weiter. Die Rolle der Kultur oder sozusagen der akademischen Mittelklassen spaltet sich ja doch sehr stark in den Teil, der teilhaben kann an dem exportorientierten Wachstumsmodell in Deutschland, an der transnationalen Wertschöpfung. Und in denjenigen Teil, für den die Leiter schon weggetreten ist einfach mit der Privatisierung von Sozialstaatsfunktionen und dem Abbau natürlich auch gerade im Bildungsbereich, im Kulturbereich, der Prekarisierung in diesen Bereichen. Wenn man jetzt rein von der Einkommens- und VermögensVerhältnisfrage ausgeht und fragt: Zu welcher Klasse gehören denn eigentlich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die teilweise im niedrigen Bereich vierstellige Summen verdienen, selbst wenn sie die größten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum abgegriffen haben, wo stehen sie dann eigentlich auf der Klassenleiter? Ich möchte einen sozial-räumlichen Gedanken einbringen: Du hast, Cornelia, in Deinem Vortrag über Privatschulen, soziale Segregation, Klassenapartheid gesprochen. Diesbezüglich würde ich bezweifeln, dass Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Deutschland, die unglaublich wenig verdienen, überhaupt daran teilhaben können. Und natürlich gibt es eine Verschiebung des fordistischen, gerade westdeutschen Wohlstandes dadurch, dass sie sich in bestimmten Räumen halten können, wenn man beispielsweise eine Erbschaft gemacht hat und dann noch eine Immobilie irgendwie sich leisten konnte in Hamburg oder in Köln oder Berlin oder anderswo. Ansonsten werden wir jedoch eine Entwicklung erleben – und tun es ja jetzt schon –, dass eine Art von Verdrängung der kreativen und nicht in der transnationalen Wertschöpfung behafteten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler ganz allgemein passieren wird – und es tut es ja längst schon. Und das wird interessant, ob sozusagen die erlernte, an den Unis verinnerlichte, kosmopolitische Orientierung, die liberale, humanitäre Orientierung sich mit diesem Verdrängungsprozess eventuell auch bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern umkehrt, die zum Beispiel gezwungen sind, sich in ihre Elternhäuser, die sie erben, die viel zu groß sind, zurückzuziehen und dann in Kamen oder im Hochsauerlandkreis leben, wo die Infrastruktur zerfallen 1  Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp 2016.

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ist. Das finde ich eine interessante Frage, weil auch dabei vielleicht eine interessante Literatur entsteht, die sich aus diesen Verdrängungserfahrungen entwickelt. Cornelia Koppetsch: Das ist tatsächlich eine interessante Frage, die nicht untersucht ist, das wäre ein wichtiges Forschungsgebiet. Ich möchte dazu nur ein paar Beobachtungen machen. Ich habe sehr viel Freunde, die in den Kulturindustrien in prekärster Weise beschäftigt sind, aber keiner von denen hat seine soziale Lage verlassen, und zwar auch diejenigen nicht, die Kinder haben. Das Ganze funktioniert so: Papa hat Wohnung in Prenzlauer Berg für Kind, für Tochter, gekauft. Diese Wohnung ist so teuer und so groß, dass sie die Zimmer noch mal bei Airbnb untervermieten kann. Das ist dann ihr eigentliches Einkommen. Und ansonsten arbeitet sie als Texterin und ein Kind geht auf die Privatschule, das wird von Papa bezahlt und so weiter und so fort. Also ich will das jetzt nicht ausführen, aber es gibt eine Quersubventionierung aus der Mittelschicht. Und wenn die Eltern nicht einspringen, dann springen die Freunde ein. Das heißt, diejenigen, die dann beispielsweise eben ein Professorengehalt beziehen, die sind so eine Art Leihanstalt geworden für alle anderen. Es werden dann permanent Transfers gemacht, um seine Freunde zu schützen und zu stützen. Das nur zum Thema Klassenapartheid. Thomas Wagner: Als ich mir anhörte, was Cornelia Koppetsch erzählte, hatte ich in meinem Bewusstsein zwei Linien, die parallel liefen. Die eine sagte, „hört sich plausibel an, hört sich plausibel an, hört sich plausibel an, habe ich auch schon mal so gelesen, scheint zu stimmen“. Und die andere sagte permanent „nein, nein, nein, nein“. Warum benutzt die Frau immer die erste Person Plural und bezieht mich ein in diese Erzählung? Warum spricht sie schon nach zwei, drei Sätzen davon, „wir als Mitglieder der postindustriellen Mittelklasse“, obwohl Frau Koppetsch überhaupt gar nicht weiß, wie meine soziale Lage aussieht. Und das hat sich durch den gesamten Vortrag gezogen, dass gesprochen wurde von einem „Wir“. Und dann hatte ich also als dritte Linie mitlaufen: Ist es nicht so ein ähnliches Phänomen wie das, was Klaus Dörre beschrieb, als er von den sehr schlecht bezahlten Arbeiterinnen und Arbeitern sprach, die sich selbst als mittlere Mittelklasse sahen? Was mir gefehlt hat, war zumindest eins: eine Definition oder eine Erklärung, was kennzeichnet Mitglieder einer postindustriellen Mittelklasse? Also scharf abgrenzbare Kriterien, damit ich für mich selber entscheiden kann: Soll ich jetzt lauthals protestieren und sagen, „ich gehöre dazu oder nicht dazu“? Die Möglichkeit hatte ich gar nicht. Und in der Diskussion wird diese Schwammigkeit der Begrifflichkeit weitergetragen, indem man stillschweigend voraussetzt, dass alle hier im Raum zu irgendwelchen akademischen oder sonstigen Milieus gehören. Man spricht von „man“ und so weiter. Und mein Ansatz, um mit diesem Problem umzugehen, wäre, das doch mal für sich selber durchzuspielen. Wie ist meine eigene Klassenlage eigentlich? Und nicht immer Texte heranzuziehen, wo irgendwelche Klassenlagen einfach nur beschrieben werden, und das nach außen zu projizieren, sondern zu überlegen: Wie ist meine Einkommenssituation? Wie sind meine kulturellen Vorlieben? In was für Netzwerken bewege ich mich, habe ich mich bewegt? Gibt es in meiner eigenen Biografie ein Aufstiegs- oder Abstiegsszenario? Und all das könnte man ja auch als Sozialwissenschaftlerin machen und übrigens auch auf diesem Weg zu einer literarischen Aufarbeitung der eigenen Klassenlage kommen. Also ich hoffe, ich habe jetzt mein Unwohlsein ein bisschen produktiv gemacht. Ich hatte tatsächlich dieses „Ja, ja, ja“, „Nein, nein, nein“-Ding die ganze Zeit durchlaufen.

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Klaus Dörre: Ich kann direkt da anknüpfen. Ich spitze es mal zu: Ich denke, dass wir mit diesem „Mythos Mitte“ aufräumen müssen, weil es sonst dazu führt, dass bestimmte Repräsentanten bestimmter Klassenfraktionen sich dauernd um den eigenen Bauchnabel bewegen. Und das mache ich jetzt noch mal an meinem Thema fest. Also erstens habe ich überhaupt nicht über Klassenfragmentierung gesprochen, sondern ich habe am Anfang darüber gesprochen, was das Verbindende ist. Die dramatische Vermögensungleichheit, die der Finanzmarktkapitalismus produziert, ist eine, die alle Lohnabhängigen betrifft. Das ist eine Gemeinsamkeit, die aber als eine solche nicht kommuniziert wird. Zweitens habe ich nicht über Unterschicht gesprochen. Definitiv nicht. Ich würde behaupten, dass man die Klassenstruktur entwickelter Kapitalismen neu analysieren muss. Das, was ich nicht als Unterschicht, sondern als Unterklasse bezeichnen würde, darüber habe ich nicht geredet. Das sind große Menschengruppen, die sich an oder unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität bewegen, die bei uns durch Hartz IV konstituiert wird. Da verfestigen sich Klassenlagen. Es gibt einige Millionen Menschen, die niemals aus dem Leistungsbezug rausgekommen sind. Es gibt eine ethnische Unterschichtung, die illegalen Immigranten und so weiter. Die leben in der Position der Outcasts, also die, die Franz Josef Degenhardt mit seinen „Schmuddelkindern“ in einer anderen Klassenkonstellation besungen hat. Lohnabhängigen-Klassen muss man differenzieren, die muss man im Plural definieren. Es gibt Lohnabhängigen-Klassen, die im Wesentlichen kontrollierte, fremdbestimmte Arbeit verrichten, aber sozusagen nicht prekär sind. Über die habe ich im Wesentlichen gesprochen. Und es gibt auch eine inzwischen akademisch gebildete Lohnabhängigen-Klasse. Also der Ingenieur bei Jenoptik, der ebenfalls Gründe hat für die AfD zu stimmen, obwohl er gleichzeitig Greenpeace-Mitglied ist, den würde ich nicht in erster Linie als Mittelklasse verifizieren. Das ist viel zu schwammig und zu unbestimmt. Man muss ihn über seine Profession, über sein Berufsverständnis, seine präzise Klassenposition analysieren. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gab es eine Diskussion um die so genannten cadres2 in Frankreich, Serge Mallet, Alain Touraine3 und andere. Dahinter steckte die Idee, dass diese akademisch qualifizierten Arbeitskräfte die neue Arbeiterklasse werden, die besonders militant sein würde und so weiter. Letzteres hat sich nicht bewahrheitet. Aber was nach wie vor drinsteckt in diesen alten Klassenanalysen, ist, dass man sehr viel genauer hinschauen und die Profession, das Alltagsleben, die Lebensstile, die Distinktionsverhältnisse, in denen sie sich bewegen, mit einbeziehen muss und dann nimmt man sie als eine Lohnabhängigen-Klasse wahr und nicht einfach als „Mitte“. Bezogen auf die Arbeiter, über die ich gesprochen habe, würde ich behaupten, dass die niemals Mitte gewesen sind. Die haben bei den Konsumformen und so weiter ein bisschen angeschlossen an die eigentlichen Mittelklassen, die am ökonomischen Pol die traditionellen kleinen Warenproduzenten sind und am akademischen Pol, also diejenigen, die auf die Reproduktion von Bildungskapital angewiesen sind. Aber die Arbeiter selbst haben nie dazu gehört. Leute wie ich haben aufsteigen können. Ich konnte Professor werden wegen der Bildungsexpansion. Das geht heute kaum noch. Weil die sozialen Schließungsprozesse wieder eingesetzt 2  Damit bezeichnet man eine Gruppe hochqualifizierter Angestellter in Frankreich. 3  Alain Touraine und Serge Mallet sind französische Soziologen. Zur Diskussion vgl.: Serge Mallet, La nouvelle classe ouvrière. Paris: Editions du Seuil 1964 sowie: Alain Touraine: Une nouvelle classe ouvriére. In: Sociologie du Travaille, Bd. 6 (1964), S. 80-84.

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haben. Aber dass sie „Mitte“ gewesen wären, das trifft nicht mal für den Eisenbahner wie meinen Vater zu mit lebenslanger Beschäftigung. Die haben sich nicht als „Mitte“ verstanden. Die waren im Oben-Unten-Schema in ihrem Selbstverständnis immer unten. Und also ich meine, da könnte man jetzt im Ruhrgebiet Vieles erzählen. Also ich glaube, dass wir da präziser argumentieren müssen. Und das ist meine letzte Bemerkung, die geht jetzt in Richtung Literatur: Ich habe Romane gelesen, ich nenne jetzt mal den Autor nicht, der hat uns sogar nach Jena eine E-Mail geschrieben, dass er jetzt einen tollen Roman geschrieben hat, wo er Rosas Beschleunigungsgesellschaft4 und so weiter alles verwertet. Ein ziemlich langweiliges Buch, ehrlich gesagt. So was möchte man als Soziologe gar nicht lesen. Aber das größte Problem ist, wenn Literaten anfangen, soziologisch-konstruierte Figuren als die eigentliche Realität zu nehmen und sie dann sozusagen in der Literatur weiter zu transportieren. Nehmen wir doch mal „Das unternehmerische Selbst“, das der Kollege Bröckling5 wirklich kunstvoll beschrieben hat. Sobald man empirisch auf die Reise geht, es zu finden, und liest die empirischen Studien dazu, dann muss man fast eine Vermisstenanzeige aufgeben. Bröckling macht es ja ohnehin nicht empirisch, aber wenn man den „ArbeitskraftUnternehmer“ nimmt: Also in unseren empirischen Studien haben wir niemanden gefunden, der – im Selbstverständnis sowieso nicht, aber auch sozusagen in den Ausprägungen, in den Interessenausprägungen – diesem Leitbild entsprechen würde. Ich glaube, dass Literatur schlecht beraten wäre, bei diesen Konstruktionen hängen zu bleiben, sondern Literatur müsste eigentlich – das ist ja das Tolle an Eribon – viel genauer und lebendiger als Soziologen dieses können, beschreiben, was wirklich ist. Und nicht einfach nur Konstruktion. Stimme aus dem Publikum [Ursula Müller6]: Ich hatte auch ein Unwohlgefühl bei dem „Wir“ aus den nachvollziehbaren Gründen, die genannt wurden. Aber was ich noch speziell Sie, Frau Koppetsch fragen möchte: Wo ist denn in diesen ganzen Bewegungen, die Sie schildern, die Widersprüchlichkeit und der Ansatz für Widerständigkeit? Ich habe es so empfunden, als ob Sie die 68er-Bewegung und die Frauenbewegung als Modernisierungshelfer des Neoliberalismus kennzeichnen. Und damit werden die ja entwertet. Gut, das kann man machen, man kann auch sagen, das ist gerade der schreckliche Zynismus der Geschichte. Man meint es so gut und dann kommt so etwas dabei raus. Aber das ist doch für eine sozialwissenschaftliche Analyse eigentlich nicht genug: Ihre eigene Kritik und Ihre Positionierung als Sozialwissenschaftlerin, die zur Kritik- und Reflexionsfähigkeit fähig ist, müsste doch in diesem theoretischen Ansatz auch einen Platz finden, eine Art von Selbstverortung. Weil wir sonst notwendigerweise alle nur als Erfüllungsgehilfen dieses bösen Kapitalismus erscheinen, selbst wenn wir das gar nicht wollen: Wir reflektieren offenbar nicht darüber, unsere Bildung dient uns nur als Ausschlusskriterium nach unten, aber nicht als Ansatzpunkt, diese Gesellschaft zu analysieren und zu kritisieren und auf darüber hinausgehende Möglichkeiten der Entwicklung zu verweisen. Ich schätze Ihre Befunde hoch – dass wir uns da 4  Hartmut Rosa: deutscher Soziologe, veröffentlichte 2005: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 5  Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. 6  Ursula Müller ( *1949), von 1988 bis 2012 Professorin für sozialwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Bielefeld.

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nicht missverstehen –, aber ich hatte den Eindruck, dass Sie, um Ihre These besonders deutlich zu machen, widersprüchliche Elemente ausklammern und die Beiträge, die geliefert wurden als Beispiele für widerständige Bewegungen in der Uni oder anderswo damit beantwortet haben, „ja, das hat sich aber nicht durchgesetzt“. Das ist für mich die Glättung einer gesellschaftlichen Perspektive, in der Menschen etwas tun, teils unter freigewählten Umständen, teils aber nicht. Das ist ja auch schon bei Marx im Bild des Lohnarbeiters enthalten. Er reproduziert auch den Kapitalismus und nicht der Kapitalist alleine. Sie erscheinen als Komplizen. Aber die Frage, wieso sind wir alle hier in der Lage darüber zu reflektieren, wieso engagieren wir uns in bestimmten Bewegungen und unterstützen Initiativen und dergleichen – wieso sind diese Gegenbewegungen und die Versuche, sich zusammenzuschließen – es gibt ja auch Versuche der neuen Kollektivbildung –wieso sind die bisher nicht thematisiert? Cornelia Koppetsch: Die habe ich nicht thematisiert, weil das nicht mein Thema ist. Aber das heißt ja nicht, dass es sie nicht gibt. Es gibt politische Selbstverortungen. Aber die Frage, die heute Morgen im Panel aufgeworfen wurde – und an das habe ich angeschlossen –, war ja: Warum haben wir so wenig Möglichkeiten, wirklich etwas zu verändern und was kann Literatur dazu beitragen, damit sich etwas ändert? Wir sind uns ja einig über bestimmte Missstände und wir sind uns auch einig darüber, was eine gute Gesellschaft ist. Es geht nicht darum zu vergessen, dass wir einen Widerstand bilden wollen, wir dürfen aber eben auch nicht vergessen, dass wir ein Teil dieses Systems sind. Und dass es an diesen Verstrickungen möglicherweise scheitert, dass wir uns tatsächlich erfolgreich gegen bestimmte Praktiken wehren können, die wir durchaus sehen. Stimme aus dem Publikum [Ursula Müller]: Das „Wir“ wieder. Das ist in gewisser Weise eine Soziologie der Entmutigung. Cornelia Koppetsch: Wieso Entmutigung? Stimme aus dem Publikum [Stefan Kroll]: Ich finde es schon sehr wichtig, anzusprechen, in welchem Ausmaß man selbst eingebunden ist in die herrschenden Verhältnisse, weil, wenn ich mal die Geschichte der 68er Bewegung nehme, dann ist das für mich in großen Zügen eine Geschichte der Korrumpierung. Da brauche ich jetzt nicht nur Fischer7 zu nennen. Da gibt es eine ganze Menge Leute, die heute in Positionen sitzen, in denen man das früher nicht für möglich gehalten hätte. Woher kommt das? Gut, das brauche ich nicht weiter zu erläutern. Ich hätte jetzt noch mal eine konkrete Frage an Herrn Dörre: Ich war neulich auf den Linken Buchtagen in Berlin. Da gibt es eine Gruppe, die macht aktivistische Arbeit gegen den technologischen Angriff, das heißt, eine Art Digitalisierungskritik von unten. Und in dem Vortrag wurde erwähnt, dass heute die Industrie 4.0-Offensive gestartet hat. Ich würde die jetzt als Offensive auf die Arbeitsgesellschaft bezeichnen, weil sie erheblichen Druck entfaltet, auf alle Menschen, die natürlich in den nächsten Jahren Angst um ihren Job haben müssen, wo man ja zwei Seiten sehen kann. Da kann man zum Beispiel fragen: Stimmt es wirklich, dass soundso viele Leute arbeitslos werden oder ist es in allererster Linie erst mal eine Einschüchterungsmaßnahme, um weitere Flexibilisierungsforderungen 7  Gemeint ist der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer.

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durchzusetzen? Dort, in diesem Vortrag, wurde jedenfalls erklärt, dass die Arbeitsund Industriesoziologie, die heute die Themen der Digitalisierung untersucht, mit Geld geradezu überschüttet werde, weil es darum geht, dieses Projekt zu legitimieren in einem Sinne, der es gesellschaftlich verträglich macht. Und da wollte ich Sie, Herr Dörre, mal fragen, Sie sind ja selber auch teilweise aktiv in dem Bereich, wie Sie das sehen? Klaus Dörre: Das mit dem Geld überschüttet werden, stimmt tendenziell. Es ist nicht so wie bei den Technik- und Ingenieurswissenschaften, aber man hat keine Schwierigkeiten, Projekte zu generieren, insbesondere dann, wenn sie sich mit der Umsetzung beschäftigen. Wie ich mich selber dazu verorte, also ich schreibe gerade an einem kleinen Büchlein zusammen mit Florian Butollo8 für den Wagenbach-Verlag, das heißt „Die digitale Restauration“. Und das besagt einfach im Kern, dass unabhängig von den Beschäftigungsprognosen, die Digitalisierung Etappe 2 – sie hat ja schon in den 1980er Jahren angefangen – ein Projekt ist, das zur Revitalisierung des Kapitalismus genutzt werden soll, das aber ganz neue Kontroll- und Ausbeutungsformen hervorbringt. Um es sehr kurz zu sagen: Die digitale Ökonomie wird beherrscht von wenigen oligopolistischen Konzernen. Sie können ihr Geschäftsmodell deshalb platzieren, weil sie mit Geld überschüttet werden. Also das überschüssige Finanzkapital geht zu diesen Firmen, Cisco war lange Zeit die wertmäßig wertvollste Firma der Welt, obwohl sie nie Gewinne gemacht hat, weil die Erwartungen der Gewinne von übermorgen dort eine Rolle bei der Finanzierung spielen. Diese Finanzierung ermöglicht es diesen Konzernen, digitale Dienstleistungen kostenlos anzubieten, die wir alle nutzen. Und refinanziert wird das über die Aufmerksamkeitsarbeit, die in der Werbung steckt, mit der wir dauernd penetriert werden. Das ist aber nur eine Säule. Die andere Säule ist: In diesem Falle sind wir es wirklich alle, die wir dazu beitragen, diese Ökonomie zu stabilisieren, weil wir alle, indem wir Google benutzen, Informationen liefern, indem wir Facebook nutzen, wenn wir es denn nutzen, Informationen liefern, die dann – eigentlich Allmende – jetzt wieder eingehegt, privatisiert, in meinem Jargon: landgenommen und für Gewinnzwecke veräußert werden, etwa mit dem Effekt, dass private Nutzer mit diesen Informationen in den US-Wahlkampf intervenieren können und im Grunde demokratische Öffentlichkeit zerstören. Das wäre zugespitzt das Modell, was ich da sehe. Es wird in Zukunft so kommen mit der Ausweitung von Technologie, die auf künstlicher Intelligenz basiert, dass die Internetkonzerne uns die Rechnung präsentieren werden. Es wird diese digitalen Dienstleistungen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr kostenlos geben und wir sind derart von ihnen abhängig, dass wir dann bezahlen müssen. Das wird eine ganz andere Art der sozialen Spaltung geben. Und was daraus für mich folgt, kann ich ganz einfach sagen: Das ist die Aktualität von Karl Marx im digitalen Zeitalter, die Losung von 68 war „Enteignet Springer“, im Moment – und das macht die Größe der Aufgabe deutlich – geht’s um: „Enteignet Zuckerberg“. Stimme aus dem Publikum [Heinz Czernohous]: Ich glaube, ein großer Vorteil der Rechten besteht darin, dass sie die klareren Feindbilder hat. Seit der Wende sind ungefähr mindestens 200 Menschen umgebracht worden auf offener Straße, wo man sagen müsste, das sind rechtsradikale Straftaten. Flüchtlingsheime, die brennen, und 8  Florian Butollo, deutscher Soziologe.

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viele, viele andere Dinge, die wir kennen. Auch wenn jemand, der zur rechten Idee neigt, nicht unbedingt hingehen würde, jemanden umbringen oder tätlich angreifen würde, so hat er doch ein Feindbild, von dem er sich einreden könnte: „Wenn ich den mal erwischen würde, dem würde ich’s geigen“. Das Problem der Linken besteht darin, dass sie von System spricht, von Märkten spricht und sagt: „Ja, die Wahrheit, die Zusammenhänge sind komplizierter als man sich als Laie vorstellt.“ Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass den Linken auch die konkreten Gegner abhandengekommen sind. Da, wo Teile der Linken noch so etwas wie Staatsgewalt vor sich sehen, die man als Gegner vielleicht begreifen könnte, gibt es neue Polizeigesetze, die schon das bloße Armwegziehen auf der Straße als Angriff auf Polizeibeamte wertet. Also sozusagen die repressive Seite in diesem Verhältnis der Gegnerschaft, die marschiert voran, während die Linke immer weniger sagen kann: „Ja wenn ich dann mal irgendwie zum Zuge kommen könnte.“ Wer denn, wo denn, wie denn? Also im Grunde genommen wird die Gegnerschaft immer abstrakter, immer diffuser, sagen wir mal die Verstrickung in Verhältnisse, die immer prekärer, immer erbärmlicher, immer unüberschaubarer werden, schreitet voran. Vielleicht die Frage, wie könnte man angesichts dieses Dilemmas wieder in die Offensive kommen? Stefanie Hürtgen: Ein bisschen kann ich daran anschließen, denn ich würde schon jetzt noch mal eine Lanze dafür brechen wollen, dass über eine Offensive Ansätze dazu entstehen müssen, dass eine Selbstbefreiung stattfindet. Ich bin sonst immer sehr vorsichtig mit diesem „Wir“-Begriff, aber an dieser Stelle finde ich die Analyse schon sinnvoll und überzeugend. Und zwar nicht, weil wir alle eins sind und deshalb in so eine Abstraktion hineinpassen, aber das ist mit keiner Abstraktion der Fall. Das ist auch nicht der Fall, wenn wir von der Arbeiterklasse sprechen oder von den rechten Einstellungen und so weiter, sondern die Frage ist, auf welche Weise ist aus einer glaubwürdigen kapitalismuskritischen Positionierung eine Unglaubwürdigkeit entstanden? Diese Frage erscheint mir extrem wichtig. Auf welche Weise sind kulturelle und wissenschaftliche Produzentinnen von Texten und Begriffen verstrickt und involviert in die gesamte Gesellschaft und ihre Verwerfung im Neoliberalismus. Ein „Wir“ entsteht aus meiner Sicht schon – als Abstraktion natürlich –, wenn wir uns die gesellschaftliche Arbeitsteilung anschauen. In welcher Weise sind wir als Intellektuelle – mehr oder weniger erfolgreich oder nicht – dabei, Begriffe, Verständnisse, Reflexionsweisen über die Praxis von anderen in die so genannte demokratische Öffentlichkeit einzuspeisen und sie darüber wichtig zu machen? Also meinen Studierenden sage ich immer, Wissenschaft ist immanent politisch, weil sie mit Begriffen operiert, weil es ein Unterschied ist, ob wir beispielsweise von Klasse, von der Unterschicht, von den Ausgeschlossenen und so weiter sprechen, und in welcher Weise wir darüber sprechen. Ich nehme ein Beispiel, weil das auch in unseren Studien sehr wichtig war: der Begriff ‚Privileg‘, der auch von Klaus angesprochen wurde. Bereits 1995 in dem vielleicht von einigen noch wahrgenommenen oder in Erinnerung befindlichen großen Arbeitskampf in Frankreich, der sich damals, noch relativ erfolgreich, gegen ganz ähnliche „Reformen“ richtete, wie sie jetzt offensichtlich Macron durchdrückt, gab es einen Streit zwischen zwei Soziologen. Auf der einen Seite Alain Touraine9 und auf der anderen Seite Pierre Bourdieu. Alain Touraine hat die Position vertreten: Das sind die Beamten des Staates, das sind die Eisenbahner, die ihre Privilegien verteidigen wollen, deswegen können wir diesen 9  Französischer Soziologe, s. Anm. 100.

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Streik nicht unterstützen. Und Bourdieu hat die Position vertreten, die Beamten stehen hier an der vordersten Front des Streiks (das waren ja nicht die einzigen), weil sie noch fähig sind zu streiken. Aber sie verkörpern und thematisieren, sie artikulieren gesamtgesellschaftliche Prozesse, das ist keine Privilegiensache. Der Begriff hier also nur als ein Beispiel, um zu zeigen, wie politisch Wissenschaft ist und in welcher Weise es aus meiner Sicht gerechtfertigt ist, von einem „Wir“ kritisch zu sprechen, weil ich denke, dass uns vereint, in erfolgreicher oder nicht-erfolgreicher Weise in diese Öffentlichkeit hineinwirken zu wollen. Ganz im Unterschied zu Beschäftigten, die an der Kasse stehen, die am Band stehen, die in den Callcentern arbeiten und so weiter, die diese Position nicht haben. Die Verdrängung der sozialen Frage – so nenne ich das jetzt mal –, die ja auch auf so einer Sinnstruktur aufbauen kann – es gibt ja aktuelle Forschungen auch im Institut für Sozialforschung, wo die eigene Prekarität eines bildungsbürgerlichen, akademischen Milieus geradezu als neue hippe Lebensweise in einer gewissen Weise zelebriert wird – immer mit Bezug auf diesen Status, auf diesen Sinn, den man in dem, was man eben tut, findet, diese Verdrängung mündet aus meiner Sicht in eine Art Verleugnung der sozialen Frage, der eigenen Materialität der Existenzweise gegenüber sich selbst. Das sagt diese Studie am Institut für Sozialforschung gerade: Es wird immer wieder ausgeblendet, dass man eigentlich gerade noch das nächste halbe Jahr über die Runden kommt. Der Witz dabei ist aber, dass dieses Ausblenden der Materialität unserer Existenzweise und der sozialen Frage dann auch auf die anderen, auf die andere Klasse mit übertragen wurde. Ich nehme noch mal ein Beispiel aus Ostdeutschland, aus Fürstenberg, wo eine Bäckerin jetzt auf 400 Euro-Basis arbeitet, vorher hat sie eine niedrig entlohnte Vollzeitstelle gehabt. Dann ist sie entlassen worden und wieder neu eingestellt worden auf 400 Euro-Basis. Jetzt wird ein Flüchtlingsheim gebaut und die kulturell engagierten Bürger der Stadt sammeln für Fahrräder für die Migrant*innen, weil das ein bisschen außerhalb ist. Und sie sagt: „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber wer sammelt für mich für ein Fahrrad?“ Weil sie sich eben kein Fahrrad mehr leisten kann. Und das ist eine Realität, die in der Wissenschaft so gut wie keine Rolle spielt, aufgrund der Strukturen, was für Töpfe fördern unsere Forschungsprojekte – mit Ausnahmen natürlich, wichtigen Ausnahmen. In dieser Wissens- und Begriffsproduktion geht also die soziale Frage abhanden und abhanden gehen insbesondere die realen Konkurrenzbeziehungen in der Arbeiter*innenklasse, so zu sprechen. Das Lächeln vieler Akademiker über den Jobverlust, das wird abgetan, oder über den Verdrängungseffekt durch Migrant*innen, das wird abgetan in einer Weise, dass man einfach merkt, sie haben keine Ahnung von der Arbeitswelt. Anfang der 1990er Jahre war das noch stückweise ein Thema, als, typisch in Berlin, der Potsdamer Platz zu – ich weiß nicht – 60 % von damals osteuropäischen Migrant*innen unter saumiserablen Arbeitsbedingungen hochgezogen wurde. Da ist es ein bisschen in die Debatte gekommen. Dass natürliche reale Konkurrenzverhältnisse bestehen, dass real Hilfskräfte in der Deutschen Bahn, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Betrieben eingestellt werden, um sozusagen leichte Tätigkeiten zu übernehmen und so weiter, das ist nicht immer nur einfach: „Er ersetzt mich unmittelbar“, sondern die Sorge besteht, dass die eigene Lebensperspektive durcheinander gebracht wird durch Migration, und zwar übrigens nicht erst seit der so genannten neuen Migrationswelle. Das ist ein langes Thema seit spätestens Anfang der 1990er. Das ist eine reale Ressourcenkonkurrenz, und um die müssen wir uns auch irgendwie kümmern, davor können wir uns nicht drücken, wenn wir solidarisch sein wollen.

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Norbert Niemann: Im Gegensatz zu dir, Thomas, empfand ich das „Wir“ nicht als Problem, auch nicht als diffamierend, sondern als eigentlich eine Aufforderung zur Selbstreflektion. Die Geste der Selbstreflektion ist natürlich jetzt aus unseren Diskursen relativ weit hinausgedrängt. Und das vielleicht als Anknüpfungspunkt zu David Salomon. Das ist jetzt lange her, aber es ist mir wichtig gewesen, nämlich die Frage, inwiefern die Aufmerksamkeitsökonomie sich bloß fortgesetzt, sich bloß ein bisschen zugespitzt oder radikalisiert hat. Nach meiner Beobachtung ist sie qualitativ vollkommen umgebaut worden in den letzten zwanzig Jahren. Von den Strukturen her ist das ein völlig anderes Verhältnis als damals in der alten Bundesrepublik, das du heute zur Öffentlichkeit hast, wenn du irgendwie reinkommen willst in die Aufmerksamkeit. Die normativen Prüfkriterien für das, was publiziert wird, was überhaupt in den Verkauf kommt, sind einfach ökonomischer geworden und das wirkt sich darauf aus, wie der Buchhandel heute aussieht, völlig anders als früher, ebenso wie die Verlage auch völlig anders funktionieren. McKinsey ist nicht nur an den Unis, sondern natürlich auch in den Verlagen bis hin zu den Produzenten, nämlich uns, die wir Entscheidungen treffen müssen, wo wir hingehören, indem wir das bedienen oder nicht. Das ist tatsächlich nicht nur eine Selbsterfahrung im Sinne einer Selbstbefragung, sondern tatsächlich auch schon eine politische Entscheidung. Die Ästhetik wird zu einer politischen Entscheidung in dem Augenblick, wo sie ökonomistisch definiert ist. Anke Stelling: Ich war auch sehr froh über den Vortrag von Cornelia Koppetsch, weil ich da zum ersten Mal das Gefühl hatte, ich komme vor, also dieses „Wir“ schließt mich ein, und dann ist auch ein bisschen egal, ob eben ohne Geld, wie es bei mir der Fall ist, oder dann doch noch oben im Flaschenhals, und ich musste wieder an das denken, was Raul Zelik gestern gesagt hat, dass die Leute ein Klassenbewusstsein haben, aber eben nicht das, was ihrer Klasse entspricht. Und da spielt es auch mit rein, dass alle die Mitte sein wollen, glaube ich. Oder das Prinzenpaar am Königshof oder die mit Festanstellung oder die Schriftstellerin, die es dann geschafft hat, dass über sie gesprochen wird, dass das Buch publiziert wird und so weiter. Und das ist aber ein großer Zufall oder Glücksfall, und da möchte ich auch von mir selber sprechen. Ich glaube, man muss von sich selbst sprechen und das lässt sich dann übertragen. Literatur, bei der man jemanden die Stimme leiht und das alles, das hat mich heute Morgen ganz kribbelig gemacht, weil, dass das dann politisch sein soll und dass das dann verändern könnte, daran glaube ich überhaupt nicht. Sondern ich glaube – deshalb bin ich so dankbar für dieses postfordistische Dingsbums da, Klassengesellschaft mit Bildungspotential –, man muss sich selbst in den Ring werfen, anders funktioniert es nicht mit der Literatur, weil es geht ja eben nicht um Reportagen, sondern um Erfahrung. Und da ist es ganz egal, ob ich kämpfe oder mir von meiner Nachbarin Geld leihe oder von meinen Eltern und so weiter, um noch dabei bleiben zu können. Das Gefühl der Ohnmacht und des Abgehängtwerdens und des doppelten Entwertetwerdens, da muss ich bei mir selber gucken und dann sehe ich auch, was Stefanie Hürtgen gesagt hat, wo entsolidarisiert sich das? Und dann kann ich darüber schreiben und habe vielleicht Glück, weil über das Buch gesprochen wird, andere sich damit identifizieren. Dann werde ich eingeladen von der katholischen Kirche in Familienberatungsstellen, und da wird diskutiert, was kann man denn machen als Mutter und man will aber doch das Beste für sein Kind. Alles das, was hier angeklungen ist. Aber vorher heißt es, wer will das lesen? Das ist nicht interessant. Und das hat mit dieser Abwehr zu tun, glaube ich,

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weil es darum geht, wie lese ich, was ist überhaupt Literatur? Dann heißt es: „Ich will doch nicht mein eigenes Elend lesen“, das habe ich auch bei Ihnen gehört. Diese Abwehr, dieses „was ist dieses Wir?“ Und dann so, „hoho, wir gehören nicht dazu, lasst uns weiter über diese anderen reden und lasst uns nicht über uns reden“. Ich glaube aber, das ist die Chance von Literatur, dass wir uns darin wirklich wiederfinden. Man muss niemandem eine Stimme leihen, sondern alle müssen schreiben können. Was heute Morgen auch kam: Ich kann es mir gar nicht leisten, jetzt vielleicht noch jemandem, einem Geflüchteten, meine Stimme zu leihen und mich da auch noch zu engagieren, sondern der Geflüchtete und ich und alle brauchen diese 500 im Jahr und ein eigenes Zimmer, von dem Virginia Woolf gesprochen hat, und dann kann man da was machen und dann kann man, glaube ich, wirklich politisch wirken. Thomas Wagner: Also wenn man sagt, dass für einen das Problem, ob man weniger oder mehr Geld hat, kein Problem ist, dann würde ich sagen, zu diesem „Wir“ zähle ich mich nicht dazu. Für mich ist das ein ganz großes Problem, ob ich 100 Euro mehr im Monat habe oder nicht. Und unter diesem Gesichtspunkt würde ich instinktiv sagen, ich empfinde mich nicht mit Ihnen als Teil einer postindustriellen Mittelklasse, sondern ich empfinde mich irgendwie anders, ohne dass ich noch genau sagen kann, was es ist, weil ich nicht die Kategorie dafür habe. Das ist der eine Punkt. Deswegen habe ich so einen starken Widerwillen, mich in diese erste Person Plural mit aufnehmen zu lassen. Das behagt mir überhaupt nicht. Der zweite Punkt, mit dem „Wir“. Es wurde ja eben an Frau Koppetschs Vortrag auch kritisch herangetragen, dass er in der Tendenz etwas Entmutigendes habe. Ich habe mich gerade gefragt, ob das etwas mit diesem „Wir“ zu tun haben könnte, nämlich, indem ein Konsens an gemeinsamen Überzeugungen, „wir wissen schon, was falsch läuft“, vorausgesetzt wurde. Das war verschiedentlich in Ihrer Rede, dass Sie gesagt haben, „aber darauf können wir uns ja verständigen, dass wir das so und so sehen“. Wenn das aber so ist und wir gewissermaßen schon davon ausgehen, dass wir gemeinsame Überzeugungen haben, verlieren wir ein Moment, das immer ein Ermutigungsfaktor war, nämlich, dass wir uns über die Problemlagen verständigen und dabei erst erkennen, dass wir eine ähnliche Sicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit haben. Das war immer enorm mobilisierend. Dieser Prozess des gemeinsamen Lernens, des gemeinsamen Fortschreitens zu Erkenntnissen, aus dem erst ein kollektives Wir-Bewusstsein und -Gefühl entsteht, das politisch handlungsmächtig werden kann, das wird in akademischen Diskursen quasi übersprungen und man versteht gar nicht mehr, wieso man sich mit dem Proletariat gar nicht mehr verständigen kann. Damit habe ich ein großes Problem. Und ich glaube, es ist tatsächlich unsere Aufgabe, diese Verständigungsprozesse erst mal einzuleiten. Cornelia Koppetsch: Da das jetzt mit dem „Wir“ so ein großes Problem war, wollte ich noch mal nachdrücklich darauf hinweisen, dass ich nicht damit meine, dass jetzt alle hier im Saal sich in dieses „Wir“ inkludiert fühlen sollen, sondern dieses „Wir“ ist vor dem Hintergrund gemeint, dass ich über eine Klasse spreche, in der ich und bekannter Weise auch einige andere, die sich heute Morgen dazu gezählt haben, sich eingeschlossen fühlen. Und dass es darum geht, eine Art von Selbstdezentrierung vorzunehmen, die eine Position innerhalb des Klassenspektrums mit reflektiert. Vielleicht noch eine andere Bemerkung zur Frage der Präzision. Das betrifft noch mal die Differenz zwischen Klaus Dörre und meiner Position. Ich würde Klaus Recht geben. Wir brauchen eine präzise Begrifflichkeit. Die kann aber nicht dadurch

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entstehen, dass wir Klassenpositionen auf Beschäftigung, also auf die Stellung im Beschäftigungssystem reduzieren, denn, wie Stefanie Hürtgen gesagt hat, wir haben natürlich symbolische Herrschaftsformen in dieser Gesellschaft, die nicht unbedingt immer eins zu eins an bestimmte Beschäftigungspositionen gekoppelt sind. Wir haben kulturelle und soziale Kapitalien, die ebenfalls Teil der Klassengesellschaft sind, die nicht in einer Beschäftigungsposition aufgehen. Zum Thema Unterklasse, weil du sagtest, jenseits der Respektabilität, das sei Hartz IV. Und da würde ich sagen, auch da spielt es eine Rolle, ob der Hartz IV-Empfänger jemand ist, der meinetwegen jetzt gerade von der letzten Leiharbeitsstelle in die Arbeitslosigkeit gerutscht ist oder ob es sich um einen wissenschaftlichen Mitarbeiter oder Schriftsteller handelt, der die Beschäftigungslücken mit Hartz IV überbrückt. Das ist nicht jenseits der Respektabilität, das ist eine andere Sache. Klaus Dörre: Es hat zum Beispiel eine Dame gegeben, die auf eine entsprechende These von mir in der APUZ/Beilage10 zur Zeitung „Das Parlament“ reagiert hat. Sie hat mich heftigst beschimpft, weil sie zeitweilig zum Elitenachwuchs der Bundesrepublik gezählt wurde. Wie ich dazu käme, sie als Hartz IV-Bezieherin mit denen gleichzusetzen, die ich da als Unterklasse beschreibe, weil sie nichts mit denen gemein hätte. Sie bestätigt sozusagen in ihrer Kritik das, was ich sage. Dass zwangshomogenisiert wird, was nicht gleich ist, durch einen Mechanismus, der abwertend ist.

10  Aus Politik und Zeitgeschichte“ – die Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ – wird von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben.

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Teil 2 Spezielle Widersprüche in der ausdifferenzierten Gesellschaft

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Pauperisierung

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Prekarisierung, Pauperisierung und soziale Polarisierung Christoph Butterwegge Seit geraumer Zeit bildet die wachsende soziale Ungleichheit das Kardinalproblem der Menschheit schlechthin. Im globalen Maßstab resultieren daraus Krisen, Kriege und Bürgerkriege, aber auch Flüchtlingsströme unbekannten Ausmaßes, denn Armut ist gewissermaßen die Mutter aller Migrationsbewegungen.1 Im nationalen Rahmen stiftet die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ebenfalls Unfrieden, obwohl es hierzulande aufgrund des gegenüber Staaten der sog. Dritten bzw. Vierten Welt erheblich höheren Wohlstandsniveaus bisher (noch) nicht zu größeren sozialen und politischen Verwerfungen gekommen ist, sieht man davon ab, dass sich Ärmere immer weniger an Wahlen beteiligen, wodurch es zu einer Krise der politischen Repräsentation kommt: Große soziale Ungleichheit führt die politische Gleichheit, Grundlage und Inbegriff der westlichen Demokratie, letztlich ad absurdum.2

Die zerrissene Republik

Betrachtet man die Sozialstruktur der Bundesrepublik, zeichnet sich eine Polarisierung ab, die auch im internationalen Vergleich extrem stark ausgeprägt ist. „In Deutschland sind Reichtum und Wohlstand nicht nur auf eine kleinere Bevölkerungsgruppe begrenzt als in anderen Ländern, sondern

1  Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik. 4. Aufl., Wiesbaden: Springer 2009; Branko Milanović: Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin: Suhrkamp 2016; Angus Deaton: Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen. Stuttgart: Klett-Cotta 2017. 2  Vgl. dazu: Armin Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt am Main/New York: Campus 2015; Lea Elsässer: Wessen Stimme zählt? – Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Frankfurt am Main/New York: Campus 2018; Christoph Butterwegge: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Weinheim/Basel: Beltz 2020.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_013

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diese kleine Gruppe der Reichen hält auch einen deutlich größeren Anteil des Gesamtvermögens im Land.“3 Wie im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erneut dokumentiert, zeigt sich die Verteilungsschieflage vornehmlich beim Vermögen, das sich zunehmend bei wenigen Hyperreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung laut dem Regierungsbericht 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf 1 Prozent.4 Stellt man die statistische Unsicherheit bei der Erfassung von Hochvermögenden in Rechnung, dürfte die reale soziale Ungleichheit noch viel größer sein, als es solche Zahlen erkennen lassen. Jedenfalls schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass sich ein Drittel (31 bis 34 Prozent) des Gesamtvermögens beim reichsten Prozent der Bevölkerung und zwischen 14 und 16 Prozent des Gesamtvermögens beim reichsten Promille der Bevölkerung konzentriert.5 Die reichsten 45 Familien besitzen nach DIW-Angaben mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, d.h. über 40 Millionen Personen. Da sie kein Vermögen haben, leben rund 32 Millionen Menschen quasi von der Hand in den Mund, pointiert formuliert: Sie sind nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt. Für das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sind Armut und Reichtum bis zu einem bestimmten Grad funktional. „Armut oder, besser gesagt, relative Armut ist wahrscheinlich die notwendige Begleiterscheinung einer von ihrer Ausrichtung her meritokratischen Gesellschaft, in der sich ein jeder nach seiner Leistung einen Platz erobert.“6 Während die Armut als Drohkulisse, Druckmittel und Disziplinierungsinstrument gegenüber davon Betroffenen wirkt, erscheint Reichtum als Lockmittel, Motivator und Leistungsmotor für die Angehörigen der Mittelschicht. Nach den Maßstäben der Europäischen Union gelten 13,4 Millionen Menschen hierzulande als von Armut betroffen oder bedroht. Sie haben weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für einen Alleinstehenden 999 Euro im Monat entspricht. 3  Marcel Fratzscher: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird. München: Hanser 2016, S. 47. 4  Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bericht, Bonn, April 2017, S. 507 f. 5  Vgl. Christian Westermeier/Markus M. Grabka: Große statistische Unsicherheit beim Anteil der Top-Vermögenden in Deutschland. In: DIW-Wochenbericht (7/2015), S. 123 ff. 6  Inge Kloepfer: Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt. Hamburg: Hoffmann und Campe 2008, S. 281

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Mit 15,8 Prozent erreichte die Armuts(risiko)quote im Jahr 2017 einen Rekordstand im vereinten Deutschland. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose (57,2 Prozent), Alleinerziehende (42,8 Prozent) und Nichtdeutsche (36,2 Prozent) auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende sind besonders stark betroffen, während das Armutsrisiko der Senioren am stärksten zunimmt. Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Während junge Menschen manchmal jahrzehntelang im Bereich des Wohnens, der Gesundheit und der Freizeitgestaltung sowie von Bildung und Kultur benachteiligt sind, wird Senioren der Lohn für ihre Lebensleistung verweigert. Angehörige dieser Altersgruppe laufen überdies Gefahr, bis zu ihrem Tod sozial ausgegrenzt zu werden und isoliert zu bleiben. Knapp 1.000 Lebensmitteltafeln versorgen hierzulande regelmäßig ca. 1,5 Millionen Menschen mit Essen, von denen sich ungefähr ein Drittel im Kindes- und ein weiteres Drittel im Seniorenalter befinden. Häufig werden aus Minderjährigen in (einkommens)armen Familien arme Erwachsene, die wieder arme Kinder bekommen, und später arme Senior(inn)en. Deshalb kann man der Kinderarmut, die meist Familien- bzw. Mütterarmut ist, und der Armut im Alter gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Gleichwohl blieben beide Problemlagen im Bundestagswahlkampf 2017 weitgehend unbeachtet. Überhaupt spielten die sozialpolitischen Themen wie gewohnt nur eine Nebenrolle. Armut wird nicht eben als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal begriffen, das im Grunde eine gerechte Strafe für den fehlenden Willen oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die im Falle eines Börsenspekulanten auch ganz schlicht darin bestehen kann, den guten Tipp eines Anlageberaters zu befolgen. In der Bundesrepublik galt jahrzehntelang das soziale Aufstiegsversprechen, dem sich auch ihr großer wirtschaftlicher Erfolg verdankte: „Wer sich anstrengt, fleißig ist und etwas leistet, wird mit lebenslangem Wohlstand belohnt.“ Aufgrund der globalen Finanzkrise 2008/09 ist es der Angst vieler Mittelschichtangehöriger gewichen, trotz guter beruflicher Qualifikation und harter Arbeit sozial abzusteigen. Da die soziale Aufstiegsmobilität unter dem Einfluss des Neoliberalismus spürbar nachgelassen hat,7 saugen 7  Vgl. Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. 3. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2016. Es handelt sich bei Deutschland allerdings weder um einen „Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck) noch um einen „Rolltreppeneffekt“ (Oliver Nachtwey), sondern eher um einen Paternostereffekt: Während die einen nach oben fahren,

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rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) und rassistisch agierende Gruppierungen wie die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) Honig aus der zunehmenden Verteilungsschieflage. Ihre demagogische Propaganda deutet die Letztere als Ergebnis der Machenschaften einer korrupten Elite und einer gezielten Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme.8 Arbeitsmigrant(inn)en, Geflüchtete und Muslime werden hierdurch zu Sündenböcken für die Zunahme der sozialen Ungleichheit. Für Julian Bank und Till van Treeck stellt die Ungleichheit in Deutschland hauptsächlich deshalb „ein Problem dar, weil sie eine ungleiche Verteilung von Freiheit und politischen Einflusschancen mit sich bringt, zu makroökonomischer Instabilität beiträgt und Teilhabechancen untergräbt. Somit ist die Ungleichheit gleich mit drei Krisen verwoben, die nicht getrennt voneinander betrachtet werden können: einer Krise der Demokratie, der sozialen Teilhabe und der ökonomischen Stabilität – eine Melange mit Sprengkraft, wie am wachsenden Erfolg demokratie- und menschenverachtender Ideologien deutlich wird.“9 Die soziale Ungleichheit fördert mithin Tendenzen der gesellschaftlichen Desintegration, der wirtschaftlichen Depression und der politischen Desorientierung. Dass die Gesellschaft zunehmend in Arm und Reich zerfällt, ist kein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung, sondern „hausgemacht“, d.h. durch falsche Weichenstellungen der politisch Verantwortlichen bedingt. Die sozialen Polarisierungstendenzen lassen sich auf die öffentliche Meinungsführerschaft des Neoliberalismus und von ihm durchgesetzte oder beeinflusste Reformen zurückzuführen.10 Selbst die EU-Kommission attestierte der Bundesregierung in einem Länderbericht, die soziale Spaltung vorangetrieben zu haben: „Im Zeitraum 2008-2014 hat die deutsche Politik in hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die bedarfsabhängigen Leistungen real und fahren andere nach unten, weil Armut und Reichtum strukturell miteinander verbunden sind. 8  Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/Gerd Wiegel, Rechtspopulisten im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD, Frankfurt am Main: Westend 2018. 9  Julian Bank/Till van Treeck, „Unten“ betrifft alle: Ungleichheit als Gefahr für Demokratie, Teilhabe und Stabilität. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 10/2015, S. 46. 10  Vgl. hierzu ausführlicher: Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak: Kritik des Neoliberalismus. 3. Aufl., Wiesbaden: Springer 2017; Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/ Bettina Lösch (Hg.), Auf dem Weg in eine andere Republik? – Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus, Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2018.

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im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind.“11 Als für die genannten Polarisierungstendenzen ursächlich erwähnt der Bericht auch den Verzicht auf die Erhebung der Vermögensteuer seit 1997, die Absenkung des Einkommensteuerspitzensatzes von 53 Prozent auf 42 Prozent und die Einführung der pauschalen Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge. Hier seien Entwicklungsprozesse in drei Kernbereichen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems angeführt, die auf politischen (Fehl-)Entscheidungen der Regierungen unterschiedlicher Zusammensetzung bzw. der sie tragenden Parteien beruhen: Durch die Einführung der Riester-Rente und die Teilprivatisierung der Altersvorsorge kurz nach der Jahrtausendwende, also schon vor Gerhard Schröders berühmt-berüchtigter Bundestagsrede, die den Namen „Agenda 2010“ trägt, ist der Sozialstaat im Allgemeinen und die Gesetzliche Rentenversicherung im Besonderen ein Stück weit demontiert worden.12 Trotz jahrzehntelanger Beschäftigung und Beitragszahlung können Arbeitnehmer ihren gewohnten Lebensstandard im Alter damit nicht mehr halten. Denn das Sicherungsniveau vor Steuern ist von seinerzeit 53 Prozent auf 48 Prozent des Durchschnittsverdienstes heute gesunken. 43 Prozent kann es im Jahr 2030 erreichen, ohne dass die Bundesregierung eingreifen muss; 41,7 Prozent hat die damalige Arbeitsund Sozialministerin Andrea Nahles für das Jahr 2045 errechnen lassen, wenn dem nicht durch eine neuerliche Rentenreform begegnet wird. Durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes wurde der wachsende Niedriglohnsektor, in dem mittlerweile fast ein Viertel aller Beschäftigten tätig sind, zum Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- bzw. Kinder- und spätere Altersarmut. Mit den „Agenda“-Reformen wurde der Kündigungsschutz gelockert, die Leiharbeit liberalisiert und die Lohnarbeit prekarisiert (Einführung der Mini- und Midijobs sowie Erleichterung von Werk- und Honorarverträgen). Die mit dem im Volksmund „Hartz IV“ genannten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt drastisch verschärften Zumutbarkeitsregelungen und drakonische Sanktionen der Jobcenter insbesondere für Unter-25-Jährige, denen nach zwei Pflichtverletzungen (z.B. Ablehnung eines Bewerbungstrainings und Abbruch einer Weiterbildungsmaßnahme) die Geldleistung entzogen und die Miete nicht mehr bezahlt wird, setzten auch Belegschaften, 11   Europäische Kommission: Länderbericht Deutschland 2017 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, Brüssel, 22.2.2017 – SWD (2017) 71 final, S. 7 12   Vgl. Christoph Butterwegge: Die Entwicklung des Sozialstaates. Reformen der Alterssicherung und die (Re-)Seniorisierung der Armut. In: ders./Gerd Bosbach/ Matthias W. Birkwald (Hg.), Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York: Campus 2012, S. 33 ff.

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Betriebsräte und Gewerkschaften unter enormen Druck.13 Unter dem Damoklesschwert von Hartz IV akzeptierten diese Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und Senkungen der (Real-)Löhne. Niedrigere Löhne, beispielsweise von Leiharbeitern in der Automobilindustrie, führten zu höheren Unternehmensgewinnen. So bezog das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, die Konzernerben Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Mai 2018 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 1,126 Milliarden Euro nur aus BMW-Aktien. Mit der Agenda 2010 war eine Reform der Einkommen- und der Unternehmensbesteuerung verbunden, die zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen hat. Hohe (Kapital-)Einkommen und Unternehmensgewinne werden seither geringer als jemals zuvor nach 1945 besteuert, während die Rot-Grün folgende erste Große Koalition unter Angela Merkel die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöhte, obwohl die CDU-Vorsitzende im Wahlkampf nur eine Anhebung um zwei Prozentpunkte gefordert und die SPD gegen diese „Merkel-Steuer“ polemisiert hatte. Firmenerben wurden kaum noch besteuert, weshalb das Bundesverfassungsgericht von ihrer „Überprivilegierung“ sprach. Nach der Reform des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes durch CDU, CSU und SPD kann man jedoch unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin einen ganzen Konzern erben, ohne auch nur einen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen.14

Für eine Agenda der Solidarität als Grundlage einer inklusiven Gesellschaft

Wenn man Inklusion nicht bloß als (sonder)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in einem sehr viel umfassenderen Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Wohnbürger am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Nötig wäre ein Paradigmenwechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat. Grundlage dafür müsste ein Konzept bilden, welches unterschiedliche Politikfelder (Arbeitsmarkt-, Sozial- und

13  Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, 3. Aufl., Weinheim/Basel: Beltz 2018. 14  Vgl. zur Verwässerung der Erbschaftsteuerreform: Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 6. Aufl., Wiesbaden: Springer 2018, S. 354 ff.

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Steuerpolitik) so miteinander verknüpft, dass die Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen gelingt. Die von der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Martin Schulz im Bundestagswahlkampf 2017 verlangte „Stabilisierung des Rentenniveaus“ reicht als Zielmarke nicht aus, weil dieses schon heute viele hunderttausend Arbeitnehmer/innen im Alter kaum mehr vor Armut schützt. Neben einer Wiederherstellung des früheren Sicherungsniveaus vor Steuern und einer Überführung der Riester-Verträge in die Gesetzliche Rentenversicherung wäre eine Umwandlung der dafür geeigneten Versicherungszweige in eine solidarische Bürgerversicherung nötig. Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister müssten einbezogen, neben Löhnen und Gehältern auch Kapitalerträge (Zinsen, Dividenden) sowie Miet- und Pachterlöse verbeitragt werden. Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte ganz oder teilweise zu entziehen. Auf der Leistungsseite könnte eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie (sanktionslose) Mindestsicherung dafür sorgen, dass alle Wohnbürger nach unten abgesichert, auch solche, die im bisherigen System keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben. Nötig ist außerdem die Zurückdrängung des Niedriglohnsektors durch eine Reregulierung des Arbeitsmarktes, wozu neben der von Martin Schulz angeregten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Beschäftigungsverhältnissen ein auf deutlich mehr als 10 Euro brutto pro Stunde erhöhter Mindestlohn ohne Ausnahmen (für Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss, Kurzzeitpraktikanten und Zeitungszusteller), eine Überführung der Mini- und Midijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sowie ein Verbot oder eine starke Beschränkung der Leiharbeit gehören. Hartz IV, d.h. jenes Gesetzespaket, das den institutionellen Kern der Agenda 2010 bildet und von Martin Schulz nur im Hinblick auf das Schonvermögen (Forderung nach Verdoppelung des allgemeinen Freibetrages von 150 auf 300 Euro pro Lebensjahr) problematisiert wurde, ist einer Generalrevision zu unterziehen. Vordringlich wären eine spürbare Erhöhung der Regelbedarfe, die schon 2005 nicht auskömmlich waren und seither nicht in dem Maße angehoben worden sind, wie die Lebenshaltungskosten stiegen, die Rücknahme des Instituts der Bedarfsgemeinschaft, das willkürlich Unterhaltsverpflichtungen konstruiert, die Wiederherstellung des Berufs- und Qualifikationsschutzes, damit Hartz-IV-Betroffene nicht unabhängig von ihrer Ausbildung jeden Job annehmen müssen, was sie oft als demütigend

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Christoph Butterwegge

empfinden, und die Abschaffung der Sanktionen (zumindest ein Moratorium, bis das Bundesverfassungsgericht sein Urteil dazu fällt), damit ihr soziokulturelles Existenzminimum gesichert bleibt. Älteren Erwerbslosen im Falle einer Maßnahme der beruflichen Weiterbildung, Qualifizierung oder Umschulung ergänzend zu dem auf höchstens zwei Jahre begrenzten Arbeitslosengeld I ebenfalls bis zu 24 Monate lang ein „Arbeitslosengeld Q“ zu zahlen, wie Martin Schulz und die damalige Arbeitsund Sozialministerin Andrea Nahles vorgeschlagen haben, ändert nichts an dem Problem, dass immer weniger der sich arbeitslos Meldenden überhaupt Arbeitslosengeld I erhalten, weil sie wegen einer zu kurzen Versicherungszeit keinen Anspruch darauf erworben haben. Damit ein großer Teil der Erwerbslosen nicht mehr sofort Hartz IV anheimfallen, sollte die Rahmenfrist nach Ansicht der SPD von zwei Jahren auf mindestens drei Jahre verlängert werden, in der Anspruchsberechtigte weniger als zehn Monate lang versicherungspflichtig gewesen sein müssen, und/oder diese Anwartschaftszeit dauerhaft (auf die Hälfte oder ein Drittel) verkürzt werden. So sinnvoll die Wiedereinführung eines Rechtsanspruchs auf Weiterbildungsangebote und Qualifizierungsmaßnahmen wäre, so fragwürdig ist die Kopplung eines längeren beitragsfinanzierten Transferleistungsbezugs an die dem Tauschprinzip nachempfundene Aktivierungsphilosophie des „Förderns und Forderns“, weil damit Druck auf die Betroffenen, denen man Passivität und Desinteresse unterstellt, ausgeübt werden soll. Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und Armut wirksam bekämpfen will, muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben beenden und für mehr Steuergerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine vor allem große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progressiver verlaufender Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer (Abschaffung der Abgeltungsteuer) nötig. Finanziert werden könnte die überfällige Großoffensive gegen Kinder-, Jugend- und Altersarmut, die der Bund zusammen mit den Ländern und Kommunen anstoßen und Kirchen, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, Wohlfahrtsverbände, Betroffenenorganisationen, Bürgerinitiativen, zivilgesellschaftliche Akteure und globalisierungskritische Netzwerke mittragen sollten, auch aus dem mit einigen Unterbrechungen seit 1991 in unterschiedlicher Höhe (heute: 5,5 Prozent) erhobenen Solidaritätszuschlag. Statt ihn – wie von CDU, CSU und SPD geplant – abzuschmelzen und später ganz

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abzuschaffen, könnten abgehängte Regionen mit dem „Soli“-Ertrag in Höhe von 18 bis 20 Milliarden Euro jährlich befähigt werden, ihre soziale, Bildungsund Betreuungsinfrastruktur so weit zu entwickeln, dass die dort extrem hohe Kinder-, Jugend- und Altersarmut sinkt. Bisher steht die Forderung des Grundgesetzes nach Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse bloß auf dem Papier.

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Über mein Romanprojekt „Schwebende Lasten“ Annett Gröschner Im weiteren Verlauf las Annett Gröschner Passagen aus dem Manuskript eines in Arbeit befindlichen Romans mit dem Titel „Schwebende Lasten“, der insbesondere die Erlebnisse einer weiblichen Kranführerin behandelt. Es ist die Geschichte seiner Frau, die – noch zu DDR-Zeiten – nach 12 Jahren Ehe ihren Mann verlassen hat. Sie fällt unter eine Regelung, deren Probleme immer wieder angesprochen werden, aber nie eine wirkliche Lösung gefunden haben, nämlich die Rente für die ostdeutschen Frauen, die sich zu DDR-Zeiten haben scheiden lassen. Sie bekommen nur eine sehr geringe Rente, sie sind mittlerweile bis vor die UNO gezogen wegen dieser Ungerechtigkeit. Das betraf 800.000 Frauen – jedes Jahr werden es weniger –, die dafür bestraft werden, dass sie sich haben scheiden lassen zu DDR-Zeiten. Es war auch vollkommen klar, als der Einigungsvertrag gemacht wurde, dass das eine Ungerechtigkeit ist. Da dieser Roman noch unveröffentlicht ist, die Lesung aus dem Manuskript aber weite Teile des Vortrags ausmachte, kann er hier aus rechtlichen Gründen nicht wiedergegeben werden.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_014

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Diskussion Erasmus Schöfer: Ich würde gerne Christoph Butterwegge fragen: Diese sozialen Grausamkeiten, die du hier so eindrucksvoll aufgezählt hast, wie ist es möglich, wie siehst du das oder ihr als Wissenschaftler, dass die Gewerkschaften das alles hingenommen haben? Nur weil das ihr Bundeskanzler war, der Schröder von der SPD? Oder wie ist das verständlich? Man steht eigentlich nur fassungslos dem gegenüber, dass die Menschen, die alle auch lesen und schreiben gelernt haben, was eigentlich ein Mittel ihrer Emanzipation sein sollte – dass sie das so weggesteckt haben und stattdessen dann nur im Fernsehen auf Konsum und Fußball sich haben orientieren lassen? Das gehört ja offensichtlich zu dieser Strategie der Pauperisierung, dass die Menschen eben abgelenkt werden nach Möglichkeit durch das Privatfernsehen und den Fußball. Christoph Butterwegge: Was die Gewerkschaften betrifft, bin ich ratlos, warum sie sich in die Lohndumpingstrategie der rot-grünen Koalition haben einbinden lassen. Denn jeder Gewerkschafter konnte voraussehen, dass das Ganze darauf gerichtet war, billige und willige Arbeitskräfte zu schaffen, wenn man ein Gesetzespaket wie Hartz IV schnürt. Denn man hat die Lohnersatzleistung Arbeitslosenhilfe gestrichen, die Jobcenter befähigt, Betroffenen jeden Job bis hin zum 1-Euro-Job aufzudrücken, und die Drohung mit Sanktionen so verschärft, dass sich die Belegschaften unter dem Damoklesschwert von Hartz IV gefügig verhielten. Dass die Gewerkschaften nicht erkannt oder aber toleriert haben, dass damit ihre Position in der Gesellschaft strukturell geschwächt wird, war ein historischer Fehler ohnegleichen. Ein wichtiger Grund dafür, den du schon genannt hast, ist die Loyalität gegenüber der SPD oder anders ausgedrückt: sozialdemokratische Nibelungentreue. Bis auf Frank Bsirske1, der als einziger quergeschossen hat, waren die Gewerkschaftsvorsitzenden ja SPD-Mitglieder. Gerhard Schröder hat seinen Kurs innerhalb der Partei mit drastischen Mitteln, Rücktrittsdrohungen und ähnlichem, auf eine brachiale Weise durchgesetzt. Dass aber die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften und auch die DGB-Spitze, die ein höheres Maß an Autonomie besaßen als zum Beispiel Bundestagsabgeordnete, stillgehalten haben, hat sicher auch damit zu tun, dass der Gegendruck aus den Betrieben und den Gewerkschaften zu schwach war. Es hat große Demonstrationen gegen Hartz IV im Vorfeld gegeben. Aber leider nur punktuelle. Die Gewerkschaften haben dezentral gegen Hartz IV demonstriert. An einem Samstag waren in den ausgewählten Großstädten zusammen einige hunderttausend Menschen auf der Straße. Aber dann sind sie nach Hause gegangen und die Gewerkschaften haben den Protest versanden lassen. Man sieht jetzt an einem ganz anderen Beispiel, dass sie es hätten anders machen müssen. Wenn ich mir PEGIDA angucke, da sind anfänglich gar nicht viele auf die Straße gegangen, aber mit einer großen Penetranz. Was hat das in den Medien an Resonanz ausgelöst, dass es diese Penetranz gab? So gesehen war der Widerstand gegen die „Agenda“-Politik überschaubar, und zwar sowohl, was die Basis angeht als auch, was die Führung angeht. 1  Frank Bsirske (*1952) war Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di (2000-2019), Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen.

