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German Pages [303] Year 2020
Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten
Band 8
Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski
Joanna Ławnikowska-Koper / Anna Majkiewicz (Hg.)
Literarisierung der Gesellschaft im Wandel Koordinaten der Gegenwartsprosa
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Jan-Długosz-Universität Cze˛stochowa. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: »Maszynka do robienia ciszy« [Stille-Macher] (100x100 cm, oil on canvas, 2016), © Tomasz Wojtysek, www.wojtysek.pl. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1222-5
Inhalt
Schauplatz Familie Ewelina Kamin´ska-Ossowska Im Getriebe der Weltgeschichte oder zur Schilderung der Menschenschicksale im südlichen Ostseeraum im Roman »Keine Königskinder« von Ilse Sarecka . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anna Majkiewicz Die Road-Story als Medium der Literarisierung eines gesellschaftlichen Umbruchs. »Milenas Erben« von Wolfgang Sréter . . . . . . . . . . . . .
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Anna Rutka Desintegrierte jüdische Familiengeschichte. Maxim Billers Austritte aus deutschem Gedächtnistheater in seinem Migrationsroman »Sechs Koffer« (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Joanna Ławnikowska-Koper Literarisierung des sozialen, mentalen und materiellen Wandels in Inger-Maria Mahlkes europäischem Familien- und Generationenroman »Archipel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Poetologische Überschreitungen Magorzata Dubrowska Literarisierung weiblicher Schicksale in Bettina Spoerris Roman »Herzvirus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Joanna Drynda Gefühlsraum Osten. Zu Anna Mitgutschs Roman »Die Annäherung« . . .
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Inhalt
Dorota Sos´nicka ›Etwas tun. Ich sagen.‹ Das literarische »Konzept« der Gesellschaft in Otto F. Walters Kollektivroman »Die ersten Unruhen« (1972) . . . . . . . 113 Elz˙bieta Hurnik Neue Narrative über den Holocaust – Berichte von Söhnen und Enkelkindern. Martin Pollacks Reportagen »Warum wurden die Stanisławs erschossen?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Agata Mirecka Gegen den Zynismus der Gewohnheit immun bleiben. Ein Versuch über das Engagement im Roman »GRM. Brainfuck« von Sibylle Berg . . . . . . 155
Paradigmen im Wandel Marta Wimmer Diversität und Exklusion. Geschlechtliche Heterogenität im gegenwärtigen Jugendroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Katarzyna Lukas Trauma und Migrationserfahrung in Julya Rabinowichs »Spaltkopf« (2008) und Natascha Wodins »Sie kam aus Mariupol« (2017) aus gesellschaftskritischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Monika Wolting Postheroische Gesellschaft. Eine neu erzählte Geschichte von David und Goliath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Rafał Pokrywka Rhetorik der Genrewertung in Zeiten der Enthierarchisierung . . . . . . . 223
Polnische Kontexte Adam Regiewicz Im Schatten des ewigen Tannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Magdalena Ba˛k Literatur und (E)migration. Verschiedene Aspekte polnisch-deutscher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Inhalt
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Markus Eberharter Julius Mosens Gedicht »Die letzten Zehn vom vierten Regiment«. Zur Rezeption eines Polenliedes im interkulturellen Kontext . . . . . . . 277 Verzeichnis der AutorInnen
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Vorwort
Das vergangene 20. und die ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts sind eine Zeit des prophezeiten und vollzogenen Untergangs des Abendlandes und nicht weniger des erhofften unbelehrten Glaubens an den Sieg des Humanen. Die bewaffneten Konflikte der ersten Phase dieses Zeitabschnitts mit ihren festen Eckdaten – 1914–1918, 1939–1945 – haben die etablierte Ordnung zerrüttet und die tradierten Werte infrage gestellt. Auf dem mühsamen Wege der Erinnerungsarbeit entwickelte sich in Europa eine Gedächtniskultur, die den Umgang der Gesellschaften mit Geschichte rationalisierte. Bald musste aber die Weltgemeinschaft neuen Herausforderungen standhalten. Die Terrorakte, die am 11. September 2001 ihren Anfang nahmen, stellten Staaten und Völker vor neue Fragen, zu denen auch die Reaktionen auf die Migrationskrise 2015 als Folge des Krieges in Syrien gehören. Das Jahr 2020 konfrontiert die Weltgesellschaft mit einer im neuen Millennium bis dato beispiellosen Pandemie, die alle Werte relativiert. Die einzelnen Menschen und ganze Gesellschaften werden so stets auf die Probe gestellt. Die damit einhergehende globale Verunsicherung wird von Politisierung und Polarisierung begleitet und scheint zu eskalieren. Gleichzeitig ermöglichen immer neue Technologien – wie zum Beispiel künstliche Intelligenz – die Optimierung der Arbeitsprozesse, internationale Organisationen kämpfen für gerechte Güterverteilung und Solidarität, Zivilgesellschaften werden immer aktiver bei der Förderung einer nachhaltigen Klimapolitik. In dieser komplexen Wirklichkeit gewinnen die Debatten um Identitätskonzepte, Werte und Paradigmen, Zeit- und Raumverständnis angesichts der Globalisierung an Brisanz und gültige Definitionen verlangen nach Revision. Die Metapher einer flüchtigen Moderne (Zygmunt Bauman) verlangt heute angesichts der breiten Gegenwart (Hans Ulrich Gumbrecht) eine neue Auslegung. Die Logik der Vorwärtsbewegung ist nicht den Modernisierungsprozessen gleichzusetzen. Die unaufhaltsame Entwicklung verändert kontinuierlich und nachhaltig private und kollektive Lebenswelten. Diese Diagnose gilt global für Gesellschaftsbilder, etwa nach erwähnten historischen Einschnitten. Sie behält ihre Gültigkeit auch für jeden kleinen Akteur im großen Welttheater. Die Lite-
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Vorwort
ratur verzeichnet diese Gesellschaftsbilder, indem sie den Wandel literarisiert und damit ästhetisiert. So archiviert sie den Sachbestand und stellt die Komplexität der Gegenwart und die Kontingenz moderner Gesellschaften dar. Im Sammelband »Literarisierung der Gesellschaft im Wandel« kommen LiteraturwissenschaftlerInnen zu Wort, die in der Literatur mit ihrem kompensatorischen Potential die Wiedergabe diverser Wandlungsprozesse erkennen und benennen, aber auch die Literatur selbst als einen dem Wandel unterliegenden Bereich diskursivieren. Mit ihren interdisziplinär ausgerichteten Fragestellungen, Re- und Neudefinitionen von poetologischen Begriffen oder fächerübergreifenden Diagnosen versuchen sie der Kategorie der Literarisierung und dem Phänomen der Gesellschaft im Wandel nahezukommen. Die vier thematischen Schwerpunkte strukturieren den Band, im ersten rückt die Familie als Schauplatz des Wandels in den Vordergrund. Ewelina Kamin´skaOssowska geht auf die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die deutsche Gesellschaft zurück und zeigt in ihrer Analyse des Romans »Keine Königskinder« von Ilse Sarecka die Völkerwanderung des 20. Jahrhunderts mit den Einblicken in den DDR-Alltag und die Wende-Zeit im Kontext des Erinnerungsdiskurses. An diesen Themenkomplex knüpft auch die Familiengeschichte von Wolfgang Sréter an, mit der sich Anna Majkiewicz aus der Perspektive einer Road-Story auseinandersetzt. Das jüdische Motiv dagegen kommt im Aufsatz von Anna Rutka, in dem die Desintegration einer jüdischen Familie, jedoch nicht aufgrund des Stereotyps einer Traumatisierung durch die Schoah, thematisiert wird, wieder zum Vorschein. Der Familienplot liegt auch Inger-Maria Mahlkes Roman »Archipel« zugrunde, den Joanna Ławnikowska-Koper auf die Formen der Darstellung des Wandels untersucht. Der Jahrhundertroman wird hier als Archiv des sozialen, mentalen und materiellen Wandels dargestellt. Eine um den vertieften poetologischen Ansatz erweiterte Reflexion über familiäre und gesellschaftliche Problematik prägt die Aufsätze des zweiten Kapitels »Poetologische Überschreitungen«. Małgorzata Dubrowska erörtert die vielfältigen Möglichkeiten des Erinnerungsnarrativs im Roman »Herzvirus« von Bettina Spoerris, dessen Handlung auf die Entwicklung und Emanzipation der Protagonistin als Frau rekurriert. Joanna Drynda erforscht Osteuropabilder in Anna Mitgutschs »Die Annäherung«, indem sie die Wechselwirkungen von Raumerfahrung und Affektivität untersucht. Die Möglichkeiten der Erzählstrategie stellt in dem Otto F. Walters Roman »Die ersten Unruhen« gewidmeten Aufsatz Dorota Sos´nicka dar. Der experimentelle Charakter dieser Prosa fördert die gesellschaftskritische Brisanz und damit auch eine aktuelle Rezeption des Werkes. Elz˙bieta Hurnik kehrt in ihrem Beitrag zu Martin Pollacks Reportagen »Warum wurden die Stanisławs erschossen?« zurück und konstatiert in den Berichten von Söhnen und Enkelkindern den neuen Schreibansatz über den Holocaust. Die Rolle und Bedeutung der Erzählsituation für die Umsetzung der
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gesellschaftskritischen Botschaft eines literarischen Textes untersucht Agata Mirecka am Beispiel von »GRM-Brainfuck« von Sibylle Berg. Die Texte des dritten Kapitels »Paradigmen im Wandel« rücken aktuelle Diskurse, die das Bild moderner Gesellschaften Europas prägen, ins Blickfeld. Marta Wimmer untersucht die Heterogenität im gegenwärtigen Jugendroman und verweist auf die Vielfalt der Lebens-, Geschlechts- und Sexualitätskonzepte in der Jugendliteratur am Beispiel der Romane: »Liebe macht Anders« von Karen-Susan Fessel, »Wie ich so bin« von Christine Fehér und »Atlan_ta Läuferin« von Lilly Axster. Katarzyna Lukas analysiert die Romane »Sie kam aus Mariupol« von Natascha Wodin und »Spaltkopf« von Julya Rabinowich hinsichtlich der Auswirkungen der Migrationserfahrung auf die erste und zweite Generation und stellt deren »kulturelle Entwurzelung und soziale Ausgrenzung fest«. Von einer neuen Poetik der Kriegs- und Krisenerzählungen schreibt Monika Wolting, die Norbert Scheuers Roman »Die Sprache der Vögel« als einen »postheroischen Roman« auslegt. Der letzte Text dieses Teils ist der theoretischen Reflexion gewidmet. Rafał Pokrywka beantwortet die Frage nach der »Rhetorik der Genrewertung in Zeiten der Enthierarchisierung« vor dem Hintergrund der sich aus der Praxis des literarischen Feldes ergebenden Zwänge. Im letzten Kapitel dieses Sammelbandes werden »Polnische Kontexte« erörtert. Adam Regiewicz, der schon im Schaffen von Olga Tokarczuk, Andrzej Stasiuk und Paweł Huelle die »Flucht aus dem Zentrum« diagnostizierte, widmet seine Reflexion der Abkehr der polnischen Gegenwartsliteratur (nach 1989) vom romantischen Paradigma. Er exemplifiziert dies in seinem Beitrag am Beispiel der Prosa von Szczepan Twardoch »Wieczny Grunwald« [Ewiges Tannenberg]. Den gesellschaftlichen Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen greift Magdalena Ba˛k auf, die sich im ihrem Text der Problematik der Migration und deren Begleiterscheinungen annähert, indem sie das Schaffen von Dorota Danielewicz, Tomasz Łychowski und Tomasz Róz˙ycki untersucht. Der Beitrag von Markus Eberharter kontextualisiert das bekannte Polenlied »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« von Julius Mosen im Hinblick auf seine Übersetzungen und stellt Fragen nach der Tragweite des Textes. Mit der Textvorlage überschreitet er so zwar den Rahmen der Gegenwartsliteratur, verweist aber mit dem Hinweis auf die Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte auf die heutige Aktualität von Mosens Gedicht insbesondere in Polen. Die AutorInnen der Beiträge reflektieren den Wandel aus diversen Forschungsperspektiven. Sie verweisen auf Kontexte, Trends und Phänomene der gegenwärtigen Wandlungsprozesse (bewaffnete Konflikte, individuelles und kollektives Gedächtnis, Migration, Politisierung des Alltags, Genderfrage, Familie) und neue Modi ihrer literarischen Umsetzung. Damit wird die Rolle der Gegenwartsliteratur als eines sensiblen Seismographen des gesellschaftlichen
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Vorwort
Wandels bestätigt und ihre Bedeutung in der Archivierung und Strukturierung der Wirklichkeit in dem ordnenden Raum der Stille bekräftigt. Als die visuelle Ergänzung des Bandes gilt das eindrucksvolle Gemälde von Tomasz Wojtysek. Die Herausgeberinnen danken dem Künstler herzlich für die Abdruckerlaubnis des Titelbildes. Joanna Ławnikowska-Koper, Anna Majkiewicz Cze˛stochowa im Juli 2020
Schauplatz Familie
Ewelina Kamin´ska-Ossowska (Szczecin)
Im Getriebe der Weltgeschichte oder zur Schilderung der Menschenschicksale im südlichen Ostseeraum im Roman »Keine Königskinder« von Ilse Sarecka
Abstract: Der Beitrag gilt dem Roman »Keine Königskinder« von Ilse Sarecka, in dem die Geschichte von mehreren Generationen einer Familie und speziell von zwei Frauen mit starker Persönlichkeit, Großmutter und Enkelin, dargestellt wird. Der auf das Volkslied anspielende Titel deutet Schicksalsschläge und Trennungen an, die hier hauptsächlich aus historischen und politischen Entwicklungen in Europa resultieren. Die Schriftstellerin thematisiert das Leben am Kurischen Haff in den 1930er Jahren, die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und seine Folgen, so das Zerbrechen der alten Ordnung, die Völkerwanderung des 20. Jahrhunderts, den Alltag in der DDR und schließlich die mit der Wende von 1989 verbundenen Transformationen (in) der ostdeutschen Provinz. Der Roman wird im Rahmen des Erinnerungsdiskurses in der Literatur erörtert.
Die südliche Ostsee ist eine für Forscher vieler Wissenschaftsbereiche interessante Region. Historiker beschäftigen sich mit ihrer Geschichte und Kultur, gehen auch der Herkunft ihrer heutigen Bevölkerung nach.1 Untersucht werden die naturräumlichen Verhältnisse, u. a. die Artenvielfalt der Vögel, ihre Rast- und Überwinterungsgebiete.2 Schließlich preisen Touristikexperten und Reiseführer die Schönheit der dortigen Natur und laden die Gäste zum Erleben der lokalen Spezifik ein. Bis man im 21. Jahrhundert diesen Küstenabschnitt unbekümmert mit geografischen, zoologischen, wohl auch touristischen Besonderheiten assoziieren kann, mussten viele turbulente Zeiten durchlebt werden: Die Kulturunterschiede waren nicht immer willkommen, manche Elemente der Vielfalt sind verloren gegangen. Den Einfluss dieser aus den geschichtlichen Entwicklungen 1 Vgl. Krieger, Martin: Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte. Ditzingen: Philipp Reclam 2019; Kunstmann, Heinrich: Slaven und Prußen an Ostsee, Weichsel und Memel. Über ihre Herkunft vom Balkan und aus Kleinasien. Norderstedt: Book on Demand 2019. 2 Vgl. Bosecke, Thomas: Vorsorgender Küstenschutz und integriertes Küstenzonenmanagement (IKZM) an der deutschen Ostseeküste. Strategien, Vorgaben und Defizite aus der Sicht des Raumordnungsrechts, des Naturschutz- und europäischen Habitatschutzrechts sowie des Rechts der Wasserwirtschaft. Berlin: Springer-Verlag 2003. (Schriftenreihe: Natur und Recht: Bd. 6).
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in Europa resultierenden Prozesse auf die im südlichen Ostseeraum lebenden Menschen reflektiert der 2018 erschienene Roman »Keine Königskinder« von Ilse Sarecka3.
Figuren, Raum, Erzählspezifik Die Handlung des Vierteilers4 ist breit angelegt, umfasst den Zeitraum von den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis zu den Jahren nach der Jahrtausendwende. Auch die geografische Ausdehnung ist weit, die Familiengeschichte beginnt am Kurischen Haff, wechselt zum Salzhaff und führt wieder in Richtung Osten, zum Stettiner Haff. Die Entscheidung der Autorin, die Figuren in den provinziellen Ortschaften an den durch eine Nehrung oder vorgelagerte Inseln von der See getrennten Gewässern leben zu lassen, kann als Hinweis auf deren Unwichtigkeit verstanden werden, denn im Zentrum stehen einfache Menschen, insbesondere Frauen, die als Individuen die allgemeinen politischen bzw. sozialen Veränderungen weder mitbestimmen noch aufhalten können. Auch wenn sie gegen die Widrigkeiten des Schicksals ankämpfen, werden sie, oft gegen ihren Willen, auf die Rolle von Spielfiguren reduziert. Die Handlungsträgerinnen sind zunächst die Großmutter Irma Sataikis, dann ihre Enkelin AnnRieke. Die Familie der Ersteren lebt seit Generationen in dem von den Deutschen und den Balten mitgestalteten Raum, am Kurischen Haff, ist mit diesem Landstrich durch harte Arbeit und Tradition verbunden. »Ihre Welt war hier. Sie hatte sie übernommen. Aufgetragen bekommen, sie zu achten, zu pflegen und zu bewahren, egal, was geschah. Eine einfache Sache, die ihr Sohn nicht zu verstehen schien, sogar von sich wies.«5 Der junge Mann unterliegt dem Einfluss der Politik, nur sein Sohn Hannes übernimmt von der weisen Alten die Sensibilität für Mensch und Natur. Die Tochter Inga heiratet einen in Pferdezucht bewanderten, sich an alle Umstände anpassenden Ludwig Trakis, die Enkelin wird auch in der Region geboren und unter Obhut der Großmutter sozialisiert. In der Verwandtschaft gibt es polnische und litauische Ehemänner, der ostpreußische Dialekt ist mit litauischen, polnischen, ukrainischen und russischen Entlehnungen durchsetzt. Infolge der nationalistischen Tendenzen und speziell des Zweiten Weltkrieges bekommt diese multikulturelle Welt Risse, die später zu deren Ende führen werden. Ingas Mann wird dienstlich versetzt und somit muss ihre kleine Familie an das Salzhaff umziehen, ohne zu ahnen, dass der als vor3 Zum Leben und Werk von Ilse Sarecka vgl. Kamin´ska, Ewelina: Ilse Sarecka – Porträt einer pommerschen Autorin. In: Colloquia Germanica Stetinensia 2013, H. 22, S. 181–199. 4 Sarecka, Ilse: Keine Königskinder. Stamsried: Verlag Ernst Vögel 2018. Die Teile tragen folgende Titel: 1. Am Kurischen Haff, 2. Am Salzhaff, 3. Wie die Wolken, 4. Am Stettiner Haff. 5 Ebd., S. 5.
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übergehend betrachtete Ortswechsel den endgültigen Abschied von Ostpreußen bedeutet. Oma Irma und Hannes bleiben in der heimatlichen Region, leben in der sowjetischen Litauischen Republik, später in Litauen. Die Wahl des nördlichen Ostpreußens zum ersten Schauplatz der Handlung mag eines der Vorhaben der Autorin andeuten: den Text im Rahmen des Erinnerungsdiskurses zu platzieren. Die Kurische Nehrung, eines der ehemals deutschen, aber multikulturell geprägten Ostgebiete, setzt die Inszenierung des Vergangenen und die Einführung von den in der Vergangenheit eingetauchten Figuren voraus. Dem Raum kommt eine zusätzliche Bedeutung zu, als Erinnerungsort und -träger im Sinne von Pierre Nora6 ist er identitätsstiftend und für die Herausbildung des kollektiven Gedächtnisses einer bestimmten Menschengruppe verantwortlich. Aus den geschichtspolitischen Entwicklungen resultiert die Notwendigkeit der Protagonisten, nach 1945 die Existenz woanders neu aufzubauen. Die verlassene Region besitzt also verschiedene Semantik, sie ist ein die Identität stärkender Faktor, bildet den Hintergrund der Erinnerung, steht für das Gewesene und auch für das Trauma des Verlustes von Bezugspersonen.7 Der Befehl, Trakis soll im Spätherbst 1942 einen Pferdetransport nach Rerik am Salzhaff begleiten, markiert den Anfang einer neuen Etappe im Leben von Ann-Rieke und ihren Eltern. Somit wird die Handlung auf zwei Räume geteilt, wobei die nun im Mecklenburgischen lebende Enkelin eine zentrale Rolle zu spielen beginnt und sich zu einer jungen Frau mit starker Persönlichkeit entwickelt, während die immer seltener werdenden Erlebnisse der in Ostpreußen verbliebenen Großmutter auf deren allmähliche Verwandlung in eine Nebenfigur hindeuten. Die beiden Aufenthaltsorte der Figuren sind – trotz manch landschaftlicher Ähnlichkeit – kontrastierende Räume und werden mit gegensätzlichen Emotionen assoziiert. Symbolisierte die Kurische Nehrung Nähe, Geborgenheit und die Nächsten, steht der neue Ort für Ungewisses und in räumlicher sowie kultureller Hinsicht Fremdes: »Königsberg oder Memel, ja das waren nach Ingas Verständnis und Erleben Städte, mit prächtigen Bürgerhäusern, breiten Straßen, Geschäften und auch elegant gekleideten Damen und Herren, mit Leben und Treiben. Aber dieses Rerik? […] Was war das für ein Stottername. Irgendjemand musste ihn künstlich erfunden, zusammengestottert haben.«8
Der Ort wird für eine vorübergehende Bleibe gehalten. Mutter und Tochter üben Hilfsarbeiten aus, begegnen anständigen Zivilpersonen (Fischer Knudson, Greta 6 Vgl. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Übers. von Wolfgang Kaiser. Frankfurt/M.: Fischer 1998. 7 Zur Funktion des Raumes siehe: Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999, S. 42. 8 Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 74.
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Mahlmann und ihr Sohn Henner, genannt der Junge)9 und manch brutalen Uniformierten, die trotz der sich verschlechternden Lage an der NS-Ideologie festhalten. Die Rerik-Etappe geht ebenfalls mit einem Befehl zu Ende. Trakis wird nach Ueckermünde zu einem in der Munitionsfabrik beschäftigten Verwandten seines Vorgesetzten geschickt. Die ostpreußische Welt der Großmutter erlebt in dieser Zeit einen viel tieferen Zusammenbruch. Ihr Sohn trägt nun die Uniform eines sowjetischen Kommissars, überredet aber im Herbst 1944 die Mutter zur Flucht vor der Roten Armee und organisiert für sie den Transport zu ihrer Schwester nach Kaunas. Am Ende des zweiten Teils wird also auf zwei Fahrten ins Ungewisse verwiesen. Bei der Gestaltung von Ann-Riekes Überlegungen bedient sich die Autorin der Metafiktion, einer Spielart literarischer Selbstreflexivität: Die Protagonistin »ahnt nicht, dass ein Schriftsteller über Henner, genannt der Junge, über Knudson, den treuen Fischer, über Frau Mahlmann erzählen wird und Rerik der Handlungsort nicht nur einer fiktiven Geschichte sein wird.«10 Im dritten Teil verlagert sich der Schwerpunkt deutlich auf die Enkelin. Die Trakis gelangen in das ostvorpommersche Kosenow. Im Februar 1945 gerät die alte Welt aus den Fugen. In Swinemünde sind Flüchtlinge aus Ostpreußen, bald kommen auch jene aus Hinterpommern, der Gutsherr mit seiner Familie flieht, Einheimische plündern sein Anwesen, die Sowjets erobern das Städtchen, die Frauen, auch Inge und Ann-Rieke, müssen sich vor ihnen verstecken. Die Reaktionen der Bevölkerung zeugen von der völligen Orientierungslosigkeit: »Erst nach einigen Tagen wurde wieder gefragt. Zunächst ohne Fragewörter: ›Wirklich?‹ ›Vorbei?‹ ›Aus?‹ Dann kamen die Fragewörter hinzu: ›Was nun?‹ ›Wer bestimmt?‹ ›Wie geht es weiter?‹ ›Wann kommen die Männer zurück?‹ ›Was passiert mit…?‹ 9 Rerik, Fischer Knudson mit seiner kranken Frau, der Junge – diese Konstellation deutet unmissverständlich auf die in Alfred Anderschs »Sansibar oder der letzte Grund« gesuchte Inspiration hin und ist ein Beispiel für eine explizite Intertextualität. Im Gegensatz zu Anderschs Roman, in dem der »Lesende Klosterschüler« von Ernst Barlach nach Schweden transportiert werden muss, wird hier die geschmuggelte Skulptur nicht näher charakterisiert. Vgl. Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 92–93: Der Junge will »weg vom kleinen Salzhaff und erst recht weg von Rerik«; Knudson würde seine kranke Frau niemals alleine lassen, damit sie nicht von »den Steifen« weggeholt wird; der Pastor kommt mit einer Bitte um einen Transport nach Schweden; Grete wird dann von den Behörden nach einer Statue, »undeutsch und entartet soll sie gewesen sein«, nach »irgendwelchen Juden und Roten« ausgefragt. 10 Ebd., S. 134.
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Viele Fragen blieben unbeantwortet. Soviel war gewiss: Deutschland hatte endlich kapituliert, die Waffen schwiegen. Doch die Beklemmung blieb.«11
Der Neuanfang ist für die Alt- und Neu-Kosenower eine Zeit des Provisoriums und der fehlenden Moral, »Zeit des Umbruchs, der Veränderungen, des Umdenkens, aber auch der Ängste […].«12 In welche Richtung sich die politische Situation in der sowjetischen Besatzungszone entwickelt, wird anlässlich des Erntedankfestes deutlich, als die SED-Genossen den Kirchenplatz als Ausgangspunkt des feierlichen Umzugs verbieten. Ann-Rieke kann allerdings optimistisch in die Zukunft denken: Sie nimmt das Angebot der Weiterbildung zur Lehrerin an und schließt eine Bekanntschaft mit Alfred Funke, der sich in sie verliebt. Die Platzierung der jungen Frau im Mittelpunkt des Geschehens reduziert die Schilderung der Schicksale der in Ostpreußen Zurückgebliebenen auf das Minimum. Aus einem Brief der Großmutter erfahren die Trakis von den nun in der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik lebenden Verwandten: Die Frauen arbeiten in einer Kolchose, Hannes in einer Fabrik. Dann folgt noch eine zehn Seiten umfassende, zeitraffende Passage »Hannes in Litauen«, welche die Geschichte seiner Familie (Frau Katarina, Sohn Igor, Enkelsohn Boris) näherbringt und nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Litauen endet. Die Zukunft wird proleptisch skizziert, indem Boris von seinem Großvater hört, er werde bald zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland gehen, dort etwas besorgen und mit dem Jungen eines Tages eine Reise machen. Der Teil »Am Stettiner Haff« ist einschließlich der Familie von Ann-Rieke Funke gewidmet. Er beginnt nach der Wende von 1989 und führt analeptisch die Ereignisse vor, die ihrem Entschluss zum Lehrerstudium folgten, also die in der DDR verbrachten Jahrzehnte. Die Wende-Thematik bildet einen Rahmen, in den die Geschichte dieses Staates und der Protagonistin gefasst werden. Seit vierzig Jahren ist sie Lehrerin der Polytechnischen Oberschule im Dorf Bliewen (ein fiktiver Name), hat zwei mittlerweile erwachsene Kinder und einen Ehemann, mit dem sie nur wenig verbindet. Es dominiert die Perspektive einer Pädagogin, so stehen im Zentrum die Entwicklungen an der Schule, u. a. die Ideologisierung der Lehrprogramme, Sitzungen wegen staatsfeindlicher Bemerkungen, Erntehilfeansätze in einer LPG, Rückgang der Kinderzahl und Schließung der Schule nach 1989. Das Private spielt sich vor dem Hintergrund der Politik (Wende, Verlegung von Betrieben und Mangel an Arbeitsplätzen), auch die Ereignisse im Nachbarland Polen (Proteste von 1970 und offener Grenzverkehr, Kriegszustand) werden berücksichtigt. Am Ende ist Ann-Rieke eine ältere Frau, die zurückge-
11 Ebd., S. 203. 12 Ebd., S. 224.
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zogen mit ihren Hunden lebt und auf den in einem Brief aus Litauen angekündigten Besuch von Hannes wartet. Von den mehreren Generationen der Familie sind speziell zwei Frauen mit starker Persönlichkeit ausgestattet, Großmutter und Enkelin, während die Männer letztendlich im Hintergrund bleiben. Der Anfang des Romans mutet allerdings anders an, da scheinen Großmutter und der unter ihrem Einfluss stehende, sensible Hannes die Hauptfiguren zu sein, beide entrücken der Haupthandlung erst mit der Versetzung von Trakis nach Rerik. Die somit erfolgte Trennung der Familie und deren Verlegung auf zwei Räume dürfen hier als eine Maßnahme, die Erinnerung an das Gewesene zu evozieren, betrachtet werden: Die seltenen Briefe von Großmutter und Hannes »hielten in ihr [Ann-Rieke – E.K.-O.] Erinnerungen nicht nur an liebe Menschen, sondern an ihre heimatlichen Haffdünen lebendig und ermöglichten ihr schließlich Gemeinsamkeiten mit dem Strand am Salzhaff zu entdecken […].«13 Die in Ostpreußen Verbliebenen erfüllen – ähnlich wie dieser Raum – die Funktion der Erinnerungsstütze, verkörpern bestimmte Gedächtnisinhalte und fungieren als Brücke zwischen den verschiedenen Lebensetappen der Figuren. Es fehlt hier aber die in den meisten Erinnerungsromanen übliche Ebene der Gegenwart, die deren Erinnerungsarbeit und die daraus resultierende Inszenierung der Erinnerungen beobachten ließe. Der Leser gewinnt deshalb den Eindruck, dass im Zentrum das Geschehen und nicht die Rhetorik der Erinnerung stehe.14 Der Roman beginnt mit einer märchenhaften, in Präsens gehaltenen Szene: »Die Bäuerin sitzt im Schaukelstuhl neben dem Fenster. Sie gönnt sich eine Ruhepause. Wie so oft nutzt sie diese Momente, um zu träumen, zu spinnen, wie sie über sich selbst lachend meint. Sie muss es tun. Sie braucht dieses Spinnen für ihn und für sie. Sie muss etwas parat haben, wenn sie kommen und drängeln: ›Los Großmutter, erzähl!‹ Die Frau beobachtet das Geschehen da draußen, lauscht und schon beginnt sich das Spinnrad zu drehen.«15
Dann folgt der Anfang des in der Volksliteratur wurzelnden Märchens von den Königskindern Regen und Wolke, den wiederum die Reflexion der ersten Figur begleitet:
13 Ebd., S. 84–85. 14 Vgl. dazu: Fünf Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart: J. B. Metzler 2017, S. 191–192, hier S. 192: »Der reflexive Modus liegt vor, wenn das literarische Werk eine erinnerungskulturelle Selbstbeobachtung ermöglicht.« Gemeint ist eine Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart, in der die Erinnerung als Prozess und nicht als Ergebnis des Prozesses wirken sollte. Auch Erll, Kollektives Gedächtnis. 2018, S. 201–211. 15 Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 2.
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»Ja, so würde sie ihre Geschichte anfangen und wenn ihre beiden Enkelkinder dann mit weit geöffneten Augen und Münden lauschten, würde sie sagen: ›Weiter weiß ich nicht. Jetzt müsst ihr euch die Geschichte schon selber zu einem guten Ende spinnen!‹«16
So wird die Analepse eingeleitet, die Zeitform (Präteritum, selten Perfekt) deutet auf das sog. spätere Erzählen17 hin und markiert den Übergang zur richtigen Handlung, die sich grundsätzlich in der Vergangenheit zuträgt. Im Wechsel kommen dann der Bericht des am Geschehen nicht beteiligten auktorialen, extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählers und die in direkter Rede wiedergegebenen Dialoge der Figuren vor. An mehreren Stellen des Textes ist die Nullfokalisierung des Erzählers deutlich: »Das Leben hier verlief wie am Schnürchen, glatt, perfekt organisiert. Aber schon bald soll ihnen wieder vergegenwärtigt werden, wie sehr sie sich im Krieg befanden. […] Inga würde bald mit einigen von ihnen nähere Bekanntschaft machen, aber davon ahnte sie noch nichts.«18
Die Handlungsabläufe (das Was des Erzählten, d. h. Ebene der histoire)19 werden größtenteils chronologisch berichtet. Eine anachrone Ausnahme stellen die Passage »Hannes in Litauen« sowie der Teil »Am Stettiner Haff« dar. In der ersten finden sowohl eine Rückwendung zu Nachkriegserfahrungen (Analepse) als auch eine Vorausdeutung der künftigen Reise (Prolepse) dieses aus dem Hauptstrang verschwundenen Protagonisten statt. Dank diesem Einschub erscheint das am Ende des Romans vorwegzunehmende Wiedersehen der einst ineinander verliebten Enkelkinder der Großmutter Irma logisch und möglich. Im Mittelpunkt stehen jeweils eine der Figuren (Großmutter, Ann-Rieke, episodenhaft auch Hannes) und ihr Umfeld, die Informationen über ihre Nächsten hängen meistens mit den für diese Person wichtigen Situationen zusammen. An bestimmten Stellen erscheint ein personaler, intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler. Das gilt für die Großmutter, deren Briefe (eine Form der eingeschobenen Narration)20 gelegentlich zitiert werden, und insbesondere für AnnRieke, die im dritten Teil des Romans ein Tagebuch zu führen beginnt. Es ist hier als eine mit Kursivdruck deutlich markierte Binnengeschichte gedacht, die
16 Ebd., S. 3. 17 Vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. u. aktualisierte Aufl. München: C.H. Beck 2012, S. 72, 74–75. 18 Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 77. 19 Zu Begriffen Geschichte/histoire und Diskurs/discours vgl. Todorov, Tzvetan: Die Kategorien der literarischen Erzählung. Übers. von Irmela Rehbein. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Blumensath. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1972, S. 263–294, bes. S. 264–265. (Neue wissenschaftliche Bibliothek: Bd. 43). 20 Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung. 2012, S. 76–77.
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Einträge, eigentlich nie abgeschickte Briefe an Hannes,21 stehen in Präsens oder Präteritum, je nach den beschriebenen Erlebnissen der Figur, so den aktuellen: »[…] heute ist ein richtiger Freudentag für mich. […] Wir bleiben jetzt hier, bis alles vorbei ist«22 oder den erinnerten: »Noch niemand hatte an diesem Morgen die Strecke befahren […]. Ich dachte an unsere Winter in Ostpreußen, wie wir und die beiden Hunde Warris und Marris Spuren im Schnee abdrückten und Großmutter Irma mit einem Blick wusste, wo wir uns befanden: auf dem Weg zum Haff.«23
Ein Tagebuch führt auch Boris, seine einem inneren Monolog ähnelnden Einträge – einfache Schrift mit Anführungszeichen – sind Kommentare zu der politischen Situation in Litauen um die Wendezeit und den daraus resultierenden Veränderungen für die Familie: »Ich bin nun schon fast 11 Jahre alt, es gab in der letzten Zeit eine Menge Veränderungen. Pionier bin ich schon lange nicht mehr […]. Wir sprechen immer öfter Litauisch und jetzt lerne ich auch Deutsch als Fremdsprache in der Schule.«24
Trotz der Einführung von diesen ergänzenden Erzählinstanzen kommt es zu keiner kontrastierenden Raum- bzw. Geschichtsdarstellung,25 denn entweder reflektieren die Figuren in Aussagen bzw. Gedanken andere Räume (Kurischer Haff, Salzhaff, Stettiner Haff) oder sinnen über einen Raum zu einem anderen Zeitpunkt nach, so dass bspw. das zu Anfang des Romans erlebte und dann erinnerte Ostpreußen nur in geografischer Hinsicht dem späteren litauischen Territorium entspricht.
Geschichtsdarstellung und Umgang mit Geschichtlichem Die Ansiedlung der Handlung an drei Haffs ermöglicht es, am Beispiel der Lebensläufe der Protagonisten ein Stück der deutschen bzw. europäischen Geschichte zu schildern. Die Inszenierung des Geschehenen verläuft nach dem Muster des historischen Romans bzw. des Gesellschaftsromans, entworfen wird ein Panorama von ca. 90 Jahren. Den Hintergrund bilden historische Tatsachen (die Entwicklungen im deutsch-litauisch-polnisch-russisch geprägten Baltikum in den 1920er–1930er Jahren, der Zweite Weltkrieg, Anknüpfungen an die Situation von Frontsoldaten und Zivilisten, Flucht aus den Ostgebieten 1944–1945, 21 Das Tagebuch der Protagonistin und die Briefe kann man als eine Beglaubigungsstrategie verstehen, die der erzählten Welt Authentizität verleihen sollte. 22 Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 173. 23 Ebd., S. 177. 24 Ebd., S. 256. 25 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis. 2017, S. 202.
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Einmarsch der Roten Armee, Veränderungen in der sowjetischen Besatzungszone, die Realität der DDR, Entwicklungen der Nach-Wende-Zeit), die in private und familiäre (Erinnerungs-)Bilder transformiert werden. Es handelt sich keinesfalls um einen Dokumentarroman, dort werden weder historische Dokumente zitiert26 noch wissenschaftliche Fakten erörtert, auch wenn die erzählte Zeit und viele Begebenheiten dem faktischen Geschehen nahegebracht werden. Die historischen Ereignisse und alle Veränderungen der die Protagonisten umgebenden Welt werden eigentlich durch das Prisma ihres privaten Kummers wahrgenommen, die Mikrostruktur (individuelle Erfahrung) sagt über die Makrostruktur (Weltgeschehen) aus. Den 1. September 1939 begleiten zwei Bilder: die offizielle Nachricht vom Kriegsausbruch aus dem Volksempfänger und das Heu vernichtende Unwetter, wobei die »dunkle[n] Wolken«27 auch metaphorisch zu verstehen sind. Den Ernst der Lage verdeutlichen u. a. die medizinische Erstversorgung als Fach in Ann-Riekes Hauswirtschaftsschule und die baldige Einberufung der Männer zur Wehrmacht, in deren Folge plötzlich Hände zur Arbeit im Hof fehlen, aber erst die Todesmeldungen in Nachbarsfamilien (»gefallen für Führer, Volk und Vaterland«28) trotzen den Siegesverkündungen der Propaganda. Die sich verschlechternde Versorgung der Zivilbevölkerung, Bombardierung der Militäranlagen in Rerik und erneute Dienstversetzung von Trakis sind Symptome des nahenden Kriegsendes. Für die Unsicherheit der nachfolgenden Übergangszeit steht das Verhalten sowjetischer Soldaten gegenüber Deutschen, insbesondere Frauen. Spätere Entwicklungen im kommunistisch regierten Land werden am Beispiel alltäglicher Situationen angedeutet: Es fehlt an Baumaterialien für die Ausbesserung des Hauses in Bliewen, in Ann-Riekes Schule herrscht keine Meinungsfreiheit, ihr Sohn muss eine dreijährige Dienstzeit bei den Seestreitkräften der Nationalen Volksarmee absolvieren, die Mängel der Planwirtschaft auf beiden Seiten der Oder werden anlässlich einer Polenreise wahrgenommen. Die Autorin unternimmt den Versuch, Fiktionalität durch Faktizität zu ergänzen, was mancherorts in (etwas zu langen) an ein Sachbuch erinnernden Erklärungen jener Inhalte mündet, die dem Leser unbekannt sein mögen und wohl deshalb von den Buchfiguren geliefert werden. So lässt sie zunächst Trakis die Lage und Spezifik von Rerik schildern:
26 Dokumentarisches ist im Roman selten zu finden. Es wird ein Einberufungsbefehl der Wehrmacht abgedruckt, vgl. Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 54–55. Vereinzelt wird auf Auszüge aus Rundfunkmeldungen und Zeitungen verwiesen, u. a. auf das musikalische LisztMotiv vor den Sondermeldungen oder auf Wehrmachtsberichte, vgl. Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 46, 54, 182. 27 Vgl. Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 34. 28 Ebd., S. 59, vgl. auch S. 54–61.
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»Rerik ist ein kleiner Ort ganz im Westen von Mecklemnurg. Er liegt an der Ostsee und am Salzhaff und ist nur durch eine schmale Landbrücke mit em Festland verbunden. […] Dort wurde angeblich immer nur Landwirtschaft betrieben. Aber nun hat die deutsche Wehrmacht diese Insel für eigene Zwecke erworben und darauf die größte Flak-Artillerie-Schule des Deutschen Reiches errichtet.«29
Ein paar Seiten weiter findet der Leser eine viel längere Passage über die Umbenennung der slawischen Siedlung Alt-Gaarz zu Rerik und den Bau von Kasernen und Militäranlagen, die einem Eintrag in einem Lexikon gleichen können.30 Auch die Informationen über das Kriegsgefangenenlager für sowjetische Kriegsgefangene oder über die Zerstörungen infolge eines Bombenangriffs 1943, dessen Folgen Ann-Rieke beobachtet, sind Ergebnisse einer Recherche. Es soll nämlich vermerkt werden, dass sich der Roman primär auf intensive Vorbereitungen stützt und nur zum Teil auf individuelle Erfahrungen der Schriftstellerin bezieht.31 Die Nachforschungen seien auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen. Im Falle des bereits zitierten Ortes mag die Notwendigkeit der Erklärungen aus dessen relativ geringem Bekanntheitsgrad außerhalb der Region resultieren. Ähnliches kann auch für die Schilderung der Geschichte Litauens (der Vertrag mit Deutschem Reich vom 22. März 1939, über den Irma im »Völkischen Beobachter« liest)32 oder der Situation in Polen von 1970 (Streik der Werftarbeiter, Forderung nach Reformen, Brand des Sitzes der Wojewodschaftsleitung der Vereinigten Arbeiterpartei Polens in Szczecin, Demonstrationen in Gdan´sk, Regierungswechsel, freier Grenzverkehr zwischen der VRP und der DDR, den Ann-Riekes Familie nutzt)33 gelten, die manch deutschem Leser unbekannt sein dürfen. Auch die Realität der ehemaligen DDR hält Ilse Sarecka für erklärungsbedürftig, wohl in der Annahme, den Westsozialisierten oder nach der Wende Geborenen könnten einige Begriffe fremd vorkommen. Die Abkürzungen werden nur ausgeschrieben, oft im Klammern (MAS, Maschinen-Ausleih-Station; MTS, Maschinen-Traktoren-Station; SED, Sozialistische Einheitspartei Deutschlands; LPG, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft),34 den Platz des etwaigen ausführlichen Kommentars nimmt der situationsgebundene Handlungsablauf. Erwähnt werden viele Elemente der kommunistischen Wirklichkeit: Die Lehrer und Schüler nehmen an der »Fest29 Ebd., S. 63. 30 Vgl. ebd., S. 74–75. Vgl. dazu: Ostseebad Rerik. (Zugriff am 02. 05. 2020). 31 Information aus dem Gespräch mit Ilse Sarecka anlässlich ihrer Lesung in Ksia˛z˙nica Pomorska in Szczecin am 23. Oktober 2019. Auch wenn die Erinnerung im Autobiographischen wurzelt, ist sie immer selektiv. So ist die Grenze zwischen der ›wahren‹ und ›falschen‹ Erinnerung sehr verschwommen, denn erinnert wird primär das, was das Individuum in dem konkreten Zeitpunkt braucht und was einem von ihm bestimmten Zweck dienen kann. 32 Vgl. Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 19. 33 Vgl. ebd., S. 301–302. 34 Vgl. ebd., S. 232, 306.
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veranstaltung am 7. Oktober zu Ehren der Gründung der DDR«35 teil; das »Parteilehrjahr«36 ist Pflicht der Lehrerschaft; die als Vitamin-B bezeichneten Beziehungen erleichtern »das Besorgen« vieler Mangelwaren37 und das Umgehen von lebensfernen Vorschriften; der im Voraus bezahlte ersehnte Trabi38 wird nach 11 Jahren geliefert; die Kinder sind Mitglieder der Pionierorganisation, kennen ihren Ruf »Für Frieden und Sozialismus seid bereit!« und die Antwort »Immer bereit!«;39 Erwachsene sehen sich im Fernseher die Propaganda-Sendung »Der Schwarze Kanal« mit Karl-Eduard von Schnitzler40 an. Zum Teil spiegeln sich also im Erzählten ein paar – im Sinne von Pierre Nora und der Arbeit von Hagen Schulze und Etienne François bestimmte – Erinnerungsorte der DDR, u. a. der Tag der Republik, das Blauhemd der FDJ (hier weißes Hemd und blaues Halstuch der Pioniere) sowie Trabant, wider.41 Im Hinblick auf die Geschichts- und Raumkonstruktion kann man den Roman nur bedingt zu Erinnerungstexten zählen. Der Konstruktcharakter des Vergangenen ist offensichtlich und die dargestellte Welt darf keinesfalls als exaktes Abbild der Vergangenheit gesehen werden, auch wenn die auf der diegetischen Ebene in der Vergangenheit platzierte Handlung manche biografischen Elemente besitzt. Die Familie von Ilse Sarecka erlebte die Folgen der Flucht und Vertreibung aus Cammin in Pommern und wurde in Vorpommern (in Kosenow) angesiedelt. Vor der Heirat war die Autorin Lehrerin in Neustadt-Glewe, sie kennt also aus eigener Erfahrung die Realität vieler Lebensbereiche in der ehemaligen DDR. Nach der Wende zog sie mit Mann und Kindern nach Ueckermünde im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern, so sind ihr die damaligen Entwicklungen in den ostdeutschen Städtchen gut vertraut. Der Text weist also einen hohen Grad an Fiktion auf, stützt sich aber auf publizistisch-wissenschaftliche Recherchen und – in beschränktem Ausmaß – Erinnerungen. Der Aspekt der Erinnerung spielt hier nur eine ergänzende Rolle, es darf sich dabei auch zum Teil um sog. falsche Erinnerungen handeln, die stark verinnerlicht wurden und als eigene fungieren, obwohl sie von anderen stammen (z. B. kollektives Gedächtnis der Deutsch-Balten, der ehemaligen DDR-Bürger oder einer Generation) und
35 36 37 38 39 40 41
Ebd., S. 274. Vgl. ebd., S. 275. Vgl. ebd., S. 273, 313. Vgl. ebd., S. 300. Ebd., S. 284. Vgl. ebd., S. 307 – hier der Name des Redakteurs: Eduard von Schnitzler. Vgl. Erinnerungsorte der DDR. Hrsg. von Martin Sabrow. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010, u. a. Kapitel: Gries, Rainer: der Tag der Republik, S. 159–170; Wolle, Stefan: das Blauhemd der FDJ, S. 183–194; Kaminsky, Anna: Einkaufsbeutel und Bückware, S. 195– 205. In der Ausgabe: Erinnerungsorte der DDR. Hrsg. von Martin Sabrow. München: C.H. Beck 2009 auch: Merkel, Ina: Der Trabant, S. 363–374.
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eigentlich Erinnerungsimplantate sind.42 Die Fictions of memory erlaubt es aber, kulturell zirkulierende Versionen und Konzepte von Erinnerung, Gedächtnis und Identität aufzugreifen, kreativ zu verarbeiten und auf unterschiedlichen textinternen Ebenen zu inszenieren43 und sie daher »deutlich auf gegenwärtige Belange«44 auszurichten. Platziert man den Roman von Sarecka im Rahmen des Erinnerungsdiskurses, so kann er teilweise (besonders der letzte Teil »Am Stettiner Haff«) auch die Nach-Wende-Narrationen vertreten. Er gibt Raum jenen Erinnerungen, »die nicht ins offiziöse Gedächtnis der DDR passten«45 und so ihr Geschichtsbild dekonstruieren. Es werden nämlich manch unrühmliche Begebenheiten in der ostdeutschen Provinz archiviert, bspw. lange Lehrerversammlungen mit Referaten der Parteigenossen,46 Angst der Lehrerinnen, einen Frauen belästigenden Kollegen öffentlich anzuklagen,47 und geheime Taufe der Kinder48 zu der DDRZeit oder das spätere Bedürfnis vieler Jugendlicher nach wildem Autojagdgebahren und Aufputschmitteln als »einem nie geahnten Gefühl von Freiheit.«49 Außerdem werden mehrere politisch bedingte Brüche in den nationalen und individuellen Identitäten angesprochen. Die Trakis müssen zuerst Bürger des neuen Arbeiter- und Bauernstaates werden. Einen anderen Identitätswandel vertritt die Generation der Kinder von Ann-Rieke. Diesem Prozess liegt die Entscheidung ihres Sohnes Tom zugrunde, der nach der Schiffskatastrophe von den Kanadiern gerettet wird, in ihrem Land um Asyl bittet und somit die Verbindung zum Land seiner Kindheit freiwillig aufgibt. Die Schwester Rita folgt ihm 42 Vgl. Fried, Johannes: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. 1., durchges. u. erw. Aufl. München: C.H. Beck 2012, S. 252–255 (»Die zur erinnerten Wirklichkeit gewordene Fiktion kann als Implantat in das kulturelle Gedächtnis betrachtet werden«), S. 383 (»Gedächtnisimplantate schleichen sich unmerklich in die Erinnerungen ein«). 43 Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht XXXVII, 2004, H. 4, S. 333–360, hier S. 337. 44 Neumann, Birgit: Fictions of memory im Fremdsprachenunterricht. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf literarische Inszenierungen von Erinnerung und Identität. In: Romandidaktik. Theoretische Grundlagen, Methoden, Lektüreanregungen. Hrsg. von Wolfgang Hallet/Ansgar Nünning unter Mitarbeit von Britta Freitag/Jutta Weingarten. Trier: Wissenschaftlicher Verl., 2009, S. 353–370, hier S. 357. (Neue wissenschaftliche Bibliothek: Bd. 43). 45 Gansel, Carsten: Vom ›kulturellen Gedächtnis‹ und der DDR. In: Spiegel der Forschung. Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen 26, Dez. 2009, H. 2, S. 40–45, hier S. 40, 41. 46 Vgl. Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 278. 47 Vgl. ebd., S. 276–278. 48 Vgl. ebd., S. 286–288. 49 Ebd., S. 261. Die Bezeichnung »Autojagdgebahren« wird von der Autorin des Romans übernommen.
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nach der Wende mit ihrer Tochter, so dass Ann-Rieke allein in dem Städtchen bleibt. Die Entwicklungen in der Endphase des Bestehens der DDR treffen am schlimmsten Ann-Riekes Mann Alfred, der bei der Kasernierten Volkspolizei arbeitete und die politischen Parolen des kommunistischen Regimes weitgehend internalisiert hat: Er »blies ins gleiche Horn wie die Fernsehkommentatoren. Er redete von der polnischen Konterrevolution und von der amerikanischen Verhetzung in Polen.«50 Seine Autoritätsposition ist längst verschwunden, er verfällt der Trunksucht, entfremdet sich der Familie und wird schließlich tot am Strand aufgefunden. Die späteren Nach-Wende-Transformationsprozesse in der ostdeutschen Provinz werden dem Leser nur aus der Perspektive von der schon alten und etwas verbitterten Ann-Rieke vorgeführt: »Die Wende mit all ihren Veränderungen war auch nach Bliewen gekommen, in jeden Winkel. Zunächst mit Jubel, Überschwänglichkeit und Kaufrausch. Dann mit Abwanderung, Verlassenheit und Enttäuschung.«51 Trost sucht sie in der Natur und Erinnerung an die Großmutter, die ihren Enkeln bestimmte Werte beigebracht hat: »Sie, die alles festhalten und erhalten wollte. Am Leben hat sie über alle Verluste hinweg festgehalten und Zuversicht an ihre Nachkommen übertragen.«52 Gleich kommt bei ihr aber die Selbstreflexion über die Unterschiede in der Denkweise des frühen 20. und des 21. Jahrhundert auf: »Ob dieser Hoffnungsglaube auch bei ihnen so stark sein kann, dass die Jungen wieder zurückkommen, dass Bliewen nicht nur ein hin und wieder besuchter Urlaubsort, sondern eine mit Leben erfüllte Bleibe wird?«53 Mit dieser Frage wird eine Brücke zwischen dem War- und dem Ist-Zustand geschlagen, aber diese zu beantworten, wagt die Protagonistin nicht. Ihr Leben wird folgendermaßen pointiert: »Sie hatte die Hände gerührt, den Kopf angestrengt und auch pflichtbewusst gesetzte Ziele erreicht. […] bis sie sich wieder hintergangen und verlassen fühlte.«54 Der Zukunftsoptimismus gilt dann lediglich der Möglichkeit, ihren geliebten Hannes wieder zu sehen. Im Hinblick auf die Untersuchung der Umsetzung des Geschichtlichen im Roman sollte noch den in die Handlung eingeflochtenen Namen und Zitaten aus Werken von Vertretern der deutschen Kultur, insbesondere Literatur, etwas Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Tendenz offenbart sich gleich zu Beginn des Textes, mit der Anführung der Auszüge aus dem Märchen von zwei Königskindern, Wolke und Regen, die einander lieben, aber ständige Trennungen erleben. Anspielungen auf diese Königskinder sind im Text mehrfach zu finden,55
50 51 52 53 54 55
Ebd., S. 302. Ebd., S. 314. Ebd., S. 315. Ebd., S. 315–316. Ebd., S. 314–315. Vgl. ebd., S. 54, 66.
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die letzte Seite bringt das Ende der Geschichte.56 Die beiden Gestalten entspringen einer langen literarischen Tradition, die in mehreren Varianten bekannte Volksballade »Es waren zwei Königskinder« geht auf antiken, griechischen Stoff zurück.57 Im Zusammenhang mit diesem Text werden die Königskinder im Allgemeinen mit unglücklicher Liebe und Trennung assoziiert,58 so dass bereits der Titel des untersuchten Romans dessen Inhalt vorauszudeuten scheint, doch die dem Substantiv vorangestellte Negation die Leser Hoffnung auf das Wiedersehen der einst ineinander Verliebten hegen lässt. Die Handlungsabläufe werden oft von Anspielungen auf große Namen der deutschen Literatur oder von Zitaten aus bekannten Werken begleitet. Man gewinnt den Eindruck, die Autorin möchte – unmissverständlich im Stil einer ehemaligen Lehrerin – die Gelegenheit zur Wissensverbreitung nutzen. Unter den Zitierten fallen speziell die mit dem nördlichen Ostpreußen verbundenen Gestalten auf. Irma begegnet bei ihren Wanderungen in den Dünen der Kurischen Nehrung einem nachdenklichen Mann, dessen Foto sie später in der Zeitung findet: »wo er neben seiner Villa in den Dünen mit Frau und Kindern abgebildet war […]. Ein Nobelpreisträger für Literatur, hier in der Abgeschiedenheit von Kurland!«59 Der Name wird nicht genannt, doch die Vermutung, der Leser werde Thomas Mann erkennen, liegt nahe. Hannes paraphrasiert zu Ehren seiner Cousine das bekannte, dem ostpreußischen Dichter Simon Dach zugeschriebene, Volkslied von »Ännchen von Tharau« und besingt seine Ann-Rieke vom Samland.60 Diese begegnet in Rerik Figuren, die in Anlehnung an den bereits erwähnten Roman von Alfred Andersch geschaffen werden, sucht 1945 selbst Trost in Büchern und findet eins von ihrem Landsmann Johann Gottfried Herder – ihre persönliche Lage verursacht, dass sie besonders von einem Satz über die 56 Auf der Rückseite des Romans wird diese Geschichte als »eine märchenhafte Rahmenhandlung [bezeichnet – E.K.-O.], deren Erzählerinnen zwei Frauen sind, zu Beginn die Großmutter aus der Haupthandlung und zum Schluss deren Enkelin […].« 57 Vgl. Holzapfel, Otto: Das große deutsche Volksballadenbuch. Mit einem Nachwort und Erläuterungen sowie acht Farbtafeln und zahlreichen Abbildungen. Düsseldorf, Zürich: Artemis und Winkler 2000, S. 206–213. 58 Den Titel »Königskinder« tragen mehrere Werke, u. a. die Märchenoper von Engelbert Humperdinck, eine Filmkomödie von Helmut Käutner (1950), ein Defa-Liebesfilm (1962) und ein TV-Jugendfilm (2003). Vgl. Königskinder. , Königskinder. (Zugriff am 02. 05. 2020). Unter den mit Königskindern assoziierten Film-Produktionen ist auch »Riekes-Liebe« von 2001 – es handelt sich um eine Inzestgeschichte eines Eiskunstlaufen trainierenden Geschwisterpaares, die mit dem Selbstmord des Mädchens endet. Vgl. Riekes Liebe. < https://www.filmdienst.de/film/details/5233 14/riekes-liebe> (Zugriff am 02. 05. 2020). 59 Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 12. 60 Vgl. ebd., S. 32. Siehe auch ebd., S. 315: »Und er wird Annchen vom Kurland zu ihr sagen […].«
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glücklichen Jugendjahre, in denen die Hoffnungen noch nicht eingeschränkt sind,61 angetan ist. Später hängt über ihrem Schreibtisch ein Spruch von Immanuel Kant, den sie in der unsicheren Zeit in Kosenow gefunden und »als einen Wink aus ihrer Urheimat Ostpreußen aufgenommen« hat.62 Schon in der Jugend hörte sie von einem mit der Großmutter befreundeten Professor, »dass Kant, dieser große Philosoph, nie seine Heimatstadt Königsberg verlassen hatte«, nun sieht sie in diesem Umstand eine Parallele zu ihrer eigenen Situation: »Man konnte also durchaus am Rande sein, bleiben und trotzdem Sinnvolles tun, vielleicht auch die Welt sogar als Randfigur ein bisschen beeinflussen.«63 Diese kurze Charakteristik der intertextuellen Einschübe verdeutlicht, dass diese immer im Zusammenhang mit der Gefühlswelt der Figuren stehen und als Kommentar zu deren jeweiliger Lage fungieren (die Protagonistin »schrieb sich Gedanken auf, die sie besonders berührten oder hinter denen sie etwas ahnte, das auch ihr persönliches Leben betraf«64). Das gilt auch für das als Herbstlied bekannte Volkslied »Bunt sind schon die Wälder«,65 welches an dem Tag gesungen wird, als ein Abschied bevorsteht, da Hannes nach Königsberg zur Lehre fährt, und für Goethes Epos »Hermann und Dorothea«, das Ann-Rieke als entwurzelte und fast besitzlose Neu-Kosenowerin liest.66 Der Ordnung halber seien hier noch ein paar Gedichte67 erwähnt, die aus der Feder der Autorin stammen und ebenfalls ein Kommentar zu dem Dargestellten sind.
Schlussbemerkungen Wie oben bereits dargelegt wurde, bietet der Roman eine Möglichkeit, über die Schicksale einfacher Menschen vor dem Hintergrund der Geschichte und Politik nachzudenken. Er ist, wie es bekanntlich für die Literatur gilt, Medium des kollektiven Gedächtnisses, geht zwar von fiktiven Einzelfällen aus, aber bezieht sich auf die allgemeine Geschichte. Das Anliegen – wohl auch die politische 61 Vgl. ebd., S. 175. Der im Roman zitierte Satz stammt aus dem als Vorrede zu »Palmblätter. Erlesene morgenländische Erzählungen für die Jugend. Teil I« von Johann Gottfried Herder und August Jakob Liebeskind gedachten Aufsatz »Ueber den Werth morgenländischer Erzählungen zur Bildung der Jugend« (Durchgesehen und verbessert von F.A. Krummacher. Vorrede von J.G. Herder. Berlin: Reimer 1857, S. IV). 62 Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 280. 63 Ebd., S. 280–281. 64 Ebd., S. 182. 65 Vgl. ebd., S. 46. 66 Vgl. ebd., S. 182–183. 67 Vgl. ebd., S. 27, 183 (»Zwischenspiele«), 277, 294 (»Getrimmte Prinzipientreue«). »Zwischenspiele« sind ein Fall der Selbstreferenzialität, denn es heißt, es sei eins der »Gedichte einer kaum bekannten Autorin«.
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Position – von Ilse Sarecka ist deutlich: Ihre Figuren bemühen sich, »in unwürdigen Zeiten menschliche Würde zu wahren«,68 ihr Handeln wird aber weder kritisiert noch beurteilt. Dank der weitgehend detailgetreuen Inszenierung von bestimmten Perioden in der deutschen Geschichte (die 1930er und die ersten Jahre des Zweiten Weltkrieges im ländlichen Idyll von Kurland, die kriegsbedingte Völkerwanderung inklusive Neubeginn in der Fremde, die DDR) kann der Leser die erzählte Welt als realistisch und ›wahr‹ empfinden.69 Die Protagonisten, denen durch die bereits erwähnte Beglaubigungsstrategie ein gewisser Grad an Authentizität zugeschrieben werden dürfte, stehen stellvertretend für die Zeitzeugen, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse den jüngeren Generationen im Zuge des kommunikativen Gedächtnisses vermitteln möchten, bevor sie selbst verschwinden. So gesehen, spiegelt sich in dem untersuchten Werk die Gedächtnis (-Orte)-Theorie von Jan und Aleida Assmann wider.70 Hier ergreifen das Wort Vertreter verschiedener mit der deutschen Geschichte verbundener Gruppen, im gesellschaftlichen Geschichtsdiskurs bekommen die zeitlich weit entfernten gruppenspezifischen Vergangenheitsversionen der Balten-Deutschen und der DDR-Bürger gleiche Anerkennung, was in einem narrativ-fiktionalen Genre möglich ist.71 Die reflektierten Räume stehen für verschiedene Etappen der Vergangenheit und haben radikale Veränderungen erlebt. Das frühere nördliche Ostpreußen ist in Strukturen anderer Länder aufgegangen, die Verschickung der Familie zum Salzhaff bildet den Auftakt kommender Verluste und des Zusammenbruchs des Dritten Reiches, die Zeit am Stettiner Haff ist zunächst als eine Übergangsphase im Leben der Figuren und Staaten zu betrachten (Kosenow), dann aber als ein zum Teil gescheiterter Versuch, die tradierten Lebensformen in der neuen politisch-wirtschaftlichen Wirklichkeit zu etablieren (Bliewen). Es ist 68 Zitat aus dem Klappentext auf der Rückseite des Buches. 69 Der Schriftstellerin gelingt es, eine Wirklichkeitsversion zu erzeugen, die keine schlichte Nachahmung der damaligen Realität ist, sie besitzt die Fähigkeit, die Paul Ricoeur Mimesis II nennt und wie folgt charakterisiert: »eine Handlung nachahmen oder darstellen heißt zunächst, ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln haben: von seiner Semantik, seiner Symbolik und seiner Zeitlichkeit.« Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Übers. von Rainer Rochlitz. München: Wilhelm Fink Verlag 1988. Bd. I: Zeit und Historische Erzählung, S. 103. Erst im Akt des Lesens wird dem Dargestellten Bedeutung zugeschrieben, der Text trägt somit zur ikonischen Bereicherung der Wirklichkeit, also möglicherweise zur Veränderung von deren Wahrnehmung bei. Vgl. ebd., S. 127. 70 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999, S. 317: »Wenn man diesen Erinnerungs- und Überlieferungszusammenhang einer lebendig gehaltenen Tradition abbricht, werden damit auch Gedächtnisorte unlesbar.« Die (kollektive) Erinnerung ist sowohl standortgebunden als auch gruppenspezifisch. 71 Dies im Gegensatz zu den für den gesellschaftlichen Diskurs typischen, mit dem Machtanspruch verbundenen Ausschließungsprozeduren, die die (gleiche) Beteiligung aller Individuen und Gruppen am Diskurs verhindern sollen. Vgl. dazu: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Übers. von Walter Seitter. Frankfurt/M.: Fischer 2003, S. 11, 26.
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offensichtlich, dass die Schriftstellerin sich bewährter Thematisierungsstrategien bedient, einen Beitrag zur »kollektiven Erinnerungsarbeit der Gegenwart«72 leistet und die bereits beachtliche Reihe früherer Werke zu individuen- und gruppenzentrierten (u. a. bezüglich der Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten) Schicksalen der Deutschen im 20. Jahrhundert ergänzt. Während aber die in der Bundesrepublik ab Ende der 1970er Jahre entstehenden Romane (u. a. von Arno Surminski, Christine Brückner, Leonie Ossowski) gewöhnlich mit dem Verlassen der vertrauten Welt, dann der Ankunft und der Neuexistenz im Westen enden, kann Ilse Sarecka die Perspektive des 21. Jahrhunderts miteinbeziehen und ihre Protagonisten auch mit dem Scheitern des damals mühsam Aufgebauten konfrontieren. »Ein zäher Lebenswille«73 und Zuversicht reichen alleine nicht aus, damit Durchschnittsmenschen ein sicheres und würdiges Dasein führen, denn dieses wird auch von übergeordneten Strukturen wie Politik oder Wirtschaft mitbestimmt bzw. dominiert. Im Fokus dieses Beitrags steht insbesondere die Umsetzung von Geschichte, Erinnerung und Raum; die ästhetische Spezifik des Romans, so die an Metaphern reiche Sprache oder Bezüge auf die Natur, werden nur angestreift, doch sie können durchaus Gegenstand einer separaten Untersuchung werden. Der Roman »Keine Königskinder« führt den Lesern etliche Aspekte jener Veränderungen vor Augen, die innerhalb eines Jahrhunderts erfolgt sind, und regt zur Diskussion über Deutungen der Vergangenheit, über das Wechselspiel von Geborgenheit und Ungewissheit, über den Umgang mit Verlorenem sowie über menschliche Haltungen an.
Primärliteratur Sarecka, Ilse: Keine Königskinder. Stamsried: Verlag Ernst Vögel 2018.
Sekundärliteratur Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999. Bosecke, Thomas: Vorsorgender Küstenschutz und integriertes Küstenzonenmanagement (IKZM) an der deutschen Ostseeküste. Strategien, Vorgaben und Defizite aus der Sicht des Raumordnungsrechts, des Naturschutz- und europäischen Habitatschutzrechts 72 Geier, Andrea: Literatur als Archiv und Modell. ›1989‹ und die DDR in der Literatur seit der Jahrtausendwende. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 55, 2008, H. 2, S. 156–171, hier S. 156. 73 Sarecka, Keine Königskinder. 2018, S. 314.
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Im Getriebe der Weltgeschichte oder zur Schilderung der Menschenschicksale
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Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Übers. von Rainer Rochlitz. München: Wilhelm Fink Verlag 1988. Band I: Zeit und Historische Erzählung. Riekes Liebe. (Zugriff am 02. 05. 2020). Todorov, Tzvetan: Die Kategorien der literarischen Erzählung. Übers. von Irmela Rehbein. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Blumensath. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1972, S. 263–294. (Neue wissenschaftliche Bibliothek: Bd. 43).
Anna Majkiewicz (Cze˛stochowa)
Die Road-Story als Medium der Literarisierung eines gesellschaftlichen Umbruchs. »Milenas Erben« von Wolfgang Sréter
Abstract: Die Figur des On the road-Seins und daraus resultierende äußere und innere Konsequenzen des Unterwegs-Seins werden am Beispiel des Romans »Milenas Erben« (2018) von Wolfgang Sréter detailliert rekonstruiert und gedeutet, wobei auf gesellschaftliche Umbruchsprozesse fokussiert wird. Bei der durchgeführten Analyse wird gleichzeitig deutlich, dass die erst im Laufe der Reise offenbarten Reisemotive jeder Figur einerseits auf die »Negation familiärer Bindungen« und anderseits auf einen weiteren Zweck des Unterwegsseins verweisen, der darin liegt, eine Art von Heilung zu erfahren. Dabei erweist sich der Roman als eine wichtige Stimme im Kontext der Ost-Westproblematik.
Migration, geografische Dislokation, verschiedene Arten von Nomadentum sind heute eher die Norm als die Ausnahme. Manchmal scheint es, dass Lebensläufe, die an einem Ort verwurzelt sind und auf der Einheit der Erzählung basieren, zu einer interessanten Abweichung von der Norm werden. Auch wenn wir an einem Ort bleiben, wissen wir, wie einfach es ist, diesen Ort zu verlassen. Auch wenn wir in einem Land mit einer langen Geschichte und Tradition leben, werden wir uns unweigerlich der Vielfalt der Welt und in den meisten Fällen der Heterogenität unserer eigenen Kultur bewusst. Daher wird es keine Übertreibung sein, wenn wir sagen, dass eines der Merkmale der modernen Welt das ständige in-Bewegung-Sein ist, u. a. in Form von Reisen, die früher den privilegierten höheren Schichten vorbehalten waren, und heute für viele bereits ein alltägliches Ereignis sind. Die geografischen Dislokationen der Menschen, die es bisher noch nie in diesem Ausmaß gegeben hat, gehen jedoch weit über die Organisation der Freizeit hinaus. Darüber hinaus steht das Leben in einer mobilen und gemischten Welt nicht so sehr im Vordergrund der Migrationserfahrungen, die sich aus den zunehmenden Migrationsströmen seit Mitte des letzten Jahrhunderts ergeben. Denn wir beobachten eine Sehnsucht und ein Streben, die nur dem Menschen eigen sind, nach dem »Anderswo«.1 Die extreme Mobilität kennzeichnet jetzt 1 Auf die Frage, ob die heutzutage zu beobachtende Annahme des Status eines modernen
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unsere Welt. Es soll daher nicht überraschen, dass das On the road-Sein nicht mehr nur ein Postulat der Beat-Generation ist,2 sondern – wie Rafał Pokrywka mit Recht betont – eine häufig verwendete Figuration des menschlichen Schicksals im 21. Jahrhundert und eine Art der Erzählung, des Blicks auf frühere Zeiten.3 Die Mobilität der Protagonisten und die Dynamik des Raumes fördert die Darstellung des Menschen in einer turbulenten und unverständlichen Welt, die Wiedergabe des Identitätsdilemmas in bildhafte Metaphern des Weges und der Kreuzung, die Abbildung des Dramas von Geburt und Tod durch die Euphemismen des Kommens und Verlassens, die Transformation aller kulturellen Unannehmlichkeiten in sinnliche Zeichen der Askese und der Lästigkeit der Peregrination.4 Auf das Motiv des On the road-Seins greift der Münchner Autor und Fotograf Wolfgang Sréter5 in seinem vor kurzem erschienenen Roman »Milenas Erben« zurück, und vermittelt dem Leser die Genreinformationen auf der Innenseite des Umschlags, dass der Roman »eine grenzüberschreitende Roadstory« ist: »Ein schwarz umrandeter Brief ist der Auslöser dieser grenzüberschreitenden Roadstory: Die junge Musikerin Alice ist verwundert, als sie vom Tod einer Verwandten in Tschechien erfährt.«6 Solch eine Gattungsbestimmung in Bezug auf die Literatur scheint sich erst in den letzten Jahren in der Literaturkritik etabliert
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Wanderers (digitalen Nomaden) eine gewisse Mode darstellt, geht die Autorin ein, wenn sie über die Identität in Bewegung (Emanzipationsprozess, Verwurzelung) spekuliert. Vgl. Majkiewicz, Anna: Migrant i nomada – toz˙samos´ci w ruchu. Moda czy koniecznos´c´? In: Transfer. Reception Studies 4, 2019, S. 295–301. . Werke der Beat-Generation sind Ausdruck des nonkonformistischen Lebensgefühls der 50er und 60er Jahre und prägen einen neuen Aussteigertypus, der bis heute in filmischen als auch literarischen Roadmovies dargestellt und aktualisiert wird. Vgl. Schaefers, Stephanie: Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Münster: Verl.-Haus Monsenstein und Vannerdat 2010, S. 92. Zur amerikanischen Hymne auf die Straße und die Beat-Generation wurde der Roman von Jack Kerouac »On the Road« (1957) stilisiert, der als nichtfilmischer Vorläufer das Genre Roadmovie beeinflusste und zu dessen Entwicklung beitrug. Prototypisch gelten hier Filme wie »Easy Rider« (USA 1969, 95 Minuten, Regie: Dennis Hopper, Drehbuch: Dennis Hopper, Peter Fonda), »Two-Lance Blacktop« und »Bonnie and Clyde« (USA 1967, 107 Minuten, Regie: Arthur Penn, Drehbuch: David Newman, Robert Benton, Robert Towne). Der Roman von Jack Kerouac wurde im Jahr 2012 verfilmt. Pokrywka, Rafał: Współczesna powies´c´ niemieckoje˛zyczna. Kraków: Universitas 2018, S. 98. Ebd., S. 98. Wolfgang Sréter wurde 1946 in Passau geboren. Er wuchs in einer deutsch-ungarischen Familie auf, studierte Volkswirtschaft und Soziologie und arbeitet seit vielen Jahren als Dozent für Kulturmanagement. Im lichtung verlag sind von ihm ebenfalls die Erzählung »Der falsche Fräser« und das Hörbuch »Blech hören Blech wörtlich« erschienen. Sein literarisches und fotografisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. In einer Reihe von Projekten engagiert er sich für den intensiven kulturellen Austausch der Völker in der Mitte Europas und ein Weltbürgertum. Zum Autor: Sréter, Wolfgang. (Zugriff am 12. 05. 2020). Sréter, Wolfgang: Milenas Erben. Viechtach: lichtung verlag 2018.
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zu haben, als einer der erfolgsreichsten Roadmovie-Romane der jüngeren Vergangenheit, »Paradiso« (2009) von Thomas Klupp, veröffentlicht wurde. Als Christian Kracht seine Novelle »Faserland« (1995) sehr nahe an dem RoadmovieRoman »On The Road« von Jack Kerouac anlegte, wurde dieser Begriff kaum in Rezensionen verwendet. Neue Identitätskonzepte in den 1990er Jahren führten zu einer Revitalisierung des filmischen Road-Genres7 und dessen Evolution bzw. Expansion auf die Literatur herbei. Das Genre der Mobilität (als auch der Rebellion der Individuen und des Ausbruchs aus der Gesellschaft) bleibt nach wie vor das Film-Genre Roadmovie, das sich erst in den 1960er Jahren als eigenes Genre konsolidierte.8 Es wird von manchen wie Steven Cohan und Ina Rae Hark als eines des klassischen USamerikanischen Genres betrachtet, das schon seit der Hollywood-Studioära – also zwischen den 1920er- und der Mitte der 1950er-Jahre – existiert,9 obwohl eigentlich das Roadmovie aus der langjährigen literarischen Tradition (gepflegt in Form der Reiseliteratur seit dem 18. Jahrhundert) entstanden ist. Auf den Zusammenhang zwischen Reiseliteratur und Roadmovies verweist David Laderman, wenn er sagt: »The road movie grows out of this long-standing literary tradition, which in turn reflects the history of Western culture at large. Especially important in the historical continuity between journey literature and road movies is the thematic impuls of cultural critique.«10
Das wirft die Frage auf, welche Motive der Autor von »Milenas Erben« hatte, sein Werk als Road-Story zu definieren. War die Kulturkritik ein entscheidender Impuls? Und inwieweit ist der Roman eine Antwort auf gesellschaftliche Umbruchsprozesse, wie dies bei dem Vorläufer des Roadmovie-Romans, »On The Road« von Jack Kerouac, auch der Fall war?
7 Skadi Loist stellt die These auf, dass auch die Kategorien Gender und Sexualität in den 1990er Jahren das Genre Roadmovie revolutioniert haben. Vgl. Loist, Skadi: Roadmovie. In: Filmwissenschaftliche Genreanalyse: Eine Einführung. Hrsg. von Markus Kuhn/Irina Scheidgen, Nicola Valeska Weber. Berlin: De Gruyter 2013, S. 271–289. 8 Wichtige Bestandteile dieser Gründungszeit waren die Rockmusik mit starkem Einfluss auf die Filme sowie die Entstehung der sogenannten Counterculture, die für ihre Aggressivität, Mobilität, Rebellion und ihre Anti-Gesellschaftsfähig- und -willigkeit bekannt war. Nicht ohne Bedeutung waren auch neue Kameratechnologien, die die visuelle Inszenierung von Fortbewegungen möglich machten. Auch die rebellische Zeit der 60er Jahre lieferte die Basis für die Figuren, die als Außenseiter auftauchen. Vgl. Transgression und Selbstreflexion. Roadmovies in der Romania. Hrsg. von Kirsten von Hagen/Ansgar Thiele. Tübingen: Stauffenburg 2013, S. 10. 9 The Road Movie Book. Hrsg. von Steven Cohan/Ina Rae Hark. London: Routledge 1997, S. 2. 10 Laderman, David: Driving visions. Exploring the road movie. Austin: Texas Univ. Press 2002, S. 6.
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Das Unterwegssein Die Figuren in Sréters Roman sind typische Protagonisten einer Roadstory: AntiHelden, halbe Außenseiter, die am Rande der Gesellschaft stehen wollen.11 Sie sind auch – den inhaltlichen Kriterien von Roadmovies entsprechend – »eher Suchende, die ihr Leben nicht in den Griff kriegen. Also ziehen sie los […], um herauszufinden, was noch geschieht, irgendwie hoffend, dass so auch etwas mit ihnen geschieht«.12 Der Münchner Autor entschied sich für eine Road-Story und gibt in seinem relativ schmalen Band einen Einblick in die Ich-Problematik der Menschen diesseits und jenseits der Grenzen, Anfang der 1990er Jahre nach dem Mauerfall. Dieses analytische Verfahren ermöglicht das von Sréter gewählte Genre von selbst, denn ein wesentliches Grundmerkmal von Road-Story ist das Unterwegssein, das in verschiedenen Formen der äußeren Reise stattfindet, im Mittelpunkt des Narrativs steht hingegen die innere Reise der Figuren.13 Sréter scheint somit die Feststellung des amerikanischen Forschers Stephen M. Levis zu belegen, der mit Recht beweist, dass die Road-Story noch nie so sehr darauf ausgerichtet war, das »Ich« zu formen und den Eindruck von Obdachlosigkeit zu erzeugen, wie in der gegenwärtigen Literatur.14
Bewegtsein und Bewegtwerden Die Protagonisten in Sréters Roman begeben sich zur Beerdigung einer tschechischen Verwandten nach Karlovy Vary (Karlsbad) mit der Hoffnung ein Erbe anzutreten. Diese grenzüberschreitende Reise ist inhaltlich und formal zentrales und strukturbildendes Thema und ein wichtiges narratives Element. Das Ziel der Reise wird zwar genannt, weil auch der Reiseanlass auf der ersten Seite der Story definiert wird. Das ist aber darüber hinaus wichtig, als darauf eine Spannung in der Handlung aufgebaut wird, deren Auflösung mit der Testamentseröffnung (als der Ankunft am Reiseziel) geschaffen wird. Die Reisenden sind mit dem Auto oder mit dem Zug unterwegs, was ihnen aber keine gewinnbringende Lebens11 Transgression und Selbstreflexion, Hrsg. von Hagen/Thiele. 2013, S. 43. 12 Grob, Norbert/Klein, Thomas: Das wahre Leben ist anderswo…. Road Movies als Genre des Aufbruchs. In: Road Movies. Hrsg. von Norbert Grob/Thomas Klein. Mainz: Ventil Verlag 2006, S. 9. 13 Loist, Roadmovie. 2018, S. 278. Darüber auch: Zehetgruber, Magdalena: ›Vincent will meer‹ – Ein Road Movie? In: Kronstädter Beiträge zur germanistischen Forschung. Bd. 17, Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der deutschen Kultur, Literatur und Sprache. Hrsg. von Carmen Elisabeth Puchianu. Kronstadt/Bras¸ov: Aldus 2017, S. 133–151. 14 Vgl. Levin, Stephen M.: The Contemporary Anglophone Travel Novel. The Aestetics of SelfFashioning in the Era of Globalization, New York: Routledge 2008, S. 35. Darauf verweist auch Pokrywka, Współczesna powies´c´. 2018, S. 98.
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erfahrung bietet und daher enthält der Roman auch keine traditionelle Reisebeschreibung (wie dies in den anderen deutschsprachigen Road-Storys der Fall ist, z. B. Felicitas Hoppes »Hoppe«, Christan Krachs »Faserland«, Wolfgang Herrndorfs »Tschick«). Auch sind die Vorkommnisse an Ort A oder Ort B nicht von Belang, sondern die Bewältigung des Weges selbst, der dazwischen liegt, denn das Unterwegssein bedeutet Auf- und Ausbruch aus dem Alltag. »Aufbrechen und ankommen oder einfach aufbrechen – darum geht es in Road Movies. Sich den Anforderungen des Bewegtseins und Bewegtwerdens unterwerfen.«15 So nähert sich Sréters Roman der filmischen Gattung, wenn er die Bewältigung des Weges ins Zentrum stellt, obwohl auf der Erzählebene der personale Erzähler »das Wort ergreift« und somit keine Dialogsequenzen auftauchen, die den (filmischen) dramatischen Narrationsstil zum Ausdruck bringen könnten. Das Unterwegssein erhält eine ganz eigene Dynamik dadurch, dass die Reise tatsächlich in zwei verschiedenen »Räumen« stattfindet. Die Aspekte der Bewegung und des Ortswechsels, welche mit einer Reise einhergehen, schaffen eine Voraussetzung dafür, dass die Protagonisten sich auf sich selbst fokussieren. Anders als in der Reiseliteratur, in der die Bewegung und der Ortswechsel ein narratives Fortschreiten auf Text- und Inhaltsebene voraussetzt. Der Weg, der von hier nach dort zurückgelegt wird, führt in Sréters Roman zu einer Verräumlichung der Narration, dadurch dass sich der Roman, räumlich gesehen, in zwei Teile fassen lässt. In den ersten neun Kapiteln stehen Vorbereitung auf die Reise, die Reise selbst, d. h. die Fortbewegung im Vordergrund. Die physische (äußere) Reise durch den (geografischen) Raum mit einem konkreten Fortbewegungsmittel führt zum Ziel, das mit dem Betreten des statischen, (teilweise) fremden Raumes des tschechischen Kurorts erreicht wird. Die nächsten Kapitel bilden somit aus der Raumperspektive einen Gegenpol, da die Protagonisten an einem Ort (Karlovy Vary) fixiert sind, genauer gesagt in dem Hotel, in dem, auf die Testamentseröffnung und Bestattung wartend, die Familienmitglieder übernachten und Gespräche führen. Die somit gebildeten binären Oppositionen der Charakteristik des Raums: Bewegung/Fortschreiten – Statik, Individuum – Gesellschaft (Familie), Freiheit – Unfreiheit (Testament), Moderne – Tradition (Bestattung) verschärfen die Einschreibung der Struktur der Narration auf die Struktur der Deskription, und umgekehrt, bzw. ihr gegenseitiges Affizieren, wobei die deskriptiven Anteile die Inszenierungen vom emotionalen Zustand des reisenden Subjekts sind. In diesem Sinne scheint der geschlossene Raum des Kurortes nicht mehr nur statisch zu sein, ganz im Gegenteil, er wird zu einer dynamischen und prozessualen Größe, denn der zweite Teil des Textes 15 Schulz, Berndt: Lexikon der Road Movies. Von ›Easy Rider‹ bis ›Rain Man‹, von ›Thelma & Louise‹ bis ›Zugvögel‹, von ›Bonnie und Clyde‹ bis ›Natural Born Killers‹. Berlin: LexikonImprint-Verl. 2001, S. 8.
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bietet ein präzises Diagramm der Gedanken und Emotionen der Reisenden, wobei jeder von ihnen versucht, gemäß der Definition des Roadmovies, »bei sich selbst oder irgendeiner Konfliktlösung anzukommen«16. Der Grund für das Unterwegssein kommt aber bei allen Protagonisten von außen. Sie, sogar Alice, folgen einer Art von Verpflichtung, indem sie der verstorbenen Tante die letzte Ehre erweisen wollen. Durch die Todesnachricht werden sie in Bewegung, on the road, gesetzt. Die Reisemotivation ist in diesem Sinne keine freiwillige Entscheidung, also kein Wunsch der Reisenden selbst. Da aber mit der äußeren Reise auch eine innere beginnt, werden die Motive jeder Figur im Laufe der Reise deutlicher und sichtbarer. In der weiteren Phase der Reise (Ankunft) wird schließlich deutlich, dass es sich nicht um ein Reisen um des Reisens Willen handelt, sondern dass der Zweck des Unterwegsseins auch darin lag, eine Art von Heilung zu erfahren.
Das Zurücklassen Während der Reise überschreiten die Protagonisten die Landesgrenze. Damit wird ihr Wunsch, das Bekannte zurückzulassen und in Neues und Unbekanntes aufzubrechen, besonders stark hervorgehoben. Das Durchqueren von fremden Staaten führt auch zugleich ein weiteres Element der Entfremdung und Entdeckung des Neuen ein. Die Konfrontation mit einer neuen Umwelt durch die äußerlich stattfindende Reise provoziert die Figuren zu Sinn- und Identitätsfragen. Mit dem Gedanken des Zurücklassens spielt am stärksten Ingrid, die ein »geliehenes« Leben führt: »Das Leben in diesem Haus war nicht nur ein von ihrem Mann, sondern auch von der Firma ›Casa Grande‹ geliehenes«17 (ME, 67). Ihr Leben bedeutet »Bequemlichkeit, Ansehen und Stellung« (ME,105), aber dafür keine Momente, »die ihr verführerisch vorkamen« (ME, 105), und auch keine Entscheidungsfähigkeit: »Schon die erste Nacht zusammen mit Thomas, in der sie seinem ungestümen Drängen mit Tränen in den Augen nachgegeben und sich törichterweise auf ihn verlassen hatte, hatten zwar die Zweifel nicht vertrieben, entschieden aber ihr weiteres Leben.« (ME, 30)
Die Reise nach Karlsbad gibt ihr den Ansporn, über den Sinn ihres Lebens, ihrer Ehe mit Thomas und ihre künftige Existenz zu reflektieren. Ihre innere Reise weckt unerfüllte Wünsche, Emotionen und Sehnsüchte. Sie »neidete dem Bruder plötzlich die Unabhängigkeit, die er sich mit dem Verkauf des Geschäfts er16 Ebd., S. 4. 17 Sréter, Milenas Erben. 2018, S. 67. Beim weiteren Zitieren im Text mit der Sigle ME und einfacher Seitenangabe.
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worben hatte« (ME, 83). Der Prozess der Bewusstmachung ihrer eigenen Existenz wird durch ein Geschenk von ihrem Bruder noch gestärkt, denn »[D]ies war die erste Pflanze seit Jahren, die nicht vom örtlichen Floristen geliefert wurde« (ME, 90). Der Aufbruch aus dem Alltag schafft ihr die Gelegenheit nach Würzburg zu fahren. Das On the Road-Sein provoziert sie zu weiteren Schritten, sodass sie auch den Mut bekommt, einen Geliebten aus der Studienzeit zu besuchen und schließlich mit dem Gedanken zu spielen, sich von Thomas scheiden zu lassen (ME, 89). Da dies keine spontane Entscheidung war, sondern eine Folge ihres »Papierlebens« (wie im Katalog der Firma ›Casa Grande‹), das sie im geliehenen Haus führte, überlegt sie nach der mit dem Geliebten verbrachten Nacht, einen anderen Raum zu betreten, und dadurch einen eigenen Raum zu erschaffen: »Ihre Gedanken gingen eigene Wege, und die Worte klangen anders, als sie gesprochen wurden. Sie überlegte: Diese Rose kommt eine wunderliche Nacht zu spät. Ich habe eine andere Welt betreten, und du hast mich zwar nicht dabei begleitet, aber du hast mir dabei geholfen.« (ME, 33)
Auch wenn sie sich damit »einen kleinen Teil eigenes Leben zurückerobert« hat, bleibt sie in einer Übergangszone, in einem Zwischenraum, stecken, in dem »das Reale und das Imaginäre, Dinge und Gedanken, auf gleicher Ebene miteinander verb[u]nden«18 werden, was ihr erlaubt zu phantasieren: »Irgendwann würde Rolf nach Karlsbad kommen, und mit ein wenig Glück konnten beide Vergangenes in der Zukunft wieder aufblühen lassen…« (ME, 68). Auch in ihrem Bruder, Georg Fuchs, regt sich der Gedanke, etwas Neues beginnen zu können, falls gerade er das Erbe antreten dürfte. Während der äußeren Reise ist für ihn »Karlsbad eine zusätzliche Einnahmequelle« (ME, 57). Die innere Reise enthüllt eine andere Motivation. Da seine bisherige Existenz, von »Hass und Zorn« (ME, 47) getrieben, schon bereits eine Konsequenz des Zurücklassens ist, (»sein Exil« auf Teneriffa, ME, 57), baut sich sein Streben zum Wandel auf den vermissten familiären Beziehungen mit seiner Schwester und ihrem Mann auf (»Er hatte geglaubt, ohne Familie leben zu können, aber heute, als Charlotte seinen Arm berührt hatte, musste er, wie schon am Flughafen, die Tränen hinunterschlucken«, ME, 97), die wegen eines Streits um die Familienfirma abgebrochen sind, was eine Folge »de[s] lächerliche[n] Kampf[es] eines Fliesenlegers gegen einen Architekten« (ME, 46) ist. Sein unbewusstes Streben nach Befreiung äußert sich darin, dass er »geschlossene Räume nicht mehr ertragen« (ME, 53) konnte.
18 Soja, Edward W.: Die Trialektik der Räumlichkeit. In: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen. Hrsg. von Robert Stockhammer. München: Fink 2005, S. 107–108.
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Auf der Jagd Thomas Freyenfeld, der »sich als Architekt auf dem Lande mit Fertighäusern einen Namen« (ME, 21) gemacht hat, hat eine wilde Natur. Er kommt und jagt, also er kommt und nimmt. Die Reise nach Tschechien schafft für ihn eine Gelegenheit einen neuen Raum zu erobern. Die Hoffnung auf ein Erbe erweckt in ihm alten Ehrgeiz »Großes vollbringen, das man auch nach hundert Jahren noch besichtigen, nein bewundern konnte« (ME, 24) – und eine Bemerkung, an die er sich von Zeit zu Zeit erinnerte: »… denn ein Fortkommen gibt es nicht« (ME, 24). Er beginnt wie ein Jäger zu handeln, was beruflich wie auch privat in seiner Natur liegt (vgl. »sie hatte seinem ungestümen Drängen mit Tränen in den Augen nachgegeben«). Der Hauptantrieb seines Handelns ist nicht die rationale Erkenntnis der Situation, sondern eher eine animalische Reaktion, die dem Jagdinstinkt (Trieb) zugrunde liegt: »Die Beute stand vor seinen Augen, sein Jagdinstinkt war geweckt« (ME, 25). Jagd als – seit dem Mittelalter – komplementärer Bestandteil der Herrschaftsverhältnisse, deren Sinn – wie Joseph Morsel darlegt – in der Raumbewältigung durch Wanderung lag, impliziert eine »räumlich eingebettete Behauptung der Herrschaft über die Menschen.«19 Die Jagd-Natur von Thomas verbildlicht seine Neigung, zwischenmenschliche Beziehungen in hierarchischer Weise zu formen und damit Herrschaftsbeziehungen zu reproduzieren, was bei dem Familientreffen im Kurort deutlich zum Vorschein kam. Die Jagd im Sinne der Beherrschungspraxis durch Raumbewanderung findet tatsächlich in Sréters Roman statt, als Thomas nach dem Besuch beim Notar mit Georg um die Wette läuft, »um die vorausgegangene Niederlage zu überwinden« (ME, 146) und auf die Idee kommt, »mit dem Schwager zusammen eine Firma zu gründen, um den Karlsbader Markt zu erobern« (ME, 148). Wie ein richtiger Jäger behauptet Thomas dadurch seine Herrschaft über die Mitmenschen (»Georg zögerte. [..] Aber Thomas ließ keine Einwände gelten«, ME, 148) und über den Raum, den er zu strukturieren plant (d. h. Renovierung bedürftige Häuser sanieren). Mit der Eröffnung der Firma, wovon »eine Bautafel mit den drei Buchstaben FFF in der Kurzone« zeugt, denn »[d]ie Abkürzung stand für Freyenfeld und Fuchs. Die Firma aus Deutschland warb mit jahrelanger Erfahrung im Sanierungsbereich« (ME, 163), wird die Beherrschung des Raumes ausgedrückt und verwirklicht.
19 Morsel, Joseph: Jagd und Raum. Überlegungen über den sozialen Sinn der Jagdpraxis am Beispiel des spätmittelalterlichen Franken. In: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Hrsg. von Werner Rösener. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 284.
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Betrogensein Joshua Horn, »dieser belesene, aber verschreckte Mensch« (ME, 66), wie ihn sein Schwager nennt, macht sich mit seiner Ehefrau Charlotte auch auf die Reise von Dresden aus nach Karlovy Vary, ohne größere Hoffnungen auf etwas Neues zu hegen – ganz im Gegenteil: »Er nahm mit Schrecken wahr, wie sich die Hoffnung auflöste, dass nicht alles Gewesene verschwunden, nicht alles Wichtige verloren, nicht alles Erlittene vergessen war« (ME, 70). Denn »in seinem Inneren lag eine ähnliche Wüste wie außerhalb des ratternden Zuges« (ME, 69), die »ihn schmerzte« (ME, 70). Getrennt durch einen »Stacheldraht« (ME, 70) von der Familie im Westen ist er ein Opfer der Geschichte, von der er dreimal betrogen wurde. Zum ersten Mal, als er »nach vorne in eine gerechte Welt« (ME, 135) schaute und »über die Zukunft des Sozialismus und Zeiten, die sich nun eben geändert hätten« (ME, 139) nachdachte. Mit Bedauern musste er schließlich zugeben: »das Ziel, die Aufhebung des Unrechts und die Beendigung der Armut auf der Welt, so wie es bei Peter Weiß in den grauen Journalen formuliert war, hatten sie nicht erreicht. Sie waren weiter davon entfernt als jemals zuvor« (ME, 35). Auch zur Verwirklichung eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« (ME, 37) in Form eines eigenständigen Staates DDR kam es nicht, wofür die Mehrzahl der Intellektuellen nach dem Mauerfall plädiert hatte. Stattdessen machten sich alle »aus dem Staub […] entweder in die innere Emigration oder über die offenen Grenzen« (ME, 40). Als Illusion erwies sich auch die Idee der Wiedervereinigung des deutschen Volkes, denn die Mauer lebt nach dem Zusammenbruch der DDR in den Köpfen weiter. Als Ostdeutscher empfindet er das Gefühl, »Deutscher zweiter Klasse« zu sein: »Die Brüder und Schwestern aus dem Westen! Hinter vorgehaltener Hand hatten sie über die von drüben gelacht, als der Stacheldraht sie noch trennte. Bedauern und Spott hatten dieselbe Wurzel, und diese Überheblichkeit stach durch den Panzer, den er sich im Lauf der Jahre, im Verlauf vieler Diskussionen, auch mit der tschechischen Verwandtschaft, Schicht für Schicht zugelegt hatte.« (ME, 70)
Nach über 40-jähriger Teilung und der Einverleibung der DDR in die BRD erhoffte man sich ein besseres Leben: »Hoffnung auf Ausgleich« (ME, 106), obwohl man nur das Begrüßungsgeld und das Warenangebot in den Schaufenstern kannte ( »Mit hundert Mark Begrüßungsgeld war er auf die unsinnigsten Dinge hereingefallen und saß ihr [Alice] danach mit vollgestopften Plastiktüten in einem Café gegenüber«, ME, 13). Aber, »wie bei einem Kraftwerk, war nur ein Block abgeschaltet worden« (ME, 106), und Joshua wurde von der Schule entlassen, überlebte einen zu spät erkannten Herzinfarkt, seine Frau Charlotte verlor ihre Stelle als Bibliothekarin, ihre beiden adoptierten Mädchen aus Namibia wurden »zusammen mit allen anderen schwarzen Jugendlichen über Nacht und
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ohne ein Wort des Abschieds nach Namibia verfrachtet« (ME, 45) und das Ehepaar hatte »den Eindruck, der letzte Abschnitt ihres Lebens habe begonnen« (ME, 45). Die Erfüllung der Konsumwünsche war zu wenig, um sich ein besseres Leben leisten zu können. Das Gefühl des Enttäuschtseins ist auch Charlotte nicht fremd. Die Situation nach dem Mauerfall kommentiert sie mit folgenden Worten: »Wir haben demonstriert, und die Mauer wurde eingerissen, wir haben am Stasigebäude die Fenster eingeschmissen, und die Staatsmacht flüchtete Hals über Kopf. Aber die Scherben haben kein Glück gebracht, nicht einmal einen eigenen Staat, der uns doch zugestanden hätte.« (ME, 112)
Obwohl sie nach wie vor in Dresden lebt, führt sie eine den Migranten ähnliche Existenz, denn sie lebt »in einem anderen Land. Wie eine Fremde musste sie mit dem zufrieden sein, was man ihr in dem neuen Leben zuwies« (ME, 112). Und sie entschied sich einen Kiosk zu übernehmen, der »kein Lichtblick« war, »sondern sie vor dem Gang zum Sozialamt rettete, und er gab ihr in letzter Zeit die Möglichkeit, ein wenig Geld nach Namibia zu schicken« (ME, 45). Die Reise nach Karlovy Vary ist für sie beide eine Erinnerungsreise: in die Vergangenheit ihrer Vorfahren. Charlotte erfährt, dass sie die nächste Verwandte (»eine Nichte zweiten Grades«, ME, 124) der Tante Milena Bláhová ist. Als Joshua ihre Familiengeschichte von der Ärztin Lenka Binarová kennenlernt, kommt ihm die Tragödie seiner eigenen Familie, »die er in seinem kranken Herzen unter Verschluss hielt« (ME, 132), in Erinnerung. Die Geschichte seines frühverstorbenen Vaters, der als Jude und Kommunist sein Zuhause in der DDR fand und auch politisch eine Rolle spielte, war von ihm so stark verdrängt worden, dass er nicht fähig gewesen war, weit weg von Politik und Geschichte eine sorgenfreie Existenz zu führen oder sogar seines Vaters zu gedenken. Das war auch der Grund, warum er von einem Buch über den New Yorker Stadtteil Harlem, den Bebop, Heroin und Musik, das er bei seinem ersten Münchenbesuch bei Alice las, so gefangen war und »eine Saite in seinem Innersten zum Schwingen gebracht« wurde (ME, 107), die eine (Sehn)Sucht entwickelte. Er versuchte sie mit einer Zigarette zu befriedigen und beneidete »die Kommilitonen jenseits der Grenze um ihre Respektlosigkeit, ihre Phantasie und die machtvollen Manifestationen gegen den Vietnamkrieg« (ME, 135). Eine Sehnsucht nach der »Normalität« wird ausgedrückt und verwirklicht bei dem gemeinsamen Familientreffen im Kurort: »Aber er wollte tanzen und nicht grübeln. Zum ersten Mal seit langem wünschte er sich nicht, ein Buch zu sein, das man in den hintersten Winkel oder auf das oberste Brett eines Regals stellt und dort vergisst.« (ME, 99)
Das Tanzen als nonverbale Aktivität steht hier als Gegensatz zur Kultur des Buches, mit der sich Joshua als Lehrer identifiziert. In diesem Sinne symbolisiert
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der Tanz eine Art außer Kontrolle geratener Lebenslust und Selbstmanifestation, denn im Tanz, nach Curt Sachs, dem Musikwissenschaftler aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dessen Erkenntnisse bis heute immer noch gültig sind, »verfließen die Grenzen von Leib und Seele, von zweckfreier Gefühlsäußerung und zweckhafter Haltung, von Gesellschaftlichkeit und Persönlichkeitsentfaltung, all diese Grenzen, die erst eine fortschreitende Menschheit gezogen hat«.20 Ein Bedürfnis nach (ritueller) Körperbewegung (in der Form von Tanz), die in den westlichen Kulturen als unnötig erachtet und aus der schulischen Erziehung ausgeklammert wird, kann hier als ein Zeichen für eine Veränderung, für eine konstruktive Transgression zu sich selbst betrachtet werden, denn motorische Erfahrungen ermöglichen verlorene Emotionen ans Licht zu bringen und so die Selbsterkenntnis zu steigern.21 Die Bewegung des Körpers ermöglicht es Joshua seine eigenen Grenzen zu überschreiten. Weil Veränderungen auf Körperebene auch Veränderungen in der Psyche verursachen, ermöglicht ihm der Tanz, sich mit Angst und emotionalen Schmerzen auf nonverbaler Ebene auseinanderzusetzen. Joshua macht einen zweiten Schritt und beginnt: »die Geschichte seiner Kindheit zu erzählen, so klar, als hätte er sie längst aufgeschrieben. Charlotte hörte zu, ohne Fragen zu stellen. Am Ende kam er, als würde beides, seine Kindheit und die Grenzanlagen der DDR, in ursächlichem Zusammenhang stehen, auf seine tief sitzende Angst vor Schlagbäumen zu sprechen.« (ME, 156)
Seine innere Reise wurde damit erfolgreich abgeschlossen.
Emanzipiertsein Auch für Alice bedeutet die Reise nach Karlovy Vary nicht nur »physische Fortbewegung, sondern wird zum psychischen Prozess«,22 denn – wie Amelie Soyka konstatiert – den Road Movie-Reisen haftet ein Moment der (metaphorischen) Suche an.23 Alice distanziert sich zwar von Anfang an von der »Reise an einen unbekannten Ort wie Karlovy Vary, der die Neugier entfachte« (ME, 17). Sie zelebriert auch ihre Autonomie und Extravaganz, indem sie sich der Musik zuwendet und komponiert, was ihr eigener Vater für »eine minderwertige, nicht 20 Sachs, Curt: Eine Weltgeschichte des Tanzes. Berlin 1933, Reprint Hildesheim: OLMS 2007, S. I. 21 Vgl. Tłuczek, Katarzyna: Ruch, taniec, symbolika ciała jako formy transgresji konstruktywnej ›ku sobie‹. In: Civitas Hominibus: rocznik filozoficzno-społeczny 9, 2014, S. 105–113. 22 Soyka, Amelie: Raum und Geschlecht: Frauen im Road Movie der 90er Jahre. Frankfurt/ Main u. a.: Lang 2002, S. 9. 23 Ebd., S. 9.
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zielgerichtete Tätigkeit, für Zeitverschwendung und letztlich für eine Ohnmacht des Willens« (ME, 22) hält. Während des Familientreffens in Karlovy Vary bleibt sie abseits (»Alice setzte sich ans Klavier. Sie begann eine Improvisation, als würde der junge Mozart sich mit hüpfenden Triolen lustig machen über die Schwermut des slawischen Tanzes unter den Kolonnaden«, ME, 91) und tritt zugleich in die Rolle des Familienbeobachters ein, wobei sie (auf der Ebene der Deskription) eher Distanz statt Partizipation, Übersicht statt Mitsicht anstrebt. Diese Art der Wahrnehmung impliziert zugleich ein anderes Modell des reisenden Subjekts, das außerhalb der Dinge der Welt steht, womit zugleich eine angestrebte spezifische Herrschaftsposition (im positiven Sinne: die Situation/ Sache in den Griff zu bekommen) angezeigt ist. Dies zeigt sich deutlich bei der Testamentseröffnung, denn sie verlässt das Büro des Notars, den »Raum der enttäuschten Hoffnungen« (ME, 152), als »die Sache […] eine Wendung genommen [hatte], mit der niemand gerechnet hatte« (ME, 140), womit sie sich symbolisch von der elterlichen (mütterlichen) Macht befreit, um den Prozess der Emanzipation (verstanden im Sinne der französischen Philosophin Chantal Delsol als Ablehnung einer herrschenden Norm, nach der ein Individuum fälschlicherweise in einem »Kinderstatus« gehalten wird, mit dem Ziel Erwachsenenstatus zu gewinnen und über das eigene Schicksal frei entscheiden zu können) abzuschließen.24 Deswegen kommt ihr gleich in den Sinn: »In diesem Moment gab es keine Verbindung zwischen ihr und den Menschen, mit denen sie hier die Zeit verbrachte. Warum sollte ausgerechnet sie sich diesen Misserfolg auf die Seele binden?« (ME, 141). Die Befreiung aus der familiären Bindung wird auch dadurch bestätigt, dass Alice, die gerne für sich steht, die einzige von den aus dem Ausland eingereisten Verwandten ist, die es wagt, vor der Bestattung »von Gesicht zu Gesicht Abschied« (ME, 153) von der Toten zu nehmen. Auch diese Geste wirkt symbolisch und schließt den Prozess der Individualisierung ab, der während der Reise stattgefunden hat. Der Bruch mit der Zugehörigkeit impliziert eine bestimmte Welt, Normen, Bräuche, Traditionen abzulehnen und letztlich den eigenen Zustand zu überwinden oder den eigenen Rahmen zu erweitern. Die Reise nach Tschechen entlarvt sich für Alice letztendlich als ein Ermöglichungsraum der neuen Begegnung mit sich selbst, wenn sie schließlich als Möglichkeit in Erwägung zieht: es »ein weiteres Mal auf dem Konservatorium« (ME, 150) zu versuchen, statt – was sie immer wollte – »nach New York ab[zu]zischen«, denn »Manhattan war ebenfalls eine Insel – eine Jazzinsel« (ME, 111).
24 Delsol, Chantal: Czym jest człowiek? Kurs antropologii dla niewtajemniczonych. Übers. von Małgorzata Kowalska. Kraków: Wydawnictwo Znak 2011, S. 207.
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Umbruch. Fazit Mobilität ist das Antriebsrad des Wandels. Sréters Protagonisten versuchen durch die Mobilität eine freiere Lebensform innerhalb der Gesellschaft zu finden. Der Selbstfindungsprozess, den sie antreten, oder auch die Konfliktlösung, nach der sie streben, sind nicht die einzigen Themen, die in »Milenas Erben« angesprochen werden. Thematisch bezieht sich der Roman auch auf eine Familie, deren Geschichte nachträglich rekonstruiert wird (vgl. ME, besonders 117–124). Dabei werden mehrere historische Geschehnisse eingearbeitet wie etwa die Schlacht um Verdun 1916 (ME, 62), der Prager Frühling (ME, 76) und der Fall der Berliner Mauer (ME, 112). Dabei verlagert sich aber die Aufmerksamkeit von geschichtlichen Personen und Ereignissen »auf die Metaebene der nachträglichen historiographischen Beschäftigung mit Geschichte, der Rekonstruktion der Vergangenheit vom Standpunkt des Hier und Jetzt sowie der retrospektiven Sinnstiftung«,25 sodass dies als Vorzeichen eines Familien- und Generationenromans zu verstehen ist, für den auch die »Negation familiärer Bindungen«, wie Markus Neuschäfer konzediert, konstitutiv sein kann. Eine solche »Negation« hält er stets für nichts anderes als den »Ausgangspunkt für die Aufarbeitung von Familiengeheimnissen.«26 Die Deutung des Werkes »Milenas Erben« als gegenwärtigen Generationenroman provoziert die Frage, ob dieses auch als Zeugnis einer »Arbeit am kulturellen Gedächtnis als Konstruktionsarbeit«27 zu sehen ist, was Bernhard Jahn unter Generationenroman der Gegenwartsliteratur versteht. Die Handlung spielt im Jahre 1993, nachdem »die DDR von der politischen Landkarte verschwand« (ME, 45). Es fallen bittere Worte: »Weil alle die Einheit wollten, war niemand bereit, die bestehenden Ungleichheiten anzuerkennen. Selbst sie war bemüht, sich gegenüber der Westverwandtschaft so unauffällig wie möglich zu verhalten, auch wenn sie manchmal eine scharfe Bemerkung auf der Zunge gehabt hatte.« (ME, 143) »Auch in Dresden machten sich jetzt am Morgen die Schlagzeilen der Bildzeitung breit. Nun konnten sie in diesem Blatt lesen, dass sie ein Volk von Duckmäusern und Spitzeln waren, antriebslos und demokratieunfähig. Man konnte den Eindruck bekommen, der Ostdeutsche sei von Geburt an deformiert. Das Leben hatte zwar eine glatte Oberfläche
25 Nünning, Ansgar: Beyond the Great Story. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion. In: Anglia 117, 1999, H. 1, S. 29. 26 Neuschäfer, Markus: Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse im Generationenroman. In: Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Hrsg. von Gerhard Lauer. Göttingen: Wallstein 2010, S. 175. 27 Jahn, Bernhard: Familienkonstruktionen 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman. In: Zeitschrift für Germanistik 16, 2006, H. 3, S. 581.
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bekommen, unter der Haut aber trieben und drängten die Dinge und würden irgendwann explodieren.« (ME, 40)
Die jüngste Geschichte (Nachwendezeit) wird neu besichtigt und rekonstruiert, und zwar – gemäß der Definition des Generationenromans als Gedächtnisraum von Aleida Assmann – »mit dem Anspruch, unbekannte Aspekte der historischen Wahrheit freizulegen«28 bzw. an diese zu erinnern. So wird Sréters Roman auch zum Gedächtnisort29, der den Zustand der Gesellschaft kritisch auf moralische Schwachstellen – wie es in vielen Roadmovies und auch Roadstorys der Fall ist – durchleuchtet und zugleich den gesellschaftlichen Umbruch reflektiert und modelliert, indem er diesen fiktionalisiert und entpragmatisiert.
Primärliteratur Sréter, Wolfgang: Milenas Erben. Viechtach: lichtung verlag 2018.
Sekundärliteratur Assmann, Aleida: Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktionen im zeitgenössischen Generationenroman. In: Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität. Hrsg. von Andreas Kraft/Mark Weisshaupt. Konstanz: UVK 2009, S. 49–69. The Road Movie Book. Hrsg. von Steven Cohan/Ina Rae Hark. London: Routledge 1997. Delsol, Chantal: Czym jest człowiek? Kurs antropologii dla niewtajemniczonych. Übers. von Małgorzata Kowalska. Kraków: Wydawnictwo Znak 2011. Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2005. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. Von Astrid Erll/Ansgar Nünning. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005, S. 249–276. Grob, Norbert/Klein, Thomas: Das wahre Leben ist anderswo … Road Movies als Genre des Aufbruchs. In: Road Movies. Hrsg. von Norbert Grob/Thomas Klein. Mainz: Ventil Verlag 2006, S. 8–20. 28 Assmann, Aleida: Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktionen im zeitgenössischen Generationenroman. In: Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität. Hrsg. von Andreas Kraft/Mark Weißhaupt. Konstanz: UVK 2009, S. 63. 29 Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2005, S. 33. Vgl. auch Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. von Astrid Erll/Ansgar Nünning. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005, S. 249–276.
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Jahn, Bernhard: Familienkonstruktionen 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman. In: Zeitschrift für Germanistik 16, 2006, H. 3, S. 581–596. Laderman, David: Driving visions. Exploring the road movie. Austin: Texas Univ. Press 2002. Levin, S.M.: The Contemporary Anglophone Travel Novel. The Aestetics of Self-Fashioning in the Era of Globalization, New York: Routledge 2008. Loist, Skadi: Roadmovie. In: Filmwissenschaftliche Genreanalyse: Eine Einführung. Hrsg. von Markus Kuhn/Irina Scheidgen/Nicola Valeska Weber. Berlin: De Gruyter 2013, S. 271–289. Majkiewicz, Anna: Migrant i nomada – toz˙samos´ci w ruchu. Moda czy koniecznos´c´? In: Transfer. Reception Studies 4, 2019, S. 295–301. . Morsel, Joseph: Jagd und Raum. Überlegungen über den sozialen Sinn der Jagdpraxis am Beispiel des spätmittelalterlichen Franken. In: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Hrsg. von Werner Rösener. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 255–287. Neuschäfer, Markus: Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse im Generationenroman. In: Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Hrsg. von Gerhard Lauer Göttingen: Wallstein 2010, S. 164–203. Nünning, Ansgar: Beyond the Great Story. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion. In: Anglia 117, 1999, H. 1, S. 15–48. Pokrywka, Rafał: Współczesna powies´c´ niemieckoje˛zyczna. Kraków: Universitas 2018. Sachs, Curt: Eine Weltgeschichte des Tanzes. Berlin 1933, Reprint Hildesheim: OLMS 2007. Schaefers, Stephanie: Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Münster: Verl.-Haus Monsenstein und Vannerdat 2010. Schulz, Berndt: Lexikon der Road Movies. Von ›Easy Rider‹ bis ›Rain Man‹, von ›Thelma & Louise‹ bis ›Zugvögel‹, von ›Bonnie und Clyde‹ bis ›Natural Born Killers‹. Berlin: Lexikon-Imprint-Verl. 2001. Soja, Edward W.: Die Trialektik der Räumlichkeit. In: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen. Hrsg. von Robert Stockhammer. München: Fink 2005, S. 93–123. Soyka, Amelie: Raum und Geschlecht: Frauen im Road Movie der 90er Jahre. Frankfurt/M. u. a.: Lang 2002. Sréter, Wolfgang: Zum Autor. (Zugriff am 12. 05. 2020). Tłuczek,Katarzyna: Ruch, taniec, symbolika ciała jako formy transgresji konstruktywnej ›ku sobie‹. In: Civitas Hominibus: rocznik filozoficzno-społeczny 9, 2014, S. 105–113. Transgression und Selbstreflexion. Roadmovies in der Romania. Hrsg. von Kirsten von Hagen/Ansgar Thiele. Tübingen: Stauffenburg 2013. Zehetgruber, Magdalena: ›Vincent will meer‹ – Ein Road Movie? In: Kronstädter Beiträge zur germanistischen Forschung. Bd. 17, Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der deutschen Kultur, Literatur und Sprache. Hrsg. von Carmen Elisabeth Puchianu. Kronstadt/Bras¸ov: Aldus 2017, S. 133–151.
Anna Rutka (Lublin)
Desintegrierte jüdische Familiengeschichte. Maxim Billers Austritte aus deutschem Gedächtnistheater in seinem Migrationsroman »Sechs Koffer« (2018)
Abstract: Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, Maxim Billers Generationenroman »Sechs Koffer« als Ausbruch aus dem deutschen Gedächtnistheater (Bodemann, Czollek) zu lesen, in dem Juden die Wiedergutwerdung der Deutschen bestätigen sollten. Der Autor rückt weder die Shoah-Geschichte als Erbe und Traumatisierung der jüdischen Familie in den Fokus der Narration, noch präsentiert er die Familie als stabilisierenden Ort der Zuflucht. Billers Figuren sind desintegriert, zwiespältig und labil-paradox. Über ihre Lebenswahrheit herrscht keine Gewissheit. Die Identitäten einzelner Sippenmitglieder werden jeweils durch Gerüchte, Mutmaßungen und detektivisch-phantasierte Spekulationen gestiftet. Der Roman strebt keine stabilisierende oder Kontinuität herstellende Narration in Bezug auf jüdische Familie und jüdische Identität an.
Wer zu Maxim Billers Texten greift, pflegt bereits zu wissen, was zu erwarten ist: Als jüdischer Außenseiter und Störenfried machte er sich bereits mit seinen berühmt-berüchtigten »100 Zeilen Hass« bei der Zeitschrift »Tempo« als beißender Kritiker deutsch-jüdischer Nachkriegsbeziehungen bekannt. Den publizistischen und literarischen Arbeiten Billers, die seit Jahren konsequent um die Selbstbehauptung der Juden in Deutschland im Schatten der Nazi- und ShoahGeschichte kreisen, werden von Kritikern immer wieder Obszönität, provozierende Tabubrüche und selbstsüchtige Stilisierungslust des Autors attestiert.1 Biller selbst hält als Schriftsteller und Publizist mit seinen provokativen Angriffen auf Entlastungs- und Bewältigungsdiskurse des deutschen (Täter)Pu1 Vgl. etwa die Skandalisierung um den Roman »Esra«, vgl. dazu Jagow, Bettina von: Maxim Billers Roman (2003): Warum ein Skandal? In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hrsg. von Stefan Neuhaus/Johann Holzner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 678–685. Immer wieder wurden auch sexuelle Obszönität und Tabubruch bei der Literarisierung des Shoah-Traumas in Diskussion gebracht. Vgl. Remmler, Karen: Maxim Biller. Das Schreiben als »Counter-Memory«. In: Shoah in der deutschsprachiger Literatur. Hrsg. von Norbert Ecke/Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006, S. 311–320. Den Vorwurf einer forcierten Profilierungssucht formuliert u. a. Schubert, Mathias: Wie man sich ins Gespräch bringt. Vom Unterschied zwischen Mitteilungsdrang und Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 05. 1990, S. 34.
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blikums, aber auch auf den kollektiven Opfer-Mythos der Juden nicht hinter dem Berg2. Seit seinem ersten Erzählband »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) inspiziert der Schriftsteller konsequent die Folgen »der kulturellen Einschreibungen der Shoah im Denken und Handeln der Nachgeborenen, (deutschen) Juden und Nicht-Juden gleichermaßen«3. Allgemein bekannt sind auch seine zynisch-aggressiven Urteile über die gegenwärtige deutsche »Schlappschwanzliteratur«, in der »Dutzende von Papierleichen [herumgeistern – A.R.], die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben […].«4 Jahrelang sorgte Biller in der Rolle als Kritiker und explizit jüdischer ›Ruhestörer‹ der deutschen Gegenwartsliteratur für Irritationen und Polemiken gegen die vermeintliche Selbstbezogenheit und Provinzialität der deutschen Literatur.5 Es gehört zum dominanten erzählerischen Gestus von Billers Literatur, dass die meisten seiner Texte autobiographisch geprägt sind, wobei er diese Selbstbezogenheit als »meine forschenden Fiktionen«6 bezeichnet und das Medium Literatur im Sinne »biographische[r] Illusion« (Pierre Bourdieu) als Mittel benutzt, sich der Zeit- und Eigengeschichte zu ermächtigen. Der Text, in dem der Autor seine (auto)biographische Absicht explizit als Selbstporträt apostrophierte, war die polemische Autoanalyse »Der gebrauchte Jude« (2009). In dem Buch entwarf er einen kritischen Rückblick auf die jüdische Identität im PostShoah-Deutschland, der unlösbare Dilemmata inhärent sind, die allem voran daraus resultieren, dass Juden in Deutschland in einem Land leben, »in dem es keine Juden mehr geben sollte«7. In den Fokus essayistischer Kritik fallen gleichermaßen latente, angsterfüllte Abneigung der Deutschen gegen Juden bzw. deren Exkulpationsbedürfnisse wie auch deutschkulturelle Anpassungsbemühungen jüdischer Intellektuellen. Mit dem 2018 herausgebrachten und für den Deutschen Buchpreis nominierten Familienroman »Sechs Koffer« rekurriert Biller erneut im Gestus der autobiographischen Fiktion explizit auf seine jüdische Selbstposition und Herkunft, diesmal allerdings in Form eines Familien- und Generationenromans. Das 2 Vgl. Ecke, Norbert Otto: »Was wollen Sie? Die Absolution?« Opfer- und Täterprojektionen bei Maxim Biller. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hrsg. von Sander L. Gilman/Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001, S. 89–108. 3 Vgl. Ecke, Was wollen Sie? Die Absolution? Opfer- und Täterprojektionen. 2001, S. 90. 4 Vgl. Biller, Maxim: Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit. In: Die Zeit vom 13. 04. 2000. (Zugriff am 23. 03. 2019). 5 Vgl. Biller, Maxim: Letzte Ausfahrt Uckermark. In: Die Zeit vom 20. 02. 2014. (Zugriff am 23. 03. 2019). 6 Biller, Maxim: Wer nichts glaubt, schreibt. In: Die Welt vom 23. 06. 2018. (Zugriff am 23. 03. 2019). 7 Biller, Maxim: Der gebrauchte Jude. Selbstporträt. Frankfurt/M.: Fischer 2011. Klappentext.
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Genre des Familienromans erlebt seit den späten 1990er Jahren im deutschkulturellen und europäischen Kontext eine Hochkonjunktur. Diese Tendenz ist in Deutschland und Österreich aufs Engste mit den seit der Hälfte der 1990er Jahre sich intensivierenden Gedächtnisdebatten verbunden. Der deutsche bzw. deutschsprachige Familienroman fungiert in diesem Zusammenhang als ein wichtiger Verhandlungs- und Austragungsort von historischen Konflikten, die um die Last des Verschweigens, Verwicklung der Eltern- und Großelterngeneration in die NS-Ideologie sowie das deutsche Kriegsleiden kreisen8. Als eine parallele literarische Tendenz dazu erscheinen in der angesprochenen Zeitspanne zahlreiche deutsch-jüdische und österreich-jüdische Familienromane, die sich gewissermaßen kontrapunktisch zur Kriegs- und Nazigeschichte der deutschen und österreichischen Familien auf intergenerationelle Transmission vom Trauma der europäischen Judenvernichtung beziehen.9 In den letzten Jahren lässt sich eine aufschlussreiche Ausweitung des Forschungsinteresses »im Sinne der Interkulturellen Literaturwissenschaft wie auch Komparatistik«10 beobachten. Die im Zuge der globalen Massenmigrationsprozesse im 20. und 21. Jahrhundert entstandenen »Bindestrich-Existenzen«11bedingen einerseits literarische Schaffensprozesse und stellen andererseits Thema und Problem der Literatur dar. Die Migration wird oft (ob in ›türkisch-deutscher‹, ›griechischdeutscher‹, ›russisch-deutscher‹ oder ›jüdisch-deutscher‹ Konstellation) als ein Familienprojekt verhandelt, wobei dem Migrationserlebnis eine bedeutende Funktion als »familiäres Bindeglied«12 zukommt, das gleichermaßen Identitätsbildung wie auch das Familiengefüge stark und nachhaltig tangiert. Neben den türkischstämmigen Autorinnen und Autoren traten in den letzten Jahren ganz besonders Schriftstellerinnen und Schriftsteller russischer Herkunft in 8 Vgl. zur Problematik des Gedächtnisses an die NS- und Kriegszeit u. a. Löffler, Sigrid: Die Familie. Ein Roman. In: Literaturen 06, 2005, S. 18–26; Jahn, Bernhard: Familienkonstruktionen 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, XVI, 2006, S. 581–596; Garbe, Joachim: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg: Könighausen & Neumann 2002; Assmann, Aleida: Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945. In: Erinnern. Hrsg. von Wolfram Mauser/Joachim Pfeiffer. Würzburg: Könighausen & Neumann 2004, S. 81–91; Vedder, Ulrike: Luftkrieg und Vertreibung. Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Ulrike Vedder/Corina Caduff. München: Wilhelm Fink 2005, S. 59–79. 9 Vgl. z. B. Eichenberg, Ariane: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane. Göttingen: V & R Unipress 2009. 10 Vgl. Holdenried, Michaela: Familie, Familiennarrative und Interkulturalität. Eine Einleitung. In: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Michaela Holdenried/Weertje Willms. Bielefeld: transcript 2012, S. 11–23, hier S. 14. 11 Ebd. 12 Ebd.
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Erscheinung, die als Nachfahren der sog. russisch-jüdischen Kontingentflüchtlinge seit den 1990er Jahren in Deutschland leben.13 In Prosatexten dieser Autorinnen und Autoren, die häufig im Modus der Migrationsromane verfasst sind, kommt dem Familienkosmos eine gewichtige Schlüsselfunktion zuteil. Angesichts der Entwurzelung und der als fremd und instabil erlebten Umwelt des Ankunftslandes erscheint die Familie als »das einzig Vertraute und Bekannte«14 und wird zu einer »mythologischen Matrix«15 erhöht. Trotz diverser Generationenkonflikte und Konkurrenzlagen bleibt in den meisten literarischen Texten der Migrantennachkommen die Großfamilie (mit besonderer Rolle der Großeltern) in ihrer positiven integrierenden Wirkung unangefochten und bietet »Sicherheit einer großen Sippe« und eine »schützende Anlaufstelle«16. Aus dieser Reihe der russisch-jüdisch-deutschen Migrations- und Familiengeschichten löst sich Billers aktueller »Roman-Memoir«17 in zumindest einer sehr bedeutenden Hinsicht: Der autorähnliche Ich-Erzähler und gleichzeitig Protagonist arbeitet mit allen Mitteln erzählerischer (Selbst)Ironie, Tragikomik, des Humors und gattungstechnischer Vermischungen gegen jene ›mythische‹ Größe der Familie als Zufluchts- und Sicherheitsort. Im Gegenteil stellt für »Sechs Koffer« eher im negativen Sinne ein Familien-Geheimnis bzw. -Verrat einen narrativen Ausgangspunkt dar, der alle Sicherheitskoordinaten in Makro- wie Mikroperspektive durcheinander bringt. Den Leitfaden der sechs Kapitel des Romans bildet ein ominöser, kafkaesk anmutender Verrat: Der russisch-jüdische Großvater väterlicherseits, jiddisch »Tate« genannt, wurde im Jahre 1960 wegen illegalen Handels mit Devisen und Uhren in Moskau verhaftet und hingerichtet. In einer witzigbitteren Retrospektion werden alle Familienmitglieder unter Verdacht gestellt, ohne dass das dunkle Familiengeheimnis gelöst werden kann. Die Geschichten der einzelnen Figuren und ihre Wahrnehmungsperspektiven umkreisen die Devisengeschichte des Tate aus unterschiedlichen, zum Teil sich widersprechenden und zum Teil sich gegenseitig ergänzenden Blickwinkeln. Wer den Großvater auf dem Gewissen hat, lässt sich jedoch nicht klären, da jede Figur ihre eigene Wahrheit hat. Das Geheimnis bleibt in der Schwebe, auf Fragen folgen in 13 Zu den erfolgreichen Autorinnen und Autoren dieser Gruppe zählen z. B. Olga Grjasnowa, Lena Gorelik, Alina Bronsky, Sasha Marianna Salzmann, Nino Haratischwili, Julya Rabinowich, Wladimir Vertlib, Dimitrij Kapitelman. 14 Willms, Weertje: ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett.‹ Die Familie in literarischen Texten russischer Migrantinnen und ihrer Nachfahren. In: Die interkulturelle Familie. 2012, S. 121–141, hier S. 126. 15 Keupp, Heiner: Familie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Von der selbstverständlichen Matrix zum Balanceakt. In: Die interkulturelle Familie. 2012, S. 27–45, S. 33. 16 Willms, Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe. 2012, S. 126. 17 Vgl. Drees, Jan: Biller und die biographische Illusion. (Zugriff am 4. 04. 2019).
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jedem Kapitel Gegenfragen, da es, wie dies Biller in Bezug auf seinen Roman selbst festhält, »keine letzte endgültige Wahrheit gibt, denn es kommt immer auf die Perspektive an und auf die Machtverhältnisse, in denen man lebt […]«18. Im Hintergrund dieser detektivisch anmutenden Erzählung über Verratsverdacht und Schuld in der Familie entfaltet der Roman eine typisch jüdische Geschichte des ständigen Ort- und Sprachwechselns, der Flucht vor totalitären Regimen und des Überlebens bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts hinein. Billers Roman erscheint im zeit- und literaturgeschichtlichen Kontext gleichermaßen als ein interkultureller Generationen- und Migrationsroman, der einerseits ein signifikantes Beispiel der Zugehörigkeit zur mitteleuropäischen Kodierung im Sinne transnationaler Identität darstellt und somit ein Verständnis jüdischer Kultur als Konstruktion multipler Synthesen bezeugt. Billers autofiktionale Geschichte vollzieht sich an geographisch und kulturell unterschiedlichen Orten. In den durch Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts verursachten Emigrationen und infolge freiwilliger Aneignung von Orten (Sowjetunion, Tschechoslowakei, Deutschland, Kanada, Brasilien, die Schweiz) wurde die genealogische Kontinuität brüchig. Familiäre Einheit von ›Ort‹ und ›Zeit‹ sowie eine Referenz auf gemeinsame nationale Geschichte sind verhindert worden. Auf der anderen Seite funktionalisiert der Schriftsteller dieses in vielerlei Hinsicht typische jüdisch-europäische Projekt der Familie im Dienste seines seit Jahren bekannten Widerspruchsgeistes, den er explizit in seinen »Heidelberger Poetikvorlesungen« als das Jüdische schlechthin begreifen möchte: »Dass jeder, der meine Erzählungen und Romane liest, dazu eingeladen wird, zu denken, es könnte auch alles ganz anders sein, als es dort steht, ist das eine, was sie so jüdisch macht. Das andere – wahrscheinlich noch Jüdischere daran – ist mein tiefer, verwurzelter Widerspruchsgeist als Mensch, Schriftsteller, Journalist, der natürlich auch aus dem Traum von einer besseren, klügeren, sprich antiantisemitischen Welt erwächst. Und dann wäre da auch noch mein fast schon reflex- und talmudistenhafter Drang, immer wieder danach zu fragen, ob alles wirklich so war und ist, wie ich es in der Zeitung gelesen oder zu Hause am Küchentisch gehört habe, meine ewigen deprimierenden, berauschenden, produktiven Zweifel an großen und kleinen Geheimnissen und Übereinkünften, die fast immer am Anfang meines Schreibens stehen.«19
Die These dieses Beitrags lautet, dass Maxim Biller mit seiner autofiktionalen Generationenerzählung gegen das »deutsche Gedächtnistheater« im Sinne des von Y. Michal Bodemann beschriebenen Konzeptes von eingespielter Interaktion zwischen der deutschen Öffentlichkeit und den Juden in Deutschland anschreibt. Diese Inszenierung besteht darin, dass jüdische Minderheit eine Rolle der »Juden
18 Biller, Wer nichts glaubt. 2018 [nicht paginiert]. 19 Ebd.
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für Deutsche«20 zu spielen hat. Billers Roman lässt sich als ein Projekt jüdischer Desintegration lesen, von der Max Czollek in seiner neusten Streitschrift »Desintegriert Euch!« (2018) schrieb. Der junge Dramatiker und jüdische Aktivist beklagt dort, dass die Juden heute »Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters«21 seien. Wer aktuell in Deutschland Jude ist, so Czollek, »das entscheiden die Juden und Jüdinnen nicht alleine«, da die »Judenrolle einem Skript folgt, das den Titel ›Die guten Deutschen‹ trägt. Denn das ist seit Jahrzehnten die Funktion der Juden in der Öffentlichkeit: die Wiedergutwerdung der Deutschen zu bestätigen.«22 »Sechs Koffer« erzählt literarisch einen quasi Familienscherz, durch den Maxim Biller »das Begehren der Deutschen nach der Geschichte meiner Familie« oder »was meine Erfahrungen mit Antisemitismus sind«23, geschickt unterläuft. Der Roman sabotiert jenes Begehren der Deutschen nach »Läuterung« und »Abgrenzung von der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit« wie auch die »Kompliz*innenschaft vonseiten vieler deutscher Jüden*innen«24. Das als »Kippfiguren-Ensemble«25 angelegte Familienpersonal literarisiert der Schriftsteller vorsätzlich gegen die öffentliche Brauchbarkeit von Juden. Weder rückt er die Shoah-Geschichte als Erbe und Traumatisierung der jüdischen Familie in den Fokus der Narration, noch präsentiert er die Familie als stabilisierenden Ort der Zuflucht. Im Gegenteil erweisen sich gerade die subjektiv profilierten Wahrheiten, die zu keinem Konsens führen, als das stärkste Familienband. Die Identitäten einzelner Sippenmitglieder werden jeweils durch Gerüchte, Mutmaßungen und detektivisch-phantasierte Spekulationen gestiftet. Zwiespältige, labil-paradoxe Figuren, über deren Lebenswahrheit keine Gewissheit herrscht, stellen ein Pendant zur verwirrenden, politisch-sozial oppressiven Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts als Kulisse der Handlung dar.
20 Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg: Rothbuch Verlag 1996, S. 3. 21 Czollek, Max: Desintegriert Euch! München: Hanser 2018, S. 8, 9. 22 Ebd., S. 9. 23 Biller, Wer nichts glaubt. 2018 [nicht paginiert]. 24 Czollek, Max/Salzmann, Sasha M.: ›Spielt euer Theater doch alleine!‹ Vorwort. In: Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen. Bielefeld/Berlin: Kerber 2017, S. 9–16, hier S. 11. 25 Drees, Biller. 2018 [nicht paginiert].
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Austritte aus dem deutschen Gedächtnistheater »Sechs Koffer« ähnelt einer anekdotischen Familiengeschichte, die allerdings Leseerwartungen verwirrt und an vielen Stellen ein groteskes Spiel mit der Rolle der Juden treibt. Für alle Figuren des Billerschen Ensembles könnte Schwejk aus Jaroslav Hasˇeks Roman Pate stehen. Nicht zufällig setzt das erste Kapitel mit der Übersetzungsstelle ein, in der der Vater des Ich-Erzählers in der Prager Wohnung im Mai 1965 an seiner russischen Übersetzung des Romans »Der brave Soldat Schwejk« arbeitet. Die Translation scheitert ausgerechnet an der eigenartigen Formulierung »fauliger Geruch«26, die als komische Bezeichnung herhalten soll, mit der sich Schwejk über ein österreichisches Massengrab lustig macht, und für die der Vater keine adäquate Entsprechung im Russischen finden kann. Gerade diese Art der Ambivalenz und des Gegen-den-Strich-Gestus ist allen Familienfiguren zu eigen. Nicht nur das Familiengeheimnis entzieht sich einer eindeutigen Erklärung und unterläuft damit die Möglichkeit einer positiven Befreiung aus genealogischen Verstrickungen. Auch die ans Wort kommenden Verwandten erscheinen als schrille, nicht eindeutige Gestalten, die mit ihren Rückerinnerungen mehr Verwirrung als Klarheit in das Vergangene einführen. Die Billers werden konsequent durch zwei Generationen hindurch von einem West-Traum auf Flucht und Migration getrieben. Jener Traum vom besseren, westlichen Leben wird vordergründig als Wunsch nach finanziellem Reichtum angelegt, was klischeehafte Vorstellungen von jüdischer Geldgier bedient. Sowohl der russisch-jüdische Tate als auch sein Sohn Dima beschäftigen sich zu Sowjetzeiten mit Schwarzmarkt-Devisenhandel und werden beide fast gleichzeitig in Moskau inhaftiert, wobei der Tate vor Gericht gestellt und erhängt wird. Andererseits macht der Roman jedoch klar, dass diese stereotypen finanziellen Machenschaften in den Dienst des familiären Wohlergehens gestellt und eng mit dem Traum von Befreiung aus der sowjetischen Diktatur verknüpft sind, was das antisemitische Klischee beachtlich relativiert. Der Großvater wird am Moskauer Flughafen verhaftet, als er Dollars und kostbare Uhren nach Prag schmuggeln will, um auf diese Weise die Geburt des ersten Enkels (des Ich-Erzählers) zu würdigen: Die junge Familie soll sich von diesem Geld-Geschenk ein neues Auto anschaffen (SK, 41). Ebenso positive Motive leiten den jüngeren Bruder des Vaters, Onkel Dima. Durch seinen dilettantisch organisierten Devisenschmuggel will er allem voran den West-Traum seiner Frau Natalia verwirklichen. All diesen schwarzen Geldgeschäften liegt ein signifikanter Widerspruch zugrunde, der in jedem Falle moralisch determiniert wird. Sjoma, der Vater des Ich-Erzählers, bringt diese emanzipatorische Rebellion als spiritus movens der Familie auf 26 Maxim Biller: Sechs Koffer. Roman. Köln 2018, S. 11. Beim weiteren Zitieren im Text mit der Sigle SK und einfacher Seitenangabe.
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folgende Weise zum Ausdruck: »Noch wütender machte ihn [den Vater – A.R.], dass Dima und er und wir in einer Welt leben mussten, in der jemand wegen ein paar schwarz verdienten Dollars gehängt wurde« (SK, 18). Das als »kleine jüdische Geschäfte« (SK, 38) diffamierte Geldwechselspiel, in das alle Brüder involviert sind, hat seine Kehrseite, die im rebellischen Freiheitsgeist und moralischen Widerstand der Familie begründet liegt: »[…] mein Vater und seine drei Brüder und ihr Vater [waren – A.R.] davon besessen, so zu tun, als gäbe es den Kommunismus nicht, mit ihren ketzerischen Witzen, mit ihren Geschäften, mit ihren ständigen, lebensgefährlichen Bemerkungen über Stalin, Chruschtschow und Gottwald.« (SK, 33). Trotz des tiefen Aufbegehrens gegen das totalitäre Sowjetregime, das eine wichtige innere Antriebskraft der Familienmigration ist, erweisen sich Billers Onkel und Tanten keineswegs als ehrenwerte Widerstandshelden. Der in der Familie stets als dumm und lächerlich (SK, 40) geltende Dima arbeitet nach seiner Flucht in die Schweiz für eine Waffenfirma, was bei dem damals fünfzehnjährigen Ich-Erzähler einen moralischen Widerspruch erweckt. (SK, 56). Die moderne Waffenproduktion, an der sich Dima als Ingenieur beteiligt, mutet außerdem wie ein karikaturartiges Gegenbild der angeblichen jüdischen Machtund Wehrlosigkeit an und enthält sichtlich Züge einer imaginierten jüdischen Rachesucht. Das lässt diese Gestalt äußerst widersprüchlich erscheinen. Der ältere Bruder Wladimir, der in der Erinnerung des Ich-Erzähler als eine »unsichtbare« und »unerreichbare« (SK, 54) Figur im brasilianischen Exil bleibt, pflegt laut Familienlegende regimekonforme Kontakte zur hiesigen Diktatur und profitiert davon reichlich in seinem Geschäftsleben; er sei gar, wie man sich erzählt, einer der mächtigsten und wohlhabendsten Wirtschaftsleute Brasiliens. Als eine ambivalente Gestalt fungiert im Text auch Onkel Lev, dem das Kapitel »Aktion Bruder« gewidmet ist. Lev ist ein geheimnisumwehter Mann und bleibt, ebenso wie der andere Bruder Wladimir, eine legendär-ominöse Figur. In seiner Grimm, Wehleidigkeit und dem jüdischen Selbsthass erscheint Lev geradezu als eine Karikatur des ewigen Wanderjuden. Der Erzähler nimmt ihn erst als Fünfzehnjähriger als einen Familienangehörigen bewusst wahr, versucht an seinem Geheimnis zu rätseln und belässt auch diese Gestalt in einer ungewissen Schwebe. Lev erscheint zu Anfang seines Lebensweges als eine Art jüdischer Rächer. 1948 schicken ihn die Kommunisten aus Prag nach Westberlin als einen falschen Außenhandels-Attachè. Er bekommt als Auftrag, Rohkaffee-Geschäfte mit den s. g. »Uschgoroden« (SK, 164) – den in Westberlin illegale Handelsgeschäfte treibenden Shoah-Überlebenden – zu machen und dadurch »heimlich« Devisen für das junge kommunistische Land zu besorgen. Vordergründig bedient nun auch Lev das Klischee eines Wucherer-Juden. Durch den reflexiven Einblick in die Innenperspektive des Onkels entwirft der scheinbar unbeteiligt-objektive Ich-Erzähler ein kompliziertes und paradoxes Bild eines einsamen, ortslosen und
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familienisolierten Menschen, der an seiner identitären Desintegration leidet. Auf der Oberfläche scheint Levs Traum vom freien Wohlstandsleben im ersehnten Westen in Erfüllung gegangen zu sein. Beim näheren Hinsehen offenbart sich den Leserinnen und Lesern eine verwirrende Persönlichkeit, die mit tiefem Selbstund Familienhass erfüllt ist. Der anfangs erfolgreiche jüdische Geschäftsmann wird von den Kommunisten als »eine Art antikommunistischer Eichmann« (SK, 160) diffamiert. Er beschuldigt den eigenen Bruder Dima des Verrates an ihm und an dem Tate, ekelt sich vor dem Vater und seiner »gierigen, brutalen, sentimentalen, paranoiden Schtetlfamilie, die immer so dumm waren zu glauben, Geld könne Leben, Seelen und ganze Weltreiche retten […].« (SK, 167). Im Endeffekt demaskiert sich Lev als ein an seiner Jüdischkeit leidender Mensch: »Er wollte nicht so sein wie sie [die Uschgoroder – A.R.], denn er wollte nicht wie sein Vater sein, am liebsten wäre er auch kein Jude mehr gewesen, aber darüber entschied leider ein Jude nie selbst.« (SK, 166). Der Einspruch Levs wird im Sinne von Bodemanns und Czolleks Forderung nach dem Austritt der Juden aus deutschem Gedächtnistheater ausgedrückt. Seine desintegrierte Position bleibt allerdings unabgeschlossen und unerfüllt. Er bemüht sich zwar, Gegenrollen zu spielen und damit den Klischees etwa vom jüdischen Opfer, oder einer jüdischen Geldgier zu entkommen, zeigt sich aber außerstande, sich selbst identitär zu bestimmen. Zum Schluss wendet er sich, gewissermaßen in einem regressiven Gestus, dem Modell eines traditionellen religiösen Judentums zu, das von seinem Vater in Russland und später in der Sowjetunion gepflegt wurde. Nach dem Begräbnis von Dima »betet er [Lev – A.R.] zum ersten Mal in seinem ganzen traurigen, sinnlosen, jüdischen Leben« (SK, 179), bleibt jedoch weiterhin ein Außenseiter der Familie. Eine queere Figur im Sinne des Gedächtnistheaters gelingt Biller auch mit Dimas Ehefrau Natalia. Als einzige in der jüdischen Familie hat sie eine persönliche Konzentrationslager-Geschichte hinter sich. Natalia ist jedoch eine fröhliche Holocaustüberlebende, eine die »mit ihrer Schönheit und ihrer unerklärlichen Leichtigkeit die Prager Männer verrückt gemacht [hat – A.R.]« (SK, 91). Sie ertrotzt sich dem Bild eines traumatisierten Opfers und stellt im Prag der frühen 1960er Jahre ein Filmprojekt »Hanka Zeigová« auf die Beine. Der Film, in dem sie selbst die Titelrolle übernimmt, ist eine Metaerzählung ihres Schicksals. Hanka Zeigová ist eine fröhliche, Sex liebende Frau, die eine endgültige Abkehr von Vergangenheit fordert und erfolgreich realisiert. Der autobiographisch angehauchte Film fällt allerdings den Dissidenten des kommunistischen Regimes zu Opfer, die sich mit Natalias positiver Darstellung der KZ-Überlebenden nicht einverstanden zeigen und den filmischen Selbstmord der Protagonistin erzwingen. Nach zahlreichen Erpressungen und dem Berufsverbot entscheiden sich die rebellische Natalia und ihr Mann 1969 die Tschechoslowakei zu verlassen und ins Exil zu gehen. Mehreren Migrationsstationen in Kanada, Deutschland
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und in der Schweiz folgen Verzweiflung und schließlich der Selbstmord der Frau, womit das Jahre vorher von kommunistischen Machthabern erzwungene Filmende eine tragische Umsetzung in die Realität findet. Natalias ambivalentes Leben zwischen Tragik und lebensbejahender Fröhlichkeit, zwischen Oppressivität des kommunistischen Regimes und individuellem Widerstand bezeugt einerseits ihren Austritt aus der Determinierung durch das Gedächtnis, macht sie dennoch durch den zynisch vorprogrammierten Selbstmord zu einem paradigmatischen Opfer des Shoah-Traumas, der Migration und Ortlosigkeit. Dem IchErzähler bleibt die Klärung von Natalias Rolle beim Verrat an Tate und Dima ebenso verwehrt wie im Falle anderer Romanfiguren.
»[K]eine reine Familiensache« (SK, 180) Im letzten Kapitel des Romans wird in den erzählerischen Fokus ausnahmsweise nicht der Erzähler-Autor gerückt, der sich bislang mit ungeteilter Macht der literarischen Fiktion der Konstruktion und Dekonstruktion des familiären Nachlasses ermächtigte. Das letzte Wort wird der Schwester Jelena überlassen, die ebenso wie ihr Bruder Autorin der Familiengeschichte der Billers geworden ist. Tatsächlich veröffentlichte 2016 Billers Schwester Elena Lappin den Roman »In welcher Sprache träume ich?«, in dem sie sich auch an Familiengeheimnissen und -legenden literarisch abgearbeitet hatte. Im Schlusskapitel lässt der Schriftsteller die Schwester aus London nach Hamburg anreisen, um ihren Roman im NDRStudio zu präsentieren. Doch auch der Schwester bleibt die Lüftung des Familiengeheimnisses vorenthalten: Ob Jelena die ihr in Redaktion gestellte Frage nach der wirklichen Todesursache ihres Großvaters beantwortet oder nicht, bleibt im letzten Satz des Romans dahingestellt. Das klassisch-psychoanalytische Versprechen einer Familienerzählung in Anlehnung an Sigmund Freuds Theorie, demnach Konstruktion der Identität durch eine kohärente, Sinn stiftende Herkunftsgeschichte gewährleistet wird,27 kann im Falle von Billers Roman nicht eingelöst werden. Konstruktion der eigenen Identität aus einem familiären Herkunfts- und Vergangenheitszusammenhang will weder dem Bruder noch der Schwester gelingen. Jelena reflektiert dieses Misslingen des Familienromans mit folgenden Worten: »Sie wusste immer noch nicht genau, was sie sagen sollte – vor allem, wenn die schüchterne deutsche Radio-Moderatorin sie fragen würde, wer denn nun wirklich schuld am Tode des Taten – unseres Großvaters – war. Sollte sie gar nichts sagen? Sollte sie ihr antworten, dass sie einen autobiographischen Roman und keinen journalisti27 Gogos, Manuel: Philip Roth & Söhne. Zum jüdischen Familienroman. Hamburg: Philo Verlag 2005, S. 21, 22.
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schen Tatsachenbericht geschrieben hatte? Sollte sie erklären, dass es sie als Deutsche überhaupt nichts anging? Ja vielleicht, vielleicht wäre das am besten. Sie könnte aber natürlich auch sagen, dass es ihr darum gar nicht gegangen war. Sie könnte sagen […], dass sie eigentlich nur herausfinden wollte, was der unnatürliche Tod des Großvaters mit ihr selbst und überhaupt mit uns allen zu tun hatte; und dass es ihr, zwei Jahre und dreihundert Seiten später, noch immer nicht klar war; und dass sie jetzt noch mehr Fragen hatte als vorher, […].« (SK, 185)
Das Spezifikum von Billers Roman ist, dass eine stabilisierende oder Kontinuität herstellende Narration mit Referenz auf Familie gar nicht angestrebt wird. Ins erzählerische Zentrum werden weder typische Shoah-Geschichte noch innenfamiliäre Mechanismen der Trauma-Transmission gestellt28. Damit löst sich der Roman aus den für die sog. zweite Generation jüdisch-deutscher Autorinnen und Autoren typischen Konstellationen. Wichtiger als die erforschte und phantasierte Familiengeschichte erscheint vielmehr der narrative Selbstermächtigungsgestus des »extrem auktorialen«, »quasi eingottgleich abwesenden Erzähler[s]«29, dessen Hauptanliegen darin besteht, gegen »groß[e] und klein[e] Geheimniss[e] und Übereinkunft[e]«30 in Familiennarrationen wie auch im Endeffekt gegen »ein absolutes, vermeintlich unhinterfragbares Weltbild«31 anzuschreiben. Biller bezeichnet diesen seinen literarischen Drang als »reflex- und talmudistenhaft[…]«32 und legitimiert ihn mit seinem Wunsch »die Welt, die Menschen, mich selbst und vor allem meine Literatur ständig ein bisschen besser zu machen.«33 Doch auch die literarische Selbstermächtigung des Autor-Erzählers gegenüber den Familiengeschichten erscheint im Roman brüchig. In der Rückerinnerung an die geheime Recherche des Ich-Erzählers in den StB-Akten von Onkel Dima überkommen ihn signifikante Zweifel, was seine Rolle als der Ruhestörer der Familie angeht. Er kommt sich plötzlich wie »ein kleiner, gemeiner Berija, ein Besserwisser« (SK, 89) vor. Als besonders wichtig erscheint im Zusammenhang mit dieser programmatischen Dauerskepsis des Schriftstellers die Stilisierung des Romans als universelle Migrationsgeschichte, was im Kontext der aktuellen massenhaften Flucht- und Migrationsbewegungen eine besondere Brisanz aufweist. Die Desintegration der dargestellten Familie und ihrer einzelnen Mitglieder wird zum großen Teil nicht durch das traumatische Verratsgeheimnis bedingt, sondern ganz signifikant durch den ständigen Ortswechsel und Wurzellosigkeit. Den Nomadismus als das paradigmatische Signum des jüdischen Schicksals in modernen Zeiten und zugleich die Schlüsselbedingung 28 29 30 31 32 33
Wallner, Geschichtsverlust. 2009, S. 241–257. Biller, Wer nichts sagt. 2018. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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für das Verständnis des europäischen Judentums als »große Synthese« (Hugo Bergmann) stellt der Roman in Frage. Der immanente West-Traum der Familie, der stets durch historisch-politische Umbrüche zusätzlich angefeuert wurde, führt Destabilisierung und Desintegration herbei. Die Mutter des Erzählers kann den Verlust der russischen Heimat ihr Leben lang nicht verkraften. Die Kleinfamilie erlebt immer wieder schmerzliche Verluste ihrer bürgerlichen Wohnungen, die jedes Mal von Regimevertretern beschlagnahmt werden und in der Fremde mühsam wieder aufgebaut werden müssen. Natalia und Dima erleiden im kanadischen Exil extreme Not und existenzielle Armut, was den Zerfall der Ehe endgültig besiegelt. Die titelgebenden sechs Koffer symbolisieren nicht nur die sechs unterschiedlichen Familienperspektiven, sondern stehen auch für den typisch jüdischen Schicksalsmodus der Nachkriegszeit das Leben auf gepackten Koffern. Dieses traditionelle Motiv wird bei Biller individuell umgeformt und satirisch verschoben. Onkel Levs Militärklappenbett, sein Erinnerungsstück aus der Schlacht von Sokolovo 1943, das er überall auf seinen Fluchtwegen quer durch Europa mitschleppt und das ihm angeblich Schütz und Glück sichert, kann als ein Requisit einer satirischen Bloßstellung der Ahasver-Figur gedeutet werden. Onkel Dimas skurriler Tod, der durch das Schleppen eines »riesigen Biedermeiersessel[s]« (SK, 156) beim Umzug ausgelöst wurde, besiegelt auf groteske Weise seinen nomadischen Lebensweg. Die Migration erweist sich im Falle der einzelnen Familienangehörigen als Leben auf Flucht, wobei diese Flucht gleichermaßen politisch-historisch wie auch innenfamiliär motiviert wird. Der große Traum vom glücksbringenden Westen als Opposition zum tristen Osten geht nicht in Erfüllung. Migration mutiert nicht nur zu einer negativen Antriebkraft, sondern auch zum destabilisierenden Faktor, der die Missverständnisse und gegenseitigen Animositäten zusätzlich verstärkt. Billers Figuren bedienen kaum die von Max Czollek kritisierten »deutschen Erwartungen« nach »bestimmten Judenfiguren, die bestätigen sollen, dass die deutsche Gesellschaft ihre mörderische Vergangenheit erfolgreich verarbeitet hat«34. Statt dessen eröffnen sie eine bedeutende Perspektive auf die bunte Vielfalt jüdischer Geschichten in Deutschland. An dieser Stelle macht sich ein interessanter intertextueller Bezug des Romans auf Bertolt Brechts »Flüchtlingsgespräche« kenntlich. Der jugendliche Ich-Erzähler bekam ausgerechnet diese Lektüre von seinem »böse[n[, strenge[n], hilflose[n] Deutschlehrer«, der ihn dazu noch »stets hasserfüllt« (SK, 86) anschaute, aufgezwungen. Der Jugendliche quält sich mit der Brecht-Lektüre mehrere Wochen lang, ohne ihr einen Sinn abgewinnen zu können. Und dennoch liefern Brechts »Flüchtlingsgespräche« in Bezug auf Billers Familienfiguren aufschlussreiche Anhaltspunkte. Der im finnischen Exil 1940 entstandene Text attestiert ausgerechnet den 34 Czollek, Desintegriert Euch! 2018, S. 10.
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Flüchtlingen eine wichtige Gabe, und zwar: »Die schärfsten Dialektiker sind die Flüchtlinge. Sie sind Flüchtlinge infolge von Veränderungen und sie studieren nichts als Veränderungen. Aus den kleinsten Anzeichen schließen sie auf die größten Vorkommnisse, das heißt, wenn sie Verstand haben. Wenn ihre Gegner siegen, rechnen sie aus, wie viel der Sieg gekostet hat, und für die Widersprüche haben sie ein feines Auge.«35 Die ambivalent angelegten Familienmitglieder, die der Ich-Erzähler kaum in einen eindeutigen Deutungsrahmen einzufügen vermag, widerspiegeln Widersprüche ihrer Epoche, erfassen sie mit ihren Lebensläufen und entziehen sich »dem dominanten Erwartungsdruck«36 des deutschen Selbstverständnisses.
Primärliteratur Maxim Biller: Sechs Koffer. Roman. Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag 2018.
Sekundärliteratur Assmann, Aleida: Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945. In: Erinnern. Hrsg. von Wolfram Mauser/Joachim Pfeiffer. Würzburg: Könighausen & Neumann 2004, S. 81–91. Biller, Maxim: Der gebrauchte Jude. Selbstporträt. Frankfurt /M.: Fischer 2011. Biller, Maxim: Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit. In: Die Zeit vom 13. 04. 2000. (Zugriff am 23. 03. 2019). Biller, Maxim: Letzte Ausfahrt Uckermark. In: Die Zeit vom 20. 02. 2014. (Zugriff am 23. 03. 2019). Biller, Maxim: Wer nichts glaubt, schreibt. In: Die Welt vom 23. 06. 2018. (Zugriff am 23. 03. 2019). Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg: Rothbuch Verlag 1996. Brecht, Bertolt: Flüchtlingsgespräche. Frankfurt/M.: Suhrkamp1961. Czollek, Max/Salzmann, Sasha M.: »Spielt euer Theater doch alleine!« Vorwort. In: Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen. Bielefeld/Berlin: Kerber 2017, S. 9–16. Czollek, Max: Desintegriert Euch!. München: Hanser 2018.
35 Brecht, Bertolt: Flüchtlingsgespräche. Frankfurt/M.: Suhrkamp1961, S. 25. 36 Czollek, Desintegriert Euch! 2018, S. 10.
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Drees, Jan: Biller und die biographische Illusion. (Zugriff am 4. 04. 2019). Ecke, Norbert Otto: »Was wollen Sie? Die Absolution?« Opfer- und Täterprojektionen bei Maxim Biller. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hrsg. von Sander L. Gilman/Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001, S. 89–108. Eichenberg, Ariane: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane. Göttingen: V & R Unipress 2009. Garbe, Joachim: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg: Könighausen & Neumann 2002. Gogos, Manuel: Philip Roth & Söhne. Zum jüdischen Familienroman. Hamburg: Philo Verlag 2005. Holdenried, Michaela: Familie, Familiennarrative und Interkulturalität. Eine Einleitung. In: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Michaela Holdenried/ Weertje Willms. Bielefeld: transcript 2012, S. 11–23. Jagow, Bettina von: Maxim Billers Roman (2003): Warum ein Skandal? In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hrsg. von Stefan Neuhaus/Johann Holzner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 678–685. Jahn, Bernhard: Familienkonstruktionen 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, XVI, 2006, S. 581–596. Keupp, Heiner: Familie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Von der selbstverständlichen Matrix zum Balanceakt. In: Die interkulturelle Familie. 2012, S. 27–45. Löffler, Sigrid: Die Familie. Ein Roman. In: Literaturen 06, 2005, S. 18–26. Remmler, Karen: Maxim Biller. Das Schreiben als »Counter-Memory«. In: Shoah in der deutschsprachiger Literatur. Hrsg. von Norbert Ecke/Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006, S. 311–320. Schubert, Mathias: Wie man sich ins Gespräch bringt. Vom Unterschied zwischen Mitteilungsdrang und Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 05. 1990, S. 34. Vedder, Ulrike: Luftkrieg und Vertreibung. Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Ulrike Vedder/Corina Caduff. München: Wilhelm Fink 2005, S. 59–79. Willms, Weertje: ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett.‹ Die Familie in literarischen Texten russischer Migrantinnen und ihrer Nachfahren. In: Die interkulturelle Familie. 2012, S. 121–141.
Joanna Ławnikowska-Koper (Cze˛stochowa)
Literarisierung des sozialen, mentalen und materiellen Wandels in Inger-Maria Mahlkes europäischem Familien- und Generationenroman »Archipel«
Abstract: Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Darstellung der zivilisatorischen Wandlungsprozesse in dem 2018 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten europäischen Familien- und Generationenroman »Archipel« von Inger-Maria Mahlke. Dem Roman liegt die durch Ismen geprägte Geschichte der letzten einhundert Jahre, filtriert durch die Erfahrung des Spaniens vor und nach Franco, zugrunde. Die Einsicht in und Reflexion über die sozialen, mentalen und materiellen Entwicklungen dieser Zeit wird durch das Prisma der Geschichte dreier unterschiedliche Gesellschaftsschichten vertretender Familien möglich. Damit wird das Werk den Prämissen des modernen Familien- und Generationenromans gerecht und steuert zugleich mit der präzise umgesetzten Erzählstrategie und dem transnationalen Ansatz dem Genre neue Impulse bei. Die kulturwissenschaftliche Betrachtung ermöglicht es darüber hinaus, die dominanten Kontexte dieses komplexen Werks und ihre erzählstrategische Tragweite nachzuvollziehen.
Einleitendes Im Laufe der letzten einhundert Jahre änderten sich diverse Sphären des menschlichen Lebens gravierend, dabei bleibt der Movens dieses Wandels, die Zeit per se, in seiner Natur unverändert. Eben das thematisiert Inger-Maria Mahlke in ihrem 2018 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman, der ähnlich wie Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« mit einem Hinweis auf die Wetterlage beginnt.1 Die studierte Juristin mit der akademischen Erfahrung einer Kriminologin schlug zwar voller Bedenken die Schriftstellerlaufbahn ein,2 behauptete sich aber bald auf dem deutschsprachigen Buchmarkt 1 Christoph Schröder nennt in seiner Rezension von »Archipel« in der Süddeutschen Zeitung diese Anspielung auf den Auftakt Musils Roman »eine zarte Homage«. Schröder, Christoph: Verloren im ewigen Frühling. Geschichte zweier Familien und Chronik einer Insel! In: Süddeutsche Zeitung vom 20. 09. 2018. 2 Würger, Takis: Porträt der Autorin Inger-Maria Mahlke. Eine halbe Stunde weinen, dann 16 Stunden schreiben. Inger-Maria Mahlke im Interview für den »Spiegel«. (Zugriff am 10. 01.2020). Vgl. Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. Hrsg. von Simone Costagli/Mateo Galli. München: Fink 2010; Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hrsg. von Thomas Martinec/Claudia Nitschke. Frankfurt/M., u. a.: Peter Lang 2009; Immer wieder Familie. Familien- und Generationenromane in der neueren deutschen Literatur. Hrsg. von Hajnalka Nagy/Werner Wintersteiner. Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 2012. Ławnikowska-Koper, Joanna: Literarisierung der Familie im österreichischen Roman der Gegenwart. Kon/Texte – eine kulturwissenschaftliche Betrachtung. Berlin: Peter Lang 2018, S. 60; vgl. auch S. 11 u. 65. Diese Distanzierung trägt zur Objektivierung des Erzählten bei, ähnlich wie in Anna Mitgutschs Roman »Familienfest«, in dem die Autorin die Lebensgeschichte der Familie Leondouri als in Boston eingewanderter osteuropäischer Juden und ihrer Nachkommen im Sinne einer Parabel rekapituliert. Die Insel-Problematik ist der Autorin vertraut, denn sie verbrachte im Schulalter jede Sommerferien bei der Familie ihrer Mutter, die Spanierin ist.
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Kausalitätsprinzips der linearen, aber auch jeder chronologischen durch Zeitsprünge markierten Erzählung entmachtet. Ihre Entscheidung begründet sie folgendermaßen: »Weil ich Erinnerung und Gedenken, der nachträglichen Konstruktion von Vergangenheit auf Makro- wie auf Mikroebene misstraue. Wir neigen dazu, sowohl in der Geschichte als auch in unseren Biografien Ereignisse, unsere Einstellung zu ihnen, so umzudeuten, dass sie mit unserem jetzigen Selbst- oder Geschichtsbild stimmig sind. Das schrittweise Rückwärtserzählen soll es ermöglichen, die unterschiedlichen Entwürfe eingebettet in ihren Zeitkontext offen zu legen.«7
Diese gewagte Konstruktion eröffnet diverse Interpretationsansätze, wobei der angesprochenen Zeitproblematik eine übergeordnete und ordnende Funktion zukommt, fungiert sie doch als Rahmen für mehrere Narrative, aus denen Mahlkes Roman gewoben ist. Dieser lässt sich durch seinen Plot, einen »multiperspektivische[n] Ritt über das Inselreich«8, zweifelsohne als Familien- und Generationenroman identifizieren, kann aber auch aufgrund seiner Problematik berechtigterweise als Zeitroman, Gesellschaftsroman, politischer Roman und nicht zuletzt als Frauenroman diskutiert werden. Zeitgeschichte, Gesellschaftsund Frauenbild und die damit einhergehenden Diskurse wie Emanzipation, Gender, Identität, Ökologie aber auch die Machtfrage bieten sich nämlich als dominante Kontexte, die der Konstruktion der fiktionalen Romanwelt zugrunde liegen. Im Sinne Wolfgang Isers bietet sich der Text angesichts der Vielfalt der hier in der außerliterarischen Wirklichkeit präsenten Diskurse als »Schnittpunkt der Schemata«9. Der Kern des Textes sind die im Titel avisierten Wandlungsprozesse. Als Katalysator des sozialen Wandels fungiert latent die Kapitaltheorie Pierre Bourdieus. Der mentale Wandel wird zusätzlich an der Kategorie Gender gemessen und zur Untersuchung des materiellen Wandels bietet Clifford Geertz dichte Beschreibung eine adäquate Methode. Unter Einbeziehung von local knowledges, wie es Doris Bachmann-Medick postuliert,10 darf die Aussage des Romans als Aussage über die Kontingenz der europäischen Familie im untersuchten Zeitraum und der Roman selbst als Form »der kulturellen Selbstwahr7 May, Nina: Interview mit der Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke (NRD). (Zugriff am 10.01. 2020). 8 Kegel, Sandra: Die Möglichkeit einer Insel. Rezension. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 08. 2018. Mit dem Titel knüpft die Autorin an den deutschen Romantitel von Michel Houellebecq an: ders.: »Die Möglichkeit einer Insel«. Übers. von Uli Witmann. Köln: DuMont Verlag 2005. 9 Iser, Wolfgang. Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Wolfgang Iser/Dieter Heinrich. München: Fink 1983, S. 121–152, hier S. 132. 10 Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Doris Bachmann-Medick. 2. Aktualisierte Auflage mit neuer Bilanz. Tübingen/Basel: Francke 2004.
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nehmung und Selbstthematisierung«11 verstanden werden. Aufgrund der in »Archipel« archivierten Evolution von Familie, Gesellschaft und Staat rücken der soziale, mentale und materielle Wandel und die Strategien seiner Darstellung in den Vordergrund der Betrachtung.
Der soziale Wandel – Generationen- und Familienbild »Archipel« ist ein vielschichtiger und facettenreicher Familien- und Generationenroman, in dessen Mittelpunkt die miteinander verwobenen Geschicke dreier Familien stehen.12 Die Bernadottes vertreten dabei die gehobene Gesellschaft, die Bautes entstammen der Mittelschicht und die Morales Ruiz kommen aus dem Milieu der Unterprivilegierten. Christoph Schröder erkennt die programmatische Gegenüberstellung der beiden ersten Familien im Sinne »politische[r] Antipoden«.13 Mit dem Kunstgriff, die Geschichte rückwärts zu erzählen, reißt Inger-Maria Mahlke den ewigen Rhythmus der Erzählung aus seinen Bahnen, mehr noch, sie wirft nur Schlaglichter in die Vergangenheit und erwischt ihr Personal in den historisch brisanten Momenten, die auch auf ihre private Geschichte Einfluss haben. Die mit Daten oder Namen der Orte oder Ereignisse überschriebenen Kapitel lassen ein Gerüst der Vergangenheit der Familien Bernadotte, Baute und Morales Ruiz zurückverfolgen. Je tiefer die Geschichte in die Vergangenheit rückt, desto weniger Details werden genannt und die Konturen der Personen verlieren an Schärfe.14 Die Zeitsprünge von durchschnittlich fünf Jahren folgen der inneren Logik der spanischen Geschichte, was ermöglicht, diesen geheimen Code des Romans als solchen zu erschließen. Einen Beleg dafür bietet der Übergang von Kapitel »1936. Die blaue Periode« zu »1935. Die Konferenz der Surrealisten«. Die Verdichtung der Daten und Ereignisse sowie ihre Gegenüberstellung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rolle Francisco Francos in der Geschichte des Landes und indirekt in der Geschichte der Roman-Familien. Dies verleitet zur Frage nach dem Wandel des Status dieser Familien, der mit Bourdieus Kapitaltheorie gedeutet wird.15 11 Nünning, Ansgar/Sommer, Roy: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr 2004, S. 21. 12 Dem Romantext ist die Auflistung der handelnden Personen vorangestellt, was den Überblick über die weit verzweigten Beziehungen und die richtige Zeitzuordnung erleichtert. 13 Schröder, Christoph, Verloren im ewigen Frühling. 14 Vgl. ebd. 15 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital. Übers. von Reinhard Kreckel. In: Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen: Schwartz 1983, S. 183–198.
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Der vertikale Strang der Familiengeschichte der Bernadottes offenbart die jahrzehntelange Teilnahme an der Macht und deren über lange Zeit unreflektierte Ausübung. Eliseo Bernadotte, Militär, verdankt eine hohe materielle und gesellschaftliche Position der Geburt, was Felipe als erster Nachkomme hinterfragt. Seine Ablehnung der Familientradition, die Entscheidung das Projekt »Bürgerkrieg und Repressionen auf den Kanarischen Inseln. Geschichte in privaten Fotos, Briefen und oralen Überlieferungen«16 zu leiten, macht ihn zu einer tragikomischen Figur. Als das Projekt an die jüngere Kollegin Leticia Fererra vergeben wird, hat Felipe vor, die Stiftung »Gesellschaft zur Aufklärung der frankistischen Repression« zu gründen, was scheitert. »Schließlich hat er beschlossen, kein Bernadotte mehr zu sein und sich stattdessen um den Garten zu kümmern.« (A, 39) Er kontestiert seine Lage im bequemen Ledersessel im Club, der seinen Namen trägt, wie übrigens auch zahlreiche öffentliche Orte auf Teneriffa, und leert ein Glas Whisky nach dem anderen. »Wenn Felipe weiterhin nichts tut, als im Club zu sitzen und zu trinken, wird Rosa [die Tochter – J.Ł-K.] genügend erben, um niemals die finanziellen Konsequenzen ihrer [der Eltern – J.Ł.-K.] Entscheidungen spüren zu müssen.« (A, 60) Er setzt sich so mit dem Familientrauma auseinander, zu dem der Freitod seiner Mutter Francisca und der Tod seines homosexuellen Bruders Jose Antonio Bernadotte Gonzales, eines Offiziersanwärters, gehören. Dieselbe Geschichte aus der Perspektive Eliseos betrachtet, zeigt den verhassten, befürchteten, autoritären Soldaten, den stolzen Züchter von Melando tinerfeño17, als gebrochenen Ehemann und Vater, der nicht imstande ist, die Ursache seiner Lage einzusehen. Sein Leben lang richtete er sich nach dem Prinzip der Ehre und des Gewinns. Der Reichtum der Familie resultierte aus dem Besitz der Wasser- und Leitungsrechte, die Eliseo angesichts der »Gerüchte über den Bau von Entsalzungs- oder Kläranlagen« (A, 176) verkaufte. Die früh verstorbene Mutter Felipes steht für ein instrumentalisiertes Frauenschicksal, wozu sie ihre Mutter Ada getrieben hat. Mahlke zeigt am Beispiel der Bernadottes, welchen Preis das Individuum zu zahlen hat, das von Staat und Familie fremdbestimmt wird. Ihr Leben illustriert dabei den Übergang der Familie vom ökonomischen zu sozialem und kulturellem Kapital. Das Prinzip der öffentlichen und privaten Fremdbestimmung gilt für die zweite Familie des Romans nur beschränkt. Die Rekonstruktion der Schicksale der Bautes lässt in Julio den geheimen Helden des ganzen Romans erkennen: Seine Geburt im Jahr 1919 wird im letzten Kapitel gefeiert und im Jahre 2015, im ersten Kapitel des Romans, lebt er als Insasse und Portier eines von Nonnen 16 Mahlke, Inger-Maria: Archipel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018, S. 144. Beim weiteren Zitieren im Text mit der Sigle A und einfacher Seitenangabe. 17 Zuchtkanarienvogel; im Roman finden viele spanische Wörter und Redewendungen Verwendung, die im anhängenden Glossar erklärt werden; sie verleihen dem Text Lokalkolorit.
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geführten Altenheims: »Er ist 95 Jahre alt, seine Ohren sind noch gut. Sein Knie nicht, aber das ist eine andere Geschichte.« (A, 14) Und: »Es war alleine seine, Julio Bautes, Entscheidung, ins Asilo zu ziehen. Er verachtet die Kirche, aber er mag die Nonnen« (A, 20). Mahlke gelingt ein Einblick in das Leben der Mittelschichtfamilie, die ihre gesicherte Position der Bildung und Arbeit verdankt, und die auch in schwierigen Momenten zusammenhält. Und diese häufen sich wegen der eindeutig sozialistischen Gesinnung der Männer in der Familie. Anas Großvater verliert ähnlich wie Eliseo Bernardotte einen Sohn, der, in der Zeit des Bürgerkriegs verhaftet, im Gefängnis getötet wird. Den Auftrag des Freiheitskampfes und der Unabhängigkeitsliebe trägt der Bruder des gefallenen Jorge Baute Ramos – Anas Vater Julio – weiter, auch wenn er als Besitzer eines Elektroladens, in den er eingeheiratet hat, seine politischen Sympathien verbergen lernte. Das Familienleben der Bautes wirkt trotzdem entspannter als bei den Bernadottes. So genießt Ana eine unbekümmerte Kindheit: »Ana, an Julios linker und Bernardas rechter Hand zwischen ihnen, sie sehen einander über ihren von einem akkuraten Mittelstrich mittig geteilten, braun bezopften Kopf hinweg an. Anas Finger klebrig von der Zuckerwatte, die Julio ihr vorhin an der Plaza del Cristo gekauft hat.« (A, 179)
Julio und Bernarda führen eine intakte Ehe, arbeiten, sparen und ermöglichen der Tochter so das Studium auf dem Festland. Daher wohl reagieren sie auf Anas Beziehung mit einem Bernadotte, von Julio für einen Idioten gehalten, ohne Begeisterung. Sie fühlen sich um ihre Ideale betrogen, umso mehr, als Ana später als lokale Politikerin sich dem neoliberalen Kurs verpflichtet. Nach dem Tode seiner Frau zieht Julio ins Asilo und arbeitet dort als Portier, um noch nützlich zu sein. Mit der Tochter verbindet ihn eine problematische Liebe, er begleitet und betreut ihr Leben aus der Distanz. Ana, die in einer offenen, toleranten und liebevollen Atmosphäre aufgewachsen ist, scheitert als Tochter angesichts der Krankheit Bernardas. Von ihrer ambivalenten Beziehung zu der Mutter zeugt Anas Weigern an der Beisetzung Bernardas teilzunehmen und ihre Worte: »Ich kann einfach nicht ohne sie.« (A, 201) Die Generationengeschichte der Bautes illustriert den schwierigen Weg der Selbstbehauptung, was insbesondere an den Figuren Julio und Rosa erkennbar ist. Daher ist es kein Zufall, dass sich beide im Asilo wiederfinden – er als Insasse und Mitarbeiter, Rosa als Volontärin. Die Folie der Kapitaltheorie veranschaulicht die Zugehörigkeit der Bautes zur Mittelschicht. Erst durch das Einheiraten Anas in den Bernadotte-Klan ist der Übergang vom ökonomischen zum sozialen und weiter zum kulturellen Kapital möglich. Die Lebensgeschichten der Bernadottes und Bautes finden ihr Pendant im Lebenswandel der Familie Morales Ruiz, der dritten Sippe des Romans. Das Leben der Haushaltshilfe der Bernadottes, Merche, die der Unterschicht ange-
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hört, ist durch Gehorsam, Angst, Fügung und Arbeit geprägt. Im harten Daseinskampf hat Merche weder Möglichkeit noch Gelegenheit zu rebellieren. Sie fügt sich ihrem Schicksal als Untergeordnete. Aus der postkolonialen Perspektive ist sie die Kolonisierte.18 Oft erleidet Merche Demütigungen, aber auch glückliche Momente: Als sie erkrankt und zum Pflegefall wird, erfährt sie von ihrer Tochter Eulalia beispiellose Hilfe, die sie als Kind von ihrer Oma nie erfahren hat. Mit den Merche-Passagen des Romans gibt die Autorin den historisch unterprivilegierten Einwohnern Teneriffas ihre Stimme zurück. Merche und ihre ungleichen Töchter lassen sich als »[d]as unterlegene (weibliche) Andere«19 erkennen, das unter jeder Herrschaft unterprivilegiert bleibt. Die Familie Morales Ruiz befindet sich erst auf der Etappe des Erwerbs des ihr erst die Emanzipation ermöglichenden ökonomischen Kapitals. Als Familien- und Generationenroman bleibt »Archipel« auf der vertikalen Ebene den Traditionslinien der diachronen Darstellung der Familienbande treu. Der vorherrschende Ritus ist die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierende patriarchale Familienordnung, die für alle beschriebenen Gruppen gilt.20 Der Wandel der Gesellschaft vollzieht sich im Roman auf vertikaler – diachronen – und horizontaler – synchronen – Ebene. In der Makroskala der historischen Entwicklung ist er bei allen dargestellten Familien ersichtlich, in der Mikroskala lässt er sich wie bei einer Vivisektion am Leben der diese vereinigenden Kernfamilie von Ana Baute Marrero und Felipe Bernadotte Gonzáles, den Eltern von Rosa Bernadotte Baute, beobachten, die im Mittelpunkt der ersten fünf Kapitel des Romans (Jahre 2015–2000) steht und deren Haushaltshilfe Eulalia Morales Ruiz ist. Die Ehe von Rosas Eltern war die erste Liebesehe in der langen Kette der Eheschließungen ihrer Vorfahren. Ana, Tochter von Bernarda Marrero und Julio Baute Ramos und väterlicherseits Enkelin von Olga Ramos Díaz und Augusto Baute Gill, wurde als Erbin des roten Blutes gegen diese Erbschaft Mitglied der konservativen Partei. In eine Korruptionsaffäre verwickelt, muss sie ihren guten Ruf gegen die Medienhetze retten. Ihr Ehemann Felipe Bernadotte Gonzáles, Träger des blauen Blutes, Professor für Geschichte, der seinen Posten aufgegeben hat, kontestiert die privilegierte Position seiner Familie. Seine Eltern, Eliseo Bernadotte Borges und Francisca Gonzáles Moore, und Großeltern mütterlicherseits, Lorenzo Gonzáles und Adela Moore, gehörten zu 18 Entsprechend der Terminologie von Edvard Said, ders.: Orientalism. London Pantheon Books 1978; ähnlich auch bei Bhabha, Homi K.: The location of culture. London: Routledge 1994. 19 Heinze, Franziska: Postkoloniale Theorie. In: Gender Glossar/Gender Glossary (5 Absätze). (Zugriff am 12. 12. 2019). 20 Vgl. Mitterauer, Michael: Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht. In: Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Hrsg. von Michael Mitterauer. Wien/Köln: Bühlau 1990, S. 87–130.
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den gehobenen und betuchten Gesellschaftsschichten aufgrund ihrer Geschäfte und hohen Posten im Staat. Felipe wendet sich im von dem unbequemen Erbe des »letzten Konquistadors« (A, 36) ab, während er die sich aus seiner Geburt ergebenden Privilegien eines Clubmitglieds weiter genießt. Den geregelten Rhythmus von Anas und Felipes Alltag stört die Rückkehr Rosas, die ihr Studium in Madrid unterbrochen hat und auf ihre Heimatinsel zurückkehrt, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Diese Familienkonstellation, die den Stand für 2015 widergibt, stellt Mahlke, gezielt fokussiert, mit einigen Bestandaufnahmen dar, die das Individuelle sprengen und gleichzeitig einen Einblick in die Kondition der Familie im 21. Jahrhundert gewähren. Im Vordergrund steht das familiäre Desinteresse Rosas, das der »familiären Unambitioniertheit«21 des Philipp Erlach aus Arno Geigers modernem Klassiker »Es geht uns gut« (2005) entspricht und die junge Frau als überzeugende Vertreterin ihrer Generation etabliert. Die Tochter-Mutter-Beziehung ist gespannt, was an der Enttäuschung der auf kommunaler Ebene als Staatssekretärin aktiven Mutter über die Entscheidungen der Tochter liegt. Diese komplizierte Beziehung illustriert die Szene in der Surrealisten-Ausstellung, in der Ana ihre Tochter, die eine Jeanslatzhose nur über den schwarzen BH trägt, kritisch betrachtet: »Viel Haut sieht Ana, viel blassbraune Haut. Die keine Anstalten macht, sich auf die Nachprüfung im September vorzubereiten. Sich weigert, zu erzählen, warum sie im Frühjahr dringend nach Hause zurückmusste. Sich weigert, über einen anderen Studiengang nachzudenken. Sich weigert, ihr Zimmer zu verlassen, an den Strand zu fahren, sich mit Freundinnen zu treffen oder wenigstens shoppen zu gehen.« (A, 58)
Die Mutter erinnert sich noch an den Preis – 580 Euro – der gemeinsam in Madrid gekauften Latzhose und den Zwischenfall, als Rosa mit der Schere die Hosenbeine abschnitt und sie, Ana, dabei nichts gesagt, sondern »stumm Tomaten abgewaschen« (A, 58) hat. So wird Ana als schwach und spießig entlarvt, die Tochter kennt Mamas Prioritäten: »Alle Nachbarn haben dich gesehen, das Erste, was Ana sagen würde.« (A, 23) Rosa beobachtet die auseinanderdriftende Ehe der Eltern und kann sich nicht zum Respekt für den seinen Unmut in Whisky ertränkenden Vater aufraffen: »Felipe Bernadotte ist dreiundfünfzig Jahre alt und hat nichts zu tun. Seine einzige Aufgabe, nüchtern zu bleiben, ist heute bereits unerfüllbar.« (A, 35) Sie akzeptiert ihn aber mit seiner Schwäche und holt ihn notfalls vom Club ab, auch wenn sie dabei unwillkürlich »Du riechst« (A, 44) einwendet. Als Vater liebt Felipe Rosa unreflektiert, gleichzeitig betrachtet er sie als Vertreterin der »Generation-ohne-Geschichte-Generation-ohne-stabile-Identität« (A, 44). In diesem Urteil irrt sich der Ex-Akademiker nicht. Man sieht das an der (Selbst-)Kritik 21 Geiger, Arno: Es geht uns gut. Roman. München/Wien: Hanser 2005, S. 11.
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Rosas an der Madrider Studentenwelt, deren Teil sie war und wohl noch ist: »Ein Selbst, das bei allen übergroß geworden ist […]. Ich sehe, ich denke, ich finde, in mir, durch mich hindurch, das Wort banal hört auf zu existieren. Zu ähnlich, nicht anders, nicht genug, ist alles, was die meisten finden, und Angst, viel Angst. Was ist noch möglich, wenn alles möglich ist?« (A, 33) Die Lockerung der Familienbande bei gleichzeitiger Vorstellung einer zusammenhaltenden, traditionellen, bürgerlichen Sippe findet ihr Spiegelbild in den Beschreibungen des Elternhauses, das mit der Zeit verfällt: »[…] niemand käme beim Anblick des Hauses auf die Idee, es gäbe irgendwas zu holen« und Rosa bezeichnet es als »Bruchbude« (A, 107). Parallel zum Erscheinungsbild des Gebäudes als Symbol des Reichtums, der Exklusivität und schließlich des Untergangs der alten Welt, ihrer ehemaligen Solidität, wird der Alltag der Familie, der einer antizipierten Verarmung widerspricht, dargestellt. Es wirkt schizophren, wenn Ana und Felipe als Nutznießer der Position ihrer Vorfahren, sich von der Familiengeschichte distanzieren. So investieren sie nicht in die Renovierung und Instandhaltung des Hauses, aber keineswegs aus Geldmangel oder Sparsamkeit, denn sie umgeben sich im Alltag mit teuren Markenartikeln und leben eher verschwenderisch, was Anas Ausgaben für ihre Taschen bezeugen: »Ana behält die Tasche auf dem Schoß, Lamm, lilafarben, mit diagonalen Steppnähten, in der Mitte das lederbezogene Doppel-C–Logo, so hatte es die Verkäuferin genannt, dreitausendfünfhundert Euro. Chanel, 2014er-Kollektion, eindeutig nach Beginn der Krise gekauft.« (A, 46) Die Erwachsenen werden nicht als vorbildlich dargestellt; ihre Haltungen und Handelsweisen weisen sie nicht als Autoritätspersonen aus. Ein latentes Problem der Familie ist die versäumte Kommunikation, die im Verzicht auf das tägliche Gespräch und in der schon von Matthias Petzold beschriebenen Flucht in die Medienwelt und moderne Technik22 als neuer Form von Eskapismus mündet. Direkt nach der Landung des Flugzeugs und nach der Deaktivierung des Flugmodus, schaut Rosa auf das Display ihres Smartphones: »Sechs weiße Balken auf dem Display, Text-Nachrichten, Fotos, Videos, die Rosa noch nicht anguckt, weder in der Ankunftshalle, während sie wartet, noch auf dem Autorücksitz, während alle schweigen und Rosa sicher ist, dass Felipe auch lieber auf sein Telefon sehen würde als aus dem Seitenfenster. Rosa schiebt lediglich mit dem Daumen den Displaydesktop nach unten, liest immer wieder die Push-Benachrichtigungen, beobachtet zufrieden die steigenden Zahlen, zehn, elf, zwölf Chatnachrichten, achtzehnmal Instagram, elfmal Twitter, zwei Mails von der Fluggesellschaft, Bitte bewerten Sie Ihr Erlebnis bei uns am Bord.« (A, 23, 24; kursiv im Original) 22 Vgl. Petzold, Matthias: Die Multimedia-Familie. Mediennutzung, Computerspiele, Telearbeit, Persönlichkeitsprobleme und Kindermitwirkung in Medien. Opladen: Leske & Budrich 2000; ders.: Medien im Alltag von Familien. In: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Generation digital – Neue Medien in der Erziehungsberatung. Fürth: bke 2011. S. 14–30.
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Um möglichen Ärger zu vermeiden, werden bei den Bernadottes Probleme verschwiegen oder aber kommen Dialoge nur in Gedanken zustande. Für die Begegnung Rosas mit den Eltern wählt Mahlke folgendes Bild: »Hält das Telefon fest in der Hand beim anschließenden: Wir wollen doch nur mit dir reden. Und: Wenigstens eine Erklärung. Und: Was möchtest du jetzt tun? Traut sich nicht das Display runterzuschieben, nach den Zahlen zu sehen, hält das Telefon nur fest in der Hand. Gleich denkt sie, gleich. In ihrem Zimmer, wo ihr Hirn anfängt, die Fragen zu beantworten – nein und nein und nichts –, noch während sie die Lampe anschaltet und sich aufs Bett wirft.« (A, 24)
Die Autorin plädiert für keine der Konfliktparteien. In den Bildern von Rosa, die stets mit ihrem Telefon oder Tablet unterwegs ist, wird keine Kritik an ihr geübt, sondern eine Fehlentwicklung der ganzen Generation diagnostiziert. Das spitzt sich in der Passage zu, in der Rosa eine Überlebensstrategie im Elternhaus erarbeitet: »Vierzehnhalb Staffeln mit 23 Folgen, die jeweils knapp 45 Minuten dauern. Rosa rechnet es auf dem Handy aus, während sie auf der Toilette sitzt. Etwas mehr als 250 Stunden Survievor hat sie geguckt, seit sie wieder zu Hause ist. Unironisch. 23 Staffeln gibt es insgesamt. 146,625 Stunden hat sie noch vor sich, die Zahl ist irgendwie beruhigend.« (A, 25)
Die von Mahlke registrierten Einblicke in das Familienleben von Ana, Felipe und Rosa veranschaulichen einen Wandel der Familienstruktur auf horizontaler Ebene, der sich im synchronen Wertewandel äußert. Die definitorische Solidargemeinschaft23 erinnert mehr an eine Loyalitätsgemeinschaft von aufeinander angewiesenen Individuen. Die Eltern scheinen nicht vorbereitet zu sein, ihre Tochter als junge Erwachsene und echte Partnerin zu betrachten, indem sie ihre Lebensentwürfe durch materielle Anreize beeinflussen wollen. Ihre mehr oder weniger diskrete Bevormundung beschleunigt aber Rosas Emanzipierung von jeglichen Ansprüchen seitens der Familie, indem sie ihrer eigenen Prioritäten immer bewusster wird, wodurch ihr Kunstprojekt »Metamorphosen« endlich Konturen annimmt.24 Die Aporien in diesem Familienbild ergeben sich nicht nur aus den individuellen Lebensaufträgen der Figuren, sondern werden von den globalen Modernisierungsprozessen initiiert. Im Bild des Auseinanderdriftens der Eltern und der Tochter materialisiert sich symbolisch die Titelidee des Ar23 Vgl. Peuckert, Rüdiger: Zur aktuellen Lage der Familie. In: Handbuch Familie. Hrsg. von Jutta Ecarius. Wiesbaden: Springer 2007, S. 36–56, S. 36. 24 In diesem Familienbild spiegelt sich das von Jutta Ecarius dargestellte Konzept wider, dass die Familie aufgrund intergenerationeller Interaktionen und der Anerkennungsmuster ein Ort der primären Identitätsbildung ist. Ecarius, Jutta: Familie-Identität-Kultur. In: Familientraditionen und Familienkulturen. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analyse. Hrsg. von Meike Sophie Baader, u. a.. Wiesbaden: Springer 2013, S. 53–70.
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chipels. In beiden Fällen ist die Diagnose pessimistisch und bestätigt Schröders Eindruck »einer allgemeinen Depravation«25.
Der mentale Wandel – Männer schreiben Geschichte/Geschichte schreibt Frauen Das verzweigte und mehrdimensionale Familiennarrativ des Romans trägt die Geschichte Spaniens vor und nach Franco, die stets in Beziehung zu den Entwicklungen in Europa gestellt wird. Diese Geschichte ist nicht bloß eine Kulisse der Handlung, sie ist ihr integraler Bestandteil. Das vollzieht sich in der sich über viele Jahre erstreckenden Männergeschichte, die in ihren Anfängen an die irischen Kolonialhändler, die sich auf Teneriffa niederließen, anknüpft. So gehörte Adas Vater, Felipes Urgroßvater, der Gruppe der einflussreichen Eigentümer an: »Theobaldo Moore hat als erster verstanden, der Schlüssel ist Wasser, wer das Wasser kontrolliert, kontrolliert die Insel.« (A, 415) Er gründete früher noch in La Orotava das Handelshaus für Zuckerrohr, Schildlaus und Tabak. Diese Episode erinnert an die Expansion der irischen und britischen Kolonisten im 18. Jahrhundert, die Teneriffas jetzige Hauptstadt Santa Cruz zum wichtigen transkontinentalen Hafen entwickelten. Aufgrund ihrer Lage war und ist die Insel ein idealer Transitpunkt für die Weiterreise in beide Teile Amerikas. Adas Ehemann und Felipes Großvater Lorenzo verdankte seine spätere Machtposition als Journalist und Zeitungsverleger der politischen Konjunktur, denn er konnte rechtzeitig die Ambitionen des künftigen Caudillos einschätzen und mit seinen Schwärmereien über »de[n] neue[n] Spanier« (A, 281) einen raschen Aufstieg an der Seite der Falange vollziehen. Für die Männer des Bernadotte-Clans beruhte die strategische Lage der Insel auf ihrer Nähe zu Afrika. Von Teneriffa aus konnte Eliseo die spanischen Truppen, die im Westsaharakonflikt im Einsatz waren, kontrollieren. Ein Resümee der frühen Geschichte der Insel bieten die Kommentare eines Geschäftsführers von Elder Sydney Fellows im Kapitel »1929 – Neunzehnhunderneunundzwanzig« (A, 397). Die Männer der Familie Baute definierten sich über Arbeit, Redlichkeit, Ehrgeiz und Verantwortungsbewusstsein. Diese bürgerlichen Tugenden kennzeichneten im Spanien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Anhänger der Reformen, die nach der Abdankung von König Alfonso XIII. ihre Hoffnung auf die Zweite Republik setzten. Nach dem Erstarken der Falange und während des Bürgerkriegs werden die Bautes verfolgt, schikaniert, verlieren ihre Lebensgrundlage. Mit dezenten Bildern und elliptischen Andeutungen erzählt Mahlke 25 Schröder, Verloren im ewigen Frühling. 2018.
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aus der Perspektive Julios über die Repressionen, die sozialistisch gesinnte Bürger seitens des Franco-Regimes erlitten. »Ich bin Rad gefahren.[…] Ich hatte damit eigentlich gar nichts zu tun, wissen Sie, ich war zu jung. Mein Bruder, ja, der war in der CNT, bei der FAI, den haben sie gleich geholt, er ist gar nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Als sie vor ein paar Jahren die Grube oben in Las Cañadas geöffnet haben, dachte ich, vielleicht finden sie ihn. Aber die waren vom Februar 37, alle mit Kopfschuss.« (A, 134)
Die Männer der zweiten und dritten Generation gestalteten die Geschichte ihrer Zeit, engagierten sich auf beiden Seiten der Barrikade. So vermag es die Autorin unaufdringlich und ohne jegliche Belehrung, den Lesern die komplizierte Geschichte Spaniens mit ihrer starken Polarisierung der Gesellschaft vor Augen zu führen. So zum Beispiel in den unterschiedlichen Reaktionen Eliseos und Julios auf den Tod Francos, die in dem kürzesten, denn nur siebenseitigen zentralen Kapitel des Romans notiert sind. Im Hause Bernardottes herrscht die feierliche Stimmung: »Im Arbeitszimmer: Uniformen. Sie halten Whiskygläser und reden vom Ende einer Ära.« (A, 237) Andere Stimmung herrscht bei Bautes: Da die Angestellten in Marrero Electrodomésticos an dem Tag nicht erschienen sind, macht Julio um zehn Uhr den Ladenschluss: »Heute ist ein großer Tag. Damals hätte er gedacht, dass er feiern würde. Statt Listen durchzugehen, Posten zu prüfen, Mengen zusammenzuzählen, aber er tippt geduldig eine Addition nach der anderen in den Taschenrechner. Hin und wieder denkt er an Jorge.« (A, 238)
Felipe als Vertreter der dritten Generation scheidet aus diesem Machtkreis aus. Er ist nicht mehr der Starke, der Ambitionierte, der Herrschende – er ist kein Kolonisator mehr. Mahlke lässt Felipe seinem männlichen Erbe untreu werden. Er spricht offiziell über die Rolle, die seine Familie historisch gespielt hat und diskursiviert so die Rolle der Bernadottes. In diesem Chronik-Projekt »Nicht [mehr – J.Ł-K.] Lügen und Zurechtbiegen« (A, 214) erkannte der schon als Student rebellische Felipe seinen Lebensauftrag. Mit seinem Rückzug aus dem Uni-Betrieb nach der Beförderung einer Kollegin manifestiert sich jedoch Felipes latenter Konservatismus, was seine Figur realistisch macht. Mahlkes Erzählstrategie offenbart sich in der Rekapitulation der politischen Geschichte mit den Einzelgeschichten der Männer, von denen jeder Geschichte schreibt und Felipe als Professor für Geschichte sogar im wörtlichen Sinne. Die im Roman erzählten Frauengeschichten markieren den sozialen, aber vor allem wohl auch den mentalen Wandel der letzten einhundert Jahre. Mahlke konstruiert die Szenen gezielt und rekapituliert damit quasi die Entwicklung von der Domestizierung zur Emanzipation der Frau. Die Szenen aus Ada Moors Leben entsprechen den Anfang des 20. Jahrhunderts herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. In aristokratischen und gutbürgerlichen Familien
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agierte die Frau nur im privaten Raum und die öffentlichen Auftritte an der Seite des Gemahls dienten der Repräsentation. Ada muss ihren Studienwunsch unterdrücken, um sich ihrer Rolle als hohen Tochter und dann Ehefrau zu fügen. »Clementia und Otilia sind die Ersten, die mit Konfetti und Luftschlangen an der Mole verabschiedet werden.[…] Jedes Mal sind sie weniger, am Hafen von Santa Cruz. Irgendwann sind alle weg, nur Ada nicht, Ada ist verheiratet« (A, 390) Als Ehefrau kann sie sich nicht von ihrem Mann scheiden lassen, da es für solche Fälle kein Recht gibt. Daher ergreift sie die einzige Möglichkeit, dem Ehemann zu widersprechen, indem sie ihm ihre Liebe und Achtung verweigert. Andere Frauen aus der Generation Adas – wie Olga oder Merches Großmutter – leben in unvergleichbar bescheideneren Verhältnissen und müssen selber arbeiten, aber auch sie sind von ihren Männern abhängig. Das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende patriarchale Familienmodell zwang der Frau in jeder Gesellschaftsschicht eine feste Rolle auf und prägte das familiäre Leben in der Zeit Franco weiter. So erwartet Eliseo von den Haushaltshilfen »Sauberkeit« und von seiner Ehefrau Respekt, Toleranz und vorbildliches Salonführen. Während die materielle Lage der Frauen aus der gehobenen Gesellschaft gesichert war, waren Frauen wie Merche doppelt ausgeliefert: als Frauen und als Arbeiterinnen. Mahlke zeigt die dramatischen Momente im Leben Merches, die vergewaltigt und geschwängert wird, und der die Nonnen ihr Kind wegnehmen, ohne dass sie ihren neugeborenen Sohn sehen darf. »Sie weiß, es hat gelebt, und sie weiß, sie wird es nie wiedersehen. Aufs Festland, heißt es, sie bringen die Kinder aufs Festland, dort kommen sie zu Familien, deren Söhne im Bürgerkrieg gefallen sind, auf der richtigen Seite gefallen sind.« (A, 324) Nach dem Bürgerkrieg ändert sich die Lage der Frauen der Unterschicht kaum: »In Schüben, Tranvíatakt-Schüben, werden morgen und übermorgen und immer so weiter Frauen mit Milchkannen, Wasserkrügen, Körben auf den Köpfen an der Terrasse des Hotel Orotava vorbeigehen.« (A, 294) Sie sind auf die Erwerbstätigkeit angewiesen und arbeiten als Haushaltshilfen, Verkäuferinnen oder auf dem Strich und bringen nach wie vor ungewollte Kinder zur Welt. In den Szenen, in denen Merche als Putzfrau im Bordell mit der Tragik der missbrauchten Frauen konfrontiert wird, wird die Misere der Zeit bloßgestellt. »Merche beginnt mit den Zimmern oben, das Wecken nervt, die meisten Mädchen schlafen noch. ›Bitte, bitte noch fünf Minuten‹. Und: ›Du kannst dir nicht vorstellen, was gestern…‹ Ihr Maulen und Furzen und Jammern auf der Galerie, auf die Merche sie scheucht, solange sie putzt. Nachttöpfe leert, Waschtische wischt, Wasserreste wegkippt, Schalen mit Essig spült, seltener die Krüge. […] Und eigentlich ist alles gut, so wie es ist.« (A, 300)
Diesem großen sozialen Problem versuchte sich in den Dreißigerjahren eine Gruppe politisch engagierter Reformer entgegenzusetzen, die wie Hildegart
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Rodríguez die Lage der spanischen Frauen durch den Zugang zur sexuellen Aufklärung ändern wollten, aber diese Stimmen erreichten die Insel verspätet.26 Die Frauen der Oberschicht emanzipierten sich zwar langsam jedoch unaufhaltsam und nach 1975, als mit dem Tod Francos die Zeit der Diktatur endete, standen ihnen die bürgerlichen Freiheiten offen. Der Werdegang Anas zur Staatssekretärin bestätigt den vollzogenen Wandel. Noch ausgeprägter sieht man das weibliche Selbstbewusstsein am Beispiel Rosas. Ihr Lebensstil ist Ergebnis der antiautoritären Erziehung und sie lässt sich nicht über ihr Geschlecht definieren. Nur in der Geschichte der Familie de Ruiz ändert sich wenig und wenn schon, so ist es eine fragliche Gleichberechtigung. Merches Tochter Eulalia wiederholt das Leben der Mutter, während ihre zweite Tochter Mercedes, selber Mutter zweier Mädchen, als Dealerin kriminell wird. Die Emanzipation der Frau, die sich im Jahrhundert, von dem der Roman erzählt, vollzog, entspricht der europäischen Entwicklung durchaus, auch wenn auf den Inseln alles etwas später und weniger radikal erfolgte. Inger-Maria Mahlke nutzte beim Rekapitulieren der Vergangenheit die Emanzipation der Frau als tragende Erzählstrategie, die den gesellschaftlichen und mentalen Wandel am Beispiel der Rolle der Frau in der Gesellschaft illustriert. Während 1933 »ein paar Mädchen, die sich trafen, um Bücher zu lesen« (A, 370) für Empörung sorgten, leiten 2015 Frauen wissenschaftliche Projekte und übertreffen ihre männlichen Kollegen in Ehrgeiz und Macht. Mit prägnanten Szenen, in denen die Roman-Frauen bei ihren täglichen Tätigkeiten gezeigt werden und die in oft sehr kurzen Dialogen ihre Beziehungen mit dem Ehemann und den Kindern dokumentieren, zieht die Schriftstellerin die Bilanz über einhundert Jahre Frauenfrage auf Teneriffa, in Spanien, in Europa. Dabei gelingt es der Autorin, die immer noch bestehenden Unterschiede zwischen Frauen aus verschiedenen Gruppen der Gesellschaft nuanciert darzustellen. Frauen von 1919 definieren sich über ihre Familie und die gesellschaftliche Position ihres Gatten, Frauen von 2015 definieren sich über ihre Begabung, Bildung und Beruf. Nur die Frauen aus der Unterschicht haben sowohl wie schon 1919 auch 2015 noch keine wirkliche Wahlfreiheit, denn sie definieren sich nur durch den Haushalt, in dem sie aktuell angestellt sind. Mahlke zeigt ihr gesellschaftskritisches Temperament, indem sie damit die Errungenschaften der Frauenbewegung relativiert.
26 Hildegart Rodríguez (1914–933) war spanische Sexualreformerin und sozialistische Aktivistin. Sie verfasste zahlreiche Schriften über die sexuelle Aufklärung der spanischen Frauen. Sie war Tochter von Aurora Rodrígez Carballeira. Ihr Leben und Werk inspirierte die Kunst: Fernando Baribal: La vierte rouge (1987), Erich Hackl: Auroras Anlaß (1989).
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Der materielle Wandel – das Bild der Alltäglichkeit Die Komplexität des Erzählstoffes impliziert mannigfaltige Interpretationsansätze, von denen der kulturanthropologische Ansatz die Lektüre von »Archipel« als Überblick über einhundert Jahre Kulturgeschichte, zu der Architektur, Kleidung, Esskultur, aber auch Kommunikationsmittel gehören, nahelegt. Bei einer verkehrten Lektüre, d. h. der Chronologie der klassischen Zeitrechnung folgend, erkennt man im Roman die Modernisierungsprozesse in ihrem materiellen Ausmaß. Mahlke illustriert den Wandel mit fotografischer Genauigkeit. Die Wohnformen variieren von palastähnlichen Anlagen mit Garten zu verlassenen Mietshäusern, in die Obdachlose und Migranten einziehen. Eine besondere Funktion kommt der schon erwähnten Villa zu, die Ana und Felipe nach Eliseos Tod beziehen. Das Gebäude ist heruntergewirtschaftet und baufällig – damit steht es einerseits als Symbol des Wandels bei gleichzeitiger Verwurzelung in der Vergangenheit, während zugleich die Frage nach der Notwendigkeit der Renovierung des Hauses und damit einer Revidierung der Geschichte in den Vordergrund rückt. Mit zahlreichen Verweisen auf die Kleidung sowohl von Männern als auch von Frauen lädt die Autorin zu einer Modeschau des Jahrhunderts ein: von »Frauen in Hosen« und sogar »Frauen in kurzen Hosen« (A, 380f.) im Jahr 1935 führt sie den Lesern die bunten Sackklamotten der skandinavischen Touristen und Balanciaga-Kostüm Anas, und Zara-Kleider der tinerfeños im Casualstil vor Augen. Der Leser begleitet die Vorfahren der Protagonisten des ersten Kapitels bei öffentlichen Auftritten und auf Empfängen, hört das Rascheln der Seide und das Geklapper der Absätze der maßgeschusterten Schuhe der uniformierten Männer. Die Kleidung der Bautes als Vertreter der Mittelschicht wird nicht so oft erwähnt, trotzdem kann sich der Leser eine Vorstellung von ihrer funktionalen Bescheidenheit machen. In den Gegenwartskapiteln ist die Kleidung ein wichtiger Faktor der Zeichnung der Figuren. So lassen sich Ana und Rosa an ihren Markenkleidern und Accessoires als Vertreterinnen der reichen Oberschicht identifizieren. Diese Charakteristik entspricht dem Bourdieuschen Konzept der Kapitale und des Habitus. Das Prinzip des Dresscodes der Inhaber blieb über Jahrzehnte dasselbe: Nur wird im neuen Jahrtausend die Messlatte nicht an die Qualität der Stoffe angelegt, sondern an die Labels der Modedesigner. Nicht anders verhält es sich bei den anderen Gesellschaftsschichten: Das Prinzip des Funktionalen erweist sich als entscheidend und die Ausführung richtet sich für jede Generation nach dem aktuellen Angebot. Ein enormes Realitätspotential enthalten in »Archipel« alle Beschreibungen der Mahlzeiten und Lebensmittel. Die Generationen vor Ana und Felipe ernährten sich je nach Gesellschaftsschicht von bestimmten Fleisch-, Fischsorten und Früchten oder von Kartoffeln und Gemüse, jedoch alle bis in die Gegenwart
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hinein begleitet der Gemüseeintopf, Potaje, der bei jeder der Romanfiguren den Hunger stillt. »[D]ie Kasserolle mit dem Potaje« (A, 251), zubereitet von Merche, wartet jeden Abend auf Eliseo; in seinem Elternhaus riecht auch der junge Julio »Potaje und Kaninchen« (A, 470), die seine Mutter Olga für die Familie gekocht hat. Rosas Essgewohnheiten unterscheiden sich provokativ von den kulinarischen Traditionen. Indem die Autorin ihr die Wasser-Flasche zum Wegbegleiter macht, identifiziert sie Rosa als Vertreterin der jüngsten, umweltbewussten Generation des Romans. Mit Hinweisen auf Coca-Cola- und 7Up-Werbung übt Mahlke Kritik an der Amerikanisierung des Lebens auf Teneriffa (in Europa) aus. Den gesellschaftskritischen Gegenwartsbezug enthalten alle Erwähnungen von Diätkost (das Büffet bei der Vernissage) und Biolebensmitteln. Die Beschreibung der Bars an der Avenida knüpft auf die Marketing-Strategien des kulinarischen Tourismus an und klingt wie eine Spanien-Werbung: »In den gläsernen Vitrinen liegen Tortilla española, in Tortenstücke geschnitten, Ensaladilla, in mit Plastikfolie überzogenen länglichen Schüsseln, der Aufschnitt für die Bocadillos: weißer Käse, Semicurado, mit hellen Kondenswassertupfen auf der dunklen Rinde, angeschnittene Salchichón, Mortadela, Jamón Cosido. Tomaten, Zwiebeln, Avocado, Salat.« (A, 124)
Die Darstellung der Essszenen im neuen Familien- und Generationenroman lässt auf den Charakter der familialen Bande schließen. Mahlkes Roman bestätigt am Beispiel der über die einzelnen Kapitel und Jahrzehnte verstreuten Situationen der Nahrungsaufnahme, dass intakte Familien gemeinsam essen und sich unterhalten, während die Szenen, in denen bei Tisch nicht gesprochen wird oder die Familienmitglieder keinen Wert auf gemeinsame Mahlzeiten legen, auf die Auflösung der familialen Bande verweisen.27 Eine wesentliche Rolle im Alltag der Romanfiguren spielen auch die Verkehrsund Kommunikationsmittel, die den Modernisierungsschüben entsprechend evolvieren. Aus den ersten von einem Dieselmotor angetriebenen Autos, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts nur die Wohlhabendsten leisten konnten, steigen ihre Nachkommen in erster Generation in immer schnellere und die in der zweiten in die immer größere Wagen. Am demokratischsten wirkt die Tranvía, die die Figuren des Romans über Jahrzehnte begleitet. Mahlke inszeniert die Szenen realientreu, was ihre solide schriftstellerische Werkstatt erkennen und ihre Schreibweise der in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart dominanten Tendenz des neuen Realismus zuordnen lässt. Eine ähnliche Entwicklung wie die Motorisierung erfährt auch die Nachrichtenübertragung von Brief, Telegraf, Telegramm und Telefon bis zu Handy und Smartphone. Rosa repräsentiert die Generation der jungen Menschen, die 27 Ławnikowska-Koper, Literarisierung der Familie. 2018, S. 249.
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sich in der virtuellen Welt besser zurechtfinden als in direkten Kontakten. Ihrem ungeniert manifestierten Desinteresse am Dialog mit den Eltern liegen ungelöste Konflikte zugrunde. Einer davon ist die von Rosa antizipierte Ablehnung seitens der Mutter. Zugleich zeigt sich, wie sich die Funktion der Kommunikationsmedien verändert hat: von der Nachrichtenübermittlung hin zum Unterhaltungsmedium.
Fazit – »Archipel« (k)eine Insel Der Roman »Archipel« bietet sich als ein literarisches Archiv der Zeitgeschichte, was den Thesen von Kuzmics und Mozeticˇ über die Rolle der Literatur für die Sozialwissenschaften28 entgegenkommt. Mahlke inszeniert Teneriffa »als einen Brennpunkt geostrategischer, ökonomischer und individueller Interessen«29. Am Umgang der Autorin mit den Kategorien Raum und Zeit lässt sich die Literarisierung der Wandlungsprozesse als immanentes Konzept des Romans erkennen. Die einhundert Jahre spanischer Geschichte projiziert auf Schicksale von drei auf Teneriffa lebenden Familien sind eine formelle Herausforderung. Die Beschränkung auf den geschlossenen Raum einer Insel, der »Möglichkeit einer Insel«30 entsprechend, während das Jahrhundert »im Krebsgang rückwärts und verquert«31 erzählt wird, befähigt die Konstruktion von intimen Innenräumen, die mit Lebensorten der Figuren verbunden sind. Erst diese ergeben ein mehrdimensionales Gebilde, dessen inneren Zusammenhalt geheime Schlüssel des Romans wie die Tranvía, der Pico del Teide, San Borondón, Cortado, Bescherung zum Fest der Dreikönige, Franco und die Surrealisten herstellen. Die von der Schriftstellerin inszenierte räumliche und zeitliche Distanz verschafft der Bewältigung der Vergangenheit Spaniens und Europa viel Raum, den die Autorin durch Individualisierung der kollektiven Erfahrung in den Schicksalen der fiktionalen Familien schafft. Damit wird das kognitive und emotive Potential des neuen Familien- und Generationenromans bestätigt. Mahlkes Roman erweitert die herkömmlichen Möglichkeiten der Gattung dank der formalen Souveränität. Von Kapitel zu Kapitel wechselt mit dem jeweiligen Zeitabschnitt und der Perspektive des jeweiligen Erzählers auch dessen unmittelbarer Erfahrungsraum (eine gemischte Fokalisierung). Die horizontale Zeit- und Raumordnung wird jedoch durch den Verzicht auf das Linearitätsprinzip und die Rückwärtserzäh28 Kuzmics, Helmut/Mozeticˇ, Gerald: Vom Nutzen der Literatur für Soziologie. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 28, 2003, S. 67–87. 29 Schröder, Verloren im ewigen Frühling. 2018. 30 Kegel: Die Möglichkeit einer Insel. 2018. 31 Mazenauer, Beat: Rückwärts durch ein Jahrhundert. literaturkritik.de. (Zugriff am 08.01. 2020).
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lung konsequent relativiert und so die Kausalität der Geschichte in Frage gestellt. Die Wandlungsprozesse vollziehen sich auf der vertikalen Zeitachse und betreffen, abgesehen von den historischen Ereignissen wie Rifkrieg, Bürgerkrieg und die Diktatur Francos, die angesprochenen Veränderungen im sozialen, mentalen und materiellen Bereich. Diese werden unter Einsatz kulturwissenschaftlicher Fragestellungen als solche nachvollziehbar. Konsequenterweise bleibt auch die Insel von den Erscheinungen des Wandels nicht verschont, wovon der Verlust ihrer ursprünglichen Eigenart infolge des Massentourismus zeugen kann. Um den Fremdenverkehr ist der kriminelle Faden des Romans gespannt. Dem Bild der Insel als Kommerzprodukt werden die Düfte der überall wuchernden und blühenden Blumen und der Anblick ihrer Farbenpracht gegenübergestellt. Ohne über die Erfordernis des Schutzes der Ökosphäre zu belehren, verleiten diese Naturschilderungen zur Reflexion über den Eigenwert Teneriffas als Naturwelterbe. Für den Versuch, Mahlkes Umgang mit Zeit zu erfassen, bietet sich das Bild einer Sanduhr. Bei jeder Umdrehung rinnt der Sand aufs Neue durch den schmalen Trichter aus dem oberen in den unteren Teil. Das Gegenwärtige der ersten Kapitel wird zum Vergangenen und doch erweist sich bei der Umdrehung das Vergangene als Stoff dieser Gegenwart, die beim Rückwärtslesen des Romans eine gewohnte Chronologie bei jeweils neuer Anordnung der Sandkörnchen ergeben würde. Dies entpuppt sich als Prinzip: Die Vergangenheit wird zur Gegenwart und die Gegenwart lebt aus der Vergangenheit. Offen bleibt nur die Frage nach der Zukunft, die Frage, die im Roman provokant als letzter Satz im Toast »Auf die Zukunft!«32 erschallt.