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Eine große Rolle bei der Verankerung der „Agenda“-Politik im Gewerkschaftsbereich hat die neoliberale Hegemonie gespielt, d.h. die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus. Damals wurde ja auf allen Kanälen verbreitet, der Sozialstaat sei ein Klotz am Bein unseres Wirtschaftsstandortes, weshalb die „Lohnnebenkosten“ sinken müssten. Sabine Christiansen2 hat in ihrer Sendung fast allsonntäglich immer dieselben Herren die neoliberale Kernbotschaft verkünden lassen, wodurch sich selbst in den Köpfen gestandener Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter die Meinung bildete, der Sozialstaat sei in abgespeckter Form nur zu retten, wenn sie diese Reformpolitik der rot-grünen Koalition mittrügen. Die Philosophie von Gerhard Schröder, auch in der Agenda-Rede nachzulesen, war: Wenn wir den Sozialstaat vor dem Neoliberalismus retten wollen, dann müssen wir den Neoliberalismus in homöopathischen Dosen selber praktizieren. Das war ja auch der Grundtenor des „Schröder-Blair-Papiers“. Toni Blair3 hat die Labour Party auf den Kurs getrimmt, man müsse der Thatcher-Politik des harten Neoliberalismus einen Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz entgegensetzen. Und das hat bei vielen Menschen verfangen nach dem Motto: Der Sozialstaat ist nicht mehr bezahlbar, und die Renten in einer vergreisenden Gesellschaft ohnehin nicht. In dem Buch „Kritik des Neoliberalismus“,4 das ich zusammen mit Bettina Lösch und Ralf Ptak geschrieben habe, sprechen wir von den drei großen Erzählungen unserer Zeit: Globalisierung, demografischer Wandel und Digitalisierung. Die werden als Erzählungen des Neoliberalismus so vermittelt, dass den Leuten suggeriert wird, sie müssten den Gürtel enger schnallen. Und mit welcher Macht das daherkommt! Im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD taucht das Wort „digital“ bzw. „Digitalisierung“ 298 mal auf, das Wort „Armut“ 11 mal und das Wort „Reichtum“ kein einziges Mal. Da seht ihr, mit welcher Vehemenz die Standortlogik dazu auffordert, sich schön ruhig zu verhalten, weil angeblich etwa die Hälfte aller Arbeitsplätze wegfallen. Nur mit mäßigen Lohnforderungen könne man vielleicht erreichen, heißt es dann, nicht wegrationalisiert zu werden. So lautet die Philosophie. Und die war eben 2003, im Jahr der Agenda, auf ihrem Höhepunkt. Dieses neoliberale Meinungsklima hat sicher auch viel dazu beigetragen, dass die Gewerkschaften so stillgehalten haben, wie ich das geschildert habe. Stimme aus dem Publikum (Eberhard Weber): Ich war von Anfang 1990 bis Ende 2009 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes hier in Dortmund und in der Region. Christoph Butterwegge hat eben noch einmal deutlich gemacht, in welch einer Situation wir als Gewerkschaften oder als politische Minderheiten gestanden haben. Wir waren eine kleine Minderheit, gesellschaftlich betrachtet. Und die Argumente einer anderen gesellschaftlichen bzw. wirtschafts-, arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Vorstellung wurden nicht gehört, wurden öffentlich nicht wahrgenommen 2   Sabine Christiansen (*1957 als Sabine Frahm) ist eine deutsche Fernsehmoderatorin, Journalistin und Produzentin. 3  Anthony „Tony“ Charles Lynton Blair (*1953) ist ein britischer Politiker. Er war von 1994 bis 2007 Vorsitzender der Labour-Partei und von 1997 bis 2007 Premierminister des Vereinigten Königreichs. 4  Christoph Butterwegge/ Bettina Lösch/ Ralf Ptak/ Tim Engartner: Kritik des Neoliberalismus. 1. Aufl. 2007.Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss. 2007.|

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bzw. auch nicht transportiert. Christoph Butterwegge hat es angesprochen, in Köln hat es in der Tat eine große Demonstration, auch eine machtvolle Demonstration gegeben. Wir haben hier aus Dortmund und aus der näheren Umgebung, aus Unna und aus Hamm, damals insgesamt 98 Busse nach Köln gebracht. Die waren voll, 98 Busse. Nun kann man sagen, das sei vor dem Hintergrund der Beschäftigtenzahl in dieser Region keine nennenswerte Größenordnung. Wer aber die Aufgabe hat, möglichst viele Kolleginnen und Kollegen nach Köln zu bringen, und wer weiß, welche inhaltlichen und organisatorischen Anstrengungen damit verbunden sind, weiß, dass das nicht ganz einfach ist. Und es war ja nun nicht so, dass es eine verbürokratisierte Funktionärsclique innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegeben hätte und eine revolutionäre Basis in den Betrieben und in den Verwaltungen. Das war mitnichten so. Denn das, was heute als neoliberal bezeichnet wird, war in den Köpfen und ist zum großen Teil auch heute noch in den Köpfen breitester Teile der Bevölkerung und der Arbeitnehmerschaft in einem weiten Maße sehr nachdrücklich verankert. Das war nicht einfach. Und ich kann mich daran erinnern – ich sage das auch auf meine Person bezogen –, in dieser politischen, gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzung sind jahrzehntelang gewachsene Freundschaften kaputtgegangen, weil die damaligen Auseinandersetzungen in der Tat auch auf Personen bezogen außerordentlich schwierig waren. Das will ich nur als Anmerkung hier mal unterbringen, weil man kann aus der Distanz von heute sagen, da hat die Gewerkschaftsbewegung gefehlt. In der Tat, das war kein Ruhmesblatt, was wir uns da eingefangen haben. Aber so schlichtweg zu sagen, die Gewerkschaften als Ganzes haben versagt, das würde ich hier an dieser Stelle ausdrücklich nicht so sagen wollen. Das waren harte Auseinandersetzungen. Wochenlage, monatelange Auseinandersetzungen. Ich habe bis zu meiner Verrentung 2009 in den entsprechenden Ausschüssen, beispielsweise bei der Arbeitsverwaltung, wo es um ABM ging, wo es um Anrechnung von Wohnquadratmetern und all diese Dinge ging, hart gerungen. Auch eine solche Auseinandersetzung findet in der Öffentlichkeit kaum Gehör. Letzte Bemerkung: Die Medienlandschaft hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Wir hatten in Dortmund vor 15, 20 Jahren zweieinhalb Zeitungen. Das war die Rundschau, das waren die Ruhr-Nachrichten und mit einer kleinen Auflage von fünf-, sechstausend die WAZ. Wir haben heute eine dominierende Zeitung. Und wer jeden Morgen diese Zeitung aufschlägt, wird feststellen, dass der kommunale Teil rudimentär ist, dass die Bilder immer größer und bunter werden und dass eine Auseinandersetzung über Kommunalpolitik, über zentrale Fragen in dieser Stadt, die vom Strukturwandel bis heute arg gebeutelt ist, nicht mehr stattfindet. Das war vor 15 Jahren oder vor 20 Jahren deutlich anders. Das heißt also, auch die Rahmenbedingungen für eine kraftvolle Auseinandersetzung haben sich verschlechtert. Anke Stelling: Die Melancholie, die hier um sich greift und die dann auch als Resignation bezeichnet wurde, erfasst mich gerade stark. Ich glaube aber, wir sind hier, um zu gucken, was kann die Literatur machen, oder was macht die Literatur damit? Und da haben wir gerade ein Beispiel gehört, darüber würde ich gerne mehr sprechen. Ich fand in dem, was man jetzt gehört hat, wurde ganz gut deutlich, dass man es vermeiden sollte, geschichtsvergessen zu schreiben oder Reflexion und Zusammenhänge auszuklammern, sondern im Gegenteil sollten solche Bezüge hergestellt werden. Wir haben ja nicht nur ganz plastisch von der Erfahrung am Arbeitsplatz der Mutter gehört,

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sondern auch von der Erfahrung am Arbeitsplatz der Erzählerin und wie gefährdet die da ist und was die alles fürchten muss. Da waren im Text viele Faktoren enthalten. Damit konnte ich mich sehr gut identifizieren und mit dieser Hilfe dann auch mit allem Möglichen, was mir erzählt wird aus einer Welt, die ich nicht kenne. Genau diese Verbindung scheint mir gut gelungen an dem Text, den Annett vorgelesen hat, dass das beides vorkommt und es vielfältige Anknüpfungspunkte gibt, dass es eben so sinnlich ist und nicht so theoretisch. Ich glaube, ein Text sollte was erzählen und die Analyse nicht vermissen lassen, sondern im Hören und Lesen erfahrbar machen. Enno Stahl: Es ist gar nicht einfach zu sagen, was der Plot eigentlich ist, weil es eine komplexe Struktur in der Literatur ist. Es ist ja nicht die Handlung im eigentlichen Sinne, sondern irgendwie die Essenz der Geschichte, die diese analytische Kraft bergen muss. Stefanie hat vorhin schon richtig gesagt, dass es sehr selten geworden ist in der deutschen Literatur, dass so eine Arbeitswelt auftaucht. Eigentlich ist es sogar insgesamt selten in der Literatur, dass Arbeitswelt auftaucht, schon gar nicht produzierendes Gewerbe. Eher gibt es Mittelschicht-Perspektiven, weil viele Autoren eben auch von daher stammen, das findet man dann schon noch. Aber Kranfahrerbiografie, das ist tatsächlich fast schon unerhört. Es gibt in der DDR-Tradition Beispiele, was sicherlich mit dem „Bitterfelder Weg“ zu tun hat. Da war ja der Gedanke, dass die Autoren in die Fabriken gehen sollten und diese Form von Produktion kennenlernen sollten. Jetzt frage ich mich: Wie ist das denn bei dir eigentlich? Eine unmittelbare Anschauung davon hast du ja wahrscheinlich auch nicht unbedingt. Annett Gröschner: Ich hatte das zuerst als soziologischen Vortrag geschrieben. Die Protagonistin ist ja Soziologin, und ich selbst habe narrative Interviews für Soziologen geführt mit ostdeutschen Arbeitern und Lokführern. Die Transformation der Deutschen Reichsbahn in die Deutsche Bahn ist auch ein sehr spannendes Thema. Die Gewerkschaft hat sich auch immer wieder zu Wort gemeldet, das nur nebenbei. Ich hatte es wirklich zuerst wie so einen soziologischen Vortrag geschrieben und habe das dann noch mal umgeschrieben, weil ich dachte, die ist an so einem Wendepunkt ihres Lebens, und die will jetzt mal wirklich was über ihre Mutter machen, und ihre Mutter hätte die Sprache der Soziologen nie verstanden. Was mich selbst betrifft als Autorin, ich bin aufgewachsen in Magdeburg, und jedes Kind, was dort gelebt hat, musste in seinem Leben wenigstens einmal in den Schwermaschinenbau. Ab der fünften Klasse haben wir alles Mögliche hergestellt, unter anderem die gesamten Gasherde der DDR, die man ab und zu noch in Osteuropa findet in Küchen – das haben alles Schüler aus Magdeburg machen müssen. Das war sozusagen die Konsumgüterproduktion. Als wir älter wurden, mussten wir an Verseilmaschinen arbeiten, manchmal tagelang, und sind dann nicht zur Schule gegangen, weil der Plan erfüllt werden musste. Aber immer nur für die sowjetischen Abnehmer – wir durften nie in der Produktion für den Westen arbeiten. Ich kannte diese Welt sehr gut, und ich habe auch Sachbücher geschrieben, zum Beispiel über die Kernenergie in der DDR und die Wismut, habe viel mit Interviews und Archivmaterial gearbeitet. Also deswegen dauert es auch immer so lange, bis ein Roman fertig wird, weil es erst mal durch mich durchgehen muss, und für diesen Roman habe ich halt mit mehreren Kranführerinnen gesprochen, die gibt es ja noch, die sind halt alle Rentnerinnen und sitzen in ihren Wohnungen und können wunderbar erzählen. Ich komme aus einer Familie, die in der Stahlgießerei gearbeitet hat. Mein Großvater war in der Stahlgießerei.

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Von daher ist es einfach, so eine Familiengeschichte zu schreiben, obwohl wir eigentlich so direkt nichts mehr damit zu tun hatten und irgendwann dann die meisten von uns Künstlerinnen geworden sind. Aber das bleibt drin in dir. Es gibt auch irgendwo in dem Roman so einen Lenin-Spruch, dass man seine Klasse nicht loswird. Also so ein bisschen wie bei Büchner, dass das Vaterland an den Schuhen klebt, so klebt auch die eigene Klasse an den Schuhen. Ein bisschen so ist es auch heute noch, egal wo man hinkommt. Aber dieses ehemalige Werk, wo 60.000 Menschen gearbeitet haben, ist heute komplett weg, das ist einfach ein leerer Ort. Da werden heute die Birken immer wieder rausgezogen, die da wachsen. Irgendjemand hat gesagt, das sind 15 Fußballfelder. Es ist ein wahnsinnig großer leerer Fleck in der Stadt, wo nichts passiert. Stefanie Hürtgen: Ich möchte noch mal was zu den Gewerkschaften und Hartz IV sagen. Ich glaube eine Begründung fehlt noch für die insgesamt gewerkschaftliche Schwäche, was ja nicht heißt, dass es da nichts gegeben hat. Es ist für mich eine der größten historischen Niederlagen, die wir in der neudeutschen Bundesrepublik erfahren haben. Ein ganz zentraler Aspekt aus meiner Sicht ist die dramatische Ost-WestSpaltung zu dieser Zeit, weil es gab ja durchaus Proteste. Also die Anti-Hartz-Proteste in Ostdeutschland waren – jetzt mal zusammengefasst – die letzten großen Massenproteste. Es gab Versuche im Westen, daran anzuschließen. Aber es gab auch sehr wohl bei vielen Kollegen, bei Funktionären, bei Betriebsräten zwei Grunderzählungen. Die erste ist, das sei eher ein Ostproblem. Das sei sozusagen eine Transformationsfrage. Nach der Deindustrialisierung hatten die da drüben eben halt viel Arbeitslosigkeit und da müsse man jetzt was machen. Die zweite Grunderzählung, die wir auch beim Namen nennen müssen, um über Spaltungen zu reden, ist ein durchaus vorhandenes Vorurteil von so genannten Festbeschäftigten, Bessergestellten und so weiter gegenüber Prekären und Arbeitslosen – die würden nicht ordentlich arbeiten, wären nicht produktiv, trügen nichts zu unserer Gesellschaft bei, und insofern sei es nur recht und billig, wenn sie auch ein bisschen – das ist ja das Wort – aktiviert würden. Und das waren weit verbreitete Erzählungen, die bis heute teilweise fortwirken, und nicht nur im Westen. Das hat sich kumuliert und hat zu einer Stigmatisierung der Hartz IV-Proteste geführt, denen nämlich unterstellt wurde, sie seien rechts. Teile des DGB haben damit begründet, dass sie nicht gesamtdeutsch zu Protesten aufriefen, weil die Bewegung in Ostdeutschland rechts unterwandert sei oder zum guten Teil rechts ausgerichtet sei. Das ist mittlerweile, wie das dann so ist, historisch wissenschaftlich widerlegt. Also die Rechten haben versucht, da einen Fuß reinzukriegen, haben es nicht geschafft. Aber das Stigma wurde aktiv mit produziert, und es wurde auch von meinen Kolleginnen und Kollegen in der universitären und akademischen Welt mit produziert und auch von Linken. Wenn etwas als rechts identifiziert wird, dann muss man sich zuerst mal abgrenzen. Das ist immer sozusagen der Reflex. Ingar Solty: Wir standen in unseren Diskussionen ja immer vor der Herausforderung, die Literatur und die sozialwissenschaftliche Grundierung zusammenzubringen. Ich will versuchen, das mal anhand dieser Diskussion zu entwickeln. Christoph hat mit seinem Vortrag noch einmal verdeutlicht, dass die Agenda 2010 als politisches Projekt die wichtigste Zäsur in der jüngsten bundesrepublikanischen Geschichte gewesen ist. Christoph, du hast selber mal gesagt, die AfD ist das verspätete Kind der Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen der Agenda 2010. Und deswegen finde ich dein

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Romanprojekt, Annett, so interessant, weil es nicht nur aus der Produktion berichtet, also aus der Arbeitswelt, die nicht die der akademischen, der qualifizierten Arbeiterklasse ist, sondern vor allem, weil es 2013 zum Ausgangspunkt nimmt und damit eines der sehr wenigen Beispiele an Nachwende-Gegenwartsliteratur ist, in denen über die Agenda 2010 hinaus geschrieben wird, bis in die Gegenwart. Es gibt zwar viele Romane übers 20. Jahrhundert, aber die meisten enden irgendwann in den 1990er Jahren. Also Ingo Schulzes „Peter Holtz“,5 zum Beispiel, wunderbarer Roman, oder auch „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge,6 Clemens Meyer,7 Peter Richters „89/90“,8 Regina Scheers „Machandel“9 oder auch „Trutz“10 von Christoph Hein. Das sind allesamt hervorragende Romane, aber sie wagen sich nicht an die Agenda 2010 ran, beziehungsweise unternehmen nicht das Wagnis, bis in die Nach-Agenda2010-Gegenwart hineinzuschreiben. Jetzt kann man fragen, wenn das also eine so große Zäsur in der deutschen Geschichte gewesen ist, warum passiert das eigentlich nicht? Wenn man sagt, dass es eine der größten Zäsuren war, dann müsste man ja davon ausgehen, dass welthaltige Literatur sie reflektiert. Mir ist ein Beispiel eingefallen, weil du ja über Krupp in Magdeburg versus Krupp in Essen gesprochen hast. Da gibt es diesen epischen DEFA-Mehrteiler „Krupp und Krause“11 aus dem Jahre 1968, der deutsche und deutsch-deutsche Geschichte bis in die Gegenwart der 1960er Jahre beschreibt. Geschildert wird die Spaltung zwischen den Arbeiterfamilien und der Krupp-Familie, ohne Arm kein Reich, ohne Arbeiter keine Bourgeoisie und umgekehrt, relationaler Klassenbegriff. Man kann diese Geschichte vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre sehr gut erzählen, weil die Zäsuren – Krieg, Revolution, Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Krieg, Kalter Krieg – so sichtbar sind. Ähnliches gilt für „An den Stromschnellen“ von Berta Waterstradt, besser bekannt als der Film „Die Buntkarierten“ von Kurt Maetzig,12 der die Kriegund Friedensthematik von den 1880er Jahren bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit schildert. Auch so lässt sich über die großen Zäsuren der deutschen Geschichte ein Spannungsbogen legen, in dem die deutsche Geschichte von unten reflektiert wird: Entstehung der Arbeiterbewegung als Massenbewegung ab den 1870er Jahren, dann ihre Verheizung im Ersten Weltkrieg, die deutsche Revolution von 1916 bis 1923 als Teil des internationalen Revolutionszyklus‘, dann 1933 der Faschismus, der antifaschistische Widerstand. 1945 endet es oftmals mit dem Versuch des Neuaufbaus, den Hoffnungen auf ein neues Deutschland, auf ein anderes Deutschland. Das lässt sich also alles gut erzählen. Warum kommt aber dann die Zäsur Agenda 2010 nicht in der deutschen Gegenwartsliteratur vor? Man könnte drei Gründe nennen, warum das so ist. Entweder kann man sagen: durch die Deindustrialisierung gibt es die Landschaft der Industrie nicht 5  Ingo Schulze: Peter Holtz. Frankfurt/M.: Fischer 2017. 6  Eugen Ruge: Zeiten abnehmenden Lichts. Hamburg: rororo 2013. 7  Clemens Meyer (*1977), deutscher Schriftsteller. 8  Peter Richter: 89/90. München: Luchterhand 2015. 9  Regina Scheer: Machandel. München: Knaus 2014. 10  Christoph Hein: Trutz. Berlin: Suhrkamp 2017. 11   D DR 1968/1969 TV-Spielfilm. 12   Gemeint ist: Berta Waterstradt: Während der Stromsperre. Hörspiel. Regie: Hanns Fahrneburg, Berliner Rundfunk 1948; verfilmt: Die Buntkarierten unter der Regie von Kurt Maetzig, DEFA, 1949.

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mehr, weshalb man heute, gerade in einem durch die verfrühte Währungsreform deindustrialisierten Osten keine langen Berufsbiografien mehr erzählen könne. Man könnte auch poetologisch argumentieren und sagen, dass die Agenda 2010 sich schlecht als Zielpunkt eines Spannungsbogens eignet. Es ist eben einfach, mit dem Krieg zu enden oder mit den Hoffnungen auf Neubeginn. Aber so einen langen Neoliberalisierungsprozess seit den 1970er Jahren, da fehlt irgendwie der Bäng der Geschichte, der Tod im Krieg oder so ähnlich. Ich glaube aber, es gibt noch eine dritte, wesentliche Erklärung, dass nämlich diese Zäsur selber umstritten ist, dass es Teile in der Linken gibt – du hast das Beispiel der Drittwegssozialdemokratie genannt, also New Labour, Neue Mitte, New Democrats –, die bis heute behaupten, dass die Agenda 2010 die richtige, alternativlose Entscheidung war, obwohl sie die SPD zerstört hat. Indes sind die Grünen wirtschaftspolitisch ja auch und noch immer weiter nach rechts gerückt. Und so, denke ich, kommt man dem auf die Spur, dass es nämlich die rotgrüne „Einschreibung“ der Linken in den Neoliberalismus gewesen ist, der „progressive Neoliberalismus“,13 wenn man so will, die dafür verantwortlich ist, dass diese Zäsur dem linksfühlenden Schriftsteller von heute gar nicht als Zäsur erscheint. Klaus Dörre hat ja gesagt, dass die Leute in den Betrieben sich als unten wahrnehmen, weil sie als Arbeiter verschiedene Abwertungserfahrungen gemacht haben. Die Frage ist, wie kann die Literatur diese verschiedenen sich auseinander entwickelnden Erfahrungen bündeln in eine Erzählung, in der die Zäsur Agenda 2010 vorkommt? Vielleicht könnte man das machen, indem man tatsächlich auch die Spaltung der Linken beschreibt, dass einige Leute, die in den 1980er Jahren mit in Friedensbewegungen demonstriert haben, sich dann 1999 im rot-grünen Kosovo-Krieg plötzlich auf der gegenüberliegenden Seiten der Barrikade wiederfanden. Die sich bei der Agenda 2010 als Gegner gegenüberstanden, hier der sozialdemokratische Funktionär, dort der Demonstrant bei den gigantischen Gewerkschaftsprotesten von damals, oder der WASG. Oder Protagonistinnen, die sich plötzlich auch in der Frauenfrage als Gegner wiedersahen – diejenigen, die eine totale Sozialisierung der Reproduktionsarbeit wünschen und plötzlich denen gegenüberstanden, die die Quotenregelung in Dax-Konzernen und Sprachrepräsentation als das Höchste der Gefühle verkaufen müssen. Kurzum, die Zäsur taucht also nicht auf, weil sie selber umstritten ist. Ist aber der Zäsurcharakter klar, wie lässt sie sich dann erzählen? Denn erzählt werden muss sie, weil man sonst diese Erzählung für die unteren Klassen nicht hat, die sie allerdings brauchen, weil sie andernfalls eben nach rechts abwandern. Annett Gröschner: Es ist immer schwierig zu sagen, es gibt jetzt diese Zäsur, und wir müssen darüber schreiben. Es ist ja umgekehrt. Man entwickelt die Figuren und eine Geschichte und schreibt dann darüber. Es ist einfach ein Prozess, der länger braucht. Ich glaube, dass es wahrscheinlich noch einige Romane geben wird, wo es darum geht. Also es dauert manchmal Jahre, Jahrzehnte, manchmal ist die Zeit dann auch darüber hinweggegangen. Das ist ja immer das Problem. Wir sind eben keine schnelle 13  Begriff von Nancy Fraser (*1947, US-amerikanische Philosophin) für die Allianz zwischen progressiven Kräften und kognitivem Kapital, etwa der Silicon-Valley-IT-Branche, vgl.: Nancy Fraser: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (Februar 2017), online: https://www. blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/februar/fuer-eine-neue-linke-oder-das-ende-desprogressiven-neoliberalismus (zuletzt eingesehen am 10.5.2019).

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Eingreiftruppe und können sagen: „Okay, das ist jetzt passiert, und jetzt schreiben wir mal ganz schnell was darüber.“ Es gibt Formen, in denen man es machen kann, aber wenn es wirklich Romane sind, die brauchen einfach eine Zeit. Ich habe sehr viele Interviews gemacht, ich war ein Jahr im Archiv. Aber wenn ich das eins zu eins aufschreiben würde, das würde niemand lesen wollen. Ich selber auch nicht. Also das muss erst durch mich durch. Das muss erst eine Geschichte werden. Das braucht manchmal 10 Jahre. Manchmal ist es dann halt auch zu spät und wird nichts mehr. Thomas Wagner: Wenn wir über Neoliberalismus reden, ist es nicht notwendig, nur darüber zu reden, was die Sozialdemokratie vor 10, 15 Jahren gemacht hat. Christoph Butterwegge hat zu Recht auf das Thema Digitalisierung aufmerksam gemacht. Es ist, glaube ich, das bevorzugte Einfallstor für neoliberale Anpassungsprozesse innerhalb der SPD und innerhalb der Gewerkschaften, mit dem Argument, von der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse hätten auch die abhängig Beschäftigten eine ganze Menge. Als ich vor zwei, drei Jahren als Journalist auf einem ver.diDigitalisierungskongress eingeladen war, ist mir die Gänsehaut gekommen, wie da mit Andrea Nahles14 gemauschelt wurde. Man war sich einig, dass die gegenwärtigen Digitalisierungsprozesse am Ende viel für die abhängig Beschäftigten in den Betrieben und außerhalb der Betriebe brächten. Da hatte ich den Eindruck, es wird wieder so ein neues Vehikel aufgesattelt, mit dem man die gleichen Geschichten weitertreibt. Das zweite Moment ist, dass Grundüberlegungen sozialdemokratischer Natur verloren gehen, wie die, dass große einflussreiche Medien nicht in privater Hand sein sollten. Jetzt speziell in Bezug auf die Digitalisierung gedacht die Überzeugung, dass Social-Media-Unternehmen nicht in private Hand gehören. Wenn man dann fordert, darüber nachzudenken, wie die in öffentliches Eigentum überführt werden könnten, bekommt man selbst in linksradikalen Zeitungen wie der Jungen Welt nur sehr, sehr wenig Zustimmung, nach dem Motto: „Das ist alles nur Reformismus. Was wir brauchen, ist die große Umwälzung und die große Revolution, und danach können wir das vergesellschaften.“ Ich versuche seit Jahren, diese Themen zu setzen, das überhaupt medial ins Gespräch zu bringen. Mit sehr wenig Erfolg. Ich gucke die ganze Zeit rüber zu dem Büchertisch. Das ist ja auch eine Geschichte, die man erzählen kann. Wie Buchhändler, Buchhändlerinnen, die von so einem Kongress erfahren haben, darin eine Chance sehen, ein Publikum zu finden, um inhaltlich wichtige Bücher an Käuferinnen und Käufer zu bringen. Wie dann die Bücher bei den Verlagen oder bei den Zwischenhändlern bestellt werden, wie die dann ausgepackt, in das Auto gepackt, hierhergefahren werden – mittlerweile gab es eine Wachablösung da, das ist die dritte Person, die da jetzt sitzt am Büchertisch –, um dann die Möglichkeit zu offerieren, die Bücher auch zu kaufen. Ich habe vorhin mal gefragt: „Wie viele Bücher sind denn bisher verkauft worden?“ Es waren vier. Das ist auch eine Geschichte, die ich nebenbei mal so erzählen wollte, weil mir das ständig auffällt bei Lesungen, mit wie viel Leidenschaft da noch teilweise ältere Herrschaften sich aufmachen und abends einen Büchertisch machen, nachdem sie sich die Füße plattgetreten haben in ihren Läden, um dann einem mehr oder weniger desinteressierten 14  Andrea Maria Nahles (*1970) ist eine deutsche Politikerin (SPD). Sie war von September 2017 bis Juni 2019 Fraktionsvorsitzende und in Personalunion von April 2018 bis Juni 2019 auch Parteivorsitzende der SPD. Zuvor war sie von 2013 bis 2017 Bundesministerin für Arbeit und Soziales im Kabinett Merkel III und von 2009 bis 2013 SPD-Generalsekretärin.

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Publikum ihr Angebot zu präsentieren, was sich die Bücher anguckt und hinterher aber bei Amazon bestellt. Stimme aus dem Publikum (Maria Wedegärtner): Man kann als Schriftstellerin und als Schriftsteller, wenn man tagesaktuell oder schnell sein möchte, inzwischen auch Blogs betreiben und sich anders zu Wort melden, wie das Frau Jelinek15 oder Frau Streeruwitz16 machen. Diese Möglichkeit gibt es. Heute Morgen kam dieses Argument, Literatur ist mehr als Beschreiben. Das wäre auch noch mal ein Thema, was ist eigentlich die bessere Möglichkeit? Das eine ist, eine Studie zu machen, die sich an bestimmte Regeln halten muss, und die andere Möglichkeit ist zum Beispiel, in einem Roman etwas aufzugreifen, was vorbei ist. Also etwas sichtbar zu machen, was es so gar nicht mehr gibt, innere Monologe, alles Mögliche einzubringen, mit dem etwas sichtbar gemacht werden kann, was in anderen Disziplinen vielleicht etwas schwieriger ist. Das Ästhetische hat die Möglichkeiten, etwas aufleben zu lassen, Welten, die nicht mehr da sind oder die noch nicht da sind. Das geht über die reine Beschreibung hinaus. Und abgesehen davon denke ich, dass eine Beschreibung so gut, so verdichtet und so kunstvoll sein kann, dass das schon literarisch ist, dass das genügt. Also für mich hat immer noch so was wie Maxie Wanders17 „Guten Morgen, du Schöne“, was verdichtete Tonbandprotokolle waren, einen großen ästhetischen und politischen Reiz. Ich fände gut, wir würden dieser Spur noch ein bisschen folgen. Also was kann Literatur? Was kann sie über das Beschreiben hinaus? Stimme aus dem Publikum (Manfred Koch): Die Schilderungen von Annett Gröschner haben mich ein bisschen erinnert an die Zeit, als ich vor knapp 54 Jahren nach Dortmund kam. Ich habe als Sozialist mich auch immer als Gewerkschafter verstanden. Insofern habe ich mal ehrenamtlich, mal bezahlt für Gewerkschaften gearbeitet und habe als einer, der 1975 nach Dortmund kam, ein Ruhrgebiet, eine Stadt Dortmund erlebt, die widersprüchlich war. Wir hatten eine SPD, die wesentlich mit den Gewerkschaften das Stadtklima bestimmte, die viele chilenische Exilierte in vorbildlicher Weise aufgenommen und integriert hat. Und es war ein Konsens – nicht nur bei kleinen Minderheiten in der SPD –, sich um diese Leute im besten Sinne persönlich wie auch politisch zu kümmern. Ich habe es immer für Dummheit gehalten, wenn irgendwelche verbalradikale Linksradikale kamen mit „Verrat und die Bösen in der Spitze“ und so weiter. Ich halte das für dummes Zeug. Aber andererseits bin ich nicht bereit, so zu tun, als ob es nur eine kämpfende SPD gegeben hätte. Es hat schleichende oder offene Anpassungsprozesse von Gewerkschaften und SPD, gemeinsame ideologische Verluste gegeben und – wie ich sagen würde – auch Offenheit für eine subkutan und millimeterweise vollzogene Öffnung gegenüber dem Neoliberalen. Mit Bezug auf die Presselandschaft muss man einfach sagen, dass damals Teile der SPD wie der CDU den Funke-Konzern lenkten, und dafür steht zum Beispiel jemand

15  Elfriede Jelinek (*1946) ist eine österreichische Schriftstellerin, die in Wien und München lebt. Im Jahr 2004 erhielt sie den Literaturnobelpreis. 16  Marlene Streeruwitz (*1950) ist eine österreichische Schriftstellerin und Regisseurin. Sie lebt in Wien, London und in New York. 17  Maxie Wander (1933-1977) war eine österreichische Schriftstellerin, die in der DDR lebte und arbeitete.

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wie Bodo Hombach.18 Repräsentanten einer neoliberal verseuchten SPD waren beteiligt. Wir haben hier einen hochkomplexen Vorgang, der es wahrscheinlich wert wäre, literarisch mal aufgearbeitet zu werden – einen hochkomplexen Vorgang von Kampfesstärke, von politischen Konsequenzen, von Sozialdemokratie in der Auseinandersetzung mit Verlust von Arbeit, Verlust von Industrien, Verlust von Kampfstärke. Wir haben eine ideologische Verwüstung, leider – sag ich als Gewerkschafter – bis in die Gewerkschaften. Ich habe mit IG BCE19-Leuten zusammengearbeitet. Aber was ich da zu Fragen wie Klimawandel und so weiter erlebe mit Kollegen aus der IG BCE, mein lieber Scholli, schönen Dank. Stimme aus dem Publikum (Eberhard Weber): Ich habe versucht, in einem sehr knapp bemessenen, kurzen Beitrag, der persönlich eingefärbt war, eine in der Tat komplexe Situation durchaus kritisch zu beleuchten, auch mit der Bemerkung, dass das keine Ruhmesleistung für die Gewerkschaft war, keine Frage. Ich habe aber versucht auch deutlich zu machen, dass es nicht so einfach ist zu sagen, die Gewerkschaften haben komplett versagt. Ich könnte Betriebe, Betriebsratsvorsitzende, ich könnte führende Gewerkschaftsvorsitzende auflisten, die damals wie heute, auch heute in Rente, mit großer Hartnäckigkeit gegen Hartz IV und gegen die Reform des Arbeitsmarktes aufgetreten sind. Ich kenne aber auch welche, auch heute noch, die daraus nicht gelernt haben und heute auch noch als führende Gewerkschaftsvertreter gesagt haben, das sei notwendig gewesen, weil kleineres Übel und so weiter. Insofern stimme ich dir zu, dass wir es hier mit einer hochkomplexen, schwierigen Situation zu tun haben, und es würde sich sicherlich lohnen, auch mal auf der regionalen Ebene diese Situation, was passiert ist, warum es wie organisiert worden ist, mal nachzuzeichnen. Erasmus Schöfer: Ich erinnere mich an eine ganz andere Demonstration, nämlich 1968 als wir gegen die Notstandsgesetze mobilisiert haben. Da sind auf der Wiese vor der Bonner Universität 300.000 Leute zusammengekommen aus der ganzen Bundesrepublik, und wer war nicht dabei? Die Gewerkschaft. Denn sie hat extra an demselben Tag eine Gewerkschaftsversammlung gemacht hier in Dortmund, glaube ich, oder in Bochum. Das war eine aktive Spaltung der Bewegung. Also das ist auch kein Ruhmesblatt der Gewerkschaft. Ich bin jetzt 45 Jahre in der Gewerkschaft und habe da sehr viel erlebt, auch an Positivem. Aber eben 1968, als wir uns gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze gewehrt haben, an den Münchener Kammerspielen zum Beispiel einen Streik organisieren wollten – dass die Gewerkschaft, in dem Fall die Bühnengenossenschaft, dagegen ganz hart polemisiert hat und gesagt hat: Wer da mitmacht, der fliegt raus. Also die Gewerkschaft hat damals unterstützt, dass die Notstandsgesetze verabschiedet wurden. Was das für Folgen hatte, sehen wir heute, wenn wir mal die Polizei sehen, wie sie ausgerüstet ist, wenn es eine Demonstration gegen die Rechten gibt. Das sind nämlich die Folgen der Notstandsgesetze. Was die Darstellung der Arbeitswelt in der Literatur angeht, wird ja in meinem Roman „Die Kinder des Sisyfos“ ein großer Betrieb wie das Stahlwerk Rheinhausen von innen und von außen geschildert. Die Arbeiter kommen hier vor, und es kommt ihr Kampf vor und das ganze Funktionieren eines Stahlwerks, die Stahlproduktion, 18  Bodo Hombach (*1952) ist ein ehemaliger deutscher Politiker (SPD) und Verlagsmanager. 19  Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie

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das ist alles hier drin. Es hat nur keiner gelesen. Deshalb entsteht dann der Eindruck, dass die Arbeitswelt nicht vorkommt. In meinen Romanen kommen noch andere Arbeitsstellen vor, angefangen mit dem Theater als Arbeitsstelle und dann mit der Glashütte als Arbeitsstelle und so weiter. Also ich habe mich schon bemüht und will das wenigstens anführen als Beispiel, dass es das doch gibt, dass das nur kaum wahrgenommen wurde, als diese Bände erschienen, weil ich dieses linke Image hatte. Als alter Gewerkschafter bist du da als Schriftsteller mehr oder weniger abgestempelt in den Augen der bürgerlichen Kommentatoren, und die anderen gab es eben nicht mehr, die hier in unserem Sinne solche Sachen wahrgenommen hätten. Anke Stelling: Ist Literatur eine Dienstleistung? Also Sie haben gesagt, es könnte auch mal literarisch aufgearbeitet werden. Dann ging es um die Frage, warum fehlt die Gegenwart oder die Agenda 2010, was ja auch nicht mehr Gegenwart ist, das fing ja nicht erst 2010 an. Wenn man sich hier streitet, dann über die Aufarbeitung. Wie war es denn nun genau? Man ist selbst Protagonist der Geschichte, und dann wünscht man sich die Literatur als Dienstleister, die das nachzeichnet, wo man selbst drin vorkommt, das die eigene Geschichte erzählt. Sich selbst in den Ring zu werfen, heißt, dass man dann nicht mehr diese Reflexion der Verstrickung vermeiden kann, das ist riskant. Vorhin fiel das Stichwort Spaltung der Linken – dann muss man eben auch so was erzählen, und dann weiß man vielleicht gar nicht so, ob man auf der richtigen Seite war, wenn man aus der Gegenwart erzählt. Das ist aber genau das Interessante. Und ich glaube, dann wird es auch spannend, weil dann ist der Konflikt mit drin in der Literatur, und dann ist es eben nicht so ein Rechthaben, sondern dann ist es ein Miterleben. Das ist das, was ich ästhetische Erfahrung nenne. Dann kann ich mich da reinbegeben. Aber dazu braucht es Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die dieses Risiko eingehen. Stimme aus dem Publikum (Iuditha Balint): Ich fand es sehr schön, Annett, wie deine Erzählerin aus der Perspektive einer Akademikerin so über diese anderen Gruppen und Berufe berichten kann, dass sie sie nicht vereinnahmt und auch nicht überschreibt, weil es auch ihre eigenen Erinnerungen waren oder sind. Und was ich auch schön fand, war diese Gleichförmigkeit, die – also positiv gemeint – Monotonie der Sprache, die dann überraschenderweise auch noch damit endet, dass es klar wird, sie schreibt auf einer Schreibmaschine. Was ich auch sehr schön fand, war die Reflexion über die Rolle des Erzählens in der Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte. Das ist das, was deine Erzählerin macht. Und schön fand ich auch, dass diese erzählende Wissenschaft als Medium der Welterfahrung, auch der Selbsterkenntnis, deutlich wird in deinem Text. Die Literatur der Arbeitswelt ist mehr als die Literatur der Arbeiter und Arbeite­ rinnen. Das, worüber ihr schreibt, ist mehr. Trotzdem ist die Arbeitswelt da immer mit dabei. Aber es ist die Arbeit als Metapher da, wenn man über die Arbeit selbst redet, und es ist die Arbeit da als Denkmodell, wenn man über Arbeit als Lebenssinn redet. Und zwar nicht mehr so wie Kant vor 200 Jahren, sondern tatsächlich in einer ausgearteten Art und Weise als entgrenzte Arbeit und viel zu präsent gewordene Arbeit als Lebenssinn. Arbeit ist auch die Arbeit der kreativen Wissenschaftlerinnen, der Künstler und der Managerinnen und so weiter. Insofern sehe ich es nicht so, dass Arbeit und Arbeitswelt nicht mehr vorkommen oder viel zu selten vorkommen in der Literatur. Im Gegenteil. Vielleicht ist es auch nur meine Perspektive, aber ich finde

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kaum ein Werk, in dem Arbeit überhaupt keine Rolle spielt. Nur geht es – und ich glaube, da kommen wir dann schon zusammen – tatsächlich sehr selten um Arbeitsprozesse. Andere würden sagen, Naturbeschreibungen kommen viel zu selten vor in der Literatur und würden das beklagen. Was nicht ganz vergleichbar ist, weil es hier um eine soziale Frage geht. Aber ich glaube, da ist der Punkt, an dem wir zusammenkommen können, dass die Arbeitsprozesse eher eine geringere Rolle spielen. Stefan Schmitzer: Ich denke, wir haben es eher damit zu tun, dass wir uns mit dem theoretischen, dem ästhetischen Vokabular, das wir als Autorinnen und Autoren haben, dem Phänomen, dem wir uns gegenübersehen, nicht so richtig gewachsen fühlen. Wir haben ja die letzten 150 Jahre so etwas wie eine Tradition des literarischen Realismus und dazu komplementär eine Tradition der literarischen Avantgarde, die eine bestimmte Sprache und ein bestimmtes Zeichenrepertoire haben, um von sozialen Zusammenhängen zu handeln. Es hat sich eine bestimmte Sorte von Sicherheiten entwickelt, und dieser gesamte Apparat, in dem und für den und mit dem sich Leser und Autoren bewegen, hat bis zu einem bestimmten Punkt funktioniert, aber er versagt angesichts einer Wirklichkeit, die sich irgendwann einmal zwischen Ende des Kalten Kriegs und endgültigem Sieg der Thatcheristen ergeben hat. Meine Behauptung wäre, da geht es nicht um das tatsächlich zu Erkennende, sondern einfach um die schiere Mannigfaltigkeit an Zeug, das man erst mal bewältigen muss, um dann zum theoretisch Verwertbaren irgendwie vorzudringen. Und meine Behauptung wäre, eine realistische Art zu schildern, wäre einfach vier Stunden stream of consciousness, Cut-up aus Fernsehen, Pop-Radio, Kinderfernsehen, Werbung. Um dann irgendwie zum Punkt kommen zu können, wo man die soziale Wirklichkeit aus diesen Stimmen schildern kann, nicht weil sie so komplett anders wäre als das vorherige. Aber weil das Material so viel größer und so viel inkonsistenter, so viel bunter geworden ist. Bei Annett Gröschner ging es dann nur über das Bild eines Untergangs, dass man das unmittelbare Erzählen noch rettet, also das Bild dieser Überflutung, von der aus geblickt wird. Da geht was unter. Aber eben in dem Moment, wo wir mehr wollen, wo wir uns da freispielen wollen, da glaube ich nicht, dass man mit realistischer Schilderung überhaupt noch weiterkommt. Annett Gröschner: Die Überflutung setzt Geschichten frei. Bei allen Überflutungen ist es so, es werden zuerst die Keller ausgeräumt. Da findet man hunderttausend Erzählanlässe. Eigentlich ist es eher eine Chance, vielleicht auch Sachen loszuwerden. Vorhin war noch die Frage, was ich kann oder was Literatur kann. Ich glaube, wir können ganz viel, und wir können aber auch gleichzeitig wiederum ganz wenig, und wir können es nicht so ganz schnell. Zumindest wenn es Erzählungen oder Romane sind, dauert es halt eine Weile, aber es gibt andere Formen, wie Sie auch schon sagten, wie Blogs oder andere, ja das Internet. Christoph Butterwegge: Ich wurde 1974/75 aus der SPD ausgeschlossen, und ich denke, da gab es wichtige Zäsuren. Dortmund war nicht irgendeine Region, sondern wurde von Erich Ollenhauer20 als „Herzkammer der Sozialdemokratie“ bezeichnet. Also damals – ich war Juso-Funktionär, als ich ausgeschlossen wurde – hatte der 20  Erich Ollenhauer (1901-1963) war von 1952 bis 1963 SPD-Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender der SPD im Deutschen Bundestag.

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Unterbezirk Dortmund deutlich mehr als 35.000 Mitglieder. Heute sind es – glaube ich – weniger als 8.000. Hieran kann man den Niedergang ablesen. Damals war die Auseinandersetzung linker Sozialdemokraten mit der neoliberalen Wende ihrer Partei schon im Gange. Und die Anekdote, die mir dazu einfällt, ist charakteristisch für diese Zeit. Ich traf nach meinem Ausschluss den Dortmunder Oberbürgermeister Günter Samtlebe21 im Westfalenpark. Und er sagte zu mir – das sollte ein Scherz sein –, zu dem ausgeschlossenen Juso-Funktionär sagte er: „Christoph, lass uns mal hinter den Busch da vorne gehen, damit mich niemand mit dir zusammen sieht.“ Das war ironisch gemeint, dokumentierte aber ziemlich gut meine Ausgrenzung als Juso-Funktionär, der bis zur Einleitung des Parteiordnungsverfahrens seine ganze Freizeit in die Parteiarbeit gesteckt hatte. Und gleichzeitig machte es kenntlich, wie das Klima innerhalb der Partei war. Schon allein gesehen zu werden mit einem Linken, war irgendwie stigmatisierend oder wurde so empfunden. Das heißt, die innerparteilichen Auseinandersetzungen wurden seinerzeit mit harten Bandagen geführt, und wir haben sie mit Ach und Krach verloren.

21  Günter Samtlebe (1926-2011) war ein deutscher Politiker und von 1973 bis 1999 Oberbürgermeister (SPD) der Stadt Dortmund.

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Die Gender-Frage

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Die Verschränkung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen Stefanie Hürtgen Ich habe überlegt, wie man zu dem schon sehr besetzten Thema der Verschränkung von Geschlechter- und Klassenverhältnissen etwas sagen kann, das hoffentlich Denk- und Diskussionsanstöße gibt. Ich habe mir überlegt, dass ich an drei Grundsätzlichkeiten erinnere, die jetzt für viele wahrscheinlich nicht per se neu sind, denn ich gehe davon aus, dass wir uns alle in der einen oder anderen Weise wissenschaftlich, außerwissenschaftlich mit dieser berühmten Geschlechter- und Klassenfrage befassen. Aber ich will versuchen jeweils zu gucken, was daran heute noch spannend ist, um dann am Ende einen Ausblick zu geben, der an die Diskussion des heutigen Tages anschließt. Der Ausgangspunkt, meine erste Erinnerung ist, dass, wenn wir von der Verschränkung der Klassen- und Geschlechterverhältnisse sprechen, wir natürlich nicht davon ausgehen sollten, dass Geschlecht und Klasse quasi wie zwei Heinzelmännchen getrennt voneinander hin- und herlaufen und irgendwann dann aufeinander zu laufen und sich verschränken. Die geschichtliche und auch die begriffliche Entwicklung gehen den umgekehrten Weg. Ich finde es immer wieder sehr bereichernd, da auf den Begriff von Karin Hausen zurückzugreifen, auf das, was sie mit Bezug auf die Debatten des 18. und 19. Jahrhunderts, als die Geschlechtscharaktere des Männlichen und des Weiblichen bezeichnet.1 Das heißt: Wir sprechen über die Entwicklung des modernen Kapitalismus, über die Herausbildung einer gesellschaftlichen, nach außen auf den Markt gerichteten Arbeitsteilung, einer zumindest industriellen Arbeitsteilung und insbesondere dann einer häuslichen, heimischen Arbeitsteilung im Rahmen eines Systems von Warenproduktion. In diesem entstehen die bis heute wirksamen typischen Wesensdarstellungen, vermeintlichen Wesenscharaktere von Geschlecht. Man kann eigentlich gar nicht aufhören, sich das immer wieder selbst klarzumachen, was da für Dichotomien sich gegenüberstehen. Ich will nur mal *  Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung des frei gehaltenen und transkribierten Vortrags. Der Text wurde um Literaturangaben ergänzt, der Vortragscharakter wurde beibehalten. 1   Karin Hausen: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen 2013.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_016

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einige nennen: Das Männliche ist besetzt damit, dass es sachlich ist, dass es rational ist, dass es vorausschauend denkt, durchsetzungs- und konkurrenzfähig ist. Da haben wir natürlich die Warenproduktion sofort auch drin. Es ist individuell geprägt und in seinem Handeln und in seiner Denkweise vor allen Dingen auch objektiv angelegt. Das Weibliche dagegen ist als gefühlvoll zu verstehen, sensibel, anpassungsfähig, sozial – also als Gegenstück auch zum Individuellen des Männlichen. Es ist intuitiv im Gegensatz zum Objektiven. Sehr materiell zugespitzt auf die kapitalistische Gesellschaft steht das Männliche, der männliche Geschlechtscharakter, dafür, Produkte, Waren zu erzeugen. In diesem Kontext tritt auch der berühmte Begriff der Produktivität auf und die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Es werden also quasi handfeste Waren, verkaufbare Waren erzeugt, während das Weibliche dafürsteht, das Menschliche zu erzeugen und zu bewahren. Damit geht eine irreführende Abtrennung der Arbeit und der Naturverhältnisse, also der ökologischen Fragen, von der Produktion einher. Wir sehen das heute wieder neu belebt in der De-Growth- und Ökologiedebatte. Für all das steht dann das Weibliche, was sich eben um die Pflege des Lebens, der Natur, des psychisch wie physisch Verletzlichen kümmert. Dabei gehört zum Männlichen und Weiblichen auch die Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem: Das Männliche ist öffentlich sichtbar, findet im öffentlichen Raum gesellschaftliche Anerkennung und die Weiblichkeit ist eher in den privaten Räumen verortet. Ich fand das spannend in der vorletzten Sektion, als wir über solche Abstraktionen dann zur Frage der Zuordnungen gekommen sind. Ich kenne das von meinen Studenten und ihre Sorgen, das und wenn man diese Dichotomien moralisierend betrachtet. Also: „Ist jetzt etwa jeder Mann ein Macho?“ Oder wenn viele Studentinnen sagen, sie seien keine Feministinnen, weil sie sie sich nicht in eine Opferrolle hineinbegeben möchten. Sie würden sich ja nicht nur im Haus bewegen und so weiter. Meines Erachtens kommen wir mit diesen Abstraktionen schon weiter, solange wir der Tatsache eingedenk bleiben, dass hier nicht empirische, männliche Geschöpfe gemeint sind und dass wir natürlich viele von diesen Charakterisierungen neuerdings auch in weiblicher Form vorfinden können. Aber diese Trennung, darauf will ich hinaus, sie ist das Entscheidende. Und diese Trennung reißt etwas auseinander und sie reißt es in einer bis heute unguten und teilweise desaströsen Weise auseinander; und darüber möchte ich heute sprechen. Mein erster Gedanke bezieht sich immer noch auf diese dichotomische Trennung. Auf der Oberflächenebene scheint sich in Bezug auf diese Zweiteilung ja eine ganze Menge zu tun. Denken wir zum Beispiel an die sogenannten „Techniktage“, die „Girls‘ Days“ in den Betrieben, deren Ziel es ist,

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Mädchen an technische Berufe heranzuführen. Eine Maßnahme, die ja im allgemeinen Kontext des Gendermainstreaming steht und mit dem Ziel verknüpft ist, Frauen stärker in die Berufswelt einsteigen zu lassen. Auf dem ersten Blick erscheint das als Modernisierung, als Aufbrechen dieser tradierten Rollen; und lebensweltlich gesprochen ist es das natürlich auch. Es hat etwas bewirkt in der Arbeitswelt. Dabei mag man auch hinzufügen, dass diese Debatten, die wir heute führen, durchaus auch als breiter Erfolg der Frauenbewegung angesehen werden können. Liest man zum Beispiel die Diskussionen, die in den 1970er und 1980er Jahren in der „Prokla: Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“ (ehemals „Probleme des Klassenkampfs“) geführt wurden, dann findet man viele feministische Statements, die in diesem Sinne dafür plädieren, den Arbeitsmarkt durchlässiger zu machen, die für gleiche Quoten plädieren in bestimmten Branchen und die durchaus auch explizit Männerdomänen in bestimmten Fachberufen problematisieren und hier für Deregulierung plädieren. Wir finden Texte von Frauen, die dafür plädieren, die Eintrittsbarrieren für Frauen zu senken. Wir stoßen also hier auf die Problematik, über die wir heute im Laufe des Tages auch schon gesprochen haben, nämlich auf das, was Nancy Fraser die Vermischung von sozialen Bewegungen und Neoliberalismus nennt. Oder anders formuliert: Wir sind in einer gewissen Weise nicht frei von Schuld, wenn wir das ideologische Desaster der Jetztzeit betrachten und wir müssen uns immer wieder auch selbst befragen, was war unser eigener Beitrag zu diesem Desaster? Aber auf der Oberfläche sieht es nach diesem Erfolg aus: Wir haben immer mehr Frauen im Berufsleben etabliert, Selbstverwirklichung wird groß geschrieben, das Weibliche wird nicht mehr aufs Private reduziert und so weiter; und doch gibt drei dicke Pferdefüße, die man in die Debatte holen muss. Der erste ist, dass mit der Art und Weise, wie Frauen in die Lohn- und Erwerbssarbeit hineingezogen werden, faktisch noch mal eine viel stärkere Retraditionalisierung und eine Retradierung von der so genannten privaten Hausarbeit einhergeht, obwohl das offiziell so nicht gesagt wird. Es wird nicht normativ gesagt, zumindest nicht von der neoliberalen Fraktion im Feminismus. Es wird nicht normativ gesagt: „Die Frauen sollen zurück an den Herd.“ Das machen dann andere. Aber faktisch durch die „Landnahme“, wie Klaus Dörre sagen würde, also durch die Privatisierung der ehemals zu weiten Teilen staatlichen und besser ausfinanzierten Versorgetätigkeiten, insbesondere in Pflegediensten, und durch ihre verstärkte Verlagerung auf private Pflegetätigkeiten – ich denke zum Beispiel an die Altenpflege – findet quasi hinterrücks eine ganz massive Retraditionalisierung statt, obwohl wir uns vermeintlich in eine progressive Richtung von mehr Arbeits- und Berufsbeteiligung befinden.

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Diese Tatsache hat aber nun – und das ist der zweite Pferdefuß – zu einer ungeheuren Krise der Sorgearbeit geführt. Es ist gesellschaftlich völlig ungeklärt, wer jetzt dafür zuständig ist. Faktisch wird es über Verteilung nochmal reprivatisiert, nochmal durch private, unsichtbare, weibliche Arbeit erledigt. Und es wird über weibliche Arbeit aus anderen Ländern in illegalisierter Weise erledigt, und zwar nicht, weil diejenigen, die dann Putzfrauen und Pflegekräfte aus Polen, Rumänien, Bulgarien und weiter östlich liegenden Ländern in ihren Privathäusern beschäftigen, sonderlich schlechte Menschen wären, sondern weil eine bestimmte staatliche, gesellschaftliche Verantwortung für die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit nicht mehr stattfindet. Es ist ja klar: Jeder, der mal so einen Pflegefall in der Familie gehabt hat, wird sich daran erinnern, dass man es sich dann überlegt, was das so kostet und wie man das irgendwie auf die Reihe bekommt, weil sehr viele Menschen das Geld nicht haben, um im Monat 2.000 Euro oder mehr für einen Pflegeplatz auszugeben. In der wissenschaftlichen Literatur sprechen wir darum von einer existenziellen Krise der Sorgearbeit, die durch die „Entsicherung der Geschlechterverhältnisse“ – wie eine Kollegin von mir sagen würde2 – entsteht, also das Weibliche soll rein in die Beruflichkeit, aber das Sorgende fällt da raus. Es ist nicht geklärt. Es steht nicht im gesellschaftlichen Fokus. Und damit entsteht faktisch eine Krise, die die dunkle Seite der Modernisierungsbewegung darstellt. Der dritte Pferdefuß dieser vermeintlichen progressiven Bewegung ist nun vielleicht nicht ganz so bekannt. Der rührt daher, wenn man sich nochmal auf die Lohnarbeit selbst und die Forschung hierzu zentriert, und auf nicht „das Weibliche“, Sorgende daheim und in den Familien. Dann stellen wir fest, dass durch eine wahnsinnige Intensivierung, Flexibilisierung und Rationalisierung, die Klaus Dörre in seinem Beitrag sehr gut beschrieben hat und die ja nicht nur bei den Prekären, sondern auch bei den Menschen in Normalarbeitsverhältnissen stattfindet, immer stärker etwas hinten herunterkippt, was man als Kollegialität bezeichnen könnte, was man mit der sorgenden Einstellung an der Arbeit selbst fassen kann. An diesem Punkt können wir noch einmal feststellen, dass diese Trennung in männlich, stark, konkurrenzfähig, rational, objektiv versus weiblich, fühlend, sorgend, natürlich eine scheinbare Trennung ist. Was die Kollegen mir in und für meine Forschung erzählen ist, dass sie keine Zeit mehr haben, sich abzustimmen in einer Kaffeepause, wie man dies und das jetzt auf die Reihe kriegt. Dass man nicht mehr gut aushandeln 2  Katharina Pühl: Zur Ent-Sicherung von Geschlechterverhältnissen, Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik. Gouvernementalität der Entgarantierung und Prekarisierung. In: Katrin Meyer, Patricia Purtschert, Yves Winter (Hg.): Sicherheitsgesellschaft. Foucault und die Grenzen der Gouvernementalität. De Gruyter: Bielefeld 2008.