Primärliteratur Mahlke, Inger-Maria: Archipel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018.
Sekundärliteratur Bhabha, Homi K.: The location of culture. London: Routledge 1994. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital. Übers. von Reinhard Kreckel. In: Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen: Schwartz 1983, S. 183–198. Deutsche Familienromane: Literarische Genealogien und internationaler Kontext. Hrsg. Simone Costagli/Mateo Galli. München: Fink 2010. 32 Mahlke, Archipel. 2018, S. 423.
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Ecarius, Jutta: Familie-Identität-Kultur. In: Familientraditionen und Familienkulturen. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analyse. Hrsg. von Meike Sophie Baader, u. a. Wiesbaden: Springer 2013, S. 53–70. Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hrsg. von Thomas Martinec/Claudia Nitschke. Frankfurt/M., u. a.: Peter Lang 2009. Geiger, Arno: Es geht uns gut. Roman. München/Wien: Hanser 2005. Heinze, Franziska: Postkoloniale Theorie. In: Gender Glossar/Gender Glossary (5 Absätze). (Zugriff am 12. 12. 2019). Immer wieder Familie. Familien- und Generationenromane in der neueren deutschen Literatur. Hrsg. von Hajnalka Nagy/Werner Wintersteiner: Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 2012. Iser, Wolfgang: Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Wolfgang Iser/Dieter Heinrich. München: Fink 1983, S. 121–152. Kegel, Sandra: Die Möglichkeit einer Insel. Rezension. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 08. 2018. Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Doris Bachmann-Medick. 2. aktualisierte Auflage mit neuer Bilanz. Tübingen/Basel: Francke 2004. Kuzmics, Helmut/Mozeticˇ, Gerald: Vom Nutzen der Literatur für Soziologie. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 28, 2003, S. 67–87. Ławnikowska-Koper, Joanna: Literarisierung der Familie im österreichischen Roman der Gegenwart. Kon/Texte – eine kulturwissenschaftliche Betrachtung. Berlin: Lang 2018. May, Nina: Interview mit der Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke (NRD). (Zugriff am 10. 01. 2020). Mazenauer, Beat: Rückwärts durch ein Jahrhundert. literaturkritik.de. (Zugriff am 08. 01. 2020). Mitterauer, Michael: Komplexe Familienformen in sozialhistorischer Sicht. In: Historischanthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen. Hrsg. von Michael Mitterauer. Wien/Köln: Bühlau 1990, S. 87–130. Nünning, Ansgar/Sommer, Roy: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr 2004. Petzold, Matthias: Medien im Alltag von Familien. In: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Generation digital – Neue Medien in der Erziehungsberatung. Fürth: bke 2011. S. 14–30. Petzold, Matthias: Die Multimedia-Familie. Mediennutzung, Computerspiele, Telearbeit, Persönlichkeitsprobleme und Kindermitwirkung in Medien. Opladen: Leske & Budrich 2000. Peuckert, Rüdiger: Zur aktuellen Lage der Familie. In: Handbuch Familie. Hrsg. von Jutta Ecarius. Wiesbaden: Springer 2007, S. 36–56. Said, Edvard: Orientalism. London: Pantheon Books 1978. Schröder, Christoph: Verloren im ewigen Frühling. Geschichte zweier Familien und Chronik einer Insel! Süddeutsche Zeitung. 20. 09. 2018.
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Würger, Takis: Porträt der Autorin Inger-Maria Mahlke. Eine halbe Stunde weinen, dann 16 Stunden schreiben. Inger-Maria Mahlke im Interview für den »Spiegel«. (Zugriff am 10. 01.2020).
Poetologische Überschreitungen
Magorzata Dubrowska (Lublin)
Literarisierung weiblicher Schicksale in Bettina Spoerris Roman »Herzvirus«
Abstract: In dem vorliegenden Beitrag wird versucht, den narrativen Strategien der Literarisierung weiblicher Schicksale in Bettina Spoerris Roman »Herzvirus« nachzuspüren. Indem die Ich-Erzählerin den Prozess der Rekonstruktion der Familiengeschichte initiiert, zeichnet sie das Porträt ihrer verstorbenen Mutter nach und geht dem eigenen Entwicklungs- und Emanzipationsweg auf den Grund. Die literarische Verarbeitung beider Lebensgeschichten zeichnet sich durch eine narrative Vielfalt aus, denn in das Erinnerungsnarrativ werden u. a. intertextuelle und intermediale Bezüge, transgenerationellere Diskurse, Elemente kulturellen Gedächtnisses sowie Merkmale jugendliterarischer Adoleszenz-Erzählung integriert. Diesem Aspekt soll in dem Beitrag nachgegangen werden.
Bettina Spoerri, die 1968 in Zürich geborene Literatur-, Musik- und Filmwissenschaftlerin, wendet sich in ihrem literarischen Schaffen weiblichen Schicksalen zu: In ihrem Debütroman »Konzert für die Unerschrockenen« (2013) entwirft sie das Porträt zweier Frauen: Leah und ihrer Großnichte Anna. Die Geschichte, die wie die Autorin sagt, halb erfunden sei und halb auf Dokumentarischem beruhe,1 ist somit auch ein Teil ihrer Genealogie. Spoerri, die der schreibenden Enkel-Generation2 der Shoah-Überlebenden angehört, nennt die Arbeit am Roman Erinnerungsarbeit und Neu-Interpretation der Vergangenheit.3 Die Ich-Erzählerin Anna eignet sich die Vergangenheit an, indem sie das Leben ihrer in London verstorbenen Großtante, einer berühmten Konzert-Cellistin, zu rekonstruieren versucht und bei der Spurensuche nach der Geschichte ihrer schweizerisch-jüdischen Familie zu sich selbst und ihren Nächsten findet: 1 Portrait. Bettina Spoerri. (Zugriff am 21. 08. 2019). 2 Somit schließt sich Spoerri einer Reihe namhafter und weniger bekannter Autorinnen und Autoren der Deutschschweiz an. Vgl. hierzu: Zweifache Eigenheit. Neuere jüdische Literatur in der Schweiz. Hrsg. von Rafaël Newman. Zürich: Limmat 2001. 3 Vgl. dazu das Interview mit Bettina Spoerri, ausgestrahlt am 3.06. 2013, in dem sie sich zu ihrem Buch äußert. (Zugriff am 15. 03. 2018).
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Im Roman wird ebenfalls das autobiographisch inspirierte Vater-Tochter-Verhältnis thematisiert: Die Ich-Erzählerin vermag es, den Kontakt mit dem in ihrem Leben kaum existenten Vater aufzunehmen und sich – mit dem sich der Erinnerung verweigernden Habitus des Schweigens konfrontiert – Informationen über die Kindheit des Vaters in der NS-Zeit zu eigen zu machen. »Der Roman endet melancholisch heiter«, schreibt Angelika Overath in der Buchbesprechung, zumal Anna, die begreift, dass das »Leben, […] immer wieder Scheitern« heißt, »[u]nd an den Bruchstellen […] doch die schwindelerregenden Momente des Glücks [bleiben]«,4 eine erwiderte Liebe, eine neue Nähe zum Vater und eine Chance auf beruflichen Erfolg findet. Auf die zeitlich und räumlich breit angelegte Familiengeschichte, die ein Vater-Kapitel mit sich bringt, folgt 2016 der Roman »Herzvirus«, ein intimer autobiographischer Text, in dem die Beziehungsgeschichte zwischen Mutter und Tochter, die Erinnerung an die Kindheit und Jugend der Ich-Erzählerin sowie die Erinnerung an Mutters Leben, ihre Krankheit und ihren Tod zu den wichtigsten Achsen des Geschehens werden. In dem Beitrag »›Herzvirus.‹ Alles über ihre Mutter« schreibt Maja Wicki dazu: »Bettina Spoerris Annäherung ist das Wagnis der Rückkehr zur Mutter, ausgehend von deren Tod, von der Vorstellung, wie sie an den Folgen des Herzvirus starb: Myokarditis, gemäss der Diagnose des Gerichtsmediziners, die mit der Erfahrung der Tochter übereinstimmt […].«5 Die Ich-Erzählerin, das Alter Ego der Autorin, muss sowohl zu diversen Erinnerungsbildern als auch zur Sprache der Kindheit, Adoleszenz und des Erwachsenwerdens zurückfinden, um eine Annäherung an die Mutter zu wagen.6 Wicki hebt dabei den Anspruch der Sprach-Präzision hervor: »Grösste Genauigkeit wird gefordert, um in die Sprache der heranwachsenden Tochter zurückzufinden. Um überleben zu können, muss diese viel zu früh, noch vor der Adoleszenz, sich in schmerzhaftem Aufbegehren und Widerwillen von der Mutter und deren neuem Beziehungsgeflecht lösen. Sie wächst in die Sprache der Einsamkeit des Erwachsenwerdens hinein, um ohne die Gegenwart der Mutter beharrlich den eigenen 4 Overath, Angelika: Die verlorene Zugehörigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung. 24. 10. 2013. (Zugriff am 15. 11. 2015). Zu lesen auch unter dem Titel: Auf der Suche nach der Zugehörigkeit. (Zugriff am 28.08. 2019). 5 Wicki, Maja: ›Herzvirus‹. Alles über ihre Mutter. In: WOZ 2016, 27, vom 07. 07. 2016. (Zugriff am 28.08. 2019). 6 Vgl. ebd. In Bettina Spoerris Beitrag »Kindheit in der Literatur. Auf der Suche nach dem verborgenen Garten«, der in WOZ 2011, 21 vom 26. 05. 2011 publiziert wurde, hebt Spoerri – in Bezug auf Erica Pedrettis Roman »Engste Heimat«, in dem sich die Autorin ihrer Kindheit schreibend anzunähern versucht – die Diskrepanz zwischen der vergangenen Wirklichkeit und unserer Erinnerung an diese Zeit (hier: Kindheit) hervor. Sie sagt dazu: »Je mehr wir aber über die Funktionsweise unseres Gedächtnisses wissen, desto weniger kann die literarische (Re-) Konstruktion, die Erzählung einer Kindheit als ›authentisch‹ aufgefasst werden.« (Zugriff am 29. 08. 2019).
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Weg zu gehen. Sprachlich ebenso präzise gilt es, dem Wechsel im Verhältnis zur Mutter gerecht zu werden: der Distanz zu ihr im analytischen Verstehen ihrer Ängste, ihrer Erschöpfung und Flucht an die existenziellen Ränder, wenn sie im Nebel von Zigarettenkonsum und Psychopharmaka zu entschweben versuchte.«7
Der von der Ich-Erzählerin initiierte Prozess der Erinnerung und Rekonstruktion wird durch eine narrative Diversität gekennzeichnet: In das Erinnerungsnarrativ werden u. a. intertextuelle und intermediale Bezüge, transgenerationellere Diskurse, Elemente kulturellen Gedächtnisses sowie Merkmale jugendliterarischer Adoleszenz-Erzählung integriert – mit dem Ziel, Lebensgeschichten der IchErzählerin und deren Mutter literarisch zu verarbeiten: Im vorliegenden Beitrag wird versucht, der Strategie der Literarisierung dieser Schicksale nachzugehen. Der Roman besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil schildert den Entwicklungsweg der Ich-Erzählerin, im zweiten tritt die Lebens- und Krankheitsgeschichte8 der Mutter, die an bipolarer Störung erkrankt und an Herzversagen stirbt, in den Vordergrund. Das Geschehen wird nicht chronologisch erzählt. Der Leser lernt die Geschichte in episodenhaften separaten Kapiteln kennen. Das Buch setzt mit der Vorstellung der Erzählerin über Mutters Tod ein: In dem extradiegetischen, expositionsartig vorangestellten, kursiv gedruckten Text ohne Titel versucht die auktoriale Erzählerin – in der Schlusspassage des Eingangstextes findet der Wechsel zur Ich-Erzählerhaltung statt – die letzten Momente aus Mutters Leben zu rekonstruieren. In quasi nachgestellten Szenen, in einer metaphorisierten Sprache beschreibt sie routinierte, geübte Handgriffe, konzentriert sich auf die Schilderung von Alltags-Details: Die Erzählerin richtet ihr Augenmerk auf den Modus der Wahrnehmung der Welt, indem sie sich mit poetischer Präzision Mutters Reflexionen bei der Ausführung alltäglicher Tätigkeiten vorzustellen und sie zu rekonstruieren versucht: »Das Wasser im Kocher brodelt und dampft. Sie schüttet es in das braune Pulver im Porzellanfilter über der Kanne und sieht, während sie ein tiefgefrorenes Brötchen in den Ofen schiebt, ihre Silhouette im Spiegelkabinett des glänzenden Chromstahls […]. Der Krater wächst mit sinkendem Flüssigkeitsspiegel immer weiter in die Tiefe, und sie wundert sich einmal mehr, warum der Kaffeesatz entlang der Filterwand eine aufgeraute Tapete hinterlässt, während zuunterst im Trichter einen kleine, mit feinstem Sand gefüllte Manege zum Vorschein kommt.«9
Die Rekonstruktion wird durch eine weitere Vorstellung verdichtet, in der die Mutter versucht, ihre Angst vor Insekten durch das Aufsagen der Anfangszeilen 7 Wicki, ›Herzvirus‹. Alles über meine Mutter. 2016 [nicht paginiert]. 8 Spoerris Roman reiht sich somit auch in die Tradition der Krankheitsliteratur ein. Wie in Fritz Zorns Krebsroman »Mars« (1977) wird die Ursache für die Krankheit in »Herzvirus« metaphorisch verstanden. 9 Spoerri, Bettina: Herzvirus. Roman. Wien: Braumüller 2016, S. 9.
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eines Kinderliedes zu bannen: »Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanze.« Durch den performativ anmutenden Sprechakt, d. h. durch die Wiederholung eines Ausschnitts aus dem Lied »Auf der Mauer, auf der Lauer«, das auf dem Prinzip des Lückentextliedes basiert – im Verlauf des Liedes wird pro Strophe von den Worten »Wanze« und »tanzen« jeweils ein Laut entfernt – glaubt die Mutter, mit dem schrumpfenden Wortlaut würden auch die Wanzen aus ihrer Küche verschwinden: Diese Beschwörungsworte tauchen im Roman als Überschrift wie ein Mantra auf. Das Spiel mit den Worten wird jedoch in umgekehrter Reihenfolge getrieben: Während zu Beginn des ersten Romanteiles das Wort Wanze ausgespart bleibt – es heißt »Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine« –, kommen in den Kapiteln, in denen von dem sich verschlechternden Gesundheitszustand der Mutter die Rede ist, die fehlenden Buchstaben hinzu, so dass in dem vorletzten Kapitel des zweiten Teils, in dem metatextuell über den Schreibvorgang berichtet wird – die Ich-Erzählerin sagt ihrem Vater nach Mutters Tod, dass sie »über [ihr] Aufwachsen mit Mutters Phantasien«10 schreibt – der volle Wortlaut zu lesen ist. Der explizite Bezug auf ein Kinderlied, als Element der Literarisierung von Mutters Ängsten, ihrer psychischen Erkrankung und deren Tod, kann wohl als Versuch der Erzählerin gelten, in die Sprache und Wirklichkeit der Kindheit zurückfinden zu wollen, zumal Mutters Angst vor Keimen und Insekten das Leben der Erzählerin und das ihrer Brüder seit Kinderjahren begleitete.11 An der Liedzeile wird aber auch das Fragmentarische und Bruchstückhafte der Erinnerung, über die die Ich-Erzählerin verfügt, veranschaulicht. Sie sagt: »Mir bleiben Wrackteile. Erinnerungsinseln. Strandgut. Momentaufnahmen. Sie sind Mosaiksteine, die ich zusammensetze, um die Welt auferstehen zu lassen, in der ich gelebt habe […].«12 Aus der Aussage geht ebenfalls hervor, dass ein literarisches Porträt der verstorbenen Mutter, das am Entstehen ist, nur im Spiegel der eigenen Biographie der Ich-Erzählerin denkbar ist. In dem der Geschichte vorangestellten Teil befinden sich drei weitere KurzTexte, die die Fragestellung des Romans vorwegnehmen: Im »Maloja«-Kapitel schildert die Ich-Erzählerin u. a. Szenen aus einem Familienausflug an den Silsersee aus dem Jahre 1963, als ihre Eltern ein frisch vermähltes Paar waren: Um Erinnerungsbilder von dem Ausflug aufzurufen, bedient sich die Ich-Erzählerin eines Speichermediums kulturellen Gedächtnisses, des vom Vater mit der Handkamera gedrehten Stummfilms: Sie lässt einzelne Bilder vor die Augen des Lesers gleiten, indem sie die Filmsequenzen als sprachlich präzise geschilderte 10 Ebd., S. 271. 11 Die Ich-Erzählerin erinnert sich an etliche Desinfektionsaktionen. Sie schreibt auch, dass Mutter alle Wäsche, auch Jeans, aus Angst vor Keimen stärkte. 12 Spoerri, Herzvirus. 2016, S. 12.
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Ekphrasen13 einsetzt. In dieser Form »›verdeckter‹ Intermedialität«14 bleibt die Schrift ein dominantes Medium, das von Bildern inspiriert wird. Im Prozess des Schreibens, beim Anschauen der Filmsequenzen, entdeckt die Tochter bereits in Mutters Filmporträt aus Maloja Anzeichen für deren Unsicherheit und Angst, gegen welche sie als junge Frau noch anzukämpfen vermag, während die späteren Filmaufnahmen die Mutter stets mit dunkler Brille zeigen, was die Tochter als eine Art Schutzmaßnahme deutet, die auf das Maskenhafte und Erstarrte ihrer Existenz hinweist. Die Ich-Erzählerin sagt zu dem mütterlichen Maloja-Porträt: »Sie wäscht sich am Steinbrunnen die Hände, scheu posierend für die Aufnahme, sie fühlt sich unwohl in ihrer Haut, trotzdem hält sie hin.«15 Bei der Schilderung der Filmsequenzen konzentriert sich die Ich-Erzählerin auf die vom Vater im Maloja-Film porträtierte Mutter, beschreibt aber auch spätere Filmaufnahmen, auf denen ebenfalls die Erzählerin selbst und ihre Brüder zu sehen sind, um rückblickend das »Crescendo«16 von Mutters Zusammenbruch vor Augen zu führen. Die Erzählerin schreibt: »[…] während sie ihren Kindern das Gehen beibrachte, verliert sie selbst immer mehr den Boden unter ihren Füßen.«17 Das Wegbleiben des Vaters, der das Leben seiner Familie filmisch dokumentiert hat, wird in der Erinnerung der Ich-Erzählerin durch das plötzlich eintretende Fehlen der Filme markiert: Familienfotos, die seit dem Fernbleibens des Vaters das Film-Familienarchiv ersetzen, werden somit zum Signum seiner Abwesenheit. Darüber hinaus wird im Roman das Speichermedium Fotografie auch als ein Weg erwähnt, Mutters Umgang mit Büchern und Fotos – sie trägt oft Kommentare in die Bücher ein und beschriftet Familienfotos – zu demonstrieren sowie die Erinnerung an den sich verschlechternden Zustand der Kranken aufzurufen: Die Ich-Erzählerin stellt in einem der letzten Kapitel des Buches dar, wie die über Jahre sorgfältig geführten Foto-Familienalben in Mutters Skulpturen montiert werden, so dass die Dokumentation der Familiengeschichte in Einzelteile »zerpflückt«18 wird. Die Tochter schreibt, dass dieses Bildarchiv – in der akut verlaufenden Krankheitsphase – für ihre Mutter wohl keine Erinnerung mehr sei, sondern »Verzeigung, Anklage, Entblößung.«19 Mit der Erinnerung an diese Vernichtungsgeste wird wohl metaphorisch auf den Zustand der Identitätszerlegung verwiesen. Die Ich-Erzählerin schreibt auch über den Impuls, das Bildmaterial schützen zu wollen und erinnert sich zugleich an die eigene trügerische 13 Vgl. hierzu Horstkotte, Silke: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln, Wien, Weimar: Böhlau 2009, S. 33. 14 Ebd., S. 35. 15 Spoerri, Herzvirus. 2016, S. 15. 16 Ebd., S. 24. 17 Ebd., S. 17. 18 Ebd., S. 210. 19 Ebd.
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Hoffnung auf Mutters Genesung: In der Rückblende führt sie ein Erinnerungsbild an, in dem sie die Wirklichkeit zu beschwören versucht und fragt: »Doch vielleicht hilft es ihr, die Bilder an den richtigen Platz zu rücken, vielleicht bringt es mir meine Mutter zurück?«20 In »Premium Bananas Chiquita«, dem dritten vorangestellten Kapitel, berichtet die Erzählerin, wie sie – die Sachen der Verstorbenen ordnend – in der Mutter-Kiste einen toten Vogel entdeckt. Die auf dem Dachboden deponierte Pappkiste, die zu einer Falle für den Vogel wurde, deutet die Erzählerin als eine Metapher für Mutters Leben, die sie in dem letzten vorangestellten Kurzkapitel, das dem Roman den Titel gab, auf die Todesursache überträgt. Die medizinische Diagnose, die Bezeichnung Herzvirus, die für eine Herzmuskelentzündung steht, nennt sie einen psychosomatischen Prozess, den sie metaphorisch versteht: »Ihr Herz wurde infiziert, langsam vergiftet, paralysiert, es war zu viel für sie hier.«21 Die Sensibilität und Unsicherheit der Mutter werden zu einem Virus, der sich »vor Langem in ihr eingenistet [hat], […] vielleicht wurde sie schon mit ihm geboren.«22 In dem »Herzvirus-Kurzkapitel« werden literarische Strategien vorweggenommen, mit Hilfe deren die Ich-Erzählerin im Roman der Lebensgeschichte ihrer Mutter gerecht zu werden versucht: Mutters Lieblingsbücher, Filme und Lieder, die der Frau Halt und Trost spendeten, werden für die Tochter, die im Prozess des Schreibens einen Annäherungsversuch an die Mutterfigur wagt, ebenfalls zu wichtigen Orientierungspunkten. Sie sagt: »Die Zeilen der Lieder, die sie liebte, die Geschichten der Bücher und Filme, mit denen sie lebte: Sie sind Vektoren ihrer Art, in der Welt zu stehen, Echo banger Ahnungen, geheimnisvolle Zeichen auf Wegweisern, die ich immer wieder zu entschlüsseln versucht habe, auch jetzt wieder, da ich mich schreibend dem Leben mit ihr annähere und die Geschichten und Figuren aufscheuche, die mir beistanden: sie sind zu den Türhaltern meiner eigenen Welt geworden.«23
In Mutters Buch-Faszinationen, ihren filmischen und musischen Vorlieben – die ebenfalls zu Lieblingstexten, -songs und -filmen der Ich-Erzählerin geworden sind – in den Plots, Figuren und Liedern sucht die Tochter schreibend nach Spuren der Mutter selbst. In der dem Text angeschlossenen Danksagung befindet sich eine lange Liste mit Namen und Titeln der für die Schriftstellerin wichtigen Autoren, Regisseure, Bücher, Filme und Lieder. Somit wird nachdrücklich auf die explizite und implizite Intertextualität und Intermedialität des Romans verwie-
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Ebd. Ebd., S. 22. Ebd. Ebd., S. 23–24.
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sen. Im Text selbst werden manche Bezüge herausgestellt – ihnen soll im Folgenden nachgegangen werden. »Für Marianne« heißt die Widmung des Romans. Dass es der Vorname der Mutter ist, erfährt der Leser erst in dem Bücher-Kapitel »Zora und Pippi«, als die Ich-Erzählerin die Erinnerung an das Büchergestell ihrer Mutter aufrufen lässt. Aus der zeitlichen Distanz nennt sie deren Lieblingsautorinnen, Ingeborg Bachmann, Sylvia Plath, Virginia Woolf und Unica Zürn »eine Art weibliche[n] Gegenkanon zu de Sade, Hölderlin, Nietzsche, Artaud […]«24 und meint dabei wohl die von den Autorinnen gelebte und in ihren Texten geschilderte Disparität, Unsicherheit und Sensibilität weiblicher Protagonistinnen. Ins Zentrum ihrer Überlegungen über weibliche Figuren rückt aber Peter Handkes Erzählung »Die linkshändige Frau«, die der Mutter besonders wichtig war. Das Wissen um Mutters äußere Affinität zur literarischen Gestalt – sie ist ebenfalls Linkshänderin und trägt denselben Vornamen wie die Protagonistin – wird der Ich-Erzählerin mit Verzug zuteil, denn das Bewusstsein von Mutters innerer Nähe zur Hauptfigur stellt für sie ein schwer zu bewältigendes Hindernis dar, das Buch zu lesen. Sie sagt: »Dass die weibliche Hauptfigur […] gar denselben Namen wie meine Mutter trägt, ist indes eine späte Entdeckung. Weil das Buch ihr so wichtig war, habe ich lange nicht gewagt, es aufzuschlagen und zu lesen – als fürchtete ich, zu viel über sie zu erfahren und doch zu wenig und dann enttäuscht zu sein.«25 Im Roman »Herzvirus« werden Mutters Attribute und Charaktereigenschaften zu nicht explizit genannten intertextuellen Bezügen: In Spoerris Roman benutzt Marianne wie ihre Namensvetterin bei Handke eine Schreib- und Nähmaschine und hört immer dieselbe Musik.26 Beide Figuren leben in Hektik, sind geschieden, überarbeitet und verunsichert. Die Einsamkeit von Handkes Marianne wird u. a. in einer nächtlichen Episode erkennbar, als die Figur, Geborgenheit suchend, sich ins Zimmer ihres schlafenden Sohnes begibt: »Sie ging ins Zimmer des Kindes, ihre Decke im Arm, und legte sich neben dessen Bett auf den Boden.«27 Im Roman »Herzvirus« wird hingegen die Unsicherheit und Unangepasstheit beider Protagonistinnen, Mutter und Tochter, thematisiert. Die IchErzählerin erinnert sich an ihre Einsamkeit und fehlende Sicherheit. Aufgrund vieler Umzüge ist sie in der neuen Umgebung fremd und scheint immer fehl am Platz zu sein. Sie sagt: »[…] meine Anwesenheit hat immer etwas Provisorisches, stets Widerrufbares.«28 Sie ruft Erinnerungsbilder aus der Kindheit auf und berichtet über Mutters Fürsorge, die nicht durch Worte, sondern durch Gesten zum 24 Ebd., S. 81. 25 Ebd., S. 82–83. 26 Handkes Hauptfigur hört immer dieselbe Platte, es ist »The Lefthanded Woman«. In Spoerris Roman sind es immer drei Schallplatten, zwei Lieder davon werden im Motto genannt. 27 Handke, Peter: Die linkshändige Frau. Erzählung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 33f. 28 Spoerri, Herzvirus. 2016, S. 47.
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Ausdruck kam. Eine Erinnerung gilt dem Schlaf-Ritual: »Wenn Mutter abends weggeht oder wenn ich nicht einschlafen kann, legt sie mir eines ihrer Kleidungsstücke in die Arme. Einen Pullover oder ihren langen hellvioletten Strickmantel, der ist vollkommen.«29 Je verletzlicher und schwächer aber die Mutter wird, desto häufiger findet eine Umkehr der sozialen Rolle statt: Während Handkes Marianne bei ihrem schlafenden Kind – ohne dessen Zutun – Nähe und Geborgenheit sucht, übernimmt die Tochter in »Herzvirus« die Rolle der Beschützerin der Mutter. Metaphorisch wird der Prozess der Parentifizierung durch ein anderes Schlaf-Ritual initiiert: Die Ich-Erzählerin schreibt: »Sie [Mutter] erschien mir stets ausgeliefert, verletzlicher als die meisten Menschen, die ich kannte und kenne. Als Kind stellte ich mir vor, dass eine flauschige Decke, die ich um sie legte, das Schlimmste abhalten würde.«30 Für die Tochter ist die Mutter eine »seitlich Umgeknickte« aus ihrem Lieblingssong »Ich sing für die Verrückten« von Hanns Dieter Hüsch, dessen Zeilen sowohl im Motto als auch im Roman selbst zitiert werden. Über die Erinnerung an Mutters Lieblingslieder schreibt die Ich-Erzählerin: »Heute drehen sich die Fetzen ihrer Songs in meiner Erinnerung, kratzen die Rillen wieder auf.«31 Der schmerzhafte Prozess der Rekonstruktion und Erinnerung an Mutters Erkrankung, Behandlung und Zugrundegehen wird im Roman durch den intermedialen Bezug auf Kinofilme – in Form von sprachlichen Ekphrasen – fortgeschrieben. Die Einlieferung der Mutter in eine psychiatrische Klinik – herbeigeführt gegen ihren Willen durch deren neuen Mann – sowie die Folgen der Behandlung, u. a. die Abstumpfung und Lebensunfähigkeit, werden vorausschickend am Schicksal der von Jessica Lange in »Frances« gespielten Titelfigur demonstriert, die der Elektroschockbehandlung unterzogen wird. Die Vorwegnahme von Mutters Geschichte wird an der physischen und geistigen Zerstörung der Filmheldin vor Augen geführt. Die Ich-Erzählerin sagt: »Noch weiß ich nicht, was zwei Jahre später mit meiner Mutter geschehen wird.«32 Als die Tochter sich im Schreibprozess den Moment der Einlieferung der Mutter in eine psychiatrische Anstalt vorzustellen versucht, bedient sie sich der filmischen Sequenz, ist nicht im Stande, sich ihre Mutter in der Situation zu vergegenwärtigen: »Zwangsmaßnahmen, die wild um sich schlagende Frances, die verwahrt wird, ist meine Mutter, ich sehe immer nur Jessica Lange alias Frances Farmer, die auf diese Weise eingeliefert wird […]. Black.«33 In den Erinnerungsbildern der Ich-Erzählerin lösen Kinobesuche ebenfalls Reflexionen über familiäre Verhältnisse und (Familien)geschichten aus. Kino29 30 31 32 33
Ebd., S. 115. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23. Ebd., S. 150. Ebd., S. 184.
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filme werden zum Kommunikationsakt, regen zu dem in der Familie sonst ausgebliebenen Gespräch an, ersetzen den transgenerationellen Gedankenaustausch, lassen z. B. die Geschichte von Mutters Kindheit in einem kleinbürgerlichen patriarchalen strengen Familienhaus erahnen. Es wird aber – anders als z. B. in Zorns »Mars« – keine direkte Anklage der kleinbürgerlichen Welt formuliert. Der Hinweis auf die als traumatisch empfundene Kindheit ist vielmehr in Anspielungen und Andeutungen auf die Vergangenheit erkennbar: Als die Mutter zu Ingmar Bergmans Film »Fanny och Alexander« sagt, sie kenne dieses Gefühl aus ihrer Kindheit, wagt die Ich-Erzählerin, nachdem sie den Film gesehen hat, ihre Mutter zu fragen, ob sie von ihrem Vater geschlagen wurde. Die IchErzählerin stellt, aus Angst und Respekt, keine Fragen mehr. Sie erinnert sich: »Ich frage nicht weiter, aus der Scheu heraus, dass sie mir sonst vielleicht erzählen würde, wie sie Ohrfeigen oder Schläge erlebt hat oder andere Arten von strenger Bestrafung. Dass sie körperliche Gewalt und Zwang erlebt hat, ist das eine, doch ich möchte nicht, dass Mutter sich an solche Momente genau erinnern muss; das wäre eine weitere Demütigung, verursacht durch meine Neugier.«34
Eine andere Erinnerung der Ich-Erzählerin, die ihren intimen Faszinationen und Vorlieben gilt, bezieht sich vornehmlich auf deren Eskapismus: Um dem Stigma der Alterität zu entkommen und das Gefühl von Einsamkeit und Fremdsein zu bewältigen, bedient sie sich bereits als kleines Mädchen diverser Abwehrstrategien, und vermag es, aus der Realität auszubrechen. Ihre Suche nach Fluchtmöglichkeiten geht auf, sie steigt in die Welt der Literatur, Musik und Populärkultur ein: Die Ich-Erzählerin, deren größte Faszination der Bücherwelt gilt, findet im Weltkanon der Kinderliteratur ihren ersten wichtigen Halt und ihr Identifikationspotenzial: »Wenn ich lese, verschließen sich meine Ohren.«35 Die im Roman als Mädchen erinnerte Erzählerin wünscht sich, »ein Buch ohne Ende, in das man einsteigen kann […]«,36 so dass ihre Lebensgeschichte mit der literarischen Wirklichkeit verschmilzt. In der einschlägigen Studie »Neue Familienromane. Ein Bericht zu Familien- und Generationserzählungen der Deutschschweiz und in den Romanen der Gegenwart« (2017) wird der kompensatorisch anmutende Bezug der Ich-Erzählerin auf den Bildungskanon als ein typisches Phänomen der deutschschweizerischen Gegenwartsliteratur diagnostiziert. Die Autoren schreiben dazu: »Dass die Erzählerin die gesellschaftliche Enge mit ihrer Entdeckung von Kultur und Literatur kontrastiert und als Befreiung inszeniert, ist ein Topos schweizerischer Literatur.«37 Der manifeste Glaube an die Macht des 34 35 36 37
Ebd., S. 160–161. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Müller, Ralph/Jeanneret, Sylvie/Lambrecht, Tobias/Beaud, Mélissa: Neue Familienromane. Ein Bericht zu Familien- und Generationserzählungen der Deutschschweiz und in den Ro-
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Wortes und der Literatur findet in den Aufzeichnungen der erwachsenen IchErzählerin seine Bestätigung, die im Roman ihren literarischen Frühfaszinationen Ausdruck gibt: Die kindlichen Protagonistinnen Pippi und Zora nennt sie – rückblickend – ihre »heimlichen Schwestern.«38 Der Wunsch, deren Kraft und Energie zu besitzen, ist ebenfalls in einem der drei Roman-Mottos zu erkennen: Der Satz aus Astrid Lindgrens »Pippi Langstrumpf«: »Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar!« gewinnt somit einen performativen Charakter, wird zu dem von der Erzählerin angestrebten Muster: Sie rekonstruiert im Roman Szenen aus der Kindheit, in denen sie dem Grundsatz ihrer literarischen Heldin zu folgen versucht, mit dem Ziel, die kindliche Sehnsucht nach Stärke und Akzeptanz zu demonstrieren. Der Roman stellt zum anderen auch die Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte der Ich-Erzählerin dar. Der Text weist somit Merkmale einer jugendliterarischen Adoleszenz-Erzählung auf, in der die heranwachsende Tochter gegen die kleinbürgerliche Ordnung rebelliert, zu der ihre Mutter – wegen des neuen Partners – zurückzukehren scheint: Die Ich-Erzählerin, die, wie sie sagt, über Jahre eine gute Schülerin war und »möglichst wenig launenhaft zu sein [versuchte – M.D.], um die Mutter nicht zu belasten«39 zieht aus dem Haus des Stiefvaters aus und kommt für ihren Lebensunterhalt auf. Ihr wird aber keine »Störung«40 zuteil, zumal sie weiß, dass sie sich keine Exzesse leisten kann: Ihre Lebensgier äußert und erfüllt sich im Tanz. In der Erinnerung an die adoleszente Lebensphase nimmt die Ich-Erzählerin Bezug auf gesellschaftliche Diskurse der Autorgegenwart: Die Evokation von gesellschaftlichen und politischen41 Veränderungen, die der Ich-Erzählerin zuteilwerden, hat einen zeitdiagnostischen Charakter. In der Rekonstruktionsarbeit wird die Ich-Erzählerin ebenfalls ihrer Faszination von Maschinenschreiben und Klavierspielen gerecht: Bezeichnenderweise scheinen ihr die mit der Schreibmaschine getippten Satzreihen – »Schwarz scharf ins Weiß gemeißelt«42 – menschliche Eigenschaften zu besitzen. Sie schreibt, die Buchstaben würden sie ansprechen, sie stehen für die Verwandlung der Welt. Die
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mandie [sic!] der Gegenwart. In: CH-Studien. Zeitschrift zu Literatur und Kultur aus der Schweiz 2017, 1. (Zugriff am 23. 09. 2019). Spoerri, Herzvirus. 2016, S. 80. Ebd., S. 147. Es fungiert als Gegenbegriff zu Norm und Ordnung. Vgl. hierzu Gansel, Garsten: Zwischenzeit – Grenzüberschreitung – Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder der Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Paweł Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 15–48, hier S. 42. Im Roman ist u. a. von den Zürcher Jugendunruhen – AJZ-Protesten, atomarer Bedrohung, Explosion in Tschernobyl, Mode, Musik und kulturellen Trends der 1980er und 90er Jahre die Rede. Spoerri, Herzvirus. 2016, S. 86.
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Ich-Erzählerin sagt: »Sie flüstern Gedanken, über die ich mit niemandem rede.«43 Mit der Schilderung der Erinnerung an Schreibübungen korrespondiert die Erinnerung an die schwarz-weiße Tastatur des Klaviers, dessen Klang ebenfalls an der Verzauberung der kindlichen Welt der Protagonistin mitzuwirken vermag: »Wenn ich gespielt habe, […] wache ich auf, wie aus einem tiefen Traum.«44 Auf die Farbe Schwarz-Weiß geht die Ich-Erzählerin ein, als sie – metatextuell – den Schreibprozess des Romans mitreflektiert: Die Erinnerung an das Palimpsest der Farbschichten im Kinderzimmer, das sie mit ihren Brüdern zu renovieren hatte, wird mit der Reflexion über den Schreibvorgang zusammengestellt: »Ich schreibe jetzt mit Schwarz auf Weiß und die erste Farbe jenes Zimmers wird wieder sichtbar. Das jetzige Schwarz verbindet sich mit dem damaligen Schwarz, die schwarzen Buchstaben krabbeln wie Ameisen auf Weiß hervor. […] ich beobachte, wohin sie sich bewegen.«45
Das Wagnis der Ich-Erzählerin, die Erinnerungsbilder an Mutters Krankheit im Schreibprozess aufzurufen, bedeutet für sie, sich sowohl mit vielen drastischen Episoden aus dem Leben der Kranken als auch mit Ursachen und Behandlungsmethoden affektiver Störungen zu konfrontieren: Bei der Literarisierung von Mutters Krankheit schildert die Ich-Erzählerin intime Szenen – Momente des Aufruhrs und die der Resignation und Apathie – wobei sie auch Fachliteratur sowie Mutters alte Seminararbeit zum Thema Angst zitiert. Der Annäherungsversuch bedeutet für die Ich-Erzählerin vornehmlich den Wunsch, die Krankheitsrealität darzustellen und sich diese zu vergegenwärtigen. Sie nennt Hauptund Nebensymptome, die bei ihrer Mutter auftreten – u. a. Dyskalkulie, Legasthenie, Dyslexie, Schreibstörung, Zahlenblindheit – um zu konstatieren, dass alles bei ihr »ins Taumeln«46 gerät. Die Darstellung von Zerlegung und stufenweise eintretender Auslöschung des Ich, die in Mutters letzten Notizen quasi dokumentiert wird, bildet eine Klammer im Roman: Auf einem der Zettel steht: »Ich habe zu Hause/eine kleine Wanze/es gibt giftige/ungiftige, weiss man/ob gross oder klein.«47 Die beschrifteten Zettel deutet die Ich-Erzählerin als einen »verzweifelte[n] Akt der Selbstvergewisserung«48 und versucht, dem Gedankengang der Kranken zu folgen, was wohl kein Tabubruch, sondern der letzte Annäherungsversuch ist. Die von der Ich-Erzählerin angestrebte Literarisierung von Leben, Krankheit und Tod der wichtigsten Bezugsperson, die im Spiegel der eigenen Biographie 43 44 45 46 47 48
Ebd. Ebd., S. 91. Ebd., S. 57. Ebd., S. 220. Ebd., S. 238. Ebd., S. 240.
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erfolgt, wird im Roman »Herzvirus« zu einer Doppelbiographie. Der Annäherungsversuch an die verstorbene Mutter, der zu einem differenzierten Porträt wird, bringt ebenfalls ein Bild der Ich-Erzählerin, deren Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte, mit sich.
Primärliteratur Handke, Peter: Die linkshändige Frau. Erzählung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976. Spoerri, Bettina: Herzvirus. Roman. Wien: Braumüller 2016. Spoerri, Bettina: Konzert für die Unerschrockenen. Roman. Wien: Braumüller 2013. Zorn, Fritz: Mars. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1979.
Sekundärliteratur Gansel, Garsten: Zwischenzeit – Grenzüberschreitung – Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder der Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Paweł Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 15–48. Horstkotte, Silke: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln, Wien, Weimar: Böhlau 2009. Interview mit Bettina Spoerri, ausgestrahlt am 3. 06. 2013. (Zugriff am 23. 09. 2019). Müller, Ralph/Jeanneret, Sylvie/Lambrecht, Tobias/Beaud, Mélissa: Neue Familienromane. Ein Bericht zu Familien- und Generationserzählungen der Deutschschweiz und in den Romandie [sic!] der Gegenwart. In: CH-Studien. Zeitschrift zu Literatur und Kultur aus der Schweiz 2017, 1. (Zugriff am 23. 09. 2019). Overath, Angelika: Die verlorene Zugehörigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung vom 24. 10. 2013. (Zugriff am 15. 11. 2015). Portrait. Bettina Spoerri. (Zugriff am 21. 08. 2019). Spoerri, Bettina: Kindheit in der Literatur. Auf der Suche nach dem verborgenen Garten. In: WOZ 2011, 21 vom 26. 05. 2011. (Zugriff am 29. 08. 2019). Wicki, Maja: ›Herzvirus‹. Alles über ihre Mutter. In: WOZ 2016, 27 vom 07. 07. 2016. (Zugriff am 29. 08. 2019). Zweifache Eigenheit. Neuere jüdische Literatur in der Schweiz. Hrsg. von Rafaël Newman. Zürich: Limmat 2001.
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Gefühlsraum Osten. Zu Anna Mitgutschs Roman »Die Annäherung«
Abstract: Der Beitrag geht den von Anna Mitgutsch in ihrem bis jetzt letzten Roman »Die Annäherung« konstruierten Bildern des Ostens nach. Ausgehend von der These, dass Bilder vom Osten in Mitgutschs Werk affektiv geladen sind, werden im ersten Schritt die wichtigsten Aspekte des Konstrukts Osten in Hinsicht auf räumliche und affektive Assoziationen beleuchtet. Vor diesem Hintergrund wird analysiert, wie bei der Konstruktion von Osteuropa-Bildern im Roman Raumerfahrung und Affektivität zueinander in Beziehung gesetzt werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage nach Inszenierungsstrategien und Funktionen der inszenierten Gefühlsräume.
Den thematischen Kristallisationspunkt der Werke von Anna Mitgutsch bilden die Fragen nach Identität und Fremdheit. Die Ursachen für die fundamentale Erfahrung der Fremdheit1 reichen zuweilen weit zurück, deshalb leben Mitgutschs Figuren, wie Eva Steindorfer bemerkt, »in einer ständiger Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sie (re-)konstruieren, analysieren, idealisieren, revidieren, zelebrieren oder dekonstruieren diese je nach Ausgangspunkt und Funktion des Erinnerungsprozesses.«2 Auf der Suche nach bzw. auf der Flucht vor der Vergangenheit legen sie oft weite Strecken zurück, in der Hoffnung, auf diese Weise zu sich selbst zu finden. Während den Ausbrüchen gen Westen und Amerika-Bildern in der Forschung relativ viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde,3 bleibt der Osten ein weniger untersuchtes Phänomen. Obwohl die Autorin ihn als einen affektiv geladenen Raum inszeniert, hängt die Wech1 Vgl. Hackl, Wolfgang: Fremde und Außenseiter in den Romanen von Anna Mitgutsch. In: Anna Mitgutsch. Dossier 28. Hrsg. von Kurt Bartsch/Günther A. Höfler. Graz/Wien: Droschl 2009, S. 57–71. 2 Steindorfer, Eva: Narrative Erinnerung: Funktionen – Formen – Fallstricke des Erinnerns in »Familienfest«, »Haus der Kindheit« und »Zwei Leben und ein Tag«. In: Anna Mitgutsch. Dossier 28. Hrsg. von Kurt Bartsch/Günther A. Höfler. Graz/Wien: Droschl 2009, S. 73–86, hier S. 73. 3 Vgl. Grünzweig, Walter: Der Sechsstundenspalt. Anna Mitgutschs »In fremden Städten« als Amerikaroman. In: Anna Mitgutsch. Dossier 28. Hrsg. von Kurt Bartsch/Günther A. Höfler. Graz/Wien: Droschl 2009, S. 125–136.
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selwirkung von Raum und Gefühl4 zum einen von der Relevanz des Ostens für die Romanhandlung oder die Lebensgeschichte der Figuren ab, zum anderen von dessen Situierung. Als eine Hintergrundkulisse tritt er als Ferner Osten in Erscheinung (»Zwei Leben und ein Tag«, 2007) oder als eine nicht näher bestimmte Imagination des Orients (»Das andere Gesicht«, 1986). Für die nach ihren jüdischen Wurzeln suchende Figur in »Abschied von Jerusalem« (1995) ist der Nahe Osten ebenso von Bedeutung wie Österreich, wo sie herstammt. In den im 21. Jahrhundert erschienenen Werken gilt die narrative Aufmerksamkeit meist den Ostgebieten der ehemaligen Habsburger-Monarchie. Für die amerikanischen Nachkommen ostjüdischer Einwanderer bleiben in »Familienfest« (2003) Galizien und Podolien trotz der räumlichen Entfernung emotional präsent – mal überwiegen in den Erinnerungen nostalgische Heldengeschichten, mal die armutsbedingte Angst der Migranten, »das Grauen davor, dorthin zurückzufallen, woraus man sich gerade emporgearbeitet hatte«.5 In »Haus der Kindheit« (2000) bricht wiederum eine Fotografin in das ehemalige Galizien auf, um festzustellen: »es war, als nähme man einen Anlauf über den Rand der Welt. Die weiten Felder der Ebene begrenzten den farblosen Himmel. […] Obstbäume umstanden die Dörfer, als müßten sie die menschlichen Behausungen vor der Weite schützen.«6
Die Fotos, die die Protagonistin dort macht, zeigen eine »melancholische grüne Ebene ohne den geringsten Anhaltspunkt für das Auge, deren einzige Aussage die Leere zu sein schien: die Leere des lastenden Himmels, die Abwesenheit von Menschen, gähnende Leere, die Beklemmung hervorrief. Es waren Bilder von unerträglicher Verlassenheit.«7
Auffällig sind in diesen Passagen zunächst die Bilder der Weite und der Leere, ferner kommt explizit die Bedrohung zur Sprache, was den gewaltsamen Tod der Figur vorankündigt: »es ist gefährlich auf der anderen Seite der Grenze. Man hört immer wieder von Überfällen.«8 So zeichnet sich bei der Schilderung des europäischen Ostens eine signifikante emotionale Konstellation ab – die Mischung aus Melancholie und Grauen. Schon der erste Blick auf Mitgutschs Entwürfe des Ostens lässt Zweifaches erkennen: Zum einen erscheint der Osten als keine geographische Konstante, zum anderen evoziert er bestimmte, wenn auch ambivalente affektive Assozia4 Ich folge hier der These von Gertrud Lehnert von der Verbindung zwischen Raum und Gefühl. Vgl. Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl. In: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Hrsg. von Gertrud Lehnert. Bielefeld: transcript 2011, S. 9–25. 5 Mitgutsch, Anna: Familienfest. Roman. St. Pölten, Salzburg: Residenz 2005, S. 189. 6 Mitgutsch, Anna: Haus der Kindheit. Roman. Frankfurt /M., Wien: Büchergilde Gutenberg 2000, S. 319. 7 Ebd., S. 328. 8 Ebd., S. 323.
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tionen, womit die Autorin an eine lange Tradition anknüpft. Ausgehend von der Frage, was der Osten ist, richtet sich mein Interesse darauf, wie bei der Konstruktion von Osteuropa-Bildern Raumerfahrung und Affektivität in eine Relation zueinander gebracht werden. Da Mitgutschs Figuren einerseits von räumlichen Gefühlsatmosphären betroffen werden, die geschilderten Raumkonstellationen andererseits auf deren Gefühlswelt verweisen,9 wird im Folgenden ein Versuch unternommen, am Beispiel des Romans »Die Annäherung« (2016) die Inszenierungsstrategien und Funktionen solcher Gefühlsräume zu skizzieren.
1.
Was ist der Osten?
Die Frage, wo der Osten liegt, sei, so der Tenor in der Forschungsliteratur, nicht mit einem Blick auf die Landkarte zu beantworten, da mit diesem Begriff keineswegs einfach geografische Bestimmungen verbunden werden. Vielmehr handelt es sich um eine in hohem Maße normativ und assoziativ besetzte Kategorie, um einen »mit Bedeutungen aufgeladenen Raum«, der sich beinahe überall befinden könne.10 In der europäischen Geschichte sei der Osten laut Karl Schlögel »ein Territorium der Selbstüberhebung und der Angst in einem; dort gibt es keine Grenze, an die man sich anlehnen kann, und dort werden Ostwälle gebaut, die dagegen wappnen sollen, sich in einem unendlichen Raum zu verlieren.«11 Dieses symbolisch aufgeladene Konstrukt zeugt, so Schlögel, von kulturellen Spannungen, von Phobien und Idiosynkrasien, von Überlegenheits- und Minderwertigkeitskomplexen, von Ängsten und Projektionen. Daher sei der Osten lediglich ein Name für einen zivilisatorisch-psychologischen Komplex.12 Wie den Ausführungen zu entnehmen ist, handelt es sich um eine Kategorie, in der sich in der Diskursgeschichte des Westens Geopolitik und symbolische Zuschreibungen verketten. Diese schwanken in den abendländischen Imaginationen auf einer Skala zwischen Bedrohung und Verheißung bzw. Faszination, 9 Wie Simone Winko feststellt, werden Emotionen in literarischen Texten entweder thematisiert oder dargestellt: »vermittelt über die Handlung des Textes, das Verhalten der Figuren, über Situationen, in denen Figuren agieren, bzw. die sie hervorrufen, und über Objekte, mit denen umgegangen wird oder wie sie beschrieben werden.« Vgl. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin: Erich Schmidt 2003, S. 47. 10 Vgl. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/ Schröter, Steffen: Das ›Prinzip Osten‹ – einleitende Bemerkungen. In: Das Prinzip ›Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums. Hrsg. von Gunther Gebhard/Olivier Geisler/Steffen Schröter. Bielefeld: transcript 2010, S. 9–20, hier S. 10. 11 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München, Wien: Hanser 2003, S. 246. 12 Ebd., S. 248.
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wobei viele einschlägige Motive, wie Leere, Weite oder Neubeginn, ebenso bedrohlich wie verheißungsvoll strukturiert sind,13 so lebt etwa ein Neuanfang von der Gleichzeitigkeit von Neuschaffung und Vernichtung. Im Allgemeinen erscheint der Osten als Inbegriff des Ursprünglichen, Authentischen, Echten, Naturnahen, aber auch des Unzivilisierten, Ungezähmten, Barbarischen.14 Da der Osten ein Effekt sozialer und diskursiver Praktiken ist, stellt sich die Frage nach einer kollektiven Wahrnehmung. In seiner Analyse der deutschen Wahrnehmungsgeschichte des Ostens vom 19. Jahrhundert bis 1945 zeigt Benno Nietzel, wie die »offene Chiffre vom ›Osten‹« sukzessiv einen semantischen Sog entfaltete, der den rücksichtslos verwirklichten Großraumfantasien des Nationalsozialismus einen mentalen Resonanzboden bot und diese erheblich stimulierte, und konstatiert, es führe zwar kein geradliniger Weg von den verbreiteten deutschen Raumvorstellungen in die Gewalteskalation des Zweiten Weltkriegs,15 diese sei aber im Osten »von jeder Rechtsordnung abgekoppelt« gewesen.16
2.
Der Osten als ein atmosphärischer Raum
Es liegt auf der Hand, dass die Imaginationen des Ostens nicht neutral sind, sondern Wertungen transportieren und Affekte hervorrufen, die unterschiedliche Haltungen dem Osten gegenüber nahelegen.17 Die diskrepanten Wertungen und Gefühle verdeutlicht Mitgutsch in »Die Annäherung«, indem sie drei Lebensund Erfahrungsgeschichten ineinander spiegelt. Für den 97-jährigen Theo, der an der Ostfront kämpfte, sich am Lebensabend in seine ukrainische Pflegerin verliebt und seine Tochter damit beauftragt, die fortgegangene Ukrainerin zurückzuholen; die Ich-Erzählerin Frieda, die vom Vater immer schon Klarheit über seine NS-Vergangenheit verlangt und erst vor dem Aufbruch in die Ukraine dessen Kriegstagebuch erhält, schließlich für Friedas Reisbegleiter Egdar, dessen Mutter ihre ostjüdische Identität lebenslang leugnete, bildet der europäische Osten einen jeweils anderen atmosphärischen Raum. Einen Ansatz, über die Konstruktion atmosphärischer Räume nachzudenken, bietet das Konzept von Hermann Schmitz, der Gefühle nicht als Zustände seelischer Innenwelten versteht, sondern »räumlich ortlos ergossene, leiblich er13 Vgl. Gebhard/Geisler/Schröter, Das ›Prinzip Osten‹. 2010, S. 11. 14 Vgl. ebd., S. 15. 15 Vgl. Nietzel, Benno: Im Bann des Raums. Der ›Osten‹ im deutschen Blick vom 19. Jahrhundert bis 1945. In: Das ›Prinzip Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums. Hrsg. von Gunther Gebhard/Olivier Geisler/Steffen Schröter. Bielefeld: transcript 2010, S. 21–49, hier S. 42. 16 Ebd., S. 40. 17 Vgl. Gebhard/Geisler/Schröter, Das ›Prinzip Osten‹. 2010, S. 15.
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greifende Atmosphären«.18 Die spezifische Räumlichkeit von Gefühlen zeige sich in stationären Merkmalen als Weite, Tiefe, Erfüllung, Ausdehnung oder in bestimmten »Richtungstendenzen«19 – es seien Erregungen, die entweder »von allen Seiten beunruhigend auf den Betroffenen eindringen« oder »die von ihm her in alle Richtungen ausströmen«.20 Je nachdem, ob ein Individuum oder eine Gemeinschaft davon ergriffen ist, unterscheidet Schmitz zwischen privaten und kollektiven Atmosphären, und erklärt, diese werden auf zwei Weisen gefühlt: »durch bloße Wahrnehmung der Atmosphäre oder durch affektiv-leibliches Betroffensein von ihr«.21 Dass Mitgutsch mit Schmitz die Auffassung der Gefühle teilt,22 kommt in ihrem Roman dann zum Ausdruck, wenn die Ich-Erzählerin eine Stelle aus dem Kriegstagebuch wie folgt kommentiert: »Gefühle sind nicht einfach da, sie kommen von außen und werden gesteuert, sie werden von der Erwartung der Gruppe geliefert und reißen das Eigene, selbst die innere, aus Angst verschwiegene Abwehr, […] mit hinein.«23 In ihren Reflexionen geht die Erzählerin davon aus, die Gefühle der Masse seien kollektiv und ansteckend. Wie Wolfgang Sofsky in seinem »Traktat über die Gewalt« ausführt, sei die kollektive Emotion der Menge »eine selbsttätige Kraft, eine autonome, bezwingende Macht, die den Menschen überkommt und ihn zu Verhaltensweisen drängt, von denen er kaum ahnen konnte, daß er ihnen nachgeben würde.«24 So liegt zwar die Vermutung nahe, der Vater sei während der NS-Zeit in den Sog der kollektiven Atmosphäre des Hasses geraten, unklar bleibt aber, inwiefern dies aus ihm einen willigen Vollstrecker der Vernichtungspolitik im Osten machen konnte, der den Blutrausch oder die für absolute Gewalt charakteristische »Leidenschaft der Selbstenthemmung« kannte und genoss.25 Das beharrliche Schweigen des Vaters entfremdet ihn der Tochter, die eine Erklärung umso dringlicher braucht, als sie im Jugendalter Fotos sah, die die Soldaten an der Ostfront gemacht und nach Hause als »Trophäen des Triumphs«26 geschickt hatten. Das Entsetzen der Dreizehnjährigen, das die Bilder von Mas18 Schmitz, Hermann: Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, S. 42–59, hier S. 42. 19 Vgl. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III: Der Gefühlsraum, 2. Teil: Der Gefühlsraum. Bonn: Bouvier 1969, S. 189. 20 Ebd., S. 278, 189. 21 Vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2011, S. 91. 22 Vgl. dazu auch Mitgutschs Bezug auf Hannah Arendts Beschreibung der Atmosphäre der zwanziger und dreißiger Jahre. Mitgutsch, Anna: Die Grenzen der Integrität. Überlegungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Diktaturen. In: Mitgutsch, Anna: Die Welt, die Rätsel bleibt. Essays. München: Luchterhand 2013, S. 199–230, hier S. 208. 23 Mitgutsch, Anna: Die Annäherung. Roman. München: Luchterhand 2016, S. 364. 24 Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt. Frankfurt/M.: Fischer 1996, S. 112. 25 Ebd., S. 57. 26 Ebd., S. 56.
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senexekutionen einst auslösten, die Angst, der schießende Soldat hätte der Vater sein können sowie »das Gefühl, eine schreckliche Schuld geerbt zu haben«27 prägen Friedas Wahrnehmung des Ostens gleichermaßen wie die »Anspannung und Furcht«,28 die sich während der Ukraine-Reise bei der Lektüre des väterlichen Tagebuchs einstellen. »Wäre das Tagebuch nicht gewesen, wäre der Ort nicht von einer Düsternis gesättigt, die sich in jedem Augenblick über seine heitere Fassade legte«,29 heißt es über den Gemütszustand der Figur in Lviv. Als studierte Historikerin entdeckt die Erzählerin in den Notizen des Vaters klare Indizien für Inhalte, die in der NS-Zeit in die Chiffre Osten hineingeflossen sind – die Darstellungen des jungen Soldaten entsprechen dem von Nietzel beschriebenen monolithischen Block ohne feste Strukturen und Grenzen, in dem alles möglich zu sein schien.30 Worin nun aber konkret die Schuld des Vaters besteht, ist nicht zu eruieren, da sich die Aufzeichnungen vorwiegend auf das Aufzählen von Ortsnamen und die Bemerkungen zum körperlichen Befinden, zu Wetterbedingungen oder Landschaften beschränken: »Steppe, endlose, trostlose Weite.«31 Wiewohl der Umgang mit der ukrainischen Pflegerin so manche Lücke in der Erinnerung des Vaters schließen lässt, vor allem in Bezug auf die eigene Herkunftsgeschichte,32 werden seine konventionellen, atmosphärisch die Gefahr ankündigenden Bilder des Ostens im Rückblick nicht korrigiert: »ein Riesenreich ohne Grenzen. Theo versuchte sich in diesen grenzenlosen Landstrichen zurechtzufinden, den eintönigen, unermesslichen Ebenen Russlands mit ihren Sümpfen, Wäldern, Flüssen in schreckenerregenden Dimensionen.«33 Dass im Krieg im Osten andere Maßstäbe als in gewöhnlichen Feldzügen galten, zeichnet sich im Tagebuch zwar ab (Schnee, Matsch, Kälte, kein Genesungsurlaub etc.), kein einziges Mal geht der Vater aber auf die eingesetzte Gewalt ein, die dennoch stets impliziert wird, nicht zuletzt durch zeitliche Lücken in den Aufzeichnungen. Dabei nehmen die Erzählerin und ihr Freund Osteuropa nicht nur als einen atmosphärisch verdichteten Raum der Vernichtung und des Todes wahr, sondern auch als magische Orte der Sehnsucht und der Ahnung von Transzendenz. In den aus alten Galizien-Karten bekannten Landschaften verströmen viele Ortsnamen »eine Magie, die sich stets von Neuem an ihrem Klang entfachte«,34 und lassen die 27 28 29 30 31 32
Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 376. Ebd., S. 341. Ebd. S. 369. Vgl. Nietzel, Im Bann des Raums. 2010, bes. S. 36–39. Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 353 [Hervorhebung im Original]. »Ich höre dir [der Pflegerin – J. D.] so gern zu, wenn du redest, sagte er. Ich höre meinen Großvater wie aus der Ferne, er hatte den gleichen Tonfall, und manchmal verdrehe er die Sätze so wie du […]. Je älter ich werde, desto gegenwärtiger wird er mir und desto wichtiger wäre es mir, seine Geschichte zu kennen.« Ebd., S. 249. 33 Ebd., S. 317. 34 Ebd., S. 356.
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Reisenden den »Zauber einer verschwundenen Welt«35 ihrer Vorfahren verspüren. Der vage Eindruck, von der Familiengeschichte umschlossen zu sein, intensiviert das Lebensgefühl und erwirkt einen Moment der Selbstversicherung: »Das waren die glücklichen Momente, wenn wir einander nichts erklären, nicht einmal reden mussten«.36 Bei einer näheren Betrachtung der Intensivierungsmodi werden Unterschiede erkennbar. Edgar ist vom Anblick jenes podolischen Stetls, zu dem er mit allem sich angeeigneten Wissen seit Jahren imaginär unterwegs gewesen war, ganz ergriffen: »Seine Haltung und eine Miene sagten mir: Dieser Augenblick war zu überwältigend, als dass er Worte finden konnte.«37 Anders als die Erzählerin, die sich weder dem Zauber ganz hingeben kann noch es will wegen des Verdachts, der Vater war unter den Zerstörern, erlebt der Mann die Reise in den Osten als eine Art ersehnter Heimkehr, denn seine Mutter wollte ostjüdische Wurzeln aus der Erinnerung tilgen. Die Flucht ihrer Familie aus dem Stetl und die Konversion zum Katholizismus interpretierte sie als einen Akt der Befreiung von Armut, Rückständigkeit und geistiger Enge, vermittelte dem Sohn die Angst vor Entdeckung und verlor kein Wort darüber, im Osten sei die ganze Verwandtschaft ermordet worden. Das Sichten der Lücken in den Lebensgeschichten bildet eine atmosphärische Folie, vor der die Suche nach der Lieblingspflegerin des Vaters spielt. Bei der Schilderung der gegenwärtigen Ukraine greift Mitgutsch einerseits tradierte Imaginationen auf, indem sie z. B. in der intakten, aufeinander bezogenen Familie der Pflegerin das Authentische ins Spiel bringt. Wütend »auf alles touristenfreundlich Aufgeputzte«38 werden die Reisenden andererseits mit dem Klima der Bedrohung konfrontiert – mit dem hochkommenden Nationalismus oder der fehlenden Bereitschaft der Ukrainer, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren, sei es in Hinblick auf das multikulturelle Erbe Galiziens, sei es in Hinblick auf die Kollaboration mit den Nazis: »Jetzt sieht man noch die Wunden, aber dann wird alles zugekleistert und die Vergangenheit vergessen sein. […] Aber es wird keiner mehr da sein […], der sich an die Vergangenheit erinnert. Die Geschichte wird mit der Staatsgründung der Ukraine beginnen und die Helden ihrer Monumente werden die Mörder von damals sein, die bei der Vernichtung der Juden mitgeholfen haben.«39
Die sichtbaren Spuren der Destruktion verweisen auf realisierte und wieder drohende Träume von der totalen Zerstörung, die, wie Sofsky in seinen Reflexionen über die Zerstörung der Dinge festhält, die Dinge restlos einstampfen 35 36 37 38 39
Ebd., S. 366. Ebd., S. 366. Ebd., S. 412. Ebd., S. 390. Ebd., S. 384.
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wolle, ihre materielle Substanz ebenso wie ihre Bedeutungen. Aber Wirklichkeit erlange der Traum nur dann, »wenn sich auch keine Erinnerungen mehr an die Leere heften.« Die Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses brauche zwar Zeit, aber wenn das Wissen der Menschen gänzlich ausgetilgt sei, habe die Zerstörung ihr Endziel erreicht: »Nun deutet kein Name, kein Stein, kein Mahnmal mehr darauf hin, wo einmal die Gewalt gewütet hat.«40 Im Gegensatz zu Frieda und Edgar, denen die Abwesenheit des Zerstörten emotional viel bedeutet, haben die Lücken für die ukrainische Pflegerin ihren Gedächtniswert verloren: »Juden?, fragte Ludmila unsicher. Juden waren Kommunisten, Sowjets, Feinde von ukrainische Volk. […] Wissen Sie denn nicht, was mit ihnen geschehen ist, mitten unter Ihren Leuten? […] Sind vielleicht ausgewandert? […] Es gibt keine Juden in Ukraine, ganz wenige, sind gegangen, weil Ukraine arm ist.«41
3.
»Ein Rahmen um ein Nichts«
In der anfangs zitierten Passage aus »Haus der Kindheit«, in der die Stimmung der Galizien-Fotografin verdichtet wird, kommt die exponierte Stelle der Leere zu, die Mitgutsch in »Die Annäherung« zum zentralen Bild ausbaut. Die Autorin greift auf das in den Phantasmen des Ostens dominante Motiv zurück und spielt die Tatsache aus, dass sich Leere einer allgemeinen Konzeption entzieht, dass sie, wie Christine Dissmann dargelegt hat, kulturell geprägt, und immer ein subjektiver raumbezogener Eindruck sei.42 In der Sichtweise der Reisenden präsentiert sich die räumliche Wirkung der in der Ukraine besichtigten Orte wie folgt: »Die Leere einer zerstörten Kultur, zerstörte Synagogen, zerbrochene und abgetragene Grabsteine, die jüdische Hälfte der Bevölkerung vernichtet, auch sechzig Jahre später findest du nichts als Leere und die Spuren der Vernichtung, wo immer er und seine Kameraden gezogen sind. Das ist der Fußabdruck seiner Generation, das ist von ihr übrig geblieben. Welche Beweise von Schuld braucht es denn noch?«43
Die beunruhigenden Formen der Leere ergeben sich aus jener gewaltsamen Gestaltintention der Nationalsozialisten, die es versucht haben, die verheißungsvolle Leere des Ostens neu zu kartographieren und zu domestizieren. 40 Vgl. Sofsky, Traktat über die Gewalt. 1996, S. 195f. 41 Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 276. 42 Dissmann, Christine: Die Gestaltung der Leere. Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit. Bielefeld: transcript 2011, S. 28, 29 u. 42. 43 Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 401.
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Mitgutsch seziert behutsam, um Dissmanns Konzept von der »Destillation charakteristischer Merkmale der Leere«44 aufzugreifen, materielle wie immaterielle Varianten der Leere, vor allem die Bedeutungsleere, worunter Dissmann auch Stadträume nach einer gewaltsamen Zerstörung subsumiert: »Zusammen mit Dima besuchten wir alles, was nicht mehr existierte. Die Baulücke der großen Synagoge, man konnte von den Abdrücken der Rundbögen an der fensterlosen Wand des anliegenden Hauses ihre Größe erahnen, der Rest war eine verlassene Halde an der ehemaligen, halb eingestürzten Stadtmauer […]. Die leeren Abdrücke von Mezuzot an den Toreingängen […] sichtbare Zeichen der Vernichtung.«45
Der Auflösungszustand wird in immer neuen Anläufen beschrieben und auf zwei Weisen funktionalisiert. Als eine narrativ aufgebaute Kulisse verweist die Leere – zum ersten –metaphorisch auf die Seelenzustände der Protagonisten. Die leeren, keinen Sinn mehr in sich bergenden Räume und die unheimliche Abwesenheit von Menschen veranschaulichen bildlich die negativ konnotierte, fehlende Einbindung der Figuren in einen größeren familiären Rahmen und damit auch ihre Entfremdung. In ihrer Verlorenheit fühlen sie sich, wie die Fotografin in »Haus der Kindheit«, von Friedhöfen angezogen. Als gestaltete und geplante Orte regen diese Imaginationen an, zugleich leben sie von der Funktion als Erinnerungsorte. Grabsteine sind nicht nur die Erdspuren der Verstorbenen, sondern – als Zeichen deren Individualität und Teilhabe an einer identifizierbaren Gemeinschaft – auch die Figuration der Zugehörigkeit und Sicherheit. Einen emotionalen Kontrapunkt dazu bilden Massengräber. Im LissinitschiWald, am Ort des Massakers von 90.000 Juden, irren die Figuren umher, ohne den geringsten Hinweis dafür, ob sie »auf Gräbern wanderten, ob diese Gegend etwa anderes war als ein gewöhnlicher Wald […], aus dem es keinen Ausgang zu geben schien.«46 Das Labyrinthische mit den damit verbundenen Konnotationen der Verwirrung und Desorientierung, der Angst vor Gefahr und unüberwindbaren Hindernissen,47 korrespondiert nicht nur mit der inneren Verwirrung der Figuren, die angesichts der Gewalt- und Verwüstungsspuren an die Grenzen ihrer Vorstellung stoßen. Vielmehr stellt die Natur des Massakers selbst, das laut Sofsky als »kollektive Gewalt an Wehrlosen«48 »reine Gewalt – nichts sonst«49 zu bezeichnen sei, eine emotionale Herausforderung dar – die Figuren werden mit den Grenzen ihrer Belastbarkeit konfrontiert: 44 45 46 47
Vgl. Dissmann, Die Gestaltung der Leere. 2011, S. 32–41. Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 357. Ebd., S. 372. Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Das Buch als labyrinthischer Raum: Literarisch-ästhetische Versuchsanordnungen. In: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Hrsg. von Gertrud Lehnert. Bielefeld: transcript 2011, S. 276–297, hier S. 279. 48 Sofsky, Traktat über die Gewalt. 1996, S. 176. 49 Ebd., S. 177.
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»Den ganzen Tag waren wir ununterbrochen gegangen, angespannt, voller vorweggenommenem Schrecken, der uns die Kehlen zugeschnürt und uns jedes Gespräch verboten hatte in der Unheimlichkeit einer Friedhofsstille […]. Ich kann nicht mehr, sagte Edgar. Sein Gesicht war plötzlich so grau und hager, dass ich erschrak.«50
Da es ihnen nicht gelingt, den affektiven Sog des Raumes zu brechen, wird er als Albtraum erlebt. Während Edgar – affektiv-leiblich betroffen – körperlich kollabiert, treffen in Friedas Fantasie Gegenwart und Vergangenheit aufeinander. In der Wirklichkeit des körperlichen Erlebens überblenden sich die Realität, der Friedhof in seiner gespenstischen Abwesenheit und die Bilder, oder genauer gesagt, die Bilderleere in väterlichen Notizen. Beide zugleich projizierte Bildstreifen verbinden sich zu einer in sich gekoppelten Schleife und drehen sich wie in einem Möbiusstreifen um, in dem die abgründig verdrehten Ebenen stets ineinander übergehen, ohne zum Ausgleich zu finden: Wo auf der eine Seite die Leeren in der Landschaft wahrnehmbar sind, erscheinen auf der anderen die Leerstellen aus dem Kriegstagebuch, die nicht zuletzt auf die emotionale Leere, ja die Gefühllosigkeit des Vaters51 hindeuten. Liegt der Reise Friedas der heimliche Wunsch zugrunde, die Lücken in der Familiengeschichte zu füllen, um den Vater noch vor seinem Tod von der Schuld freizusprechen, so wird sie in ihren Hoffnungen enttäuscht, denn das Vorhaben mutiert zu einem Teufelskreis, den sie nicht zu durchbrechen vermag. Durch das Exponieren der Leere erlaubt Mitgutsch einem Leser nicht nur den Einblick in den Gefühlshaushalt der Figuren, sondern rückt auch – zum zweiten – die Fragen nach der Darstellbarkeit der Gewalt in den Brennpunkt. In der Erinnerung der Erzählerin verlieren die Fotos von der Ostfront nie ihren ursprünglichen Schrecken, denn die Bildzeugnisse aus dem Familienarchiv der Freundin führen ihr vorerst vor Augen, dass Menschen in den Krieg ziehen, um zu töten. Und, wie Sofsky feststellt, »sie lechzen nach Bildern, um sich die Genugtuung des Überlebens zu verschaffen.«52 Was Friedas Empfindung einst unmittelbar traf, war »das unerklärlichste Foto« mit dem abgebildeten »Gewirr von weißen Gliedmaßen, Köpfen, Rümpfen unbekleideter Menschen.«53 Das Foto von hingeschlachteten und zu einem Leichenberg aufgetürmten Menschen stellt nicht die Gewalt dar, denn sowohl das Tun als auch die Täter werden hier ausgeblendet, sondern suggeriert sie, indem es die Folgen sichtbar macht. Die zer50 Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 374. 51 »Ich finde darin [in dem Tagebuch – J. D.] so selten etwas, das mir meinen Vater als einen Mann mit Gefühlen, mit normalen Reaktionen zeigt.« Ebd., S. 399. 52 Sofsky, Wolfgang: Todesarten. Über Bilder der Bilder der Gewalt. Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 249. 53 Mitgusch, Die Annäherung. 2016, S. 118.
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stückelten Körper der Opfer quälen die Fantasie der Erzählerin aber auch deshalb, weil sie nichts über das Erleiden der Gewalt verraten. »Die Wahrheit der Gewalt ist nicht das Handeln, sondern das Leiden«,54 schreibt Sofsky und konstatiert, dass der Blick auf das Opfer durch eingefahrene Diskurse der Gewalt verstellt sei: »Wo Gewalt nur als Aktion, als Interaktion gar verstanden wird, ist die Verdrängung des Leidens unvermeidlich.«55 Bei der Erkundung der blutigen Geschichtsspuren im heutigen Osteuropa entscheidet sich die Autorin gegen eine täterzentrierte Perspektive, indem sie die Leere sprechen lässt. Sie repräsentiert all das, was vernichtet wurde und macht das Ausmaß des Leidens überhaupt erst vorstellbar. Mitgutschs Bilder des Ostens folgen keiner »betulichen Ästhetik leeren Ortes«, die Sofsky in »Todesarten. Über Bilder der Gewalt« mit konventionellen Requisiten in der Art »hier eine ausgebrannte Ruine, dort […] ein Schuttberg«56 assoziiert. Ganz im Gegenteil: Wie an dem Massakerort wird das Unheil stets gleichsam direkt vor die Augen der Figuren gerückt, bleibt aber jedes Mal auf wenige, mitunter nur vage Spuren beschränkt, die von der früheren Anwesenheit der Menschen und von ihrem anonymen Verschwinden zwar zeugen, aber Ereignisse andeuten, die die Betrachter allenfalls erahnen können. Die Wirkung der Bilder verdankt sich der Aussparung, der Vieldeutigkeit der Leere, die die Fantasie gleichzeitig anregt und hemmt, was Edgar nach der Besichtigung des Massakerorts folgendermaßen zum Ausdruck bringt: »Ich gehe hier herum und schaue mich um, […], und es ist, als wäre ich betäubt, als wäre all das, was übrig geblieben ist, was man noch sehen kann, für die Vorstellungskraft nicht genug, als wäre es nur der Rahmen um ein Nichts.«57
4.
Fazit
Der Osten in Mitgutschs Roman »Die Annäherung« öffnet sich zu einer transzendenten, vierten Dimension, die aus Imaginationen, Gefühlen und Wünschen besteht und verschiedene Raum- und Zeitebenen vereint. Freilich ist diese unsichtbare Dimension verdeckt von sichtbaren Spuren der Vernichtung. Der geschilderten, omnipräsenten Leere stellt die Autorin das in Worten und Bildern gespeicherte Wissen entgegen. Seinen mit angehäuftem Material dicht bepackten Reisekoffer rechtfertigt Edgar wie folgt: »Ich möchte sehen, wie das alles in die heutige Landschaft passt.«58 Es zeigt sich jedoch, dass die Folgen der »Zerstö54 55 56 57 58
Sofsky, Traktat über die Gewalt. 1996, S. 68. Ebd., S. 67. Sofsky, Todesarten. 2011, S. 255. Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 393. Ebd., S. 379.
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rungsgewalt im Verheißungsraum des Ostens«59 sowohl für die Nachkommen der Täter als auch der Opfer weder visuell noch verbal erfassbar, sondern – gemäß der These von Gertrud Lehnert, Räume speicherten Vergangenheit und absorbierten Gefühle und Stimmungen60 – nur fühlend erfahrbar sind: Edgars körperlicher Zusammenbruch macht das transparent, was die Erzählerin zuerst andeutet,61 dann aber explizit zur Sprache bringt: »Ich hatte das Gefühl, gepackt und langsam zermalmt zu werden, mein ganzer Körper, Knochen und Eingeweide […]. Der Körper begriff schneller als der Verstand. Alles, was in diesem Tagebuch noch stehen mochte, würde nichts mehr wegnehmen, nichts hinzufügen. Welche Beweise brauchte ich denn noch?«62
Man merkt, dass die von Anna Mitgutsch in Szene gesetzte Spannung zwischen der affektiven Wahrnehmungssensibilisierung und der körperlichen Betroffenheit die Erfahrungen des leiblichen Erlebens und nicht die sachlichen Argumente der Ratio hervorhebt. Doch zielt diese Art des Sensibilisierens nicht auf die heikle Position eines Außerhalb oder gar einer angestrebten, scheinbaren Entlastung, sondern auf ein bewusstes, schmerzliches Eintauchen in Wahrnehmungsangebote – in das breite Spektrum der Leere. Die leeren Orte und Landschaften hinterlassen eine beharrliche, im Innersten berührende Unruhe, welche die Tatsachen des Leidens beglaubigt. Auch wenn mit diesen Bemerkungen die Frage nach dem affektiven Gehalt der Bilder des Ostens keineswegs abschließend geklärt ist, mögen die Hinweise genügen, um anzudeuten, dass die Autorin in »Die Annäherung« atmosphärische und metaphorische Gefühlsräume konstruiert, um – zum einen – transparent zu machen, dass die Erinnerungsarbeit überhaupt erst durch eine emotionale Besetzung möglich wird. Klingt die von Harald Welzer formulierte These, die Emotionen seien die Generatoren von Sinn und Bedeutung,63 in Mitgutschs viel zitiertem Essay »Erinnern und Erfinden« erst an,64 so wird sie nun in der Romanform inszeniert und reflektiert. Mit dem zentralen Bild der Leere, das einerseits das Gewicht von dem Abwesenden, andererseits die Irrelevanz der Wörter veranschaulicht, scheint die Autorin – zum anderen – die Strategie weiter 59 Nietzel, Im Bann des Raums. 2011, S. 42. 60 Lehnert, Raum und Gefühl. 2011, S. 9. 61 »Es muss eine Art von intuitivem Erfassen geben, das sich unmittelbar auf den Körper überträgt, direkt und ohne Umweg über den Verstand.« Mitgutsch, Die Annäherung. 2016, S. 118. 62 Ebd., S.403 [Hervorhebung J. D.] 63 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2005, S. 8–11. 64 Vgl. Mitgutsch, Anna: Erinnern und Erfinden. Die Fiktionalisierung von Erfahrung. In: Mitgutsch, Anna: Die Welt, die Rätsel bleibt. Essays. München: Luchterhand 2013, S. 167–197, bes. S. 169.
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zu entwickeln, die Kate Evans das Konzept der »Anwesenheit durch Abwesenheit«65 (presence trought absence) nennt, und die Konstanze Fliedl in Bezug auf »Familienfest« derart auf den Punkt bringt: »Das Holocaustparadox: Was da ist, weil es nicht erzählt wird.«66
Primärliteratur Mitgutsch, Anna: Die Annäherung. Roman. München: Luchterhand 2016. Mitgutsch, Anna: Familienfest. Roman. St. Pölten, Salzburg: Residenz 2005. Mitgutsch, Anna: Haus der Kindheit. Roman. Frankfurt/M., Wien: Büchergilde Gutenberg 2000.
Sekundärliteratur Dissmann, Christine: Die Gestaltung der Leere. Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit. Bielefeld: transcript 2011. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Das ›Prinzip Osten‹ – einleitende Bemerkungen. In: Das Prinzip ›Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums. Hrsg. von Gunther Gebhard/Olivier Geisler/Steffen Schröter. Bielefeld: transcript 2010, S. 9–20. Grünzweig, Walter: Der Sechsstundenspalt. Anna Mitgutschs »In fremden Städten« als Amerikaroman. In: Anna Mitgutsch. Dossier 28. Hrsg. von Kurt Bartsch/Günther A. Höfler. Graz/Wien: Droschl 2009, S. 125–136. Hackl, Wolfgang: Fremde und Außenseiter in den Romanen von Anna Mitgutsch. In: Anna Mitgutsch. Dossier 28. Hrsg. von Kurt Bartsch/Günther A. Höfler. Graz/Wien: Droschl 2009, S. 57–71. Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl. In: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Hrsg. von Gertrud Lehnert. Bielefeld: transcript 2011, S. 9–25. Mitgutsch, Anna: Die Grenzen der Integrität. Überlegungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Diktaturen. In: Mitgutsch, Anna: Die Welt, die Rätsel bleibt. Essays. München: Luchterhand 2013, S. 199–230. Mitgutsch, Anna: Erinnern und Erfinden. Die Fiktionalisierung von Erfahrung. In: Mitgutsch, Anna: Die Welt, die Rätsel bleibt. Essays. München: Luchterhand 2013, S. 167– 197. Nietzel, Benno: Im Bann des Raums. Der ›Osten‹ im deutschen Blick vom 19. Jahrhundert bis 1945. In: Das Prinzip ›Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums. 65 Evans, Kate: Abschied von Jerusalem: »Ein Sich-Einlassen auf die Komplexität der Wirklichkeit«. In: Die Rampe. Hefte für Literatur. Porträt Anna Mitgutsch, 2004, S. 61–67, hier S. 67. 66 Fliedl, Konstanze: Drei Lektüren von Anna Mitgutschs »Familienfest«. In: Die Rampe. Hefte für Literatur. Porträt Anna Mitgutsch, 2004, S. 69–71, hier S. 70.
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Hrsg. von Gunther Gebhard, Olivier Geisler, Steffen Schröter. Bielefeld: transcript 2010, S. 21–49. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München, Wien: Hanser 2003. Schmitz, Hermann: Der Leib. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2011. Schmitz, Hermann: Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von Claudia Benthien/Anne Fleig/ Ingrid Kasten. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III: Der Gefühlsraum, 2. Teil: Der Gefühlsraum. Bonn: Bouvier 1969. Schmitz-Emans, Monika: Das Buch als labyrinthischer Raum: Literarisch-ästhetische Versuchsanordnungen. In: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Hrsg. von Gertrud Lehnert. Bielefeld: transcript 2011, S. 276–297. Sofsky, Wolfgang: Todesarten. Über Bilder der Bilder der Gewalt. Berlin: Matthes & Seitz 2011. Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt. Frankfurt/M.: Fischer 1996. Steindorfer, Eva: Narrative Erinnerung: Funktionen – Formen – Fallstricke des Erinnerns in Familienfest, Haus der Kindheit und Zwei Leben und ein Tag. In: Anna Mitgutsch. Dossier 28. Hrsg. von Kurt Bartsch/Günther A. Höfler. Graz/Wien: Droschl 2009, S. 73– 86. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2005. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin: Erich Schmidt 2003.
Dorota Sos´nicka (Szczecin)
›Etwas tun. Ich sagen.‹ Das literarische »Konzept« der Gesellschaft in Otto F. Walters Kollektivroman »Die ersten Unruhen« (1972)
Abstract: Otto F. Walter (1928–1994) gilt als ein besonders politisch und gesellschaftlich engagierter Schriftsteller der deutschen Schweiz, der zudem in seinen Werken seine gesellschaftskritischen Intentionen auch in formaler Weise akzentuierte, indem er darin diverse literarische Experimente veranstaltete. Zu seinen besonders gewagten Werken gehört der Kollektivroman »Die ersten Unruhen« (1972), in dem in Form einer vielstimmigen, komplexen und rhythmisierten Montage unterschiedlichster Textsorten das Kollektivbewusstsein einer ganzen Stadt zur Zeit der politischen Wahlen zur Darstellung gelangt. Der experimentelle Gestus ist hier so weit getrieben, dass der Autor es nicht mehr gewagt hat, dieses Buch einen ›Roman‹ zu nennen, und stattdessen die Bezeichnung »Ein Konzept« gebrauchte. Der Beitrag leistet eine vertiefte Analyse dieses in der kollektiven Wir-Form geschriebenen Werkes, das sich vor allem zum Ziel setzte, die Leser der 1970er Jahre vor der von Massenmedien sowie von politischen und wirtschaftlichen Machthabern ausgehenden Meinungsmanipulation zu warnen und zum selbstständigen und kritischen Denken anzuregen. Bei der durchgeführten Analyse wird gleichzeitig überdeutlich, dass Walters Kollektivroman »Die ersten Unruhen« von fortdauernder Aktualität ist, was seine gesellschaftskritische Relevanz umso deutlicher hervortreten lässt.
1.
Vorbemerkung: Die sog. junge Generation und der ›universelle Regionalismus‹ in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur
Als Otto F. Walter (1928–1994) im Jahre 1959 seinen Erstling »Der Stumme« vorlegte, wurde dies von der Literaturkritik vielseitig zum Manifest der Präsenz einer neuen bzw. jungen Schriftstellergeneration deklariert, die nun nach Max Frisch (1911–1991) und Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) die literarische Szene der Schweiz betrat und mit ihren Werken einen grundlegenden Wandel ankündigte: eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bestehenden und einen Reifungsprozess von traditionell-konservativen zu progressiv-demokratischen
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Auffassungen.1 Diese junge Autorengeneration, von einer spezifischen Hassliebe gegenüber dem Heimatland getrieben, setzte sich die Aufklärung der Gesellschaft zum Ziel, indem sie eine »schonungs- und rückhaltlose Aufdeckung der Wahrheit«2 anstrebte, und dies in Bezug sowohl auf die Vergangenheit als den »Ausgangspunkt der Mythifizierung«3 der Schweizer Geschichte als auch auf die Gegenwart, in der der hemmungslose Wirtschaftsboom zu einer rapide zunehmenden Umweltverschmutzung und -zerstörung führte. Ebenso wichtig war dabei, dass sich der neue Gestaltungswille der jungen Autoren zugleich in der Suche nach neuen erzählerischen Mitteln manifestierte: Die Souveränität eines allwissenden Erzählers und das bedenkenlose Vertrauen auf die Möglichkeiten einer tradierten literarischen Sprache betrachteten sie als höchst problematisch, stattdessen richteten sie ihr Augenmerk einerseits auf die Errungenschaften der Moderne auf dem Gebiet des Erzählens, wie etwa bei Faulkner, Joyce, Dos Passos oder Döblin, und andererseits auf die innovativen Techniken des französischen Nouveau roman sowie den westdeutschen gesellschaftskritischen Roman der 1950er und frühen 1960er Jahre. So notierte etwa Otto F. Walter im Rückblick auf seine literarischen Anfänge: »Die ›klassische‹ Romanform als Ausdruck der großen bürgerlichen Realisten des 19. Jahrhunderts. Sie war in meinen Anfängen das auch für mich Vorgegebene. Faulkner, (Joyce), Dos Passos, Döblin, später auch Nathalie Sarraute, Claude Simon, Alain Robbe-Grillet als Ermutiger im Bedürfnis, dieses klassische Vehikel aufzubrechen, es tauglich zu machen für den Ausdruck und den Rhythmus d i e s e r Z e i t . Immer neu. Immer neu dieser Versuch…«4
Zu den Vorbildern der jungen Deutschschweizer Autoren wurden insbesondere Heinrich Böll, Günter Grass und Uwe Johnson – einerseits aufgrund ihres gesellschaftskritischen Engagements und ihrer Erzählweisen, andererseits aber, 1 Vgl. u. a.: Wysling, Hans: Zum Deutschschweizer Roman von 1945 bis zur Gegenwart. In: Schweizer Monatshefte 64, 1984, H. 4, S. 336; Caduff, Corinna: Zum Diskurs ›Schweizer Literatur‹ in der Gegenwart. In: Begegnung mit dem Nachbarn (IV.): Schweizer Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Michael Braun/Birgit Lermen. Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 2005, S. 67; Sos´nicka, Dorota: Den Rhythmus der Zeit einfangen: Erzählexperimente in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur unter besonderer Berücksichtigung der Werke von Otto F. Walter, Gerold Späth und Zsuzsanna Gahse. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 25–62. Zu dem literarischen Schaffen Otto F. Walters und einer ausführlichen Analyse seiner Werke siehe: Sos´nicka, Dorota: ›Diese montierende Arbeit am Mischpult…‹: Die Collage- und Montage-Werke Otto F. Walters. In: Sos´nicka, Den Rhythmus der Zeit einfangen. 2008, S. 195– 298. 2 Aeschbacher, Marc: Tendenzen der schweizerischen Gegenwartsliteratur (1964–1994). Exemplarische Untersuchung zur Frage nach dem Tode der Literatur. Bern/Berlin/Frankfurt/M./ New York/Paris/Wien: Peter Lang Verlag 1997, S. 219. 3 Ebd. 4 Walter, Otto F.: Typoskript: Stichworte/Überlegungen zum Thema Erzählen resp. Roman. 22. 08. 1989. Archiv Otto F. Walter. Schweizerisches Literaturarchiv. Bern, S. 1.
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weil diese deutschen Autoren in ihren Werken an der Topographie ihrer engeren Heimat festhielten, was auch den Schweizern den Mut gegeben hat, sich zu ihrer regionalen Bindung offen zu bekennen, statt sich – wie bis dahin Frisch und Dürrenmatt – explizit mit der Schweiz zu befassen. Auf die 1965 von Max Frisch formulierte, provozierende Frage »Ist unser Land für seine Schriftsteller kein literarischer Gegenstand mehr?«5, antwortete also Otto F. Walter: »Ich stamme aus dem Kanton Solothurn, aus der sehr kleinen Gemeinde Rickenbach, ich wohne im Umkreis von Olten und Aarau: Da liegt mein Erfahrungsbereich, da und in den großen Städten, die ich besonders mag. Auf das Risiko hin, als provinziell zu erscheinen: äußerlich aus diesem Grunde heraus schreibe ich. Schweizer bin ich etwa in dritter Linie.«6
Entsprechend diesem Bekenntnis Walters trat also in den Werken der nach Frisch und Dürrenmatt folgenden Schriftstellergenerationen verstärkt die Region in den Vordergrund, was Elsbeth Pulver als die Herausbildung eines neuen, »universellen Regionalismus«7 innerhalb der Deutschschweizer Literatur deutete. Wie sie darlegt, schildern also die Autorinnen und Autoren, die diesem ›universellen Regionalismus‹ zugerechnet werden können,8 in ihren Werken ihre kleine Region, die auch ihr eigentlicher Lebens- und Erfahrungsraum ist, jedoch so, dass die Grenzen der Region »offen bleiben, durchlässig«9. Denn auch »wenn die Optik sehr präzis auf das Konkrete, Nahe eingestellt wird, entsteht nie der Eindruck von Enge; die Region bleibt transparent; so begrenzt der Raum ist, er bietet die Möglichkeit, die großen Menschheitsthemen darzustellen«10. Als einen 5 Frisch, Max: Unbewältigte schweizerische Vergangenheit. In: Neutralität. Kritische Zeitschrift für Politik und Kultur 2, 1965, Nr. 10, S. 16. 6 Walter, Otto F.: Das ›Soll‹ der Literatur. Notizen zu einer Frage von Max Frisch. In: Neutralität. Kritische Zeitschrift für Politik und Kultur 3, 1966, Nr. 12, S. 24. 7 Pulver, Elsbeth: Als es noch Grenzen gab: Zur Literatur der deutschen Schweiz seit 1970. In: Blick auf die Schweiz. Zur Frage der Eigenständigkeit der Schweizer Literatur seit 1970. Hrsg. von Robert Acker/Marianne Burkhard. Amsterdam: Editions Rodopi 1987, S. 9. 8 Neben Otto F. Walter sind es insbesondere die anderen Autoren vom Jurasüdfuß wie Jörg Steiner, Peter Bichsel und Gerhard Meier, hinzu kommen die Schreibenden aus dem Kanton Bern, so u. a. Kurt Marti, Walter Vogt, Gertrud Wilker oder E. Y. Meyer; durch die Werke Gerold Späths wurde zugleich Rapperswil am Zürichsee zum fest verankerten Namen in der Weltliteratur. Das Regionale betrifft dann aber auch andere Gegenden: Silvio Blatter, Hermann Burger, Erika Burkart oder Ernst Halter lieferte der Kanton Aargau bedeutende Impulse zum Schreiben, während die Innerschweiz Gertrud Leutenegger, Margrit Schriber, Otto Marchi, Reto Hänny oder Thomas Hürlimann und die Ostschweiz Eveline Hasler und Helen Meier vertreten. Vgl. dazu: Sos´nicka, Dorota: Der ›universelle Regionalismus‹ in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Hrsg. von Franciszek Grucza. Bd. 5: Globalisierung – eine kulturelle Herausforderung für die Literaturwissenschaft? Germanistische Abgrenzungen. Betreut u. bearbeitet von Regina Hartmann. Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag 2012, S. 315–319. 9 Pulver, Als es noch Grenzen gab. 1987, S. 9. 10 Ebd.
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führenden Repräsentanten dieses ›universellen Regionalismus‹ betrachtet Pulver eben den Schriftsteller Otto F. Walter, ja, sie nennt ihn sogar einen »Wortführer und Verteidiger einer ›Literatur vom Rande her‹, d. h. der Abkehr von den großen Zentren […]; der Abkehr von der Idee einer schweizerischen Nationalliteratur, d. h. der literarischen Thematisierung einer spezifisch schweizerischen Problematik; der Abkehr schließlich von einem rückwärts gewandten Provinzialismus, der Zuwendung zu einem gegen die Zukunft hin offenen, in internationalem Rahmen zu sehenden Regionalismus«11. Dies bedeutet also, dass das Regionale mit seinem typisch schweizerischen Kolorit gleichzeitig allgemeine Züge bekommt, indem die geschilderten, sich an realen Örtlichkeiten orientierenden Schauplätze zu Modellen der Entstehung moderner, negativer Prozesse werden, allen voran der Umweltzerstörung. Für Walters Schaffen ist somit charakteristisch, dass die Handlung fast aller seiner Werke in Jammers am Jurasüdfuß angesiedelt ist, doch gleichzeitig bekommt diese fiktive Schweizer Mittelstadt aus dem Kanton Solothurn, deren sprechender Name absichtlich »auf das irdische Jammertal«12 anspielt, einen überschaubaren Modellcharakter: Geprägt durch Technisierung und industrielle Wachstumsideologie wird diese Stadt in den Büchern des Autors wie eine Art »Collage aus fixen, gleichsam vorfabrizierten Elementen«13 errichtet, und so eignet sie sich besonders dazu, uns eine »Deformation vorzuführen, die am kleinen, überschaubaren Modell besser abzulesen ist als an beliebig gewechselten Romanstädten«14.
2.
Otto F. Walter als gesellschaftskritischer, nach neuen Ausdrucksformen suchender Schriftsteller
Schon seit seinen literarischen Anfängen galt Otto F. Walter als ein besonders politisch und gesellschaftlich engagierter Schriftsteller, dessen familiäre Geschichte – im Roman »Zeit des Fasans« (1988) in fiktionaler Entfremdung gespiegelt15 – und dessen berufliche Erfahrungen sein eigenes Schreiben entschieden beeinflusst haben. Er wurde, neben acht Schwestern, als das jüngste Kind des Verlegers Otto Walter 1928 geboren und machte das Gymnasium in zwei Klosterschulen. Zwar wurde er wegen seiner »kleinen Revolten und Verweige11 Pulver, Elsbeth: Otto F. Walter. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. 49. Aufl. München: edition + kritik 1994, S. 3. 12 Burger, Hermann: Zur Poetik der Montage bei Otto F. Walter. In: Hermann Burger: Werke in acht Bänden. Hrsg. von Simon Zumsteg. Bd. 7: Ein Mann aus Wörtern. München: Nagel & Kimche 2014, S. 220. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 221. 15 Zu diesem Roman vgl. u. a. Sos´nicka, Den Rhythmus der Zeit einfangen. 2008, S. 242–278.
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rungen«16 vom Gymnasium frühzeitig entlassen, doch die prägenden Erfahrungen der Klosterschule ließen ihn sowohl in seinem Leben als auch in seinen Büchern den urchristlichen Geist der Brüderlichkeit in die Idee der sozialen Gerechtigkeit verwandeln. Nach Abbruch der Klosterschule in Engelberg absolvierte Walter eine Buchhändlerlehre in Zürich und wurde ab 1956 Leiter des literarischen Programms im väterlichen Walter Verlag in Olten, wo er ein anspruchsvolles und sehr beachtetes Programm zeitgenössischer Literatur betrieb: Er edierte Texte von Alfred Döblin, Helmut Heißenbüttel, Peter Bichsel, Kurt Marti oder Jörg Steiner, doch seine unaufhörlichen Auseinandersetzungen mit der konservativen Verlagsleitung haben sich 1966 bei der Herausgabe von Ernst Jandls »laut und luise« dermaßen zugespitzt, dass sie zu seiner fristlosen Entlassung führten. So verließ er die Schweiz und wurde Leiter des literarischen Programms und dann Verlagsleiter in dem westdeutschen Luchterhand Verlag, wo er ein anspruchsvolles, avantgardistisches Programm schuf und die Sammlung Luchterhand begründete. 1973 kehrte er in die Schweiz zurück, um sich jetzt ausschließlich dem Schreiben zu widmen, war aber noch bis 1982 Außenmitarbeiter des Verlags.17 Diese verlegerische Tätigkeit und die öffentlichen Auseinandersetzungen in der Zeit der Kulturrevolution machten Walter auf die ökonomisch-politischen Bedingungen des Lebens in der modernen Gesellschaft aufmerksam,18 und so bezog er eine Position, bei der er seine Werke direkt in den Dienst seiner politischen und sozialen Grundsätze stellte, was er in seinen Essays folgendermaßen zum Ausdruck brachte: »Schreiben ist immer der Versuch – zwar indirekt und oft im Negativ – eines Plädoyers gegen eine unmenschliche und für eine menschliche Welt; es entspringt immer auch einem Mitbetroffensein, einer Anteilnahme am tragischen Schicksal der nicht erlösten Erde.«19
Seine Werke und seine Aktivitäten gaben für diese Überzeugungen eindeutig Zeugnis: Er übte Kapitalismuskritik und stellte sich bewusst in eine aufklärerisch-republikanische Tradition; er wirkte aktiv bei der Öko- und Friedensbewegung, bei der Unterstützung der schweizerischen Selbstverwaltung, auch bei 16 Walter, Otto F.: Mein Leben – zu Lebzeiten. Eine Skizze (Juni 1988). In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA). Bern: Bundesamt für Kultur (BAK) 1993, Nr. 2, S. 20. 17 Siehe dazu: Pulver, Otto F. Walter. 1994, S. 1 sowie Reinhardt, Stephan: Eine ›wohlgemerkt freie Gesellschaft‹. ›Richtung‹: ›radikale Humanität‹. In: Der Ort einer verlorenen Utopie. Essays zum Werk von Otto F. Walter. Hrsg. von Martin Lüdke. Reinbek bei Hamburg: Luchterhand 1993, S. 42f. 18 Vgl. dazu und zum Folgenden Schild-Dürr, Elsbeth: ›Die Sprache zum Nachdenken zwingen‹. Otto F. Walter, ein zeitgenössischer Autor aus der Schweiz. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA). Bern: Bundesamt für Kultur (BAK) 1993, Nr. 2, S. 31. 19 Walter, Otto F.: Gegenwort. Aufsätze, Reden, Begegnungen. Hrsg., mit einer Nachbemerkung u. einer Bibliographie versehen von Giaco Schiesser. Zürich: Limmat Verlag 1988, S. 18.
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der autonomistischen Jugend oder bei der frauenbewegten Patriarchatskritik. 1970 war er in seinen Bemühungen um eine moderne, fortschrittliche und engagierte Schweizer Literatur einer der Mitbegründer der Gruppe Olten, die infolge des Austritts mehrerer jüngerer Autoren aus dem konservativen Schweizerischen Schriftstellerverband (SSV) entstand,20 und 1978 initiierte er zusammen mit Rolf Niederhausen die Entstehung des Vereins Solothurner Literaturtage, der seit 1979 alljährlich in Solothurn die in der Schweiz wichtigste literarische Veranstaltung mit allgemein schweizerischer und internationaler Ausstrahlung gestaltet.21 Beide Organisationen setzten sich zum Ziel, nicht nur eine gesellschaftsbedingte und gesellschaftsbezogene Literatur zu schaffen, sondern auch zu bewirken, dass diese ebenso ins öffentliche Gespräch eingreift wie sich auch selbst der Öffentlichkeit direkt aussetzt, um so ihren gesellschaftlichen Zusammenhang deutlicher hervorzuheben. Der Einsatz Otto F. Walters für die Solidarität mit den sozial Schwächeren und Nichtangepassten führte gleichzeitig dazu, dass zum dominierenden Thema vieler seiner Werke die Sprachproblematik wurde, dass sie also geprägt sind »vom Wissen um die Unzulänglichkeit der Sprache, um deren Verlogenheit, um die Stummheit der Kreatur«22, denn er begriff das »Schreiben als Anschreiben gegen die Sprachlosigkeit, gegen das immer drohende Verstummen; als Versuch, Sprache zum authentischen Ausdruck menschlicher Erfahrung zu machen, aber auch – und dies in zunehmendem Maße – sie als Medium der menschlichen Verständigung wiederzugewinnen«23. Trotzdem wirken die in seinen Büchern 20 1969 kam es infolge eines vom Eidgenössischen Militärdepartement herausgegebenen und im Geist des Kalten Kriegs geschriebenen Zivilverteidigungsbüchleins im SSV zum Eklat: Sein Präsident, Maurice Zermatten, hat eine Art Anleitung zum richtigen Verhalten der Schweizer Bevölkerung im Kriegsfall verfasst und dabei Intellektuelle und Schriftsteller als potentielle Landesverräter betrachtet. Da Zermatten nach dem Bekanntwerden seiner Mitautorschaft an der umstrittenen Publikation dank der Unterstützung vom Vereinsvorstand von seinem Präsidentenposten nicht zurückgetreten war, traten aus dem SSV 22 namhafte Schriftsteller heraus. Vgl. dazu Käser, Rudolf: Die Literatur der deutschsprachigen Schweiz. 2. Teil. In: Die vier Literaturen der Schweiz. 2. Aufl. Zürich: Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung 1998, S. 66. 21 Die Solothurner Literaturtage wurden von einer Vielzahl von Schweizer Autoren, Literaturkritikern, Journalisten, Buchhändlern u. a. gegründet, um für aktuelles Literaturschaffen in der viersprachigen Schweiz ein öffentliches Forum zu schaffen und die Kontakte zwischen Autoren, Publikum, Medien und Verlegern herzustellen und zu fördern. Genauer dazu siehe u. a.: Sos´nicka, Dorota: Die aktuelle Schweizer Literatur im Spiegel der Solothurner Literaturtage. In: Helvetische Literaturwelten im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Barbara Rowin´skaJanuszewska unt. Mitarbeit von Dorota Sos´nicka. Poznan´: Wydawnictwo Rys 2003, S. 221– 238. Vgl. auch Haupt, Sabine: Kreuz-Fidel. Zwanzig Jahre Solothurner Literaturtage. In: Text + Kritik. Sonderband: Literatur in der Schweiz. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 1998, S. 227–234. 22 Pulver, Otto F. Walter. 1994, S. 2. 23 Ebd.
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verkündeten, allgemeinverbindlichen Wahrheiten nie agitatorisch, weil sich die Gesellschaftsanalyse »in erster Linie auf der sprachlichen Ebene«24 vollzieht – u. a. in der Mischung verschiedener Sprachstile, Jargons und Dialekte, in Satzzertrümmerungen oder in einer beschädigten Syntax mit fehlenden Satzzeichen und falschen Anschlüssen. Sie offenbart sich aber auch in der wohlüberlegten Komposition der Bücher, was der Schriftsteller selbst in einem Interview wie folgt hervorgehoben hat: »Ich fasste Literatur immer auf als eine weiter zu entwickelnde Ausdrucksmöglichkeit. Anders gesagt: Wenn ich Brüche, wenn ich Revolten, in welcher Weise jetzt auch immer, darstellte – das steht immer irgendwo im Zentrum dessen, was ich schreibe –, dann versuchte ich, diesen Bruch mit der bürgerlichen Umwelt und der Konvention auch des Romans in formaler Weise zu signalisieren.«25
So gehörte Otto F. Walter nicht nur zu den besonders stark engagierten Schriftstellern der deutschen Schweiz, sondern zweifelsohne auch zu den experimentierfreudigsten Autoren der deutschsprachigen Literatur überhaupt, indem er ebenso mit der Sprache wie auch mit dem Personalpronomen oder mit der komplizierten, vielschichtigen, den Werken »Vieldeutigkeit und Offenheit«26 verleihenden Form recht innovatorisch umging. Diese zeichnen sich vornehmlich durch das Verfahren der Montage beziehungsweise der literarischen Collage aus, doch ebenso wichtig ist bei Walter die Verwendung von verschiedenen ungewöhnlichen Erzählformen: der fragenden Du- oder der kollektiven Wir-Form, des unzuverlässigen Ich-Erzählers oder des verunsicherten Er-Erzählers. In seinen Werken verwendete er auch immer wieder vielfältige moderne Erzählverfahren: eine Entauktorialisierung des Erzählers und einen radikalisierten Perspektivismus, die Bewusstseinsstrom-Technik und Introspektionen oder diverse Verfremdungsmittel. Gleichzeitig kennzeichnet seine Werke eine stark ausgeprägte Autoreflexivität, die einerseits den klassischen Erzählrahmen sprengt und andererseits auf spannende Weise den Schaffensprozess selbst beleuchtet und die Produktivität des Lesers bei selbständiger Zusammensetzung der erzählten Geschichten fördert.
24 Schiltknecht, Wilfred: O. F. Walter et l’engagement littéraire. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA). Bern: Bundesamt für Kultur (BAK) 1993, Nr. 2, S. 61. 25 Otto F. Walter in: Lüdke, Martin: Nachgefragt. Fragen an den Autor, 1977 und 1992. In: Der Ort einer verlorenen Utopie. Essays zum Werk von Otto F. Walter. Hrsg. von Martin Lüdke. Reinbek bei Hamburg: Luchterhand 1993, S. 226. 26 Pulver, Elsbeth: ›Niemand schrie‹. Die ersten Erzählungen von Otto F. Walter. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA). Bern: Bundesamt für Kultur (BAK) 1993, Nr. 2, S. 35.
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Zu Walters besonders gewagten und gleichzeitig auf recht problematische gesellschaftliche Erscheinungen reagierenden literarischen Experimenten27 gehört der »Kollektivroman«28 »Die ersten Unruhen« (1972), der sich zwar auf die frühen 1970er Jahre fokussiert und doch – fast fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen – den heutigen Leser mit seiner geradezu erschreckenden Aktualität überrascht. Denn in diesem Werk legte der Schriftsteller eine erschütternde Analyse des Funktionierens einer modernen Gesellschaft vor, deren Mitglieder sich von den Massenmedien und von politischen und wirtschaftlichen Machthabern beliebig manipulieren lassen und sich völlig unkritisch der Meinung der Mehrheit anschließen, womit sie mehr oder weniger bewusst in den Verlust eigener Individualität inmitten der anonymen Masse einwilligen. Und obgleich uns seit Jahrzehnten Soziologen und Psychologen, Philosophen und Schriftsteller vor der Meinungsmanipulation warnen, indem sie deren verheerende Folgen aufzeigen – man denke nur an die utopischen Programme des Faschismus oder Sozialismus, die nur dank der Unterstützung durch die breiten, von falschen Versprechungen betäubten Massen ihre vernichtende Kraft entwickeln konnten –, führen uns unterschiedliche, bisweilen Furcht erregende Entwicklungen in verschiedenen Ländern unmissverständlich vor Augen, dass die heutigen Gesellschaften aus der Geschichte keine Lehre gezogen haben. Die gegenwärtige Omnipräsenz und ungeheuerliche Macht der Massenmedien und der sozialen Netzwerke in unserem Alltag und die von ihnen verbreiteten Vorurteile gegenüber den ›Anderen‹ und ›Fremden‹ verdeutlichen umso krasser die fortdauernde gesellschaftliche Aktualität solcher literarischen Werke wie »Die ersten Unruhen« von Otto F. Walter.
27 Ein anderes, höchst gewagtes literarisches Experiment Walters ist die Erzählung »Die verlorene Geschichte« (1993), die in einer künstlichen, verstümmelten und zertrümmerten UnSprache die Sprachunfähigkeit eines innerlich zutiefst verlorenen und verunsicherten und äußerlich gewalttätigen Rechtsradikalen wiedergibt. Ähnlich wie »Die ersten Unruhen« ist auch dieses Werk nach wie vor von höchster Aktualität, indem es dem Leser einen Einblick in die möglichen Ursprünge des Bösen in dem Menschen und die psychischen Mechanismen des Rechtsradikalismus gewährt, gleichzeitig aber die Urquelle des heute leider wieder so sehr verbreiteten Fremdenhasses und der Angst vor ›Überfremdung‹ beleuchtet. Vgl. dazu: Sos´nicka, Dorota: ›… wo doch gnadenloshaftig seine Geschichte ihm undurchscheinbar…‹. Sprachliche Darstellung extremer Bewusstseinszustände in Otto F. Walters experimenteller Erzählung »Die verlorene Geschichte«. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2006. Bonn: Deutscher Akademischer Austauschdienst 2006, S. 177–206; sowie Sos´nicka, Dorota: Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus in der Schweiz: Zu Otto F. Walters Erzählung »Die verlorene Geschichte« (1993). In: CH-STUDIEN. Zeitschrift zu Literatur und Kultur aus der Schweiz 2017, 1. (Zugriff am 20. 09. 2019). 28 Otto F. Walter, in: Lüdke, Nachgefragt. Fragen an den Autor. 1993, S. 236.
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»Die ersten Unruhen« als ein literarisches Experiment zum Ausdruck des kollektiven Bewusstseins
Um seinen Lesern die Folgen der Meinungsmanipulation und des fehlenden selbstständigen und kritischen Denkens deutlicher vor Augen zu führen, entwickelte Walter für seinen collageartigen Kollektivroman »Die ersten Unruhen« ein einzigartiges Erzählverfahren, dessen experimenteller Charakter so weit getrieben ist, dass der Autor für sein Buch statt der klassischen Gattungsbestimmung die Bezeichnung »Konzept« gebrauchte. Dieses Werk charakterisierte er selber wie folgt: »Die ersten Unruhen: Wohl das am deutlichsten experimentelle Buch, das fast ausschließlich durch – tatsächlich oder fingiert vorgefundenes – Sprachmaterial charakterisiert ist im neuerlichen Bestreben, kollektives Bewusstsein (einer ganzen Stadt) in die Sprache zu holen. (Extrem weit getriebenes Montagemodell)«29
In diesem »extrem weit getriebenen Montagemodell«, der ähnlich wie Alfred Döblins berühmter Roman »Berlin Alexanderplatz« (1929) dank der Collage unterschiedlichster Textsorten die Stadt selbst reden lässt, wird das traditionelle erzählerische Subjekt durch ein anonymes Wir ersetzt, wobei sich aber dieses Wir ständig wandelt, weil in diesem Kollektivroman verschiedene städtische Interessengruppen das Wort ergreifen. Während also in Döblins Großstadt-Roman, der ja den Untertitel »Die Geschichte vom Franz Biberkopf« trägt, immer noch das Individuum im Vordergrund steht, ist Walters »Konzept« ein »Buch ohne Individuen«30, und auch ein Buch ohne Handlung, die in den verschiedenen, bisweilen fragmentarischen Äußerungen der verschiedenen Wir lediglich sozusagen aus zweiter Hand nacherzählt wird. Der eigentliche Held dieses Kollektivromans von Otto F. Walter ist somit die Stadt Jammers selbst, und genauer genommen sind es ihre Einwohner, die – in den Sog des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts hineingerissen und von der Vorstellung der Demokratie geblendet – gerade vor einer städtischen Wahl stehen. Sie gruppieren sich also miteinander oder auch gegeneinander in verschiedenen, sich je nach Bedarf wandelnden Meinungsgruppen, wobei sich aber alle gegen die »Flicker«, d. h. die in der Stadt ansässigen Rätoromanen richten. Allmählich ruft der Wahlkampf Unruhen hervor, die sich immer mehr zuspitzen und ihren Höhepunkt am Vorabend des Urnengangs erreichen, als die Kioskverkäuferin, die sagenumwobene Barbara Ferro, ermordet wird. Alles führt auch zu weiteren und schon recht »schweren Unruhen«31 mit Schießereien, 29 Walter, Typoskript: Stichworte/Überlegungen zum Thema Erzählen resp. Roman, S. 1. 30 Pulver, Otto F. Walter. 1994, S. 6. 31 Walter, Otto F.: Die ersten Unruhen. Ein Konzept. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972, S. 200. Im Folgenden als EU mit Seitenangabe direkt im Text ausgewiesen.
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in denen der »anscheinend lange unterdrückte[…] Konflikt zwischen der deutschsprachigen Mehrheit und der romanischsprachigen Minderheit der Stadt« (EU, 200) über 100 Todesopfer fordert, sodass sich die Unruhen erst nach dem nächtlichen Eingriff von »einem verstärkten Panzergrenadierregiment« stilllegen lassen. All das wird dem Leser in Form von kurzen Einzeltexten mitgeteilt, bei denen es sich um diverse Dokumente und Äußerungen in allerlei Textsorten handelt, was der erste Text des Buches wie folgt ankündigt: »Zusammen wissen wir eine ganze Menge. Man trifft sich schließlich. Man redet über dies oder das, erzählt sich, wie’s früher war, und andere wieder haben von Großvätern gehört, wie’s früher war, oder sie wissen Neuigkeiten, dies oder das, selber gesehen, persönlich gehört und weiter erzählt, wie’s früher und gestern nachmittag war. Das läppert sich im Lauf der Jahrzehnte ganz schön zusammen. Das hängt in den Häusern herum. Und natürlich in der Zeitung. Dieser Tage war wieder im Fernsehen die Rede davon. Oder natürlich nach der Betriebsversammlung, und auch in Briefen, in diesen Hoch- und Reihenhäusern, die Straße längst und die Aare längst und von der Brücke aus auch drüben hinauf und hinunter, in den Häusern, jedenfalls nachts, diesen Küchen, diesen Wohn-, Kinder- und Schlafräumen, immer noch irgendwo Zeitungen, Schulbücher, Schullese- und Geschichtsbücher und vollgeschriebene Zettel, in den Schrankschubladen und ganz zuoberst hinten in den Wäscheschränken, Blech- oder Holzschatullen. Oder alle die Fotoalben. Zu schweigen vom Stadtarchiv, da steht ja auch eine Menge drin, zu schweigen von den Aufsätzen in diesen Ober- und Unterstufen der ganzen Gegend, – einmal alles zusammengenommen, erfunden, gesehen, gelesen, geschrieben, gehört und noch, vermutet, getratscht, gelogen, geträumt, in allen diesen Längs- und Quer- und Seitenstraßen, Büros, Produktion und Planung, Kontokorrent, das läppert sich, in Polizeirapporten, Seitenstraßen und Zimmern, allein schon im ersten Stock, im zweiten Stock, im achten Stock, überall täglich: wissen Sie schon, oder weißt du, oder es war einmal.« (EU, 9)
Entsprechend dieser Ankündigung erscheint somit in dem Buch die Stadt als ein Konzept der Vielstimmigkeit und des fragmentarischen Sprechens, indem hier ein nicht näher definiertes, anonymes, kollektives »Scheinsubjekt«32 das Wort ergreift, dessen Bewusstsein (und Unterbewusstsein) in Form einer Collage aus allerlei Texten dokumentiert wird. Demzufolge wird im Buch ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich bei dem Wir-Pronomen nicht um eine wirklich vorhandene Gemeinschaft handelt, sondern um eine lediglich potenzielle, also um eine betont konstruierte, künstliche Form: »Reden. Wir sagen. Durch reden wir sein. Durch reden ein Stück weit aus dem Schweigen von uns allen hier herauskommen. Sind wir ein Chor? Sind wir die versammelten und gleichzeitig redenden Stimmen der Übereinkunft und der Bürgerlichkeit und Rechtschaffenheit und des gesunden Menschenverstands und von Recht 32 Zeltner, Gerda: Otto F. Walter. In: Gerda Zeltner: Das Ich ohne Gewähr. Gegenwartsautoren aus der Schweiz. Zürich/Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 89.
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und Ordnung? Sind wir die Schweigenden, sind wir einfach auch die Leute, äußern wir uns etwa so, wie wir uns etwa äußerten, wenn wir uns äußern könnten? Wir sind auch die erste Person Plural, eine grammatikalische beziehungsweise syntaktische Konstruktion, wir sind eine erfundene, eine künstliche und behelfsmäßige Größe oder Figur, durch Namen nicht durch Stimmen oder Aussehen nicht näher identifizierbar als eben nur soweit, daß wir auch die Leute sind, Leute von Jammers, Solothurn (Jura), Leute der Nordwestschweiz, eben noch so deutschsprachig, Hautfarbe Weiß, zumeist mittelgroß, Alter meist etwa zwischen dreißig und achtundfünfzig, getauft und christlich und demokratisch, wir die richtigen Einwohner oder sogar Bürger von Jammers, sowie wir als Gruppen, als Bewohner einiger Häuserblocks oder als Anrainer oder als die Busfahrer von Jammers, die Hausfrauen des Hammerquartieres etwa undsoweiter, Gruppen und Untergruppen. Indem wir hier reden, artikulieren wir uns, übrigens im Bewußtsein, daß das realistischerweise nicht möglich ist, wir sind unser kollektives rsp. gemeinsames, hier ausnahmsweise auch einmal etwas erzählen dürfendes, sich artikulierendes Bewußtsein, eine hypothetische Konstruktion, mehr nicht, als redende kein eigentliches Subjekt, überhaupt eigentlich kein Subjekt, was wir hinwiederum nicht wissen.« (EU, 143f.)
So verleiht der Schriftsteller der grundsätzlich schweigenden und blinden Masse der Bewohner einer Stadt ihre Stimme, und eigentlich ihre verschiedenen Stimmen, die simultan und unaufhörlich aneinander vorbeiraunen; er entwirft ein vielstimmiges Gerede, als dessen potenzielle Urheber verschiedene Gruppen gelten, sodass es sich bei jeder nächsten Passage des Werkes um ein anderes Wir handeln kann. Meistens charakterisieren sich diese unterschiedlichen Wir selbst durch ihre Sprache, die verschiedene Gesinnungsklischees der jeweiligen Klasse beziehungsweise sozialen Gruppe reproduziert, wobei es sich aber grundsätzlich um die im obigen Zitat genannten deutschsprachigen ›Durchschnitts-Schweizer‹ handelt, die die Modell-Stadt Jammers bewohnen: »Klar, Basel zum Beispiel ist größer. Oder wenn man an Zürich denkt, oder Genf erst. Aber man darf nicht vergessen, in Jammers liegt’s einmal an der Lage, hier im Jura. Und dann an der Industrie. Uhrenindustrie einerseits, Zement andrerseits. Da wurde schon vor vierzig fünfzig Jahren eben systematisch geplant und gebaut. […] Schon als wir als Knirpse mitfahren durften, war das Zentrum da unten die Stadt, war eine Großstadt für uns, war der Inbegriff jeder Stadt, eine mächtige, fremde Bilderbuchstadt, da hat’s alles zu kaufen gegeben, was wir uns draußen nicht kaufen konnten, da war plötzlich dieser Riesenverkehr, die Busse alle, die breiten Aarebrücken, die glänzenden Schaufensterreihen, – nein, auch wenn Jammers natürlich rein zahlenmäßig hinter mancher Schweizerstadt noch zurückliegt, es ist doch die Stadt geblieben und erst noch durch diese riesigen Bauereien der letzten Jahre geworden. Das ist unser Paris. Unser kleines Manhattan. […] Zürich? – Geschenkt!« (EU, 109f.)
Im Effekt entsteht in dem Buch eine kaum überschaubare Vielfalt unterschiedlichster Meinungen, Erwartungen und Bewusstseinszustände, die aber von dem Autor nach einem wohlüberlegten Plan miteinander arrangiert sind, denn nicht
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selten sind sie assoziativ miteinander verknüpft oder konträr gegeneinander gerichtet. Dank dessen entsteht also einerseits ein komplexes Bild der ModellStadt, andererseits werden aber auch die um sich greifenden sozialen Spannungen entsprechend hervorgehoben, und es wird nachgezeichnet, wie sie sich im Wahlkampf verschärfen und schließlich zur offenen Feindlichkeit und zur Gewalt führen. Das Buch setzt sich somit aus unzähligen kurzen Passagen zusammen, bei denen es sich um Meinungsbekundungen der Jammerser, der Hausbesitzer und der Untermieter, der Groß- und Kleinunternehmer, der Handwerker und Arbeiter handelt, aber ebenso findet man hier Paragraphen aus der Gemeindeverfassung oder rechtliche Regelungen bezüglich der Wahlen, Bibelzitate oder Auszüge aus geschichtlichen Dokumenten, Meldungen von der Wallstreet und absurde, Angst einjagende Gerüchte, historische Exkurse zur Heimatkunde: zur Region und zu der Schweiz im Allgemeinen, insbesondere zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und zu der schändlichen Flüchtlingspolitik des angeblich neutralen Landes; ferner Sagen, Volkslieder und Geschichten in der Mundart, Fernsehsendungen und Filmankündigungen mit Inhaltsangaben und Benennung der Darsteller, immer wieder Polizeirapporte und Zeitungsmeldungen über Kriminalfälle oder Selbstmorde in der Gegend, und natürlich die für den Wahlkampf typischen Parteiaufrufe, außerdem Reiseprospekte, Auflistungen der Hitparade und Statistiken, landeskundliche Angaben und soziologische Exkurse aus wissenschaftlichen Büchern, aber auch Schulaufgaben, die interessanterweise meistens entsprechend lokal ›ideologisiert‹ wurden, sodass sie beispielsweise Berechnungen zur Konstruktion von Uhren betreffen (vgl. EU, 78) oder verlangen, die Länge der Tunnels im Kanton Solothurn zu berechnen (vgl. EU, 105). Immer wieder gibt es hier schließlich auch kurze Erklärungen darüber, wie Uhren angefertigt werden, was mit Informationen über die Entstehung und Entwicklung der Alphag verknüpft wird, d. h. des größten Betriebs in Jammers, der 1848 als eine Uhrenwerkstatt gegründet wurde (vgl. EU, 17) und heute eines der weltberühmten Uhren-Konzerne ist (vgl. EU, 172), und der übrigens – wie sich allmählich zeigt – recht aktiv zu den Unruhen in der Stadt beiträgt. All diese Texte, teilweise vom Autor frei erfunden und teilweise aus diversen, im Anhang genannten Quellen entnommen, wurden in fünf ungefähr gleichlange Teile gegliedert, in denen die letzten fünf Wochen vor den städtischen Wahlen nachgezeichnet sind, d. h. das Geschilderte umfasst den Zeitraum vom 30. April bis zum 6. Juni, als die letzten Medienmeldungen über die Situation in Jammers nach den Wahlen erfolgen. Jeder Teil wird mit einer kurzen Andeutung des Kommenden angekündigt, was offensichtlich eine beabsichtigte Anknüpfung an Döblins »Berlin Alexanderplatz« darstellt, obgleich es hier jedoch – entsprechend dem abgewandelten »Konzept« der Stadtdarstellung – etwas anders als bei Döblin gestaltet ist. Und bereits diese Ankündigungen in Form von unterschiedli-
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chen verallgemeinernden Floskeln, in denen sich das Kollektivbewusstsein spiegelt, deuten die im Wahlkampf allmählich ansteigenden Spannungen und Konflikte an, indem sie folgendermaßen lauten: »Wie hier alles so geworden ist, wie es ist und warum alles so demokratisch ist und was für eine führende Rolle die Alphag in unserer Stadt spielt und wenn hier Neuwahlen ausgeschrieben werden so fallen Späne das ist immer« (EU, 7) »Minderheiten gibt es überall und gerade da zeigt es sich und diese Welle von Kriminalität und Sexualverbrechen muß endlich was heißt hier Angst und wovor denn und warum hier fühlen muß wer nicht hören« (EU, 48) »Was heißt hier Angst und warum wir alle vor dem Gesetze gleich sind und Wahlen sind bei uns noch schließlich so ein richtiges Fest des demokratischen Denkens und Handelns und notfalls besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende wer sich mit uns anlegt hat die Kosten selber und Ordnung ist die erste« (EU, 93) »Wie uns diese Dinge allmählich auf die Nerven gehen und warum wir in der höchstindustrialisierten Gegend Europas lieber als anderswo und in der ältesten Demokratie der Welt und warum hier endlich durchgegriffen« (EU, 137) »Warum sollen wir diese Provokationen eigentlich dauernd kampflos hinnehmen und wie die ganzen kriminellen Elemente endlich von der Polizei und was genug ist ist genug Freiwillige und wenn es hier nächstens zu einer Explosion des gesunden Volkswillens kommt und Angst und endlich sauberer Tisch gerade in diesen letzten Tagen vor« (EU, 177)
All diese Überschriften wurden zwar zu Ellipsen verkürzt, doch gerade dadurch sollen sie den Leser zum selbständigen Ausfüllen der Lücken anregen, denn in diesem literarischen »Konzept« der Stadt ist es eben der Leser, der aus den einzelnen Puzzle-Teilen das gesamte, facettenreiche Bild der Stadt Jammers – und in Wirklichkeit jeder beliebigen Stadt – zusammenbasteln soll, um daraus eine wichtige Lehre für sich selbst zu ziehen. Da aber wegen des dominierenden Strukturprinzips der vielstimmigen und komplexen Montage, der Verwischung der Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktivem sowie der zahlreichen intertextuellen Bezüge dieses »Konzept« für den Leser recht schwer zu rezipieren ist, hat der Autor zwischen die unterschiedlichen Texte auch solche eingeflochten, denen die Funktion der Leserlenkung zukommt. Diese Metatexte, durch Kursivdruck hervorgehoben, thematisieren den literarischen Produktionsakt; sie »reflektieren das innovatorische Kodesystem und leiten zu einer angemessenen Rezeption an«33, indem der Leser versteckte Hinweise bekommt, wie er mit dem dargebotenen Material umzugehen hat. In einem dieser einmontierten Texte
33 König, Marc: Die Spiegelung in Otto F. Walters Werk. Untersuchung eines Strukturmerkmals des modernen Romans. Bern/Frankfurt/M./New York: Peter Lang Verlag 1991, S. 56.
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wird das Prinzip der dieses »Konzept« konstituierenden Montage folgendermaßen erörtert: »Schutzblech und Sätze aus der Genesis und dieser ganze Schrott und 1291 und das Montagefließband und Muttergottesandacht um acht Uhr abends und, immer simultan, der Wahlmechanismus und Triebverbrecher und alle die Millionen von Fundstücken, aber nicht allein Worte: auch Geräusche, Gerüche, Bilder, alles in der Totale, Stahlblech und kollektive Träume und Volkslied und EDV und die ganze Gesetzesmaschinerie und die Trauer und die Angst und das Ganze, eine ganze Stadt für vier fünf Wochen und der ganze Schwachsinn und die Mentalität alle Klischees simultan in den Sätzen und Worten und Sagen aus dem Gäu, und Tinguely und Luginbühl und Cage und Selbstmord und die Gerichtsposaunen und und: eine Plastik, mobil und Kotflügel und Sätze aus der Genesis und dennoch ein musikalisches Prinzip als Versuch im Ganzen, wenigstens als Versuch, als Konzept zu einem Ganzen, […] und in der Tiefe einem Rhythmus als Prinzip nur scheinbar chaotisch aber simultan aber gigantoman, wahrscheinlich, Schweißerarbeit in allen Materialien gleichzeitig zu diesem Konzept eines Ganzen und Vorschlag zum Hereinschweißen und Zusammenleimen auch noch der Geräusche Gerüche und Farben der Tagesschau ein gigantomanes oder -manisches Mobile aus Jetzt und Ablauf und Klischees und Fetzen von romantischer Geschichte im gemeinsamen Gedächtnis der Bewohner von Jammers, Fetzen von Konversation, von Urzeit und Stahl und Liedern und Volkskriegsparolen und warum was und wieviel hier sanft faschistisch ist oder: nur einfach dumpf und gewalttätig vor demokratischer Angst und Rationalisierung und Unterdrückung und Sätzen aus der Genesis und Chromstahl und staatspolitischer Reife und Schrott.« (EU, 134f., Hervorhebung – D.S.)
In dieser Passage werden nicht nur die verschiedenen Textsorten erwähnt, aus denen sich dieser Kollektivroman zusammensetzt, sondern es wird zugleich dessen Kompositionsmethode erläutert. Erstens wird hier also ein musikalisches Prinzip der Zusammenfügung von Textelementen genannt, bei dem die Simultaneität aller Inhalte, die Wiederholung der Themen und Motive und der aus ihrem Arrangement entstehende Rhythmus eine entscheidende Rolle spielen. Zweitens wird auf die bildende Kunst verwiesen, und zwar auf eine mobile Plastik, die ihre räumliche Anordnung ständig verändert und sich vor den Augen des Betrachters immer neu formiert. Gleichzeitig werden die Schöpfer von beweglichen Plastiken, die Schweizer Künstler Jean Tinguely und Bernhard Luginbühl, erwähnt, wobei die Worte Tinguelys als Motto dem Roman voranstehen: »Das wichtigste bei meinen Dingen ist die Partizipation des Betrachters, der sie erst in Bewegung versetzt.« (EU, 6) Ähnlich wie der Plastiker erwartet also auch der Schriftsteller von seinen Lesern eine aktive Teilnahme am schöpferischen Entstehungsprozess seines literarischen »Konzepts«, d. h., es ist der Leser, der die einzelnen Texte zu einem Ganzen »zusammenleimen« soll. Die »Diskontinuität einzelner Erzählstränge«34 und die harten »Brüche« zwischen ihnen schaffen 34 Lüdke, Martin W.: Nach dem Protest. Literatur im Umbruch. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979,
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dabei »Freiräume für den Leser«, für seine eigenen Assoziationen und Querverbindungen. Damit erlangt die Form des Romans eine besondere Bedeutung.
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»Vor allem nicht auffallen« – Die zerstörerische Macht der ›dumpfen Masse‹
Die einzigartige, experimentelle Komposition des Kollektivromans »Die ersten Unruhen« hat aber bei allen ihren erzählerischen Eigenheiten hauptsächlich eine Funktion: Sie soll nämlich gewissermaßen die Realität nachahmen, denn so wie es uns bei der Lektüre dieses Romans ergeht, so müssen wir uns auch in unserer Realität zurechtfinden. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch intensiviert, dass das Wir – wie anonym und befremdend es auch wirken mag – trotz allem eine größere Identifizierung des Lesers mit dem Dargebotenen zur Folge hat, denn durch dieses Pronomen wird dieser stärker in den Wirkungskreis des Textes einbezogen. Dank diesem Verfahren werden also wir alle daran erinnert, wie wichtig es ist, die uns umgebende Realität kritisch zu betrachten, immer seine eigene Meinung zu behalten und sich von den anderen nicht beeinflussen zu lassen. Wenn man dies nicht tut, so wird man lediglich zu einem unkritischen und unbewussten Mitläufer, wie solche auch ausdrücklich in Walters Kollektivroman zur Darstellung gelangen: »Vor allem nicht auffallen. Jetzt nicht, nur ja nicht! Und immer in Gruppen. Immer in diesen Trupps bleiben. Einkaufstaschentrupps, Ledermappenleutetrupps, Tweedjacken-Männer, Banken, Versicherungen, Stehenbleiben, und wie die Lampe auf Grün geht: weiterschieben. Weiter sich schieben lassen. Wir. Wir. Vereint mit uns selbst. Ja, so ist’s gut. Nur keine Angst jetzt. Jetzt nicht. Hier doch nicht! Hier sind alle alle. Gut so. Und fast so etwas wie Wärme jetzt. […] Ja, so ist’s gut. Wir. Weiter.« (EU, 42f.)
Demzufolge erscheint dieses Wir in Walters Kollektivroman als Ausdrucksform einer verführbaren, dumpfen Masse mit kollektiven Wünschen und Neurosen, die für allerlei totalitäre Machtansprüche anfällig ist, umso mehr, als in den einzelnen Äußerungen auch die unterschwelligen Ängste und Aggressivitäten der Großstadtmassen erahnbar sind, obgleich man sich einbildet, als ein S. 121. Auffällig ist übrigens an diesem Kunstverständnis Walters dessen Affinität zur Konzeption des offenen Kunstwerks von Umberto Eco, die dieser an Beispielen aus der Musik, der bildenden Kunst und der Literatur erarbeitet hat. In seinem Konzept ist das Kunstwerk für ständig neue, vom Leser im Rezeptionsakt vorgenommene Verknüpfungen von Beziehungen offen. Als Beispiel nennt Eco bewegliche Objekte, die sich unter Veränderung ihrer räumlichen Anordnung in den Augen des Betrachters kaleidoskopisch immer neu formieren und somit vielfältige Eingriffe des Betrachters ermöglichen. Siehe dazu: Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Übers. von Günter Memmert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 56; sowie: König, Die Spiegelung in Otto F. Walters Werk. 1991, S. 120.
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Schweizer, also als Angehöriger der ältesten und der einzigen direkten35 Demokratie, die demokratische Elite der Welt zu bilden: »Natürlich gibt es in einer Stadt wie der unsrigen sagen wir gewisse hierarchische Strukturen, – alteingesessene Bürger mit dem Bürgerrecht gelten nun einmal mehr in der Öffentlichkeit als die Neuen, Reiche mehr als weniger Reiche, Akademiker mehr als der einfache Mann von der Straße. Das ist auf der ganzen Welt so, ist immer so gewesen, liegt in der menschlichen Natur. Immerhin: gerade in unseren Kreisen herrscht, wenigstens heutzutage, im großen und ganzen eine geradezu exzeptionell demokratische Vorurteilslosigkeit.« (EU, 117)
Und doch – wie dies die dargebotenen Meinungsäußerungen, Dokumente und Meldungen, also all das, was das Bewusstsein des ›durchschnittlichen‹ Menschen ausmacht, eindeutig bezeugen – ist man auch in der ältesten Demokratie der Welt nicht gegen Vorurteile, schematisches Denken, Verbrechen, Gewalt, Fremdenhass und Meinungsmanipulationen geimpft. In Bezug auf Walters »Die ersten Unruhen« konstatiert somit Wilfried Schoeller, dass »diese Sprachtotalität Jammers […] nicht als realistische beglaubigt [wird], sondern als allseitiger Zusammenhang: alle Archivalien, Statistiken, Sagen, Paragraphen, Meinungsbekundungen, Phantasien, Tagträume sind Bruchstücke für einen Kosmos, der zwar eine soziale Größe ist, aber auch eine magische Einheit, beinahe ein mythologisches Revier. […] John Dos Passos hatte in ›Manhattan Transfer‹ eine Stadt noch als eine emphatische Montage aus Leben und Technik begriffen, er hatte sie in einen Strom von Zukunft gestellt. Jammers bietet jedoch nur einen rhetorischen Optimismus, der das Zeichen zum Untergang ist.«36
Wie gefährdet diese anonymen, dumpfen Großstadtmassen sind, zeigt der Schriftsteller, indem er in seinem »Konzept« auch den verschiedensten unterschwelligen Ängsten Ausdruck verleiht, wodurch eine komplexe, auch das Unbewusste berücksichtigende Realität nachgestaltet wird. So ist in den Texten immer wieder von einer unerklärlichen, existenziellen Angst die Rede, davon, dass beispielsweise eines Tages »Trauer ausbrechen könnte. Wenn sie ausbricht, sonntags, wäre plötzlich vielleicht irgend etwas Gewalttätiges los« (EU, 19). Es ist eine Angst, »die sickert durch die heiße Straße und herauf, Angst und Gedanken 35 Vgl. dazu etwa das folgende Bekenntnis, das im krassen Kontrast zu dem Geschilderten steht und doch dem kollektiven Bewusstsein der Schweizer durchaus eigen ist: »Direkte Demokratie mißt dem Volk eine Wirkkraft zu, wie sie in der parlamentarischen Demokratie undenkbar wäre. Das Schweizervolk als Ganzes, gestützt auf das Referendumsrecht, hat es in der Hand, die machtvollste Opposition zu sein, die mir persönlich in einem demokratischen Staatswesen überhaupt bekannt ist. Und wir wissen aus langer Erfahrung, daß das Volk und die Stände von diesem Recht Gebrauch machen.« (EU, 141). 36 Schoeller, Wilfried F.: Montage als Politik. In: Der Ort einer verlorenen Utopie. Essays zum Werk von Otto F. Walter. Hrsg. von Martin Lüdke. Reinbek bei Hamburg: Luchterhand 1993, S. 212f.
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in diesen Zimmern ringsum an Gewalt, an Sexualverbrechen und solche Dinge oder an russische Panzer« (EU, 27). Diese um sich greifenden Ängste nehmen auch in den Alpträumen der Jammerser Gestalt an, und auch diese kommen bisweilen direkt zur Darstellung: Es sind Visionen, wie man in einem sich allmählich mit Wasser füllenden Raum verschlossen wird oder wie sich zu Mittagszeit die Stadt hochhebt und sich zum Horizont schräg stellt, oder dass »drei Bourbaki-Pferde aus der Aare« (EU, 39) hochsteigen und »über die Masten der Hochhäuser« galoppieren, oder wie man in eine dunkle Schlucht gelangt, wo die Natur bedrohlich wird und die Menschen sich in Schlangen verwandeln oder von Pflanzen befallen werden. Vor allem aber verdichten sich diese unbewussten, existenziellen Ängste der kollektiven Masse in dem Schrei, der ab und zu in Jammers in der Nacht ertönt: Es ist ein »langgezogener Schrei« (EU, 44), der die anderen aus dem Schlaf hochfahren lässt und »ins Mark geht« (EU, 10), und obgleich die öffentliche Meinung verlangt: »Da gehört endlich eine Razzia durchgeführt« (EU, 87), gelingt es nicht, »den Schreier, die Schreierin zum Schweigen zu bringen« (EU, 96), sodass »Die Unruhe wächst.« Im vorletzten Teil des Kollektivromans werden schließlich all die Ängste und Alpträume folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Wenn die Froschmänner vor den Fenstern stehen. Wenn der Fernsehvampir durch die Tür kommt, und im Keller die Tiere. Wenn der Trolleybus über die Aare kreist. Wenn der Generalstreik sich über die Dächer bewegt, und ein Flicker, der frißt die Kinder auf, und owo wäscht weißer. Wenn dieser Schrei, nachts. Wenn das Wallstreetattentat unter den Betten. Wenn das gelbe Kleid über die Nachtwiese geht, wenn wir schlafen, wenn die Schenkel sich blutig spreizen und nachts wäscht owo weißer.« (EU, 162)
Nicht zufällig taucht in dieser Passage neben der Auflistung von absurden Vorstellungen, die das Grauen steigern sollen, wiederholt auch der Werbeslogan »owo wäscht weißer« auf, denn auf diese Weise wird ihr klischeehafter Charakter umso stärker hervorgehoben. Angesichts solcher irrationalen, latenten Ängste, die den alltäglichen Frustrationen entspringen, und in der verzweifelten Suche nach Geborgenheit fordert somit die Masse in immer gleichen schematischen Empörungswörtern dogmatisch Ordnung und Recht und stempelt jeden, der sich ihr nicht anschließt, als Störenfried ab, den es zu beseitigen gilt. Und wer sind jene, vor denen sich der ›gute Bürger‹ fürchtet, weil sie seine gesicherte Existenz in der Gemeinschaft angeblich gefährden? Es sind natürlich – wie in allen nationalen Gemeinschaften zu allen Zeiten – die ›Anderen‹ und die ›Fremden‹: »Die Radfahrer. Die Rätoromanen. Die Ausländer. Die Kommunisten. Die Frauen. Die Katholiken. Die Langhaarigen. Die Appenzeller. Die Neger. Die Fußgänger. Die Maiser. Die Alten. Die Waadtländer. Die Schwaben. Die Rothaarigen. Die Flicker.« (EU, 31)
Zum Sündenbock der Jammerser werden somit die etwa »15 000 Fremde[n]« (EU, 21), darunter – neben den Italienern, Griechen und Spaniern – haupt-
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sächlich die »auf fast 10 000 angewachsene Gruppe von Romanen, Rätoromanen oder ›Romantsch‹, wie sie selbst sich nennen«, oder eben der »Flicker, wie sie vom Volksmund genannt werden« (EU, 21). Sie kamen nach Jammers aus einem »ärmlichen Tal in Graubünden« vor 170 Jahren, so hat man angeblich »inzwischen gegenseitig gelernt, miteinander zu leben«, doch die lokale Überheblichkeit gegen die »Flicker« ist in den Wir-Äußerungen der anständigen »Steuerzahler« (EU, 133) unüberhörbar, obgleich bisweilen auch von einem vorgetäuschten Wohlwollen verdeckt: »Daß sie übrigens Schweizer sind und ein intelligenter Schlag wie wir hier in der Gegend, das bestreitet heute keiner mehr. Gewiß, wenn in der Altstadt eine Schlägerei oder eine Stecherei in Szene geht, können wir uns darauf verlassen, daß da ein paar der Flicker dran beteiligt sind, und auch der romanische Eigentumsbegriff ist vermutlich eben verschieden von dem unseren. Kein Zweifel auch, daß unter der freundlichen Oberfläche die alten Ressentiments geblieben sind, alte Emotionen, gegenseitig, versteht sich, aber das schleift sich ab, von Generation zu Generation immer gründlicher, schließlich sind wir dann doch zu lange schon eingefleischte, unverbesserliche Demokraten, als daß wir über solche Schwierigkeiten nicht hinwegkämen.« (EU, 22)
Trotz des stolzen Bekenntnisses zu der ältesten und angeblich durchaus toleranten Demokratie erweist sich jedoch in den einzelnen Textpassagen, dass die »alten Ressentiments« nach wie vor bestehen, was sich sowohl in den Meinungsäußerungen der verschiedenen Wir als auch in den täglichen Zeitungsnachrichten kundtut: Da kommt es stets zu »Ausschreitungen« (EU, 12, 147), so etwa zwischen zwei jungen Rätoromanen und einem Sizilianer, oder in der Alphag-Kantine »zu einer richtigen Schlägerei zwischen unseren Leuten und ein paar Flickern« (EU, 52). Aus Apotheken werden immer wieder Rauschgiftmittel gestohlen, und da heißt es natürlich: »Wetten, daß sie Flicker ist? Saubande, verdammte.« (EU, 97) Es gibt auch ständig Presseberichte über gewalttätige Rätoromanen oder über »Flicker« als Amokläufer. Einmal wird von zwei etwa zwanzigjährigen »Flicker-Mädchen« erzählt, die in einem Einkaufszentrum »romanisch loslegen« (EU, 132) und gleich danach von den dort einkaufenden Frauen als »Huren! Huren!« beschimpft und zusammengeschlagen werden, bis dann »die erste Konservenbüchse geflogen ist« mit dem Ergebnis: »An die zwanzig Verletzte. Alles wegen diesem Pack.«37 Schließlich meldet die Polizei auch von einem Fünfzehnjährigen, der »beim Spielen im Wald mit einem Spielschwert aus Eisen« (EU, 169) seinen neunjährigen Spielgefährten – »das Kind einer romanischsprachigen Familie« – erschlagen hat. Bereits fünf Wochen 37 Diesem Bericht schließt sich übrigens eine historische Notiz darüber, wie 1776 in der Gegend von Solothurn zwei Orte »als die einzigen Orte für die Niederlassung von Juden« (EU, 132) bestimmt wurden und welch strenge Vorschriften ihnen gegenüber, z. B. bezüglich der Heirat, formuliert wurden. Diese Zusammenstellung der Textblöcke muss selbstverständlich nicht eigens kommentiert werden – jeder kritische Leser erkennt ihre Allgemeingültigkeit.
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vor den Wahlen wird also gemeldet: »Trotz des ausgesprochen heiteren Maiwetters muß die Gesamtstimmungslage der Bevölkerung als leicht gereizt bezeichnet werden.« (EU, 48) Und diese »Gesamtstimmungslage« erweist sich immer mehr »gereizt«, je mehr sich der Wahlkampf verschärft und je näher der Tag des Urnengangs rückt. Die Lage in der Stadt verschärft sich aber insbesondere, nachdem von der Alphag im Zug der sagenhaften »Rationalisierung« (EU, 135) zwanzig Leute entlassen worden sind. Der Vorstand überlegt zunächst, wie dieses heikle Vorgehen realisiert werden sollte: Sollte man nur ungelernte Deutschschweizer oder doch nur die »Flicker« entlassen, oder lieber »fifty-fifty machen? […] In jedem Fall wird’s ein Mordsgerede geben in der Stadt.« (EU, 53) So findet man eine Lösung – man plant, den Sündenbock vorzuschieben, der von dem Vorstand ablenken soll: »20 Leute von uns, und die Flicker bleiben ungeschoren, was dann? Dann könnte, dann könnte ja sein, daß ein Riesengeschrei veranstaltet wird, – nicht gegen die Alphag, und nicht gegen uns, aber gegen die Flicker. Nicht? Und unsere Presse hilft dann auch noch ein bißchen nach?« (UE, 53)
Drei Wochen vor den Wahlen realisiert man schließlich diesen ›ausgeklügelten‹ Plan: »Bis zu den Wahlen sind es noch knapp drei Wochen. Kündigungstermin zum 30. Juni ist der 15. Mai. Die gelben Briefe müssen heute hinaus. Der Betriebsrat wird gleichzeitig orientiert, mit Bestätigung, daß es sich um Ungelernte handelt. Nochmal, wichtig: kein Flicker dabei! Und genau da wird die Bombe platzen. Die Gewerkschaft wird Alarm schlagen. Und in der Stadt wird der Ärger sich nicht gegen uns, sondern gegen die Flicker richten. Gerade rechtzeitig vor der Wahl gegen die Flicker. Klar?« (EU, 106)
Alles verläuft dann tatsächlich nach diesem Plan: Zunächst beschließt noch die Gewerkschaft, einen Proteststreik auszurufen und die Arbeiter demonstrieren auf den Straßen, doch dann entlädt sich die angestaute Wut an den verhassten Rätoromanen: »Unter dem bekannten Ruf ›Flicker-Flicker!‹ drängten etwa 400 Personen dem Ausgang zu, um sich, wie zu hören war, ›diese verdammten Flicker‹ vorzunehmen.« (EU, 140) So schließt die Lokalzeitung ihren Bericht mit der Feststellung ab: »Das politische Klima unserer Stadt muß seit kurzem ohnehin als überhitzt und nervös gelten.« (EU, 140) Die »Kündigungsaffäre« (EU, 179) in der Alphag liefert in den nächsten Tagen »noch mehr Zündstoff« für die städtischen Unruhen, die sich alle gegen die »Flicker« richten, denn die öffentliche, sich seit langem ansammelnde Wut muss sich ja schließlich Luft verschaffen, und ein Anheizer findet sich immer: »Saubande. Flickersaubande verdammte. Denen die Fressen einschlagen. Denen die Löffel. Denen verdammt die Schwänze ausreißen. Atmen. Vorgehen, zusammen vorgehen, wir alle zusammen gegen die ganze Sauflickerbande. Kastrieren. Langsam die Augen eindrücken die Fressen einschlagen. Die Schlagringe in die Fäuste und nieder-
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dreschen. Schluß machen. Jetzt reicht’s. Langsam, nur langsam jetzt. Langsam vorgehen und einkreisen. Diese Säue, verdammte. Kastrieren. Und drauf in die Fressen. Brecheisen her und Schluß jetzt. Lang genug geredet. Jetzt machen wir Ordnung. Verrecken sollen sie, jetzt reicht’s. Zusammen losgehen. Schluß mit dem Gerede. Zuschlagen. Jetzt, und den ersten, den wir von denen erwischen. Los jetzt.« (EU, 183)
Während manche gegen die »Flicker« und die anderen ›Fremden‹ losgehen, ist die ganze Stadt – trotz der gemeldeten ausgezeichneten Wetterlage – »wie eingeschlafen« (EU, 179); kaum einer wagt sich auf die Straße oder selbst ins Treppenhaus – die Angst ist allgegenwärtig, denn man will ja um keinen Preis »auffallen« (EU, 42). So schweigt man und schaut zur Seite, oder man schließt sich einfach an, und dann »Weiter sich schieben lassen. […] Und fast so etwas wie Wärme jetzt.« (EU, 43) Im Resultat berichtet die Tagesschau am Tag des Urnengangs von »schweren Unruhen, zu denen es überraschend in der Nacht vom 4. zum 5. Juni in Jammers gekommen ist« und die »110 Tote gefordert« (EU, 200) haben. Der Kommentar dazu lautet: »Die Katastrophe ist um so unbegreiflicher, als sie ausgerechnet während des Wochenendes ausbrach, an dem die traditionellen Wahlen des Stadtparlaments in der ausgesprochen demokratisch konstituierten Stadt durchgeführt wurden.« (EU, 200) Den Fernseh- und Presseberichten zufolge haben sich nämlich »im Altstadtkern« »rund zweitausend rätoromanische Einwohner sowie etwa zweihundert Rocker und Gastarbeiter verbarrikadiert« (EU, 201), und es kam zu Schießereien. Doch zu »Zusammenstößen zwischen Bevölkerungsgruppen und Ordnungskräften« ist es auch in anderen Städten gekommen: »in Lausanne, Biel, Genf, Bern, Basel und Zürich«, während in dem rätoromanischen Kanton Graubünden »Protestdemonstrationen« »3 Todesopfer« gefordert haben. Und am Montag hat sich erwiesen, dass bei den städtischen Wahlen, bei dem Fest der Demokratie, die Stimmbeteiligung nur 26,5 % betrug (vgl. EU, 202). Derart führt also Otto F. Walter in seinem Großstadt-»Konzept« vor, wie gefährlich und zerstörerisch die dumpfen Großstadtmassen sein können, und indem er die Ursprünge dieses blinden Machtpotenzials entlarvt, warnt er – ähnlich wie etwa Alfred Döblin in »Berlin Alexanderplatz« oder in seinen Essays38 – vor dem Verlust der Identität und vor bloßem Mitläufertum. Dies tut er auch dadurch, dass er in dem Kollektivroman soziologische Befunde anführt: »Gruppen nehmen möglicherweise eine äußere Bedrohung wahr, obgleich es sie gar nicht gibt. Unter Umständen, die noch aufzudecken sind, haben imaginäre Bedrohungen die gleiche gruppenintegrierende Funktion wie reale. Die Beschwörung eines äußeren Feindes, aber ebenso auch die Erfindung eines solchen stärkt den sozialen 38 Vgl. dazu: Döblin, Alfred: Der deutsche Maskenball von Linke Poot. Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen. Olten/Freiburg im Breisgau: Walter Verlag 1972, insbesondere: Moloch Masse, S. 248–251.
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Zusammenhalt, der von innen bedroht ist. Noch deutlicher kann die Erfindung eines ›Feindes‹ im Inneren dazu beitragen, die Struktur zu erhalten. Solche SündenbockMechanismen kommen besonders in Gruppen vor, deren Struktur die Austragung echter Konflikte im Inneren verhindert.« (EU, 196)
Solche Gruppen sind besonders gefährlich, weil sie sich leicht manipulieren lassen und zugleich dem Einzelnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und damit der Stärke zusichern, aber auch weil sie das Individuum von der persönlichen Verantwortung befreien. Um diese Mechanismen zu entlarven, führt also der Autor in seinem Buch auch soziologische Darlegungen zum »Begriff der Manipulation« (EU, 45) an, wie etwa die folgende: »Manipulation ist überall dort möglich, wo man sich psychischer oder gesellschaftlicher Mechanismen bedienen kann, und zwar so, daß kurzfristig jedenfalls eine Gegenwehr kaum möglich ist. Das bedeutet, daß es sich um Mechanismen handelt, die unterhalb der Kontrollsysteme ablaufen, auf individueller Ebene außerhalb jener Kriterien, nach denen eine kritische, der Autonomie verpflichtete Öffentlichkeit und die Rechtsprechung über die Freiheit des einzelnen wachen. Gibt es Beispiele für solche Mechanismen und dafür, daß sie sich bedienen lassen?« (EU, 75f.)
In Walters Kollektivroman findet man genügend Beispiele für solche Meinungsmanipulationen, so u. a. eine anscheinend harmlose Meinungsäußerung über den Tagesschau-Reporter, dem die meisten jeden Abend zuhören und der ihnen wie ein »guter Bekannter, ein alter Freund« (EU, 88) vorkommt oder sie sogar an den eigenen Bruder erinnert: »[…] ein intelligenter Bursche […], kaum je, daß er stockt! Jeden Abend. […] Sowas verbindet« (EU, 89). Es wird auch ein soziologisches Experiment beschrieben, bei dem eine Versuchsperson die gleiche Antwort gibt wie die anderen, obwohl sie sich durchaus dessen bewusst ist, dass die Antwort falsch ist: »Das Experiment wurde mit 123 verschiedenen Versuchspersonen wiederholt, und die Bilanz war in der Tat beunruhigend. Nicht weniger als 36,8 % – also über ein Drittel – wichen früher oder später dem Druck der Mehrheit, erwiesen sich als ›Mitläufer‹.« (EU, 142)
Wieviel Prozent würden heute solche Mitläufer ausmachen? Sicherlich gibt es weitere Untersuchungen dazu, und sicherlich wäre diese Zahl auch heute nicht gering. Warum dies geschieht, erläutern unzählige psychologische und soziologische Darlegungen, wie solche auch in Walters »Konzept« angeführt werden: »Das Individuum, das die Verantwortung und die Last einer echten Individualität scheut, flüchtet sich in Verhältnisse, die die menschliche Freiheit einschränken, und findet seine Ruhe in der Identifizierung mit irrationalen Mächten, die gerade für diese Funktion tauglich sind, weil sie ›schicksalhaft‹, ›natürlich‹, ›gottgewollt‹ sind und sich nicht durch menschliche Anstrengung, durch rationale Willensakte lenken lassen. Allen Formen des autoritären Denkens ist die Vorstellung gemeinsam, daß das Leben von
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Mächten bestimmt wird, die außerhalb der menschlichen Vernunft und Aktion liegen. Die Möglichkeit des Glücks reduziert sich demnach auf die Unterwerfung unter diese Mächte. Nicht, daß solche Individuen in eine fatalistische Tatenlosigkeit verfallen, sondern sie gewinnen die Kraft zum Handeln nur durch Anlehnung an eine höhere, übergeordnete Macht, die selber unantastbar bleibt. Jene Aktivität, die aus dem Grundgefühl der Machtlosigkeit stammt und die Kraft zum Handeln aus einer ›höheren‹ Quelle als dem menschlichen Selbst schöpft, entspricht einem masochistischen Charakter, dessen oberste Tugend der unbedingte Gehorsam darstellt: nicht die Selbstbestimmung des Schicksals, sondern die selbstlose Unterwerfung unter es wird vom autoritären Charakter als Heroismus begriffen. Die Kehrseite des masochistischen Aspekts beim autoritären Charakter ist die Bildung einer sadistischen Komponente, die, mit Zerstörungstrieben gemischt, nach Macht über andere Individuen und Unterwerfung der Schwächeren strebt.« (EU, 170f.)
Wenn man um sich herum schaut und bedenkt, was heutzutage in verschiedenen Ländern abläuft und welch wichtige Rolle dabei z. B. das offizielle Fernsehen spielt, erschrickt man, wie aktuell die von Soziologen, aber auch von den Schriftstellern immer aufs Neue formulierten Warnungen vor Meinungsmanipulationen sind.
5.
»Etwas tun. Ich sagen« – In der Suche nach dem Individuellen
In Otto F. Walters städtischem Kollektivroman ist der Einzelne zwar verbannt, aber er ist hier doch nicht ganz verschwunden; im Gegenteil: je mehr er verdrängt wird, umso stärker macht er sich bemerkbar – gerade durch seine Abwesenheit. Als eine Spur des Individuellen kann somit der bereits erwähnte, mehrmals in der Nacht hörbare Schrei gelten, und zwar als ein »allerletztes surreales Signal, dass Kennungen des verborgenen Einzelnen vorhanden sind«39. Als ein anderes Gegensignal des Individuellen gegenüber dem anonymen Wir erscheint in dem Buch die leitmotivisch wiederkehrende Figur der Kioskbesitzerin Barbara Ferro, der einzigen Person im Buch, die einen Namen trägt. Sie ist eines der letzten Stadtoriginale: großgewachsen, immer mit ihrem großen Schlapphut und immer ganz allein in den Altstadtkneipen sitzend. Sie wird von allen Barbara Frankenstein genannt, denn sie könnte angeblich, »vom Aussehen her, tatsächlich eine Schwester von Boris Karloff sein« (EU, 23) – »Barbara Frankeinstein, über die siebzig und stadtbekannt wie der Bastianturm oder die Aare selbst« (EU, 24). So weben sich um sie die verschiedensten Legenden: Die einen sagen, sie sei vor 40 Jahren per Motorrad nach Jammers gekommen und kaufte in der besten und von allen begehrten Lokalisierung der Stadt dank einem dicken Banknotenbündel eine verfallene Werkstatt ab, die sie »ohne viel Aufwand in einen Zei39 Schoeller, Montage als Politik. 1993, S. 212.
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tungs- und Tabakwarenladen umgemodelt« (EU, 24) hat. Die anderen erzählen wiederum, sie wurde vor etwa fünfzig Jahren von dem Pontonierverein als Leiche »aus der Aare gefischt« (EU, 63) und dann wiederbelebt, aber sie hat auf dem Polizeiposten nichts über sich sagen wollen. Anderen »Augenzeugenberichten« (EU, 100) zufolge kam sie »im Juli des heißen Sommers 1933« mit einer Kutsche und mit Dienerschaft in Jammers an und lebte dann in dem vornehmsten Hotel Aarhof, danach in einem »der teuersten Appartements der Stadt« (EU, 101), was den unterschiedlichsten Gerüchten den Nährboden gegeben hat: »Die beiden Versionen, – es handle sich um die Gattin eines englischen Porzellanmillionärs oder aber: sie sei die Zarentochter Anasthasia – haben sich wohl bis heute zu halten vermocht. Fest steht: Barbara Ferro, oder wie der Volksmund sie nennt: Barbarella Frankenstein, ist wohl zur farbigsten, zur eigentlich legendären Gestalt unserer Stadt in dieser Zeit geworden, bekannt den Jüngsten hier und den Ältesten wie die Aare selbst.« (EU, 102)
Jedoch wird auch sie in dem Buch allmählich destruiert, denn dadurch, dass sie aus verschiedenen Perspektiven und somit ständig anders geschildert wird, lässt sich schließlich über sie nichts Verbindliches mehr sagen, was in einem Interview auch der Autor selbst betonte: »Für mich war es zunächst ein Spiel, diese Person als einziges Individuum in diesem Kollektivroman agieren zu lassen, ein Relikt der Romanfiguren des 19. Jahrhunderts, auch als Kontrapunkt zum Kollektiv und fernes Bild aus dem großen Roman der bürgerlichen Epoche. […] [Sie ist – D.S.] ironisch gezeichnet, auch dadurch, dass sie als von diesem Roman-Wir erfundene Gestalt dargestellt wird, als eine im Grunde gar nicht mehr existierende Gestalt. […] Sie wird so dargestellt, wie ein Fabelwesen, von dem man zwar eine Menge kauziger Eigenschaften kennt, aber das, was man darüber als Leser erfährt, ist widersprüchlich, was darauf schließen lässt, dass diese Figur tatsächlich eine kollektive Erfindung ist.«40
Obwohl aber Barbara Ferro, die als »ein lebendiges Warnzeichen und Denkmal […] für den Unabhängigkeitswillen von Jammers, für den Geist, der uns beseelen möge« (EU, 154) steht, lediglich als »kollektive Erfindung« in dem Buch ›geistert‹, ist sie doch in Jammers die einzige Person, die inmitten der Schlägereien individuell handelt: »Sie muß unter ihrer Ladentür gestanden und ebenfalls zugeschaut haben. Jetzt auf einmal kam sie mit ihren langen Schritten herüber. Sie steuerte, in ihrem üblichen Aufzug, mit dem Schlapphut über, geradewegs auf die Gruppe mit dem Daliegenden zu. Ohne Eile, gewiß, aber so energisch und zielsicher, daß vermutlich alle ganz automatisch gezwungen waren, zur Kenntnis zu nehmen, daß da jemand – und zwar eben Barbara Frankenstein – nicht mehr bereit war, den Dingen zuzusehen. So ist’s passiert, genau so, und es war jedenfalls für uns ganz einfach unmöglich, nachher zu sagen, wer 40 Otto F. Walter, in: Lüdke, Nachgefragt. Fragen an den Autor. 1993, S. 236f.
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genau oder auch nur woher genau jemand geschossen hat. Sie lag da, und der Platz war nach Sekunden schon leer.« (EU, 198)
Barbara Ferro, die einzige Person in dem Kollektivroman mit einem individuellen Namen, handelte also trotz all des städtischen Geredes um sie tatsächlich wie ein Individuum, das sich von der Masse abhebt. Und so musste sie der dumpfen, bedenkenlosen und von blinder Wut zur Gewalt angespornten »Moloch Masse«41 zum Opfer fallen. Eine andere Stimme, die sich ab und zu von dem kollektiven Wir des Buches abhebt, gehört aber dem Autor selbst, der sich in einigen kursiv geschriebenen Passagen in der Ich-Form vorsichtig zur Geltung bringt: »Etwas tun. Haben wir die Wahl? Habe ich sie? Etwas tun. Ich sagen. Aussteigen. Schreiben. Schreiben als Versuch zur Beschreibung, zur Destruktion, zum Überprüfen, zum Bewußtmachen, zum Reden gegen. Schreiben als Selbstverwirklichung. Oder einfach, um irgendwie zu überleben. Genügt das? Schreiben gegen das hier. Etwas tun. Schreiben allein?« (EU, 20)
Es ist vor allem dieses Ich, das die Gemeinschafsform des Plurals aushöhlt und gleichzeitig bekennt, dass es – schreibend – zur Veränderung der herrschenden Verhältnisse beitragen will. Und obwohl sich dabei diesem Ich die Frage aufwirft, ob das Schreiben selbst überhaupt genügt, um die Menschen zu verändern, gibt es nicht auf, denn darin vor allem besteht die Rolle des Schriftstellers, der mit seinen Büchern wenigstens einigen die Augen öffnen kann: »[…] Anschreiben gegen die allgegenwärtigen Schemata, – ja, klar, immer weiter, im Bewußtsein, daß das eine der geduldigsten Aktivitäten zu sein hat, in der Hoffnung auf die Mit–Mini-Multiplikatoren und eine gemeinsame Fernwirkung solcher Anstrengungen. Aber nochmal: etwas tun. Jetzt. Jetzt gegen das, was hier täglich passiert und täglich kompakter, schlimmer, menschenleerer wird. Etwas vielleicht wenigstens – wenigstens etwas – wenigstens für die am schlechtesten Behandelten. Vielleicht haben wenigstens immerhin sie jetzt etwas davon. Wenigstens das?« (EU, 67)
Der Kollektivroman Otto F. Walters stellt somit eine durchaus pessimistische gesellschaftliche Diagnose auf, die zu allen Zeiten und an allen Orten immer wieder ihre Bestätigung findet: Latente Ängste vor allerlei eingebildeten Bedrohungen und der auf diesen Ängsten bauende Fremdenhass; die gedanken- und skrupellose Verspottung, Ablehnung und Beseitigung der Anderen, Schwächeren und Unangepassten durch diejenigen, die sich eingefügt haben und in der Menge ihre Kraft gewinnen; die auf verschiedenen – parteilichen, wirtschaftlichen, ethnischen, konfessionellen, städtischen oder staatlichen – Gruppeninteressen bauenden Egoismen und der vor allem in patriarchalen Gesellschaften dominierende Machtkampf – all das prägt seit jeher Menschengemeinschaften und 41 Döblin, Der deutsche Maskenball von Linke Poot. 1972, S. 248.
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gewinnt auch in der heutigen, globalisierten Welt ständig an Stärke, was die vielen ungünstigen, ja grausamen gesellschaftlichen Entwicklungen und Erscheinungen der letzten Jahrzehnte bestätigen. Otto F. Walter entlarvt in seinem »Konzept« diese unterschiedlichen Mechanismen, die jede Gesellschaft steuern, und entblößt die schwache psychische Kondition des Menschen, der – von tief verborgenen, existenziellen Ängsten und alltäglichen Frustrationen genährt – gegen allerlei Meinungsmanipulationen so anfällig ist, dass er sich völlig unbewusst nach dem Willen eines anderen steuern lässt. Diese Mechanismen bleiben trotz des ständigen Wandels der Gesellschaftsformen und eines durchaus anzunehmenden Bewusstseinszuwachses offensichtlich immer die gleichen, und bedauerlicherweise führen sie stets zu gesellschaftlichen Konflikten, in denen man sich immer seinen Sündenbock finden muss. Daher ist es so wichtig, immer wieder und immer aufs Neue an die alte Binsenwahrheit zu erinnern, die u. a. auch die Pointe des berühmten Großstadtromans von Alfred Döblin »Berlin Alexanderplatz« bildet: Nur der Einzelne mit seinem individuellen Denken und seinem individuellen Handeln, für welches er seine persönliche Verantwortung trägt, kann die Welt und die Menschen liebenswerter und menschenwürdiger machen – nur das Ich kann unsere geschundene Erde und unser bedrohtes Dasein retten. Daher eben muss man den Mut haben, Ich zu sagen und etwas zu tun.
Primärliteratur Walter, Otto F.: Die ersten Unruhen. Ein Konzept. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972.
Sekundärliteratur Aeschbacher, Marc: Tendenzen der schweizerischen Gegenwartsliteratur (1964–1994). Exemplarische Untersuchung zur Frage nach dem Tode der Literatur. Bern/Berlin/ Frankfurt/M./New York/Paris/Wien: Peter Lang Verlag 1997. Burger, Hermann: Zur Poetik der Montage bei Otto F. Walter. In: Hermann Burger: Werke in acht Bänden. Hrsg. von Simon Zumsteg. Bd. 7: Ein Mann aus Wörtern. München: Nagel & Kimche 2014, S. 220–228. Caduff, Corinna: Zum Diskurs ›Schweizer Literatur‹ in der Gegenwart. In: Begegnung mit dem Nachbarn (IV.): Schweizer Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Michael Braun, Birgit Lermen. Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 2005. Döblin, Alfred: Der deutsche Maskenball von Linke Poot. Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen. Olten/Freiburg im Breisgau: Walter Verlag 1972. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Übers. von Günter Memmert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977.
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F. Walter, Gerold Späth und Zsuzsanna Gahse. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. Sos´nicka, Dorota: Der ›universelle Regionalismus‹ in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Hrsg. von Franciszek Grucza. Bd. 5: Globalisierung – eine kulturelle Herausforderung für die Literaturwissenschaft? Germanistische Abgrenzungen. Betreut u. bearbeitet von Regina Hartmann, Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag 2012, S. 315–319. Sos´nicka, Dorota: Die aktuelle Schweizer Literatur im Spiegel der Solothurner Literaturtage. In: Helvetische Literaturwelten im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Barbara Rowin´skaJanuszewska unt. Mitarbeit von Dorota Sos´nicka. Poznan´: Wydawnictwo Rys 2003, S. 221–238. Walter, Otto F.: Das ›Soll‹ der Literatur. Notizen zu einer Frage von Max Frisch. In: Neutralität. Kritische Zeitschrift für Politik und Kultur 3, 1966, Nr. 12, S. 24. Walter, Otto F.: Mein Leben – zu Lebzeiten. Eine Skizze (Juni 1988). In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA). Bern: Bundesamt für Kultur (BAK) 1993, Nr. 2, S. 20–24. Walter, Otto F.: Typoskript: Stichworte/Überlegungen zum Thema Erzählen resp. Roman. 22. 08. 1989. Archiv Otto F. Walter. Schweizerisches Literaturarchiv. Bern, S. 1–4. Walter, Otto F.: Gegenwort. Aufsätze, Reden, Begegnungen. Hrsg., mit einer Nachbemerkung u. einer Bibliographie versehen von Giaco Schiesser. Zürich: Limmat Verlag 1988. Wysling, Hans: Zum Deutschschweizer Roman von 1945 bis zur Gegenwart. In: Schweizer Monatshefte 64, 1984, H. 4, S. 335–347. Zeltner, Gerda: Otto F. Walter. In: Gerda Zeltner: Das Ich ohne Gewähr. Gegenwartsautoren aus der Schweiz. Zürich/Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 79–100.
Elz˙bieta Hurnik (Cze˛stochowa)
Neue Narrative über den Holocaust – Berichte von Söhnen und Enkelkindern. Martin Pollacks Reportagen »Warum wurden die Stanisławs erschossen?«
Abstract: Der Artikel ist ausgewählten Reportagen des gegenwärtigen österreichischen Schriftstellers Martin Pollack gewidmet, die aus dem Sammelband »Warum wurden die Stanisławs erschossen?« (2008) stammen. Der Band kann als repräsentative Sammlung der langjährigen journalistischen Tätigkeit des Schriftstellers betrachtet werden, als Interpretation seiner Interessen und Ansichten, seiner Art der Realitätswahrnehmung. Er präsentiert wichtige Themen literarischer Arbeiten und Publizistik Pollacks, u. a. Haltung gegenüber der NSVergangenheit – nicht nur in der sozialen und historischen Dimension, sondern auch im privaten Raum – Abrechnung mit dem Austrofaschismus, der sich seit Jahren in der österreichischen Literatur manifestiert. Im Blickfeld liegen solche Fragen, wie Verpflichtungen des Reporters, Grundlagen seiner eigenen Reporterarbeit und sein Stoff (Zufallsfunde, materielle Spuren der Vergangenheit, Dokumente, Fotografien). Sie beweisen das Streben des Schriftstellers nach der Bewahrung der Erinnerung an Holocaust. Das zeitgenössische Narrativ der Vergangenheit hat viele Variationen und es verfügt über verschiedene Beschreibungsinstrumente.
Einführung In Bezug auf das Thema Holocaust in den Reportagen des österreichischen Schriftstellers Martin Pollack, die in dem Sammelband »Warum wurden die Stanisławs erschossen?« von 2008 enthalten sind, ließ ich mich von mehreren Prämissen leiten – von denen, die es ermöglichen, diesen Band als repräsentativ für das Werk des Autors, seine Haltung gegenüber der Vergangenheit zu behandeln, und nicht zuletzt für den Kurs der Abrechnung mit dem Austrofaschismus, der sich in der österreichischen Literatur seit 1980er manifestiert. Martin Pollack ist unter anderem durch Bücher zum Thema Nationalsozialismus bekannt: »Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann« (2002), »Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater« (2004) und die hier erwähnte Sammlung von Reportagen aus dem Jahr 2008, »Kontaminierte Landschaften« (2014). Seit Jahren schreibt er über die Notwendigkeit, die NS-Vergangenheit nicht nur in der
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sozialen und historischen Dimension, sondern auch im privaten Raum, im Schicksal seiner eigenen Familie aufzudecken. Die Vergangenheit, die in vielen Familien auch vor Angehörigen verborgen oder als Ausdruck eines nationalen Gemeinschaftsgefühls gedeutet wurde. In der Sammlung »Warum wurden die Stanisławs erschossen?« lesen wir: »Dass mein Großvater als Rechtsanwalt an zahlreichen Arisierungen in Amstetten und Umgebung mitgewirkt hatte, erfuhr ich erst, als ich für das Buch über meinen Vater recherchierte. In der Familie wurde über dieses Thema nie gesprochen. Auch nicht über die Einsätze meines Vaters in Polen und in der Slowakei, als Leiter eines Sonderkommandos der berüchtigten Einsatzgruppen.«1
Der Schriftsteller bestätigt seine kompromisslose Haltung der NS-Vergangenheit gegenüber auch in zahlreichen Aussagen für die Presse, wie z. B. in dem Interview mit dem Titel »Ich bin der Sohn eines Gestapo-Offiziers«, das 2015 veröffentlicht wurde.2 In diesem Interview erklärt Pollack: »Ich möchte es nicht einmal löschen. Für mich ist es wichtig, es nicht zu verstecken. Es ist ein Teil von mir.«3 An einer anderen Stelle, indem er die Ansichten der Mitglieder seiner eigenen Familie (Antisemitismus) kommentiert, fragt der Schriftsteller: »[…] was ist zu tun, wenn man so jemanden in eigener Familie hat? Wenn er dein Vater, deine Mutter, deine Großmutter, dein Stiefvater ist?«4 Der zweite Grund warum der Schwerpunkt dieser Skizze auf dem Band »Warum wurden die Stanisławs erschossen?« liegt, ist sein Stellenwert im Gesamtwerk des Schriftstellers. Wie die Einleitung zeigt, besteht der Band aus Texten, die verschiedene Etappen seiner literarischen Arbeit dokumentieren, einschließlich die Anfänge in den 1980er und 1990er Jahren, sowie Beiträge aus der neuesten Zeit noch kurz vor der Veröffentlichung des Buches. Sie betreffen verschiedene Orte und Regionen Europas – Österreich, Polen, Weißrussland und die Balkanländer. Pollack erklärt den Charakter des Bandes folgendermaßen: »Wenn ich es unternehme, frühe Arbeiten neben neue, hier erstmals publizierte Texte zu stellen, dann in der Absicht, die Zeit des Übergangs, der Transformation ins Gedächtnis zu rufen: Einerseits ist sie bereits Geschichte, Vergangenheit, mit der sich Historiker befassen, andererseits ist sie noch lange nicht abgeschlossen und wirkt weiter. […] Doch die Probleme sind nicht verschwunden, wir brauchen nur genau hinzuschauen und hinzuhören, vor allem an der Peripherie, in abgelegenen, vom großen Entwicklungsschub abgeschnittenen Regionen, um die erstaunliche, manchmal beängstigende 1 Pollack, Martin: Unheimliche Normalität. In: ders.: Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2008, S. 16. 2 Pollack, Martin: ›Jestem synem gestapowca‹. Z Martinem Pollackiem rozmawia Donata Subbotko. In: Gazeta Wyborcza. Duz˙y Format vom 14. 05. 2015, S. 22–25. 3 Ebd., S. 22. 4 Z austriackim pisarzem Martinem Pollackiem rozmawia Katarzyna Bielas. In: Gazeta Wyborcza. Duz˙y Format vom 19. 02. 2018, S. 22.
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Entdeckung zu machen, dass manches, was wir für vergangen hielten, nach wie vor existiert oder in neuem Gewand wieder auftaucht, wie wir das auch aus unseren Ländern kennen. Der Antisemitismus ist oft zur Fremdenfeindlichkeit mutiert.«5
In einem Pressegespräch aus dem Jahr 2009 erläuterte der Autor das Prinzip der Auswahl der Texte für das Buch mit seinem Interesse an zwei Totalitarismen: Nazismus und Kommunismus, die allenfalls das 20. Jahrhundert bestimmen.6 »Warum wurden die Stanisławs erschossen?« kann daher als repräsentative Sammlung der langjährigen journalistischen Tätigkeit des Schriftstellers betrachtet werden, als Interpretation seiner Interessen und Ansichten, seiner Art der Realitätswahrnehmung und seines Strebens nach der Bewahrung der Erinnerung. Wie andere seine Veröffentlichungen zeigt der Umfang der Berichte die Sensibilität des Autors für die Schäden, die Menschen in der Vergangenheit erlitten haben, und zeigt gleichzeitig Wege auf, mit denen man nachvollziehen kann, wie vergangene Ereignisse im gegenwärtigen Leben und in der menschlichen Mentalität weiter existieren. Der entlarvende und provokative Charakter der Reportagen bringt sie dem Reflexionsstrom nahe, der in der österreichischen Literatur präsent ist und in einer kritischen Haltung gegenüber der Realität besteht. Dieser Trend, der auf den Gedanken und künstlerischen Bemühungen früherer Generationen (einschließlich der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert) beruht, hat sich in den letzten Jahrzehnten des 20. und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts voll entwickelt. Er offenbart sich in den Werken von Thomas Bernhard, Peter Turrini, Elfriede Jelinek und anderen Schriftstellern (der sog. Nestbeschmutzer), die das Gesicht der modernen Realität zeigen, jedoch auf der Grundlage der unrühmlichen und schmachvollen Vergangenheit aufbauend, Widersprüche, gefährliche Ideologien und Tendenzen verbirgt.7 Laut Stefan H. Kaszyn´ski zeigten die Debatten nach der Veröffentlichung von Pollacks Büchern, dass auch er für einige ein Nestbeschmutzer ist, für andere das unbekannte Gewissen der Österreicher.8 Sachliteratur, zu der das Werk Martin Pollacks zählt, hat eine eigene Tradition, darunter Aufzeichnungen über Erfahrungen, die auf die Gräuel des Nationalsozialismus und des Holocaust zurückgehen, die in verschiedenen Kulturen und Sprachen aufgezeichnet wurden, einschließlich Berichte, Erinnerungen und Tagebuchseintragungen von solchen Autoren wie Hanna Krall (»Zda˛z˙yc´ przed
5 Pollack, Vorwort. In: ders.: Warum wurden die Stanisławs erschossen? 2008, S. 8–9. 6 Austriacy to mistrzowie strachu. [Z Martinem Pollackiem] rozmawiała Malwina Wapin´ska. In: Dziennik Polska – Europa – S´wiat, Kultura vom 27.03.09. 7 Vgl. Muskała, Monika: Mie˛dzy ›Placem Bohaterów‹ a ›Rechnitz‹. Austriackie rozliczenia. Kraków: Korporacja Ha!art 2016. 8 Kaszyn´ski, Stefan H.: Literatura faktu. In: ders.: Literatura austriacka. Od Moderny do Postmoderny. Poznan´: Biblioteka Telgte 2016, S. 164.
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Panem Bogiem«, »Dem Herrgott zuvorkommen – ein Tatsachenbericht«9), Janusz Korczak (»Pamie˛tnik«, »Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942«10). Genannt sei an dieser Stelle auch die Aktivität des 1940 gegründetes RingelblumArchivs, das Tagebücher sammelt, die ein Zeugnis für die Ausrottung polnischer Juden waren und die in den 1980er Jahren veröffentlicht wurden.11
Verpflichtungen des Reporters Das Thema, das Martin Pollack unter Bezugnahme auf die Geschichte seiner eigenen Familie aufgreift, wirft die häufig gestellte Frage auf, ob das Privatleben des Reporters einen Einfluss auf das, was der Autor präsentiert, und auf den dokumentarischen Charakter der dargestellten Verhältnisse und Beziehungen hat. Die Merkmale der Reportage als literarisches Genre sowie die Rolle eines Reporters, der die Aufgaben eines Schriftstellers und eines Journalisten miteinander verbindet, wurden wiederholt diskutiert und neu definiert, parallel zur Erweiterung der Bereiche und Formen der Dokumentarliteratur. Eine der Arbeiten, die diese Diskussion aufnehmen, ist die Veröffentlichung von Urszula Glensk aus dem Jahr 2012 mit dem bedeutungsvollen Titel »Po Kapus´cin´skim. Szkice o reportaz˙u«12 [Nach Kapus´cin´ski. Skizzen zur Reportage] sowie ein Artikel von Beata Nowacka »O nowej formule reportaz˙u. Na marginesie ksia˛z˙ki ›Jeszcze dzien´ z˙ycia‹ Ryszarda Kapus´cin´skiego«13 [Zur neuen Formel der Reportage. Am Rande des Buches ›Jeszcze dzien´ z˙ycia‹ von Ryszard Kapus´cin´ski]. Sie können hier auch wegen Pollacks Beziehungen zu Kapus´cin´ski angeführt werden, da der österreichische Schriftsteller sein Übersetzer war und er vor Jahren an der Pressedebatte über Artur Domosławskis Buch »Kapus´cin´ski nonfiction« teilgenommen hat. Pollack war auch Herausgeber des Buches »Von Minsk nach Manhattan. Polnische Reportagen« (2006). Diese Veröffentlichungen beweisen, dass die zeitgenössische Reportage nicht nur thematisch, sondern auch 9 Krall, Hanna: Zda˛z˙yc´ przed Panem Bogiem. Kraków: Wydawnictwo Literackie 1977; Dem Herrgott zuvorkommen – ein Tatsachenbericht. Übers. von Hubert Schumann. Berlin: Verlag Volk und Welt 1979 (spätere Ausgaben: Frankfurt /M.: Verlag Neue Kritik 1992; München: Goldmann Verlag 1998). 10 Korczak, Janusz: Pamie˛tnik. Warszawa: Nasza Ksie˛garnia1958; Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942. Übers. von Armin Dross. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 11 Tramer, Maciej: Literatura faktu. In: Słownik literatury polskiej. Hrsg. von Marek Piechota/ Marek Pytasz. Katowice: Videograf II 2008, S. 781–782. 12 Glensk, Urszula: Po Kapus´cin´skim. Szkice o reportaz˙u. Kraków: Universitas 2012. 13 Nowacka, Beata: O nowej formule reportaz˙u. Na marginesie ksia˛z˙ki »Jeszcze dzien´ z˙ycia« Ryszarda Kapus´cin´skiego. In: Nasz XX wiek. Style – tematy – postawy pisarskie. Hrsg. von Anna Opacka/Marian Kisiel. Katowice: Wyz˙sza Szkoła Zarza˛dzania Marketingowego i Je˛zyków Obcych 2006, S. 261–268.
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aufgrund der Position des Autors, der auch Dokumentarfilmer, Schriftsteller und Essayist ist, von einer großen Vielfalt geprägt ist. Und so hat das Buch »Kontaminierte Landschaften« einen essayistischen Charakter und ist an sich ein Bericht über die tragische Vergangenheit, Orte, an denen Massenmorde begangen wurden, umgeben von Rätseln. Das Erstellen einer Karte dieser Orte, wie vom Autor postuliert, würde die Erinnerung an die Opfer retten und so ihr Schicksal in das kollektive Bewusstsein einbringen und ihre Würde wiederherstellen.14 Die hier besprochene Sammlung enthält 24 Reportagen und der Titel des Bandes stammt von einer von ihnen: »Warum wurden Stanisław Me˛drek und Stanisław Grzanka erschossen?«. Dies ist der einzige Text in der Sammlung, in dem der Titel ein grafisches Fragezeichen enthält. Der Leser kann es als wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Berichts betrachten – schließlich stellt der Reporter Fragen, die bereits in der Einleitung (»Vorwort«) angegeben wurden. Der Autor schreibt über einen der Texte in der Sammlung: »Auch in dieser Reportage gibt es mehr Fragen als Antworten«.15 Sie sind die Grundlage für Anfragen und Recherchen, über die in fast allen Texten berichtet wird. Der Autor enthüllt seine eigenen Wege, um zur Wahrheit zu gelangen, zeigt Lücken im Versuch, Ereignisse zu rekonstruieren, vervielfacht Zweifel und verstärkt sie, indem er wiederholt fragt: Warum? Dies ist der Fall in dem Text über Stanisławs, der sich nicht direkt mit dem Thema Holocaust befasst, sondern diesen Prozess der Wahrheitsfindung veranschaulicht. Der Schriftsteller untersucht das Schicksal zweier junger Männer, Zwangsarbeiter aus Polen, die am Ende des Krieges aus unbekannten Gründen in Bocksdorf von den Russen erschossen wurden, und verweist auf Aussagen von Zeugen vergangener Ereignisse, die das auch nicht erklären können: »Zwölf Tage nach Eintreffen der Front. Erschossen durch die Russen. Darin stimmen alle überein, die sich an jene Ereignisse erinnern können. Warum die beiden Polen erschossen wurden, vermag keiner zu sagen.«16
Dieser Text zeigt, wie wichtig es für den Autor ist, die Opfer wieder in das kollektive Gedächtnis zu integrieren. Martin Pollack kommentiert die in dieser Reportage vorgestellte Geschichte in einem Interview aus dem Jahr 2009 und sagt über den Zweck seiner Handlungen:
14 Pollack, Martin: Skaz˙one krajobrazy. Übers. von Karolina Niedenthal. Wołowiec: Wydawnictwo Czarne 2014. 15 Pollack, Vorwort. 2008, S. 7. 16 Pollack, Warum wurden Stanisław Me˛drek und Stanisław Grzanka erschossen? In: ders., Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. 2008, S. 83.
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»Es ist schwer zu sagen, dass es sich um eine außergewöhnliche Geschichte handelt. Grabstein auf einem Friedhof und na und? Ich wollte jedoch die Erinnerungen an diese beiden Jungen zurückbringen und bin froh, dass ich ihre Fotos finden konnte.«17
Der Autor verweist auf die wichtigen Grundlagen seiner eigenen Reporterarbeit und gleichzeitig auf sein Stoff, zu dem oft ein zufällig gefundenes Objekt wird, das dann für die Verifizierung des Ereignisses dient, das der Autor zu erkennen und zu präsentieren versucht. Es sind daher wie in der Einleitung erläutert: »[…] Zufallsfunde die Auslöser für eine Recherche, etwa ein Packen Fotografien aus einem unbekannten Ort im von Hitlerdeutschland besetzten Polen, die mehrheitlich Juden zeigen.«18 Zu diesen Funden gehören beispielsweise neben Fotos, die im Wiener Antiquitätengeschäft entdeckt wurden, Fragmente von Dokumenten, die Informationen über die Arisierung in Amstetten in Niederösterreich oder über das Schicksal der Zigeuner im südlichen Burgenland liefern. Diese Funde verbinden die Berichte über vergangene Ereignisse und ihre Betrachtung aus einer modernen Perspektive zu einem zusammenhängenden Ganzen. Sie liefern Spuren, um Fragmente der Vergangenheit zu rekonstruieren. Eine Spur kann als Signal behandelt werden, das eine bestimmte Methodologie erfordert (Spurentheorie, Hermeneutik der Spur19), aber auch die Art und Weise, wie sie verwendet wird, stärkt die Grundbedeutung des Wortes, das einen Rest in materieller Form nennt, ein Zeichen, das ein Ereignis andeutet. Auf der Spurensuche und Gedankensuche des Schriftstellers sollte dieses Wort als »Stoffname« und gleichzeitig als Werkzeug und Schlüssel behandelt werden, mit denen der Reporter versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren, um sie kennenzulernen und ins gegenwärtige Bewusstsein zu bringen. Martin Pollack zeigt, wie er Informationen sammelt, wie er sie nutzt und enthüllt damit seine Werkstatt. Er untersucht und studiert die Dokumente, wie z. B. jene, die den Fall der Zigeuner betreffen, oder den Kaufvertrag (die Kopie befindet sich im Buch) eines Hauses durch Arier in der Stadt Amstetten. Er zeigt die Motivation und ein ideologisches Argument auf: »Die Entjudung dieses Hausbesitzes am Adolf Hitlerplatz in Amstetten liegt im öffentlichen Interesse«.20 Der Autor präsentiert die Ermittlungen des Historikers Julian Leszczyn´ski über die Aktivitäten von Rolf-Heinz Höppner, einem Mitglied der SS (sein Name erscheint im Zusammenhang mit der Aktivität von Adolf Eichmann, und der »Lösung der Judenfrage«21). Pollack durchquert verschiedene geografische Ge17 18 19 20
Austriacy to mistrzowie strachu, 27.03.09. Pollack, Vorwort. 2008, S. 7. Por. Skarga, Barbara: S´lad i obecnos´c´. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2004. Pollack, Entjudung. In: ders.: Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. 2008, S. 20–23. 21 Pollack, Jäger und Gejagter. In: ders.: Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. 2008, S. 32.
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biete und durchleuchtet verschiedene Stadien der Geschichte (»Zwischen Bocksdorf und Stegersbach. Südburgenländische Beobachtungen«, »Russe. Nachrichten aus der bulgarischen Provinz«) und indem er auf Informationen zurückgreift, die er auf verschiedene Art und Weise gewonnen hat, untersucht er das Schicksal der verfolgten Nationalitäten (»Der österreichische Weg. Epilog auf eine verschwindende Minderheit«, »Die verschwundenen Juden von Prokurava«, »Der letzte Jude von Borschtschiv« und andere).
Fotografie als Spur Zu den materiellen Spuren, die jedoch eine vielfach definierte zusätzliche Bedeutung erhalten, gehört die Fotografie, die, wie Susan Sontag vor Jahren betont hat, ein Bild ist, das die Realität reproduziert und gleichzeitig eine materielle Spur der Realität ist.22 In der Titelreportage analysiert der Autor genau fünf Fotografien, die Stanisławs zeigen, wo und zu welchem Zweck sie gemacht wurden, wen sie genau darstellen, und er macht gleichzeitig auf ihre materielle Form aufmerksam: »Vor mir liegen fünf Fotografien, die kleine, zerknitterte Aufnahme von Fritz Murlasits und vier Atelieraufnahmen im Postkartenformat.«23 Die Fotos werden als Wissensquelle über die Situation von Zwangsarbeitern und ihre Stellung in der Gemeinde Bocksdorf benutzt, was die Anordnung von Szenen, Posen und Kleidern ermöglicht. Das Fehlen detaillierterer Informationen über die Umstände des Fotografierens und deren Zweck erlaubt es jedoch nicht, die Bedeutung dieser Zeichen vollständig zu deuten: »Die Aufnahmen ließen Grzanka und Me˛drek vermutlich für die Familien Bocksdorf anfertigen, zum Andenken, das könnte man als Hinweis werten, dass sie nicht schlecht behandeln wurden. Gewiss waren die Bilder auch für die Angehörigen zu Hause bestimmt, um ihnen zu zeigen, dass es ihnen gut ging in der Fremde. Aber war es ihnen möglich, die Bilder nach Polen schicken. Wohl kaum, das wäre riskant gewesen, denn die Post von Zwangsarbeitern passierte eine strenge Zensur, jeder Zensor hätte sofort gesehen, dass sie kein Abzeichen trugen.«24
Der Autor ist stark auf Vermutungen angewiesen und auch auf die Erinnerungsreste der überlebenden Zeugen vergangener Ereignisse; daher die Fragen, Vermutungen und Zweifel, die in diesem Bericht enthalten sind.
22 Vgl. Sontag, Susan: O fotografii. Übers. von Sławomir Magala. Warszawa: Wydawnictwa Artystyczne i Filmowe 1986, S. 141–142. 23 Pollack, Warum wurden Stanisław Me˛drek und Stanisław Grzanka erschossen? In: ders.: Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. 2008, S. 73. 24 Ebd., S. 76.
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In diesen Reportagen sind auch Informationen über die Bedeutung von Fotografien wesentlich, auf die der Autor häufig nur durch Zufall stößt; erst diese werden oft zu einem Impuls zur Recherche. Der Erwerb von Fotografien und ihre Bedeutung für die Entdeckung der Vergangenheit sind ein wichtiges Bindeglied im Prozess der Wiederherstellung des individuellen und kollektiven Gedächtnisses. Jacek Leociak erinnert in seinem Artikel über einige Fotografien der Ereignisse des 20. Jahrhunderts daran, dass 1987 etwa 400 Farbdias – auch im Wiener Antiquitätengeschäft – entdeckt wurden, die, wie sich herausstellte, das Ghetto Łódz´ darstellten. Ihr Autor war Walter Genewajn, Hauptbuchhalter der Gettoverwaltung (sie gingen ins Jüdische Museum in Frankfurt). Der Forscher zeigt auch das Profil des »Underground-Ghetto-Dokumentarfilmers« Mendel Grossman, der im Ghetto etwa 10.000 Negative gemacht hat; nur die Fotos, die der Fotograf den Freunden gegeben hat, sind erhalten geblieben. Die Analyse ausgewählter Fotografien ermöglicht es dem Autor (der den Spuren von Barthes’ Reflexion folgt), in ihnen den Zusammenhang mit dem Tod zu erkennen und jede von ihnen als eine Rückkehr des Toten zu behandeln.25 In der Reportage »Bildergeschichte. Fotografische Fundstücke« betont Martin Pollack die Bedeutung der Fotografien für den Aufbau eines eigenen Erinnerungsarchivs und zeigt, wie sie analysiert werden: »Dennoch üben Fotografien eine magische Anziehungskraft auf mich aus, ich sammle leidenschaftlich Aufnahmen und Ansichtskarten von Osteuropa und anderen Regionen, vor allem wenn ich über sie schreiben möchte. Dann dienen mir die Bilder von Orten und Landschaften als Anregung und Anschauungsmaterial, als Hilfsmittel für die Beschreibung und Gedächtnisstütze. Nicht weniger faszinierend finde ich Fotografen von Menschen, Männer, Kinder, ganz gleich, auch wenn ich keine Ahnung habe, wer diese sind, oft weiß ich weder Namen noch Herkunft […] ich sehe bloß, welche Haltung die Menschen einnahmen und welche Kleidung sie trugen, was Schlüsse auf ihren gesellschaftlichen Stand und manchmal auf ihren Beruf zulässt.«26
In dieser Reportage sind sechzehn Fotografien der Gegenstand der Analyse. Der Autor betrachtet sorgfältig die Elemente des präsentierten Raums (»eine agrarisch geprägte Kleinstadt, Straßenzeilen mit Holzhäusern«27), die ihn als eine Stadt in Ostpolen identifizieren lassen, Bilder von Menschen, die auf den Foto-
25 Leociak, Jacek: Spojrzenie. Wokół kilku fotografii z ubiegłego wieku. In: Miniatura i mikrologia. Bd. 3. Hrsg. von Aleksander Nawarecki unter Mitwirk. von Beata Mytych. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2003, S. 236, 238–242. 26 Pollack, Martin: Bildergeschichte. Fotografische Fundstücke. In: ders.: Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. 2008, S. 114. 27 Ebd., S. 116.
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grafien abgebildet sind: Händler und Käufer auf dem Markt; Kinder, Frauen bei der Arbeit (»sie sind mit etwas beschäftigt, was nach Leinschwingen aussieht«28). Eine der vom Autor in dieser Reportage gestellten Fragen betrifft den Zeitpunkt der Aufnahme der Fotografie. Die Antwort deutet auf die Fotografie hin, welche die Figur eines Mannes mit einem Band um den Arm verewigt. Solche Bänder sind auch auf anderen Fotos zu sehen, die im Hintergrund sichtbaren Zettel, ausgehängt in Geschäften ergänzen die Information – »auf einem erkennt man eindeutig einen sechszackigen Davidstern«.29 Diese Markierung ermöglicht es dem Autor, die abgebildeten Szenen während der deutschen Besatzung zu positionieren und das wahrscheinliche Datum der Aufnahme zu bestimmen. Aufgrund der Anordnungen des Reichsministers Hans Frank zur Kennzeichnung der Juden kann der Autor schließen (»eine Verordnung betreffend die Kennzeichnung von Juden«30), dass die Fotografien im Herbst 1940 oder 1941 aufgenommen worden sein könnten. Diese Art des Autors, Fotografien ohne Eile zu betrachten und sich auf Details zu konzentrieren (Gesichtsausdrücke von Kindern, Details des Aussehens, Kleidung), ähnelt der Aufnahme der Fotografie mit einer Filmkamera. Jacek Leociak kommentiert Dariusz Jabłon´skis Film über Genewajn »Fotoamator« und beschreibt die Arbeit des Regisseurs als »eine Art Hermeneutik des Bildes«, die auf den Fotografien festgehalten wurde. Mit Hilfe einer Kamera verfolgt Jabłon´ski alle Details des Bildes, betrachtet einzelne Fragmente, als suche er nach etwas, das auf den Fotografien mit bloßem Auge nicht sichtbar ist.31 Indem Pollack das narrative Vermögen der Fotografie untersucht, erörtert er die nächste wichtige Frage: wer ist der Autor? Bei der Betrachtung der Kindergesichter (»Auffallend ist der Gesichtsausdruck der in die Kamera schauenden Kinder«), die voll Furcht, Misstrauen und sogar Resignation sind, kommt er zu dem Schluss, dass: »[…] der Fotograf ein Soldat der deutschen Wehrmacht war, ein Österreicher, in Polen im Einsatz. Bekanntlich nahmen viele Soldaten ihren Fotoapparat mit in den Krieg, um die Eindrücke von Ländern und Menschen festzuhalten, mit denen sie konfrontiert wurden, zur Erinnerung und um die Daheimgebliebenen an ihren Erlebnissen teilhaben zu lassen.«32
Pollack stützt seine Vermutungen auf Tatsachen aus seiner Privatgeschichte – sein Vater, der 1940 in Jugoslawien unterwegs war, wahrscheinlich »im Dienst des
28 29 30 31 32
Ebd., S. 120. Ebd., S. 121. Ebd., S. 121. Leociak, Spojrzenie. Wokół kilku fotografii z ubiegłego wieku. 2003, S. 236. Pollack, Bildergeschichte. Fotografische Fundstücke. 2008, S. 126.
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SD, zu Spionagezwecken«33, hatte eine Kamera dabei und machte auch Fotos, meistens normale Touristenfotos. (An einer anderen Stelle, bei sorgfältiger Beobachtung verschiedener Details auf den Bildern hegt der Autor weitere Vermutungen über den Fotografen). In diesem Bericht ist es unvermeidlich, sich auf die Vaterfigur und die Geschichte seiner eigenen Familie zu beziehen. In Bezug auf den Aufsatz des französischen Philosophen Roland Barthes, der über die Fotografien seiner verstorbenen Mutter schrieb, dass er durch die »GESCHICHTE«34 von ihnen getrennt werde, betrachtete Pollack seine eigene Situation als noch komplizierter: »Ich bin 1944 geboren, also mit einiger Sicherheit nach dem Entstehen der hier beschriebenen Aufnahmen, doch mich trennt von ihnen nicht nur dieses Wissen, sondern auch das Bewusstsein, dass mein Vater damals auf der anderen Seite stand, er hätte der Fotograf sein können, der die vorliegenden Bilder machte […].«35
Er schreibt über Höppner und konfrontiert sein Schicksal mit dem Leben und der Karriere seines eigenen Vaters: »Jusstudium in der Provinz, Mitgliedschaft bei einer schlagenden Studentenverbindung, von der sie ein gerader Weg in die Partei und die SS führte. […] Sie machen Blitzkarrieren, Höppner im SD, mein Vater bei der Gestapo. Bei Kriegsende ist Höppner SS-Obersturmbannführer, mein Vater SS-Sturmbannführer.«36
Das Bewusstsein, das allen Anspielungen auf die Vergangenheit der eigenen Familie zugrunde liegt, ist auch ein Element des kollektiven Bewusstseins – der zeitgenössischen Generation, die das Schicksal, die Ideen und die Entscheidungen ihrer Ahnen entdeckt. In der Reportage »Unheimliche Normalität« verweist der Autor auf die Briefe von Lesern, die nach der Veröffentlichung seines Buches »Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater« an ihn über ihre Familien schrieben – über Eltern und Verwandte, Ärzte, Priester, Lehrer, die Anhänger des Nationalsozialismus waren, und über einen Vater, der der SS angehörte. Der Titel der Reportage, der aus Wörtern mit antagonistischer, sich (sogar) gegenseitig ausschließender Bedeutung, besteht, scheint ein Versuch zu sein, diesen schwer zu bestimmenden Zustand der modernen Generation zu benennen, zu der der Autor gehört und die erst nach Jahren die Wahrheit über die Vergangenheit entdeckt und ihre eigenen Wurzeln sucht und findet. Wie Stefan H. Kaszyn´ski betonte, besteht eines der Probleme von Pollacks Kampf mit der Realität darin, »Gedächtnislücken in den Köpfen seiner Landsleute zu entdecken« und die Wahrheit über die Geschichte seiner eigenen Familie zu enthüllen 33 34 35 36
Ebd., S. 127. Ebd., S. 134, (und Fußnote 1). Ebd., S. 134. Pollack, Jäger und Gejagter. In: ders.: Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. 2008, S. 28.
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und er gibt ein Beispiel für »kompromisslose Archäologie der Mitverantwortung«.37 Die Situation, in der sich die Nachkommen, Söhne und Enkel der Nazis, befinden, erfordert geeignete Beschreibungsinstrumente, da ihre Lage sie vor die Aufgabe stellt und provoziert, eine Neudefinition grundlegender Konzepte (Gut, Böse, Liebe, Schuld, Strafe) und der Beziehungen zwischen Menschen, Mitgliedern der Gemeinschaft zu geben: »Diese Sätze [enthalten in den Leserbriefen an den Autor – E. H.] sind für mich bestürzend, obwohl ich andererseits eine gewisse Erleichterung darüber empfinde, dass nicht nur ich das Weiterleben des nationalsozialistischen Milieus so erlebt habe. Die Selbstverständlichkeit, mit der man die schrecklichsten Dinge aussprechen konnte. Die höhnischen Worte, die man für Juden und andere Opfer fand. Das Fehlen von Einsicht, von Scham, von Schuldgefühlen. Das war die Normalität unserer Kinderjahre. Das waren unsere Väter und Großväter. So haben sie gedacht und geredet.«38
Die von den Anhängern des Nationalsozialismus festgelegte Normalität kann als eines der Argumente der seit Jahren andauernden Diskussion über die Banalität des Bösen angesehen werden.
Fazit Die NS-Vergangenheit ist ein kontinuierlicher Bezugsrahmen für die Gegenwart, aber für die aktuelle Reflexion über die Geschichte bedarf es noch einer adäquaten Beschreibung. Historiker und Anthropologen, Schriftsteller und Künstler, Maler und Filmemacher sprechen darüber und beweisen, dass es ständiger Analyse bedarf, um die Wahrheit über die Quellen des Nationalsozialismus herauszufinden, um Fakten, Ursachen und Auswirkungen, Berichte von Folterern und Opfern zu untersuchen und zu beschreiben. Die Literatur zum Nationalsozialismus, zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust ist umfangreich. Berichte über individuelle und kollektive Erfahrungen entstanden in verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Ländern. Wichtige Zeugnisse sind Sachbücher, in denen persönliche, soziale und historische Dimensionen enthalten sind, sowie Werke, die Elemente der Fiktion und der Reportage verbinden. Beide erleben nach dem Krieg einen Boom.
37 Kaszyn´ski, Literatura faktu. 2016, S. 163. 38 Pollack, Unheimliche Normalität. 2008, S. 18–19.
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Das zeitgenössische Narrativ der Vergangenheit hat viele Variationen, es verfügt über verschiedene Werkzeuge der Beschreibung. Die Vielzahl der Erfahrungen führt zu einer Vielzahl künstlerischer Interpretationen.39 In dem vor einigen Jahren veröffentlichten Buch »Der Trafikant«40 zeigt Robert Seethaler das Wien der späten 1930er Jahre, in dem der Alltag weitergeht, der Frieden jedoch nur ein Schein ist. Die Normen der von den Nationalsozialisten eingeführten neuen Ordnung, ihre wachsende und feindselige Präsenz sowie die zunehmende Kontrolle und Verfolgung von Menschen jüdischer Herkunft sowie Veränderungen in der Mentalität der Wiener, von denen viele der nationalsozialistischen Ideologie erliegen, sind immer häufiger zu sehen. Eine der im Roman dargestellten Personen, die belästigt und ständig kontrolliert werden, ist Dr. Freud, der schließlich mit seiner Familie Wien verlässt. Dies ist nur eines der literarischen Beispiele der letzten Jahre, die das ständige Rekurrieren auf die nationalsozialistische Ideologie und ihre Auswirkungen auf das Verhalten sogenannter normaler Menschen belegen. Jede Generation wird mit der Vergangenheit konfrontiert und muss ihre eigene Einstellung zur Realität finden. Die Art und Weise wie die Autoren mit einer der wichtigsten menschlichen Erfahrungen, dem Holocaust umgehen, führt zu einer ständigen Diskussion über den gegenwärtigen Zustand des Individuums und der Gemeinschaft, der durch die gefährlichen und leider wiederauflebenden Ideologien des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Übersetzung aus dem Polnischen von Zofia Krzysztoforska-Weisswasser
Primärliteratur Pollack, Martin: Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2008.
Sekundärliteratur Austriacy to mistrzowie strachu. [Z Martinem Pollackiem] rozmawiała Malwina Wapin´ska. In: Dziennik Polska – Europa – S´wiat, Kultura vom 27. 03. 2009. Glensk, Urszula: Szkice o reportaz˙u. Kraków: Universitas 2012. Kaszyn´ski, Stefan H.: Literatura faktu. In: ders.: Literatura austriacka. Od Moderny do Postmoderny. Poznan´: Biblioteka Telgte 2016. 39 Vgl.: Kobiety wobec Holokaustu. Historia znacznie póz´niej opowiedziana. Hrsg. von Elisabeth Kohlhaas. Os´wie˛cim: Virgo Poligrafia 2011. 40 Seethaler, Robert: Der Trafikant. Zürich/Berlin: Kein & Aber AG 2012.
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Leociak, Jacek: Spojrzenie. Wokół kilku fotografii z ubiegłego wieku. In: Miniatura i mikrologia. Bd. 3. Hrsg. von Aleksander Nawarecki unter Mitwirk. von Beata Mytych. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2003. Muskała, Monika: Mie˛dzy ›Placem Bohaterów‹ a ›Rechnitz‹. Austriackie rozliczenia. Kraków: Korporacja Ha!art 2016. Nowacka, Beata: O nowej formule reportaz˙u. Na marginesie ksia˛z˙ki ›Jeszcze dzien´ z˙ycia‹ Ryszarda Kapus´cin´skiego. In: Nasz XX wiek. Style – tematy – postawy pisarskie. Hrsg. von Anna Opacka/Marian Kisiel. Katowice: Wyz˙sza Szkoła Zarza˛dzania Marketingowego i Je˛zyków Obcych 2006. Pollack, Martin: ›Jestem synem gestapowca‹. Z Martinem Pollackiem rozmawia Donata Subbotko. In: Gazeta Wyborcza. Duz˙y Format vom 14. 05. 2015. Pollack, Martin: Skaz˙one krajobrazy. Übers. von Karolina Niedenthal. Wołowiec: Wydawnictwo Czarne 2014. Seethaler, Robert: Der Trafikant. Zürich/Berlin: Kein & Aber AG 2012. Skarga, Barbara: S´lad i obecnos´c´. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2002. Sontag, Susan: O fotografii. Übers. von Sławomir Magala. Warszawa: Wydawnictwa Artystyczne i Filmowe 1986. Tramer, Maciej: Literatura faktu. In: Słownik literatury polskiej. Hrsg. von Marek Piechota/ Marek Pytasz. Katowice: Videograf II 2008. Z austriackim pisarzem Martinem Pollackiem rozmawia Katarzyna Bielas. In: Gazeta Wyborcza. Duz˙y Format vom 19. 02. 2018.
Agata Mirecka (Kraków)
Gegen den Zynismus der Gewohnheit immun bleiben. Ein Versuch über das Engagement im Roman »GRM. Brainfuck« von Sibylle Berg
Abstract: Der Roman von Sibylle Berg »GRM. Brainfuck« ist radikaler als ihr übriges Schaffen. Die Themen werden mit großem Druck und tiefer Deutlichkeit präsentiert. Die Autorin hat ein besonders gutes Gespür für das Menschliche, für menschliche Abgründe in der heutigen Welt. Der Beitrag soll die Rolle und Bedeutung der Erzählsituation in »GRM. Brainfuck« darstellen. Sibylle Bergs in diesem Buch geäußertes Engagement für die politische Problematik, die Bilder der Ungerechtigkeit, der Verbrechen im Europa der Gegenwart und ihre Bedeutung im literarisch-politischen Diskurs werden neben der theoretischen Betrachtung den Focus des Artikels bilden. Die Merkmale, die die Erzählung definieren, sind hier sichtbar und bekannt, jedoch ihr Aufbau und Komposition sind neu. Sibylle Berg veranschaulicht mit Hilfe der von ihr geschaffenen Erzählsituation in »GRM. Brainfuck« die sozial-politische Problematik, was in dem Beitrag besonderen Ausdruck finden soll.
Das Forschen nach Merkmalen, die eine Erzählung definieren, hat zu einer Vielzahl von Bezeichnungen geführt, die das Konzept der Erzählung weitgehend unabhängig voneinander verdecken, anstatt es zu erklären. Die von führenden Erzähltheoretikern wie Gérard Genette, Franz K. Stanzel und Gerald Prince vertretene engere Bestimmung von Erzählung definiert diese als die kommunikative Vermittlung realer oder fiktiver Vorgänge durch einen Erzähler an einen Rezipienten. Nach Stanzel kann man durch Analyse der Erzählsituation die Erzählung bestimmen.1 Der amerikanische Literaturkritiker und Rhetorik-Professor Seymour Chatman unterscheidet zwischen diegetischen Typen, dazu gehört auch der Roman, und mimetischen Typen der Erzählung.2 Für Chatman ist Geschehensdarstellung hauptsächlich über eine doppelte temporale Logik erfassbar: »As has been clearly established in recent narratology, what makes Narrative unique among the text-types is its »chrono-logic«, its doubly temporal logic. Narrative entails movement through time not only »externally« (the duration of the presentation of the 1 Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Metzler Verlag, Stuttgart 2004, S. 161. 2 Vgl. ebd.