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kann. Alle, die Arbeitsforschung machen, oder jeder, der ansatzweise was von Arbeitswelten weiß, also da gelebt hat, kennt die typische Formulierung vom „schlechten Tag“. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Man hat Kopfschmerzen, man hat Probleme zu Hause, man hat sonst wie was. Und das gehört natürlich austariert. Ein Arbeitsprozess ist immer, wenn es ein kollektiver Arbeitsprozess ist, eine Abstimmungsleistung, die auch etwas mit einer sorgenden Einstellung füreinander zu tun hat. Und wenn wir uns die Interviews anschauen, dann finden wir nicht nur große Klagen, sondern regelrechte persönliche Erschütterungen. Zum Beispiel werden etwa Dinge gesagt wie: „Das gibt es nicht mehr, hier machen wir jetzt nur noch Dienst nach Vorschrift“. Und das ist jetzt nicht im Streiksinne gemeint, denn das ist ja auch in anderen Kontexten ein latenter Streikbegriff. Gemeint ist ein Dienst nach Vorschrift im Sinne von „ich habe keine Zeit mehr, mich außer um das Nötigste zu kümmern, weil wenn ich mich jetzt noch um mehr kümmere, dann verliere ich komplett den Boden unter den Füßen, das heißt, ich habe auch keine Zeit mehr, mit einem sorgenden Blick um meine berufliche Arbeitsplatzumwelt zu schauen“. Mit anderen Worten: Die Selbstsorge und kollegiale Sorge ist ebenfalls in die Krise geraten. Und sie wird im Grunde nie benannt, wenn in den Zeitungen vom großen Fortschritt der Einbindung des Weiblichen in die Arbeitswelt die Rede ist. Damit komme ich nun zum zweiten Grundgedanken, dass diese jetzt hier beschriebene Trennung in „männlich“ und „weiblich“ sich nicht nur zwischen Heim-, Familie- und Berufsarbeit, Lohnarbeit, außerhäuslicher Arbeit manifestiert, sondern: Wenn Frauen sich im Lohnarbeitsverhältnis befinden, dann nehmen sie bis heute weltweit und auf allen geografischen Scales, also egal ob in der Stadt, ob im Betrieb, ob in der Region, ob weltweit, typische niedere Plätze ein. Also sie sind diejenigen, die bis heute beispielsweise in China am Band stehen oder die in Bulgarien, Rumänien und der Türkei die Klamotten für uns nähen. Das war lange Zeit ja im Grunde eine Gleichsetzung: Wer Dienstleistungsarbeit sagt, meint Frauenarbeit. Es gibt also eine Trennung hinsichtlich der Grundauffassung der Geschlechtscharaktere in der Arbeitshierarchie selbst. Wenn wir jetzt alle über 1968 und 50 Jahre danach sprechen, reden wir im Grunde gar nicht über die „zweite Welle“ von 1968, nämlich die europaweite Streikwelle an den taylorisierten Arbeitsbändern, die wesentlich Frauen und Migrantinnen trugen. Es ist einer dieser historischen Momente, wo man noch mal sichtbar gemacht bekommt, was es bedeutet, in dieser Arbeitshierarchie unten zu stehen. Nicht nur, dass es schlechter bezahlt ist, dass es eine bestimmte Art von körperlich besonders anstrengender Arbeit ist, dass es nicht anerkannte Arbeit ist. Sondern es ist auch immer wieder stark sexualisierte

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Abwertung. Ich spreche hier von einer Zeitperiode von 1972 bis ungefähr 1975, wo es in fast allen Ländern in Europa mehr oder weniger starke umfassende Streiks an den Bändern gab, sogar in Schweden, wenngleich auch nicht in Österreich. Einer der berühmtesten ist der so genannte „Türkenstreik“ bei Ford Köln. Indes waren es eben doch viele Frauen. Schaut man in die Dokumente, dann finden wir zum Beispiel immer wieder Schilderungen à la „es gibt keine eigene Toilette für Frauen“, „wir werden angetatscht“, „wir werden sozusagen in unserem Geschlecht übergriffig behandelt“, „es findet keine körperlich adäquate Behandlung statt“ etc. Das heißt, die Sexualisierung dieses niedrigeren Arbeitsplatzes ist immanenter Bestandteil der Auseinandersetzung. Und das Interessante ist, dass gerade diese Streikwelle faktisch zu etwas geführt hat, was die Gewerkschaftskollegen unter uns natürlich jetzt alle kennen, nämlich zur deutschen Diskussion über die Humanisierung der Arbeit als wirklich breit gesellschaftlich darüber nachgedacht und debattiert wurde, dass es jetzt nicht nur um Lohnsteigerung und Arbeitszeitverkürzung die zentralen Forderungen von Gewerkschaften sein sollten, sondern um das wirkliche, konkrete Erleben der Arbeit, die konkreten Arbeitsbedingungen – beispielsweise Toiletten, Seife, eine eigene Umkleidekabine, das Miteinander, wie sich Männern und Frauen behandeln. Wobei damit natürlich nicht gesagt sein soll, dass Lohnsteigerungen für bestimmte Gruppen heute nicht nach wie vor elementar, Arbeitszeitverkürzungen nicht auch heute immens wichtig seien. In der heutigen Erinnerung an die Debatten zur Humanisierung der Arbeit wird weitgehend vergessen, dass der Anstoß zu dieser Debatte aus der Streikbewegung kam. Horst Kern und Michael Schumann, die berühmten Arbeitsforscher, die man stets zitiert, wenn man aus diesem Feld kommt, sagen das zwar immer noch, aber es scheint heute fast vergessen zu sein, auch in den Gewerkschaften. Und entsprechend ist auch heute aktuell wieder so eine schwierige Gemengelage, die auf der einen Seite Verbesserungen bringt – es gibt Frauenbeauftragte, es gibt ein in bestimmter Weise stärkeres Bewusstsein bei Betriebsräten, es gibt eine viel stärkere weibliche Betriebsratsquote und so weiter – und auf der anderen Seite findet etwas statt, was wir auch wieder als Landnahme, also als Einbezug des „weiblichen Moments“, in die konkurrenzielle Arbeitsmarkt- und Lohnarbeitssphäre beschreiben können, als Einverleibung dieses Weiblichen in einer hochproblematischen Weise. Das eine ist diese Einverleibung von Emotionsarbeit. Das kennen Sie alle, wenn Sie ein beliebiges Callcenter anrufen, dass man nicht mehr einfach gefragt wird: „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, sondern dass man mit einer säuselnden und oft Übelkeit erregenden erotisierenden Stimme angesprochen wird. Achten Sie mal darauf, in welcher Weise erotisierende, sexualisierte Stimmen nicht nur in der Werbung, aber

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auch in der Werbung, heute in unserer beruflichen und Kunden- und Lebensalltagswelt vorhanden sind. Wir haben darüber hinaus auch eine Landnahme des Schönen und Geschmeidigen, denken wir zum Beispiel an Vorgesetzte und auch an vorgesetzte Männer, die jetzt schön sein, gut riechen, schlank sein sollen und so weiter, was zur Folge hat – ich bin hier allerdings keine Expertin, vielleicht weiß das jemand besser –, dass so etwas wie Bulimiekrankheiten unter Männern dramatisch zunehmen. Schönheitsoperationen nehmen auch zu unter Männern, also ein enormer Stress. Nicht nur ein fähiger, kompetenter, durchsetzungsfähiger, starker, leistungsstarker Mann – Schrägstrich und eben jetzt mittlerweile auch Frau – zu sein, sondern dabei noch bestens auszusehen, schlank zu sein, fit zu sein und so weiter. Das heißt, wir haben eine Einverleibung dieses ehemals Weiblichen, gewissermaßen aus der Privatsphäre in die nun jetzt „vermarktlichte“, aber konkurrenzialisierte Sphäre der Erwerbsarbeit, ohne dass tatsächlich auch eine qualitative Einbindung dieses Moments der Sorge, der Rücksichtnahme, wie ich sie eingangs beschrieben habe, stattfindet. Ohne eine Ethik des „Wie arbeitet man mit welchen Gefühlen, Stoffen und so weiter?“ Hinzukommt, dass richtig hammerharte, traditionelle Männerbünde auch nicht wirklich aufgebrochen worden sind in diesem Teilmodernisierungsprozess und eines der besten Beispiele ist der VW-„Skandal“. Und ich rede jetzt nicht vom Diesel-Skandal, sondern ich rede vom dem, was später unter „Lustreisen“ verhandelt wurde. Das ist der Vorgang, dass sowohl Führungskräfte als auch Betriebsräte über schwarze Kassen sich regelmäßig aufgemacht haben zu gemeinsamen Reisen, um sich dort mit Prostituierten zu vergnügen. Das ist sozusagen ein Ausmaß der Zelebrierung und des Ausagierens sowohl der Hierarchiestufe – ich bin ja hier bei Punkt 2, also der sexualisierten Hierarchie –, einer Führungs- und Leitungshierarchie mit sexueller Potenz, die sich sozusagen auf die Verfügbarkeit des Weiblichen in gnadenloser Weise ausrichtet und dabei noch gewissermaßen gewerkschaftliche Funktionen – also was ist Führungskraft, was ist Betriebsrat und so weiter – in fürchterlichster Weise durcheinanderbringt und wirklich in männerbündischer Weise durchkreuzt. Das Fatale ist dabei, dass es keine wissenschaftliche Bearbeitung dieses Skandals gibt. Meine Wahrnehmung war, dass auch die IG Metall eher in einer Schockstarre verharrt ist, als zu sagen: „Das nehmen wir jetzt als Anlass, um eine historische Weiterdrehung dieses Themas voranzutreiben!“ Im Gegenteil, es war eher ein „Ups“, weil VW ja die ganze Zeit auch für eine bestimmte sozialpartnerschaftliche Stärke stand. Und das Dramatische ist, dass es kein Einzelfall gewesen ist. In einschlägigen Internetdebatten wird e.on als

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ein weiteres Beispiel genannt. Einer meiner Studenten war aus einem ganz anderen Anlass davon betroffen, sein eigenes Unternehmen war in Indien im Bauwesen tätig, und da gehörte es zum ganz normalen Geschäftsgebaren, zur Entspannung der Beschäftigten ein bisschen Geld zuzuschießen, damit sie die dort vergleichsweise günstigen Prostituierten in Anspruch nehmen konnten. Das heißt, wir haben es hier mit tradierten Schreckgespenstern zu tun, die eigentlich, wenn man sich das überlegt, in unsere heutige Zeit irgendwie nicht so gut zu passen scheinen, aber nichtsdestotrotz Realität sind. Wir sollten uns darüber – ohne zu moralisieren – auseinandersetzen, um die Schärfe des bis heute bestehenden Problems klarzumachen. Der dritte Punkt schließt nun ein Stück weit daran an. Es ist fast ein Unterpunkt von Punkt zwei, aber ich will ihn noch einmal extra vertiefen. Es sollte klar geworden sein, Arbeitshierarchien sind Machthierarchien. Sie hängen mit dem zusammen, was wir vertikale Arbeitsteilung nennen, also: Wer gibt die Anweisungen, wer stellt mich ein oder auch nicht, wer bekommt mehr Geld? Also einerseits die vertikale Arbeitsteilung von Zuständigkeiten, aber andererseits auch eine gesellschaftliche Hierarchie in Bezug auf Geld, Ansehen, Einflussnahme, auch Einflussnahme in Lobbytätigkeiten beispielsweise. Die Mann-Frau-Arbeitsteilung ist also eine hierarchische mit entsprechenden gesellschaftlichen sozialen Folgewirkungen. Sie ist nicht einfach nur, dass man unterschiedlich viel verdient, sondern sie reproduziert ein gesellschaftliches, hierarchisches Verhältnis. Und sie ist nach innen im Betrieb wieder ein körperliches Verhältnis gegenüber häufig dann niedriger eingestuften oder niedriger gestellten Frauen, was sich beispielsweise festmacht an dem von Frauen relativ häufig berichteten Vorgang des Angebrülltwerdens. Ich habe jetzt keine Statistik parat, aber gemäß der Ergebnisse aus qualitativer Forschung scheint es so zu sein, dass es nicht so selten ist, dass ein Vorgesetzter die weibliche Beschäftigte in einem sachlichen Arbeitsverhältnis so anbrüllt, dass es durch alle Korridore zu hören ist, womit also ein paternalistisches und letztlich VaterKind-Verhältnis erzeugt wird. Natürlich ist dieses hierarchische Verhältnis nach innen auch ein sexua­ lisiertes. Es ist ein körperliches Verhältnis, dafür steht die Me-too-Debatte, die wir gerade in Bezug auf Industriekultur und so weiter erleben. Wir finden ein nach wie vor ausgesprochen breites Selbstverständnis und eine männliche Erwartungshaltung – nicht einzeln empirisch gedacht – an das adrette Äußere der Frauen, an die Einnahme einer bestimmten Rolle auf Reisen, daran, dass Frauen bei Präsentationen ein schmückendes Beiwerk darstellen. Was wir zudem auch erleben – und das wird noch nicht so breit diskutiert –, dass Männer häufig so etwas wie eine spontane Erwartungshaltung auf Versorgung im emotionalen Sinne hegen. Also: dass man die Familienprobleme

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mit der Kollegin bespricht, die auch niedriger gestellt ist. Dass man teilweise, da kann ich auch aus eigener Erfahrung sprechen, sexuelle Probleme mit der Kollegin besprechen möchte, die in diesem Moment definitiv mit der Arbeitswelt nichts zu tun haben. Oder dass – auch das ist ja kein Geheimnis –, für eine bestimmte (Be-)Förderung sexuelle Dienste erwartet werden und dass dies sozusagen als ganz selbstverständlicher Bestandteil der Arbeitsbeziehung verstanden wird. Wer sich da für einen aktuellen Fall informieren will: Es gibt die ziemlich bedrückende Schilderung eines Falls vor ungefähr vier, fünf Jahren an der Universität Wien, wo ein Professor dort regelmäßig abhängige Studentinnen bedrängt und genötigt hat mit der ganz klaren Ansage, „Wenn Sie das nicht machen, werden die Noten halt nicht so stattfinden, wie Sie sich das vielleicht erhoffen.“ Und das Beklemmende ist: Bei diesem Dokument – es gibt ein Interview dazu und einiges an Dokumentation – denkt man wirklich, man ist jetzt nicht im 21. Jahrhundert, sondern in den 1970er, 1980er Jahren, weil die gesamte Institution letztendlich völlig unfähig war, damit umzugehen. Aus dieser Erfahrung heraus gibt es dann häufig in der Diskussion diesen Satz: „Das ist nicht gut, das ist noch altes Machogehabe, man soll Frauen nicht auf ihre Körperlichkeit reduzieren, sondern sie mit ihren Arbeitsleistungen würdigen“. Das ist dann häufig die Quintessenz dieser Halb-Erfahrung und Halb-Debatte, die es in dem Moment, wenn man selbst betroffen ist, einer Institution, einem Betrieb, einer Abteilung häufig sehr schwer machen, das zu thematisieren. Es ist Teil der Arbeitsforschung, genau das festzustellen. Aber wenn dann eine Diskussion stattfindet, dann lautet so eine Quintessenz „wir dürfen das nicht weiter so tun“, „wir dürfen Frauen nicht auf ihre Körperlichkeit reduzieren, sondern müssen sie in ihren Arbeitsleistungen würdigen“. Und damit bin ich auch schon am Ende dieses dritten Punktes. Ich denke, dass der genannte Satz insofern falsch ist, als in Wahrheit eigentlich keine Arbeit jemals ohne Körperlichkeit stattfindet. Also wir können, wenn wir zusammenarbeiten – ob wir nun im Büro sitzen, ob wir mit jemandem sprechen, ob wir noch stärker in der Produktionstätigkeit sozusagen körperlich zusammen Dinge hin- und herschieben, vielleicht etwas Schweres heben müssen und so weiter – die Körperlichkeit nicht aus der Arbeitswelt ausschließen. Wir sollten es auch nicht tun, weil Arbeit an den Leib und an den Körper gebunden ist. Und diese Tatsache sollte eher Anerkennung finden. Wenn Sie mit Kolleginnen sprechen in der Arbeit, dann können sich die Kolleginnen stundenlang darüber auslassen, wie lange es beispielsweise gedauert hat, mit diesem und oder jenem klarzukommen, weil der immer so genuschelt hat. Oder wie jemand anderes, immer wenn Stress ist, so austickt, dass man gar nicht mehr mit ihm arbeiten kann. Denn Reaktion auf Stressmomente sind auch etwas sehr Körperliches. Das heißt, die Reduktion auf den

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Körper ist meines Erachtens nicht das Problem, sondern das Problem ist, nicht komplett überraschend, die Reaktion auf einen sexualisierten, verfügbaren, jungen, attraktiven, niedergestellten Körper. Wechseljahre beispielsweise sind überhaupt kein Thema in der Arbeitswelt. Migräne betrifft natürlich auch Männer und ist ebenfalls kein Thema in der Arbeitswelt. Gute und schlechte Tage werden unter Kollegen ausgehandelt, aber es ist nicht wirklich eine anerkannte Verfassung. Darum ist die Quintessenz für mich, dass wir das Körperliche und in einer gewissen Weise sogar auch das Sexuelle nicht ausklammern dürfen, sondern wir müssen noch einmal neu konzeptionelle Verbindungen durchdenken, was genau eigentlich Arbeit ist. Damit komme ich nun zum Ausblick, denn das ist meine Idee, diesen Ausblick auch ein Stück nochmal an die Diskussion von vorhin anzuschließen. Ich hoffe, dass mir das gelingt. Ich fand, wie gesagt, die Formulierung von jemandem sehr schön hinsichtlich der ideologischen Katastrophe oder dem Desaster, in das uns das Neoliberale hineinmanövriert hat. Mir gefällt das überhaupt sehr gut auch an dieser Tagung, dass die Perspektive der kritischen Selbstbefragung dabei unbedingt vonnöten ist und eingefordert wird. Was nicht heißt, dass es die einzige Perspektive ist. Eine Selbstbefragung ist für mich heute auch eine kritische Selbstbefragung der Frauenbewegung beziehungsweise eines Teils der Frauenbewegung, die wir dann die bürgerliche Frauenbewegung nennen können. Eine andere Selbstbefragung müssen meines Erachtens auch Gewerkschaften ertragen, um wieder progressive Ansatzpunkte zu entwickeln. Gestern hat Hans-Jürgen Urban gesagt, wir bräuchten eine Stärkung der Gewerkschaften und eine Repolitisierung. Das denke ich auch. Aber es geht eben aus meiner Sicht nicht ohne ein fundamentales, neues Verständnis dessen, was Arbeit, Lohnarbeit, Hausarbeit, private Arbeit, öffentliche Arbeit bedeutet, was Arbeit ist und welche Art von Arbeit Gewerkschaften vertreten wollen beziehungsweise sollten. Damit sind wir bei einer ganz tiefen Debatte bis hin zu der Frage: Was sind eigentlich Gewerkschaften? Die Gewerkschaften sind in diese patriarchalen Trennungen des Männlichen und des Weiblichen natürlich hochgradig verstrickt. Das gilt nicht nur hinsichtlich ihrer Mitglieder, die Kerne und die Mitgliederzusammensetzung, Industrie- und Dienstleistungsbereich etc., sondern auch im Hinblick auf die Orientierung an einem Arbeitsbegriff, der selbst sehr stark auf dieses Rationale, Konkurrenzfähige, stark sich Auf-demMarkt-Behaupten, aus ist. Der Klassiker ist die nach wie vor ungebrochene Verteidigung des Exportmodells Deutschland auch von gewerkschaftlicher Seite, „weil es sichert Arbeitsplätze“ und so weiter. Es betrifft auch die starken Arbeiterkerne. Stark ist damit immer auch in Verbindung mit Exportstärke gemeint. Der Fokus auf eine Arbeit, die sich – in marxistischer

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Terminologie – in einem Markt zur Verwertung behauptet, auch gegen andere Unternehmen, gegen andere Arbeiten und Beiträge aus anderen Ländern. Sie wird in vielen Erzählungen, in vielen auch Selbstwahrnehmungen als eigene Stärke, als eigene Konkurrenzfähigkeit, als eigene starke Arbeit dargestellt und umgekehrt. Dahingegen ist Arbeit von Frauen, von Prekären, aber auch Arbeit aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Osteuropa, der Tschechischen Republik oder Rumänien, in der ganz spontanen Erzählung vieler Gewerkschaftsfunktionäre minderwertige Arbeit. Außerdem beobachten wir häufig eine erstaunliche Umdrehung von einer Logik über den Lohn. Häufig wird gesagt, dass diese prekären, weiblichen, osteuropäisch-peripheren Arbeitskräfte weniger verdienen, weil auch ihre Arbeit weniger wert sei. Der Lohn wird von gewerkschaftlicher Seite sozusagen selber als Ausdruck eines starken oder weniger starken Arbeitsgehaltes gesehen, was sich dann eben festmacht an den „exzellenten deutschen Autos“, am „wir haben viel Geld über unsere Exportstärke, wir sind gut in der Technik und konkurrenzfähig in der Technik“. Lange Zeit, bevor jetzt wirklich die Globalisierung, also auch die Anerkennung von Konkurrenzverhältnissen in der Gewerkschaft angekommen ist, war der Tenor ja auch: „In China – die haben ja gar nicht unsere Produktivität; in Osteuropa – die sind ja gar nicht auf unserem technischen Stand und so weiter.“ Eine Potenz des Ökonomischen im konkurrenziellen Sinne war also zwar keine ausschließliche, aber eine zentrale Leitfigur auch auf gewerkschaftlicher Seite; und mein Plädoyer ist entsprechend, sich auf andere, auch in den Gewerkschaften befindliche Traditionen zu besinnen, die Arbeit als sinnvollen Beitrag für andere definieren. Dies macht man dann häufig an Dienstleistungsarbeit fest, wie die schon erwähnte Pflegearbeit. Aber der Begriff „sinnvolle Arbeit“ gilt natürlich für alles, was wir hier konsumieren, wie wir leben. Wir würden in keinem Haus sitzen, wenn dieses Haus nicht auch erarbeitet worden wäre. Aber leider fällt aus vielen Darstellungen die konkrete stoffliche, sinnliche, sinnvolle Arbeit mit ihrem Lebendigen heraus. Das heißt, aus meiner Sicht wäre es wichtig, dass Gewerkschaften sich um eine Erweiterung des Arbeitsbegriffs bemühen und sich dabei auf eine Tradition beziehen, die sich nicht an der Verwertungsstärke auf einem mittlerweile globalen Markt, sondern an einem Sinn, einer Mitmenschlichkeit, auch einer Ethik des Sozialen ausrichtet.

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Die Stimme verstellen Anke Stelling Letztes Jahr um diese Zeit kam ein Journalist zu mir, ein junger Mann mit blondem Haar, freundlichem Wesen und teurem, diktierfähigem Handy. Er sollte vorab über das Prosanova-Festival in Hildesheim berichten und wollte herausfinden, ob es da wohl ‚politisch‘ zugehen werde. „Ja gewiss!“, sagte ich in sein kluges Handy und freundliches Gesicht hinein, das sehe man bereits an der Auswahl der Gäste, die dort lesen und diskutieren würden: wenig etabliert, weiblich, jung, migrantisch. Oder mehreres davon zugleich. „Ach so?“, fragte der Journalist, und ob diese Sorte Gäste nicht eher bekenntnishaft-identitäre Texte erwarten ließ – weil sie statt von großen politischen Themen doch wohl vor allem von sich selbst erzählen wollten. „Ja natürlich!“, sagte ich, und was sonst das Politische in der Literatur sein solle, wenn nicht die Verheißung, endlich zum Subjekt zu werden, die Macht zu übernehmen, die Deutungshoheit innezuhaben! „Hä?“, machte der Journalist und mich hernach in seiner Berichterstattung auf väterliche Weise lächerlich. „Nabelschau als Politikum – warum eigentlich nicht?“, fragte er rhetorisch und mit ins sonor Bräsige verstellter Altherren-Stimme auf WDR 5. Davon hier und jetzt subjektiv und mit ins hell Hysterische kippender Mädchen-Stimme zu berichten, erscheint mir ziemlich gewagt. Ich fürchte mich vor einem ähnlichen Nichtverstandenwerden wie damals und wage es trotzdem, weil ich vermute, dass das Nichtverstandenwerden – genau wie meine Angst davor und die offenbar komplett unterschiedliche Auffassung davon, was Politik in Bezug auf Literatur bedeutet – etwas mit den Klassenund Geschlechterverhältnissen zu tun hat, zu deren Verschränkung ich hier sprechen soll. Ich bin das andere Geschlecht. Ich bin nicht das Maß der Dinge und nicht von Vornherein deutungsbefugt, ich bin, wenn überhaupt, dann nur mitgemeint und wohl vor allem für meinesgleichen interessant. Das ist eine andere Position als die des Journalisten. Weshalb auch meine Position in der Frage, ob es politisch sei, durch Schreiben zum Subjekt, vielleicht sogar zur Protagonistin der eigenen Geschichte aufzusteigen, eine andere ist als seine.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_017

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Wenn ich ‚ich‘ sage und anhand meines Beispiels etwas und mich selbst behaupte, dann geschieht das gegen Widerstände. Und erzählt deshalb von ihnen. In der feministischen Theorie nennt man das ‚Politik der ersten Person‘. In der Literaturkritik gibt es einige, die davon noch nichts gehört haben, aber dass es auch oder gerade solche sind, die zugleich nach einem ‚politischen Literaturfestival‘ rufen, hat mich doch einigermaßen irritiert. Der Nabelschau-Vorwurf ist ein Machtinstrument, dazu da, Subjektivität zu verhindern, Stimmen zu unterdrücken und Hegemonie zu behalten. Er trifft diejenigen, deren Los es zu sein hat zu dienen und sich selbst zurückzunehmen. Er erinnert sie daran, wer sie sind. Was hätte beim Prosanova-Festival auf dem Programm stehen müssen, damit es sich für den Journalisten ‚politisch‘ anfühlte? Zwei Vorschläge hat er in seinem Bericht gemacht: eine Diskussion zur Migrationskrise sowie die Rolle der Literatur in Zeiten des Rechtspopulismus. Das klingt politisch. Und scheint engagiert. Wer wessen Migration diskutiert, welche Literatur überhaupt eine Rolle und wer statt einer Rolle die Krise kriegt, ist das, was mich interessiert. Sie glaube nicht, dass sie die Zeit noch erlebe, wenn es Frauen gestattet würde, die Welt zu erklären, hat Sibylle Berg vor ein paar Jahren in ihrem Blog geschrieben. Sich selbst vielleicht, aber nicht die Welt. Was die Frau fühle, während sie menstruiere, sei nicht von Interesse, hat Marcel Reich-Ranicki beim ersten Bachmann-Wettbewerb postuliert, und Burkhard Spinnen hat sich ihm 37 Wettbewerbe später mit seiner Wortschöpfung ‚Frauenzeitschrift-Aufschrei-Befreiungsprosa‘ angeschlossen. „Ach ja“, sagt mein Kollege Steffen Jacobs, „mit Kränkung und Herabsetzung haben wir doch alle zu kämpfen. Wer sich darüber beklagt, hat die Opferrolle angenommen und wirkt einfach nur unsouverän.“ „Ich klage nicht“, sage ich, „ich konstatiere.“ Und benutze ganz nebenbei noch dieses schöne Fremdwort: um zu beweisen, dass ich den Gebrauch von Fremdwörtern beherrsche. Ich bin souverän. Ich bin die Verfasserin dieser Rede. Ihr müsst mir alle zuhören, ich bin für die Sektion gebucht! Wenn ich es doch nur schaffen würde, auch noch irgendwie unangreifbar zu sein, einfach Recht zu haben, aus, basta, Schluss …

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Die Könige der Debattenkultur behaupten, es mache Spaß, sich so richtig zu streiten. Und dass wir das verlernt hätten. Und dass man sich doch bitte nicht so anstellen soll. Ich bezweifle zutiefst, dass es das gibt: Leute, die sich gerne streiten. Ich kenne nur Leute, die gerne Recht haben – und sich deshalb notgedrungen streiten. Je sicherer und aufgehobener man sich fühlt, umso leichter. Je abhängiger, abgehängter und verunsicherter man ist, umso schwerer fällt’s. Die Literatur und das mit ihr verbundene Weltverstehen und Welterklären sind umkämpfte, streng bewachte Sphären. Kritiker mustern und verteilen Eintrittsbändchen und, wenn sie in Jurys sitzen, Preise sowie Preis- und Arbeitsgelder. Natürlich gibt’s auch noch andere Mächte wie die Nachfrage, echt oder gemacht. Die vielen Konsumentinnen, Käuferinnen, Liebhaberinnen. Und hinter denen her oder ihnen winkend voraus die Verleger und Vermittler, und was am Ende gilt – das prämierte oder verkaufte, gelesene oder geliebte, vielleicht sogar durchlebte Stück Literatur – ist allen miteinander völlig schleierhaft. Wie lässt sich Licht in dieses Dunkel und System in dieses Durcheinander bringen? Am besten durch Klassifizierung. Durch die Einführung von Genres und Unterteilung der Literatur in E und U, durch Differenzierung und gerne auch mal Diffamierung diversen Leseverhaltens. Ich bin aufgrund der Merkmale Kind, Frau und Schreibschülerin klassifiziert und – ich konstatiere nur, ich klage nicht – herabgewürdigt worden. Durch diese Merkmale wurde ich zur Leserin und Verfasserin sogenannter Frauen- und Kinderliteratur sowie Institutsprosa. Was natürlich albern und durchschaubar ist – sobald man’s durchschauen und den Zweck dahinter erkennen kann. Vorher torpediert diese Einordnung stetig und unbemerkt sowohl Produktion als auch Rezeption. Ich hab es ziemlich spät kapiert. Ich habe lesen gelernt, ohne die Unterscheidung zwischen E und U zu kennen. Ich hatte Glück, weil meine Mutter Buchhändlerin war, und ich dadurch Zugang zu egal welcher Sorte Buch bekam. Ich konnte kosten, was ich mag, und dann mehr davon kriegen, ich hatte die Chance, meinen eigenen Literaturgeschmack auszubilden, was ein seltenes Privileg ist. Und zwar nicht nur für Kinder aus bildungsfernen Haushalten, sondern auch für die von Bildungsbürgern. Die einen müssen, wenn überhaupt, U lesen – weil sie E ja nicht verstehen –, die andern müssen auf jeden Fall E verstehen und kommen deshalb nicht in den Genuss von U.

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Ich durfte lesen, was mich ansprach. Worin ich vorkam oder mich wiederfand, was mir mich selbst und die anderen beschrieb und dadurch begreifbar machte. Lesen wurde so für mich zu Zugriff, zu Erfahrung und Beteiligung. Klingt pathetisch. Ist politisch. Ich wollte dann auch selbst mittun. Aber wie geht das, wie wird man Schriftstellerin? Ich hatte schon wieder Glück, weil meine Mutter nicht nur Buchhändlerin, sondern auch Brigitte-Leserin war. Und in der stand irgendwann, dass man den Schriftstellerberuf jetzt ganz einfach erlernen könne an einem extra dafür vorgesehenen Institut in Leipzig. Vor der Eignungsprüfung habe ich mir ein Reclamheft besorgt, in dem die Feuilletondebatten der vergangenen fünf Jahre zusammengefasst waren – weil mir schwante, dass ich mich zur Aufnahme an der Universität vielleicht ein bisschen auskennen müsse mit dem, was die Großkritik und das Bildungsbürgertum unter Literatur verstanden. Es war 1997, und ich hatte weder Botho Strauß1 noch Peter Handke2 je gelesen, kannte auch die Meister und Debattenbeherrscher der vergangenen Jahrzehnte nicht. Ich war Lorrie-Moore3-Fan. Liebte Andreas Mand,4 Reinhold Ziegler5 und Christine Nöstlinger,6 kannte alles von Jane Smiley7 und Marge Piercy8 und Friedrich Kröhnke,9 aber keinen einzigen Grass oder Walser oder Brinkmann oder Lenz. Also las ich mir im Kindlers10 und bei den Frenzels11 die Zusammenfassungen durch. Was sich als überflüssig erwies. Bei der Prüfung ging’s nicht um den Anschwellenden Bocksgesang, sondern um den vierten Band des Sams’,12 den Burkhard Spinnen gerade seinen Söhnen vorlas, und mit dem Sams kannte ich mich aus. Während die unkündbaren Professoren 1  Botho Strauß (*1944), deutscher Schriftsteller. 2  Peter Handke (*1942), österreichischer Schriftsteller. 3  Loorie Moore (*1977), US-amerikanische Schriftstellerin. 4  Andreas Mand (*1959), deutscher Schriftsteller. 5  Reinhold Ziegler (1955-2017), deutscher Schriftsteller und Journalist. 6  Christine Nöstlinger (1936-2018), österreichische Kinder- und Jugendbuchautorin. 7  Jane Smiley (*1949), US-amerikanische Schriftstellerin. 8  Marge Piercy (*1936), US-amerikanische Schriftstellerin. 9  Friedrich Kröhnke (*1956), deutscher Schriftsteller. 10  Kindlers Literatur Lexikon. 11  Herbert A. Frenzel/ Unter Mitarb. mehrerer Fachgenossen (Hg.): Daten deutscher Dichtung. Chronolog. Abriss d. dt. Literaturgeschichte von d. Anfängen bis zur Gegenwart. 1. Aufl. Köln, Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1953. 12  Sams. Neunbändige Kinderbuchreihe von Paul Maar, erschienen seit 1973.

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mit Doktortiteln in Germanistik und Philosophie unserer Unterhaltung über Martin Taschenbier13 lauschten, erlag ich dem Trugschluss, an einem Ort angekommen zu sein, der frei von Standesdünkel und Distinktionsabsichten erstmal offenließ, was Literatur war und wer sie wie und für wen verfassen durfte. Das war schön. Und ich glaube, meine Lehrer glaubten damals auch daran, zumindest zwischendurch und teilweise. Wie sonst sollten sie auch die Behauptung, dass literarisches Schreiben plötzlich lehr- und erlernbar war, aufrechterhalten? Es musste probiert und diskutiert werden dürfen. Die erste Aufgabe in meinem ersten Prosa-Seminar bei Professor Doktor Treichel14 lautete: ‚Mein Ort‘. Vielleicht war es sogar so gedacht, dass wir uns erzählten, wer wir genau waren und wo genau wir herkamen, aber dann wurden doch alle unsicher und schrieben sich in ihren Beiträgen lieber da hinein, wo wir gerne hinwollten: in die Literatur. Wo und was genau die war, wusste natürlich niemand, aber manche schienen dennoch in sie vorzudringen und andere irgendwie nicht. Es gab ein paar vage Regeln: nicht zu viele Adjektive, ‚show, don’t tell‘, also Szenen statt Reflexionen, Welt der Figuren statt Welt, wie ich sie sehe, einfache Anleihen aus dem Drehbuchhandwerk und ansonsten: Sprachgefühl. Erfahrung war ebenfalls viel wert, wusste man, aber die definierte sich seltsamerweise nicht als das, was man erfahren hatte, sondern war diffus mit Lebensalter, Todesnähe, Alkoholkonsum, Fabrikarbeit, Prostitution und Ausland verknüpft und vor allem eine Art Aura. Bestätigt oder aber abgesprochen von Leuten mit Einfluss. Den Anführern. Alphatieren. Und insofern genau so sorgsam bewacht wie die Literatur. Eine gute Schule für den darauffolgenden Literaturbetrieb. Ich habe sehr viel gelernt und nur wenig begriffen. Ich gehörte zu denen, deren Texte vordrangen und deren Aura ausreichte und die beim Open Mike eingeladen wurden und dann sogar bald schon ein richtiges Buch im Handel hatten. Das Buch war der Gipfel des So-tun-als-ob gewesen, rasante Rollenprosa einer Supermarktkassiererin und eines Transferleistungsempfängers, abwechselnd mit Robby nach allen Regeln der Kunst und mehr für den 13  Martin Taschenbuch: Hauptfigur der Kinderbuchreihe. 14  Gemeint ist Hans-Ulrich Treichel (*1952), Germanist und Schriftsteller. Lehrte zwischen 1995 und 2018 am deutschen Literaturinstitut Leipzig.

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Die Stimme verstellen

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Vorführeffekt verfasst – wir konnten auf Lesungen und mit der Presse dann auch nur schlecht darüber reden. Woher wir wussten, was wir da erzählten, ob das nicht diffamierend sei, also: gemein gegen das gemeine Volk. Andere wiederum meinten, es sei faszinierend, wie wir diesen einfachen Leuten unsere Stimme liehen, echt mal was anderes als die Nabelschau gepamperter Schreibschulkinder. Unser Verleger rieb sich die Hände und lud uns zum Abendessen ein. Wir wurden abgeworben vom Konzernverlag. Wir dachten, wir wären jetzt drin. Innen und außen. Dass sie das aufweichen, sogar völlig auflösen kann, macht Literatur politisch. Ist es nicht erstaunlich, wie ich mir hier durch das Raunen des Imperfekts, mithilfe der kurzen Geschichte einer Schreibschülerin, Platz verschaffen kann? Könnt ihr’s mir nachfühlen? Seht ihr es vor euch? Genau da liegt meine Wut und das ist meine Welt, und da brauch ich auch niemandes Zuwendung, nee, ich mach’s mir einfach selbst. Und ich will, dass ihr’s euch auch macht. Dann können alle Päpste und Pädagogen und paternalistischen Vermittler sich ihre Güte und ihr punktuelles Interesse sonst wohin stecken. Ich weiß schon, dass andere das anders sehen. Aber ich wähle hier die Perspektive. Wir waren also drin, Robby und ich. Dachten wir. Und machten jeweils was, wofür es dann eben doch ein paar Pampers braucht: Drogen ballern und Kinder kriegen. Das kann man sich ohne Nanny nicht leisten. Da ist man dann ganz schnell wieder raus. Da wendet sich die Erfahrung, die man erwirbt, knallhart gegen einen. Will das noch wer wissen? Lässt sich das verkaufen? Ist das nicht langsam alles ein bisschen zu echt? Wer soll da noch mitgehen? So politisch soll’s dann lieber auch wieder nicht sein. So bitter nötig. Es gibt aus den vergangenen hundert Jahren einige Ideen, was es braucht, damit alle beim Schreiben mitmachen und auch dabeibleiben können: Fünfhundert im Jahr und ein eigenes Zimmer. Den Auftrag der Partei und eine regelmäßige Vorleserunde im Kulturhaus. Hartz 4 und ein Platz mit Steckdose in der sonntags geöffneten, von freiwilligen Helfern betreuten Amerikagedenkbibliothek. Könnte noch ein bisschen radikaler sein, finde ich. Entmachtung von Literaturpäpsten, Enteignung von Verlagskonzernen, Abschaffung von Genres, Kanons, Buchpreisen und dem Preis für Bücher, keine

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Anke Stelling

Kunst mehr als Ware, sondern ästhetische Erfahrung als Grundrecht. Kurzum: grundlegende Wandlung der Gesellschaft, Abschaffung des Kapitalismus, Geburt des neuen Menschen, und das alles braucht es ja sowieso. Und wenn das jetzt zu verstiegen erscheint, dann kann ich’s auch ganz rasch nach innen wenden. Wir müssen abwarten, durchhalten, immer weiter schreiben. Vielleicht passt’s ja irgendwann mal wieder rein. Wir müssen die Scham überwinden, nicht so viel Angst haben, ab und an glücklich verwechselt werden, den Irrtum bloß nicht aufklären. Immer weiter der Versuchung und der Müdigkeit widerstehen. Von der Hand in den Mund leben, uns irgendwie durchschnorren, uns behaupten und bitte nicht kirre machen lassen. Innerlich unabhängig bleiben, so gut es eben geht. „Schreib’s einfach für mich“, sagt Nathalie, „weil: ich will es lesen.“

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Diskussion Ingar Solty: Im Prinzip knüpft das an Diskussionen an, die wir vorhin hatten, ob es eine Anmaßung wäre, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen, oder ob es nicht vielmehr, was Hans-Jürgen Urban gestern stark gemacht hat, eine Anforderung, geradezu Aufforderung an die Literatur ist, dass man diesen Mut dazu haben sollte, um gute Literatur zu produzieren. Sonst wäre es ja tatsächlich eine Anmaßung, sich in jemanden hineinzuversetzen, der abgewickelt wird, ein Mann, der sich dann einfriert. Trotzdem glaube ich, dass diese Beharrung auf dem, was du, Anke, die Politik der ersten Person genannt hast, auch aus dem Feminismus kommt, und der Vorwurf der Nabelschau relevant ist. Man muss da in meinen Augen zwei Sachen trennen: Es gibt die Politik der ersten Person und es gibt den Subjektivismus oder die Nabelschau. Ich sehe den Unterschied, weil die Politik in der ersten Person, die Erinnerungsarbeit, wie Frigga Haug1 es nennt, die eigene Biografie beschreibt und den politischen Charakter des Privaten, von der unbezahlten Reproduktionsarbeit bis zur sexuellen Gewalt im Privaten thematisiert und politisiert. Wir haben nun auch über den Erfolg von Eribon geredet, wie wichtig und aufschlussreich es sein kann, wenn soziologische Analyse in der Biografie gerinnt. Eduardo Galeano2 hat mal gesagt: Solidarität ist wichtiger als Charity. Und Bertolt Brecht schreibt im „Me-ti“: Die Menschen kämpfen dann am längsten, wenn sie am egoistischsten sind, im Sinne von: Wenn sie sich für ihre eigenen Interessen einsetzen und wenn diese Interessen noch den Interessen der großen Mehrheit nicht entgegenstehen, dann können sie sogar gemeinsam erfolgreich sein.3 Ist ja eigentlich der Grundgedanke der Solidarität: Nicht eine Politik für andere, sondern eine Politik, eine gemeinsame Verbesserung der Lebensverhältnisse, weil man weiß, dass man sie nur kollektiv verändern kann und nicht auf sich alleingestellt. Jetzt sagst du: Du willst eine Literatur, die endlich zum Subjekt wird und du willst Protagonistin der eigenen Geschichte werden. Nun gibt es diesen berühmten Satz von Marx aus seinem „18. Brumaire des Louis Bonaparte“,4 dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber sie machen sie unter vorgefundenen Umständen, letzten Endes unter Strukturen, die sie sich selber nicht gewählt haben, aber zu denen sie sich verhalten müssen. Auf die Literatur übertragen, könnte man mit Bernd Stegemann5 sagen, realistische oder kritische Literatur ist diejenige, die die tausend Fäden, an denen die Menschen hängen, aufzeigt, beschreibt, damit die Subjekte nicht mehr in diesen Fäden hängen müssen, dass sie sich die anschauen können, um sich dann aktiv dazu verhalten zu können. Damit sie, mit der Kritischen Psychologie von Klaus Holzkamp6 gesprochen, sich aktiv für erweiterte Handlungsfähigkeit anstatt restriktiver Handlungsfähigkeit entscheiden 1  Frigga Haug (*1937) ist eine deutsche Soziologin und marxistisch-feministische Theoretikerin. Sie ist Mitherausgeberin des Historisch-kritischen Wörterbuches des Marxismus sowie des Historisch-kritischen Wörterbuches des Feminismus. 2  Eduardo Hughes Galeano (1940-2015), uruguayischer Schriftsteller. 3  Bertolt Brecht: Me-ti: Buch der Wendungen. Suhrkamp: Frankfurt/Main 1967. 4  Karl Marx: Der 18. Brumaire des Louis Napoleon. Erstveröffentlichung in: Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften. New York 1852. 5  Bernd Stegemann ( *1967), Dramaturg und Autor. 6  Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Hamburg: Argument Verlag 1985.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_018

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können, d.h. für solidarisches Verhalten anstatt für das Ausleben der kapitalistischen Konkurrenz. Deswegen kommt Stegemann zu der Position, dass die abstrakte Kunst, die subjektivistische Kunst, im Sozialismus fortschrittlich ist und im Kapitalismus aber eher rückschrittlich, weil sie, wie er das beschreibt, das Zappeln in den Fäden zum Ausdruck der Individualität macht, obwohl es sozusagen ein abgeleitetes ist. Das bringt mich jetzt zu dem Thema der Konferenz. Wir behandeln Klassen. Ich glaube, die eigene Subjektivität kann man gar nicht denken, geschweige denn beschreiben, ohne dass sie im Verhältnis zur Umwelt und den anderen Menschen gedacht wird. Tony Kushner7 hat mal gesagt, die kleinste menschliche Einheit sind immer zwei Menschen. Das bedeutet zum Beispiel, wenn man jetzt über die prekären Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Berlin schreibt, die von Gentrifizierung durch eine Verdopplung der Mietpreise innerhalb von zehn Jahren betroffen sind, kann man natürlich nicht ohne die Mietshauseigentümer, die großen Immobilienkapitalgesellschaften, schreiben, die am anderen Ende sind, die den Herrschaftsbezug herstellen. Es wäre der Anspruch, dass das vorkommt, weil dann – wir hatten ja die Frage – die Agenda 2010 auftaucht und Stefan, du hattest ja gesagt, man kann sie nicht beschreiben. Es gibt genügend Beschreibungen der Effekte der Agenda 2010, der Armut, der Prekarisierung und der Zerstörung von Biografien. Aber es erscheint tendenziell wie ein Naturschicksal. Wenn man nicht beschreibt, wer hat das politische Projekt gemacht, wer hat es gewollt, dass die Menschen so leben, und wer profitiert davon, dass es den einen schlechter geht, weil es dann nämlich auch immer die Leute gibt, denen es besser geht. Und das wäre so der Unterschied, also Politik schon aus der Ich-Perspektive, aber immer natürlich sozial-relational. Und die Klassenbegriffe haben es alle sozial-relational gemacht. Marx sagt, kein Arbeiter ohne Bourgeoisie und Grundrenten, also Boden-, Hauseigentümer et cetera. Weber würde sagen, keine Arbeiter ohne Marktverhältnisse, aber das ist auch sozial-relational. Selbst das, was Cornelia Koppetsch beschrieben hat, also die Fraktion von kosmopolitisch orientierten linksliberalen akademischen Mittelklassen, gibt es nicht ohne – mit Durkheim8 gesprochen – ihren Gegenpol, ihre Gegenfraktion, nicht ohne die nationalen Wettbewerbsklassen, die Klaus Dörre beschrieben hat. Anke Stelling: Da bin ich ganz bei dir, das glaube ich auch. Und das braucht die Beschreibung des Systems auf jeden Fall. Aber ich habe versucht, aus der Position einer Unsichtbaren zu erzählen. Ich habe auch beschrieben, dass sich das noch mal anders darstellt. Also überhaupt erst mal sichtbar zu werden, das geht nicht ohne die Bezüge und warum ich eigentlich unsichtbar bin und so weiter. Das ist aber noch mal was anderes, glaube ich, als die Position von jemandem, der schon sichtbar ist oder dessen Arbeit schon sichtbar ist. Das setzt sozusagen weiter vorne an, aber ich will da nicht aufhören. Norbert Niemann: Ich mochte den Text sehr gerne, und zwar weil er etwas macht, was – und das knüpft im Prinzip auch an das an, was Ingar jetzt gesagt hat – eigentlich so eine Form von Subjektivität in der Literatur oder sagen wir Authentizität, die auch wabenförmig ist, aufbricht. Das ist das Interessante. Ich habe meine Magisterarbeit über neue Subjektivität geschrieben, um mich sozusagen wegzubewegen von etwas, was damals total in Mode war und unterkomplexer, immer unterkomplexer wurde. Es 7  Tony Kushner (*1956), US-Amerikanischer Dramatiker. 8  Émile Durkheim (1858-1917), französischer Soziologe und Ethnologe.

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ging dann später zum Beispiel in Fräuleinwunder-Zeiten in Popliteratur über – in die Ästhetik, die eigentlich vollkommen in Authentizität, in Anführungszeichen, überging. Also das heißt, man hatte eine gestanzte Vorform von dem, was sozusagen authentisch ist und das wurde erfüllt in der Literatur. Das Prenzlauer-Berg-Mädchen, das dann genau so funktioniert, wie es erwartet wird. Und das verkauft sich dann auch so. Für mich war da immer so eine Gegenbewegung wichtig, die mit rein muss. Jetzt komme ich noch mal auf meinen Döblin-Mann-Vortrag9 – ich habe eine Sache nicht erwähnt, weil das zu weit geführt hätte. Es gibt auch eine Kritik. Eine sehr interessante Kritik, die mich wirklich beschäftigt hat. Wesentlich mehr eigentlich als die Kracauersche10 an diesem „Wissen und Verändern“-Text von Döblin, nein, von Walter Benjamin,11 der den auch kritisiert hat und dem Döblin vorwirft, dass er eine Position einnimmt, die Position, von der aus er spricht, die die eigenen Produktionsbedingungen auslässt. Und genau das machst du nicht. Das heißt, ich glaube, dass es ganz zentral ist, und das war übrigens auch bei Annetts Vortrag so, dass die Stärke dieser Texte für mich darin liegt, dass sie den eigenen Produktionsprozess mit in den ästhetischen Prozess aufnehmen und dadurch eine Komplexität entwickeln, in dem der Schreibende und die Ästhetik des Schreibenden in das, was er schildert, einfließt und dieses dadurch natürlich eine Komplexität und eine Politizität kriegt und diese Dialektik abbilden kann, die im Schreibprozess passiert. Stimme aus dem Publikum (Frau Herfort): Vielen Dank, Frau Stelling, für die schöne Lesung, das hat mich sehr amüsiert. Und diese Infragestellung und diese frechen Angriffe auf Machtverhältnisse, das gefällt mir gut. Ich wollte eine Frage an Sie, Frau Hürtgen, richten, und zwar sehe ich eigentlich nicht, warum die Geschlechterdichotomie heute irgendwie bei der Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen noch weiterhilft. Vielleicht ist der Kontext größer, aber so im Vortrag jedenfalls ist mir das nicht deutlich geworden, wozu das gebraucht wird. Wenn die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die Arbeitsstrukturen in Frage stehen, dann hilft mir das Weibliche nicht weiter, und wenn sich Macht gegen Frauen richtet, wenn Vergewaltigung stattfindet, dann geht die nicht gegen das Weibliche, sondern gegen eine konkrete Frau oder gegen mehrere. Mir ist das tendenziell zu schwammig oder zu nebulös. Diese Dichotomie kann meines Erachtens eigentlich nur dekonstruiert werden, und ich hatte das Gefühl, Sie greifen das immer wieder auf und zementieren das dadurch anstatt das zu dekonstruieren. Vom Ergebnis her habe ich rausgehört, dass Sie mehr Kommunikation, mehr Empathie in der Arbeitswelt wollen, und das verstehe ich gut und kann es auch gut nachvollziehen. Aber ich glaube nicht, dass man mit diesen Kategorien da hinkommt. Da kann man politisch reden und moralisch oder ethisch argumentieren, aber ich glaube, dass dies nicht weiterhilft. Stefanie Hürtgen: Ich glaube, teilweise ist es ein Missverständnis und teilweise vielleicht auch eine inhaltliche Differenz. Das weiß ich jetzt noch nicht so genau.

9  In diesem Band, S. 59-65. 10  Siegfried Kracauer (1889-1966), Journalist, Soziologe. 11  Walter Benjamin: Krisis des Romans. Zu Döblins „Berlin Alexanderplatz“ [1929]: In: Hella Tiedemann -Bartels (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen (19121940). Frankfurt /M.: Suhrkamp 1991, S. 230-236.

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Ich habe gewissermaßen vor dem Hintergrund von zwei Engführungen gesprochen, die auch am Ende dann ausgesprochen wurden. Das eine ist eine männliche Sichtweise auf Arbeit, die in der beschriebenen Weise Produktivität, ökonomische Stärke, Konkurrenzfähigkeit und so weiter hochhält, also männlich als Geschlechtscharakter jetzt natürlich gefasst. Und die sich eben auch in sozialen Bewegungen und beziehungsweise in Gewerkschaften und in einer ganz starken Tradition von Gewerkschaften wiederfindet. Beispielsweise mit der Folge, dass die arbeitslosen Prekären nicht nur von der Regierung Schröder, sondern eben auch von Gewerkschaftsmitgliedern in ihrem Beitrag zum Gesellschaftlichen als minderwertig angesehen wurden. Und die zweite Engführung, die ich versucht habe, nämlich das Weibliche auf das Private zu reduzieren, vielleicht war das ein bisschen zu implizit, auch angreifbar, es ist eine Perspektive von einer Frauenbewegung, einer feministischen Kritik, die eine Zeitlang sehr berechtigt war und es heute auch noch ist. Also auf das Heim und den Herd und so weiter. Sie sagen Dekonstruktion, das ist mir vor dem Hintergrund jetzt von Konstruktivismus, Dekonstruktivismus nicht ganz der richtige Begriff. Ich würde eher von der Zusammenführung dieser immer wieder als getrennt erscheinenden Bereiche sprechen und darüber von einer Neukonfiguration von Arbeit ausgehen, beispielsweise über das Ökologische. Es gibt diese wunderschöne Formulierung von Marx, das Kapital untergräbt die Springquellen des Reichtums,12 also die Lebendigkeit der Reichtümer unserer Gesellschaften, ohne die wir überhaupt nicht existieren können. Es sind zwei Dinge: die Erde und die Menschen, also der Arbeiter. Wir sind sozusagen leibliche Subjekte, wir sind körperliche Subjekte, wir sind kommunikative und so weiter. Ich denke das eher als eine Neukonfiguration. Da war, glaube ich, das Missverständnis. Ich sage nicht, dass man das weiter getrennt führen soll. Das war nicht meine Absicht. Aber ich spreche auch nicht von Dekonstruktion. Und das geht in eine Richtung, ich weiß nicht, wer das gesagt hat, vielleicht war das Christoph Butterwegge vorhin, ohne dass ich jetzt weiß, ob Sie es so gemeint haben, aber ich nehme in der akademischen Linken eine sehr starke Moralisierung der Debatte wahr, die so läuft, dass man mit bestimmten Begriffen, die man einfach dekonstruiert, indem man das anders benennt und es nicht mehr so bezeichnet, also dass das zu so einer Art von Begriffsarbeit wird. Und ich denke, das ist nicht die Sachlage, und wir müssen da praktisch an die Verhältnisse gehen – sei es über Arbeitszeitverkürzung, sei es über mehr Freiraum erkämpfen und so weiter, sei es über bestimmte Einkommensverbesserungen, sei es für, was alles jetzt erst mal utopisch klingt, eine absolute Stärkung von sozialer Infrastruktur und so weiter. Und da ist mir Dekonstruktion so ein bisschen so, als ob durch das Benennen dieser faktischen, reproduzierten, materialen Herrschafts- und Hierarchieund patriarchalen Verhältnisse das Entscheidende bewegt würde. Und dem würde ich mich jetzt so nicht anschließen. Da ist, glaube ich, die Differenz, das weiß ich jetzt noch nicht so genau. Und das andere war das Missverständnis. Stimme aus dem Publikum (Ursula Müller): Ich bin Soziologin von Beruf und habe meine ersten 13 Berufsjahre an der Sozialforschungsstelle Dortmund13 verbracht. 12  „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ Karl Marx: Das Kapital I, S. 530. Zitiert nach: https://marx-forum.de/das_kapital/kapital_1/1.531.html, (zuletzt eingesehen am 1.1.2019). 13  Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund (heute ZE der TU Dortmund). - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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Dort habe ich mit Kolleginnen einen Forschungsbereich „Berufsarbeit von Frauen“ gegründet, und wir begannen mit einem Projekt zu Ausbildung und Beruf von Verkäuferinnen. Das war einer der Bereiche, die gesellschaftlich ungeheuer sichtbar waren, aber in der Wissenschaft unsichtbar.14 Wir haben damals noch Überbleibsel von dem erlebt, was ein Kollege in den Gewerkschaftlichen Monatsheften zuvor den „proletarischen Antifeminismus der Gewerkschaften“15 genannt hat. Das bezog sich auf viele Aspekte. Erstens gab es noch die Weigerung der Gewerkschaften, Teilzeit überhaupt zu tarifieren. Teilzeitbeschäftigung gab es fast nur für Frauen; es gab viele Rechte nicht, die für vollzeitig Beschäftigte galten. Zweitens: Das Problem der Angestellten. Verkäuferinnen sind keine richtigen Arbeiter und Angestellte standen sowieso unter Verdacht, individuelle Aushandlungen mit dem Arbeitgeber zu bevorzugen. Wenn man genauer hinsieht, wird sichtbar, dass sich durch die Frauenbewegungen in den Gewerkschaften sehr viel verändert hat. Ich habe selbst mit Sibylle Plogstedt16 Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre die erste bundesweite Untersuchung zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit17. Da hat sich zum Beispiel die IG Metall im Rahmen der mittlerweile entstandenen Frauenbewegungen in den Gewerkschaften sehr stark dahinter gestellt. Gudrun Hamacher aus Dortmund, die Vorstandsmitglied war, und ihre Mitarbeiterin Elisabeth Vogelheim haben das sehr unterstützt, und der später in Verruf geratene Vorsitzende Steinkühler18 hat sich ebenfalls stark dafür eingesetzt. Diese Untersuchung wäre ohne die Unterstützung der damaligen Gewerkschaften nicht zustande gekommen. Sie hat zu einer Gesetzesänderung im Bereich der Arbeitsschutz- und Gesundheitsfürsorge der Betriebe geführt.19 Nun zeigt der aktuelle VW-Skandal20 einmal mehr, dass es eine deutliche Entkopplung gibt zwischen dem, was auf der rechtlichen Ebene der Fall ist, und dem, was dann in der Praxis von Organisationen vor sich geht – genau wie in Ihren Beispielen, Frau Hürtgen, von sexuellen Übergriffen in Hochschulen und sonstigen Organisationen, von denen keiner mehr glaubt, dass es sie noch gibt. Die Kodifizierung dieser Dinge im strafrechtlichen Sinne hat zwei Seiten – wie das häufig ist. Es bedeutet zum einen Schutz, aber zum anderen auch, dass die Probleme als geregelt gelten. Und wer dann noch Probleme 14  Monika Goldmann/ Ursula Müller: Junge Frauen im Verkaufsberuf. Berufliche Soziali­ sation, Arbeits. und Lebensperpektiven. Schriftenreihe des BMJFFG 187. Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz: W. Kohlhammer Verlag 1986. 15  Werner Thönessen: Frauenemanzipation. Politik und Literatur der deutschen Sozialdemokratie zur Frauenbewegung 1863-1933, Frankfurt/M. 1969; Ursula Müller: Das Ganze und das ganz Andere: Frauen – nur eine Organisationsreserve?, In: Gewerkschaftliche Monatshefte 10/1989, S. 628-638, online: http://library.fes.de/gmh/jahresin.html (zuletzt eingesehen am 14.2.2020). 16  Sibylle Plogstedt (*1945), Journalistin und Publizistin. 17  Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hg.): Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Schriftenreihe Band 260. Autorinnen Anne Braszeit, Monika Holzbecher, Ursula Müller, Sibylle Plogstedt. Stuttgart/Berlin/Köln: W. Kohlhammer 1990. 18  Franz Steinkühler (*1937), 1986 bis 1993 Vorsitzender der IG Metall. 19  Siehe hierzu Bärbel Meschkutat/ Monika Holzbecher/Gudrun Richter: Strategien gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Konzeption-Materialien-Handlungshilfen. BundVerlag, Köln 1993. 20  Gemeint ist der Skandal um die sogenannte Betrugssoftware bei Diesel-Fahrzeugen, die dazu geeignet, die Abgaswerte bei Messungen zu schönen. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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hat, der steht in Gefahr, dass es sein persönliches Problem ist und nicht mehr das Problem der Arbeitsorganisation oder das Problem der Arbeiter- und Arbeiterinnenorganisation. Das als kleiner historischer Rückblick. Darüber hinaus bin ich Ihnen beiden sehr dankbar für Ihre Beiträge und fand, dass sie in sehr schöner Weise zusammengepasst haben. So haben Sie sich beide auf die Geschlechterpolarisierung bezogen – wobei ich betonen möchte, dass der historische Zeitpunkt, in dem sich diese bürgerliche Polarisierung entwickelt hat, der Zeitpunkt nach den bürgerlichen Revolutionen war. Die hatten anerkannt, dass der Mensch frei und gleich geboren ist, somit auch die Frauen frei und gleich geboren sind. Da es aber starke Interessen gab, sie aus den aktiven und passiven Rechten und Bürgerrechten auszuschließen, zumindest noch für eine Weile, griff diese Konstruktion der Unterschiedlichkeit Platz, die eine Konstruktion damals ausschließlich männlicher Wissenschaftler im Bereich Recht, Pädagogik und Naturwissenschaften gewesen ist. Die Wirksamkeit dieser historischen Vorstellungen ist nach wie vor zu verspüren, wenn auch subtiler als früher. Es fiel das Wort „Dekonstruktion“; es ist wichtig zu sehen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit aktuell als soziale Konstruktion diskutiert werden. Das heißt, wenn wir in einem Text, einem Gemälde, einem Auftritt „Männlichkeit“ sehen wollen, dann sehen wir sie auch. Wenn wir „Weiblichkeit“ sehen wollen oder gelernt haben, bestimmte Themen und Präsentationsformen damit zu assoziieren, dann sehen wir „Weiblichkeit“. Als Beispiel hierfür empfand ich auch, wenn Sie mir das verzeihen, Herr Solty, Ihre Reaktion auf den Beitrag von Frau Stelling. Sie haben sich schon, so mein Eindruck, von Weiblichkeitserwartungen und -zumutungen distanziert, haben ihr dann aber einen Rat gegeben, wie man über Subjektivität und Subjektsein schreiben kann und wie nicht – und sie hatte nicht um Rat gebeten, sondern einen literarischen Text vorgetragen, der ihre Lösung des Problems bereits enthielt. Daran erkenne ich eine Reminiszenz dieser bürgerlichen Geschlechterunterscheidung. Ich weiß nicht, ob Sie diesen Rat jetzt auch zum Beispiel Herrn Stahl gegeben hätten, wenn der etwas vorgetragen hätte über seine Erfahrungen mit Preisträgern und Verlegern. Ingar Solty: Ja. Stimme aus dem Publikum (Ursula Müller): Sie sagen ja. Ich glaube aber, dass Frau Stelling das nicht so sehen würde. Sondern Sie haben, so mein Eindruck, eine Interpretation angeboten, die genau die Reinszenierung von dem war, was sie in ihrem Beitrag beschrieben hat. Nämlich, dass andere sich selbstverständlich als Subjekte ihrer Texte und ihres Auftretens empfinden können in der Gesellschaft, im Unterschied zu ihr – und dass sie den ganz sicheren Eindruck hat, dass das mit Strukturen zusammen hängt und mit tradierter Kultur und nicht ein rein persönliches Problem ist. Insofern fand ich ihren Beitrag auch sehr viel weniger persönlich oder individuell als Sie. Ich fand ihn sehr meisterlich, sehr poetisch und gleichzeitig hoch politisch und auch strukturbezogen. Und das in einer Verkleidung, die unmittelbar subjektiv eingängig war. Das ist eine sehr große Kunst und eine beeindruckende Darstellung. Stimmung aus dem Publikum (Stefan Kroll): Ich fand das jetzt schon sehr wichtig, dass betont wurde, dass es immer noch große Probleme in dem Bereich gibt, diese Probleme haben etwas mit dem Patriarchat zu tun und nicht nur mit einer Geschlechterdifferenz oder -dichotomie. Ich nenne mal ein Beispiel: Thea Dorn,21 die bekannt ist, gerade 21  Thea Dorn (*1970), TV-Moderatorin und Schriftstellerin.