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Agata Mirecka
novel, film, play) but also »internally« (the duration of the sequence of events that constitute the plot).«3
Diegetisch-fiktionale Texte, die Chatman nennt, sind durch einen hohen Grad an Mittelbarkeit gekennzeichnet. Sie sind durch eine starke personalisierte Erzählfunktion geprägt, die als Orientierungszentrum fungiert und von der Erzählerebene aus das Geschehen vermittelt. »[Der Erzähler] tritt auf der Erzählerebene konkret als individualisierter Sprecher hervor und wird durch bestimmte Erzählfunktionen wie z. B. Kommentare, Tempuswechsel, Leseranreden, Erklärungen oder Bewertungen als fiktive Person fassbar. Die Außenperspektive dominiert, d. h. es kann in diesem Fall von externer Fokalisierung gesprochen werden, bei welcher der Erzähler als external focalizer fungiert.«4
Die Forschungen zur systematischen Beschreibung der Arten, Strukturen und Funktionsweisen narrativer Phänomene bezeichnet man nach Tzvetan Todorov als Narratologie oder Wissenschaft vom Erzählen.5 Alle Elemente der DiscoursEbene, die sich auf die Gestaltung bestimmter fiktiver Instanzen der äußeren narrativen Kommunikationssituation, des fiktiven Lesers und besonders des fiktiven Erzählers, der Instanz der Fokalisierung beziehungsweise des Perspektiventrägers sowie der Möglichkeiten, die erzählte Welt zu erfassen, beziehen, bilden die Erzählsituation.6 In dem Roman »GRM. Brainfuck« von Sibylle Berg findet der Leser dagegen eine neue Art der Narratologie, die einen bedeutenden Einfluss auf die Wahrnehmung des Romans durch den Rezipienten hat. Die genaue Lektüre des Romans lässt die Relevanz und Rolle des Erzählers in dem Buch erfahren und bestimmen. Die Erzählsituation eines narrativen Textes umfasst seine Erzählform, die Formatierung des fiktiven Lesers, die Perspektive bzw. die Fokalisierung, die Sicht des Erzählten, bezogen vor allem auf die dargestellten Figuren (Innensicht oder Außensicht) und den Modus (telling, showing, Mimesis). Nicht außer Betracht sind hier auch die Erzählzeit und die erzählte Zeit zu lassen.7 Die literaturtheoretische Erzählforschung befasst sich mit der Erzählkunst, sie bildet hier die Grundlage für tiefere Überlegungen zu der Rolle des Erzählers in Sibylle Bergs Roman »GRM. Brainfuck«. Franz Karl Stanzel unterscheidet zwischen drei Erzählsituationen: auktoriale Erzählsituation (Erzählform in der dritten Person, heterodiegetischer overt narrator, mit Neigung zu Allwissenheit 3 Chatman, Seymour: Coming to terms. The rhetoric of narrative in fiction and film. Cornell University Press, London 1990, S. 9. 4 Müntefering, Nicola: Das Kurzprosawerk Willa Cathers: Eine erzähltheoretische Analyse. Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag 2009, S. 33. 5 Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 2004, S. 168. 6 Vgl. ebd., S. 157. 7 Ebd.
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und Einmischungen), Ich-Erzählsituation (Erzählform in der ersten Person, homodiegetisch, mit erzählendem Ich als overt narrator) und personale Erzählsituation (Erzählform in der dritten Person, heterodiegetischer covert narrator, kein allwissendes Erzählverhalten).8 Literarische Texte stellen begrenzte Räume dar, in denen ein Zeitregime gilt, was in der realen Welt manchmal nicht aktuell zu sein scheint. »[Dieses] fiktive Abbremsen eines hyperbeschleunigten Zeitregimes der Gegenwart, das diese Texte innerhalb ihrer erzählten Wirklichkeiten realisieren, gilt als Reaktion der Literatur auf die Globalisierung, die mit der Beschleunigungserfahrung der Gegenwart in einen engen Zusammenhang gerückt wird.«9
Eng mit der Globalisierung ist das Schlagwort der New Economy verbunden, mit dem Veränderungen in den Arbeitsweisen und Arbeitsverhältnissen seit der Jahrtausendwende bezeichnet werden.10 Neue Arbeitsformen, die durch die Digitalisierung entstehen, werden auch literarisch reflektiert. Neue Medien und neue Arbeitsweisen setzen, wie Leonhard Herrmann bemerkt, neue kreative Potentiale frei und ermöglichen Arbeitsformen, die stärker als die bisherigen an den individuellen Bedürfnissen orientiert sind. Die Menschen suchen nicht nur eine gute Arbeit, sondern etwas Besseres als nur die Festanstellung. Es wird interessant, dass flexible, dynamische Arbeitsformen nicht als Phänomene sublimierter Ausbeutungs- und Entfremdungsprozesse gelten, sondern eher begrüßt werden, weil sie kreativitätsfördernd sind und dem eigenen, bewusst nicht festgelegten Lebensstil entsprechen. Die Gegenwartsliteratur und der Gegenwartsdichter beschäftigen sich mit dieser Problematik immer öfter, sei es in Form eines Dramas, was in seiner Bedeutung schon eine geeignete Gattung dafür ist, oder sei es in Form eines Romans, in dem die fiktiven Figuren den ökonomischen Strukturen der Gegenwart gegenübergestellt werden. Die Realitätserfahrung der Protagonisten drückt indirekt die Kritik an der realen und der virtuellen Welt aus. Der Beginn der Ära des Internets hat in unser Leben unterschiedliche Realitätsebenen und fiktive Wirklichkeiten eingebracht, an denen man kaum gleichgültig vorbeigehen kann. Viele Gegenwartsautoren beziehen sich in ihren Büchern auf die aktuellen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, wollen diese auch in ihrem Schreiben sichtbar machen, indem sie Kritik üben oder eine Art Komik entwickeln. Sie lösen dabei die Fiktionalität der Texte nicht auf, sondern nutzen sie als ästhetische Struktur, wobei fiktive Wirklichkeiten entstehen, »die in ihrer
8 Vgl. ebd., S. 158. 9 Ebd. 10 Vgl. Herrmann, Leonhard: Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017, S. 203.
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Agata Mirecka
Unergründlichkeit und Vielschichtigkeit die Unzulänglichkeit der Vernunft deutlich machen«11. Sibylle Berg12, eine in Weimar geborene und heute in der Schweiz lebende deutschschreibende Autorin, kritisiert in ihrem Roman »GRM. Brainfuck«13 das momentan so gängige Weltuntergangsgeraune. Ihre Vision der Welt in der nahen Zukunft ist gnadenlos und gleichzeitig sehr umfangreich in ihrem Buch präsentiert. GRM kommt von dem Wort Grime, einer Musikgattung, die sich nach 2000 in Großbritannien entwickelte. Die Musik ist mit dem amerikanischen Hip Hop vergleichbar, aber intensiver und sprachlich viel weniger vulgär als Hip Hop. Die Gattung wurde besonders nach dem 2003 erschienenen Album »Boy In Da Corner« von Dizzy Rascal bekannt. Sibylle Berg meint, dies sei die größte musikalische Revolution in England nach dem Punk. Die Musik ist viel schneller als Rap und auch viel sozialkritischer und aggressiver.14 Das Wort Brainfuck kommt hier vom Namen einer in den Neunzigerjahren entwickelten Computersprache, die von dem Schweizer Urban Müller konzipiert wurde. Der Erfinder dieser Sprache hält bis heute regelmäßig Vorträge dazu. Sein Konstrukt zählt zu den sogenannten »esoterischen Programmiersprachen«, die interessanterweise nicht für die Programmentwicklung gedacht sind. Es ist kein Werkzeug aber ein funktionierendes Beispiel dafür, wie Kodieren verlaufen kann. Dabei handelt es sich um eine universelle Programmiersprache, mit der alle Probleme, die von der theoretisch beschriebenen Turing-Maschine gelöst werden können, formulierund berechenbar werden.15 Der Titel von Bergs Roman scheint in diesem Kontext adäquat zu sein. Sibylle Berg bezeichnet ihren Roman selbst als ein Forschungsbuch, in dem die Folgen der Digitalisierung, des Überwachungsstaates und des Neoliberalismus zum Ausdruck gebracht werden. Das neoliberale Experiment ist laut Berg in England am weitesten fortgeschritten. Um es gut darstellen zu können, machte die Autorin selbst eine Reise nach London, wo sie die Stadtrandbezirke besuchte und dort die Armut, die Schicksale der Menschen und die realen Alltagsprobleme der Bürger vor Ort beobachten konnte. Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und zum Teil politische Problematik ist das Thema von »GRM. Brainfuck«. Das Buch ist umfangreich, sein Aufbau demonstriert auf intensive Weise die Lebensat11 Ebd., S. 203. 12 Vgl. Stück-Werk 4. Deutschschweizer Dramatik. Theater der Zeit: Arbeitsbuch. Hrsg. von Veronika Sellier/Harald Müller, Berlin: migros 2003, S. 18. 13 Berg, Sibylle: GRM. Brainfuck. Kiepenhauer & Witsch Verlag, Köln 2019. 14 Vgl. Sibylle Berg über ihr Buch ›GRM – Brainfuck‹. Willkommen Österreich. Fernsehprogramm am 10. April 2019. (Zugriff am 03. 02. 2020). 15 Vgl. Bartel, Rainer: Brainfuck – die vermutlich verrückteste Programmierersprache aller Zeiten. (Zugriff am 30. 01. 2020).
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mosphäre der Menschen heute. Der Roman ist in kurze Kapitel, Abschnitte geteilt, die jeweils eine Person (ausnahmsweisen Personen- oder Berufsgruppen) in ihren Lebensbedingungen, in einer bestimmten Situation oder in Situationsketten beschreiben: »Das ist Maggy, die sehr jung ist und mit Menschen Probleme hat. Also, die Menschen haben Probleme mit ihr, denn Maggy ist zu dick und zu männlich, um den sozialen Verabredungen zu entsprechen, die darüber bestimmt haben, wie ein junges Mädchen auszusehen hat. Rachel, da in der Ecke mit dem Bärenohren-Plüsch-Overall, ist erst vierzehn und redet nicht gerne. Reden langweilt sie. Sie ist auch nicht so gut darin. Sie hat ständig kalte Finger, an denen sie kaut, und starrt ins Netz – da ist es warm. Da sind Kemal und Pavel. Kindern von irgendwelchen Einwanderern, die in letzter Zeit gehasst werden, und zwar zu Recht, und zwar, weil sie Schuld an der Klimaerwärmung sind. Und der Privatisierung. Und der Steuerhinterziehung durch Konten auf den Cayman Islands. Das sind: Freunde.«16
In »GRM. Brainfuck« trifft der Leser einen auktorialen Erzähler mit der Neigung zur Allwissenheit, der in einer Perspektivensouveränität bleibt. Die auktoriale Erzählsituation mit der Außenperspektive ohne intradiegetischen Reflektor äußert sich in dem abwechselndem Modus von »telling« und »showing«.17 Der Roman zeichnet sich durch keinen Plot und keine Handlung aus. Er besteht nur aus losen Bildern der Wirklichkeit. »GRM. Brainfuck« ist eine Geschichte von vier Personen: Don, Hannah, Karen und Peter – Freunde aus der Kindheit, die sich nach vielen Jahren wieder treffen. Der Leser hat kein Wissen, wann die präsentierten Begebenheiten stattfinden. Die Autorin gibt nur Hinweise: »Es war das Jahrtausend, in dem der Zweifel über die Weltbevölkerung kam. Und es normal wurde, dem Staat und den Geheimdiensten, der Presse und den Brillenträgern, dem Wetter, den Büchern, den Impfungen, den Wissenschaftlern und den Frauen zu misstrauen.«18
Nur der Neoliberalismus und die Erwähnung der Brexit suggerieren dem Leser die Zeit der Vorgänge im Roman von Berg: »Die Kommunikationswissenschaftlerin war genderfluid und polyamorös. Whatever – sie war sich immer klar darüber gewesen, besonders zu sein. Sie glaubte an die Gleichberechtigung aller. Respektierte Religionen, sexuelle Vorlieben, geschlechtliche Selbstzuschreibung. Es war ihr nicht egal, was andere lebten. Sie betonte, dass es ihr egal war. Die Kommunikationsberaterin war gegen den Brexit gewesen, ihre Arme waren mit
16 Berg, GRM. Brainfuck. 2019, S. 266. 17 Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 2004, S. 157. 18 Ebd., S. 7.
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Tattoos so überfüllt dass sie wirkten wie schwarze Prothesen. Ihr erklärter Feind war der Neoliberalismus.«19
Die Geschichte der genannten Personen beginnt in Rochdale, einer Stadt in der Nähe von Manchester. Auf die dargestellte Art und Weise leben Menschen im neuen Jahrtausend, wenn sie sich nicht an die Gegebenheiten der Märkte anpassen.20 »Die meisten Älteren, die in Dons Stadt abhingen, waren betäubt und müde und hockten in den Ecken und hatten kaum mehr die Energie, den Kopf zu heben. Ab und zu wurden sie gefüttert, aber. Das vertrug ihr Magen nicht mehr, diese feste Nahrung in einem aufgelösten Dasein.«21
Die Geschehnisse des Romans weisen darauf hin, wie die politisch-soziale Wirklichkeit die Menschen verändert hat. Die Angst wurde in ihrem Leben zu einem Dauerzustand gemacht, die Hoffnung total vernichtet und die Freude vergessen. Sowohl die Älteren als auch die Jüngeren haben kein Vertrauen zu irgendetwas und die Reste ihres logischen Denkens sind ruiniert. Der auktoriale Erzähler stellt die rohe Wirklichkeit dar und der Leser erhält Einblick nicht nur in die Gegenwart der Protagonisten, sondern auch in ihre Psyche: »Don schweigt. Das Herz rast, der Kopf rauscht. Sie ist. Einfach nicht bei sich. Don hasst Bücher mit Dialogen und ist überzeugt davon, dass es ein fauler Trick von Schriftstellerinnen ist, dieses Dialoggeschreibe.«22
Die präsentierte Wirklichkeit macht die Menschen unsicher. Im Fernsehen, auf allen Kanälen kann man hören, dass alles noch schlimmer wird, als man es sich in seiner begrenzten Phantasie vorstellen kann. Die Kinder fühlen sich in eigener Heimat nicht beschützt.23 Die Hinrichtungen werden einfach via Fernsehen übertragen, was die Menschen noch depressiver und machtlos macht. »Ein Richter ist da, ein Arzt, ein Plexiglasraum, luftdicht abgeschlossen. In den wird der Carl geführt. Jetzt verliert er die Kontrolle über seine Blase. Jetzt sitzt er am Boden und winselt. Die Kameras übertragen das. Auf alle Bildschirme in der Stadt und auf BBC.«24
Sibylle Berg setzt die Perversionen, Ungerechtigkeiten, Verbrechen im Europa der Gegenwart in Szenen. Sie erzählt scheinbar unbeteiligt von ihnen, reduziert, niemals moralisierend, in souverän rhythmisierter Sprache, die nicht ohne Mitgefühl ist, sondern im Gegenteil, voller Empathie für das, was den Kindern
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Berg, GRM. Brainfuck. 2019, S. 235. Vgl. ebd., S. 8. Ebd., S. 13. Ebd., S. 447. Ebd., S. 29. Berg, Sibylle: Wunderbare Jahre. München: Carl Hanser Verlag 2016, S. 290.
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unverschuldet zustößt. Sie hört damit nicht auf. Darin steckt eben die Rebellion ihres ganzen Textes, der »Brainfuck«.25 Der Leser wird vor den Hintergrund einer sich vollziehenden Öko- und Technoapokalypse gestellt. Es entwickelt sich eine drastische Atmosphäre allgemeiner Unsicherheit, gegenseitiger Verdächtigungen unter Unterdrückung aller, die nichts leisten und die zu Staatsfeinden erklärt werden: »Die Stadt voll mit angespannten Menschen, denen auch das Grundeinkommen keine wirkliche Ruhe geschenkt hat. Es langt immer noch nicht. Das Geld langt einfach nicht, obwohl die offiziellen Zahlen so hervorragend sind. Dank Grundeinkommen gibt es keine Arbeitslosen mehr. Dank Minijobber und Job-Hopper und Miniverträgen und Leiharbeiten und Jobnomaden […] Die ein wirklich freies Leben führen. Na ja, irgendwie. Zu denen immer wieder Kamerateams der BBC fahren. Gefahren sind. Früher. Gehabt haben. Tschüssi.«26
Der hoffnungslose Alltag in der sich gut entwickelten Wirtschaft führt die Menschen in die Unterhaltungszentren, die ihnen den grausamen Alltag bunter machen sollen. Was aber nicht gelingen kann, weil die Leute müde und die Kinder keine Kinder mehr werden: »Die Menschen sind damit beschäftigt, sich zu vervollkommnen. Die meisten sind begeistert von dem Wettbewerb um positive Punkte. Er triggert ihr Belohnungssystem. Sie wollen Punkte sammeln und am Ende besser sein als der Nachbar.«27
Sibylle Berg nennt es den Ursprung des Kapitalismus, der nicht viel von den Menschen verlangt, nur Punkte zu sammeln, ordentlich zu parken, Wohnung zu putzen, den Mitbürgern Hilfe zu leisten und einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen zu pflegen. Ansonsten werden die Menschen in unterhaltungsabhängige Zombies verwandelt. In dem Roman wird die Political Correctness, die alltägliche Naivität kritisiert bzw. verspottet: »Das ruhige friedliche Leben ist eine Erfindung der Werbeindustrie, um die Wirtschaft zu befeuern, um Windeln zu verkaufen und all den Scheiß, um die Leute ruhig zu halten, deren naturgegebener Instinkt doch ist, brandschatzend durch die Straßen zu ziehen und Wild zu erlegen. Oder andere Menschen. Oder einfach irgendeinen Scheiß kaputt zu machen. Diese Instinkte gehören in eine Profit versprechende Richtung geleitet.«28
Die Erzählsituation von Sibylle Berg im Roman »GRM. Brainfuck« schafft eine entsprechende Konstruktion zur Darstellung der besprochenen Problematik. Das ganze Buch ist in Abschnitte, quasi Kapitel geteilt, dessen Titel meistens die 25 Vgl. Encke, Julia: Ich hasse Max Frisch. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 07. 04. 2019, Nr. 14, S. 33. 26 Berg, GRM. Brainfuck. 2019, S. 353. 27 Ebd., S. 427. 28 Ebd., S. 409.
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Namen der Protagonisten oder andere Situationsnamen sind. Am Anfang des Romans werden Titel der Kapitel mit zusätzlichen Informationen zu den Helden ergänzt, wie: Intelligenz, Kreditwürdigkeit, Sexualität, Aggressionspotenzial, Ethnie, Familienverhältnisse, Konsumverhalten und andere. Der auktoriale Erzähler, die Außenperspektive des Erzählens, konkrete, fast intime Daten zu den Protagonisten und die Kombination dieser Faktoren ermöglichten der Autorin eine sehr präzise Darstellung der Gegenwart. Der ganze Roman versucht die Frage zu beantworten, was eigentlich der Mensch heute ist? Die Menschen fürchten sich vor Überwachung, setzen sich Chips an und lassen sich einreden, optimierbar sein zu müssen. Es ist eine Geschichte von vier Kindern, die am falschen Ort geboren sind und sich nicht dessen bewusst sind, dass das alles noch schlimmer werden kann. Die Angst vor der Zukunft scheint das Hobby der Alten zu sein, die eigentlich keine Zukunft mehr haben können. Nach einigen katastrophalen Ereignissen in ihren Leben treffen sich die Freunde wieder, als sie schon völlig allein gelassen wurden: »Sie haben sich und sie haben Grime, diese Musik, die scheinbar nur für sie erfunden worden ist und die so klingt, wie sie sich gern fühlen wollen: wütend und gefährlich. Ihre Stars haben die besten Turnschuhe, Ketten und Autos. Sie sind wer. Grime läuft im Viertel den ganzen Tag als Soundtrack zum Lebensgefühl, ›wütende Dreckmusik für Kinder in einem Drecksleben‹, wobei die Kinder von einem ›Lebensgefühl‹ nicht reden würden – es ist ihr Leben.«29
Die Gewöhnung an das Grauen ist das, was Sibylle Berg nicht hinnehmen will. Die Kinder halten das Leben, das sie haben, für normal, weil sie kein anderes kennen. Die Erwachsenen werden auf den Seiten des Buches gefordert, nicht alles als Normalität zu betrachten. Die Gewöhnung an die Ausbeutung, an die Gleichgültigkeit und Aggression erschreckt die Autorin selbst. Die Menschen werden auf vieles wütend, weil sie keine Möglichkeit zur Tat in ihrem Leben sehen. Ihnen scheint es, dass sie nur stehen und zuschauen können. Die immer anwachsende Wut ändert nichts, nur trägt der wachsenden Aggression bei und erweckt das Gefühl der Gewöhnung an die ganze Spirale: »Du bist wütend auf uns? Das ist nicht schlecht, denn damit können wir Geld verdienen, sagt der Kapitalismus und kommerzialisiert die Wut. Selbst der aus der Wut rappender Unterschichtsjungs geborene Grime wird Mainstream. Die Welt geht nicht unter, es wird ›eine neue Entwicklungsstufe‹ erreicht, sobald sich alle an die neuen Zustände gewöhnt haben.«30
29 Encke, Julia: Ich hasse Max Frisch. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 07. 04. 2019, Nr. 14, S. 33. 30 Ebd.
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Der Roman »GRM. Brainfuck« ist überfüllt von Bildern der Gegenwart, Kommentaren unserer Wirklichkeit und Hoffnungslosigkeit. Dieses pessimistische Bild der Welt soll den Leser aber auf keinen Fall entmutigen. Es ist keine Dystopie, sondern die Welt, die uns umgibt. Die Autorin wiederholt, dass unsere Zukunft nicht schlimmer sein wird, sondern anders. Bemerkenswert ist, dass Berg keine Hinweise, keine Ratschläge für die Lösung der hoffnungslosen Lage der Menschheit von heute gibt. Ganz im Gegenteil, die Stimme der Jugendlichen, die den ganzen Text des Romans durchfließt, stellt sehr gut die Gegenwart dar, ohne Manipulation und Scheinbilder, die meistens nur für den menschlichen Egoismus und Hochmut erzogen werden. »Wir sind die Jugend. Die mit dem Wissen großgeworden ist, dass man, ohne sich angepasst zu verhalten, auf keinen Fall überleben wird. Wir sind die sogenannte ADHSGeneration, was meint, dass wir multitaskingfähig sind, wenn das meint, dass wir sekündlich neue Informationen aufnehmen und sofort wieder vergessen. Guten Tag, wir sind weitgehend unpolitisch, weil wir gelernt haben, dass es unseren Eltern nichts gebracht hat. All das Protestieren, Demonstrieren, sich vor irgendeinem Scheiß Anketten, hat nichts gebracht. Wo sind sie jetzt, die Politischen?«31
Die bei Sibylle Berg entwickelte Tendenz der Literatur, die narrative Konstruktion, die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in der Welt durch das Schreiben darzustellen, ist ein Phänomen in der Literaturgeschichte, in der in den letzten Jahrzehnten jedoch immer öfter das Postulat aufgestellt wurde, dass Literatur in der Rolle des sozialkritischen Beobachters möglichst relevant bleiben und der Autor als Betrachter der Realität immer den Faktor der Relativität berücksichtigen soll. Ist das aber möglich und erreichbar? Ist Relativität nicht der erste Schritt zum Immun-Bleiben des Menschen gegen äußere Begebenheiten und seiner Gleichgültigkeit gegenüber allem, was uns umgibt? »GRM. Brainfuck« von Sibylle Berg liefert teilweise Antwort auf die gestellten Fragen und legt auch ein Zeugnis in einer Erzählweise ab. Ivana Perica wirft vor, »dass die Diskussionen um den politischen Charakter der Literatur in einem hybriden Diskurs von politischer Theorie und Ästhetik – seltener jedoch in der Literaturwissenschaft – stattfinden.«32 »GRM. Brainfuck« hat einen politischen Charakter, die Autorin erklärt die Welt radikaler als die anderen Autoren der Gegenwart, mit einem hypersensiblen Gespür für das Menschliche, für Verletzlichkeit, vor allem für menschliche Abgründe. Die erzählende Literatur als Dienerin der Idee ist in diesem Falle ein Vakuum für Geschehnisse mit einem quasi positiven aber noch unbekannten Ausgang.
31 Berg, GRM. Brainfuck. 2019, S. 596. 32 Politische Literatur. Begriffe, Debatten, Aktualität. Hrsg. von Christine Lubkoll/Manuel Illi/ Anna Hampel. Stuttgart: Springer Verlag 2018, S. 459.
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Primärliteratur Berg, Sibylle: GRM. Brainfuck. Köln: Kiepenhauer & Witsch Verlag 2019. Berg, Sibylle: Wunderbare Jahre. München: Carl Hanser Verlag 2016.
Sekundärliteratur Bartel, Rainer: Brainfuck – die Vermutlich verrückteste Programmiersprache aller Zeiten. (Zugriff am 30. 01. 2020). Chatman, Seymour: Coming to terms. The rhetoric of narrative in fiction and film. Cornell University Press, London 1990. Encke, Julia: Ich hasse Max Frisch. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 07. 04. 2019, Nr. 14. Herrmann, Leonhard: Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 2017. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2004. Müntefering, Nicola: Das Kurzprosawerk Willa Cathers. Eine erzähltheoretische Analyse. Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag 2009. Politische Literatur. Begriffe, Debatten, Aktualität. Hrsg. von Christine Lubkoll/Manuel Illi/Anna Hampel. Stuttgart: Springer Verlag 2018. Stück-Werk 4. Deutschschweizer Dramatik. Theater der Zeit: Arbeitsbuch. Hrsg. von Veronika Sellier/Harald Müller, Berlin: migros 2003. Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag 1991. Sibylle Berg über ihr Buch ›GRM – Brainfuck‹. Willkommen Österreich. Fernsehprogramm am 10. April 2019. (Zugriff am 03. 02. 2020).
Paradigmen im Wandel
Marta Wimmer (Poznan´)
Diversität und Exklusion. Geschlechtliche Heterogenität im gegenwärtigen Jugendroman
Abstract: Queere Thematik fand inzwischen Einzug in die Jugendliteratur, die eine wichtige Entwicklungsstütze stellt und sich besonders gut eignet, gesellschaftlich tabuisierte Themen anzusprechen sowie die Vielfalt der Lebens-, Geschlechts- und Sexualitätskonzepte darzustellen. Der Fokus des Artikels wird auf drei Romane (»Liebe macht Anders« von KarenSusan Fessel, »Weil ich so bin« von Christine Fehér und »Atalan_ta Läuferin« von Lilly Axster) gerichtet und es wird untersucht, inwiefern diese als eine kritische Reflexion von Geschlechterverhältnissen und gesellschaftlichen Machtstrukturen gelesen werden können. Darüber hinaus wird ausgelotet, ob die Literatur über das Potential verfügt, durch Verschaffen von Sichtbarkeit der Intersexen, in gesellschaftliche Normen zu intervenieren bzw. stereotype Vorstellungen hinsichtlich der Geschlechter aufzubrechen. »Vielfalt ermöglicht sich selbst lebendiger zu fühlen in der Wahrnehmung dessen, was andere leben.«1
Der neueste Begriff mit dem die tonangebende Medizin den geschlechtlichen Binarismus bezeichnet, heißt disorder of sex development (DSD). Durch die Implikation einer Störung, wird der Erscheinung ausdrücklich eine Wertung auferlegt, was ebenfalls für den gesellschaftlichen Diskurs kennzeichnend ist. Ulla Fröhling konstatiert in diesem Zusammenhang, die Intersexualität werde als »eines der letzten Tabus«2 wahrgenommen. Vor allem im Alltag zeigt sich, die Unmöglichkeit der eindeutigen Zuordenbarkeit zu der Mann-/Frau-Kategorie führt die Pathologisierung des Phänomens herbei, denn die Einteilung aller Menschen in Frauen und Ma¨ nner scheint eine der gro¨ ßten Selbstversta¨ ndlichkeiten zu sein. Im sozialen Alltag wird die Existenz zweier Geschlechter in der 1 Hartmann, Jutta: Vielfältige Lebensweisen. Dynamisierungen in der Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform. Kritisch-dekonstruktive Perspektiven für die Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 121. 2 Fröhling, Ulla: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabureich. Berlin: Ch. Links Verlag 2003, S. 9.
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Regel nicht fu¨ r erkla¨ rungsbedu¨ rftig gehalten. Sie gilt als von Natur aus gegeben.3 Doch »[d]ie Einteilung von zwei Kategorien greift […] zu kurz und eine dritte Sammelkategorie, der all das zugeordnet wird, was nicht eindeutig männlich oder weiblich erscheint, könnte sich ebenfalls als zu reduktionistisch erweisen«, so Ilka Quindeau. Sie führt fort, »[v]ielleicht wäre es angemessener, das Geschlecht nicht länger als Kern der Identität eines Menschen aufzufassen, sondern mit der Metapher einer Hülle zu beschreiben, in der die verschiedensten bewussten und unbewussten Aspekte von Männlichkeit und Weiblichkeit auf den unterschiedlichen somatischen, psychischen und sozialen Dimensionen in je individuellen Mischungsverhältnissen aufbewahrt sind. […] Die Metapher der Hülle macht zudem deutlich, dass es sich bei der Geschlechtsidentität nicht um etwas Einheitliches, Monolithisches handelt, sondern dass diese Identität sich aus vielen, einzelnen, weiblichen und männlichen, teilweise auch widersprüchlichen und unvereinbaren Aspekten zusammensetzt.«4
Für die westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert scheint »das Que(e)ren von Geschlechtergrenzen« eine »üblich[e], mitunter auch gefeiert[e] Praxis« und die Uneindeutigkeit von Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) […] ein Kulturthema ersten Ranges« zu sein.5 Andrea Bartl diagnostiziert unsere Gegenwart als »ein Zeitalter der Androgynität« und führt fort, dass nicht nur »metrosexuelle Stilikonen eine spezifische Art effeminierter Männlichkeit repräsentieren«, auch Figuren der Popkultur [inszenieren sich] zunehmend »in geschlechtsübergreifenden Geschlechtsrollen«.6 Dies verdeutlicht, »die Gegenwart [ist] in Bezug auf Vorstellungen von Geschlechtskörpern von Wandel und Persistenzen gleichzeitig geprägt«.7 Doch trotz des diagnostizierten Hypes und der (medialen) Präsenz der geschlechtlichen Ambiguität wird augenscheinlich, die Wirkmächtigkeit des binär ausgerichteten Geschlechtersystems ist nach wie vor groß.8
3 Hartmann, Vielfältige Lebensweisen. 2002, S. 59. 4 Quindeau, Ilka: Vorwort. In: Die Schönheit des Geschlechts. Intersex im Dialog. Hrsg. von Katinka Schweizer/Fabian Vogler. Frankfurt/M./New York: Campus 2018, S. 11–13, hier S. 12f. 5 Baier, Angelika: Inter_Körper_Text. Erzählweisen von Intergeschlechtlichkeit in deutschsprachiger Literatur. Wien: zaglossus 2017, S. 11. 6 Bartl, Andrea: Androgyne Ästhetik. Das Motiv des Hermaphroditismus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Ulrike Draesners ›Mitgift‹, Michael Stavaricˇs ›Terminifera‹ und Sibylle Bergs ›Vielen Dank für das Leben‹. In: Die Textualität der Kultur. Gegenstände, Methoden, Probleme der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung. Hrsg. von Christian Baier/Nina Benkert/Hans-Joachim Schött. Bamberg: University of Bamber Press 2014, S. 279–301, hier S. 279. 7 Baier, Inter_Körper_Text. 2017, S. 12. 8 Vgl. ebd.
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Queere Thematik fand inzwischen Einzug in die Jugendliteratur,9 grundsätzlich sieht Rosemarie Lederer die verstärkte Präsenz des Themas der Geschlechtsidentität, ihrer Abgrenzung und Überschreitung in der aktuellen literarischen Produktion, in der größer gewordenen Wertigkeit des Ichs und einer damit verbundenen Geschlechtsidentität, die Momente des jeweils anderen Geschlechts zulässt und in sich birgt, begründet. Dieses Zulassen vom Überschreiten der Geschlechtsordnung zieht das Aufgreifen von Themen wie Homooder Bisexualität sowie die Abkehr von geschlechtsspezifischen Zuweisungen nach sich.10 Die Jugendliteratur stellt eine wichtige Entwicklungsstütze und eignet sich besonders gut, gesellschaftlich tabuisierte Themen anzusprechen sowie die Vielfalt der Lebens-, Geschlechts- und Sexualitätskonzepte darzustellen. Durch reale Vorbilder, mit denen sich die Jugendlichen identifizieren können, wird klargestellt, dass es Menschen mit ähnlichen Gefühlskonflikten gibt und es wird eine gewisse Sensibilität für Andersartigkeit vermittelt. Cyrus Dethloff schreibt der Jugendliteratur folgende Rolle zu: »Das Jugendbuch kann in diesem Sinne dem[/der] Heranwachsenden dabei behilflich sein, Kalibrierungsvorgänge transparent zu machen, die die Einstellung zu zwischenmenschlichen Beziehungen, Gepflogenheiten, Bedürfnissen und zu Autoritären bestimmen. Und es kann demonstrieren, daß gesellschaftliche Normen grundsätzlich veränderbar sind.«11
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte wird der Fokus des Artikels auf (emanzipative?) Jugendliteratur und konkret auf drei Romane (»Liebe macht Anders« von Karen-Susan Fessel, »Weil ich so bin« von Christine Fehér und »Atalan_ta Läuferin« von Lilly Axster) gerichtet und in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, inwiefern diese als eine kritische Reflexion von Geschlechterverhältnissen und gesellschaftlichen Machtstrukturen gelesen werden können. Darüber hinaus wird ausgelotet, ob die Literatur über das Potential verfügt, durch Verschaffen von Sichtbarkeit der Intersexen, in gesellschaftliche Normen zu intervenieren bzw. stereotype Vorstellungen hinsichtlich der Geschlechter aufzubrechen. Eines der Beispiele ist der auf dem Cover als Thriller angekündigte Roman der Lübecker Autorin Karen-Susan Fessel »Liebe macht Anders« (2013), in dem das Tabuthema Intersexualität souverän aufgearbeitet wird. Die Geschichte von 9 An dieser Stelle ist auf die 2016 an der Universität Wien vorgelegte Diplomarbeit zu verweisen. Baar, Elisabeth: Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentita¨ t jenseits der Heteronormativita¨ t als Thema aktueller Jugendliteratur. Wien 2016. 10 Lederer, Rosemarie: Grenzga¨nger Ich. Psychosoziale Analysen zur Geschlechtsidentita¨t in der Gegenwartsliteratur. Wien: Passagen Verlag 1998, S. 306f. 11 Dethloff, Cyrus: Jungenpaare, Ma¨ dchenpaare. Der humanwissenschaftliche Diskurs um die »Homosexualita¨t« und seinen Einfluss auf ihre Darstellung im erza¨ hlenden Kinder- und Jugendbuch. Paderborn: Igel Verlag Wissenschaft 1995, S. 18f.
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Anders Jaspersen (früher Svea) entspricht nicht der landläufigen Vorstellung, was einen Thriller ausmacht. Den Rahmen der Diegese bildet kein aufklärungsbedürftiger Mord, sondern ein Vorfall, bei dem der intersexuelle Protagonist, der neu in der Stadt ist, am Rande eines Jugendfestes von einer Eisenbahnbrücke in einen Fluss stürzt. Ob dieser durch Fremdverschulden verursacht wurde und was mit der Figur infolgedessen passiert ist, wird erst gegen Ende des Romans ersichtlich. Die Konstruktion der Handlung entspricht eher dem Schema eines Kriminalromans, wobei nicht näher auf die Detektiv- oder Polizeiarbeit eingegangen wird. Erzähltechnisch wechselt der Roman zwischen kursiv markierten Aussagen der MitschülerInnen von Anders, denen seiner älteren Schwester Signe und jenen, in welchen die Handlung bis zum Sturz von einer heterodiegetischen Erzählinstanz rekonstruiert wird, dabei wird die Sichtweise diverser Figuren, außer der von Anders, mitberücksichtigt. Bei der Rekonstruierung der Ereignisse wird gar nicht die Suche nach dem potentiellen Täter vordergründig, vielmehr zielt diese auf das Ausloten, »wie ein Kollektiv aufgrund seines Verhaltens als Verursacher des Sturzes verantwortlich gemacht werden kann.«12 Die Autorin geht auf ein eminentes gesellschaftlich-politisches Thema ein, unternimmt jedoch keinen Versuch, das Gruppenverhalten zu plausibilisieren oder Legitimationsmuster für dieses zu entwerfen, vielmehr geht es um die Sichtbarmachung der Mechanismen, die Inklusionen verursachen bzw. nach sich ziehen. Der Leser wird in das vertraute Alltagsuniversum der Jugendlichen entführt und wird mit altersbedingten Problemen dieser konfrontiert. Konkurrenzkämpfe in der Schule, Neid, an/abwesende Eltern, Eifersüchteleien, lästige jüngere Geschwister, das jeweilige Gegengeschlecht, die eigene Körperlichkeit und Sex werden ebenfalls zu einem großen Thema. Eines Tages wird das vertraute Umfeld durch einen Neuankömmling in der Klasse ins Wanken gebracht, einen, der sich jeglicher Kategorisierung entzieht. Anders ist nämlich »anders […] als die anderen. Weicher vielleicht. Besonders. […] Und das können manche Leute einfach nicht vertragen.«13 Der Umstand von seiner Intergeschlechtlichkeit bleibt auf der Handlungsebene lange Zeit verwehrt, er fällt zwar wegen seines – nomen est omen – Andersseins auf, doch dieses wird nicht näher definiert. Auffällig wird seine »weiche, glatte Haut« (LA, 14), sein »lang aufgeschlossen[er], schmal[er], aber dennoch muskulös[er] Körper, die geraden, breiten Schultern, die langen Beine.« (LA, 13) Wegen seiner Ausstrahlung wird Anders »mit diesem typischen, taxierenden, abschätzigen Blick« (LA, 47, kursiv im Original) angestarrt, was die These Nicolas Dobras, es gebe kein von Beobachtungen unabhängiges Objekt, Objekt impliziere Beobachtung, in den 12 Baier, Inter_Körper_Text. 2017, S. 282. 13 Fessel, Karen-Susan: Liebe macht Anders. Thriller. Stuttgart: Kosmos 2013, S. 8. In der Folge mit der Sigle LA und mit einfacher Seitenzahl zitiert.
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Sinn kommen lässt.14 Literatur als Medium erzeugt diskursiv Selbst- und Fremdbilder und drückt diese entweder in sprachlichen Bildern aus, festigt sie oder versucht, diese zu durchbrechen. Fessel exemplifiziert an der Figur von Anders, wie das Ungewohnte/das Andere als Störenfried empfunden wird bzw. welche Reaktionen die Andersartigkeit nach sich ziehen kann: »Der hat uns von Anfang an genervt, einfach die ganze Art und alles. […] Der war so ein Eindringling, obwohl er ja eigentlich gar nichts groß gemacht hat. […] Also, wir kennen uns jetzt alle seit zwei Jahren, und da hat jeder so seine Rolle oder sein Ding laufen. Und dann kommt da so ein Typ an und guckt arrogant in der Gegend rum und gräbt auch noch die Mädchen an, vor allem Sanne, ja? Nee, das konnte ich einfach nicht ab. War ja auch klar, dass Robert da irgendwann durchdreht, wenn der nicht damit aufhört. Und irgendwie hab ich mich auch sofort von dem provoziert gefühlt. Und dann heißt der auch noch so blöd. Anders!« (LA, 13, kursiv im Original)
Das Anderssein des Protagonisten wird an mehreren Stellen des Romans ausdrücklich zur Sprache gebracht und scheint die Jugendlichen aus ihrer Komfortzone zu heben, durch diese fühlen sich die MitschülerInnen irritiert und provoziert, obwohl es keinen objektiv greifbaren Grund dafür gibt. Ein Versprechen von Signe bereits zu Beginn des Romans legt nahe, worin diese Andersartigkeit begründet sein könnte: »Er war schon immer ziemlich sportlich, schon als kleines… schon als kleiner Junge, meine ich.« (LA, 7) Auch die Tatsache, dass Anders am Sportunterricht nicht teilnimmt – was mit gesundheitlichen Problemen, »Ich hab was mit’m Herzen« (LA, 16), heißt es im Roman, begründet wird –, rückt die Aufmerksamkeit der Gruppe auf seinen sowieso schon auffallenden Körper und lässt ahnen, dass sich dahinter ein Geheimnis verbirgt. Die Mitschüler fühlen sich mobilisiert, das Geheimnis um Anders Vergangenheit zu lüften. Wie Angelika Baier in ihrer Monographie »Inter_Körper _Text. Erzählweisen von Intergeschlechtlichkeit in deutschsprachiger Literatur« (2017) konstatiert, werde in den literarischen Texten ein Geheimnis um die vergeschlechtlichten Körper aufgebaut, was den Motor der Narration darstelle.15 Das zwingende Bedürfnis, diesem hinterherzukommen setzt eine Spirale der Ereignisse in Gang, die in einem gefährlichen Vorfall münden. Während des bereits erwähnten Festes bekommt Anders einen Zettel zugesteckt, der angeblich von Sanne, einer ihm durchaus wohlgesinnten Person ist. Sie bittet ihn um ein Gespräch auf der Brücke, was sich jedoch als Falle entpuppt: »Sie stehen um ihn herum. Er ist umzingelt. Vor ihm jetzt Robert, rechts Azad, links dessen Kumpel, betrunken, mit Kampflust und Wut in der Stimme. Jeder von ihnen hat Ärger.
14 Dobra, Nicolas: Identität und Alterität. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007, S. 12. 15 Baier, Inter_Körper_Text. 2017, S. 264.
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Jeder hat Grund, ihn zu ärgern.« (LA, 152) Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen Anders und der Gruppe der Jungen, die ihn in die Enge treibt. Er hat keine Chance, zu fliehen, zieht sich hoch auf das Geländer und steht über dem Fluss balancierend (vgl. LA, 152). Robert zerrt an Anders’ Baggys, seine Boxershorts reißen und plötzlich steht er nackt da, nur noch in T-Shirt und Schuhen. Er zuckt heftig zusammen und stürzt, denn Niklas, einer der MitschülerInnen, wirft mit einer Schleuder einen Stein in seine Richtung. Zwar wird Anders nach dem Sturz wieder gesund und verlässt mit seiner Familie die Stadt, seine »Geheimnisse […] [a]us grauer Vergangenheit« (LA, 102) scheinen ihn aber eingeholt gehabt zu haben und so schließt sich der Kreis, erneut muss er nach dem, was passiert ist, umziehen. Eine Erklärung dafür, warum es dazu gekommen ist, führt die Figur selbst vor: »Ich bin ein Junge, rein vom Gefühl her. Aber ich weiß eben auch, wie man sich als Mädchen fühlt. Vielleicht fühle ich mich manchmal sogar ein bisschen so! Nur geht das nicht. Also, für die Leute geht das nicht, für die darf man nicht beides sein.« (LA, 127)
Das nicht naher bestimmbare Irritationspotential, das der Figur anscheinend innewohnt, führt zur Entstehung ambivalenter Gefühle Anders gegenüber, Bewunderung mischt sich mit Neid oder Eifersucht zusammen. Er polarisiert, entweder man liebt oder man hasst ihn. Bei den Mädchen ist er beliebt, bei den Jungen (vor allem bei Robert) kommt er nicht gut an. Zwei Fragen bleiben jedoch offen, müsste es dazu kommen und wer trägt die Verantwortung für das, was geschehen ist, auf die zweite liefert die Figur des Textes – Signe, die Schwester von Anders – eine Antwort: »Wissen Sie, es ist mir fast egal, ob sie ihn nur geschubst haben oder nicht, Sie haben auf jeden Fall Schuld. Alle, die da standen. Sie haben Schuld, dass Anders am Ende gefallen ist. Und er hatte ihnen verdammt noch mal, wirklich nichts getan! Er war einfach nur anders.« (LA, 8)
Anders scheint die bisherige Gruppendynamik oder besser gesagt Gruppenhierarchie ins Wanken gebracht zu haben. Bisher war es Robert, der das Sagen in der Klasse hatte und so mobben er und seine Anhänger Anders, um herauszufinden, welches Geheimnis er verbirgt. Aus den wenigen Einzelinformationen gelingt es Robert letztendlich, ein Ganzes zu basteln, was er der Gruppe nicht vorenthalten möchte. »Mann, kapiert’s ihr nicht oder was? Ich wette, der ist eine Tussi. Der hat gar keinen Schwanz« (LA, 120), offenbart er der Gruppe. Die Tatsache, dass der neue Mitschüler anders ist, bringt die Gefühle der Jugendlichen zum Überkochen. Er stellt die gängigen Vorstellungen, was die Geschlechter ausmacht in Frage und entzieht sich der Kategorisierung, was die Gruppe verunsichert und mit individuellen (Identitäts)Ängsten konfrontiert. »[…] Fessel legt den Finger immer auf die besonders tiefen Wunden. Ihr Anliegen ist
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grundsätzlich Fairness und unumschränkte Anerkennung des Anderen als gleichberechtigt«.16 Doch die Schuldfrage lässt sie den Leser selbst austragen. Der zweite Roman – »Weil ich so bin« (2016) von Christine Fehér – auf den im Rahmen dieses Beitrags eingegangen werden soll, ist ebenfalls in dem SchülerMilieu angesiedelt, die Hauptfigur Jona kommt mit beiden Geschlechtsmerkmalen zur Welt, was wie folgt beschrieben wird: »Erst mal: Herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihres Babys«, sagte er und gab beiden die Hand. »Wir haben es untersucht, es ist 53 Zentimeter groß und wiegt 3260 Gramm. Herzschlag, Atmung und alle Reflexe sind top. Dennoch gibt es etwas, worüber wir mit Ihnen sprechen müssen.« […] »Es geht um das Geschlechtsorgan«, sagte der Arzt. »Das Ihres Kindes sieht ein klein wenig ungewöhnlich aus.«17
Die Eltern werden von einem Arzt in Kenntnis gesetzt, ihr Kind habe PAIS (Partielle Androgeninsensibilität), was vereinfacht erklärt bedeute, seine Geschlechtsorgane sähen weiblich aus, würden aber männliche Hormone entwickeln. Der Mediziner fügt noch hinzu, »[w]enn ihr Kind in die Pubertät kommt, werden sie vermutlich auch männlich aussehen.« (WB, 10) Da das Baby »ein Mädchen und ein Junge und weder noch« (WB, 12) ist, wird es Jona genannt, da es »nicht nach hartem Kerl und nicht nach Püppchen« (WB, 12) klingt. Obwohl sich Jonas Körper eher männlich entwickelt, trägt er gerne Mädchenkleidung und Make-Up, was zu Auseinandersetzungen sowie Diskriminierung seitens seines Umfelds führt. Im Falle dieses Buches wird von Anfang an klar, es handelt sich um einen intersexuellen Protagonisten,18 der spielerisch mit den Geschlechtern umgeht als würde er seine Intersexualität wortwörtlich als Zwischengeschlechtlichkeit auffassen, was Aussagen wie »Heute Abend bin ich Joana, nicht Jona. Was morgen ist, entscheide ich dann«, untermauern (WB, 18). Die Eltern haben sich nach Jonas Geburt – trotz ärztlicher Ratschläge – gegen eine geschlechtsangleichende Operation entschieden, um dem Kind die Entscheidungsfreiheit nicht wegzunehmen, was als eine kritische Stimme in der Debatte über medizinische Normierungen gelesen werden kann. Als er aber in die Pubertät kommt, rät ihm sein Vater jedoch, sich lieber als Junge zu geben. Jona versteht allerdings nicht, wozu diese Klarheit benötigt wird und meint: »Aber ich fühle mich eben immer noch als beides. Mal wie ein Junge, mal wie ein Mädchen. Joana statt Jona, Jona statt Joana. So bin ich eben. Warum soll ich mich verstellen?« (WB, 25), was als ein literarischer Rekurs auf die performative Theorie 16 [o. V.]: Die Macht des Gewohnten. (Zugriff am 25. 01. 2020). 17 Fehér, Christine: Weil ich so bin. Hamburg: Carlsen Verlag 2016, S. 9f. In der Folge mit der Sigle WB und mit einfacher Seitenzahl zitiert. 18 Einfachheitshalber wird in dem Artikel das verwendete Personalpronomen, an das momentan empfundene Geschlecht der Figuren angepasst.
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des Geschlechts von Judith Butler gelesen werden kann. Demnach sei das Geschlecht nicht das, was man habe, sondern etwas, das man tue. Die Weiblichkeit/ Männlichkeit wird – so Butler – durch Kleidung, Gesten sowie performative Akte generiert.19 Sein Verhalten lässt sich nicht geschlechtsspezifisch klassifizieren, der fließende Übergang zwischen den Geschlechtern erzeugt Irritation, denn »[a]nders sein ist das eine«, […] sich deswegen dauernd zur Schau stellen ist was anderes« (WB, 21), meint einer der Lehrer, der wie alle anderen Lehrkräfte an der Schule über Jonas Geschlechtsstatus Bescheid weiß. Seine Freundin Mia erweist sich als deutlich offener und meint: »Jona ist eben, wie er ist. Wäre doch langweilig, wenn alle Menschen gleich wären.« (WB, 21) An den Figuren Jona und Anders wird die Wechselbeziehung zwischen dem individuellen Körper und der sozialen Gemeinschaft exemplifiziert. Aus dieser ergibt sich, »[d]er Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine gewisse Gesellschaftsauffassung manifest.«20 Jona versinnbildlicht, die geschlechtliche Identität ist kein stabiler Zustand, er kann sich in gewisser Hinsicht mit beiden Geschlechtern identifizieren und wechselt auch gerne zwischen den beiden. Fessels Figur überschreitet die Grenze, zwischen Mädchen-/Jungesein bzw. zwischen dem Sich-als-Mädchen/Junge-Geben, wodurch auf die Performativität der geschlechtlichen Identität hingewiesen wird. Ihm gefällt es, vor allem in letzter Zeit, als Joana, d. h. im Erscheinungsbild eines Mädchens, aufzutreten. Gegen die Prämisse, Kleidung repräsentiere soziale Unterschiede wie u. a. Geschlecht und müsse somit als Spiegel der sozialen Ordnung aufgefasst werden, lehnt sich Jona auf.21 Denn Kleidung sei zwar ein performativer Akt im Rahmen des Zweigeschlechtlichkeitssystems und zwinge Geschlechterrollen auf, biete jedoch auch die Möglichkeit zur Grenzüberschreitung der Kategorie Ge-
19 Vgl. Liebrand, Claudia: Maskerade. In: Metzler Lexikon. Gender Studies. Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Renate Knoll. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler 2002, S. 255–256, hier S. 256. Siehe dazu auch: Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2014. 20 Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Aus dem Englischen von Eberhard Bubser. Frankfurt/ M.: Fischer Verlag 1993, S. 99. 21 »Dress as a cultural phenomen has several essential attributes. First, a person’s identity is defined geographically and historically, and the individual is linked to a specific community. Dress serves as a sign that the individual belongs to a certain group, but simultaneously differentiates the same individual from all others: it includes and excludes. […] Dress is a symbol of economic position.« Barnes, Ruth; Eicher, Joanne B.: Dress and Gender: Making and Meaning. Oxford: Berg Publishers 1992, S. 1–7, hier S. 1.
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schlecht, so Cordula Bachmann.22 Überdies zeigt sich die symbolische Geschlechtsordnung auf der Ebene des individuellen Körpers. Innerhalb eines binären Geschlechtersystems, das als naturgegeben vorausgesetzt wird, scheint die Sichtbarmachung marginalisierter Gruppen nicht nur ein ernstes Anliegen sowie ein politisches Ziel, ebenfalls wie die Kritik an stereotypisierenden Repräsentationen von Intersexen in alltagskulturellen Medienbildern zu sein.23 Der Berliner Autorin, die evangelische Religion an diversen Schulen unterrichtet, ist die Lebensnähe der behandelnden Themen wichtig. Einen Namen hat sie sich vor allem als »Autorin authentischer Themenbücher« gemacht.24 Neben der Intersexualität wird ebenfalls das für einen Teenager durchaus brisante Thema der sexuellen Orientierung angesprochen. Zwar wird ihm nicht viel Raum geschenkt, doch die Hauptfigur scheint sich mit diesem intensiv auseinanderzusetzen. Entgegen der Vermutung des Vaters sind es nicht die taxierenden Blicke seiner Mitmenschen, denen Jona zweifelsohne ausgesetzt ist, die er aber gelernt hat, wegzustecken, das Problem stellt seine sexuelle Orientierung dar. Denn Jona kann die Frage, zu welchem der beiden Geschlechter er sich hingezogen fühlt, nicht eindeutig beantworten. Das einfühlsame Vater-Kind-Gespräch verleiht dem Text einen kritischen Impetus und richtet sich gegen die Naturalisierung der heterosexuellen Norm sowie gegen das Prinzip der heterosexuellen Matrix. Die anfängliche Unsicherheit bezüglich der sexuellen Identität verfliegt als sich Jona in Leon verliebt, was ihm den Weg ebnet, sich seiner Orientierung bewusst zu werden. Er selbst äußert sich dazu: »Die Mädels wollen einen wie mich nicht als Freund, aber ich will sie auch nicht. Mädchen sind für mich Kumpels, Schwestern, so wie Mia. Kribbeln im Bauch spüre ich, wenn ich an Jungs denke. Das weiß ich jetzt. Wegen Leon.« (WB, 51)
Die Autorin berührt ein für die Heranwachsenden relevantes Thema der sexuellen Orientierung und es ist nicht nur Jona, der sich mit seiner sexuellen Identität auseinandersetzt, sondern auch seine Freundin Samka. Ferner wagt sie, ein gravierendes und doch nicht gänzlich enttabuisiertes Thema der Intersexualität aufzugreifen und verweist somit darauf, wie wichtig die Aufklärungsarbeit immer noch ist, denn die Unwissenheit zieht Anfeindungen bzw. Angriffe mit sich. Deutlich komplexer und mehrdimensionaler geht mit der Thematik der Geschlechtsidentität die in Düsseldorf geborene und heute in Wien lebende Autorin 22 Bachmann, Cordula: Kleidung und Geschlecht. Ethnographische Erkundungen einer Alltragspraxis. Bielefeld; transcript Verlag 2008, S. 38. 23 Vgl. Handbuch Medienwissenschaft. Hrsg. von Jens Schröter unter Mitarbeit von Simon Rauschmeyer/Elisabeth Walke. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2014, S. 532. 24 Über Christine Fehér. (Zugriff am 1. 02. 2020).
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Lilly Axster in ihrem Roman »Atalan_ta Läuferin« (2014) um. Bereits 2004 geht dem Roman das Stück »Atalanta Läuferin« voran, das am Theaterhaus Frankfurt uraufgeführt wurde. 1991 gründete Axster gemeinsam mit Corinne Eckenstein das Theater FOXFIRE, das darauf abzielt, »sich dem, was sich zur Norm setzt oder mehrheitsgesellschaftlich zur Norm gesetzt wird, gegenüber stellen; dem etwas entgegen setzen; umschreiben; neu erfinden; queere Charaktere, Beziehungen, Verortungen ins Zentrum rücken«,25 was ebenfalls programmatisch für die Texte der Autorin zu sein vermag. Nicht anders ist es im Falle des 2014 erschienenen Romans, für den sie 2016 mit dem Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Wien ausgezeichnet wurde. Die Hauptfigur des Romans, die titelgebende Atalanta alias Lan, spielt mit ihrer Geschlechtsidentität und wechselt diese mehrmals im Laufe ihres Lebens, doch als sie im 100-Meter-Lauf der Männer den ersten Platz erzielt und den Weltrekordhalter auf den zweiten Platz verweist, wird ihr fließender Umgang mit der Geschlechtlichkeit zu einem ernsthaften Problem. Während einer Ehrenrunde durch das Stadion, fällt Lan ein Tampon aus der Jackentasche, welches von dem Nebenbuhler (Miles) aufgehoben wird. Das Erstaunen sitzt tief, nicht nur über das Besiegtwerden, sondern vor allem über die Tatsache, dass derjenige, der dies geschafft hat, kein Läufer, sondern eine Läuferin ist. Indem Miles Lan »in einer spontanen Umarmung mit der linken Hand auf die Brust und mit der rechten zwischen die Beine«26 greift, gibt er ihm zu verstehen, er habe ihn durchschaut. Die einzige Abwehrreaktion, die die Figur kennt, ist Weglaufen, was sie schon in ihrer Kindheit getan hat, als sie noch Ata hieß und Tochter sich stets streitender Eltern war und schließlich als sie »in der zehnten Geburtstagsnacht von der MS Galaxie weggelaufen war« (AL, 67). Ata wird als Kind zum Blindpassagier eines Frachtschiffes, wo sie zehn Jahre ihres Lebens verbringt und in Ovid und Ilia liebevolle Ersatzeltern findet. Danach flieht sie erneut, diesmal vom Schiff aufs Festland. Dort wird sie in einem Lager für unbegleitete Flüchtlinge aufgenommen. Aufgrund der sportlichen Begabung, schickt man sie in eine Sportschule, wo sie für einen Jungen gehalten wird, dem aber auch nicht widerspricht. Ata ließ sich als Kind nicht einordnen, sie »war schon damals anders gewesen« (AL, 92), was sich ihre Eltern gegenseitig vorgeworfen haben, bis das Kind nicht mehr da war: »Sie starrten auf die Fotos und bewegten Bilder ihres Kindes. Sie konnten sich keinen Reim auf das Glied ihrer Tochter machen, aber sie wischten es weg, indem sie nicht genau hinschauten« (AL, 92). Die zentrale Figur des Textes ist eine Inkarnation der geschlechtlichen Fluidität, was zusätzlich durch die geschlechtsneutrale Namensgebung/Namenswahl betont wird. Axsters Figur ist nicht das einzige Beispiel, dies trifft ebenfalls auf 25 Über Lilly Axster. (Zugriff am 1. 02. 2020). 26 Axster, Lilly: Atalan_ta Läuferin. Roman. Wien: zaglossus 2014, S. 6. In der Folge mit der Sigle AL und mit einfacher Seitenzahl zitiert.
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die anderen ProtaginistInnen der anvisierten Romane zu. Geboren wird Ata als Mädchen (obwohl ihr Körper doppelgeschlechtliche Merkmale aufweist) und wächst bis zur Pubertät als eines auf, dann nimmt sie die männliche Geschlechtsidentität an, was auf den außerliterarischen Diskurs über die Unabgeschlossenheit des Prozesses der geschlechtlichen Identitätsbildung rekurriert. Bereits in ihren Kinderjahren beginnt Ata – auch Kleiner Kapitän genannt – mit ihrer Geschlechtsidentität zu spielen, sie freut sich über ihren neuen burschikosen Kleidungsstil. Die Kompliziertheit der Kleiderwahl für Ata erkennen auch Ovid und Ilia: »Kleidung für Ata ist überhaupt ein heikler Punkt im neu sortierten Haushalt. Mode für Mädchen, Mode für Jungen, endloses anprobieren. Wenn sie nicht Ingenieur und Koch wären, würden die Väter Kindermode kreieren, unisex, ohne Wenn und Aber.« (AL, 44)
In der sog. Containerstadt stellt sie sich den Kindern als Atalanta vor, da die mythologische Figur aus Ovids Erzählung, die sie von einem ihrer Wahlväter – dessen Name auch davon kommt – vorgelesen bekommen hat, sie schon immer faszinierte. Das unerschrockene Mädchen Atalanta wird laut Ovids Überlieferungen von ihrem Vater Iasos im Wald ausgesetzt, da sie nicht so ist wie er sich das Kind vorgestellt hat (AL, 26). Eine gewisse Ähnlichkeit zu der Figur des Romans liegt auf der Hand, denn auch Ata/Lan/Atalan_ta kann es den Menschen nicht recht machen. Ferner steckt der Name Ata wie auch Lan in Atalanta drin und beide sind von dem »Rausch der Geschwindigkeit« (AL, 27) fasziniert, denn auch die mythologische Atalanta läuft schneller als alle, die gegen sie antreten. In der Containerstadt wird sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Frage, ob sie ein Mädchen oder ein Junge sei, konfrontiert. Mit der Gründung einer KinderBande namens SEHR, deren Postulat »Mein Ich und unser Wir wollen und sind nicht SIE, nicht ER, sondern SEHR« (AL, 81) lautet, wird die Geschlechtsidentität persifliert und dekonstruiert. Dies wird fortgeführt als die Kinder auf die Idee kommen, aus Kleidungsstücken Geschlechtsteile zu basteln und sich mit diesen zu verkleiden, wodurch zum einen die Wandelbarkeit des Geschlechts, zum anderen die positive kindliche Ignoranz, was den Umgang mit Normvorstellungen anbelangt, illustriert wird: »Schließlich werden Penisse mit gepunkteten Streifen eingebunden oder neu kreiert durch gerollte Attrappen, die in die Unterhose gesteckt werden. […] Immer mehr Kombinationen entstehen, Kitzler aus Knöpfen und dem Bommel einer Mütze, Hoden aus BH-Körbchen. » (AL, 81)
Dadurch, dass sie mithilfe der gebastelten Geschlechtsteile diverse Kombinationen durchspielen, hinterfragen sie den biologisch bedingten Mann-FrauDualismus. Für die Kinder scheint weder das biologische noch das soziale Ge-
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schlecht relevant zu sein, sie schaffen einen Sammelbegriff, der keine Exklusion zulässt. Die Annahme einer neuen Identität ist eng an eine erneute Namenänderung gekoppelt, was auf einen Zufall zurückgeführt werden kann. Nach ihrer Ankunft auf dem Eiland begräbt sich Atalanta selbst und somit auch ihr bisheriges Leben im Sand. Daneben schreibt sie ihren Namen, einige Zeit später entdeckt sie, dass aus den Buchstaben nur noch L, A und N zu sehen sind. Auf diese Art und Weise wird aus dem Mädchen Ata/Atalanta Lan, der Junge und Sportler, der seine frühere Identität verschweigt. »Mithilfe der ehemaligen Schwimmlehrerin des eiländischen Sportinternats […] findet Lan in ein neues Leben hinein und probiert das ER an wie die Unterhosen und wie die neue Trainingsjacke, die er im Sportinternat, in das er aufgenommen wird, ausgehändigt bekommt« (AL, 110),
so im Roman. Die männliche Identität beginnt aber dann ihre Daseinsberechtigung zu verlieren, als Miles das auf dem Boden liegende Tampon bemerkt und dadurch hinter Lans Geheimnis kommt. Auf der Flucht kehrt Lan zurück zu dem weiblichen Erscheinungsbild, da er dadurch unerkannt bleibt. Es kann aber auch davon ausgegangen werden, dass der Vorfall als eine Zäsur hinsichtlich der Suche nach einer wahren Geschlechtsidentität gedeutet werden kann. Bis zum Ende des Romans bleibt der Prozess jedoch nicht abgeschlossen, was während des inoffiziellen Laufs durch die Stadt zwischen Miles und Lan sichtbar wird. Zwar wird die Figur weiterhin mit ihrem männlichen Namen Lan vorgestellt, sie tritt jedoch in Frauenkleidung auf. Die wechselnden Geschlechtsidentitäten können allerdings Verwirrung stiften, was sich in Miles Gedanken widerspiegelt: »Der Gedanke, der neue Gedanke, sich womöglich als Mann zu einem Mann hingezogen zu fühlen, löste nichts Besonderes in Miles aus, es war naheliegend, möglich. Verbunden sein. Vielleicht war das der fehlende Teil zu einer Verbindung. Zu einem anderen Menschen. Miles schwirrte der Kopf. Die beiden schnellsten Menschen der Welt, Lan, Miles. Ein Mann, der eine Frau war, und ein Hetero, der ein Homo war. Und wenn ich aber nicht schwul bin, dachte Miles, wenn ich sie will. Weil Lan eine Läuferin ist. Bin ich dann neutral. Ihm gingen die Begriffe aus und damit weitere Vorstellungen von sich selbst.« (AL, 123)
Zwar wird die potentielle Homosexualität der Figur nicht pejorativ konnotiert, was ebenfalls auf die homosexuelle Beziehung von Ilia und Ovid zutrifft, doch Lans fließendes Dasein zwischen den Geschlechtern löst eine Art Missbehagen aus, was darauf verweisen könnte, dass das Sichfestlegen, vor allem, wenn es kontinuierlich und ohne fremdes Dazutun vollzogen wird, gar nicht verkehrt sein muss. Bei allen drei Figuren handelt es sich um Jugendliche, von denen keiner wie der andere ist. Alle werden aber mehr oder weniger auf ihre Physiognomie re-
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duziert. Zwar richten sich alle drei hier analysierten Texte gegen das nach wie vor wirkungsmächtige Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit sowie gegen die nicht selten als »Norm« aufgefasste Heteronormativität, doch im Falle von »Liebe macht Anders« von Karen-Susan Fessel und »Weil ich so bin« von Christine Fehér wird der Fokus vordergründig auf Intersexualität, die Ausschlussmechanismen generiert, gerichtet. Der von vielen als deviant empfundene Körper scheint eine Projektionsfläche zu sein, auf der gesellschaftliche Machtstrukturen abgebildet werden. Ferner wird er in den Romanen dazu funktionalisiert, den von der Gesellschaft auferlegten Zwang der eindeutigen Geschlechtsattribution zu hinterfragen. Lilly Axsters Text geht die Thematik der Geschlechtsidentität dagegen nahezu utopisch an, da er dem Körper keine Zuschreibung abverlangt, dieser muss – im Gegensatz zu den anderen Texten – keine Normen inkorporieren. Die zu Beginn des Artikels aufgeworfene Frage, ob der gegenwärtigen Jugendliteratur das Potential, in die gesellschaftlichen Normen zu intervenieren, innewohnt, kann durchaus bejaht werden. Zwar wird davon ausgegangen, in der Jugendphase lasse sich genereller ein Trend zur Entpolarisierung bzw. Angleichung der Geschlechterrollen sowie zur Aufweichung der Geschlechtsrollenstereotypien festhalten. Die Diskrepanz zwischen den medial durchgesetzten und inszenierten Geschlechtsvorstellungen und der Konformität in vielen jugendlichen Milieus scheint nach wie vor groß zu sein.27 Umso wichtiger ist es, Jugendliche mit der Thematik der Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit zu konfrontieren, um Separierungen und Diskriminierungen diesbezüglich aufzuheben. Jede von den drei analysierten literarischen Produktionen setzt sich dezidiert gegen Diffamierung, Stigmatisierung und für Anerkennung ein, wodurch sie ein Stück Erziehungsarbeit leistet. Indem sich die Jugendliteratur mit eminenten gesellschaftlichen und politischen Themen auseinandersetzt, wird sie zum aktivistischen Werkzeug, das Sichtbarkeit verschafft, für Marginalisierung sensibilisiert und ein (Zusammen)Leben ohne Repressalien postuliert.
Primärliteratur Axster, Lilly: Atalan_ta Läuferin. Roman. Wien: zaglossus 2014. Fehér, Christine: Weil ich so bin. Hamburg: Carlsen Verlag 2016. Fessel, Karen-Susan: Liebe macht Anders. Thriller. Stuttgart: Kosmos 2013.
27 Ferchhoff, Wilfried: Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 348 u. 351.
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Sekundärliteratur [o. V.]: Die Macht des Gewohnten. (Zugriff am 25. 01. 2020). Baar, Elisabeth: Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentita¨ t jenseits der Heteronormativita¨t als Thema aktueller Jugendliteratur. Wien 2016. (Diplomarbeit, vorgelegt an der Universität Wien). (Zugriff am 1. 02. 2020). Bachmann, Cordula: Kleidung und Geschlecht. Ethnographische Erkundungen einer Alltagspraxis. Bielefeld; transcript Verlag 2008. Baier, Angelika: Inter_Körper_Text. Erzählweisen von Intergeschlechtlichkeit in deutschsprachiger Literatur. Wien: zaglossus 2017. Barnes, Ruth/Eicher, Joanne B.: Dress and Gender: Making and Meaning. Oxford: Berg Publishers 1992. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2014. Dethloff, Cyrus: Jungenpaare, Ma¨ dchenpaare. Der humanwissenschaftliche Diskurs um die »Homosexualita¨ t« und seinen Einfluss auf ihre Darstellung im erza¨ hlenden Kinderund Jugendbuch. Paderborn: Igel Verlag Wissenschaft 1995. Dobra, Nicolas: Identität und Alterität. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007. Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Übers. aus dem Englischen von Eberhard Bubser. Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1993. Ferchhoff, Wilfried: Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007. Fröhling, Ulla: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabureich. Berlin: Ch. Links Verlag 2003. Handbuch Medienwissenschaft. Hrsg. von Jens Schröter unter Mitarbeit von Simon Rauschmeyer/Elisabeth Walke. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2014, S. 532. Hartmann, Jutta: Vielfa¨ ltige Lebensweisen. Dynamisierungen in der Triade Geschlecht – Sexualita¨t – Lebensform. Kritisch-dekonstruktive Perspektiven fu¨ r die Pa¨ dagogik. Opladen: Leske + Budrich 2002. Liebrand, Claudia: Maskerade. In: Metzler Lexikon. Gender Studies. Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Renate Knoll. Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler 2002, S. 255–256. Quindeau, Ilka: Vorwort. In: Die Schönheit des Geschlechts. Intersex im Dialog. Hrsg. von Katinka Schweizer/Fabian Vogler. Frankfurt /Main/New York: Campus 2018, S. 11–13. Über Christine Fehér. (Zugriff am 1. 02. 2020). Über Lilly Axster. (Zugriff am 1. 02. 2020).
Katarzyna Lukas (Gdan´sk)
Trauma und Migrationserfahrung in Julya Rabinowichs »Spaltkopf« (2008) und Natascha Wodins »Sie kam aus Mariupol« (2017) aus gesellschaftskritischer Perspektive
Abstract: Der Beitrag behandelt Texte zweier Autorinnen, die der postmigrantischen Literatur zugerechnet werden. Natascha Wodin (geb. 1945), Tochter verschleppter sowjetischer Zwangsarbeiter, wuchs in deutschen Lagern für Displaced Persons auf. Juliya Rabinowich (geb. 1970) stammt aus einer russischen Künstlerfamilie jüdischer Abstammung und wanderte als Kind mit ihren Eltern nach Wien aus. In den beiden autobiographisch inspirierten Erzähltexten: Rabinowichs »Spaltkopf« und Wodins »Sie kam aus Mariupol« begeben sich die Ich-Erzählerinnen auf die Spurensuche nach der traumatischen, aus politischen Gründen verschwiegenen Vergangenheit ihrer Familien zurück. In den Vordergrund rücken dabei Geschichten, die in der deutschsprachigen Literatur bzw. Erinnerungskultur bisher kaum thematisiert wurden: die Zwangsarbeit von Ostarbeitern im Dritten Reich und die Übersiedlung verfolgter jüdischer Sowjetbürger nach Österreich in den 1970er Jahren. Das Postmigrantische dieser Prosa besteht zum einen in einer ausgeprägten Sensibilität dafür, dass Schicksale von Einwanderern und deren Nachkommen auf latenten historischen Traumata bzw. familiären Phantomen aufbauen, zum anderen – in einer impliziten Gesellschaftskritik. Kritisiert wird das mangelnde Interesse der aufnehmenden Gesellschaft für das traumatische Erbe der Immigranten. Die Kritik gilt aber auch der unzureichenden Bereitschaft, diese Traumata in den Migrantenfamilien selbst zu bewältigen. Um ihr Unbehagen an der Erinnerungskultur auszudrücken, entwerfen Rabinowich und Wodin jeweils ein eigenes Bild von Entwurzelung, Ich-Spaltung und nur teilweise gelungener Assimilation von Menschen, die verbrecherischen politischen Systemen zum Opfer fielen.
1.
Vorbemerkung: postmigrantische Literatur
Die 1945 im bayrischen Fürth geborene Natascha Wodin ist ebenso wie die 1970 in Leningrad geborene Julya Rabinowich mit Russisch als Muttersprache und mit einem osteuropäischen Familienhintergrund aufgewachsen. Obwohl die Autorinnen zwei unterschiedliche Generationen vertreten, gehören sie beide zu den »Schriftstellerinnen und Schriftstellern [der] Gegenwartsliteratur, deren Muttersprache nicht oder nicht nur deutsch ist« und die in eines der deutschspra-
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chigen Länder eingewandert, »oder Kinder bzw. Enkel von Immigranten«1 sind. Literarische Texte von Autoren, die »als Sprachwechsler in deutscher Sprache schreiben«,2 nehmen heute im deutschsprachigen literarischen Polysystem einen festen Platz ein und rücken seit dem cultural turn der 1980er Jahre verstärkt in den Fokus der Literaturforschung. Dort wurden sie zunächst unter der Bezeichnung Migranten- bzw. Migrationsliteratur subsumiert, die in den 1990er Jahren durch interkulturelle und neuerdings transkulturelle Literatur abgelöst wurde.3 Gemeinsam für ihre Verfasser ist die Erfahrung von Migration in den deutschsprachigen Raum.4 Meist wird die Einwanderung selbst erlebt, wie im Fall von Julya Rabinowich. Die Wiener Schriftstellerin, Theaterautorin, Malerin und Dolmetscherin wurde in einer russischen Künstlerfamilie jüdischer Abstammung geboren und übersiedelte als Siebenjährige mit ihren Eltern nach Wien – ein Ereignis, das sie in ihrem autobiografisch inspirierten Debütroman »Spaltkopf« (2008) literarisch verarbeitet. Die Erfahrung von Migration kann aber auch auf die Eltern zurückgehen, wie das Beispiel der Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Russischen Natascha Wodin belegt. Wodin, Tochter verschleppter ukrainisch-russischer Zwangsarbeiter, kam bereits in Deutschland zur Welt und wuchs in Lagern für Displaced Persons auf. Ihr selbst blieb die Auswanderung zwar erspart, aber das Trauma der Flucht und Deportation, das ihre Eltern erlebt hatten, schlägt sich in Wodins autobiografisch gefärbter Prosa nieder.5 Besonders 1 Schmitz, Helmut: Einleitung: Von der nationalen zur internationalen Literatur. In: Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Hrsg. von Helmut Schmitz. Amsterdam/New York, NY: Rodopi 2009, S. 7–15, hier: S. 7. 2 Blum-Barth, Natalia: Deutsch-russische Literatur nach dem Mauerfall. Versuch einer Bestandsaufnahme, (Zugriff am 25. 11. 2019). 3 Zur Begriffsentwicklung vgl. Schmitz, Einleitung. 2009. Einen guten Überblick über den Wandel der Einstellung der (germanistischen) Literaturwissenschaft zum Phänomen der interkulturellen deutschsprachigen Literatur bietet Esselborn, Karl: Neue Zugänge zur inter/ transkulturellen deutschsprachigen Literatur. In: Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Hrsg. von Helmut Schmitz. Amsterdam/New York, NY: Rodopi 2009, S. 43–58. 4 Thore, Petra: ›wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt‹. Die Identitätsbalance in der Fremde in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrantenliteratur. Uppsala: Univ.-Verlag 2004, S. 39. 5 Natascha Wodin und Julya Rabinowich reflektieren somit die Erfahrung der Kinder zweier verschiedener Generationen von Zuwanderern aus (Sowjet-)Russland, die im 20. Jahrhundert in die deutschsprachigen Länder kamen. Weertje Willms erwähnt vier solche Migrationswellen: Die erste war die Folge der Oktoberrevolution 1917. Die zweite umfasste die ehemaligen Ostarbeiter, die nach 1945 in Deutschland blieben. Die dritte Welle begann in den 1960er Jahren und hatte ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren; dazu gehörten die Eltern von Julya Rabinowich. Die vierte und letzte Welle wurde nach 1990 durch das Verschwinden des Eisernen Vorhangs ausgelöst. (Vgl. Willms, Weertje: ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett‹. Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und
Trauma und Migrationserfahrung in Julya Rabinowichs »Spaltkopf« (2008)
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deutlich kommt diese sekundäre Erfahrung in ihrem fiktional-dokumentarischen Erzähltext »Sie kam aus Mariupol« (2017) zum Ausdruck. Der Titel bezieht sich auf die Mutter der Autorin, deren erschütterndes Schicksal als Ostarbeiterin im Dritten Reich Natascha Wodin rekonstruiert. Sie zeichnet den Weg einer jungen Ukrainerin, die an den psychischen Folgen der Zwangsarbeit zerbricht und nach Jahren Selbstmord begeht. Wodin versucht zu begreifen, wie sich das Trauma des Arbeitslagers sowie die anschließende kulturelle Entwurzelung und soziale Ausgrenzung im Nachkriegsdeutschland zunächst auf die Psyche der Mutter und dann auf den Lebensweg ihrer Tochter auswirkten. Die bei Wodin und bei Rabinowich gleichermaßen vorhandene Reflexion über die Nachträglichkeit migrationsbedingter Traumata ist der Grund, warum mir die Bezeichnung postmigrantische Literatur, die ich hier in Anlehnung an Erol Yildiz und Marc Hill verwende,6 als überzeugende Alternative zur Migrantenoder zur interkulturellen Literatur erscheint. Das Präfix post- legt, ähnlich wie im Adjektiv postkolonial, eine Perspektivverschiebung nahe: Nicht die Migration selbst rückt in den Vordergrund. Es geht vielmehr um ihre kulturellen, gesellschaftlichen und individualpsychischen Folgen. Autoren von postmigrantischen Werken stellen die Frage, wie sich Individuen und Kollektive (Familien, Einwanderergruppen gemeinsamer Herkunft und nicht zuletzt auch die Ankunftsgesellschaft) nach der Migration und infolge der Migration verändern. Das Postmigrantische betont »das Moment der Auseinandersetzung mit dem, was vergangen ist und dennoch nicht ganz der Vergangenheit angehört«.7 Bei Wodin, Rabinowich und mehreren anderen auf Deutsch schreibenden Schriftstellern mit sprachlich-kultureller Mehrfachzugehörigkeit geht das Postmigrantische im Sinne einer unbewältigten Vergangenheit auf ein verschwiegenes Familiengeheimnis zurück, das transgenerationell nachwirkt.8 Beide Autorinnen entwerfen ein jeweils eigenes Bild von Migrantenkindern, deren Entwurzelung, Ich-Spaltung und nur teilweise gelungene soziale Integration erst aus der traumatischen Vorgeschichte der (Groß-)Eltern heraus verstehbar sind. Dies tun sie mit sehr ihrer Nachfahren. In: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Michaela Holdenried/Weertje Willms. Bielefeld: transcript 2012, S. 121– 141, hier: S. 122–123, Fußnote 5). 6 Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Hrsg. von Erol Yildiz/Marc Hill. Bielefeld: transcript 2014. 7 So beschreibt Dariusz Skórczewski die im Begriff Postkolonialismus implizierte Verschiebung der Forschungsperspektive, vgl. Skórczewski, Dariusz: Wokół eurocentryzmu, dekolonizacji i postmodernizmu. O niektórych problemach teorii postkolonialnej i jej polskich perspektywach. In: Teksty Drugie, 2008, 1/2, S. 33–55, hier: S. 37. 8 Zum Familiengeheimnis als häufigen Motiv dieser Literatur vgl. Willms, ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe…‹. 2012, S. 128; Blum-Barth, Deutsch-russische Literatur; Rutka, Anna: ›Der dritte Raum‹ als Aushandlungsort des postsowjetischen Traumas. Zu Migrationsromanen von Julya Rabinowich ›Spaltkopf‹ und Lena Gorelik ›Die Listensammlerin‹. In: Colloquia Germanica Stetinensia 27, 2018, S. 53–66, hier: S. 58.
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unterschiedlichen literarischen Mitteln: im dokumentarisch-sachlichen Stil, unter Einbeziehung von Familienfotos und Zeitdokumenten (Wodin), und als fantastisch-metaphorische Erzählung mit Affinitäten zum magischen Realismus (Rabinowich).9 Schließlich sind die hier besprochenen Erzähltexte von Natascha Wodin und Julya Rabinowich postmigrantisch in einem Sinne, auf den Erol Yildiz und Marc Hill hinweisen: »[…] Migranten und deren Nachkommen [haben] ihre eigenen Lebensweisen und Verortungsstrategien entwickelt und wesentlich zur Definition gesellschaftlicher Wirklichkeit beigetragen. Nach der Migration bzw. ›Postmigration‹ bedeutet in dieser Hinsicht auch, die Geschichte der Migration neu zu erzählen und das gesamte Feld radikal neu zu denken und zwar jenseits des hegemonialen Diskurses.«10
Beide Schriftstellerinnen erzählen die Geschichte der großen Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts insofern neu, als sie historische Erfahrungen zur Sprache bringen, die bisher in der deutschsprachigen Öffentlichkeit nur begrenzt Anklang fanden. Wodin pocht auf das Recht der Ostarbeiter, erinnert zu werden – einer zahlenmäßig großen Gruppe, die nach 1945 in Deutschland geblieben ist, in der Gesellschaft aber kaum wahrgenommen wurde und in die deutsche Erinnerungskultur nicht einging. Ebenso wenig gehört die Erfahrung jüdischer Sowjetbürger, die vor dem Antisemitismus und politischen Repressionen des kommunistischen Regimes nach Österreich geflüchtet sind, zum kollektiven Gedächtnis der Österreicher.11 Aufgrund der Migrationserlebnisse ihrer Angehörigen erzählen Wodin und Rabinowich die deutsche bzw. österreichische Nachkriegsgeschichte von unten, aus der Sicht der bislang unsichtbaren Gruppen. In beiden Prosatexten besteht also das Postmigrantische zum einen in einer ausgeprägten Sensibilität dafür, dass Schicksale von Einwanderern und deren Nachkommen auf latenten historischen Traumata aufbauen, zum anderen in einer impliziten Gesellschaftskritik. Kritisiert wird in erster Linie das mangelnde 9 Vgl. Schweiger, Silke: Baba Yaga, Schneewittchen und Spaltkopf: Märchenhafte und fantastische Elemente als literarische Stilmittel in Julya Rabinowichs Roman ›Spaltkopf‹. In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur 11, 2013, S. 147–163, hier: S. 160–161. 10 Yildiz, Erol/Hill, Marc: Einleitung. In: Nach der Migration. 2014, S. 9–16, hier: S. 11. 11 Rabinowich fügt sich in die Reihe von deutschsprachigen russisch-jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern ein, zu denen auch Olga Grjasnowa, Lena Gorelik, Olga Martynowa, Vladimir Vertlib, Wladimir Kaminer, Dmitrij Kapitelman, Dmitrij Belkin u. a. gehören. Diese Romanciers schreiben, so Natalia Blum-Barth, »neue, dem deutschen Leser unbekannte Themen und Ereignisse in das kollektive Gedächtnis der deutschsprachigen Literatur [ein]. Die Ereignisse, die in diesen Werken oft zum ersten Mal in deutscher Sprache artikuliert werden, sind z. B. die Leningrad-Blockade, Hungersnot und die russischen Kindertransporte im zweiten Weltkrieg, Antisemitismus und antijüdische Prozesse in der Sowjetunion […].«, vgl. Blum-Barth, Deutsch-russische Literatur.
Trauma und Migrationserfahrung in Julya Rabinowichs »Spaltkopf« (2008)
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Interesse der aufnehmenden Gesellschaft für das traumatische Erbe der Immigranten. Andererseits gilt die Kritik der unzureichenden Bereitschaft, diese Traumata in den Migrantenfamilien selbst zu bewältigen. Im vorliegenden Beitrag gehe ich dieser Kritik in Julya Rabinowichs »Spaltkopf« und Natascha Wodins »Sie kam aus Mariupol« nach und versuche aufzuzeigen, was diese Texte über die Erinnerungskultur des 21. Jahrhunderts nicht nur im deutschen Sprachraum aussagen.
2.
Julya Rabinowichs »Spaltkopf« (2008)
Die russische Migrantenfamilie, die Julya Rabinowich in ihrem Roman »Spaltkopf« schildert, besteht aus der zum Zeitpunkt der Auswanderung siebenjährigen Mischka, ihren Eltern und der Großmutter, die Mitte der 1970er Jahren aus Leningrad nach Wien übersiedeln. Die Geschichte der Familie vor und nach der Emigration wird von der Ich-Erzählerin Mischka achronologisch, in Pro- und Analepsen dargestellt. Die Protagonistin beschreibt die politischen und antisemitischen Schikanen, denen ihre Angehörigen – assimilierte jüdische Künstler – ausgesetzt sind und die der Ausreiseentscheidung zugrunde liegen. Sie schildert den Kulturschock, den die Sowjetbürger bei ihrer Ankunft im Westen erleben, sowie die anfangs geglückte Existenz der Familie, nachdem der Vater Lev als Maler in der Wiener Künstlerszene reüssiert hat. Die Erfolgsjahre enden mit dem frühen Tod des Vaters und der Identitätskrise der heranwachsenden Mischka, die gegen ihre Mutter rebelliert, sich einer Punkgruppe anschließt, in Alkohol und Drogen flüchtet. So reagiert sie nachträglich auf die kindliche Erfahrung von Verlust, Entwurzelung und Hilflosigkeit angesichts der Auswanderung, auf die sie nicht vorbereitet wurde. Um die Folgen des Migrationstraumas zu bewältigen, muss Mischka als Erwachsene mehrere Proben bestehen: ihre gescheiterte Ehe durcharbeiten, ihre eigene Tochter zur Welt bringen und schließlich in ihre russische Heimat reisen, um sich dort der Vergangenheit zu stellen. In ihren Bericht mischt sich regelmäßig die »zweite Erzählinstanz«12 ein: der für den Roman titelgebende Spaltkopf, dessen Aussagen durch Kursivdruck hervorgehoben werden. Der Spaltkopf ist ein fiktives Fabelwesen, das in vagen Andeutungen und kryptischen Metaphern das Gegenwärtige kommentiert, Mischkas Version der Ereignisse ergänzt und berichtigt, Künftiges vorausdeutet und in Rückblenden die Vergangenheit der Protagonisten aufleuchten lässt. Bevor er am Ende des Romans als Ich-Erzähler auftritt, nimmt er abwechselnd die auktoriale und die personale Erzählhaltung ein und schildert den Hergang der Ereignisse aus der Sicht der einzelnen Familienmitglieder. 12 Rutka, ›Der dritte Raum‹ als Aushandlungsort des postsowjetischen Traumas. 2018, S. 61.
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Kulturschock und Trauma in der Migration
Julya Rabinowich thematisiert eine Vielfalt von Migrantenerfahrungen: den schmerzvollen Abschied von den Zurückbleibenden, Heimweh, Sprach- und Integrationsprobleme, die Konfrontation mit den im Zielland geltenden ethnisch-kulturellen Klischees.13 Typisch für Zuwanderer aus dem Ostblock der 1970er Jahre sind die Schwierigkeiten, sich auf das Wertesystem und die Lebensweise der westlichen Konsumgesellschaft umzustellen.14 Diese Erfahrungen haben den Charakter eines Kulturschocks, manche sind sogar traumatisierend. Nach Barbara Chettle ist ein von Flüchtlingen erlebter Kulturschock an sich noch kein Trauma (im Sinne einer schmerzhaften, existenzbedrohenden Situation äußerster Ohnmacht15), er weist aber gewisse Parallelen mit diesem auf 16 und kann daher »exacerbate pre-existing trauma«.17 Mischkas Vater und Großmutter Ada bringen solche Traumata aus der Heimat mit: Ada war als Kind Zeugin der Ermordung ihres Vaters – eine verdrängte Erinnerung, die ihr ganzes Leben überschattet. Bei Lev führen die wiederholten Anwerbungsversuche des sowjetischen Geheimdienstes, die er unter Lebensgefahr abwehrt, zum Nervenzusammenbruch; psychisch bereits in der Heimat geschwächt, verfällt er nach der Ausreise in Depression. Auch Mischka empfindet das Gefühl äußerster Ohnmacht angesichts der über ihren Kopf hinweg getroffenen Entscheidung der Erwachsenen, auszuwandern, als sie im Flugzeug nach Wien begreift, dass man sie über das Reiseziel belogen hatte (vgl. JR, 10, 49). Von einem Trauma, das viele weibliche Migrantinnen erleiden, bleibt Mischkas Mutter nicht verschont, als sie in Wien ihre zweite Tochter zur Welt bringt. Das Kind ist behindert, weil die Ärzte bei der Geburt nicht rechtzeitig eingreifen: Wegen mangelnder Deutschkenntnisse kann sich Laura mit dem Personal nicht verständigen, und Großmutter Ada, die sie im Krankenhaus be13 Die Österreicher erwarten in den SU-Flüchtlingen gläubige Juden, denen koscheres Essen vorgesetzt wird, es kommen aber assimilierte Intellektuelle, die dem westlichen Stereotyp der Ostjuden nicht entsprechen. Vgl. Rabinowich, Julya: Spaltkopf. Roman. Wien: Deuticke 2011 (12008), S. 54. Weiter im Text wird auf den Roman als JR mit einfacher Seitenangabe verwiesen. 14 Mischka, die in der russischen Schule bereits auf dem besten Weg war, sich zu einer braven Sowjetbürgerin formen zu lassen, muss nun westeuropäisch umerzogen werden (JR, 10). 15 Vgl. Assmann, Aleida/Jeftic, Karolina/Wappler, Friederike: Einleitung. In: Rendezvous mit dem Realen. Die Spur des Traumas in den Künsten. Hrsg. von Aleida Assmann/Karolina Jeftic/Friederike Wappler. Bielefeld: transcript 2014, S. 9–23, hier: S. 11. 16 »The overwhelming amount of change, […] the isolation and sense of lack of control […] can be seen to parallel the destruction of ›the sustaining bonds between individual and community‹ in the same way it happens in trauma« (Chettle, Barbara: The Trauma of Culture Shock. In: The Unspeakable: Narratives of Trauma. Hrsg. von Magda Stroin´ska/Vikki Cecchetto/Kate Szymanski. Frankfurt/M.: Peter Lang 2014, S. 105–119, hier: S. 113). 17 Chettle, The Trauma of Culture Shock. 2014, S. 106.
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gleitet, weigert sich, Hilfe zu holen – mit der Begründung: »Man soll nicht zu forsch, nicht zu frech fordern in einem fremden Land.« (JR, 107)18 In dieser Episode klingt eine deutliche Kritik an der österreichischen Gesellschaft an, in der deutschunkundige Migrantinnen aufgrund ihrer Sprache und ihres Geschlechts doppelt benachteiligt werden. Somit schildert Rabinowich Migrationserlebnisse, die entweder selbst Traumata sind oder durch ihren Schockcharakter latente traumatische Vorerfahrungen aktivieren. Die Schuld an der postmigrantischen Traumatisierung der Romanfiguren trägt zum Teil die aufnehmende Gesellschaft, die in den 1970er Jahren noch nicht bereit war, mit ethnischen Stereotypen aufzuräumen und Migranten eine sinnvolle – auch psychotherapeutische – Unterstützung zu bieten. Hier fließen in den Roman, so Rabinowich in einem Interview, Impulse aus ihrer Tätigkeit als Kommunaldolmetscherin ein: Da sie während ihrer Arbeit am »Spaltkopf« regelmäßig Flüchtlinge gedolmetscht hat – auch in Psychotherapien –, gehörten migrationsbedingte Traumata zu ihrem Berufsalltag.19 Zum Teil verschärft die Familie im »Spaltkopf« ihre inneren Konflikte jedoch selbst. Da jeder der Angehörigen die Folgen des Kulturschocks anders und für sich selbst verarbeitet, lebt sich die Familie bald auseinander. Mischka will sich in die neue Umwelt einfügen, bricht alle Kontakte zu den Verwandten in Leningrad ab und weigert sich, zu Hause Russisch zu sprechen: »Ich bin bereit, ein besseres Deutsch zu sprechen als meine Klassenkollegen. Ich bin bereit, freiwillig in den katholischen Religionsunterricht zu gehen, während die türkischen Kinder früher heimgehen können […]. Ich bin bereit, für den Rückhalt in einer Gruppe […] auch Teufels Großmutter aufzusuchen, und sei es nur auf LSD.« (JR, 11)
Die Großmutter Ada sucht Zuflucht in der katholischen Kirche, die Mutter – unter russischen Landsleuten. Der Vater, auf die Dolmetschdienste seiner Tochter angewiesen, verliert in deren Augen seine Autorität (JR, 116). Nach und nach versiegt die verbale Kommunikation in der Familie, besonders nach der Geburt von Mischkas behinderter Schwester, die nicht sprechen will: »Abends 18 Lauras Erlebnis des vollständigen Ausgeliefertseins und sprachlicher Isolation in der Klinik dürfte übrigens der Realität entsprechen: Wie Franz Pöchhacker berichtet, war die Betreuung von ausländischen Patientinnen durch Kommunaldolmetscher in Wiener Krankenhäusern noch in den 1990er Jahren unzureichend, was zu potentiellen Behandlungsfehlern führen konnte (vgl. Pöchhacker, Franz: ›Is There Anybody Out There?‹ Community Interpreting in Austria. In: The Critical Link: Interpreters in the Community. Hrsg. von Silvana Carr/Roda Roberts/Aideen Dufour. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins 1997, S. 215–225, hier: S. 222). 19 Vgl. Rabinowich, Julya: ›Abgründe haben mich immer angezogen‹. Interview von Ernst Grabovszki in der Wiener Zeitung vom 21. 03. 2009. (Zugriff am 27. 11. 2019). Rabinowich war 2006–2011 Simultandolmetscherin u. a. am Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende ›Hemayat‹, vgl. (Zugriff am 27. 12. 2019).
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schweigen sich die Eltern bissig an. […] Sprachlosigkeit breitet sich aus. […] Wir alle wehren uns gegen die Sprache, uns allen geht die Luft aus. Wenn keine Taten mehr bleiben, fehlen die Worte. Wir verstummen.« (JR, 116) Die Erwachsenen sind nicht imstande, offen über ihre Ängste, Sorgen, Hoffnungen und die Last der Vergangenheit zu sprechen. Stattdessen hüllen sie sich in Schweigen oder weichen in Lügen aus, was zum Zerfall der Familienbande führt. Paradoxerweise wird die Familie aber von dem zusammengehalten, was sie verdrängt und wovon sich ihr unerwünschtes Mitglied ernährt: der Spaltkopf. In diese fantastische Figur mündet die Reflexion über mehrere gesellschaftskritisch relevante Probleme: das Versagen der (Groß-)Eltern, mit den Nachfahren zu kommunizieren, die Nachwirkung von transgenerationellen Traumata, die Potenzierung eines alten Traumas durch den Kulturschock.
2.2
Der Spaltkopf als Phantom
Der Spaltkopf gehört zu Mischkas Kindheitserinnerungen: Er ist angeblich ein böser Geist, der Kindern die Seelen aussaugt und ihre Gedanken frisst, wenn sie nicht schlafen wollen (JR, 21–22). Dem Spaltkopf kommt eine doppelte Symbolik zu. Zum einen steht er für die gespaltene Identität von Mischka, deren Sprache und Denken »sowohl vom russischen als auch vom deutschen Kulturraum geprägt werden«.20 Zum anderen verkörpert er das, was die Familie vergessen und von sich fernhalten will – insbesondere das verdrängte Trauma, das die Großmutter Ada als Kind erlebt hatte, das sie aber vor ihrer Familie verheimlicht. Ada war nämlich in den 1920er Jahren Zeugin davon, wie ihr jüdischer Vater in einem antisemitischen Pogrom ermordet wurde, während sie selbst und ihre Mutter knapp dem Tod entkamen. Die Figur des Spaltkopfs entsteht gleichsam aus der Übertragung eines psychologisch-kulturwissenschaftlichen Konzepts in Ausdrucksmittel der Literatur. In der Forschung wird nämlich der Entstehungsmechanismus eines Traumas ausdrücklich als »dissoziative Abspaltung«21 beschrieben: Ein identitätsbedrohendes Erlebnis, das wegen seiner Intensität psychisch nicht verarbeitet werden kann, wird vom Bewusstsein abgespalten und ins Unbewusste verlagert.22 So formt sich Adas externalisiertes Trauma zu ihrem Spaltkopf, der sie von Angst 20 Schweiger, Baba Yaga, Schneewittchen und Spaltkopf. 2013, S. 154. 21 Assmann/Jeftic/Wappler, Einleitung. 2014, S. 11. 22 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2006, S. 93. Diese bildhafte Erklärung wird bei Rabinowich in folgende Beschreibung der reflexhaften Abwehrreaktion der kleinen Ada überführt: »Sie fühlt ein Bersten in sich. Eine Zersplitterung. Ein Ablösen. Es fällt von ihr ab in tausend Bruchstückchen.« (JR, 170).
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und Schmerz befreit, zugleich aber von Lebenslust und positiven Emotionen abschneidet (JR,170; JR, 171) und als Gegenleistung für Ruhe und Gelassenheit verlangt, dass Ada ihm ihre Kinder überlässt – das heißt, dass das Trauma auf ihre Tochter und Enkelin übergeht (JR, 171). So wird die Großmutter zur Trägerin des Familiengeheimnisses, das in den Aussagen des Spaltkopfs stets wiederkehrt: Die kehrreimartige Phrase »Igor, nicht Israil« bzw. »Israil, nicht Igor« spielt auf Adas Selbstverleugnung an (sie tritt zum katholischen Glauben über und ändert ihren jüdischen Namen Rahel Israilowna in den russischen Ada Igorowna), und der ebenfalls leitmotivische, biblisch anmutende Satz: »Die Zahl ist das Wort und das Wort ist das Wissen und das Wissen ist Macht« (JR, 41) bezieht sich darauf, dass die Großmutter das Wissen über die wahre Identität der Familie verschweigt und sich dadurch die Machtposition gegenüber ihren Angehörigen sichert.23 Rabinowichs Spaltkopf hat in der Psychologie ein Pendant: die Metapher des Phantoms, geprägt von Nicolas Abraham zur Bezeichnung von »Geheimnisse[n], die innerhalb von Familien von einer Generation an die nächste unbewußt weitergereicht werden. Als Fremdkörper empfunden, bleiben sie einer psychischen Verarbeitung [durch die Folgegenerationen, K.L.] entzogen.«24 Es handelt sich um individuell von den Vorfahren erlittene Traumata und Leiderfahrungen, die vor den Nachkommen verheimlicht werden. Das Verschwiegene bedeutet eine psychische Last, welche die eine Generation der anderen unbewusst aufbürdet.25 Eine Person, die von einem Phantom heimgesucht wird, ahnt in ihrer familiären Vorgeschichte eine unbestimmte, aus der eigenen Biografie heraus nicht zu erklärende Lücke, die zwar mit Bedeutung aufgeladen ist, aber nicht versprachlicht und vom kommunikativen Gedächtnis der Familie ausgeschlossen wird. Bei Rabinowich wird eine solche Leerstelle von dem als unsichtbare, ausgehöhlte Gestalt imaginierten Spaltkopf umrissen. Mischka spürt seine Anwesenheit, weiß aber nicht genau, was die Lücke enthält; sie ahnt nur, dass es etwas Furchterregendes ist, was mit der Vergangenheit ihrer Familie zusammenhängt. Schließlich löst das geerbte Phantom bei dem heranwachsenden Mädchen eine emotionale Krise aus, die sich in Schulschwierigkeiten und selbstdestruktiven Verhaltensweisen äußert. Die latente Belastung wird durch die Kondition eines 23 Vgl. Rutka, ›Der dritte Raum‹ als Aushandlungsort des postsowjetischen Traumas. 2018, S. 59. Willms, ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett‹. 2012, S. 127. 24 Abraham, Nicolas: Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzung zu Freuds Metapsychologie. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 45, 1991, H. 2, S. 691– 698, hier: S. 691. 25 Vgl. Rand, Nicholas: Poetische Erfindung und Psychoanalyse des Familiengeheimnisses in ›Hamlets Phantom oder der sechste Akt‹ von Nicolas Abraham. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. 45, 1991, H. 2, S. 675–690, hier: S. 690.
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bikulturellen Migrantenkindes dramatisch verschärft, als sich Mischka auf der Suche nach Zugehörigkeit und Autonomie für ihre österreichische Identität ausspricht und ihre russischen Wurzeln abwehrt. Mischkas jüdische Herkunft väterlicherseits wird ihr zwar, wenn auch nur beiläufig, vermittelt (JR, 62), dass aber ihre Großmutter mütterlicherseits ebenfalls Jüdin ist, entdeckt das Mädchen selbst, als sie an Adas Sterbebett deren Reisepass mit dem alten Namen Rahel Israilowna findet (JR, 164). Dieser zufällige Fund ist nur die Spitze des Eisbergs: Er lässt eine lange zurückliegende, schmerzvolle Vorgeschichte ahnen. Von der Ermordung ihres Urgroßvaters Israil erfährt Mischka dennoch nicht; Ada nimmt die grauenhafte Szene mit ins Grab, die Einzelheiten werden dem Leser ausschließlich vom Spaltkopf offenbart – einem im wahrsten Sinne des Wortes allwissenden Erzähler. Mischka nähert sich also dem Phantom, ohne zu seinem Kern vorzudringen. Jahrelang versucht sie allerdings, den Anblick des Spaltkopfs zu erhaschen – im kindlichen Glauben, dass er seine Macht über sie verliert, sobald sie ihn sieht (JR, 22). Dies gelingt ihr erst nach der Geburt ihres eigenen Kindes, die bewirkt, dass sie zu ihrer alten, in der Migration verdrängten Identität zurückfindet: »Ich träume auf Russisch neuerdings. Ich spüre, wie sich die sperrige Sprache in meinem Mund verkeilt wie Treibholz […]. Das alte Ich erwacht.« (JR, 160) Diese Veränderung erklärt Willms damit, dass Mischka mit der Mutterschaft Verantwortung für die nächste Generation übernimmt;26 instinktiv will sie sich von ihrem Phantom befreien, um dessen Weitergabe an ihre Tochter zu unterbinden. Daher findet sie die Kraft, zu ihrer Familie im Nachwende-Russland zu reisen und dort »durch den großen Spiegel [ihrer] Kindheit« (JR, 183) zu gehen. Erst als sie meint, den Spaltkopf in der Fensterscheibe der Petersburger Wohnung ihrer Verwandten zu erblicken (JR, 203), gewinnt sie Distanz zur Vergangenheit und versöhnt sich mit ihrem gespaltenen Wesen.27 Schließlich gelingt es Mischka, ihre kleine Tochter vor dem Phantom zu schützen und ihr einen unbelasteten Start ins Leben zu ermöglichen: »Ihr Schritt ist sicher. Das ist auch mein Verdienst, auf den ich stolz bin. Ich habe ihr den Boden unter den Füßen geschenkt. Die Wurzeln, die mir nicht sprießen wollen« (JR, 180). Julya Rabinowich stellt also erst für die vierte Generation der Migrantenfamilie eine positive Entwicklung in Aussicht. Dass das Phantom, auch wenn es unerkannt bleibt, gebannt wird, ist nur der Kraft des Individuums zu verdanken. Weder die aufnehmende Gesellschaft noch die Familie selbst helfen dem Migrantenkind, sich von der Last des Phantoms zu befreien, solange das Trauma 26 Vgl. Willms, ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett‹. 2012, S. 136. 27 So darf man aus dem ersten, kurzen Romanteil schließen, der der eigentlichen Erzählung vorausgeht und eine Art Lebensbilanz der Protagonistin darstellt: »Ich bin unterwegs zu mir mit Drogen, Analyse, Arbeitsanfällen. […] Kurzum: Ich habe mich angepasst.« (JR, 12).
Trauma und Migrationserfahrung in Julya Rabinowichs »Spaltkopf« (2008)
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verschwiegen wird und die einzelnen Familienmitglieder nur auf ihre eigenen Erlebnisse konzentriert sind.
3.
Natascha Wodins »Sie kam aus Mariupol« (2017)
Während Julya Rabinowich in ihrem Schaffen nach dem Debütroman ihre eigene Geschichte nicht mehr aufgreift, geht Natascha Wodin den umgekehrten Weg, an dessen Ende der ausgesprochen autobiografische Erzähltext »Sie kam aus Mariupol« steht. Während ihre frühere Prosa, wie »Die gläserne Stadt« (1983) oder »Einmal lebte ich« (1989), neben autobiografischen Bezügen deutliche Fiktionssignale enthält, fehlt bei dem hier interessierenden Text die übliche Gattungsbezeichnung Roman, was eine Verschiebung von literarischer Fiktion zum Dokument hin nahelegt. Die Handlung wird hier durch authentische Namen (einschließlich der Ich-Erzählerin Natascha Wodin) und Fotos aus dem Bildarchiv der Verfasserin beglaubigt. Wodin beschreibt Fakten aus ihrem Leben – vor allem die Kindheit in bayrischen Lagern für heimatlose Ausländer, die sie bereits in ihren früheren Werken thematisierte, jedoch ohne den breiteren historischen Kontext zu berücksichtigen, in den das Migrantenschicksal ihrer Eltern eingebettet war.28 Nun ist es Wodins Hauptanliegen, den Lebensweg ihrer Mutter Jewgenia nachzuzeichnen, von der sie kaum etwas weiß, außer dass sie 1920 in Mariupol geboren wurde. Sie verlor ihre Mutter 1956 als zehnjähriges Mädchen und hat nur wenige Erinnerungen an sie – Gedächtnisbilder, die längst verblasst sind, zumal Wodin ihre Spurensuche erst 2013, als sie beinahe siebzig ist, beginnt. Von Jewgenia haben sich keine Dokumente erhalten, ihr Mann hat sie aus dem Gedächtnis verbannt. Die Rekonstruktion von Jewgenias Biografie stützt sich daher nicht auf das mündliche Familiengedächtnis, sondern auf die offizielle Geschichtsschreibung und Auskünfte aus dem Internet. Als unschätzbare Wissensquelle erweist sich der unerwartet aufgetauchte Lebensbericht von Jewgenias Schwester Lidia, den Wodin rekapituliert und in ihre eigene Erzählung einbaut. Die Familiengeschichte, die sich ihr erschließt, beschränkt sich dabei nicht nur auf Jewgenia. Die mühsam aufgestöberten, bruchstückhaften Informationen fügt Wodin zur Geschichte ihrer Vorfahren zusammen: einer ukrainisch-italienischen Adelsfamilie aus Mariupol, deren Untergang vor dem Hintergrund historischer Ereignisse in der Ukraine der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt wird: der Oktoberrevolution und des anschließenden Bürgerkriegs, der zwei totalitären Regime und der beiden Weltkriege. Somit gibt es im Text zwei 28 Vgl. Winters, Marion: The Case of Natascha Wodin’s Autobiographical Novels: A CorpusStylistic Approach. In: The Palgrave Handbook of Literary Studies. Hrsg. von Jean BoaseBeier/Lina Fisher/Hiroko Furukawa. Palgrave Macmillan 2018, S. 145–166, hier: S. 146.
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Handlungsebenen: erstens, die Familiensaga, bestehend aus Episoden, aus denen die Ich-Erzählerin eine kohärente, sinnhafte Erzählung zusammenbauen will. Zweitens wird Wodins Recherche beschrieben, die sich größtenteils auf das Internet stützt. Von einem russischen Hobby-Genealogen virtuell unterstützt, findet die Protagonistin entfernte Verwandte, erfährt von verschwiegenen Traumata und Familiengeheimnissen. Vieles bleibt dabei unklar, denn immer wieder stößt Wodin auf Lücken, alternative oder widersprüchliche Versionen der familiären Vergangenheit. Auf dieser primären Handlungsebene verläuft auch die Erinnerungsarbeit der Ich-Erzählerin: ihre Selbstreflexion, Konfrontation mit kindlichen Illusionen, ihre Versuche, die verschütteten Erinnerungen wiederherzustellen.
3.1
Natascha Wodins Kritik an der deutschen Erinnerungskultur
Anders als Rabinowich, die das Familiengefüge an sich als Quelle postmigrantischer Traumata diagnostiziert, richtet Wodin ihre Anklage an die deutsche Erinnerungskultur. Diese schenke den ehemaligen Zwangsarbeitern keine Aufmerksamkeit und gebe deren in Deutschland aufgewachsenen Nachfahren keinen Rückhalt, der es ihnen erleichtern würde, sich mit den Migrationserfahrungen ihrer Eltern auseinanderzusetzen und das geerbte Trauma aufzuarbeiten. Am Beispiel ihrer Mutter will Wodin diejenigen NS-Opfer würdigen, die keine literarischen Zeugnisse hinterlassen haben: »Seit vielen Jahren schon suchte ich nach irgendeinem Buch von einem ehemaligen Zwangsarbeiter, nach einer literarischen Stimme, an der ich mich hätte orientieren können, vergeblich. Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten Weltliteratur hervorgebracht, Bücher über den Holocaust füllten Bibliotheken, aber die nicht-jüdischen Zwangsarbeiter, die die Vernichtung durch Arbeit überlebt hatten, schwiegen.«29
Obwohl die Anzahl der Ostarbeiter auf 27 Millionen geschätzt wird,30 sind sie »in Deutschland literarisch kaum in Erscheinung getreten«.31 Sie werden in der deutschen Öffentlichkeit, so Wodin, »zumeist […] beiläufig, unter ›ferner liefen‹, zusammen mit den Juden erwähnt, eine Marginalie, ein Anhängsel des Holocaust« (NW, 24). Wodins Mutter steht exemplarisch für ein anonymes Individuum, das von der Gesellschaft, der Geschichtsschreibung und dem Gedächtnis der Nachfahren 29 Wodin, Natascha: Sie kam aus Mariupol. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2017, S. 23. Weitere Zitate werden im Text als NW mit Seitenangabe gekennzeichnet. 30 Vgl. (Zugriff am 27. 12. 2019). 31 Willms, ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe…‹. 2012, S. 122.
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ausgeschlossen ist. Seit ihrer Kindheit, die in die Zeit der Terrorherrschaft und der Stalinschen Säuberungen der 1930er Jahre fällt, wird sie schikaniert und verfolgt. Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion erliegt Jewgenia der NS-Propaganda und lässt sich zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportieren – ohne zu wissen, dass die dortigen Lebensbedingungen KZ-ähnlich sind und dass man sie nach 1945 der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt, was ihr die Heimkehr unmöglich macht und das Leben in Nachkriegsdeutschland erschwert. Im Arbeitslager des Leipziger Flick-Konzerns steht Jewgenia als Ostarbeiterin ganz unten in der sozialen Hierarchie. In der ghettoartigen Wohnanlage, in der sie sich nach dem Krieg niederlassen darf, wird sie als Sowjetbürgerin von deutschen Nachbarn gehasst, geächtet und angefeindet. Aus demselben Grund ist ihre Tochter Natascha in der Schule ständiger Aggression, Schikanen und Demütigungen ausgesetzt.32 Jewgenia geht an dem Trauma der Zwangsarbeit, der sozialen Isolierung und schließlich an fortschreitender psychischer Krankheit zugrunde. Sie versagt als Mutter, indem sie das ihr eingebrannte Stigma eines slawischen Untermenschen stillschweigend akzeptiert und auf ihre Tochter überträgt. Sie sorgt nicht dafür, dem Kind wichtige identitätsbildende Fakten aus der Familiengeschichte, die Nataschas Selbstwertgefühl hätten stärken können, zu vermitteln. Nur beiläufig – und nicht immer wahrheitsgemäß – spricht Jewgenia von ihren Eltern und ihrer Kindheit im großbürgerlichen Mariupoler Haus. Über ihre Erlebnisse im Arbeitslager sagt sie kein Wort. Infolgedessen gründet die Identität des Mädchens auf Halbwahrheiten, Lügen und verschwiegenen Tatsachen, die sich ihr erst nach Jahrzehnten erschließen. Natascha leidet unter dem Gefühl von Wurzellosigkeit und Minderwertigkeit: »Die längste Zeit meines Lebens hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin. Niemand hatte es mir gesagt, nicht meine Eltern, nicht die deutsche Umwelt, in deren Erinnerungskultur das Massenphänomen der Zwangsarbeit nicht vorkam. […] Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war.« (NW, 24)
Mit diesen Worten wirft Wodin der deutschen Erinnerungskultur Selektivität und Insuffizienz vor – entgegen der folgenden Einschätzung von Aleida Assmann: »In den letzten drei Jahrzehnten ist diese Erinnerungskultur in Deutschland mit großer Energie, finanziellem Aufwand und bürgerschaftlichem Engagement aufgebaut worden
32 Natascha ist stets auf der Flucht vor den deutschen Mitschülern: Die »Kinder der deutschen Kriegerwitwen und Naziväter […] jagten sämtliche Russen in meiner Gestalt, ich war die Verkörperung der Kommunisten und Bolschewiken, der slawischen Untermenschen, ich war die Verkörperung des Weltfeindes, der sie im Krieg besiegt hatte, und ich rannte, rannte um mein Leben.« (NW, 25–26).
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und seither mit einer Fülle von Institutionen und Initiativen, Gedenkstätten und Museen, Veranstaltungen und Programmen für alle erreichbar […] geworden«.33
Dass der Holocaust in dieser Erinnerungskultur als Paradigma eines kollektiven historischen Traumas fungiert, bedeutet nicht, »dass er die Ansprüche anderer Opfergruppen verdrängt, sondern dass er diesen Ansprüchen zur Durchsetzung verhilft«.34 So wurde nach der Wende allmählich die Leiderfahrung anderer Opfergruppen in den deutschen Gedächtnisdiskurs eingeschlossen: das Kriegstrauma der Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten oder der Zivilbevölkerung, die in alliierten Bombenangriffen auf deutsche Städte umkam.35 Nicht von ungefähr berufen sich Literaturkritiker in ihren Aussagen zu Wodins Buch auf W.G. Sebald – nicht nur deswegen, weil beide Autoren eine Empathie für das Schicksal von einzelnen Menschen verbindet.36 Es war W.G. Sebald, der vor zwanzig Jahren darauf pochte, dem Leid der deutschen Opfer des Luftkriegs literarischen Ausdruck zu verleihen. Dabei warf er sowohl deutschen Schriftstellern als auch Lesern Gleichgültigkeit, Verlogenheit und fehlenden Mut vor, sich mit dem gemeinsam beschwiegenen kollektiven Trauma auseinanderzusetzen.37 Viele Kritiker fanden dieses pauschale Urteil unbegründet, einseitig und unfair, dennoch wies Sebald auf ein gewisses Defizit in der deutschen Erinnerungskultur hin und löste eine Debatte über einen blinden Fleck der Kriegsgeschichte aus. In Wodins Buch schwingt eine ähnliche Reflexion mit – auch wenn sie in weniger anklägerischem Ton formuliert ist – in Bezug auf die Erfahrung der Zwangsarbeiter im Dritten Reich. Diese Gruppe erhielt zwar eine symbolische materielle Entschädigung für das ihr zugefügte Leid,38 dieses wurde jedoch in der Literatur kaum thematisiert. Wodin stellt also eine soziale und literarische Diagnose, die Analogien zu Sebalds Einschätzung aufweist. Während aber Sebalds »Luftkrieg und Literatur« eher im Bereich der Publizistik verortet war, ist Wodins »Sie kam aus Mariupol« wegen seines dokumentarischen und literarischen Charakters sowohl eine Stellungnahme in der öffentlichen Debatte als auch ein 33 Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: Beck 2016, S. 11. 34 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 2006, S. 258. 35 Vgl. dazu Assmann, Aleida: Zur (Un)vereinbarkeit von Leid und Schuld in der deutschen Erinnerungsgeschichte. In: Erinnern und Vergessen. Zur Darstellbarkeit von Traumata. Hrsg. von Karolina Jeftic, Jean-Baptiste Joly. Stuttgart: Akademie Schloss Solitude 2005, S. 117–131. 36 So z. B. Sigrid Löffler, vgl. den Klappentext zu Wodins Buch. 37 Vgl. Sebalds vielzitierte Diagnose, die in den Luftangriffen auf Dresden, Hamburg, Halberstadt etc. Umgekommenen scheinen »kaum eine Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Bewußtsein« der Deutschen (Sebald, Winfried G.: Luftkrieg und Literatur. Frankfurt/M.: Fischer 2005, S. 11–12). 38 Dies erfolgte übrigens so spät, dass viele Opfer bereits verstorben waren. Zu den unternommenen Entschädigungsmaßnahmen vgl. (Zugriff am 17. 12. 2019).
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eigenständiges Kunstwerk. In beiden Rollen kann das Buch zur deutschen (und vielleicht auch zur ukrainischen) Erinnerungskultur beitragen.
3.2
Unterwegs zum Phantom: zwischen Geschichtsschreibung und Imagination
Das autobiografische Gedächtnis und die Identität der Ich-Erzählerin Natascha Wodin sind insofern postmigrantisch, als sie durch das nie aufgearbeitete Migrationstrauma ihrer Mutter geprägt sind. Traumatisch waren für Jewgenia nicht nur die Verschleppung nach Deutschland, der Verlust sämtlicher Angehörigen, die unzumutbare körperliche Arbeit und das Leben in KZ-ähnlichen Zuständen. Der schwerwiegendste traumatisierende Umstand, an dem Jewgenia zerbricht, ist ihr Status als unerwünschte Immigrantin, die vom deutschen Umfeld keinen Rückhalt bekommt. Ihr Leben lang begleitet Jewgenia die Angst vor Drangsal und Verfolgung. Auch ihr aggressiver Ehemann bringt ihr kein Verständnis entgegen, sondern verstärkt durch die häusliche Gewalt und ständiges Abwerten ihrer Person das zurückliegende Trauma. Wegen dieser andauernden psychischen Belastung der Mutter kann auch Natascha keine starke, ausgeglichene Persönlichkeit herausbilden. Die Bruchstücke der Familiengeschichte, die sie als Kind erzählt bekommt, vermitteln überwiegend negative Botschaften. Vernichtend auf die Psyche des Mädchens wirken sich die Behauptungen ihres Vaters aus, Natascha habe von ihren Vorfahren eine latente Geisteskrankheit geerbt. Später verfolgt sie der Gedanke, »dass mein Vater wahrscheinlich doch recht gehabt hatte und mein psychisches Fiasko im Boden meiner Vorfahren wurzelte wie eine Kriech-Quecke, an der man reißen konnte, wie man wollte, ohne sie je ausreißen zu können, sodass ich keine Chancen haben würde, mich aus den destruktiven Prägungen meiner Kindheit zu befreien.« (NW, 63)39
Deswegen sucht Natascha nach positiven Orientierungspunkten in der Familiengeschichte – nach Verwandten, mit denen sie sich identifizieren kann. Zur wichtigsten Bezugsperson und moralischen Autorität, an der es der Protago39 Übrigens lässt der Vergleich mit einer Kriech-Quecke an Gilles Deleuzes und Félix Guattaris postmoderne Metapher des Rhizoms denken (vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin: Merve-Verlag 1977). Das Bild des Rhizoms eignet sich gut dafür, das postmigrantische individuelle Gedächtnis zu beschreiben: Den beiden hier geschilderten literarischen Protagonistinnen, sowohl bei Wodin als auch bei Rabinowich, fehlen die Wurzeln im Sinne einer statischen, dauerhaften, unverrückbaren identitären Struktur. An ihre Stelle tritt ein nie zur Ruhe kommendes, unkontrolliert in alle Richtungen wucherndes rhizomatisches Gefüge aus vererbten Ängsten, Komplexen und Phantomen, das die Identität nicht stützt, sondern verunsichert.
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nistin in jungen Jahren mangelte, avanciert ihre Tante Lidia. Ihre Memoiren zeigen eine zarte, feinfühlige und doch tatkräftige, lebenstüchtige Frau, geradezu das Gegenteil ihrer passiven, schutzlosen Schwester Jewgenia. Auch Lidia bleiben Traumata nicht erspart: der Bürgerkrieg, der ukrainische Holodomor, die Folterung in einem NKWD-Gefängnis, die Verbannung in ein stalinistisches Straflager. In den Biografien ihrer Vorfahren entdeckt Natascha erstaunliche Analogien zu ihrem eigenen Charakter und Werdegang. Während unbekannte Dokumente und Fakten aus der Vergangenheit auftauchen, erhält die Protagonistin Einsicht in ihre eigenen, ihr bis dahin unerklärlichen Komplexe, Zwangsvorstellungen, irrationalen Ängste und Fehlentscheidungen: »Mir war ein seltsames Wunder geschehen. Die Blackbox meines Lebens hatte sich in der Neige meiner Jahre geöffnet.« (NW, 53) Mit dem neuen Wissen erfahren das autobiografische Gedächtnis und die Identität der Ich-Erzählerin wesentliche Korrekturen: »Jetzt wusste ich weniger denn je. Ich wusste nur, dass meine Mutter eine ganz und gar andere gewesen war, als ich immer angenommen hatte, und dass ich selbst nicht die war, für die ich mich gehalten hatte.« (NW, 49) Dabei werden die archivarisch belegten Fakten stets mit dem konfrontiert, was Natascha als Kind von ihrer Mutter zwar gehört, aber dann verdrängt oder als Illusion abgetan hat: »ein paar unscharfe, fragwürdige Erinnerungen […], die vielleicht gar keine Erinnerungen mehr waren, sondern bloßer Schaum, den die jahrzehntelangen Gärungsprozesse der Zeit in meinem Gedächtnis zurückgelassen hatten […]« (NW, 32). Die im Gedächtnis des Kindes gespeicherten, bruchstückhaften Inhalte: das verschwommene Bild einer vermögenden, weltoffenen Familie, in der ein Rechtsanwalt und ein Opernsänger zu finden sind, erscheinen der erwachsenen Protagonistin als kindliche Einbildung mit kompensatorischer Funktion. Mithilfe derartiger Fantasien wollte das aus der untersten sozialen Schicht stammende Migrantenkind sich selbst aufwerten. Die Familienrecherche bestätigt aber, dass das Unglaubwürdige, das angeblich nur Nataschas »kindlichen Sehnsüchten nach einer respektablen Herkunft« (NW, 33) entspringt, doch einen wahren Kern hat (NW, 74). Immerhin gelingt es der Ich-Erzählerin nicht, ihre Genealogie vollständig zu erschließen. Wiederholt stößt sie auf Lücken und Widersprüche, wie etwa die beiden einander ausschließenden Versionen der Todesumstände ihres Großvaters (NW, 96). Sie entdeckt phantomartige Familiengeheimnisse aus entfernter Vergangenheit. Die größte Leerstelle bildet aber das Trauma, das Jewgenia ihrer Tochter gegenüber immer wieder mit den Worten angedeutet hatte: »Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe…« (NW, 28) Diese von Jewgenia verdrängte, verschwiegene und doch präsent gehaltene Erinnerung ist ein Phantom, das die Tochter nachhaltig belastet. Daher versucht Wodin, jene Leerstelle mit eigenen Vermutungen und Fantasien zu füllen. Am Ende ihrer Recherche weiß
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sie immer noch nichts von Jewgenias Zeit im Arbeitslager: »Ich stand mit leeren Händen da, hatte nur die Geschichtsschreibung und meine Phantasie.« (NW, 36) Die Rekonstruktion von Jewgenias Erlebnissen gründet daher auf historischen Quellen: Archivdokumenten, Statistiken, Zeugenaussagen im Nürnberger FlickProzess; alle werden in einem Quellenverzeichnis ausgewiesen (NW, 363–364). Das historisch Verbürgte wird aber stets um Vermutungen der Ich-Erzählerin ergänzt – wie in folgender Passage, die von nachweisbaren Tatsachen (Temperaturen im Winter 1944/45) ausgeht und Mutmaßungen über Jewgenias Alltag in den Baracken der Flick-Fabrik anstellt: »Im letzten Kriegswinter herrschen ausgesprochen strenge Temperaturen. In den Baracken gibt es zwar Öfen, aber es fehlt das Heizmaterial. […] Zum Zudecken hat meine Mutter vermutlich nur eine dünne, zerschlissene Decke. Wahrscheinlich zieht sie für die Nacht alles übereinander an, was sie noch an Kleidung besitzt, dann deckt sie sich mit ihrem grauen Mantel zu, darüber die Lagerdecke. Fast den ganzen Winter ist sie erkältet, ihre ausgetrocknete Haut brennt, schuppt sich, die Hände sind rau und rissig, die Lippen blutig aufgesprungen.« (NW, 274)
Das Hypothetische dieser Rekonstruktion betonen eingestreute Fragen, z. B. als die Ich-Erzählerin über die Irrfahrt ihrer freigelassenen Eltern durch Mittelfranken spekuliert: »Kaufen sie sich einfach Fahrkarten und setzen sich in einen Zug? Haben sie das Geld dafür? Fahren überhaupt Züge, oder sind die Gleise zerbombt?« (NW, 291) Völlig erfunden ist die Schilderung eines Nachmittags im Frühjahr 1945, an dem Jewgenia und ihr Mann die Tochter Natascha zeugen: »Vielleicht passiert es an diesem Tag, vielleicht finden sie irgendwo in den Ruinen oder hinter den Büschen am Stadtrand ein Versteck. Vielleicht bin ich aber auch das Resultat einer gehetzten, atemlosen Umarmung irgendwo im Lager, wo sie jeden Augenblick entdeckt werden können […].« (NW, 283)
Das postmigrantische Gedächtnis der Protagonistin stellt Hypothesen auf, bewegt sich im Spannungsfeld von Geschichtsschreibung, Vermutungen und purer Imagination. Besonders ergreifend und glaubwürdig wirkt Jewgenias Figur dort, wo sich die Ich-Erzählerin ganz auf ihre Fantasie verlässt und von völlig unüberprüfbaren Zuständen berichtet, z. B. von Jewgenias Empfindungen für ihr neugeborenes Kind (NW, 297). Das Phantom rückt dadurch näher, entzieht sich aber stets der Erkenntnis und bleibt sowohl für die Ich-Erzählerin als auch für den Leser unzugänglich.
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4.
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Fazit: Postmigrantische Prosa und ihr Unbehagen an der Erinnerungskultur
Ungeachtet der unterschiedlichen Generationszugehörigkeit und sonstiger biografischer Differenzen stellen Julya Rabinowich und Natascha Wodin in ihren Texten zwei gesellschaftskritisch relevante Probleme heraus. Das eine betrifft die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration von Migranten und ist angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 wieder aktuell geworden. Da Migranten in der Regel unter selbst erlebten oder ererbten Traumata leiden, muss die aufnehmende Gesellschaft Sensibilität für diese mitgebrachte psychische Last entwickeln – Empathie, an der es in den vergangenen Jahrzehnten mangelte. Dies ist umso wichtiger, als dass verdrängte oder transgenerationell übermittelte Traumata nach Jahren aufwachen können, wie Rabinowich und Wodin an ihren Protagonistinnen zeigen. Zugleich muss aber die Leiderfahrung in den Migrantenfamilien selbst artikuliert werden, da das ausgebliebene kommunikative Gedächtnis durch Psychotherapien nicht zu ersetzen ist. Das andere Problem, das Julya Rabinowich und insbesondere Natascha Wodin nahelegen, betrifft die Wahrnehmung und Würdigung der Erfahrung von historischen Migrantengruppen, die im offiziellen Diskurs marginalisiert wurden. In dieser Hinsicht bringt die postmigrantische Literatur das zum Ausdruck, was Aleida Assmann als »das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur« festhält: das Gefühl, die (deutsche, aber auch europäische) Gedächtniskultur im 21. Jahrhundert neu überdenken zu müssen. Eine der Fragen, die in der Debatte um die heute angemessenen Formen des kollektiven Erinnerns auftaucht, lautet: Soll man die nach Deutschland Eingewanderten mit ihrer Einbürgerung zugleich auf die Holocaust-Erinnerung als Grundlage des »negativen nationalen Gedächtnisses« verpflichten, auch wenn die Immigranten aufgrund ihrer ethnischen Herkunft mit diesen Verbrechen nichts zu tun haben?40 Die Frage, wie das Erinnern in der Migrationsgesellschaft auszusehen hat, lässt sich aber auch anders verstehen und beantworten: Wenn man Immigranten in die jeweilige Zielgesellschaft mit deren Erinnerungskultur aufnehmen will, so müsste auch diese Kultur erweitert werden, indem sie Raum für die Erfahrung von heute vergessenen eingewanderten Gruppen aus der Vergangenheit zulässt. Durch die Thematisierung der zum Teil lange zurückliegenden Leidensgeschichten wie derjenigen der Ostarbeiter kann man für heutige Zuwanderer Bezugspunkte und Identifikationsangebote schaffen – etwas, woran jeder Einzelne mit seiner persönlichen Entwurzelungsgeschichte anknüpfen könnte und das ihm das Gefühl historischer Kontinuität vermitteln würde. Um dieses Gefühl als ein grundsätz-
40 Vgl. Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. 2016, S. 127.
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liches menschliches Bedürfnis geht es letztlich Natascha Wodin, die auf ihrer Spurensuche feststellt: »[Ich hielt] es jetzt zum ersten Mal in meinem Leben für möglich, dass ich nicht außerhalb der Menschheitsgeschichte stand, sondern zu ihr gehörte wie jeder andere auch.« (NW, 54)
Primärliteratur Rabinowich, Julya: Spaltkopf. Roman. Wien: Deuticke 2011 (12008). Wodin, Natascha: Sie kam aus Mariupol. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2017.
Sekundärliteratur Abraham, Nicolas: Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzung zu Freuds Metapsychologie. Übers. von Max Looser. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 45, 1991, H. 2, S. 691–698. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: Beck 2016. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2006. Assmann, Aleida: Zur (Un)vereinbarkeit von Leid und Schuld in der deutschen Erinnerungsgeschichte. In: Erinnern und Vergessen. Zur Darstellbarkeit von Traumata. Hrsg. von Karolina Jeftic/Jean-Baptiste Joly. Stuttgart: Akademie Schloss Solitude 2005, S. 117–131. Blum-Barth, Natalia: Deutsch-russische Literatur nach dem Mauerfall. Versuch einer Bestandsaufnahme. (Zugriff am 25. 11. 2019). Chettle, Barbara: The Trauma of Culture Shock. In: The Unspeakable: Narratives of Trauma. Hrsg. von Magda Stroin´ska/Vikki Cecchetto/Kate Szymanski. Frankfurt/M.: Peter Lang 2014, S. 105–119. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Übers. von Dagmar Berger. Berlin: Merve-Verlag 1977. Esselborn, Karl: Neue Zugänge zur inter/transkulturellen deutschsprachigen Literatur. In: Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Hrsg. von Helmut Schmitz. Amsterdam/New York, NY: Rodopi 2009, S. 43–58. Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Hrsg. von Erol Yildiz/Marc Hill. Bielefeld: transcript 2014. Pöchhacker, Franz: ›Is There Anybody Out There?‹ Community Interpreting in Austria. In: The Critical Link: Interpreters in the Community. Hrsg. von Silvana Carr/Roda Roberts/ Aideen Dufour. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins 1997, S. 215–225. Rabinowich, Julya: ›Abgründe haben mich immer angezogen‹. Interview von Ernst Grabovszki in der Wiener Zeitung, 21. 03. 2009, (Zugriff am 27. 11. 2019). Rand, Nicholas: Poetische Erfindung und Psychoanalyse des Familiengeheimnisses in ›Hamlets Phantom oder der sechste Akt‹ von Nicolas Abraham. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. 45, 1991, H. 2, S. 675–690. Rendezvous mit dem Realen. Die Spur des Traumas in den Künsten. Hrsg. von Aleida Assmann/Karolina Jeftic/Friederike Wappler. Bielefeld: transcript 2014. Rutka, Anna: ›Der dritte Raum‹ als Aushandlungsort des postsowjetischen Traumas. Zu Migrationsromanen von Julya Rabinowich ›Spaltkopf‹ und Lena Gorelik ›Die Listensammlerin‹. In: Colloquia Germanica Stetinensia 27, 2018, S. 53–66. Schweiger, Silke: Baba Yaga, Schneewittchen und Spaltkopf: Märchenhafte und fantastische Elemente als literarische Stilmittel in Julya Rabinowichs Roman ›Spaltkopf‹. In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur 11, 2013, S. 147–163. Sebald, Winfried G.: Luftkrieg und Literatur. Frankfurt/M.: Fischer 2005. Skórczewski, Dariusz: Wokół eurocentryzmu, dekolonizacji i postmodernizmu. O niektórych problemach teorii postkolonialnej i jej polskich perspektywach. In: Teksty Drugie 2008, 1/2, S. 33–55. Thore, Petra: ›wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt‹. Die Identitätsbalance in der Fremde in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrantenliteratur. Uppsala: Univ.-Verlag 2004. Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Amsterdam/New York, NY: Rodopi 2009. Willms, Weertje: ›Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett‹. Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren. In: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Michaela Holdenried/Weertje Willms. Bielefeld: transcript 2012, S. 121–141. Winters, Marion: The Case of Natascha Wodin’s Autobiographical Novels: A CorpusStylistic Approach. In: The Palgrave Handbook of Literary Studies. Hrsg. von Jean Boase-Beier/Lina Fisher/Hiroko Furukawa. Palgrave Macmillan 2018, S. 145–166.
Monika Wolting (Wrocław)
Postheroische Gesellschaft. Eine neu erzählte Geschichte von David und Goliath
Abstract: Für das 20. und 21. Jahrhundert wurde eine rasante Beschleunigung und Entfremdung (Hartmut Rosa) diagnostiziert. In den europäischen Gesellschaften setzt ein Wertewandel ein: heroische Modelle weichen postheroischen Überzeugungen, das männlich besetzte Soldatentum wird zum Beruf für Frauen und für Männer. Weltweit ist eine neue Kriegsführung, neue Kriegsmotivation, sind neue Kriegsakteure und neue Formen des Friedensabkommens zu beobachten. Literarische Werke reagieren auf diese Veränderungen und binden sie demzufolge in ihre Diegese ein. Es entsteht eine neue Poetik der Kriegs- und Krisenerzählungen. In diesem Beitrag werden am Beispiel von Norbert Scheuers Roman »Die Sprache der Vögel« die charakteristischen Merkmale des postheroischen Romans geschildert.
1.
Poetik des neuen Kriegsromans
Maximilian Probst diagnostiziert in der »ZEIT« im Sommer 2018: »Das postheroische Zeitalter geht zu Ende. Die Verherrlichung des Kämpfers kehrt zurück – nicht nur am rechten Rand.«1 Dieser Feststellung schließt sich ebenfalls Jacob Augstein vom »Spiegel« an.2 Ganz entgegen den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wird von einer »neuen Begeisterung für den Kampf gesprochen«3. Wenn die Annahme gerechtfertigt ist, dass Literatur maßgeblich auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagiert, dann kann davon ausgegangen werden, dass das Genre des neuen Kriegsromans der postheroischen Gesellschaft unter neuen politischen Tendenzen ›ausgedient‹ hat.4 Die Eingangsthese für diesen Beitrag lautet, dass Literatur auf die gegenwärtigen Krisenlagen und Herausforderungen der globalen Welt mit eigenen Mitteln 1 2 3 4
Probst, Maximilian: Held auf dem Sprung. In: Die Zeit 29, 2018 vom 11. 07. 2018. Augstein, Jacob: Peng. Das saß. In: Der Spiegel 30, 2018 vom 21. 07. 2018. Ebd. Vgl. Wolting, Monika: Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur. Heidelberg: Winter 2019.
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reagiert. Nun soll an dieser Stelle die Antwort auf die Frage gesucht werden, wie sich die Romane gegenüber dem Diskurs der neuen Kriege und der »postheroischen Gesellschaft«5 positionieren, auf welche Weise Figuren und Handlungsräume von Autoren konstruiert werden. Nach der eingehenden Analyse des Textkorpus ist festzustellen, dass das Erzählen von Geschichten, die in neuen Kriegen angesiedelt sind, zuerst die Entstehung neuer Narrationen, neuer Settings und neuer Figurenschemata erfordert, denn die Entwürfe für das Erzählen von Kriegsgeschichten vergangener Epochen sind als überholt einzuschätzen. Mit der Veränderung der Kriegsführung, der Kriegsmotivation, den Kriegsakteuren und den Formen des Friedensabkommens verändert sich die Poetik der Kriegs- und Krisenerzählungen.6 Obwohl global ausgetragen, finden die neuen Kriege lokal statt, sie werden asymmetrisch geführt und repräsentieren keine Massenbewegungen, sondern kleinere, nicht immer soldatische Gruppen. Nicht unerheblich für die Bestimmung der Art der Kriege und im Anschluss daran für ihre literarische Konfiguration, ist die narrative Opposition von heroisch und postheroisch. In Münklers Auffassung ist eine postheroische Gesellschaft nicht gleich unheroisch, damit wird vielmehr eine Gesellschaft gemeint, die sich daran erinnert, dass sie einmal heroisch war, daraus Konsequenzen gezogen hat und einen Weg des Lernprozesses hinter sich gelassen hat.7 Entsprechend finden Zeugnisse dieses Lernprozesses Eingang in die literarische Fiktion in Form von Figurenaussagen und bestimmten Figurenhandlungen. Die These für diesen Beitrag könnte so formuliert werden: Mit dem Aufkommen neuer Kriege ist der Abschied vom heroischen Helden, pathetischen Ausdrucksweisen und Gesten vollzogen worden. Kants Vorstellung vom Krieg, wonach der Krieg, wenn er mit Ordnung und Achtung bürgerlicher Rechte geführt würde, etwas Erhabenes an sich habe,8 ist strukturell außer Kraft gesetzt und damit obsolet geworden.9 Diese Rhetorik findet sich allerdings bereits auch in den Kriegserzählungen über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, jedoch die Gründe dafür waren andere als postheroisch. Die neuen Kriege werden über kleine Gefechte, kaum gelingende, jedoch bedrohliche Hinterhalte, eine starke 5 Münkler, Herfried: Was bedeutet Krieg in unserer Zeit? Gespräch mit Thilo Kößler. Deutschlandfunk vom 19.05. 2015. (Zugriff 20. 03. 2020). 6 Vgl. Münkler, Herfried: Kriegssplitter: Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt 2015. 7 Vgl. Münkler, Herfried: Was bedeutet Krieg in unserer Zeit? 8 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe. Bd. X. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 187f. 9 Vgl. Leschke, Rainer: Krieg als schöne Medienübung. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hrsg. von Carsten Gansel/Heinrich Kaulen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 2011, S. 339–356, hier S. 347.
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Passivität der technisch besser ausgestatteten Seite, über Drohnenangriffe entschieden, beziehungsweise in die Länge gezogen (Dirk Kurbjuweit: »Kriegsbraut«10, Linus Reichlin: »Das Leuchten in der Ferne«11, Norbert Scheuer: »Die Sprache der Vögel«12). Somit haben sie ihren heroischen Effekt, ihre erhabene Wirkung und Bedeutungsaufladung verloren. Dementsprechend fällt die Konstruktion der literarischen Figuren aus: Ihre charakteristischen Eigenschaften sind nicht heroisch zu nennen, meist sind es etwas verängstigte, wenig über den Krieg wissende junge Figuren, die des Öfteren im Einsatz oder nach der Heimkehr an psychischen Störungen leiden (Ingo Niermann und Alexander Wallasch: »Deutscher Sohn«13, Sabrina Janesch: »Ambra«14, Helmut H. Haffner: »Geflüsterte Schreie«15). Die Krankheitsbilder der Soldaten und Menschen, die mit dem Krieg konfrontiert werden, werden vor dem Hintergrund einer geringen Relevanz der Kriege für die westliche Gesellschaft dargestellt. Die Daseinserfahrung der Figuren der analysierten Texte ist durch die Empfindung permanenter Angst und das Gefühl des ständigen Bedrohtseins gekennzeichnet, das als ontologische Unsicherheit zusammengefasst werden kann.16 Der Begriff der ontologischen Unsicherheit wird in der Terminologie von Ronald D. Laing als Gegenentwurf zur ontologischen Sicherheit verstanden. Die Problematik der inneren und äußeren Zerrissenheit wird als ein Modell aufgebaut, das den Menschen als Ganzes fasst, in dem Seele, Geist und Körper in einer Balance zueinanderstehen. Ontologische Sicherheit wird von Laing als das Selbstverständnis und das Empfinden seines Selbst als Ganzes in einer Einheit der Identität bezeichnet. Diesbezüglich kann der Mensch, so Laing, »das Gefühl seiner Präsenz in der Welt als eine reale, lebendige, ganze und im temporalen Sinn, kontinuierliche Person haben. Als solche kann er in der Welt leben und andere treffen: Eine Welt und andere, die als gleichermaßen real, lebendig, ganz, kontinuierlich erfahren werden.«17 Diesem Schema gegenüber entwickelt Laing die Begrifflichkeit der ontologischen Unsicherheit, die als tendenzielle Auflösung 10 Kurbjuweit, Dirk: Kriegsbraut. Berlin: Rowohlt 2011. 11 Reichlin, Linus: Das Leuchten in der Ferne. Berlin: Galiani 2013. 12 Scheuer, Norbert: Die Sprache der Vögel. München: C. H. Beck 2015. Im Folgenden unter der Sigle SV mit einfacher Seitenzahl. 13 Niermann, Ingo/Wallasch, Alexander: Deutscher Sohn. Berlin: Blumenbar 2010. 14 Janesch, Sabrina: Ambra. Berlin: Aufbau 2012. 15 Haffner, Helmut H.: Geflüsterte Schreie: Erzählung. Frankfurt/M.: edition fischer 2014. 16 Ursprünglich von Ronald David Laing für die Daseinserfahrung des Schizoiden oder Schizophrenen entwickelt. Bei dem hier verwendeten Begriff geht es um die Beschreibung einer bestimmten Angstform. Vgl. Ronald David Laing: Das Selbst und die Anderen. Übers. von Hans Hermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1976; Ronald David Laing: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Übers. von Christa TansellaZimmermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch (1994) 1987 (orig. Ronald David Laing: The Divided Self. An existential study on sanity and madness. 1960). 17 Laing, Das Selbst und die Anderen. 1976, S. 47.
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der Ganzheit, Zersplitterung der Identität, Existenz im dauerhaften Angstzustand, in Hoffnungslosigkeit und in Zweifeln, zu verstehen ist. Mit dieser Denkfigur wird im Folgenden darauf hingewiesen, dass die Unsicherheit der Figuren während oder nach dem Afghanistaneinsatz zeitweise oder dauerhaft ihr »In-der-Welt-Sein« infrage stellt. Es entstehen Fragen nach dem Sinn der eigenen Existenz, nach dem eigenen Wert, mithin nach den Grenzen der Individuation. Des Weiteren kommt es durch die Teilnahme der Figuren an dem Militäreinsatz zu einer starken Belastung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die oft Irritation der Privatsphäre, Entfremdung und letztendlich Vereinsamung der Figuren verursacht.
2.
Die postheroische Figur des Soldaten im neuen Kriegsroman
Diese Überlegung führt direkt zu einem weiteren Befund, der die Figur des Soldaten betrifft. Er stellt keineswegs eine heroische Figur dar, auch keine von der Notwendigkeit des Einsatzes ausnahmslos überzeugte Figur. Der Soldat zeigt sich weit entfernt von einem Helden, der für seine Heimat bewusst sein Leben riskiert, er ist vor allem Berufssoldat, der nicht selten unter mangelhafter Beratung vor dem Einsatz und Betreuung nach dem Einsatz zu einer Leidensgestalt des Afghanistan-Veteranen wird. Dieser Umstand führt dazu, dass die Texte des Öfteren psychische Erkrankungen der Figuren, die am Afghanistankrieg beteiligt sind, in den Fokus ihrer Aushandlungen nehmen. Da diese Angst nicht auf einzelne bestimmbare Objekte bezogen werden kann, ist sie im tiefsten menschlichen Gefühl verankert. Die ihr unterliegenden Menschen werden an ihre Grenzen getrieben, die unter Bezug auf Mittel der literarischen Fiktion ihre künstlerische Fixierung erhalten. Dadurch, dass die Kriege an den Peripherien und Grenzen der Wohlstandsgesellschaft stattfinden, hinterlassen sie hauptsächlich mediale Bilder der Zerstörung, es entsteht der Anschein der Abwesenheit des Krieges in weiten Teilen Europas. Infolgedessen entfremden sich die an dem Krieg teilnehmenden Soldaten von der Gesellschaft und leiden an Einsamkeit. Umso mehr wird die Gesellschaft durch plötzlich eindringende Gefahrenmomente, wie Attentate, Morddrohungen, die sie territorial direkt betreffen, erschüttert (Robert Menasse: »Die Hauptstadt«18, Katharina Hacker: »Die Habenichtse«19). Allerdings bleibt die gesellschaftliche Aufstörung nur punktuell und oft ohne nachhallende Wirkung, damit sinken die soziale Relevanz der Kriege und die Betroffenheit, die sie auslösen. 18 Menasse, Robert: Die Hauptstadt. Berlin: Suhrkamp 2017. 19 Hacker, Katharina: Die Habenichtse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006.
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Die postheroisch und asymmetrisch verlaufende Kriege eröffnen neue narrative Möglichkeiten. Die heroische Kampfführung blickt auf eine lange erzählerische Tradition zurück. Umso mehr bestimmen die Erzählungen von Helden und ihren Heldentaten die antike Literatur und alle späteren Texte, die sich an ihr ein Beispiel nahmen. Für die postheroische Narration müssen erst noch poetologische Strategien erarbeitet werden. Die heroische Narration wurde vom Subjekt her entwickelt, sodass die Handlung um die heldenhafte Einzelfigur aufgerollt werden konnte. Dagegen werden die neuen Kriege mit einer technologischen Überlegenheit der westlichen Seite geführt, was allein schon den Soldaten den Anschein des weniger Heldenhaften verleiht (Frank Schätzing: »Breaking News«20, Marlene Streeruwitz: »Die Schmerzmacherin«21, Wolfgang Schorlau: »Brennende Kälte«22). Dementsprechend gibt es auf der Seite der Rebellen, der Einzelkämpfer mit schlechter militärischer Ausrüstung, des determinierten Selbstmordattentäters (Linus Reichlin: »Das Leuchten in der Ferne«) aber weiterhin das heroische Potenzial. Entscheidend dabei ist allerdings, dass die Literatur über ein großes Arsenal an positiven Beschreibungsformen für die zweite Gruppe verfügt, für die erste dagegen, eher ein Schema von negativen Bildern und Konnotationen aufzuweisen hat. Denn in der literarischen Tradition zählt viel mehr die persönliche, von Subjekt ausgehende Leistung als eine industriell-technologische, militärische Übermacht. Dieser Umstand macht die Konfiguration der Figuren kompliziert, weil die Autoren und Autorinnen nicht auf bestehende Muster zurückgreifen können und eine völlig neue Poetik der Kriegstexte entwerfen müssen. Um den Konnex plastischer zu gestalten, führt Münkler für die neue Soldatenkonstellation den in der Literatur und Kunst weitverbreiteten Topos des Kampfes zwischen David und Goliath an, dabei steht David für die Rebellen, die Taliban, die afghanischen Aufständischen und Goliath für die westlichen Streitkräfte: »Goliath hat ein Imageproblem: Er ist zu groß, zu ungelenk und furchtbar hässlich. Er ist der Inbegriff einer hochgerüsteten Kriegsmaschine ohne menschliche Regung. Selbstverständlich sind unsere Sympathien auf der Seite dessen, der dieses hässliche Monstrum zu Fall bringt. […] Die Bundeswehr ist in Afghanistan in der Goliath-Rolle, sie ist ein Teil des gewaltigen Goliaths, den die westlichen Streitkräfte am Hindukusch aufgerichtet haben. […] Die Taliban […] verfügen nicht über schwere Waffen und vor
20 Schätzing, Frank: Breaking News. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014. 21 Streeruwitz, Marlene: Die Schmerzmacherin. Frankfurt/M.: S. Fischer 2011. 22 Schorlau, Wolfgang: Brennende Kälte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008.
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allem haben sie keine Luftwaffe. Sie agieren als leichte Infanterie, sie haben die DavidRolle besetzt.«23
Die ungleichen Kampfbedingungen »versetzen die übermächtig erscheinenden, realiter aber höchst verwundbaren westlichen Streitkräfte in eine nahezu aussichtslose Lage.«24 Nun steht die literarische Darstellung vor dem formal-ästhetischen Dilemma, wie die Rollen in der Diegese verteilt werden sollen. Denn eine gelungene Konzeption der Erzählung beruht oft auf einer Fraktur, die ein direktes Verstehen ermöglicht.25 Auf der Textebene werden Informationen geliefert, die anhand sprachlich-kultureller Muster entziffert werden sollen. Der Leser verfügt über Frames und Skripts, die ihm das Entziffern von im Text gespeicherten Informationen erleichtern. Wenn aber semiotisch konnotierte Stärken und Schwächen anders zu bewerten sind, wird der Autor vor erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Themas gestellt. Denn der Leser »ergänz[t] dann die Angaben im Text automatisch um das, was nach Maßgabe solcher kulturellen Muster normalerweise dazugehört, und bilde[t] dadurch seine Vorstellung der erzählten Welt und auch die Erwartungen, was hier weiter geschehen könnte.«26 Die Umkehrung der Figurenkonzeption kann zu normativen Irritationen führen: Die Figuren erhalten nicht den für Kriegsfiguren notwendigen Pathos und sie entbehren einer klassisch gewordenen Erhabenheit im Sinne Kants27 (Jochen Rausch: »Krieg«28; Ingo Niermann und Alexander Wallasch: »Deutscher Sohn«). Der Gewinn an Erzählbarkeit durch die Reduktion des Settings macht den Verlust des Erhabenen, Heroischen und der kulturellen Rezeptionskonstellationen und Frames nur sehr schwer wett, dazu kommt die Verminderung der Relevanz dieser Störungen für westliche Gesellschaften. So kann es passieren, dass das Erzählen vom Krieg in Afghanistan, anders als das Erzählen über die 23 Münkler, Herfried: Der tückische David. Von der Führung eines asymmetrischen Krieges. In: Der Spiegel vom 10. 05. 2010, S. 28–29. 24 Jacobi, Daniel/Hellmann, Gunther/Nieke, Sebastian: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 4, 2011, S. 171–196. 25 Die Rollenaufteilung zwischen David und Goliath wurde in einer filmischen Darstellung des Krieges zwischen Afghanistan und der Sowjetunion von 1988 noch ganz anders zu der nach 2001 vorherrschenden gehalten. Die Figuren der Taliban wurden mit meist positiven Eigenschaften ausgestattet. Ganz anders die hochgerüsteten sowjetischen Streitkräfte, die den Goliath-Part übernehmen und auch an mehreren Stellen so bezeichnet werden. The Beast. USA 1988, Regie: Kevin Reynolds, Drehbuch: William Mastrosimone, Hauptrollen: Don Harvey und George Dzundza. 26 Baßler, Moritz: Der populäre Realismus. (Zugriff am 03. 04. 2020). 27 Vgl. Leschke, Krieg. 2011, S. 347. 28 Rausch, Jochen: Krieg. Berlin: Berlin Verlag Taschenbuch 2013.
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Kriege, die die Gesellschaften primär betreffen, gar nicht notwendigerweise zur Normalisierung erzeugter Störungen führen muss. Dieser Umstand basiert auf der Auslagerung der Konflikte und Differenzen aus der Gesellschaft. Denn Narrationen normieren und kategorisieren Konfliktdynamiken, indem sie diese in Dramaturgien übertragen. Anders ausgedrückt: Die Kriegserzählungen sind ein notwendiger Teil des Verarbeitungsprozesses, den eine Gesellschaft angesichts einer solchen Störung in Gang bringt. Nun aber fand der Afghanistankrieg, wie viele andere kleine Kriege am Rande der europäischen Gesellschaft statt und betraf eine verhältnismäßig geringe Gruppe von Soldaten, ihren Familien und Angehörigen. Folglich ist die Funktion gesellschaftlich engagierter Literatur in Hinsicht auf die Normalisierung eingeschränkt und für breitere gesellschaftliche Schichten nicht immer notwendig. Aus diesem Grund entscheiden sich Autoren und Autorinnen, ihre Geschichten inmitten der deutschen Gesellschaft anzusiedeln und aus der Perspektive eines Heimgekehrten die Geschichten zu erzählen (Ingo Niermann und Alexander Wallasch: »Deutscher Sohn«, Sabrina Janesch: »Ambra«). Denn Narrationen fungieren selbst als Irritationsfaktoren, die Geschichten schildern, in denen Figuren entworfen werden, die eine aufstörende Aufgabe übernehmen und den Konflikt mit Bedeutung und Normativität aufladen (Wolfgang Schorlau: »Brennende Kälte«). Dabei würde das Verankern der Handlung im militärischen Geschehen zu einer starken Stereotypisierung führen, denn der »Gegner« müsste, damit er erst genommen werden sollte, ein enormes Bedrohungspotenzial entwickeln, was unter den gegenwärtig gegebenen Kriegsumständen kaum zu realisieren ist.29 Um in dem von Münkler entworfenen Sinnbild zu bleiben, müsste David grausam und bedrohlich werden, damit die Taten von Goliath zu rechtfertigen wären (Dorothea Dieckmann: »Guantánamo«30). Die Autoren konzentrieren sich daher auf die Schilderung der individuellen Folgen des Einsatzes für die Protagonisten. Eventuell notwendige Kriegshandlungen werden nur am Rande der Diegese geschildert, denn sie bleiben bei aller bei solchen Urteilen gebotenen Vorsicht, erstmals nur lokal relevant. Die Figuren, die als Protagonisten auftreten, stehen nolens volens auf der überlegenen, militärisch und technologisch bestausgerüsteten Seite (Wolfgang Schorlau: »Bren-
29 In US-amerikanischen Filmen wird das Problem der Unverhältnismäßigkeit der Kräfte zwischen Amerikanern und den Taliban durch Einführung phantastischer Elemente, wie ›den Seelen alter Krieger‹, die in Schwertern eingeschlossen wurden oder ›Erdgeistern‹, die den Taliban beistehen und zu der Vernichtung ganzer Truppen amerikanischer Soldaten führen, dargestellt. Red Sands. USA 2009, Regie: Alex Turner, Hauptrollen: Shane West, Leonard Roberts und Mercedes Masöhn; Afghan Knights. USA 2007, Regie: Allan Harmon, Regiebuch: Brandon K. Hogan, Hauptrollen: Steve Bacic, Michael Madsen, Colin Lawrence. 30 Dieckmann, Dorothea: Guantánamo. Stuttgart: Klett-Cotta 2004.
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nende Kälte«). Es führt dazu, dass die Entscheidung, sie mit heldenhaften Zügen auszustatten, keine Wirkung erzielen kann. Aus diesem Grund suchen die Autoren andere Modi, wie sie potenzielle Leser für ihre Figuren interessieren können: Die finden sie in der Umkehrung des Gegebenen. Die Figuren werden mit Eigenschaften ›aufgeladen‹, die sie als verletzbar, anfällig, antimilitärisch, pazifistisch, gutmütig, sensibel oder verwundbar erscheinen lassen (Jochen Rausch: »Krieg«, Norbert Scheuer: »Die Sprache der Vögel«, Sabrina Janesch: »Ambra«, Dirk Kurbjuweit: »Kriegsbraut«, Dorothea Dieckmann: »Guantánamo«). Es werden weitgehend postheroische Figuren entworfen, die, um die Kriege der Vergangenheit wissend, nach anderen als militärischen Formen der Auseinandersetzung mit Konflikten ringen. Allerdings werden sie fast durchgehend durch die Angriffe der Antagonisten zu militärischen Handlungen gezwungen, die in vielen Fällen als Folge körperliche oder seelische Verletzungen, ja ontologische Unsicherheit nach sich ziehen. Daher führt die literarische Auseinandersetzung mit einer derartigen Störung zur Überprüfung des bestehenden kollektiven Konsensus, des Normativen. Die Figuren legen Rechenschaft darüber ab, ob das, was sie angenommen und geglaubt haben, auch angesichts des real existierenden militärischen Konflikts oder gar Krieges noch greift und ob ihr Werte- und Normensystem einem konfliktlösenden Kontext standhält (Jochen Rausch: »Krieg«, Frank Schätzing: »Breaking News«). Dabei ist es ebenfalls interessant auf den beruflichen Hintergrund zu schauen, dem die literarischen Figuren angehören. In den meisten Fällen handelt sich um Berufsgruppen, die so bis zur Entwicklung des Genres Afghanistan-Roman keiner Literarisierung unterlagen: der Berufssoldat (Wolfgang Schorlau: »Brennende Kälte«), die Berufssoldatin (Dirk Kurbjuweit: »Kriegsbraut«), der Journalist, der in Begleitung des Militärs unterwegs ist und unter dessen Schutz er steht (Frank Schätzing: »Breaking News«, Linus Reichlin: »Das Leuchten in der Ferne«), die Zivillisten, die in Kriegssimulationen beschäftigt sind (Isabelle Lehn: »Binde zwei Vögel zusammen«31) sowie Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten, die für Folterverhöre in Afghanistan ausgebildet werden (Marlene Streeruwitz: »Die Schmerzmacherin«). Die Gültigkeit des Konfigurationsmodells für die Literarisierung des Afghanistankrieges weist darauf hin, dass sich im literarischen Feld offenbar ein bestimmter narrativer Modus des Gedenkens an den Afghanistankrieg etabliert hat. In diesem Beitrag wird anhand des Romans »Die Sprache der Vögel« von Norbert Scheuer das Bild eines Soldaten der postheroischen Gesellschaft dargestellt. Dabei ist mitzudenken, dass es wichtig erscheint, literarische Texte auch als ›Dokumente und Zeitzeugen‹ zu lesen. »Nicht selten«, hat Ursula Heukenkamp 31 Lehn, Isabelle: Binde zwei Vögel zusammen. Köln: Bastei Lübbe 2016.
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angemerkt, »finden wir sie als Anzeichen für verschüttetes Wissen, abgebrochene Auseinandersetzungen, verschleppte Krisen, sodass man hinter sie zurückgehen und einen Zusammenhang rekonstruieren kann, in dem sie Bestandteil sind.«32 An dieser Stelle lässt sich feststellen, dass im Hinblick auf die neuen Entwicklungen im Genre der Kriegsliteratur, von einer Gattung des Kriegsromans der postheroischen Gesellschaft zu sprechen ist. Um auf den theoretischen Kern der Gattung zu kommen, seien folgende Merkmale genannt: die Entwicklung einer postheroischen SoldatInnenfigur, die Konzentration der Erzählung auf die Innenperspektive der Figuren, die Hervorhebung der psychischen Belastung der Figuren, die sich des Öfteren in dem Zustand ontologischer Unsicherheit manifestiert, ein weitgehender Verzicht auf Darstellungen des äußeren Kriegsgeschehens und der militärischen Auseinandersetzungen, die Eingrenzung des Settings, eine kritische Einbettung militärischer Einsätze der westlichen Streitkräfte in das weitere Weltgeschehen, die Diskussion politischer und gesellschaftlicher Fragestellungen sowie die Erarbeitung einer pazifistischen Aussage des Textes. Innerliterarisch hat die postheroische Tendenz für den Text eine strukturbildende Funktion: Der Protagonist kann moralisch gewissermaßen unbelastet am Krieg teilnehmen, weil er zum einen im humanitären Auftrag wirkt und zum anderen über die Geschichte der vorigen Kriege Bescheid weiß, ohne die entsprechenden Primärerfahrungen gemacht zu haben. Problematisch wird es, sobald er in die Position des Goliaths tritt und bestausgerüstet gegen den militärischen schwachen Part der Aufständischen in den Kampf mit Drohnen und Luftwaffe zieht. Als 2011 Dirk Kurbjuweits Roman »Kriegsbraut« erschien, löste er in der Literaturkritik ein vielstimmiges Echo aus, und wurde als erster deutschsprachiger Roman zum Afghanistaneinsatz der Bundeswehr gefeiert.33 In der FAZ wird der Roman ebenso als »der erste deutschsprachige Roman über das Engagement der Bundeswehr am Hindukusch« bezeichnet und zusätzlich mit der Gattungsspezifizierung »postheroisches Kriegsstück« versehen.34 Die Begriffe 32 Heukenkamp, Ursula: Fahnenflucht und Vaterlandsverrat? Erwiderung auf Günter Hartung. In: Zeitschrift für Germanistik 10, 1989, S. 470–476, hier S. 472. 33 Riek, Anna: Eine Frau im Afghanistankrieg. Dirk Kurbjuweits Roman Kriegsbraut. 18. 03. 2011. (Zugriff 02. 02. 2019, nicht mehr verfügbar); Friedrich, Hannah: Gefährliche Liebe. Dirk Kurbjuweits Kriegsbraut. 08. 03. 2011. (Zugriff am 02. 02. 2019, nicht mehr verfügbar); Ogrinz, Barbara spricht mit Dirk Kurbjuweit: Dies ist kein Land für Unschuld. o. Z. (Zugriff 02. 02. 2019, nicht mehr verfügbar); Encke, Julia: Es wird geschossen, es geht jetzt los. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 03. 2011. 34 Mensing, Kolia: Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut. Blut an den Händen. 11. 03. 2011. (Zugriff 06. 08. 2019).
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heroisch/postheroisch beziehen sich auf ein identitäts- und individualitätssemantisches Paradigma, das sich in diesem Fall in dem Einsatz der Frau als Hauptfigur eines Kriegsromans niederschlägt. Es ist der vom Autor bewusst eingeschlagene Weg, nicht den ›Heros‹, den ›Krieger‹ in den Mittelpunkt des Romans zu stellen, sondern den ›schwächeren‹ Part der traditionellen Kampfhandlungen – eine Frau. Die Literatur verhandelt in der Gesellschaft und für die Gesellschaft Formen von Identitäten, spielt sie durch oder macht auf sie aufmerksam. Durch den Einsatz einer weiblichen Figur ist es möglich auf die Kriegsproblematik aus der weiblichen, noch wenig etablierten Perspektive der Kriegsromane zu schauen. Die weibliche Perspektive äußert sich dann in der stereotypen Zuschreibung expressiver Eigenschaften, wie Wärme, Emotionalität und Verständnis.
3.
Paul Arimond – Soldatenfigur im neuen Kriegsroman
In einem Interview äußert sich Norbert Scheuer zu der Frage nach seiner politischen Position angesichts der gegenwärtig ausgetragenen Kriege. Die Fragestellung ergab sich aus dem Umstand, dass auf den ersten Blick eine konkrete, persuasive Haltung in seinem literarischen Werk nicht sichtbar ist, die Figuren beziehen zwar immer wieder Positionen, aber ihre Einstellungen sind divergent und unterliegen im Laufe der Erzählung vieler Wandlungen. Norbert Scheuer sucht ebenfalls nach einer differenzierten Haltung und sagt: »Wenn Sie mich als Person fragen, ob Krieg richtig oder falsch ist, dann sage ich: Krieg ist immer falsch, dennoch kann ich mir Situationen vorstellen, in denen kriegerische Handlungen unausweichlich sind. Die Wirklichkeit ist viel zu komplex, um sie mit Thesen abbilden zu können. Ich glaube, wenn man den Roman [Die Sprache der Vögel, M. W.] liest, kommt man am Ende zu dem Ergebnis, dass das ganze Wahnsinn gewesen war und immer noch ist. Wenn ich als Autor eine These vertreten würde oder sie durch einen Protagonisten vertreten lassen würde, bin ich plötzlich in einer Situation wie in einer Talkshow, in der Pazifisten, Linke, Konservative das Für und Wider eines Einsatzes in Afghanistan erörtern. Ich beginne den Satz des Soldaten jetzt noch besser zu verstehen, der sagte: ›Man kann mit niemandem darüber reden, der nicht da [in Afghanistan, M. W.] gewesen ist.‹ Ich glaube, dass das Grundgefühl des Romans pazifistisch ist, aber es wird nicht als handlungsleitende These vertreten.«35
Mit dem Hinweis auf die Ablehnung der »Regeln der Talkshows«, der Allgemeinplätze, ist eine für den Roman und die Figuren zentrale Kategorie des individualisierten Zugangs zur Welt benannt. In der mannigfaltig gestalteten in35 Norbert Scheuer im Gespräch mit Monika Wolting, 2017. In: Wolting, Der neue Kriegsroman. 2019, S. 336.
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dividuellen Sichtweise des Afghanistan-Konflikts, des Landes und der Bevölkerung werden persönliche, subjektive Bilder entworfen, im Gegensatz zu denen, die in Nachrichten, in journalistischen Reportagen einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden. Durch das polyphone Erzählen entlang der Erlebnisse des Hauptprotagonisten Paul ergibt sich im Roman »Die Sprache der Vögel« eine eigene Authentizität, die ihre Autorität durch die Montage von verschiedenen Figurenreden erhält. Scheuer verzichtet auf die Verwendung des einfachen Rückgriffs auf Reduktion möglicher Positionen, auf eine einfache pars-pro-totoRelation, die die Figuren paradigmatisch erscheinen ließe. Denn Scheuers Protagonist kann keineswegs als eine ›typische‹ Kriegsteilnehmerfigur bezeichnet werden, sie kann auch nicht als Projektionsfläche der universalen Werte und Einstellungen fungieren. Gerade die letztgenannten Aspekte deuten auf eine Erzählung über individuelle Schicksale junger Männer hin, die die Entscheidung treffen, sich für einige Zeit bei der Bundeswehr zu verpflichten. 2015 stand der Band »Die Sprache der Vögel« von Norbert Scheuer auf der Liste der Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse. Vom Feuilleton und der Literaturkritik erhielt der Roman viel Lob und Anerkennung und wurde als »ein schwerelos schönes Buch über die Rettung aus Katastrophen«,36 »ein Buch, das unter die Haut – und auf die Netzhaut geht«,37 »ein so rätselhaftes wie fein gesponnenes Sprachkunstwerk«,38 »ein leises, ein gänzlich unheroisches Buch«39 gefeiert. Norbert Scheuer erzählt in »Die Sprache der Vögel« von einem Sanitätsobergefreiten im Afghanistaneinsatz in den Jahren 2003–2004, dessen größtes Interesse dem Beobachten von Vögeln gilt und dessen Leben nicht an den Kriegserfahrungen, sondern an den persönlichen Erfahrungen zu scheitern droht. Der Protagonist, Paul Arimond, der in vielen Kapiteln des Romans, die in Tagebuchform gefasst werden, die Funktion des Icherzählers übernimmt, trifft die Entscheidung für ein Jahr mit der Bundeswehr als Sanitäter nach Afghanistan zu gehen. Die Entscheidung ist maßgeblich als Konsequenz eines von Paul verursachten Autounfalls zu deuten, bei dem sein bester Freund, Jan, schwere Gehirnverletzungen erleidet. Paul wird von schweren Schuldgefühlen heimgesucht. Während er in Afghanistan stationiert ist, erliegt Jan den schweren Kopfverlet36 Schröder, Christoph, Buchrezension. In: Süddeutsche Zeitung vom 10. 03. 2015. 37 Schneider, Wolfgang: Der Spatz im Panzerwrack. In: Deutschlandradio Kultur vom 10. 03. 2015. (Zugriff am 28. 05. 2020). 38 Granzin, Katharina: Nicht eine, sondern viele Welten. In: Die Tageszeitung vom 10. 03. 2015. (Zugriff am 28. 05. 2020). 39 Hammelehle, Sebastian: Das deutsche Unglück wird am Hindukusch bekämpft. In: Spiegel Online vom 02. 04. 2015. (Zugriff am 28. 05. 2020).
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zungen und stirbt an den Folgen einer weiteren Operation. Der Tod des Freundes bleibt der größte, aber nicht der einzige Verlust, den Paul während seines Einsatzes hinnehmen muss: Theresa, seine Freundin, lernt einen Tierarzt kennen und trennt sich von Paul. Im Camp wohnt Paul mit zwei Soldaten, Sergej und Julian, in einer Baracke zusammen. Paul wird selten als Sanitäter gebraucht, er verfügt über viel Freizeit und verbringt sie oft in der Campbibliothek, um Bücher über die Vogelwelt zu studieren, oder er beobachtet Vögel, die in das Lager kommen, beschreibt sie und fertigt Kaffeesudaquarelle mit ihren Abbildungen an. Während einer seiner Patrouillenfahrten entdeckt er in der Nähe des Lagers einen See. Von dem Gedanken ergriffen, an den See zu gelangen, findet er mithilfe Sergejs eine Möglichkeit, unbeobachtet das Lager nachts zu verlassen. Er unternimmt einige nicht angemeldete Ausflüge ins Terrain, beobachtet die dort rastenden Vögel, bis die Lichtschranke am Schutzwall repariert und die Wachen am Turm gewechselt werden. Eines Tages aber, beeinflusst durch die Nachricht über Jans Tod, die Teresa ihm in einem Brief mitteilt, verlässt er »gegen ausdrücklichen Befehl« (SV, 226) das Lager. In der letzten Notiz, die sich im Roman findet, berichtet Paul über seine Ankunft am See. Helena, seine und Julians frühere Lehrerin, die zufällig in den Besitz von Pauls Schriften kommt, findet noch einige wenige Aufzeichnungen »die Paul offensichtlich im verwirrten Zustand geschrieben hatte« (SV, 227). »Paul war scheinbar ziellos durch Afghanistan geirrt«, »afghanische Bauern haben ihm zu Essen gegeben« bis ihn Monate später ein »amerikanischer Hubschrauber in einer Steppe an der pakistanischen Grenze entdeckte« (SV, 227). Paul wird im geistesgeschwächten Zustand an die deutschen Truppen übergeben und nach einer Zeit der Genesung im Lager nach Deutschland zurückgeschickt. Eine Notiz der dpa, die als Bestandteil des Textes fungiert, weist mittelbar darauf hin, dass Paul, während des Anschlags, der auf den Bus der Bundeswehrsoldaten verübt worden ist, verletzt wurde. Die Vermutung bleibt schließlich bis zum Ende des Romans offen, ob Paul den Anschlag überlebt hat, denn auf Helenas Nachfrage, ob Paul sich im Krankenhaus befindet, bekommt sie eine verneinende Antwort »es gebe keinen Paul Arimond, ganz bestimmt liege so jemand auf keiner Station des Krankenhauses« (SV, 180). Auf die Fragen, ob er entlassen oder verlegt worden wäre, »bekam sie keine weiteren Auskünfte« (SV, 180). An dieser Stelle verliert sich die Spur von Paul Arimond. Das Geheimnis über das Schicksal von Paul wird in einem weiteren Roman Norbert Scheuers »Am Grund des Universums« von 2017 preisgegeben.40 Paul überlebt den Anschlag der Aufständischen auf den Mannschaftsbus, mit dem die Soldaten vom Militärlager zum Flughafen gebracht wurden, kehrt »schwer verletzt und an den Rollstuhl gefesselt aus Afghanistan nach Kall zurück« (GU, 23). 40 Scheuer, Norbert: Am Grund des Universums. München: C. H. Beck 2017. Im Folgenden unter der Sigle GU mit einfacher Seitenzahl.
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Während des Anschlags erleidet er Kopfverletzungen, die zu Gedächtnisschwund und zu körperlichen Dispositionen führen: »[M]anchmal wurde er plötzlich ohnmächtig, sein Kopf fiel dann zur Seite, und Speichel lief aus seinem Mundwinkel« (GU, 30); »[E]ine schmerzende, eiternde und nur langsam heilende Wunde am Oberschenkel sowie eine Fraktur des Schienbeins zwangen ihn in den Rollstuhl. Der eigentliche Grund für seine Lähmungserscheinungen war allerdings eine Kopfverletzung« (GU, 31). Scheuer arbeitet an dieser Stelle ganz klar mit der Umkehrung des Motivs von David und Goliath. Die Bundeswehrsoldaten, die sich bereits auf dem Weg nach Deutschland befinden, werden als hilflose Opfer eines heimtückischen Überfalls der Aufständischen dargestellt. Seit der Rückkehr wohnt Paul im Pflegeheim, ist schweigsam geworden, erzählt nicht von seinen Erfahrungen in Afghanistan, unterhält keinen Kontakt zu seiner Mutter und weicht möglichen Fragen bezüglich des Einsatzes stets aus. Paul hat das Gefühl der Präsenz im Leben verloren, er kann sein eigenes Sein nicht mehr vollständig als »real, lebendig, ganz erfahren«.41 Die Erfahrungen, die ihm durch den Afghanistaneinsatz zu Teil wurden, führen zur Entfremdung von sich selbst und von der Welt, Paul befindet sich im Zustand der ontologischen Unsicherheit. Wiederholt gebraucht der den Satz: »[N]iemand, der nicht selbst dort gewesen sei, könne das verstehen« (GU, 37). Die Figuren nehmen in narrativen Texten eine meist zentrale Stellung ein, denn sie werden als Handlungsträger eingesetzt. Ihre Charakterisierung wird vom Erzähler, von weiteren Figuren oder von ihnen selbst übernommen, indem geschildert wird, was sie denken, tun, wofür sie sich interessieren, was für sie wichtig erscheint, welche Aussagen sie über sich selbst, die anderen und die Umgebung treffen. Im Roman von Norbert Scheuer werden vier Soldaten näher dargestellt: der Icherzähler Paul, seine zwei Kameraden Joachim und Sergej und der Informationsoffizier Levier. Diese vier Figuren werden individualisiert, dem Leser werden vier einmalige und unwiederholbare Schicksale präsentiert. Demnach werden die Figuren nach Möglichkeit mehrdimensional angelegt und durch eine Vielzahl an Details charakterisiert. Zum Teil werden sie vom Erzähler Paul beschrieben oder sie charakterisieren sich selbst in Gesprächen, die von Paul in seinen Notizen festgehalten werden. Wiederholt finden sich in der Helenaund Theresa-Erzählung Aussagen über Paul. Diese Technik führt dazu, dass sich dem Leser kein einheitliches Soldatenbild bietet. Es entsteht kein homogenes Bild von dem Soldaten in Afghanistan, das durch eine konkrete Menge von Eigenschaften, die soziologisch oder/und psychologisch abzuleiten wären, bestimmt ist. Die Figuren in Scheuers Roman verfügen über eine personalisierte soziale, psychologische und weltanschauliche Artikulierung. Die vier Soldaten entscheiden sich aus sehr unterschiedlichen Gründen für den Einsatz in Af41 Laing, Das Selbst und die Anderen. 1976, S. 49.
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ghanistan. Paul bewirbt sich um die Stelle eines Sanitäters, weil er nach dem teilweise selbst verschuldeten Unfall keine sinnvolle Beschäftigung für sich finden kann. Er wird von einer starken Unruhe gepackt und leidet an Schlaf- und Essstörungen. Sich selbst charakterisiert er wie folgt: »Diese Fahrten mit Jan sind das Einzige, was ich in dieser Zeit unternommen habe. […] Schließlich ist der Einberufungsbescheid gekommen. Ich habe das wie einen Ausweg empfunden« (SV, 84).
Nach der Einberufung scheint das Leben für Paul zunächst etwas an Stabilität und Ruhe gewonnen zu haben. Die räumliche Entfernung führt zu einem langsamen Verblassen der Erinnerungen an den Unfall und seine verheerenden Folgen: »Seit ich im Lager bin, bemerke ich an mir eine merkwürdige Zufriedenheit, ich ertrage vieles besser, ich habe das Gefühl, als würde die Zeit stillstehen und zugleich rasend schnell vergehen, wie in einem herumwirbelnden Karussell, in dessen Zentrum ich in einem Schwebezustand lebe« (SV, 81).
In den Aufzeichnungen finden sich aber auch andere Beschreibungen seines inneren Zustands, die von Aufruhr, Besorgnis und Angst zeugen: »Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich komme nicht zur Ruhe, es fällt mir schwer, einen Gedanken zu fassen. Ich habe keine Ahnung, woher diese Unruhe kommt. Vielleicht ist es Angst« (SV, 23).
Zugleich wird Paul von anderen Kameraden als eher entrückt und in sich gekehrt beschrieben. Seine Hauptbeschäftigung, beziehungsweise sein Hauptinteresse, gilt nicht der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit als Sanitäter, sondern er füllt seine Zeit mit Vogelbeobachtungen und mit dem Studieren ornithologischer Abhandlungen aus, die er in der Camp-Bibliothek findet: »Im Feldlager vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht abends nach dem Dienst auf den Turm klettere. Ich habe mein Fernglas, eine Wasserflasche und einige Bücher dabei, die ich in der Lagerbibliothek ausgeliehen habe« (SV, 55). »In der Pause sitze ich auf der Treppe des Sanitätscontainers und beobachte zwei Türkentauben (Streptopelia decaocto), die sich ins Lager gewagt haben, sie hocken ungefähr fünf Meter von mir entfernt auf dem Schotterweg« (SV, 44).
Wenn er zu Einsätzen ausrückt, erfüllt er seine Pflicht sachbezogen, emotional unterkühlt und professionell. Er zeigt kein emotionales Engagement an der ISAF-Mission, deren Teil er geworden ist. Insofern betreffen Pauls Überlegungen gar nicht oder kaum den Sinn des geführten Kampfes, er nimmt die stattfindenden Kampfhandlungen wahr, aber emotionalisiert sie nicht. »In der Nacht schlägt eine Rakete in der Mitte des Lagers ein. Auf dem Feldbett liegend, höre ich an- und anschwellendes Pfeifen, darauf folgt ein dumpfer Knall, wie eine fest
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zugeworfene Zimmertür. Unsere Welt kommt mir vor, wie ein großes verwinkeltes Haus mit Fluren, Stockwerken und Türen, in einigen Räumen herrscht Krieg. In diesem Augenblick weiß ich nicht, was ich dort eigentlich zu suchen habe« (SV, 98).
Sergej, ein Kamerad von Paul, dessen Vater noch als russischer Soldat am Krieg in Afghanistan in den 1980er Jahren teilgenommen hat, sehnt sich stets nach Hause, telefoniert jeden Abend mit seiner Frau, den Kindern (SV, 104) und seinen Eltern. Durch die Beschäftigung mit seinem Zauberwürfel sucht er Ablenkung von der ihn umgebenden Realität im Camp und den Problemen zu Hause (SV, 59). Levier, der für die Einsätze von Drohnen verantwortlich ist und eng mit den amerikanischen NATO-Truppen zusammenarbeitet, zeigt auffällige Verhaltensstörungen: Er versinkt zusehends in Selbstgespräche, verliert die Bewegungskoordination, wirkt abwesend (SV, 109). Seine Psyche hält den Belastungen, die der Einsatz mit sich bringt, nicht stand. Schlussendlich muss er das Lager verlassen und nach Deutschland zurückgeflogen werden. Die Figur von Levier wird auf der Matrix eines verwundeten Goliaths entworfen. Die Drohnen, über die Levier verfügt, stellen die gefährlichste Waffe dar, sie werden ferngesteuert und können jedes Ziel zerstören. Es sind manifeste Züge einer übermächtigen, bestausgerüsteten Goliath-Figur, die durch die Darstellung des psychischen Zustands Leviers als verletzlich, schwach und angreifbar wirkt. Scheuers Figuren befinden sich zu Ende ihres Afghanistaneinsatzes in dem Zustand ontologischer Unsicherheit. 2020 sagt Nariman Hammouti, Leutnant zur See, in einem Interview für die »ZEIT«: »Offen gesagt, reiße ich mich nicht darum, in solchen Einsätzen meinen Kopf hinzuhalten. Ich war zweimal in Afghanistan und habe Sachen gesehen, die ich lieber nicht gesehen hätte.«42 An dieser Stelle bietet sich an, mit der Kategorie der »postheroischen Gesellschaft« von Herfried Münkler zu operieren, denn in Scheuers Narration rücken die dargestellten Personen signifikant von einem klassischen Heldenbild eines Kriegers ab. Mit dem Begriffspaar heroisch und postheroisch wird erneut auf ein identitäts- und individualitätssemantisches Paradigma rekurriert, das insbesondere in der Literatur der Moderne eine zentrale Stellung annimmt.43 Im Verlauf der Moderne ist es zu einer Verdrängung der heroischen Moral, die in einer männlich-aristokratischen Kriegermentalität wurzelte, durch das postheroische Gehabe gekommen. Zu den klassischen heroischen Tugenden zählte hauptsächlich die Bereitschaft, das eigene und das fremde Leben für die Erfüllung bestimmter Wertvorstellungen aufs Spiel zu setzten. Herfried Münkler sieht den Grund für die Verabschiedung des 42 Schmidt, Helmut: Soll die Bundeswehr in den Kasernen bleiben? In: Die Zeit 15, 2020 vom 02. 04. 2020, S. 10. 43 Vgl. Münkler, Herfried: Heroische und postheroische Gesellschaften. In: Merkur 61, 2007, S. 742–752.
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Altheroischen in der »Erosion des Religiösen«,44 die sich in der nachlassenden Unterstützung größerer Bevölkerungskreise für Gruppen, die sich durch einen Ehrenkodex und ein militärisches Ethos an Heldenvorstellungen, an die Sinnhaftigkeit des »Heldentods« gebunden fühlen, auswirkte. Diese Motivation kann aber in der postheroischen Gesellschaft nur noch rudimentär heraufbeschworen werden. Die Figuren in Norbert Scheuers Roman werden von anderen Interessen, als den »Heldentod« zu sterben oder für das »Vaterland zu kämpfen«, zum Handeln angeregt. Julian, eine der wenigen Figuren des Romans, für die das Soldatenleben eine existenzielle Bedeutung hat, spricht lieber von einer »Karriere in der Bundeswehr«. Über die Gründe für seine Entscheidung, bei der Bundeswehr zu bleiben, wird im Roman nichts gesagt. Allerdings lässt sich vermuten, dass es sich nicht um Heldentaten auf dem Kriegsfeld handelt, sondern eher um den Beweis des eigenen Könnens, der eigenen physischen wie der psychischen Stärke. Hinzu kommt der Umstand, dass Julian ein Waisenkind ist, das laut Erzählung von Helena lange Jahre keine Freunde finden konnte und von einem Minderwertigkeitsgefühl verfolgt wurde (SV, 65). So liegt die Vermutung nahe, dass er sich bei der Bundeswehr einen Halt zu finden verspricht. »Julian möchte Offizier werden, seine Ausrüstung muss immer entsprechend perfekt sein, er liest Bücher über Kriegstaktiken und Strategien für höhere Offiziere, geht täglich ins Fitnesscenter und joggt durchs Lager mit einem Rucksack, in den er seine Hanteln gepackt hat. Nach der Zeit hier möchte Julian einen Auswahltest machen und hofft, anschließend die Bundeswehrschule besuchen zu können« (SV, 78).
Die Beschreibung von Julians Bestrebungen fußt auf aufklärerischen Ideen der Bildung. Scheuer betont Julians Anspruch, sein Soldatentum auf Wissen und Bildung, nicht auf Heimatliebe und Heimatstolz aufbauen zu lassen. Die Figuren des Romans weisen eine besondere Verwundbarkeit auf. Paul leidet unter Schuldgefühlen seinem Freund gegenüber, Sergej erträgt sein Heimweh nicht, weint und klagt, Julian hat Angst, seine Karriere könnte durch das Fehlverhalten seiner Kameraden Schaden nehmen und Levier erkrankt psychisch an der Überforderung, die der Einsatz an ihn stellt. Sowohl die Bundeswehr als auch die anderen NATO-Truppen, die das Lager bewohnen, müssen sich mit der ihnen gegebenen, begrenzten Interaktionsmöglichkeit mit der Umwelt abfinden. Paul berichtet: »Wir leben in dem Lager wie in einem großen Käfig. Ich kann das kaum noch ertragen« (SV, 110). Die Soldaten dürfen das Lager nur zu Patrouillen in schwer gepanzerten Dingos verlassen, sonst verbringen sie die Tage in dem nach außen stark geschützten Camp. Die hier skizzierte militärische Stärke ist bezeichnend für die Eigenschaften des Goliaths. Nur bei offenem Beschuss dürfen sie sich zur Wehr setzten. 44 Ebd., S. 742.
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Ihr Lager wird oft aus dem Hinterland beschossen, die nächtlichen Aktionen richten keinen Schaden an, rufen jedoch Angstzustände hervor. Herfried Münkler sieht in einer solchen Form der Kriegsführung eine Asymmetrie, die als charakteristisch für die neuen Kriege zu bezeichnen ist. Die waffentechnisch und militärorganisatorisch unterlegene Seite der Aufständischen, also der eigentliche David-Part, führt die Angriffe durch und indem sich die Talibans unter die zivile Bevölkerung mischen, unterbinden sie einen möglichen Gegenangriff. Das Bild des unheroischen Soldaten, der die Charakterzüge eines Goliaths bewusst abgelegt hat, wird durch Pauls Interessen und Handlungen nur noch weiter gesteigert. Paul beobachtet durch sein Militärfernrohr hauptsächlich Vögel, selten gilt seine Achtsamkeit dem potenziellen Feind, der sich in der Nähe des Lagers befindet. Um seinen Neigungen nachzugehen, verstößt er bewusst gegen Verbote, die im Camp gelten: »Ich nehme mir vor, ihn [den See, der sich außerhalb des Lagers befindet] bei nächster Gelegenheit zu besuchen. Ich möchte dort Vögel beobachten, in der Hoffnung, unbekannte Arten zu entdecken. Ich will unbedingt an seinen Ufern sitzen, obwohl es verboten ist, das Feldlager ohne ausdrückliche Erlaubnis zu verlassen« (SV, 25).
Paul zeigt soldatischen Ungehorsam und verlässt mehrmals ungesehen das Lager. Unter dem verheerenden Eindruck der Information über Jans Tod durchbricht er zum letzten Mal alle Sicherheitsschranken, die das Lager von der Außenwelt trennen, und flieht an den See, an dem er in der Vergangenheit des Öfteren Vögel beobachtete. Der Soziologe Bernhard Giesen geht davon aus, dass die Gestaltung einer jeden sozialen Ordnung, jeder Gemeinschaftsgruppe an die Herausbildung einer fundamentalen Differenz zwischen einer vertrauten Wir-Gemeinschaft, einer Gruppe mit einem bestimmten Selbstverständnis und einer fremden Gruppe der Außenwelt, gekoppelt ist.45 Diese Überlegung lässt sich auf die Kategorien eines Erzähltextes übertragen, denn die kulturelle bzw. die literarische Produktion von Gesellschaft basieren auf Wirklichkeitskonstruktionen. So bestimmt schon Jurij M. Lotman Kunst als modellbildendes System: Ein Kunstwerk ist ein Modell der unbegrenzten Welt und vermag die Weltkomplexität sinnhaft zu reduzieren.46 Paul durchbricht die Ordnung und macht auf die zum Teil künstlich geschaffenen Differenzen zwischen beiden Gesellschaften (der einen im Lager und der anderen der Afghanen) aufmerksam. Die Wir-Gemeinschaft wird in dem Moment des Ausbruchs zu Verfolgergruppe und die fremde Gruppe wird zur le45 Vgl. Giesen, Bernhard: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 60. 46 Vgl. Lotman, Juri M.: Die Kunst als modellbildendes System (Thesen). In: Ders. Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Übers. von Michael Dewey u. a. Leipzig: P. Reclam jun. 1981, S. 67–88.
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benserhaltenden Gruppe. So könnte hier mit Michail M. Bachtin weiter argumentiert werden: Der raumsemantische Eigenwert literarisch inszenierter Schwellenbereiche liegt darin, dass sie als »Orte, an denen es zu Krisen […], zum Fiasko und zur Auferstehung, zur Erneuerung« kommt, verstanden werden.47 Paul bricht aus und erlebt Afghanistan anders, beobachtet eine reiche Tierwelt, ist von der Farbenpracht auf dem See und am Himmel fasziniert. Er erinnert sich an die mythischen Erzählungen von Ambrosius, die sein Vater ihm übermittelt hat: »Früher gruben die Bauern in den Höhlen im Hindukusch nach Lapislazuli, einem Schmuckstein, so blau wie der Himmel hier. Ambrosius berichtete von weißen Echsen, die in diesen Höhlen lebten und etwa so groß wie der Mittelfinger eines Erwachsenen waren« (SV, 102).
Man kann es erinnerungstheoretisch weiter argumentieren und festhalten: Erinnert wird bevorzugt das, was sich als identitätsstiftend erweist. Grundlegend für den Prozess des Erinnerns ist der Umstand, dass Personen darauf aus sind, vergangene Primär- und Sekundärerfahrungen in ein sinnstiftendes Verhältnis zur jeweiligen Gegenwart zu setzen, um die eigene Persönlichkeit zu stärken. Paul braucht die Erinnerungen an die Geschichten des Urgroßvaters, um ein positives, friedliches, menschenfreundliches Bild Afghanistans inmitten des Krieges entstehen zu lassen. Die Erschaffung dieser Utopie ist für ihn existenziell notwendig, zunächst für seinen Verbleib im Lager wie auch für seinen Ausbruch.
4.
Fazit
Norbert Scheuer gelingt an der Stelle das, was 2005 Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki, Michael Schindhelm in ihrem Artikel »Was soll der Roman?« forderten: »die beständige Sichtung unserer untergehenden Welt und das Ringen um neue Utopien«.48 Dieses Ringen um eine Utopie lässt Paul auf Afghanistan mit einem nicht vom Krieg gezeichneten Blick schauen, sich an der atemberaubenden Landschaft, der vielfältigen Vogelwelt, den prächtigen Farben des Himmels erfreuen. Er findet Zuflucht in der Vogelschau. Sein Blick nährt sich von den utopischen Bildern Afghanistans, die Ambrosius in die Familiengeschichte eingebracht hatte. Man würde in diesem Falle erinnerungstheoretisch davon sprechen, dass die Sekundärerfahrung bei Paul nicht durch die Primär47 Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Hrsg. von Michael C. Frank/Kirsten Mahlke. Übers. von Michael Dewey. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 186. 48 Dean, Martin R./Hettche, Thomas/Politycki, Matthias/Schindhelm, Michael: Was soll der Roman? In: Zeit Online vom 23. 06. 2005. (Zugriff am 15. 02. 2019).
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erfahrung des Camps getilgt wurde, sondern durch seinen Ausbruch aus dem Camp noch an Stärke gewann und ihn Afghanistan anders erleben ließ. Die kategoriale Störung, auf der der Roman aufgebaut ist, nimmt im Vorgang der Grenzüberschreitung einen produktiven Charakter an und führt zu einer neuen Sicht auf Afghanistan. Paul erzählt wenig von zerstörten Städten, vermummten Soldaten, rollenden Panzern, blutigen Einsätzen, sein Interesse gilt einer friedlichen, alle Kriege überdauernden Welt. Er setzt die Werte in den Vordergrund, die nicht militärisch ausgerichtet sind. Dieses Verfahren macht Paul zu einer Figur der postheroischen Gesellschaft, in der ein Wertewandel stattgefunden hat, der die vorbehaltlose Hingabe an den Kampf ums Vaterland Vergangenheit werden ließ.
Primärliteratur Afghan Knights. USA 2007, Regie: Allan Harmon, Regiebuch: Brandon K. Hogan, Hauptrollen: Steve Bacic, Michael Madsen, Colin Lawrence. Dieckmann, Dorothea: Guantánamo. Stuttgart: Klett-Cotta 2004. Hacker, Katharina: Die Habenichtse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. Haffner, Helmut H.: Geflüsterte Schreie: Erzählung. Frankfurt/M.: edition fischer 2014. Janesch, Sabrina: Ambra. Berlin: Aufbau 2012. Kurbjuweit, Dirk: Kriegsbraut. Berlin: Rowohlt 2011. Lehn, Isabelle: Binde zwei Vögel zusammen. Köln: Bastei Lübbe 2016. Menasse, Robert: Die Hauptstadt. Berlin: Suhrkamp 2017. Niermann, Ingo/Wallasch, Alexander: Deutscher Sohn. Berlin: Blumenbar 2010. Rausch, Jochen: Krieg. Berlin: Berlin Verlag Taschenbuch 2013. Red Sands. USA 2009, Regie: Alex Turner, Hauptrollen: Shane West, Leonard Roberts und Mercedes Masöhn. Reichlin, Linus: Das Leuchten in der Ferne. Berlin: Galiani 2013. Schätzing, Frank: Breaking News. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014. Scheuer, Norbert: Am Grund des Universums. München: C. H. Beck. Scheuer, Norbert: Die Sprache der Vögel. München: C. H. Beck 2015. Schorlau, Wolfgang: Brennende Kälte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. Streeruwitz, Marlene: Die Schmerzmacherin. Frankfurt/M.: S. Fischer 2011.
Sekundärliteratur Augstein, Jacob: Peng. Das saß. In: Der Spiegel 30, 2018 vom 21. 07. 2018. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Hrsg. von Michael C. Frank/Kirsten Mahlke. Übers. von Michael Dewey, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. Bassler, Moritz: Der populäre Realismus. (Zugriff 03. 04. 2020).
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Monika Wolting
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Postheroische Gesellschaft. Eine neu erzählte Geschichte von David und Goliath
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Rafał Pokrywka (Bydgoszcz)
Rhetorik der Genrewertung in Zeiten der Enthierarchisierung
Abstract: Über den Platz eines Genres innerhalb der Genrehierarchien entscheiden Akteure und Wertungsgemeinschaften im literarischen Feld, die über die Qualität von Genres urteilen und sie dadurch auf- oder abwerten. So verhalten sich diese Genrehierarchien stets als dynamisch und relativ. Genrewertungen werden mittels rhetorischer Strategien zustande gebracht, die in zwei Kategorien aufgeteilt werden: Kontextbezogene Wertungen (hier personen-, medien-, publikums-, genre- und kanonbezogene Wertungen) sowie textbezogene Wertungen (diskursiv-thematische und formal-sprachliche Wertungen). Wegen der Vielfalt an Werten, Instanzen, Hierarchien und Wertungen scheint es unmöglich, den aktuellen Status eines Genres eindeutig zu bestimmen, es lassen sich jedoch Karrieren von Genres verfolgen, die die Grenzen zwischen der sog. Unterhaltungskultur und der sog. Hochkultur überschreiten.
Der Begriff guilty pleasure, der noch vor Kurzem das beim Konsum von Liebesromanen, Krimis oder Science-Fiction auftretende Gefühl der Unsicherheit bezeichnen sollte, wird langsam zu einem Artefakt der Ideengeschichte. Genres wechseln Plätze in vorhandenen Hierarchien und bilden neue heraus. Die Vielfalt der Hierarchien lässt die immer noch bestehende Kluft zwischen dem Hohen und Niedrigen langsam verschwinden. Institutionen, die Kanons gestaltet und über den Wert der Kulturtexte entschieden haben, verlieren an Kraft. Rezipienten bilden Wertungsgemeinschaften mit eigenen Kanonisierungssystemen (Kritik, Medien, Preise), die sich außerhalb der Hegemonie der meinungsbildenden Instanzen verorten. Diese und viele andere Gründe entscheiden über eine massenweise Enthierarchisierung in Werteordnungen, die auch Produktion und Rezeption der aktuellen Literatur steuern. Hinter all diesen Umwertungen stehen Individuen und Gruppen, die als Akteure im Feld der Kulturproduktion im Sinne Pierre Bourdieus verstanden werden können. Ihre Wertungsmacht ist unterschiedlich und hängt von den aktuellen Positionen und verfügbaren Kapitalsorten ab. In einer hierarchisch organisierten Kultur bleiben die meisten Akteure ohne Einfluss und ordnen sich den Urteilen der Geschmacksrichter unter. In einer pluralisierten Kultur entsteht
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eine Vielzahl von dynamischen Hierarchien, die aufgrund des Mangels an gemeinsamen Kriterien unvergleichbar sind. Es scheint, dass die meisten westlichen oder globalisierten Kulturen der Gegenwart sich im Übergang von der hierarchischen (viele Institutionen sind noch mächtig, z. B. Schulen) zur pluralisierten Kulturordnung (hier vor allem das Internet als Ort der Enthierarchisierung) befinden.
Der unmögliche Konsens Durch die Veränderungen der Publika werden auch Kulturtexte anders produziert, an neue Hierarchien angepasst und auch – was nicht zu unterschätzen ist – mit der wachsenden Bedeutung der Unterhaltung als einer führenden Dienstleistung in kapitalistischen Gesellschaften besser unterstützt und finanziert. Wiederum bedeutet das jedoch nicht, dass die Qualität der Kulturartefakte sich bereits auf Produktionsebene ändert – das lässt sich schwer nachweisen, eben wegen einer wachsenden Unsicherheit in Bezug auf mögliche Vergleichskriterien und Schwierigkeiten bei der Bewertung von Texten aus verschiedenen Perioden oder Strömungen, was eine Unvereinbarkeit von Werten und Urteilen nach sich ziehen und jeglichen Konsens unmöglich machen muss. Diesen Konflikt auf Diskursebene bezeichnet Jean-François Lyotard als Widerstreit (le différend), in dem es zu keinem Konsens kommen kann, weil sich diverse »Diskursarten« an unterschiedlichen »Spieleinsätzen« ausrichten.1 Wertungskonflikte lassen sich als Widerstreite bezeichnen, nicht weil sie ungelöst bleiben, sondern weil eine Diskrepanz von Spielregeln, die den Widersachern zu eigen sind, einen Dialog unmöglich macht. Es handelt sich um eine Verteidigung der Spielregeln, anhand deren bestimmte Wertungen formuliert und legitimiert werden, was selbstverständlich anhand eben derselben Regeln zustande kommt. Die Folgen von derart angelegten Wertungen sind eine Verfestigung von Machtpositionen im Feld und eine Umwertung, d. h. ein Wechsel der bisher geltenden Maßstäbe durch den Einfluss anderer Spielregeln. Der von Barbara Herrnstein Smith diagnostizierten Kontingenz der Werte2 muss somit eine Menge von Widerstreiten entsprechen. Bourdieu würde den Wertungswiderstreit wahrscheinlich in der Allmacht der Doxa sehen, die das Gegebene als das Wahre darstellt. Für Jost Schneider geht eine Veränderung der Wertungskultur nur mit sozialem Aufstieg einher: »Und wenn die Spielregeln 1 Vgl. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. Übers. von Joseph Vogl. München: Wilhelm Fink 1987, S. 227. 2 Vgl. Herrnstein Smith, Barbara: Contingencies of Value. Alternative Perspectives for Critical Theory. Cambridge: Harvard University Press 1988.
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verändert werden, bleiben es doch Regeln«3, und damit trifft er, wahrscheinlich unbeabsichtigt, den Schwerpunkt des Widerstreits in der Wertung – ausgerechnet weil es auch andere Spielregeln gibt, kann es nie zu einem endgültigen Einverständnis kommen. Der sehr deutliche Widerstreit, der zwischen Klassenkulturen zustande kommt und der bereits der stark vereinfachten Struktur von Schneider (Kompensationskultur, Unterhaltungskultur, Gelehrtenkultur und Repräsentationskultur) zu entnehmen ist, stellt jedoch nur eine bequeme Generalisierung dar, die sich z. B. in den Begriffen der »Unterhaltungsliteratur« und der »schöngeistigen Literatur« widerspiegelt. Wenn der Widerstreit nur zwischen Klassenkulturen bestehen würde, gäbe es keine Verschiebungen in Kulturhierarchien, demzufolge auch keine in Genrehierarchien. Jede Schicht würde die ihr angepassten Texte lesen, bestimmte Genres bevorzugen und sie entsprechend, im Rahmen der gegebenen Wertesysteme, beurteilen. In dem hier präsentierten Modell kommt es zu einem Widerstreit nicht nur zwischen Klassenkulturen, sondern auch – und vor allem – zwischen den über Klassengrenzen hinausgehenden Wertungsgemeinschaften, was eine ständige Aktualisierung der Spielregeln und einen Wertungswandel nach sich zieht. Es können sich somit Gemeinschaften ausbilden, die Regeln der Wertung von mehr als einer Klasse oder einem Rezeptionsmodus beanspruchen, was bei Bourdieu als kulturelle Allodoxia marginalisiert wird.4 Zu einer ähnlichen Aufhebung des Widerstreits kommt es, wenn unterschiedliche Anhänger eines Genres dieses durch verschiedene Wertungsstrategien aufwerten. Dass es zwischen ihnen Unterschiede in Bildung, Wertungsstrategien und Motivationen gibt, ist hier zweitrangig. Dass es aber zwischen einzelnen Wertungsgemeinschaften auch zu unzähligen Konflikten kommt, unterliegt keinem Zweifel, man muss nur bedenken, dass die Konfliktlinien sich nicht unbedingt mit den Teilungen innerhalb der sozialen Struktur decken. Renate von Heydebrand und Simone Winko beantworten in diesem Kontext die wichtigste Frage der Wertungstheorie: »Warum ist Konsens im Werten von Literatur so schwierig zu erzielen?«5, indem sie folgende Gründe nennen: (1) Das Wertungsobjekt muss gleich aufgefasst werden (Individuen und Gruppen bilden sich Vorstellungen von Objekten und unterliegen damit der Illusion, dass sie über dasselbe sprechen); (2) Es muss von den gleichen axiologischen Werten ausgegangen werden (es gibt keine einheitlichen Maßstäbe zur Bewertung von Lite3 Schneider, Jost: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin: Walter de Gruyter 2004, S. 453. 4 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs/Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2018, S. 504. 5 Heydebrand, Renate von/Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur: Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1996, S. 105.
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ratur); (3) Die Zuordnungsvoraussetzungen dürfen sich nicht wesentlich unterscheiden (es geht um die Zuordnung einer Eigenschaft des Textes zum axiologischen Wert); (4) Die axiologischen Werte müssen gleich gewichtet werden (z. B. »Spannung« und »stilistische Gestaltung« müssen für zwei Forscher genauso wichtig sein, damit sie einen Konsens erzielen).6 Eine Nichtbeachtung dieser Voraussetzungen ist generell der Grund für Wertungskonflikte im Rahmen der Genrehierarchisierung, als Ergänzung sollte noch die von Stefan Neuhaus konstatierte Vermischung von attributiven und axiologischen Werten hinzugefügt werden,7 der gemäß der oben genannten Postulate des Dialogs vorzubeugen wäre. Zu bedenken ist jedoch, dass diese Postulate Spielregeln sind, die wahrscheinlich nur von zwei idealtypischen Lesern mit vergleichbarer Belesenheit, Erfahrung und Bildung befolgt werden könnten. In der Praxis der Wertung wird die Möglichkeit, Konsens zu erzielen, bereits auf der Objektebene erschwert – überspitzt formuliert (nach Stanley Fish) erschaffen sich Gemeinschaften jeweils ihre eigenen Objekte im Prozess der Interpretation und so spaltet sich der Weg, auf dem eine objektbezogene einvernehmliche Kommunikation zustande kommen könnte.8
Dynamik der Genrehierarchien Die Überzeugung von der Existenz einer Genrehierarchie begleitet und determiniert das gattungsbewusste Lesen – wie man annehmen darf – in allen Wertungsgemeinschaften und in allen Rezeptionskulturen oder sozialen Klassen. Nicht nur eine kanonkonforme Lektürewahl und konventionelle Interpretationen, sondern auch der Widerstand gegen die Anerkennung der besagten Genrehierarchie, eine entschiedene Positionierung von Wertungsgemeinschaften in der Opposition bzw. Gegenkultur sowie die neue Kritik von genrestiftenden Meisterwerken (vor allem außerhalb der hegemonialen Institutionen) beweisen, dass diese Überzeugung als tief eingewurzelt und nicht nur als vager Orientierungspunkt zu betrachten wäre. Dieser Zustand entspringt unter anderem der von Bourdieu beschriebenen Doxa von der Allmacht des Gelehrten,9 seinem Status des Geschmacksrichters, weiter der obligatorischen Schulbildung und Politik angesehener Verlage. Selbst die buchhändlerischen Praktiken, wie die Trennung der Krimis, Thrillers bzw. Spannung von der Abteilung Roman, ver6 Vgl. ebd., S. 105–110. 7 Vgl. Neuhaus, Stefan: Literaturvermittlung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2009, S. 51. 8 Vgl. Fish, Stanley: Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge: Harvard University Press 1980, S. 171. 9 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs/Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 310–315.
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stärken den Eindruck, dass es irgendwo eine Gattungshierarchie gibt, der ein »Kernkanon«10 von positiv gewerteten Werken zugrunde liegt und in der Genres der sog. Unterhaltungsliteratur einen niedrigen Stellenwert einnehmen. Anhand von literaturgeschichtlichen Erkenntnissen, Urteilen der Kritik und der Politik der Bildungsinstitutionen lässt sich tatsächlich eine Genrehierarchie formulieren, in der das Prinzip der Verknappung herrscht – je kleiner das Publikum, desto höher sind symbolische Profite (z. B. Lyrik, Essay),11 gemäß der umgekehrten Ökonomie des literarischen Feldes, die von Bourdieu ausgearbeitet wurde.12 Von einem distanzierten Standpunkt aus betrachtet, erweist sich diese Hierarchie allerdings als eine von vielen, die von verschiedenen Wertungsgemeinschaften unterstützt werden. Die Genrehierarchie der Gelehrtenkultur dient meistens als Bezugspunkt, sei es als Muster, sei es als Beispiel ex negativo, das jedoch nicht vergessen werden darf. Zahlreiche apologetische Töne von Anhängern der sog. genre fiction, auch Kritikern und Literaturwissenschaftlern, bestätigen, dass die Beschäftigung mit als niedrig abgestempelten Genres immer noch mit Scham und Unsicherheit verbunden ist. Hier ist freilich ein Machtverhältnis im Spiel, die Hegemonie des Kernkanons und der institutionell sanktionierten Genreordnung. Es ist auch anzunehmen, dass die Wirksamkeit dieser Ordnung kaum übersehen wird, nicht unbedingt, weil sie richtig ist (d. h. als ästhetisch ausgeprägteste und zugleich sozial elitärste gilt), sondern weil es keine anderen gibt, die ihr an Tradition, Komplexität, Selbstkontrolle und Selbstreflexivität gewachsen wären. Wo kann also eine Genreumwertung stattfinden? Selbstverständlich vor allem in den internen Hierarchien von Wertungsgemeinschaften, die andere Genres als die kanonischen aufwerten. Es kann gleichzeitig bemerkt werden, dass sich die Genrehierarchie der Gelehrtenkultur auch ändert, wenn auch langsam. Der Fall des Romans im Allgemeinen, der noch Mitte des 19. Jahrhunderts als künstlerische Form fragwürdig war und uneinheitliche Wertungen provoziert hat,13 um in der Moderne einen unbestreitbaren Stellenwert einzunehmen, ist Beispiel einer langsamen Aufwertung, die ein Effekt der Verbreitung der Lesekultur im 20. Jahrhundert ist, indirekt auch eine Folge der Demokratisierung von Gesellschaften, für die der Roman die populärste literarische Gattung geworden ist. Es erscheint somit als möglich, auch in den stabilsten Gattungs- und Genrehierarchien Umwertungen durchzuführen, selbst wenn dieser Prozess die Dauer einer Generation überschreiten sollte. Die Wirksamkeit der Umwertung ist somit von
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Vgl. Neuhaus, Literaturvermittlung. 2009, S. 47. Vgl. ebd., S. 79. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. 1999, S. 345. Vgl. Lepape, Pierre: Une histoire des romans d’amour. Paris: Seuil 2011, S. 12.
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der Wirksamkeit der Wertungsgemeinschaften, der Traditionen, auf die sie sich berufen, sowie der Akteure, um die sich die Gemeinschaften bilden, abhängig.
Rhetorische Strategien der Genrewertung Im Folgenden werden Wertungsstrategien klassifiziert, die zu Genreumwertungen führen können und die sich vor allem auf die sog. populären Genres beziehen. Zu unterscheiden wäre hier zwischen Auf- und Abwertungsstrategien, die manchmal auf denselben Prämissen beruhen, aber verschiedene Wertevorstellungen beanspruchen. Im Unterschied zur Studie von Friederike Worthmann, die an der Wertung als mentalem Prozess interessiert ist,14 streben die vorliegenden Ausführungen vor allem eine Untersuchung der sprachlichen Manifestation der Wertung, d. h. ihrer rhetorischen Ebene, an.15 Viele der von Worthmann genannten »praktischen literarischen Wertungen«16 (u. a. Veröffentlichung, Rezension, Auszeichnung, literaturwissenschaftliche Erforschung und Aufnahme in kanonische Leselisten) haben eine sprachliche Manifestation (auch eine Verleihung von Preisen, über die das Publikum erfahren muss – am häufigsten aus Medien oder dem Klappentext), vielleicht außer dem Kauf oder der Entfernung eines Buches aus der Bibliothek. Was Worthmann als »theoretische literarische Wertungen (auf Äußerungsebene)«17 bezeichnet, interessiert hier am meisten, da diese auf Rhetoriken basieren, die zu Erkennungszeichen gegebener Wertungsgemeinschaften werden. Genuin außersprachliche Wertungen sind selten, ansonsten lassen sie sich nicht eindeutig klassifizieren – auch Veröffentlichung, Verkauf und Kauf des Buches oder seine Entfernung aus Bibliotheken zeugen nicht immer von einer eindeutigen positiven oder negativen Wertung. In der praxisorientierten Forschung wäre z. B. die Instrumentalisierung von Verkaufszahlen als Argument der positiven Wertung viel aufschlussreicher, sie könnte auch Vermarktungsprozesse beleuchten, die hinter vielen, nicht unbedingt positiv gewerteten Bestsellern stehen. Dabei muss in erster Linie der soziale Charakter der Wertung hervorgehoben werden. Die Bewertung von Formen und Produkten (der Geschmack) ist nach Bourdieu eine den Habitus definierende Leistung.18 Somit lassen sich hinter jeder Wertungsstrategie auch Habitusformen entdecken, die je nach dem bewerteten 14 Vgl. Worthmann, Friederike: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2004, S. 215–220. 15 Vgl. Heydebrand/Winko, Einführung in die Wertung von Literatur. 1996, S. 60. 16 Worthmann, Literarische Wertungen. 2004, S. 215. 17 Ebd., S. 220. 18 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. 2018, S. 278.