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auch im Literaturbetrieb. Sie sagt als Kritik der Me-too-Kampagne, dass Frauen sich doch nicht so anstellen sollten. Wenn man in dieser Gesellschaft überleben will, dann muss man auch mal akzeptieren, dass man irgendwie von einem Mann ein bisschen angemacht wird oder auch mal an die Brust gefasst wird. Das ist für Frau Dorn zum Beispiel eine lässliche Sünde, weil sie eine Frau ist, die erfolgreich, sag ich jetzt mal, ihren „Mann“ steht im Literaturbetrieb, im Kulturbetrieb. Für mich drückt das aus, dass es nicht so sehr eine Frage ist, ob jemand Frau oder Mann ist, sondern dass es wesentlich darum geht, ob eine patriarchalische Position bezogen wird. Wenn es zum Beispiel um die Frage der Geschlechtergleichheit in Führungsetagen geht, bei Business-Frauen z.B., wird ein bestimmtes Rollenmodell propagiert, das hat mit einer Weiblichkeit in der Rolle der Betroffenen wenig zu tun. Wenn man Geschlechterfragen nur auf der Basis der Gleichstellung behandelt, dann kommt man irgendwann zu Gender-Mainstreaming bei der Bundeswehr, wie es teilweise von den Grünen eingefordert wurde oder Programm bei den Grünen ist. Frauen in Kampfeinsätze. Da kommen ganz andere Probleme zur Sprache und sind noch lange nicht gelöst, dass Frauen zum Beispiel in der Bundeswehr ständig Probleme damit haben, von Männern angemacht und unterdrückt zu werden. Das Problem ist noch sehr, sehr unbehandelt und es ist ein bisschen reduziert, so wie es hier besprochen wird. Stefan Schmitzer: Ich habe eine Fußnote zu Anke Stelling und zwei Nachfragen zu Frau Hürtgen. Die Anekdote, die ich zum Text von Anke Stelling erzählen möchte, weil es um die Einschätzung der Schreibschulen geht. Ich habe im März dieses Jahres bei einer internen Veranstaltung einer Interessensvertretung von Autoren in Österreich, nicht der IG der Autorinnen und Autoren, ich sag nicht welche, ein kurzes Co-Referat gehalten, wo es unter anderem darum gegangen ist. Es hat sich verändert, wie viele Leute sich über Schreibschulen organisieren und wie die Netzwerke jetzt anders geknüpft werden als vor 20 Jahren. Also eine rein praktische Diskussion über das Berufsbild scheint sich zu verändern. Und in dem Moment, wo ich Schreibschulen gesagt habe, sind in so einem Raum wie hier 20 Hände hochgegangen und „ich unterrichte an einer Schreibschule und das ist überhaupt nicht problematisch“, „ich sitze in einer Schreibschule“ und alle wollten das irgendwie retten, dass Schreibschule nicht problematisch sind und überhaupt nichts reproduzieren – also zum Thema dieses unwahren Glaubens daran, dass im Institut kein Status verhandelt würde. Du hast sofort gemerkt, diesen unwahren Glauben wollten sie sich alle bewahren. Das war die Anekdote. Und zu dem Vortrag von Frau Hürtgen. Mir ist es um diesen Begriff des Männlichen gegangen. Der wird zuerst von Ihnen eingeführt als eine Konstruktion, die natürlich nur gesellschaftlich ist. Das Weibliche, das Männliche und so. Aber dann, unter der Hand, ist mir vorgekommen, wie ich zugehört habe, dass am Schluss die Strukturen, welche es zu überwinden gelten, tatsächlich sozusagen wesenhaft als männlich zu sehen sind bei Ihnen. Also das ist dann plötzlich doch wieder die männliche Zweckrationalität, welche es zu überwinden gilt, und nicht: Zweckrationalität, Punkt. Und ich halte das für ziemlich problematisch. Wenn man diese Sprache dann übernimmt, läuft man die Gefahr, dass man sie weitertransportiert und dass man dieses Essenzdenken weiter in die Welt setzt. Und das andere Ding war zu der Schlussfolgerung, zu der Sie kommen, wenn Sie sagen, dass es für die Gewerkschaften eben nicht darum gehen würde, einen neuen Arbeitsbegriff zu finden und zwar einen Arbeitsbegriff, der sich an Sinn und Ethik orientiert. In dem Moment sind bei mir Alarmglocken hochgegangen. Wenn ich mir vorstelle, dass ein Arbeitsbegriff über Sinn und Ethik definiert ist, und zwar in der konkreten Welt in der wir leben, dann frage ich mich, welche konkreten Leute fangen

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dann an, über Sinn und Ethik zu diskutieren? Und da würde ich mich wohler fühlen, wenn es um rational benennbare Zwecke und Mittel geht und die Ethik nicht in der konkreten Arbeit behandelt wird. Stefanie Hürtgen: Das eine scheint dieses Missverständnis zu sein, dass ich da quasi die Essenzen noch mal aufführe, um dann zu sagen, wir wollen sie überwinden. Mein Einsatz, warum ich das tue, ist eigentlich immer wieder rauszukommen aus einer Diskussion, die – Sie hatten das jetzt, glaube ich, ganz schön gesagt – auf diese Gleichbehandlung innerhalb der kapitalistischen patriarchalen Strukturen abzielt. Und es ist darum, finde ich, so schwierig, weil, wie Sie ja gerade auch noch mal geschildert haben, die Gleichstellung, die reale Gleichstellung natürlich eine Ermächtigung bedeutet, eine Ermächtigung für eine Transformation dieser patriarchalen Strukturen. Also insofern ist es eine Kritik, die diese Gleichorientierung an Gleichbehandlung und so weiter nicht komplett beiseite drücken will und trotzdem nicht nur sagt, sie reicht nicht aus, sondern – das haben jetzt mehrere gesagt –, sie führt in der Armee, also Gender-Dingsda in der Armee oder bei den Dax-Konzernen und so weiter, sie führt in der Zuspitzung, wie wir sie jetzt erleben, komplett in die falsche Richtung. Das war mein Plädoyer und offenbar gab es da jetzt so ein paar Missverständnisse. Zum zweiten: Sinn und Ethik – ich komme aus der empirischen Forschung, dennoch: Wenn Sie fragen, wer denkt da über Sinn und Ethik nach? Dann würde ich Ihnen sagen: die Beschäftigten. Das ist sozusagen Teil des Dramas, was wir – weswegen ich auch den Vortrag von der Cornelia Koppetsch so wichtig fand –, was wir in der heutigen Form von Politisierung, Akademisierung, Produktion von Begriffen, so viel vermissen lassen aufgrund der Mechanismen, die sie aufgezählt hat, dass man sich verkaufen muss, dass man sich vermarkten muss, dass bestimmte Dinge zählen und so weiter. Durchaus vorhandene progressive Ansätze, die Frage nach dem Sinn der Arbeit, die Frage nach einem menschlichen Miteinander, da ist mir dieser Begriff der Leiblichkeit, der auch von Marx kommt im Übrigen, enorm wichtig. Wir arbeiten nie getrennt von unserem Leib, auch wenn wir das denken, wenn wir nur auf den PC schauen. Das sind Themen, das sind Gedankenstränge, die sich heute im Alltag im Gespräch mit einem x-beliebigen Busfahrer oder mit einer x-beliebigen Bahnkontrolleurin finden ließen. Dann werden Sie relativ schnell auf die Arbeitsbedingungen kommen. Darauf, dass man erschöpft ist, und es wird halt häufig geklagt. Was heißt geklagt? Geklagt ist ein schlechtes Wort. Es wird sich empört. Klagen, das hat was von Wehklagen. Es wird sich empört. Und jetzt kommt wieder ein Begriff von einem anderen Kollegen aus München in diesem Fall, den ich sehr wichtig finde, es gibt eine Wut, es gibt eine Empörung, und die findet aber keinen Adressaten bei Gewerkschaften, nicht bei Parteien – Sozialdemokratie haben wir jetzt schon diskutiert. Also das heißt wir haben es mit einer – ich würde das absolut stark machen –, wir haben es mit einer Alltagsethik zu tun. Man kann das auch meinetwegen für hiesige Kreise greifbarer machen mit einer alltäglichen, moralischen Ökonomie, Edward Thompson22 sozusagen. Die nennen es nicht Sozialismus. Die nennen es auch nicht Kommunismus, die nennen es auch nicht Revolution und so weiter. Aber es gibt eine ganz klare Grundhaltung, dass die Arbeitswelt so wie sie heute gestaltet ist, nicht in Ordnung ist. Das macht sich fest an basalen Gerechtigkeitsvorstellungen, an Vielfaltsvorstellungen, da gehört übrigens auch das Lesbisch-, Schwulsein und so weiter dazu, an Menschlichkeitsvorstellungen, an Vorstellungen vom Sinn der Arbeit, vom Sinn des Lebens, die wir in der Großzahl 22  Eduard Palmer Thompson (1924-1993), britischer Historiker. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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auch der linken, kritischen Debatten überhaupt noch nicht eingefangen haben. Deswegen sage ich Sinn und Ethik, weil mir das so wichtig ist. Dann bin ich wieder bei den Gewerkschaften – in einer politisierteren Form. Mein Lieblingsbeispiel ist natürlich die Pflege, wo viel darüber diskutiert wird, dass die Frauen so wenig streiken, weil sie aus dieser weiblichen Tradition kommen, das ist so eine Sichtweise, „weibliche Tradition der Arbeit“, die sind das nicht so gewohnt mit dem Streiken und so weiter. Die rennen sich die Hacken ab, die entgrenzen sich total, und wenn man aber das mal umdreht und sagt, denen ist eine sinnvolle gute Pflege so wichtig, die wollen das nicht einfach aufgeben. In einem Eigeninterview, und wir haben alle Beispiele davon, sagt jemand: „Ich muss mich entscheiden, ob ich die alten Menschen pflegen oder mit ihnen in den Garten will, also sie wasche oder in den Garten bringe, an die frische Luft. Beides geht nicht.“ Ein Konflikt, der einen zerreißt, also der Mann hat da – das ist ein Mann in dem Fall – Depressionen drüber gekriegt, das überhaupt und als politisches Moment wahrzunehmen, nämlich über den Sinn der Arbeit, für wen arbeiten wir? Das können wir auch über die materielle Produktion darstellen. In einem Daimlerwerk sagt eine Beschäftigte: „Also, Entschuldigung, für uns war es jetzt gut, wir haben jetzt Arbeitsplätze gesichert.“ Aber sie fragt sich schon, warum hier immer weiter Autos produziert werden, „Wir haben doch jetzt wirklich genug.“ Und das sind Alltagspraxen, Alltagsfiguren, die weder in der radikalen Linken noch in weiteren gewerkschaftlichen Kreisen auch überhaupt nur ansatzweise verallgemeinert sind. Und ich finde, die gehören in die Diskussion. Norbert Niemann: Das Problem ist, jetzt gehen wir wieder zurück. Das macht aber nichts. Ich wollte noch mal kurz zu Frau Müller und Ingar Solty. Also diese Frage der Formalästhetik. Sie haben darauf hingewiesen, dass der Text auch ästhetisch stark und gelungen ist. Wenn wir über Politizität von Literatur reden, können wir nicht nur über Themen sprechen, sondern wir müssen, wenn wir über Literatur, politische Literatur sprechen, auch über Ästhetik sprechen, also formalästhetische Kriterien. Da bin ich auch bei Benjamin. Also man muss die Ästhetisierung des Politischen mit einer Politisierung des Ästhetischen beantworten. Glaube ich, stimmt immer noch. Und wie funktioniert das? Das ist ja das Interessante an diesem Text von Anke, aber auch von Annett Gröschner mit dieser Thematisierung des eigenen Schreibens. Weil sie gleichzeitig eigentlich Sturm läuft gegen diese von außen oktroyierten Formen. Sie sagt, sie schreibt einen Text, in dem sie sich wehrt gegen diese Formen. Annett Gröschner schreibt einen Text, in dem sie reflektiert, während sie diese Rede schreibt, wie diese Rede ankommen wird und so weiter und welche Zwänge in diesem Redenschreiben mitschwingen. Beides strukturiert formalästhetisch den Text und bringt selbst natürlich damit die Politizität in den Text rein. Das meine ich. Ohne damit selber wieder zum Dogma zu werden, sondern aus diesem speziellen Thema, aus dieser speziellen Autonomie des Textes, der hier entsteht. Also das ist das, was sie sagt. Sie will Subjekt werden, sie will Person werden. Das ist das, was sich in der formalästhetischen Umsetzung unmittelbar ausdrückt als Sprache, als ästhetische Form. Ingar Solty: Ich denke, dass es nicht als Kritik gemeint war, sondern dass vor allem die Klassenfrage ganz explizit auch als relationale da war. Zum Beispiel in der Beschreibung, wie man an die Hochschule kommt. Das hat Bourdieu’sche Züge,23 der Bauernsohn, der aus der Provinz nach Paris kommt aufs Collège de France, oder 23  Pierre Bourdieu (1930-2002), französischer Soziologe und Sozialphilosoph. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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eben Eribon, als Arbeiterkind, er hat ja jetzt im Guardian-Interview noch mal gesagt, es war in der Großstadt schwieriger, Arbeiterkind zu sein als schwul, weil die Fäden der Klassenherkunft an einem hingen, an denen man am Ende doch immer noch als minderwertig erkannt wird. Und was du beschrieben hast mit Paul Maar24 und dem Sams, das habe ich genauso erfahren. Als ich an die Uni kam, habe ich David Salomon in der Orientierungswoche kennengelernt. David Salomons Vater hat über Hegel promoviert, mein Vater liest „Hörzu“ und die Meinerzhagener Zeitung. Man macht die gleichen Erfahrungen, aber es kommt darauf an, diese Klassensegmentierung, die sich einschreibt in den Habitus, unter anderem aufzuschreiben und in die Relationalität zu Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen zu setzen. Das bringt mich zu deinem Vortrag, Stefanie. Butterwegge hat mit gutem Grund seinen Vortrag über Armut und Reichtum mit der Aussage begonnen, dass man nicht über Armut sprechen kann, wenn man nicht gleichzeitig über Reichtum spricht. Er hat gesagt, dass die Strukturen des Reichtums eigentlich unsichtbar gemacht werden. Ich finde, dass auch bei der Frage der Geschlechterverhältnisse eine ähnliche Unsichtbarmachung stattfindet. Wenn in der Vermögensverteilungsfrage der Reichtum unsichtbar gemacht wird, dann ist gerade in der Me-too-Debatte so ein widerliches Verhalten der Weinsteins, aber auch der Kevin Spaceys gegen junge Männer, die in der Filmindustrie Fuß fassen wollen, nicht zu erklären, ohne diese Ausbeutungsstrukturen. Die kamen in der gesamten Diskussion aber kaum vor. Es gab parallel dazu eine Studie, dass nämlich die meiste sexualisierte Gewalt Frauen als Kellnerinnen und als Hotelbedienstete erfahren und weniger Frauen aus den Higher Echelons of Society, was das nicht runterspielen soll, aber es macht klar, das wäre meine Hypothese, je prekärer die eigene Klassenlage, desto mehr sexualisierte Gewalt wird man erfahren. Und in einer patriarchalen Gesellschaft ist das natürlich vorrangig Gewalt von Männern an Frauen. Aber es muss nicht diese Form annehmen, es kann eben auch andere Formen annehmen, wie das Beispiel von Kevin Spacey zeigt. Und da ist die Me-too-Debatte in meinen Augen eine verpasste Chance gewesen. Eine Debatte, die im Ergebnis Männer aus ihren Machtpositionen beseitigt, teilweise auch mit illiberalen Tendenzen, wo jetzt die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung auf einmal nicht mehr galt, die aber die Positionen selber erhält und die Strukturen nicht infrage stellt; die Positionen und Strukturen, die selbstverständlich weitere sexualisierte Gewalt hervorrufen werden. Interessant finde ich diese Krise der Sorge-Arbeit oder der sozialen Reproduktion, wie sie im feministischen Diskurs, im materialistisch-feministischen Diskurs diskutiert wird. Wenn man das mal durchdekliniert, was da an Prekarisierung stattfindet und was das wiederum an Potentialen für sexualisierte Gewalt hervorbringt – wir haben heutzutage ja das, was früher die Inhouse-Bedienstetenklassen waren, mittlerweile ausgelagert, auf eigene Gefahr. Also die Bedienstetenklasse ist ausgelagert in Form derer, die unsere Einkäufe nach Hause schleppen. Derer, die unsere Pakete in die Wohnung schleppen. Derer, die Essenslieferanten sind mit Deliveroo oder Foodora. Die ist ausgelagert in Form der Leihmütter in Indien und Bangladesch, die sozusagen das eigene körperliche Risiko tragen, für letzten Endes die Modernisierung und Möglichmachung der Feminisierung des Arbeitsmarktes. Und auch in der Altenpflege, die Rumäninnen und Polinnen, die sich dann um unsere alten Eltern kümmern, das ist ein riesiges Potenzial für eben diese Art von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die eben Gewaltverhältnisse hervorbringen. Um die Köchin im eigenen Haushalt musste 24  Paul Maar: Am Samstag kam das Sams zurück. Hamburg: Oettinger 1980.

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sich der Bourgeois früher notgedrungen kümmern, was natürlich auch sexuelle Gewalt ständig präsent machte, aber grosso modo kann das Schicksal der neuen Bedienstetenklassen ihm und ihr allgemein wurscht sein. Stefanie Hürtgen: Mit der Prekarisierung gibt es auch auf dieser Ebene einen Roll Back und ich finde da immer wieder diesen Begriff, der kommt in meiner Wahrnehmung ganz stark von Nicole Mayer-Ahuja,25 die vom wieder Dienenlernen spricht. Dass die Verwundbarkeit auch personale Abhängigkeiten wieder gestärkt werden und natürlich in unsichtbaren Heimen, Verhältnissen – das hatte ich versucht mit diesen Sorgearbeiten klarzumachen –, ist die Gefahr. Man muss so ein bisschen aufpassen, wie man das genau schneidet. Deswegen habe ich auch auf diesen Streik in den 70er Jahren abgehoben, um zu sagen, dass diese Grundstruktur natürlich sich auch gegenüber formalisierten Verhältnissen findet. Wir müssen hier einfach aufpassen, dass wir in keinen Objektivismus reingehen. Und schließlich möchte ich auf einen Film hinweisen, der mich nachhaltig, nicht nur positiv, aber beeindruckt hat, Ulrich Seidl, Paradies: Liebe.26 Ich weiß nicht, wer das wahrgenommen hat, es ist ein gnadenloser Film in einer gewissen Weise, man guckt quälend langen, furchtbaren Szenen der sexistischen Zugriffsweise, in diesem Fall von Frauen auf schwarze Männer, zu. Was mich immer wieder nachdenken lässt über diesen Film – auch wenn ich ihn jetzt schon vor einer Weile gesehen habe –, ist, wie eine doppelte Geschichte stattfindet. Wie nämlich eine in den nördlichen, österreichischen Verhältnissen als nicht mehr schön, nicht mehr attraktiv eingestufte Frau ihr finanzielles Kapital nutzt, um in den Süden zu gehen und sich dort einen verfügbaren schwarzen Boy zu organisieren, und sie reagiert, wie in anderen Gesellschaften, in anderen Strukturen männliche Zugriffsversionen, irritiert darauf, wenn dieses Objekt eigenwilliges Handeln und Denken an den Tag legt und sich nicht so benimmt, wie sie das eigentlich vorgesehen hat. Fast alle Filmbeschreibungen – außer bei Wikipedia – beginnen mit Zitat, „nicht mehr ganz in Form“, diese doppelte Ausgrenzung und Stigmatisierung als hässlich und dick. Wo man wirklich denkt, sag mal, geht es noch. In der Beschreibung dieses Films wird diese sexistische Figur reproduziert und in diesem Fall rassistischerweise, ausagiert. Anke Stelling: Ich bin wie gesagt nicht so gut in Tagungen, und ein Schlusswort hatte ich mir jetzt gar nicht überlegt. Aber ich wollte noch eine Literaturempfehlung eines Sachbuches geben, das mich sehr beeindruckt hat, Bini Adamczak „Beziehungsweise Revolution“,27 zu dieser Frage vom Dreiklang Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit/ Solidarität, und wie es das eine nicht ohne das andere gibt, sondern, dass man das in Beziehung denken muss. Also für mich waren neu heute diese ganzen Gewerkschaftsfragen, die Melancholie des Revolutionärs und so weiter. Darüber ist darin ganz viel zu lesen.

25  Nicole Mayer-Ahuja (*1973), Arbeitssoziologin. 26  Ulrich Seidl (*1952), österreichischer Filmregisseur: Paradies: Liebe. 2012. 27  Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp: Berlin 2017

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Migration und Pluralität

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Die Erzählung von der Kluft: Arenen der Migrationsdebatte Hannes Schammann 1. Einleitung Ein Dauerbrenner der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung ist die Untersuchung von Widersprüchen bei der Formulierung und Implementierung von Migrationspolitik. Gary Freeman1 prägte dazu die breit rezipierte Hypothese, dass Migrationspolitik in westlichen Demokratien durch eine mehr oder weniger konstant große Kluft zwischen tendenziell liberalen policies und deutlich restriktiveren Einstellungen der Bevölkerung gekennzeichnet sei. Auch wenn diese Annahme eines opinion-policy gap seit kurzem wieder zaghaft in Frage gestellt wird,2 dominiert sie die Migrationsforschung doch immer noch derart, dass sie schon ironisch als „Iron Law“3 der Migrationspolitik bezeichnet wurde. Das geradezu blinde Vertrauen in die Hypothese kann dazu verleiten, Phänomene wie die Wahlerfolge der AfD oder auch die zwischenzeitlich tatsächlich großen Großdemonstrationen der PEGIDA in das bekannte Schema einzuordnen: hier die ‚liberale Politik‘, dort die ‚restriktive Bevölkerung‘. Mein Beitrag, der frühere Aufsätze zusammenführt4 wird die Sichtweise eines opinion-policy gap kritisch hinterfragen. Dafür ordne ich die Kernforderungen 1  Gary P. Freeman: Modes of Immigration Politics in Liberal Democratic States. In: International Migration Review 29 (4/(1995), S. 881-902. 2  Saskia Bonjour: The Power and Morals of Policy Makers: Reassessing the Control Gap Debate. In: International Migration Review 45 (1/2011), S. 89-122; Antje Ellermann: Undocumented Migrants and Resistance in the Liberal State. In: Politics & Society 38 (3/2010), S. 408-429; Laura Morales/ Jean-Benoit Pilet/Didier Ruedin: The Gap between Public Preferences and Policies on Immigration: A Comparative Examination of the Effect of Politicization on Policy Congruence (Pre-Print). In: Journal of Ethnic and Migration Studies 2015 (accepted); Antonia Scholz: Migrationspolitik zwischen moralischem Anspruch und strategischem Kalkül. Der Einfluss politischer Ideen in Deutschland und Frankreich. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012. 3  Saskia Bonjour: The Power and Morals of Policy Makers: Reassessing the Control Gap Debate, a.,a.O, S. 111. 4  Vgl. Hannes Schammann: PEGIDA und die deutsche Migrationspolitik. Ein Beitrag zur Differenzierung des Opinion-Policy Gap in der Migrationsforschung. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 25 (3/2015), S. 309-333. DOI: 10.5771/1430-6387-2015-3-309; ders.: Eine meritokratische Wende? Arbeit und Leistung als neue Strukturprinzipien der deutschen Flüchtlingspolitik. In: Sozialer Fortschritt 66 (11/(2017), S. 741-757; ders.: Reassessing the

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_019

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der PEGIDA und der AfD in den institutionellen Kontext deutscher Migrationspolitik ein, gegliedert nach den zentralen Arenen jeder Migrationsdebatte: Identität, Sicherheit, Wirtschaft.5 Damit verknüpft werde ich ein besonderes Augenmerk auf die Frage legen, ob sich in der deutschen Flüchtlingspolitik so etwas wie eine „meritokratische Wende“ diagnostiziert werden kann. 2.

Hintergrund: die Hypothese der opinion-policy gap

Die Auseinandersetzung mit Widersprüchen in nationalstaatlichen Migra­ tionspolitiken ist seit den frühen 1990er Jahren ein wesentlicher Bestandteil politikwissenschaftlicher Migrationsforschung. Zahlreiche Studien adressieren seitdem die empirisch feststellbaren Diskrepanzen zwischen Bevölkerungsmeinung, proklamierter Politik und tatsächlicher Wirkung aus verschiedenen theoretischen und methodischen Perspektiven. Die einflussreichsten Arbeiten zum sogenannten control gap stammen dabei von Hollifield,6 Cornelius et al.7 sowie Freemann.8 Dabei lassen sich zwei control gaps unterscheiden.9 Während der outcome gap die Kluft zwischen formulierter und faktisch umgesetzter Politik beschreibt, bezeichnet der opinion-policy gap die Annahme, opinion-policy gap. How PEGIDA and the AfD relate to German immigration policies. In: Annette Jünemann/Nicolas Fromm/Nikolas Scherer (Hg.): Fortress Europe? Challenges and Failures of Migration and Asylum Policies. Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 139-158. 5  Marc R. Rosenblum/Wayne A. Cornelius: Dimensions of Immigration Policy. In: Marc R. Rosenblum und Daniel J. Tichenor (Hg.): The Oxford Handbook of the Politics of International Migration. Oxford/New York: Oxford University Press 2012, S. 245-273. 6  James F. Hollifield: Immigrants, Markets, and States. The Political Economy of Postwar Europe. Cambridge: Harvard University Press 1992. 7  Wayne A. Cornelius/Martin L. Philip / James F. Hollifield: Introduction: The Ambivalent Quest for Immigration Control. In: Wayne A. Cornelius/Takeyuki Tsuda/Philip L. Martin/ James F. Hollifield (Hg.): Controlling Immigration. A Global Perspective. Stanford: Stanford University Press 1994, S. 3-41. 8  Gary P. Freeman: Modes of Immigration Politics in Liberal Democratic States. In: International Migration Review 29 (4/1995), S. 881-902. 9  Christina Boswell: Theorizing Migration Policy: Is There a Third Way? In: International Migration Review 41 (1/2007), S. 75-100. DOI: 10.2307/27645653; Gary P. Freeman/ Stuart M. Tendler: Interest Group Politics and Immigration Policy. In: Marc R. Rosenblum/Daniel J. Tichenor (Hg.): The Oxford Handbook of the Politics of International Migration. Oxford/ New York: Oxford University Press 2012, S. 324-344; Gallya Lahav/Virginie Guiraudon: Actors and Venues in Immigration Control: Closing the Gap between Political Demands and Policy Outcomes. In: Virginie Guiraudon/Gallya Lahav (Hg.): Special Issue on Immigration Policy in Europe: The Politics of Control. West European Politics 29 (2). London, New York: Routledge 2006, S. 201-223; Antonia Scholz: Migrationspolitik zwischen moralischem Anspruch und strategischem Kalkül.

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dass die Formulierung von Migrationspolitik in liberalen Demokratien zu jeder Zeit und unter allen Umständen deutlich liberaler und expansiver ist, als sich das die Bevölkerung wünscht.10 Dafür gibt es laut Freeman im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens sorgt ein „constraint discourse over immigration“11 dafür, dass Positionen, die zu weit von den Grundwerten liberaler Demokratien entfernt sind, vom politischen Diskurs ausgeschlossen werden. Zweitens geht Freeman davon aus, dass der Nutzen von Zuwanderung für einige Gruppen (u.a. Arbeitgeber) klar nachweisbar ist, die Nachteile dagegen diffus und schwer einer bestimmten Gruppe zuzuordnen.12 Daraus schließt er, dass eine expansive Einwanderungspolitik zwar nur durch wenige, dafür aber gut organisierte Interessengruppen gefordert wird. Demgegenüber steht eine zwar restriktiv eingestellte, aber nicht gut organisierte Öffentlichkeit. Freeman sieht in europäischen Ländern zwar einen offeneren Konflikt über Einwanderungspolitik als in den klassischen Einwanderungsländern (USA, Kanada, Australien, Neuseeland), aber letztlich verläuft der opinion-policy gap auch hier zwischen zwei Seiten, deren Verhältnis unbestimmt bleibt. Freeman selbst weist auf diese Schwachstelle später hin und bemerkt, dass eine differenziertere Betrachtung eine Revision seiner Hypothese nötig machen könnte: „Disaggregating public opinion according to specific aspects of immigration policy may undermine generalizations about a gap between public opinion and policy.“13 Doch wie kommt man von dieser auch von anderen Autor/innen geteilten, etwas vagen Skepsis gegenüber der Absolutheit der Hypothese zu einer stärkeren Differenzierung? Um zu prüfen, ob sich die Relation von öffentlicher Meinung und policies mit Blick auf „specific aspects“ der Migrationsdebatte jeweils anders darstellt, müssen diese Aspekte zunächst näher bestimmt werden. Hier hilft ein Rückgriff auf Rosenblum/Cornelius (2012), die die Diskussionen um die Ausrichtung von Migrationspolitik14 grundsätzlich durch drei Themen bestimmt sehen: Erstens ist dies die Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen und nationale Identität, die als emotionalisierte Konflikte um die Voraussetzungen von Zugehörigkeit „less concrete but more

10  Gary P. Freeman: Modes of Immigration Politics in Liberal Democratic States. 11  Ebd., S. 883. 12  Ebd., S. 885. 13  Gary P. Freeman/ Stuart M. Tendler: Interest Group Politics and Immigration Policy, S. 235. 14  Hier und im Folgenden wird in Anlehnung an Marc R. Rosenblum/ Wayne A. Cornelius: Dimensions of Immigration Policy, unter Migrationspolitik (im Englischen „immigration policy“) auch Integrationspolitik verstanden.

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intensely felt“15 sind. Sie nehmen neben der Staatsbürgerschaft vor allem die Kompatibilität von Ethnizität und Religion der Zuwanderer mit der Aufnahmegesellschaft in den Blick. Zweitens sehen sie die Frage, wie Migration die nationale Sicherheit des Aufnahmelandes beeinträchtigt, als festen Debattenbestandteil, der an der Schwelle von Innen- und Außenpolitik anzusiedeln ist.16 Dabei geht es unter anderem darum, wie das Verhältnis von humanitärer Verpflichtung und Sicherheitsinteressen gestaltet wird. Drittens schließlich sind Migrationsdebatten nicht ohne wirtschaftliche Aspekte zu denken. Damit zusammenhängende Fragen drehen sich vor allem darum, wie man Zuwanderung effizient gestalten, ihre Nettogewinne maximieren und dabei Verteilungsgerechtigkeit herstellen kann.17 3. Fallbeispiele: PEGIDA und AfD Bei der Suche nach einem Fallbeispiel, bei dem diese drei Aspekte (Identität, Sicherheit, Wirtschaft) durch eine im Sinne Freemans18 ‚unorganisierte‘ Meinung vertreten werden, stößt man schnell auf die Großdemonstrationen der PEGIDA in mehreren Städten Deutschlands, die von Oktober 2014 bis etwa Januar 2015 die öffentliche Diskussion um Migrationspolitik prägten. Nach Absage der Dresdener Demonstration am 19. Januar 2015 wegen einer Terrorwarnung und aufgrund andauernder interner Querelen verlor die Bewegung deutlich an Fahrt.19 Doch in ihrer Hochphase gelang es PEGIDA, neben bekennenden Rechtsextremen auch Teilnehmende aus der Mitte der Bevölkerung zu mobilisieren.20 Noch im Frühjahr 2016 ermittelte eine repräsentative Umfrage Zustimmungswerte von teilweise über 40 Prozent.21 Ein Blick auf die Ergebnisse der Protest- und Bewegungsforschung (insb. Rucht 15  Ebd., S. 248. 16  Ebd., S. 250f. 17  Ebd., S. 247f. 18  Gary P. Freeman: Modes of Immigration Politics in Liberal Democratic States, S. 886. 19  Lars Geiges/ Stine Marg/ Franz Walter: Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: Transcript 2015. 20  Dieter Rucht/Priska Daphi/ Piotr Kocyba/ Michael Neuber/Jochen Roose/ Franziska Scholl/Moritz Sommer: Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida. Unter Mitarbeit von Simon Teune. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Berlin 2015, S. 19. Online verfügbar unter http://www.wzb.eu/sites/default/ files/u6/pegida-report_berlin_2015.pdf (zuletzt eingesehen am 26.02.2015). 21  Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler: Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014. Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig. Leipzig 2014 (Die „Mitte“-Studien der Universität

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et al. 2015) sowie auf die Positionspapiere der PEGIDA22 zeigt, dass alle drei von Rosenblum und Cornelius identifizierten Themenfelder durch PEGIDA angesprochen werden. Ihre Positionen verschmelzen in der Beschreibung des Islam als Gefahr für Volk und Vaterland (Identität), für Leib und Leben (Sicherheit) und für Wachstum und Wohlstand (Wirtschaft). Auch die im Jahr 2013 gegründete Partei ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD) erhebt mittlerweile ähnliche Forderungen wie PEGIDA. Sie warnt vor einer kulturellen Überfremdung Deutschlands und artikuliert aus ökonomischer wie sicherheitspolitischer Perspektive Skepsis gegenüber supranationalen Lösungen zur Einwanderung. Zwar kann sie nicht als ‚unorganisierte Öffentlichkeit‘ gewertet werden, doch ihre Wahlerfolge zeigen, dass die Forderungen und Positionen der AfD bei einem Teil der deutschen Bevölkerung durchaus zustimmungsfähig sind. Durch die Präsenz in den drei zentralen Themenfeldern bieten AfD und PEGIDA die Möglichkeit, die von Freeman und Tendler23 angedachte Differenzierung des opinion-policy gap entlang spezifischer Aspekte der Migrationspolitik konzeptionell voranzutreiben. Und auch wenn beide keinesfalls repräsentativ für die öffentliche Meinung in Deutschland stehen, können sie doch als Ausgangspunkt dafür dienen, die Relation zwischen einer als deutlich restriktiv wahrgenommenen Position und der faktischen Migrationspolitik differenziert zu beschreiben. Die empirischen Ergebnisse der Analyse bleiben zwar auf die beiden Phänomene beschränkt, doch dabei gewonnene konzeptionelle Erkenntnisse können Anstöße zur Neudimensionierung des opinion-policy gap geben. 4.

Arena der Identität

Das prominenteste migrationspolitische Narrativ bei PEGIDA ist die Sorge um eine „Islamisierung des Abendlandes“ – und damit die Furcht vor einer Überfremdung Deutschlands durch das kulturell und religiös vermeintlich absolut Leipzig). Online verfügbar unter http://www.uni-leipzig.de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf (zuletzt eingesehen am 26.02.2015). 22   P EGIDA: Positionspapier der PEGIDA. Dresden 2014. Online verfügbar unter www.lvzonline.de/f-Download-d-file.html?id=2942 (zuletzt eingesehen am 09.04.2015]; PEGIDA: Dresdner Thesen. Gemeinsam für Deutschland! Dresden 2015. Online verfügbar unter https://legida.eu/images/legida/Dresdner_Thesen_15_02.pdf (zuletzt eingesehen am 09.04.2015). 23  Gary P. Freeman/ Stuart M. Tendler: Interest Group Politics and Immigration Policy, S. 325.

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Andere. Zwar zeigt sich bei den Demonstrierenden sogar eine etwas geringere explizite Islamfeindlichkeit als in der Gesamtbevölkerung, allerdings wird die Sichtbarkeit des Islam im öffentlichen Leben – etwa durch Moscheebauten – zu beinahe 100 % abgelehnt.24 Auf Plakaten sind eindeutig islamfeindliche Aussagen festzustellen, beispielsweise „Hass, Gewalt, Koran“ oder „Islam = Karzinom“.25 Spiegelbildlich zur Abwertung des als fremd und bedrohlich konzipierten Islam wird von 81 % der von Rucht et al. Befragten eine Stärkung des eigenen Nationalgefühls gewünscht.26 In den offiziellen Verlautbarungen, insbesondere in dem 19 Punkte umfassenden „Positionspapier der PEGIDA“27 und den „Dresdner Thesen“,28 spielt der Islam eine untergeordnete Rolle. Allerdings wird auch hier der „Schutz unserer christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur“29 gefordert. Damit wird Migrationspolitik an erster Stelle als Identitätspolitik konzipiert. Die AfD hatte unmittelbar nach ihrer Gründung nur verhalten identitätspolitische Positionen vertreten und sich eher als Anti-Euro-Partei profiliert. Hier dominierte der eher liberale Flügel, auch wenn die AfD von Beginn an durch Personen und Positionen einer national-konservativen Strömung geprägt war. Doch im Zuge der Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland im Jahr 2015 und auch in Auseinandersetzung mit den Demonstrationen der PEGIDA nahm die AfD zunehmend ähnliche Positionen ein. Auch sie artikuliert nun eine nationale Identitätspolitik und warnt vor einer Überfremdung Deutschlands durch den Islam. Identitätspolitik ist ein schillernder Begriff, den sich verschiedene Wissenschaftsdisziplinen mit unterschiedlichen Zielsetzungen angeeignet haben. Aus migrationspolitischer Sicht verweist er auf eine Politik der Zugehörigkeit und dabei insbesondere auf das Staatsbürgerschaftsrecht.30 Zu diesem hat sich eine umfangreiche Forschungsliteratur entwickelt. Besonders prägend 24   Dieter Rucht/Priska Daphi/Piotr Kocyba/ Michael Neuber/Jochen Roose/Franziska Scholl/Moritz Sommer: Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida, S. 29f. 25  Ebd., S. 43. 26  Ebd., S. 28. 27   P EGIDA: Positionspapier der PEGIDA. Dresden 2014. 28   P EGIDA: Dresdner Thesen“, Dresden 2015. 29   P EGIDA: Positionspapier der PEGIDA. Dresden 2014. In den „Dresdner Thesen“ (PEGIDA 2015) wird das Adjektiv „christlich-jüdisch“ gestrichen. Beobachter werten dies als Öffnung für die rechte, antisemitische Szene (Benneckenstein 2015). Ansonsten enthält das Papier kaum neue Positionen. 30  James F. Hollifield: Migration and International Relations: Cooperation and Control in the European Community. In: International Migration Review 26 (2/1992), S. 568-595, hier 585.

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für die Debatte war lange Rogers Brubaker,31 der in seiner Analyse der Einbürgerungsgesetzgebung in Deutschland und Frankreich auf Pfadabhängigkeiten verweist, die er bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt. Während er für das zentralistische Frankreich ein republikanisches Ideal feststellt, diagnostiziert er für die deutsche ‚Volksgemeinschaft‘ ein ethnisch-kulturelles Verständnis von nationaler Identität. Diese These hatte so lange Bestand, wie in Deutschland für den Erwerb der Staatsbürgerschaft ein relativ striktes ius sanguinis (Abstammungsprinzip) galt. Mit der Einführung von immer mehr Elementen des ius soli, des Prinzips des Geburtsortes, und der erleichterten Einbürgerung spätestens ab 1999 sah sich die kulturalistische Argumentation Brubakers wachsender Kritik ausgesetzt. Susanne Worbs32 stellt fest, dass für Deutschland kein überwölbendes konsensuales Verständnis von Staatsbürgerschaft diagnostiziert werden kann. Stattdessen lässt sich eher von permanent widerstreitenden Auffassungen sprechen, deren Mehrheiten sich im Zeitverlauf gewandelt haben. In diesem Kontext ist auch die Debatte um eine deutsche oder europäische ‚Leitkultur‘ zu verorten, die Bassam Tibi33 angestoßen hatte und die erstmals im Jahr 2000 in Politik und Öffentlichkeit aufgegriffen wurde. Dabei wurde in Boulevardpresse, Feuilletons, Parlamenten und wissenschaftlichen Artikeln gleichermaßen darüber diskutiert, welche Anpassungsleistungen die Mehrheitsgesellschaft von Zuwanderern fordern dürfe. Diese Diskussion war ab dem Jahr 2006 eng verbunden mit der Entwicklung von Einbürgerungstests in den Bundesländern, bei denen die Voraussetzungen für Zugehörigkeit in konkrete Wissensfragen gegossen werden sollten. Deren Bandbreite reichte vom Abprüfen eines bildungsbürgerlichen Kanons in Hessen – „Der deutsche Maler Caspar David Friedrich malte auf einem seiner bekanntesten Bilder eine Landschaft auf der Ostseeinsel Rügen. Welches Motiv zeigt dieses Bild?“34 – bis zur Gesinnungsprüfung in Baden-Württemberg, wo beispielsweise die Haltung zu ‚Ehrenmorden‘ in einem mündlichen Gespräch erörtert werden sollte.35 31  Rogers Brubaker: Citizenship and Nationhood in France and Germany. Cambridge MA: Harvard University Press 1992. 32  Susanne Worbs: Bürger auf Zeit. Die Wahl der Staatsangehörigkeit im Kontext der deutschen Optionsregelung. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014, S. 52, 100. 33  Bassam Tibi: Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. Demokratie zwischen Werte-Beliebigkeit und pluralistischem Werte-Konsens. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (52-53/1996), S. 27-36. 34  http://www.susannealbers.de/06wissen-100fragen-01.html (zuletzt eingesehen am 30.03.2015). 35  http://www.spiegel.de/politik/deutschland/einbuergerungstests-baden-wuerttembergbleibt-bei-gesinnungsfragen-a-557688.html (zuletzt eingesehen am 30.03.2015).

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Die Suche nach unstrittigen und testfähigen Inhalten einer deutschen Leitkultur wurde schließlich vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge koordiniert und mündete in einen nüchternen Fragebogen zu Aufbau und Funktionsweise des politischen Systems in Deutschland und einen dazu gehörigen Einbürgerungskurs.36 Man einigte sich damit auf einen Minimalkonsens, der Zugehörigkeit an Deutschkenntnisse und Grundwissen über das politische System knüpfte. Obsiegt hatten letztlich die Befürworter eines republikanischen Staatsbürgerschaftsverständnisses. Doch die Diskussion war nur vorübergehend beruhigt. In der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft formierten sich die bekannten Lager neu: Während die Befürworter eines eher republikanischen Zugehörigkeitsmodells Mehrstaatlichkeit favorisierten, verwiesen die Gegner auf mögliche Loyalitätskonflikte.37 Dadurch, dass der Doppelpass dann sogar zum Wahlkampfthema der Bundestagswahl 2013 avancierte,38 war auch die Positionierung der Parteien in dieser Frage transparent und wählbar. Besondere Brisanz erhielt die Debatte um Identität und Zugehörigkeit durch immer wiederkehrende Verweise auf die vermeintliche Unvereinbarkeit einer ‚westlichen‘ mit einer ‚muslimischen Kultur‘, wie sie bereits Huntington 199739 formuliert hatte. So konzipierten zahlreiche populärwissenschaftliche und teils populistische Veröffentlichungen die Präsenz des Islam und der Muslime als Bedrohung. Am deutlichsten gilt dies sicherlich für die Schriften und Äußerungen des SPD-Politikers und Ökonomen Thilo Sarrazin, in denen eine ‚Ethnisierung‘ des Islam erfolgte und ein Zusammenhang zwischen Intelligenz und religiöser Zugehörigkeit suggeriert wurde. Quer zu solchen Verlautbarungen stehen parallele Versuche der Bundesregierung und der Landesregierungen, auf islamische Verbände zuzugehen. So rief der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mitten in der Diskussion um ‚Leitkultur‘ und Einbürgerung im Jahr 2006 die Deutsche Islam Konferenz ins Leben.40 In den folgenden Jahren entstanden ähnliche Gremien auch auf Landesebene. Zum Zeitpunkt der PEGIDA-Demonstrationen war die 36  http://www.bamf.de/DE/Einbuergerung/WasEinbuergerungstest/waseinbuergerungs test.html?nn=1362952 (zuletzt eingesehen am 30.03.2015). 37  Susanne Worbs: Bürger auf Zeit, S. 142. 38  Ebd., S. 37. 39  Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Touchstone 1997. 40   Levent Tezcan: Das strittige Kollektiv im Kontext eines Repräsentationsregimes. Kontroversen auf der Deutschen Islam Konferenz (2006-2009). In: Özkan Ezli/Andreas Langenohl/Valentin Rauer/Claudia Marion Voigtmann (Hg.): Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität. Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft. Bielefeld: Transcript 2013 (Kultur- und Medientheorie), S. 159-181.

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institutionelle Verortung des Islam im politischen und rechtlichen System der Bundesrepublik bereits weit fortgeschritten: Bremen und Hamburg hatten sogenannte ‚Staatsverträge‘ mit islamischen Verbänden unterzeichnet, Hessen und Hamburg hatten einem Verband sogar die Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt. Es lässt sich kaum argumentieren, dass die Diskussionen um den Islam und um das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht in Hinterzimmern und in konspirativer Klientelpolitik im Sinne Freemans stattgefunden hätten – im Gegenteil: Kaum eine Diskussion der deutschen Migrationspolitik wurde und wird derart öffentlich, lautstark und andauernd geführt. PEGIDA kann also nicht darauf verweisen, dass Parteien und Politiker ‚restriktive‘ Einstellungen nicht zur Kenntnis genommen hätten. Ihre Forderung nach dem Schutz der nationalen Identität – bzw. der als Gegenentwurf zum islamischen ‚Morgenland‘ propagierten ‚Abendlandkultur‘ – ist deshalb eher als Versuch zu werten, eine als verloren wahrgenommene Debatte neu anzufachen. Politiker der etablierten Parteien und Medienvertreter reagieren auf diesen Versuch überwiegend mit Ablehnung. Es herrscht die Tendenz vor, das leidige Thema der Leitkultur endlich ad acta legen zu wollen. Angela Merkels lange erwartetes Bekenntnis, dass der Islam heute auch zu Deutschland gehöre, ist dafür wohl das treffendste Beispiel.41 Mit Blick auf identitätspolitische Aspekte lässt sich somit durchaus eine Distanz zwischen AfD und PEGIDA auf der einen Seite und den politisch durchgesetzten Regelungen und Maßnahmen auf der anderen Seite feststellen. Klaus Bades Ausdruck der „Siebenmeilenstiefel“,42 mit denen die Politik einem Teil der Bevölkerung enteilt sei, scheint hier angemessen – insbesondere da er impliziert, dass der opinion-policy gap in Fragen der Zugehörigkeit nicht a priori vorhanden war, sondern erst durch geänderte migrationspolitische Zielsetzungen der letzten Jahre entstanden ist. Die beobachtbare ‚Basta-Politik‘ in Fragen der Identitätspolitik vergrößert die entstandene Kluft und nährt die ohnehin präsente Kritik der PEGIDA an intermediären Institutionen.43

41  http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-01/angela-merkel-islam-deutschland-wulff (30.03.2015), (zuletzt eingesehen am 3.5.2019). 42  Klaus J. Bade: Integration ist keine Einbahnstraße. Worauf wir uns einstellen müssen, wenn Einwanderung und Integration gelingen sollen. In: Rotary Magazin (2/2015), S. 18-21. 43  Dieter Rucht/Priska Daphi/ Piotr Kocyba/ Michael Neuber/Jochen Roose/ Franziska Scholl/Moritz Sommer: Protestforschung am Limit. S, S. 51.

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Im Gegensatz zu Parteien und Medien genießt gerade die Polizei großes Vertrauen bei den Demonstrierenden der PEGIDA,44 aber auch in der Gesamtgesellschaft.45 Die Furcht vor einer ‚Überfremdung‘ ist sowohl bei PEGIDA als auch bei der AfD mit dem Ruf nach einem starken Sicherheitsapparat gekoppelt. Besonders deutlich wird dies durch die erhobenen Forderungen nach einer besseren Ausstattung der Polizei und einer Null-Toleranz-Politik gegenüber Ausländern.46 In diese Richtung argumentiert auf die AfD, wenn sie in ihrem 2016 verabschiedeten Grundsatzprogramm diagnostiziert: „[Im] Schlepptau der ungeregelten Massenzuwanderung steigt die Kriminalität an“.47 Daraus leitet die AfD die Forderung ab, „dem Schutz der Bürger vor einwanderungsbedingter Kriminalität oberste Priorität einzuräumen“.48 Das zweite dominante migrationspolitische Narrativ bei PEGIDA und AfD ist daher, dass Migrationspolitik zwingend Sicherheitspolitik sein muss. Damit betreten PEGIDA und AfD keinesfalls Neuland. Horvath49 weist darauf hin, dass Migrationspolitik grundsätzlich sicherheitspolitische Züge trage, die „strukturell verankert“50 seien. Somit ist es nicht verwunderlich, dass auch die deutsche Migrations- und Integrationspolitik von einem starken Sicherheitsdiskurs durchdrungen ist.51 Zumeist geht es dabei „entweder um die Kontrolle irregulärer Migration oder um die Verhinderung islamistischen Terrorismus’“.52 Erstere Sicht wurde durch die hohen Asylbewerberzahlen 44  Ebd., S. 25. 45  Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler: Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014. Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig. Leipzig (Die „Mitte“-Studien der Universität Leipzig) 2014, S. 60. Online verfügbar unter http://www.uni-leipzig.de/~kredo/Mitte_ Leipzig_Internet.pdf (zuletzt eingesehen am 26.02.2015). 46   P EDIGA, Positionspapier 2014; Dresdner Thesen 2015. 47   AfD – Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland. Stuttgart 2016. Online verfügbar unter https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/sites/7/2016/05/ 2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf (zuletzt eingesehen am 11.07.2016). 48  Ebd., S. 65. 49  Kenneth Horvath: Die Logik der Entrechtung. Sicherheits- und Nutzendiskurse im österreichischen Migrationsregime. In: Migrations- und Integrationsforschung. Multidisziplinäre Perspektiven, Bd. 6. Wien: V&R Unipress 2014, S. 58-62. 50  Ebd., S. 62. 51  Mechthild Baumann: Migration und Sicherheit. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2009 (WISO-direkt); Douglas B. Klusmeyer/Demetrios G. Papademetriou : Immigration Policy in the Federal Republic of Germany. Negotiating Membership and Remaking the Nation. New York: Berghahn Books 2009. 52  Mechthild Baumann: Migration und Sicherheit, S. 1.

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Anfang der 1990er Jahre, zweite nach den Anschlägen des 11. September 2001 populär. In den jeweiligen Kontexten auftauchende Begriffe wie „Asylantenfluten“53 oder „Schläfer“54 schrieben sowohl ein „Gefahren-Topos“55 als auch ein „Belastungs-Topos“56 fort, die beide bereits seit den 1960er Jahren zu beobachten sind.57 Doch die Sicherheitsorientierung hat in Deutschland nicht nur in der medialen und politischen Debatte eine lange Tradition, sondern ist auch institutionell tief verankert. So hatten in den ersten 20 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Wesentlichen die örtlichen Polizeibehörden die Zuständigkeit für Fragen zum Aufenthalt von Ausländern in Deutschland inne.58 Dies regelte die noch im Dritten Reich verabschiedete Ausländerpolizeiverordnung von 1938. Die rechtliche Verknüpfung von Migration und Kriminalität wurde mit der Verabschiedung des Ausländergesetzes im Jahr 1965 in eine allgemeinere Verschränkung von Migration und Sicherheit umgewandelt: Die Zuständigkeit auf lokaler Ebene wurde den Ausländerbehörden übertragen, die ihrerseits häufig den lokalen Ordnungsämtern zugeordnet sind. Auf Bundesebene wurde Migrationspolitik unter die Federführung des Bundesministeriums des Innern (BMI) gestellt.59 Auch die Deutsche Islam Konferenz als zentrales Dialogforum zwischen Staat und organisierten Muslimen in Deutschland liegt seit 2006 in Zuständigkeit des BMI. Neben Migrations- und Islamfragen ist das BMI unter anderem für Öffentliche Sicherheit, Terrorismusbekämpfung, Katastrophenschutz oder allgemeine Verwaltungsangelegenheiten zuständig. Diese Aufgabenverknüpfung hat auf nachgeordneter Ebene zur Folge, dass sich migrations- und sicherheitsrelevante Behörden im selben Ressort wiederfinden. Dies sind vor allem die 53  Margarete Jäger: Skandal und doch normal. Zu den Verschiebungen und Kontinuitäten rassistischer Deutungsmuster im deutschen Einwanderungsdiskurs. In: Überblick 20 (2/2014), S. 10-18, hier 13. 54  Ebd., S. 14. 55  Martin Wengeler: Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985). In: Reihe Germanistische Linguistik, 244 Tübingen: Niemeyer 2003, S. 306. 56  Ebd., S. 303. 57  Ebd., S. 368. 58  In der DDR galt diese Zuordnung sogar bis 1990. Die gesonderte Betrachtung der DDR wäre notwendig, wenn man den stärkeren Zulauf zu den Demonstrationen in Ostdeutschland untersuchen wollte. Ein Großteil der hier betrachteten Entwicklungen ist zudem nach 1990 festzustellen. 59  Die starke Stellung des Innenministeriums in der Migrationspolitik entspricht dem Status quo in den meisten EU-Staaten. Selbst wenn an dieser Stelle keine vergleichende Perspektive eingenommen werden soll, lässt sich doch festhalten, dass es sich dabei nicht um eine deutsche Besonderheit handelt.

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Bundespolizei, das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz und nicht zuletzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das neben der Prüfung der Asylanträge und den Integrationsmaßnahmen des Bundes auch das Ausländerzentralregister verwaltet. Diese Behörden können durch die Verankerung im selben Geschäftsbereich unkomplizierter kooperieren als dies bei Zuordnung zu verschiedenen Ministerien der Fall wäre. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass ein Arbeitsplatzwechsel von Mitarbeitenden zwischen Behörden eines Geschäftsbereichs leichter möglich ist als zwischen verschiedenen Ressorts. Damit dehnt sich die Verschränkung von Sicherheits- und Migrationspolitik auf die individuelle Ebene der Verwaltungsmitarbeitenden aus und wird zur Selbstverständlichkeit im Arbeitsalltag. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Bundesregierung auf die Forderungen nach einer noch stärkeren Sicherheitsorientierung in Migrations- und Islamfragen immer wieder mit Verständnis reagierte. Bundesinnenminister Thomas de Maizière erkannte beispielsweise während der PEGIDA-Demonstrationen im Jahr 2014 an, dass die Artikulation von Ängsten nachvollziehbar sei: „Wie viele Jahre kommen noch 200.000 Asylbewerber nach Deutschland? Sind unter ihnen Terroristen? […] Das sind berechtigte Fragen. Die nehmen wir ernst.“60 Hier lässt sich nur schwer ein opinion-policy gap im Sinne diametral unterschiedlicher Zielsetzungen von Politik und PEGIDA herauslesen. Allerdings kann man davon sprechen, dass eine Differenz in der Einschätzung der notwendigen Ressourcen für das gemeinsame Ziel besteht. Aus Sicht von PEGIDA müsste die deutsche Migrationspolitik den eingeschlagenen Weg der Sicherheitsorientierung noch konsequenter verfolgen. 6.

Arena der Wirtschaft

PEGIDA und AfD artikulieren zahlreiche Ressentiments gegenüber Migranten. Dennoch kann beiden keine grundsätzliche Agitation gegen jegliche Immigration unterstellt werden, sprechen sie sich doch dezidiert für eine gesteuerte und marktorientierte Zuwanderung aus „nach dem Vorbild der Schweiz, Australiens, Kanadas oder Südafrikas.61 Die AfD konstatiert: „Für den Arbeitsmarkt qualifizierte Einwanderer mit hoher Integrationsbereitschaft sind uns willkommen.“62 Auch gegen Asyl für politisch Verfolgte haben 60  http://www.welt.de/politik/deutschland/article135308170/De-Maiziere-will-PEGIDAHetze-mit-Fakten-kontern.html (zuletzt eingesehen am 23.02.2015). 61   P EGIDA, Poositionspapier 2014. 62   AfD – Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland, S. 62.

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sie keine grundsätzlichen Einwände, wünschen sich aber eine schnellere und vor allem effiziente Prüfung durch das BAMF.63 Zuwanderung dürfe den deutschen Staat nicht belasten, sondern müsse als „qualitative Zuwanderung“64 den „Interessen Deutschlands als Sozialstaat, Wirtschafts- und Kulturnation dienen“.65 Migrationspolitik ist für AfD und PEGIDA somit nicht zuletzt meritokratisch und marktliberal ausgerichtete Wirtschaftspolitik. Hintergrund für das Verständnis meritokratischer Prinzipien in der Migrationspolitik Deutschlands und anderer westlicher Einwanderungsländer ist die Idee und der Kontext liberaler Demokratie. In einer bekannt gewordenen Denkfigur argumentiert James Hollifield, dass liberale Demokratien zwar beständig zwischen expansiver und restriktiver Migrationspolitik schwanken würden, ihre Migrationspolitik jedoch aufgrund eines institutionell „eingebetteten Liberalismus“ tendenziell immer liberaler werde.66 Er unterscheidet dabei zwei Spielarten des Liberalen: Politisch liberale Institutionen, wie das Recht auf Familienzusammenführung, gelten für alle Menschen und erzwingen somit eine Öffnung der Grenzen. Gleichzeitig sorgen ökonomisch liberale Mechanismen, insbesondere freier Handel, dafür, dass Migration als Bestandteil globalisierter Wirtschaft geduldet oder gar befördert wird. Für Gary Freeman sind es insbesondere die Arbeitgeber, die ein hohes Interesse an offenen Grenzen haben und auf liberalere policies drängen.67 Sie erhoffen sich damit eine Vergrößerung des Pools an Arbeitskräften und befürworten Zuwanderungsregelungen, die sich am arbeitsmarktrelevanten Potenzial der Migrant/innen orientieren. Dies führt letztlich zu leistungsorientierten Kriterien bei der Regelung von Zuwanderung – und zu einer fortschreitend liberalen Migrationspolitik westlicher Demokratien.68 Autor/innen, die überwiegend einer kritischen, an Marx und Gramsci orientierten Migrationspolitikforschung zuzurechnen sind, sehen meritokratische Elemente als Teil eines größeren hegemonialen Projektes, das die Migrationspolitik westlicher

63  Dieter Rucht/Priska Daphi/ Piotr Kocyba/ Michael Neuber/Jochen Roose/ Franziska Scholl/Moritz Sommer: Protestforschung am Limit, S. 21f., S. 40. 64   P EGIDA, Dresdner Thesen 2015. 65   AfD – Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland, S. 62. 66  James F. Hollifield: Migration and International Relations: Cooperation and Control in the European Community. 67  Gary P. Freeman: Modes of Immigration Politics in Liberal Democratic States. 68  Wayne A. Cornelius/Martin L. Philip / James F. Hollifield: Introduction: The Ambivalent Quest for Immigration Control. In: Wayne A. Cornelius, Takeyuki Tsuda, Philip L. Martin und James F. Hollifield (Hg.): Controlling Immigration.

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Demokratien präge und eng mit dem Terminus des „Migrationsmanagement“ verknüpft sei.69 Ob aus einer akteurszentrierten Perspektive wie bei Freeman, aus institutionalistischer Sicht wie bei Hollifield oder aus der Warte kritischer Ansätze: In der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung wird das Leistungsprinzip als elementarerer Bestandteil bei der Gestaltung von Migrationspolitik begriffen. Besonders anschaulich tritt es in den sogenannten Punktesystemen mehrerer Staaten zu Tage. So werden beispielsweise in Neuseeland, Kanada und Australien Zuwanderungswillige nach Leistungskriterien bewertet. Besonders relevant sind dabei Bildungsabschlüsse, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und ein unterschriebener Arbeitsvertrag. Aber auch das Alter sowie die Sprachkenntnisse und der Bildungsstand von Lebenspartnern spielen eine Rolle. Richten sich die Einwanderungssysteme dabei ausschließlich an den Leistungspotenzialen der Zuwandernden aus, so werden die entsprechenden Regelungen als angebotsorientiert bezeichnet. Wenn die Leistungskriterien auf die nationale oder regionale Bedarfslage, etwa an Fachkräften in einer bestimmten Branche, ausgelegt sind, spricht man von nachfrageorientierten Regelungen. Galten die Punktesysteme klassischer Einwanderungsländer lange als nahezu ausschließlich angebotsorientiert, während die Einwanderungspolitik Deutschlands als nahezu ausschließlich nachfrageorientiert angesehen wurde, lassen sich heute kaum mehr Extremtypen finden. Einerseits hat beispielsweise Kanada die Bevorzugung nachgefragter Branchen aufgenommen.70 Andererseits hat Deutschland im Jahr 2012 mit dem §18c AufenthG die wohl weltweit liberalste und eindeutig angebotsorientierte Regelung erlassen: Danach können Hochschulabsolventen gleich welcher Fachrichtung ein sechsmonatiges Visum zur Arbeitssuche in Deutschland beantragen. Diese Regelung trägt dazu bei, dass Deutschlands Migrationspolitik mit Blick auf Fachkräfte seit geraumer Zeit von der OECD als besonders progressiv bezeichnet wird.71 Der §18c AufenthG ist der vorläufige Höhepunkt einer fortschreitenden Liberalisierung der deutschen (Fachkräfte-)Migrationspolitik, als deren 69  Sonja Buckel/Fabian Georgi/John Kannankulam/Jens Wissel: Hegemonieprojekte im Kampf über die Migrationspolitik und Europäische Integration. In: Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung. Unter Mitarbeit von Sonja Buckel, John Kannankulam, Dana Lüddemann, Fabian Georgi, Niolai Huke, Maximilian Pichl et al. Bielefeld: Transcript 2014 (Kultur und soziale Praxis), S. 61-84. 70  Holger Kolb: When Extremes Converge – German and Canadian Labor Migration Policy Compared. In: Comparative Migration Studies 2 (1/2014), S. 57-75. 71   O ECD: International Migration Outlook 2013. Paris: OECD Publishing 2013.

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gesetzlicher Startschuss die deutsche Version der „Green Card“ unter der ersten Regierung Schröder im Jahr 2000 gelten kann. Vor dem Hintergrund eines prognostizierten Fachkräftemangels in der IT-Branche war es das Ziel des Gesetzes 20.000 IT-Spezialisten, vorwiegend aus dem asiatischen Raum, anzuwerben. Auch wenn die – weiterhin stark nachfrageorientierte – Maßnahme nur bescheidenen Erfolg zeitigte, wurde doch deutlich, dass sich Deutschland erstmals seit dem Anwerbestopp von 1973 wieder aktiv um die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland bemühte. Zahlreiche weitere Initiativen auf gesetzlicher und untergesetzlicher Ebene folgten. Dazu gehörten unter anderem das parteiübergreifende Nachdenken über effiziente Migrationspolitik, beispielsweise in der Süßmuth-Kommission im Jahr 200172 oder einer „Konsensgruppe“ zur Fachkräftezuwanderung im Jahr 2011. Darüber hinaus gab es zahlreiche konkrete, parteiübergreifend konsentierte Gesetzesinitiativen wie das Berufsqualifikationenfeststellungsgesetz (BQFG) im Jahr 2012, das den Weg zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse in Deutschland normierte und Deutschland sowohl für Fachkräfte attraktiver machen sollte als auch einen „Brain Waste“,73 das heißt eine Verschwendung des Humankapitals bereits Zugewanderter, zu vermeiden suchte. Unterhalb gesetzlicher Regelungen stießen sowohl Bundesregierung als auch Landes- und Kommunalverwaltungen zahlreiche Initiativen zur Etablierung einer behördlichen und zivilgesellschaftlichen „Willkommenskultur“ an. Auch wenn dieser Begriff ab dem Jahr 2015 zunehmend im Kontext von Flüchtlingsdebatten genutzt wurde, ist es wichtig festzustellen, dass er zunächst in der Fachkräftedebatte – etwa ab dem Jahr 2010 – erfolgreich verwendet wurde. Auf Bundesebene brachten insbesondere die Unionsminister Thomas de Maizière (Inneres) und Annette Schavan (Bildung) den Begriff in die Diskussion ein, später griff ihn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf, versuchte sich an einer Definition, gründete Arbeitsgruppen und förderte viele Projekte unter diesem Schlagwort.74 Zahlreiche Bundesländer und Kommunen zogen nach. Insgesamt kann man festhalten, dass spätestens seit 2010 verstärkt politische

72  Jan Schneider: Modernes Regieren und Konsens? Regierungskommissionen im Politikprozess, untersucht am Beispiel der Unabhängigen Kommission Zuwanderung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. 73  Bettina Englmann/ Martina Müller: Brain Waste. Die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen in Deutschland. Augsburg 2007 74  Hannes Schammann, Robert Gölz und Nikolas Kretschmann: Willkommens- und Anerkennungskultur: Konkretisierung eines Begriffs. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Deutschland, öffne dich! Willkommenskultur und Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankern, Gütersloh 2012, S. 27-46.

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Maßnahmen ergriffen wurden, um Deutschland im weltweiten Wettbewerb um die „besten Köpfe“, sprich: die Leistungsträger, attraktiv zu machen. Diese Neuorientierung in der (Fachkräfte-)Migrationspolitik wurde begleitet von der zunehmenden Relevanz meritokratischer Prinzipien in der Integrationspolitik. Diese wurden teilweise ebenfalls von der Suche nach Fachkräften und ungenutztem Erwerbspersonenpotenzial angetrieben, teilweise aber auch durch generelle meritokratische und (neo)liberale Änderungen der deutschen Sozialpolitik befördert. Ähnlich wie die Hartz IV-Gesetzgebung, die den Sozialleistungsbezug von der Beteiligung an Qualifizierungsmaßnahmen etc. abhängig machte, wurden auch verpflichtende Integrationsleistungen und daran knüpfende Belohnungen bzw. Sanktionen eingefordert. Ergebnisse dieser Debatte sind unter anderem die Gesetzgebung zur Einbürgerung im Jahr 2000 sowie die Diskussion um die dazu gehörigen Einbürgerungstests der Bundesländer, etwa im Zeitraum zwischen 2006 und 2008. Die Liste der Voraussetzungen für die deutsche Staatsbürgerschaft liest sich seitdem wie die Anforderung für die Mitgliedschaft in einem exklusiven Club (generell zu Staaten als Clubs: Kolb 200875): Es müssen Sprach- und Wissenstest absolviert werden, außerdem muss der Lebensunterhalt gesichert sein und es dürfen keine Straftaten begangen worden sein. Der eigentlich erforderliche achtjährige Aufenthalt in Deutschland kann durch „besondere Integrationsleistungen“ (§10 Abs. 3 StAG), insbesondere besonders gute Sprachkenntnisse, auf sechs Jahre verkürzt werden. Hier zeigt sich deutlich die Präsenz von meritokratischen Belohnungsmechanismen in der deutschen Integrationspolitik. Dazu gehört auch, dass Sanktionsmechanismen diskutiert wurden. Dies geschah insbesondere parallel zur Debatte um Fachkräftemangel und Willkommenskultur ab 2010, als der Umgang mit „Integrationsverweigerern“ in Politik, Medien und Verwaltung thematisiert wurde. Gemeint waren damit vor allem Menschen, die den Integrationskurs nicht besuchen. Der neu eingefügte §44a AufenthG regelt daher, dass Ausländer zur Kursteilnahme verpflichtet werden können. Im Falle einer Weigerung besteht ein weites Sanktionsarsenal, das bis zur Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis reicht (§44a Abs. 3 AufenthG).76 Besonders eklatant ist der Einbezug von Leistungskriterien jedoch in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Maßgebend dürfte hier gemäß Genfer 75  Holger Kolb: States as Clubs? The Political Economy of State Membership. In: Holger Kolb/Henrik Egbert (Hg.): Migrants and Markets. Perspectives from Economics and Other Social Sciences. Amsterdam: Amsterdam University Press 2008 (IMISCOE research), S. 120-146. 76  Ausführlich am Beispiel Österreichs vgl. Oliver Gruber: „Leistung“ – Gestaltungsprinzip gesellschaftlicher und politischer Inklusion? In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 45 (1/2016), S. 13-21.

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Flüchtlingskonvention (GFK) allein die Schutzbedürftigkeit sein. Schutz erhält, wer Schutz braucht – und nicht, wer ihn sich verdient. Die faktische Umsetzung der GFK durch die unterzeichnenden Staaten folgt diesem Prinzip zwar dem Grunde nach.77 Dennoch lassen sich, insbesondere in der Flüchtlingspolitik traditionell leistungsorientierter Einwanderungsländer wie den USA oder Australien, bereits seit längerer Zeit meritokratische und, weiter gefasst, nutzenorientierte Elemente identifizieren. Deutlich wird dies beispielsweise im Resettlement-Programm der USA, bei dem schon lange darüber debattiert wird, wie die Interessen der USA am besten eingebracht werden können.78 In Deutschland kam es im Rahmen der medial intensiv begleiteten Zuwanderung von Asylsuchenden in den Jahren 2015 und 2016 zu zahlreichen, teils grundlegenden gesetzlichen Änderungen. Diese waren keinesfalls so chaotisch, wie dies häufig kolportiert wird. Auf die Öffnung der Balkanroute Anfang September 2015 reagierte die Bundesregierung mit einem teils ohnehin bereits geplanten Gesetzesvorhaben, das in Anlehnung an den letzten großen Umbau des Asylrechts 1992/93, als neuer „Asylkompromiss“ bezeichnet wurde. Letztlich waren die dort versammelten Maßnahmen jedoch weit weniger umfassend als bei seinem historischen Vorgänger, der unter anderem das Asylgrundrecht eingeschränkt und das Asylbewerberleistungsgesetz ins Leben gerufen hatte. Die Neuerungen waren vergleichsweise bescheiden und deutlich weniger restriktiv: einige Einschränkungen bei der Leistungsgewährung und die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsländer standen einer Ausweitung des Teilnehmerkreises an Integrationskursen sowie einer Liberalisierung des Arbeitsmarkt- und Hochschulzugangs für Asylsuchende gegenüber. Im September 2016 trat dann das „Integrationsgesetz“ in Kraft. Über die Ausrichtung und den Geist dahinter gibt die Gesetzesbegründung im Entwurf der Bundesregierung Aufschluss: „[Der] Schwerpunkt [liegt] auf dem Erwerb der deutschen Sprache sowie einer dem deutschen Arbeitsmarkt gerecht werdenden Qualifizierung der betroffenen Menschen. Je früher damit begonnen wird, umso höher sind die Erfolgsaussichten. Der deutsche Arbeitsmarkt benötigt eine Vielzahl von Fachkräften. Dieser Bedarf kann auch durch die nach Deutschland kommenden schutzsuchenden Menschen teilweise 77  Es ließe sich einwenden, dass gefährliche Migrationsrouten, die Geflüchtete auf dem Weg zu internationalem Schutz zurücklegen müssen, ein hartes und leistungsorientiertes Selektionskriterium darstellen und durch die Bundesregierung mit verantwortet werden. Dies ist sicherlich ein gewichtiges Argument in politischen Debatten, soll aber hier nicht weiter Berücksichtigung finden. 78  Daniel J. Steinbock: The Qualities of Mercy: Maximizing the Impact of US. Refugee Resettlement. In: U. Mich. J.L. Reform (36/2002), S. 951-981.