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Genre distinktive Merkmale annehmen (hier Fans von Fantasy oder Manga als Paradebeispiele). Auf der sprachlichen Ebene manifestieren sich Umwertungen vor allem in der Rhetorik der einzelnen Akteure und Wertungsgemeinschaften. Der verwendete Wortschatz, die Hinweise auf Wertesysteme, die Weise der Darstellung von Gegnern, Verteidigungsstrategien, Anteile von rhetorischen und eristischen Mitteln sind wichtigste Charakteristika, nach denen die einzelnen Wertungsstrategien klassifiziert werden könnten. Interessanterweise scheinen neue Abwertungen seltener zu sein, was auch die immer wachsende Zahl der Genres erklären könnte, die einmal kreiert, aufgewertet und in Klassifikationen eingeführt wurden. Abwertungen sind einerseits der Überproduktion in Genrekonventionen, andererseits den Mechanismen der Rezeption geschuldet, in denen die elitäre Kunst als Maßstab der Qualität angesehen wird, was sich wieder mit der umgekehrten Ökonomie des literarischen Feldes erklären lässt. Die Abwertung eines Genres kann jedoch auch Instrument der Aufwertung eines anderen Genres sein. Genrewertungen, die auf Umwertungen abzielen, lassen sich in zwei Kategorien und mehrere Unterkategorien aufteilen: Kontextbezogene Wertungen (hier personen-, medien-, publikums-, genre- und kanonbezogene Wertungen) sowie textbezogene Wertungen (diskursiv-thematische und formal-sprachliche Wertungen). Diese Einteilung wird im Folgenden genauer besprochen.
Kontextbezogene Wertungen Die kontextbezogenen Wertungen gehen immer von Kriterien aus, die über die Rahmen eines Textes hinausgehen, betreffen direkt ganze Textsorten bzw. nicht kodifizierte Textgruppierungen, indirekt auch Autoren, Medien und Publika, sind somit als genuine Genrewertungen zu betrachten. Hier lassen sich folgende Unterarten differenzieren: Personenbezogene Genrewertungen. Es ist vor allem die Berufung auf den Status der Autorin/des Autors, die ein Genre umwerten kann. Es handelt sich hier nicht nur um die Wahl des Genres, die eine Positionierung (Stellungnahme) im Feld ermöglicht und die Position der Autorin/des Autors verfestigt,19 sondern auch die Aufwertung eines »niedrigen« Genres durch angesehene Schriftsteller(innen).20 Des Weiteren sind hier alle Formen der personenbezogenen Argumentation zu nennen: Empfehlungen von anderen Autor(inn)en, Mäzenen, 19 Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. 1999, S. 187–192. 20 Vgl. Karasek, Tom: Texttypen, Kapitalien, soziale Felder. In: Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. Hrsg. von Stephan Habscheid. Berlin: Walter de Gruyter 2011, S. 80–81.
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Prominenten, von Schriftsteller(inne)n verfasste Essays und Abhandlungen und andere Formen der Aufwertung durch Autoritäten. Dahinter steht auf der einen Seite das Konzept des Autors/Genies, das im 18./19. Jahrhundert ausgearbeitet wurde und die Wahl der Genres bei elitären Autor(inn)en wesentlich beschränkte (vgl. die Klassiker der Aufklärung, die keine Angst vor niedrigen Genres hatten, vor allem wegen der herrschenden heteronomen, und nicht autonomen, Wertung von Literatur). Auf der anderen Seite sind personenbezogene Umwertungen auch eine Art rhetorisches Verfahren, das Chaïm Perelman unter Koexistenzverbindungen einstuft und das sich in der Verbindung des Urhebers mit dem Effekt seiner Handlung manifestiert.21 Medienbezogene Genrewertungen. In diesem Fall sind Wertungsstrategien gemeint, die sich auf den Träger der Mitteilung beziehen. So können Genres aufgewertet werden, indem sie in großen, meinungsbildenden Medien besprochen werden (vgl. z. B. den großen Anteil der sog. Unterhaltungskultur in Medien, die nicht nur Unterhaltung bieten) und umgekehrt: Genres können an Ansehen verlieren, wenn sie mit nicht ernstzunehmenden Medien in Verbindung gebracht werden. Im breiteren Kontext ist auch die Gestalt, in welcher Bücher herausgegeben werden, eine Form der medienbezogenen Wertung. Es gehört z. B. zum Kode der sog. Trivialliteratur, in aufsehenerregenden Covers und Taschenbuchformat zu erscheinen, so kann eine Veränderung der ästhetischen Ausgestaltung auch eine Aufwertung bedeuten (vgl. Shades of Grey von E.L. James, deren Gestaltung in eine weniger offensichtliche Richtung geht und zugleich eine handliche Konvention für weitere Texte des Genres adult romance fiction schafft). Publikumsbezogene Genrewertungen. Es ist ein riesiger Bereich für unterschiedliche Umwertungen, bedenkt man, dass Genrepublika extrem kontingent sind. So kann die Feststellung, ein Genre werde von Millionen gelesen, sowohl als Aufwertung als auch Abwertung desselben verstanden werden, je nachdem, von welcher Wertungsgemeinschaft diese Mitteilung instrumentalisiert wird. Mit der Größe des Publikums als Indikator für die Position des Autors hat sich Bourdieu auseinandergesetzt.22 Auch hier ist sein Prinzip der Verknappung sichtbar, manifestiert sich vor allem im Kult des Elitären, Unbekannten, Hermetischen und schwer Zugänglichen. Dass elitäre Einweihung nicht nur ein Argument der Liebhaber(innen) der Höhenkammliteratur ist, beweisen Strategien der Subkulturen, z. B. von Hipstern, die eben, obwohl zahlreich, auf Singularität und Unbekanntheit der Kulturphänomene ihrer Wahl pochen. Auch befürworten viele andere mehr oder weniger sichtbare Alternativkulturen (die sich mit 21 Vgl. Perelman, Chaïm: Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation. Übers. von Ernst Wittig. München: Beck 1980, S. 95. 22 Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. 1999, S. 345.
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Wertungsgemeinschaften von nicht nur literarischen Genres grob decken), wie z. B. Punks und ihre neueren Nachfolger, den Verzicht auf kommerzielle Profite, finden trotzdem viele Anhänger. Genrebezogene Genrewertungen. Bei dieser anscheinend paradoxalen Formulierung handelt es sich um konventionalisierte und erkennbare Genres, ihre Traditionen, Genres als Textgruppierungen und Orientierungspunkte, die bei der Wahl der literarischen Form helfen. Erstens manifestieren sich solche Wertungen in Modifikationen von Genrebezeichnungen, in deren Bereicherung mit neuen Attributen oder in Vermeidung von eindeutigen Zuschreibungen, und zielen auf Aufwertung eines Textes oder aber auf Modifikation des Genres ab (z. B. wenn ein Kriminalroman zum Soziokrimi umgewertet wird). Zweitens bestehen die genrebezogenen Wertungen in der Stellungnahme zu bestehenden Genres, entweder affirmativ (z. B. der Krimi/Soziokrimi als Fortsetzung der Tradition des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts), oder kritisch (z. B. die fantastische Literatur als Kehrseite und Alternative für den realistischen Mainstream, vgl. auch Kämpfe um das Renommee zwischen Fans von Fantasy und Science-Fiction). Eine extreme Form von genrebezogenen Wertungen zeigt sich in den rhetorischen Strohmann-Argumenten, bei denen der imaginierte Gegner eine Sammlung von zu kritisierenden Eigenschaften darstellt. Einen solchen Fall führt Dominique Maingueneau an: Anhänger des französischen nouveau roman distanzierten sich in ihren Manifesten vom roman balzacien, obwohl dieser keine literaturgeschichtliche Kategorie und auch kein nachweisbares Genre, sondern lediglich eine Vorstellung davon war, wie ein Roman im Stil Balzacs aussehen sollte.23 Das Strohmann-Argument lässt den Gegner pauschal und kritisch darstellen, bedient sich auch der Figur der Litotes, in der seine Stärken neutralisiert werden. Kanonbezogene Genrewertungen. Berufung auf Kanons und angesehene Genretraditionen ist eine sehr starke Aufwertungsstrategie. Sie wird z. B. von Fantasy-Fans benutzt, indem auf den fantastischen Charakter der basalen Erzählungen der Menschheit (wie Mythen oder die Bibel) verwiesen wird, oder aber von Leser(inne)n der Liebesromane, unter denen sich auch in der Gelehrtenkultur sanktionierte Meisterwerke befinden sollten. Aufgrund der Menge vorhandener literarischer Texte und der beschränkten Kapazität aller Literaturgeschichten lässt sich annehmen, dass bereits die Hereinnahme eines Textes in eine Literaturgeschichte wertend wirkt.24 So bilden Kanons Sammlungen von mehr oder weniger selektionierten Texten, die ihre Genres aufwerten können. Die Wertung kann sowohl durch Filiationen mit kanonischen Werken als auch ex 23 Vgl. Maingueneau, Dominique: Dyskurs literacki. Paratopia i scena wypowiedzenia. Übers. ins Polnische von Anna Konicka. Warszawa: Instytut Badan´ Literackich 2015, S. 205. 24 Vgl. Neuhaus, Literaturvermittlung. 2009, S. 48.
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negativo manifestiert werden. Eine besondere Art der kanonbezogenen Wertung ist Kritik des ganzen Kernkanons als lebensfern, unverständlich, langweilig, elitär etc. Es lassen sich zwar auch Kanons der Unterhaltungskultur formulieren, aber meistens sind es Literaturwissenschaftler mit ihrer professionellen Tendenz zur Katalogisierung und mit eher elitären Vorlieben, die an deren Formulierung ein Interesse haben. Es ist anzuzweifeln, ob alle Genrepublika ihre Kanons haben, die sie möglichst gut zu erforschen versuchen. Schließlich sind in vielen Gemeinschaften andere Praxen als strukturelle oder klassifizierende Handlungen zentral (Unterhaltung, Gemeinschaftlichkeit, Zeitvertreib usw.).
Textbezogene Wertungen Im Falle von den textbezogenen Genrewertungen entscheiden Merkmale, die in einzelnen Texten gefunden werden (auch wenn sie – aus einer rezeptionsorientierten Sicht – an den Text angehängt werden). Es ist schwerer, textbezogen zu werten, denn hier nähert man sich den literarischen Texten und der Textwertung, die sich nicht immer global, d. h. in einem Gattungsrahmen auffassen oder instrumentalisieren lässt. Dabei können zwei Typen unterschieden werden: Diskursiv-thematische Genrewertungen. Hier lassen sich Genres durch Applizierung komplexer diskursiver Inhalte, mit anderen Worten: durch Erweiterung des thematischen Potenzials und Eröffnung von ihren Interpretationsmöglichkeiten aufwerten. Beispiele wären Märchen in psychoanalytischen Perspektiven (Bruno Bettelheim, Erich Fromm), die soziale Kritik in Kriminalromanen seit den 60er Jahren, geschichtliche und politische Bezüge der sog. neuen Familienromane bzw. Generationenromane in der aktuellen deutschsprachigen Literatur oder aber die angeblich feministische Aussage von massenweise produzierten Liebesromanen. Selbst ganz »niedrige« Genres gewinnen auf diese Weise an Prestige und lassen sich im Rezeptionsmodus der Gelehrtenkultur lesen. Diese Möglichkeit eröffnete vor allem die Kulturwissenschaft und ihre intensive Beschäftigung mit als trivial angesehenen Phänomenen in den 60er und 70er Jahren. Wie Worthmann behauptet, lassen sich bereits Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Arbeiten zu nicht-kanonischen Themen als Symptome positiver Wertung erörtern.25 Derartige Strategien sind nicht nur für professionelle Leser(innen) typisch, die Popularität solcher Publikationen wie »Star Wars and Philosophy« von Kevin S. Decker und Jason T. Eberl oder »Die neue Liebesordnung: Frauen, Männer und Shades of Grey« von Eva Illouz zeugt von einem Trend in bestimmten Lesergruppen (die den hier besprochenen Wertungsgemeinschaften entsprechen), ihrer Auseinandersetzung mit angeblich 25 Vgl. Worthmann, Literarische Wertungen. 2004, S. 219–220.
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trivialen Phänomenen einen Schein von Gelehrsamkeit zu verleihen. Letztendlich lassen sich populäre Genres auch dadurch aufwerten, dass die Regeln der Literaturgeschichtsschreibung und Kanonbildung, also Spielregeln der Gelehrtenkultur, angegriffen werden. Auf dieser Grundlage lassen sich Argumente über ungerechte Benachteiligung von bestimmten Genres/Texten oder verkannte Autoren/Werke/Genres anwenden. Formal-sprachliche Genrewertungen. Gemeint ist freilich die formale und sprachliche Qualität des Genres, die anhand von Textanalysen festgestellt wird. Hier gibt es viel Raum für Stereotype und Vorurteile. Dass manchen Genres eine niedrige Qualität zugeschrieben wird, ist der Effekt von langen Prozessen der Abwertung und basiert meistens auf Verallgemeinerungen. Es gibt einerseits Hierarchien, in denen die Unterscheidung guter Krimi – schlechter Krimi selbstverständlich ist, andererseits aber auch Hierarchien, die von Krimis nichts wissen. Was ist also der Bezug der Wertung? Dieselben Kategorien, die in hohen Hierarchien angenommen werden – Sprache, Handlung, Spannung, Effekt, Struktur – gelten doch auch in den niedrigen, werden jedoch anders belegt. Ein gutes Beispiel ist die Kategorie der Qualität der sprachlichen Ausformung – ein gut geschriebener Text wird in unterschiedlichen Gemeinschaften unterschiedliche Assoziationen erwecken. Wenn Neuhaus behauptet, dass Kriterien der literarischen Wertung sich in den letzten 250 Jahren kaum verändert hätten und nach wie vor ästhetische Qualitäten umfassen,26 dann stimmt das nur aus der Sicht der Gelehrtenkultur. Für andere Wertungsgemeinschaften sind z. B. einfache, verständliche, lebensnahe Sprache sowie übersichtliche Strukturen von Bedeutung, nach diesen Kriterien werden auch Wertungen formuliert. Nicht zu vergessen ist auch, dass in diversen Rezeptionsmodi dieselben Regeln beachtet werden können, z. B. poetische, metaphorische Sprache fungiert – je nach Wertesystem – entweder als Ausdruck des Künstlerischen oder des Trivialen,27 wobei es von Bildung, Belesenheit und Wertungsabsichten der Akteure abhängt, ob die Sprache eines Textes als anspruchsvoll oder kitschig betrachtet wird – hier werden die Kriterien der stilistischen Wertung stark relativiert.
26 Vgl. Neuhaus, Literaturvermittlung. 2009, S. 44. 27 Vgl. Bayer, Dorothee: Falsche Innerlichkeit. Zum Familien- und Liebesroman. In: Trivialliteratur. Aufsätze. Hrsg. von Gerhard Schmidt-Henkel/Horst Enders/Friedrich Knilli/Wolfgang Maier. Berlin: Literarisches Colloquium 1964, S. 219.
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Verbreitung und Relevanz von Genrewertungen Im Hinblick auf die besprochenen rhetorischen Strategien ließen sich die genrewertenden Gemeinschaften noch weiter pluralisieren, z. B. durch den Hinweis auf eine Wertungsstrategie als den identitätsstiftenden Faktor der Gemeinschaft. Dass ein(e) Akteur(in) ein Genre aufwertet, bedeutet nicht zwangsläufig, dass er/ sie sie unter allen Gesichtspunkten aufwerten bzw. dabei immer alle möglichen Strategien einsetzen würde. Praktisch nehmen Mitglieder von Wertungsgemeinschaften nur auf einige ausgewählte Aspekte (bzw. auf einen Aspekt) Bezug – hier können sie in Gruppen differenziert werden, die bestimmte, klar umrissene und strategisch erzielbare Werte in ihren Wertungen verfolgen. Die Frage, wie relevant die Genrewertungen sein können, lässt sich wahrscheinlich nicht befriedigend beantworten. Angesichts der Vielzahl von Akteuren, Gemeinschaften, Wertesystemen und Ansprüchen ist es unmöglich, eindeutig festzustellen, ob ein Genre im gegebenen Zeitpunkt generell umgewertet wurde oder nicht. Es lassen sich jedoch Umwertungen identifizieren, die nicht nur von einer Wertungsgemeinschaft vollzogen werden, sondern auch auf viele andere Gemeinschaften Einfluss ausüben und sich auf diese Weise einmal als neue Genrestabilisierungen durchsetzen, selbstverständlich immer in begrenztem Ausmaß. Ein Beispiel sind Karrieren von Genres, die in vielen relativ unabhängigen Gruppen aufgewertet werden, was den Eindruck erweckt, dass sie überall neu gewertet werden, wie z. B. der Familienroman, der Horror oder der Krimi in den letzten Jahrzehnten. Erst anhand von empirisch erforschten Wertungen lassen sich Verschiebungen in Hierarchien feststellen, die von mehreren Instanzen geteilt werden, und u. a. solche Begriffe wie Unterhaltungsliteratur neu verorten. Die Unterhaltungsliteratur wäre somit eine Literatur, in der eine gewisse Anzahl von Wertungsgemeinschaften ihre Vorstellung von Unterhaltungswert gefunden hat. Wäre es möglich, die Rezeption eines Textes oder eines Genres in ihrer ganzen Fülle zu untersuchen, dann könnte man wahrscheinlich annehmen, welche Elemente in welchen Hierarchien verschoben wurden. Wertungsgemeinschaften und ihre Wertungen können im Verhältnis zum Zentrum oder zueinander analysiert werden. So entsteht ein Netz von Relationen, deren Spannungen die wichtigsten Tendenzen widerspiegeln, die in der Kultur des Lesens zustande kommen. Um diese Dynamik zu analysieren, müssten vor allem die Praxis der wertenden Klassifikationen, die Herausbildung der wertenden Gemeinschaften in sozialen Feldern sowie Praktiken der Bedeutungsund Wertzuschreibung betont werden, weniger aber die Eigenschaften von Texten und Veränderungen der Schreibstrategien, die – wie normalerweise angenommen wird – hinter den Genreumwertungen stehen sollten. Umwertungen finden nur im Bereich der Rezeption statt. Texte, die nicht bemerkt werden und
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denen keine Werte zugewiesen werden, sind nicht imstande, irgendwelche Hierarchien zu verändern. Das hier dargestellte Modell ist weder eine neue Gattungs- noch Wertungstheorie. Es basiert auf bekannten Auffassungen, analysiert sie jedoch hinsichtlich ihrer Anwendung in der empirischen Rezeptionsforschung von Genres. Hervorzuheben ist der relative Charakter dieses Ansatzes, seine zeitlich-räumliche Limitierung – er betrifft in erster Linie Genrewertungen in westlichen Literaturfeldern am Anfang des 21. Jahrhunderts und ihre spezifischen Bedingungen. Einen separaten Aspekt bildet der Einfluss von Wertungen auf Genreklassifikationen, was auch in den obigen Ausführungen bemerkt wurde.28 Offensichtlich sind subjektive Wertungen und anscheinend objektive Zuschreibungen stark miteinander verbunden und deren Überschneidungspunkte kommen besonders in Zeiten der Enthierarchisierung umso stärker zum Vorschein.
Sekundärliteratur Bayer, Dorothee: Falsche Innerlichkeit. Zum Familien- und Liebesroman. In: Trivialliteratur. Aufsätze. Hrsg. von Gerhard Schmidt-Henkel/Horst Enders/Friedrich Knilli/ Wolfgang Maier. Berlin: Literarisches Colloquium 1964, S. 218–245. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs/Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2018. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs/Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Fish, Stanley: Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge: Harvard University Press 1980. Herrnstein Smith, Barbara: Contingencies of Value. Alternative Perspectives for Critical Theory. Cambridge: Harvard University Press 1988. Heydebrand, Renate von/Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur: Systematik–Geschichte–Legitimation. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1996. Karasek, Tom: Texttypen, Kapitalien, soziale Felder. In: Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. Hrsg. von Stephan Habscheid. Berlin: Walter de Gruyter 2011, S. 70–97. Lepape, Pierre : Une histoire des romans d’amour. Paris: Seuil 2011. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit. Übers. von Joseph Vogl. München: Wilhelm Fink 1987. Maingueneau, Dominique: Dyskurs literacki. Paratopia i scena wypowiedzenia. Übers. ins Polnische von Anna Konicka. Warszawa: Instytut Badan´ Literackich 2015. Neuhaus, Stefan: Literaturvermittlung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2009. 28 Vgl. beispielsweise genuin literaturwissenschaftliche Klassifikationen und Wertungen in Bezug auf den Liebesroman: Pokrywka, Rafał: Der literaturwissenschaftliche Kampf um den Liebesroman. In: Der Liebesroman im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Rafał Pokrywka. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 13–30.
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Perelman, Chaïm: Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation. Übers. von Ernst Wittig. München: Beck 1980. Pokrywka, Rafał: Der literaturwissenschaftliche Kampf um den Liebesroman. In: Der Liebesroman im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Rafał Pokrywka. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 13–30. Schneider, Jost: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin: Walter de Gruyter 2004. Worthmann, Friederike: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2004.
Polnische Kontexte
Adam Regiewicz (Cze˛stochowa)
Im Schatten des ewigen Tannenberg
Abstract: Szczepan Twardoch, ein polnischer Schriftsteller der jungen Generation, der in Oberschlesien lebt, beschäftigt sich mit Fragen der Identität aus der Perspektive des multikulturellen Grenzlandes. Sein Fokus liegt auf dem Schlesiertum, das heute sehr lebendig ist und das er in einen ethnischen und nationalen Diskurs einbaut: Polnisch und Deutsch. Zur Analyse des im Artikel behandelten Phänomens findet die Imagologie Anwendung – ein Werkzeug der Kulturkomparatistik, das eine vergleichende Untersuchung mentaler Bilder ermöglicht. Die Analyse zeigt das Selbstbewusstsein des Autors beim Aufbau eines gesellschaftlichen Massenbildes des Fremden. Das von Twardoch betonte Schlesiertum ist eine Möglichkeit, den monokulturellen Monolith der polnischen Kultur zu entkräften und eine diskursive Erzählung zu führen: nicht-polnisch und nicht-deutsch.
I Einer der wichtigeren Prozesse in der polnischen Kultur, der das Abklingen des romantischen Paradigmas nach 1989 begleitete, war eine Dezentralisierung der literarischen Erzählung,1 welche die Stimmen der Randgebiete – Niederschlesien, Bieszczady, Pommern, Schlesien – aufwertete. In dieser Perspektive meldeten sich prominente AutorInnen wie Olga Tokarczuk, Andrzej Stasiuk und Paweł Huelle zu Wort. Der Prozess der Flucht aus dem Zentrum nahm in manchen Fällen die Form einer Überschreitung der Grenzen Polens an: in Richtung Kosmopolitismus (bei Manuela Gretkowska) oder der Wirtschaftsmigration (bei Janusz Rudnicki). Dies ging mit der Entstehung diskursiver Literatur einher, die im Gombrowicz-Stil gegen das Polentum als eine Form von Knechtschaft kämpfte und besonders hörbar in den Randgebieten und im Ausland erklang.
1 Trepte, Hans-Christian: Centra i peryferie w literaturze polskiej XX i XXI wieku – uwagi polonisty niemieckiego. In: Centra – peryferie w literaturze XX i XXI wieku. Hrsg. von Wojciech Browarny/Dobrawa Lisak-Ge˛bala/Elz˙bieta Rybicka. Kraków: Universitas 2015, S. 73–76.
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In einem der ersten Versuche der Reflexion über die junge polnische Literatur kommentierte Jerzy Jarze˛bski diesen Prozess als Ablehnung des polnischen Kultur-Codes,2 die sich in der Abkehr vom nationalen Universum, das nach der Zeit des Kommunismus mit der einzig legitimen Vision der Geschichte assoziiert wurde, einer unkritischen Übernahme neuer ästhetischer Trends aus dem Westen und schließlich mit der Versuchung der Postmoderne ausdrückt. Letztere lehnte mit Lyotard die große Erzählung ab und schlug totalisierende Identitätskonzepte vor. Die Änderung des Codes der literarischen Kommunikation korrelierte mit einem Wechsel des kulturellen Paradigmas, was in den frühen Neunzigerjahren Maria Janion konstatierte, als sie das Ende der »langen Dauer« der Romantik in der polnischen Literatur belegte.3 Die Abkehr von den traditionellen polnischen Themen und Problemen zeigte sich in einer Flucht der Literatur ins postmoderne Spiel, Pastiche, auch in die Nähe zur Popkultur oder zur Mittelmäßigkeit. Janusz Anderman schreibt in seinem noch in Paris veröffentlichten Roman »Randland der Welt« (»Kraj s´wiata«): »Wie kämpft man gegen Mythen? Gegen die Mythologie? Dieses Land ist ganz versunken in Mythologie. Das war schon immer so. Wie soll man es angehen? Immer war es dazu zu früh. Immer hieß es warten, bis der Mythos ein wenig verblasste. Aber er wollte nicht verblassen. In diesem Land kann sogar die Dummheit heilig sein. Es ist schwer dagegenzuhalten. Vielleicht irgendwann. Denn jetzt eckt man damit an.«4
Die Stelle der früheren Erzählung nahm eine für Vielstimmigkeit sensibilisierte und einer total-identitären Narration gegenüber misstrauische Literatur ein, die sich auf das Periphere und Multikulturelle konzentrierte. An Bedeutung gewannen Grenzlandschaften, die im Laufe der Jahrhunderte von Hand zu Hand gingen, sodass sich die einheimische Bevölkerung, die Einwanderer, deren Sprachen und Sitten vermischten, wie dies in Schlesien, Pommern, Masuren oder Großpolen der Fall war. Die dort angesiedelten Protagonisten stehen eindeutig im Gegensatz zu ihrer ethnischen Gruppe und betonen eher das dionysische Element der Ungeordnetheit und Transgenität. Anstelle der ideologischen und symbolischen Vision der Nation erscheint eine hybride Form, die aus einer Reihe von Orbes Interiores besteht. Die dort präsentierte Welt ist in der Regel weder 2 Jarze˛bski, Jerzy: Apetyt na Przemiane˛. Notatki o prozie współczesnej. Kraków: Znak 1997, S. 73. 3 Janion, Maria: Zmierzch paradygmatu. In: Dies.: Czy be˛dziesz wiedział, co przez˙yłes´. Warszawa: Sic! 1996, S. 14. Vgl. Janion, Maria: Do Europy tak, ale razem z naszymi umarłymi. Warszawa: Sic! 2000, S. 22. 4 Anderman, Janusz: Kraj ´swiata. Paryz˙: Instytut Literacki 1988, S. 75. Diese und alle weiteren Übersetzungen aus polnischen Quellen, wenn nicht anders angegeben, stammen von Boz˙ena A. Badura. Im Original: »Jak walczyc´ z mitami? Z mitologia˛? Ten kraj jest pogra˛z˙ony w mitologii. Zawsze był. Jak to tkna˛c´? Zawsze było na to za wczes´nie. Zawsze trzeba było czekac´ az˙ mit zblaknie troche˛. Tylko, z˙e on nie chciał blakna˛c´. W tym kraju nawet głupota moz˙e byc´ s´wie˛ta. Az˙ strach ruszyc´ frazes. Moz˙e kiedys´. Bo teraz to podpadaja˛ce.«
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polnisch noch deutsch noch irgendeine andere (kaschubisch, schlesisch, jüdisch, lemkisch) – sie gehört niemandem. Der Raum der Zeichen, die symbolische Sphäre, repräsentiert unterschiedliche Traditionen und erinnert an die Geschichte des Ortes, an dem Identitätswerte, -themen und -motive einander durchdringen.
II Dem diskursiven Charakter dieser Literatur ist der Rückgriff auf die Imagologie als wichtigstes Werkzeug der Untersuchung geschuldet. Diese auf die moderne Kulturkomparatistik zurückgehende Lesart eignet sich sehr gut zur Analyse und Beschreibung nachbarschaftlicher Kontakte – dort, wo Stereotype eine große Rolle spielen. Diese erfüllen nämlich eine wichtige Funktion bei der Bestimmung der eigenen nationalen Identität und beeinflussen die Kategorie der mythischen und der auf die eigene Ethnie und den Fremden bezogenen symbolischen Vorstellungen.5 Entscheidend sind in der Imagologie jedoch das Bewusstsein für Stereotype und die Möglichkeit, sich über Ad-hoc-Kategorien und partikulare Interessen zu erheben, die sich in der Verwendung etablierter normativer Bilder in der Literatur ausdrücken können. Hugo Dyserinck schreibt in seinem Handbuch für Komparatistik wie folgt: »Komparatistische Imagologie strebt in erster Linie danach, die jeweiligen Erscheinungsformen der ›images‹ sowie ihr Zustandekommen und ihre Wirkung zu erfassen. Außerdem will sie auch dazu beitragen, die Rolle, die solche literarische ›images‹ bei der Begegnung der einzelnen Kulturen spielen, zu erhellen.«6
In der imagologischen Auffassung geht es daher um eine Selbstbewusstheit, welche die im Text vorhandene Beziehung von eigen und fremd einer spezifischen Überprüfung unterzieht, die im Raum stehende Urteile in Frage stellt und einseitigen Gemeinplätzen misstraut. Diese Form der Lektüre ermöglicht es zudem, »in die Schuhe des Anderen zu schlüpfen«, und konfrontiert gefestigte Vorstellungen vom »Fremden« mit einem heterostereotypen Denken und Verhalten, also einem solchen, in dem der Andere auf uns blickt.7 Auf diese Weise kann sich der Rezipient von seinen eigenen Vorstellungen lösen, über die Grenzen eines engen, oft xenophoben Denkens über sich selbst und die Welt hinausgehen. 5 Vgl. Da˛browski, Mieczysław: Komparatystyka kulturowa. In: Komparatystyka dla humanistów. Podre˛cznik. Hrsg. von Mieczysław Da˛browski. Warszawa: S´wiat Literacki 2011, S. 227. 6 Dyserinck, Hugo: Komparatistik: eine Einführung. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1991, S. 131. 7 Da˛browski, Mieczysław: Swój/Obcy/Inny. Z problemów interferencji i komunikacji mie˛dzykulturowej. Warszawa: Wydawnictwo Uniwersytetu Warszawskiego 2001, S. 95.
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III In einer solchen imagologischen Perspektive lässt sich das Schaffen des in Oberschlesien lebenden Autors Szczepan Twardoch entschlüsseln. Für Twardoch ist Oberschlesien nicht alleine Geburtsort, sondern vielmehr Identitätserklärung oder gar Identitätsprojekt. Es geht ihm nämlich nicht darum, die bestehende Konstruktion des Schlesiertums zu beschreiben, was aus soziologischer Sicht ohnehin unmöglich erscheint,8 sondern vielmehr um den Wunsch, das bestimmte Gefühl, sich in einer den Schlesiern entsprechenden Welt zu befinden. Dies bringt Twardoch in einer amüsanten Studie über die Genealogie seiner Familie wie folgt zum Ausdruck: »[…] Während die Vorfahren meiner Warschauer Bekannten sich mit der Verabschiedung der Verfassung beteiligten, bestellten meine Vorfahren den Acker oder schürften nach Kohle oder beides. Hundert Jahre später, als die Vorfahren meiner Warschauer Bekannten gegen die Teilungsmächte konspirierten oder mit ihnen zusammenarbeiteten, förderten meine Vorfahren die Kohle aus den schlesischen Gruben oder fielen in Kriegen, die sie eigentlich gar nichts angingen.«9
Sohn einer solchen Region zu sein bedeutet nämlich ein bestimmtes Bewusstsein, eine spirituelle Kultur, die sich von anderen unterscheidet und weder dem Polennoch dem Deutschtum gleicht.10 Beim Versuch einer Definition der schlesischen Identität greift Twardoch auf die Kategorie des schlesischen Ethos zurück, eine besondere Zuverlässigkeit, »die nur handfeste Dinge, Messbarkeit, körperliche Arbeit, Gehorsam, Demut, Vorsicht im Umgang mit allem Spontanen schätzt, kombiniert mit einem dumpfen, allein auf Pflichterfüllung ausgerichteten Mut. Daraus werden verbissene, arbeitsame Männer von einer erheblichen technischen Intelligenz, die bodenständig, verlässlich und konkret sind. Solche, die verächtlich auf die Süffel in den Kaschemmen herabblicken, die Kirche aus Verbundenheit mit den gesellschaftlichen Konventionen zwar besuchen,
8 Bei der Übernahme des soziologischen Aspekts muss gesagt werden, dass Schlesien eher ein »regionales Kollektiv« ist, das keine eigene ethnographische Nationalität hat: Es fehlt der Kanon eines höheren, symbolischen, vereinheitlichten religiösen Kultursystems (die polnische Tradition ist eine katholische, die deutsche eine protestantische), eine zusammenhängende historische Erzählung, die an den Schlesischen Aufstand und deren Rezeption in der schlesischen Gesellschaft erinnert.« Vgl. Robotycki, Czesław: S´la˛ska historia i s´la˛ska tradycja. In: S´la˛skie Prace Etnograficzne 1990, 1, S. 19–34. 9 Twardoch, Szczepan: Jak nie zostałem poeta˛. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2019, S. 80– 81. Im Original: »[…] podczas kiedy przodkowie moich warszawskich kolez˙anek i kolegów zajmowali sie˛ uchwalaniem konstytucji, przodkowie moi uprawiali ziemie˛ albo kopali we˛giel, albo jedno i drugie. Sto lat póz´niej, kiedy przodkowie moich warszawskich kolegów konspirowali przeciwko zaborcy albo z nim współpracowali, przodkowie moi kopali we˛giel w s´la˛skich kopalniach, ewentualnie gine˛li na nieswoich wojnach.« 10 Vgl. Da˛browski, Swój/Obcy/Inny. 2001, S. 132.
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aber für die Pfaffen nicht das Geringste übrig haben, und Frauen ohne Leidenschaft, aber auch ohne Herablassung behandeln. Menschen der Ordnung.«11
Man kann jedoch den Eindruck gewinnen, dass sich Twardoch der Stereotypisierung durchaus bewusst ist, daher seine sarkastischen Einwürfe über die »Faro˘rzy« (polnisches Schlesisch für Pfarrer) und »Ôz˙yroki« (polnisches Schlesisch für Säufer). Der Schriftsteller ist von einer für das Grenzland charakteristischen Unschärfe überzeugt: Schlesien ist weder polnisch noch deutsch noch tschechisch – es ist ein Schmelztiegel, in dem Wertvorstellungen, Völker, Kulturen, Traditionen, Sprachen, Religionen und Brauchtum vermengt sind, eine Landschaft mit einer unoffensichtlichen Identität, doch zugleich einer starken kulturellen Identifikation. Allerdings ist die schlesische Identität zugleich eine Wahlkategorie, woran Horst Bienek erinnert, als er die Figur von Wojciech Korfanty heranzieht, der »Pole war, weil er Pole sein wollte […] Er war jemand, der nach seiner Identität suchte, aufgewachsen zwischen Polen und Deutschland, und der seine Wahl getroffen hat.«12 Ähnlich ist es bei Twardoch. Seine Schlesier-Figuren sind sowohl polnische als auch deutsche Agitatoren, große Polen und große Deutsche. Ihre Volkszugehörigkeit müssen sie stets zwischen zwei Ethos-Mustern definieren, bis zuweilen das alltägliche Leben gewinnt, nach dem Motto: »Ein solches Polen/ Deutschland habe ich im Arsch.«13 Die Entscheidung, Schlesien als Ort des imagologischen Diskurses zu wählen, ist nicht zufällig, denn nach einer solchen Lösung griffen bereits frühere deutschsprachige Schriftsteller schlesischer Abstammung, aus Gliwice/Gleiwitz, wie der bereits erwähnte Horst Bienek, oder aus Zabrze/Hindenburg, wie Janosch (eigentlich Horst Eckert). Wie seine Vorgänger konfrontiert dieser Schriftsteller aus dem kleinen Dorf Pilchowice/Pilchowitz den Leser immer wieder mit seiner eigenen Vorstellung, mit Vorurteilen, die auf der Grundlage der (polnischen oder deutschen) ethnischen Monokultur erwachsen sind. Manchmal will es geradezu scheinen, dass Twardoch versucht, die Geschichte oder eine solche narrative
11 Twardoch, Szczepan: Drach. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2014, S. 234.Im Original: »Rzetelnos´c´ która ceni tylko konkret, wymiernos´c´, prace˛ fizyczna˛, posłuszen´stwo, pokore˛, asekuranctwo w tym, co spontaniczne, poła˛czone z te˛pa˛ odwaga˛ skupiona˛ na obowia˛zku. Wyrastaja˛ z tego me˛z˙czyz´ni zacie˛ci, pracowici, o nielichej inteligencji technicznej, przyziemni, spolegliwi i konkretni. Gardza˛cy siedza˛cymi w szynku ôz˙yrokami, chadzaja˛cymi do kos´cioła tytułem społecznego zobowia˛zania, acz nie przepadaja˛cy za faro˘rzym, kobiety traktuja˛cy bez afektu i bez pogardy. Ludzie porza˛dku.« 12 Bienek, Horst: Pierwsza polka. Übers. von Maria Przybyłowska, Warszawa: Czytelnik 1983, S. 124 (Rückübersetzung). 13 Im Original (polnisches Schlesisch): »Jo˘ mo˘m w rzyci tako Polska/takie Niemcy.«
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Perspektive zu entkräften, wie einige Kritiker beobachtet haben.14 Zum Beispiel, wenn er erinnert: »Davon, an welcher Seite [im Zweiten Weltkrieg – AR] meine Vorfahren und Verwandten kämpften, wusste ich noch nichts, in den Achtzigerjahren ließ man schlesische Kinder nichts wissen, außerdem habe ich mich mit keiner der Parteien identifiziert […] .«15
Oder, wenn er die Geschicke seiner Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Revue passieren lässt, wobei er auf Simon Twardoch zurückgreift, einen Untertanen Friedrichs des Großen, dessen Nachkommen, ohne Bujaków/Bujakau zu verlassen (vielleicht außer Wilhelm, der in Zabrze/Hindenburg wohnte) mal in Preußen, mal im Deutschen Reich, mal in der Zweiten Polnischen Republik (II Rzeczpospolita), mal im Dritten Reich und schließlich in Polen landeten, »das inzwischen bei uns erschienen war«.16 Die Phrase »Und verschone uns vor der Geschichte«17 veranschaulicht Twardochs Haltung gegenüber der großen Geschichte, die angesichts der familiären, heimischen, lokalen Erzählung verblasst und nicht so wichtig erscheint, auch wenn sie zweifellos das individuelle Schicksal der Nation berührt. Es scheint jedoch, dass es bei Twardoch nicht um den Verlust der »Gnade der Geschichte« geht, sondern um die bereits angesprochene diskursive Erzählperspektive, die es erlaubt, sich von seinen eigenen Vorstellungen, seiner Monokultur, der Enge der Sprache zu lösen und sich der Konfrontation zu öffnen, dem Versuch zu erfassen, was sich im Fluge verwandelt, transformiert wird, vergeht und sich unter dem Einfluss individueller Erinnerungen oder Erfahrungen verformt. Wie im Falle der Erinnerung an die selbst zubereitete Konopio˘tka,18 die zum Vorwand wird, in die Tradition, das slawische Brauchtum einzuführen, die dem Christentum vorausgeht und die schlesische Identität mit ihren indoeuropäischen Vorfahren konfrontiert.19 14 In seiner Rezension zu Twardochs Roman »Drach« attestiert Dariusz Nowacki dem Autor eine Flucht vor der Geschichte, die für die jüngere Generation leichter zu sein scheint, als sich mit dem Dilemma der ethisch-moralischen Identifikation der Nationalität auseinanderzusetzen und Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Vgl. Nowacki, Dariusz: Nowa ksia˛z˙ka Twardocha. Tako rzecze drach. In: Gazeta Wyborcza vom 2. 12. 2014. (Zugriff am 16. 05. 2019). 15 Twardoch, Jak nie zostałem poeta˛. 2019, S. 10. Im Original: »O tym, po której stronie walczyli w niej [w II wojnie ´swiatowej – AR] moi przodkowie i krewni, jeszcze nie wiedziałem, w latach osiemdziesia˛tych s´la˛skich dzieci nie dopuszczało sie˛ do tej wiedzy, nie utoz˙samiałem sie˛ zreszta˛ z z˙adna˛ ze stron […].« 16 Im Original: »[…] gdyz˙ ta sie˛ w mie˛dzyczasie u nas pojawiła.« Ebd. S. 59. 17 Twardoch, Szczepan: Wieloryby i c´my. Dzienniki 2007–2015. Kraków: 2015, S. 120. 18 Diese Suppe aus Hanfsamen, in Schlesien auch Siemienio˘tka genannt, ist eine traditionelle Suppe zu Weihnachten. 19 Vgl. Twardoch, Jak nie zostałem poeta˛. 2019, S. 49.
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Twardochs Schlesien lässt sich also Deklaration verstehen. Diese äußert sich erstens im fehlenden Vertrauen in die Geschichte, die er verallgemeinert und vereinfacht, bei gleichzeitiger Verwendung von Kategorien wie Volk, Grenze, Sprache. Denn aus welcher Perspektive soll nach Schlesien gefragt werden: aus der polnischen oder aus der deutschen? In welcher Sprache soll an die Ereignisse erinnert werden? In diesem Zusammenhang erzählt Twardoch von einer polnischen Lehrerin, die 1927 nach Schlesien kommt, »um das Polentum und polnische Hochkultur zu unterrichten. Schlesische Kinder hatten doch – ihrer Ansicht nach – keine Hochkultur, sie konnten entweder die Worte Goethe oder Mickiewiczs atmen, eine dritte Möglichkeit gab es nicht. Ich schreibe das mit Bedauern, aber ohne Sarkasmus. Auf der anderen Seite der Grenze vermittelten ähnliche Kulturträgerinnen ihre Hochkultur aus Breslau oder Berlin, auch sie voller edler Begeisterung.«20
Twardoch erinnert sich an die Figur der Lehrerin, die mit Schlägen (mit einem Lineal auf die Hände) dem siebenjährigen Jörg beibringt, dass er nun Jerzy heißt. Der Junge versteht nicht, wofür er bestraft wird, noch eine Zeitlang wird er seinen Namen wiederholen, bis er diese Polnisch-Lektion gelernt hat. In dieser Szene geht es nicht darum, die Grausamkeit zu betonen, denn körperliche Züchtigung war damals keineswegs ungewöhnlich. Es geht hier auch nicht um einen antipolnischen Tonfall. Twardoch stellt selbst fest, dass die deutschen Gouvernanten auf der anderen Seite in ähnlicher Weise handeln, indem sie von ihren Schützlingen das perfekte Deutschsein erwarten. Wesentlich scheint dabei eben gerade die Sprache zu sein. Der Junge ist eben weder Jerzy, was die junge eifrige Lehrerin, die den schlesischen Kindern das Polentum beibringt, fordert, noch Georg, auch wenn dieser Name in seiner Geburtsurkunde steht. Er ist Jörg – und in dieser Sprache kann er sich am besten ausdrücken. Erneut hinterfragt Twardoch die Sinnhaftigkeit der geführten kulturellen Narration, die zu einer homofonen Ethnie führt.21 Viel näher und wahrer dagegen 20 Twardoch, Wieloryby i c´my. 2015, S. 166. Im Original (aus: »Wale und Nachtfalter. Tagebuch vom Leben und Reisen«): »[…] by uczyc´ polskos´ci i polskiej kultury wysokiej. S´la˛skie dzieci wysokiej kultury przeciez˙ nie miały, mogły oddychac´ fraza˛ Goethego albo Mickiewicza, innych moz˙liwos´ci nie było. Pisze˛ to z z˙alem, ale bez sarkazmu, bo to prawda. Po drugiej stronie granicy podobne Kulturträgerin przynosiły swoja kulture˛ wysoka˛, z Wrocławia albo z Berlina, równiez˙ pełne szlachetnego zapału.« 21 In einem ähnlichen Ton äußert sich Zbigniew Kadłubek (Philologe, Komparatist, überzeugter Schlesier) über die durch die Polonisierung in diesen Gebieten entstandene Abneigung gegen Geschichte darstellt: »Die historische Gerechtigkeit fegte durch ganz Schlesien wie ein riesiges stummes Tier der Zustimmung zur Grausamkeit. Und zur Barbarei, die nicht geringer war als die in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Der Dreißigjährige Krieg […] hatte keine vergleichbar bestialischen Szenen gebracht. Polen erlangte Schlesien zurück – es kannte Schlesien nicht, aber es kämpfte darum. Es nahm den Fremden in seine Arme und zerquetschte ihn in dieser Umarmung. Historische Beweggründe sind keine Beweggründe –
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erscheint die kleine, lokale und persönliche Geschichte, die mit den eigenen Vorfahren verbunden ist. Zweitens scheint Schlesien – wie schon erwähnt – ein perfektes Beispiel für Diskursivität zu sein. Unter Betonung des existenziellen (und nicht des ethnischen oder staatlichen) Charakters des Ortes ist Schlesien als polyfoner Ort zu sehen, ein Kaleidoskop der Ansichten, Mosaik der Bedeutungen. Das ist kaum verwunderlich, meint man doch, wenn man von Schlesien spricht, ein wandelbares Territorium, eine kaleidoskopische Geschichte, eine ethnische Mischung und eine schier babylonische Sprachverwirrung.22 Damit ist Schlesien geradezu eine Quintessenz der imagologischen Perspektive, die den weiteren Überlegungen an dieser Stelle zugrunde liegt. Twardochs Prosa vermeidet es, bestimmte Verhaltensweisen, Figuren oder Ereignisse eindeutig als polnisch oder deutsch zu kategorisieren. Als er in Przyszowice/Preiswitz zum Sammelgrab »der im Januar 1945 Verstorbenen« eilt, ist ihm bewusst, dass die Leichen der vom NKWD Ermordeten sich zu keiner Eigentumsurkunde zusammensetzen. Polen und Deutsche zusammen: der siebenjährige Helmut und der dreijährige Erwin. »Die Kugeln oder Bajonette der Sowjets erreichte ganze Familien, Alte, Kinder, sogar einen Franzosen, wahrscheinlich ein Zwangsarbeiter. Und einige NN.«23 Twardochs Perspektive ist wohl den Letzteren am nächsten – den Unbekannten, die weder polnisch noch deutsch waren. Diese Sichtweise ermöglicht es, über die Ethnie hinauszugehen, auf der deutschen Seite Wurst und Fleisch zu kaufen und auf der polnischen Stoffe und fertige Kleidung.
IV Diese Spannung zwischen dem polnischen und dem deutschen Element Schlesiens determiniert das erste der Deutschland-Bilder bei Twardoch. Es ist mit der Kategorie der Ethnie verbunden, die der schlesische Schriftsteller diskursiv bemenschliche Beweggründe bedeuten etwas.« Kadłubek, Zbigniew: Laudatio »Finis Silesiae«. In: Aleksandra Kunce/Zbigniew Kadłubek: Mys´lec´ S´la˛sk. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2007, S. 224. Im Original: »Sprawiedliwos´c´ historyczna przetoczyła sie˛ przez cały S´la˛sk jak ogromne nieme zwierze˛ przyzwolenia na okrucien´stwo. I na barbarzyn´stwo nie mniejsze niz˙ te z nazistowskich obozów zagłady. Wojna trzydziestoletnia […] nie przyniosła tak bestialskich scen. Polska odzyskiwała S´la˛sk – nie znała go, ale odzyskiwała. Brała w obje˛cia tego obcego, tula˛c, miaz˙dz˙yła. Racje historyczne to z˙adne racje – ludzkie racje cos´ znacza˛.« 22 Vgl. Nawarecki, Aleksander: Posłowie. In: Kunce/Kadłubek, Mys´lec´ S´la˛sk. 2007, S. 277. 23 Twardoch, Wieloryby i c´my. 2005, S. 33. Im Original: »Na sowiecka˛ kule˛ albo bagnet w kaz˙dym razie załapały sie˛ całe rodziny, starcy, dzieci, nawet jeden Francuz, zapewne robotnik przymusowy. I paru NN.«
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handelt. In seinem Roman »Das Ewige Tannenberg« (»Wieczny Grundwald«) baut Twardoch die Erzählung antagonistisch auf: Polen contra Deutschland. Der im Titel genannte Ort Grunwald/Tannenberg bezeichnet dabei die Gesamtheit der polnisch-deutschen Beziehungen als Folge einer historischen Entwicklung. Der Rekurs auf die mittelalterliche Schlacht ist im Kontext des klischeebeladenen Bildes der polnisch-deutschen Beziehungen kein Zufall. Andrzej Stasiuk, Vertreter der um zwei Jahrzehnte älteren Schriftstellergeneration, erklärt es wie folgt: »So einen Ulrich von Jungingen beispielsweise kannte jedes polnische Kind. In jeder polnischen Schule und jedem Kindergarten hing eine Kopie von Matejkos ›Schlacht bei Grundwald‹, und das war der erste Deutsche im Leben eines jeden kleinen Polen. Hitler kam ein wenig später und man musste über mehr Wissen verfügen, denn seine Porträts wurden eher nicht aufgehängt. Aber von Jungingen war allgegenwärtig, in jeder Schule und jeder Erziehungsanstalt: auf einem sich aufbäumenden Schimmel, mit weißem, wallendem Mantel und einem großen schwarzen Kreuz auf der Brust.«24
Die gemeinsame Geschichte ist blutgetränkt und es gibt kein Entkommen von den immer neuen Szenen aus diesem ewigen Krieg, dem ein Mythos zugrundeliegt, dessen Verkörperung polnische und deutsche Ritter sind. Twardochs Darstellung erinnert ein bisschen an den großen Modernisten Stanisław Ignacy Witkiewicz (Witkacy): »Aanthropische Würdenträger, ohne Körper, die besten Gehirne Germaniens getaucht in physiologische Kochsalzlösung, genährt mit einem gemeinsamen Blutkreislauf und verbunden mit einem gemeinsamen Hirnstamm, der das gemeinsame Sensorium von Millionen über dem Schlachtfeld hängenden Drohnen teilt, die durch präparierte, durch Drogen berauschte Gehirne menschlicher Arbeiterinnen gesteuert werden.«25
Sie erinnern an Marionetten, die von der großen Idee gesteuert auf die entsprechenden Reize reagieren: Bei den Deutschen ist es das schwer zu definierende Blut, bei den Polen ein unter der Erde wachsender Mutterleib, der die Form der »Mutter Polin« annimmt – nur wer für sie stirbt, wird fleischliche Wonnen erfahren. Auf dieses Motiv greift Twardoch übrigens in seinem Roman »Mor-
24 Stasiuk, Andrzej: Dojczland. Czarne: Wołowiec 2007, S. 63. Im Original: »Takiego na przykład Ulricha von Jungingena znało kaz˙de polskie dziecko. W kaz˙dej polskiej szkole i przedszkolu wisiała kopia Bitwy pod Grunwaldem Matejki, i to był pierwszy Niemiec w z˙yciu kaz˙dego małego Polaka. Hitler przychodził troche˛ póz´niej i trzeba juz˙ było dysponowac´ jaka˛s´ wiedza˛, bo jes´li idzie o jego portrety, to raczej sie˛ nie wieszało. Ale Jungingen był wsze˛dzie, w kaz˙dej palcówce szkolnej i wychowawczej: na siwym staja˛cym de˛ba koniu, w białym rozwianym płaszczu i z wielkim czarnym krzyz˙em na piersiach.« 25 Twardoch, Szczepan: Wieczny Grunwald, Warszawa 2011, S. 51. Im Original: »[…] aantropiczni dostojnicy, bez ciał, najlepsze mózgi Germanii zanurzone w fizjologicznym roztworze soli, odz˙ywiane wspólnym krwio-biegiem i spie˛te wspólnym pniem mózgu, dziela˛ce wspólne sensorium milionów zawieszonych nad polem bitwy dronów zawiadywanych przez wypreparowane, odurzone narkotykami mózgi ludzkich robotnic.«
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phin« (»Morfina«) zurück, wenn er Konstantys Mutter folgende Worte in den Mund legt: »Denk daran, mein Sohn, wenn du in ihre Möschen eindringst, befriedigst du nicht nur dein Tier, dann vollziehst du die Vereinigung mit der Essenz von Polen. Denk nicht an diese Frauen, sie sind nur Fleisch: Denk dann an Polen. Ich bin Polen.«26
Die angedeutete Vereinigung der polnischen Ethnie mit der Figur einer vergewaltigten Frau und Mutter stellt eine Relation zu den Deutschen her, die als Aggressor und Erbfeind wahrgenommen werden und die polnische Unschuld bedrohen. Kein Wunder also, dass sich der Konflikt dieser dualistischen Beziehung auf die Ebene des Archetyps weiblich – männlich überträgt. Die geschlechtliche Unterscheidung ist insofern wichtig, als der Autor versucht, mit ihrer Hilfe die ewige Spannung zu erklären. »Söhnchen, wir ähneln aneinander wie zwei Tropfen Wasser. Wir sind zwei Körper, Frau und Mann, Polen und Deutschland, im Kampf verbunden, in einer drückenden Liebesumarmung, wir lieben uns kämpfend. Wir kämpfen aus Liebe. Im Kampf erhalten wir unsere Existenz.«27
Die Aussage von Mutter Polen macht auf die romantische Provenienz des Feindschaftsmythos aufmerksam. Ihre Aussage lässt keinen Zweifel daran, dass der polnischen und der deutschen Ethnie ein gemeinsamer Affekt zugrunde liegt: gegenseitiger Hass. Interessanterweise hat dieser laut Twardoch seine Wurzeln in einer archetypischen Anziehungskraft der Gegensätze: »Denkt an die großartigen, großartig unechten Bücher von Henryk Sienkiewicz und an die unechten Mausoleen Hindenburgs und an die unechte Zweite Schlacht bei Tannenberg, in der das germanische Element die Niederlage von vor fünfhundert Jahren rächen sollte, aber das alles ist nicht wahr. Eure Schlacht bei Tannenberg ist näher an meinem Ewigen Grunwald, dem Ewigen Tannenberg, als an diesem Tannenberg, das gewesen ist und in das ich eingetreten bin, zwischen beide Kriegsparteien, doch nicht aus Hass gegen Polen oder Deutsche, sondern aus Hass gegen die echten Menschen, die auf beiden Seiten kämpften und aus Hass gegen mich selbst. Ich bin dazwischengetreten, um aus ihrer Hand zu sterben, um zwischen ihnen zu fallen, ihnen zumindest im Tode gleichen.«28 26 Twardoch, Szczepan: Morphin. Berlin: Rowohlt Verlag 2014, S. 90. Vgl. auch Twardoch, Szczepan: Morfina. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2012, S. 86. 27 Twardoch, Wieczny Grunwald. 2011, S. 112. Im Original: »Syneczku, jestes´my do siebie podobni jak dwie krople wody. Jestes´my dwoma ciałami, kobieta i me˛z˙czyzna˛, Polska i Niemcami, splecionymi w walce, która jest us´ciskiem miłosnym, walcza˛c, kochamy sie˛. Walczymy z miłos´ci. Podtrzymujemy sie˛ w istnieniu, walcza˛c.« 28 Ebd., S. 175. Im Original: »Pamie˛tacie o wspaniałych, wspaniale nieprawdziwych ksia˛z˙kach Henryka Sienkiewicza i o nieprawdziwych mauzoleach Hindenburga, i o nieprawdziwej drugiej bitwie pod Tannenbergiem, w której z˙ywioł german´ski miał poms´cic´ kle˛ske˛ sprzed pie˛ciuset lat, ale to wszystko nieprawda. Waszej bitwie pod Grunwaldem bliz˙ej do mojego
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Ohne die Uniform scheinen Polen und Deutsche angesichts des Todes gleich zu sein,29 eines biologischen Todes, der die Grenzen ihrer Existenz setzt. Diese durchaus mittelalterliche Reflexion erklärt den Untertitel des Romans »von hinter dem Ende der Zeiten«30 und führt gleichzeitig den romantischen Mythos des Kampfes fort sowie die – insbesondere in Polen – noch lebendige Überzeugung von der Notwendigkeit, das eigene Leben für die Heimat zu opfern. Der Rückgriff auf den romantischen Mythos ist nicht zufällig.31 Denn wie Viktor Chorev argumentiert, hat eben die im 19. Jahrhundert entstandene Nationalliteratur die Bilder des Fremden im polnischen Bewusstsein geprägt.32 Einen entscheidenden Einfluss darauf hatte die damalige historische und politische Situation, welche die bisherigen nachbarschaftlichen Beziehungen der damaligen Vision des geteilten Polen unterordnete. Eben damals, im Kontext der Aufstände und des nationalen Freiheitskampfes, entstand das Auto-Stereotyp des Polen als eines Patrioten, der die romantische Idee des Sieges des Geistes über die schnöde materielle Kraft verkörperte, die einerseits mit dem despotischen Zaren, andererseits mit der unpersönlichen behördlich-militärischen preußischen Maschinerie identifiziert wurde. Diese Unpersönlichkeit wird bei Twar-
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Przez-wiecznego Grunwaldu, do Ewiges Tannenberg niz˙ do tego Grunwaldu, który był i w który wszedłem, mie˛dzy dwie walcza˛ce strony, jednak nie z nienawis´ci do Polaków albo Niemców, a z nienawis´ci do prawdziwych ludzi, walcza˛cych po obu stronach i z nienawis´ci do samego siebie, wszedłem tam po to, aby zgina˛c´ z ich re˛ki i pomie˛dzy nimi lec, przynajmniej w s´mierci im równy.« An anderer Stelle (Ebd., S. 185) sagt der Protagonist: »Weil der Mensch weder wirklich Pole noch Deutscher sein kann, zu viel haben die Menschen in Polen und die Menschen in Deutschland gemein. Denn wenn man die Uniformen und Insignien fallen lassen würde, wenn sie schlafen, wenn sie kopulieren, wenn sie scheißen, wenn sie schwitzen, unterscheiden sie sich doch überhaupt nicht voneinander und können miteinander Kinder bekommen, so wie ich: ein Deutscher mit einer Polin und ein Pole mit einer Deutschen, was schon fast nach Blasphemie klingt, denn wie ist es möglich, dass in die deutsche Scheide ein deutscher Schwanz reinpasst und umgekehrt.« Im Original: »[…] bo człowiek nie moz˙e byc´ prawdziwie Polakiem ani Niemcem, za wiele maja˛ wspólnego ludzie Polacy i ludzie Niemcy, przeciez˙ kiedy ich zwlec z mundurów i insygniów, i kiedy s´pia˛, kiedy kopuluja˛, kiedy sraja˛, kiedy sie˛ poca˛, to niczym sie˛ nie róz˙nia˛ i moga˛ miec´ ze soba˛ dzieci, takie jak ja, Niemiec z Polka˛ i Polak z Niemka˛, co przeciez˙ brzmi prawie jak bluz´nierstwo, bo jak to moz˙liwe, z˙e do polskiej cipki pasuje niemiecki fiut i odwrotnie.« Im Original: »zza kon´ca czasów«. Vgl. Choriew, Wiktor: Adam Mickiewicz i polski kanon postrzegania Rosji. In: Magazyn Polski 83, 2012, 11, S. 15: »Eine große Rolle im Prozess der Verfestigung ethnischer Stereotype in Polen spielte die Romantik als literarische und soziokulturelle Bewegung. Jaroslaw Iwaszkiewicz nannte dies ›die Essenz‹ des polnischen künstlerischen Schaffens und des polnischen Lebens im Allgemeinen.« Im Original: »Ogromna˛ role˛ w procesie utrwalania stereotypów etnicznych w Polce odegrał romantyzm jako ruch literacki i społeczno-kulturalny. Jarosław Iwaszkiewicz nazwał go esencja˛ polskiej twórczos´ci artystycznej i polskiego z˙ycia w ogóle.« Vgl. Choriew, Wiktor: Recepcja Rosji i literatury rosyjskiej przez pisarzy polskich. Moskwa: Indrik 2012.
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doch zum Bild der Deutschen, für die selbst der Sexualakt ein reiner Fortpflanzungsmechanismus ist. Sich auf die deutsche Seite zu stellen, ist für den Protagonisten eine Entscheidung, auf seine individuelle Identität zu verzichten und einer anderen Existenz zuzustimmen: »[…] ein verkrüppelter Restkörper, festgewachsen wie ein Wurmfortsatz am großen, mächtigen Kopf ohne Augen und Ohren, und ohne Mund. Oder als ein selbstständiger Freinachtjäger, der für den Kaiser die nächsten Generationen von Panzergrenadieren oder Freinachtjägern im Lebensborn zeugt, indem er mit kopflosen, breitbeckigen, großbusigen aanthropischen Weibchen kopuliert, die den Orgasmen der Krieger, dem Gebären und dem Stillen der Kinder dienen und um die herum kleine Arbeiterinnen wuseln: Sie waschen sie, drehen sie auf die andere Seite, um Wundliegegeschwüren vorzubeugen, und achten darauf, dass die Gefäße, die die großen Mütter mit Blut versorgen, nicht verstopfen.«33
Interessanterweise ist sogar der Sexualakt (man sollte meinen, die biologischste und atavistischste Lebensäußerung) bei Twardoch kulturell definiert: Deutsche Kopulationen sind geduldig und der Fortpflanzung unterordnet (»Orgasmen waren Pflichtorgasmen für das Blut«34), während die polnischen zu fantastischen Höhepunkten führen, in denen sich die Männchen mit Mutter Polen vereinigen. Diese ihrem Wesen nach modernistische Dichotomie führt zu einer dionysischen Trope in Twardochs Prosa. Kollektive Kopulationen vermischen sich mit Massenmorden – das über die Rüstung auf die Erde rinnende Blut fließt in die Fabriken und von dort zurück zu den Rittern und Müttern, die es sich erneut transfundieren. Die Affinität zur Wagnerschen Konzeption der germanischen Kultur, zur Vision der Walküre, für die Blut am wichtigsten ist, liegt auf der Hand: »Blut ist tiefer als alles, was darüber gesagt oder geschrieben werden kann. Seine dunklen und hellen Schwingungen zaubern Melodien, die uns in eine traurige oder freudige Stimmung versetzen. Sie ziehen uns zu Menschen, Landschaften und Dingen hin oder stoßen uns von diesen ab.«35 Blut scheint das germanische Wesen zu definieren, im Gegensatz zur Erde, über die sich das Polentum definiert. 33 Twardoch, Wieczny Grunwald, S. 19. Im Original: »[…] szcza˛tkowym ciałem skarlałym, przyros´nie˛tym jak wyrostek robaczkowy do wielkiej, pote˛z˙nej głowy bez oczu i uszu, i ust. Lub samodzielnym freinachtjegrem i płodziłbym dla Kaisera naste˛pnych panzergrenadierów lub freinachtjegrów w lebensbornach, kopuluja˛c bezgłowe i szerokobiodre, i wielkocyce samice aantropiczne, które słuz˙a˛ orgazmom wojowników i do rodzenia, i do karmienia dzieci, a wokół nich uwijaja˛ sie˛ małe ludzkie robotnice: myja˛ je, przewracaja˛ na boki, aby zapobiec odlez˙ynom, i pilnuja˛, aby zawsze były droz˙ne naczynia doprowadzaja˛ce Blut do wielkich matek.« 34 Im Original: »Orgazmy były orgazmami obowia˛zku wobec Krwi.« Ebd., S. 53. 35 Ebd., S. 56. Im Original: »Krew jest głe˛bsza niz˙ wszystko, co moz˙na o niej powiedziec´ lub napisac´. Jej ciemne i jasne drgania wyczarowuja˛ melodie, które wprawiaja˛ nas w nastrój smutku lub rados´ci. Przycia˛gaja˛ nas do osób, krajobrazów i rzeczy lub odpychaja˛ nas od nich.«
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Eng mit dem Wagner-Mythos ist das Symbol des Feuers verbunden, ein Feuer, »das auf den höchsten Gipfeln Germaniens brennt«36. Die Anspielung auf den dritten Teil der Operntetralogie »Der Ring des Nibelungen« scheint offensichtlich. Das Feuer erscheint dort gleichzeitig als Strafe und Prüfung. Siegfried stellt den potenziellen Bewerber um Brunhildes Hand die Bedingung der Furchtlosigkeit und zwingt die Walküre dadurch zu einem ewigen Schlaf, bis zu dem Moment, da sie von einem furchtlosen Menschen befreit wird, denn nur ein solcher kann den Feuerkreis betreten. Zum Auserwählten wird also derjenige werden, der den Tod nicht fürchtet, der ihn sucht und ihn herausfordert (»Und die Germania klagt: Warum kommst du noch nicht, Tod?«37). Die Verwendung des Wagner-Motivs ist bei Twardoch ein bewusstes Spiel mit Stereotypen. Interessanterweise bedient es sich hier einer »Musik aus einer anderen Welt, doch mit dem tiefsten Ausdruck des Deutschtums.«38 Die Bezugnahme auf musikalische Interpretationen offenbart den diskursiven Charakter der geführten Narration und führt ein Misstrauen gegenüber kulturell homogenen Botschaften ein, was der Autor durch die Konstruktion der Hauptfigur bestätigt. Twardoch führt die Erzählung vom »Ewigem Tannenberg« aus der Perspektive Paszkos, eines königlichen Bastards, des Sohnes einer Krakauer Kaufmannstochter deutscher Abstammung. Er wächst zu einem Mischling, einem staatenlosen Menschen heran, der seine ethnische Freiheit erklärt, weder ein Pole noch ein Deutscher zu sein. »Man stellte mir die Frage: Pole oder Deutscher? Entweder der Zungenbrecher ›soczewica koło miele młyn‹. Oder das Vaterunser auf Deutsch. Das Vaterunser kannst du nicht, du Hurensohn? Oder Dokumente! Ausweis! Und sie schauen mir mit dem schwarzen Auge der Pistole hinter die Stirn oder streichen den Hals mit der Zunge des Schwertes, die Haut gibt nach, geht auseinander. Und ich habe damals gelogen, doch meine Lügen erwiesen sich immer als leicht durchschaubar. Also bin ich geflohen, ich bin immer geflohen. Doch entkommen bin ich nie zu weit. Weil zu entkommen nicht möglich ist. Deutscher. Pole. Deutscher. Pole. Deutscher. Pole. Deutscher. Das Reich. Mutter Polen.«39 36 Der Wagner-Mythos wurde von Friedrich Nietzsche konstruiert, der in dessen Werken den Ausdruck einer Überhöhung von dionysischer Kraft, Übermaß und Wahnsinn sah. Wagners Werke sollten eine titanische und barbarische Anstrengung zum Vorschein bringen, bei der die wahre Natur des Lebens, die als Wille und nicht als Sinn verstanden wird, vorhanden ist. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München: Hauser 1954. 37 Twardoch, Wieczny Grunwald. 2011, S. 58. Im Original: »I płacze Germania: dlaczego nie przychodzisz juz˙, S´mierci?« 38 Ebd., S. 58. Im Original: »[…] muzyka z innego s´wiata, a jednak jest w niej najgłe˛bsze wyraz˙enie niemieckos´ci.« 39 Ebd., S. 113. Im Original: »Zadawano mi to pytanie: Polak czy Niemiec? Albo »soczewica koło miele młyn«. Albo Vater unser po niemiecku. Ojcze nasz. Ojcze nasz powiedziec´ nie umiesz, chuju? Albo dokumenty! Ausweis! I patrza˛ w moje czoło czarnym okiem pistoletu albo
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Paszko steckt zwischen zwei Stereotypen, zwischen zwei kulturell-zivilisatorischen Erfahrungen, zwei Mythen, welche die gegenseitige Vorstellung voneinander prägen. Zwischen zwei Nationen geworfen, fällt er bei Tannenberg für den Deutschen Orden, ohne sich bewusst für eine ethnische Identität zu entscheiden. Sein einziger Wunsch ist es, Ritter zu sein, und der geleistete Dienst ist mit dem Versprechen verbunden, zum Ritter geschlagen zu werden, also keine Deklaration der eigenen Nationalität. Mithilfe der historischen Fantasie lässt Twardoch seinen Helden verschiedene Formen des über Jahrhunderte präsenten deutschpolnischen Konflikts erleben, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Als Paszkos Fortsetzung (oder Alter Ego) kann der Titelheld der Erzählung »Gerd« aus dem Jahr 2010 angesehen werden, dessen Vater im Schlesischen Aufstand kämpft, während er selbst sich in die deutsche Armee einberufen lässt. »Und Gerd zog in den Krieg, und Gerd kam aus dem Krieg zurück. Besiegt und vergewaltigt. Und er schloss sich den gescheiterten und vergewaltigten Aufständischen des Väterchens an, der nicht mehr lebte, da er und das Mütterchen im Januar 1945 verstorben waren.«40
Paszkos fließende Identität ermöglicht es, in der polnischen Kultur verfestigte Stereotype zu entlarven: Deutsche erscheinen als eine gut organisierte Nation. Sie gelten zugleich als stolz, aggressiv und feindselig, aber auch anständig und solide. Für Twardoch sind nicht das Polen- oder das Deutschtum das Problem, sondern Stereotype und historische Vorurteile.
V Das sich hinter der imagologischen Lektüre der polnischen zeitgenössischen Prosa herauskristallisierende Bild der Deutschen ist schon weit entfernt von dem romantischen Bild, das der polnische Dichterfürst Zygmunt Krasin´ski in seinem Drama »Ungöttliche Komödie« (»Nie-boska komedia«) kreiert hat. Er lässt Graf Henryk konstatieren: »Vom Tag meiner Hochzeit an schlief ich einen tauben Schlaf, einen Schlaf der Verfressenen, einen Schlaf eines deutschen Fabrikinha-
pieszcza˛ szyje˛ je˛zykiem miecza, ugina sie˛ skóra, rozste˛puje sie˛ skóra. A ja wtedy kłamałem, ale te kłamstwa moje zawsze okazywały sie˛ tak łatwe do przejrzenia. Wie˛c uciekałem, zawsze uciekałem. Ale nigdy nie uciekłem zbyt daleko. Bo nie da sie˛ uciec. Niemiec. Polak. Niemiec. Polak. Niemiec. Polak. Niemiec. Rzesza. Matka Polska.« 40 Twardoch, Szczepan: Gerd. In: Ders.: Ballada o pewnej panience. Wszystkie najwaz˙niejsze opowiadania. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2017, S. 127. Im Original: »I Gerd poszedł na wojne˛, i Gerd z wojny wrócił. Przegrany i zgwałcony. I doła˛czył do przegranych i zgwałconych powstan´ców tatulka, który juz˙ nie z˙ył, bo oboje z mamulka˛ umarli w styczniu 1945 roku.«
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bers neben seiner deutschen Ehefrau«41, was keinen Zweifel an seiner Bewertung der Vorliebe der deutschen Gesellschaft für Ritual und Ordnung lässt, die sich im deutschen Kaufmanns- und Unternehmertum offenbart. Im Kontext der schlesischen Identität, die Szczepan Twardoch beschreibt, erregt gerade diese deutsche Wirtschaftlichkeit zugleich Anerkennung und Neid. Das erinnert an die Geschichte von Karl Godulla42, dem Sohn eines Jagdhüters aus Makoschau/Zabrze Makoszowy. Carl Franz von Ballestrem vertraute ihm die Verwaltung seiner Güter in Oberschlesien an. Godulla brachte Ballestrem dazu, eine Zinkhütte zu bauen, die zu seinen Ehren Carlshütte genannt wurde, und trug nicht nur zur schnellen Bereicherung seines Brotgebers bei, sondern auch seiner eigenen, denn Ballestrem belohnte den Ideengeber mit 28 Anteilen am Hüttenwerk.43 Das Geld nutzte Godulla dazu, sich selbstständig zu machen. Eine seiner wichtigsten Unternehmungen war die Entdeckung von Galmeivorkommen und die anschließende Errichtung eines entsprechenden Bergwerks in Miechowice/ Miechowitz, was ihm ein Vermögen einbrachte. Auf die Geschichte »des Teufels von Ruda«44 bezieht sich Twardoch in seiner »Ballade von einem gewissen Fräulein« (»Ballada o pewnej panience«). Mithilfe der Ich-Erzählung präsentiert er die Geschichte von drei Freunden: Loewe, Krupin´ski und ihm selbst – einem Jungen aus einer armen Bergmannsfamilie – die Anspielung auf Władysław Reymonts Roman »Das gelobte Land« (»Ziemia obiecana«) scheint offensichtlich. Ähnlich wie Godulla schließt die Hauptfigur die Schule mit Auszeichnung ab und erregt die Aufmerksamkeit des Industriellen Udo Donnersmarck, der ihm ein Stipendium gewährt. »Er dachte vielleicht, aus mir könnte ein zweiter Godulla werden?«45 Der Wohltäter hat gegenüber dem Jungen ähnliche Pläne wie seinerzeit Ballestrem gegenüber Karl und will ihn nach wenigen Jahren zum Bergwerksdirektor machen. An diesem Punkt wird der Mythos jedoch dekonstruiert, denn der Junge will nicht warten, er beraubt seinen Brotgeber und flieht ins Ausland. Twardoch spielt bewusst mit dem Klischee des deutschen guten Herrn und des polnischen Diebes, wobei er die Gründe dieser Entscheidung betont: Die Brüder und der Vater versinken im Kohlenstaub in einem Bergwerk. Hinter der scheinbaren Großzügigkeit steckt eiskalte kapita-
41 Krasin´ski, Zygmunt: Nie-boska komedia, Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1974, S. 13. Im Original: »Od dnia s´lubu mojego spałem snem odre˛twiałym, snem z˙arłoków, snem fabrykanta Niemca przy z˙onie Niemce.« 42 Kaczmarzyk, Izabela: W cieniu mitu: rzecz o Karolu Goduli. Ruda S´la˛ska: Muzeum Miejskie im. Maksymiliana Chroboka 2007. 43 Vgl. Dworak, Jan Stefan: Karol Godula – pionier przemysłu cynkowego na Górnym S´la˛sku. Opole: Wydawnictwo Instytut S´la˛ski 1979. 44 Podgórski, Adam/Podgórska, Barbara: Diabeł z Rudy: demoniczne wa˛tki w legendzie Karola Goduli, In: Rudzki Rocznik Muzealny 10, 2007, S. 107–126. 45 Im Original: »Mys´lał moz˙e, z˙e wyros´nie ze mnie drugi Godula?«
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listische Ausbeutung, die der deutsche Industrielle betreibt. Auf ironische Weise dekonstruiert Twardoch den Donnersmarck-Mythos: »Bestürzt über das harte Los des Volkes, tat er, was er konnte, um dessen Unglück zu mildern, solange es seinen Besitzstand nicht schmälerte. Diese Sorge entsprang seinen zutiefst christlichen Überzeugungen einerseits und andererseits der Angst vor kommunistischen Agitatoren, die in Donnersmarcks Bergwerken und Hütten weniger Gehör fanden als anderswo.«46
Twardoch spielt zweifelsohne mit dem Stereotyp des deutschen Wohlstands. Sein Protagonist Ewald Biela wechselt aus Sorge um seinen Besitz ständig die Seiten der Grenze und seine Abstammung. Die Teilnahme am Schlesischen Aufstand bringt ihm nichts ein: Sie macht ihn nicht wohlhabend, lässt ihn keine kleine Fabrik übernehmen, macht ihn nicht einmal zu einem Elwer.47 »Damals sagte er sich, er scheißt auf ein solches Polen, er hat die Nase voll und geht zurück nach Deutschland, denn hier ist nur polnische Wirtschaft. Im Jahr 1932 zog er zurück nach Gleiwitz OS und nahm unter Berufung auf die vorzügliche deutsche Familientradition die deutsche Staatsbürgerschaft an. Das Haus in Przyszowice verkaufte er aber nicht. Nach einem Jahr fand er eine Stelle als Kassierer bei der Eisenbahn.«48
Ewalds Entscheidung ist folgenreich. Die Geschichte lässt ihn nicht in Ruhe: Sie zieht ihn hinein ins Kriegsgetümmel; im Gegenzug für ein paar Jahre Wohlstand zeichnet er sich in der Wehrmacht aus. Und dennoch steckt hinter dem Verhalten Bielas, der doch nur einige Jahre früher am Schlesischen Aufstand teilgenommen hatte, ein stereotyper Blick auf die Deutschen als eine – im Vergleich zu den polnischen Arbeitern – im Leben besser zurechtkommende Klasse der Besitzenden.
46 Twardoch, Szczepan: Ballada o pewnej panience. In: Ders., Ballada o pewnej panience. 2017, S. 9. Im Original: »Dola˛ ludu przeje˛ty głe˛boko, czynił, co mógł by jej ulz˙yc´, jes´li nie uszczuplało to jego stanu posiadania. Troska ta wynikała zarówno z jego głe˛boko chrzes´cijan´skich przekonan´, jak i ze strachu przed komunistycznymi agitatorami, którzy w kolaminach i hutach Donnersmarcka znajdowali posłuch o wiele mniejszy niz˙ gdzie indziej.« 47 Elwer – im polnischen Schlesisch ein arbeitsloser junger Mann. 48 Twardoch, Szczepan: Ballada o Jakubie Bieli. In: Ders., Ballada o pewnej panience. 2017, S. 57. Im Original: »Wtedy uznał, z˙e do rzyci ze tako¯m Polsko¯m, ôn to fanzoli i przekludzo˘ sie˛ nazo˘d do¯ Niymiec, bo sam je polonische Wirtschaft. W roku 1932 przeprowadził sie˛ z powrotem do Gleiwitz, O.S. i powołuja˛c sie˛ na znakomite, niemieckie tradycje rodzinne, przyja˛ł niemieckie obywatelstwo, domu w Przyszowicach jednak nie sprzedał. Po roku znalazł prace jako kasjer na kolei.«
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VI Twardoch verbindet beide Mythen: den vom Ewigen Tannenberg und den vom dem Erdinneren entrissenen Reichtum (Deutsche als Unternehmer; vor allem die Bergwerksinhaber des 19. Jahrhunderts werden reich durch das, was sie, die Weltordnung verletzend, der Erde rauben) in seinem Roman »Drach« und konstruiert dabei ein außerordentlich diskursives Identitätsbild, das auf dem bereits erwähnten Schlesiertum basiert. Die Narration erfolgt aus der Sicht des Erdinneren, das den Lauf der Geschichte beobachtet, und zwar aus der Perspektive der verwesenden Leichen und der über sie trampelnden Lebenden: Józef Magnor und seine Familie. Twardoch zeigt am Beispiel der Familie Magnor, dass es wohl erst die Schlesischen Aufstände waren, die das Antlitz dieses Landes verändert haben. Davor war Schlesien trotz der von allen Seiten drängenden Geschichte ein Ganzes, ein Land frei von völkischen Ressentiments – geradezu ein Paradies. Die drei aufeinanderfolgenden Aufstände und die Teilung des Landes in einen polnischen und einen deutschen Teil zwangen die Bewohner, ihre Identität auf der einen oder der anderen Seite zu bestimmen. Die Teilung zerriss das Gebiet, das fortan diese Verwundung mit sich tragen wird. In dieses Paradies drang der Tod und brachte ganze Familien auseinander, deren Mitglieder nun einander feindlich gegenüberstanden, zunächst in den Aufständen, dann in den Schützengräben des Zweiten Weltkriegs. Eine solche Geschichte teilten die bereits erwähnten Figuren in Twardochs Erzählungen: Gerd und Ewald Biela; eine solche Geschichte erfährt auch Józef Magnor in »Drach«. Außer der Geschichte selbst ist das diskursivste imagologische Element bei Twardoch die Sprache, sowohl die der Figuren als auch die des Erzählers. In den Dialogen verwendet er neben Hochpolnisch sowohl den polnisch-schlesischen Dialekt als auch Deutsch. Das in der Narration dominierende Polnische erscheint als eine Sprache der Repression, wie in der Szene, als Ernst und Czoik nach Sopot fahren. »Ernst (…) spricht Deutsch genauso gut wie Polnisch. Polnisch in der Schule und mit den Freunden, und mit Czoik, Deutsch mit seiner Mutter und den Bielas aus Z˙ernica. (…) ›Sie kommen aus Schlesien?‹, fragt den Czoik ein sympathischer junger Mann in Pumphose und Tweedjacke. Czoik nickt. ›Dann wäre es vielleicht höchste Zeit, Polnisch zu reden und uns nicht mit der Wassersprache zu beschämen?‹, schlägt der Junge mit dem herrschaftlichen Aussehen höflich vor.«49
49 Twardoch, Drach. 2014, S. 357. Im Original: »Ernst (…) mówi po niemiecku tak samo dobrze jak po polsku. Po polsku w szkole i z kolegami, i z Czoikiem, po niemiecku z matka˛ i Z˙ernickimi Bielami. (…) – Pan´stwo ze S´la˛ska…? – zaczepia Czoika sympatyczny młodzieniec w pumpach i tweedowej marynarce. Czoik kiwa głowa˛. – To moz˙e by czas juz˙ zacza˛c´ po polsku
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Die in die s´lo¯nskõ go˘dkã50 eingeschriebene Scham wird zum Werkzeug, mit dessen Hilfe Twardoch das Bild der Deutschen entwirft und die Art und Weise aufzeigt, wie sie die Polen sehen – voller Minderwertigkeitskomplexe, dazu bereit, ihre Mitmenschen zu kränken, nur um sich selbst vor den Fremden gut zu präsentieren. Es könnte scheinen, dass der antipolnische Tonfall dieser Textstelle für den Autor dieses Romans repräsentativ ist, eine Stimme für das Deutschtum Schlesiens. Nichts falscher als das. Twardoch spielt bewusst mit den Stereotypen, etwa wenn er Reinhold Ebersbach erwähnt, der »dieses harte slawische »r« nicht ausstehen kann, wenn die Dienstbotin es in seinem Namen ausspricht, als raschele es. EbeRRRsbach.«51 Die Helden verstecken sich in der Landessprache: »Sie sprechen Schönwaldisch, kein Wort Polnisch, kein Wort Deutsch, so sagt man doch, kein Wort, in Wirklichkeit sprechen sie schon einige Worte Wasserpolnisch und auch ein paar Brocken Deutsch.«52 Doch die Sprache ist bei Twardoch, dem Humormodell von Witold Gombrowicz folgend, nur eine Form. Alles, was auch nur einen Hauch von einer stereotypen Haltung aufweist, wird bei Twardoch bitterböse ausgelacht. Als 1922 der Aufstand endet, »[…] rennt der Major Konieczny erregt durch die ganze Abteilung, in langer Unterhose, Hemd und einer österreichischen Militärmütze« und ruft auf Deutsch: ›Endlich Polen!‹»53. Die Siege der schnurrbärtigen deutschen Soldaten in sandfarbenen Uniformen werden mit dem absoluten Mangel an Zärtlichkeit verbunden, den Reinhold Ebersbach seiner Frau entgegenbringt: »Reinhold Ebersbach hasst seine Frau, mit der er überhaupt nicht schläft. In zwei Jahren Ehe hatte er insgesamt dreimal mit ihr Geschlechtsverkehr. Das letzte Mal ließ sie ihn vor neun Monaten ran, noch im Jahre 1903, aber das, was er für ein Zeichen entstehender ehelicher Liebe hielt, entpuppte sich als kalter, in seiner Mechanik abstoßender Akt.«54
Beide Handlungsstränge spielen mit Stereotypen: Eine polnische Fantasie, die an Wahnsinn und Lächerlichkeit grenzt, trifft auf deutsche Zurückhaltung, man-
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mówic´, a nie zawstydzac´ nas przed Niemcami tym narzeczem? – uprzejmie proponuje młodzieniec o pan´skim wygla˛dzie.« Schlesische Mundart. Ebd., S. 109. Im Original: »nienawidzi tego twardego słowian´skiego ›r‹ kiedy słuz˙a˛ca wymawia je w jego nazwisku, az˙ grzechocze. EbeRRRsbach.« Ebd., S. 41. Im Original (teilweise polnisches Schlesisch): »mówia˛ po szynwo˘łdzku, ani słowa po¯ naszymu, po polsku, ani słowa po niemiecku, tak sie˛ mówi, z˙e ani słowa, ale tak naprawde˛ i w wasserpolnisch, i po niemiecku pare˛ słów powiedza˛.« Ebd., S. 361. Im Original: »Major Konieczny biega podniecony po całym oddziale w kalesonach, koszuli i austriackiej czapce wojskowej.« Ebd., S. 109. Im Original: »Reinhold Ebersbach nienawidzi swojej z˙ony, z która˛ w ogóle nie sypia. Spółkował z nia˛ ła˛cznie trzy razy w cia˛gu dwóch lat małz˙en´stwa. Ostatni raz dopus´ciła go do siebie dziewie˛c´ miesie˛cy temu, jeszcze w 1903, jednak to, co wzia˛ł za objaw rodza˛cej sie˛ małz˙en´skiej miłos´ci, okazało sie˛ aktem zimnym, odstre˛czaja˛cym w swej mechanicznos´ci.«
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gelnde Empathie und menschliche Gefühle. Zu diesem feststehenden Katalog der Eigenschaften fügt Twardoch noch den traditionell den Deutschen zugeschriebenen Hass hinzu: »Die Deutschen hassen Gelas Vater institutionell und zur Untermauerung dieses Hasses haben sie eine ganze Masse Unterlagen und Akten, aber niemand hasst Gelas Vater so wie sein Nachbar. Der Nachbar hasst Gelas Vater aus gewöhnlichen, nicht aus nationalen Gründen.«55 Twardoch dekonstruiert das Stereotyp, indem er entlarvt, dass sich hinter großen Parolen meist menschliche Affekte und Schwächen verbergen. Dem Hass des Nachbarn liegt ein Minderwertigkeitskomplex zugrunde, denn Gela stellte ihm viele Jahre lang ihre Überlegenheit zur Schau. Deshalb zeigt er Gelas Vater bei der deutschen Polizei an, denn die Polizei ist gerade deutsch. Ein Zufall wird zur Keimzelle des Stereotyps. Der Erzähler erlaubt es seinen Figuren nicht selten, sich auch gegen die offizielle Geschichte querzustellen. Josef Magnor nimmt am Ersten Weltkrieg nicht deshalb teil, weil er sich deutsch fühlt, sondern weil er den Wunsch verspürt, seine Identität zu bestimmen, in eine größere Gemeinschaft einzutreten. Nach seiner Rückkehr nimmt er am Schlesischen Aufstand teil, und über ein Jahrzehnt später versteckt er sich, um nicht in die Wehrmacht eingezogen zu werden. Als ihn Kazek Widuch überzeugt, dem Verband heimattreuer Oberschlesier beizutreten (»Denn wir müssen bei den Deutschen sein! Wir müssen im Deutschen Reich bleiben!«)56 und ihn des Polentums bezichtigt, antwortet Josef: »Polen habe ich im Arsch […]. Mir geht nur darum, dass wir malochen und der Deutsche davon reich wird. Und wir bleiben arme Leute.«57 Hinter der ethnischen Ordnung wird der soziologische Diskurs sichtbar, der den größten Einfluss auf die Positionierung der Schlesier im Polen der Vorkriegs-, und wie sich später herausstellt, auch der Nachkriegszeit ausübt. Die Deutschen erscheinen einerseits als Ausbeuter dar, zeichnen sich andererseits aber auch durch ein höheres Lebensniveau aus. Zudem erscheint der pseudoetymologische Zusammenhang zwischen Paradies (polnisch: raj) und Deutschem Reich (polnisch umgangssprachlich: rajch) bedeutungstragend. Als Valeska nach dem Aufstand zur polnischen Seite übertreten soll, sagt sie: »Aber hier war doch immer das Reich. Ich war noch nie woanders, nur im Reich. Polen
55 Ebd., S. 168. Im Original: »Niemcy instytucjonalnie nienawidza˛ ojca Geli i na poparcie tej nienawis´ci maja˛ cała˛ mase˛ dokumentów i akta, ale nikt tak nie nienawidzi ojca Geli jak sa˛siad. Sa˛siad nienawidzi ojca Geli z powodów zwykłych, nie narodowos´ciowych.« 56 Ebd., S. 90. Im Original (polnisches Schlesisch und Deutsch): »bo muszymy byc´ przi Niemcach! Wir müssen im Deutschen Reich bleiben!« 57 Ebd., S. 90. Im Original (polnisches Schlesisch): »Jo˘ mo˘m w rzici Polska […!. Mie yno ô to idzie, az˙e my fedruyemy, a Niemiec z tego je bogo˘czym. A my dycki yno biydo˘ki.«
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habe ich nicht nötig.«58 Die Grenze kommt unerwartet und zerreißt ganze Familien. Das Paradies, in dem sie bisher gelebt hatten, wurde zerstört, seine Bewohner vertrieben. In dasselbe Paradies (Reich) sollte später in den Zeiten des Kommunismus eine Massenabwanderung von Polen deutscher Herkunft stattfinden, was deutlich macht, dass diese oft deutscher sind als die Deutschen selbst, wie Janusz Rudnicki in seiner Prosa aufzeigt.59
VII Das Werk von Szczepan Twardoch, einem Vertreter der jüngeren Schriftstellergeneration, fügt sich perfekt in den gegenwärtigen Trend zur Bloßstellung der Mechanismen der Erzeugung eines gesellschaftlichen Kollektivbildes ein. Die vorwiegend in Schlesien verortete Handlung erlaubt die Dekonstruktionen monokultureller Monolithen, die für die Konstruktion von Stereotypen und den Einsatz diskursiver Erzähltechniken charakteristisch sind. Deutschtum ist bei Twardoch eine ideologische, um nicht zu sagen politische Struktur, die sich, durchtränkt von historischen Bildern, zur Titelfigur Drach auswächst – einem Drachen, der bereit ist, die Störenfriede zu verschlingen. Nicht zu unterschätzen ist die in der jüngeren polnischen Literatur zu beobachtende Tendenz zur Bloßstellung der Mechanismen der Stereotypisierung. Dahinter verbirgt sich sowohl die postmoderne Abneigung gegen eine totale Narration, die Betonung des Individuellen und Örtlichen, als auch eine gestiegene Selbstsicherheit der Schreibenden, das Vertrauen auf die eigene Identität. Die Flucht aus der einzig wahren nationalen Erzählung, die nach 1989 zu einem prominenten Phänomen der polnischen Literatur geworden ist (Stasiuk, Gretkowska, Huelle, Tokarczuk) und gleichzeitig das in der jungen Generation gestiegene Bewusstsein der Zugehörigkeit zu Europa, haben zu einer Überwindung der polnischen Minderwertigkeitskomplexe beigetragen, wie sie noch bei Stasiuk vorkommen, wenn er Polen in Berlin beschreibt, die alle und alles fotografieren: »Alle knipsten. Die Unseren auch. Nur etwas leiser, schüchterner, weil die Unseren noch immer Angst vor den Deutschen haben.«60 Bei Twardoch ist das nicht mehr der Fall. Der Generation der Siebzigerjahre,61 zu der Twardoch gezählt 58 Ebd., S. 296. Im Original (polnisches Schlesisch): »Dyc´ sam dycki był Rajch. Nigdy z˙ech niy była nikaj indzyj, yno w Rajchu. Polska mnie niy ma potrzebno¯.« 59 Vgl. Da˛browski, Mieczysław: Mie˛dzytekst. Literatura mie˛dzy kulturami narodowymi. In: Porównania 2013, 13, S. 93–105. 60 Stasiuk, Dojczland. 2007, S. 54. Im Original: »Wszyscy pstrykali. Nasi tez˙. Tyle z˙e ciszej, nies´miało, bo nasi wcia˛z˙ boja˛ sie˛ Niemców.« 61 Vgl. Tekstylia. O ›rocznikach siedemdziesia˛tych‹. Hrsg. von Piotr Marecki/Igor Stokfiszewski/ Michał Witkowski. Kraków: Rabid 2002.
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werden kann, fehlt dieser negative Bezugspunkt, vor dem die Vertreter älterer Generationen standen (ob in der politischen oder der historischen Narration). An die Stelle der bisherigen Stimulierung der Literatur durch politische Ereignisse treten Marketingmaßnahmen und neue, vor allem mediale, Kreisläufe des Literaturbetriebs. Infolgedessen entsteht eine autoreferenzielle Literatur, deren Weltanschauung diffus ist, was sich letztlich im diskursiven Charakter niederschlägt, der auch in den hier erörterten Beispielen erkennbar ist. Polen- und Deutschtum sind, wie sich gezeigt hat, rhetorische Figuren des imagologischen Diskurses, über den sich ein gemeinsamer Himmel wölbt, darunter dieselbe Erde mit ihrer Natur, ihrer Biologie und ihrem Körper.
Primärliteratur Twardoch, Szczepan: Jak nie zostałem poeta˛. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2019. Twardoch, Szczepan: Drach. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2014. Twardoch, Szczepan: Wieloryby i c´my. Dzienniki 2007–2015. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2015. Twardoch, Szczepan: Wieczny Grunwald. Warszawa: Narodowe Centrum Kultury 2011. Twardoch, Szczepan: Morfina. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2012. Twardoch, Szczepan: Ballada o pewnej panience. Wszystkie najwaz˙niejsze opowiadania. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2017.
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Magdalena Ba˛k (Katowice)
Literatur und (E)migration. Verschiedene Aspekte polnisch-deutscher Beziehungen
Abstract: Der Beitrag befasst sich mit drei verschiedenen Ansätzen, wie die sogenannten »(e)migratorischen Krisen« der Identität gelöst werden können. Sie stammen von drei polnischen Autoren, die mit dem polnischen und deutschen Kulturkreis in Verbindung stehen. Gegenstand der Analyse sind in eben dieser Reihenfolge die Gedichte von Tomasz Łychowski, Tomasz Róz˙yckis Gedicht »Dwanas´cie stacji« und Dorota Danielewicz’ außergewöhnlicher Großstadtroman »Auf der Suche nach der Seele Berlins«. Jeder der AutorInnen definiert Auswanderung zwar anders, allerdings findet auch jeder von ihnen einen Weg, die Identität des Emigranten (wieder)herzustellen, und dank der intuitiven Anwendung einer hybriden Strategie, der Bereitschaft, neu zu verhandeln, die Identität zu aktualisieren und neu zu definieren, sind dies positive Beispiele dafür, wie Migration zu einer bereichernden Erfahrung werden kann. Die Analyse bringt auch auf die Verbindungen zwischen der Erfahrung der Auswanderung und anderen Schlüsselproblemen unserer Zeit, wie der Multikulturalität, Globalisierung oder dem Konzept der Kultur als Bricolage, hervor. Geht man von dieser Auffassung aus, wird die Auswanderung zu einem viel universelleren Phänomen und zu einer der grundlegendsten menschlichen Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts.
Das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war nicht zuletzt durch verstärkte Migrationsbewegungen geprägt. Obwohl das Phänomen in Europa seit langem bekannt war, ist das gegenwärtige Momentum der Migration und seiner Begleiterscheinungen besonders prägend für die gesellschaftliche Gegenwart. Das spiegelt sich auch in der Namensgebung des Migrationsphänomens wider. Obwohl Emigration und Migration für Europa in keiner Weise völlig neu sind – schließlich berührte es die Länder Europas auch schon im 20. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in bedeutendem Maße1 – so ist seit 2015 von der Migration- und Flüchtlingskrise die Rede.2 1 Vgl. Zie˛ba, Maciej St.: Zintegrowane podejs´cie do kwestii migracji. In: Migracja. Wyzwanie XXI wieku. Hrsg. von Maciej St. Zie˛ba. Lublin: KUL 2008, S. 16–17; Grabowska-Lusin´ska, Izabela/ Okólski, Marek: Emigracja ostatnia? Warszawa: Wydawnictwo Naukowe Scholar 2009, S. 10. 2 Vgl. Lacroix, Thomas: Migrants. L’impasse Européenne. Malakoff: Armand Colin 2016, S. 7. Interessanterweise wurde diesem Begriff ein eigener Artikel bei Wikipedia: (Zugriff am 27. 07. 2019) gewidmet. Diesem Thema gewidmete Artikel sind in über 60 Sprachen verfügbar. Reyes, Adelaida: Identity construction in the context of migration. In: Il Saggiatore Musicale 21, 2014, H. 1, S. 105. Bhurga, Dinesh: Migration, distress and cultural identity. In: British Medical Bulletin 69, 2004, H. 1, S. 129–141. Oberg, Kalervo: Cultural Shock: Adjustment to New Cultural Enviroments. In: Practical Anthropology 1960, H. 7, S. 177–182. Hall, Stuart: Cultural Identity and Diaspora. In: Identity: Community, Culture and Difference. Hrsg. von Jonathan Rutheford. London: Lawrence & Wishart 1990, S. 222–225.
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eine verstärkte Variante dieses Phänomens der Identitätsfindung dar, mit dem sich jede selbst-bewusste Person reflektierend auseinandersetzen muss. In diesem Verständnis kann die Konstruktion einer eigenen Identität unter Emigrationsbedingungen als neue Möglichkeit und Chance angesehen werden. Die Bedingung hierfür ist, wie Laura Süna schreibt, dabei in jedem Fall jedoch eine grundlegend inklusive Perspektive anzunehmen; statt des exklusiven entweder – oder entsteht dabei Raum für ein sowohl als auch. Der Migrant – Emigrant und Immigrant gleichzeitig – kann unter diesen Rahmenbedingungen zur Identitätskonstruktion sowohl aus der Kultur des Gastlandes als auch aus der eigenen Kultur schöpfen7. Dieser wissenschaftlich beschriebene Prozess der Identitätskonstruktion ist auch in der Belletristik ausgiebig analysiert und reflektiert. In den Werken polnischer Dichter und Schriftsteller ist dies eines der wichtigsten Themen, das bereits im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit »politischen Unruhen«, wie es Seweryn Korzelin´ski formulierte, auftritt. Das 20. Jahrhundert bringt wiederum eine Reihe besonders interessanter Texte hervor, die die Forschungserkenntnisse zur Identitätskonstruktion in der Emigration, sowie die Tatsache bestätigen, dass es sich hierbei lediglich um eine Variante der Identitätskonstruktion handelt, die praktisch jedem Menschen – unabhängig von der Emigrationserfahrung – bekannt ist. In diesem Sinne befand Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz, der den Großteil seines Lebens außerhalb des Heimatlandes verbrachte, die Emigration als die grundlegendste Erfahrung des modernen Menschen.8 Dabei erweiterte er den Begriff Emigration, neben dem bloßen Verlassen des Heimatlandes, um die Notwendigkeit des Zurücklassens, des Aufgebens familiärer und heimatlicher Bindungen, des Ortes, der subjektiv als der persönlichste und wichtigste wahrgenommen wird. In Erinnerung seiner eigenen Emigration schreibt der aus dem Ort Szetejnie im heutigen Litauen stammende Dichter: »Wilna war überhaupt nicht meine Stadt, ich stamme ja aus dem Kehdaner Kreis. Die Verpflanzung nach Wilna war bereits eine Emigration. Der Kedahner Kreis ist für mich eine Heimat der Farben, der Gerüche, der ersten großen wichtigen Erfahrungen und Erkenntnisse […].«9
In Miłosz’ Verständnis wird deutlich, dass er seine eigene Identität auf den Verlust gründet, aber eben auch auf den notwendigen Aushandlungsprozess 7 Süna, Laura: Cultural and media identity among Latvian migrant sin Germany. In: The Emmigrant Communities in Latvia. National Identity, Transnational Belongings and Diaspora Politics. Hrsg. von Rita Kasa/Inta Mierina, Springer 2019, S. 183–201. 8 Olejniczak, Józef: Czytaja˛c Miłosza. Katowice: S´la˛sk: SJiKP 1997, S. 67. 9 Opór i wiernos´c´ prowincji. Z Czesławem Miłoszem rozmawiaja˛ Dariusz Suska i Aleksandra Stasiak. In: Z˙ycie 1991, H. 114, S. 11.
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zwischen dem aus dem vormaligen Umfeld Mitgebrachten (Kultur, Topographie, Emotionen) sowie dem im neuen Umfeld Vorhandenen. Das Identitätsverständnis nähert sich damit der durch Gegenwartsforscher geprägten Metapher, nach der Identität »auf dem Wasser geschrieben und [eben] nicht in Stein gemeißelt ist«.10 Die polnische Belletristik hat dazu mehrere konkrete Methoden zur Lösung von identitären Emigrationskrisen verewigt. Dieser Essay widmet sich im Folgenden drei Lösungsansätzen, die aus den Werken von Dichtern und Schriftstellern stammen, die auf verschiedene Weise mit dem polnischen und deutschen Kulturkreis verbunden sind. Zunächst wäre da Tomasz Łychowski – ein Maler und Dichter, dessen nationale Zugehörigkeit sicher nicht so leicht definiert werden kann, wie es der allgemeinen Erwartung entspräche. Der in Angola geborene Sohn eines Polen und einer Deutschen emigrierte zum ersten Mal, im Kindesalter, im Jahre 1938 mit seinen Eltern von Afrika nach Europa. Die eigenen und die dramatischen Kriegserfahrungen seiner Familie (insbesondere den Aufenthalt im berüchtigten Pawiak-Gefängnis) beschrieb er in seinen Erinnerungen »Mein Weg zum Mond«, in dem er unter anderem anmerkt: »Mama haben sie in der Szuchallee [am damaligen Warschauer Sitz der Gestapo – P.B.] misshandelt, da sie die Frau eines Polen war, und die Polen blickten sie oft schief an, da sie Deutsche war«.11 Im Jahre 1944 fuhr Tomasz mit seiner Mutter zur Familie nach Deutschland, von wo aus sie nach dem Krieg versuchten, nach Angola zurückzukehren. Der Vater fand sie in einem Lager in Belgien wieder. Anstatt nach Afrika kehrte Tomasz nach Deutschland zurück, und im Jahre 1948 machte sich die Familie auf nach Brasilien, das sich als Endziel dieser spezifischen Odyssee herausstellen sollte, auch wenn die Migrationsgeschichte für den jungen Ankömmling dort wieder von Neuem begann. Die Tatsache, dass das Emigrationsthema in Łychowskis Werk einen besonderen Platz einnimmt, ist daher nicht verwunderlich. Betrachtet man die folgenden Gedichtbände dieses Autors, kann man die charakteristische Entwicklung des lyrischen Helden erkennen, der wie Anna Kalewska es analysiert, danach strebt, die durch die Emigrationen verursachte Zerrissenheit zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen zu meistern; und zwar in Form eines »Verschmelzens der menschlichen Existenz im Angesicht der Emigrationserfahrung.«12 In der neuesten Ausgabe des Bandes »Spojrzenia« [dt. Blicke], der eine Auswahl von Gedichten aus verschiedenen Jahren umfasst, dominiert eindeutig diese 10 Reyes, Identity construction. 2014, S. 110. 11 Łychowski, Tomasz: Moja droga na ksie˛z˙yc. Warszawa: Instytut Studiów Iberyjskich i Iberoamerykan´skich UW 2010, S. 30. Diese und alle weiteren Übersetzungen aus polnischen Quellen, wenn nicht anders angegeben, stammen von Pascal Bittner. 12 Kalewska, Anna: Od (eks-)obcego w wiez˙y Babel do emigranta-współbrata – droga bohatera lirycznego Tomasza Łychowskiego. In: Ameryka Łacin´ska 2005, H. 45–46, S. 46.
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verschmelzende Perspektive. Konsequent stellen die Gedichte dieser Auflage scheinbar fundamentale Trennlinien der Emigrationserfahrung in Frage, sodass die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und Fremden genauso fragwürdig erscheint wie die Unterscheidung zwischen Einheimischem und Zugezogenem.13 Alle Äußerlichkeiten, wie sich unterscheidende Namen und Staatsgrenzen, schälen sich dabei als nur scheinbar und im Grunde unwesentlich heraus. Im Gedicht »Genug« fragt der Autor dazu: »Welche Schuld liegt darin dass – geboren in Angola – ich nicht Schwarz bin? Adoptiert von Brasilien Dass ich ein Gringo bin? Welche Schuld? Dass ich Sohn einer Deutschen in Polen bin Eines Polen in Deutschland? Genug mit den irrealen Schuldgefühlen Reichen denn nicht die Wahrhaftigen?«14
In jeder dieser Phrasen, die das Schicksal und die Erlebnisse eines Emigranten in Erinnerung rufen, tauchen eben diese äußerlichen Unterscheidungen auf und bewirken, dass er an jedem Ort als fremd wahrgenommen wird. In Angola entscheidet darüber seine Hautfarbe, in Brasilien das soziale Establishment, die ihn zum gringo – Ausländer macht, in Polen und Deutschland ist es die Herkunft. Sie alle beziehen sich dabei jedoch auf unwesentliche bzw. nur scheinbare Identitätselemente. Der Ausspruch am Ende des Gedichts zeugt von der tiefen Überzeugung, dass keine dieser Kategorien den Emigrantenmenschen definiert. Auch sind sie nicht im Stande, die Bindung mit den Orten seiner vorherigen Existenz auszuradieren. Seine Gedanken über die Situation des Migranten als solchen, der in sich die Werte verschiedener Orte und Breitengrade vereint (Kultur, Sprache, Freundschaften, Erinnerungen, Bilder, Ideen), bringt Łychowski in einer Vielzahl von Gedichten direkt zum Ausdruck. In seinem Stück »Du« ist beispielsweise zu lesen:
13 Lalak, Danuta schreibt zur Bedeutung dieser Kategorien im Migrationsprozess. Vgl. Lalak, Danuta: Swoi i obcy w perspektywie antropologiczno-społecznej. In: Migracja. Uchodz´stwo. Wielokulturowos´c´. Zbliz˙enie kultur we współczesnym s´wiecie. Hrsg. von Danuta Lalak. Warszawa: Wydawnictwo Akademickie Z˙ak 2007, S. 91. 14 Łychowski, Tomasz: Spojrzenia. Wiersze wybrane. Rio de Janeiro: Letra Capital 2016, S. 91.
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»Im Gedächtnis sind die Topographie Die Gesichter sogar die Tiere des dortigen Landes Das dich gehegt und umarmt hat, Nie adieu gesagt hat Das Angolanische in dir existiert Neben dem Polnischen Brasilianischen […].«15
Emigration ist nicht gleichbedeutend mit dem Abschied von dem so wichtigen und nahestehenden Ort. Alle wesentlichen, dort verinnerlichten Werte dauern an und fügen sich zur ganzen (zusammengesetzten, facettenreichen, in diesem Fall angolanischen, polnischen und brasilianischen) Identität des Emigranten zusammen, und nicht etwa zu einer Identität, die zerrissen oder gar verkrüppelt wäre. Deswegen kann der Sprecher im Gedicht »Je mehr« einräumen: »Je mehr ich Brasilien suche Desto mehr entdecke ich Polen Und umgekehrt.«16
Der Autor selbst findet in seinen Erinnerungen dabei die Frage, ob er Pole, Brasilianer oder Angolaner sei, ganz und gar nicht schwierig und beantwortet sie ohne Zweifel und Zögern: »Schließlich ist doch offensichtlich, dass ich Pole, Brasilianer und Angolaner bin.«17 Und dabei ein Solcher, wie er später hinzufügt, der sich auch nach Deutschland sehnt, welches ein ebenso wichtiges Element seiner Identität darstellt. Demzufolge ist es nicht die Wahl, sondern die Synthese, nicht das Aufgeben und Trennen, sondern das Ansammeln und Verbinden. Die Quintessenz dieser Denkweise stellt, im Gedicht unter eben jenem Titel, die Definition des Emigranten dar: »Hybride im Innern/nach außen Ausländer.«18 Diese innere Hybridität wird dabei mit einem Pluszeichen versehen, als Synonym für Reichtum, Vielfalt, für die Zugehörigkeit zu vielen Orten und Kulturen. Dieser ungewöhnliche von außen betrachtete Reichtum kann dagegen nur mit dem verkrüppelten Begriff des Ausländers definiert werden.19
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Ebd., S. 58. Ebd., S. 45. Łychowski, Moja droga na ksie˛z˙yc. 2010, S. 127. Łychowski, Spojrzenia. 2016, S. 42. Emigrationsfragen in den Gedichten von Tomasz Łychowski analysiere ich ausführlich in folgendem Artikel: Wie˛cej, bardziej, pełniej. Emigracja według Tomasza Łychowskiego. In: Postscriptum Polonistyczne 2017, H. 2, S. 255–264.
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Łychowski benutzt den Begriff des Hybriden dabei so, wie er in Arbeiten von Forschern wie Stuart Hall20 (hybride Identität) oder Homi K. Bhabha21 (hybride Strategie) fungiert. Der Dichter stellt die Vision eines multilingualen Emigranten vor, der seine Texte sowohl auf Polnisch, Portugiesisch als auch auf Englisch verfasst. Man kann hierbei sicher auch einen Zusammenhang mit den Schriften Michail Bachtins und seinem Konzept des Hybriden herstellen. Ihm zufolge sind charakteristische Eigenschaften dieses Phänomens die Verdoppelung der Stimmen, Akzente und Sprachen, womit auch eine doppelte Sicht auf die Welt einhergeht. Darüber hinaus ist auch für Bachtin das Hybride bzw. der oder die Hybride eine positive Erscheinung, denn es eröffnet neue Möglichkeiten des Verstehens und des Ausdrucks, des sich Annäherns an die Wirklichkeit in Ausdruck und Wort.22 Auf berührende Weise schreibt auch Tomasz Róz˙ycki im Gedicht »Zwölf Stationen« über die komplizierte Identität im Kontext deutsch-polnischer Migration. In Anlehnung an Mickiewicz’ Epos »Pan Tadeusz« beginnt der Gegenwartsschriftsteller die Geschichte seiner Hauptperson mit dem Besuch des (Groß-)Elternhauses. In Analogie zu den literarischen Helden aus den Volksepen der polnischen Romantik kehrt der Enkel zurück an den Ort, an dem er aufgewachsen ist. Obwohl es sich in diesem Fall um ein Mietshaus in einem Viertel der Stadt Oppeln handelt – und nicht um einen Adelshof – stimmt alles andere überein: Der Ort ist freundlich, die Türen (sowohl die des Hausaufgangs als auch die zur Wohnung) sind einladend geöffnet (wie im Soplicowo-Hof bei »Pan Tadeusz«). Auch erwartet den Einkehrenden ein von Weiblichkeit geprägter Innenraum (auch wenn in diesem Fall die liebevolle und fürsorgliche Oma den Platz der verführerischen Zosia einnimmt). Den Enkel, der das Elternhaus und damit das Haus der Kindheit besucht, erwarten Erinnerungen vergangener Tage, hervorgerufen durch verschiedenste Erinnerungsstücke: einen alten Lehnstuhl, eine Schublade zum Aufbewahren kindlicher Schätze, einst mit Spannung durchgeschaute Buch- und Bildbände. Bei Letzteren nehmen vor allem der Atlas der Anatomie sowie ein Album mit Sportlerfotos einen besonderen Platz ein. Interessant ist nicht nur die Rührung, die der Enkel durch die wiederentdeckten Bücher empfindet, welche ihm den Aufbau des menschlichen Körpers nähergebracht hatten, sondern auch deren Herkunft. Róz˙ycki beschreibt dies so:
20 Hall, Stuart: Rassismus und Kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument-Verlag 1994. 21 Bhabha, Homi K.: Culture’s In-Between. In: Questions of Cultural Identity. Hrsg. von Stuart Hall/Paul du Gay. London/Thousaud Oaks/New Delhi: Sage Publications 2003, S. 58. 22 Bakhtin, Mikhail: Discourse in a novel. In: The Dialogic Imagination. Übers. von Caryl Emerson/Michael Holquist. Austin: University of Texas Press 1981, S. 360.
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»Aus eben jenem Buch, in der Wohnung gelassen von den Vorgängern Seinen Vormietern, der Familie Peters, Angehörigen der deutschen Nation, Des Deutschen Reichs in seiner tausendjährigen Version, ist es unser bescheidener Held, Der Wertschätzung für das Leben und seine Erscheinungsformen erlernte.«23
Diese kleine Bemerkung erscheint als Schlüsselmoment für das Verständnis der Gesamtsituation des Protagonisten, denn man kann erschließen, dass die Bücher, mit denen er aufwuchs, Eigentum jener Deutschen gewesen waren, die eben genau aus diesem Haus vertrieben wurden. Die eigene Familie des aus der Ukraine stammenden Enkels bezieht die Wohnung also nicht leer, sondern zusammen mit dem übrig gebliebenen Inventar der Vorbewohner. Diese Tatsache ist nur scheinbar ein Detail, nimmt sie doch Bezug auf die komplizierte Situation des Nachkriegs-Oppeln24 und eröffnet einen nachdrücklichen Einblick in die schwierige Lage der Hauptperson. Obwohl sie Erinnerungen an Kinderspiele und Kindheitserinnerungen hervorruft, ist seine Rückkehr ins Elternhaus im Grunde keine wirkliche Rückkehr zu den eigenen Wurzeln und den Anfängen seiner eigenen Familientradition. Die Gegenüberstellung mit der gleichartigen Eröffnungsszene des »Pan Tadeusz« verstärkt diesen Eindruck noch. Während aber Mickiewicz’ Protagonist bei der Rückkehr zum heimatlichen Soplicowo-Hof sofort im Zentrum des Polentums steht, seine stark mit der polnischen Tradition verbundene, angestammte Identität findet, stößt der Enkel in der Wohnung, die er mit seiner Kindheit assoziiert, auf Fragmente ausländischer Geschichte und fremder Erinnerungen. Diese sind zwar Teil seiner Identität, füllen diese aber nicht vollständig aus. In seinem Fall bedeutet die im Schlussteil des Werks initiierte Rückkehr zu den Wurzeln eine völlig andersartige Entdeckungsreise, die Auslöser für eine Reise durch Raum und Zeit ist. Sie ist einerseits eine traumartige Reise, aber andererseits auch eine Art fantastischer Initiationsreise, die, bei aller Rückwärtsgewandheit, die Elemente des nationalen, kulturellen und geografischen Puzzles zusammenzufügen vermag. Der Verweis auf das Nationalepos »Pan Tadeusz« ist im Falle der »Zwölf Stationen« nicht einfach nur ein parodistischer Eingriff, wie man aufgrund vieler Kommentare urteilen könnte.25 Vielmehr erlaubt sie Róz˙ycki, die Komplexität der menschlichen Situation in der modernen Welt herauszuschälen, geprägt 23 Róz˙ycki, Tomasz: Dwanas´cie stacji. Kraków: Znak 2005, S. 12. 24 Jankowiak, Stanisław: Wysiedlenie i emigracja ludnos´ci niemieckiej w polityce władz polskich 1945–1970. Warszawa: IPN – KS´ZPNP 2005, S. 153–155. 25 Vgl. S´wies´ciak, Alina: Ironiczna nostalgia. In: Dekada Literacka 2004, H. 5–6, S. 207–208; T. Bodusz, Tomasz: ›Dwanas´cie stacji‹ Róz˙yckiego wobec ›Pana Tadeusza‹ Mickiewicza: preteksty i stylizacje. In: Kwartalnik Opolski 2009, H. 4, S. 61–70; Skrendo, Andrzej: Ów Róz˙ycki. In: Odra 2004, H. 13, S. 73–74 (obwohl die Autorin in diesem Fall feststellt, dass die »Bosheit« des Dichters mehr auf den Empfänger als auf Mickiewicz’ Text abzielt).
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durch die turbulenten Entwicklungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Bei Mickiewicz liegt die Schwierigkeit in der politischen Situation des zerteilten und von der Landkarte verschwundenen Polens, im komplizierten Pakt feindlicher Mächte. Die nationale Identität ist dagegen einfach ausfindig zu machen, die Rückkehr nach Hause damit immer auch eine Rückkehr zu den Wurzeln. Mit der Anwendung dieses Prinzips gelangt Róz˙ycki in seiner Erzählung an einen Punkt, an dem diese althergebrachten Werkzeuge unzureichend sind, da sich mit ihnen die komplizierte Geschichte des Enkels und seiner Familie nicht erzählen lässt. In diesem Sinne wiederum kann man nicht sagen, dass die Migrationsidentität ist, sondern sie wird26. Die Identität ist auf dem Weg, in ständiger Bewegung, in Raum (die geplante Abreise in die Ukraine) und Zeit (Reise in die Vergangenheit). Die finale Zugreise wird damit zum literarischen Ausdruck der Migrationsidentität, sie vermischt Traum und Phantasie, vereinigt Lebende und Tote, versöhnt die Vergangenheit mit der Gegenwart, überwindet jedwede Grenzen und Unterschiede. Ein anderes aufschlussreiches Beispiel für das Ausbrechen aus dem Status des Emigranten und das Herausbilden einer eigenen Identität nach radikalem Ortswechsel ist Dorota Danielewicz’ »Auf der Suche nach der Seele Berlins«. In Form einer Literaturreportage stellt die Autorin ihre eigenen Erinnerungen an das Verlassen der Heimat in Richtung Westberlin im Jahre 1981 dar. Neben den für Emigranten – und natürlich auch Emigrantinnen – typischen Problemen (wie Fremdsein, Heimweh und Vermissen, Unfähigkeit sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden) kommt bei dieser Erfahrung eine weitere Verschärfung hinzu: In Berlin ist die Protagonistin gezwungen, in einer geschlossenen Umgebung zu leben, die durch eine Mauer in zwei Teile getrennt ist, von denen die damaligen Polen in der Regel den westlicheren nur als weißen Fleck auf der Landkarte kannten. Die Autorin schreibt: »In Geografieunterricht und Geschichtsunterricht oder in Bürgerkunde brachte man uns nichts über Westberlin bei. In den Atlanten waren die Konturen der Hauptstadt der DDR zu sehen. Der Rest der Stadt mit einer Fläche von 481 Quadratkilometern existierte nicht. Auf DDR-Karten waren die westlichen Sektoren Berlins ein weißer Fleck, durchzogen von blauen Flussschleifen.«27
Aus polnischer Perspektive ist die Berliner Mauer damit machtvoll genug, um auszuradieren, auszulöschen, ins Nicht-Existente zu überführen. Man kann sich leicht vorstellen, was das Ankommen in einer solchen, nicht-existenten Stadt für die junge Emigrantin bedeutet. Die Autorin fragt geradeheraus:
26 Hall, Cultural Identity and Diaspora. 1990, S. 225. 27 Danielewicz, Dorota: Auf der Suche nach der Seele Berlins. Übers. aus dem Polnischen von Arkadiusz Szczepan´ski. Europa Verlag Berlin 2014, S. 29.
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»Wie kann sich eine Stadt fühlen, derer größerer Teil mit Millionen von Menschen zu Nichtexistenz verurteilt wurde? Wie würde sich ein Mensch fühlen, wenn er sich nur zur Hälfte zeigen dürfte, während der andere Teil sein eigenes aktives Leben führen würde, voller Ideen und Ereignisse, von Weitem beobachtet, jedoch missverstanden, vom pulsierenden Leben draußen abgeschnitten? Was empfindet eine Stadt, in der zwei Millionen Menschen jeden Morgen aufstehen, um ihrer Arbeit nachzugehen, gegen ihre Arbeitslosigkeit anzukämpfen, sich der Bildung oder dem Faulenzender Liebe oder alltäglichen Dingen zuzuwenden, und ein Teil der Welt davon nichts wissen will?«28
Nicht nur die Emigrantin aus Polen hat ein Problem damit, ihre eigene, durch erzwungene Ortswechsel untergrabene und geradezu gebrochene, Identität aufzubauen. Auch Berlin wird in diesem Verständnis eine Stadt, deren Existenz sozusagen nur teilweise vorhanden und damit gewissermaßen blass und inhaltsleer ist. Sie bedarf einer Komplementierung und Ausarbeitung der leeren Flächen, hin zu einer vollen, komplexen Identität. Das im zitierten Abschnitt auftauchende Bild eines Menschen, mit blassem, nur partiellem, weil zum Teil ausgeblendetem Leben ist damit Metapher für die Situation der Stadt. Sie beinhaltet jedoch in ihrer Doppeldeutigkeit durchaus auch die Beschreibung der Lage der Emigrantin, die das Leben bis zu einem gewissen Punkt als partiell ansieht – »Intensiv, voller Ideen und Ereignisse«, aber häufig nicht greifbar oder unverständlich für die Anderen, die sie umgeben. Dorota Danielewicz’ Buch hält eine ungewöhnliche Vorgehensweise fest, die dazu dient, die Fremdheit zu durchbrechen, zum Aufbau einer eigenen Identität sowie zur Identität jener Stadt, die durch die Geschichte derart schmerzhaft gezeichnet wurde, beizutragen. Mit dieser (im wahrsten Sinne des Wortes) Vorgehensweise wird das Buch zu einer besonderen Version der flânerie. Der Spaziergang durch die Stadt hinterlässt eigene Pfade, die in keinem Städtebauprojekt verzeichnet wären,29 er ist Ursprung einer eigenen übereinandergelegten, stereoskopischen Wahrnehmung, die »bewirkt, dass damals und jetzt gleichzeitig existieren können.«30 Das alles führt nicht nur zum im Titel beschriebenen Erreichen der Stadtseele, sondern – als Ziel eines jeden Flâneurs – auch zum Kennenlernen ihrer Selbst. Ähnlich den Schnappschüssen einer Fotocollage komponiert Dorota Danielewicz ein Album mit Teilstücken städtischer Daseinsformen. Es gibt Aufschluss über die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität der Stadt und setzt sich sowohl aus direkt wahrgenommenen Bildern als auch aus Versatzstücken von
28 Ebd., S. 29–30. 29 Brzozowska, Blanka: Spadkobiercy flâneura. Spacer jako twórczos´c´ kulturowa – współczesne prezentacje. Łódz´: Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego 2009, S. 208. 30 Szerszen´, Tomasz: Miasta Waltera Benjamina. In: Konteksty. Polska Sztuka Ludowa 2008, H. 3–4, S. 42.
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Poesie und Filmschnippseln zusammen.31 Gleichzeitig erfüllt die Autorin die notwendige Bedingung, um zur Flâneurin zu werden, nämlich die Notwendigkeit, die eigene Stadt mit den Augen des fremden Neuankömmlings zu betrachten. Diese Doppel-Perspektive auf die alltägliche Umgebung ist für die Autorin aufgrund ihrer Migrationsgeschichte ohnehin ein unumgängliches Charakteristikum. Gemäß den Prinzipien der flânerie durchmisst sie den Raum nicht nur in der Horizontalen, sondern auch in der Vertikalen. Durch die Reise zurück in den Tiefen der Zeit32 fördert sie unter dem Hier und Jetzt gegenwärtige Spuren der Vergangenheit hervor, wodurch Erinnerungen wach werden, die im individuellen und kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. Bei den kollektiven Erinnerungen handelt es sich dabei zumeist um Bruchstücke der Erinnerung an die tragische, vom Kriegstrauma gezeichnete Stadtgeschichte. Exemplarisch steht die Beschreibung der sogenannten Stolpersteine im Zentrum Berlins: »[…] sie trugen die Namen der ehemaligen Bewohner der Häuser, vor denen die steine liegen. Neben den Namen stehen das Geburtsdatum und das Datum der Deportation in das Konzentrationslager […].«33
Die Stolpersteine eröffnen in diesem Fall einen Übergang in die Vergangenheit, rufen nicht nur die traumatischen Erlebnisse Berliner Juden in Erinnerung, sondern auch ihre Witze oder Liebesgeschichten, die im Buch Erwähnung finden. Durch die konsequente Strategie der Autorin gewinnt die Stadt, als weißer Fleck auf der Karte, konkrete, eine mit Inhalt gefüllte Form. Indem sie die Karte mit eigenen Erlebnissen, Interpretationen, Reflexen, kurzum: mit Erinnerungen ausfüllt, findet die Migrantin aus Polen in dieser Umgebung sich selbst wieder. Der Umstand, dass einige dieser Erinnerungen gemeinsames Eigentum aller Berliner sind, verbindet sie noch mehr mit diesem Ort, der von einem ständigen Lebensmittelpunkt zur Wahlheimat evolviert. Die Beschreibungen der migrantischen Praxis der flânerie werden zur Antwort der Autorin auf die Migrationskrise. In einem der letzten Kapitel beschreibt die Autorin das Holocaust-Denkmal und die Reaktion ihres – in Deutschland geborenen und aufgewachsenen – siebenjährigen Sohnes. Nachdem dieser die Erklärungen seiner Mutter zu all dem angehört hat, wofür das Denkmal im 31 Eine besonders prominente Rolle spielt hierbei nicht zufällig Wim Wenders Film »Der Himmel über Berlin«, dessen Protagonisten, die beiden Engel Damiel und Cassiel, zuweilen als Himmelsflâneure bezeichnet werden. Den ganzen Film hindurch spielt der Stadtraum eine Schlüsselrolle, die aus Berlin einen »Ort historischer Wahrheit« macht, der ebenso »Fragen zur Menschheitsgeschichte, zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellt«. SaryuszWolska, Magdalena: Berlin: filmowy obraz miasta. Kraków: Rabid 2007, S. 110. 32 Dieses Vorgehen wurde von Walter Benjamin charakterisiert. Vgl. Benjamin, Walter: Pasaz˙e. Übers. von Ireneusz Kania. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2005, S. 461. 33 Danielewicz: Auf der Suche nach der Seele Berlins. 2014, S. 113.
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Grunde steht, seufzt er ergriffen: Ach, »Wie schwer es doch ist, ein Deutscher zu sein.«34 Diese Reaktion ist insofern überraschend, da sie – wie die Autorin bemerkt – von einem Kind stammt, dessen Vorfahren in Konzentrationslagern umgekommen waren. Dennoch löst es eine tiefergehende Reflexion nicht nur hinsichtlich der Verantwortung für das Böse aus, sondern auch bezüglich des Empfindens migrantischer Vertrautheit und Fremdheit. Bei der Bewertung der Situation von Neuankömmlingen im modernen Deutschland konstatiert die Autorin mit Bedauern, dass es immer noch jene »Es gibt immer unsichtbare Käfige, in denen wir oder die andern leben, und wer weiß schon genau, wer hier wen beobachtet, wer wem etwas schuldet.«35 Welcher Ausweg bietet sich aus dieser Situation? Im Buch wird eine Behauptung aufgestellt, die im Grunde genommen sehr demjenigen Emigrationsverständnis entspricht, das sich schon aus der Charakteristik der Gedichte von Tomasz Łychowskis Poesie ableiten lässt: Das Entledigen von Vorstellungen, die auf einer Trennung und Segregation von Werten abzielen, zugunsten eines Ansammelns des Guten, das Sich-zu-Eigen-Machen jener Aspekte, die Andere beisteuern. Die flânerie ist, laut Dorota Danielewicz, eine Möglichkeit zur Erreichung eben dieses als Symbol moderner Identitätskonstruktion verstandenen Ziels. Die Bedeutung der Anwendung dieses literarischen Mittels wird dabei nur an einem Ort wie Berlin vollkommen erkennbar. Es handelt sich um einen Ort, dessen Identität über Jahre hinweg durch die scharfe Trennlinie der Mauer geprägt war, welche die zwei Teile der Stadt – und im Grunde zwei Welten – unüberwindbar voneinander trennte, im politischen, mentalen sowie kulturellen Sinne. Anstelle der Trennung, so postuliert Dorota Danielewicz über ihr gesamtes Buch hinweg, sollte ein durch die moderne Version der flânerie geschaffener Pfad treten, eine Vielzahl verschlungener Passagen, ein Labyrinth, dass sämtliche städtische Planungen durchstreift, mit Wegen, die jede Grenze überwinden und sich jedweder Trennung entziehen. In diesem Sinne interpretiert die Autorin auch das Berliner Holocaustdenkmal in seiner Form als Labyrinth: »Wahrscheinlich ist dieses Denkmal inmitten der Stadt deshalb als Labyrinth gestaltet worden, um sich darin zu verlieren und seine Maske abzulegen, um zu vergessen, woher man stammt und weshalb man hierhergekommen ist.«36
Der Mehrwert der »Labyrintherfahrung«37 bestehe hierbei also in der Notwendigkeit, zunächst sich selbst zu verlieren, um danach mehr wiederzufinden; nicht
34 35 36 37
Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Ebd., S. 146. Wie P. Santarcangeli herausstellt, ist diese Wandlung und Metamorphose eine Eigenart der Wanderung durchs Labyrinth – bis hin zur Neugeburt eines veränderten Menschen. Vgl.
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nur seinen Weg zu verfolgen und vor fremden Pfaden zurückzuschrecken, sondern auch in der Fähigkeit, sich für das Verstehen über Begrenzungen und Schemata hinwegzusetzen und anzufangen, erfüllt, intensiver und echter zu leben, ein neues und anderes Selbst zu werden. Das ermöglicht (natürlich ohne Garantie) die Emigration. Alle hier beschriebenen Fälle sind Beispiel für unfreiwillige Migration, die normalerweise, wie wissenschaftliche Forschungen belegen, am schwersten fällt, denn ein Ortwechsel wird immer auch von Kraftlosigkeit, Angst und einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit begleitet.38 Trotzdem sind die hier beschriebenen, intuitiven Anpassungsstrategien – mit ihrer hybriden Bereitschaft zur Neuaushandlung, Erneuerung und Umstrukturierung der Identität – positive Beispiele dafür, wie Migration zu einer bereichernden Erfahrung werden kann. Die literarischen Bilder bringen dem Leser verschiedene Prozesse, wie die Gewöhnung an die Fremdheit, das sich Öffnen für Andersartigkeit, aber auch das Einbinden von Elementen aus dem Gastland in das persönliche Konstrukt einer kulturellen Identität näher. Sie erlauben den Blick auf Zusammenhänge zwischen dem Phänomen Migration und einer Bandbreite anderer, zentraler und gegenwartsbezogener Herausforderungen, wie etwa dem Multikulturalismus, der Globalisierung oder der Konzeption von Kultur – und damit auch von Identität – als Bricolage, als dynamische Zusammenstellung.39 Auch diese Elemente verdeutlichen, dass Emigration einen besonderen Fall von – im Wesentlichen – menschlichen Erfahrungen darstellt und damit auch durch von jenen durchlebt wird, die niemals die Notwendigkeit oder Chance zu einem langfristigen Ortswechsel hatten. Die in diesem Essay vorgestellten literarischen Texte geben daher nicht nur (und vielleicht nicht einmal vor allem) Antworten auf die Migrations- und Flüchtlingskrise, sondern auch auf die Identitäts- bzw. Kulturkrise.40 Übersetzung aus dem Polnischen von Pascal Bittner
Santarcangeli, Paolo: Ksie˛ga labiryntu. Übers. von Aleksander Krawczuk. Warszawa: Wiedza Powszechna 1982, S. 179–180. 38 Smyser, William R.: Refuges: Extended Exile. New York/Washington: Preager 1987, p. XIV. 39 Kimmelman, Michael: D.I.Y. Culture, 2010. (Zugang am 27. 07. 2019). 40 Bidney, David: The Concept of Cultural Crisis. In: American Anthropologist 48, 1946, H. 4, Teil 1, S. 534–552.
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Primärliteratur Danielewicz, Dorota: Auf der Suche nach der Seele Berlins. Übers. aus dem Polnischen von Arkadiusz Szczepánski. Europa Verlag Berlin 2014. Łychowski, Tomasz: Moja droga na ksie˛z˙yc. Warszawa: Instytut Studiów Iberyjskich i Iberoamerykan´skich UW 2010. Łychowski, Tomasz: Spojrzenia. Wiersze wybrane. Rio de Janeiro: Letra Capital 2016. Róz˙ycki, Tomasz: Dwanas´cie stacji. Kraków: Znak 2005.
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Markus Eberharter (Warszawa)
Julius Mosens Gedicht »Die letzten Zehn vom vierten Regiment«. Zur Rezeption eines Polenliedes im interkulturellen Kontext
Abstract: Das Gedicht »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« zählt zu einem der bekanntesten sog. Polenlieder deutscher Autoren nach dem Novemberaufstand von 1830–1831 und wurde insgesamt dreimal ins Polnische übersetzt. Im vorliegenden Artikel wird zuerst die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Gedichtes beschrieben, insbesondere, wie Mosen die reale historische Vorlage poetisch verarbeitete, um anschließend die drei Übersetzungen näher zu untersuchen. Deren Analyse hat gezeigt, dass sich dabei vor allem jene von Jan Nepomucen Kamin´ski einen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung sichern konnte, da der Übersetzer es in ähnlicher Weise wie Mosen verstand, auf die Erwartungshaltungen seines potenziellen Lesepublikums einzugehen. Die durchaus anspruchsvollen Übersetzungen von Kazimierz Brodzin´ski und Robert Stiller bleiben dadurch bis heute eher unbekannt bzw. vergessen.
Der vorliegende Artikel ist der deutschen und polnischen Rezeption von Julius Mosens Gedicht »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« gewidmet, wobei das Augenmerk im Besonderen auf dessen politische Aussage in diesem interkulturellen Kontext gelegt wird. Mosens Werk gehört nämlich zu den sog. Polenliedern1, wobei mit diesem Begriff jene Gedichte deutschsprachiger Autoren bezeichnet werden, die als Reaktion auf den polnischen Novemberaufstand in den Jahren 1830–1831 entstanden sind. Thematisiert wurden darin zahlreiche, mit dem Aufstand verbundene Aspekte, wie die Schlachten bei Grochów und Ostrołe˛ka, die heldenhafte Kampfbereitschaft der Soldaten, das traurige Schicksal nach der Niederschlagung des Aufstandes und der Gang ins Exil usw. Zugrunde lag den Polenliedern die große Begeisterung vieler deutscher Autoren, die sie dem polnischen Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung entgegenbrachten, womit sie indirekt die eigene politische Situation in den Ländern des Deutschen Bundes und der nach dem Wiener Kongress etablierten Restauration 1 Die obigen Bemerkungen zur näheren Bestimmung der Polenlieder stützen sich auf die Einleitung von Gerard Koziełek zu der von ihm herausgegebenen Sammlung: Polenlieder. Eine Anthologie. Leipzig: Reclam 1982, S. 14–20.
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Markus Eberharter
reflektierten, die gekennzeichnet war vom wieder erstarkten Absolutismus und einem Polizeistaat Metternichscher Prägung. Wenn daher in den Gedichten von den Ereignissen des Novemberaufstandes die Rede ist, geht es zugleich um das demokratische Mitbestimmungsrecht breiter Volksschichten, um den Wunsch nach modernen Verfassungen oder um das Zurückdrängen der russischen Hegemonie in Mitteleuropa, also generell um den Kampf für bürgerliche und politische Freiheiten. »Polen, Polen, Freiheitsbrüder!/ Polen, Polen, Freiheitsland! […] Mutig, Polen, kämpfet fort!/ Freiheit diesseits, oder dort!«, schreibt in diesem Sinne Hermann Bienenfeld in seinem Gedicht »An die Freiheitskämpfer«.2 Ganz ähnliche Voraussetzungen lagen Mosens »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« zugrunde, das darüber hinaus kurz nach seinem Entstehen zu einem der bekanntesten Polenlieder wurde. Interessant ist das Gedicht aber auch deshalb, da es bald ins Polnische übersetzt wurde und eine ebenso große oder vielleicht sogar noch größere Popularität erlangte. Dies führte dazu, dass es bald eher als polnisches Gedicht bzw. Lied betrachtet wurde und seine fremdkulturelle Herkunft in Vergessenheit geriet. Davon ausgehend, wird in diesem Artikel der Versuch unternommen, die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte von Mosens Gedicht in Deutschland und anschließend – dank insgesamt dreier Übersetzungen – in Polen nachzuzeichnen und zu beschreiben, wie sich dessen Wahrnehmung und Lesart dabei veränderte.3
1.
Julius Mosen »Die letzten Zehn vom vierten Regiment«
Das Thema von Mosens Gedicht4 ist die Geschichte des 4. Regiments der Linieninfanterie der polnischen Armee in den Monaten des Novemberaufstands, also zwischen November 1830 und Oktober 1831. Diese Einheit, die zwischen 1815 und 1831 bestand, hatte sich insbesondere in der Schlacht bei Grochów am 25. 2. 1830 hervorgetan, als es den polnischen Aufständischen gelungen war, den An2 Zit. n. Will, Arno: Motywy polskie w krótkich formach literackich niemieckiego obszaru je˛zykowego 1794–1914. Łódz´/Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1976, S. 21. Vgl. generell den Abschnitt III. von Wills Arbeit (»Pod urokiem powstania listopadowego«, ebd. S. 19–55) für eine nähere Charakterisierung der deutschen Polenlieder. 3 Es sei angemerkt, dass sich aus heutiger Sicht eine zusätzliche politische Aussage der Polenlieder daraus ergibt, dass sie ein zweifelsfrei positiv besetzter Forschungsgegenstand für vergleichende Untersuchungen zur deutsch-polnischen Geschichte sind. In diesem Sinne wurden sie besonders von der polnischen Germanistik nach 1945 immer wieder aufgegriffen – s. dazu als Beispiel die Bibliographie bei: Koziełek, Polenlieder. 1982, S. 173–177. 4 Aus Platzgründen muss auf eine biographische Charakterisierung Mosens verzichtet werden, es sei daher auf den informativen Aufsatz von Bettina Kern: Julius Mosen, der politische Dichter. In: Humaniora. Medizin-Recht-Geschichte. Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Bernd-Rüdiger Kern u. a. Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2006, S. 493–508, verwiesen.
Julius Mosens Gedicht »Die letzten Zehn vom vierten Regiment«
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griff der russischen Truppen abzuwehren und gezielte Gegenattacken zu starten.5 Mosens Gedicht setzt etwa zwei Monate früher, im Dezember 1830, ein und um die außergewöhnliche Tapferkeit des Regiments zu unterstreichen, greift der Autor auf ein charakteristisches Motiv zurück, nämlich den legendären Schwur der Soldaten, ohne Feuerwaffen kämpfen zu wollen. In der Literatur zum vierten Regiment, sowohl in historischen Texten als auch in Erinnerungen, gibt es tatsächlich Hinweise darauf, dass dessen Soldaten bewusst auf Feuerwaffen verzichtet haben, um den Nahkampf Mann gegen Mann zu suchen: So informiert ein kurzer Bericht in der Zeitung »Kuryer Polski« vom 24. Dezember 1830 darüber, dass die Soldaten dieses Regiments auf den Knien geschworen haben sollen, vor der ersten Schlacht (im damals zu erwartenden Krieg mit Russland) das Schießpulver aus ihren Karabinern zu schütten und nur mit Bajonetten angreifen zu wollen.6 Auch Andrzej Szoman´ski zitiert in seiner Monographie über die Geschichte des vierten Regiments ein Gespräch vom 12. Februar 1831 zwischen dem Oberst Ludwik Bogusławski und den Soldaten, in dem sich der Befehlshaber so geäußert haben soll: »Co, chcecie koniecznie is´c´ na bagnety? Czys´cie poszaleli? No dobrze, zobaczymy jak to be˛dzie […]«.7 Mosen macht aus diesem Schwur ein zentrales Motiv seines Gedichtes: »Kein Schuß im heil’gen Kampfe sei getan« (Zl. 2),8 ist gleich in der zweiten Zeile zu lesen, was noch einmal in der zweiten (Zl. 8) und vierten Strophe (Zl. 22), anlässlich der Schlachten bei Grochów und Ostrołe˛ka, aufgegriffen wird. Dass der Schwur des Regiments, nicht zu schießen, so wie es das Gedicht andeutet, aber für den gesamten Aufstand gegolten haben soll, scheint nicht zuletzt im Hinblick auf die militärischen Realien des 19. Jahrhunderts übertrieben und unrealistisch. Dies bestätigen die Erinnerungen des Unterleutnants Kajetan Władysław Rzepecki, der als Soldat des vierten Regiments im Novemberaufstand kämpfte: Rzepecki erwähnt zwar ebenfalls das vorhin zitierte Gespräch der Soldaten mit Bogusławski und berichtet davon, dass 5 Vgl. Łepkowski, Tadeusz: Powstanie listopadowe. Warszawa: Krajowa Agencja Wydawnicza 1987, S. 23. (Dzieje narodu i pan´stwa polskiego; III, 45). 6 Wiadomos´ci krajowe. In: Kuryer Polski 1830, Nr. 371, S. 1897. 7 Szoman´ski, Andrzej: Walecznych tysia˛c… Z dziejów 4 pułku piechoty liniowej Wojska Polskiego 1815–1831. Warszawa: Wydawnictwo Ministerstwa Obrony Narodowej 1968, S. 110. Auf Deutsch lautet das Zitat: »Was, ihr wollt unbedingt mit Bajonetten kämpfen? Seid ihr verrückt? Na gut, schaun wir mal, wie es wird […]. Bemerkenswert ist, dass Szoman´ski als Titel seines Buches den Beginn von Mosens Gedicht in der polnischen Übersetzung von Kamin´ski gewählt hat. 8 Falls nicht anders angegeben, wird »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« nach der am leichtesten zugänglichen und sorgfältig editierten Ausgabe der Polenlieder von Gerard Koziełek aus dem Jahre 1982 zitiert, der sich beim Abdruck wiederum auf eine der ersten Polenlieder-Anthologien unter dem Titel »Harfenklänge« (Darmstadt: Leske 1832) stützt (vgl. Koziełek, Polenlieder. 1982, S. 188). Im Text wird dabei in einfachen Klammern auf den jeweiligen Vers verwiesen. Vgl. zur Textgestalt von Mosens Gedicht auch die Ausführungen zu dessen frühesten Drucken im weiteren Verlauf dieses Artikels.
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das Regiment in einem Scharmützel bei der Stadt Dobre am 17. Februar 1831 ein russisches Bataillon besiegt habe ohne einen Schuss abzugeben, spricht aber z. B. im Rahmen der Schlacht bei Grochów explizit davon, dass geschossen wurde, wenn er schreibt: »Przewitalis´my wroga nasamprzód strasznym ogniem batalionowym, a gdy cia˛gle bardzo hardo nawracał i wreszcie dotarł do krawe˛dzi lasu, wzie˛lis´my go na bagnety i w kilku minutach oczys´cilis´my pole!«.9
Auch im Falle einer anderen historischen Tatsache nutzt Mosen seine poetischen Freiheiten bei der literarischen Darstellung der Geschichte des vierten Regiments. Der Titel seines Gedichts »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« legt nämlich nahe, dass von den »Tausenden« (Zl. 1), die im Dezember 1830 geschworen hatten, nur mehr eine Handvoll Soldaten übrigblieb. In der Tat waren es aber wohl zwischen 1800 und 2000 ehemalige Soldaten des vierten Regiments, die am 5. Oktober 1831 die preußische Grenze bei Brodnica überschritten, um der Bestrafung durch Zar Nikolaus I. zu entgehen.10 Es geht Mosen in seinem Gedicht daher weniger um exakte historische Detailtreue,11 als vielmehr darum, mit eindrucksvollen Bildern und Metaphern eine ganz eigene Aussage zu erzielen. Ein gewisser Realitätssinn, schreibt Koziełek, spiele nämlich, was die Wirkung vieler Polenlieder betrifft, nur eine untergeordnete Rolle, wichtig sei es vor allem, dass diese Gedichte die Allgemeinheit ansprachen und Emotionen hervorriefen.12 In »Die letzten Zehn vom vierten 9 S. Rzepecki, Karol: Pułk Czwarty 1830–1831. Szkic historyczny. Według relacyji ustnej i pamie˛tnikarskich notatek Kajetana Władysława Rzepeckiego. Poznan´: Wielkopolska ksie˛garnia nakładowa Karola Rzepeckiego 1917, S. 51, 54–56 und 66. Auf Deutsch: »Wir begrüßten den Feind gleich am Anfang mit einem fürchterlichen Feuer des Bataillons, aber als er immer wieder sehr überheblich zurückkehrte und schließlich bis an den Waldesrand gelangte, nahmen wir ihn auf unsere Bajonette und säuberten das Feld in einigen Minuten«. 10 Vgl. ebd., S. 154. Es ist nicht uninteressant, dass Rzepecki an dieser Stelle die von ihm genannte Zahl in Bezug zu Mosens Gedicht setzt und auf den »poetischen Eifer« (»zapał poetycki«) des Autors hinweist, den er »Vogtländer« nennt, wahrscheinlich nach Mosens Geburtsort, dem vogtländischen Marieney. Vgl. außerdem: Szoman´ski, Walecznych tysia˛c. 1968, S. 7–8. 11 Wenngleich sich im Gedicht noch weitere Bezugspunkte zu realen Gegebenheiten finden, wie z. B. zur Schlacht bei Ostrołe˛ka vom 26. Mai 1831. Diese ging für die Polen verloren und wurde so zum Wendepunkt des Aufstandes, der dessen Scheitern einleitete. 12 Vgl. Koziełek, Polenlieder. 1982, S. 41. Aus diesem Grund scheint die Interpretation von Hans-Georg Werner am eigentlichen Punkt vorbeizugehen, wenn er über »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« schreibt: »Der äußerliche Schmuck dieser Ballade dient zur Verherrlichung eines leeren Heldentums. Politischer Orientierungspunkt ist das ›heil’ge Vaterland‹, dessen Qualitäten in keiner Hinsicht näher bestimmt sind und das nur durch seine Eigenschaft, Vaterland zu sein, sich selber heiligt. Vaterland erscheint als ein Wert, der vor allem Rationalen gegeben ist und dem deshalb auch nicht durch vernünftiges, zweckentsprechendes Tun am besten gedient werden kann, sondern durch eine sinnlose, geradezu zweckwidrige Opfergeste: Die Soldaten schwören, nur mit dem Bajonett gegen den Feind zu
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Regiment« bezieht sich dies einerseits auf die außergewöhnliche Tapferkeit der Soldaten in ihrem Kampf um Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung, was an mehreren Stellen des Gedichts dadurch zum Ausdruck gebracht wird, ohne Feuerwaffen und nur mit Bajonetten kämpfen zu wollen (Zl. 2, 4, 8, 10, 16, 20 und 22). Andererseits wird in mehreren Bildern die tiefe Tragik des Schicksals dieser Soldaten, das mit dem von ganz Polen verknüpft wird (Zl. 5 und 6), verdeutlicht (Zl. 21): Nur mehr zehn von ihnen sollen übriggeblieben sein (Zl. 38), die darüber hinaus ihr Vaterland verloren haben (Zl. 23 und 25) bzw. es verlassen mussten (Zl. 41). Durch diese starke Metaphorisierung oder – wie Koziełek es nennt – »hyperbolische Idealisierung«13 historischer Tatsachen, bedient Mosen nicht zuletzt die Erwartungen der deutschen Rezipienten, die gerade dieses übersteigerte Heldentum und die schicksalshafte Tragik in den Polenliedern suchten, ohne dabei in jeder Hinsicht eben historische Detailtreue zu verlangen. Dementsprechend verarbeitet er einerseits, um noch einmal mit Koziełek zu sprechen, zahlreiche Motive, die für die deutschen Polenlieder charakteristisch sind, wie etwa die Erhebung im November, das Heldentum der Soldaten und ihrer Generäle, Niederlage und Kapitulation, das Schicksal der Flüchtlinge und den tragischen Zustand Polens, aber auch die Hoffnung auf letztendliche Gerechtigkeit, wie er andererseits darauf abzielt, durch »Schlagworte, die damals zündeten«, die Einbildungskraft auch für Poesie unempfindlicher Menschen zu reizen, etwa durch einen »sentimentalen Anstrich, so wie ihn der deutsche Durchschnittsbürger des 19. Jahrhunderts liebte«, was in der am Ende des Gedichtes ausgedrückten Gottergebenheit sichtbar wird: »Dargeboten in starker Bildhaftigkeit, einfacher Erzählweise, bei verständlichem Vokabular, unter Anwendung von Kreuzreim und jambischem Rhythmus, verleihen sie [die im vorigen Satz erwähnten stilistischen Verfahren] dem Gedicht volksliedartigen Charakter, was mit zu seiner Vertonung beitrug«.14
Mosen soll »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« am 5. Januar 1832, also drei Monate nach dem zuvor erwähnten Übertritt der preußischen Grenze geschrieben haben.15 Es wurde unmittelbar darauf gedruckt, bereits am 11. Januar erschien nämlich im »Leipziger Tageblatt« eine Werbung des Verlegers Anton kämpfen. Der Leerheit der Vaterlandsvorstellung entspricht die peinliche Blut-Metaphorik, die das Gedicht seinem Leser zumutet; der irrationalen Heiligung des Vaterlandes korrespondiert der gezeigte heroische Fanatismus«. Werner, Hans-Georg: Der polnische Aufstand von 1830/31 und die deutsche politische Lyrik. In: Zeitschrift für Slawistik XX, 1975, H. 1 (Mickiewicz-Beiträge), S. 118. 13 Vgl. Koziełek, Polenlieder. 1982, S. 40. 14 Vgl. ebd., S. 14 sowie 40–41 (Zitat auf S. 41). Von der Vertonung von Mosens Lied wird im weiteren Verlauf dieses Textes noch die Rede sein. 15 Dieses Datum nennt Hoffmann von Fallersleben: Unsere volkstümlichen Lieder. 4. Auflage. Hrsg. von Karl Hermann Prahl. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann 1900, S. 157.
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Philipp Reclam, der es im Hinblick auf die Zensur bei seinem Kommissionär Friedrich Korn in Fürth drucken ließ.16 Wie es in dieser Werbung heißt, wurde kein fester Preis festgesetzt, der Erlös sollte aber vollauf den zur Emigration gezwungenen Polen zugutekommen.17 Das Gedicht erlangte sofort eine unglaubliche Bekanntheit, wovon Max Zschommler, der Herausgeber der Werke Mosens, in einer biographischen Darstellung des Autors schreibt: »Der Erfolg war ungeheuer, denn die erste Auflage wurde in einem Tage, die zweite, zweitausend Exemplare umfassend, in drei Tagen verkauft, und so ging es weiter. Ein Zeitgenosse erzählt, daß in Leipzig, wo man ging und stand auf allen Wegen und Ecken das Lied gelesen wurde und daß ein polnischer Oberst sagte, daß das Gedicht für die Sache der Aufständischen mehr wert gewesen sei als ein ganzes Regiment«.18
Auch für den Verleger Reclam war der Druck von »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« ein großer Erfolg, bis Ende Februar 1832 nahm er dafür die stattliche Summe von 106 Talern ein, die er dem Leipziger Verein zur Unterstützung der Polen übergab.19 Am 15. Januar 1832 war Mosens Gedicht außerdem Teil des Programms eines Wohltätigkeitskonzertes und sollte öffentlich vorgetragen werden, was in der entsprechenden Literatur allerdings etwas widersprüchlich dargestellt wird: So soll der damalige Leipziger Bürgermeister Christian Adolf Deutrich »einige Stellen bedenklich« gefunden und deshalb befürchtet haben, sie könnten einen »stürmischen Ausbruch des Beifalls« herbeiführen, was man lieber vermeiden wollte. Doch während Gerhard Schmidt davon ausgeht, dass die Rezitation von Mosens Gedicht somit nicht gestattet wurde,20 schreibt Eva Hermann, dass Deutrich (zusammen mit dem königlichen Kommissar) und nach zweimaliger Verschiebung des Abends auf den 23. Januar dem Vortrag letztendlich doch zugestimmt hätte.21 »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« wurde in den darauffolgenden Monaten und Jahren mehrfach nachgedruckt, sowohl als eigenständige Gelegenheitsdrucke als auch in Zeitschriften oder im Rahmen von Anthologien.22 16 Vgl. Hermann, Eva: Anton Philipp Reclams Wirken im Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit. In: Beiträge zur Geschichte des Buchwesens VI, 1973, S. 57. 17 Zur Unterstützung heimathloser Polen. In: Leipziger Tageblatt 1832, Nr. 11, S. 100–101. 18 Mosen, Julius: Ausgewählte Werke. Hrsg. und mit einer Lebensgeschichte des Dichters vers. von Max Zschommler. Leipzig: Strauch 1899, S. 16 (zit. n. Werner, Polnischer Aufstand und deutsche Lyrik. 1975, S. 117). 19 Hermann, Anton Philipp Reclams Wirken. 1973, S. 58. 20 Schmidt, Gerhard: Sachsen und die polnischen Emigranten 1831–1864. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 22, 1978, H. 2, S. 48–49. 21 Hermann, Anton Philipp Reclams Wirken. 1973, S. 57. 22 Eine eigene Aufgabe, die allerdings den Rahmen dieses Artikels überschreiten würde, wäre es, eine detaillierte Bibliographie der Abdrucke von Mosens Gedicht zu erarbeiten. Angedeutet sei lediglich, dass sich in den Katalogen vieler deutscher und österreichischer Bibliotheken
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Eine der ersten Veröffentlichungen war der Abdruck in der März-Nummer der Zeitschrift »Der erzgebirgische Volksfreund«, zusammen mit einer einseitigen Einleitung unter dem Titel »Das vierte Regiment in dem polnischen Freiheitskampfe«, die einige Informationen über den historischen Hintergrund und das Regiment selbst liefert. Beide Texte sind nicht namentlich gekennzeichnet, in der Einleitung findet sich lediglich der Hinweis darauf, dass Mosen der Autor des nachfolgend abgedruckten Gedichtes ist. Ob auch die Einleitung von ihm stammt, muss zwar offenbleiben, scheint allerdings nicht ganz ausgeschlossen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass darin gezielt jene Aspekte aus der Geschichte des Regiments aufgegriffen werden, die Mosen anschließend im Gedicht an zentraler Stelle verarbeitet, wie etwa die besondere Tapferkeit des vierten Regiments, die es in der Schlacht bei Grochów zeigte, als es »das weltkundig gewordene Erlengehölz gegen sechsmal erneuerte Angriffskolonnen der Russen sieghaft behauptete. […] auf Einen [so im Original – M. E.] Polen kamen immer zehn Russen.«23 Explizit ist außerdem vom Schwur die Rede, ebenso wie davon, dass letztendlich nur mehr zehn Mann übrig blieben.24 Ganz am Ende der Einleitung wird schließlich der Bezug zum Gedicht hergestellt und betont, dass dieses auf reale Gegebenheiten zurückgreife: »Die Thaten und das Schicksal dieses Regiments«, heißt es, »werden in nachstehenden Versen (von Julius Mosen) eben so schön als wahr besungen.«25 Bemerkenswert ist außerdem – um noch ein weiteres Beispiel zu nennen – die in Darmstadt veröffentlichte Sammlung von 31 Polenliedern mit dem Titel »Harfenklänge«, deren Erlös – so wie jener aus dem Verkauf der Erstveröffentlichungen von Mosens Gedicht in Leipzig – »der Unterstützung heimathloser Polen« zugutekam.26 Ihr genaues Erscheinungsdatum ist unklar, da sie aber Ende April 1832 bereits rezensiert wurde, ist anzunehmen, dass sie ebenfalls im Frühjahr dieses Jahres herauskam.27
23
24 25 26 27
entsprechende Belege bereits für das Jahr 1832 finden lassen, zum Teil auch schon mit angefügten Noten. Vgl. dazu die Anmerkungen von: Steinitz, Wolfgang: »Polenlieder« ws´ród niemieckich pies´ni ludowych. In: Pamie˛tnik Literacki: czasopismo kwartalne pos´wie˛cone historii i krytyce literatury polskiej 52, 1961, Nr. 4, S. 600–604, der einige interessante Hinweise zu den frühen Textvarianten von Mosens Gedicht im 19. und frühen 20. Jahrhundert liefert, die in dieser Hinsicht fruchtbar gemacht werden könnten. Das vierte Regiment in dem polnischen Freiheitskampfe. In: Der erzgebirgische Volksfreund, eine Monatsschrift zur Belehrung und Unterhaltung für den Bürger und Landmann 1832, Nr. 3, S. 43. (Zugriff am 30. 08. 2019). Ebd. Ebd. Das verrät ein entsprechender Hinweis auf dem Titelblatt – vgl. Harfenklänge. Polens Erinnerungen und seinen Heimathlosen geweiht. Darmstadt: Leske 1832, Titelblatt. Vgl. Harfenklänge. Polens Erinnerungen und seinen Heimathlosen geweiht [Rezension]. In: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 119, 1832, S. 512. Interessant sind einige kleine Unterschiede zwischen dem Abdruck von »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« im
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Wie weiter oben bereits ausgeführt, war ein Grund, warum »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« rasch eine so große Popularität erreichte, darin zu suchen, dass Mosen dem Erwartungshorizont seiner deutschen Rezipienten entsprach und vor allem deren Emotionen bediente. Werner verweist in diesem Zusammenhang richtigerweise darauf, dass das Gedicht ein besonders frappantes Beispiel »für die romantisch heroisierende Polenbegeisterung in Deutschland«28 gewesen sei. Zu seiner Popularität trug aber nicht weniger bei, dass Mosen das Gedicht zur Melodie des damals sehr beliebten Liedes »Denkst Du daran mein tapfrer Lagienka«, das aus dem 1825 entstandenen Kos´ciuszkoSingspiel »Der alte Feldherr« von Karl von Holtei stammte, geschrieben hatte, es also seit seinem Entstehen gesungen werden konnte.29 Mit der Zeit folgten noch weitere Vertonungen anderer Komponisten.30
»Erzgebirgischen Volksfreund« und in dieser Anthologie. So steht in »Harfenklänge« Zl. 3 »Blachfeld« statt »Schlachtfeld«, und die Verse 7 und 8 lauten hier: »Hat doch kein einz’ger einen Schuß getan;/ Und als wir den geschwornen Blutfeind zwangen« (Mosen, Julius: Die letzten Zehn vom vierten Regiment. In: Harfenklänge. Polens Erinnerungen und seinen Heimathlosen geweiht. Darmstadt: Leske 1832, S. 16). Im »Volksfreund« hingegen heißt es: »Hat doch kein Kam’rad einen Schuß getan;/ Und als wir dort den Blutfeind zwangen« – Mosen, Julius: Die letzten Zehn vom vierten Regiment. In: Der erzgebirgische Volksfreund, eine Monatsschrift zur Belehrung und Unterhaltung für den Bürger und Landmann 1832, Nr. 3, S. 44 (Zugriff am 30. 08. 2019). Ob diese Veränderungen von Mosen eingeführt wurden, ist unklar, für die Untersuchung der polnischen Übersetzungen, wovon im weiteren Verlauf dieses Artikels die Rede sein wird, spielen sie aber keine Rolle. 28 Werner, Polnischer Aufstand und deutsche Lyrik. 1975, S. 117. 29 Diese Melodie wurde ursprünglich aus dem französischen Soldatenlied »Te souviens-tu disait un capitaine?« von Émile Debraux, zu dem Joseph-Denis Doche die Melodie verfasste, entlehnt. Vgl.: In Warschau schwuren Tausend auf den Knien. (Zugriff am 04. 09. 2019); sowie: Liederlexikon. Denkst du daran mein tapferer Lagienka. (Zugriff am 04. 09. 2019). Es sei daran erinnert, dass Eva Hermann beim zuvor angesprochenen öffentlichen Vortrag von Mosens Gedicht ebenfalls von einer musikalischen Darbietung spricht (Hermann, Anton Philipp Reclams Wirken. 1973, S. 57). 30 Vgl. dazu: Fallersleben, Unsere volkstümlichen Lieder, S. 157; Steinitz, »Polenlieder« ws´ród niemieckich pies´ni ludowych. 1961, S. 604; sowie: In Warschau schwuren Tausend auf den Knien. (Zugriff am 04. 09. 2019).
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2.
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Die Übersetzungen von »Die letzten Zehn vom vierten Regiment«
Mosens Gedicht wurde insgesamt dreimal ins Polnische übertragen. Die bekannteste und am häufigsten verbreitete Übersetzung stammt vom Lemberger Übersetzer und Theaterdirektor Jan Nepomucen Kamin´ski mit dem Titel »Ostatnich dziesie˛ciu z czwartego pułku«. Es ist unklar, wann sie genau entstanden ist, möglich wäre aber, dass dies zeitnah zum Original geschah. Entsprechendes suggeriert nämlich Janina Znamirowska in ihrer Arbeit über die Lyrik des Novemberaufstandes mit der Bemerkung, sie zitiere darin aus der Übersetzung von Kamin´ski, da Mosens Gedicht in dieser Gestalt Eingang in die sog. Novemberlyrik gefunden habe und während des Aufstandes sowie danach populär geworden sei.31 Leider lassen sich für diese Behauptung allerdings keine weiteren Belege finden. Karol Estreicher erwähnt in seiner Bibliographie des 19. Jahrhunderts erst einen deutlich später entstandenen Druck der polnischen Übersetzung, und zwar aus den Monaten der Märzrevolution von 1848.32 Mehrere polnische Bibliotheken besitzen in ihren Beständen einen entsprechenden Druck in Form eines Flugblattes,33 bei dessen Beschreibung sie sich auf die Bibliographie von Estreicher berufen, es kann in diesen Fällen jedoch nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, wann die Drucke entstanden sind, da sie nicht datiert wurden. Bemerkenswert ist aber, dass es keinen Hinweis auf den eigentlichen Verfasser Mosen gibt, zu finden sind lediglich die Initialen J. N. K. von Kamin´ski.34 Auf dem erwähnten Flugblatt ist zudem der bloße Text abgedruckt, d. h. ohne zusätzliche Abbildungen, Noten etc. Der Kamin´ski-Biograph Stanisław Wasylewski berichtet, dass »Ostatnich dziesie˛ciu z czwartego pułku« in Lemberg als farbige Lithographie mit einer Abbildung des vierten Regiments in Parade-
31 Znamirowska, Janina: Liryka Powstania Listopadowego. Warszawa: Ministerstwo Wyznan´ Religijnych i Os´wiecenia Publicznego 1930, S. 130. Vgl. auch: Roguski, Piotr: Witajcie nam, bohaterowie polscy! In: Polenlieder. Niemieckie wiersze o powstaniu listopadowym. Hrsg. von Piotr Roguski. Pułtusk: Akademia Humanistyczna im. A. Gieysztora 2012, S. 7, der sogar davon spricht, »Walecznych tysia˛c« sei zu einem der populärsten Lieder des Novemberaufstandes geworden. Dies ist aber allein schon deshalb unmöglich, da Mosen sein Gedicht wie erwähnt ja erst Anfang 1832, als der Aufstand schon vorbei war, geschrieben hat. 32 Estreicher, Karol: Bibliografia Polska XIX. stólecia. Tom II G–L. Kraków: Akademia Umieje˛tnos´ci 1874, S. 341. 33 Etwa die polnische Nationalbibliothek in Warschau (Sign. 488.905), die Krakauer Jagiellonenbibliothek (Sign. 224.783 IV) oder das Ossolineum in Wrocław (Sign. 332.450 I sowie 332.500 I). 34 J. N. K.: Ostatnich dziesie˛ciu z czwartego pułku. Lwów: o. V. o. J. (Zugriff am 02. 09. 2019). Dabei handelt es sich um das in der vorigen Fußnote erwähnte Exemplar aus der polnischen Nationalbibliothek.
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uniform verbreitet wurde, sagt aber leider ebenfalls nicht genau, zu welcher Zeit dies war.35 Die zweite polnische Fassung von »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« stammt vom Übersetzer, Schriftsteller und Literaturkritiker Kazimierz Brodzin´ski. Auch in ihrem Fall ist das genaue Entstehungsdatum nicht bekannt, doch da Brodzin´ski bereits 1835 verstorben ist, muss er die Übersetzung relativ zeitnah zu Mosens Original angefertigt haben. Denkbar wäre sogar, dass er dies noch vor Kamin´ski tat, gedruckt wurde Brodzin´skis Übersetzung, die den Titel »Pułk czwarty« trägt, allerdings erst viel später, nämlich 1910. Damals gab Aleksander Łucki aufgrund von Brodzin´skis Handschriften einige von dessen zuvor unbekannten Werken heraus, die Übersetzung von Mosens Gedicht war dabei Teil einer kleineren Sammlung, die Brodzin´ski selbst in seinen letzten Lebensjahren der Generalsgattin Natalia Kicka geschenkt hatte.36 Eine dritte Übersetzung vom Schriftsteller und Übersetzer Robert Stiller entstand schließlich 1965 und wurde unter dem Titel »Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c)« in einer Anthologie mit Militärliedern veröffentlicht. Wie deren Herausgeber dabei schreiben, sei ihnen die alte und verdiente Kamin´skiÜbersetzung von »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« zu anachronistisch erschienen.37 Wie lassen sich nun die einzelnen Übersetzungen hinsichtlich ihrer formalen und sprachlichen Gestaltung bzw. im Verhältnis zu Mosens Original näher beschreiben? Es sei vorausgeschickt, dass alle drei Übersetzer die Einteilung in sieben Strophen beibehalten, ebenso wie das Reimschema ababcc. Unverändert bleibt überall ebenso die Handlung des Gedichtes, d. h. auch die drei polnischen Versionen erzählen in der ersten Strophe vom Schwur ohne Feuerwaffen kämpfen zu wollen und vom Auszug aus Warschau, anschließend von den Kämpfen bei Grochów und Ostrołe˛ka und der bitteren Niederlage, bis hin zum Grenzübertritt nach Preußen. Im Falle der frühesten polnischen Fassung, jener von Kamin´ski, ist es schwer, von einer reinen Übersetzung im herkömmlichen Sinn zu sprechen. Damit ist 35 Wasylewski, Stanisław: Z˙ycie polskie w XIX wieku. Warszawa: Iskry 2008, S. 247. Aus dem Kontext von Wasylewskis Ausführungen lässt sich lediglich schließen, dass es die Jahre rund um den Aufstand waren. 36 Vgl. Łucki, Aleksander: Przedmowa. In: Kazimierza Brodzin´skiego nieznane poezye. Wydał z re˛kopisów Dr. Aleksander Łucki. Kraków: Akademia Umieje˛tnos´ci 1910, S. VIII–IX und XI. Kickas Ehemann war der General Ludwik Kicki, der bei der Schlacht von Ostrołe˛ka ums Leben kam. Er gehörte allerdings nicht dem vierten Regiment an. 37 Vgl. die entsprechende Anmerkung zu: Mosen, Julius: Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c). Übers. von Robert Stiller. In: Z˙ółnierska rzecz. Zbiór pies´ni wojskowych. Hrsg. von Je˛drzej Bednarowicz/Stanisław Werner. Warszawa: Wydawnictwo Ministerstwa Obrony Narodowej 1965, S. 434. Der oben zitierte Satz legt nahe, dass Bednarowicz und Werner die Übersetzung von Brodzin´ski nicht kannten, da sie sich nur auf die von Kamin´ski beziehen.
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gemeint, dass zwar ein eindeutiger Bezug zum Originaltext zu erkennen ist, Kamin´ski in vielen Fällen aber stark von der deutschsprachigen Vorlage abweicht, weshalb bei seiner Fassung wohl eher von einer freien Nachdichtung zu sprechen ist. Dies bezieht sich vor allem auf den Inhalt, in formaler Hinsicht ist die Übereinstimmung zwischen Original und Übersetzung viel größer. Nur leicht abweichend ist die Metrik: So behält Kamin´ski die regelmäßige Alternation von zehn- und elfsilbigen Versen in den mit Kreuzreim verbundenen ersten vier Versen einer Strophe bei und wählt nur bei den letzten beiden Versen jeweils Elfsilber und nicht wie Mosen Zehnsilber. Dadurch ergibt sich in diesen beiden Zeilen ein Wechsel von einer stumpfen Kadenz mit männlichen Reimen (Mosen) hin zu einer klingenden Kadenz mit weiblichen Reimen (Kamin´ski). In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Kamin´ski seine Übersetzung, wie Mosen das Original, zur Melodie von Doche geschrieben hat, wobei im Großen und Ganzen von einer ziemlich hohen Übereinstimmung zwischen Text und Musik gesprochen werden kann.38 Auffallend ist schließlich, dass Kamin´ski wie Mosen am Ende jeder Strophe den Namen des Regiments (»pułk czwarty«) nennt. Wie angedeutet, weicht Kamin´ski allerdings in inhaltlicher Hinsicht bedeutend stärker vom Original ab, manchmal ist sogar überhaupt kein direkter Bezug mehr zu erkennen. Unmittelbar erhalten bleiben in seiner Fassung der Titel »Ostatnich dziesie˛ciu z czwartego pułku«, der eine wörtliche Entsprechung des deutschen Titels ist,39 außerdem bewahrt Kamin´ski die ganze Bildhaftigkeit und Symbolik des Gedichtes, die sich – wie oben ausgeführt – insbesondere um zwei Aspekte gruppiert: erstens die außergewöhnliche Tapferkeit des Regiments, verbunden mit seinem Schwur, ohne Feuerwaffen kämpfen zu wollen und zweitens sein tragisches Schicksal, das mit jenem Polens verknüpft wird. Es ist dabei jedoch bemerkenswert, dass Kamin´ski einzelne Motive oder Bilder auf eine ganz andere Art zum Ausdruck bringt als Mosen, sie innerhalb einer Strophe oder sogar über diese hinaus verschiebt, auf manche verzichtet sowie neue hinzufügt. Er erhält in seiner Übersetzung also eher die Atmosphäre und das Kolorit von Mosens Gedicht, als dass er um eine Wiedergabe bemüht wäre, die sich möglichst nah am Original bewegt. Dies zeigt beispielsweise bereits die erste Strophe. Wenn es bei Mosen heißt: »In Warschau schwuren Tausend auf den Knieen:/ Kein Schuß im heil’gen Kampfe sei getan!« (Zl. 1–2), ist bei Kamin´ski zu 38 Kritischer sehen dies die Herausgeber der Stiller-Übersetzung, wovon weiter unten noch die Rede sein wird. 39 Da nicht ermittelt werden konnte, in welcher Form die Übersetzung von Kamin´ski zum ersten Mal gedruckt wurde, beziehen sich die obigen Bemerkungen auf den zuvor charakterisierten Lemberger Druck: J. N. K.: Ostatnich dziesie˛ciu z czwartego pułku. o. J., bei dem es sich um die früheste zugängliche Fassung handelt. In weiterer Folge wird daraus durch einfache Angabe der Zeilennummer zitiert. Bei vielen Nachdrucken von Kamin´skis Übersetzung wurde hingegen ein anderer Titel gewählt, wie z. B.: »Walecznych tysia˛c« oder »Pułk czwarty«.
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lesen: »Walecznych tysia˛c opuszcza Warszawe˛,/ Przysie˛ga kle˛cza˛c: ›Naszym ´swiadkiem Bóg‹ (Zl. 1–2).40 Der Schwur, nicht zu schießen, findet sich bei Kamin´ski erst im letzten Vers der ersten Strophe wieder und wird anders zum Ausdruck gebracht: »Z panewka˛ próz˙na˛ idzie w bój pułk czwarty« (Zl. 6).41 Im Polnischen fehlt außerdem der »Schmerz« des Vaterlandes, mit dem es sein viertes Regiment nennt (Zl. 5–6), dafür führt Kamin´ski, wohl um dessen Tapferkeit zu unterstreichen, die Bereitschaft zu sterben ein: »S´mierc´ hasłem naszem« (Zl. 3),42 was als Bemühen gewertet werden kann, die ohnehin pathetische Aussage des Originals für den polnischen Leser noch zu intensivieren. Es könnten noch weitere ähnliche Beispiele genannt werden,43 was an dieser Stelle aber zu weit führen würde. Hingewiesen sei lediglich auf die fünfte Strophe, in der sich Kamin´ski völlig vom Original löst und eine Aussage einbaut, die sehr stark in Richtung einer Art Bewertung des Aufstandes aus polnischer Sicht geht, was für deutsche LeserInnen in dieser Form wohl nicht verständlich gewesen wäre. Es geht um die vier Verse: »Daremne me˛stwo –, Ojczyzna zgubiona!/ Ach nie pytajcie, kto ten spełnił czyn?/ Zabójczy potwór wyszedł z matki łona,/ Ojczyzny zguba˛ jej wyrodny syn!« (Zl. 25–28).44 Mit dem »Ungeheuer« oder »dem missratenen Sohn« Polens, von dem hier die Rede ist, dürfte nämlich der General Jan Krukowiecki gemeint sein, der eigenmächtig zur Kapitulation Warschaus in den ersten Septembertragen führte.45 Wie Kamin´ski scheint sich auch Kazimierz Brodzin´ski darum bemüht zu haben, seine Übersetzung an die Melodie von Doche anzupassen, wobei dies nicht immer gelang und die Übereinstimmung von Text und Musik nicht bei allen Versen einwandfrei ist. Der Grund dafür könnte u. a. darin zu suchen sein, dass Brodzin´ski auf einen Wechsel von zehn- und elfsilbigen Versen verzichtet und sich bei seiner Fassung ausschließlich für Elfsilber (und damit für klingende Kadenzen) entscheidet. Dies führt im Falle mancher Verse zu einer unnötigen Länge, was wiederum, wie Znamirowska richtig bemerkt, eine gewisse Mono-
40 Wörtlich: »Tausend Kampfesmutige verließen Warschau,//Auf den Knieen schwörten sie: ›Gott sei unser Zeuge‹«. 41 »Mit leerer Pulverpfanne rückt das vierte Regiment in den Kampf«. 42 »Der Tod sei unsere Parole«. 43 Etwa aus der zweiten und dritten Strophe des Gedichtes. 44 »Vergeblicher Mut –, das Vaterland verloren!/ Ach fragt nicht, wer diese Tat getan?/ Das tödliche Ungeheuer kroch aus dem Schoß der Mutter,/ das Verhängnis des Vaterlandes ist ihr gebürtiger Sohn«. Mosens Original hingegen lautet: »Oh weh, das heil’ge Vaterland verloren!/ Ach, fraget nicht, wer uns dies Leid getan?/ Weh allen, die in Polenland geboren!/ Die Wunden fangen frisch zu bluten an« (Zl. 25–28). 45 Vgl. die Anmerkung von Maria Wacholc zu: Mosen, Julius: Walecznych tysia˛c opuszcza Warszawe˛ (Pułk czwarty). Übersetzt von Jan Nepomucen Kamin´ski. In: S´piewnik polski. Hrsg. von Maria Wacholc. Kraków: Impuls 2002, S. 70.
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tonie nach sich zieht und den kämpferischen Rhythmus des Originals verloren gehen lässt.46 In inhaltlicher Hinsicht bewegt sich Brodzin´ski viel näher am Original als Kamin´ski, weshalb seine Fassung eindeutiger als Übersetzung von Mosens »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« zu erkennen ist. Es kann aber nicht von einer getreuen oder sogar wortgetreuen Übertragung gesprochen werden. Dafür gibt es zu viele kleinere semantische Abweichungen, die aber – wie schon angedeutet – den Sinn des Originals nur selten verändern und in den meisten Fällen wohl in erster Linie dem Bemühen von Brodzin´ski zuzuschreiben sind, einen regelmäßigen Rhythmus sowie die Nähe des Textes zur Melodie von Doche zu bewahren. Bemerkenswert ist, dass Brodzin´skis Übersetzung einen anderen Titel trägt als das Original, und zwar einfach »Pułk czwarty (Das vierte Regiment).«47 In einigen Fällen lässt sich bemerken, dass Brodzin´ski offenbar wie Kamin´ski versuchte, die Aussage des Originals zu intensivieren, etwa in Bezug auf das historische Schicksal des vierten Regiments und ganz Polens. So wird aus dem einfachen »Vaterland« im Original das »neu zerrissene Land« bei Brodzin´ski.48 Ähnlich verfährt Brodzin´ski in den letzten beiden Versen der vierten Strophe, die bei Mosen lauten: »Wo blutigrot zum Meer die Weichsel rennt,/ Dort blutete das vierte Regiment!« (Zl. 23–24). Hier scheint die Übersetzung außerdem eine Art historische Interpretation von dessen Schicksal zu liefern, wenn es heißt: »Dziejów to kiedys´ opowiedza˛ karty,/ Jak za ojczyzne˛ umierał pułk czwarty«.49 Es ist unschwer zu erkennen, dass die Aussage intensiviert wurde, z. B. findet sich statt »bluten« das Verb »sterben«, dazu kommt der Hinweis auf eine spätere historische Einschätzung des schlimmen Schicksals des vierten Regiments, das an dieser Stelle anders als im Original unmittelbar mit dem Polens verknüpft wird: Irgendwann, heißt es, wird die Geschichte viel davon zu erzählen wissen und – so darf wohl hinzugedacht werden – dabei zu einem gerechten sowie der tiefen Tragik angemessenen Urteil kommen und die (Helden-)Taten des Regiments entsprechend zu würdigen wissen. Es dürfte außer Zweifel stehen, dass solche Verse die Emotionalität der polnischen Leser*innen ganz unmittelbar 46 Znamirowska, Liryka Powstania Listopadowego. 1930, S. 131. 47 Mosen, Julius: Pułk czwarty. Übers. von Kazimierz Brodzin´ski. In: Kazimierza Brodzin´skiego nieznane poezye. Wydał z re˛kopisów Dr. Aleksander Łucki. Kraków: Akademia Umieje˛tnos´ci 1910, S. 158. Denkbar ist allerdings, dass dieser Titel von Łucki stammt, der Brodzin´skis Übersetzung ja aufgrund einer Handschrift herausgab. 48 Bei Mosen: »Und ewig kennt das Vaterland und nennt/ Mit stillem Schmerz sein viertes Regiment« (Zl. 5–6), bei Brodzin´ski hingegen: »I wiecznie odta˛d kraj nowo rozdarty/ Z cicha˛ boles´cia˛ wspomina pułk czwarty«. Mosen, Pułk czwarty. 1910, S. 158. Wörtlich: »Und ewig wird von nun an das neu zerrissene Land/ Mit stillem Schmerz dem vierten Regiment gedenken.« 49 Ebd, S. 159. Wörtlich: »Die Geschichte wird irgendwann viel davon erzählen,/ Wie das vierte Regiment für das Vaterland gestorben ist.«
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ansprachen, was Brodzin´ski wahrscheinlich bewusst so beabsichtigte. Zugleich spielt er auf ein häufiges Thema vieler Polenlieder an, nämlich den Glauben an ewiges Recht.50 Die dritte und neueste Übersetzung von »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« von Robert Stiller stammt aus den 1960er-Jahren. Generell kann über diese Fassung gesagt werden, dass sie dem Original gegenüber relativ treu bleibt. Es gibt nur minimale Abweichungen, die in erster Linie dem Bemühen geschuldet sind, die formale und inhaltliche Geschlossenheit des Gedichtes zu erhalten. Was die Metrik betrifft, bewegt sich Stiller näher am Original als Kamin´ski und Brodzin´ski, da er wie Mosen nur zwei Elfsilber ( jeweils Vers 1 und 3 einer Strophe), ansonsten aber Zehnsilber verwendet. Das führt außerdem dazu, dass der Wechsel von klingenden und stumpfen Kadenzen wie im Original bestehen bleibt. Denkbar ist, dass vielleicht von Bednarowicz und Werner, den Herausgebern der Sammlung von Soldatenliedern, in der Stillers Übertragung erstmals erschien, der Wunsch nach einer möglichst getreuen polnischen Übersetzung von »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« geäußert wurde. In einer Anmerkung betonen sie nämlich, dass Kamin´skis Übersetzung »nicht vollständig zur rhythmischen Konstruktion des Werkes« gepasst habe.51 Damit ist zweifelsfrei die Doche-Melodie gemeint, zu der Stillers Übersetzung ohne Probleme gesungen werden kann. Eine Abweichung sowohl zum Original als auch zu den beiden früheren Übersetzungen lässt sich insofern bemerken, dass Stiller den Namen des Regiments nicht ganz am Ende jeder Strophe, sondern jeweils als zweites und drittes Wort im letzten Vers einer Strophe nennt. Anders als im Original ist auch der Titel von Stillers Übersetzung: »Ostatnych dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c)«, etwa: »Die letzten Zehn (Tausend Mutige).«52 Nicht zu übersehen ist dabei die Anspielung auf die Kamin´ski-Übersetzung in dem in Klammern gesetzten Untertitel. Dass Kamin´ski ein wichtiger Bezugspunkt für Stiller bzw. für die Herausgeber seiner Übersetzung war, zeigt außerdem die zuvor zitierte Bemerkung von Bednarowicz und Werner zur »rhythmischen Konstruktion« von Mosens Gedicht, ebenso wie ihre Einschätzung der Übersetzung von Kamin´ski als »anachronistisch«, wovon weiter oben die Rede war. Zwar begründen sie ihre Meinung nicht näher, es kann aber angenommen werden, 50 Vgl. Koziełek, Polenlieder. 1982, S. 14. 51 Mosen, Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c). 1965, S. 434. Vgl. dazu auch die Bemerkung von Zbigniew Adrjan´ski, der Stillers Übersetzung einige Jahre später noch einmal in einer Liedersammlung abdruckte, und seine Entscheidung, nicht auf die bekanntere Fassung von Kamin´ski zurückgegriffen zu haben, damit begründet, dass dessen Übersetzung nicht immer zum Rhythmus der Melodie (wohl zu der von Doche) passe. Mosen, Julius: Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c). Übers. von Robert Stiller. In: S´piewnik Iskier. Pies´ni i piosenki na róz˙ne okazje. Hrsg. von Zbigniew Adrjan´ski. Warszawa: Iskry 1976, S. 40–41 und 401–402. 52 Mosen, Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c). 1965, S. 37. Alle Verweise im obigen Text auf Stillers Übersetzung beziehen sich auf diese Quelle.
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dass die beiden Herausgeber damit unter anderem das Bemühen Kamin´skis meinten, die an sich schon hohe Emotionalität des Gedichtes sowie dessen Pathos noch zu steigern. Vor allem wenn angenommen wird, dass Kamin´skis Übersetzung zeitnah zum Aufstand angefertigt wurde, wird klar, warum sie vom kämpferischen Geist des 19. Jahrhunderts, als Polen geteilt war, geprägt ist. Damit und dadurch, dass Kamin´ski – wie die obige Analyse der fünften Strophe gezeigt hat – eine spezifisch polnische Perspektive in die Übersetzung einbaut, richtet er sich unmittelbar an sein polnisches Publikum und erfüllt stärker dessen Erwartungen. Ähnliches war bei Brodzin´ski zu beobachten. Ganz im Gegenteil aber Stiller: Er bleibt auch in inhaltlicher Hinsicht sehr nahe am Original, mit nur geringen semantischen Abweichungen, und scheint an manchen Stellen sogar das hohe Pathos von Mosens Text bewusst zurückzunehmen. Dies zeigen kleinere Eingriffe, wie z. B. der Verzicht auf die zweite Nennung eines mit »Blut« verbundenen Begriffs in der zweiten Strophe53 oder auf das Adjektiv »heilig«, das bei Mosen im ersten Vers der fünften Strophe das Vaterland näher charakterisiert (Zl. 25) und bei Stiller fehlt. Deutlich zu sehen ist dieses Verfahren schließlich in den letzten beiden Versen des Gedichtes, in denen noch einmal das tragische Schicksal der letzten Überlebenden des vierten Regiments, ihre starke Dezimierung und der Verlust der Heimat, zum Ausdruck kommt: »Und einer spricht: ›Vom Vaterland getrennt –/ Die letzten Zehn vom vierten Regiment! ‹« (Zl. 41– 42). Bei Stiller lauten die Verse: »I głos: ›Dziesie˛ciu, których zliczysz sam,/ to Czwarty Pułk! A reszta lez˙y tam!‹«54
3.
Zusammenfassung
Obwohl die Stillersche Übersetzung in vieler Hinsicht als sehr gelungen bezeichnet werden kann, wurde sie nach ihrer Erstveröffentlichung 1965 nur noch einmal wieder abgedruckt.55 Es gelang ihr außerdem nicht, jene von Kamin´ski zu ersetzen bzw. zu verdrängen, auf die in neueren Sammlungen von Polenliedern wieder zurückgegriffen wird.56 Überhaupt wurde Kamin´skis Übersetzung seit 53 Es handelt sich hier um folgende Verse – im Original: »Und als wir dort bei Praga blutig rangen,/ […] Und als wir den geschwornen Blutfeind zwangen« (Zl. 7 und 9), bei Stiller hingegen findet sich nur einmal eine entsprechende Stelle (»krwawy bój« – »blutiger Kampf«). 54 Wörtlich: »Und eine Stimme: ›Zehn, die du selbst zählst,/ das ist das vierte Regiment« Und der Rest liegt dort!‹«. 55 Mosen, Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c). 1976, S. 40–41. 56 Z. B.: Mosen, Julius: Pułk czwarty. Übersetzt von Jan Nepomucen Kamin´ski. In: Walecznych tysia˛c… Antologia niemieckiej poezji o powstaniu listopadowym. Hrsg. von Gerard Koziełek. Warszawa: PIW 1987, S. 120–121; Mosen, Walecznych tysia˛c opuszcza Warszawe˛ (Pułk czwarty). 2002, S. 68–70; oder: Mosen, Julius: Pułk czwarty. Übersetzt von Jan Nepomucen
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dem 19. Jahrhundert häufig nachgedruckt, meist in Anthologien mit polnischer patriotischer Lyrik bzw. mit Soldaten- und Kriegsgedichten. Hertz führt bis in die 1970er-Jahre etwa rund 35 Belege dafür an, dass Mosens Gedicht in solche Sammlungen aufgenommen wurde.57 Warum Kamin´skis Übersetzung so schnell beliebt wurde und diese Popularität so lange andauerte, ist für Znamirowska dadurch begründet, dass sie eine dem Original ähnliche Ausdruckskraft sowie schöpferische, klangliche und rhythmische Verve habe und dadurch charakterisiert sei, dass sie sich begrifflich an das Modell der polnischen Psyche anpasse.58 Wie bei der Beschreibung seiner Übersetzung an einigen Beispielen gezeigt wurde, gelang es Kamin´ski, die Erwartungshaltungen des polnischen Publikums um 1830–1840 unmittelbar zu bedienen, weshalb seine Übersetzung rasch Eingang in das polnische Liedgut fand. In diesem Sinne schreibt Władysław Bełza, der »Pułk czwarty« Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen mit anderer patriotischer Lyrik abdruckte, dass er nicht gezögert habe, diesem Gedicht, dessen Autor der Deutsche Juliusz [!] Mosen sei, einen Platz unter den polnischen Dichtern einzuräumen, da es seinerzeit derart populär war, dass man kein polnisches Heim fand, wo man es nicht auswendig lernte und sich von seinem Inhalt und seiner Melodie nicht rühren ließ.59 Auch der erwähnte Hertz berücksichtigte das Gedicht in seiner Anthologie polnischer Lyrik des 19. Jahrhunderts, nachdem er in ihrer Einleitung betont hatte, dass er diese Sammlung als unvollständig betrachten würde, hätte er Mosens Gedicht in der Übersetzung Kamin´skis nicht in sie aufgenommen.60 Dieser Übersetzung war es also zu verdanken, dass ein deutsches Werk mit der Zeit seinen fremden Ursprung verlor und in ein neues kulturelles Umfeld eingegliedert wurde. Die politische Aussage von Mosens Gedicht, die sich aus dem historischen Kontext des Novemberaufstandes herleitet, blieb im Deutschen wie im Polnischen unverändert, Kamin´ski gelang es mit seiner Fassung jedoch, dem Zeitgeist und der Stimmung der Jahre nach dem Aufstand in Polen zu entsprechen. Ähnliches versuchte Brodzin´ski, doch da seine Übersetzung erst spät veröffentlicht wurde, konnte sie nie eine nur annähernde Wirkung entfalten. Die Kamin´ski-Übersetzung ist stark an die Atmosphäre ihrer Entstehungszeit ge-
57 58 59 60
Kamin´ski. In: Polenlieder. Niemieckie wiersze o powstaniu listopadowym. Hrsg. von Piotr Roguski. Pułtusk: Akademia Humanistyczna im. A. Gieysztora 2012, S. 33–35. Hinzuzufügen ist, dass die Übersetzung von Brodzin´ski größtenteils unbeachtet blieb. Vgl. Zbiór poetów polskich XIX w. Bd. 7. Hrsg. von Paweł Hertz. Warszawa: PIW 1975, S. 771. Es wäre eine eigene Forschungsaufgabe, alle Abdrucke von Kamin´skis Übersetzung bibliographisch zu erfassen. Znamirowska, Liryka Powstania Listopadowego. 1930, S. 131. Vgl. Mosen, Julius: Pułk czwarty. In: Ojczyzna w pies´niach poetów polskich. Głosy poetów o Polsce. Hrsg. von Władysław Bełza. Lwów: Altenberg 1901, S. 152–153. Zbiór poetów polskich XIX w. Bd. 1. Hrsg. von Paweł Hertz. Warszawa: PIW 1959, S. 12. Das Gedicht selbst ist auf den Seiten 505–506 abgedruckt.
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bunden, doch gerade darin dürfte größtenteils ihr Reiz liegen und damit einer der Gründe, warum sie bis heute nachgedruckt wird. Der in vieler Hinsicht getreueren und zeitgemäßeren Stillerschen Übersetzung von Mosens Gedicht gelang es daher nicht, sie zu ersetzen. Koziełek weist darauf hin, dass viele Polenlieder wegen ihrer unmittelbaren Zeitgebundenheit heute weitgehend vergessen sind.61 Dies trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf Mosen und »Die letzten Zehn vom vierten Regiment« zu, weshalb es umso bemerkenswerter ist, dass die Übersetzung von Kamin´ski bis heute in der polnischen Öffentlichkeit präsent ist.
Primärliteratur In Warschau schwuren Tausend auf den Knien. (Zugriff am 04. 09. 2019). Mosen, Julius: Die letzten Zehn vom vierten Regiment. In: Der erzgebirgische Volksfreund, eine Monatsschrift zur Belehrung und Unterhaltung für den Bürger und Landmann 1832, Nr. 3, S. 44. (Zugriff am 30. 08. 2019). Mosen, Julius: Die letzten Zehn vom vierten Regiment. In: Harfenklänge. Polens Erinnerungen und seinen Heimathlosen geweiht. Darmstadt: Leske 1832, S. 16–17. Mosen, Julius: Pułk czwarty. In: Ojczyzna w pies´niach poetów polskich. Głosy poetów o Polsce. Hrsg. von Władysław Bełza. Lwów: Altenberg 1901, S. 152–153. Mosen, Julius: Pułk czwarty. Übers. von Kazimierz Brodzin´ski. In: Kazimierza Brodzin´skiego nieznane poezye. Wydał z re˛kopisów Dr. Aleksander Łucki. Kraków: Akademia Umieje˛tnos´ci 1910, S. 158–159. Mosen, Julius: Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c). Übers. von Robert Stiller. In: Z˙ółnierska rzecz. Zbiór pies´ni wojskowych. Hrsg. von Je˛drzej Bednarowicz/Stanisław Werner. Warszawa: Wydawnictwo Ministerstwa Obrony Narodowej 1965, S. 37–39 und 434. Mosen, Julius: Ostatnich dziesie˛ciu (Walecznych tysia˛c). Übers. von Robert Stiller. In: S´piewnik Iskier. Pies´ni i piosenki na róz˙ne okazje. Hrsg. von Zbigniew Adrjan´ski. Warszawa: Iskry 1976, S. 40–41 und 401–402. Mosen, Julius: Die letzten Zehn vom vierten Regiment. In: Polenlieder. Eine Anthologie. Hrsg. von. G. K. Leipzig: Reclam 1982, S. 61–63. Mosen, Julius: Pułk czwarty. Übers. von Jan Nepomucen Kamin´ski. In: Walecznych tysia˛c… Antologia niemieckiej poezji o powstaniu listopadowym. Hrsg. von Gerard Koziełek. Warszawa: PIW 1987, S. 120–121. Mosen, Julius: Walecznych tysia˛c opuszcza Warszawe˛ (Pułk czwarty). Übers. von Jan Nepomucen Kamin´ski. In: S´piewnik polski. Hrsg. von Maria Wacholc. Kraków: Impuls 2002, S. 68–70. 61 Koziełek, Polenlieder. 1982, S. 42.
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Mosen, Julius: Pułk czwarty. Übers. von Jan Nepomucen Kamin´ski. In: Polenlieder. Niemieckie wiersze o powstaniu listopadowym. Hrsg. von Piotr Roguski. Pułtusk: Akademia Humanistyczna im. A. Gieysztora 2012, S. 33–35. J. N. K.: Ostatnich dziesie˛ciu z czwartego pułku. Lwów: o. V. o. J. (Zugriff am 02. 09. 2019). Pułk Czwarty. In: Cyfrowa Biblioteka Polskiej Piosenki. (Zugriff am 04. 09. 2019).
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Steinitz, Wolfgang: »Polenlieder« ws´ród niemieckich pies´ni ludowych. In: Pamie˛tnik Literacki: czasopismo kwartalne pos´wie˛cone historii i krytyce literatury polskiej 52, 1961, Nr. 4, S. 589–622. Szoman´ski, Andrzej: Walecznych tysia˛c… Z dziejów 4 pułku piechoty liniowej Wojska Polskiego 1815–1831. Warszawa: Wydawnictwo Ministerstwa Obrony Narodowej 1968. Wasylewski, Stanisław: Z˙ycie polskie w XIX wieku. Warszawa: Iskry 2008. Werner, Hans-Georg: Der polnische Aufstand von 1830/31 und die deutsche politische Lyrik. In: Zeitschrift für Slawistik XX, 1975, H. 1 (Mickiewicz-Beiträge), S. 114–130. Will, Arno: Motywy polskie w krótkich formach literackich niemieckiego obszaru je˛zykowego 1794–1914. Łódz´/Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1976 (=Łódzkie Towarzystwo Naukowe, Prace Wydziału I – Je˛zykoznawstwa, Nauki o literaturze i filozofii 77). Znamirowska, Janina: Liryka Powstania Listopadowego. Warszawa: Ministerstwo Wyznan´ Religijnych i Os´wiecenia Publicznego 1930 (=Studja z zakresu historji literatury polskiej 9). Zur Unterstützung heimathloser Polen. In: Leipziger Tageblatt 1832, Nr. 11, S. 100–101.
Verzeichnis der AutorInnen
Dr. habil. Magdalena Ba ˛ k – Univ.-Professorin am Institut für Literaturwissenschaft an der Schlesischen Universität in Katowice. Sie ist Autorin der Bücher: »Mickiewicz jako erudyta (w okresie wilen´sko-kowien´skim i rosyjskim)« [Mickiewicz als Gelehrter (die Schaffensphasen Vilnius-Kaunas und Russland)] (Katowice 2004); »Twórczy le˛k Słowackiego. Antagonizm wieszczów po latach« [Słowackis kreative Angst. Der Antagonismus der Nationaldichter nach Jahren] (Katowice 2013); »Gdzie diabeł (tasman´ski) mówi dobranoc. Wizerunek Australii w literaturze polskiej« [Wo der Teufel (von Tasmanien) gute Nacht sagt. Das Bild von Australien in der polnischen Literatur] (Katowice 2014); »Camões i smak sardynek. Dziewie˛tnastowieczne polskie relacje z podróz˙y do Portugalii« [Camões und der Geschmack von Sardinen. Polnische Berichte aus dem 19. Jahrhundert über eine Reise nach Portugal] (2019); Mitautorin (zusammen mit Lidia Romaniszyn-Ziomek): »›Gdzie ziemia sie˛ kon´czy, a morze zaczyna‹. Szkice polsko-portugalskie« [›Wo die Erde endet und das Meer beginnt‹. Polnisch-portugiesische Skizzen] (Katowice 2016). Forschungsschwerpunkte: Literatur der Romantik, Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, australische Motive in der polnischen Literatur und die polnisch-portugiesischen Kulturbeziehungen. Dr. habil. Joanna Drynda – Univ.-Professorin am Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan´. Werfel- und DAADStipendiatin. Studium der Germanistik in Poznan´, Halle/Saale und Klagenfurt. Dissertation: »Schöner Schein, unklares Sein. Poetik der Österreichkritik im Werk von Gerhard Roth, Robert Menasse und Josef Haslinger« (Poznan´ 2003), Habilitation: »Spiegel-Frauen. Zum Spiegelmotiv in Prosatexten zeitgenössischer österreichischer Autorinnen« (Frankfurt/M. 2012). Publikationen zur deutschen und österreichischen Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschienen: »Zwischen Einflussangst und Einflusslust. Zur Auseinandersetzung mit der Tradition in der österreichischen Gegenwartsliteratur«. Hrsg. mit Alicja Krauze-Olejniczak/ Sławomir Piontek (Wien 2017).
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Verzeichnis der AutorInnen
Dr. habil. Małgorzata Dubrowska – Univ.-Professorin am Institut für Germanistik an der Katholischen Universität Lublin. 2000 Promotion zum Thema: »Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität in Werken ausgewählter Schriftsteller aus der DDR« (Lublin 2002), Habilitationsschrift: »›Und ich brauch doch so schrecklich Freude‹. Frauentopoi im Werk von Anna Seghers« (Lublin 2009). Herausgeberin (mit Anna Rutka): »›Reise in die Tiefe der Zeit und des Traums.‹ (Re-) Lektüren des ostmitteleuropäischen Raumes aus österreichischen, deutscher, polnischer und ukrainischer Sicht« (2015) und (mit Ewa Grzesiuk): »Imago Dei. Der Schöpfer und seine Schöpfung in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte« (2018). Forschungsschwerpunkte: Exilliteratur, Literatur und Gedächtnis, deutsch-jüdische Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Post-Shoah-Generation, DDR-Literatur. Dr. habil. Markus Eberharter – wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für angewandte Linguistik der Universität Warschau sowie am Institut für Buch- und Leseforschung der polnischen Nationalbibliothek. Promotion zu Tytus Czyz˙ewski und den polnischen Formismus, Habilitation zu Übersetzerbiographien im Galizien des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Interessen: literarische Übersetzung, Translations- und Literatursoziologie, Buch- und Bibliotheksgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Prof. Dr. habil. Elz˙bieta Hurnik – Professorin am Institut für Literaturwissenschaft an der Jan-Długosz-Universität in Cze˛stochowa. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der Literatur der Region Cze˛stochowa sowie der Literatur und Kultur der Wiener Moderne und ihrer Querverbindungen zur polnischen Kultur. Autorin zahlreicher Monographien: u. a. »Natura w salonie mody. O mie˛dzywojennej liryce Marii Pawlikowskiej-Jasnorzewskiej« (Warszawa 1995); »Maria Pawlikowska-Jasnorzewska (zarys monograficzny)« (Katowice 1999, zweite erg. Ausgabe 2012); »W kre˛gu wieden´skiej moderny. Z zagadnien´ polsko-austriackich powinowactw literacko-kulturowych« (Cze˛stochowa 2000); W »Cekanii i gdzie indziej. Studia i szkice o literaturze i kulturze austriackiej i polskiej« (Cze˛stochowa 2011). Dr. habil. Ewelina Kamin´ska-Ossowska, Univ.-Professorin für die deutschsprachige Literatur am Institut für Literatur und Neue Medien der Universität Szczecin. Germanistikstudium an der Universität Szczecin, 1998 Promotion an der Universität Wrocław: »Polnische Motive im deutschen Kinder- und Jugendbuch nach 1945« (Dortmund 2001), 2011 Habilitation an der Universität Gdan´sk: »Erinnerte Vergangenheit – inszenierte Vergangenheit. Deutsch-polnische Begegnungsräume Danzig/Gdan´sk und Stettin/Szczecin in der polnischen Prosa im Kontext der Wende von 1989« (Szczecin 2009). Forschungsbereiche:
Verzeichnis der AutorInnen
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Kinder- und Jugendliteratur, Erinnerungsliteratur, Gestaltung der deutsch-polnischen Wechselbeziehungen in der gegenwärtigen deutschen und polnischen (insbesondere pommerschen) Literatur, Geschichte der deutschen Literatur und Kultur im Kontext der interkulturellen Kommunikation, das Schaffen von Tankred Dorst. Dr. habil. Katarzyna Lukas – Univ.-Professorin. Germanistik-Studium und Promotion (2006) an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´, Polen. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Gdan´sk. Publikationen zum literarischen Übersetzen (deutsch/polnisch/englisch), zur Komparatistik und Kulturwissenschaft, u. a. »Fremdheit – Gedächtnis – Translation: Interpretationskategorien einer kulturorientierten Literaturwissenschaft« (Berlin: Peter Lang 2018), »Das Weltbild und die literarische Konvention als Übersetzungsdeterminanten. Adam Mickiewicz in deutschsprachigen Übertragungen« (Berlin: Frank & Timme 2009). Mitherausgeberin von Sammelbänden, u. a. »Translation im Spannungsfeld der cultural turns« (Frankfurt/M. 2013). Dr. habil. Joanna Ławnikowska-Koper, Univ.-Professorin am Institut für Literaturwissenschaft der Jan-Długosz-Universität Cze˛stochowa. Germanistikstudium in Wrocław und Berlin. Doktorarbeit: »Zu Figuren, Themen und Motivik in der Kurzprosa von Gabriele Wohmann« (Universität Opole), Habilitationsschrift: »Literarisierung der Familie im österreichischen Roman der Gegenwart. Kon/Texte. Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung« (Berlin 2018). Forschungsschwerpunkte: literarische Familienbilder, deutschsprachige Frauenliteratur, österreichische Gegenwartsliteratur, Literatur- und Kulturanthropologie, Literaturrezeption, das Schaffen von Erich Hackl. Mitbegründerin und Mitherausgeberin (mit Anna Majkiewicz) der wissenschaftlichen Zeitschrift Transfer. Reception Studies. Mitherausgeberin von Sammelbänden u. a.: »Literarische Koordinaten der Zeiterfahrung« (mit Jacek Rzeszotnik, Wrocław/ Dresden 2008), »Christa Wolfs Œuvre« (Cze˛stochowa 2013). Dr. habil. Anna Majkiewicz – Univ.-Professorin am Institut für Literaturwissenschaft der Jan-Długosz-Universität Cze˛stochowa. Zahlreiche Publikationen zur Komparatistik, insbesondere reception studies, zur deutschen und österreichischen Gegenwartsliteratur mit dem Fokus auf Intertextualität, Identitätsproblematik, Gedächtnis, sowie zur kulturellen Kontextualisierung des deutschpolnischen Literaturübersetzens. Monographien: »›Włas´ciwie jestem nieprzetłumaczalna…‹ O prozie Elfriede Jelinek w polskim przekładzie« (Katowice 2016); »Styl, kontekst kulturowy, gender« (Katowice 2011); »Intertekstualnos´c´ – implikacje dla teorii przekładu. Wczesna proza Elfriede Jelinek« (Warszawa:
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Verzeichnis der AutorInnen
PWN 2008); »Proza Güntera Grassa – interpretacja a przekład« (Katowice 2002). Mitherausgeberin von Sammelbänden, u. a. »Germanistik in vielen Kulturen. Studien und Reflexionen« (Cze˛stochowa 2012). Mitbegründerin und Mitherausgeberin (mit Joanna Ławnikowska-Koper) der wissenschaftlichen Zeitschrift Transfer. Reception Studies. Dr. Agata Mirecka, Literaturwissenschaftlerin an der Pädagogischen Universität Kraków; vereidigte Dolmetscherin; Studium der Deutschen Philologie in Krakau und Wien; Projekte zum gegenwärtigen deutschsprachigen Drama; Forschungen zum aktuellen literarischen Drama und neuer Lyrik sowie zur Literaturtheorie und vergleichender Literaturwissenschaft. Dr. Rafał Pokrywka – wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Komparatistik der Kazimierz-Wielki-Universität in Bydgoszcz (Polen). Wichtigste Publikationen: Sammelband »Der Liebesroman im 21. Jahrhundert« (Würzburg 2017) und eine Monographie »Współczesna powies´c´ niemieckoje˛zyczna« [Der deutschsprachige Roman der Gegenwart] (Kraków 2018). Prof. Dr. habil. Adam Regiewicz – Professor für Literaturwissenschaft, Filmexperte, Direktor des Instituts für Literaturwissenschaft der Jan-Długosz-Universität Cze˛stochowa. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Phänomenen an der Grenze zwischen Literaturwissenschaft und kultureller Komparatistik, wobei er sich u. a. mit transkultureller Forschung zum Mittelalter, Anthropologie und zeitgenössischer Kultur mit dem Fokus auf dem Christentum als kulturellem Paradigma Europas und seiner Krise im Zeitalter des Säkularismus beschäftigt. Publikationen auch zur Audiovisualität und Musikalität der Literatur. Dr. habil. Anna Rutka – Univ.-Professorin am Institut für Germanistik an der Katholischen Universität Johannes Paul II. 2000 Promotion mit der Arbeit »Die Funktion des Lachens und Lächelns in den Romanen von Franz Kafka« (Lublin 2001). 2008 Habilitationsschrift über »Hegemonie – Binarität – Subversion. Geschlechterpositionen im Hörspiel ausgewählter deutscher und deutschsprachiger Autorinnen nach 1968« (Lublin 2008). Monographie: »Erinnern und Geschlecht in zeitgenössischen deutschen Familien- und Generationenromanen« (Lublin 2011); Sammelbände (Herausgeberschaft mit Małgorzata Dubrowska) »›Reise in die Tiefe der Zeit und des Traums‹ – (Re-)Lektüren des ostmitteleuropäischen Raumes aus österreichischer, deutscher, polnischen und ukrainischer Sicht« (Lublin 2015); mit Magdalena Szulc-Brzozowska: »Werte und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität. Literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven« (Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2019). Forschungsgebiete: Literatur von deutschen und österreichischen Autorinnen nach
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1945, Gender Studies, Ökonomie als Thema der Literatur, literarische Krisenund Katstrophennarrative in der Prosa des 21. Jahrhunderts, literarischer Erinnerungsdiskurs, Shoah-Gedächtnis in neuester deutschsprachiger und polnischer Literatur. Dr. habil. Dorota Sos´nicka – Univ.-Professorin für die deutschsprachige Literaturwissenschaft am Institut für Literatur und Neue Medien an der Universität Szczecin. 1998 Promotion an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan´: »Wie handgewobene Teppiche: Die Prosawerke Gerhard Meiers« (Peter Lang, 1999; ausgezeichnet mit dem Preis des polnischen Ministers für Hochschul- und Bildungswesen); 2009 Habilitation an der Universität in Łódz´: »Den Rhythmus der Zeit einfangen: Erzählexperimente in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur unter besonderer Berücksichtigung der Werke von Otto F. Walter, Gerold Späth und Zsuzsanna Gahse« (Königshausen & Neumann, 2008). DAAD- und Humboldt-Stipendiatin, Stipendiatin der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia und der Kulturstiftung des Kantons Thurgau; Mitglied u. a. der Internationalen Alfred-Döblin-Gesellschaft (IADG) und der Gesellschaft für Erforschung der Deutschschweizer Literatur (G.E.D.L.). Zahlreiche Publikationen zur Erzähltheorie sowie zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, insbesondere zur Literatur der deutschen Schweiz, u. a. Mitherausgeberin der Sammelbände: »Ein neuer Aufbruch? 1991–2011: Die Deutschschweizer Literatur nach der 700-JahrFeier« (mit M. Pender, Königshausen & Neumann, 2012); »Fabulierwelten: Zum (Auto)Biographischen in der Literatur der deutschen Schweiz. Festschrift für Beatrice Sandberg zum 75. Geburtstag« (mit I. Hernández, Königshausen & Neumann, 2017), »Tabuzonen und Tabubrüche in der Deutschschweizer Literatur« (Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, 2020). Dr. Marta Wimmer, Studium der Germanistik in Poznan´ und Wien, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Österreichische Literatur und Kultur an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan´, Werfel-Stipendiatin in der Nachbetreuung. Forschungsschwerpunkte: Manifestationen des Hasses, österreichische Literatur nach 1945 sowie deutschsprachige Literatur des 21. Jahrhunderts, Intersexualität, Gender und Queer Studies. Dr. hab. Monika Wolting – Univ.-Professorin am Germanistischen Institut der Universität Wrocław und Professorin an der WSPiA in Poznan´, Sprecherin des Internationalen Christa-Wolfs-Zentrums und stellvertretende Präsidentin der Goethe Gesellschaft-Polen. Sie studierte Germanistik in Gdan´sk und Düsseldorf, 2002 promovierte sie in Warschau und 2010 habilitierte sie an der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław mit der Schrift: Der Garten als Topos in dem Werk von Marie Luise Kaschnitz, Undine Gruenter und Sarah Kirsch. Zu ihren
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Forschungsschwerpunkten gehören Kriegsforschung, Intellektuellenforschung, Engagierte Literatur, Ästhetik und Politik, Kulturpolitik, Realismusforschung. In ihren Forschungen stützt sie sich auf die Theorie der Literatursemiotik, Narratologie, der Feldtheorie von P. Bourdieu, Systemtheorie von Niklas Luhmann und der Konzeption der Transkulturalität von W. Welsch. Letzte Publikationen: »Neues historisches Erzählen«. Hrsg. von Monika Wolting. V & R: Göttingen 2019; »Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur«. Winter: Heidelberg 2019; »Zaangaz˙owanie. Reprezentacje politycznos´ci w literaturze niemieckiego obszaru kulturowego«. Hrsg. von Monika Wolting/Ewa Jarosz-Sienkiewicz. Universitas: Kraków 2019; »Klassik als kulturelle Praxis«. Hrsg. von Paula Wojcik/Stefan Matuschek/Sophie Picard/Monika Wolting. De Gruyter: Berlin/Boston 2019.