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abgedeckt werden.“79 Interessant an dieser Formulierung sind zwei Dinge: Erstens definiert das Gesetz Integration als Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt sowie als Erlernen der deutschen Sprache. Weitere Integrationsdimensionen spielen keine oder zumindest eine untergeordnete Rolle. Zweitens werden Flüchtlingsschutz und Fachkräftemangel direkt in einen Zusammenhang gebracht. Flüchtlingsschutz und vor allem Flüchtlingsintegrationspolitik muss danach so ausgerichtet werden, dass sie dabei hilft, den Fachkräftemangel zu beheben. Hier zeigt sich bereits eine deutliche Akzentverschiebung – weg von humanitären, aber auch weg von sicherheitsorientierten Argumenten hin zu utilitaristischen Begründungsmustern. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in der Verschränkung von Leistung und Daueraufenthalt: Vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes erhielten anerkannte Flüchtlinge zunächst einen dreijährigen Aufenthaltstitel, der nach Ablauf und erneuter Prüfung ihres Fluchtgrundes zumeist direkt in eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis umgewandelt werden konnte. Die Neufassung des § 26 AufenthG legt fest, dass wesentliche Elemente des § 9 AufenthG, in dem die Niederlassungserlaubnis für Ausländer im Allgemeinen geregelt wird, nun auch für anerkannte Flüchtlinge gelten. Orientiert an den Voraussetzungen für die Einbürgerung (§ 10 StAG) wird die Niederlassungserlaubnis an zahlreiche Integrationsleistungen gekoppelt: „Einem Ausländer ist die Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn 1. er seit fünf Jahren die Aufenthaltserlaubnis besitzt, 2. sein Lebensunterhalt gesichert ist, 3. er mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hat […] 4. Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung […] nicht entgegenstehen, 5. ihm die Beschäftigung erlaubt ist, sofern er Arbeitnehmer ist, 6. er im Besitz der sonstigen für eine dauernde Ausübung seiner Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse ist, 7. er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, 8. er über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt und 9. er über ausreichenden Wohnraum für sich und seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen verfügt.“ (§9 Abs. 2 AufenthG) 79  Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Drucksache 18/ 8829, S. 1. Online unter: http:// dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/088/1808829.pdf (zuletzt eingesehen am 26.4.2019).

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Vier der neun Punkte (2, 3, 5, 6) sind direkt mit der Arbeitsmarktintegration verbunden, zwei (7, 9) indirekt. Leistung wird somit – ganz im Sinne des Integrationsverständnis des Integrationsgesetzes – überwiegend als Erfolg auf dem Arbeitsmarkt definiert. Zwei weitere Punkte decken die Themen Sicherheit (4) und (nationale) Identität (8) ab. Einer (1) bezieht sich einzig auf die Aufenthaltsdauer. Diese scheint im hier gewählten Ausschnitt nicht beeinflussbar. Allerdings lässt das Gesetz eine Verkürzung der Dauer auf drei Jahre zu: „Ein besonderer Integrationsanreiz wird durch die Möglichkeit geschaffen, bei herausragender Integration bereits nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten. Die herausragende Integration zeigt sich insbesondere am Beherrschen der deutschen Sprache bei gleichzeitiger weit überwiegender Lebensunterhaltssicherung.“80 Auch dieser Punkt wird somit letztlich über erfolgreiche Arbeitsmarktintegration definiert. Erfüllen Flüchtlinge die Kriterien nicht, werden sie keineswegs abgeschoben. Sie erhalten jedoch weiterhin auf ein Jahr befristete Aufenthaltstitel. Das Fortdauern der gefühlten Unsicherheit haben sie sich aber, so die Logik des Gesetzes, selbst zuzuschreiben. Derartige Regelungen haben in der deutschen Flüchtlingspolitik Konjunktur. Sie haben zur Folge, dass nutzenorientierte Selektionsmechanismen als zunehmend legitime Instrumente in einem ursprünglich rein humanitären Asylverfahren erscheinen. In der Literatur wird der hier erkennbare, vermeintlich pragmatische Politikansatz immer wieder mit dem Terminus „Migrationsmanagement“ verknüpft, das nach Meinung zahlreicher Autoren die Migrationspolitik liberaler Demokratien zunehmend prägt.81 Auch wenn dies im internationalen Vergleich keineswegs neu ist, bedeutet sein konsequentes Verfolgen für Deutschland doch eine veritable Kehrtwende: Während die deutsche Migrations- und Integrationspolitik über viele Jahrzehnte „merkwürdig unklar“82 blieb, weil sie vor klaren Positionierungen hinsichtlich erwünschter und vor allem unerwünschter Zuwanderer zurückschreckte, 80  Ebd., S. 3. 81  Sonja Buckel/Fabian Georgi/John Kannankulam/Jens Wissel: Hegemonieprojekte im Kampf über die Migrationspolitik und Europäische Integration. In: Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung; Martin Geiger/Antoine Pécoud (Hg.): The Politics of International Migration Management. Palgrave Macmillan 2012 (Migration, minorities and citizenship). 82  Castro Varela/María do Mar: Was heißt hier Integration? Integrationsdiskurse und Integrationsregime. In: Ursula Sorg/Margret Spohn (Hg.): Alle anders – alle gleich? Was heißt hier Identität? Was heißt hier Integration? München: München: Landeshauptstadt München, Stelle für Interkulturelle Arbeit (Interkulturelle Verständigung) 2008, S. 77-88, hier S. 86.

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scheint sich nun eine klare Ausrichtung abzuzeichnen. Willkommen ist, wer Nutzen bringt. Im Gegensatz zur Gastarbeiteranwerbung ist dabei festzustellen, dass die Unterscheidung zwischen nützlichen und weniger nützlichen Zuwanderern zunehmend individualisiert und unabhängig vom hauptsächlichen Migrationsmotiv getroffen wird. Deutschland rückt in der Folge deutlich näher an klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada, Neuseeland und Australien heran. Wie verhält sich diese Entwicklung nun zu den Forderungen von AfD und PEGIDA? Sowohl die Ausrichtung an klassischen Einwanderungsländern als auch die Effizienzsteigerung im Asylverfahren sind Kernforderungen beider. Von einem opinion-policy gap kann hier keine Rede sein. Vielmehr reproduzieren sie einen emergenten Diskurs und treiben so eine Neuorientierung der deutschen Migrationspolitik gemeinsam mit Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen voran. Auch wissenschaftliche Debattenbeiträge von erklärten Befürwortern einer liberalen Migrationspolitik betonen häufig die Potenziale und monetären Gewinne von Zuwanderung. Indem sie die nutzenorientierte Grundhaltung PEGIDAs und der AfD teilen, implizieren sie die Einladung zu einer ‚rationalen‘ Diskussion. Fazit Viel ist in den hitzigen Debatten der Jahre 2015 und 2016 darüber gestritten worden, ob die deutsche Migrationspolitik nun zu restriktiv oder noch nicht restriktiv genug sei, um die Kluft zwischen Bevölkerung und Politik zu kitten. Häufig wurde ihre Kurzsichtigkeit und Sprunghaftigkeit bemängelt. Und eigentlich immer wurde sie gescholten, eine inhaltliche Kohärenz vermissen zu lassen. Dieser Beitrag hat versucht zu zeigen, dass sich trotz unbestreitbar restriktiver Linien in der Flüchtlingsgesetzgebung und einer sicherlich keineswegs widerspruchslosen Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis die steigende Bedeutung meritokratischer Prinzipien wie ein roter Faden durch die flüchtlingspolitischen Maßnahmen zieht. Leistung wird in der Folge zum Selektionskriterium in einem ursprünglich vorwiegend durch die Arena der Sicherheit – das heißt durch die Aushandlung zwischen individuellem Schutzbedarf und nationaler Sicherheit – geprägten Politikfeld. Dies bedeutet zwar nicht, dass humanitäre oder auch sicherheitspolitische Erwägungen keinerlei Rolle mehr spielen würden – entsprechende Absätze finden sich in allen neuen Regelungen. Außerdem ist die Entscheidung, wer als Flüchtling gilt, zumindest de lege weiterhin weitgehend frei von Leistungsgedanken. Aber die Orientierung an Leistung – definiert vor allem über den Erfolg bei Arbeit und

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Bildung – wird relevant für die Verstetigung des Aufenthaltes und die Teilhabe in zahlreichen Lebensbereichen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass diese Orientierung an marktliberalen Prinzipien durch den Einbezug konservativer Zugehörigkeitsvorstellungen aus der Arena der Identität in der nächsten Zeit wieder eingeschränkt wird. Im Versuch, die dort besonders virulente Kluft zwischen einem großen Teil der Bevölkerung und faktischer Politik zu überbrücken, könnte dies beispielsweise einmal mehr durch eine Kulturalisierung von Leistung geschehen. Aktuell aber dominieren die Schlagworte Arbeit und Leistung das Feld. Sie können als Strukturprinzipien der deutschen Migrationsund Flüchtlingspolitik gelten.

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Wir Migranten. Die Literatur der Migration Ingar Solty Der Frage „Literatur der Migration“ will ich mich in Gestalt von sechs Thesen nähern. Sie sind das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der Migrationsliteratur vor allem im deutschsprachigen Raum. Im Ergebnis werden sie also Zeugnis davon ablegen, dass mich, je mehr ich mich mit der Fragestellung beschäftigte, ein größer werdendes Unbehagen beschlich. Mir scheint, die Diskussion über eine „Literatur der Migration“ ist schon Teil des rassistischen Problems selbst. 1.

These: Kapitalismus bedeutet ungleiche Entwicklung und damit Migration

Kapitalistische Entwicklung produziert Migrationsbewegung: Die Voraussetzung des Kapitalismus ist die Existenz einer Klasse von Menschen, die nichts besitzen außer sich selbst, und auf den Verkauf ihre Arbeitskraft als Ware angewiesen sind. Aus der ersten Robert-Brenner-Debatte1 wissen wir: Historisch entstand der Kapitalismus als Agrarkapitalismus mit Bauernlegungen. Er führte dann jedoch zu kapitalistischer Industrialisierung und Urbanisierung, d.h. Binnenmigration. Kapitalistischer Take-Off produziert jedoch „Überschussbevölkerungen“: die „gefährlichen Klassen“. Sie wurden im Frühkapitalismus in die englischen Arbeitshäuser gepfercht und geprügelt oder als „indentured servants“, als Schuldsklaven in die Neue Welt deportiert. Die entwickelten kapitalistischen Länder haben sich historisch ihrer eigenen Überschussbevölkerungen durch Siedlerkolonialismus entledigt – auf den amerikanischen Kontinent, in die Strafkolonie Australien oder nach Afrika. Die zum Sozialimperialismus gewandelte bürgerliche Sozialreform entledigte sich der sozialen Frage, indem 1  Die „erste Brenner-Debatte“ wurde 1998 durch einen Artikel des US-amerikanischen Historikers Robert Paul Brenner (*1943) ausgelöst, der die Stagnation der US-Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft seit den 1970er Jahren damit zu erklären versuchte, dass die rein wachstums- und wettbewerbsorientierte kapitalistische Produktionsweise strukturelle Überkapazitäten und Überproduktion erzeuge, was in der Folge fallende Profitraten, sinkende Produktivität und steigende Arbeitslosigkeit zur Folge habe, vgl. dazu: Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe Past & Present, Volume 70, Issue 1, February 1976, Pages 30-75, https://doi.org/10.1093/past/70.1.30.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_020

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es „Kolonien für Arbeitslose“ avisierte, um sich des eigenen Überschussproletariats und der unbedingt Grundbesitz ersehnenden Landarbeiterbevölkerung dann in Richtung Afrika und Osteuropa zu entledigen, das „Volk ohne Raum“ im „Drang nach Osten“, das künstlerisch wohl nirgendwo so eindrucksvoll in Szene gesetzt worden ist wie in dem DEFA-Fünfteiler „Wege übers Land“.2 Das große Dilemma unserer Zeit ist, dass die neoliberale Wende in den 1970er Jahren, also das „Projekt Globalisierung“ zur Wiederherstellung der Klassenmacht des Kapitals,3 zu einer kapitalistischen Durchdringung des globalen Südens geführt hat. Im Rahmen des Volcker-Schocks von 19794 und der hieraus resultierenden Schuldenkrise der 1980er Jahre im globalen Süden kam es zu einer schuldenimperialistisch erzwungenen Marktöffnung. Der Westen vergab seine Kredite unter dieser Bedingung der Handelsliberalisierung sowie des Rückbaus der öffentlichen Beschäftigung und Privatisierung des öffentlichen Eigentums.5 Dies hat – im Profitinteresse westlicher Konzerne – eine hundertmillionenfache Massenproletarisierung zur Folge gehabt. Zwischen 1980 und 2019 hat sich laut der International Labour Organisation die globale Arbeiterklasse von 1,9 Milliarden Menschen (bei seinerzeit 4,4 Milliarden Menschen auf der Erde) auf 3,5 Milliarden (von nun 7,3 Milliarden) Menschen disproportional zum globalen Bevölkerungsanstieg annähernd verdoppelt. Der Effekt dieser Massenproletarisierung: Landflucht, Binnenmigration, Hyperurbanisierung. Es handelt sich hier also um eine Form von Migration, von der wir uns keine Vorstellung machen, weil wir sie bestenfalls einmal erleben, wenn wir in den globalen Süden reisen und uns dort nicht nur in den sicheren Innenstadtgebieten aufhalten. Der US-Soziologe Mike Davis spricht vom „Planet of Slums“; waren noch in den 1980er Jahren die größten Städte der Welt New York, Tokio und London, sind es heute die Mega-Cities wie Dhaka, Lagos usw.6 Das große Drama unserer Zeit ist, dass dieser Überschuss an „gefährlichen Klassen“ im globalen Süden nicht siedlerkolonialistisch „abfließen“ kann. 2  Fünfteilige Fernsehserie, DEFA, Erstausstrahlung 22. September 1968. 3  Vgl. David Harvey: A Brief History of Neoliberalism. Oxford u.a.: Oxford University Press 2007. 4  Paul Volcker (*1927), US-amerikanischer Wirtschaftsprofessor und 1979 bis 1987 Präsident der Federal Reserve. Mit dem „Volcker-Schock“ ist eine extreme Erhöhung der Zinsrate über einen langen Zeitraum gemeint, mit der Paul Volcker Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre hohe Inflationsraten bekämpfte. 5  Frank Deppe/David Salomon/Ingar Solty: Imperialismus. Köln: Papy Rossa 2011. 6  Vgl. Ingar Solty: Exportweltmeister in Fluchtursachen: Die neue deutsche Außenpolitik, die Krise und linke Alternativen, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung 2016, online: https://www. rosalux.de/publikation/id/8745/exportweltmeister-in-fluchtursachen/ (zuletzt eingesehen am 3.5.2019)

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Christoph Butterwegge sagte gestern: „Armut ist Hauptmigrationsgrund“. Das ist falsch und richtig zugleich. Falsch ist es, weil – wie die Zahlen der UNFlüchtlingsbehörde belegen – Krieg der Hauptfluchtgrund ist, denn fast zwei Drittel der heute mehr als 70 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, stammen aus drei Ländern: Syrien, Afghanistan, Süd-Sudan. Richtig ist es jedoch, weil die kapitalistische „Überschussbevölkerungs“-Problematik im Innern von Staaten des globalen Südens zu Verteilungskonflikten führt, die gewaltsam ausgefochten werden, sich dabei rasch ethnisieren und konfessionalisieren und im Prozess des Staatszerfalls Menschen ausbluten. Und wenn sie dabei, wie in Syrien, sich in kürzester Zeit zu Stellvertreterkriegen mit westlicher und regionaler Beteiligung entwickeln, dann bluten sie über Jahre, ja Jahrzehnte. Hinzu kommt ganz allgemein: Kapitalismus entwickelt sich grundsätzlich ungleich; die marktgetriebene Gesellschaftsentwicklung führt nicht, wie von der ahistorischen neoklassischen Orthodoxie, die heute in der VWL und BWL gelehrt wird, angenommen, zu Gleichgewichten, sondern zu Ungleichgewichten und krassen regionalen und sozialen Auseinanderentwicklungen. Einige Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind die europäische Wirtschafts- und Währungsunion mit ihrem neoliberalen Integrationspfad und der Deindustrialisierung Südeuropas, die deutsche Währungsunion mit der Deindustrialisierung Ostdeutschlands und eben der globale Kapitalismus zwischen 1980 und 2018, der nicht zur Modernisierung des globalen Südens führte, sondern zu immer größer werdender Ungleichheit, sowohl zwischen als auch innerhalb von Nord und Süd. Diese ungleiche Entwicklung führt damit zu zusätzlichen Migrationsbewegungen, mit Push-Faktoren, die Menschen vertreiben, und Pull-Faktoren, die sie anziehen. Und daraus folgt, das berühmte Diktum von Max Horkheimer paraphrasierend: „Wer über Kapitalismus nicht sprechen will, der soll auch von Migration schweigen.“ 2.

These: (Fast) alle Literatur ist Migrationsliteratur, (fast) alle Literaten sind Migranten

Die Frage ist: Wie reflektiert sich die Wirklichkeit kapitalistisch bedingter Migrationsbewegungen in der Literatur? Im Nachdenken über die Literatur der Migration stellt sich zunächst einmal die Frage: Was ist eigentlich nicht eine Literatur der Migration? Zunächst einmal gilt: In der Literatur sind die Protagonisten ständig in Bewegung. Ein heute gängiges, prototypisches Genre für die Entwicklung von Menschen, für den Bildungsfilm, ist der Road Movie.

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Aber auch der Bildungsroman fußt auf Bewegung. Wie in den Meditationsläufen der amerikanischen Ureinwohner*innen und ihrer literarischen Übernahme durch die Initiationsgeschichten der frühen US-Literatur findet sich dieses archetypische Motiv: Ein junger Mensch, der sich über sich und seine Rolle in einer bestimmten Umwelt nicht sicher ist, verlässt seinen angestammten Ort und kehrt als veränderter, gereifter, erwachsener Mensch zurück. Oder man schläft wie Washington Irvings „Rip van Winkle“ ein, erlebt im Traum etwas Anderes und findet sich dann zuhause nicht mehr zurecht.7 Tatsächlich wird das Bild der Literatur der Migration besonders brüchig durch die Tatsache, dass sich diese Literatur kaum engführen lässt. Sind die polnisch-masurischen und anderen osteuropäischen Einwander*innen, die es nach der Globalisierung der Agrarmärkte – als konkurrenzfähiger La Plata- und US-Weizen in Le Havre anlangte – und im Zuge der Großen Depression (1873-1896) aus den ostelbischen Niedrigproduktivitätslandschaften in das hochindustrialisierte Ruhrgebiet, in die Bergwerksschächte von Gelsenkirchen und Dortmund bis Gelsenkirchen zog, keine Migranten (mehr), die Turkodeutschen, die seit fast sechs Jahrzehnten und in der dritten und teilweise vierten Generation in Deutschland leben, aber schon noch? Warum? Es besteht der Verdacht, dass der Migrant nur als Teil der „gefährlichen Klassen“, als (untere Arbeiter-)Klassenmigrant als Migrant erscheint, die Japaner in Düsseldorf oder die US-Amerikaner, Briten und Kanadier in Berlin jedoch nicht. Ein Blick in die Liste der aktuellen und früheren Teilnehmer*innen der „Richtigen Literatur im Falschen?“-Reihe macht dabei Einiges deutlich: Der Nachname Zelik verweist auf die fernen Weiten Russlands. Solty klingt Ungarisch, ist aber vielmehr Ausdruck der Germanisierung des slawisch geprägten West- und Ostpreußens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (aus Sołtys, dem polnischen Wort für Schultheiss, wurde Solty). Salomon steht ja ohnehin für die jüdische Diaspora. Heike Geißler verweist auf Südwestdeutschland. Die mit Abstand meisten Wildenhains leben in Sachsen (vielleicht spielt deshalb Michael Wildenhains neuester Roman dort, hören wir da eine unbewusste Heimatsehnsucht raus?). Kathrin Röggla ist real aus Österreich zugewandert, Ann Cotten aus den USA (und der Nachname Cotten verweist zugleich auf englischen Grundbesitz). Der Nachname Stegemann wiederum verweist auf Norddeutschland, nur Rainer Rilling kommt wohl daher, wo der Name seinen Ursprung hat, in Baden-Württemberg. 7  Vgl. William Coyle: The Young Man in American Literature: The initiation theme, Odyssey Press, New York 1969 und Elaine Ginsberg, „The Female Initiation Theme in American Fiction“. In: Studies in American Fiction, 3. Jg., H. 1 (Spring 1975), S. 27-37.

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Hinzu kommt: Deutschland ist mehrheitlich eine Migrationsgesellschaft. Darauf hat 2015 der Schriftsteller Navid Kermani in seiner Festrede im Bundestag hingewiesen: „Viele Millionen Menschen sind seit dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik eingewandert, die Vertriebenen und Aussiedler berücksichtigt, mehr als die Hälfte der Bevölkerung“. Mein Großvater väterlicherseits war ein masurischer Landarbeiter, meine Großmutter eine masurische Dienstmagd; meine Großeltern mütterlicherseits kamen nach dem Krieg aus Danzig, gingen dann zunächst nach Braunschweig, schließlich nach Bayern und am Ende nach Bonn. Ich selber ging vom Sauerland aus nach Toronto, in die – nach Miami – multikulturellste Stadt Nordamerikas, wo mehr Menschen außerhalb Kanadas als im Land selbst geboren wurden und kam von dort aus nach Berlin. Kurzum, wir brauchen einen historisch geweiteten Blick und müssen uns aus der sich assoziativ aufdrängenden Engführung der Migrationsliteratur auf die Einwanderung aus mehrheitlich muslimischen Staaten lösen, weil diese ist Teil des (rassistischen) Problems. 3.

These: Wer migriert, verliert Heimat und muss weg

Was ist also die Literatur der Migration? In der Literatur finden wir Hinweise auf Migration als allgemeines Bewegungsgesetz, als Folge – mit Michael Hardt und Toni Negri gesprochen – menschlichen „Begehrens“ und daraus entstehendem Handeln: Emotion, Motivation, Kognition, Aktion. In Tony Kushners epischem Drama „Angels in America“8 wird ständig migriert: Vom konservativen Salt Lake City in den liberalen Westen, auf dem historischen Oregon Trail in den Westen, in die Antarktis als ein Refugium für Depressive und schließlich nach San Francisco als Stadt der wiedergewonnenen Lebensfreude: Kushner lässt die depressive Harper sagen: „I feel like shit but I’ve never felt more alive. I’ve finally found the secret of that Mormon energy. Devastation. That’s what makes people migrate, build things. Heartbroken people do it, people who have lost love. “9 Es ist diese Dialektik von Leiden und Produktivität, die das gesamte freudomarxistisch aufgeladene Werk von Kushner durchzieht. Menschen verlieren also (das Gefühl von) Heimat, werden in ihrer Heimat zu Fremden und müssen weg, sie migrieren. In Jenny Erpenbecks Roman

8  Zweiteiliges Theaterstück, Uraufführung 1991. 9  Tony Kushner: Angels in America. A Gay Fantasia on National Themes. New York: Theatre Communications Group 2003, S. 253.

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„Gehen, ging, gegangen“ (2017)10 begegnet ein Professor nach und nach geflüchteten Menschen in einem Berliner Flüchtlingswohnheim. Einer dieser Menschen ist Awad, ein Flüchtling aus Libyen. Ihn lässt Erpenbeck sagen: „Der Krieg zerstört alles […]: die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht, wohin. Man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das ich war. Ich habe kein Bild mehr von mir“ (S. 80). Krieg ist die schlimmste Form des Heimatverlustes, des Fremdwerdens im eigenen Land. Oft reicht aber auch schon Nichtdazugehörendürfen aus, um weg zu müssen. Das Nichtdazugehörendürfen führt zu subjektiver Heimatlosigkeit, die Migration hervorbringt. Anna Katharina Hahn beschreibt in „Das Kleid meiner Mutter“ (2016)11 eindrucksvoll das verhinderte Leben der Generation Krise, der verlorenen Generation der Eurokrise in Spanien, wo bekanntlich über Jahre hinweg 60% Jugendarbeitslosigkeit geherrscht hat, und den sich daraus ergebenden Zwang zur binneneuropäischen Migration: „Jetzt führten wir alle exakt das gleiche Leben. Früher hätte das niemand für möglich gehalten. Ein Leben, das jeden Morgen mit der Frage beginnt, ob sich das Aufstehen lohnt. Keiner von uns bekommt die Arbeit, für die er ausgebildet wurde oder hat überhaupt einen Job, geschweige denn eine eigene Wohnung. Wir leben bei unseren Eltern, in unseren alten Kinderzimmern. Wenn wir einmal ein bisschen Geld verdienen, dann mit Gelegenheitsjobs und nie länger als ein paar Wochen. Laura haben ihre Bücher genauso wenig genützt wie Angel, der jetzt in Deutschland lebt […]“ (S. 12). Jedoch: „Dass Angel an der deutschen Uni kein Gehalt bekommt, sondern nur ‚Lehrerfahrung‘, dass er seine Kohle als Arbeiter auf dem Bau verdient, wissen meine Eltern nicht“ (S. 16). Das für die schmächtige Protagonistin viel zu große Kleid der das Leben in allen Zügen genossen habenden Mutter ist eine Allegorie für enttäuschte Lebenserwartungen, eine Frage der „moralischen Ökonomie“, wie der britische marxistische Historiker E.P. Thompson12 sagen würde. Gleichsam funktioniert die Heimatlosigkeit jedoch auch in der Binnenmigrationsperspektive. In Colson Whiteheads magisch-realistischem „The Underground Railroad“ (2016),13 wo diese als reale Untergrundzugstrecke 10  Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. München: Knaus 2015 (Zitate hier wie auch in allen weiteren primärliterarischen Büchern jeweils mit Seitenzahlen in Klammern im Text belegt). 11  Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter. Berlin: Suhrkamp 2016. 12  Edward Palmer Thomson (1923-1993), britischer Historiker. 13  Colson Whitehead: The Underground Railroad. New York: Doubleday 2016.

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imaginiert wird, ist die Flucht in den Norden die Flucht aus der PlantagenSklavenarbeit im US-amerikanischen Süden in die doppelt freie Lohnarbeit der kapitalistischen Nordstaaten. In Stephan Thomes Roman „Grenzgang“ (2009)14 macht der Protagonist Weidmann die Heimatlosigkeitserfahrung. Seine Habilitationsstelle wird nicht verlängert, woraufhin der akademische Prekarier mit einem letzten Akt des Aufbäumens einen Ziegelstein durch das Fenster seines früheren geschichtswissenschaftlichen Instituts fliegen lässt, bevor er aus Berlin in seine nordhessische Provinzheimatstadt flieht. Zuletzt muss er sich fragen: „War er hier je zu Hause gewesen? Auch das gehörte zu seiner Geschichte mit Kamphaus, der in Charlottenburg groß geworden war und diese Ironie in sich trug, die weder bemüht wirkte noch mit Ressentiment durchsetzt war. Die angeborene Begabung, nicht beeindruckt zu sein, sondern allem auf Augenhöhe zu begegnen, ohne zu blinzeln. Wenn Kamphaus aus Bielefeld oder Tübingen kam und fragte: Riech ich nach Weide?, hatte Weidmann das Gefühl, sein ganzes Leben lang nach Weide zu riechen, und er fragte sich – nichts.“ (S. 55) Menschen verlieren also Heimat und müssen weg. Nur wohin? Manche flüchten sich in andere Welten. Für Eskapismus gibt es Gründe: „Ein öder Job schickt das Hirn ins Exil“, schreibt Dietmar Dath in „Deutsche Demokratische Rechnung“.15 Und die Kunst bietet Optionen für Eskapismus, weil „[i]m All kann man sich zur Not immer verstecken“ (S. 45f). Eskapismus ernährt jedoch keinen Menschen, lässt keinen Menschen in Frieden leben, dauerhaft Heimat finden. Darum flüchten Menschen auch real und hier beginnt die eigentliche Migrationsliteratur. Erasmus Schöfer lässt seinen Viktor Bliss nach Athen abhauen. In „Tod in Athen“ (1986) heißt es: „Weggelaufen, ja, weggelaufen. Nenns so. Du nimmst mir die Luft mit deinen deutschen Nachrichten. Wickelst mich in Stacheldraht und fragst, warum ich mich steche. Ich habe ein Recht auszubrechen, jeder Mensch hat das Recht auszubrechen aus einer Vernunft und wegzulaufen ans Ende der Welt“ (S. 22). Nichts Anderes probiert der Protagonist in Stephan Thomes „Fliehkräfte“ (2012), den es nach Portugal zieht. Dem Suchen nach einer neuen Heimat geht also subjektive Heimatlosigkeit voraus. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass erstens Menschen auch aus Deutschland fliehen, nicht zuletzt vor der Wissenschaftsprekarität. Thomes Weidmann überlegt: „Amerika? Frankreich? Ein paar Konferenzbekanntschaften gab es, aber niemanden darunter, der ihm mehr als eine Gastdozentur 14  Stephan Thome: Grenzgang. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. 15  Dietmar Dath: Deutsche Demokratische Rechnung. Berlin: Eulenspiegel 2015.

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anbieten würde für ein Semester oder zwei. Keine Lösung des Problems, sondern Aufschub und Ausflucht“ (S. 54). Ähnlich sieht es bei Michael Wildenhains Jörg Krippen in „Das Singen der Sirenen“ (2017)16 aus: Eine Hochschule in London als letzte Aussicht auf die in die weite Ferne rückende Professur. Und dass zweitens Menschen nach Deutschland kommen, weil wir dafür sorgen, dass sie daheim weg müssen. Darauf macht Ingo Schulze aufmerksam, wenn er im Gespräch mit Raul Zelik im neuen „Ada“-Magazin sagt: „Das Entscheidende ist meiner Ansicht nach zu sagen, welche Verantwortung wir als Bundesrepublik, als Europa und als Weiße für den Zustand der Welt tragen. Die meisten Flüchtlinge – welch Wunder! – kommen aus Afghanistan, Irak und Syrien. Es ist ziemlich offensichtlich, was der Westen mit der Situation in den genannten Ländern zu tun hat. Aber darüber hinaus muss man eben auch einen Blick auf die Kolonialgeschichte werfen, auf Post- und Neokolonialismus, auf globale Handelsbeziehungen. Das alles fehlt fast völlig in der deutschen Debatte. Nur Weltoffenheit zu behaupten ist auf jeden Fall zu wenig.“17 Jenny Erpenbecks Flüchtling Awad hat die Regime-Change-Bomben der NATO überlebt; die von Libyen aus nach Hamburg gelangten Flüchtlinge der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ demonstrierten unter der Parole: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.“ Deutschland? Ist Exportweltmeister, Exportweltmeister in Fluchtursachen. 4.

These: Wer migriert, lässt zurück, wer er war, und wird: „Flüchtling“

In „Alles umsonst“ von Walter Kempowski, dem großen deutschen Schriftsteller mit dem verräterischen Nachnamen, einem Roman über ein westpreußisches Junkeranwesen und die Ostflüchtlingstrecks am Ende des Zweiten Weltkrieges, heißt es an einer einprägsamen Stelle: „Er fragte Einheimische, ob es hier eine Drogerie gäbe? – Die Einheimischen sahen anders aus als die Treckleute, die nun ‚Flüchtlinge‘ genannt wurden. Die Einheimischen gingen mit Aktentasche ins Büro, und in einem Café saßen Damen mit Hut. Peter wurde freundlich Auskunft erteilt. Eine Frau nahm ihn sozusagen bei der Hand, begleitete ihn, damit er die Drogerie auch findet, und fragte ihn, ob er meint, daß die Russen auch noch hierher kommen? Sie hat solche Sorge, was soll sie bloß machen?“ (S. 287) Die Einheimischen, sie sind bloß Flüchtlinge in spe.

16  Michael Wildenhain: Singen der Sirenen. Stuttgart: Klett-Cotta 2017. 17  Ingo Schulze: „Letzter Ausweg Geldvernichtung“ Interview von Raul Zelik. In: Ada (online), 6.6.2018, online: https://adamag.de/ingo-schulze-literatur-letzter-ausweg-geldvernichtung.

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Allerdings gingen die „Ostflüchtlinge“ mit wenigen Habseligkeiten, die ihnen dann oft noch auf der Flucht geraubt wurden. Nicht jeder Mensch im Ausland ist jedoch ein Flüchtling. Der 1970 geborene und heute in Stuttgart lebende deutsch-albanische Schriftsteller Beqë Cufaj hat mit „Projekt@Party“ 201218 eine schonungslose Abrechnung mit der neokolonialen Politik des Westens und der NGOisierung des Imperialismus vorgelegt. Die UN-Kontingente im Kosovo beschreibt er in ihrer Abgehobenheit und Loslösung von der einheimischen Bevölkerung, voller Karrieristen, Abenteurer und Partypeople: „Den Stoff hatte ich besorgt. Gut, nicht alle gingen, aber einige von uns hatten sich inzwischen daran gewöhnt. Es war absolut nichts Besonderes. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. […] Die Leute rechtfertigen es mit der stressigen Arbeit, der Einsamkeit, den ungewohnten Lebensbedingungen in einem fremden Land. Sie sagen, dass sie sich wie Flüchtlinge fühlen. Na ja, ich war damals Flüchtling, und wenn ich in ihrem Land so viel Geld, Autos und Macht besessen hätte, dann …“ (S. 136f). 5. These: Heimat – wer migriert, muss ankommen (dürfen) Flucht ist jedoch stets konkret. Die Irrealität des abstrakten Fluchtgedankens ist das große Thema von Alfred Andersch. Seine zentrale Botschaft lautet: Wer wegmuss, kommt immer auch immer irgendwo an. Tatsächlich sind für Andersch „die alten Geschichten von der Flucht ins Paradies“,19 mit denen er spielt, die inselmetaphorischen Sehnsuchtsorte – Sansibar für „den Jungen“ in „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957)20, Venedig für Franziska in „Die Rote“ (1960), später auch Mexiko in einem unvollendeten Theaterstück über ein DKP-Mitglied – kein Refugium, sondern Traumwelten, die zu überwinden für seine Protagonisten Aufgabe des Willens zur Wahrheit ist. „Man kann nicht untertauchen“, schreibt Andersch in Die Rote. „Man kann fortgehen, aber nur, um zu entdecken, dass man wieder irgendwo angekommen ist. Man verlässt Menschen, um unter Menschen aufzutauchen“ (S. 213f). Kurzum: Wer migriert, muss weg. Oder will weg. Migration ist jedoch nie nur eine Frage des „Woher?“, sondern auch des „Wohin“. Damit ist es eine Frage um das Auffinden von „Heimat“.

18  Beqë Cufaj: Projekt@Party. Zürich: Secession 2012. 19  Alfred Andersch: Die Rote. Olten: Walter 1960, S. 210. 20  Ders.: Sansibar oder der letzte Grund. Olten: Walter 1957.

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In Abbas Khiders Flüchtlingsroman „Ohrfeige“21 von 2016 fragt der Protagonist, der Subalterne, der sich das Recht zu sprechen mit Gewalt nimmt: „Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf?“ (S. 19). Tatsächlich führt Ankommenmüssen, aber Nichtankommendürfen zu Wut. Und auch zu Gewalt. In Alex Weddings „Ede und Unku“, in Westdeutschland unbekannt, in Ostdeutschland Schullektüre von Millionen, heißt es an einer Stelle: „Mit diesem kleinen Zigeunermädchen [Unku] schloß ich innige Freundschaft. Bald ging Unku – sehr zum Verdruß meiner spießigen Nachbarn – bei mir ein und aus […]. ‚Sie sind wohl ’ne Zigeunersche?‘ fragte mich denn auch recht tückisch eines Tages die Frau im Tabakladen an der Ecke. ‚Ja, das bin ich‘, gab ich stolz zur Antwort; denn ich hatte in meinen Zigeunerfreunden interessante, liebenswerte Menschen kennengelernt, die das schwere Leben von Nomaden führen mußten. Sie waren in unserer Heimat Fremde, denen man mit Vorurteilen und Verachtung begegnete und die dies mit Mißtrauen, ja Haß vergalten. Besonders haßten sie Polizei und Behörden, die ihnen ständig nachstellten, sie kein Gewerbe ausüben, sie nirgends Fuß fassen lassen wollten“.22 Auch bei Khiders „Ohrfeige“ versteht man den Hass auf kafkaeske Behörden und repressive Staatsapparate. Dabei lässt sich feststellen: Je weniger das Ankommen erlaubt, ermöglicht wird, umso stärker ist der Wunsch nach Rückkehr in eine (imaginierte, romantisierte) alte Heimat, nach auch ideologischer Regression in die „gute alte Zeit“. In seinem Roman „Landnahme“ (2004)23 lässt Christoph Hein eine konservative Figur die Heimatfrage nach rechts auflösen: „Ich werde in einem Jahr sechzig, dann bin ich ein alter Mann. Und ich begreife, was ich früher nicht verstanden habe, worüber ich gelacht habe, nämlich dass wir alle einen Platz auf dieser Erde haben. Wir haben einen Platz zugewiesen bekommen, und der gehört zu uns und wir zu ihm. Und wenn man diesen Platz aufgibt, dann gehört man nirgendwo hin, so ist nun mal diese Welt. Und dieser Platz hat etwas mit Geburt zu tun. Wo du geboren wurdest, da ist deine Heimat, und nur dort bist du daheim. Und wenn du diesen Platz verlässt, dann gibst du deine Heimat auf. Dann kannst du vielleicht in deinem Leben viel erreichen, vielleicht mehr, als wenn du nicht weggegangen wärst. Aber deine Heimat hast du verloren. Das merkt man erst, wenn man so alt geworden ist wie ich“.24 Heimat ist hier statisch, nicht beweglich. Es ist die Art von Heimat, wie Horst Seehofer sie mit seinem „Heimatministerium“ oder die FPÖ als selbsternannte 21  Abbas Khider: Ohrfeige. München: Carl Hanser 2016. 22  Alex Wedding [d.i. Grete Weiskopf]: Ede und Unku. Berlin: Malik 1931, S. 7f. 23  Christoph Hein: Landnahme. Frankfurt /M.: Suhrkamp 2004. 24  Ebd., S. 316.

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„soziale Heimatpartei“ denkt. Diese Art von Heimat als imaginierte Statik widerspricht indes der konkreten Lebenserfahrung, denn ich bezweifle, dass Hans-Jürgen Urban, der von Frankfurt/Main her kommend über die „Literatur in der neuen Klassengesellschaft“ sprach, heute große Sehnsüchte nach Neuwied umtreiben und er sich dort schon seinen Alterswohnsitz gekauft hat, und ich kann mir auch vorstellen, dass Klaus Dörre dem Satz zustimmen würde: „In Külte [wo er herkommt] möchte ich nicht tot überm Zaun hängen“. Mich selbst jedenfalls trägt man nur mit den Füßen zuerst aus Berlin wieder raus. Der englische Volksmund sagt zwar: „You can take the boy out of Yorkshire, but you can’t take Yorkshire out of the boy. “ Aber ich sehe mich als lebenden Beweis, dass man den Menschen aus dem Sauerland herausnehmen kann, auch ohne dass er sich danach sehnt, solange die neue Heimat wirklich Heimat sein und werden darf. Und dies ist auch das Problem mit abstrakten Dialektiken, wie wir sie etwa beim Migrationsforscher M.L. Hansen finden, die spezifisch Kontextabhängiges zum allgemeinen Gesetz verklären: „What the son wishes to forget the grandson wishes to remember.“25 Wie sehr viel komplexer konkretes Ankommen oder Nichtankommendürfen funktionieren, kann man hiergegen zum Beispiel in den exzellenten, britischen Post-9/11-Filmen Yasmin von Kenneth Glenaan und Ae Fond Kiss von Ken Loach nachempfinden. Die Push-Faktoren können also einen Menschen vertreiben. Aber die PushFaktoren reichen nicht, es kommt auf ihr Verhältnis zu den Pull-Faktoren an. „Man mußte weg sein, aber man mußte irgendwohin kommen“, schreibt Alfred Andersch in „Sansibar oder der letzte Grund“ (S. 7). Dass viele weg wollen, aber erst gehen, wenn sie wissen, wohin, findet man dabei als Motiv bei Ronald M. Schernikau. In „Tage in L.“ über seine Übersiedlung in die DDR der späten 1980er Jahre antwortet er in einem fingierten Interview auf die Frage „warum möchtest du gern in der ddr leben?“: „weil ich gelernt habe, die ddr ist richtig und die brd ist falsch, biografischer zufall, also ich will weg, und ich will nicht nur weg, ich glaube, alle leute wollen hier weg, sondern ich will auch noch in die ddr.“26 Heimat ist also stets eine Frage der Perspektive. Schopenhauer sagt über den Selbstmord: Er kommt, wenn die Schmerzen in der Gegenwart stärker wiegen 25  Marcus Lee Hansen: „The Problem of the Third Generation Immigrant.“ In: Rock Island, Illinois: Augustana Historical Society, 1938, S. 9. 26  Ronald M. Schernikau: Die Tage in L. Darüber, dass die DDR und die BRD sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer Literatur. Hamburg: konkret literatur verlag, S. 90.

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als die Hoffnung auf ihre Linderung. Analog könnte man schreiben: Bietet die Heimat bessere (Lebens-)Bedingungen und Verankerungsbedingungen, so ist Heimat ein Werden. Und für viele tut sie das, rein materiell: Frieden und materielle Besserstellung. Heimat kann so ein Werden werden. Und für einen solchen Heimatbegriff, gibt es ja durchaus progressiv-demokratische Anschlusspunkte: bei Bertolt Brecht, bei Ernst Bloch, bei Kurt Tucholsky oder auch bei Franz Josef Degenhardt. 6.

These: Wer nicht wegwill, muss bleiben dürfen

Dabei ist einem solchen dynamischen Heimatbegriff ja Widerständiges inhärent. Denn der kapitalistische Markt und die neoliberale Wirtschaftslehre behandeln alle Menschen und die natürliche Umwelt als Waren, die sich den ungleichen Entwicklungen des Kapitalismus anpassen. „Der Arbeiter 2000“, sang neoliberalismus-frühdiagnostisch schon 1977 Franz Josef Degenhardt, „wird wieder ein Nomade sein, für eine gute Arbeit zieht der meilenweit.“ Mensch und Umwelt sind, mit Karl Polanyis „The Great Transformation“27 gesprochen, jedoch fiktive Waren: Der Mensch, weil er fühlt, in Gesellschaft lebt, Freunde, kranke Eltern, Kinder ihn halten, die Umwelt, weil sie endlich ist. Zieht der Mensch für eine gute Arbeit also freiwillig meilenweit, wer möchte sich das Recht herausnehmen, ihn daran zu hindern? Tut er es jedoch aus ökonomischem Zwang, was dann? Denn das Recht zu migrieren, ist ebenso bedeutsam, wie das Recht, bleiben zu dürfen. Denn wollen wir behaupten, dass es sinnvoll ist, dass der globale Süden so entvölkert wird, wie das verödende Hinterland, in dem erst kein Bus mehr fährt, kein Arzt mehr praktiziert, kein Jugendklub mehr existiert, und wo dann, wie überall im kapitalistischen Westen die äußerste Rechte erstarkt? Wollen wir behaupten, dass es ein Zivilisationsideal sei, dass junge Menschen aus Mangel an Perspektiven im ländlichen Raum in die Städte ziehen, um dort mit anderen Prekarisierten um immer teureren Wohnraum und weniger Festanstellungen zu konkurrieren? Wen die großen Städte mit ihrer Liberalität und unendlichen Abenteuern anziehen, der soll doch gehen. Aber warum sollte es nicht auch ein Recht auf freiwillige Feuerwehr oder Schützenverein geben? Dabei birgt das Ringen um einen fortschrittlichen Heimatbegriff als Werdenbegriff und um ein Recht zu bleiben auch ein ungeheures Potenzial 27  Karl Polanyi (1886-1964), ungarisch-österreichischer Wirtschaftssoziologe: The Great Transformation. New York: Farrar & Rinehart 1944.

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für eine demokratische und sozialistische Politik. Weil das Recht auf Subsistenzbauernschaft im globalen Süden und das Recht auf Weinkönigin strukturparallel sind: Beide speisen sich aus derselben Sehnsucht nach einem Ort, der Zuhause ist; und beide sind mit der marktgetriebenen Gesellschaftsentwicklung grundsätzlich unvereinbar. Sie setzen ihren Bruch voraus und schaffen womöglich ein neues politisches Tier: den Heimatverbundenen im westlichen Hinterland, der Teil eines antineoliberalen Projektes wird, das den Kampf gegen Fluchtursachen im „Ausland“ mit dem Kampf gegen Fluchtursachen im „Inland“ verbindet. Zweifellos endet die Migrationsliteratur hier nicht, im Grunde beginnt sie erst. Nur ist sie unsichtbar. Und darum möchte ich abschließend noch ein paar Bemerkungen machen, worüber in Sachen Migrationsliteratur eigentlich zu sprechen wäre, aber ich nicht gesprochen habe. Zu sprechen wäre zweifellos noch über die umfangreiche Migrationsliteratur im Kalten Krieg, darunter dann sowas wie Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“28 oder Regina Scheers „Machandel“,29 wo die Migration in Ost-West-Richtung stattfindet, oder eben der genannte Schernikau in umgekehrter Richtung. Hinzu kommt das klassische Thema der Exil-Literaten sowie die Literatur über das deutsche Exil vor faschistischer Verfolgung und Krieg, denken wir nur an Anna Seghers, „Transit“,30 Brechts „Flüchtlingsgespräche“,31 Alfred Anderschs „Sansibar oder der letzte Grund“, Klaus Manns wunderbare Novelle „Flucht in den Norden“,32 Lion Feuchtwangers „Wartesaal“-Trilogie.33 Interessant ist diesbezüglich, wie auch hier der Heimatgedanke verhandelt worden ist. Nehmen wir die Tragik eines Walter Mehring, der 1933 noch trotzig im „Emigrantenchoral“ verkündet hatte: „Die ganze Heimat/ und das bißchen Vaterland/ die trägt der Emigrant,/ von Mensch zu Mensch/ landauf, landab/. Und wenn sein Lebensvisum abläuft/ mit ins Grab.“34 Ein paar Jahre später musste er dann in seinen Gedichten zur „Mitternacht“ allerdings über die ganz vielen deutschen Emigranten schreiben, die eben nicht ankommen durften, die sich auf der Flucht das Leben nahmen: Kurt Tucholsky in Schweden, Ernst Toller im Hotelzimmer in New York. Die Ankommensproblematik hat sich tief eingeschrieben in die deutsche Literatur selber und darauf lohnt es sich hinzuweisen. Im Hinblick auf die Literatur der 28  Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2011. 29  Regina Scheer: Machandel. München: Penguin 2017. 30  Anna Seghers: Transit. Konstanz: Weller 1948. 31  Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche. Berlin: Suhrkamp 1961. 32  Klaus Mann: Flucht in den Norden. München: Edition Spangenberg 1977. 33  Lion Feuchtwanger: Der Wartesaal. Amsterdam: Querido 1934. 34  Walter Mehring: Staatenlos im Nirgendwo. Die Gedichte, Lieder und Chansons 1933-1974. Düsseldorf: Claassen Verlag, S. 17-19.

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Gastarbeiter*innen scheint mir einer der wichtigsten Punkte, dass man sieht, dass die Kämpfe, auch die ideologischen Auseinandersetzungen entlang der Links-Rechts-Achse eben auch in den Migranten-Communities existieren und in der Nachkriegsmigrationsliteratur ihren Niederschlag gefunden haben – denken wir etwa an die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken, die vielen „Einheimischen“ oft erstmal ein Buch mit sieben Siegeln sind. Ein wunderbares Beispiel für diese Art von Literatur ist Imran Ayatas „Mein Name ist Revolution“,35 mit dem wunderbaren, unbedingt verfilmungswürdigen „Ich bleibe bis zum Tod Marxist“ Onkel Ahmet. Hier findet man auch ein Topos, dass Heimatgefühl sich nicht unbedingt an Deutschland oder den deutschen Staat knüpft, sondern an die Stadt, in der man lebt. Um ein Beispiel aus Imran Ayatas Buch zu nennen. Es gibt an einer Stelle einen Dialog mit einem türkischen Taxifahrer: ‚Sind Sie Türke?‘, fragt mich der Taxifahrer gleich nach der Begrüßung. ‚Nein, Deutscher.‘ (…) Mal abgesehen von ihrem Metropol-FM-Gefiedel, nervte an türkischen Taxifahrern vor allem, dass sie ständig damit angaben, die besten Schleichwege in der Hauptstadt zu kennen. Mit Ausnahme der Ostbezirke natürlich, weil sie ungerne dorthin fuhren, von wegen Nazis und so. ‚Wer hätte det jedacht, dass Türken wie Sie auf der anderen Seite der Stadt leben.‘ ‚Ich bin Deutscher. Sagte ich ja schon.‘ ‚Weil Sie einen deutschen Pass haben? Ich sehe Ihnen an, dass Sie kein richtiger Deutscher sind …‘ ‚Da ist was dran.‘36

Später heißt es bei Ayata in einem Gespräch zwischen zwei türkischstämmigen Migranten: „‚Sag mal woher kommst du eigentlich?‘ ‚Weißt du doch, aus Berlin.‘ ‚Nein, ich meine woher aus der Türkei?‘, lachte Rüya. ‚Vor dir sitzt ein … Berliner. Geboren dort. Schule dort. Uni dort. Arbeit dort. Alles dort.‘ ‚Ach, komm schon. Woher ist deine Familie ursprünglich?‘“37 Der marxistische Rapper und promovierte Historiker Kaveh Rostamkhani von der Uni Bielefeld hat das in seinem exzellenten Migrationssong „Nur ein Augenblick“ zur Sarrazin-Debatte am Ende so formuliert: „und darum bin ich und bleib‘ ich ein Berliner“.38 Ein weiterer entscheidender Aspekt scheint mir zu sein, dass Migranten zunächst einmal mehrheitlich Arbeiter, Händler und kleine Warenproduzenten sind. Die Migrationsfrage sollte dementsprechend nicht von der Klassenfrage getrennt werden, weil sie sonst eben zur Essentialisierung neigt. Und der Rassismus heftet sich dann eben an Reales. So lernen wir aus der materialistischen 35  Imran Ayata: Mein Name ist Revolution. Berlin: Blumenbar 2011. 36  Ebd., S. 40. 37  Ebd., S. 54. 38  Kaveh: „Nur ein Augenblick? Antwort auf Harris“. In: Gegen den Strom. Danse Macabre (A.LiVe): Berlin 2015

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Rassismustheorie: Nicht weil die Migranten minderwertig sind, sind sie unten, sondern weil sie unten sind, können sie als minderwertig erscheinen. Weil dann scheint ja etwas in ihrer Essenz zu sein, die sie nach unten bringt. Schließlich scheint mir die Migrationsliteraturdebatte gerade erst zu beginnen, wenn wir die Migrationsfrage noch viel weiter öffnen: Was ist eigentlich mit der innerdeutschen Migrationsliteratur der Nachkriegszeit, etwa dem aus Lyck in Ostpreußen stammenden Siegfried Lenz, mit Johannes Bobrowski oder mit Günter Grass aus Danzig, die ja für eine ganze Generation stehen, die sich selber als „Volksdeutsche“ sahen, aber von der „Kalten Heimat“, wie Andreas Kossert das genannt hat, mit „Die Polacken kommen“ begrüßt wurden, das heißt mit sehr ähnlichen Ressentiments, wie heute die Kriegsflüchtlinge aus Syrien? Mehr noch: Was ist eigentlich mit den Menschen, die nicht migrieren, aber die darunter und damit leben, dass eine Gesellschaft mit gänzlich anderer Eigentums- und Wirtschaftsordnung und einem gänzlich anderen Staatswesen migriert? Wir haben diese Diskussion zuletzt ja endlich auch im Feuilleton gehabt, dass die Ostdeutschen eigentlich Migranten sind, dass an sie die gleichen Anforderungen gestellt worden sind und werden, sich zu integrieren, nicht in Nostalgie an die DDR zu denken, dass sie die eigene Vergangenheit zurücklassen, abgeben müssen, unterhalb der offiziellen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. Und wenn man sich dann einfach die Zahlen anguckt, dass die einzigen Bereiche, wo Ostdeutsche überrepräsentiert sind, die einfachen Rekruten bis zu den Unteroffizieren in der Bundeswehr mit fast 50 Prozent und die Afghanistansoldaten mit etwa zwei Dritteln gewesen sind, dass sie aber in allen anderen Bereichen von der Bundeswehr-Generalität über die hohen Konzernetagen, die Hochschulen und Staatsverwaltung bis zur Justiz krass unterrepräsentiert sind, dann begreift man, dass das keine „Wiedervereinigung“ war. Und auch in der Politik hat man unterhalb von Gauck und Merkel ja dieses Problem. Man sieht also, dass hier die gleiche Problematik mit Rassismus und Bürgern zweiter Klasse im Spiel ist wie bei den klassischen Migranten. Und an historischen Beispielen nationalistischer Überkompensation des Gefühls, als „Deutscher zweiter Klasse“ zu gelten, mangelt es ja auch nicht, wenn man beispielsweise an die Wahlergebnisse der NSDAP im multiethnischen Ostpreußen denkt, daran denkt, dass Menschen, die mit ihren Großeltern noch das slawische Masurisch sprechen mussten, glaubten, sie müssten mit der Stimmabgabe zugunsten der NSDAP ihr Deutschsein unterstreichen. Das sollte uns also nicht wundern, dass in Ostdeutschland jenseits der grundsätzlich ja lange Zeit eher linken Wahlergebnisse heute eben auch die AfD erstarkt.

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Für diese spezifische, innerdeutsche Migrationserfahrung aber gibt es ja unzählige literarische Beispiele, wie etwa Jenny Erpenbeck „Heimsuchung“,39 Volker Brauns „Die hellen Haufen“,40 Peter Richters „89/90“,41 Ingo Schulzes „Peter Holtz“,42 Peter Hacks.43 Tatsächlich denke ich, dass man dieses Kapitel viel, viel stärker betonen muss: Die Heimatlosigkeitserfahrung von Ostdeutschen, und wie sie ihr eigenes Literaturgenre hervorbringt, weil man diese Heimatlosigkeitserfahrung meines Erachtens vom Aufstieg der AfD nicht trennen kann. Gestern hatte Klaus Dörre ja gesagt, die ostdeutschen Ideale und Erinnerungen an die DDR leben halt weiter, werden aber als völkische Ideologien umcodiert und umformuliert. Kurzum, ich denke, wir sollten die Grenze der Migrationsliteratur einreißen, weil wir so dem neovölkischen Denken dann besser etwas entgegenzusetzen haben, wenn wir verdeutlichen, dass einerseits die Ursachen für Migration hierher von hier ausgehen, und dass andererseits die Migration ständig stattfindet in diesem Land und sie ihre Spuren in fast allen „deutschen“ Familien hinterlassen hat.

39  Jenny Erpenbeck: Heimsuchung. Frankfurt /M.: Eichborn 2008. 40  Volker Braun: Die hellen Haufen. Berlin: Suhrkamp 2011. 41  Peter Richter: 89/90. München: btb 2015. 42  Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Frankfurt/Main: S. Fischer. 43  Peter Hacks (1928-2003), deutscher Dramatiker.

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Diskussion Enno Stahl: Ingar, du hast den Migrationsbegriff erweitert, und mir scheint, dass man es auch literaturwissenschaftlich oder literaturkritisch hätte machen können, dass man – wenn auch nicht engführen – doch zumindest vielleicht Parallelen hätte finden können, so ähnlich wie wir es in Norberts schon viel zitiertem Buch sehen, dass man ja doch Literatur überall aus der Welt nehmen und dann dort strukturelle Gemeinsamkeiten finden kann. Vielleicht kannst du vor dem Hintergrund der Lektüre der von dir genannten Bücher auch noch etwas dazu sagen. Gibt es nicht in der Sprache oder in der Form der Generation strukturelle Gemeinsamkeiten im Ton? Thomas Wagner: Ich habe das auch so wahrgenommen, dass der Fluchtbegriff tatsächlich etwas überstrapaziert war, bis hinein ins Metaphorische, was ich aber durchaus auch genossen habe. Es hat dem Vortrag einen unerwartet essayistischen Charakter gegeben, was ich von Ingars Texten so nicht kenne und was ich als wohltuend erlebt habe und interessant fand. Mich hat das auch zu einer Überlegung geführt, die einen weiteren Aspekt hinzufügt, nämlich ob man nicht auch einen ganz alten Bestseller zur Flucht-Literatur zählen und als solche mitbehandeln müsste, nämlich das Alte Testament, die hebräische Bibel, die ja immer davon erzählt, wie die Sklaven aus Ägypten flüchten und ein Gemeinwesen aufbauen, in dem Menschen nicht mehr über andere Menschen herrschen sollen. Das ist ja nun wirklich ein Bestseller, der auch politisch bis in die heutige Zeit unglaubliche Wirksamkeit entfaltet hat. Zu Hannes Schammanns Vortrag wollte ich noch anmerken: Ich fand das interessant, was Sie erzählt haben. Ich frage mich nur, ob diese drei Schubladen des Diskurses – Identität, Sicherheit und Wirtschaft – nicht auch nur so eine Widerspiegelung dessen sind, was gemeinhin den Diskurs im politischen System und seine mediale Spiegelung betrifft, während andere Diskurse, die eben sehr wirksam sind – nämlich als das, was Sie jetzt unter dem Kürzel PEGIDA und AfD gefasst haben –, dass dort Diskurse stattfinden, die sehr breit sind. Wo es zum Beispiel auch um so was geht wie Gerechtigkeitsgefühle. Wo also ein Diskurs stattfindet, der eine Relevanz hat, der viele Leute auch innerlich ergreift und der auch eine Wirksamkeit hat, aber möglicherweise im offiziellen Diskurs gar nicht abgebildet wird. Oder nicht in der Form, wie man ihn auffinden würde, wenn man sich das anguckt, was heute tatsächlich schon an Gegenkultur, an Gegenmedien vorhanden ist – das gab es ja vor 10 Jahren in diesem Ausmaß noch nicht. Auch was in der Internetkommunikation passiert. Also da finden in meinen Augen noch andere Diskurse statt, die nicht in Identität, Sicherheit und Wirtschaft aufgehen, sondern da kommt diese moralische Ökonomie zum Beispiel noch dazu. Stefan Schmitzer: Eine Anmerkung und eine Frage an Ingar: Erst einmal wüsste ich gerne, wo du den Namen Schmitzer verortest, nachdem du ja die Namen aufgezählt hast. Das zweite: Du hast gemeint, dass der Satz „What the son tries to forget, the grandson tries to remember“ falsch sei. Da ich nicht aus der Wissenschaft komme, meine ich das als reine Frage: Woher kommt dann dieses beobachtbare Phänomen? Wahrscheinlich denke ich zu sehr in Anekdoten. Aber mir persönlich ist das anhand von zwei, drei Fällen aufgefallen: „gut Integrierte“ der zweiten, dritten und vierten Generation, von laizistisch gewordenen Ex-Muslimen, die etwa Rechtsanwaltspraxen haben, deren Kinder oder Enkelkinder sich plötzlich für die Bruderschaft aller Muslime

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_021

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und das Kalifat zu interessieren beginnen. Mir fallen da etwa zwei, drei Hip-Hopper in Österreich ein, die solche Biografien haben. Das wäre das eine. Das andere wäre die Frage an Herrn Schammann und zu seinem Argument, man müsse nur das Nutzenargument rausnehmen aus der Migrationsdebatte und schon habe man den Pegidisten ein bisschen das Wasser abgegraben. Ich befürchte, das stimmt nicht. Ich befürchte es schlicht deswegen: Das ist bei der Pegida sowieso nur ein Scheinargument. Mir scheint, da geht es um die Abwehr narzisstischer Kränkungen und nicht um tatsächliches wirtschaftliches Interesse. Nimmt man dann das Nutzenargument raus und fordert eine humanistische anstelle einer wirtschaftlichen Debatte und argumentiert, dass es gemeinsame Interessen gebe, dann nutzt das in meinen Augen nichts. Denn wir haben es hier mit einem akut aufgebrachten psychologischen Phänomen zu tun und nicht mit Kalkül. Deswegen bringen da Argumente in meinen Augen nichts. Klaus Kock: Was mich zunehmend irritiert, ist die Diskussion in der Linken, wie sie wahrscheinlich auch heute beim Parteitag der Linkspartei wieder vonstattengehen wird. Dass es da Stimmen gibt, die sagen: „Wir lehnen dieses Nutzendenken ab, weil das kapitalistisch ist. Wenn wir antikapitalistisch argumentieren, müssen wir die Flüchtlinge als Lohndrücker ansehen, und die wollen wir nicht.“ Die Flüchtlinge werden quasi als Instrument des Kapitals angesehen und man will sie draußen halten. Man will unterscheiden zwischen echten Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen. Das ist auch so eine Paradoxie, dass hier links und rechts wieder zusammenkommen; statt internationaler Solidarität wieder eine Ausgrenzung. Die hat man mehrfach auch im Inland. Ich kann mich noch gut an Diskussionen in den 1980er Jahren erinnern, wo die Gewerkschaften keine Leiharbeiter organisieren wollten, sondern gesagt haben, dass Leiharbeit verboten werde müsse. Leiharbeiter seien nicht unsere Leute. Das hat 10, 20 Jahre gedauert, bis man in den Gewerkschaften begriffen hat, dass man die Leiharbeiter mit in die Interessenvertretung einbeziehen muss. Oder nehmen wir den Ost-West-Gegensatz, wo die Wessis sich gegen die Ossis gewehrt haben, weil die viel billiger arbeiten. Oder nehmen wir die „Gastarbeiter“. Wieso kommt das jetzt, wo ich immer denke, die Linke müsste humanistisch denken und internationale Solidarität zeigen. Wie schätzen Sie, Herr Solty, das aus Ihrer Sicht ein? Wie diskutieren Sie das in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wo Sie ja vielleicht mitten drin sitzen in dem Sturm. Hannes Schammann: Ich fange mit der Linken an. Es ist wirklich spannend, was da gerade passiert. Vielleicht ist die Linke momentan in etwas gefangen, was sie nie zugeben würde, was aber in der Migrationsforschungsliteratur als „liberales Paradoxon“ auftaucht. Das ist ein Begriff von James Hollifield aus dem Jahr 1992. Hollifield geht von liberalen Demokratien aus und sagt, dass liberale Demokratien immer gefangen seien in dem Zwiespalt zwischen Öffnung und Schließung der Grenzen. Öffnung deshalb, weil natürlich internationale Verflechtungen, Globalisierungen auf eine Öffnung der Grenzen drängen. Denn wo Waren wandern, wandern irgendwann selbstverständlich auch Menschen. Dabei handelt es sich um einen Öffnungsprozess, der durch Institutionen wie die Menschenrechte befördert wird: Migranten sind eben auch Menschen und deswegen haben sie ein Recht auf Asyl. Das drängt dann beispielsweise auch auf Familienzusammenführung, und es sind diese Argumente, die auch für eine Öffnung von Grenzen sprechen. Jetzt wäre es natürlich kein Paradoxon, hätte es keine zweite Seite. Die zweite Seite ist, dass es in einem national-staatlich gedachten Wohlfahrtssystem natürlich Zwänge gibt, die auf eine Schließung von

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Grenzen hinwirken – zum Beispiel Wahlen. Wer nimmt an Wahlen teil, wenn ich keine geschlossenen Grenzen habe? Also muss ich die Zugehörigkeit zur Bevölkerung in irgendeiner Form definieren, die das Wahlrecht mit sich führt. Oder nehmen wir das Wohlfahrtssystem: Wie lange kann sich das denn tragen? Und damit sind wir dann auch bei Fragen von sozialer Gerechtigkeit, die natürlich die Linke ganz stark umtreiben. Vielleicht denkt die Linke da noch zu national-staatlich. Und daraus ergeben sich dann diese Tendenzen zur Schließung von Grenzen. Aber gut, jetzt ist man da gefangen und die Frage ist, wie kommt man raus? Raus kommt man nur, wenn man das politische System insgesamt in Frage stellt, und deswegen ist es eben das Paradoxon. Das ist eingeschrieben in Verfassungen liberaler Demokratien oder westlicher Demokratien generell. Man kommt da nur raus, wenn das politische System geändert wird. Das kann aber jetzt auf verschiedene Arten und Weisen passieren. Interessant finde ich eine Position, die in der Open Borders-Debatte immer nicht so richtig reflektiert wird, dass eben die Öffnung von Grenzen insbesondere von sogenannten Anarchokapitalisten gefordert wird, die die Abschaffung aller Staatlichkeit fordern. Migration ist die Kette privatwirtschaftlicher Verträge, weil es kein Stück Land mehr gibt, das niemandem oder einer Gemeinschaft von Menschen gehört; alles ist privat. Das heißt, wenn ich von hier zum Hauptbahnhof Dortmund will, dann gibt es ganz viele verschiedene Parzellen, die ganz verschiedenen Menschen gehören. Mit denen muss ich Verträge schließen, um von A nach B zu kommen. Das ist die anarchokapitalistische Vision von Migration, und es könnte natürlich auch noch andere geben. Ich glaube, die Linke befindet sich in einem liberalen Paradox, wo sie sich nicht rausziehen kann. – Die Anmerkungen hinsichtlich des Nutzenarguments und der Gerechtigkeitsfragen sind richtig. Ich habe mich auf die Migrationsdebatte fokussiert und natürlich geht es breiter und tiefer. Ich glaube, die Gerechtigkeitsfrage durchzieht mehrere gesellschaftliche Aspekte, nicht nur das Migrationsthema. Im Rückgriff auf die politische Kulturforschung kann man zum Beispiel sagen, dass der Populismus ja eine dünne Ideologie ist, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie intermediäre Institutionen wie Parteien, Medien und so weiter in Frage stellt. Das zeigt sich möglicherweise dann auch anhand von solchen Gruppen wie Pegida und AfD. Es sind natürlich viel größere gesellschaftliche Fragen, die wir hier verhandeln. Für die Migrationsdebatte scheint es mir trotzdem ganz sinnvoll zu sein, sich zumindest innerhalb dieser Arenen zu orientieren. Ich meine gar nicht so sehr, dass wir jetzt das Nutzenargument rausziehen. Ich meine vielmehr, dass wir die Arena wechseln müssen. Die Schlacht gegen Pegida, wenn man so will, gewinnt man nicht auf der Ebene der wirtschaftspolitischen Debatte, sondern leider in der Frage von Identität und Zugehörigkeit. Das ist ein ganz schwieriger Bereich, weil man plötzlich mit Fragen konfrontiert ist wie: Muss man jetzt danach suchen, was unser gemeinsames Ich ist? Oder müssen wir eine plurale, müssen wir überhaupt so etwas wie Identität entwickeln? Ich glaube, eher nicht. Aber wir drehen uns in dieser Debatte permanent im Kreis, diese ewig wiederkehrende Leitkultur, der Heimatdiskurs. Ich kann es wirklich nicht mehr hören. Ich würde sagen: Heimat ist Solidarität. Und wir müssen uns überlegen, wie wir unser Solidaritätsverständnis vielleicht neu beleben und damit den Heimatbegriff ersetzen. Das wäre für mich vielleicht ein Ausweg, der dann auch in der Identitätsdebatte fruchtbar sein kann. Allerletzter Punkt: Bei Ingar Solty ist Migration recht stark konzeptioniert worden als eine unfreiwillige Migration – Migration als Flucht vor prekären Lebensbedingungen, vor Krieg und so weiter. Aber nicht jede Migration ist immer nur was Schlechtes, und Migration wird so gefasst auch zur Ausnahme.

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Wenn Migration letzten Endes immer über Flucht definiert wird, dann verkennt man, dass Migration durchaus ein historischer Normalfall ist. Natürlich nicht unbedingt über national-staatliche Grenzen hinweg. Aber Migration ist einfach ein Normalfall, der nicht immer nur schlecht ist. Außerdem wissen wir aus der Migrationsforschung, dass, wenn das Entwicklungsniveau eines Landes, also die Lebensbedingungen in einem Land angehoben werden, dass es dann eben nicht zwangsläufig dazu führen muss, dass es weniger Migration gibt, sondern dass es auch erst mal mehr Migration geben kann, aufgrund der Kombination aus Infrastrukturbildung – es gibt einen Flug von A nach B, ich komme weg – und gewachsenen Aspirationen der Menschen zu mehr Migration führen mögen. Und das ist ganz spannend, wenn man sich deutsche Entwicklungspolitik ansieht und diese Fluchtursachenbekämpfung, die sich an der Auffassung ausrichtet: Mehr Entwicklungshilfe bedeutet weniger Migration. Das ist falsch. Sondern mehr Entwicklung bedeutet mehr Migration, das heißt, will man mehr freiwillige Migration als unfreiwillige, muss man einfach – platt gesagt – für eine gerechtere Welt sorgen. Alles andere ist sozusagen das, was auch in der Literatur als humanitarian border bezeichnet wird, wo man sozusagen eine Grenze aufrechterhält durch humanitäre Maßnahmen. Michael Wildenhain: Jetzt hätte ich natürlich gerne auch noch Ingar gehört und den inneren Diskurs der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Aber darüber haben wir uns ja auch gestern schon unterhalten. Insofern sage ich mal die zwei, drei Dinge, die mir aufgefallen sind. Zunächst mal waren für mich zwei Punkte am interessantesten – erstens die Frage, die von Thomas aufgeworfene Frage des Diskurses, der jenseits dieser drei Arenen stattfindet, die er doch sehr stark als den offiziellen, öffentlichen Diskursraum identifiziert hat, und seine These, dass es da drunter nun einmal eine Ebene empfundener Gerechtigkeit gibt, die sehr viel mit den Zuweisungen zu tun hat, die die Leute sich, die darüber im Alltag diskutieren, oftmals selber geben. Ein Beispiel: Das Sarrazin-Buch. Als es erschien, hat es sehr viele Türen für Leute geöffnet, die sich darin wiedergefunden haben, aber sich selbst nicht als rassistisch empfanden. Ich kenne eine ganze Menge von Leuten, die aus politischen Gründen als Lehrerinnen oder Lehrer bewusst in Kreuzberg oder Neukölln an damals noch sogenannte Hauptschulen gegangen sind und dann im Verlaufe der Zeit mitbekommen haben, dass sie irgendwann in ihren Klassen, vor denen sie unterrichtet haben, fast die einzigen waren, die noch Deutsch als Muttersprache hatten. Diese Situation war für diese Leute objektiv unglaublich schwierig. Sie haben sich aber mit dieser Diskussion im öffentlichen Diskurs nicht wiedergefunden, sondern sie haben sich dann plötzlich – vermeintlich zumindest – in solchen Publikationen wie dem Sarrazin-Buch wiedergefunden, und mir scheint, dass das auch ein Großteil des Erfolges dieses Buches ausgemacht hat. Das aber ist eine Diskurs-Ebene, die alltäglich stattfindet. In meinem Fall war es so, dass meine Kinder in Kreuzberg aufgewachsen sind. Ich habe die ganze Schuldebatte mitbekommen, und wir haben natürlich auch immer mitbekommen, wie sich Leute über uns gemeldet haben, weil wir zufällig in dem Einzugsbereich einer Grundschule wohnten, also gemeldet waren, die bevorzugt war. Interessanterweise war das ein Modellprojekt von Behindertenintegration, die dadurch wiederum privilegiert war, aber gar nicht so sehr von der eigentlich gedachten Klientel angelaufen wurde, sondern sehr stark von den Leuten, die abschöpfen wollten, dass es da mehr Personal und mehr Ausstattung gab. Und zwar jetzt ohne dass sie sich darüber Gedanken gemacht hatten, es gab nun einmal ein informelles Ranking in dem Bezirk, und so haben die Leute teilweise mit einem

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unglaublichen Aufwand versucht, an diese Schulen zu gelangen, bis hin zu Prügeleien auf Voranmelde-Elternversammlungen. Das Ganze wurde dann konterkariert durch das Ende der Grundschule. Es gibt bei uns eine große Gesamtschule, wie es damals noch hieß, mit über 2.000 Schülern, die im Volksmund als „Türkenschule“ galt. In der Grundschulklasse meiner Tochter waren nur arabische Mädchen – das wurde ja auch immer so aufgeteilt –, die dann teilweise an diese Schule gingen. Und wenn man sie gefragt hat: „Wie ist es denn da?“, dann haben die gesagt: „Ja ist ganz gut, aber so viele Türken, nur Türken.“ Und die Schulleiterin oder stellvertretende Schulleiterin kam in die Grundschulklasse meines Sohnes, um dafür zu werben, dass man doch jetzt auch an diese Schule wechseln möge und hat es damit angekündigt, dass sie gesagt hat: „Wir richten eine deutsche Klasse ein und die siedeln wir auf dem Flur in unmittelbarer Nachbarschaft des Lehrerzimmers an.“ Das sind natürlich Diskurse, die für den Alltag der entsprechenden Bevölkerung in den jeweiligen Vierteln in einer bestimmten Lebensphase sehr prägend sind, auch wenn die später wieder vergessen werden. Sie finden aber in den offiziellen Diskursen unheimlich wenig statt. Manchmal schon, aber oftmals auch nicht. Das fand ich einen sehr interessanten Punkt. Aber einen viel interessanteren Punkt fand ich das, was Ingar ganz am Anfang gesagt hat – und zwar auch für die linke Debatte. Als er sich seinem Thema genähert hat, so habe ich es mir jedenfalls gemerkt, da wurde der Migrationsbegriff für ihn bezüglich Literatur immer schwieriger. Du hast es dann eng geführt mit der Frage der gefährlichen Klassen und hast auch gesagt, dass etwa die Japaner in Düsseldorf überhaupt nicht als Migranten wahrgenommen würden. Und das ist interessanterweise auch in dem SarrazinBuch ganz stark gemacht, also mit seiner verbrämt und verquast biogenetischen Argumentation. Sarrazin sieht ja überall irgendwelche Gene, zum Beispiel bei den Vietnamesen, die in Berlin die höchsten Abiturergebnisse aufzuweisen haben. Den interessanten Punkt und das große Problem gerade für die Linke und gerade für die Gewerkschaften ist, dass der Migrationsbegriff kontraproduktiv ist. Das merkt man genau an diesen ganzen Dilemmata, in denen man gefangen ist und die unausweichlich sind. Natürlich ist es so, dass für bestimmte Bevölkerungsgruppen, die bestimmten Jobs nachgehen oder gezwungen sind, bestimmten Jobs nachzugehen, diese Konkurrenz, die entsteht, objektiv gegeben ist. Und damit muss sich natürlich auch die Linke und die Gewerkschaft auseinandersetzen, wenn sie – auf welche Weise auch immer – die entsprechenden Bevölkerungssegmente vertreten will. Und da finde ich den Begriff der gefährlichen Klasse, den du kurz genannt hast, sehr viel besser, weil der konterkariert nämlich diese Migrations- und Integrationsdebatte, die immer von so einer eigentümlichen Dichotomie „hier Volkskörper und da Eindringlinge“ ausgeht und unterläuft sie auf eine produktive Weise. Denn es werden ja gar nicht alle Migranten den gefährlichen Klassen zugewiesen. Gut, wenn die Deutschen in die Schweiz immigrieren, dann sind wir dort in einer gewissen Wahrnehmung auch die gefährlichen Klassen, aber ansonsten ist es ja vollkommen klar: Wenn du irgendwelche Franzosen hast oder Norditaliener, die mittlerweile hierherkommen und in den höheren Lagen der Gesellschaft beschäftigt sind, die werden ja gar nicht als Migranten definiert. Deswegen verstehe ich auch sehr gut dieses Unbehagen; und dann kommt noch hinzu, dass Migration, wie sich genau in dem Vortrag von Ingar zeigte, ein derart umfassendes Phänomen ist, dass es meines Erachtens literaturwissenschaftlich – und das ist ein Reflex auf die Realität – kaum analytisch produktiv festzumachen ist. Norbert Niemann: Mich beschäftigt in dem ganzen Zusammenhang diese Dichotomie zwischen Heimat und Nichtidentität. Es gibt einen frühen Text von Hannah Arendt,

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der heißt „Wir Flüchtlinge“, also weil sie selbst als Flüchtling unterwegs war. Das ist unmittelbar reflektiert 1943, wo sie sinngemäß sagt: Wenn man Flüchtling ist, dann ist man für immer gefangen in einem Ort dazwischen. Man kann also nie mehr da sein, wo man herkommt und kommt auch – im völligen Gegensatz zum Zitat von Andersch – nie an, man wird nie Heimat finden. Ich fand sehr klug, als du gesagt hast, man müsse den Heimatbegriff politisch kontern mit dem Begriff der Solidarität. Ich glaube, das ist nämlich ein ganz zentrales Ding. Wir werden um diese Identitätssachen nicht herum kommen, weil das einfach der Ort ist, an dem sich bald die Angst ballt und vollkommen auf einer emotionalisierten Ebene artikuliert. Das heißt, Heimat ist so stark verbunden mit Mythos, mit Schicksal, mit Affekt, ist kaum zu fassen und von daher natürlich etwas, was sich automatisch auflädt. Ich glaube, dass es politisch sinnvoll ist, dem aufklärerisch entgegenzutreten mit einem Begriff der Solidarität. Das gefällt mir sehr gut. Bei meinem Projekt habe ich da natürlich auch drauf geguckt, was es für Perspektiven gibt, die da entwickelt werden, und es gibt ja schon so eine Vorstellung, die im Prinzip auch Achille Mbembe in seiner „Kritik der schwarzen Vernunft“1 entwickelt, dass die ökonomische Globalisierung darauf hinausläuft, dass sie uns alle im Prinzip zu Migranten macht. Das migrantische Ich als Lebenswirklichkeit hat nirgends einen festen Punkt, hat immer weniger einen festen Punkt, und es läuft darauf hinaus, dass es – beispielsweise bei Teju Cole in seinem Roman „Open City“2 – diesen Afrikaner gibt, der eine deutsche Mutter hat, in New York lebt, in Afrika aufgewachsen ist, die Stadt vermisst und eigentlich sich einrichtet in einer Existenzform, in dem das Identische oder die Identität gar nicht mehr vorkommen kann. Bei Teju Cole ist das Thema: „Wie kann ich existieren, in einer Form von Realität, die mir gar nicht mehr ermöglicht, so was wie Identität auszubilden? Was ist das?“ Er bezieht sich da natürlich auch philosophisch auf Deleuze. In einer gewissen Weise insofern Deleuze ja sagt, wenn wir dem Zugriff der Instrumentalisierungen des Ichs entkommen wollen, dann müssen wir uns auf diese Figur des Schizo einlassen, wir dürfen nie zu fassen sein, wir tauchen hier auf, wir tauchen dort auf. Wenn man meint, erkannt zu werden und vermessen zu werden, um konsumistisch aufgesaugt zu werden, dann bin ich schon wieder woanders. Das ist die Befreiungsfigur bei Deleuze und Guattari. Bei Teju Cole gibt es diese wunderschöne Stelle, wo er in die Carnegie Hall geht, er hört sich das „Lied von der Erde“ von Gustav Mahler an und am Ende von dem Konzert, wo er der einzige Schwarze ist in diesem Publikum, auf dem Weg raus verirrt er sich auf so eine Außentreppe von der Carnegie Hall und dann fällt ihm die Tür zu und er kommt nicht mehr wieder rein. Er steht da praktisch im Nichts. Ein unglaublich großes Bild: Er steht auf dieser Treppe, die so durchbrochen ist, eine Art Außentreppe, so eine typische amerikanische, wo man gefühlsmäßig nach unten durchfällt, und über ihm ist der Sternenhimmel. Und dann geht es um den Sternenhimmel, also eigentlich ein romantischer Topos. Aber er sagt, was ihn interessiert, sind nicht die Sterne, sondern das Schwarze dazwischen. Das ist der Orientierungspunkt, dieses Licht, was ich sehe, das ist alles Vergangenheit, die sind zum Teil schon gar nicht mehr da diese Sterne, weil das Licht so lange braucht bis es hier ist. Es ist alles Vergangenheit. Und für ihn ist der Orientierungspunkt das Schwarze, die Sterne der Zukunft.

1  Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin: Suhrkamp 2015. 2  Teju Cole: Open City. Berlin: Suhrkamp 2012.

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Joachim Helfer: Erst mal, Helfer ist der Name salzburgerischer Protestanten, die vertrieben worden und dann typischerweise in Thüringen und Sachsen gelandet sind. Ich fand das sehr schön in dieser sehr weiten Fassung des migrationsliterarischen Problems, wenn es denn eines ist, dass am Ende rauskommt: Wir sind halt Migranten. Alle. Wahrscheinlich jeder hier wird das, wenn wir in die vierte, fünfte Generation zurückgehen, in seiner eigenen Biografie auch wiederfinden, spätestens dann. Dieser Heimatidentitätsdiskurs, dieses Theater ist wahrscheinlich das schwierigste und sicherlich auch das, in dem Literaten am ehesten irgendwie einen Beitrag machen können. Ich glaube tatsächlich nicht, dass wir das so einfach sagen können: Heimat ist Solidarität. Es gibt diese Debatte über Circles of Solidarity. Ich glaube, dass es in funktionierenden, kleinen, dörflich strukturierten Gemeinschaften – wobei ein Dorf zum Beispiel auch die Gemeinschaft der Arbeitenden am Frankfurter Flughafen sein kann –, so etwas gibt wie eine automatisch, sich durch räumliche Nähe und Vertrautheit einstellende Solidarität. Trotzdem gibt es natürlich dann immer noch die Frage nach dem Bezugsrahmen. Es wurde dann gesagt, wir entkommen diesem Paradoxon eigentlich nur durch einen Systemwechsel. Ich sehe da weniger ein Paradoxon als eine echte kognitive Dissonanz: Man muss sich dann schon irgendwann entscheiden, ob man Nationalist ist oder Internationalist. Das ist natürlich in der Linken allgemein ein großes Problem. Wir – ich sag jetzt mal „wir“, ich bin Sozialdemokrat – schwanken zwischen nationalistischen und internationalistischen Reflexen, wie es gerade passt. Da muss man sich dann irgendwann gerade machen und sagen: „Also ich bin Internationalist.“ Deshalb sind viele dieser Probleme zu lösen, indem man sich dann in Circles, was ja ein Plural ist, also in einer Art Babuschka von Zuständigkeiten oder Subsidiarität, auf der jeweils richtigen Ebene solidarisiert, aber auch demokratisch Repräsentation organisiert. Ich hätte es schön gefunden, wenn Angela Merkel auf die Frage „Gehört der Islam jetzt zu Deutschland?“ anders geantwortet hätte. Sie hätte auch antworten können „Zu Deutschland gehört die Religionsfreiheit. Das ist immer die doppelte Freiheit zur Religion, aber auch die Freiheit von Religion.“ Sigmar Gabriel, dem ich ansonsten wenig Tränen nachweine, hat das in einer Bemerkung zur Leitkultur mal ganz gut gefasst. Ich finde diese Leitkulturdebatten auch fruchtlos, Ich finde, man muss sie dennoch führen, und das ist auch genau der Bereich, in dem Literaten sich am ehesten einbringen können. Gabriel sagte damals, Leitkultur in Deutschland seien die ersten 30 Artikel des Grundgesetzes. Das ist eine griffige Formulierung, mit der ich gut leben kann. Noch was zu dieser Diskussion um AfD und Pegida und die reale Konkurrenz um bestimmte ökonomische Positionen in der Gesellschaft. Das ist so eine Standarderklärung, auf die wir immer intuitiv kommen, weil sie bequem ist. Denn dann kann man das Problem auch durch entsprechende technokratische Verteilungsstellschrauben gut lösen. Dazu gibt es eine optimistische Lesart, die zeigt, dass überall dort, wo Infrastrukturen abgebaut werden, der Regionalexpress nicht mehr fährt oder der Kindergarten schließt, die Leute verstärkt solche Parteien wählen. Da haben wir also eine Stellschraube, da können wir ran. Wir können dafür sorgen, dass es Infrastruktur auch im Erzgebirge gibt und in Ostfriesland und nicht nur in Berlin. Nebenbei bemerkt: Auch in Berlin könnten wir in Infrastruktur investieren. Es gibt aber auch aus dem letzten Jahr eine Studie, die mich sehr nachdenklich gemacht hat. Da hat man abgefragt erstens die Wahlabsichten bei der bevorstehenden Bundestagswahl und dann zweitens die Einschätzung der eigenen ökonomischen Lage und die Einschätzung der ökonomischen Erwartung. Also: Geht es mir zurzeit ökonomisch gut und wie, glaube ich, geht es mir in fünf Jahren ökonomisch? Es ist nicht sehr überraschend, dass die

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FDP-Wähler da auf Platz 1 gelandet sind in der Einschätzung ihrer ökonomischen Lage. An zweiter Stelle liegen die AfD-Wähler. Das heißt, der AfD-Wähler ist gerade nicht derjenige, der von sozialem Abstieg konkret betroffen oder bedroht ist oder sich so fühlt. Ich habe da auch noch keine gute Antwort zu gefunden, aber wir sollten aufhören, das immer so einfach kurzzuschließen. Stimme aus dem Publikum (Heinz Czernohouz): Ich glaube, man sollte die Migrationsdebatte schon ein paar Takte schärfer führen. Ich denke, dass man, wie Ingar das angedeutet hat, von Kriegsführung sprechen sollte, von Menschenvernichtung durch Kriege, die vor allen Dingen von den westlichen Mächten vorangetrieben werden. Dazu gehören auch Wirtschaftskriege, also was man normalerweise Handelsverträge nennt. Drittens muss man die Migrationsdebatte auch in Bezug auf den Klimawandel führen, der im Wesentlichen verursacht wird von der Industrialisierung der westlichen Gesellschaften. Es wird absehbar dazu führen, dass die Migration in den kommenden Jahren massiv steigen wird. Es werden allein in Westafrika Millionen Menschen durch absehbare Klimaveränderungen zur Flucht gezwungen werden. Aus diesem Grund beobachten wir in Deutschland heute die Diskussion um Ankerzentren. Man beobachtet in den vorgelagerten Regionen, in Griechenland, in der Türkei, in Mali eine Flüchtlingsabwehr, die von der Bundesregierung betrieben wird und die Konsequenzen der westlichen Politik auslagert. Wir haben in Nordafrika Konzentrationslager. Der Begriff wurde von deutschen Diplomaten in Tunis zum ersten Mal offiziell verwendet in einer Stellungnahme, die an das deutsche Außenministerium ging. Ich finde, das sind schon die Kategorien, in denen wir diskutieren sollten. Dazu gehört, dass man als Linke eigentlich die historische Erfahrung verinnerlicht haben müsste, dass Repression, die sich meinetwegen im ersten Schritt gegen unerwünschte Migranten oder Teile von Migranten richtet, früher oder später auch die deutsche Linke treffen kann. Ingar Solty: Ich werde aufgrund der zeitlichen Beschränkung nicht auf alles eingehen können. Was sich in meinen Augen herausgeschält hat als erster Dissens hier auf dem Podium, ist die Frage des Umgangs mit dem Heimatbegriff, das Verhältnis von Heimat und Solidarität. Ich gebe zu bedenken, dass wir von Karl Polanyi wissen, dass der Kapitalismus beziehungsweise die neoliberale Ideologie Natur und Menschen so behandelt, als wären sie Waren. Gegen die Freimarktideologie erwidert Polanyi, dass Mensch und Natur indes fiktive Waren sind. Sie funktionieren nicht so, dass sie sich einfach allokieren lassen, wie das jetzt die neoklassische, politische Ökonomie annimmt, dass – gewissermaßen wie Franz Josef Degenhardt es schon 1977 mal gesungen hat – der Arbeiter 2000 einmal ein Nomade sein werde, der für einen Job überall hinzieht. So funktionieren Menschen aber nicht. Wir hatten gestern ja die Diskussion über Geschlechterverhältnisse. Wir haben alle familiäre Bindungen und Verantwortungen: Muss ich mich um meinen alten Vater im Sauerland kümmern, dann kann ich eben nicht nach Toronto oder Berlin ziehen. Polanyis Kritik ist aber darum so essentiell, weil wir nämlich daraus lernen, dass Heimat etwas ist, was der Kapitalismus ständig unterläuft, was es eigentlich nicht geben darf. Es darf nicht geben, dass Menschen am Ort bleiben wollen, wo sie sind und ihre sozialen Rechte eben dort verwirklicht werden. Es geht also um das freiwillige Gehen oder eben das freiwillige Bleiben. Dabei sollten wir uns daran erinnern, dass es in der Linken eine ganz lange linke Geschichte der Heimatdiskussion gibt. Ich habe – im Gegensatz zum statischen Heimatbegriff von Seehofer und Co. – für einen nichtstatischen Heimatbegriff plädiert.

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Die Rechte sagt: Es soll alles so bleiben, wie es ist. Der Kapitalismus sagt: Es kann nicht so bleiben, wie es ist. Die Linke sagt: Das Bedürfnis nach Heimat ist legitim. Und sie fragt: Wie kann Heimat von unten gestaltet werden, nicht essentialistisch, sondern als ein Werden, und wie können wir uns die Welt, in der wir leben und leben wollen, selber aneignen. In der Literatur hat Heimat-als-Werden zuletzt Martin Walser gut auf den Punkt gebracht, und zwar in Bezug auf seinen Heimatort: Er ist nicht mehr so, wie er war, aber die Leute, die als Kriegsvertriebene neu hinzukommen, dürfen dort heimisch werden und die Heimat zusammen mit den bereits dort Lebenden gemeinsam gestalten, so wie er heimisch werden durfte, als er als Flüchtling dort anlangte. Für einen solchen Heimatbegriff von unten gibt es in der linken Geschichte, wie gesagt, viele Anknüpfungspunkte. Bei Ernst Bloch, der den Heimatbegriff als den Fluchtpunkt von utopischem Denken sieht. Es gibt Kurt Tucholsky, der in Auseinandersetzung mit den ganzen Nationalisten in seinem „Deutschland, Deutschland über alles“3 am Ende sagt: Wir haben jetzt 100 Mal „nein“ gesagt und wir wollen jetzt auch einmal „ja“ sagen, denn wir lassen uns die Liebe zu dem Ort, an dem wir leben, zur Stadt, zur Landschaft usw., nicht von der Rechten wegnehmen. Man findet Anknüpfungspunkte für einen solchen linken Heimatbegriff bei Brecht, z.B. in seiner „Kinderhymne“.4 Auch hier gibt es dieses Moment: Es gibt keine bedingungslose Liebe zur Heimat, sondern sie ist immer verknüpft mit konkretem, solidarischem Handeln. Bei Brecht heißt es in der „Kinderhymne“, gemünzt natürlich auf die DDR und ein zukünftiges, vereintes, sozialistisches Deutschland: „und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s.“ Mit anderen Worten: wenn wir es nach innen nicht verbessern, nicht sozialer, demokratischer und menschlicher machen und uns nach außen friedlich und solidarisch verhalten, dann dürfen wir es im Umkehrschluss auch nicht lieben. Einen ähnlichen Heimatbegriff im Sinne einer Aneignung der Umwelt von unten finden wir auch bei Reinhold Andert,5 auch hier wieder in Bezug auf die DDR: „Hier schaffe ich selber, was ich einmal werde, hier gebe ich meinem Leben einen Sinn, hier habe ich meinen Teil von dieser Erde, hier kann ich werden, was ich selber bin.“ Von daher scheint es mir sinnvoll und nötig, diese Diskussion zu führen; sinnvoll, weil es diese Tradition gibt, und nötig, weil Menschen Beständigkeit und Verwurzelung brauchen in einem Beständigkeit dauerhaft untergrabenden Kapitalismus. – Schließlich noch ein paar Anmerkungen, zu dem, was Michael zur Sarrazin-Debatte gesagt hat: Wenn man die Rechte und den Konservatismus als ideologisches Paradigma der Moderne ernst nimmt, dann geht es ihr im Kern immer um die Begründung von Ungleichheit und Ungleichwertigkeit. Sie versucht, bestehende Ungleichheiten zu rechtfertigen, und bedient sich hierfür aller möglichen Formen der Biologisierungen, Naturalisierungen und Kulturalisierungen. Bei Sarrazin ist interessant, dass er sich nicht im Fahrwasser der kulturalistischen Wende der Rechten bewegt, sondern auf die alten erbgenetischen, eugenischen Konzeptionen zurückgreift, die die Neue Rechte eigentlich aufgegeben hatte, im Versuch, sich von ihrer völligen Diskreditierung nach dem Nazifaschismus und Holocaust zu lösen. Bei Sarrazin findet man das dann zum Beispiel nicht nur in Bezug auf Vietnamesen mit den besten Schulabschlüssen und 3  Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Berlin : Universum-Bücherei für Alle 1929. 4  Anmut sparet nicht noch Mühe (1959). Leo Spies (Komponist), Bertolt Brecht (Text). Leipzig: Litolff 1959. 5  Reinold Andert (*1944), deutscher Liedermacher.

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„den“ Juden, denen Sarrazin ja eine besondere erbgenetische Intelligenz zuschreibt, sondern auch wenn er auf das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen dem florierenden Baden-Württemberg und dem verarmten Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen kommt. Sarrazins erbgenetische Schlussfolgerung: Die Mecklenburg-Vorpommern-Bevölkerung ist also im Durchschnitt einfach ein bisschen dümmer. Sarrazin bezieht sich hierbei auf die differenzielle Psychologie, die Intelligenzforschung, die historisch sehr stark rassistisch durchzogen ist, und auf die evolutionäre Psychologie. Letztere erklärt mit ihrem disziplinären Imperialismus, der sich auf das Gebiet der Sozialwissenschaften vorwagt, dann mit einem Schlag mal die Unterentwicklung im globalen Süden und seine imperialistische Ausbeutung durch den Westen weg. Sie hat ja „wissenschaftlich bewiesen“, dass die Menschen im globalen Süden und namentlich in Afrika bei den westlichen Intelligenztests halt schlechter abschneiden als der Durchschnittseuropäer und suggerieren dann, dass dies dann auch ursächlich verantwortlich sein müsste für den „Hunger in Afrika“. Diese ganze Intelligenzforschung hat also immer versucht, die Linke, die auf Gleichheit setzt, zu treffen. Die gleichheitsorientierte Linke sagt immer, man muss Ungleichheit durch Klassenkampf und Sozialismus beenden oder – die sozialdemokratische Variante – durch steuerpolitische Umverteilung und Förderung. Die Rechte will aber genau diese Maßnahmen – Enteignung oder Besteuerung – abwenden und argumentiert: Also wenn das jetzt erbgenetisch ist, dann bringt es doch nichts, wenn man fördert, weil dann schmeißt man den „deserving poor“ ja nur Geld hinterher, stattdessen kann man das doch besser in die Elitenförderung stecken. Nun entsteht die Rechte stets in kapitalistischen Krisensituationen, wenn es scheinbar nicht mehr für alle reicht und irgendwer für die Krise zahlen soll. Das Bürgertum sagt dann natürlich: Wir hier oben zahlen nicht, die unten sollen zahlen. Klaus Dörre hat das ja aus seinen Gewerkschaftsstudien zitiert, wie weit unter betrieblichen Leuten und Hauptamtlichen der Satz Zustimmung findet, demnach „eine Gesellschaft, die alle Menschen mitzieht“, untergehen müsse. Mir scheint, Antifaschismus muss an diesem Punkt im Alltagsverstand ansetzen. Und das bringt mich jetzt zur Frage der konkreten Strategiediskussionen in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das ist natürlich in der Kürze nicht zu beantworten. Ich möchte aber die Richtung andeuten mit Bezug auf eine weitere Diskussion, die in der Linken Unbehagen auslöst. Ich habe 2015 im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ einen Artikel geschrieben mit dem Titel „Sicherheit – Ein heißes Eisen für die Linke?“.6 Ich wollte damit eine Diskussion anregen, wie die Linke mit dem Sicherheitsthema als zentraler Triebkraft der Rechten umgehen will. Dabei habe ich die Frage aufgeworfen, ob es eigentlich einen linken Sicherheitsbegriff gibt oder nicht. Ich habe damals kritisiert, dass die Linke 2015 zum Anhängsel von Merkel und ihrer „Wir-schaffen-das“Position wurde. Natürlich war das die richtige Antwort, denn es wäre prinzipiell in einer reichen Gesellschaft mit gigantischen Privatvermögen zu schaffen gewesen. Die Linke konnte indes die Bedingungen nicht bestimmen, unter denen es wirklich geschafft werden konnte. Die linke Botschaft ist natürlich: Es kann für alle reichen. Es gibt genug Reichtum, daran hat uns ja auch Christoph Butterwegge erinnert. Aber es kann eben nur reichen, wenn man es den Reichen nimmt und ihnen auch die Mittel nimmt, mit denen sie ihre gigantischen Privatvermögen aus dem Mehrwert anhäufen 6  Ingar Solty: Sicherheit – ein heißes Eisen für die Linke? Angstfreiheit als Frage sozialer Infrastruktur. In: Luxemburg: Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 24, 8. Jg., H. 1 (April 2016), S. 58-65.

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konnten, den Millionen von arbeitenden Menschen in Deutschland und in der Welt erst geschaffen haben. In diesem Sinne geht es also um die Betonung: „Wir können uns diese Reichen nicht mehr leisten.“ Die Alternativen wiederum aber können wir nicht als technokratische Verteilungsfrage und mit Steuerstellschrauben diskutieren. Es geht eben ganz entscheidend um die Frage der Erneuerung und Revitalisierung von Gewerkschaften, der Tarifverhandlungsmacht und so weiter. In einer Situation, in der die Subjektivität dahin tendiert zu glauben, dass es nicht mehr für alle reicht, scheint mir, ist es entscheidend, reale Gegenmacht- und Demokratieerfahrungen der Menschen zu ermöglichen, um die subjektive Ohnmacht, die die Triebkraft der Rechten ist, aufzuheben. Die reale Erfahrung ist zum Beispiel jetzt im Hinterland, dass es offensichtlich nicht für alle reicht, wenn die ganze Infrastruktur zerfällt. Das ist also eine ganz reale Erfahrung, an die der rechte Alltagsverstand anknüpfen kann, und wenn es der Linken nicht gelingt, aus ihrer gewerkschaftlichen und politischen Defensive zu gelangen, dann bleibt die Behauptung „es reicht für alle“ eben rein abstrakt und hilflos. Als Allerletztes schließlich zu Hannes Schammanns Kritik, ich hätte nur das Unfreiwillige an der Migrationsbewegung betont. Ich habe ja gesagt, dass ich freiwillig nach Toronto und auch freiwillig nach Berlin gezogen bin. Es gibt also eine sehr starke, freiwillige Tendenz in Migrationsbewegungen. Wenn das untergegangen ist, werde ich das in der Bearbeitung meines Manuskripts berücksichtigen müssen. Ich glaube aber, dass das, was du in Bezug auf den „Wohlstand“, der „neue Bedürfnisse“ schaffe und damit für mehr Migration sorge, beschrieben hast, viel stärker auf die ganz konkreten Klassenlagen bezogen werden müsste, um das freiwillig/unfreiwillig-Verhältnis auszuloten. Nehmen wir das alte Kleinbürgertum, das heißt Menschen mit Landbesitz oder kleinen Handwerksbetrieben, Menschen, die also über Produktionsmittel verfügen. Die Bedürfnisentwicklung dieser Menschen ist im Gegensatz zu einfachen Lohnarbeitern zwangsläufig eingeschränkt: Wenn du Bauernkind bist, dann ist dein Horizont eben der, dass du – eine Erbteilung als Option vorausgesetzt – das Land einfach mal übernimmst, dass du dann eben auch Bauer wirst. Die große Herausforderung ist aber doch: Wenn Klein- und Subsistenzbauern erst einmal gelegt sind, wie man im 19. Jahrhundert sagte, – ich hatte ja die Zahlen aus dem globalen Süden seit der neoliberalen Wende von 1980 genannt –, dann kriegt man diese Menschen nie wieder aufs Land zurück. Diese neuen lohnabhängigen Menschen haben dann aber zwangsläufig einen neuen Horizont, denn sie müssen, um überleben zu können, flexibel sein: geografisch flexibel, weshalb sie in die Städte oder ins Ausland ziehen, und berufsbiografisch flexibel, weil sie ihre Arbeitskraft qualifizieren müssen, in der Hoffnung, dass sie einem Kapitalunternehmer Profit bringt. Denn andernfalls finden sie keinen Job.

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Aufstieg der Neuen Rechten

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Was ist der „Rechtsruck“? Richard Gebhardt Die neue und populistische deutsche Rechte strotzt – so scheint es beispielsweise mit Blick auf die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) – geradezu vor Kraft. Und dennoch, so soll hier begründet werden, ist es fragwürdig, wenn in den aktuellen Analysen die Diagnose vom „Rechtruck“ in der Bundesrepublik fast widerspruchslos übernommen wird. Ein Beispiel aus der jüngsten Literatur macht dies deutlich: Markus Metz und Georg Seeßlen schreiben in ihrem lesenswerten Buch „Der Rechtsruck. Skizzen zu einer Theorie des Wandels der politischen Kultur“,1 dass der Prozess einer undemokratischen Rechtsentwicklung teilweise sogar unumkehrbar sei: „Die Demokratie in Europa ist in Gefahr, und sie ist in Teilen schon verloren“,2 lautet hier das alarmistische Urteil. Aber auch wenn eine Offensive der neuen sozialen Bewegungen von rechts nicht zu übersehen ist, kommt in derartigen Befunden eine Überhöhung des politischen Gegners zum Ausdruck. Die Einschätzung etwa, dass eine „elitärverschmockte Neue Rechte in Universitäten und Verlagen zum gewohnten Bild geworden“ sei,3 übersieht etwa die vielfältige Gegenwehr gegen die Präsenz des Verlags „Antaios“ auf der Frankfurter oder Leipziger Buchmesse. Alleine dieses Beispiel zeigt: In breiten Teilen der Öffentlichkeit, in Universitäten, auf Buchmessen oder in Theatern, werden die Grenzen des Sagbaren also noch im Sinne eines antifaschistischen Grundkonsenses gezogen. Weder die AfD noch die Neue Rechte gehören hier also zum „gewohnten Bild“. Die Auftritte der Rechten sind im Gegenteil höchst umstritten – der Aufstieg des Rechtspopulismus aktiviert auch seine Gegner mit machtvollen Demonstrationen. Was also bedeutet die Rede vom „Rechtsruck“ genau? Und welche politischen Kräfteverhältnisse werden beschrieben, wenn der Kulturkampf von rechts zur Sprache kommt? Meine Argumentation geht von einer politischen Offensive von rechts aus, die Resultat eines backlashs des autoritären Populismus gegen die gesellschaftspolitische (Neo-) Liberalisierung der Bundesrepublik Deutschland ist. Das Programm der alten und neuen Rechten im Umfeld der AfD ist – um den neurechten Jargon zu paraphrasieren – das Programm einer 1  Markus Metz/Georg Seeßlen: Der Rechtsruck. Skizzen zu einer Theorie des politischen Kulturwandels. Berlin: Bertz+Fischer 2018. 2  ebd, S. 14. 3  ebd, S. 15.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_022

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Richard Gebhardt

„konservativen“ Gegen-Revolution wider die kulturelle „Modernisierung“ der Bundesrepublik. Und in der Analyse dieses backlashs muss das Verhältnis von Kultur und Ökonomie präzisiert werden. Mein Diskussionsbeitrag wendet sich gegen vielfach vorherrschende linke Lesarten und setzt sich in Teilen auch von der üblichen Kritik ab. Denn gerade der als Ursache für den Aufstieg des Rechtspopulismus vielfach verantwortlich gemachte moderne „Neoliberalismus“ ist keine reine Ideologie einer ökonomischen Deregulierung, sondern immer auch verbunden mit einer kulturellen Aufwertung der eigenen IchKonzepte sowie dem Versprechen, an die Stelle der Regulierungen der alten quasi-vergildeten bzw. ständischen Strukturen eine „moderne“ Gesellschaft der Leistungsorientierung zu setzen, in der das Individuum nicht auf seine Herkunft (Klassenherkunft, Ethnie, Familie, Geschlecht etc.) reduziert wird.

Folgeschäden des Neoliberalismus?

Wie immer wir auch die Durchsetzungskraft des „Neoliberalismus“ bewerten – die innerlinke Debatte über dieses Thema ist nach wie vor aktuell. Wenn Hans-Jürgen Urban beispielsweise von einer „regressiven und inszenierten Rebellion“ der „populistischen Bewegung“ gegen die „sozialen, politischen und kulturellen Folgeschäden des Neoliberalismus“4 spricht, muss betont werden, dass mit den neoliberalen Forderungen nach „Diversität“ ja auch emanzipatorische Postulate einhergehen: Das Individuum wird hier nicht als Teil eines festgelegten Kollektivs begriffen, sondern soll auch sein „AndersSein“ ausleben dürfen. Kurz: Die neoliberale Ideologie ruft die Individuen als produktive Subjekte an, weil sie die vom Fordismus vernachlässigten bzw. an den Rand gedrängten Potenziale aktivieren will. Der Stamm der klassischen, ihrem Selbstbild nach weißen und männlichen Arbeiterklasse löst sich in diesem Prozess aber auf. Nicht zuletzt dieser Punkt wirkt auf die soziale Bewegung von rechts aktivierend. Denn besonders gegen diese Dimension des „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) richtet sich, wie noch zu zeigen ist, das Ressentiment des Rechtspopulismus – eben weil die deutsche Rechte im Zuge auch dieser Entwicklung wichtige gesellschafts- und geschichtspolitische Kämpfe verloren hat. Der Kulturkampf von rechts kommt deshalb gerade in der Ausrufung einer „illiberalen Demokratie“ zum Ausdruck. Nicht nur in Deutschland führen die Apologeten des autoritären Populismus einen – um den ehemaligen 4  Hans-Jürgen Urban: Kampf um die Hegemonie. Gewerkschaften und Neue Rechte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 3/2018, S. 103-112.

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polnischen Außenminister Witold Waszczykowski zu zitieren – Kampf gegen den „neuen Mix von Kulturen und Rassen“, gegen „eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen“.5 Auffällig an diesen Feindbildern ist das Fehlen einer Zuspitzung auf dem Feld der Ökonomie entlang der Parameter sozialer Ungleichheit. Stattdessen verlagert sich die Bestimmung des Gegners nach kulturellen Mustern, nach der Frage des Lebensstils wie etwa des Vegetarismus. Entworfen wird das Zerrbild eines verweichlichten und „dekadenten“ Europas. Die Rede vom „Rechtsruck“ ist vor diesem Hintergrund ungenau – denn die harten Makrodaten der Gesellschaft etwa beim Migrationshintergrund der Bevölkerung zeugen vom Scheitern rechter Konzepte. Deutschland ist faktisch ein multikulturelles Einwanderungsland. Und wenn, wie hier behauptet, der Erfolg des autoritären Populismus in Deutschland nicht zuletzt Resultat eines backlashs wider die gesellschaftspolitische Liberalisierung und identitätspolitischen Öffnung der Bundesrepublik ist, so folgt dies einer langen Tradition. Schon Arthur Moeller van den Brucks Klage „An Liberalismus gehen die Völker zugrunde“ war das zentrale Motiv der alten und neuen Rechten seit der Weimarer Republik.6 Der von der Neuen Rechten begleitete Erfolg der AfD ist vor allem ein Protest gegen den politisch-kulturellen „Kontrollverlust“ im Rahmen des permanenten „Krisenregimes“. Und dieser „Kontrollverlust“ beschränkt sich nicht nur auf jene sozio-ökonomischen Umbrüche, die durch die dramatischen Prozesse der Automatisierung und Digitalisierung verursacht werden. Deshalb ist die in den Debatten über die Differenzen zwischen Identitäts- und Klassenpolitik mitunter vorgenommene Trennung von Kultur und Ökonomie ähnlich dürftig wie die alte Trennung zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen. Schließlich sind beide Felder – Kultur und Ökonomie – zentrale Dimensionen des Sozialen und gehören im Kontext (und nicht getrennt) analysiert. Aufgrund der Überdeterminierung der sozialen Frage durch die kulturelle Dimension verschwindet ja die Frage nach den ökonomischen Machtverhältnissen keineswegs. Die entscheidende Frage ist nur, wie und warum gegenwärtig kulturelle Fragen sozio-ökonomische Fragen überlagern.

5  Niklas Maak: Flucht nach Polen. In: FAZ-Online, 8.1.2016, https://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/vegetarier-sind-unbeliebt-bei-polens-aussenminister-14002351.html (zuletzt eingesehen am 28.5.2019). 6  zit. nach Volker Weiß: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart: Klett-Cotta 2017.

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„Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ Zentral für die Debatte ist eine präzise Schärfung der Analyse der neoliberalen Tendenzen des Rechtspopulismus. Gerade die politische Linke bzw. die Gewerkschaften wollten die AfD als vor allem neoliberale Kraft entlarven. „Angetreten für Deregulierung“, buchstabierte etwa der gewerkschaftliche Infodienst „Einblick“ das Parteienkürzel AfD aus.7 Für eine derartige Einschätzung gibt es freilich gute Gründe: Im Grundsatzprogramm der AfD von 2016 heißt es im einschlägigen Duktus, die Partei wolle „auf breiter Front deregulieren“.8 Zudem fordert die AfD eine „verbindliche Steuer- und Abgabenbremse“,9 die sogar grundgesetzlich verbrieft werden soll. Mit Forderungen wie dieser soll das Klassenprivileg der Vermögenden gesichert werden, die öffentlichen Ausgaben sollen jedoch langfristig eingefroren werden. Der Klassenstandpunkt des Rechtspopulismus wird so sichtbar. Allerdings kann mit Verweis auf derartige Positionen nicht erklärt werden, warum der Rechtspopulismus auch in den Reihen der Lohnabhängigen und Arbeitslosen beachtliche Erfolge verbuchen konnte. Zu lange wurde etwa übersehen, dass die AfD in ihrem Grundsatzprogramm auch einen Mindestlohn fordert. Zwar ist dieser in keiner Weise konkretisiert oder beziffert (die NPD forderte immerhin noch 8,88€, sic!), dafür wird die Funktion des Mindestlohns jedoch deutlich benannt: Er (d.h. der Mindestlohn, Anm. RG) schützt sie auch vor dem durch die derzeitige Massenmigration zu erwartenden Lohndruck. Insbesondere erlaubt der Mindestlohn eine Existenz jenseits der Armutsgrenze und die Finanzierung einer, wenn auch bescheidenen, Altersversorgung, die ansonsten im Wege staatlicher Unterstützung von der Gesellschaft zu tragen wäre. Mindestlöhne verhindern somit die Privatisierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Sozialisierung der Kosten.10

Forderungen wie diese finden keineswegs den Beifall des „neoliberalen Lagers“ oder der Wirtschaftsvertreter, denn auch aufgrund solcher Positionen kritisieren führende Kapitalverbände die AfD. BDI-Chef Ulrich Grillo sagte dem Berliner „Tagesspiegel“ zur Politik der AfD: „Gegen Europa, gegen die 7  Einblick-Online Nr. 5 (2016), hier zitiert nach: https://senioren.verdi.de/++file++56e e77c2ba949b7a620000e9/download/So%20haben%20Gewerkschaftsmitglieder%20 gew%C3%A4hlt.pdf (zuletzt eingesehen am 28.5.2019). 8  AfD – Alternative für Deutschland (2016): Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland. (Beschlossen auf dem Bundesparteitag in Stuttgart am 30.4./1.5.2016), S. 68. 9  ebd., S. 74. 10  ebd., S. 36.

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transatlantische Partnerschaft, gegen Zuwanderung zu sein – das ist Gift für uns als Exportnation“.11 Innerhalb der Programmatik der AfD dient der Mindestlohn ja besonders der Abwehr der „Massenmigration“. Wer – wie gerade auf linken Veranstaltungen zu hören ist – hinter der Politik der AfD also umstandslos „Kapitalinteressen“ vermutet, verkennt einen wichtigen Gegensatz: Wenn der Daimler-Chef Dieter Zetsche auf der Internationalen Automobilausstellung (IAA) 2015 beispielsweise bemerkt, die Aufnahme von Flüchtlingen könne „im besten Fall“ eine „Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden“,12 richtet sich der Rechtspopulismus gegen die interessengeleitete Schaffung einer neuen industriellen Reservearmee. Keineswegs ist er aber in diesen Fällen ein einheitlicher Fürsprecher neoliberaler Positionen. Der „Antikapitalismus von rechts“ hat auch in den Reihen der AfD wieder Konjunktur. Notwendig ist deshalb ein Blick auf die sozialpopulistische Phraseologie eines Björn Höcke, der Sätze wie folgende formuliert: Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts (Hervorhebung RG) ist also die Frage über die Verteilung unseres Volksvermögens nicht von Oben nach Unten, nicht von Jung nach Alt, sondern über die Frage der Verteilung unseres Volksvermögens von innen nach außen.13

Aufschlussreich ist in dem Zusammenhang, dass Höcke auf der Leipziger Konferenz der verschwörungsideologischen Zeitschrift „Compact“ diese Formulierung nochmals modifiziert hat. Dort heißt es, es handle sich heute nicht um einen „Konflikt zwischen Links und Rechts, sondern zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Oben und Unten, zwischen Establishment und Volk!“.14 Höcke gibt mehrdeutige und populär-anschlussfähige Antworten auf die „neue deutsche soziale Frage“. „Einleuchtend“15 am Rechtspopulismus ist 11   Grillo zit. nach Tagesspiegel.de (1.10.2016), https://www.tagesspiegel.de/politik/bdipraesident-ulrich-grillo-politik-der-afd-ist-gift-fuer-uns-als-exportnation/14631218.html (zuletzt eingesehen am 28.5.50219). 12  Zetsche zit. nach FAZ.net (15.9.2015), https://www.tagesspiegel.de/politik/bdi-praesidentulrich-grillo-politik-der-afd-ist-gift-fuer-uns-als-exportnation/14631218.html (zuletzt eingesehen am 28.5.2019). 13  Höcke zit. nach Monitor.de (2.6.2016), https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/ afd-programm-106.html (zuletzt eingesehen am 28.5.2019). 14  Björn Höcke: Widerstand gegen den Raubtierkapitalismus. In: Compact, Ausgabe 1/2018, S. 46-48. 15  Stuart Hall: Der Thatcherismus und die Theoretiker. In: ders.: Ideologie, Kultur und Rassismus. Ausgewählte Schriften 1, Hamburg/Berlin (West): Argument 1989, S. 172-206. Nach Stuart Hall ist an einer Ideologie nicht wichtig, was „falsch“, sondern was „wahr“

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für die Prekarisierten folglich nicht das neoliberale Arsenal im Grundsatzprogramm („auf breiter Front deregulieren“), sondern die direkte Ansprache der Interessen der – in einem ethnisch-kulturellen Sinne – deutschen Lohnabhängigen. Die Rechte kann, wie Höckes Sprache zeigt, hier eingängige Feindbilder nutzen: Unter „Außen“ kann das Publikum Geflüchtete ebenso verstehen wie die transnationalen Hegde-Fonds. Höcke geißelt in seiner Leipziger Rede „die zerstörerischen Kräfte des Raubtierkapitalismus“16 und wirft weiten Teilen der Linken vor, aufgrund ihrer migrationsfreundlichen Haltung der „sozialistische Wurmfortsatz des globalen Finanzkapitals“ zu sein.17 Auch die Dichotomie eines „oben“ und „unten“ kann in „Volk“ (im Sinne von ethnos) vs. „Establishment“ übersetzt werden. So wird dann aber auch die Ebene der Kritik verlagert – nicht die Machtverhältnisse in den Betrieben spielen so eine Rolle; ins Visier gerät stattdessen die neue industrielle Reservearmee. Kern dieser „antikapitalistischen“ Überlegungen ist die Formierung eines klassenlosen, jedoch homogenen Volkes, das – nach Höckes Willen – seine eigenen Kollektiv-Interessen erkennen soll: „Eine bloße Bevölkerung wird den Mächtigen niemals entgegenschleudern können ‚Wir sind das Volk‘ – und genau deswegen führen die internationalen Eliten gegen die Völker einen stummen, erbarmungslosen Krieg“.18 Höcke steht für eine Modernisierung des ethnopluralistischen Programms der Neuen Rechten. Schon 2014 verwendete er im Gespräch mit Kubitschek Begriffe wie „Globalisierungstotalitarismus“, gegen die eine „Verteidigung des Eigenen“ wichtig sei.19 Und die in Leipzig kritisierten „internationalen Eliten“ sind zentraler Teil dieser angeblich „totalitären“ Globalisierung. Aufschlussreich ist, dass sich bei Höcke die Feindbestimmung nicht nur gegen Migranten, sondern auch gegen das populäre Feindbild „Raubtierkapitalismus“ richtet. Dies folgt einer programmatischen Ausrichtung, die dem aktuellen neu-rechten Debattenstand entspricht. Benedikt Kaiser, Lektor des Verlags „Antaios“ und führend an der Programmdebatte des IfS beteiligt, hat in seinem Buch „Querfront“ diese „antikapitalistische“ Ausrichtung formuliert. Kaiser fordert eine Neue Rechte, an ihr ist. „Wahr“ wird hier nicht im Sinne von normativ oder sozial wünschenswert verwendet, sondern im Sinne von „einleuchtend“. Es kommt also darauf an, welche Ideologieelemente Anschluss an den vom Rechtspopulismus so oft beschworenen „gesunden Menschenverstand“ finden. 16  Björn Höcke: Widerstand gegen den Raubtierkapitalismus, S. 48. 17  ebd., S. 47. 18  ebd. 19  Götz Kubitschek: Björn Höcke, Stephan Scheil und die AfD – ein Doppelinterview (Folge 1), Sezession.de, 15.10.2014, https://sezession.de/46828/bjoern-hoecke-stefan-scheil-unddie-afd-ein-doppelinterview-1-teil (zuletzt eingesehen am 28.5.2019).

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(…) die sich von neokonservativ-neoliberalen Vorstellungswelten absetzt, die sich also gegen die Vorherrschaft des Westens, universale Islamfeindschaft, libertäre Marktgläubigkeit und konservative Kapitalismusaffirmation stellt; eine Neue Rechte, die ein fundiertes eigenes Bild vom zeitgenössischen Imperialismus entwirft und sich geopolitisch für eine ‚Pluralisierung der Hegemonien‘ ausspricht; eine Neue Rechte, die die soziale Frage wieder als ureigenes Sujet entdeckt.20

Bei Politkern wie Höcke, der nach eigenen Angaben sein „geistiges Manna“ aus Schnellroda bezieht, finden solche Vorgaben Anklang. Am Beispiel Höcke zeigt sich das ambivalente Verhältnis der AfD zum Neoliberalismus, der keineswegs eine einheitliche ideenpolitische Strömung darstellt. Auch wenn Teile des Grundsatzprogramms der AfD exakt aus dieser Tradition stammen, werden gerade die gesellschaftspolitischen Konsequenzen der Liberalisierung angeklagt. Die AfD ist zugleich für und gegen den (modernen) Neoliberalismus. Konkret meint das: Teile der AfD sind für eine neoliberale Deregulierung von Staat und Wirtschaft, insgesamt agiert die Partei aber gegen eine Liberalisierung der Gesellschaft, in der – mit Marx gesprochen – „alles Ständische und Stehende verdampft“ bzw. „alles Heilige entweiht“ wird und alle „festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen (…) aufgelöst“ werden. Das proklamierte politische Ziel ist die Wiedereinsetzung der „feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse“.21 Wenn – wie Helmut Kellershohn ausführt – das „konservative Familienbild“ ein „grundlegendes Moment des Neoliberalismus“22 ist und die klassische ordoliberale Tradition nach Wilhelm Röpke einen „außerökonomischen Gemeinschaftsbezug als normativen Überbau kapitalistischer ‚Wettbewerbsordnung‘ einfordert“,23 so hat der moderne Neoliberalismus in der Nachfolge von Röpke et al auch diese Regulierungsinstanzen aufgelöst. Wer die AfD präzise verorten will, sollte sie besser in die national- bzw. ordoliberalen Traditionen einreihen. Jener weiterentwickelte Neoliberalismus aber, der gerade in den 1990er Jahren handlungswirksam und in Deutschland von der Schröder-Sozialdemokratie und den Grünen durchgesetzt wurde, propagiert heute einen normativen Überbau, gegen den sich der Kulturkampf von rechts ja gerade richtet: Diversity, Multikultur, Genderpolitik, Patchwork-Familie etc. 20  Benedikt Kaiser: Querfront. Schnellroda: Antaios 2017, S. 84. 21  Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx/ Engels – Werke. Dietz Verlag, Berlin. Band 4, 6. Auflage 1972, S. 464. 22  Helmut Kellershohn: Nationaler Wettbewerbsstaat auf völkischer Basis. Das ideologische Grundgerüst des AfD-Grundsatzprogramms. In: ders, Wolfgang Kastrup (Hg.): Kulturkampf von rechts. AfD, Pegida und die Neue Rechte. Münster: Unrast 2016, S. 19. 23  ebd.

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Kulturkampf, „Kontrollverlust“ und die narzisstische Kränkung der deutschen Rechten

Welche Rolle spielen nun aber ökonomische, welche kulturelle Ursachen? In der Debatte über die Ursachen für den Erfolg des Rechtspopulismus hält ein Paper der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) nach einer Untersuchung der Einstellungen AfD-affiner Wählerinnen und Wähler fest: Gleichzeitig empfinden sie einen dreifachen Kontrollverlust: In persönlicher Hinsicht – mit Blick auf den technologischen Wandel und Zukunftsängste, in politischer Hinsicht – Politik und Institutionen werden als abgehoben empfunden und enttäuschen das Bedürfnis, gehört zu werden, und in nationalstaatlicher Hinsicht – der Staat kommt seiner Aufgabe nicht ausreichend nach, die eigene Bevölkerung zu schützen, wie z.B. im Fall der Aufnahme von Flüchtlingen.24

Dieser Befund lässt sich zuspitzen: Wer heute nicht die – gerade vom zeitgenössischen neoliberalen Diskurs propagierten – Werte wie Kreativität, Kosmopolitismus, Leistungsbereitschaft, Flexibilität oder Unternehmergeist teilt, gerät auch auf der Ebene von Lebensstilen in eine Defensive. Der kulturelle Klassenkampf von oben ist auch hier ein Kampf um die „feinen Unterschiede“, deren politische Bedeutung Pierre Bourdieu schon 1979 analysiert hat.25 HansJürgen Urban hat in seinen hegemonietheoretischen Überlegungen zum Verhältnis der Gewerkschaften zur Neuen Rechten bemerkt, dass die „rechtspopulistische Erzählung“ bereits „vorhandene Ressentiments“ aktiviert und „aus der latenten Demokratie- und Diversitätsablehnung eine soziale Bewegung“ formt. Seine Schlussfolgerung lautet: Der Rechtspopulismus ist also ungeachtet seiner heterogenen sozialen Basis auch ein Projekt regressiver Rechts-Eliten. Sie bieten Orientierungen an und fangen über die Aufwertung verunsicherter Individuen zu Subjekten einer Bewegung leerlaufende Kollektivitätsidentitäts-Bedürfnisse auf.26

Diese Diagnose ist stimmig. Bezeichnenderweise aber erwähnt Urban in seinem Text, der die sozio-ökonomischen Ursachen für den Aufstieg des 24   Richard Hilmer/Bettina Kohlrausch/Rita Müller-Hilmer/Jérémie Gagné: Einstellung und soziale Lebenslage. Eine Spurensuche nach Gründen für rechtspopulistische Orientierung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern. Working paper der Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung, Nummer 44 (Juli 2017), http://www.boeckler.de/ pdf/p_fofoe_WP_044_2017.pdf (zuletzt eingesehen am 26.4.2019), S. 6. 25  Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (frz. Ausgabe 1979). 26   Hans-Jürgen Urban: Kampf um die Hegemonie, S. 106.

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Rechtspopulismus hellsichtig analysiert, den – sowohl für den Kulturkampf der AfD als auch für die FPÖ oder die SVP so zentralen – Begriff „Islam“ oder „Islamismus“ kein einziges Mal. Dabei versammelt die AfD als massenwirksamer „politischer Kampfverband gut angesehener und situierter Professoren“ (Urban) die unterschiedlichsten Sozialmilieus aus eben diesem Grund – weil sich die traditionalistischen Milieus vom Professor bis hin zum Prekarier gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ wenden und Veto gegen die Auflösung auch kultureller Gewissheiten einlegen. In diesem Sinne ist der Rechtspopulismus eine klassen- und ständeübergreifende Bewegung von „Modernisierungsverlieren“.

Anschwellende Abgesänge

Zum Motiv des „Kontrollverlusts“ kommt aber noch ein wesentlicher Punkt, der eine Schärfung der Rede vom „Rechtsruck“ erforderlich macht. Denn so sehr auch der Neuen Rechten mit dem Wahlsieg der AfD ein neuer Resonanzraum eröffnet wird, so war jedenfalls die Gründung des IfS im Jahre 2000 kein Indiz für einen „Rechtsruck“, sondern die Reaktion auf eine gravierende Niederlage der Metapolitiker, die sich neu orientieren mussten. Und die größte Niederlage erlitt sie auf dem Feld der Geschichtspolitik – und genau deshalb ist der Tonfall von Björn Höcke („Mahnmal der Schande“) oder Alexander Gauland („Vogelschiss“) hier besonders schrill. Zur Erinnerung: 1995 planten Karlheinz Weißmann sowie der Historiker und Publizist Rainer Zitelmann eine Großveranstaltung zum vierzigsten Jahrestages des Kriegsendes, der in diesen Kreisen freilich nicht als „Tag der Befreiung“ gilt. Weißmann bilanzierte später im Gespräch mit Kubitschek: Die Veranstaltung war ja mit einem erheblichen Aufwand geplant worden. Voran ging eine Unterschriftenkampagne unter dem Titel ‚Gegen das Vergessen – 8. Mai 1945‘, die große Resonanz gefunden hat, und dann war es uns gelungen, Alfred Dregger, damals stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, als Hauptredner zu gewinnen. Aber unter dem Druck Kohls und seiner Entourage ist Dregger eingeknickt, und gleichzeitig hat Springer den WeltRedakteuren, die zusammen mit Zitelmann an der Initiative beteiligt waren, die Daumenschrauben angelegt. Schließlich musste Manfred Brunner als Hauptverantwortlicher die Veranstaltung absagen. Alles was dann noch kam, war im Grunde nur Abgesang.27

27  Karlheinz Weißmann: Unsere Zeit kommt. Karlheinz Weißmann im Gespräch mit Götz Kubitschek. Schnellroda: Antaios 2006, S. 63.

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Schon der kursorische Blick zeigt den Grund für die „Abgesänge“: Die deutsche Rechte ist gesellschaftspolitisch in der Defensive. Eine Defensive, die durch die Einführung der „Ehe für alle“ oder die Debatten über ein „drittes Geschlecht“ noch ergänzt werden kann. Schon alleine der Anteil der sog. „Menschen mit Migrationshintergrund“ in westdeutschen Großstädten zeigt die Realität einer Einwanderungsgesellschaft, die von der deutschen Rechten in ihrer Gesamtheit nie gewünscht wurde und die sich dennoch formiert hat. Und genau dieser sozio-kulturelle Prozess ist der Stachel all jener Fraktionen, die rechts von (oder innerhalb) der Union verortet werden können. Wir müssen uns das rechtspopulistische Milieu als Ansammlung politischer Subjekte vorstellen, die eine massive narzisstische Kränkung erlitten haben. Was immer auch gemeint ist, wenn vom „Verlust des Eigenen“ geraunt wird – faktisch heißen führende deutsche Künstler und Intellektuelle eben nicht mehr nur Grass, Böll oder auch Ernst Jünger, sondern – zum Beispiel – Feridun Zaimoglu oder Navid Kermani. Eine der international bekanntesten deutschen Schauspielerinnen ist Sibel Kekili (Game of Thrones). Die deutsche Bevölkerung lässt sich nur mit ideologischer Gewalt als ethnisch homogenes Volk definieren.

Die Falle der ökonomistischen Verkürzung

Welche Rolle spielt nun der Kulturkampf von rechts? – Nach dem Wahlerfolg von Donald Trump oder nach der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ wurde viel diskutiert über das Vordringen der Rechten auf das Terrain der Linken und Gewerkschaften und die Fehler einer kulturalistischen Linken, der identitätspolitische MinderheitenThemen wichtiger sind als die sozialen Interessen der (weißen, männlichen) Arbeiterklasse.28 Wer aber den empfundenen „Kontrollverlust“ hinreichend analysieren will, darf dabei weder die kulturelle Überdeterminierung der sozialen Frage absolut setzen, noch in die Falle der ökonomistischen Verkürzung tappen. Kultur

28  Eribon selbst, der in seinen biografischen Ausführungen Stuart Hall mehrfach zitiert, wäre übrigens ein schlechter Kronzeuge gegen die Identitätspolitik und für die Aufwertung linker Klassenpolitik, wenn er z.B. schreibt: „(…) warum sollten wir zwischen verschiedenen Kämpfen gegen verschiedene Formen der Unterdrückung wählen müssen? Wenn das, was wir sind, sich an der Schnittstelle mehrerer kollektiver Bestimmtheiten und also mehrerer ‚Identitäten‘ und Subjektivierungsweisen abspielt, warum sollten wir dann eher die eine als die andere in den Brennpunkt des politischen Interesses stellen?“

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und Ökonomie können nur in ihrem Wechselspiel, nicht aber losgelöst voneinander analysiert werden. In der Zeitschrift „Prokla“ heißt es hierzu richtig: Die Fiktion eines homogenen Klassensubjekts muss folglich zugunsten einer Analyse der historisch-spezifischen Zusammensetzung sozialer Klasse(n) samt der darin implizierten Hierarchien-, Konkurrenz- und Machtverhältnisse aufgegeben werden. Zugleich muss gefragt werden, ob sich im Erfolg der Neuen Rechten nicht auch eine Reaktion auf die im Ü bergang zum Postfordismus partiell erfolgten Aufstiege, z.B. von hoch qualifizierten Frauen oder Migrant*innen ausdrückt, fordern diese doch die jahrhundertealte Gewissheit heraus, dass sich die Dividende weißer Männlichkeit zuverlässig auszahlt.29

Die alten Gewissheiten sind hinfällig. Im Feindbild „1968“ verdichtet sich eine klassenübergreifende Frontstellung, die sich gegen eine bis heute fortgesetzte „Modernisierung“ (Gleichstellungsgesetze, Antidiskriminierungsgesetze, Diversity- Richtlinien etc.) richtet. Die Autorinnen und Autoren der HBS halten in diesem Kontext exemplarisch fest, dass nicht die „objektive soziale Lage die alleinige Ursache für die Wahl der AfD“ sei, „denn neben den einfachen Einkommensschichten wählen auch obere Einkommensschichten verstärkt AfD“. Zentraler Effekt für die Wahl der AfD sei, die „subjektive Wahrnehmung der eigenen Lebenslange“. Zum „Kontrollverlust“ gesellt sich das Gefühl der „Zurücksetzung“, das sich nicht zuletzt in den Bereichen der Lebensstile etc. widerspiegelt.30 Mit den sozioökonomischen Umbrüchen sind also auch Kulturkämpfe verbunden, etwa der Kampf der weißen, protestantischen und angelsächsischen blue collar worker um Verteidigung „ihrer“ Lebensart, ein prominentes Beispiel aus den letzten Jahren, wie dieser sich auswirkte, ist die jüngst abgesetzte TV-Serie Roseanne über das Leben der Arbeiterfamilie Connor. Vor diesem Hintergrund sind auch die „Paradoxien des Neoliberalismus“31 zentral, da diese auch die Programmatik der Sozialdemokratie bestimmten. Wenn Tony Blairs „New Labour“ beispielsweise mit dem Lob von „Cool Britannia“ ethnischkulturelle Barrieren beiseite räumen wollte, richtete sich die Partei im (neoliberalen) Sinne gegen alte strukturelle Schließungen. Parallel zum Lob der Diversität verläuft in solchen Fällen aber auch die fortgesetzte Entfesselung

29  Emma Dowling/Silke van Dyck/Stefanie Graefe: Rückkehr des Hauptwiderspruchs. Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der „Identitätspolitik“. In: Prokla, Nr. 188 (2017), S. 411-420, hier 414. 30  Richard Hilmer/Bettina Kohlrausch/Rita Müller-Hilmer/Jérémie Gagné: Einstellung und soziale Lebenslage, S. 6. 31  Mark Terkessidis: Interkultur. Berlin: Suhrkamp 2009, S. 34.

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eines auch gesellschaftspolitisch, in Fragen der Herkunft zudem farbenblinden Kapitalismus, der zuvor durch ethnische Schranken blockiert wurde. Die neue Sichtbarkeit einstiger „Minoritäten“ ist nicht nur ein Medienphänomen – sie ist im betrieblichen Alltag täglich erfahrbar. Gerade große Firmen haben in den letzten Jahren „Diversity“-Richtlinien entworfen, die sich nicht nur auf die Frage der Herkunft beschränken, sondern sich auch der Förderung von einstigen Minderheiten richten. „Come as you are“ lautete beispielsweise die Losung von Thyssenkrupp auf den Cologne-Pride-Paraden 2017 und 2018. „Diversity“ und klassische Kapitalverwertung funktionieren hier Hand in Hand. Und Losungen wie „arm, aber sexy“ wirken dabei wie eine unfreiwillige Persiflage der oben beschriebenen „neoliberalen“ Individualitätspolitik, die wenig Sinn für die Fragen sozialer Sicherheit hat. Auch in diesem Fall spricht die AfD für die Verlierer der politischen Entwicklung, wenn Alexander Gauland im Gespräch mit der „Zeit“ exemplarisch vermerkt: „Also, ich habe mit Homosexualität kein Problem, ich habe allerdings ein Problem damit, dass mir vorgeschrieben werden soll, wie ich mich künftig zu verhalten habe, etwa gegenüber Transsexuellen“.32 Fazit Rechtspopulismus speist sich, so sollte in diesem Diskussionsbeitrag gezeigt werden, nicht nur aus der Kritik des Euro, der „Rettungspakete“ oder aus den „Verwerfungen“ des Sozialstaats. Selbst „der“ Islam ist nur ein – wenn auch zentrales – Feindbild unter mehreren. An Gaulands Zitat zeigt sich der Kulturkampf des autoritären Populismus gegen die „progressive“ (Neo-) Liberalisierung der Bundesrepublik. Die neoliberale Aufwertung der minoritären Identitätspolitik hat ironischerweise eine „Identitäre Bewegung“ von rechts hervorgerufen, die gegen das Lob der hybrid-partikularen Identitäten revoltiert. Gauland sucht Zuflucht bei einem kulturellen Identitätspopulismus. Aus seinen Worten spricht der kulturelle „Kontrollverlust“ desjenigen, der das alte deutsche „Eigene“ nicht mehr wiedererkennt und sich zudem sprachpolitischen Reglementierungen unterworfen sieht, die mit der neoliberalen Aufwertung des (abweichenden) Subjekts einhergehen. Und aufgrund der „politisch korrekten“ Sprachpolitik fühlen sich Gauland und seine Epigonen als Zensuropfer, die einen Freiheitskampf gegen eine liberale Berliner Republik führen, die ihnen im wahrsten Sinne des Wortes zu „bunt“ geworden ist. Die 32  Alexander Gauland: „Hitler hat den Deutschen das Rückgrat gebrochen“. In: Die Zeit, Ausgabe 17/2016.

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kulturkämpferische Revolte des autoritären Populismus in Deutschland ist also zentral eine Revolte gegen die progressiven Aspekte des Neoliberalismus. Die Neue Rechte, die Einfluss auf das Programm des autoritär-populistischen AfD nimmt, startet nach Jahren in der Defensive einen neuen Vorstoß. Die „Flüchtlingskrise“ war hierfür ein Katalysator. Und das Vordringen einer „sozialpatriotischen“ AfD auf das Feld der Linken und Gewerkschaften zeigt die neuen Herausforderungen. Wer aber aktuell von „Rechtsruck“ spricht, sollte nicht übersehen, dass die deutsche Rechte – bzw. der traditionalistische Block – jahrelang in der Defensive agiert hat.

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Europa, Tradition und die soziale Frage. Einblicke in die Kulturarbeit der Neuen Rechten Thomas Wagner Hauptbahnhof Dresden. Ein heißer Dienstagnachmittag im Juni 2017. Alles geht heute ein bisschen langsamer. Ich komme mit dem Zug aus Berlin, betrete den Bahnsteig und schaue mich um. Er hatte angekündigt, mich abholen zu wollen. Er, das ist Philip Stein, Sprecher der Deutschen Burschenschaft, Mitgründer und Vorsitzender des Vereins „Ein Prozent“. Ein junger Vertreter der radikalen Rechten. Der Bahnsteig wird nur schwach frequentiert, aber ich kann Stein nicht entdecken. Sein Verein, der sich selbst patriotisch nennt, wurde 2016 bekannt, als seine Mitglieder bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt eine flächendeckende Wahlbeobachtung organisierten. Die war damals Thema in vielen Nachrichtensendungen. Selbst erklärtes Ziel war es, Unregelmäßigkeiten beim Urnengang aufzudecken. Befürchtet wurde, dass die AfD benachteiligt werden könnte. Im Fernsehen wurde ausführlich über die Aktion berichtet. Ein PR-Erfolg für Stein und seine Mitstreiter. Jetzt sehe ich ihn am anderen Ende des Bahnsteigs. Kurzer Schnitt, modisch gestutzter Bart, halblange Hose und ein Poloshirt mit dem Emblem des kroatischen Fußballvereins HNK Hajduk Split. Die Mannschaft ist in der rechten Szene beliebt. Stein ist ein kräftiger, aber sportlicher junger Mann, Mitte bis Ende 20. Er kommt mir entgegen, freundliche Begegnung mit Handschlag. „Ein Prozent“, der Verein, beschäftigt sechs Honorarkräfte. Stein kümmert sich um den Blog des Vereins, plant Aktionen und koordiniert die Mitarbeiter. Etwa 30 Stunden Arbeit steckt er in der Woche hinein. Sein Studium ist bei diesen ganzen Aktivitäten etwas in den Hintergrund gerückt. Seit kurzem ist er zudem unter die Büchermacher gegangen. Mit dem von ihm im September 2016 gegründeten Jungeuropa-Verlag will er frischen Wind in die rechte Szene bringen. Darüber will ich mit ihm reden. „Ich habe eine bibliophile Passion und möchte Bücher machen, die von den richtigen, von non-konformen, denkenden Leuten gelesen werden“, erläutert er mir in einem Café am Altmarkt. „Von Menschen, die auf der Suche nach ihrer eigenen politischen Ausrichtung sind.“ Jungeuropa. Das klingt ungewöhnlich für einen Verlag, der rechts außen zu verorten ist. Hier vermutet man eher Nationalisten, nicht Anhänger der Europa-Idee. Was hat es mit dem

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_023

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Namen auf sich? Stein: „Der Verlag soll die Jugend ansprechen und in seiner Hauptausrichtung europäisch sein.“ Der Name knüpfe an den von Giuseppe Mazzini in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten Geheimbund Junges Europa an. Dem Revolutionär ging es um die Einigung der in viele Staaten zersplitterten italienischen Nation, die Befreiung der Völker von der Fürstenherrschaft und ihr Zusammenwachsen. Das ist lange her. Wie positioniert sich jemand wie Stein in der Gegenwart? Er ist gegen die von Brüssel diktierte Überregulierung der EU, das Europa der Bürokraten. Das sind die rechtspopulistischen Parteien auch. Doch anders als die AfD, der Front National oder Geert Wilders, glaubt Stein nicht, dass die anstehenden Probleme durch eine Rückkehr zum abgeschotteten Nationalstaat gelöst werden könnten. Charles de Gaulles Formel vom Europa der Vaterländer reiche nicht, meint er. Die Rechte muss begreifen, dass die Probleme, die sie gerne lösen möchte, nur europäisch zu handhaben sind. Stein nennt das Beispiel der Energiepolitik: „Was bringt es, wenn Deutschland aus der Atomenergie aussteigt und in Tschechien dafür fünf Meiler an die Grenze gesetzt werden?“ Er hat nichts übrig für eine Politik, die innerhalb Europas Feindbilder aufbaut. Er sagt: „In Frankreich ist es beispielsweise Marine le Pen, die gegen Deutschland schießt.“ Und auch den Ausdruck „Pleitegriechen“, der vor einiger Zeit in Deutschland die Runde machte, schätzt er nicht. Dass es Völker gibt, die kollektiv faul seien, kann er sich nicht vorstellen. Bei allen Unterschieden, die es im Arbeitsethos durchaus geben könne. Stein ist überzeugt, die starke Armut und die große Jugendarbeitslosigkeit, die in Staaten wie Griechenland oder Portugal herrscht, sei das Ergebnis einer verfehlten Politik der EU und der deutschen Bundesregierung. Stein ist kein Anhänger des Wirtschaftsliberalismus. Er stört sich an der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich in Europa. Die soziale Idee müsse in der Politik im Vordergrund stehen. Die Schlüsselindustrien, die Energiewirtschaft und die Kommunikationsinfrastruktur gehörten in die öffentliche Hand oder sollten staatlich reguliert werden. Daneben könne es marktwirtschaftliche Elemente geben. Das Ziel einer rechten Bewegung müsse es sein, eine eigene, eine positive Europavision zu entwickeln, die an das gemeinsame kulturelle Erbe anknüpft. Was versteht er darunter? Da fiel ihm eigentlich nicht sehr viel ein. Er sagte: „Die gegenseitigen Einflüsse in der Musik, die Italienreise von Goethe.“ Zum Islam: „Macht es Sinn, den Islam hierbei auszuschließen kategorisch?“, habe ich ihn gefragt. Gab es im Mittelalter nicht einen großen Einfluss islamischer Gelehrter auf die Entwicklung der Wissenschaft in Europa, und war nicht Goethes west-östlicher Divan auch eine Verneigung vor der islamischen Kultur? Jede Religion lasse sich in gewisser Weise auslegen, meint Stein. Anders als es

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bei Pegida geschehe, würde er deshalb nicht einfach sagen, der Islam sei keine Religion, sondern eine Ideologie. Schwierigkeiten gebe es momentan mit einer politisch sehr radikalen Auslegung dieser Religion, nicht jedoch mit dem Islam als solchem. Seinen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Kultur will er nicht gänzlich abstreiten, hält ihn aber für vergleichsweise gering. In seinem Verlag, dem Jungeuropa-Verlag, will Stein vornehmlich das veröffentlichen, worauf er selbst Lust hat. Dabei gehe es hauptsächlich um Übersetzungen aus dem Ausland. Gerade ausgeliefert, also im Sommer 2017, wurde Alain de Benoists „Kulturrevolution von rechts“.1 Ein Klassiker neurechter Theorie, der 1985 zum ersten Mal auf Deutsch erschien. Die Kernaussage, ganz knapp und platt zusammengefasst, lautet, bevor in liberalen Demokratien an eine politische Machtübernahme zu denken sei, müsse zunächst das kulturelle Klima in Richtung der eigenen Werte und Ziele verändert werden. Benoist nennt das Metapolitik. Er knüpft dabei zum Teil an Überlegungen des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci an, der sprach von der Eroberung der kulturellen Hegemonie. Dazu braucht es auch Zeitschriften, Denkfabriken und Verlage. Aus rechter Perspektive so einen, wie ihn Stein gerade zu stemmen versucht. Gestartet hat er mit einer Crowdfunding-Kampagne. Etwa 5.000 bis 6.000 Euro seines privaten Geldes stecken in dem Projekt. Den Gewinn möchte er in den Verlag reinvestieren. Aufgewachsen ist er in einer nordhessischen Kleinstadt in der Nähe von Kassel. Nach dem Abitur studierte er in Marburg zunächst Jura, dann Geschichte. Er trat in die Burschenschaft Germania ein und machte in den Semesterferien ein Praktikum bei dem von Felix Menzel geleiteten rechten Jugendportal „Blaue Narzisse“ in Dresden. Dort lernte er seine heutige, oder damalige, Verlobte kennen. Er zog zu ihr und strebt nun per Fernstudium einen Bachelor in Kulturwissenschaften an. Stein zählt sich selbst zur Generation Erasmus. Er sagt: „Wir haben heute Möglichkeiten, die unsere Vorgängergenerationen nicht nutzen konnten. Es gibt die schnellen Transportwege, die technisch vereinfachte Kommunikation. Viel mehr als früher gibt es die Möglichkeit herumzureisen. Menschen aus anderen Ländern kennenzulernen, sich untereinander zu vernetzen und auf diese Weise ein europäisches Bewusstsein herzustellen.“ Diese Chancen würden aber zu wenig genutzt. Ein Shoppingausflug nach Paris, das sei noch kein Kennenlernen von Kultur. Gerne würde er es sehen, wenn junge Rechte, nicht Liberale und Linke nur, auf die Straße gehen würden, um in Deutschland für Europa zu demonstrieren. Doch woher will er die Ideen für die von ihm geforderte Europavision nehmen? 1  Alain de Benoist: Kulturrevolution von rechts: Gramsci und die Nouvelle Droite. Dresden: Jungeuropa Verlag 2017.

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Ganz weit rechts gäbe es historische Ansätze. Mir fallen die internationalen Freiwilligenverbände der Waffen-SS ein. An die will Stein aber ausdrücklich nicht anknüpfen. Ich bin ein wenig erleichtert. Inspirieren lässt er sich von Autoren wie Henning Eichberg, den französischen Schriftstellern Dominique Venner und Robert Brasillach. Das sind Autoren, die zeitweilig eine mehr oder weniger – meistens mehr – größere Nähe zu faschistischen Ideen aufwiesen, nicht unbedingt zum deutschen Faschismus. Es sind Bücher dieser Autoren – alle drei sind mittlerweile verstorben –, die er verlegen will, neben anderen. Sein Hauptkriterium für eine Publikation: Die Schrift muss radikal sein und auf eine grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse zielen. Die erste Veröffentlichung des Jungeuropa-Verlags war „Die Unzulänglichen“,2 ein Roman von Pierre Drieu La Rochelle, der in den 1930er Jahren in Frankreich entstanden ist. Der Autor, ein Dandy und späterer Nazikollaborateur, war eine schillernde Figur. Schlimmer als den Kommunismus fand er den durch die USA verkörperten westlichen Liberalismus. Als er 1945 den Freitod wählte, um sich damit einer Verhaftung und der von ihm erwarteten Hinrichtung zu entziehen, sprach er sich für Stalin aus. Zu Lebzeiten zählte man ihn zu den führenden Intellektuellen seines Landes. Anfangs hatte er sich in surrealistischen Kreisen bewegt, war mit linken Schriftstellern wie Louis Aragon3und André Malraux4befreundet. In Frankreich wurde eine Teilausgabe seines Werkes 2012 in die renommierte Klassikerreihe des Verlages Gallimard aufgenommen, in Deutschland erschien seine Erzählung 2016 unter dem Titel „Die Komödie von Charleroi“ bei Manesse. Und jetzt bringt Philip Stein den großen Roman heraus. Der Kleinverleger interessiert sich für das literarische Werk, aber auch für die politischen Visionen Drieu La Rochelles. Dieser habe die soziale und ganz massiv die Europafrage aufgeworfen, erläutert er. Der Schriftsteller Dominique Venner habe daraus in seinem 1962 veröffentlichten Buch „Für eine positive Kritik“5 eine politische Handlungsanweisung gemacht. Der Text sprach junge Leute an, die sich von den etablierten Konservativen und von den Altnazis abzugrenzen versuchten und sich damals als Neue Rechte zu begreifen begannen. Alain de Benoist, der heute Ideen vertrete, so Stein, die für die Rechte untypisch seien, sieht er ebenfalls in dieser ideologischen Linie und auch die frühen Arbeiten des am 22. April 2017 verstorbenen Henning Eichberg, dem legendenumrankten Veteranen der Neuen

2  Pierre Drieu La Rochelle: Die Unzulänglichen, Dresden: Jungeuropa Verlag 2016. 3  Louis Aragon (1897-1982). 4  André Malraux (1901-1976). 5  Dominique Venner: Für eine positive Kritik. Dresden: Jungeuropa 2017.

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Rechten in Deutschland, der Dominique Venner, Jean Marbire6 und Alain de Benoist 1966 persönlich kennenlernte, als er für die „Nation Europa“ ein Zeltlager der Jungen Rechten in der Provence besuchte. Chefredakteur der Zeitschrift, die mit französischen Geldern finanziert wurde, war der ehemalige SS-Offizier Arthur Ehrhardt,7 der in Eichbergs früher politischer Sozialisation eine wichtige Rolle spielte. Der Henning Eichberg, den ich im Herbst 2016 in seinem dänischen Wohnort Odense besuche, hat sich von der Rechten aber seit langem verabschiedet. Damit meine ich jetzt vor allem die politische Zugehörigkeit, nicht unbedingt jeden Gedanken, den er hatte. Er versteht sich als Linker. Sein politisches Hauptbetätigungsfeld ist der Kulturausschuss Socialistisk Folke Partei, eine Schwesterpartei der Linken in Deutschland, die von 2011 bis 2014 als Koalitionspartner der Sozialdemokratie an der dänischen Regierung beteiligt war. In dieser Zeit, so Eichberg, sei die Partei leider viel zu reformistisch geworden. Die Vorliebe für radikale Positionen ist ihm also geblieben – bei anderem Vorzeichen. Heute sind es junge rechte Aktivisten wie Philip Stein, die nach Frankreich, Spanien oder Italien schauen, um sich inspirieren zu lassen. Der Blog des Jungeuropa Verlages berichtet regelmäßig über rechtsradikale Jugendbewegungen, wie Hogar Social in Spanien und CasaPound in Italien, die durch Hausbesetzungen und gezielte Aktionen gegen staatlich forcierten Sozialabbau und eine verfehlte Wohnungspolitik auf sich aufmerksam machen. Man macht Einwanderer und Flüchtlinge für die Misere in der Regel zwar nicht verantwortlich, schließt sie aus der proklamierten nationalen Solidarität jedoch aus. Stein gefällt, dass die rechten Gruppen in diesen Ländern weitaus sozialer ausgerichtet sind als in Deutschland. Italienische Jugendliche müssten teilweise noch bis zum Alter von 25 Jahren bei ihren Eltern wohnen. Er sagt: „Das bedeutet, dass sie raus aus der Bude müssen und Freizeitangebote, wie sie von CasaPound gemacht werden, gerne annehmen. Da gibt es Fußballvereine und Konzerte. Mehr als eine politische ist es eine kulturelle Bewegung, die politisch aufgeladen ist. Die romanischen Bewegungen sind lockerer und alternativer.“ Aber sie bezeichnen sich selbst – zumindest was CasaPound betrifft – als Faschisten des neuen Jahrtausends Beim Gedanken daran wird mir mulmig. Will Stein den Faschismus zurück? „Der Nationalsozialismus war eine totalitäre Bewegung, die Deutschland geschadet hat. Das ist nichts, an das ich anknüpfen möchte.“ Er würde sich auch nicht auf den Faschismus von Mussolini berufen. „Warum nicht?“, frage ich 6  Jean Marbire (1927-2006). 7  Arthur Ehrhardt (1896-1971).

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ihn. „Weil der Faschismus seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurde“, lautet seine Antwort. Was meint er damit? Der Faschismus sei nach außen zu aggressiv, zu imperial gewesen, sagt Stein. „Er hat es nicht geschafft, den Sozialismus, den er angestrebt hat, zu verwirklichen. Er hat es nicht geschafft, das ursprünglich angedachte Europaideal zu verwirklichen. Dem Faschismus ist es nicht gelungen, den Nationalismus so weit zurückzustellen, als es wünschenswert gewesen wäre. Weder die Solidarität unter den europäischen Völkern, noch die im eigenen Volk hat er konsequent durchgesetzt.“ In Sachen Europaidee und soziale Frage hat Stein einen Mitstreiter, der vor allem ideologisch konzeptionelle Arbeit leistet. Er heißt Benedikt Kaiser. Der nur wenige Jahre ältere Politikwissenschaftler arbeitet als Verlagslektor in dem von Götz Kubitschek8 – der Name ist mittlerweile relativ bekannt – geleiteten Verlag „Antaios“. Mir ist Kaiser dadurch aufgefallen, dass er in seinen Texten immer wieder linke Theorien und Argumente aufgreift. Auf eine kluge Weise. Offenbar nicht aus taktischen Überlegungen heraus – zumindest nicht nur –, sondern weil sie ihn partiell auch inhaltlich überzeugen. Gemeinsam – also Stein und Kaiser – wollen sie die Rechte auf einen sozialeren Kurs bringen. Ich verabrede mich mit Kaiser zu einem Telefonat. Er hält viel von der linken Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen, von ihren außenpolitischen Analysen, aber auch von ihrem sozialen Engagement. „Sie hat gesagt, wenn wir über Menschenrechte reden, dann muss es auch um die sozialen Menschenrechte gehen, um Deutschland als Niedriglohnland, die Kluft zwischen Arm und Reich, um den freien Zugang zur Bildung, wirkliche Chancengleichheit“, erläutert er. Ihm gefällt, dass die Politikerin kritisiert, wie das Konzept der Menschenrechte missbraucht wird, um westliche Interventionskriege zu führen und eigene geostrategische Interessen durchzusetzen. Ich bin verblüfft. Ein radikaler Rechter, der eine Politikerin der Linken ausgerechnet dafür schätzt, dass sie sich vehement für Menschenrechte einsetzt. Das passt nicht in das übliche Klischee. Die sind Kaiser sowieso egal. Er schert sich – wenn es um die Gesellschaftsanalyse geht – wenig um ideologische Lagergrenzen. Er denkt, wie er es ausdrückt, problemorientiert. Die gegenwärtige Hauptaufgabe aller „gut meinenden politischen Kräfte“ liege darin, „die zu schützende Demokratie aus der Verzahnung mit dem Finanzkapitalismus zu lösen und sie wieder als diejenige politische Ordnung herzustellen, die ihre Legitimität, ihr Machtmonopol, ihre Daseinsberechtigung aus der Souveränität des Volkes ableitet.“

8  Götz Kubitschek (*1970).

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Benedikt Kaiser9 stammt aus Nordbayern, wohnt heute in einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt in der Nähe von Halle. Seine Freunde stammen nicht alle aus der rechten Szene. Einige interessierten sich kaum für Politik, andere wählten eher links. Auch Migranten sind darunter. Anfangs, sagt er, war er nationalistischer orientiert als heute. Schon immer habe er sich für Grenzgänger interessiert, „linke Leute von rechts“. Auch der berüchtigte Otto Strasser10 war darunter, ein Politiker, der zunächst dem „linken“ Flügel der NSDAP angehörte, dann 1930 infolge eines Richtungsstreits aus der Partei austrat und die Nazis aus dem Exil heraus bekämpfte. Hinzu kamen Ernst Niekisch11 und Autoren der sogenannten Konservativen Revolution, die eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Linksintellektuellen wie Ernst Toller,12 Kurt Tucholsky13 oder Carl von Ossietzky14 suchten. Das ist so ein bisschen sein Ideal, dass das möglich sei, so eine geistig-ideologische Auseinandersetzung zu führen. Kaiser studiert linke Theorie, um Argumente und Strategien zu entwickeln, die das rechte Lager stärken. Dabei spart er auch nicht mit Kritik an einigen zentralen Mythen, die dort gepflegt werden. Er distanziert sich vom Antisemitismus vieler rechter Kapitalismuskritiker und weist in seinem 2017 erschienenen Buch „Querfront“15 Verschwörungstheorien zurück, nach denen die Zuwanderung nach Europa auf „den Masterplan irgendwelcher Multikultis“ zurückgehe, mit denen die Bevölkerung ausgetauscht werden solle. In seinen Augen gibt es vielmehr einen ursächlichen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise, imperialistischen Kriegen und den gegenwärtigen Fluchtbewegungen. „Wer glaubt, man müsse nur die Einwanderung stoppen – falls das überhaupt gelingen kann – und dann wäre alles gut, hängt einer irrigen Annahme an“, sagt Kaiser. Wenn die Kritik an der Zuwanderung nicht an eine Kritik an den Kapitalismus gekoppelt sei, könne man sie auch sein lassen. Stünde der Autor mit seinen Ideen alleine, könnte man sie vielleicht als Kuriosum vernachlässigen. Es gibt ja immer Leute, die aus der Reihe tanzen. Doch Kaiser erntet zwar Widerspruch, ist aber in seinem Milieu keineswegs isoliert. Ich zitiere Götz Kubitschek, seinen Chef: „Es mehren sich in der jungen, man könnte auch sagen neuesten Rechten, Stimmen, die von der Enteignung und Verstaatlichung reden, damit die Ausbeutung derer, die nur ihre 9  Benedikt Kaiser (*1987). 10  Otto Strasser (1897-1974). 11  Ernst Niekisch (1889-1977). 12  Ernst Toller (1893-1939). 13  Kurt Tucholsky (1890-1935). 14  Carl von Ossietzky (1889-1938). 15  Benedikt Kaiser: Querfront. Schnellroda: Antaios 2017.

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Arbeitskraft und Zeit anzubieten hätten, beendet würde.“ Hier geht es gegen seinen Mitarbeiter Kaiser und dessen Unterstützer, ohne deren Namen zu nennen. Der Verleger selbst, also Kubitschek, gibt sich als Anhänger der Idee einer sozialen Marktwirtschaft zu erkennen. Gegenwärtig zieht man in der politischen Praxis jedoch an einem Strang. Es ist der von Kubitschek mit initiierte Verein „Ein Prozent“, dem Philip Stein vorsitzt, der sich im vergangenen Herbst mit einer Videokampagne zur Wahl rechter Betriebsräte für eine soziale Ausrichtung in der AfD stark machte und dafür auch mit Oliver Hilburgers rechter Gewerkschaftsinitiative „Zentrum Automobil“ kooperierte. In der eigens dazu publizierten Gewerkschaftszeitung kommt Kaiser ebenso zu Wort wie der von Links nach Rechts konvertierte Compakt-Chefredakteur Jürgen Elsässer16 und der Politiker Björn Höcke. Mit 13,2 Prozent konnte das „Zentrum Automobil“ im Daimlerwerk in Untertürkheim bei den Betriebsratswahlen im März 2018 nur einen kleinen Erfolg erzielen und stellte sechs statt bisher vier Mandate. Im Standort Sindelfingen gab es zwei Mandate, in Rastatt drei. Es ist zunächst ein bescheidener, aber ausbaufähiger Ansatz, um den mit der AfD sympathisierenden Teil der Arbeiterschaft – und wir haben von Klaus Dörre gehört, dass der im Osten Deutschlands verdammt groß ist – zu organisieren. Ich komme zum Schluss. 2016 hatte ich mit Henning Eichberg über die Schwärmerei heutiger junger Rechtsintellektueller für ein sozialistisches Europa der Europäer gesprochen. Seine Einschätzung lautete: „Ich habe den Eindruck, wenn so etwas heute in neuer Form aufkommt, dann bekommen wir ein Problem. Lauter junge Leute, die eigentlich zu uns, zur Linken gehören, könnten das zu ihrer Sache machen.“ Damit schließe ich und vermute, ich habe für einige Irritationen gesorgt, was die inhaltlichen Aussagen betrifft.

16  Jürgen Elsässer (*1957), früher linker, heute rechtsextremer Journalist.

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Über mein Romanprojekt: Das Singen der Sirenen Michael Wildenhain Behandeln will – und soll – ich in den folgenden Ausführungen die Frage, wie sich über den aktuellen Rechtsradikalismus resp. das Erstarken der Neonazis nach 1990 literarisch schreiben lässt. Als Beispiel dient mein im letzten Herbst erschienener Roman „Das Singen der Sirenen“. Bevor ich auf den Roman eingehe, zwei Anmerkungen: 1. Mich interessieren, wenn ich in einem Roman oder einer Erzählung einen politischen Gegenstand thematisiere, die Akteure – ein Grund, weshalb ich mit der unterdessen weit verbreiteten Täter-Opfer-Dichotomie wenig anfangen kann. Akteure sind Täter. Opfer sind polit-literarisch oft kaum ergiebig, weil sie etwas erleiden, statt etwas zu tun. Akteure sind im behandelten Kontext entweder Nazis (auch ein interessantes Sujet) oder diejenigen, die sich ihnen entgegenstellen. In der Vorgeschichte des fraglichen Romans handeln militante – teils sehr militante – Antifaschisten. Am Ende der Geschichte schließt sich der politische Bogen insofern, als das neuerliche Erstarken der völkischen Bewegung am Beispiel einer frühen Pegida-Demonstration in den Fokus rückt. Darauf komme ich zurück. 2. a) In der Forderung, ein polit-gesellschaftliches Sujet in der „schönen Literatur“ zu verhandeln, werden häufig zwei Aspekte verwechselt: das Setting (besser: die Werkwirklichkeit) und die Geschichte, die sich gemäß einer Dramaturgie entfaltet. Das Ansiedeln einer Geschichte innerhalb eines bestimmten Milieus, also einer spezifischen Werkwirklichkeit, ist eine notwendige Bedingung, um über bestimmte Gegenstände zu schreiben, jedoch keine hinreichende. b) Damit ein Text Literatur wird, wäre es – im Sinne progressiver, über den bürgerlichen Roman hinausweisender Literatur – nötig, einen kollektiven Protagonisten zu etablieren. Ohne zwingend (oder zumindest mit allergrößter Wahrscheinlichkeit) albern zu wirken, lässt sich in der heutigen Zeit der extremen Defensive aller linken Kräfte kein kollektiver Protagonist etablieren. *  Der vorliegende Text ist ein Wiederabdruck und entstammt dem Band “Geschichte und Individuum. Zum literarisch-zeitgeschichtlichen Werk von Michael Wildenhain”. Mit freundlicher Genehmigung des Verbrecher Verlages.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_024

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Über mein Romanprojekt: Das Singen der Sirenen

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c) Der Roman „Das Singen …“ beginnt, würde man ihn chronologisieren, mit einem historischen Datum: der großen antifaschistischen Demonstration gegen die von der NA (Nationalen Alternative) besetzten Häuser in der Lichtenberger Weitlingstraße am 23. Juni 1990. Hier ist, zum letzten Mal im Buch, ein kollektives „Wir“ auf der Straße aktiv. In den darauf folgenden Episoden in der Berliner S-Bahn klingt das „Wir“ immerhin noch an. Die Handelnden sind noch nicht so sehr individuell konfigurierte Charaktere als vielmehr exemplarische Typen. Schon diese erste große Rückblende, der zentrale Abschnitt der Vorgeschichte, endet mit einer persönlichen Niederlage. d) Im Folgenden gestaltet der Roman seine Erzählung, wenn auch sprachlich nicht unbedingt konventionell, orientiert an den zentralen Charakteren und entfaltet die Geschichte entlang einer klassischen Dramaturgie. Zum Roman: 3. Um zum Gegenstand – literarisches Schreiben über Rechtsextremismus – zu kommen, muss ich etwas ausholen. Vielleicht nicht die Grundidee, aber doch die erste Idee zum Roman fußt in einer schmerzlichen Erfahrung, die für mich aus den Westberliner Hausbesetzungen Anfang der 1980er Jahre erwachsen ist. In sozialen Bewegungen, die einigermaßen radikal vorgehen und eine gewisse Militanz entfalten, kommt es gewöhnlich zu einer Verbrüderung der Klassen. Egal, wie unterschiedlich die klassenspezifische Herkunft jeweils sein mag, egal, wie wenig fix, wie fluide sich Klassenzugehörigkeit heutzutage darstellt: Wenn die Risiken im Zuge eines militanten Vorgehens geteilt werden, verschwimmen die Klassengrenzen in der gemeinsamen Aktion. In den erwähnten Hausbesetzungen waren das vor allem die nichtgarantierten Klassen der studentischen Milieus und des Subproletariats. Fraglos sind letztere kompromiss- und bedingungsloser in ihrem Vorgehen; und fraglos sind erstere in aller Regel diejenigen, die – ganz wie in der bürgerlichen Gesellschaft – die relevanten Meinungen machen. Wenn jedoch eine Versammlung von annähernd hundert Besetzern pauschal zur „kriminellen Vereinigung“ erklärt wird, ist die klassenspezifische Herkunft der Einzelnen nachrangig. Etwas anders, mit einer leichten Weiterung formuliert: Militantes Vorgehen gegen den herrschenden kapitalistischen Zustand ist die Geburtsstunde sowohl einer gelebten Solidarität – als auch des Verrats. Der Verrat beginnt notwendig, und ohne dass die Einzelnen im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich zu machen wären, nachdem die Dynamik

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Michael Wildenhain

des Geschehens abgeflaut und eine grundlegende Änderung der Verhältnisse nicht erreicht worden ist. Die einen beenden ihr Studium, die anderen kehren gezwungenermaßen in die Niederungen der kapitalistischen Gesellschaft zurück. War es für die einen vorübergehendes Abenteuer, sich illegal Geld und anderes Vermögen zu verschaffen, wird es für die anderen nunmehr zu einem erheblichen Verlust an Lebensqualität, diese Praxis nicht fortsetzen zu können. Diesen Verlauf versuche ich, im Roman „Das Singen der Sirenen“ fruchtbar zu machen. Martina Rabietz und Jörg Krippen lernen einander während der Antifa-Zeit Anfang der 1990er Jahre kennen und lieben. Später wird sie immer wieder in verschiedenen Lagern von Supermärkten arbeiten, während er versuchen wird, erst als Dramatiker und anschließend als Literaturwissenschaftler zu reüssieren. 4. Warum der Kampf gegen die völkische Revolte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre? Weil die Ereignisse zeitlich und dramaturgisch gut in den Ablauf passen. Weil sie wieder aktuell geworden sind (vgl. Pegida). Weil ich das Geschehen kenne. Weil ich nicht erneut über die Hausbesetzung oder die späten 1970er Jahre schreiben wollte. Weil ich mit einem Anti-AKW-Roman nach ca. 50 Seiten stecken geblieben war. Und weil ich, ähnlich wie mein Protagonist Jörg Krippen, versucht habe, die antifaschistische Anstrengung der frühen 1990er Jahre auf verschiedene Weise in dramatische Versuche zu überführen. 5. „Das Singen der Sirenen“ ist ein vielschichtiger Roman. Ich werde mich auf die politischen und gesellschaftlichen Aspekte beschränken. Dazu ist es nötig, mit den gesellschaftlichen Aspekten zu beginnen. (Außerdem geht es um künstliches Leben in der Literatur und in der Medizin- bzw. Reproduktionstechnologie, um die Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, um Fragen leiblicher Abstammung, um Väter und Söhne sowie um die Liebe. Und vielleicht auch noch um die Frage, inwieweit es Vor- oder Nachteil ist, weiß zu sein oder nicht.) 6. „Das Singen der Sirenen“ ist ein Roman, der verschiedene Segmente der neuen Klassengesellschaft thematisiert. „Die Berliner“ sind eine im Zerfall begriffene Kleinfamilie mit einem noch nicht 15-jährigen Sohn. Jörg Krippen, Mitte vierzig, akademisch prekär, versucht den Aufstieg zwar noch, wird aber – er weiß es längst – ziemlich sicher

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Über mein Romanprojekt: Das Singen der Sirenen

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scheitern. In London, wo er die nächste befristete Stelle antritt, wird sich zeigen, dass er – im Gegensatz zu seiner früheren Genossin und jetzigen Frau Martina/Sabrina, die lang schon gescheitert ist – aufgrund seiner Potentiale noch eine Chance haben könnte: Es wird ihm ein Angebot unterbreitet werden, das auszuschlagen er sich eigentlich keinesfalls leisten kann. „Die Londoner“ sind eine – durchaus verzweigte – Rumpffamilie mit indisch-bengalischem Hintergrund, die zwar diverse Handicaps zu bewältigen hat, aber über ein zumindest dreifaches Surplus verfügt: das Nutzen des familiären Zusammenhangs, sobald Bedarf besteht; den unbedingten Aufstiegswillen der dazu Befähigten; und besonders: das Anerkennen der Realität, das Favorisieren der faktischen Wirklichkeit (Naturwissenschaft/Technik) statt deren Interpretation (Geisteswissenschaft). Der Kern dieser Rumpffamilie sind: Mae und deren deutlich älterer Cousin Kali, Vertreter der künftigen wie auch der aktuellen (upper) middle class, werden Jörg Krippen auf mehreren Ebenen in Versuchung führen („Sirenen“ – der Titel!), sich gegen die eigene moralische Integrität und für das Materielle (inklusive der noch nicht 30-jährigen Mae) zu entscheiden. Am Ende wird er der Versuchung widerstehen, obwohl materiell alles dafür spricht, ihr zu erliegen – warum? Vielleicht hat Jörg Krippen ein schlechtes Gewissen, vielleicht möchte er fortan schlicht nicht mit einem Verräter (sich selbst) zusammenleben? – Ein Dilemma, das in seiner Tragweite vertieft wird durch die externalisierten Dämonen, seine Söhne. Denn indem er sich für Berlin/Leon entscheidet, wird er London/Raji (der ebenfalls sein Sohn sein soll) verraten müssen (und vice versa: ein nicht auflösbarer Konflikt, eine antinomische Struktur – zentrales Element meines dramaturgischen Interesses). Vielleicht aber besitzt er auch, indem er über eine konkrete Kampferfahrung verfügt, die er, im Fall der Entscheidung für London, ebenfalls verraten müsste, einen Anker, der ihm zugleich Kompass ist. 7. Die Entscheidung fällt in Dresden – und damit vollendet sich auch der in den Rückblenden begonnene politische Bogen –, wenngleich diese Entscheidung länger vorbereitet wird: seine Abscheu gegenüber Canary Wharf und gegenüber den USA/Kingston am Hudson usw. Der endgültige Umschlagpunkt jedoch ist der Moment, als Jörg Krippen Jogginghosen-Martina/Sabrina gemeinsam mit dem Sohn Leon bei einem Pegida-Aufzug sieht und befürchten muss, sie geselle sich den Nationalisten zu (zumal er die Affinität der Unterklasse gegenüber den Völkisch-Nationalen durchaus einzuordnen weiß).

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8. In derselben Nacht schreibt er seinen Artikel über Pegida, die zweite Probe für Cousin Kali; die erste Arbeitsprobe, kulturkritisch gegenüber den USA und anspruchsvoll in der Form (Collage!), hat seinem Auftraggeber ausnehmend gut gefallen; der Job, der alle Probleme obsolet werden ließe, ist greifbar nahe. Der neuerliche Artikel indes ist, auch aufgrund des Schocks, klar in seiner Aussage, indem er die Gefahr einer kulturalistischen oder nationalistischen Lösung der sozialen Frage benennt. Von Kali, dem Auftraggeber, dem Cousin der jungen Geliebten, kann der Artikel unmöglich akzeptiert und nur abgelehnt werden. Die Würfel sind gefallen: Odysseus, fixiert am Mast seiner Biografie, widersteht der Versuchung, den lockenden Gesängen der Sirenen. Er passiert die Meerenge von Skylla und Charybis und kehrt heim. Auf einem Fußballplatz in Berlin erkennt Jörg Krippen, dass er sich zum großen Glück geirrt hat. Er muss den Bogen nicht spannen, um den Pfeil durch die Ösen der aufgereihten zwölf Äxte zu schießen und anschließend die Hofschranzen zu liquidieren. Er kann, gemeinsam mit Sabrina, die die Pistole aus der Kampfzeit in der Jacke bei sich trägt, den Fußballvater, der seinen Jungen Adolf ruft und möglicherweise durch eine Narbe am Hals als Wiedergänger eines Kontrahenten gekennzeichnet ist, mühelos des Feldes verweisen. – „Es fängt wieder an“, sagt Jörg Krippen. – „Es fängt wieder an“, sagt auch sie. 9. Zusammengefasst: Wenn der je aktuelle gesellschaftliche Kontext, in dem ein Roman entsteht und auf den er abstellt, keiner der entwickelten sozialen Kämpfe ist – innerhalb dessen sich die Geschichte dann (und wohl nur dann!) generieren lässt –, können sowohl die beschriebenen Klassenverhältnisse und die klassenspezifische Herkunft der zentral Handelnden als auch – insbesondere – die politisch-soziale Bewegung (hier: die Antifa-Akteure der frühen 1990er Jahre) nicht mehr als ein Teil des Settings, der Werkwirklichkeit sein. Die eigentliche Geschichte, eine, die sich zwischen individuell gestalteten Charakteren abspielt, muss dann erst noch entwickelt werden. Dagegen ist wenig einzuwenden, zumal das politische Kollektiv, auf das die „andere Geschichte“ – die der kollektiv Agierenden – sich beziehen würde, als notwendiger Resonanz- oder Echoraum nicht existiert. Man muss sich dessen als Autor nur klar sein. Ohne ein Bewusstsein von der zwingend gegebenen Beschränktheit wird der Text – literarisch – bemüht. Bestenfalls kann ein nachgereichter quasi dokumentarischer Text entstehen, möglicherweise mit einem exemplarischen Protagonisten, der die

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Über mein Romanprojekt: Das Singen der Sirenen

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nachträgliche Dokumentation in gewisser Hinsicht bebildert (jüngst: „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“).1 Ein solches Buch befriedigt als voyeuristisches (Ohrensessel-Reise!) ein in aller Regel bürgerliches Publikum, indem es ihm einen wohligen Schauder oder ein mildes Erstaunen beschert – oder es appelliert an das identifikatorische Interesse ehemals Beteiligter. Teil der sozialen und politischen Dynamik kann es nicht sein. Die Funktion, die auf keinen Fall kleingeredet werden soll, erschöpft sich im Dokument. 10. Abschließend noch mal zur Frage, wie ich den Antifa-Komplex als Abriss der Vorgeschichte (als Rückblende) in den Roman „Das Singen der Sirenen“ integriert habe. Zu Beginn der 1990er Jahre bewegen sich zwei der drei zentralen Protagonisten, Jörg Krippen und Martina Rabietz, in einem Universum des Kampfes, das mit ihrem vorherigen Leben kaum etwas zu tun hat und mit ihrem späteren Leben nichts zu tun haben wird. Sie bewegen sich in einer Welt, die nach eigenen Regeln organisiert ist, und leben ihre Liebe vor diesem Hintergrund. Als ihre Kraft – bzw. vor allem Krippens Kraft – erschöpft ist (und die Zeiten, wie man so schön sagt, sich zudem ändern), versucht Martina (die ohne Krippens Wissen noch eine Weile am Kampf festhält), nachdem ihr halbherziger Versuch, das Abitur nachzuholen, gescheitert ist, die Liebe zu konservieren: indem sie darauf drängt, ein Kind mit Krippen zu bekommen. Er wiederum versucht zunächst, den Impetus der unbedingten Gegenwehr im dramatischen Schreiben zu bewahren. Am Ende scheitern alle Versuche, einige schneller, andere langsamer, und beide fallen aus der Welt – der Welt, die ihre war. Dieser Prozess, eines der zentralen Anliegen des Romans, hat mich interessiert. Der Antifa-Komplex erfüllt in dem Zusammenhang eine notwendige dramaturgische Funktion. Der Vorteil des Antifa-Geschehens liegt auch in der Unbedingtheit der Geste – im Falle Martinas das konkrete Handeln betreffend, im Falle Jörg Krippens eher hinsichtlich der Pose: Nur ein toter Nazi ist ein guter Nazi. Um die gegeneinander stehenden Welten – politischer Kampf versus bürgerliche Anstrengung – sowohl bezüglich des Aufbaus als auch sprachlich verschieden zu konturieren und so voneinander abzusetzen (obwohl es 1  Sebastian Lotzer: Begrabt mein Herz am Heinrichplatz. Wien: bahoe books 2017.

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gelegentlich kleinere Überlappungen gibt), bediene ich mich in den AntifaPassagen insbesondere der ersten großen Rückblende eines zunächst dokumentarisch-kollektiven (23.6.1990), dann expressiven und oft bewusst derben Sprachduktus, um so die Episoden, in denen sich das Individuum aus dem exemplarisch handelnden Typ (Szene in der S-Bahn, aber auch folgende) sukzessive herausbildet, von der quasi bürgerlichen Welt der Erzählgegenwart abzusetzen. Der Sprache der Vorgeschichte korrespondiert ein sprunghaft voranschreitender Aufbau. Beides zielt auf das Wesen der Ereignisse. Und auch in der Verzweiflung, die dem Vollzug der Niederlage innewohnt (Ein-Raum-Wohnung an der Spree), scheint die Wucht des expressiven Weltzugangs noch einmal auf. Wenn der politische Bogen sich bei der Pegida-Demonstration in Dresden indes schließt, ist eine Rückkehr zur Intensität der frühen Jahre allerdings kaum noch möglich. Es muss etwas Neues beginnen, das nicht einmal in Konturen bisher sichtbar geworden ist.

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Diskussion Stimme aus dem Publikum (Stefan Kröll): Das Verhältnis der Neuen Rechten zu Europa, dazu habe ich noch mal eine Frage. Inwiefern spielen da die Motive dieses russischen geopolitischen Theoretikers Alexander Dugin1 eine Rolle? Und ist es nicht eine sehr konventionelle Sichtweise, die sich auch in der Hegemonie der EU, des – ich sag jetzt mal bewusst – EU-Imperialismus‘ abzeichnet? Thomas Wagner: Die Europadiskussion in der Neuen Rechten, wenn man jetzt den intellektuellen Zirkel meinen sollte, ist so, dass die Position von Philip Stein und Benedikt Kaiser marginal ist. Die kommen damit nicht weiter. Philip Stein hat mir gesagt, dass er, wenn er Vorträge darüber hält, so gut wie keine Zustimmung bekommt. Ihre Kritik am rechten Milieu ist ja, dass es ein national-chauvinistisches sei. Da kommen sie sozusagen nicht weiter. Viel mehr Resonanz bekommen sie bei dem Versuch, die soziale Frage als Rechte zu stellen und eben auch zu beantworten und der Linken damit das Wasser abzugraben. Diese Europa-Geschichte, vermute ich, stellen die deshalb momentan eher zurück. Und das ist auch nur als Postulat vorhanden: „Na, man müsste eigentlich eine rechte Europa-Konzeption entwickeln, und es gibt auch Anknüpfungspunkte für uns.“ Aber ausgearbeitet ist da bislang noch gar nichts, so wie ich das sehe. Und diese Geschichte mit Dugin und so weiter, darüber habe ich mich nicht mit denen unterhalten. Dazu kann ich nichts sagen. Es war eher diese französische Traditionslinie, die da eine Rolle spielte. Benedikt Kaiser hat sich in seiner Diplomoder Masterarbeit mit der Europa-Konzeption von Drieu la Rochelle beschäftigt und in weiteren Studien mit anderen eurofaschistischen Positionen. Er hat in Halle ein Politikstudium mit Europa-Schwerpunkt absolviert, kennt also den Fachstand in der Politikwissenschaft sehr gut. Aber diese Frage der Europa-Konzeption, da ist seine Position sehr marginal. Er und Stein sehen auch im Moment kein Land, um da weiterzukommen. Das könnte sich aber mal ändern. Deswegen fand ich es interessant genug, um es hier zu erzählen. Enno Stahl: Ich möchte hauptsächlich jetzt mal auf Richard eingehen, der in seinem sehr luziden und systematischen Vortrag durchaus einige Illusionen der Linken angegriffen bis zerstört hat. Und ich frage mich jetzt, wenn Kultur so ein wichtiges Einsatzfeld ist in unserer Gesellschaft und eben auch bei den Rechten, die sich gerade bemühen, einen Kulturbegriff oder eine kulturelle Position aufzubauen, die gewisse Chancen haben, sogar hegemonial zu werden – dem müsste man im Grunde eine andere Kultur von Links entgegensetzen, die vielleicht versuchen kann, damit zu konkurrieren. Wir haben aber natürlich dann das Problem, dass die Linke sehr viel deutlicher als die Rechte, die das Problem überhaupt nicht hat, zwischen zwei Mühlsteinen steht: nämlich einmal sich nach rechts abzusetzen und andererseits aber von der pseudolinksliberalen, letztlich neoliberalen, bisher hegemonialen Kultur. Es wird in letzter Zeit des Öfteren auch über die Möglichkeit eines linken Populismus gesprochen – jetzt ruhig mal nur kulturell betrachtet, nicht unbedingt in Richtung Sammlungsbewegung. Der müsste Themen auf eine Weise aufgreifen, dass die verlorenen Gefolgsleute vielleicht 1  Alexander Dugin (*1967), russischer Politiker, Neofaschist.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_025

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zurückgeholt werden könnten. Bislang ist die Antwort der Linken, dass man die weiter fortwährende Klassenstruktur aufzeigen müsste. Dazu haben wir bei Thomas schon gehört, und auch bei dir, Richard, dass die Rechte diese sowieso schon relativ erfolgreich adaptiert. Und wenn also die ökonomische Frage sowieso nicht allein vorherrschend ist, sondern eher diese neue Form von Identitätskultur, um die es da geht, was kann man denn dann eigentlich dagegensetzen? Weil dieses immer wieder Bemühen um eine offene, diverse Gesellschaft verfängt gerade bei diesen Leuten nicht, weil sie sich davon verabschiedet haben. Eigentlich aber sehe ich da nichts anderes als diese ständige Wiederholung dessen, was auch gleichzeitig neoliberale Leitkultur ist, und da sehe ich doch eine ganz große Aporie. Ein echtes Problem. Was kann man da machen? Richard Gebhardt: Also ich befürchte, ich habe darauf keine befriedigende Antwort, weil ich frage immer: „Was ist?“ und auf die Frage „Was tun?“ habe ich nicht so die perfekte Antwort, weil das sich aus einer gesellschaftlichen Praxis entwickeln muss. Deshalb habe ich ja gesagt, solche Begriffe wie Solidarität müssen eben mit Leben gefüllt werden. Mir fällt es auch auf, dass auf linken Veranstaltungen diese originären Kulturteile, die ja mal – also ich erinnere mich jetzt mal an die 1980er Jahre und gewerkschaftliche Veranstaltungen – durchaus einflussreich und dominant waren, irgendwie nicht mehr so ziehen, wie sie mal gezogen haben. Also gestern Abend war ja noch Erasmus Schöfer hier als einer der Begründer des Werkkreis‘ Literatur der Arbeitswelt. Ich muss euch ganz ehrlich sagen, mich hat das nie so richtig erreicht, was Erasmus und seine Kollegen da gemacht haben. Wir hatten bei uns in den Antifa-Gruppen auch immer Kollegen dabei, die dann entsprechende Gedichte vorgelesen haben und am Band standen. Das hat man dann einfach so über sich ergehen lassen. Fakt ist aber, dass die dominant gewesen sind, dass die da waren, dass es Kulturarbeit gab. Und es scheint mir notwendig, diese Kulturarbeit wieder aufzunehmen. Auch gerade mit der Fragestellung, was bedeutet denn heute überhaupt noch Arbeit unter der Bedingung von Digitalität, wo uns doch die Arbeit in den Namen eingeschrieben ist? Die Leute heißen ja Weber, Müller, Wagenknecht oder was auch immer. Das scheint mir zentral zu sein. Nur ich habe da keine Lösung. Was mir wichtig ist in meiner Zurückweisung der Rede vom Rechtsruck, ist, dass ich warne vor einer Überhöhung des Gegners, weil das auch paralysierende Wirkung hat. Und ich warne auch davor, diese alte faschismusorientierte Rhetorik von den „Steigbügelhaltern“ oder von den „Interessen des Kapitals“ zu wiederholen. Das ist zunächst mal meine Aufgabe, Aufklärung zu leisten dadurch, dass ich freie Zeit habe, diese ganzen Primärquellen zu lesen und dies dann zur Diskussion zu stellen. Also auf gewerkschaftlichen Veranstaltungen steht immer einer auf und sagt: „Die AfD dient den Interessen des Kapitals.“ Und dann kann ich immer nur sagen: „Dann lest euch bitte die Verlautbarung von BDI und BDA durch, die führenden Kapitalfraktionen, und die haben erkennbar kein Interesse an der AfD. Weil deren Logik der Deregulierung reguliert werden soll. Wenn der Daimler-Chef sagt, dass die Flüchtlingswelle für uns die Voraussetzung sei für ein neues deutsches Beschäftigungswunder, dann sagt die AfD: „Nein, wir wollen diese industrielle Reservearmee nicht.“ Und das verfängt bei den Leuten. Oder nehmen wir die Betriebsratswahlen, die ja jetzt liefen von März bis Mai, mit „Zentrum Automobil“.2 Klaus Dörre ist dazu ja vielfach 2  Die rechtspopulistische Gruppe „Zentrum Automobil“ gewann im Werk Untertürkheim von Daimler-Benz sechs Sitze im Betriebsrat, bislang waren es vier. In den Werken Sindelfingen - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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interviewt worden, und mir war das Thema auch sehr wichtig. Auf der realen Ebene der Betriebsratswahlen waren diese Fraktionen kaum erfolgreich, es ist eher so, dass sie Potentiale haben in den Gewerkschaften, die aber schon lange da sind. Die Untersuchung von Richard Stöß und anderen, 2007 veröffentlicht, „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“,3 die sprechen von einem Potential von 20 Prozent extrem rechten Weltbildern bei den Leuten, die Mitglied sind bei uns, und zwar vor allen Dingen bei denjenigen, die dort arbeiten als Angestellte und organisierte Facharbeiter. Darauf möchte ich den Blick richten, und ich plädiere – da haben Thomas und ich auch durchaus Meinungsunterschiede – für eine Strategie aus Dialog und Konfrontation. Also ich sehe selber keinen Sinn darin, mit einem Neuen Rechten auf einem Podium die Klinge zu kreuzen. Da bin ich eher für die Strategie des souveränen Ausschlusses. Auf der anderen Seite weiß ich, dass das natürlich mittlerweile eine Donquichotterie ist, weil diese Positionen ja längst schon selbst im Bundestag besetzt worden sind, das wäre also die Schwäche meiner Position. Anders verhalte ich mich, wenn Leute entsprechend im Seminar dann was sagen. Da halte ich dagegen. Und ich warne davor, irgendwie den wahren Kern dieses falschen Bewusstseins zu übersehen. In vielfacher Hinsicht sind diese Leute, die aus meiner Sicht ganz klar für einen autoritären Populismus votieren und auch den Paradigmen des völkischen Nationalismus anhängen, auf eine bestimmte Art auch Rechtsfundamentalisten. Die glauben an den Erhalt des Dublin-Verfahrens, die glauben an den Erhalt und die Einhaltung der Maastricht-Kriterien statt an die diskretionäre Politik von Angela Merkel, wie es dann eben im Jargon heißt. Und ich sehe, dass es da Anknüpfungspunkte gibt, dass man auf Sachebenen diskutieren kann und eben nicht in der Rhetorik des „wir müssen entsorgen“, „das gehört zurückgewiesen“ und „das wird nicht weiter diskutiert“. Man diskutiert ja auch nicht über Gaulands Vogelschiss. Das ist eine Naziposition und muss als solche gekennzeichnet werden. Aber mit den eigenen Leuten, die dabei sind im Seminar, im Betrieb, auf den Betriebsversammlungen, da versuche ich schon so was wie einen Dialog herzustellen. Clara Zetkin4 hat mal über den historischen Faschismus gesagt: „Wir müssen aufpassen, dass aus Suchenden keine Irrenden werden.“ Die Irrenden, die werden wir nicht mehr erreichen. Da ist das Ideologische im Kopf schon so hart wie Zement. Aber die Suchenden, die jungen Kollegen sind es ja meistens, sind ja meist männliche Leute gerade in dem Bereich, da versuche ich schon Auseinandersetzungen zu führen. Wo die Schwierigkeiten liegen, gerade in der Kulturarbeit, da bin ich eher ratlos, weil ich so was ja selber auch schon mal anbiete, gerade in Zusammenarbeit mit dem Theater. Ich sehe, dass das doch nur immer dieselben Leute anzieht, und ich habe da selbst auch kein Mittel dagegen gefunden, weder auf der Ebene von Lesungen, noch auf der Ebene von Aufführungen. Ich merke aber, dass es schon so Bruchlinien gibt auf größeren Veranstaltungen, die jetzt hier für uns interessant sind, da ich das ja auch häufiger im Ruhrgebiet mache. Ihr müsst euch vorstellen, das sind dann so Veranstaltungen wie die unsere, nur sitzen da nicht 16 Leute im Saal, sondern 160 plus x. Und dann erzähle ich dann mein Zeug, und Rastatt zogen Vertreter des Zentrums zum ersten Mal in die Betriebsräte ein: mit zwei Vertretern in Sindelfingen, mit drei Betriebsräten in Rastatt. Auch bei BMW und Porsche in Leipzig konnte die Gruppierung Stimmen gewinnen. 3  Richard Stöss: Gewerkschaften und Rechtsextremismus in Europa. Berlin: Friedrich Ebert, Stiftung Forum Berlin/Politischer Dialog 2017. 4  Clara Zetkin (1857-1933), sozialistische deutsche Politikerin. - 978-3-8467-6528-9 Heruntergeladen von Brill.com07/28/2021 06:13:38PM via Universitat Leipzig

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und das wird gerade von den Funktionären brav abgeklatscht, und dann wird das auch politisch korrekt goutiert. Es gibt eigentlich in den seltensten Fällen in solchen Formaten Widerspruch. Wenn ich dann aber von der Bühne runtergehe, dann kommt meistens ein älterer Kollege und sagt: „Hör mal, was du erzählt hast, ist ja schön und gut. Ich wollte das eben im Auditorium nicht sagen, aber Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge.“ Das heißt, was ich beantworten kann, ist, dass wir eine offensive Auseinandersetzung brauchen mit den politischen Reizthemen als Voraussetzung für eine Antwort auf das, was die populistische Herausforderung uns entgegenbringt. Dass das mit Kulturarbeit flankiert werden muss, das scheint mir klar zu sein, und das ist für mich die große Form des Versagens von Gewerkschaften und auch von Linken, diesen Punkt nicht zu sehen. Diese Arbeitszeitdebatten, die wir hatten in den 1980er Jahren, waren immer flankiert mit einem großen Kulturprogramm, waren immer flankiert auch mit Leuten, die dann gesagt haben, ‚Wir müssen weg vom alten Lohnarbeitsbegriff, hin zu mehr Tätigkeit‘, und dann wurden eben entsprechende Kampagnen gemacht. Das fehlt heute, alles ist immer nur fixiert auf die Ebene des Ökonomischen. Das ist sozusagen meine Mission, beide Ebenen zu betonen. Wobei, wenn man sagt, dass die ökonomische Frage von der kulturellen Frage überlagert wird, ist dadurch die Ökonomie natürlich nicht verschwunden, sondern sie wird überlagert aus den Gründen, die ich eben dargestellt habe. Norbert Niemann: Ich glaube, das war missverständlich mit dieser „Heimat“. Was ich meine, ist, dass dieser Begriff besetzt ist. Und diese Besetzung ist jetzt nicht eine kurze, mal jetzt geschehene, sondern eine historische Besetzung. Zum Thema „Heimat“ werde ich eingeladen seit – ich würde mal sagen – 10, 12 Jahren, immer wieder. Autorentreffen, tschechisch-deutsches Autorentreffen zum Thema „Heimat“. Der bayerische Rundfunk macht was zum Thema „Heimat“ und so weiter. Und in diesen Essays, die ich da in diesem Zusammenhang geschrieben habe, wird halt einfach auch deutlich, was für Schichten an Bedeutung da mitschwingen. Ich rede jetzt von der kulturellen Position aus, ich muss wissen, wenn ich Sprache benutze, was ich eigentlich sage, wenn ich „Heimat“ sage. Ich bin aus Bayern, wie jeder hört, das heißt, ich habe natürlich mit dem Begriff „Heimat“ extrem viel zu tun, und zwar auch geschichtlich. Bei uns gibt es zum Beispiel am Chiemsee einen Trachtenverein, der hat jetzt gerade sein 100-jähriges Jubiläum gefeiert, das heißt es gab vor 100 Jahren schon einen Reanimierungsversuch von Heimat, von Tracht, von Tradition. Das Prinzip ist schon mindestens 100 Jahre alt. Es ist eine permanente Verdoppelung. Joachim hat es wunderbar erklärt mit diesem Beispiel, er hätte sich gewünscht, die Merkel hätte nicht gesagt, „auch der Islam gehört zu Deutschland“, sondern „zu Deutschland gehört die Religionsfreiheit“. Und so meinte ich das mit dem Begriff „Solidarität“ auch. Und natürlich müssen wir den dann auch füllen. Da hast du vollkommen recht. Ich glaube, das ist eine Aufgabe der Linken, eine kulturelle Aufgabe, diesen Begriff der Solidarität wieder inhaltlich zu füllen. Michael Wildenhain: Zunächst zur Frage Linke und Kultur. Ich finde, dass das ein durchaus gebrochenes Verhältnis ist, und mir ist nicht ganz klar, woran es liegt. Aber ich habe sehr stark die Empfindung, dass selbst im besten und gut gemeinten Sinne die Kulturveranstaltungen auf größeren Linken-Versammlungen oder ähnlichem häufig so einen ornamentalen Charakter haben. Und jetzt ist auch noch das Kulturprogramm dran. Insofern finde ich ja diesen Zusammenhang hier ganz hervorragend, obwohl es meist so ist, dass der sozial- und politikwissenschaftliche Teil im Endeffekt den literarischen Teil durchaus dominiert. Und für mich müsste – das hat erstmal nichts

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mit einer Strategie gegen Rechts zu tun, sondern ist sozusagen ein Basic – das Verhältnis der Linken zur Kultur dahingehend überprüft werden, dass Kultur eben nicht nur ein Ornament ist oder ein Zeitvertreib, sondern dass sie durchaus auch einen Gebrauchswert haben kann. Also dass sie Werkzeuge zur Verfügung stellen kann, und zwar in einer ambivalenten Form, die sich anzueignen sinnvoll sein kann. Als wir in Graz getagt haben, hat jemand aus dem nicht allzu großen Publikum gesagt: „Ja, was soll ich sagen? Alles, was ich übers Baskenland erfahren habe, weiß ich aus Raul Zeliks „Der bewaffnete Freund“. Und das ist für mich ein kleiner Hinweis. Weil so würde ich mir wünschen, dass quasi ein alltäglicher Umgang mit linker Kultur – in meinem Fall natürlich linker Literatur – die Aktivitäten oder überhaupt die Lebenswirklichkeit linker Zusammenhänge begleitet und auf solchen Veranstaltungen dann auch die Friktionen, die mit der Aneignung von derartigen literarisch-kulturellen Dingen verbunden sind, an zentraler Stelle diskutiert werden. Das ist der eine Punkt. Was die Strategie gegen Rechts betrifft: Wir haben im Schriftstellerverband, ausgehend von Berlin, eine Initiative gestartet, mit der wir natürlich nicht alleine sind. Diese Frage wird auf verschiedenen Ebenen, auch in der GEW oder sonst wo – wir sind ja Teil der ver.di – diskutiert. Und zwar die Frage nach einem Unvereinbarkeitsbeschluss mit der AfD und ähnlichen Gruppen. Das ist ein riesiges Fass, was man damit aufmacht. Das ist gar keine Frage. Aber schon allein der Wirbel, den wir damit verursacht haben – also es gibt ein großes Pro und es gibt ein großes Contra –, zeigt, dass man da an einen wunden Punkt rührt, der aus meiner Sicht auf viel umfassenderer Ebene durchaus weiter diskutiert werden sollte. Es gibt eine erste kleine Publikation, die heißt „Unsere Antwort. Die AfD und wir.“5 Das ist so ein bisschen verkürzt, ist in einem winzigen Verlag erschienen, Hirnkostverlag. Das ist der Beginn der Diskussion. Soweit es den Schriftstellerverband betrifft, wurde sie geführt – einige, die hier sitzen, haben ja das Initiativpapier auch unterschrieben. Sie wurde auf so einer offenen Liste erst mal geführt, und in dieser Publikation ist das Für und das Wider noch mal nachvollzogen worden. Ich bin ein Verfechter des Unvereinbarkeitsbeschlusses aus verschiedenen Gründen, die ich hier dargelegt habe. Kann man beziehen: Klaus Farin, Hirnkostverlag. Thomas Wagner: Ich bin, was die Kampfmittel und die strategischen Optionen, die es gibt, wenn es um die Zurückdrängung der rechten Bestrebungen, um die Erlangung der kulturellen Hegemonie und die politische Macht geht, auch sozusagen noch im Anfangsstadium meiner Überlegungen. Ich weiß noch nicht genau, wie fruchtbar ich die Initiative von Michael Wildenhain und den Kolleginnen und Kollegen finde – also was die Diskussion betrifft: auf jeden Fall. Die Kontroverse darum, ob das ein richtiges Mittel des politischen Kampfes sein könnte, finde ich sehr wichtig. Aber ich habe mich noch nicht entschieden. Meine Beobachtung war im Zuge der Leipziger und der Frankfurter Buchmesse, dass die sehr gut gemeinten Initiativen gegen Rechts, also die Verlage gegen Rechts und die Versuche, auf der Frankfurter Buchmesse – also ein halbes Jahr vorher – gegen den Verlag von Kubitschek vorzugehen, einen unglaublichen Aufmerksamkeitserfolg für diesen bedeuteten. Ähnlich ist es bei manchen Veranstaltungen der Identitären, wenn da riesige Gegendemonstrationen mobilisiert werden. Ich habe den Eindruck, die besser einfach ins Nichts laufen zu lassen, wäre 5  Klaus Farin (Hg.): Unsere Antwort. Die AfD und wir. Schriftsteller*innen und der Rechtspopulismus. Berlin : Hirnkost 2018.

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zuweilen besser gewesen. Denn diese Art von Aufmerksamkeit, also der Gegendemonstration und so weiter, ist in deren Kalkül schon drin. Und im Moment verbuchen sie das alles als Erfolg. Das zweite ist, wenn man solche Aktionen macht – Verlage gegen Rechts oder so –, sollte man sich auf adäquatem Niveau, aber auch inhaltlich mit deren Sachen auseinandersetzen. Die Linke fühlt sich moralisch überlegen, ohne die Positionen der Rechtsintellektuellen überhaupt zu kennen bzw. sie kennenlernen zu wollen. Das heißt, sie unterschätzt ihre Gegner auf gefährliche Weise. Ich habe sehr viel hilfloses, kenntnisloses, öffentliches Reflektieren über die Neue Rechte mitbekommen. Es ist eine Art von Hilflosigkeit, wie man sich ihnen gegenüber verhalten soll, gepaart mit einem Desinteresse, was sie tatsächlich sagen, gepaart mit einem „Wir wissen eigentlich schon wie die ticken, wie die sind, was die vorhaben und was dagegen zu tun ist“. Es ist also eine ganz merkwürdige Gemengelage, und ich plädiere für die einerseits offensive Auseinandersetzung, insbesondere in den Formaten, die Richard gerade erwähnt hat. Ich bin schockiert darüber, dass es Dozentinnen und Dozenten beispielsweise der Politikwissenschaft gibt, die sich davor fürchten, dass ihre Seminare von rechten Studenten besucht werden könnten: „Huch, ich habe ja rechte Studenten in meinem Seminar; was mache ich jetzt eigentlich? Muss ich die nicht eigentlich ausschließen oder so?“ Das ist übrigens eine gängige Reaktionsweise von Leuten, die sich gar nicht in der Lage sehen, sich mit denen argumentativ auseinanderzusetzen, obwohl sie so Fächer wie Politikwissenschaft lehren. Das macht mir ein bisschen Angst, muss ich sagen. Es braucht viel mehr den Willen, sich mit den Argumenten, den Texten und den Leuten von rechts auseinanderzusetzen. Das sind nämlich in der Regel alles andere als Dumpfbacken. Also das wäre meine Version eines Dagegenhaltens. Richard Gebhardt: Mir scheint wirklich die Fragestellung von Kultur ganz zentral zu sein in dem Punkt. In der politischen Bildungsarbeit mache ich das beispielsweise so, ich erzähle den jungen Leuten erst mal nichts, sondern ich spiele denen Platten vor von „Freiwild“, oder was die dann eben hören und finden. Und dann wird aber auch eine scharfe Debatte darüber geführt. Ich würde das mit den Exponenten nicht machen, denen ein entsprechendes Forum bieten, aber ich denke schon, dass man für die Klientel eine bestimmte Art von Zugang braucht. Und wir müssen ja auch einen nüchternen Blick auf das werfen, was im September 2017 auch in Deutschland offenkundig wurde. Wir haben nach sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ein rechtsextremes Potential, das in unterschiedlichen Abstufungen bis zu 30 Prozent umfasst. Und wir haben über das Motiv dieser jüngsten Verschiebungen in der politischen Kultur schon heute Vormittag diskutiert. Das ist nicht die AfD, das waren auch nicht die Demonstrationen der Pegida oder der Hogesa, die ich sehr genau untersucht habe, weil wir dazu einen Dokumentarfilm gemacht haben, der jetzt jüngst erschienen ist. Es war die Sarrazin-Debatte, sie war tatsächlich dafür die Eröffnung. Darauf müssen wir den Blick richten. 1,5 Millionen verkaufte Bücher dieses Werks plus x. Kulturalismus verbunden mit erbbiologischen Fragestellungen. Er beruft sich da auf Volkmar Weiß6 beispielsweise, einem Erbpsychologen, den ich noch aus Sachsen kenne, weil er dort immer als Berater der NPD aufgetaucht ist. Das wurde möglich. Natürlich haben die wenigsten das Buch ganz gelesen, das weiß ich aus Veranstaltungen beispielsweise bei uns an der RWTH Aachen im Seniorenstudium. Aber alleine der Kauf dieses Buches 6  Volkmar Weiß (*1944) deutscher Genetiker.

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war ein politisches Statement. Und unsere Aufgabe muss sein, mit unseren Mitteln, mit politischer Bildung, mit literarischen Mitteln diese Blicke zu schärfen auf unsere gespaltene Republik und auf ihre Unterströme. Wenn die sichtbar gemacht werden, werden die auch bearbeitbar. Das scheint mir die vordringlichste Aufgabe zu sein, weil ohne die Schärfung der Urteilskraft des Publikums und gleichzeitiger Schärfung unserer eigenen Urteilskraft – Thomas hat ja eben darauf hingewiesen, wie misslungen diese Bearbeitung von solchen Reizthemen zum Teil auch funktioniert, da stimmen ja zum Teil noch nicht mal die Zitate –, das scheint mir unmittelbar wichtig zu sein als Impuls jetzt für diese Diskussion.

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Anhang

*  Der Anhang enthält Texte, die bei der abendlichen Lesung zu Gehör gebracht wurden.

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Karnickelpass. Über Kinder und Geld, Zusammenhang und Verblendung Joachim Helfer Als Kind hatte ich einen „Karnickelpass“: „Fahrpreisermäßigung für kinderreiche Familien“, wie der erste amtliche Lichtbildausweis meines Lebens im Amtsdeutsch hieß. Die karteikartengroße Pappe halbierte, am Schalter vorgelegt und dem Schaffner vorgewiesen, jeden Fahrpreis der Deutschen Bundesbahn für meine Geschwister und für mich – auch den von Kinderkarten, sodass wir statt für die Hälfte für ein Viertel des Erwachsenpreises fuhren. Meist zu den Großeltern, die mütterlicherseits vier, väterlicherseits sogar fünf Kinder großgezogen hatten. Unter Reichtum stellte ich mir als Kind das Haus von Oma und Opa vor, zu Familienfeiern erfüllt vom Trubel eines Dutzends Enkelkinder. Armut kannte ich als Kind nur aus den Erzählungen der Mutter aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Oder aus dem Fernsehen, das Schwarzweißbilder nackter Kinder mit vom Hunger aufgeblähten Bäuchen aus Afrika in die Wohnstuben einer Bundesrepublik holte, deren wohlgenährte Bürger die Olympischen Sommerspiele in München oft schon in den Bonbonfarben der Siebzigerjahre guckten. Dort, in Afrika, arbeitete mein Vater als Entwicklungshelfer. Ich vermisste ihn, aber ich war auch stolz auf ihn: Denn er half ja diesen armen Kindern, denen es offensichtlich so viel schlechter ging als uns. Dass wir, die alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern, im Vergleich zu den Schulfreunden arm waren, begriff ich erst nach und nach. Vielleicht, als ich wegen meiner Kleidung gehänselt wurde: Abgelegte Sachen des großen Bruders, umgeschlagen, bis ich hineingewachsen sein würde. Oder als meine Erzählung von den Ferien bei Onkeln und Tanten, die ich in allen Gegenden des Landes hatte – auf Mitleid stieß: „Fahrt ihr denn nie nach Spanien?“ Ein Museumskassierer, der auch meine Mutter zum Ermäßigungstarif einließ, brachte es auf den Punkt: „Frau mit drei Kindern ist doch behindert!“ Unsere Mutter musste schlucken, bevor sie die Solidarität dieses Robin Hoods akzeptierte: Schließlich hatte sie als wissenschaftliche Referentin im öffentlichen Dienst eine ordentlich bezahlte Stelle, wie in den Siebzigern noch üblich unbefristet. Nur ging ihr Einkommen zur Hälfe an die Haushälterin, die sie beschäftigen musste, um als Alleinstehende mit drei Schulkindern Vollzeit arbeiten zu können. Einen Schulhort gab es nicht. Hätte die Mutter auf einen persönlich erfüllenden Beruf verzichtet und stattdessen halbtags irgendwie

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Geld verdient, um in der zweiten Tageshälfte Hausfrau zu sein – unser Lebensstandard wäre nicht gesunken. Einen materiellen Unterschied machte ihre Berufstätigkeit erst in der Rente: Da zahlte es sich aus, zeitlebens voll gearbeitet und nicht schlecht verdient zu haben. Das sichere Auskommen im Ruhestand hielt ihre, die Generation Wiederaufbau, für die Frucht der eigenen Lebensleistung und Einzahlungen in die Rentenkasse. Als Sozialwirtin wusste sie zwar, dass aus den Beiträgen in die Rentenkasse die Renten der derzeitigen Rentner, also der Elterngeneration, bezahlt werden; dass man die eigene Rente nie selber zahlt, sondern dass die Kinder es für einen tun. Dass es seit meiner Geburt im Rekordjahr 1964 rasch immer weniger Kinder gab, erkannte sie deshalb als Problem, aber nur für diese Art Umlagefinanzierung: Ob der durch Beitragszahlungen erworbene Rentenanspruch im Alter auch eingelöst werden kann, hängt ja davon ab, dass es genug Kinder gibt. Sie erlebte noch, wie die von ihrem Genossen Schröder geführte Bundesregierung als Antwort auf die sinkenden Geburtenzahlen eine zweite, kapitalgedeckte Säule der Altersvorsorge errichtete. Was ihr erspart blieb, ist der Einsturz des Gebäudes, dem nicht Säulen wegbrechen, sondern das Fundament. Sparguthaben oder all die neuen Fonds und Geldanlagen, die Bankberater uns seit Einführung von Riester- und Rüruprente aufschwatzen, sind am Ende nämlich nichts anderes als Rentenansprüche: Das Versprechen, sie irgendwann einmal gegen Essen und Trinken eintauschen zu können, gegen ein Dach über dem Kopf, Kleidung, Heizmaterial, Handwerkerleistungen, Medizin, Pflege. Sie alle lassen sich umrechnen in Geld – Geld aber kann man weder essen noch trinken, es kocht keine Mahlzeit, schneidet einem nicht die Haare, wechselt einem nicht die Windel, und hat selbst als Bargeld kaum Heizwert. Auch Geld ist lediglich ein Versprechen auf noch nicht hergestellte Waren und noch nicht erbrachte Dienstleistungen. Hergestellt und erbracht von wem? Von nachgeborenen Menschen. Technischer Fortschritt wird menschliche Arbeit auch künftig erleichtern und verändern, aber nie ersetzen. Ohne Menschen im arbeitsfähigen Alter gibt es keine Waren und Dienstleistungen mehr. Kein Geld der Erde kann Brot kaufen, dessen Korn nicht gesät, geerntet, gemahlen, gebacken und verteilt worden wäre – und zwar trotz aller Automatisierung und Mechanisierung von Menschen. Ohne Menschen, die Dinge herstellen und Dienste leisten, fällt die Kaufkraft aller Ansprüche und Ersparnisse und Vermögenswerte auf null. Ökonomen reden unsentimental von der Reproduktion des Humankapitals. Sie ist das Fundament jeder Volkswirtschaft. Jede Ware, jede Dienstleistung, in kapitalistischen Gesellschaften auch jeder Gewinn hat sie zur unabdingbaren Voraussetzung. Wer aber bezahlt sie? Die Eltern. Nicht ganz allein, aber zum

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weit überwiegenden Teil. Die Eltern sind heute Opfer einer neuen Form der Ausbeutung. Diese neuartige Ausbeutung schafft die neuen Klassen der Eltern und der Kinderlosen. Neu ist dabei nicht, dass es heute mehr Kinderlose gibt als noch in der Generation unserer Eltern und Großeltern. Die meisten Kinderlosen gab es der Mönche und Nonnen wegen im Spätmittelalter. Neu ist, dass die Gesamtzahl der Kinder seit dem Rekordjahrgang 1964 unter den Erhaltungswert gefallen ist. Seither war jede Kindergeneration ein Viertel bis ein Drittel kleiner als die der Eltern. Neu ist zweitens, dass wir seit dem Mittelalter immer besser erkannt haben, dass Menschen Rechte haben. Zum nie zu verwirkenden Recht auf ein menschenwürdiges Leben gehört, im Alter versorgt zu werden, gleich, ob man nun Kinder hat oder nicht. Wie zu jedem Recht gehört zum Menschenrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum im Alter eine spiegelbildliche Pflicht: Nämlich die Pflicht der anderen Mitglieder der Gesellschaft, dieses Existenzminimum für jedermann bereitzustellen. Kein Mensch bestreitet dieses Recht. Wer aber bestreitet die Kosten, es zu verwirklichen? Nur Eltern. Weil von den Zahlungen in die Rentenkasse die Eltern versorgt werden, die ja auch Kinderlose haben, leisten Kinderlose mit ihren Rentenbeiträgen keinen Beitrag zur eigenen Altersvorsorge. Auch nicht mit ihren Riesterrenten und Ersparnissen. Was immer sie im Alter benötigen, kann nur von jenen Kindern gemacht und getan werden, zu deren Unterhalt und Ausbildung sie derzeit kaum beisteuern. Darin liegt eine Ungerechtigkeit, die unsere Gesellschaft spaltet und auf Dauer zu zerstören droht. In Deutschland herrscht Kinderarmut, und zwar im doppelten Wortsinn. Erstens sind sowohl Kinder als auch Eltern viel häufiger arm, als kinderlose Erwachsene es sind. Die beiden Eigenschaften, die statistisch am häufigsten mit Armut zusammenfallen, sind a) Kind zu sein und b) Kinder zu haben. Zweitens werden in Deutschland viel weniger Menschen geboren als sterben. Das mag viele Gründe haben. Befragt man aber junge Leute nach ihren Kinderplänen, geben sie die Angst vor Armut als Hauptgrund für eine Entscheidung gegen Kinder an. Die relative Armut heutiger Kinder und ihrer Eltern, sowie der Rentnerinnen, deren unbezahlte Kindererziehungsleistung oder kinderbedingter Karriereverzicht ihre Rente schmälert, liegt schon heute offen zutage. Ebenso wie die Angst bestens ausgebildeter junger Leute, sich Kinder nicht leisten, Familie und Beruf nicht vereinbaren zu können. Die absolute Verarmung einer Gesellschaft, die ihr Humankapital nicht reproduziert hat, liegt erst in der Zukunft. Wenn sie in Jahrzehnten mit voller Wucht zuschlägt, ist es zum Gegensteuern zu spät. Der jetzige Zustand des Familienleistungsausgleichs ist nicht nur unsozial, sondern auch ungerecht. Kind zu sein oder Kinder zu haben ist schließlich

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keine Krankheit oder Behinderung, wie sie in einem Sozialstaat den Anspruch auf Unterstützung der Solidargemeinschaft begründen würde. Vielmehr ist nachhaltiger Wohlstand für alle von keiner Investition so sehr abhängig wie von der in Nachwuchs. Die bestehenden staatlichen Leistungen für Familien decken die Unterhalts- und Ausbildungskosten von Kindern nur zum Teil ab. Gerecht wäre es, diese für alle notwendige Investitionen vollständig aus Steuermitteln zu finanzieren. Im Gegenzug gehörten die steuerlichen Kinderfreibeträge gestrichen. Gerecht wäre es, die arbeitstägliche Betreuung der Kinder von der Krippe bis zum Schulabschluss für die Eltern genauso flächendeckend verfügbar und kostenfrei zu machen wie die Schule selbst. Damit aber ist es nicht getan: Auch die Kosten für Wohnen, Verpflegung, Kleidung, Sport und Musik der Kinder sind eben nicht der Preis für ein konsumtives Privatvergnügen ihrer Eltern. Das zynische Motto „Ich habe eine Yacht, du hast Kinder!“ verkennt den gesellschaftlichen Investitionscharakter der individuellen Entscheidung für Nachwuchs. Wenn die Gesellschaft als Ganzes von den Früchten dieser wichtigsten Investition lebt, dann muss zumindest das Existenzminimum von Kindern von allen Steuerzahlern erbracht und an die Eltern in bar ausgezahlt werden. Das bedeutet konkret nicht weniger, als eine Verdoppelung des Kindergeldes. Mindestens. Nicht irgendwann, sondern sofort. Das wäre generationengerechte Politik. Durchsetzen lässt sie sich wohl erst, wenn wir Demokratie ernst nehmen: Kinder haben bei Wahlen keine Stimme. Auch ihre Eltern als gesetzliche Vertreter dürfen keine Stimme für sie abgeben. Dieser Mangel an Demokratie ist es, der das Fundament der Gesellschaft zerstört: Denn natürlich ist es kein Zufall, dass die größte von Wahlen ausgeschlossene Minderheit der Gesellschaft auch die am stärksten von Armut betroffene Gruppe der Gesellschaft ist. Ebenso wenig wie es erstaunen kann oder durch sentimentales Gerede vom Elternglück zu ändern wäre, dass die am zweithäufigsten von Armut betroffene Gruppe, die Eltern, allmählich aussterben. Und die Literatur? Kann sie den Ausgebeuteten und Entrechteten eine Stimme geben? Kinder sind demokratisch nicht repräsentiert und werden von den Erwachsenen gezwungen, häufiger in Armut zu leben, als sie selbst es tut. Pippi Langstrumpf oder die Rote Zora ließen sich das nicht gefallen! Wer Kinderbücher für Kinderkram hält, erinnere sich, dass es Astrid Lindgren war, die gegen große Anfeindungen dem Gedanken zum Durchbruch verholfen hat, dass man Kinder nicht schlagen darf. Was aber lesen Eltern, dass sie sich so widerstandslos ausbeuten lassen? Offensichtlich sind sie sich ihrer Ausbeutung meist gar nicht bewusst. Sie zu

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durchschauen erfordert ökonomische Kenntnisse. An deutschen Schulen lernt man allerdings sehr viel mehr über Literatur als über Volkswirtschaft. Realismus wird als literarhistorische Epoche unterrichtet, nicht als aufklärerische Haltung zur Welt. Literatur indes, auch realistische, ist schon nicht sehr gut darin, den klassischen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufzuzeigen. Wir verdanken ihr aufrüttelnde Schilderungen absoluter Armut und Rechtlosigkeit, aber kaum Einblicke in die ihnen zugrundeliegende Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Der soziale wie technische Fortschritt der letzten zweihundert Jahr hat das Elend in unserem Teil der Welt weitgehend überwunden. Die Ausbeutung der Arbeitskraft wurde während des Berufsleben meiner Mutter in der alten Bundesrepublik zeitweise gemildert, verschärft sich seither aber wieder. Die Gesellschaft, in die ihre Enkelkinder hineinwachsen, ist viel ungleicher als die der 70er Jahre. Wenn Literatur diesen Rückschritt nicht verhindert hat – ist sie vielleicht sogar ein Teil des Problems? Welche Geschichte erzählt uns denn die Literatur seit der Odyssee immer wieder und immer neu? Die Geschichte des Individuums, am liebsten in Gestalt eines jungen, heranwachsenden Menschen, das „sich“, also seine ganz einmalige, nie dagewesene und unwiederholbare Einzigartigkeit entdeckt, um dann „sich“, also seine Glücksansprüche zu verwirklichen. Und zwar in aller Regel gegen die in der jeweiligen Gesellschaft herrschenden Regeln; eben darin besteht der Heroismus dieser Helden. Viele Regeln, Abhängigkeiten und Zwänge der feudalen wie bürgerlichen Klassengesellschaft waren und sind ungerecht. Deshalb befriedigt es unseren Durst nach Gerechtigkeit, von Menschen zu lesen, die sich persönlich oder auch als Gruppe dagegen behaupten. Ihr Beispiel ermutigt und ermuntert die Unterdrückten, es ihnen gleichzutun – und gehörte aus Sicht der Herrschenden deshalb verboten. Jedenfalls glauben das literarische Optimisten. Literarische Pessimisten sehen eher die Gefahr – oder, je nach Interessenlage, die Chance – dass die Lektüre befriedigender Selbstbehauptungsgeschichten die Ausgebeuteten und Entrechteten davon abhält, sich ihr Recht in der Wirklichkeit zu holen. Beide Sichtweisen haben Beispiele für sich, von Hauptmanns Webern bis zu Courts-Mahlers Schmonzetten. Beide verfehlen indes das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft. Die meisten für das Individuum hinderlichen Zwänge sind nämlich in jeder denkbaren Gesellschaft keineswegs ungerecht. Unrecht kann nur sein, was anders sein könnte. Auf die Arbeit, die Sorge und die Hilfe anderer angewiesen sind wir aber in jeder vorstellbaren Gesellschaft, auch im Turbokapitalismus. Ein Sozialstaat erkennt diese wechselseitigen Abhängigkeiten und zieht aus ihnen Schlüsse: Etwa den, dass höhere Steuern zu zahlen hat, wem die Gesellschaft

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ermöglicht, ein höheres Einkommen zu erzielen. Bald hoffentlich auch den, dass die Aufzucht der Jungen, die im Alter alle versorgen sollen, von allen bezahlt gehört. Das Individuum, von den Griechen in Gestalt von Heroen und Halbgöttern erfunden, im Mittelalter für eine Zeitlang vergessen, wiedergeboren in der Renaissance – ist eine asoziale Fiktion. Der Mensch ist nicht „frei, und würd‘ er in Ketten geboren“. Der Mensch ist von der Geburt bis zum Tod auf Gedeih und Verderb auf andere Menschen angewiesen. Von dieser demütigen Natur des Menschen aber schweigt fast alle Literatur. Lieber fantasiert sie uns als Helden, autonom wie die Götter, unseres Glückes Schmied. Ihr gleisnerisches Versprechen ist die Freiheit von jenen Ketten, die uns mit den Eltern, Kindern, Geschwistern und allen Mitmenschen verbinden. Diese Ketten aber sind wir selber. Freiheit münzen wir wie jedes andere Gut als Geld. Die Verblendung über unseren unaufhebbaren Zusammenhang tritt nirgends greller zutage als in der Ahnungslosigkeit fast aller Literaten vom Geld. Goethe hatte vielleicht einen Schimmer. Auf jeden Olympier aber kommen zehntausend sterbliche Dichterinnen und Dichter, deren Helden nicht am Gelde hängen, wie wir Menschenmarionetten nun einmal an unsern Familien- und Gesellschaftsbanden hängen, sondern zum Geld drängen, es machen und verlieren, verschwenden oder sparen, als ließe sich Geld in der Einsamkeit schürfen wie Gold. Das falsche Bewusstsein des edlen Freibeuters, in dem Steuerhinterzieher, darunter ganze Staaten, die Allgemeinheit ausplündern, kommt auch aus der Literatur, zu der ja auch Drehbücher zählen. Filme, die heutzutage fast nur noch für kindliche Gemüter gemacht werden, beschwören unablässig den Mythos vom Einzelmenschen, der sein Glück selber in der Hand hat. Das hatte zwar nicht einmal Hans im Glück, aber wir lesen es gern, weil es unseren kindlichen Allmachtfantasien schmeichelt. Es bestärkt unseren kindlichen Trotz gegen eine Wirklichkeit, in der wir keine Heroen sind, sondern Sterbliche, denen im Alter Telemachos Essen und Trinken geben und vielleicht den Po putzen muss. Meine Mutter hat im Alter oft den Kopf schütteln müssen über die Infantilisierung der Gesellschaft. Ihr Gipfel ist das Unschuldsbewusstsein, in dem Double-Income-nokids Pärchen ein Konsumleben genießen, das sie sich so luxuriös nur leisten können, weil sie die Kosten ihrer Altersvorsorge auf Eltern abwälzen: Auf die Nachbarn, aber auf Eltern in ärmeren Ländern, deren Kinderreichtum wir heute kaum anders als in Zeiten der Sklaverei als Goldader ausbeuten, bis er auch dort versiegt: Die Geburtenzahl sinkt mit fortschreitender Entwicklung

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überall auf der Welt unter den Erhaltungswert. Spätestens dann muss eines von beiden aussterben: Die Mär vom Individuum oder die Menschheit Gibt es ein richtiges Schreiben im Falschen? Gibt es Literatur ohne ökonomischen Analphabetismus? Vielleicht, wenn wir ihre Helden aufs Altenteil schicken, nicht nur Odysseus, sondern auch Spartakus. Vielleicht, wenn wir mehr von den Müttern erzählen.

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Das Singen der Sirenen (Auszug) Michael Wildenhain Kapitel 46 – Pieschen Vom gleichnamigen Bahnhof herkommend, wird er am Abend seiner Ankunft durch den Stadtteil Pieschen laufen, zu seiner Unterkunft nächst der Elbe. Zwei Stunden vorher, am späteren Nachmittag, trifft er auf eine von Kali vermittelte Kontaktperson. Als Krippen der vernachlässigt wirkenden Gestalt im Neustädter Bahnhof gegenübersitzt, zweifelt er einen Moment, zur vereinbarten Zeit am richtigen Ort zu sein. Im Sprachgebrauch des „alteingesessenen Bewohners“, so der Mann über sich selbst, jener Neustadt, die hier in Dresden als das zentrale Szeneviertel gilt, lang schon saniert und aufgewertet, heißt das benachbarte Pieschen gelegentlich „Fick-Pieschen“, eine Bezeichnung, die der Mann mit einer gewissen Wehmut benutzt. „War mal.“ Der Informant, ein Waliser, 1990 in die Stadt gezogen und ihm von Kali als kundig empfohlen, als Kenner der politischen Gemengelage der Stadt – wann, fragt sich Krippen, war das? –, schaufelt eine gehäufte Gabel Eierschecke in sich hinein, die er, zusammen mit einer Großportion heißer Schokolade und doppelter Schlagsahne, beim Bäcker in der Bahnhofsvorhalle bestellt hat. Alles auf Spesenrechnung, klar. Er schiebt das schlabberige Gebäck in den erstaunlich weit zu öffnenden Mund, sodass mehrere Lücken im Gebiss sichtbar werden. „Jetzt nur noch paar Nazis. Dazu Alteingesessene, Übriggebliebene. Und die, denen der Bohei bei uns da in der Neustadt zu teuer geworden ist.“ Der Waliser, dessen Deutsch keinerlei sächsischen Akzent aufweist, erkundigt sich, ob eine zweite Portion „drin sei“. Und Jörg Krippen, immerhin froh, einen auskunftsfreudigen Informanten gefunden zu haben, bejaht. Zahlt alles Kali. Der Kuchenfreund mit Schmerbauch und zerstörten Zahnreihen schafft die nächste Ladung Gebäck zum wackeligen Tisch aus Plastik, der aussieht, als stamme er aus einem der vielbesungenen 3D-Drucker, alles ein Guss, keine Naht.

*  Der Auszug aus Michael Wildenhains Roman ist hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klett-Cotta veröffentlicht.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846765289_027

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Auszug aus „Das Singen der Sirenen “

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Spanlose Fertigung, denkt Krippen, erinnert sich an einen weit zurückliegenden Sommer, als er bei seinem Vater im Betrieb in verschiedenen Werkstätten ausgeholfen hat, bis er, nach einem Streit wegen seiner damaligen Dreadlocks, gekündigt worden ist. „Wursthaare“, so Martina einige Zeit später, bevor sie die Pracht ohne jedes Mitleid abgeschnitten hat. „Lass dich hier nie wieder sehen, scheiß linke Affenkoppzecke“, so der Meister im Werk Sickingenstraße auf dem KWU-Gelände, bevor er ihm die Papiere quer durch die Halle entgegen geschleudert hat. Mit dem Verdienst ist Krippen zwei Tage nach dem Rauswurf nach Bangladesch geflogen, danach durch den Nordosten Indiens getrampt. „Nee“, mümmelt der Informant und mampft seine Eierschecke, die unter der Schlagsahne verschwunden ist, „momentan sind die Nazis komplett ruhig. Warten ab, was Pegida bringt. Die haben die Zeit auf ihrer Seite.“ Er blickt Krippen aus wässerigen Augen an. Als Informatiker ist ihm der Mann von Kali beschrieben worden. Einer, der rechtsradikale Strukturen während der letzten gut zwanzig Jahre kontinuierlich recherchiert haben soll. Computer, denkt Krippen, sind augenscheinlich Gift für manche Leute. Vor seinem inneren Auge sieht er den Waliser in einer Souterrainwohnung, die er mit einem Kater und einer Heerschar Katzenflöhe teilt, Unmengen monotoner Daten eingeben, eine Vielzahl dröger Websites sichten, eine Armee an Namen in Excel-Tabellen schreiben, während auf der anderen Hälfte des Bildschirms Hentai-Pornos laufen, in denen extraterrestrische Schlingpflanzen und Wesen mit Tentakeln eine Hauptrolle spielen. Interessante Menschen, die dieser Kali kennt. „Sie müssen sich jedenfalls keine Sorgen machen. Sie sind blond, na ja, so in etwa. Hundeköter, würd’ ich sagen. Wenn das jetzt nich’ respektlos is’. Sie sprechen deutsch. Sie sind deutsch. Sie wirken weder schwul noch links. Und Ihre Haut ist hell – was soll passieren?“ Er schiebt sich den Rest der Eierschecke in einem Stück in den Rachen, grunzt „Dank noch mal, muss losmachen“, steht auf, schluckt den halben Pott Schokolade in einem Zug hinunter, schüttelt Jörg Krippen die Hand und läuft, ehe der eine weitere Frage stellen kann, zum nächsten Ausgang des Neustädter Bahnhofs. Während des anschließenden Spaziergangs durchs abendliche Pieschen, der S-Bahnhof eine Baustelle, die Unterführung ebenfalls, ein vietnamesischer Chinese bietet Mittagsmenüs an, begegnet Krippen weder einem Nazi noch überhaupt einem Menschen. Auch der Netto schräg gegenüber seinem Quartier, einer Gäste- oder Ferienwohnung, die Kali die kommenden vier Nächte für ihn gemietet hat, schließt früher als in Berlin.

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Die Wohnung im obersten Stockwerk, Neubau, Sparkassengebäude, Fahrstuhl, zentrale Schließanlage, besteht aus einer Diele, von der ein Bad mit Toilette abgeht, einen unguten Geruch verströmend, sobald ein Wasserhahn geöffnet oder die Spülung betätigt wird, einem geräumigen Wohnküchenschlafzimmer, Stil unverkennbar amerikanisch, das durch ein gläsern-milchiges Halbrund vom Vorraum, eben dem Flur mit Garderobe und Sanitärbereich, abgetrennt ist, sowie einer Terrasse, knapp unterm Dach gelegen und groß wie ein Fußballfeld. Sensationeller Blick bis zur Sächsischen Schweiz oder einem ähnlich bergigen Gebirgsvorland: Erzgebirge, Riesengebirge – Nazigegend, denkt Krippen. Und sagt zu seinem Spiegelbild: „Weniger Paranoia schadet nicht unbedingt.“ Dann schaltet er die Lüftung im Bad an und hofft, dass sich der saure Geruch, der aus dem Abfluss zu kommen scheint, in den folgenden Stunden verzieht. Er stellt sein Gepäck ab und geht, bis es dunkel wird, an der Elbe spazieren. Wenige Leute mit Hunden, Radfahrer, kaum Kinder, einige Jugendliche, die an einem kleinen Feuer Bier trinken und Steine auf dem Wasser springen lassen, nirgends ein Nazi. Früher, denkt Krippen, bist du mit deinem Sohn auch an der Elbe gewesen, oben bei Dannenberg. Danach der See in Mecklenburg. Alles lange her. Zu Abend isst er in einem Biergarten, in dem Vegetarier eine bedrohte Spezies sind, und während er, der Abend lau, fast warm in Sachsens Metropole, kein kühler Wind vom Fluss, das dritte Bier bestellt, fühlt er sich frei. Am übernächsten Tag, einem Montag, den Sonntag hat Krippen weitgehend verschlafen, obwohl er sich eine Bootsfahrt nach Bad Schandau vorgenommen hatte, bleibt ihm bis zum frühen Abend Zeit. Er isst beim falschen Chinesen am S-Bahnhof Pieschen, wundert sich erneut, wie wenig Menschen auf der Straße sind, sobald er sich vom Elbe-Center, in dem er wohnt, nur hundert Meter entfernt. Immerhin gibt es Schulkinder, die auf einem Pausenhof toben. Er wandert, ohne sich zu beeilen, auf Umwegen in die Innenstadt. Stunden bevor sich die Demonstranten auf dem Altmarkt versammeln, schlendert er an den schmuck hergerichteten Gebäuden des historischen Areals mit Oper, Schloss und Schnick und Schnack vorbei und gelangt an das Schauspielhaus, in dessen Nebennebenspielstätte sein erstes Stück inszeniert worden ist, seine einzige Uraufführung, eine Koproduktion mit dem Münchener Marstall-Theater. Ein Stück über den neudeutschen Rechtradikalismus, Jahre, nachdem die Nationalen Revolutionäre Dörfer und Landstriche beherrschten – zur Zeit der Uraufführung nur als noch unbekannter „Nationalsozialistischer Untergrund“ von den östlichen Freistaaten aus tätig, sonst weitgehend still in ihren befreiten Dörfern.

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Auszug aus „Das Singen der Sirenen “

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Nur ein toter Nazi ist – der Titel seines Stücks, Regie: die schöne Russin. Die nach der ersten Probe, als der Text von den Schauspielern laut gelesen worden ist, zum ersten Mal mit ihm schläft. Das Stück, in Dresden ein Flop, am Münchener Marstall gelobt, wird für ihn, den Jungdramatiker Krippen, das Ticket für die Summer School in London. Schließlich setzt er sich in ein Café, bestellt einen doppelten Espresso, um den Anmarsch der Pegida-Demonstranten zu beobachten. Oft ältere Männer mit Fahnen: Südtirol, Königreich Sachsen, Königreich Bayern, Russland, bevorzugt heute oder zur Zarenzeit, häufig die WirmerFlagge, die deutschen Farben als skandinavisches Kreuz. Nicht selten skurrile Forderungen auf Spruchtafeln aus Pappe: Asyl nur für Atheisten und Christen. Kaum Jüngere, Jugendliche, die kämpferisch wirken. Frauen in der Minderzahl. Die Kleidung vieler, Anorak, Parka, abgetragene Cord- oder Kunststoffhosen, wirkt ärmlich, die Brillengestelle, die Schirme, häufig Mützen und Hüte, als seien sie bereits in der verflossenen DDR in Gebrauch gewesen. Nur ein toter Nazi ist. Krippen trinkt seinen Espresso, zahlt. Schließt sich den Demonstranten an. Läuft mit ihnen vor bis zum Altmarkt, auf dem die vielleicht drei-, allenfalls vier-, keinesfalls fünftausend Teilnehmer der Kundgebung harren. Eine Rednertribüne ist aufgebaut, daneben ein Bierausschank, Plastikzelt, Schirme einer bekannten sächsischen Brauerei, Schutz gegen den Regen, der eben einsetzt. Ein Platz, auf dem die Versammelten, die ihm seltsam unschlüssig vorkommen, traurig wirken und klein. Stuhlbach, der Häuptling, der informelle Kopf der Patrioten – kein Rhetoriker, Krippen hat eine Rede von ihm im Internet gehört – lässt auf sich warten. Er überholt die versprengten Demonstranten, die Nachhut, die mit ihm auf den Platz strudelt, und stellt sich in den Schatten eines Säulengangs. Jetzt sieht er sie, die Kahlgeschorenen, die Ausrasierten mit dem ausgeprägten Bizeps, der gestalteten Brustmuskulatur – die Sonnenbrillen, die sie, Bügel verkehrt herum am Ohr, Gläser am Hinterkopf, man weiß ja nie, ebenso bei sich tragen wie die um die Hüfte geschlungenen Kapuzenpullis. Dazu Tücher, lässig in der Gesäßtasche oder an der Gürtelschlaufe, die Schnalle ein Greif aus poliertem Messing. Tücher aus Seide oder Baumwolle, dunkles Grau, Schwarz, die, ergänzt von einer Kapuze, der obligatorischen Sonnenbrille, Nase-Kinn-Augen verbergen, wenn der Tanz beginnt. Da warten sie, gelangweilt bei den Ordnern mit Signalweste, Walkie-Talkie, alle einander bekannt. Ebenso wie die vereinzelten Fans, Ultras von Dynamo Dresden. Einer trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: Sportmotorräder – N-S-U. So ist das, denkt Krippen. Und dann bemerkt er sie.

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Leon, sein Sohn, hält den bandagierten Arm noch in der Schlinge, seitlich auf der Stirn ein größeres Pflaster, ringsum Ränder, bräunliche Tinktur, irgendein Desinfektionsmittel, das Handgelenk wird gestützt durch eine Manschette. Sabrina trägt ihre gewohnte Jogginghose, Nike oder ein ähnlicher Aufdruck – obwohl Krippen unwillkürlich einen Schritt aus dem Schatten tritt, kann er nur das Sweatshirt und die rissige Lederjacke erkennen: Utensil jeder Aktion, jeder Demonstration gegen die Nazis. Sie stehen dicht vor der Rednertribüne, umgeben von einer Gruppe betagterer Männer in grobmaschigen Norweger-Pullis, die auf ihren selbstgeschneiderten Flaggen und Wimpeln an verschiedene Gaue des Deutschen Reichs erinnern. Geisterbahn, denkt Krippen. Er muss sich beherrschen, um nicht zu Leon und Sabrina hinüberzulaufen, sie anzusprechen, nach ihnen zu rufen, zu sagen, wie verloren sie ihm inmitten der überschaubaren Menge trübsinniger Demonstranten vorkommen, Zonenzausel, ausgelaugte Gesellen, die ihn auf diesem riesigen Platz an die verbliebenen Zähne im perforierten Gebiss seines Eierschecke schlingenden Informanten erinnern, der sich trotz mehrerer Anrufe nicht mehr gemeldet hat. Wiener Schnitzel mit Klößen wär sicherlich „drin“ gewesen. Als Stuhlbach die Bühne betritt, rücken Sabrina, mit ihr Leon einige Schritte auf den Redner zu. Kennst du den Feind, kennst du dich selbst? Was ist mit ihr los? Und wieso ist Leon ausgerechnet hier? Hat der nicht Schule? Ein lauer Sommerabend in Berlin. Kreuzberg, Neukölln, irgendwo da, sie zu dritt, Leon neun oder zehn Jahre alt, in einer Pizzeria. Das Essen gerade aufgetragen, als der Ball, vom nahegelegenen Fußballplatz über den Zaun geschossen, auf dem Gehsteig auftippt und, hätte Krippen nicht die Hand in einem Reflex ausgestreckt und das Leder gefangen, auf die Pizzen gehüpft wäre, plitsch und platsch: dazu die Cola, Sabrinas Kiba, Leons Mega-Mezzomix – der erste, der neben dem Tisch auftaucht, ist so eine fette Qualle, offenkundig um einiges älter als seine Mannschaftskameraden, zu kaum einer Bewegung fähig, aber vom Drahttor des Käfigs aus unablässig die Sprüche für seine Mitspieler oder über die Gegner reißend: „isch“ und „disch“ und „geb disch Bombe“ und „ey, du Kartoffel, isch weiß, wo dein Haus wohnt“, das heimelige Gesäusel, der Gesang der Kieze unweit des Landwehrkanals. Und dann steht er da, direkt vor Krippen, praller Bauch, voll der Schwabbel überm Bund der Sporthose, die aussieht wie von Turnvater Jahn in die Gegenwart gebeamt, und fordert den Ball zurück: „Is’ meiner.“

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Auszug aus „Das Singen der Sirenen “

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„Wie wär’s mit ’ner Entschuldigung?“ Krippen ruckt die Hand mit der Kugel einen halben Meter beiseite, als der Keeper, der scharf nach Schweiß riecht, danach greift. Leon umklammert sein Glas Mezzomix und rutscht fast von seinem Holzstuhl unter den Gartentisch mit dem geranienroten Tischtuch aus 1a-Plaste, garantiert Fett abweisend und komplett abwaschbar. „Ey, du Nazi, isch …“ „Ja?“ Krippen klemmt den Ball unter seinen Stuhl und beugt sich vor. „Isch mach disch …“ „Was?“ Er fasst nach dem Rand seines Pizzatellers, Diavolo, mit scharfer Soße, bereit, dem Clown das Porzellan über die Wange zu wischen. Leon vertröpfelt sein Getränk. Sabrina legt ihre linke wie ihre rechte Hand auf je eines der scharfen Messer, die ihnen der Kellner extra zum Schneiden neben die Pizzen gelegt hat, und erhebt sich von ihrem Stuhl. Drei weitere Spieler haben den Bolzplatz verlassen, sind aus dem Käfig zu ihnen herübergekommen, flankieren ihren Torwart, der ob des Verlaufs der Konfrontation irritiert ist, nicht weiß, wie weiter – „isch“, setzt er erneut an. Dann steht Sabrina Bauch an Bauch vor ihm, in jeder Hand ein Messer, nuschelt: „Reiß dich mal am Schlüppi, alter Mann.“ Jetzt müssen sie grinsen, die drei Begleiter. Einer von ihnen packt dem Tormann behutsam eine Hand auf die Schulter. Ein zweiter murmelt: „Der Murat, der is’ manchmal bisschen, hm, na ja. Aber der sieht das ehrlich nich’ so.“ Dem dritten händigt Krippen den Lederball aus. Und als sie zu viert Richtung Bolzplatz trödeln, hört er den Dickie, kaum liegen zehn Meter Abstand zwischen Gruppe und Tisch, laut genug, dass Sabrina und er es auch mitbekommen, hört ihn vernehmbar grummeln: „Das Stück deutsche Scheiße, die Fotze mit ihren Messern …“ Krippen legt Sabrina, die sich zurück auf den Stuhl setzt, eine Hand auf den Arm. Sie sieht ihn an und wispert: „Für diese blöden Wichser haben wir gekämpft.“ Was die Charge auf der Tribüne sagt, hört Krippen, ohne den Inhalt zu verstehen. Stattdessen versucht er sich ins Gedächtnis zu rufen, was Leon ihm von der Antifa an seiner Schule erzählt hat. Noch in der S-Bahn nach Pieschen – froh ob der Gesellschaft, die Sitzbank mit betrunkenen Punks, die Nazi-piss-off-Sticker tragen und deren Hunde stinken – hat er die Melodie des kaum strukturierten Gewäschs, die tollpatschig wirkenden Betonungen des Redners im Ohr, der sich als Volkstribun geriert und aussieht wie ein Mann, der Flaschen sammelt.

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Michael Wildenhain

Krippen steigt aus und läuft zu seinem Sparkassengebäude, ein Raumschiff, versehentlich gelandet an einem unguten Ort. Währenddessen werden Leon und Sabrina der Demonstration der Patrioten aus dem Panoptikum folgen, die sich der Kundgebung anschließt, durch die sonst stille Stadt. Wann genau sind sie nach Hellersdorf gezogen, weg von der Roten Insel am Rand von Schöneberg? Dem Umzug vorausgegangen waren diverse Streits mit Sabrina. Jedes Mal fühlt sich Krippen auf eine Art in die Defensive gedrängt, die ihn mit einem schalen Gefühl schlafen und aufstehen und den anschließenden Tag in der Bibliothek vertändeln lässt. „Halil, haram – was soll das? Vier Mal in den letzten acht Wochen hat er aufs Maul gekriegt. Von irgendwelchen asigen Türken, die immer – immer! – in der Überzahl sind.“ Ich bin in der Überzahl. Ein T-Shirt mit solch einem Aufdruck hat Krippen mal getragen. Lange her. „Das letzte Mal waren’s Araber. Definitiv.“ Während Leon in seiner Kammer vor seinem Computer sitzt, das Training im Verein will er, möglichst morgen, aufgeben, hocken Sabrina und Krippen in der Küche an der Kolonnenstraße, trinken Tee und Sabrina schüttelt den Kopf. „Na und? Ich kann’s nicht fassen, ehrlich. Türken, Araber. Scheiße, was soll das? Die Ärsche, die hau’n ihm einfach aufs Maul. Handy weg, Kohle weg. Und noch mal, zack, in die Fresse.“ „Einmal waren’s wahrscheinlich Jugoslawen. Bosnier. Is’ was anderes.“ „Spinnst du, Jörg? Bist du jetzt völlig gaga? Wir reißen uns den Arsch auf. Dich hat so ein Nazi fast geschlachtet. Jetzt komm’ diese Wichser und verprügeln unsern Sohn?“ „Sabrina, das kann man doch alles nicht vergleichen. Das …“ „Du bist so was von Stulle, Krippen. Ostbrot ist gar nix dagegen. Dieser scheiß Islam, das ist doch wie die Faschos, bloß mit halal und haram.“ Auf dem Rückweg von der Kundgebung, als Krippen in Gedanken versunken durch Pieschen läuft, begegnet er ersichtlich einem Nazi. Tätowiert bis über die Halskrause, am Gürtel „Unsere Ehre heißt Treue“, auf dem T-Shirt Odin statt Jesus, neben ihm ein Bullterrier, angeleint, mit Maulkorb, Säuglingsalter, fragt ihn der Mann nach Feuer. Indem er ihn über die Straße hinweg mit „Entschuldigen Sie, Kamerad“, und ohne die Stimme zu heben, ausgesucht höflich anspricht. Der Bullterrier winselt. Der Mann tritt auf die Fahrbahn. Krippen macht sich bereit: um an ihm vorbei zum Elbufer zu rennen, in den Biergarten mit den Schweinenackensteaks von der Größe eines Panzerkettenglieds.

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Auszug aus „Das Singen der Sirenen “

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„Nein. Nichtraucher.“ Er bleibt stehen. Spürt das Adrenalin, das ihm die Haare auf den Unterarmen und im Nacken aufstellt. In den Fingerspitzen ein Kribbeln, als habe er zulange mit dem Pinkeln gewartet. Der Babyterrier jammert erneut. Sein Maulkorb auf Zuwachs ist ihm von der Schnauze gerutscht. „Auch gesünder“, sagt der Mann. Der im gelblichen Licht der einzigen hellen Pieschener Laterne keine zehn Meter entfernt breitbeinig auf der Fahrbahn steht. „Dann noch schön’ Abend, Kamerad.“ Er hebt seinen zitternden Hund behutsam hoch, der den nicht kupierten Schwanz zwischen die Hinterläufe klemmt, streicht ihm über den Kopf und murmelt: „Noch keinen Monat alt. Aber das wird noch, das wird.“ Nach einer Schlachteplatte im Biergarten an der Elbe setzt sich Krippen mit der Bettdecke um die Schulter auf die Terrasse. Das Bad riecht nach wie vor nach toter Ratte. Er beginnt, seinen Artikel für den Cousin zu schreiben, in dem er die enorme Verlockung einer nationalen oder kulturalistischen Lösung der sozialen Frage thematisiert und die neuen Nomaden der upper class als Agenten der Herrschenden tituliert. Immer auf der Suche nach dem Erfolgreicheren erfüllen sie blind die Zumutungen derer, die sie bestimmen. Fliege, flieg um die Erde, sei Hamster und Rad, Unruhe und Rädchen, lang schon hast du vergessen, woher du gekommen bist. Vor sich am dunklen Himmel von Dresden erkennt er Kali, dessen Gesicht schwärzer ist als die Nacht. Sieht ihn tanzen, ihn mit den sechs bis acht Armen wedeln, während er mit den Augenbrauen abwechselnd Jojo spielt, eine Tasse galligen Nescafé-Surrogats trinkt und mehrere Blatt Papier in winzig kleine Schnipsel reißt, um die Fitzelchen, jedes für sich, in Zug um Zug geleerte Colaflaschen zu füllen, original classic design.

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Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Christoph Butterwege, nach Diplom in Sozialwissenschaft, M.A. in Philosophie, Promotion und Habilitation in Politikwissenschaft in Bremen, danach Lehrtätigkeit u.a. in Bremen, Münster und Duisburg, Fulda und Magdeburg, seit 1998 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln; 2017 Kandidat der Linken für die Bundespräsidentenwahl. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Armutforschung, zuletzt: „Die zerrissene Republik“ (2020), „Rechtspopulisten im Parlament“ (m. Gudrun Hentges und Gerd Wiegel, 2018). Prof. Dr. Klaus Dörre ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich Schiller-Universität Jena, einer der Direktoren des DFG-Kollegs Postwachstumsgesellschaften und Mitherausgeber des Berliner Journal für Soziologie und des Global Dialogue. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. auf dem Gebiet der Kapitalismusmustheorie, der Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung sowie des Rechtspopulismus. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: „Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa“ (2019), in Vorbereitung: „Digitale Restauration: Kapitalismus 4.0“ (m. Florian Butollo, 2020). Richard Gebhardt, Publizist und Erwachsenenbildner in Köln und Aachen. Letzte Buchveröffentlichung(als Hrsg.): „Fäuste, Fahnen, Fankulturen. Die Rückkehr der Hooligans im Stadion und auf der Straße“ (2017). Annett Gröschner, geboren 1964 in Magdeburg und seit 1983 in Berlin lebend, Schriftstellerin, Journalistin, Dozentin und Performerin. Bekannt wurde sie vor allem mit ihren Romanen Moskauer Eis (2000) und Walpurgistag (2011). Sie veröffentlicht Lyrik, Prosa, Dokumentarliteratur, Radiofeatures und Theaterstücke sowie journalistische Arbeiten. Zuletzt erschienen „Berliner Bürger*stuben“ (2020), „Berlin 1966-70“ (m. Arwed Messmer, 2019) und „Berolinas zornige Töchter: 50 Jahre Berliner Frauenbewegung“. Joachim Helfer wurde 1964 in Bonn geboren. Anglistikstudium in Hamburg, danach Freisen durch Europa, Afrika und die USA; seit 1990 Schriftsteller, Publizist und Übersetzer in Hamburg, seit 2001 in Berlin. Mehrere Romane und Prosabände, zuletzt gab er heraus: „ Twelve Stars: Philosophen schlagen einen Kurs für Europa vor“ (m. Marco Meyer u. Ralf Grötker, 2019), Wenn ich mir etwas wünschen dürfte. Intellektuelle zur Bundestagswahl 2017 (2017),

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Autorinnen und Autoren

„Durchgefressen und Durchgehauen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller zum 150 Geburtstag der SPD“ (2013). Dr. Stefanie Hürtgen lehrt und forscht zu den Veränderungsprozessen in Arbeit und Produktion. Sie hat in Berlin studiert und war einige Zeit in der Erwachsenen- und Gewerkschaftsbildung tätig. Stefanie Hürtgen arbeitet als Assistenzprofessorin im Bereich Wirtschaftsgeographie der Uni Salzburg, ist assoziiertes Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa Luxemburg Stiftung, zuletzt erschien: „Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte (m. Stephan Voswinkel, 2014). Prof. Dr. Cornelia Koppetsch, 1967 geboren, nach Psychologie-Studium in Gießen und Hamburg und Mitarbeit im Graduiertenkolleg „Gesellschaftsvergleich“ an der Freien Universität Berlin 1996 im Fach Soziologie promoviert. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Vertretungs- und Gastprofessorin an unterschiedlichen Universitäten, seit Oktober 2009 Professorin am Institut für Soziologie der TU Darmstadt. Veröffentlichung zuletzt: „Rechtspopulismus als Protest. Die gefährdete Mitte in der globalen Moderne“ (2020), „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ (2019). Norbert Niemann, freier Schriftsteller, lebt am Chiemsee und in München. Auszeichnungen: Ingeborg-Bachmann-Preis 1997, Carl-Amery-Preis 2015 u.a. Zuletzt erschienen: „Erschütterungen. Literatur und Globalisierung unter Diktat von Markt und Macht“ (Essay, 2017), „Die Einzigen“ (Roman, 2014). Monika Rinck lebt und arbeitet in Berlin. Veröffentlichungen in vielen Verlagen. Zuletzt sind erschienen „Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch“ (2019), „Wirksame Fiktionen“ (2019) und „Alle Türen. Gedichte“ (2018). Prof. Dr. David Salomon ist Gastprofessor am Institut für Sozialwissenschaften an der Stiftung Universität Hildesheim. Er studierte in Marburg Politikwissenschaft, Germanistik und Philosophie, wurde mit einer Arbeit über den jungen Brecht promoviert und forscht, arbeitet und publiziert zu Fragen der Demokratietheorie, politischen Bildung und politischen Ästhetik, Buchveröffentlichung zuletzt: „Demokratie“ (2012). Prof. Dr. Hannes Schammann ist Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre in der migrationspolitischen Praxis, unter anderem beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

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und der Robert Bosch Stiftung. Er leitet derzeit drei Projekte zur Rolle der Kommunen in der Migrationspolitik, schreibt an einem Lehrbuch und beobachtet eine meritokratische Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik, zuletzt erschien: „Migrationspolitik“ (m. Danielle Gluns, 2020). Stefan Schmitzer, geboren 1979; Autor, Kritiker, Performer; lebt in Graz. Zuletzt erschienen: “ Okzident express. falsch erinnerte Lieder “ (2019), „zweitausendachtzehn. vier moritaten“ (2018), “boring river notes” (2018); Performances mit C4/text/theater, zuletzt: “singe muse zorn. ilias 1-4” (2018), “richard ‘rüssl’ zwo” (2017). Preise und Stipendien zuletzt: Gisela-Scherer-Stipendium des Hausacher Leselenzes (2018), Arbeitsstipendium des Bundeskanzleramtes (2017). Dr. Erasmus Schöfer, freier Schriftsteller seit 1962, 1970 Inspirator und Organisator des “Werkkreis Literatur der Arbeitswelt”. Hauptwerk “Die Kinder des Sisyfos”, 4 Romane 2001 - 2008, Geschichte der 68er Generation zwischen 1968 und 1989. Neuauflage als Studienausgabe mit einem zusätzlichen Registerband (2018), außerdem „Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers“ (2016) sowie drei Bände im Klartext-Verlag mit Hörspielen, Essays und Texten zum Werkkreis. Ingar Solty, geboren 1979, lebt in Berlin. Er studierte Politikwissenschaft und ist Mitarbeiter des Forschungsprojekts “Europe in an Era of Political and Economic Crises” an der York University in Toronto in Kanada. Seit Juni 2016 Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Veröffentlichungen, zuletzt: „Exportweltmeiste in Fluchtursachen“ (2016), „Welt ohne Gewalt“ (2018), “Was tun in finsteren Zeiten?“ (2016), „Richtige Literatur im Falschen. Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik“ (m. Enno Stahl, Verbrecher Verlag) 2016. Dr. Enno Stahl, geboren 1962. Autor, Literaturwissenschaftler, Kulturjournalist. 1997 Promotion („Anti-Kunst und Abstraktion in der historischen Avantgarde“). Seit Mitte der 1980er Jahre literarische Veröffentlichungen, zuletzt erschienen u.a. die Romane: „Sanierungsgebiete“ (2019) und „Spätkirmes“ (2017) sowie die Essaybände: „Diskursdisko. Über Literatur und Gesellschaft“ (2019) und „Die Sprache der Neuen Rechten“ (2019). Anke Stelling, geboren 1971 in Ulm, ausgebildet am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, lebt in Berlin. Veröffentlichte die Romane „Bodentiefe Fenster“ (2015) und „Fürsorge“ (2017) sowie das Jugendbuch „Erna und die drei Wahrheiten“ (2017). Ihr Roman „Schäfchen im Trockenen“ wurde 2019 mit dem Preis der

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Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Schreibt auch Drehbücher, davon zuletzt gefördert „Ich hatte eine Farm“ – über Kolonialisierung jenseits von Afrika. PD Dr. Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und dort vor allem für Fragen der Sozial-, Arbeitsschutz- sowie der beruflichen Bildungspolitik zuständig. Zugleich ist er als Privatdozent für Soziologie an der Universität Jena tätig, zuletzt erschien: „Gute Arbeit in der Transformation“ (2019), zudem gab er mit Lothar Schröder heraus: „Tranformation der Arbeit – ein Blick zurück nach vorn“ (2019). Dr. Thomas Wagner, geb. 1967, ist Kultursoziologe und arbeitet als freier Autor für die deutsche und internationale Presse. Zahlreiche Buchveröffentlichungen auf den Themenfeldern politische Anthropologie, engagierte Literatur, Demokratietheorie, digitaler Kapitalismus und Transhumanismus. Jüngste Buchveröffentlichungen: „Das Netz in unsere Hand. Vom digitalen Kapitalismus zur Datendemokratie“ (2017) und „Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten“ (2017). Michael Wildenhain, 1958 geboren in Berlin, studierte Wirtschaftsingenieur, Philosophie und Informatik, danach Schriftsteller. Zahlreiche Lehraufträge, Residenzen und Gastprofessuren; veröffentlichte zahlreiche Romane, Theaterstücke und Kinderbücher, zuletzt das Jugendbuch: „Das schöne Leben und der schnelle Tod“ (2019) sowie die die Romane: „Träumer des Absoluten“ (2018), „Das Singen der Sirenen“ (2017) und „Das Lächeln der Alligatoren“ (2015). Diverse Preise und Stipendien, zuletzt: Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse (2015) und Longlist Deutscher Buchpreis (2017). Über ihn erschien der Band: „Gesichte und Individuum“ (2020). Dr. Raul Zelik, 1968 geboren in München, Schriftsteller, Übersetzer, Politikwissenschaftler, 2010-2013 Professor für Internationale und Vergleichende Politik an der Universidad Nacional de Colombia in Medellín/Kolumbien, Vertretungsprofessor an der Universität Kassel. Seit 2015 Kulturkorrespondent der Schweizer WOZ, verschiedene Stipendien und Preise, Veröffentlichungen zuletzt: „Wir Untoten des Kapitals“ (2020), „Die Linke im Baskenland“ (2019), „Spanien – Eine politische Geschichte der Gegenwart“ (Bertz & Fischer) 2018; Alle Storys (disadorno edition) 2017; Im Multiversum des Kapitals (VSA) 2016; Der Eindringling, Roman (Suhrkamp) 2012.

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